Knochengeflüster. Mysteriösen Kriminal- und Todesfällen auf der Spur. 9783453148475, 3-453-14847-9, 3-453-14847-9 [PDF]

Im Gegensatz zu Gerichtsmedizinern arbeiten Forensische Anthropologen nahezu ausschliesslich am Skelett. Sie verfügen üb

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German Pages 255 Year 2000

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Table of contents :
INHALT......Page 7
1 Jeden Tag ist Halloween......Page 8
2 Gesprächige Schädel......Page 29
3 Ein Kerker aus Knochen......Page 42
4 Die alles umschließende Erde......Page 57
5 Treibgut......Page 68
6 »Wenn deine Seele die Krankheit ist«......Page 81
7 Dem Feind immer einen Schritt voraus......Page 91
8 Unnatürliche Natur......Page 104
9 »Wo die Sonne niemals scheint«......Page 114
10 Flammen und Asche......Page 126
11 Der Tod in 10000 Fragmenten......Page 137
12 Verlorene Legionen......Page 165
13 Der verwechselte Pizarro......Page 174
14 Arsen oder Buttermilch......Page 184
15 Der Zar aller Russen......Page 195
16 »Diese kurzen Zeilen und unsere toten Körper«......Page 215
Dank......Page 221
Bildanhang......Page 224
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Knochengeflüster. Mysteriösen Kriminal- und Todesfällen auf der Spur.
 9783453148475, 3-453-14847-9, 3-453-14847-9 [PDF]

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Zitiervorschau

Manche dieser Toten sind berühmt: die Zarenfamilie, der »Elefantenmensch« Joseph Merrick oder auch der amerikanische Präsident Zachary Taylor. Anhand des Skeletts, der Zähne oder einzelner Knochenteile erforscht Maples die Umstände ihres Todes, sucht nach Anzeichen für Mord und Totschlag, rekonstruiert ihre Geschichte und lauscht gebannt der »Sprache der Knochen«. »Maples ist ein geborener Erzähler.« Süddeutsche Zeitung »Ein unglaubliches Buch, brillant erzählt!« Patricia Cornwell

William R. Maples / Michael Browning

Knochengeflüster Mysteriösen Kriminalund Todesfällen auf der Spur

Aus dem Amerikanischen von KATRIN WELGE

Non-profit ebook by tg Dezember 2004 Kein Verkauf!

WILHELM HEYNE VERLAG MÜNCHEN

HEYNE SACHBUCH 19/626

Titel der amerikanischen Originalausgabe: DEAD MEN DO TELL TALES Erschienen 1994 bei Doubleday, New York.

Umwelthinweis: Dieses Buch wurde auf chlor- und säurefreiem Papier gedruckt.

Taschenbucherstsausgabe 04/2,000 Copyright © 1994 by William R. Maples, Doubleday, New York Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 1996 by Birkhäuser Verlag AG, Basel Wilhelm Heyne Verlag GmbH & Co. KG, München Printed in Germany 2001 Umschlagillustration: Marion & Doris Arnemann, Hamburg Umschlaggestaltung: Hauptmann & Kampa Werbeagentur, CH-Zug Bildteil: RMO & Welte, München Herstellung: Helga Schörnig Satz: Schaber Satz- und Datentechnik, Wels Druck und Verarbeitung: Ebner Ulm ISBN: 3-453-14847-9

Für Margaret, Lisa und Cynthia, die sich nie wegen der vielen Stunden, die ich im Labor verbrachte, oder der extremen Geschichten, die ich von meiner Arbeit zu erzählen hatte, beschwerten W. R. M. Für Allison, Matthew und Noah, die wissen, dass die Sonne genauso im Osten wie im Westen scheint M. C. B

Die Hand des Herrn legte sich auf mich, und der Herr brachte mich im Geist hinaus und versetzte mich mitten in die Ebene. Sie war voll von Gebeinen, Er führte mich ringsum an ihnen vorüber, und ich sah sehr viele über die Ebene verstreut liegen; sie waren ganz ausgetrocknet. Er fragte mich: Menschensohn, können diese Gebeine wieder lebendig werden? Ich antwortete: Herr und Gott das weißt nur du. EZECHIEL 37, 1-3

Inhalt 1 Jeden Tag ist Halloween ................................................... 8 2 Gesprächige Schädel....................................................... 29 3 Ein Kerker aus Knochen ................................................. 42 4 Die alles umschließende Erde......................................... 57 5 Treibgut........................................................................... 68 6 »Wenn deine Seele die Krankheit ist« ............................ 81 7 Dem Feind immer einen Schritt voraus .......................... 91 8 Unnatürliche Natur........................................................ 104 9 »Wo die Sonne niemals scheint« .................................. 114 10 Flammen und Asche ................................................... 126 11 Der Tod in 10 000 Fragmenten................................... 137 12 Verlorene Legionen .................................................... 165 13 Der verwechselte Pizarro ............................................ 174 14 Arsen oder Buttermilch............................................... 184 15 Der Zar aller Russen ................................................... 195 16 »Diese kurzen Zeilen und unsere toten Körper«........ 215 Dank................................................................................... 221

1 Jeden Tag ist Halloween Ich erhielt die Erlaubnis, ins Tal des Todes hinabzusteigen und eine sträfliche Neugierde zu stillen … Tod war mit seiner Sichel durch dieses Dickicht gegangen und Feuer hatte die Felder abgeerntet. Die Leichen fast verbrannt, einige in unschöner schlaffer Haltung, die den plötzlichen Tod durch Erschießen kennzeichnet die weitaus größere Anzahl jedoch in Stellungen der Qual, die von marternden Flammen erzählten. Ihre Kleidung war teilweise weggebrannt – ihre Haare und Bärte gänzlich, der Regen konnte ihre Fingernägel nicht mehr retten. Einige waren zu ihrem doppelten Körperumfang angeschwollen, andere zu Knirpsen geschrumpft. Je nach ihrer Lage waren ihre Gesichter schwarz und aufgedunsen oder gelb und verschrumpelt. Die Muskelkontraktionen, die ihre Hände zu Krallen werden ließen, hatten jeden Gesichtsausdruck zu einem abscheulichen Grinsen verdammt. Grauenhaft …! AMBROSE BIERCE, Was ich von Shiloh sah

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Ich habe selten Alpträume. Falls doch, sind es für gewöhnlich dahinhuschende Spiegelungen der Dinge, die ich bei meiner täglichen Arbeit sehe: zerschmetterte und durchlöcherte Schädel, abgehackte Gliedmaßen und abgetrennte Köpfe, verbrannte und zerfallene Körper, büschelweise menschliches Haar und haufenweise weiße Knochen – alles täglich anfallende Arbeit an meiner Arbeitsstelle, dem C. A. Pound Human Identification Laboratory des Florida Museum of Natural History an der Universität Florida. Kürzlich träumte ich, ich sei in einem weit entfernten Land, probiere Schuhe an und das Leder in den Schuhen sei so unsauber verarbeitet, dass über die Schnürsenkel und das Oberleder Maden kriechen. Es gab jedoch eine ganz einfache Erklärung für dieses Hirngespinst: Einer meiner Studenten züchtete im Rahmen eines Forschungsprojektes Maden. Unzählige Male habe ich ins Angesicht des Todes gesehen und war Zeuge all seiner schrecklichen Erscheinungsformen. Der Tod lässt weder mein Herz stillstehen, noch zerrt er an meinen Nerven oder bringt mich um den Verstand. Der Tod bringt mich nicht um den Schlaf, sondern ist mein täglicher Begleiter, eine vertraute Gegebenheit und ein Vorgang, der naturwissenschaftlichen Gesetzen unterliegt und durch wissenschaftliche Untersuchung zu beantworten ist. Für mich ist jeden Tag Halloween. Alle Horrorfilme, die Sie sich je in Ihrem ganzen Leben angesehen haben, veranschaulichen Ihnen nur einen schwachen, langweiligen Ausschnitt der konkreten Wirklichkeit, die ich gesehen habe. Unser Labor hat sich in erster Linie der Lehre der physischen Anthropologie an der Universität Florida verschrieben und gehört zum Florida Museum of Natural History. Darüber hinaus sind wir, dank der Gründungssatzung des Museums von 1917, häufig mit der Un9

tersuchung strafrechtlich relevanter Todesfälle beschäftigt und dem Versuch, Licht in das Dunkel von Mord und Selbstmord zu bringen. In der Vergangenheit ist unter dem alten CoronerSystem* der oder die Unschuldige allzu oft ungesühnt verstorben, und der Übeltäter konnte ungestraft entkommen, weil dem Coroner die Lust, das Wissen, die Erfahrung und die Ausdauer fehlte, bis zu den verwesenden Spuren eines furchtbaren Verbrechens vorzudringen, sich durch die Knochen zu wühlen und den Funken Wahrheit zu packen, der im Kern von allem verborgen liegt. Die Wahrheit ist aufdeckbar. Die Wahrheit muss aufgedeckt werden. Die Männer, die 1918 den russischen Zaren, Nikolaus II., seine Familie und seine Diener ermordeten, dachten, ihr Verbrechen würde für alle Ewigkeit verborgen bleiben, aber nur knapp sechzig Jahre später kamen die Gebeine der Gepeinigten wieder ans Tageslicht und lieferten den Beweis gegen ihre bolschewistischen Attentäter. Ich habe die winzigen, zarten Knochen eines ermordeten Kindes gesehen, für das ich mich vor Gericht eingesetzt habe, und vernichtete einen dreisten, abgebrühten, erwachsenen Mörder. Ein kleines, von Alligatoren zernagtes Schädelfragment einer Frau, das zufällig auf dem Grund eines Flusses gefunden wurde, lieferte mir genug Beweise, um bei der Überführung eines Mörders behilflich zu sein – zwei Jahre, nachdem er die Tat mit einem Beil begangen hatte. Die forensische Anthropologie kann, richtig ausgeübt, historische Rätsel lösen und Schreckgespenster verjagen, die jahrhundertelang die Wissenschaft verwirrt haben. Zögerlich, aber sorgfältig untersuchte ich die Skelettreste des 1850 verstorbenen Präsidenten Zachary Taylor und half dadurch, den * Coroner: alte, aus dem englischen Common Law stammende Amtsbezeichnung für einen Beamten, der in Fällen unnatürlichen Todes u. ä. die Todesursache festlegt und bei Verdacht einer strafbaren Handlung ein Untersuchungsverfahren durchführen kann. 10

hartnäckigen Verdacht, er sei der erste Ermordete unter den amerikanischen Präsidenten gewesen, für immer zu begraben. Ich hatte den mit einem Schwert gekerbten Schädel des blutdürstigen spanischen Eroberers Francisco Pizarro zu untersuchen und hielt so die knöcherne Kugel, die einst unermessliche Träume von Gold, Blut und Herrschaft einschloss, in meinen Händen. Der monsterähnliche Schädel und das Skelett des aus der viktorianischen Zeit stammenden ›Elefantenmenschen‹ Joseph Merrick haben mir solch eindringliche, intensive Bilder und Eindrücke geboten, dass ich oft glaubte, mich mit dem Mann selbst zu unterhalten. Diese berühmten Todesfälle picke ich aber nicht heraus, um ihnen Ehre zu erweisen oder mir etwas von ihrem Ruhm zu borgen. Für mich ist das unbekannte, bloße Skelett eines Menschen Grund genug zum Staunen. Der faszinierendste Fall, den ich je zu bearbeiten hatte, betraf ein Liebespaar mit ganz gewöhnlichen Namen: Meek und Jennings. Meine Aufgabe war es, ihre verbrannten, in tausend Stücke zerbrochenen Knochen, die in einem einzigen Leichensack miteinander vermischt waren, wieder zusammenzusetzen. Als ich diese Arbeit nach anderthalb Jahren abschließen konnte, hatte ich als Ergebnis das Letzte von uns, das je zerbrechen, verbrennen, zerfallen oder auseinander genommen werden kann; was unser Stärkstes, Härtestes und zuallerletzt Zerstörbares ist; unser beständigster Verbündeter, unser zuverlässigster Begleiter, unser am längsten überlebender Rest, wenn wir sterben: unser Skelett. Ich habe mich oft gefragt, ob ich einen Charakterfehler habe, weil ich mich zu toten Dingen so hingezogen fühle. Egal wie hässlich, ich wollte immer die wahren Tatsachen der menschlichen Existenz erfahren. Schon sehr früh wollte ich sehen, wie das Leben wirklich ist; nicht durch das Fenster einer Tageszeitung oder mittels des flimmernden Bildes einer Wochenschau. Ich wollte ein unzensiertes Bild der Realität. Ich wollte den 11

Tod nicht von einem sauber getippten Autopsiebericht oder von einer mit Blumen umgebenen und einem rostfreien Stahlsargdeckel gekrönten Leiche in den Räumen eines Bestattungsunternehmens kennen lernen. Mein ganzes Leben lang haben mich die Umstände des Todes und das Ereignis des Sterbens interessiert. Ich wurde am 7. August 1937 in Dallas, Texas, geboren. Einer meiner Großväter war Methodistenprediger, der andere Sattler. Mein Vater, der Bankier war, starb schon mit vierzig Jahren an Krebs. Ich war erst elf. Er war ein Mann fester Grundsätze, der viel Wert auf Bildung legte. Ich wuchs in einem Haus mit lauter Büchern und Zeitschriften wie dem Collier’s und der Saturday Evening Post auf. Das Lexikon war eines der am meisten benutzten Bücher unserer Bibliothek, und Lesen war für mich so selbstverständlich wie Atmen. Neun Monate bevor mein Vater starb, wusste ich, dass er nicht wieder genesen würde, dass das Ende unvermeidlich war. Dies war ein großer Kummer für mich, aber in seinen letzten Tagen sagte mein Vater etwas, das mich mit Stolz erfüllte. Er gab meiner Mutter gerade letzte Instruktionen und forderte sie auf, dafür zu sorgen, dass mein Bruder, der ein großer Sportler war, zum College ginge. Mich erwähnte er nicht. »Was ist mit Bill?«, fragte ihn meine Mutter. »Mach dir um Bill keine Sorgen. Er wird klarkommen«, erwiderte mein Vater. Sein Vertrauen in mich auf dem Sterbebett hat mich in meinem ganzen Leben ermutigt. Ich erinnere mich an ein prägendes Kindheitserlebnis, das mit der berühmt-berüchtigten Verbrecherin der 30er Jahre, Bonnie Parker von Bonnie and Clyde zu tun hat. Sie kreuzte zweimal meinen Weg, obwohl sie starb, bevor ich geboren wurde. Bonnie war aus Dallas und arbeitete als Bedienung in Waco, das ›Cement City‹ genannt wurde, einer verrufenen Gegend in Dallas in der Nähe des Trinity River. Hier traf sie das erste Mal Clyde, der aus Waco stammte. Das Pärchen wütete 12

durch Texas und den Mittleren Westen, und ihre Geschichte war in Dallas noch lebendig, als ich ein Junge war. Unser Haus lag direkt gegenüber von dem des Chief Deputy des Dallas County Sherif’s Department. Der Deputy, ein Freund meines Vaters, brachte eines Abends die Photographien der Autopsie von Bonnie Parker und Clyde Barrow mit. Ich durfte sie sehen. Es waren die ersten Photos einer Autopsie, die ich je gesehen hatte, und sie faszinierten mich. Damals war ich etwa zehn oder elf Jahre alt und weit davon entfernt, entsetzt zu sein – ich war völlig gefesselt. Jahre später, als ich auf dem Friedhof von Dallas spazierenging, kam ich an einem Grabstein mit folgender Inschrift vorbei: SO WIE DIE BLUMEN DURCH SONNENSCHEIN UND TAU LIEBLICHER GEMACHT WERDEN, SO WIRD UNSERE GUTE MUTTER ERDE STRAHLENDER DURCH DAS LEBEN VON MENSCHEN WIE DIR Oberhalb des Spruches standen die Worte: BONNIE PARKER 1. OKT. 1910-23. MAI 1934 Ich war erstaunt. Dieser Vers hätte ein Kind oder eine Liebste beschreiben können, aber nicht eine zigarrerauchende Mörderin, die in einem Kugelhagel umgekommen war. Später photographierte ich diesen Grabstein. In manchen meiner Vorlesungen zeige ich den Spruch und dann mit dem nächsten Dia das ganze Epitaph mit dem dazugehörenden Namen: Bonnie Parker. Ich hatte auf einem Friedhof in Dallas erkannt, dass jeder Mensch, ob Massenmörder oder Unschuldsengel, zu Lebzeiten wahrscheinlich von jemandem geliebt worden ist. Opfer und Mörder sind immer auch Men13

schen. Sie mögen ihre Wege gezwungen oder aus eigenem freiem Willen gegangen sein, doch sie führen gleichermaßen zum Grab. All diese Menschen verlangen und verdienen eine unparteiliche und gewissenhafte Untersuchung durch einen Fachmann. Wir dürfen niemals vergessen, dass unsere Arbeit nicht nur für die Gerichte oder für die Allgemeinheit ist. Was wir auf dem Untersuchungstisch sehen, muss auch in Verbindung mit den Familien der Opfer und den Verwandten der Mörder gesehen werden. Blumen und Tau mögen von den Mikroskopen und Autopsiesägen weit entfernt sein, aber sie sind ein Teil des Ganzen. Die Eltern meiner Frau, meine Großeltern mütterlicherseits und mein Vater sind alle auf dem Friedhof begraben, in dessen Erde auch Bonnie Parker liegt. Ich bin nicht religiös erzogen worden, aber mit einer Reihe von strengen, klar umrissenen moralischen Wertvorstellungen. Lügen und Faulheit widern mich mehr an als der verfaulteste Leichnam. Wollen Sie über die menschliche Seele nachdenken oder darüber, ob es ein Leben nach dem Tode gibt, müssen Sie woanders suchen als auf diesen Seiten. Auch wenn ich das vollendete Böse und seine Auswirkungen gesehen habe, habe ich mich nie von ihm einschüchtern lassen oder übermäßig angezogen gefühlt. Für mich hat die Schattenseite des Lebens keine besondere Faszination. Zu zwielichtigen Bars, Nachtclubs oder Bordellen fühle ich mich nicht hingezogen, doch ich habe die toten Körper derer weggetragen und untersucht, die solche Orte aufsuchten. Wenn ich gefragt werde, wie ich zur forensischen Anthropologie gekommen bin, sage ich immer, dass es eine Kombination von Glück und schlechtem Charakter war. Zufällig belegte ich als Erstsemester an der Universität Texas meinen ersten Kurs in Anthropologie. Die Frist, sich in die Kurse einzutragen, war fast beendet. Wir Erstsemester erhielten stets die letzten Einschreibungstermine des Tages. Alle Einführungsveranstaltungen für Biologie waren schon belegt, und als Alternative 14

schlug mir mein Studienberater Anthropologie vor. »Gut. Was ist das?«, fragte ich ihn. »Probieren Sie es aus. Vielleicht gefällt es Ihnen«, antwortete er. So fand ich mich in der physischen Anthropologie wieder. Während der ganzen Zeit auf dem College hatte ich als Hauptfach Englisch und als Nebenfach Anthropologie, und dann, im letzten Semester vor dem Abschluss, wechselte ich, und mein Hauptfach wurde Anthropologie. Für das Hauptfach war ein Kurs in fortgeschrittener physischer Anthropologie erforderlich, der von einem Neuling an der Universität gehalten wurde, einem Mann namens Tom McKern. McKern war es, der, mit Ausnahme meines Vaters, mehr als irgendjemand sonst, mein Leben geformt und bestimmt hat. McKern war … einfach McKern. Er war einzigartig, hielt hervorragende Vorlesungen, war der geborene Lehrer und eine Persönlichkeit mit großem Charisma. Bald erfuhr ich, dass er in Tonga geboren worden war und reichhaltige Erfahrungen mit fremden Ländern und fernen Ufern hatte. Er hatte in einem Labor in Tokio gearbeitet, wo er die sterblichen Überreste amerikanischer G.I.s identifizierte, die im Zweiten Weltkrieg in der Nähe von Iwo Jima und später im Koreakrieg gefallen waren. Unter den Skeletten von Iwo Jima befand sich das von einem seiner engsten Freunde: Er war Trauzeuge bei McKern gewesen. McKern hatte ungewöhnliche Dinge gesehen. Er faszinierte und beeindruckte alle Studierenden, die mit ihm zusammenkamen. Er war, was ich werden wollte: ein forensischer Anthropologe. Am ersten Tag verlas McKern lediglich die Anwesenheitsliste und entließ uns wieder. Danach blieben ein paar von uns noch da und plauderten mit ihm. Er erklärte, was forensische Anthropologie sei und was sie beinhalte. Er erzählte uns davon, dass er Zeuge bei Mordprozessen sei und mit dieser ungewöhnlichen, faszinierenden Arbeit mehr als hundert Dollar am Tag verdiene. Diese riesige Summe verblüffte uns. Die Unterhal15

tung dauerte höchstens eine halbe Stunde; aber als ich danach den Kursraum verließ, wusste ich, was ich mit meinem Leben anfangen wollte. Seit meinem achtzehnten Lebensjahr habe ich praktisch selbst für meinen Lebensunterhalt gesorgt. Die Kosten für das College brachte ich durch eine Reihe kurioser Jobs auf – sehr kurioser Jobs. Ich war Pfleger in einem privaten Sanatorium, wo ich manchmal die gewalttätigen oder wahnsinnigen Patienten besänftigen musste. Ich fuhr Blitzeinsätze in einem Sanitätswagen, der einem Bestattungsunternehmen gehörte, und wurde äußerst geschickt darin, den toten, verstümmelten Leichen der Unfallopfer Leichentücher mit dem Schriftzug unseres Unternehmens überzuwerfen. Der Konkurrenzkampf unter den rivalisierenden Beerdigungsunternehmen war groß, sodass unsere Arbeit in gewissem Maße makabren Rodeos ähnelte, bei denen der Cowboy gewinnt, der als erster sein Lasso über den Stier wirft – nur dass wir Tücher statt Lassos benutzten und dass wir sie über Leichen statt Stiere warfen. Häufig setzten wir uns größeren Gefahren aus als die gerade Verstorbenen. Unser Sanitätswagen hatte eine Höchstgeschwindigkeit von 169 km/h, aber wir hatten ein Getriebe, das für eine hohe Beschleunigung ausgelegt war. Der Wagen der Konkurrenz schaffte 177 km/h, hatte aber ein Getriebe für hohe Geschwindigkeiten. Der Unterschied in den Getriebearten bedeutete, dass uns unser Konkurrent auf flachen, geraden Landstraßen davonjagen konnte, wir ihm aber in der Stadt die Rücklichter zeigen konnten. Mit dieser halsbrecherischen Geschwindigkeit fuhren wir herum – lange bevor es Sicherheitsgurte gab, und nichts konnte den Besitzer des Bestattungsunternehmens überzeugen, sich zu diesen Sicherheitsvorkehrungen durchzuringen. Dieser alte Mann war ein Original. Ich erinnere mich, wie er einen ganzen Satz von Mitgliedskarten für jede nur erdenkliche Organisation der Stadt auffächerte. Er gehörte ihnen allen an. Als die Karten 16

auf die Tischplatte hinunterblätterten, lachte er in sich hinein. »Sieh sie dir an!«, sagte er selbstgefällig. »Jede bedeutet eine Beerdigung!« Eines abends fuhr der Chef selbst im Ambulanzwagen mit und wurde Zeuge eines besonders schrecklichen Unfalls. Ein Kieslaster hatte den hinteren Kotflügel eines Autos gerammt, sodass sich das Auto um seine eigene Achse gedreht und den nicht angeschnallten Fahrer hinausgeschleudert hatte. Der Fahrer war auf der Spur des Lasters gelandet, dessen Vorderreifen seinen Kopf zerquetscht hatten. Der Anblick dieses grausam verstümmelten Leichnams erweichte sogar das harte Herz meines Chefs, sodass er schon bald danach unseren Ambulanzwagen mit Sicherheitsgurten ausstatten ließ. Ich war zwar schon bei Beerdigungen gewesen, aber in dieser Zeit sah ich meine erste Leiche außerhalb eines Sarges. Wir waren zu einem Haus in Austin gerufen worden, wo eine Frau unter starken Brustschmerzen litt. Wir fanden sie, fast unbekleidet, eingekeilt zwischen ihrem Bett und der Wand. So sanft wie möglich versuchten wir sie herauszuziehen. Sie lebte noch. Wir schafften sie auf eine Trage, schoben sie in den Krankenwagen und gaben ihr auf dem Weg ins Krankenhaus Sauerstoff. Die ganze Zeit über redete ich ihr gut zu. Dann, ein paar Minuten nachdem sie in die Notaufnahme gebracht worden war und ich nach ihr schaute, starb sie. Der alte Richter Watson wurde hereingerufen, um den Tod zu bescheinigen. Die Halswirbel des Richters waren zusammengewachsen, und er konnte seinen Kopf nicht mehr drehen, sodass er immer seinen ganzen Körper herumschwenkte. Er kam herein, blickte auf den Körper hinunter, wippte für etwa eine halbe Minute vor und zurück und krächzte dann: »Herzinfarkt!« Das war alles. Das Urteil war gefällt. Die Amtspersonen waren mit dieser Frau fertig. Es war, als ob sie unter die Oberfläche eines dunklen Sees gesunken wäre. Der steifnackige alte 17

Richter stapfte aus dem Raum und ließ uns mit dem stummen Leichnam zurück. Dieses eine Wort war der ganze Segen, den sie in dieser Nacht erhielt, und die plötzliche Endgültigkeit dieser ganzen Angelegenheit beeindruckte mich zutiefst. Aus dieser Zeit sind bestimmte Szenen in meiner Erinnerung tief eingeprägt. Ich erinnere mich an eine Nacht, in der wir zum Schauplatz einer häuslichen Auseinandersetzung gerufen wurden. Ein behinderter Mann hatte seine Frau mit seiner Krücke und dem Messingpfosten eines Bettes geschlagen. Ein anderes Mal wurde ein Mann während einer Schlägerei mit einer großen Ketchupflasche auf den Kopf geschlagen. Als wir ankamen, schienen sich die Beteiligten in geronnenem Blut zu wälzen. Den Anblick von Blut kann ich ertragen, aber sein Geruch widert mich an. Ich hatte nicht gedacht, dass ein menschlicher Körper so viel Blut beinhalten kann. Tatsache ist, dass er es nicht kann. Ein Teil des roten Sees war Ketchup. Der Mann überlebte und hat sich wahrscheinlich auch weiterhin geprügelt. Ich erinnere mich, wie ich einen jungen Mann aus einem Auto barg, das sich überschlagen hatte. Er hatte sich einen Arm gebrochen und fragte mich stöhnend, wohin wir ihn brächten. »Ins Krankenhaus«, sagte ich. Plötzlich begann er mit beiden Armen, dem gebrochenen und dem heilen, von mir wegzurudern, versuchte zu fliehen. Alles, was ich machen konnte, war, ihn niederzuhalten. Später stellte sich heraus, dass er das Auto gestohlen hatte. Während dieser Nächte sah ich schreckliche Dinge, aber ich konnte nicht wegsehen oder mich umdrehen. Es gehörte zu meinem Job. Nach einer Weile empfand ich es als Prüfung meiner Stärke, unerschrocken auf die furchtbaren Unfallfolgen zu sehen. Das Personal der Notfallambulanz muss mit derselben Situation fertig werden, aber es sieht die Opfer erst, nachdem wir von der Ambulanz sie gesäubert haben. Wir wurden jedoch ins reine Chaos gestürzt, wenn wir am Unfallort eintrafen: Dunkelheit, umgestürzte oder brennende Autos, krei18

schende Menschen, schreiende Polizei, zerbrochenes Glas. Der Geruch von ausgelaufenem Benzin und verbranntem Fleisch. Am Unfallort gibt es weitaus mehr Dramatik als später im Krankenhaus. Alles ist sauber, gut beleuchtet und desinfiziert. Saubere Laken und glänzende Instrumente, eine Atmosphäre relativer Ruhe und Kontrolle. Das Entsetzen schwindet schon wieder. Meine erste Autopsie sah ich mit achtzehn Jahren. In dieser Zeit wurden in Austin die meisten Autopsien im Haus der Bestattungsunternehmen durchgeführt. Pathologen kamen und sezierten, wogen und photographierten. Einige waren zu uns jungen Laien sehr freundlich und zuvorkommend. Sie ließen uns zusehen und Fragen stellen. Im Laufe der Zeit wurde ich auch mit verwesenden Körpern und schweren Verletzungen konfrontiert. Denn unser Beerdigungsunternehmen hatte die Verpflichtung übernommen, die sterblichen Überreste der mit Militärflugzeugen abgestürzten Soldaten zu versorgen. Ich sah Körper, die nahezu zu Asche verbrannt waren. Ich sah die weißen, aufgedunsenen toten Körper junger Flieger, die aus dem Golf von Mexiko geborgen worden waren. Viele Nächte musste ich in einem Raum schlafen, durch dessen Schutztür die in Säcken aufgeschichteten, verbrannten Leichen deutlich sichtbar waren. Während dieser Zeit entwickelte ich allmählich die Fähigkeit, gleichzeitig an Leichen zu arbeiten und zu essen. Ich erinnere mich, wie ich nach einer Autopsie einen ChiliCheeseburger in den Händen halte, vorsichtig auf den Cheeseburger blicke und einen Bissen esse, dann einen weiteren und noch einen. Ich sah gestandene Polizisten dicke Zigarren rauchen, um die Gerüche von sich fernzuhalten. Und ich erinnere mich an den Pathologen, der gerade weiches Gewebe einer verbrannten Leiche durchschneidet und sarkastisch sagt: »Hm, ich denke, heute wollen wir keine gegrillten Rippchen zu Mittag« – und sehe Polizisten aus dem Raum rennen, grün angelaufen vor Übel19

keit. Mein Leben nahm eine merkwürdige Jekyll-und-HydeQualität an. Bei Tage dachte ich als Student der englischen Literatur über die Glanzpunkte von Dickens, Trollope und Shakespeare nach. Bei Nacht reiste ich in eine Welt schrecklichen Schmerzes und grausamen Unglücks. Ich studierte Sonette und Selbstmorde. Ich betrachtete Tragödien, die auf Papier gedruckt, und solche, die auf den Asphalt geschmiert waren. Ich analysierte unsterbliche Gedichte aus England und war zugegen, wenn verstorbene Männer und Frauen aus Texas sorgsam unter Neonlicht auf blitzsauberen Stahltischen in Stücke geschnitten wurden. Dann hatte ich meine Examen abgeschlossen. Margret und ich heirateten im Januar 1959, einen Monat bevor ich meinen B. A. (erste akademische Prüfung, A. d. Ü.) an der Universität Texas machte. McKern ermutigte mich zu einer Promotion in Anthropologie. An der Universität Texas war keine Promotion in Anthropologie möglich, aber McKern bot mir an, ich könne anderswo Seminare besuchen, und er würde meine Arbeitsfortschritte persönlich betreuen. Ich entschied jedoch, zuerst meine Magisterarbeit zu schreiben. Es war sinnlos. Eine Zeit lang mogelte ich mich durch die höheren Fachsemester, versuchte als Laborassistent zu jobben und gleichzeitig die Examen zu bestehen. Einen Sommer hatte ich zwei Jobs, die insgesamt eine 44-Stunden-Woche ausmachten: den einen als Organisator für Sport an einer Schule für lernbehinderte Kinder, den anderen als Pfleger in einem Krankenhaus. Zur gleichen Zeit versuchte ich, die geballte Ladung an Pflichtveranstaltungen zu bewältigen. Nach anderthalb Jahren war ich völlig ausgelaugt und am Ende. Es schien, als ob ich zu überhaupt nichts kommen würde. Sobald Margret ihren Lehramtsabschluss hatte, verließ ich die Hochschule, ging nach Dallas und bekam eine Stelle als Prüfer bei der Hartford Versi20

cherungsgesellschaft. Ein alter Pathologe sagte mir einmal: »Nehmen Sie im Zweifelsfall Niederträchtiges an, und Sie werden in neunzig Prozent der Fälle richtig liegen.« Das war ein guter Rat, und während der Prüfung von Versicherungsansprüchen hatte ich viel Gelegenheit, ihn anzuwenden. Falls Sie in kurzer Zeit herausfinden möchten, wie tief Ihre Mitmenschen sinken können, dann werden Sie Schadenssachverständiger bei einer Versicherung. Welch zarte Blüten der Nächstenliebe auch immer in Ihrer unschuldigen Seele blühen mögen, sie werden in nur sechs Monaten samt Wurzeln herausgerissen; das garantiere ich. Gleichzeitig werden Sie einige der lebendigsten, genialsten und glaubhaftesten Geschichten kennen lernen, die je durch menschliche Erfindungsgabe ersponnen wurden. Ich weiß, wovon ich spreche. Auf die verwickelten Lügen, die ich damals zu entwirren hatte, gehe ich nicht näher ein. Ich lernte die Leute zu erkennen, die darauf spezialisiert sind, sich vor Fahrzeuge zu werfen; und die ›Quick-Stop-Künstler‹, die mit viel Geschick ihre Autos jederzeit auf der Stelle bremsen und Auffahrunfälle verursachen können. Ich lernte Ärzte und Chiropraktiker kennen und die fantasiereichen Berichte, die sie über erdachte Fälle schreiben. Ich führte surreale Gespräche mit Winkeladvokaten. Während ich mit solch einem Anwalt sprach, wusste ich, dass er log, und wusste, dass er wusste, dass ich wusste, dass er log – und doch mussten wir mit unseren Verhandlungen fortfahren! Die damalige Skepsis ist mir mein Leben lang erhalten geblieben und hat mich zu einem scharfsinnigeren Forscher gemacht, als ich vielleicht sonst geworden wäre. Einige Jahre später erwischte ich einen Studenten während Primatenforschungsarbeiten in Afrika beim Fälschen von Arbeitsnotizen. Nachdem ich anhand seiner Belege und der Tankanzeige herausgefunden hatte, dass er nicht im Gelände gewesen sein 21

konnte, feuerte ich ihn und schickte ihn nach Hause. Als ich ihm das Flugticket aushändigte, jammerte er: »Schon immer mussten Sie Nachforschungen anstellen.« Zur damaligen Zeit jedoch ging es mir erbärmlich. Ich verkündete Margret, dass ich zurück zur Universität wolle. Ich wollte weg von dem endlosen Kampf, den Streitereien und der Unehrlichkeit des Versicherungsgeschäftes. Ich schrieb meinem früheren Lehrer Tom McKern und fragte, ob er mich für fähig halte, ein erfolgreicher forensischer Anthropologe zu werden. McKern schrieb zurück und meinte im wesentlichen: »Komm.« Ich ging. Binnen kurzer Zeit stellte ich meine Thesen zu den Skeletten der Caddoan-Indianer zusammen und schrieb meine Magisterarbeit. Als ich erfuhr, dass ich den Magistertitel erhalten hatte, befand ich mich gerade in Kenia, wo ich im Rahmen eines Forschungsprojektes Paviane fing. Primaten sind keine guten Haustiere. Das schließt Menschen mit ein. Wir und unsere Vorfahren sind eine ziemlich unzivilisierte Gesellschaft, stolz und nach Unabhängigkeit strebend, aber gleichzeitig heimtückisch, habgierig, aggressiv und grausam. Ich habe an meinem rechten Arm, wo ein gewitzter Pavian mich gebissen hat, eine tiefe Narbe. Die Verletzung meiner Pulsader hätte beinahe meinen Arm gekostet. Ich hege keinen Groll. Es war ein fairer Kampf. Aus Sicht des Pavians war ich sicherlich im Unrecht. In meinem Bestreben, ihn gefangen zu nehmen und an ein Forschungslabor in Amerika zu liefern, hatte ich ihm ein Beruhigungsmittel injiziert. An seiner Stelle hätte ich auch versucht mich zu töten. Meine Zeit in Afrika prägte mich weitaus nachhaltiger, als diese tiefliegende alte Wunde an meinem Arm zeigt. Ich handelte mir zweimal Malaria ein. Ich musste mit Speeren bewaffnete zornige Angehörige des Massai-Stammes bezwingen. Mit weichen Knien und trunken vom puren Adrenalin stand ich heranstürmenden Kaffernbüffeln gegenüber, die darauf erpicht 22

waren, mich zu schlammigem Brei zu zertrampeln. Nur wenige Sekunden bevor meine Brust nähere Bekanntschaft mit ihren Hörnern machen konnte, erschoss ich sie. Meine Jahre in Kenia bestärkten mich in dem Weg, den ich eingeschlagen hatte. Afrika breitete Gaben aus, die ich immer in Ehren gehalten habe. Es machte mich zu einem besseren Lehrer und gab mir einen Einblick, der meine Forschung erweiterte und vertiefte. Für die Anthropologie gibt es auf Erden kein größeres Freiland-Labor als die Unermesslichkeit Afrikas und seine aufsehenerregenden Naturschauspiele. Was ich bislang lediglich theoretisch gewusst hatte, stand plötzlich leibhaftig vor mir. In meinem Büro steht ein Pavianskelett, das mich an Kenia und Tansania erinnert, wie ich sie damals erlebt habe: Kimano, wo Hemingway kampierte und die Schneemassen des Kilimanjaros bestaunte, die blauen Chyulu-Hügel, der Nationalpark Tsavo, Lake Manyara, wo die Löwen faul auf den Bäumen liegen und ihre Tatzen baumeln lassen; die großartige Serengeti-Ebene, Lake Magadi, Lake Natron, der NgurumaniBergrücken. In meinen Anthropologie-Vorlesungen erzähle ich oft Anekdoten aus Afrika, und ich denke, sie sind dadurch interessanter und realitätsnaher geworden. Ich kann meinen Studentinnen und Studenten mit absoluter Sicherheit erzählen, dass ein Löwe dieses fressen wird, aber jenes nicht. Ich kann sie über die Paviane aufklären, die in vielen Lehrbüchern als strenge Vegetarier beschrieben werden, die ich jedoch mit eigenen Augen große Stücke frischgeschlachteter Babyantilope, Hühner und andere Vögel habe verschlingen sehen. Solche Unterrichtsstunden können nicht aus Büchern gelehrt werden. Afrika hat mir über ein paar sehr magere Jahre des akademischen Betriebes hinweggeholfen, hat mich mit Ideen für Forschungsprojekte ausgestattet, die mir letztendlich halfen, zu Ansehen zu gelangen. Und alles war so großartig: Wir frühstückten Mangos und 23

Papayas. Wir sahen springende Oryx-Antilopen, Weißschwanzgnus und Zebras. Nachts schienen unzählig viele Sterne, und manchmal war das Mondlicht am klaren Sternenhimmel hell genug, um lesen zu können. Unsere Kleidung wurde von ›Wait-a-bit‹-Dornen, wie sie dort genannt werden, zerrissen, und an unseren Lagerfeuern brieten wir Steaks von Kuduund Impala-Antilopen. Während der Nacht spielten auf unseren Zelten die ›Buschbabies‹, eine großäugige Art niederer Primaten, die auch als Galago bekannt sind. Als ob unsere Zelte Trampoline wären, hüpften sie herauf, um die vom Licht unseres Zeltlagers angelockten Insekten zu fangen. Ich lernte fliegen und steuerte ein Flugzeug über das Great Rift Valley (Ostafrikanischer Grabenbruch, A. d. Ü.), eine geologische Besonderheit, die sich ihren Weg durch Ostafrika schneidet. Wir wanderten durch den Ngorongoro-Krater, ein gewaltiger, erloschener Vulkan, dessen Rand ein kolossales, viele hundert Quadratkilometer großes Ökosystem umgibt. Mit meiner Frau und meiner kleinen Tochter besuchte ich die Olduvaischlucht, wo einige der frühesten Spuren der Menschwerdung gefunden worden sind: von dem legendären Dr. Louis Leakey, der dort über dreißig Jahre ausgegraben und sich weltweit einen Namen als einer der Größten der Anthropologie gemacht hat. Ich habe immer noch einen alten selbstgedrehten 8-mm-Film, der Leakey zeigt, wie er die Schlucht hochklettert und sich dabei sein Hinterteil so unbefangen kratzt, wie es irgendeiner der frühen Hominiden, der Australopithecinen, in derselben Schlucht mehrere Millionen Jahre früher getan haben könnte. Meinen Aufenthalt in Afrika, der 1962 begann, verdanke ich der freundlichen Vermittlung meines Lehrers Tom McKern. Damals interessierte sich die Southwest Foundation for Research and Education in San Antonio für Paviane. Paviane, so war bekannt geworden, teilen mit Menschen eine Eigenheit: Sie können durch den Genuss normaler Nahrung Arteriosklero24

se oder verstopfte Arterien bekommen. Grundsätzlich kann jedes Tier Arterienverkalkung bekommen, wenn es mit Cholesterinbrocken zwangsernährt wird. Paviane jedoch können daran erkranken, wenn sie dieselbe Nahrung zu sich nehmen wie Menschen. Dies machte sie zu wertvollen Versuchstieren, und die Southwest Foundation war am Erwerb von Exemplaren interessiert. Zwischen 1962 und 1966 fingen und verfrachteten wir Hunderte von Pavianen nach Amerika, und ihre Nachkommen sind noch immer hier. Es würde mich nicht überraschen zu erfahren, dass der Pavian, dessen Herz ›Baby Fay‹ 1992 erhielt, von Paviangroßeltern abstammt, die mir in Kenia in die Falle gegangen sind. Zuvor kannte ich Paviane nur aus Büchern und Zoos. Nun sollte ich ihr Leben in freier Natur kennen lernen. Das Grundwissen eignete ich mir schnell an. Paviane leben in Horden von ungefähr dreißig bis zu zweihundert Individuen. Es gibt bei Pavianen einen beträchtlichen Geschlechtsdimorphismus. Männchen und Weibchen unterscheiden sich deutlich in der Größe. Die Männchen wiegen etwa 18 bis 30 kg, Weibchen sind viel kleiner und wiegen zwischen 9 und 14 kg. Paviane sind aggressiv, aber in den meisten Fällen keine Gefahr für Menschen. Es sei denn, man stellt ihnen Fallen, oder ein Junges wird im Beisein der Eltern von einem Menschen bedroht. Sie beschützen ihre Jungen wild entschlossen. Wir hatten eine Vielzahl von Techniken, um die Tiere zu fangen. Die gebräuchlichste Fallenart war ein Zylinder aus starkem Maschendraht, ungefähr 150 cm hoch, der ebenfalls mit Maschendraht mit Spitze und Boden verschweißt war. Dieser Zylinder war mit einer 76 cm großen Schiebetür ausgerüstet, die in Metallschienen hochgezogen und heruntergelassen werden konnte. In der zylindrischen Falle platzierten wir hoch oben ein kleines Brett auf zwei Stöcken – zu hoch für einen Pavian, um es 25

mit seinem Arm von außen erreichen zu können. Auf diesem Brett platzierten wir unseren Köder: Mais. Paviane lieben Mais. Ich habe Schlemmerorgien mit angesehen, wenn sie durch Maisfelder rannten, unter jedem Arm einen Maiskolben, weitere Kolben an sich rissen, die ersten Kolben wieder fallen ließen und sie durch weitere Maiskolben ersetzten, die fielen, wenn die nächsten zwei Kolben gestohlen wurden. Am Ende der Feldreihe tauchte der Pavian dann mit zwei Maiskolben auf – hinter sich eine Spur fallen gelassener Kolben. Sie sind die unvorsichtigsten Diebe, ewig mehr stehlend, als sie tragen können. Die Paviane zu ködern war eine langwierige Aufgabe, die Geduld und Geschicklichkeit erforderte. Zuerst verteilten wir auf einer Lichtung Mais auf dem Boden. Dann stellten wir die Fallen auf. Später legten wir den Mais innerhalb der Fallen aus und ließen die Drahttüren offen. Nachdem sich die Paviane durch diese herrliche, nie enden wollende Freigebigkeit von geschenktem Futter in völliger Selbstzufriedenheit wiegten, banden wir schließlich an das eine Ende eines Zwirnsfadens den Maiskolben und an das andere die Tür der Falle. Krach! Sobald der Pavian den Maiskolben schnappte, riss der Faden, und die Schiebetür knallte zu. Wenn wir am Schauplatz ankamen, trafen wir auf sehr wütende Paviane, die schrien und uns aus dem Inneren der Maschendrahtfallen die Zähne zeigten. In wenigen Fällen waren die Tiere so intelligent, die Tür zu heben und zu fliehen. Der schwierigste Teil der Arbeit stand uns allerdings noch bevor: Wir mussten die Paviane aus den Fallen zum Camp bringen. Zur Injektion des Beruhigungsmittels verwendeten wir eine auf ein Rohr aufgesetzte Spritze. Später erfuhr ich, dass das Beruhigungsmittel, Phencyclidine, ein Experimentalnarkotikum war, das heute als Wirkstoff der verbotenen Droge ›Angel Dust‹ bekannt ist. Jedes Mal, wenn wir die Tiere transportieren mussten, wirkte das Mittel zunächst sehr gut. Doch nach 26

zwei, drei Spritzen wurden die Paviane aggressiv. Sicherlich hat sie der genannte Wirkstoff negativ beeinflusst. Wir näherten uns der Falle mit gezückter Spritzennadel. Meistens sprang der gefangene Pavian von der Käfigtür weg, und wir konnten den Augenblick nutzen, um mit der Nadel in den Oberschenkel zu stechen. Die Mengendosierung wurde grob abgeschätzt. Wir sahen uns den Pavian an und schätzten das Gewicht. Kurz nach der Injektion taumelten die Tiere und brachen wenig später auf dem Käfigboden zusammen. Wir warteten ein bisschen und traten gegen den Käfig, um festzustellen, ob sie betäubt waren. Dann kam die Stunde der Wahrheit. Ich öffnete die Tür, packte den schlaffen Pavian fest im Genick und am Schwanz und zerrte ihn aus der Falle. Es ist wichtig, schnell und entschlossen zu handeln: an beiden Enden zupakken, mit einem Ruck herausziehen und hochhieven. Wenn Sie sich schnell bewegen und den richtigen Griff anwenden, ist es sehr schwierig für das Tier, seinen Kopf zu drehen und Sie zu beißen. Obwohl ich diese Prozedur bereits viele Male hinter mich gebracht hatte, lief eines Tages alles schief. Gerade als ich ein altes Pavianmännchen auf die Ladefläche unseres Pickups legen wollte, kam es wieder zu Bewusstsein und bohrte mir seinen messerscharfen Eckzahn in den Arm. Wie ein Stilett drang er durch mein Fleisch. Ich war zu überrascht, um Schmerz zu empfinden. Sofort versuchte ich, den Kopf des Tieres so fest wie möglich zu halten. Denn wenn der Pavian es schaffte, meinen Arm mit seinen kraftvollen Gliedmaßen wegzustoßen, würde sein Zahn die Muskulatur und die Arterien meines Armes durchtrennen. Mit dem verwundeten Arm drückte ich das Tier zu Boden und schlug gleichzeitig mit der linken Faust auf seinen Jochbogen – der am Backenknochen gelegene Teil des Schädels. Dem alten Pavian tropfte das Blut aus dem Maul, und er lag ruhig auf dem Boden. Nachdem ich sein Maul geöffnet und den Zahn 27

aus meinem Arm gezogen hatte, fuhr ich zurück zum Lager. Die ulnare Arterie war in Mitleidenschaft gezogen worden, und das Blut quoll aus der Wunde. Ich erreichte das Camp, sprang vom Laster, rannte zur Erste-Hilfe-Ausrüstung und schüttete eine Wundlösung in die tiefe Wunde. Dann legte ich mir einen Druckverband an und verabreichte mir zur Infektionsbekämpfung Erythromycin. Das nächste Krankenhaus war in Nairobi, 225 km entfernt. Bevor ich mich jedoch auf den Weg machen konnte, öffnete ich alle Falltüren, damit während unserer Abwesenheit keine Paviane gefangen wurden und verhungern konnten. Außerdem musste ich dem alten Pavian, der mich verletzt hatte, einen weiteren Schuss Phencyclidine geben. Die Einschätzung der Dosierung nahm ich diesesmal sehr vorsichtig vor. Benommen vor Schmerz fuhr ich nach Nairobi, und jedes kleine Schlagloch rief mir meinen verwundeten Arm ins Bewusstsein. Trotz des Erythromycins, das ich mir im Camp verabreicht hatte, breiteten sich E. coli Bakterien aus und vermehrten sich stark in der Wunde. Eine Zeit lang sah es sogar so aus, als ob der Arm amputiert werden müsste. Aber durch die Behandlung mit Epsomer Bittersalz nahm die Schwellung nach und nach ab, und die Wunde war völlig gereinigt. Trotz dieser gefährlichen und schmerzhaften Episode liebe ich Kenia sehr, und noch immer erinnere ich mich an einige Worte in Suaheli. Büchsenöffner heißt tinikata, Auto gari und Zug gari la moshi, das heißt ›Dampfwagen‹. Ja, mein Aufenthalt in Kenia und die Erlebnisse mit den Pavianen waren prägend für meine Zukunft.

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2 Gesprächige Schädel Man beginnt allmählich einzusehen, dass zur künstlerischen Vollendung einer Mordtat doch etwas mehr gehört als zwei Dummköpfe, einer der tötet, und einer, der getötet wird, ein Messer, eine Brieftasche und eine dunkle Gasse. Formgebung, meine Herren, Sinn für Gruppierung und Beleuchtung, poetisches Empfinden und Zartgefühl werden heute zu einer solchen Tat verlangt. THOMAS DE QUINCEY (1785-1859), Der Mord als eine schöne Kunst betrachtet

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Eine der amüsantesten Kurzgeschichten von Sir Arthur Conan Doyle, ›Crabbe’s Practice‹, handelt von den verzweifelten Versuchen eines jungen Arztes, sich in der Welt zu etablieren und Patienten zu bekommen. In der Hoffnung, seine akademische Reputation aufzupolieren, veröffentlichte er eine umfassende und fundierte Arbeit in einem medizinischen Journal mit dem bizarren Titel ›Die seltsame Entdeckung eines discopherösen Knochens im Magen einer Ente‹. Später gestand er einem Freund, dass die Arbeit ein Betrug war. Während eines Dinners, es gab gebratene Ente, hatte der junge Arzt entdeckt, dass die Ente einen elfenbeinernen Dominostein verschluckt hatte, und er hatte diese Begebenheit in eine Forschungsarbeit verwandelt. ›Discopherös‹ ist lediglich der griechische Begriff für ›kreistragend‹ und bezieht sich auf die Punkte auf dem Dominostein. Conan Doyle war selbst Arzt und wusste, wovon er sprach. Jeder, der wissenschaftlich arbeitet, kennt die dumpfe Verzweiflung und alles durchdringende Sorge der Anfangsjahre. Nur wenige von uns blicken nicht mit einem geheimen Schauder auf diese Zeiten zurück. Die miserable Bezahlung und die finanziellen Sorgen; die langen Nächte des Lernens und das Ankämpfen gegen den Schlaf; die beängstigenden Hürden der Prüfungen; die verbissene Verteidigung der eigenen Dissertation; der böswillige Neid, der zu allen Zeiten und an allen Orten zum universitären Leben gehört, der ständige Kampf, Veröffentlichungen durchzudrücken, eine Anstellung zu bekommen, sich eine Nische zu schaffen und in seinem Arbeitsgebiet anerkannt zu werden – all diese Qualen sind wohlbekannt. Mir ging es anders, denn meine frühen Erfahrungen – die Noteinsatzfahrten im Ambulanzwagen des Bestattungsunternehmers in Texas – hatten mir eine Seite des Lebens gezeigt, die ich aus 30

keinem Buch hätte lernen können. Dadurch, dass ich an den Unfallorten oft mit grausamen Bildern konfrontiert wurde, entwickelte ich mit der Zeit eine innere Stärke, auf die ich auch bei den schwierigen Herausforderungen des Universitätsalltags zurückgreifen konnte. Es war noch während meiner Zeit an der Universität Texas, in der ich unter Tom McKern in seinem Labor arbeitete, als ich zum ersten Mal nach meiner Meinung zu einem Schädel gefragt wurde. Dieser Augenblick war ein Wendepunkt in meinem Leben, denn zum ersten Mal behandelte McKern mich wie einen Kollegen, auf dessen unabhängige Meinung er Wert legt. Als ich an diesem Morgen ins Labor kam, präsentierte mir McKern einen Schädel ohne Unterkiefer. Er war im Lake Travis, in der Nähe von Austin, gefunden worden. Eine Angelleine war am Arcus zygomaticus, am Jochbogen, befestigt, deren anderes Ende an einem großen Stein festgemacht war. Als ich den noch feuchten Schädel in die Hand nahm, fiel mir insbesondere die Form des Oberkiefers auf. Er stand auf ungewöhnliche Weise vor. Während ich ihn ansah, war ich von Zweifeln gequält. Ich fühlte mich sehr unsicher, denn McKern würde mich nach meiner Antwort beurteilen. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen und sagte: »Ich glaube, er ist mongoloid, möglicherweise japanisch.« McKern sah mich einen Augenblick lang an. Dann endlich sagte er: »Das denke ich auch.« Welchen Stolz ich auch fühlte, er wurde sofort von McKern gedämpft, der damit fortfuhr, all die Dinge aufzuzeigen, die ich vergessen hatte. Mit dem sicheren Gespür eines wahren Meisters der forensischen Anthropologie zeigte er ein Detail nach dem anderen; Details, die ich gesehen, aber nicht erkannt hatte. In solchen Momenten war McKern wahrhaft brillant, und ich werde niemals den Moment vergessen, in dem er den alten Schädel buchstäblich sprechen ließ. Ich hatte weder bemerkt, dass einige Zähne in den Kiefer ge31

klebt worden waren, noch dass am äußeren Schädeldach Verbrennungsspuren zu sehen waren. Auch der simple Umstand, dass am Jochbein eine Angelschnur befestigt war, war mir entgangen. Die Angelschnur war jedoch ein Indiz dafür, dass der Schädel bereits als fleischloser Knochen in den See geworfen worden war. Die Verbrennung hatte sich das Opfer wahrscheinlich während eines Gefechts zugezogen. Möglicherweise bei einem Flammenwerfereinsatz oder einem Brand nach einem Flugzeugabsturz. Als der Schädel älter und eingetrocknet war, waren ihm die Zähne ausgefallen und wieder eingeklebt worden. Nachdem McKern all diese Dinge aufgezeigt hatte, wurde die Antwort deutlich. Der vor uns liegende Schädel war mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit eine Schädeltrophäe aus dem Zweiten Weltkrieg, die irgendein Soldat aus dem Pazifik mitgebracht hatte. Schließlich war entweder der Soldat selbst seines grauenhaften Relikts überdrüssig geworden oder er war gestorben, und seine Erben wollten das Ding loswerden. Aber wie sollten sie den Schädel beseitigen? Im Müll könnte er gefunden werden, ihn zu verbrennen macht zu viele Umstände, und ihn zu vergraben könnte Spuren hinterlassen. So hatte man sich anscheinend entschlossen, ihn in den See zu werfen. Mit einem Stein versehen, würde er schon nicht wieder auftauchen … Und so flog der Schädel über Bord, sank blubbernd hinunter in die Tiefen des Lake Trafik und wurde nur durch Zufall wiedergefunden. Ich bin sicher, dass sich heute irgendwo in Japan eine Familie fragt, was aus dem Onkel, dem Vater, einem verschollenen Verwandten geworden ist, der vor einem halben Jahrhundert in den Krieg zog. Die Fernsehsendung Quincy hat mir Verärgerung und Amüsement ohne Ende bereitet. Wenn Leute erfahren, dass ich forensischer Anthropologe bin, ist das erste, was sie gewöhnlich 32

sagen: »Ach, wie Quincy?« Quincy ist Gerichtsmediziner, dessen gesamtes Berufsleben aus einer langen Kette dramatischer Erfolge besteht. Unter einem Glücksstern geboren, löst Quincy seine Fälle innerhalb von Stunden oder Tagen. Wenn er ein Problem hatte, rief er seinen brillanten Assistenten Sam im Labor an, und Sam hat in Sekunden die Antwort parat. Sam! Wie ich Quincy um seinen treuen und sich nie irrenden Sam beneide! Jeder von uns könnte wie der Morgenstern strahlen, wenn wir nur einen Sam hätten, der für uns arbeitet. In einer Episode bestimmten Quincy und Sam tatsächlich die Haarfarbe eines Menschen durch die Untersuchung des Oberschenkelknochens – wissenschaftlich eine völlige Unmöglichkeit. Bei der Jahreskonferenz der Amerikanischen Akademie forensischer Wissenschaftler stellte eine Gruppe von forensischen Anthropologen den fachlichen Berater dieser Episode zur Rede. In die Enge getrieben von unseren gnadenlosen Fragen zu dieser Haarfarben-Episode, gab er schließlich zu, dass er sich dramaturgische Freiheiten genommen habe, ›um das Stück voranzubringen‹. Ich bin kein Quincy. Der Unterschied zwischen forensischen Pathologen und forensischen Anthropologen ist ganz einfach. Pathologen sind Mediziner, die als Assistenten im Krankenhaus einen Pathologie-Kurs absolviert haben. Wenn sie Glück haben, haben sie auch einige Erfahrung in gerichtsmedizinischen Abläufen. Alle Leichenbeschauer im Staate Florida sind forensische Pathologen mit einem Abschluss in Medizin. In manchen Bundesstaaten können sie auch als Bezirkscoroner eingesetzt sein, um rechtmäßig Todesursachen festzustellen. Doch in anderen kann es sein, dass der Coroner überhaupt keinen medizinischen Hintergrund hat. Ich habe Coroner gekannt, die Tankstellenbesitzer, Beerdigungsunternehmer oder Möbelhändler waren. Möbelhändler? Ja, denn früher verkauften diese auch Särge. Ein forensischer Anthropologe ist kein Mediziner. Wir spe33

zialisieren uns auf das menschliche Skelettsystem und seine Veränderungen im Verlauf eines Lebens und von Generationen. Dabei berücksichtigen wir auch die Verschiedenheiten in den unterschiedlichen Regionen der Welt. Die forensische Anthropologie ist ein Teilgebiet der physischen bzw. biologischen Anthropologie, wie man heute sagt, die sich mit dem menschlichen Körper in seiner Gesamtheit und all seinen Variationen befasst. Mein Spezialgebiet, physische Anthropologie, unterscheidet sich von anderen Gebieten, wie der Kulturanthropologie und der Archäologie. Die Kulturanthropologen sind diejenigen, die hinausgehen und die sogenannten Naturvölker studieren, die ›fluttered folk and wild‹, wie der Dichter Rudyard Kipling sie nannte. Die Archäologen suchen nach Werkzeugen und anderen Beweisen prähistorischer und neuzeitlicher Menschen in den Höhlen und Hügeln Asiens, Afrikas und Europas. Mein Spezialgebiet ist das menschliche Skelett. Obwohl einige Pathologen darauf bestehen, eigene Skelettuntersuchungen im Rahmen der Autopsie vorzunehmen, kann ich mit Überzeugung sagen, dass es nur sehr wenige Fälle gibt, in denen ein forensischer Anthropologe nicht einen großen Teil an Informationen zu dem beisteuern könnte, was der Pathologe entdeckt. Ich kenne Pathologen, die beim Anblick eines Skeletts offen zugegeben haben, dass sie nicht gewöhnt sind, ›so etwas zu untersuchen – ohne Fleisch dran‹. Doch die Jahre zwischen meiner Graduierung (1959) und dem Jahr, in dem ich meinen ersten Fall bekam (1972), waren lang und mager. Von Zeit zu Zeit gab es etwas Arbeit in McKerns Labor und gelegentlich formale Untersuchungen von Skeletten in Afrika. Doch abgesehen von diesen Fällen sind die Annalen meines professionellen Daseins während dieser Zeit ziemlich armselig. Die öden Erinnerungen dieser Hungerleiderjahre stehen lebhaft vor meinen Augen, wenn ich meine Aktenschränke öffne. 1972 hatte ich nur einen einzigen Fall. 1973 leuchtete ein 34

Hoffnungsschimmer auf: eine Reihe vergrabener Leichen war weniger als eine Viertelmeile von meiner Wohnung in Gainesville gefunden worden. Als neue Versorgungsleitungen verlegt wurden, waren die Überreste gefunden worden, und eine Weile wurde befürchtet, dass es sich um die grauenhafte Ausbeute eines Massenmörders handle. Es kursierten die wildesten Gerüchte, denn der frühere Besitzer des Hauses, in dessen Hinterhof die Leichen gefunden worden waren, hatte vor einigen Jahren Selbstmord begangen. Drei Archäologen der Universität und ich wurden von der Polizei gebeten, die Untersuchungen durchzuführen. So fuhren wir also zum Fundort. Innerhalb weniger Stunden förderten wir Sargbeschläge, Nägel, Schrauben und ähnliches mehr zutage. Zum Schluss stellte sich heraus, dass wir es lediglich mit einem alten Friedhof zu tun hatten. 1974 hatte ich zwei Fälle. 1975 zwei weitere, 1976 zwei Fälle, 1977 drei Fälle, 1978 – zwölf Fälle! Und von diesem Zeitpunkt an begannen sich die Dinge lawinenartig zu entwickeln. Als das Naturhistorische Museum Florida 1917 durch eine Stiftung des Staates zum Staatlichen Museum von Florida wurde, wurde eine seiner Aufgaben die Bereitstellung von Assistenz und Unterstützung des Staates bei der ›Identifikation von Proben‹. Ich bezweifle, dass die Gesetzgeber sich vorgestellt haben, dass unter diesen ›Proben‹ menschliche Überreste sein würden, geschweige denn, dass diese die abscheulichen Hinterlassenschaften von Mördern oder Wahnsinnigen wären. Meinen ersten Fall bekam ich im April 1972, als mir der Assistent des Sheriffs von Washington County ein torfüberzogenes Skelett brachte und mich bat, es zu analysieren. Das Skelett war in einem Sumpf in der Nähe von Chipley gefunden worden. Es gab keinerlei Information, anhand derer es hätte identifiziert werden können. Also nahm ich das Skelett mit hinunter zu meinen Dampftischen am Ende meines Labors im Keller der anthropologischen Abteilung und fing an, es vom 35

Grünzeug zu befreien. Während ihrer Kaffeepause kam ein Professor mit seinen Studenten herüber, um sich anzusehen, was ich machte: »Sie sehen, die Wissenschaft hat ihren Gebrauchswert im wirklichen Leben.« Der Professor war ein Trottel; er fand seine herablassende Bemerkung offensichtlich witzig. Ich ging über sie hinweg und lud die Studenten ein, sich das Skelett genauer anzusehen. »Hier sind seine Socken«, sagte ich. »Und Sie können sehen, dass die Füße noch in den Socken sind.« An dieser Stelle verschwand der Professor und die meisten seiner nervenschwachen Studenten mit ihm. Ich erkannte die Macht der Realität, ihre Fliegenklatschen-Wirkung, und bewunderte jene Studenten, die blieben. Man hat immer ein ganz besonderes Verhältnis zu seinem ersten Fall, und ich fand das Skelett sehr interessant. Bei der Analyse stellte sich heraus, dass es einem zahnlosen alten Mann gehört hatte mit einer Vielzahl von Knochenverwachsungen im Rückenbereich, die wohl seinem hohen Alter zuzuschreiben waren. Das wirklich Faszinierende war, dass dort, wo ein Ohr hätte sein sollen, lediglich eine große Öffnung war. Alles war ausgehöhlt und weggefressen. Offensichtlich war der Mann auf diesem Ohr taub gewesen. Doch da war noch mehr: Durch den dünnen Knochen oberhalb dieses Bereiches führte ein Durchbruch in die Schädelhöhle, das heißt in den Gehirnkasten. Entlang der inneren Oberfläche der Schädeldecke stellte ich Lochfraß fest; eine Infektion hatte den Knochen im Verlauf des Lebens weggefressen. In der Bibliothek der Medizinischen Fakultät der Universität Florida suchte ich nach ähnlichen Fällen und traf auf eine Unmenge an Literatur. Denn es handelte sich um eine herkömmliche Mittelohrentzündung. Diese Infektion kann jedoch, wenn sie nicht behandelt wird, zu Hörverlust führen bzw. die Oberfläche des Knochens zerstören. Im Anfangsstadium produziert die Infektion eine übelriechende Flüssigkeit, die aus dem Ohr 36

tropft, und im schlimmsten Fall führt der Knochenfraß zu einer Störung des Orientierungssinns, Nervenproblemen und letztlich zum Tod. Mit diesen Informationen machte ich mich auf den Weg zum Sheriff. Ich musste wissen, ob es irgendwelche Personen gegeben hatte, auf die diese Symptome zutrafen. Schließlich fanden wir heraus, dass ein alter Fremdarbeiter, der von der Sozialhilfe gelebt hatte, seit zwei Jahren vermisst wurde. Kurz vor seinem Verschwinden war ein übler Geruch von ihm ausgegangen, sodass die Menschen seiner Umgebung ihn gemieden hatten. Er hatte einen strauchelnden Gang und schien zunehmend desorientiert zu sein. Seine Nachbarn nahmen an, er hätte einen Schlaganfall erlitten und wäre teilweise gelähmt. Eines Tages ging er aus dem Haus, verschwand und wurde nicht wieder gesehen. Bis zu dem Tag, an dem seine Leiche aus dem Sumpf gezogen wurde. Die skelettierten Überreste, der perforierte Schädel mit dem zerfressenen Hirnkasten bestätigten die Berichte über das Leben des Fremdarbeiters. Sie konnten mir sogar die letzten Stunden dieses armen Menschen beschreiben, der allein und verlassen, gepeinigt von Schmerzen, in den Sumpf gestolpert war. Zusammen mit meinen Untersuchungsergebnissen übergab ich das Skelett dem Büro des Sheriffs. Als ich Jahre später wieder einmal durch Chipley fuhr, erzählten mir die Deputies, der Fremdarbeiter sei aufgrund meiner Unterlagen eindeutig identifiziert worden, und der Coroner habe befunden, dass er eines natürlichen Todes gestorben sei. Im September 1974 brachte mir ein Ermittler des Büros der Staatsanwaltschaft das Teilstück eines Schädels. Der arme Mann war völlig verzweifelt, denn bis zur Gerichtsverhandlung waren es nur noch wenige Tage. Das Schädelfragment war von Sporttauchern nahe einer Brücke des Santa Fe Rivers gefunden worden; ca. 16 Meter von der Stelle entfernt, an der vor unge37

fähr zwei Jahren die Überreste eines kopf- und handlosen weiblichen Körpers gefunden worden waren. Anhand von Narben war damals der Rumpf als der einer Frau aus Union County identifiziert worden, die Mitte August entführt worden war. Zur selben Zeit verschwand auch der Farmarbeiter Raymond Stone. Stone wurde später in Missouri verhaftet und gestand im Verhör, die Frau getötet zu haben. Allerdings widerrief er sein Geständnis später wieder. Am Torso der Frau waren keinerlei Anzeichen von Gewalteinwirkung erkennbar gewesen. Der örtliche Leichenbeschauer hatte sich die Leiche genau angesehen und gefolgert, dass der Kopf wahrscheinlich nach Eintritt des Todes von Alligatoren abgebissen worden war. Zwei Jahre später fanden nun die Taucher das Schädeldach. Der erwähnte Leichenbeschauer war ziemlich arrogant und erklärte den Ermittlern, es gäbe nichts, was man aus alten, trockenen Knochen ablesen könne. Daraufhin wandte sich die Staatsanwaltschaft hilfesuchend an mich. Unter immensem Zeitdruck, es waren, wie gesagt, nur noch 72 Stunden bis zur Gerichtsverhandlung, erstellte ich meinen Bericht. Meiner Meinung nach stammte das Schädelfragment von einer erwachsenen weißen Frau. Die Form der oberen Ränder der Orbitae (Augenöffnungen), die glatte, hohe Stirn und die Befestigungspunkte der Muskeln, dies alles ließ auf eine Frau schließen. Zum Zeitpunkt ihres Todes war sie noch keine fünfzig Jahre alt gewesen. Das Alter konnte lediglich anhand der Schädelnähte bestimmt werden. Jene Nähte, durch die die verschiedenen Platten unseres Schädels miteinander verbunden sind. Diese Bestimmungsmethode ist bekanntermaßen ungenau, doch im vorliegenden Fall war sie alles, was ich für eine Altersbestimmung heranziehen konnte. Das Opfer war mindestens zweimal mit einer hammerähnlichen Waffe auf den Kopf getroffen worden. Denn eine der Frakturen war ein Durchbruch im Stirnbein, der deutlich den 38

runden Abdruck eines Hammers aufwies. Am Rand war ein Knochenstück abgebrochen, das allerdings noch nach unten hing, was wiederum darauf hinwies, dass der Knochen zum Zeitpunkt der Verletzung noch frisch und elastisch gewesen war. Vom Durchbruch gingen mehrere Bruchlinien aus. Es gab noch eine andere, zweite Verletzung: eine eingedrückte Schädelfraktur der äußeren kompakten Lamelle des Schädeldachs. Die äußere Schicht war zwar nach unten gedrückt worden, ich konnte jedoch deutlich die flache, kreisförmige Schlagoberfläche eines Hammerkopfes erkennen. Eine derart eingedrückte Schädelfraktur ist wiederum ein Hinweis darauf, dass der Knochen noch frisch und elastisch war, als ihn die Schläge trafen. Der Schädel glich einer Eierschale, die zwar angeknackst, aber nicht vollständig zerbrochen war. Unter dem Siegel der Verschwiegenheit hatten mir die Ermittler erzählt, dass der Tatverdächtige gestanden habe, ein Beil benutzt zu haben. Ein Beil, keinen Hammer. Die Gerichtsverhandlung fand in Lake Butler, Union County, statt. Es war meine erste Gerichtsverhandlung als Sachverständiger in einem Mordfall und, wie ich zugeben muss, eine ziemlich peinliche Angelegenheit. Der Staatsanwalt stellte mir detaillierte, kurze Fragen, statt einfach nach den Ergebnissen meiner Untersuchung zu fragen. Ich selbst behandelte die Geschworenen wie meine Studenten. Meine Aussage glich eher einer Vorlesung. Ich versuchte sogar humorvoll zu sein, wie ich es oft in meinen Seminaren bin, um die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten. Was ich auch immer gesagt haben mag, es ging fürchterlich daneben. Doch diese Gerichtsverhandlung war eine Lektion für mich, die ich nie vergessen habe: ein Gerichtssaal ist kein Seminarraum. Das große Rätsel der Verhandlung, die Hammerschläge, die mit einem Beil ausgeführt worden sein sollten, wurde schließlich gelöst. Ich war nur einer von vielen Zeugen und bis zum Schluss nicht mit den Aussagen der anderen vertraut gewesen. 39

Später erfuhr ich, dass das Beil ein sogenanntes Zimmermannsbeil gewesen war, mit einer Schneide an der einen und einem Hammer an der anderen Seite des Kopfes. Dennoch blieb meine Verwirrung. Warum hatte Raymond Stone nicht mit dem Beil zugeschlagen? Die Antwort war so brutal wie einleuchtend. Hätte er mit der Beilseite zugeschlagen, wären die Blutspritzer überall am Tatort verspritzt. Es war also eine Frage der Sauberkeit gewesen. Ich werde nie vergessen, wie Raymond Stone den Gerichtssaal betrat. Er war ein sehr kleiner, dünner Mann mit Glatze und trug eine hellblaue Strickjacke. Heute weiß ich, dass es ein alter Trick ist, den Gefangenen schlechtsitzende, weite Kleidung anzuziehen, denn dadurch wirken sie kleiner und weniger bedrohlich. Ich erinnere mich, gedacht zu haben: ›Der sieht aus wie mein Friseur in Gainesville. Wie kann jemand, der so lammfromm und freundlich aussieht, ein so scheußliches Verbrechen begehen? Wie soll dieser Mann eine unschuldige Frau zu Tode geknüppelt und dann von einer Brücke geworfen haben?‹ Während des Prozesses stellte sich heraus, dass Stone im August 1972, zum Zeitpunkt des Mordes also, als Gelegenheitsarbeiter auf der Farm des Opfers und seines Ehemannes gearbeitet hatte. Höchstwahrscheinlich hatte er die Farmerin sexuell bedrängt und war von ihr abgewiesen worden. Voller Wut hatte er sie daraufhin umgebracht. Raymond Stone wurde für schuldig erklärt und von Richter John J. Crews zum Tode verurteilt. Bei der Urteilsverkündung drohte Stone »Himmel und Hölle in Bewegung zu setzen« und versuchte, den Richter anzuspucken. Am 7. Februar 1994 wurde Raymond Stones Todesurteil in lebenslänglich umgewandelt. Seine Anwälte hatten Glück mit der Revisionsverhandlung, in der sie nachwiesen, dass ihr Mandant eine unglückliche Kindheit durchlebt hatte. Ein Umstand, dem in der ersten Verhandlung nicht genügend Rech40

nung getragen worden sei. Stone wuchs auf einer Müllkippe auf und schlief in Autowracks. Als er neun Jahre alt war, ermordete sein Vater, der ihn schlug und angeblich sexuell missbrauchte, seine Mutter. Stone hatte die meiste Zeit seines Lebens in Gefängnissen und psychiatrischen Kliniken verbracht. Die nächsthöhere Instanz gab dem Revisionsantrag statt. Im Gefängnis überlebte er drei Herzanfälle und musste sich einer Bypass-Operation unterziehen. Dennoch ist nicht zu erwarten, dass Raymond Stone eines Tages begnadigt wird. Im Verlauf der Jahre habe ich von Vollzugsbeamten erfahren, dass Stone auch im Gefängnis ein Außenseiter ist. Selbst während er in der Todeszelle saß, bezeichneten ihn seine Mithäftlinge als ›Klapperschlange in Menschengestalt‹. Vor ungefähr drei Jahren fand der Fall Stone eine unerwartete Fortsetzung. Die beiden Töchter der Verstorbenen baten um Akteneinsicht, um mehr über den Tod ihrer Mutter zu erfahren. Doch als ihnen der Aktenschrank geöffnet wurde, mussten sie eine schreckliche Entdeckung machen. Dort lag noch immer das eingeschlagene Schädelfragment ihrer Mutter. Die beiden waren entsetzt und baten darum, ihnen das Fragment auszuhändigen, damit sie es beerdigen könnten. Obwohl die Angelegenheit aufgrund der Revisionsanträge Stones nicht einfach war, entschieden der Leichenbeschauer von Alachua County und ich, der verständlichen Bitte nachzugeben. Sollte es weitere Verhandlungen geben, gäbe es eine Fülle von Photos, deren Beweiskraft außer Zweifel steht. So bargen die beiden Töchter das letzte Stück des Kopfes ihrer unglücklichen Mutter und begruben es. Der Schädelfund im Fall Stone war ein Sieg für die forensische Anthropologie. Er war das letzte Glied in einer Kette von Beweisen, die Stone mit seinem Opfer verband. Die Schädelnähte und die Form gaben Aufschluss über Alter und Geschlecht des Opfers; die Verletzungsmerkmale gaben Hinweise auf Form und Typ der Mordwaffe. 41

3 Ein Kerker aus Knochen Oh, wer wird die Seele befreien Aus diesem dunklen Verlies, Gefangen in vielfacher Weise In einem Kerker aus Knochen? Geblendet von Augen, die sehen, Betäubt von Ohren, die hören. Gefesselt an Händen und Füßen, Die Seele in Ketten gelegt Aus Venen, Arterien und Nerven, Gefoltert die Seele im Kerker, In einem so eitlen Haupt Und einem gespaltenen Herzen … ANDREW MARVELL (1621-1678), Dialog zwischen Körper und Seele

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Dem unvorsichtigen Besucher des C. A. Pound Human Identification Laboratory mag eine Schrecksekunde erlaubt sein. Denn in diesem unauffälligen Gebäude, versteckt in einem Bambuswäldchen nahe der Radio Street in Gainsville, grinst einen der Tod aus jedem Winkel an. Mein Labor selbst ist nicht besonders groß, doch auf den Tischen, in den gestapelten Schachteln und den beschrifteten Schaugläsern und Ampullen lagern vollständige oder auch nur teilweise erhaltene Skelette. Eine schweigende Ansammlung von Menschen, die auf ihre Identifikation warten. Es ist ein Ort der fleischlosen Toten, trocken und still, bis auf das leise Summen des Luftentfeuchters. Doch diese Endlichkeit ist eine Illusion. Wie bereits im Buch Ezechiel beschrieben, finden die Knochen wieder zusammen. In diesem Sinn beginnen die Überreste menschlichen Lebens in meinem Labor ein zweites Leben – ein Leben nach dem Tod. Denn sie erzählen mir und meinen Studenten Geheimnisse, geben versteckte Informationen preis, liefern der Welt der Lebenden Ideen und Beweise. Knochen wie die in meinem Labor haben zum Freispruch geführt – und in die Todeszelle. Hier liegen Knochen, verbrannt und gekocht, ertränkt und getrocknet. Knochen, die längst begraben und vergessen waren, werden hier wieder ans Tageslicht gebracht. Knochen von Unschuldigen und Knochen von Mördern. Alle liegen sie Seite an Seite, unter dem unvoreingenommenen Auge der Wissenschaft. Nur wenige besuchen das Labor, und jene, denen es gestattet wird, müssen einen triftigen Grund vorweisen können. Doch die Toten heißen wir willkommen und erweisen ihnen alle erdenkliche Aufmerksamkeit. Wenn man den Blick umherschweifen lässt, entdeckt man Schädelhöhlen, die Einschusslöcher aufweisen; dunkle Kreise, 43

durch die der Tod eintrat und das Leben eines Menschen beendete. An einer Wand hängt die durchscheinende Totenmaske eines Mordopfers, eine Silhouette vor dem milchig-hellen Licht eines Röntgenschirms. Es ist das Röntgenbild eines gebrochenen Schädels, der von Bleipartikeln durchsetzt ist, die wie Pailletten leuchten. Das Opfer einer Schießerei. Meist ist die Luft im Labor kühl, kalkig und sauber, ein Hauch von frischer, nasser Erde liegt in der Luft. An solchen Tagen verunreinigt kein Verwesungsgeruch die Atmosphäre. In einer Ecke steht ein Student und sortiert aus einem Lehmklumpen Zähne und Wirbelknochen heraus. Das Opfer hat sehr wahrscheinlich vor einigen Jahren Selbstmord verübt. Die Haarstränge der Opfer eines Flugzeugabsturzes liegen auf dem Nachbartisch: Sauber gewaschen erinnern sie an ein viel zu früh beendetes Leben. In einem Schauglas steht das Skelett eines sieben Monate alten Fötus, der tot geboren wurde. Es wirkt zerbrechlich, dünn wie eine Eierschale, fast transparent. Dunkle, augenlose Schatten von Augenhöhlen blicken ruhig zur Decke. Schmutziggraue, rußschwarze und cremeweiße Knochen liegen verstreut in Schachteln. Eine ganze Gemeinschaft von Knochen und Skeletten, die der Staat Florida meiner Obhut anvertraut hat, wird hier unter Verschluss gehalten. Dieses Labor, das 1991 nach meinen Vorgaben gebaut und eingerichtet wurde, ist mein Reich. Über den Einbau jedes einzelnen Details habe ich persönlich gewacht: Die 122 Zentimeter langen Leuchtstoffröhren, die in symmetrischen Paaren anund ausgeschaltet werden können, um die Helligkeit des Raumes zu variieren, das doppelte, unabhängig voneinander arbeitende Ventilationssystem, die Sicherheitsschlösser, die den Laborbereich vollständig vom Verwaltungstrakt trennen, jede Tür, jedes Fenster und jeden Abfluss. Die Wände des Labors reichen bis zum Dach und nicht nur bis zu den eingezogenen Decken, sowohl aus Sicherheitsgründen als auch, um unangenehme Gerüche nicht nach außen dringen zu lassen. 44

Entsprechend umfangreich sind auch die Sicherheitsvorkehrungen. Im ganzen Gebäude sind Alarmanlagen und Bewegungsmelder verteilt. Die Labortüren sind mit Keso-Schlössern ausgestattet, deren Schlüssel keine gezackten Bärte, sondern einen individuellen Vertiefungscode haben. Ersatzschlüssel sind beim Hersteller nur gegen einen mit meiner Unterschrift versehenen Sicherungsschein zu bekommen. Außer den Labormitarbeitern besitzt niemand einen Schlüssel, noch nicht einmal der Sicherheitsdienst der Universität. Das Wartungspersonal darf den Laborbereich nur während meiner Anwesenheit betreten. Sie werden sich fragen, warum wir eine derartige Abschirmung für notwendig halten. In Geldwerten ausgedrückt ist der Inhalt des Labors, Knochen und Ausrüstung, zwar nicht sonderlich wertvoll, es birgt jedoch juristisch unersetzliche Werte: Beweise, die in Gerichtsverhandlungen benötigt werden. Ein entschlossener Einbrecher könnte sich ohne die genannten Vorkehrungen mit dem richtigen Werkzeug zweifellos Zugang zum Laborbereich verschaffen. In einer Ecke des Labors ist eine ›Sicherheitsdusche‹ mit einem speziellen Duschkopf angebracht. Dieser verfügt über einen kraftvollen, aber doch sanften Strahl, damit man sich die Augen auswaschen kann, sollten Spritzer von Formalin, anderen Säuren oder Alkohol sie getroffen haben. Ganz in der Nähe befinden sich die von uns so genannten ›Stinkhütten‹. Das sind Plexiglasverschläge mit Stahltischen, auf denen Leichen bzw. Knochen mit Fleischresten gesäubert werden können. Die Waschbecken stammen aus einem Photolabor und waren ursprünglich zum Entwickeln von Photos gedacht. Da sie leicht zu säubern sind, haben wir sie umfunktioniert. Große Dunstabzugshauben saugen die schlechte Luft ab und leiten sie nach außen. Die Gewebeteile, die von den Knochen entfernt wurden, werden in Plastikbeutel eingeschweißt und eingefroren. Meine Studenten und ich benutzen Plastikbeutel der Firma KAPAK & 45

Co., weil diese absolut sicher sind. Es gibt Tage, an denen man bereits am Geruch erkennen kann, dass wir an frischen Knochen arbeiten; der Geruch ist dann entsetzlich. Doch so makaber das auch klingen mag, ich habe auch schon Gegenteiliges erlebt. Ich arbeitete damals noch im alten Labor des Naturhistorischen Museums, als Besucher hereinkamen und mich ganz erstaunt fragten: »Hier riecht es aber gut. Was kocht ihr denn gerade Feines?« Als ich ihnen antwortete, der Geruch komme von verbranntem Menschenfleisch, verließen sie bestürzt und bleich das Labor. »Wie lang liegt wohl einer in der Erde, eh er verfault?«, fragt Hamlet den Totengräber in der ersten Szene des fünften Aktes. »Mein Treu«, erwidert der Totengräber, »wenn er nicht schon vor dem Tod verfault ist – wie wir denn heutzutage viele lustsieche Leichen haben, die kaum bis zum Hineinlegen halten –, so dauert er Euch ein acht bis neun Jahr aus …« Shakespeare war ein unvergleichlicher Beobachter der menschlichen Natur, doch der Zersetzungsprozess hängt von vielen unterschiedlichen Faktoren ab. Ein unter Eis begrabener Körper kann nahezu für immer erhalten bleiben. In trockenem Sand mumifizieren Körper zu dauerhaftem Pergament, und in mineralreicher Erde werden sie von den Mineralsalzen imprägniert. Oberirdisch jedoch, insbesondere bei warmem Wetter, kann die Zeit bis zur völligen Skelettierung erschreckend kurz sein; nicht neun Jahre oder Monate, sondern neun Tage! In seinen Essentials of Forensic Anthropology berichtet Dr. T. D. Stewart von dem Fall eines zwölfjährigen Mädchens aus Mississippi, das nach einem Hurrican zehn Tage lang vermisst wurde. Es war Spätsommer, und ihre sterblichen Überreste wurden schließlich unter einem mit Vinyl überzogenen Sofa gefunden. Der Anblick war entsetzlich. Es war, als hätte man sie in einen Insektenbrutkasten gelegt. Ameisen, Spinnen, Fliegen und Käfer hatten ihren Körper nahezu vollständig skelettiert. 46

Ende der 70er Jahre richtete mein Kollege Bill Base in Knoxville die Anthropological Research Facility (ARF) ein. Er begann den natürlichen Verfall systematisch zu beobachten. Für seine Forschungen verwendete er Leichen, die vom örtlichen Leichenschauhaus als ›unidentifiziert‹ oder ›nicht zurückgefordert‹ freigegeben worden waren. In einer großen Leichenhalle, unter freiem Himmel, werden jährlich ca. dreißig bis vierzig Leichen und einige Hundekadaver untersucht. Die Leichen werden auf Betonplatten oder direkt auf die Erde gelegt, in Plastik eingewickelt oder in flachen Gräbern beerdigt. Die begrabenen Körper werden in regelmäßigen Abständen ausgegraben, photographiert und wieder bestattet. An den Geruch, der von diesen Leichen ausgeht, muss man sich erst gewöhnen. Wie man sich überhaupt in meinem Beruf an Leichengeruch gewöhnen muss. Eigentlich handelt es sich um ganz natürliche Komponenten, wie beispielsweise Buttersäure oder Methangas. Doch es ist eine Sache, sich dies rein rational zu vergegenwärtigen, und eine andere, mit der psychischen Belastung umgehen zu können. Tod und alles, was mit ihm zusammenhängt, ist in unserer Gesellschaft ein Tabuthema. So verwundert es nicht, dass beim Anblick des Todes in den meisten Menschen Fluchtinstinkte wach werden. Man braucht viel Erfahrung und Überwindungswillen, um diesen Instinkten zu widerstehen. Ich habe mir in all den Jahren während einer Autopsie nie Menthol auf die Oberlippe gestrichen, wie es im Film ›Das Schweigen der Lämmer‹ zu sehen ist. Eigentlich kenne ich niemanden, der das macht. Mit der Zeit nimmt man den Geruch nicht mehr wahr; man denkt ihn sich sozusagen weg. Ich habe Polizisten, Anwälte, Röntgentechniker und andere beim Anblick entstellter Leichen fluchtartig den Raum verlassen sehen. Doch ich kann mit Stolz behaupten, dass keiner meiner Studenten oder Studentinnen bei dieser ›Prüfung‹ durchgefallen ist. Die Studenten sind interessanterweise weniger von den gro47

tesken ›Halloween‹-Fällen schockiert, das heißt von verwesenden Leichen, als von frischen Leichen. Auf dem Tisch liegt ein Mensch, noch warm, der, genauso wie sie, zu Beginn eines arbeitsreichen Tages aus dem Bett geklettert ist, sich angezogen hat und die Wohnung verließ – ohne zu wissen, dass er wenige Stunden später Opfer eines Gewaltverbrechens werden und den Tag auf dem Metalltisch des Pathologen beenden würde. Viele Studenten identifizieren sich mit diesen Opfern, sehen sich selbst; und das kann eine der schlimmsten Erfahrungen sein, die man in unserem Beruf machen kann. So gesehen ist es erklärlich, dass ein Skelett oder ein Brandopfer, dessen Arme die Haltung eines Boxers angenommen haben, als die verbrannten Muskeln sich zusammenzogen, nicht zu diesem Moment der Identifikation führen. Solche Überreste haben nichts Menschliches mehr. Für viele Laien birgt der Zersetzungsprozess ein verborgenes Mysterium; was jedoch, wissenschaftlich gesehen, nicht der Fall ist. Zwei Vorgänge spielen eine grundlegende Rolle: die Autolyse und die Verwesung. Unter Autolyse versteht man den Abbau von Zellbestandteilen und -produkten durch zelleigene Enzyme. Sie tritt nach Eintritt des Todes ein, wenn die Verdauungssäfte beginnen, den Magen-Darm-Trakt aufzulösen. Die Verwesung entsteht als Ergebnis bakterieller Aktivitäten im ganzen Körper und ist der größte Faktor im Zersetzungsprozess. In den Blutgefäßen und Geweben wird Gas freigesetzt, wodurch der tote Körper anschwillt. Nach 12 bis 18 Stunden kann die Leiche bis auf das Zwei- bis Dreifache ihrer normalen Größe aufgebläht sein. Einer meiner Kollegen demonstriert dieses Phänomen manchmal für seine Studenten, indem er das Labor abdunkelt, ein Streichholz entzündet und eine Nadel in die aufgedunsenen Überreste sticht. Durch das austretende Gas entsteht eine große blaue Stichflamme, die die Studenten vor Staunen nach Luft schnappen lässt. Während der Auflösung des menschlichen Körpers ist es 48

möglich, dass sich die Hautfarbe von Grün nach Violett und Schwarz verändert. Und durch den Druck des sich ansammelnden Methangases können die Organe aus ihrer natürlichen Lage verdrängt werden und aus den unteren Körperöffnungen herausquellen. Der übelriechende Geruch, der dabei auftritt, wird durch die austretende Flüssigkeit verursacht, bei der es sich meist um Buttersäure handelt. Langsam löst sich auch die Haut ab. Manchmal können wir die Haut der Hände als Ganzes abziehen, und nur die Fingernägel bleiben am Körper. Auch von diesen ›Handschuhen‹ können noch Fingerabdrücke genommen werden. Dazu muss der Laborant allerdings seine eigene behandschuhte Hand in den toten Hautsack stecken, die Fingerspitzen färben und dann vorsichtig den Abdruck auf eine weiße Karte rollen. Es ist ein Märchen, dass Fingernägel und Haare nach dem Tod weiterwachsen. In Wirklichkeit zieht sich die Haut zurück, was Haare und Nägel nur deutlich sichtbarer hervorstehen lässt. Erich Maria Remarque stellt sich in seinem Roman Im Westen nichts Neues einen toten Freund vor, dessen Fingernägel, nachdem er begraben wurde, wie wilde unterirdische Korkenzieher weiterwachsen. Ein kraftvolles und beunruhigendes Bild, aber reine Fantasie. Nichts dergleichen passiert. So furchtbar all diese Prozesse auf Sie auch wirken mögen, sie sind letztlich nur Folge des Übergangs bestimmter kohlenstoffhaltiger Komponenten in andere kohlenstoffhaltige Komponenten. Kohlenstoff ist das Element des Lebens und des Todes. Wir haben es gemeinsam mit Diamanten und Löwenzahn, mit Kerosin und Seetang. An einer Wand des Labors steht meine Werkbank; ausgerüstet mit einem Bohrständer, einem kleinen Amboss, Sägen, Schraubendrehern, Schraubenschlüsseln und anderen Werkzeugen. Diese Werkzeuge sind nicht für die Untersuchungen gedacht, ich brauche sie lediglich, um Labormobiliar, Gestelle usw. zu bauen. Da ich mit Werkzeugen ganz geschickt bin, 49

macht mir diese Arbeit viel Spaß. Es klingt seltsam, aber meine Erfahrungen als Heimwerker haben mich bei manchem ungelösten Fall auf die richtige Fährte gebracht. Manchmal kann ich genau sagen, welches Werkzeug benutzt wurde, um ein Opfer zu töten. Kürzlich hatte ich einen Fall, in dem die Tatwaffe genauso ein Gummihammer war, wie er über meiner Werkbank hängt. Ein anderer Schädel, den ich untersuchte, wies das gleiche Muster auf wie das meines Stemmeisens. Oft gehe ich deshalb zu Sears und sehe mir dort die Werkzeuge an, um zu prüfen, ob irgendwelche zu den Löchern in den Schädeln in meinem Labor passen. Wenn die Verkäufer mir ihre Hilfe anbieten, gebe ich freundlich zu verstehen: »Vielen Dank, aber Sie würden es nicht verstehen. Ich weiß, wonach ich suche, wenn ich es gefunden habe.« Wir besitzen auch einige Schneidemaschinen, um für Proben Knochenteile abzuschneiden; Sägen mit Diamantsägeblatt, die dazu verwendet werden, Dünnschnitte von Knochen und Zähnen anzufertigen, die dann unter dem Mikroskop untersucht werden; und die sogenannte Stryker-Schwingsäge, die man bei Autopsien verwendet. Ein Werkzeug, dessen kreisförmiges Sägeblatt sich nicht um sich selbst dreht, sondern stattdessen mit hoher Geschwindigkeit vor und zurück oszilliert, sodass es nur Knochen, nicht aber Haut schneidet. Die Stryker-Säge wird benutzt, um das Schädeldach aufzutrennen, damit das Hirn herausgenommen werden kann. Gartenwerkzeuge wie Heckenscheren können zum Durchschneiden der Rippen benutzt werden, und lange Messer sind nützlich, um das Hirn zu entfernen, das sich in frischem Zustand nur schwer aus dem Schädel lösen lässt. Neben all diesen Werkzeugen verfügt das Labor natürlich auch über eine umfangreiche photographische Ausrüstung. Denn ständig müssen Aufnahmen von Leichen und Knochen gemacht werden. Für Videoaufnahmen benutzen wir ausschließlich hochwertige Videocassetten, die nahezu Studioqua50

lität garantieren. Für Photos verwende ich eine BronicaKamera, mit Zubehör für Nahaufnahmen etc. Sie ist einer Hasselblad sehr ähnlich, allerdings billiger, wenn man nur unbewegte Bilder macht; und unsere Bilder sind sehr unbewegt. Darüber hinaus besitzt das Labor auch ein eigenes Röntgengerät und ein spezielles Kopiergerät, das Röntgenaufnahmen vervielfältigen kann. Im Gegensatz zu meinen praktizierenden Kollegen mache ich häufig Röntgenbilder, da die Gefahr der Überschreitung der zulässigen Strahlendosis nicht besteht. Manche Objekte, die durchscheinend sind wie hauchdünne Membranen, müssen wir bis zu 15 Minuten belichten. Meist verwenden wir den gleichen Röntgenfilm-Typ, der auch für die Mammographie benutzt wird, denn dieser Film ist extrem lichtempfindlich und bildet auch die kleinsten Einzelheiten ab. Unser Budget ist nicht besonders hoch, daher bin ich stolz, einen guten Blick für Schnäppchen zu haben. Die zwanzig Leuchtschirme für die Röntgenbilder zum Beispiel habe ich aus Regierungsbeständen gekauft. Besonders nützlich ist uns die ›Hot Spot‹-Lampe, die ich für 10,– $ bei einer Kaufhausversteigerung erstanden habe. Sie kann mit ihrem Lichtstrahl Einzelheiten auch auf dem dunkelsten Röntgenfilm sichtbar machen. Klassische Röntgenaufnahmen, das heißt von Lebenden, neigen nämlich dazu, relativ dunkel zu sein, da sie mit extrem niedrigen Strahlendosen aufgenommen wurden, um das Gewebe nicht zu schädigen. Der ›Hot Spot‹ durchdringt sie und sucht auch die dunkelsten Schatten und schwärzesten Winkel ab. Es war der ›Hot Spot‹, der es mir ermöglichte, in einem meiner schwierigsten Fälle, dem Meek-JenningsMord/Selbstmord-Fall, ein wichtiges Beweisstück zu finden: ein kleines Stückchen Rippe. Ehe die Studenten im Labor arbeiten dürfen, müssen sie sich einer Reihe von Hepatitis-B-Impfungen unterziehen. Wir verbrauchen verständlicherweise auch eine Unmenge an Einweghandschuhen, Schutzärmeln, Überschuhen und Kitteln. 51

Wenn an Leichen gearbeitet wird, die schon stark in Verwesung übergegangen sind, ziehen wir meist zwei Paar Handschuhe an. Und wenn wir mit Sägen arbeiten müssen, benutzen wir entweder Einweg-Schutzbrillen oder manchmal sogar Plastik-Schutzschirme, die das Gesicht vor Spritzern und Flüssigkeitsfontänen, die von aufgestauten Körpergasen ausgetrieben werden, schützen. Das Labor besitzt auch tragbare Metalldetektoren, eine Vermessungsausrüstung, Schaufeln, Rechen und archäologische Hohlspachtel für Grabungen im Freien. Ich habe die große Befürchtung, dass aufgrund der erdrükkenden Fülle des heutigen medizinischen Lehrplans und der Knappheit an Skeletten in Amerika die anatomischen Sachkenntnisse immer geringer werden. Die früheren Skelettlieferanten, Indien und Bangladesch, haben den Export mittlerweile eingestellt, da er einen Affront gegen die nationale Würde darstelle. Als ich Student war, kostete ein erstklassiges, vollständiges Skelett, mit unbeschädigten Knochen und 28 von 32 noch am Platz befindlichen Zähnen, auf einen Sockel montiert, mit rot und blau markierten Muskelansätzen und alles sorgfältig beschriftet, 600 $. Gäbe es heute ein derartiges Skelett zu kaufen, müsste man mindestens 3000 bis 5000 $ auf den Tisch des Hauses legen. Es gibt zwar Plastikreproduktionen, doch diesen fehlen die feinen Details und die Oberflächenstruktur eines Originals. Meiner Meinung nach sind sie nur für die einfachste anatomische Ausbildung zu gebrauchen. Plastikskelette sind bereits für 659,95 $ zu bekommen. Ein menschlicher Schädel dagegen kostet 359 $. Sollten Sie also einmal an Ihrem Selbstbewusstsein zweifeln, können Sie sich ausrechnen, was allein Ihr Skelett wert ist. Über den Daumen gepeilt, laufen Sie mit einem ›Knochenwert‹ von mehreren tausend Dollar herum, und Ihr Skelett wird jedes Jahr wertvoller. Während ihres ersten Studienjahres belegen die Studenten einen Kurs in Human-Osteologie, oder, wie sie es nennen, ei52

nen ›Knochenkurs‹. Während dieses Kurses halte ich Kurzprüfungen ab. Ich beginne mit zehn großen Knochenfragmenten, die die Studenten innerhalb von eineinhalb Minuten bestimmen müssen: Handelt es sich um Menschenknochen? Welcher Knochen ist es? Ist es der linke oder rechte Knochen? Im Laufe des Semesters werden die Zeitintervalle immer kürzer und die zehn Knochenfragmente immer kleiner. Am Ende des Semesters passen die Proben in eine Streichholzschachtel. Knochen können sehr verwirrend sein. Um die Studenten bestens zu schulen, lege ich ihnen oft Fötusknochen oder Knochen von Bärentatzen vor, die denen des Menschen oft zum Verwechseln ähnlich sind. In zwei Fällen, in denen man mich zu Rate zog, stellten sich die angeblichen ›Menschenhände‹ als Bärentatzen heraus. Ich habe auch schon Gerichtsmediziner erlebt, die lose Knochen in Schädeln als von Waffen verursachte Verletzungen identifizierten, oder die Knochen eines Blaureihers als menschliche. Auch ausgewiesene Spezialisten sind vor solchen Fehlinterpretationen nicht sicher. So bestimmte beispielsweise ein Kollege von mir das Geschlecht eines Teenagers falsch. Auch Schildkrötenpanzer können eine schreckliche Verwirrung anstiften; besonders Gopherschildkröten sind furchtbare ›Betrüger‹. Erst kürzlich wurde ich von der Polizei gerufen, um draußen einige verdächtige Knochenfragmente zu identifizieren, die am gleichen Ort gefunden worden waren, an dem man vor einiger Zeit eine Leiche entdeckt hatte. Nun ging die Polizei davon aus, dass es sich um die Endlagerstätte eines Massenmörders handelte. Ich konnte die Beamten beruhigen. Der angebliche Schädel war ein zerbrochener Schildkrötenpanzer. Sozusagen von der Natur getäuscht zu werden, ist eine Sache. Eine andere ist es, wenn die Wissenschaft gezielt hinters Licht geführt wird; wenn ein Skelett als revolutionäre Entdekkung deklariert wird. Der größte und sicherlich bekannteste Betrug dieser Art war der berühmte Schädel des Piltdown Man, 53

der Anfang dieses Jahrhunderts ›ausgegraben‹ wurde. Ich habe dieses außergewöhnliche Relikt in meinen Händen gehalten. 1953 wurde der Piltdown-Schädel als Schwindel entlarvt. Auch heute erinnert man sich seiner als bemerkenswertes Beispiel einer bizarren Verschwörung; ausgeführt von ein paar Doktores, deren Gründe noch immer im dunklen liegen. Der Harvard-Biologe Stephan Jay Gould hat die überzeugende Behauptung aufgestellt, dass der große jesuitische Wissenschaftler Teilhard de Chardin mit großer Wahrscheinlichkeit an der Täuschung beteiligt gewesen ist. Heute wissen wir nahezu die ganze Geschichte: wie der Unterkiefer eines Menschenaffen, die Zähne sorgfältig heruntergefeilt, mit dem Schädelfragment eines Menschen verbunden wurde; wie er in der Nähe eines englischen Herrenhauses heimlich vergraben und 1911 nahe Piltdown ausgegraben und der Welt als ›Piltdown-Fossil‹ präsentiert wurde. Als einmaliges Exemplar des bisher fehlenden Gliedes zwischen Mensch und Affe. Heute würde ein derart dreister Betrug sofort aufgedeckt. Die abgefeilten Zähne würden unter dem Mikroskop sofort auffallen, und Fluortests würden deutlich erkennen lassen, dass Schädel und Unterkiefer nicht das gleiche Alter haben. Denn Fossilien absorbieren ständig Fluor aus der Erde, und die große Diskrepanz hätte bewiesen, dass Kiefer und Schädel nicht zusammengehören. Doch während der Piltdown-Affäre wurde der Schädel in den Gewölben des British Museum of Natural History als nationale Kostbarkeit gehütet, und nur wenigen Auserwählten war es erlaubt, dieses ›Heiligtum‹ zu untersuchen. Die meisten Anthropologen mussten sich mit einem Abguss zufriedengeben. Schließlich war der Schädel des Piltdown Man viel zu kostbar, um von Krethi und Plethi aus der gewöhnlichen Forschergemeinde angefasst zu werden … Als ich 1966 aus Afrika zurückkehrte und meinen ersten Lehrauftrag in England annahm, besuchte ich das British Museum of Natural History, um dort Affenschädel zu untersuchen, 54

von denen einige 1920 von L. S. B. Leakey gesammelt worden waren. Während ich mich im Museum aufhielt, rief ich meinen Kollegen Kenneth Oakley an, der maßgeblich an der Aufdekkung des Piltdown-Schwindels beteiligt gewesen war. Oakley lud mich ein, ihn in der Sammlung zu besuchen, wo wir angeregt über den Piltdown-Schädel und seine Geschichte plauderten. »Möchten Sie ihn sehen?«, fragte mich Oakley unvermittelt. Wie hätte ich ein solches Angebot ausschlagen können? Endlich jenen Schädel zu sehen, der eine Vielzahl von Anthropologen in Atem gehalten hatte. Ich bejahte nachdrücklich. Zu meiner Verblüffung griff Oakley hinter sich in einen Aktenschrank und begann darin zu wühlen; nach wenigen Minuten legte er den Schädel vor mich auf den Tisch. Während ich den ›altehrwürdigen Betrüger‹ in meinen Händen hielt, dachte ich darüber nach, wie tief er doch von seiner angeblichen Sprosse auf der Evolutionsleiter heruntergefallen war. In meinem Leben gibt es drei Frauen, die sich mit meinem zum Teil doch außergewöhnlichen Beruf auseinandersetzen müssen: meine Frau Margret und meine Töchter Lisa und Cynthia. Ich gebe zu, dass mein Beruf hohe Anforderungen an meine Ehe stellt. Während mich meine Frau oft bittet, meine Kleidung direkt vor der Waschmaschine auszuziehen, fragt mich Lisa während des Abendessens nach den Einzelheiten meines neuesten Falls. Eines Tages überredete ich meine Frau, mit mir in ihrem Wagen nach Fort Meyers zu fahren, um dort eine Leiche abzuholen. Keine leichte Entscheidung für Margret, denn sie hatte sich gerade einen neuen Wagen gekauft, einen Cadillac Cimarron. Die Leiche war bereits im fortgeschrittenen Verwesungsstadium, sodass ich sie noch im Leichenschauhaus auseinander nahm und in einen großen Sack verpackte. Unglücklicherweise hatte ich übersehen, dass ein Knochen gebrochen war. Während der Rückfahrt bohrte er ein Loch in den Sack, und der Inhalt tröpfelte in den Kofferraum. Als wir den Geruch wahrnahmen, öffneten wir zunächst ein55

fach die Fenster. Doch als wir in der Höhe von Tampa waren, war der Geruch bereits so stark geworden, dass wir beschlossen auszusteigen und Mittag zu essen. Wir parkten den Wagen mit geöffneten Fenstern in Sichtweite auf dem Parkplatz des Restaurants. Als wir wieder in den Wagen stiegen, wunderten wir uns, dass noch niemand die Polizei benachrichtigt hatte. Wir setzten unsere Fahrt Richtung Norden fort. Plötzlich kreisten Geier über uns … Nun, ich denke, das war eher ein Zufall. Doch er verlieh der Situation etwas Gruseliges. Zum Glück befanden sich unter der Teppichverkleidung des Kofferraums Gummimatten, so konnten wir den Wagen gründlich reinigen. Meine Frau hat sich allerdings nie an dieses Auto gewöhnen können, die Erinnerung war wohl zu stark. Wenige Wochen nach unserer abenteuerlichen Fahrt hat sie den Cadillac verkauft. Im täglichen Umgang mit dem Tod ist Galgenhumor sicherlich ein unumgänglicher Selbstschutz. Ich wehre mich aber gegen jenen häufig zu beobachtenden pietätlosen Humor. Dementsprechend erlaube ich meinen Studenten nicht, mit Skeletten irgendwelche üblen Scherze zu treiben. Ihnen Hüte aufzusetzen, sie anzuziehen oder ihnen Zigarren in den Mund zu stecken. Ich empfinde es auch als absolut überflüssig, ihnen komische Namen wie Roscoe oder Alphonse zu geben. Als Mitarbeiter in Laboratorien und als Zeuge in Gerichtsverhandlungen habe ich viele solcher Dinge erlebt. Ein Staatsanwalt wollte einmal von mir wissen, wie denn das Skelett heiße, das gerade aufgestellt wurde. »Und, wie nennen Sie das Teil? Hat es einen Spitznamen?« »Es ist ein Skelett, und ich nenne es Skelett.« Meiner Meinung nach verdienen auch die sterblichen Überreste, gleich welcher Art, unseren Respekt.

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4 Die alles umschließende Erde Romeo: Sei guten Muts, Freund! Die Wunde kann nicht beträchtlich sein. Mercutio: Nein, nicht so tief wie ein Brunnen noch so weit wie eine Kirchtüre; aber es reicht eben hin. Fragt morgen nach mir, und Ihr werdet einen stillen Mann an mir finden … WILLIAM SHAKESPEARE (1564-1616), Romeo und Julia, Dritter Akt, 1. Szene

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Ein Freund von mir, Dr. Michael Baden, der frühere Chef der Leichenbeschauer von New York, sagte immer, dass kein Begräbnis für die Ewigkeit sei. Es handle sich lediglich um eine Langzeitlagerung. Die Newtonsche Physik lehrt uns, dass alles, was aufsteigt, auch wieder herunterkommt. In Bezug auf Leichen ist es oft umgekehrt: häufig kommen sie wieder an die Oberfläche, und der Anblick kann überaus seltsam sein. Ruhe sanft lassen wir in Grabsteine meißeln, und schwere Marmorplatten versiegeln die Grabstätte. In Hydriotaphia schreibt Sir Thomas Browne: »Es gibt kein Gegenmittel gegen das Opium der Zeit. Unsere Väter finden ihre letzte Ruhestätte in unserer kurzlebigen Erinnerung und erzählen uns traurig, wie wir in der unserer Hinterbliebenen begraben sein werden. Grabsteine erzählen die Wahrheit knappe vierzig Jahre lang. Generationen vergehen, während Bäume noch stehen, und alte Familiengeschlechter überleben nicht einmal drei Eichen …« Ich habe bei zahlreichen Exhumierungen assistiert, und immer wieder hat mich verblüfft, was Menschen tun, um eine Leiche loszuwerden. In einem Fall vergrub ein Mann die von ihm ermordete Freundin am Strand und ließ ein Bein herausschauen, damit sie gefunden und anständig beerdigt werden konnte. In einem anderen Fall verwandte der Mörder drei Tage lang darauf, sein Opfer im Hinterhof zu verbrennen. Sorgfältig beobachtete er das Feuer, bis die Leiche vollständig verbrannt war – dann stellte er sich der Polizei. Vielleicht hoffte er der Strafe zu entgehen, wenn der tote Körper nicht mehr zu identifizieren war. Sollte dies der Fall gewesen sein, irrte er sich gewaltig, denn es gibt Möglichkeiten, auch verbrannte Leichen zu identifizieren. Von großer Bedeutung ist der Behälter, in dem die sterbli58

chen Überreste beigesetzt werden. Versiegelte Behälter, die die Leiche vor Umwelteinflüssen schützen, wie zum Beispiel Stahlsärge oder Kisten aus Plastik, tragen, selbst über einen langen Zeitraum hinweg, zur Erhaltung der Leiche bei. Ich habe einmal einen einbalsamierten Leichnam gesehen, der in einem versiegelten Sarg in einem Grabgewölbe 27 Jahre überdauerte. Der Körper sah aus, als wäre der Tod erst vor ein paar Tagen eingetreten. Andere Leichen, die in einem Holzsarg gelegen hatten, waren dagegen sehr bald auseinander gefallen, mit stark beschädigten Knochen und praktisch ohne Fettgewebe. In einem Fall hatte man ein Neugeborenes in Textilgewebe eingewickelt, in eine Plastiktüte gelegt und in einem Vinylkoffer in sandigem Boden vergraben. Als wir die Überreste zehn Jahre später ausgruben, wurden die winzigen und empfindlichen Knochen von Fettgewebe in ihrer ursprünglichen Position gehalten, sodass es aussah, als gehörten sie zu einem Körper, der nur wenige Wochen zuvor begraben worden war. Selbst ohne den Schutz irgendeines Behälters bleibt eine Leiche unter der Erde länger erhalten als an der Luft. Generell kann man sagen, dass eine Woche an der freien Luft zwei Wochen im Wasser und acht Wochen unter der Erde entspricht. Doch das entsetzliche Bild von den Würmern, die sich an den Begrabenen gütlich tun, ist falsch. Vielmehr legen Fliegen ihre Eier auf den Körper, und ihre wurmartigen Larven, die Maden, schlüpfen in weniger als 24 Stunden. Dieser Zyklus verläuft so gleichmäßig, dass er dazu verwendet werden kann, die Todeszeit zu bestimmen. Doch die Maden können nicht unter der Erde leben. Mein Kollege Doug Ubelaker von der Smithsonian Institution untersuchte eine alte Begräbnisstätte der ArikaraIndianer in South Dakota und fand heraus, dass in bis zu 38,3 Prozent der dort Begrabenen Hüllen von Fliegenpuppen vorhanden waren. Wie waren diese dahin gekommen? Fliegen und Käfer graben ihre Eier nicht tiefer als wenige Zentimeter in den Boden ein. Die Antwort ist einfach: Die Insekten fanden ihren 59

Weg in die Leiche vor deren Grablegung, sodass sie lebendig mit ihr begraben wurden. Als wir die sterblichen Überreste Zachary Taylors, des 12. Präsidenten der Vereinigten Staaten, untersuchten, fanden wir zwischen seinen Knochen Puppenhüllen von Fliegen. Die fleißigen Fliegen von D.C. hatten sich auf Taylors Leiche gesetzt, als dieser aufgebahrt gewesen war. Maden sind robuste, einfallsreiche Tiere, die sich ihrem Lebensraum optimal angepasst haben. Ihre Chitinhülle ist nahezu undurchdringlich, und auch die sterblichen Überreste eines mit Cynamid vergifteten Menschen können ihnen nichts anhaben. Doch wir wollen zurückkommen auf das Vergraben von Leichen. Tote Körper zu begraben, ist die am häufigsten angewandte Methode. Sowohl bei natürlichem Tod als auch bei Mord. Im zweiten Fall ist es jedoch sehr schwierig, die Leiche zu finden. Es sei denn, man erhält einen Hinweis auf den Ort. Doch selbst dann kann sich die Suche als äußerst schwierig erweisen. Die Vegetation hat sich verändert, und/oder der Täter kann sich nicht mehr genau erinnern: »Ich glaube, es war hier. Aber es war dunkel. Ich weiß nicht mehr.« Je mehr Personen beteiligt waren, umso schwerer kann es sein, den vergrabenen Körper zu finden. Ein, wie ich finde, außergewöhnlicher Fall ereignete sich vor einigen Jahren. Das Opfer war ein junger Mann, der wegen psychischer Probleme aus der Army entlassen worden war. Wenige Monate nach seiner Entlassung besuchte er die Geburtstagsfeier eines Freundes, der auf Bewährung aus dem Gefängnis gekommen war. Dieser hatte von seiner Freundin einen Revolver mit passendem Gurt bekommen. Der Mann war so begeistert oder auch neidisch auf dieses Geschenk, dass er lauthals forderte, den Gurt anziehen zu dürfen. Der Freund gab nach, und der Gast verschwand mit dem Revolver im Garten. Als der Gastgeber ihm folgte, fiel nach wenigen Minuten ein Schuss: Der junge Mann hatte sich selbst erschossen. Aus Angst, wieder ins 60

Gefängnis zu müssen, machte der Gastgeber keine Anzeige, sondern wickelte die Leiche in einen Schlafsack und vergrub sie mithilfe seiner Gäste. Es dauerte jedoch nicht lange, und die Geschichte um die Schießerei drang an die Öffentlichkeit. Der Mann wurde wegen Versäumnis einer Anzeige, unerlaubten Waffenbesitzes und Mordes angeklagt. Die Schießerei hatte sich Ende 1979 ereignet, doch erst im November 1980 fand man die Leiche. Während dieser Zeit zermarterten sich die reumütigen Partygäste die Köpfe, wo genau sie die Leiche vergraben hatten. Als sie schließlich gefunden und ausgegraben wurde, stellte ich bei meinen Untersuchungen fest, dass das Geschoß des Revolvers den Kopf in ca. achtzig Fragmente zersplittert hatte. Die Flugbahn der Kugel, die durch den rechten Schläfenbeinknochen in den Schädel eingedrungen war, wies aufwärts und leicht nach vorn, was die Vermutung eines Selbstmordes bestätigte. Aufgrund der Rekonstruktion des Schädels wurde der Angeklagte vom Vorwurf des Mordes freigesprochen und für die verbleibenden Anklagepunkte zu 186 Tagen Haft verurteilt. Die Partygäste wurden trotz ihres zweifelhaften Verhaltens nicht angeklagt. 1981 beendete ein 17-jähriges Mädchen ihre langjährige Misshandlung durch einen gut gezielten Schuss mit einem Gewehr Kaliber .22. Die Leiche des Opfers fanden wir in einem flachen Grab. Meine Untersuchung des Schädels sollte helfen, die Aussagen des Mädchens zu bestätigen. Dieses hatte ausgesagt, ihren Stiefvater, nachdem er sie zum wiederholten Mal brutal sexuell missbraucht hatte, erschossen zu haben. Sie habe das Gewehr aus der Ecke genommen und aus der Hüfte geschossen. Danach habe sie gemeinsam mit ihrer Mutter die Leiche weggeschafft und in einem Waldstück vergraben. Nach einem Jahr hatten Mutter und Tochter das Verbrechen gestanden. Nachdem wir die Leiche gefunden hatten, konnten wir durch einen Vergleich von Röntgenbildern feststellen, dass es sich tatsächlich um den getöteten Stiefvater handelte. Ich un61

tersuchte die Leiche und fand einen kleinkalibrigen Einschuss direkt zwischen den Augen, der dann die Schädeldecke durchschlagen hatte. Die Flugbahn der Kugel bestätigte die Geschichte des Mädchens. Ich gebe zu, dass ich in diesem Fall kein Mitleid mit dem Opfer hatte. Meine Sympathie galt vielmehr dem bedauernswerten Mädchen. Sie wurde als jugendliche Straftäterin angeklagt und in eine Einrichtung der Jugendrechtspflege überstellt, wo sie eine Therapie machen konnte. In einem anderen Fall hatte ein alter Mann seinen Schwiegersohn ermordet und in einem Faulbehälter versteckt. Jahrelang hatte der Alte seine Nachbarn mit der Geschichte tyrannisiert, er habe seinen Schwiegersohn erschossen, und jeder, der ihm in die Quere komme, werde genauso enden. Niemand nahm den alten Querkopf ernst, und schließlich starb er. Sein Haus wurde verkauft, und als der neue Besitzer den Faulbehälter säubern wollte, machte er einen fürchterlichen Fund. Er entdeckte die zur Hälfte skelettierten Überreste eines Mannes mittleren Alters mit der Kugel einer .22er in der Stirn. Faulbehälter sind in Florida, wo viele kleine Gemeinden noch nicht an das öffentliche Abflusssystem angeschlossen sind, durchaus üblich. In ihnen entwickeln sich die unterschiedlichsten Biotope: eine große Menge Trockensubstanz, die wie eine Matte auf der Flüssigkeit schwimmt. Der aktive Zersetzungsprozess findet in der Flüssigkeit und an der Unterseite der ›Matte‹ statt. Auf dem Boden des Behälters liegt eine kompakte Masse von Lehm und Sand völlig sauerstofflos, auf der sich Schaben tummeln. Der Ermordete war bekleidet, mit dem Kopf nach unten, in den Tank geworfen worden. Seine Hände und Füße hingen in der Flüssigkeit. Nachdem sich das Fleisch an seinen Gliedern zersetzt hatte, lösten sich allmählich Knochen und Kopf und glitten auf den Boden des Behälters. In dieser sauerstofflosen Umgebung wurden sie vor dem weiteren Verfall bewahrt, sodass das Opfer eindeutig identifiziert werden konnte. Der Rest 62

des Körpers war jedoch kaum mehr zu erkennen. Seit ca. 15 Jahren war der Mann vermisst worden. Von der Möglichkeit der Gesichtsrekonstruktion mache ich nur selten Gebrauch. Meist lassen sich die Opfer anhand anderer Dinge einwandfrei identifizieren. Nicht so im folgenden Fall. Der Norden Floridas ist bekannt für seine indianischen Begräbnishügel, in denen man jahrhundertealte Pfeilspitzen, Feuersteine und Keramik finden kann. Leider versuchen deshalb viele Trophäenjäger, obwohl die Grabungen verboten sind, ihr Glück und behindern so die Arbeit der Archäologen. Zwei solcher selbsternannter Archäologen fanden bei ihren heimlichen Grabungen die Leiche einer jungen Frau. Sie trug einen blonden Pferdeschwanz und war in einen Müllsack gewickelt. Nach einigem Hin und Her entschieden sich die beiden, zur Polizei zu gehen und den Fund zu melden. Das Büro des Sheriffs bat das Florida Department of Law Enforcement (FDLE) um Hilfe, die sich wiederum an mich wandten. Da die Leiche in einem Plastiksack vergraben worden war, waren die Gewebeteile noch weitgehend erhalten. Der Körper des Opfers gab Auskunft über die Verletzungen, die ihm zugefügt worden waren, und erlaubte eine genaue Beschreibung der Verstorbenen. Lediglich das Gesicht war bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Ein Umstand, der auch bei frischen Leichen zu beobachten ist, da im Gesicht relativ bald Veränderungen auftreten. Die Frau hatte zur Zeit ihres Todes ein T-Shirt mit der Aufschrift Piggly Wiggly getragen. Die Piggly-Wiggly-Ladenkette ist im Süden der Vereinigten Staaten weitverbreitet. Die Polizei suchte also alle Läden in der näheren Umgebung auf und fragte dort nach den T-Shirts, wie viele wann verkauft worden waren. Ob Mitarbeiterinnen T-Shirts gekauft hatten, fragten sie allerdings nicht. Schließlich gaben sie die Suche auf. Wir bemühten uns währenddessen um eine Spezialistin für Gesichtsrekonstruktionen, der wir alle notwendigen Informationen gaben: Körper63

größe, geschätztes Gewicht, Haarfarbe etc. Das Bild der Verstorbenen wurde zusammen mit der Beschreibung der Kleidung in der Zeitung veröffentlicht. Wenige Tage später meldete sich eine ältere Dame, die glaubte, in dem Opfer ihre Enkelin wiederzuerkennen. Leider sollte sie Recht behalten. Anhand der Röntgenaufnahmen des Zahnarztes konnten wir belegen, dass die Zähne der Toten mit denen der Enkelin übereinstimmten. Der Fall wurde jedoch nie ganz aufgeklärt. Es gab zwar einen Verdächtigen, aber nicht genügend Beweise, um ihn zu überführen. Der makaberste Fall vergrabener Leichen war sicherlich der der La Belle-Drogenmorde. Er ereignete sich 1981. Ich wurde eingeschaltet, als mich Dr. Wally Graves, der Leichenbeschauer von Fort Myers, anrief und mitteilte, die Polizei habe ein Grab mit drei männlichen Leichen gefunden. Es handelte sich um ein Verbrechen im Rauschgiftmilieu: Drei Geschäftsleute waren aus dem Nordosten nach Florida gekommen, um mit den örtlichen Drogenbossen zu verhandeln. Wie so oft, waren die Verhandlungen gescheitert. Die drei Männer waren später aus ihrem Hotel entführt, erschossen und vergraben worden. All diese Informationen hatte die Polizei durch einen Informanten erhalten. Die Einzelheiten des Tathergangs sollten aus den stratigraphischen Belegen am Ort des Verbrechens rekonstruiert werden. Also mussten die Leichen mit aller Vorsicht ausgegraben werden, wenn gegen die Mörder eine Anklage zustande kommen sollte. Die Ermordeten waren einer nach dem anderen in das Loch gelegt, erschossen und dann zugescharrt worden. Sie hatten drei Jahre lang aufeinander gelegen. Die Ausgrabungsprozedur stellte sich als sehr komplex heraus und musste unter strikter Geheimhaltung und strengen Sicherheitsvorkehrungen stattfinden. Alle hofften inständig, dass nichts von unserem Tun an die Öffentlichkeit drang. Nicht nur zur Sicherheit des Informanten, auch zu unserer eigenen. Ich brachte zu den Aus64

grabungen eine Archäologin mit, Frau Dr. Brenda SiglerEisenberg vom Florida Museum of Natural History, die Erfahrung mit schwierigen Ausgrabungen hat. Vor unserer morgendlichen Abfahrt zur Ausgrabungsstätte untersuchte ich den Wagen intensiv nach Manipulationen; es war mir nicht entgangen, dass wir im gleichen Hotel wohnten, aus dem die drei Opfer entführt worden waren. An der Grabstelle arbeiteten Ermittlungsbeamte und die Spurensicherung. Der örtliche Sheriff und seine Deputies waren mit Sturmgewehren bewaffnet, um den Ort abzusichern. Der Chef der Feuerwehr war mit einem Pumpenwagen da, damit wir genügend Wasser zur Verfügung hatten, um Beweismaterial zu waschen oder den lehmigen Boden zu sieben. Selbst das kleinste Stückchen Beweismaterial sollte uns nicht entgehen. Der Schädel der ersten Leiche war gefunden worden, noch ehe Frau Dr. Sigler und ich an der Fundstelle eingetroffen waren. Eine Schaufel hatte die Oberfläche des trockenen Knochens angeschabt, und wir konnten einen ca. 7 cm großen runden Fleck des freigelegten Schädels erkennen. Von diesem Punkt aus setzten wir unsere Grabungen fort, nachdem wir ein Koordinatensystem und die Tiefenkontrolle eingerichtet hatten. Viele Freiwillige von Polizei und Feuerwehr halfen uns, indem sie eimerweise Erde wegtrugen und Material wuschen. Während der nächsten Tage wurde das Grab langsam ausgehoben, und wir sahen immer grausamere Dinge. Die Hände der obersten Leiche waren auf dem Rücken und mit den Knöcheln zusammengebunden. Der Mund war mit Isolierband verklebt. Der Kopf zeigte deutlich eine Schussverletzung, die man ihm aus nächster Nähe zugefügt haben musste. Die Leiche unter ihm lag mit dem Gesicht nach unten, um eine Hand war ein Seil gebunden. Der Mann war von vorn in die obere rechte Brustseite geschossen worden und war dann auf den dritten Toten gefallen. Während der Ausgrabungen litt ich an starken Rückenschmerzen, sodass ich mich kaum noch halten konnte. Um mir 65

etwas Erleichterung zu verschaffen, kroch ich in das Loch hinein und legte mich neben die Leichen, um sie auszugraben. Diese unorthodoxe Methode amüsierte die anderen Beteiligten, und der Leichenbeschauer photographierte mich in dieser Stellung, eine Flasche Dr. Pepper-Limonade in der Hand. Unsere Kleidung wurde sehr schnell dreckig und stank. Dementsprechend hatten wir zunächst einige Mühe, das Hotelpersonal davon zu überzeugen, dass es wichtig sei, unsere Kleidung täglich zu waschen. Die Ermittlungsbeamten wurden mit jedem Tag ungeduldiger. Und als Frau Dr. Sigler sagte, wir bräuchten Teelöffel, um den Boden rund um die Leichen vorsichtig wegkratzen zu können, befürchtete ich schon einen Aufstand. Doch die Tatkraft, mit der Dr. Sigler an die Arbeit ging, beeindruckte uns alle. Oft bestand sie darauf, auf die Mittagspause zu verzichten und weiterzuarbeiten. Später gestand sie mir dann, dass es ihr viel zu übel gewesen sei, um zu essen. Die dritte Leiche, die unter den beiden ersten begraben lag, war ziemlich gut erhalten. Bei der Autopsie waren selbst die Organe noch erkennbar. Eine Leiche ist umso besser erhalten, je tiefer sie in der Erde gelegen hat. In dem Loch fanden wir auch kleine Plastikhüllen, die das Schrot der Gewehrpatronen umhüllt hatten. Durch die genaue Lokalisierung dieser Hüllen auf und zwischen den Ermordeten waren wir in der Lage, die Reihenfolge der Ereignisse zu bestimmen: Die unterste Leiche war zuletzt erschossen worden, nicht zuerst! Unsere Schlussfolgerung wurde durch den Informanten bestätigt. Nachdem die drei Männer aus dem Hotel entführt worden waren, wurde ihnen bewusst, dass sie umgebracht werden würden. Der dritte Mann bat, ihn zuerst zu erschießen, damit er die Ermordung seiner Freunde nicht mit ansehen müsse. Daraufhin wurde er lebend in das Loch gestoßen und seine Freunde einer nach dem anderen erschossen. Die Leichen fielen blutend auf ihn. Erst dann wurde auch er erschossen. An die Todesangst, die dieser 66

Mann durchstehen musste, will ich gar nicht denken. Alle Ergebnisse unserer Ausgrabungen wurden später durch die Aussagen des Informanten bestätigt. Insgesamt wurden zwanzig Personen verhaftet und wegen Drogenschmuggels bzw. Mordes angeklagt. Ich war erleichtert, sie dort zu wissen. Der eigentliche Todesschütze war ein Mann namens Larry Ferguson. Er wurde zu 21 Jahren Gefängnis verurteilt. Doch all dies lag noch in ferner Zukunft, als wir unsere Ausgrabungen beendeten und die Leichen zur Untersuchung weggebracht wurden. Zum Abschluss schoss einer der Ermittlungsbeamten ein Wildschwein, das wir in der Nähe der Ausgrabungsstelle grillten und mit gebackenen Bohnen und wildem Kohl verspeisten. An diesem Abend fand selbst Frau Dr. Sigler ihren Appetit wieder.

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5 Treibgut Der blecherne Holzfäller: »Was ist denn mit dir passiert?« Die Vogelscheuche: »Sie haben mir die Beine ausgerissen und dahinten hingeworfen! Dann rissen sie mir das Stroh aus der Brust und haben es dort hingeworfen!« Der blecherne Holzfäller. »Aha, das da alles bist also du!« Der feige Löwe: »Sie haben dich sicherlich zur Schnecke gemacht, oder?« Die Vogelscheuche: »Steht da nicht rum und quatscht! Setzt mich wieder zusammen!« L. F. BAUM, Der Zauberer von Oz LANGLEY, F. RYERSON UND E. A. WOOLF

NACH N.

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Einen toten Körper dadurch zu entweihen, dass man ihn in Stücke zerschneidet, erscheint – zumindest im abendländischen Denken – schon immer als Akt bestialischer Brutalität. Vergil rührt uns in der Äneis zu Tränen mit seiner Beschreibung des Todes von König Priamus nach dem Fall Trojas. Der König hat sein Leben verloren und, was noch viel schwerer wiegt, auch sein Selbst: Er, der einst Herr so vieler Stämme und Länder war, der König von Kleinasien – liegt wie ein großer Baumstamm am Gestade, sein Kopf getrennt von seinen Schultern, ein Körper ohne Namen! Ich denke, es ist eine Sache, einen Mord zu begehen, und eine andere, die Identität des Opfers zu zerstören – und genau dieses Moment liegt in der Zerstückelung. Ich habe jährlich ungefähr vier oder fünf Zerstückelungsfälle, die zumeist sehr erschütternd sind. Ich spreche nicht von den ›zufälligen‹ Zerstückelungen durch Auto- oder Arbeitsunfälle, sondern ich meine Morde, bei denen die Opfer kaltblütig in Stücke geschnitten wurden. Einen menschlichen Körper zu zerschneiden ist Schwerstarbeit, und ich habe schon alle erdenklichen Werkzeuge gesehen, die für diesen grausigen Zweck benutzt wurden. Angefangen bei urtümlichen Steinbeilen bis hin zu Rambo-Messern und Metall- und Kettensägen. Es ist ein blutiges, schmutziges und gefährliches Unterfangen. Sägen oder Messer können abrutschen, und der Täter verletzt sich selbst. Hinzu kommt noch die Gefahr, sich mit dem HIV-Virus zu infizieren, wenn das Opfer erkrankt bzw. positiv war. In einem solchen Fall hätte sich das Opfer selbst noch nach seinem Tod am 69

Mörder gerächt. Die Zerstückelung ist leider die effektivste Art und Weise, die Identität eines Mordopfers zu verschleiern. Infolgedessen werden im folgenden Kapitel mehr Fragen aufgeworfen, als dass ich in der Lage wäre, Antworten zu geben. Um einen Tathergang zu rekonstruieren, versetze ich mich meist in die Lage des Opfers. Ich stelle mir vor, wie das Gewehr auf mich zielt, das Messer, der Hammer oder die Axt sich hebt und fällt. Wie das Opfer verteidige ich mich. Werfe meine Arme hoch, kralle mich fest, drehe den Kopf zur Seite … klammere mich ans Leben. Bei Zerstückelungsfällen ist das Opfer jedoch bereits tot. Ich muss mich also in die Lage des Mörders versetzen. Ich werde zum Zerstückeler, stelle mir den Ort des Verbrechens vor, die benutzten Werkzeuge, die Hiebe, die den toten Körper treffen: »Warum hast du hier geschnitten?«, frage ich mich. »Welche Werkzeuge hast du benutzt? Wann hast du innegehalten, um Atem zu schöpfen? Warst du in Eile? Hast du ein Werkzeug weggeworfen und dir ein neues genommen?« Viele Zerstückelungen werden in der Badewanne begangen; und in den meisten der von mir untersuchten Fälle waren interessanterweise Mitglieder von Motorradbanden oder Menschen aus dem Drogenmilieu beteiligt. In Florida, wo ich arbeite, konzentrieren sich die Fälle entlang der Interstate 95; und wenn Florida eine ›Zerstückelungshauptstadt‹ hätte, wäre es sicherlich Daytona Beach. Die Interstates, also die großen, das ganze Land durchziehenden Highways, könnte man als die Venen und Arterien des Verbrechens in Amerika bezeichnen. Nach meiner Meinung nach sollten daher alle Verbrechen, die entlang eines solchen Highways verübt werden, exterritorial behandelt werden; losgelöst vom Gesetz des jeweiligen Staates, durch den sie führen. Als ich mit meiner Arbeit begann, benutzten die meisten Mörder Metallsägen zur Zerstückelung. Denn diese waren 70

leicht zu beschaffen und ebenso leicht zu entsorgen. Darüber hinaus ist es mit ihnen relativ leicht, Knochen zu durchschneiden; jedenfalls sehr viel einfacher als mit einer Holzsäge. Uns können Metallsägen wiederum wichtige Hinweise geben, denn häufig hinterlässt das Sägeblatt einen farbigen Schmierfilm auf der Knochenoberfläche – grau, orange, blau, gelb. Aufgrund der chemischen Analyse des Schmierfilms können wir dann die Marke der Säge bestimmen. Seit einigen Jahren verwenden die Täter jedoch verstärkt Kettensägen. Sie sind zeitsparend und mit weniger Anstrengung verbunden. Ein offensichtlicher Nachteil ist allerdings ihre Lautstärke und die Tatsache, dass sie viele Spuren hinterlassen: Sie schleudern Blut und Leichenfetzen in alle Richtungen. Doch aus diesen Spuren können wir Ermittler viele Rückschlüsse ziehen. In naher Zukunft wird es sicherlich möglich sein, anhand der verspritzten Gewebereste die DNA des Opfers zu bestimmen und mit der des vermuteten Opfers zu vergleichen. Nachdem ich wiederholt mit Zerstückelungsfällen konfrontiert wurde, ließ ich für die Sammlung des C. A. Pound Human Identification Laboratory eine Art Referenzbibliothek anlegen. Es handelt sich um ein Set von Rinderknochen, auf denen unterschiedliche Sägespuren wiedergegeben sind. Von Küchensägen, Tischkreissägen, Holzsägen, Bandsägen, Metallsägen, Schrotsägen, Baumsägen, Kettensägen und selbst von der Strykersäge aus der Anatomie. Unter dem Mikroskop wird für jeden Sägetyp ein individuelles Zahnmuster am Knochen sichtbar. Eine Strykersäge zum Beispiel zeigt ein Muster aus runden Bögen mit kleinen Radien, von denen einige überlappen. Der Schnitt einer neuen Bandsäge ist ausgesprochen glatt; sie hinterlässt nur wenige Sägezahnabdrücke, und die, die sie hinterlässt, sind langgestreckt, fein und überlappen nur selten. Im Gegensatz dazu überlappen die Muster von Metallsägen häufig, da die sägende Person beim Durchsägen des Knochens den 71

Schnittwinkel verändert. Kettensägenmuster gehen gerade durch den Knochen. Eine Tischkreissäge mit rotierendem 20cm-Blatt produziert parallele Bögen. All diese ›Schnittmuster‹ haben wir sorgfältig beschriftet und photographiert. Jeder, der schon mal ein Hähnchen oder eine Pute tranchiert hat, weiß, dass es viel einfacher ist, durch die Gelenke zu schneiden statt durch festen Knochen. Doch Sie werden staunen, wie selten Zerstückeler beispielsweise die Beine an der Hüfte abtrennen. Die meisten sägen unterhalb des Beckens, sodass der Stumpf des Oberschenkelknochens noch mehrere Zentimeter lang ist. Dieser Stumpf wiederum kann den Ermittlern eine Vielzahl von Hinweisen liefern. Der Oberschenkelknochen hat an dieser Stelle eine sehr dicke Knochenaußenwand, an der wir Sägezahnspuren deutlich erkennen können. Dünnwandige Knochen eignen sich nur halb so gut für diesen Nachweis. Aber selbst wenn zum Abtrennen der Gelenke ein Messer benutzt wurde, hinterlässt es verräterische Spuren. Ich will damit sagen, dass es keine Möglichkeit gibt, eine Leiche zu zerstückeln, ohne dass es Hinweise auf das Werkzeug gibt, das benutzt wurde. Im Jahr 1981 wurde ich ins Büro des Leichenbeschauers von Leesburg, Florida, gebeten. Jemand hatte einen Hund dabei beobachtet, wie er am Straßenrand etwas fraß. Bei näherem Hinsehen stellte sich heraus, dass es sich um den unteren Teil eines – frischen – linken menschlichen Beines handelte. Der Hund war hungrig gewesen, sodass schon das meiste Muskelgewebe verschlungen war. Eine Woche später wurde fast 200 Kilometer entfernt, in der Nähe von Daytona, der untere Teil eines rechten Beines gefunden. Bei der Untersuchung stellte ich fest, dass sich die Beine sehr ähnelten und mit großer Wahrscheinlichkeit von ein und demselben Menschen stammten. Zum Beispiel zeigte die Haut beider Knie Schwielen, wie man sie oft bei Surfern sieht. Die Beine waren ca. zwei Zentimeter oberhalb der Kniegelenke abgeschnitten worden, die 72

Schnitte verliefen bei beiden Beinen auf gleicher Höhe. Dass es sich um eine Zerstückelung durch eine Metallsäge handelte, erkannte ich an den feinen langgestreckten Zahnmalen, die sich überlappten. Die Beine des Surfers waren leider alles, was wir jemals fanden. Daher waren wir nicht in der Lage, die Überreste einem Namen zuzuordnen. Der Weg, den der Wagen des Mörders genommen hatte, konnte aufgrund des Highwayverlaufs leicht rekonstruiert werden. Doch obwohl alle Sheriffbüros der Umgebung informiert waren und nach weiteren Leichenteilen Ausschau hielten, konnten wir den Fall nie endgültig klären. Viele Zerstückelungsdelikte, mit denen ich zu tun habe, stehen im Zusammenhang mit Drogengeschäften, also mit dem organisierten Verbrechen. Dieser Teil unserer Gesellschaft hat viel Morderfahrung und vor allem auch Erfahrung im Verwischen von Spuren. 1987 wurde ich gebeten, einen kopf-, arm- und beinlosen Rumpf zu untersuchen, auf dessen Schulter sich die Tätowierung eines Sensenmannes befand – sensenschwingend und den knochigen Kiefer höhnisch lachend verzogen. Weder Kopf noch Beine wurden je gefunden, doch wir hofften, den Torso durch die Tätowierung identifizieren zu können. Tätowierungen sind auch lange nach Eintreten des Todes noch sichtbar, nahezu so lange, wie die Haut der Leiche erhalten bleibt. Die Farben einer Tätowierung werden sogar im ersten Stadium der Zersetzung, wenn sich die Epidermis, die äußere Schicht der Haut, ablöst, noch viel kräftiger; denn die Tätowierungstinte befindet sich erst in der unteren Hautschicht. Wir machten also Photos von der Tätowierung, die die Polizei in allen Kneipen zeigte, die von Motorradfreaks besucht werden. Doch niemand erinnerte sich daran, sie jemals gesehen zu haben – zumindest gab es keiner zu. Die Leiche wurde nie identifiziert. Der Sensenmann verspottete uns alle mit seinem knöchernen Grinsen. 73

Schutzlos herumliegende Leichen werden schnell ein Teil der Nahrungskette. Fliegen, Käfer, Hunde, Waschbären und viele andere Tiere fressen sich an dem satt, was der Tod zu bieten hat. Im Wasser sind es Alligatoren, Fische, Krabben und Haie. In solchen Fällen muss sich der Ermittler seinen Weg durch eine Menge ›Banketteilnehmern‹ freikämpfen, bevor er die Überreste bergen und untersuchen kann. Einige Schwierigkeiten bereitete mir ein Fall, bei dem eine Leiche in zwei Stücken gefunden wurde. Die beiden Leichenteile, der Kopf und Teile des Halses sowie der Rumpf mit Beinen und Füßen, die teilweise abgeschnitten waren, waren an unterschiedlichen Stellen der Florida Keys an Land gespült worden. Die Überreste zeigten deutliche Spuren von Haizähnen. An den Halswirbeln waren darüber hinaus aber auch schwache Male erkennbar, die darauf hinwiesen, dass der Kopf abgesägt worden war. Weitere Untersuchungen bestätigten meine Vermutung: Kein Zweifel, wir hatten es nicht mit einem Haiangriff, sondern mit einem Fall von Zerstückelung zu tun, möglicherweise auf einem Schiff begangen. Ich zog den Schluss, dass in diesem Fall wahrscheinlich eine Metallsäge das Tatwerkzeug gewesen war. Die Leiche wurde in drei Teile geschnitten und dann ins Meer geworfen. Da beide Leichenteile von Haien beschädigt worden waren, nehme ich an, dass ihnen auch der Rest der Leiche zum Opfer gefallen ist. Auch in diesem Fall konnten weder Opfer noch Mörder jemals identifiziert werden. Haie sind die Aasfresser der Meere, und hin und wieder findet man in einem Haimagen auch menschliche Überreste. Jedoch nur, wenn der Hai kurz nach der Nahrungsaufnahme aufgeschnitten wird, denn seine Magensäure ist sehr stark ätzend. Sie löst Knochen innerhalb kurzer Zeit auf. Ein Schienbein, das ich einmal untersuchte, war in einem Hai gefunden worden. Die Beamten waren zunächst davon ausgegangen, es handle sich um die Elle eines Unterarms. Doch die Magensäure hatte 74

den Unterschenkelknochen so zerfressen, dass er nur noch ein Schatten seiner selbst war. Im März 1990 wurde ich zu einem Fall zurückbeordert, in dem es um einen abgetrennten Kopf ging, der im Oktober 1987 in einem geschlossenen Kunststoffeimer an der Ostküste Floridas, in Palm Beach County, gefunden worden war. Drei Jahre lang war der Kopf beim Leichenbeschauer von Palm Beach aufbewahrt worden in der Hoffnung, ihn später identifizieren zu können. Die Geduld des Leichenbeschauers wurde schließlich belohnt. Er hatte erfahren, dass 1983, also vier Jahre bevor der Kopf gefunden wurde, an der gegenüberliegenden Küste Floridas ein kopfloser Rumpf gefunden worden war. Diesen hatte man an einem Zaun lehnend gefunden. Mit einer Kettensäge war der Kopf abgetrennt worden. Obwohl Kopf und Rumpf kilometerweit und zeitlich voneinander getrennt gefunden wurden, konnten wir das Opfer eindeutig identifizieren. Der Kopf war knapp unter dem Zungenbein, dem Adamsapfel, abgetrennt worden. Der Hals endete etwas oberhalb des Schildknorpels. Indem wir die Röntgenbilder des Torsos mit denen des Kopfes zusammenlegten, konnten wir ihre Zusammengehörigkeit beweisen. Aus den Akten der Polizei ging hervor, dass das Opfer ein im Drogengeschäft bekannter Jamaikaner war. Sein Mörder jedoch wurde nie gefunden. Im folgenden Monat wurde mir ein zweigeteilter Körper zur Untersuchung gebracht, den man in einem Kofferset gefunden hatte. Es handelte sich um Koffer der Marke Hercules von Sears. Die beiden Leichenteile waren kilometerweit voneinander entfernt in zwei verschiedenen Counties von Florida gefunden worden. Die Leiche war im Kreuz, am fünften Lendenwirbel, durchtrennt. Eine seltene, doch keineswegs unbekannte Art der Zerstückelung. In diesem besonderen Fall war der Körper jedoch noch einmal in Höhe der Oberschenkel zerschnitten worden. Die Zerstückelung war möglicherweise mit einer feingezahnten Säge, vielleicht einer Metallsäge, vorgenommen 75

worden. Der Torso trug ein T-Shirt mit der Aufschrift Boot Hill Saloon, einer Bar in Daytona, die bei Motorradfans sehr beliebt ist. Wir konnten die Leiche später als einen Motorradfahrer identifizieren, der höchstwahrscheinlich einem Bandenkrieg zum Opfer gefallen war. Seine Mörder, die nie gefunden wurden, zerstückelten ihn, verpackten die Überreste in Koffer und verteilten diese in Florida. Angesichts der Tatsache, dass es kaum möglich ist, die Mörder zu finden und zur Rechenschaft zu ziehen, können Sie sicherlich meine Frustration verstehen. Obwohl ich oft in der Lage war, trotz widriger Umstände weit verstreute Leichenteile zusammenzufügen und die Umstände des Mordes zu rekonstruieren, kann in den wenigsten Fällen der Täter dingfest gemacht werden. Die Wissenschaft mag in diesen Fällen einen Sieg errungen haben, die Gerechtigkeit nicht. Zu früheren Zeiten wären Zerstückelungsfälle gar nicht erst weiter verfolgt worden. Es hätte lediglich einen Eintrag gegeben: ›Zerstückelte Leiche da und da gefunden.‹ Die Leichenteile wären beerdigt und die Unterlagen zu den Akten gelegt worden. Heute können wir, wie ich zu zeigen versucht habe, durch unser verbessertes Wissen über Anatomie und mithilfe modernster Technik schon viel erreichen. Eine der grausigsten Zerstückelungstaten, mit der ich jemals zu tun hatte, endete allerdings mit einem Schuldspruch. Ich nenne den Fall den des ›weißen Indianers‹. 1981, nachdem ich geholfen hatte, die La Belle-Morde aufzuklären, wurde ich gebeten, die Identifizierung einer zerstükkelten männlichen Leiche zu übernehmen. Es handelte sich um einen Mann aus Gainsville, dem einiges Land gehörte, auf dem auch ein leerer Wohnwagen stand, ein sogenannter Trailer. Ein Vietnam-Veteran namens Tim Burgess hatte um Erlaubnis gebeten, auf dem Land campieren zu dürfen. Doch er nutzte die Großzügigkeit des Besitzers bald aus und zog, ohne zu fragen, in den Trailer. Als der Besitzer ihn bat, sein Grundstück zu 76

verlassen, weigerte sich Burgess. Der Grundstückseigner zog Erkundigungen ein und erfuhr, dass Burgess mehrmals vorbestraft war und wiederholt im Gefängnis gesessen hatte. Er war als gewalttätiger Mann bekannt, dessen Geisteszustand Anlass zur Besorgnis geben musste. Also schrieb der Landbesitzer einen Brief an den Bewährungshelfer von Burgess und unterrichtete diesen vom Verhalten seines Mandanten. Man kann sich so seine Gedanken über das amerikanische Rechtssystem machen … Dieser Bewährungshelfer ist sicherlich ein Beispiel für falsche Zurückhaltung. Er hatte nichts Besseres zu tun, als Burgess wiederum einen Brief zu schreiben, in dem er ihn auf das Beschwerdeschreiben seines ›Vermieters‹ hinwies, verbunden mit der ernsten Ermahnung, auch seine Marihuanaernte zu vernichten. Dieser Brief muss wohl das Todesurteil für den Landbesitzer gewesen sein. Denn als er Burgess persönlich stellen wollte, um die Angelegenheit endgültig zu klären, ahnte er nichts von dessen Wut. Er nahm seinen Hund und ging zu Burgess. Weder er noch der Hund wurden jemals wieder gesehen. Wenige Tage später wurde der Mann als vermisst gemeldet, und die Sheriffs suchten sein Anwesen ab. Was sie fanden, war der Pickup des Opfers mit dem toten Hund. Im Gelände stolperten sie über etwas, das aussah wie ein Stock, der aus der Erde ragt. Bei näherem Hinsehen erkannten sie jedoch das abgetrennte Ende eines menschlichen Oberschenkelknochens. (Eine makabre Randbemerkung: Als einer der Ermittler wenige Monate später in einem anderen Teil des Waldstücks seine Blase erleichtern wollte, fand er eine andere Leiche. Er hatte bereits monatelang nach ihr gesucht. Sie würden sich wundern, wenn Sie wüssten, wie viele Leichen unter eben diesen Umständen gefunden werden. Der bekannteste Fall ist sicherlich der des Lindbergh-Babys, dessen Leiche unter den gleichen Umständen von einem LKW-Fahrer gefunden wurde.) Doch zurück zu meinem Fall. Gemeinsam mit meiner Kolle77

gin aus der Archäologie, Frau Dr. Sigler-Eisenberg, grub ich die Überreste aus. Beide Schenkelknochen waren durchgeschnitten, und die Beine waren neben dem Torso vergraben worden. Zu unserer großen Bestürzung hatte der Mörder sein Opfer auch noch skalpiert: Haare und Haut des gesamten oberen Teils des Kopfes waren weggeschnitten. Darüber hinaus wies die Leiche eindeutig Schusswunden auf, am Gesäß, am Unterleib und am Hals. Der Mann war von drei Schüssen getötet worden. Burgess war geflohen; allerdings hatten ihn Zeugen dabei beobachtet, wie er, nicht weit vom Tatort entfernt, mit einer .357er Magnum im Wald verschwunden war. Binnen weniger Minuten hatten alle Beamte den Tatort verlassen und sich auf den Weg zu Burgess’ Versteck gemacht. Dr. Sigler und ich schauten uns an: Plötzlich waren wir ganz allein am Ort des schrecklichen Geschehens. Angespannt warteten wir die Rückkehr der Beamten ab, die sich jedoch gleich wieder verdrückten, als es galt, die fauligen Überreste ins Auto zu hieven. Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie schnell sich auch gestandene Polizisten aus dem Staub machen, wenn Drecksarbeit wie diese zu machen ist. Burgess’ Festnahme war enttäuschend. Während die Suche noch in vollem Gange war, rief er den stellvertretenden Sheriff an und stellte sich. Die Zerstückelungsmethode in diesem Fall war ungewöhnlich. Die Male an einem der Oberschenkel bewiesen, dass ein Messer dazu benutzt worden war, Haut und Muskeln zu durchschneiden; dann wurde das Messer dazu verwendet, um die Knochen durchzuhacken. Wenn Sie einmal versucht haben, mit einem Taschenmesser den Ast eines Baumes zu durchtrennen, werden Sie festgestellt haben, dass es zunächst so aussieht, als kämen Sie gut voran. Nach einer Weile jedoch wird Ihr Arm müde, und Sie sind immer noch nicht durch. So scheint es auch Burgess gegangen zu sein. Müde und frustriert griff er zur Axt und beendete die Amputation mit einem Hieb. 78

Burgess’ brutale Methoden im Umgang mit seinem Opfer waren vergleichbar mit den grotesken Methoden seines Verteidigers, der auf ›nicht schuldig‹ plädierte. Burgess, so erklärte sein Anwalt, habe in Notwehr gehandelt und sei darüber hinaus davon überzeugt, ein weißer Indianer zu sein. Die Tatsache, dass er sein Opfer skalpiert habe, beweise den Tatbestand der Notwehr, denn Indianer würden nur jene Opfer skalpieren, die sie in einem fairen Kampf besiegt hätten. Noch nie habe ich eine derartig erstaunliche und gleichzeitig blödsinnige Verteidigungsrede gehört. Der Anklagevertreter war jedoch gezwungen, einen Ethnologen in den Zeugenstand zu rufen, der die Absurdität der Aussagen des Verteidigers bestätigte. Dann war ich mit meiner Aussage an der Reihe. Mehr als in allen anderen Fällen ist es bei Zerstückelungen eine Qual auszusagen. In grausigen Einzelheiten muss ich darstellen, welche Erkenntnisse ich aus den sterblichen Überresten gewonnen habe. Neben dem Richter und den Geschworenen hören auch die Verwandten des Opfers zu. Bei ihrem Anblick stockt mir oft der Atem, denn ich möchte ihnen diesen Schmerz nicht zufügen. Also konzentriere ich mich auf meine Aussage und versuche, wenn irgend möglich, die Anwesenheit der Verwandten zu ignorieren. Im Fall des ›weißen Indianers‹ führte meine Schilderung der schrecklichen Details jedoch zu einem erstaunlichen Resultat. Mit dem Jagdmesser, das man bei Burgess gefunden hatte, demonstrierte ich anschaulich, wie Burgess sein Opfer malträtiert hatte. Die Verteidigung griff meine Aussage scharf an, und ich musste bestimmte Einzelheiten immer und immer wieder wiederholen. Während meiner Ausführungen zappelte Burgess aufgeregt auf seinem Stuhl. Nachdem ich meine Aussage beendet hatte und der Leichenbeschauer in den Zeugenstand gerufen worden war, wendete sich Burgess an seinen Anwalt. Eine ganze Weile flüsterten die beiden miteinander. Dann bat der Anwalt, an den Richtertisch kommen zu dürfen. Burgess wollte auf ›schuldig‹ plädieren. Sein Anwalt erläuterte uns, 79

dass die plastische Darstellung des Tathergangs Erinnerungen in ihm wachgerufen hätten, die zu entsetzlich seien, um sie aushalten zu können. Ich muss gestehen, dass ich in diesem Moment eine gewisse Genugtuung empfunden habe. Ich bin ständig damit konfrontiert, dass die einzige Person im Gerichtssaal, die meine Aussage bestätigen könnte, jene Person ist, über die gerade zu Gericht gesessen wird. Diese Person sitzt meist nur wenige Meter von mir entfernt, doch ihre Lippen bleiben oft für immer verschlossen. Der Fall Tim Burgess hat mich für viele Zerstückelungsfälle entschädigt, in denen wir den Mörder nicht finden konnten.

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6 »Wenn deine Seele die Krankheit ist« Und so dich dein Auge ärgert, Reiß es aus, mein Junge, sei gesund, Schmerzen wird es, aber lindernde Salben heilen dich, Und manch gutes Kraut wächst auf Erden. So aber deine Hand oder dein Fuß dich ärgert, So haue ihn ab, mein Junge, sei stark; Sei ein Mann, erhebe dich und bereite dir ein Ende Wenn deine Seele die Krankheit ist. A. E. HOUSMAN (1859-1936), Ein Junge aus Shropshire

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Für die meisten Menschen ist Selbstmord von einem Flair geradezu erschreckender Würde umgeben. Die absolute Unwiderrufbarkeit der Handlung, der letzte Sprung oder Schuss, der den Selbstmörder in das Schattenreich – ›von dem kein Reisender zurückkehrt‹ – hinübergeleitet, rührt die Herzen mit düsterer Feierlichkeit. Im Abendland wurden Selbstmordversuche mit religiösem Bann und ewiger Verdammnis belegt; und Dante verbannte den Selbstmord in den siebten Kreis der Hölle, in dem die Schatten in Bäume eines düsteren Waldes verwandelt werden, an deren blutenden Zweigen dämonische Vögel zerren. Noch vor einigen Jahren verbaten strenge christliche Dogmen die Bestattung von Selbstmördern. In Shakespeares Tragödie Hamlet folgen die Mönche, die Ophelia begraben, nur widerwillig dem Befehl des Königs. Stattdessen sollte Ophelia ihrer Meinung nach ›in ungeweihtem Boden wohnen, bis zum Jüngsten Tag‹. Das Phänomen des Selbstmordes übt eine unbeschreibliche Faszination auf viele Menschen aus, selbst der schwerfälligste Geist beginnt über die Bedeutung des Lebens zu philosophieren. Von allen Lebewesen weiß nur der Mensch, dass er lebt und infolgedessen auch sterben muss. ›Der Mensch hat das Gehirn eines Engels und sieht das Beil von Anfang an‹, schreibt Edgar Lee Masters. Vom Sehen des Beils über das Ergreifen bis hin zum Schwingen desselben vergehen oft nur wenige Minuten. Es gibt Fälle, in denen sich Todunglückliche tatsächlich mit einem Beil umgebracht haben. Die Geschichte ist voll von heldenhaften Selbstmorden: Cato der Jüngere ließ sich 46 v. Chr., nach der verlorenen Schlacht um die Demokratie Roms, in sein Schwert fallen, nachdem er die Nacht damit verbracht hatte, in Platons Phaidon den Dialog über die Unsterblichkeit der Seele zu lesen. Der buddhistische 82

Mönch Thich Quang Duc übergoss sich 1963 in Saigon mit Benzin und zündete sich an, um so gegen das korrupte Regime in Südvietnam zu protestieren. Ich selbst habe wiederholt von Fällen gehört, in denen sich Menschen umgebracht haben in der Hoffnung, dass ihre Verwandten mit der Versicherungssumme ihre Schulden begleichen könnten. Natürlich ist auch mein Berufsstand nicht vor der schleichenden Last seelischer Schmerzen gefeit. So nahm sich beispielsweise der britische Forensiker Bernhard Spilsbury (1877-1947) das Leben. Spilsbury hatte bereits mehrere Herzinfarkte erlitten und spürte, dass sowohl seine geistige als auch seine körperliche Kraft nachließ. Statt der sonst üblichen 500 AutopsieFormulare bestellte er eines Tages lediglich 100. Mit jedem ausgefüllten Formular, jeder Autopsie rückte sein eigener Tod näher. Als der letzte Fall abgeschlossen war, ging Spilsbury in seinen Club zum Dinner, kehrte zurück in sein Labor und vergaste sich, indem er den Kopf in einen Ofen steckte. Mich führen Selbstmorde meist an traurige Orte. Der Anblick, der sich mir bietet, ist oft scheußlich, tragisch, manchmal aber auch einfach lächerlich. Ich spreche von den vielen jungen Menschen, die Selbstmord begehen. Ich bin mir sicher, wenn sie wüssten, welche grausigen Witze viele Polizisten über sie machen und welches Bild sie im Tod bieten, würde sich viel von dem angeblichen Glanz ihrer Tat verflüchtigen. In den meisten Fällen, mit denen ich zu tun hatte, war der Selbstmord eine unüberlegte, spontane Handlung als Reaktion auf ein zweifelhaftes Problem: eine unglückliche Liebe, ein überzogenes Konto, ein plötzlicher Wutanfall. Anders verhält es sich mit jenen Menschen, für die aufgrund von Einsamkeit, Alter oder Krankheit das Leben zu einer unerträglichen Last geworden ist. Viele Selbstmörder weisen sehr bizarre Verletzungen auf. Als ich noch Student war, verdiente ich mir Geld mit Nachtwachen in einem Krankenhaus in Austin. Eines Abends wurde ich 83

mit einem wirklich außergewöhnlichen Fall konfrontiert. Ein Anwalt hatte sich mit einer 9-mm fünfmal in den Kopf geschossen, während seine Sekretärin vergeblich versuchte, die verschlossene Bürotür zu öffnen. Die Schüsse waren am späten Nachmittag abgefeuert worden, und ich blieb bei dem Anwalt, bis er starb – kurz vor Mitternacht. Die Autopsie ergab, dass er die Waffe in den Mund gesteckt und fünfmal abgedrückt hatte. Zwei Kugeln waren seitlich im Gesicht ausgetreten, zwei andere traten aus der Schädelhöhle, nahe dem Scheitel, aus, und die fünfte Kugel blieb im Hirn stecken. Dieser tragische Fall war in der Tat eine Seltenheit. Die meisten Selbstmorde allerdings sind sehr gut geplant und zeichnen sich durch Genauigkeit und geradezu erschreckende Ausdauer aus. In diesen Fällen scheint der Wille zu sterben sehr viel größer zu sein, als der zu leben. Einige Selbstmordopfer sind sogar bereit, sich höllischen Schmerzen auszusetzen. So berichtet die Fachliteratur von dem Fall eines Mannes, der sich in Hüfthöhe mit einer Tischsäge in zwei Teile schnitt. Ein anderer Selbstmörder, dessen Fall ebenfalls wissenschaftlich belegt ist, keilte ein langes Messer in einen Heizkörper, setzte es unter Strom und stieß seinen Kopf so lange gegen die Schneide, bis sie in den Kopf eindrang und er starb. Derartige Selbstmorde sind schmerzvolle Vernichtungen des eigenen Lebens und gleichen fast schon Hinrichtungen. Im Gegensatz dazu stehen die sogenannten ›anspruchsvollen‹ Selbstmorde von Menschen, die vielleicht im Tod schön aussehen und sich keine Schmerzen zufügen wollen. Die Opfer verwenden oft Tabletten oder erschießen sich gezielt. Frauen ziehen häufig ein hübsches Kleid an und legen Make-up auf, ehe sie sich umbringen. In einem bemerkenswerten Fall in Ohio war das Opfer ein 18-jähriges Mädchen, das sich selbst in den Rücken geschossen hatte. Die Leiche wies lediglich eine Schusswunde zwischen den Schulterblättern auf. Auf den ersten Blick sah es nach Mord aus, doch der Lagewinkel ihrer 84

Arme, die Flugbahn des Geschosses und die Tatsache, dass sich das Opfer in einem von innen abgeschlossenen Raum befunden hatte, belegten den Selbstmord. Aufgebahrt zeigte die Leiche jedoch keinerlei Hinweise auf Gewaltanwendung; es schien, als schlafe sie. In einem anderen Fall, der mir zugeteilt wurde, hatte man im Ocala Nationalpark das Skelett eines Mannes gefunden. Aufgrund der Position, in der es gefunden wurde, hatte der Mann offensichtlich mit dem Rücken gegen einen Baum gelehnt gesessen. Eine Kugel hatte von einer Seite zur anderen seinen Kopf durchdrungen. In der Nähe fand die Spurensicherung einen Kulturbeutel mit Zahnpasta, Rasierzeug, Rasierwasser, Deostift und Nagelclip. Alles war fein säuberlich in einer Adidas-Tasche verstaut. Das Skelett trug Adidas-Schuhe und eine Jeans. In der Nähe der rechten Hand fanden wir einen Kugelschreiber, doch wenn das Opfer vor seinem Tod eine Nachricht aufgeschrieben haben sollte, so war diese längst verschwunden. Es schien alles auf einen gezielt geplanten Selbstmord hinzudeuten; bis auf die Tatsache, dass die Waffe fehlte. Das Waffenfutteral jedoch lag direkt neben dem Toten. Zwei Tage lang verbrachten wir mit der Suche. Wir nahmen Metalldetektoren, Rechen und andere Werkzeuge zu Hilfe. Kurz vor Einbruch der Dunkelheit, wir wollten die Suche bereits aufgeben, fand ich unter einem Blätterhaufen einen Revolver Kaliber .38; ca. drei Meter von der Leiche entfernt. Es handelte sich eindeutig um die Waffe, aus der geschossen worden war. Doch wie war der Revolver dort hingekommen? Hatte ihn jemand aufgehoben und dann aus Angst weggeworfen? Oder hatte ein Tier, das sich an der verwesenden Leiche zu schaffen gemacht hatte, ihn verschleppt? Trotz intensiver Bemühungen konnten wir diese und andere Fragen nie klären. Ich konnte lediglich ermitteln, dass es sich um einen jungen Mann Anfang zwanzig handelte. Die Polizei verfolgte die Spur des Revolvers sogar bis San Francisco zurück, wo sie sich dann allerdings verlor. 85

Ein anderer, präzise geplanter Selbstmord ereignete sich hier in Gainsville. Das Opfer war ein Professor der University of Florida. Sorgfältig hatte er sich den Verschluss einer Bierdose und andere Metallgegenstände auf den Arm geklebt und um diese zwei unisolierte Enden eines Elektrokabels gewickelt. Den Stecker verband er mit einer Schaltuhr, die er auf 4 Uhr einstellte. Dann nahm er ein Röhrchen Schlaftabletten, spülte es mit Whiskey hinunter und ging zu Bett. Er schlief fest und wachte nie wieder auf. Pünktlich um vier hatte sich der Stromkreis geschlossen und den Professor durch einen Stromschlag getötet. Gemeinsam mit dem Gerichtsmediziner konnte ich den Tathergang nahezu auf die Minute genau rekonstruieren. Die Schwierigkeiten bei der Aufklärung eines Selbstmordes liegen meist darin, herauszufinden, ob es sich tatsächlich um Selbstmord oder einen Unfall handelt. Insbesondere wenn es sich um außergewöhnliche Sexualpraktiken handelt, stehen Gerichtsmediziner und forensischer Anthropologe oft vor der Lösung schwieriger Fragen. In einer seiner Novellen erzählt der Marquis de Sade von einem französischen Edelmann, der die Angewohnheit hat, sich beim Onanieren fast zu Tode zu strangulieren, um durch den verminderten Sauerstoffstrom zum Hirn den Orgasmus zu verstärken. Über mehrere Monate hinweg praktiziert der junge Mann dieses Verhalten, wobei er die Schlinge von Mal zu Mal fester zieht, bis er sich schließlich stranguliert. Dank Sade gedeiht diese bizarre Praktik des Onanierens noch heute und führt oft zu einem tragischen Ende. Viele Männer wollen einfach mal ausprobieren, ob diese Selbstquälerei tatsächlich ›wirkt‹. Das sogenannte Strangulierungsritual ist gefährlich, weil es nicht nur einmal, sondern immer wieder durchgeführt wird. Wir erkennen das häufig am Balken oder Rohr, an dem das Seil befestigt wurde; oft weisen sie Spuren intensiver Benutzung auf. Die Sauerstoffzufuhr wird von Mal zu Mal verringert, um einen noch größeren Kick zu bekommen, was im schlimmsten Fall zum Tod führt. Als diese 86

Sexualpraktik noch nicht ausreichend dokumentiert war, vermuteten die Ermittler häufig einen Mord. Doch die Opfer sind meist mit Strapsen, Strumpfhosen oder anderen weiblichen Kleidungsstücken bekleidet, und oft finden wir im Tatzimmer pornographische Lektüre und Photos. Ohne dieses Sexualverhalten verurteilen zu wollen: jeder, der das Strangulierungsritual praktiziert, spielt mit seinem Leben. Denn wenn die Sauerstoffzufuhr zum Gehirn unterbrochen wird, kann das jederzeit zur Bewusstlosigkeit führen. Die Opfer sacken zusammen und strangulieren sich. Statistisch gesehen, sind in Amerika fast alle Opfer autoerotischer Strangulationen männliche Weiße. Ich habe jeden Monat einen derartigen Fall zu bearbeiten. Es handelt sich also nicht um außergewöhnliche Todesfälle. Tödliche Unfälle erscheinen mir in gewisser Hinsicht oft weitaus tragischer als Selbstmorde, denn der jeweilige Mensch wollte nicht sterben. Er oder sie war lediglich unachtsam. Vor kurzem untersuchte ich die Leiche eines jungen Mannes, der sich erstochen hatte. Er hatte sich zu Halloween als Vampir verkleidet und wollte seinem Kostüm durch einen Pfahl in seinem Herzen eine besonders gruselige Note geben. Also befestigte er unter seinem Hemd ein kleines Brett aus Fichtenholz, in das er mit einem Hammer ein Messer rammte. Das weiche Holz war sofort gespalten, und das Messer drang tief in sein Herz ein. Es gibt jedoch auch Fälle, in denen wir eindeutig auf Selbstmord befunden haben, die sich später, nach nochmaliger Untersuchung, als Unfälle erwiesen. Der langjährige Chef des pathologischen Labors von New York City, Milton Helprin, erzählt in diesem Zusammenhang oft die Geschichte eines jungen Iren. Dieser wurde von mehreren Zeugen dabei beobachtet, wie er am entfernten Ende des Bahnsteigs der Subway stand. Plötzlich fiel er vornüber und wurde vom einfahrenden Zug überrollt. Seine sterblichen Überreste wurden ins Labor gebracht: Selbstmord. Seine Eltern, strenggläubige irische Katholiken, 87

akzeptierten das Untersuchungsergebnis nicht. Ihr Sohn sei sehr gläubig gewesen und hätte sich niemals umgebracht. Sie bestanden auf einer zweiten Untersuchung. Und wirklich, Helprin fand am rechten Daumen, am Zeigefinger und an der Penisspitze winzige Brandmale. Nach weiteren Untersuchungen und Recherchen der Polizei konnte er der Familie versichern, dass ihr Sohn verunglückt war. Er hatte auf die Schienen der Subway uriniert, und der Strahl hatte aus Versehen die stromführende Schiene getroffen. Der Bogen des Strahls, angereichert mit Salzen, die Strom leiten, wurde zum todbringenden Strombogen. Mein Gebiet sind Knochen, doch die meisten Selbstmorde hinterlassen keine Spuren auf dem Skelett. Viele Skelette, die in mein Labor gebracht werden, gehören Opfern, die an abgelegenen Orten gestorben sind. Aufgrund dessen sind die Überreste meist schon stark verwest oder selektiert. So aufgefundene Selbstmordopfer werden häufig mit Mordopfern verwechselt. Hat sich das Opfer mit einer Waffe umgebracht, sollte man meinen, dass die Ermittlungsarbeit leicht ist. Es gibt ein Loch im Kopf, die Waffe liegt neben der Leiche, identifiziere den Leichnam, entdecke eine depressive Vorgeschichte – Fall abgeschlossen. Leider weit gefehlt! Viele Menschen, die eine Leiche entdekken, nehmen die Waffe, die neben ihr liegt, mit. Waffen sind beliebt in Amerika und teuer. So wird der Selbstmord verschleiert und im schlimmsten Fall als Mord deklariert, der uns viel Arbeit macht. Ich habe noch nie bei einem Selbstmordskelett eine Nachricht gefunden. Denn meist liegt der Körper dann schon Wochen oder Monate in der Wildnis, sodass das Papier verrottet ist oder weggeweht wurde. Gelegentlich finden wir eine Telefonnummer auf einem Streichholzheftchen oder irgendeinen anderen Hinweis, aber nicht sehr oft. Der Abschiedsbrief im Meek-Jennings-Fall, von dem ich in einem späteren Kapitel 88

berichten werde, ist das längste und ausführlichste Dokument seiner Art, das ich je gesehen habe. In Florida werden die meisten Selbstmorde von alten Menschen verübt. Die Geschichte, die sich dahinter verbirgt, ist in fast allen Fällen die gleiche. Irgendwann beschließen Ma und Pa, den Mittleren Westen oder die Ostküste zu verlassen, um ins sonnige Florida zu ziehen. Einige Jahre später stirbt einer der beiden. Der Zurückgebliebene ist allein. Die Familie lebt woanders, Freunde gibt es kaum, zu den Nachbarn hat man nie engeren Kontakt gefunden. Die Einsamkeit macht sich breit, und auf einmal erscheint der Freitod als Rettung. Manchmal denke ich, wir sollten an unseren Landesgrenzen Warnschilder aufstellen. Rentner! Willkommen in Florida! Bedenkt dass Ihr außer der Kälte und dem Regen auch Euer Leben hinter Euch lasst! Vor einiger Zeit musste ich den tragischen Tod eines Rentners bearbeiten. Die skelettierte männliche Leiche hatte ein Einschussloch in der Mitte des Schädels, und neben ihr lag eine Waffe. Das Gebiss war perfekt, kaum Abnutzungserscheinungen und ohne jede Füllung. Der Leichenbeschauer bat mich um eine möglichst genaue Altersbestimmung. Er selbst schätzte den Toten auf ca. 40 Jahre. Ich untersuchte das Skelett, insbesondere die Wirbelsäule, und schätzte das Alter auf Ende sechzig, möglicherweise aber auch älter als siebzig. Der Leichenbeschauer lächelte höflich, fand meine Vermutung jedoch absurd. Ich aber blieb bei meiner Einschätzung; die Knochen sprachen eine eindeutige Sprache. Meine Untersuchungsergebnisse wurden der Polizei übergeben, die mit ihren Ermittlungen fortfuhr. Die Waffe, die man bei dem Skelett gefunden hatte, war an einen alten Mann verkauft worden, der seit Monaten vermisst 89

wurde. Der Rest des Puzzles war schnell gelöst. Die Polizei suchte jetzt nach einem etwa Achtzigjährigen, und der Fall konnte innerhalb weniger Wochen gelöst werden. Das Gebiss des alten Herrn hatte den Leichenbeschauer zunächst auf eine falsche Fährte geführt. Aber es gibt hin und wieder Menschen, die mit einem derart guten Gebiss gesegnet sind. Es gibt Fälle, bei denen wir eingestehen müssen, dass sie nicht lösbar sind. In diesen Fällen bleibt Mord Mord, egal, ob er sich gegen einen anderen oder gegen sich selbst gerichtet hat. »Du hast ihn getötet und es dann wie einen Selbstmord aussehen lassen«, ist mehr als nur ein abgedroschener Satz in Krimis. Zu oft wird er Wirklichkeit. Ich erinnere mich an ein berüchtigtes Crack-Haus, das vor einigen Jahren in Jacksonville abbrannte. Aus den Trümmern wurden die verkohlten Überreste einer weiblichen Leiche geborgen. Zunächst nahm die Polizei an, sie sei in den Flammen umgekommen. Als ich sie jedoch genau untersuchte, fand ich an der Leiche verbrannte Maden – deutliche Hinweise darauf, dass das Mädchen mindestens schon 48 Stunden vor dem Brand tot gewesen war. War sie ein Mordopfer? Hatte sie Selbstmord begangen? Oder war sie an einer Überdosis gestorben? Die Untersuchungen brachten keine eindeutigen Ergebnisse. Diese namenlose verbrannte Frau bleibt eines der Geheimnisse meines Berufslebens.

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7 Dem Feind immer einen Schritt voraus Wie einer, der in Furcht und Angst Die einsame Straße entlanggeht, Einmal nur schaut er zurück, Geht weiter und dreht sich nicht mehr um, Denn er weiß, ein furchtbarer Feind Geht genau hinter ihm die Straße entlang … SAMUEL TAYLOR COLERIDGE (1771-1834), Gedicht eines alten Seemanns

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Als forensischer Anthropologe schulde ich Mördern einen düsteren Dank. Seit Beginn dieser Wissenschaft geht sie Schulter an Schulter mit Mord und Totschlag und versucht, dem Feind immer einen Schritt voraus zu sein. Manchmal sind wir kaum einen halben Schritt voraus; manchmal mehrere Schritte hinter ihm. In allen Fällen sind unsere Lehrer Mörder. Wir müssen die von ihnen gestellten Aufgaben lösen. Über die Jahre hinweg haben uns unsere brutalen Lehrer gefordert und das Beste in uns zum Vorschein gebracht. Indem sie uns herausforderten, scheinbar unlösbare Knoten zu entwirren, haben sie uns am Ende geholfen, die Wissenschaft voranzutreiben. Eine eigentümliche Tatsache unseres Metiers ist, dass einige der brillantesten Stücke detektivischer Arbeit direkte Ergebnisse außergewöhnlicher Verbrechen sind. Die Wissenschaft der forensischen Anthropologie ist bemerkenswert jung. Die exakte Vermessung von Knochen begann erst 1755. Jean Joseph Sue (1710-1792,), Anatomieprofessor im Louvre, veröffentlichte damals die Vermessungsdaten von vier Verstorbenen und die maximale Knochenlänge verschiedener Knochen von 14 Menschen im Alter zwischen sechs Wochen und 25 Jahren. Aus diesen, im Vergleich zu anderen Wissenschaften späten Anfängen entstand das weite Feld forensischer Untersuchungen. Heute finden jährlich internationale Kongresse statt, an denen Hunderte von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen teilnehmen. In Amerika können die Anfänge der forensischen Anthropologie auf den Mordfall George Parkman zurückgeführt werden. Parkman war Professor an der Harvard University und wurde 1849 von einem Kollegen ermordet. Ein anderer Kollege wiederum, Oliver Wendell Holmes, untersuchte den Fall. Professor Parkman war ein reicher Bostoner Mediziner und 92

Gutsbesitzer, der das Bauland für die Harvard Medical School stiftete. Er war ausgesprochen eitel und als Geizhals bekannt. Dennoch hatte er seinem Kollegen, dem Anatomieprofessor John Webster, Geld geliehen. Als er nun auf die Rückzahlung der Summe drängte, ermordete Webster ihn. Er zerstückelte die Leiche und versteckte sie zwischen anderen Leichenteilen im Anatomielabor bzw. verbrannte sie im Ofen. Die Reste der Leiche versteckte er in der Toilette, wo sie vom Hausmeister gefunden wurden. Die Polizei verdächtigte zunächst den Hausmeister, doch Holmes hatte Zweifel und durchsuchte das Labor genauer. Er entdeckte die Leichenteile und fand heraus, dass sie keinem aktuellen Fall zuzuordnen waren. Genauere Untersuchungen ergaben, dass die einzelnen Körperteile alle zum gleichen Körper gehörten; einem Mann von ca. fünfzig bis sechzig Jahren und ungefähr ein Meter neunzig Größe (Parkman war fünfzig Jahre alt gewesen und einsneunzig groß). Den letzten Beweis, dass es sich um Parkman handelte, lieferten die Zähne, die im Ofen gefunden wurden. Parkman hatte sich erst vor wenigen Tagen ein neues Gebiss machen lassen, und der gefundene Unterkiefer stimmte genau mit dem Abdruck überein, den der Zahnarzt Parkmans gemacht hatte. Angesichts dieser Fülle von Beweisen gestand Webster, den Kollegen in einem Wutanfall ermordet zu haben. Er wurde zum Tode verurteilt und 1850 gehängt. Der Fall Parkman war seinerzeit sehr bekannt, und – wer weiß – vielleicht hat er den damals siebenjährigen Thomas Dwight beeinflusst, später Anatomie zu studieren. Heute wird er in Amerika als Vater der forensischen Anthropologie gefeiert. Der Bostoner Dwight (1843-1911) lehrte vierzig Jahre lang Anatomie und hatte während der letzten 28 Jahre seiner Karriere die Parkman-Professur für Anatomie in Harvard inne. Er veröffentlichte eine Vielzahl von Artikeln, in denen er seine Arbeiten an Skeletten, ihre Identifikation und Vermessung beschrieb. Dwights berühmtester Schüler war George A. Dorsey 93

(1868-1931), ein interessierter Mann, der sich primär mit Ethnologie und Photographie beschäftigte und nur nebenbei mit der Anatomie. Durch die Aufklärung eines spektakulären Mordfalles wurde er bekannt. Im Jahr 1897 ermordete Adolph Luetgert seine Frau Louisa. Als Wurstfabrikant glaubte er eine einzigartige Möglichkeit zu haben, die Leiche verschwinden zu lassen. Er transportierte sie in seinem Wagen vom Tatort in die Fabrik und warf sie dort in einen riesigen Bottich. Dieser war mit einer ätzenden Lösung, die 187 kg Pottasche enthielt, gefüllt. Die Polizei fand später heraus, dass Luetgert die ganze Nacht neben dem Bottich gestanden und umgerührt hatte. Am Morgen fand man ihn schlafend in seinem Büro; der Bottich war übergelaufen, und eine schmierige Masse war über den Boden verteilt. Die saure Pottasche hatte den größten Teil des Kalziums aus den Knochen herausgelöst und den Körper zu einer gallertartigen Masse reduziert. Noch am selben Nachmittag meldete Luetgert seine Frau als vermisst. Sein Schwager jedoch wurde misstrauisch. Wenige Tage später durchsuchte die Polizei die Fabrik und fand einen Ring von Louisa Luetgert und im erstarrten Bodensatz des Bottichs vier winzige Stückchen Knochen. Luetgert wurde des Mordes angeklagt. Sein Anwalt war kühn: Keine Leiche, kein Mord! Doch George Dorsey konnte beweisen, dass die vier winzigen Knochensplitter, die so klein waren, dass sie zusammen auf einen Quarter passten, zu einem menschlichen Skelett gehörten. Es handelte sich um das Ende eines Mittelhandknochens, einen Rippenkopf, den Teil eines Zehenknochens und das Sesambein eines Fußes. Diese Fragmente und der Ring der Vermissten genügten, um Adolph Luetgert zu verurteilen und lebenslänglich hinter Gitter zu bringen. Obwohl Luetgert, wie viele vielleicht vermutet haben, seine Frau nicht zu Wurst verarbeitete, kam die Fabrik durch den Mord in derart schlechten Ruf, dass sie schließen musste. Ein Jahr später, 1898, veröffentlichte George Dorsey seinen 94

Artikel The Skeleton in Medico-Legal Anatomy, der auf seinen Untersuchungen im Fall Luetgert aufbaute. Danach jedoch gab er die Anatomie gänzlich auf und widmete sich dem Studium und der Photographie der nordamerikanischen Indianer. Zu diesem Zeitpunkt war die Forensik noch keine eigenständige Wissenschaft, sondern eine Unterdisziplin der Anatomie, die der Polizei mit wertvollen Hinweisen dienen konnte. Eines der seltensten Bücher in meiner Bibliothek ist MedicoLegal Aspects of the Ruxton Case, das 1937 von John Glaister und James Couper Brash veröffentlicht wurde. Die beiden Mediziner beschreiben darin einen der wohl grausigsten Doppelmorde dieses Jahrhunderts, begangen von einem Arzt, der entschlossen war, jeden Beweis für sein Verbrechen zu vernichten. Der Fall Ruxton ist sicherlich der meistzitierte in der forensischen Fachliteratur. Dr. Buck Ruxton wurde 1899 in Indien geboren. Ruxton war Parse und sein richtiger Name Bikhtyar Rostornji Ratanji Hakim (›Hakim‹ bedeutet Arzt). Er hatte in Bombay und London studiert, ließ sich in England nieder und lebte mit Isabella Van Ess zusammen, die er als seine Frau ausgab. Das Paar lebte in Lancaster und hatte eine stürmische Beziehung. Sie stritten häufig, und ›Mrs. Ruxton‹ hatte bereits zweimal um Polizeischutz gebeten. »Wir konnten weder miteinander noch ohne einander leben«, erzählte Ruxton später bei seiner Vernehmung. 7. September 1935: Dr. Ruxton beschuldigt seine Lebensgefährtin, eine Affäre mit dem Stadtschreiber von Lancaster zu haben. Am 14. September gegen elf Uhr dreißig wird Isabella Van Ess zum letzten Mal lebend gesehen. Sonntag, 15. September: Dr. Ruxton sucht seine Haushaltshilfe auf, um ihr mitzuteilen, sie brauche am kommenden Montag nicht zu kommen. Seine Frau sei in Urlaub, und sie solle bitte erst am Dienstag zur Arbeit kommen. Montag, 16. September: Mehrere Händler und ein Patient besuchen das Haus am Dalton Square 95

Nr. 2. Alle werden von Ruxton abgewiesen. Er sei dabei, die Teppiche im Haus zu erneuern, entschuldigt sich der Arzt. »Sehen Sie sich meine Hände an«, sagt er zu seinem Patienten, »sie sind ganz schmutzig.« Einem anderen Besucher erklärt er, seine Frau sei mit dem Hausmädchen nach Schottland gereist. Gegen elf Uhr dreißig bringt Ruxton seine Kinder zu einem Freund mit der Bitte, auf sie aufzupassen. Seine Hände sind bandagiert, und er behauptet, er habe sich beim Öffnen einer Dose geschnitten. Im Verlauf des Tages besucht Ruxton auch die Familie des Mädchens und teilt ihren Eltern mit, ihre Tochter sei mit seiner Frau für einige Tage nach Schottland gefahren und werde nicht vor ein bis zwei Wochen zurückkehren. Am Nachmittag wendet sich Ruxton hilfesuchend an eine seiner Patientinnen und bittet sie, die Treppen in seinem Haus zu wischen. Als Mrs. Hampshire das Badezimmer betritt, bemerkt sie gelbe Flecken in der Wanne, die sich selbst durch heftiges Schrubben mit Scheuerpulver nicht entfernen lassen. Als sie versucht, die Teppiche zu reinigen, färbt sich das Putzwasser rot. Dr. Ruxton schenkt ihr als Dank für ihre Mühe einen seiner Anzüge für ihren Mann: »Er ist etwas verschmutzt, aber Sie können ihn ja reinigen lassen.« Noch am Montag mietet sich Ruxton ein Auto, mit dem er am Dienstag, dem 17. September, im Lake Distrikt in einen leichten Auffahrunfall verwickelt wird. Den ermittelnden Polizisten erzählt er, er sei auf der Rückfahrt von einer Geschäftsreise. Am gleichen Tag fordert er von Frau Hampshire seinen Anzug zurück. Er habe es sich anders überlegt, erklärt er. Wie verabredet, kommt auch die Haushaltshilfe an diesem Dienstag ins Haus. Gemeinsam mit zwei weiteren Frauen will sie das Haus putzen. Alle drei bemerken seltsame Flecken und fühlen sich durch einen fürchterlichen Gestank belästigt. Sonntag, 29. September: In Moffat, Schottland, werden die zerstückelten Überreste zweier Frauen gefunden. Die Leichen sind derart zerstückelt, dass man zunächst davon ausgeht, es 96

handle sich um einen Mann und eine Frau. Dr. Ruxton beruhigt seine Haushaltshilfe: »Sehen Sie, es sind nicht unsere beiden …« 9. Oktober: Mrs. Rogerson, die Mutter des Hausmädchens, meldet ihre Tochter als vermisst. 10. Oktober: Dr. Ruxton bittet die Polizei um, wie er sich ausdrückt, ›diskrete Nachforschungen‹ bezüglich seiner Frau. Währenddessen laufen in Schottland die Untersuchungen. Neben den Leichen werden eine Bluse und Spielanzüge gefunden, die Ruxtons Kindern gehören. Die Spielanzüge wurden dazu verwendet, einen der Köpfe zu transportieren. Nun spekulieren die Zeitungen öffentlich über eine Beteiligung des Arztes an den Morden. Am 13. Oktober wird Ruxton des Mordes an seinem Hausmädchen Mary Rogerson angeklagt. Am 5. November wird die Anklage um den Mord an seiner Frau Isabella erweitert. Die Polizei geht davon aus, das Ruxton zunächst seine Frau und dann das Mädchen tötete, weil es ihn bei der Tat oder unmittelbar danach beobachtete. Ruxton bekennt sich ›nicht schuldig‹ und bezeichnet die Anklagen als ›völligen Blödsinn‹. In der Schlucht in Schottland wurden zwei Schädel, zwei Torsi, 17 Gliederteile und 43 Stücke von Weichteilen gefunden. Alle Merkmale, die zu einer Identifizierung hätten führen können, waren entfernt worden. Einem Paar Hände, das später Isabella Van Ess zugeschrieben wurde, waren die Fingerkuppen abgeschnitten worden, sodass keine Möglichkeit bestand, die Fingerabdrücke zu vergleichen. Das andere Paar war unversehrt; vermutlich war der Mörder davon ausgegangen, dass von Mary Rogerson keine Fingerabdrücke in der Kartei waren. Einem der Schädel war allerdings sorgfältig ein Auge entfernt worden – Mary Rogerson hatte auf einem Auge geschielt. Der anderen Leiche war das Fettgewebe an den Beinen entfernt worden – die Beine Isabellas waren auffallend dick gewesen. Selbst ein entzündeter Fußballen war von einem der abgehack97

ten Füße abgetrennt worden. Mit teuflischer Sorgfalt war nahezu jeder Anhaltspunkt für wissenschaftliche Untersuchungen, jedes charakteristische Merkmal, das zur Identifizierung der Opfer hätte beitragen können, entfernt worden. Doch mithilfe wirklich hervorragender forensischer Detektivarbeit, die noch heute in Fachkreisen als vorbildlich gilt, wurden die beiden Leichen einwandfrei identifiziert. Glaister und Brash rekonstruierten die Leichen. Sie machten Photos der verstümmelten Überreste, arrangierten sie in verschiedenen Kombinationen und verglichen sie mit den Photos, die zu Lebzeiten von den beiden Frauen gemacht worden waren. Zum Schluss wurden die Photos der Rekonstruktionen über jene der Lebenden projiziert: Die Schädel, die wie silbrige Totenköpfe schimmern, stimmen mit den Portraits in jedem Detail überein. 21. Mai 1936: Dr. Buck Ruxton wird im StrangewayGefängnis gehenkt. Ein Jahr, nachdem Ruxton gehenkt wurde, wurde ich geboren. Ich bin manchmal erstaunt, wie jung unser Wissenschaftszweig noch ist. Abgesehen von ein paar Pionieren der forensischen Anthropologie habe ich viele bekannte Wissenschaftler noch gekannt; einige leben heute noch. In den dreißiger Jahren, als das FBI gegründet wurde, mussten die Ermittler noch hinüber ins Smithsonian gehen, wenn sie Analysen haben wollten. Es gab noch keine eigene Abteilung. Die Abteilung für physische Anthropologie wurde seinerzeit von dem hervorragenden Anatomen Aleš Hrdliçka geleitet, dessen Bild später auf einer tschechoslowakischen Briefmarke abgebildet wurde. Hrdliçka war 1903 ans Smithsonian gekommen; ein bemerkenswerter Mann, exzentrisch und geizig. Er war sehr schlank, kahlköpfig, hatte einen Schnurrbart und legte großen Wert auf ein gepflegtes Äußeres. Dementsprechend trug er stets einen gestärkten Kragen. Noch heute erzählen Kollegen Anekdoten über ihn. Wie er zum Beispiel auf Geschäftsreisen, bepackt mit einer Papiertüte voller Schädel und Knochen, die oben herausschau98

ten, in der einen Hand und seiner Reisetasche in der anderen, zur Rezeption schritt und ein Zimmer ohne Bad verlangte. Hrdliçka begründete das American Journal of Physical Anthropology und legte den Grundstein für die große Sammlung menschlicher Skelette der Smithsonian Institution die heute über 33 000 Exemplare umfasst. Leider hat er nie einen seiner Fälle veröffentlicht. Ich vermute, dass seine größten Erfolge tief begraben in den Archiven des FBI liegen. Er hinterließ Schüler, Bewunderer und Kollegen, die ihm viel zu verdanken haben – doch nicht ein Wort für die Nachwelt. Bis zum Jahr 1939 musste die Wissenschaft der forensischen Anthropologie auf eine Veröffentlichung warten, die alles bis dahin Bekannte über das menschliche Skelett zusammenfasste. Es handelt sich um Wilton Marion Krogmans Guide to the Identification of Human Skeletal Material, der interessanterweise vom FBI veröffentlicht wurde. 1958 publizierte Krogman eine überarbeitete und erweiterte Fassung seines Berichtes als Buch The Human Skeleton in Forensic Medicine. Krogman arbeitete an der Universität von Pennsylvania und wurde 99 Jahre alt. Er war bis zu seinem Tod aktiv und beschwerte sich – fast 100-jährig –, dass sein Augenlicht nachlasse! Einer der berühmtesten Köpfe unserer Wissenschaft ist Dr. Ellis R. Kerley. Ich traf ihn das erste Mal, als ich 1971 an der Universität Kansas Prüfungen abnahm. 1974 trat ich der American Academy of Forensic Sciences bei und lernte ihn auch persönlich besser kennen. Ellis war der Mentor vieler von uns, ein beliebter Mann und der einzige forensische Anthropologe, der jemals Akademiepräsident war. In dieser Eigenschaft hat er viel für unseren Fachbereich getan und die Forschung nachhaltig geprägt. Ellis arbeitete gemeinsam mit Lowell Levine und Clyde Snow an der Identifizierung der Überreste des ›Todesengels‹ der Nazis Josef Mengele, durch dessen perfide Menschenversuche in Auschwitz zigtausende Menschen starben. Mengele hatte sich nach dem Krieg nach Südamerika abgesetzt 99

und ertrank 1979 in Brasilien. Die DNA-Analysen seiner Familienangehörigen in Deutschland bewiesen letztlich einwandfrei, dass das Skelett, das man exhumiert hatte, das von Mengele war. 1986 wurde Ellis damit beauftragt, die Überreste der Astronauten zu untersuchen, die beim Challenger-Unglück ums Leben gekommen waren. Durch die enorme Wucht der Explosion und den langen Fall in die Tiefen des Ozeans waren nur noch Fragmente vorhanden. Um eine möglichst korrekte Identifizierung zu gewährleisten, wurden große Anstrengungen unternommen. Einzelheiten jedoch wurden nie veröffentlicht. Krogmans Guide wurde für das FBI und das Militär, die sich schon bald mit Tausenden von toten und skelettierten Soldaten aus dem 2. Weltkrieg beschäftigen mussten, zur ›Bibel der forensischen Anthropologie‹. Die wütenden Gefechte im Pazifik und im Koreanischen Dschungelkrieg forderten viele Tote, die erst später geborgen werden konnten. Diejenigen ohne Erkennungsmarke konnten lediglich von Versorgungstrupps aufgelesen und zur Identifizierung in Militärleichenhallen gebracht werden. Es handelte sich um Skelette von Amerikanern und Koreanern, sodass es auch darum ging, die Leichen der Amerikaner von denen asiatischer Herkunft zu trennen. (Der KoreaKrieg war der letzte, in dem eine große Zahl der Gefallenen zurückgelassen werden musste. Während des Vietnam-Krieges war das Transportwesen bereits so weit fortgeschritten, dass es möglich war, die Verwundeten und Toten aus der Gefechtszone zu bringen.) Im Zusammenhang mit den Kriegen der USA im Pazifik wurde 1947 in Hawaii das Central Identification Laboratory gegründet. Charles E. Snow (1910-1967) war der erste physische Anthropologe, der dort arbeitete, gemeinsam mit Mildred Trotter. Ihre herausragenden Arbeiten zur Anatomie und Osteologie machten Mildred Trotter zu einer bekannten Anthropologin. Auch mein eigener Universitätslehrer, Tom McKern, arbeitete von 1948 bis 1949 an den Kriegstoten. Ge100

meinsam mit Dale Stewart arbeitete McKern an der Identifizierung und Vermessung der Überreste von 450 Soldaten, die in Korea gefallen waren. Dale Stewart war ein ergebener Schüler des bereits erwähnten Hrdliçka. Er bewunderte diesen so sehr, dass er ein Portrait von ihm malte, es in sein Büro hängte und die Urne mit der Asche des Verstorbenen danebenstellte. Gemeinsam mit Larry Angel, einer weiteren Legende der Anthropologie, führte er lange Streitgespräche. Ich habe nie gehört, dass sich Larry über irgendetwas anderes unterhalten hätte als seine Arbeit. Es ist eine unvergessliche Erinnerung, diese beiden geistigen Riesen – körperlich waren sie eher von kleiner Statur – laut diskutierend durch das Smithsonian schreiten zu sehen. Oft ging es bei diesen Gesprächen um die Symphysis pubica, die Schambeinfuge. Denn die Symphyse ist ein Teil des Skeletts, der sich zeitlebens verändert und deshalb für die Bestimmung des Alters von großer Bedeutung sein kann. Larry war ein außergewöhnlicher Charakter. Manchmal schockierte er FBI-Agenten dadurch, dass er die ihm zur Begutachtung vorgelegten Knochen kostete! Er wollte aber nicht nur einfach schockieren. Es kann schwer sein, kleine Knochenfragmente von Steinen zu unterscheiden. Wenn man sie jedoch auf die Zunge legt, ist der Unterschied offensichtlich: Knochen kleben aufgrund ihrer Porosität fest, Steine nicht. 1973 wurde die Wissenschaft der forensischen Anthropologie sozusagen erwachsen. In diesem Jahr wurde innerhalb der American Academy of Forensic Sciences die Abteilung für physische Anthropologie gegründet, die damals 14 Mitglieder zählte. Wir treffen uns einmal jährlich zu einem Kongress, und unsere Arbeiten werden im Journal of Forensic Sciences veröffentlicht. Ich selbst bin seit 1974 Mitglied und habe noch keinen unserer Jahreskongresse versäumt. Ich freue mich immer sehr, meine Kollegen und Kolleginnen wiederzusehen, miteinander zu diskutieren und so den Rost der wissenschaftlichen Isolation wegzukratzen. Einer der Höhepunkte des Kongresses ist die Veran101

staltung der sogenannten ›Last Word Society‹. Dort kann jeder Teilnehmer seine Arbeit über ein ungelöstes historisches Problem vorlegen, über die dann im Anschluss diskutiert wird. In den vergangenen Jahren haben wir uns unter anderem den Fragen gewidmet, ob Vincent van Goghs Farbempfinden und Stil von einer Fingerhutvergiftung herrührte, ob Charles Darwin an einer Nikotinvergiftung litt und wer Jack the Ripper war. Ich kehre von diesen Kongressen jedes Mal mit neuer Energie zurück. Ich konnte mich mit den Kollegen und Kolleginnen austauschen, ihnen Fragen zu aktuellen Fällen stellen bzw. Antworten auf ihre Fragen geben. Im Verlauf der Tagung werden auch die Bewerber für das American Board of Forensic Anthropology geprüft. Die Prüfungen dauern zwei Tage und bestehen aus einem schriftlichen und einem praktischen Teil. Für den letzten ist es erforderlich, dass einige von uns Knochen mitbringen. Logisch, werden Sie denken, doch am Flughafen bedarf dieser Umstand genauer Erklärungen. Ich melde am Schalter daher immer an, dass ich menschliche Knochen bei mir führe, warum und wie viele. Nicht um das Personal zu schockieren, aber im Fall eines Absturzes ist es für die Ermittler wichtig zu wissen, warum es beispielsweise mehr Schädel als Passagiere gibt. Ich halte das für höflich meinen Kollegen gegenüber, die im Fall der Fälle die Überreste identifizieren müssen. Ich erinnere mich an ein Jahr, in dem wir für die Prüfungen die Skelettsammlung eines großen Museums zur Verfügung gestellt bekamen. Unter den vielen Exemplaren von Mordopfern stach insbesondere das eines Mannes heraus. Er war nicht das Opfer eines Gewaltverbrechens geworden, sondern hatte jahrelang im Museum gearbeitet und sein Skelett der Wissenschaft zur Verfügung gestellt. Was auffiel, war das Lametta, das wir vereinzelt am Skelett fanden. Mitarbeiter des Museums erklärten uns dann, dass das Skelett jedes Jahr an der Weihnachtsfeier teilnehme und geschmückt werde. Nun ja, wie ge102

sagt, halte ich von derlei Dingen eigentlich nichts. Aber in diesem Fall enthielt ich mich einer Stellungnahme, denn die Mitarbeiter schienen ihren Kollegen wirklich gemocht zu haben und wollten ihm auf diese Weise Ehre erweisen. Das ist wahre Kameradschaft.

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8 Unnatürliche Natur Die Natur kennt keinen Makel, nur der Verstand; Niemand ist missgestaltet, nur der Herzlose. WILLIAM SHAKESPEARE (1564-1616), Was ihr wollt, Dritter Akt, 4. Szene

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Einen Großteil meines Lebens habe ich damit verbracht, die Eigenschaften menschlicher Knochen und die festgefügte Harmonie des Skeletts zu untersuchen. Das menschliche Skelett ist für mich – vom perlmuttartigen Glanz eines fetalen Skeletts bis hin zu den Verwachsungen eines Joseph Merrick, bekannt als der ›Elefantenmensch‹ – ein unvergleichliches Objekt, ein Buch, das nie zu Ende geht. Diese Faszination versuche ich auch an meine Studenten weiterzugeben. Ich vermittle ihnen, dass unsere Knochen keine harte, unveränderliche Materie sind, sondern dass Leben in ihnen steckt. Unser Skelett ist ständigem Wandel unterworfen: Die Hülle der Knochen, das Periost, bringt ständig neue Zellen hervor und zerstört die alten. Dementsprechend verändern sich unsere Knochen von einer Stunde zur nächsten. Mit dem Alter werden sie langsam steifer, spröder und weniger biegsam. Man könnte sagen, dass unser Skelett unser knöchernes Gedächtnis, unser intimes Tagebuch ist: unsere Abstammung, Krankheiten, Verletzungen, Gebrechen, die Auswirkungen unserer Arbeit – all das spiegelt das Skelett wider. All diese Dinge entziffern zu können, das ist die Kunst der forensischen Anthropologie. Woraus besteht nun diese bemerkenswerte Struktur unserer Knochen? Der englische Schriftsteller Thomas Browne wunderte sich zum Beispiel, dass nach einer Einäscherung nur so wenig von einem Menschen übrig bleibt. Wie die große Gestalt des Menschen in so wenige Pfunde aus Knochen und Asche zusammensinken kann, mag jedem merkwürdig erscheinen, der nicht seine Beschaffenheit mit in Betracht zieht. […] Sogar Knochen, die zu Asche reduziert sind, nehmen in beträchtlichem Umfang ab und setzen sich zu großen Teilen aus einem leicht flüchtigen Salz zusammen, wenn das herausgebrannt wird, ergibt es eine leichte Aschenart. 105

Browne war ein genauer Beobachter. Feuer löst Knochen in ihre zwei wesentlichen Bestandteile auf: einen anorganischen, der aus Mineralien wie beispielsweise Kalziumkarbonat besteht, und einen, der aus komplexen organischen Verbindungen zusammengesetzt ist. Dieser organische Anteil der Knochensubstanz enthält ein Material, das man Kollagen nennt. Vielleicht ist Ihnen dieser Begriff ja aus der Shampoo-Werbung bekannt. Das Kollagen verleiht den Knochen nicht nur Festigkeit, sondern auch Elastizität und schützt sie so vor Brüchen. Es gibt Menschen, die an Osteomalazie (Knochenweichheit) leiden. Diese wird durch eine Verkalkung des Knochengewebes hervorgerufen, wodurch die Knochen weich und biegsam werden. Manche Patienten können ihre Beine und Arme verknoten. Diese Fähigkeit war früher häufig auf Jahrmärkten zu sehen, auf denen die Kranken als ›knochenlose Wunderwesen‹ angekündigt wurden. Eine andere, erschreckende Krankheit ist die Leontiasis ossea, die Knochenwucherungen im Gesicht verursacht. Die Schädel der Betroffenen scheinen sich in Wellen zu legen, wie eine Löwenmähne. Die Rätselfreunde unter Ihnen werden die Frage – und vielleicht auch die Antwort – kennen: Wie viel Knochen hat das menschliche Skelett? Mehr als 200. Doch sowohl Frage als auch Antwort sind unwissenschaftlich, denn die Anzahl Ihrer Knochen steht in direktem Zusammenhang mit Ihrem Alter und variiert je nach Grad der Skelettausreifung. So weisen die Skelette von Erwachsenen in der Regel nur ein Brustbein auf, während andere noch zwei oder drei Brustbeinteile haben. Bei alten Menschen kann es sein, dass viele ihrer Knochen verwachsen sind, sodass sich deshalb die Zahl der Knochen ›verringert‹. Es sind sogar Fälle aktenkundig, in denen das Skelett zu einer festen Masse zusammengewachsen war. In derartigen Extremfällen kann der Patient nur noch wählen, ob er den Rest seines Lebens liegend oder stehend verbringen will. Schönheit hängt bekanntlich vom Auge des Betrachters ab, 106

aber ich glaube begründen zu können, warum weibliche Skelette schöner sind als männliche. Viele wissenschaftliche Bezeichnungen charakterisieren den ästhetischen Eindruck. So werden zum Beispiel weibliche Knochen als grazil bezeichnet, während männliche als robust beschrieben werden. Erstere sind glatt, weniger knorrig, mit Kanten, die wie durch ein Wiegemesser graziös abgeschrägt und abgeflacht sind. Die zweiten sind dick, narbig, und dort, wo Muskeln und Bänder ansetzen, weisen sie Unebenheiten auf. Diese Kriterien der Robustheit und Grazilität dienen uns zur Identifikation, sind oft jedoch sehr subjektiv. Es gibt Skelettstückchen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen, bei denen der Geschlechtsunterschied verschwommen ist. Die Knochen von Bodybuilderinnen beispielsweise weisen dort, wo die antrainierten Muskeln ansetzen, Verdickungen auf, die denen der männlichen Knochen stark ähneln. Das Skelett transsexueller Männer, die sich einer Östrogenbehandlung unterzogen haben, verändert sich in umgekehrter Richtung. Sicher ist jedoch, dass der weibliche Schädel deutlich glatter und ebenmäßiger ist als der männliche. Wir Männer scheinen in unserem Kern eben doch ungehobelte Kerle zu sein. Der männliche Schädel hat einen eher quadratischen Kiefer und grobe Oberaugenwülste. Dort, wo unsere Muskeln verankert sind, protzen wir mit schroffen Höckern und Fortsätzen. Vergleichbares trifft auf unsere Arm- und Beinknochen zu. Männer haben große, knaufartige Gelenke. Wenn Sie mir nicht glauben, gehen Sie ins Schwimmbad und sehen Sie sich die Knie an. Die Haarlänge mag Sie täuschen, die Knie niemals. Einer der schwierigsten Fälle, mit denen ich je zu tun hatte, trug sich vor ein paar Jahren in Jacksonville zu. Neben einer Rifle Kaliber .22 hatte man ein völlig entfleischtes Skelett gefunden, das mit einem stark verschmutzten Jogginganzug bekleidet war. Durch die Verwesung war der Jogginganzug zu einer festen, trockenen Masse geworden. Die Polizei brachte 107

mir die Überreste zur Untersuchung. In der Stirn fand sich eine Schussverletzung durch eine Kugel des Kalibers .22. Und meine Untersuchungen ergaben, dass es sich um ein kleines, graziles Skelett handelte. Ich begutachtete noch kurz den Jogginganzug und rief dann im Büro des Leichenbeschauers an: »Ich denke, es handelt sich um einen Asiaten, männlich. Voraussichtlich Ende zwanzig und von kleiner Statur.« Die Polizei suchte in den Listen der vermissten Personen, fand darunter jedoch nur Asiatinnen. Also untersuchte ich das Skelett ein zweites Mal. Wiederum rief ich im Büro des Leichenbeschauers an und berichtete, dass das Skelett zwar einige weibliche Merkmale aufweise, es sich meiner Meinung nach jedoch eindeutig um einen Mann handele. Auf die eindringliche Bitte der Ermittler hin untersuchte ich das Skelett ein drittes Mal. Als ich die hart gewordene Masse des Jogginganzuges aufbrach, fand ich auf der Innenseite der Hose eine Tasche. Ich entnahm den Inhalt und meldete mich erneut bei der Polizei: »Nutzen Ihnen Adresse und Führerscheinnummer des Opfers irgendetwas?«, fragte ich mit verschmitztem Unterton. Es handelte sich um einen 28-jährigen Mann von den Philippinen, der vor einigen Jahren ins Gefängnis gekommen war, weil er sich an Jungen vergangen hatte. Während eines Transportes war er aus der Haft geflohen und anschließend von einem Trucker mitgenommen worden. Diesem hatte er die .22er Rifle gestohlen, mit der er sich später erschoss. Am 17. Februar 1818 wurde auf dem Gelände der Abtei von Dunfermline eine bis dahin unbekannte Grabstätte entdeckt. Sandsteinplatten verdeckten ein nur ca. 46 cm tiefes Grab. Neben einer großen Gestalt, die von Blei ummantelt war, waren Eichenholzsplitter, Nägel und Goldbrokat gefunden worden. Man vermutete, es handele sich um das Grab von King Robert the Bruce, des Helden der schottischen Unabhängigkeitskriege. Dieser hatte 1328 die Engländer durch den Vertrag von Northampton dazu gezwungen, ihren Anspruch auf Schottland 108

aufzugeben. Nur ein Jahr später, am 7. Juni 1329, starb Robert im Alter von nur 25 Jahren. Während sein Körper in der Abtei von Dunfermline beerdigt wurde, bestattete man sein Herz in einem Schrein in der Abtei von Melrose. Nach seiner Wiederentdeckung wurde das Grab schnell wieder verschlossen und blieb bis zum 5. November 1819 versiegelt. An diesem Tag wurde das Grab, unter Anwesenheit von Wissenschaftlern und Honoratioren des Ortes, erneut geöffnet. Der Körper wurde vom Blei befreit, und man erkannte, dass der Mann zu Lebzeiten ca. 180 cm groß gewesen war. Das Brustbein war zersplittert, als ob das Herz gewaltsam entfernt worden wäre. Der Unterkiefer trug noch alle Zähne, der Oberkiefer jedoch sah merkwürdig erodiert und ausgehöhlt aus. Der Leichnam wurde genau untersucht, und vom Schädel machte man einen Abguss, der bis heute im Anatomischen Museum der Universität Edinburgh aufbewahrt wird. Mit einer pompösen Zeremonie wurde das Skelett wieder beerdigt. Nahezu zweifelsfrei war belegt worden, dass es sich bei dem Toten um Robert the Bruce handelte. Aber die Geschichte endete nicht mit der erneuten Bestattung. Durch die Entdeckung des Grabes konnte viele Jahre später ein Gerücht aufgeklärt werden, das durch den französischen Chronisten Jean Paul Le Bel in Umlauf gekommen war. Dieser hatte behauptet, King Robert sei an einer la grosse maladie (beschönigende Umschreibung für Lepra) gestorben. Zur damaligen Zeit verurteilte die Diagnose Lepra die Betroffenen zu lebenslanger Verbannung und einem einsamen Tod. Der Krankheitserreger Mycobacterium leprae ist hitzeempfindlich und greift dementsprechend die kühleren Regionen des Körpers an: das Gesäß, die Nase, die äußeren Enden der Gliedmaßen und bei Männern auch die Hoden. An diesen Stellen vermehrt er sich und zernagt Haut, Knorpelgewebe und die Nervenenden. Wenn Nasenknochen und Gaumen zerstört worden sind, bekommen die Gesichtszüge des Kranken ein löwenähnliches Aussehen, das klassische Merkmal der Lepra. 109

1968 begutachtete der dänische Arzt Vilhelm MøllerChristensen den Abguss des Schädels von King Robert. In über zwanzig Jahren hatte Møller-Christensen ca. 650 mittelalterliche Skelette geborgen, gesäubert und untersucht. Vielen fehlten die oberen Schneidezähne, und der Oberkiefer war erodiert. Eine Deformation, die Møller-Christensen Fades leprosa nannte, das ›Lepragesicht‹. Der Däne musste den Schädelabguss nur wenige Minuten untersuchen, um einwandfrei feststellen zu können, dass es sich um eine Fades leprosa handelte. Robert the Bruce, König der Schotten, starb an Lepra. Das eindrucksvollste Skelett, das ich jemals untersucht habe, ist das von Joseph Merrick, auch als ›der Elefantenmensch‹ bekannt. Für mich jedoch ist Joseph Merrick nicht einfach nur der Elefantenmensch aus dem berühmten Film. Ich wollte mir das Skelett von Merrick aus verschiedenen Gründen ansehen. Zum einen hatte ich den Eindruck gewonnen, dass die Photos und Zeichnungen, die man zu seinen Lebzeiten von ihm gemacht hatte, nicht zu den Röntgenaufnahmen des Skeletts passten. Zum anderen hatte damals (1988) gerade Michael Jackson angeboten, das Skelett des Elefantenmenschen, das sich im Besitz des Royal London College befand, für 1 Million Dollar zu kaufen. Sein Kaufgesuch wurde jedoch abgelehnt. Aber wie aus der Versenkung erschienen plötzlich die Angehörigen von Merrick auf der Bildfläche. Über ihre Beweggründe kann spekuliert werden … Ich war der Meinung, dass ein wissenschaftlich derart wertvolles Skelett nicht verkauft werden dürfe, auch nicht an einen weltbekannten Popstar. Durch meine Untersuchungen hoffte ich nachweisen zu können, dass das Skelett von Joseph Merrick für die Wissenschaft noch immer von großer Bedeutung war. Mit Hilfe der modernen Superpositionstechnik projizierte ich beispielsweise die Abbildung des Körpers über die des Skeletts und verglich sie miteinander. Die Untersuchungen, die mehrere Tage dauerten, ergaben, dass Merricks Missbildungen primär auf seine Haut und nicht auf seine Kno110

chen zurückzuführen waren. Kurze Zeit zuvor war auch die Diagnose, Merrick habe an einer genetischen Störung gelitten, infrage gestellt worden. Dr. Frederick Treves, der Merrick entdeckt und seine Biographie geschrieben hatte, meinte festgestellt zu haben, dass dieser höchstwahrscheinlich an einer multiplen Neurofibromatosis (Erkrankung mit Bindegewebsgeschwülsten an den Hautnervenzweigen) litt. Neuere Untersuchungen wiederum behaupteten, es habe sich um das ProteusSyndrom gehandelt, eine vor kurzem entdeckte und noch unerforschte Krankheit. Da ich kein Arzt bin, hielt ich mich aus der Diskussion heraus. Doch ich konnte den Medizinern durch meine Untersuchungen wichtige Hinweise geben. Das Royal London College des Medizinischen Museums ist ein faszinierendes altes Gebäude. Wenn man seine Gänge durchschreitet, fühlt man sich in die Zeit Königin Viktorias zurückversetzt. 1988 war ich während der Vorweihnachtszeit dort. Im Gebäude war es bitterkalt, und wenn ich abends nach draußen trat, hatte ich den Eindruck, eine Figur in Dickens’ ›Weihnachtsgeschichte‹ zu sein. London ist meine Lieblingsstadt. Kaum dass man um eine Ecke biegt, in einen Hinterhof tritt, wird man in eine andere Welt, ein vergangenes Jahrhundert zurückversetzt. Normalerweise ruhte das Skelett von Joseph Merrick in einem großen Raum des Museums. Für mich war es jedoch in einen kleinen Arbeitsraum gebracht worden, von dem aus ich in eine enge Gasse neben dem Museum blicken konnte. Einen ähnlichen Ausblick wird auch Merrick gehabt haben, als er seine letzten Jahre in zwei Zimmern des damaligen Hospitals verbrachte. Um den Raum zu erreichen, musste ich zwei hintere Treppenaufgänge des verwinkelten Gebäudes hinaufsteigen, an deren Wänden die Photographien zahlreicher ehemaliger Angehöriger des medizinischen Personals hingen: der berühmte forensische Pathologe Francis Camps, Watson Jones, einer der besten Chirurgen seiner Zeit, und Grafton Elliot Smith, der 111

Verfasser einer umfangreichen Studie über ägyptische Mumien. Der Arbeitsraum selbst war mit einer altmodischen Sperrvorrichtung verriegelt, die sich mit einem großen, schweren Eisenschlüssel öffnen ließ. Als ich Merricks Skelett zum ersten Mal sah, war ich überrascht, wie klein es war. Er war ein relativ kleiner Mann gewesen, und die Skoliose oder Rückgratverkrümmung hatte ihn zu Lebzeiten wohl noch kleiner erscheinen lassen. Linke und rechte Skeletthälfte wiesen immense Unterschiede auf. Die Knochendefekte waren keineswegs symmetrisch. Die Krankheit hatte zwar die gesamte rechte Körperhälfte erfasst, Teile der linken aber ausgespart. Dementsprechend zeigte die rechte Skeletthälfte eine weitaus größere Ausdehnung und größeres Knochenwachstum als die linke. Sogar am Schädel waren an der rechten Seite des Hirnkastens massige Knochenauswüchse zu sehen. Die linke Seite hingegen war glatt und unverändert, bis auf ein kleines Fensterchen, durch das Merricks Gehirn bei der postmortalen Präparation entnommen worden war. Dieses Fenster war mit Metallhaken verschlossen. Körperabguss und Schädel vermaß ich anhand verschiedener Messstrecken. Den Gipsabguss hatte man nach Merricks Tod am 11. April 1890 angefertigt. Darüber hinaus machte ich zahlreiche Photos und Videoaufnahmen, sodass wir genau an jener Stelle, an der das Fleisch auf die Knochen getroffen war, die exakte Dicke von Merricks Hautgewebe bestimmen konnten. Wie bereits gesagt, fanden wir so heraus, dass die meisten Veränderungen an Merricks Kopf auf Gewebemissbildungen und nicht auf Skelettdeformationen zurückzuführen waren. Nach und nach wich das kalte Licht der Wissenschaft den Gefühlen. Als ich meine Hand leicht über die Oberfläche des wuchtigen Abgusses von Merricks Konturen gleiten ließ, machte ich eine gespenstische Erfahrung: Ich konnte seine Haare fühlen, die noch immer im Gips steckten. Möglicherweise wird man eines Tages mithilfe der DNA, die sich noch im112

mer in diesen Haaren befindet, herausfinden, an welcher Krankheit Joseph Merrick wirklich litt. Joseph Merrick – durch einen Fehler Dr. Treves’ ist er in die Literatur als John Merrick eingegangen. Seine Geburtsurkunde weist ihn allerdings eindeutig als Joseph aus. Dieser Mensch führte ein einsames, dramatisches Leben. Im Zirkus wurde er als Attraktion, als ›Missgeburt‹, ›Laune der Natur‹ präsentiert. Dr. Treves ist es zu verdanken, dass er von diesem Alptraum befreit wurde. Er gab Merrick die Chance, sich seinen Möglichkeiten entsprechend zu entwickeln. In meiner Laufbahn hat wohl nie ein Skelett so zu mir ›gesprochen‹, wie das des Elefantenmenschen Joseph Merrick. In einem körperlichen Sinne hat es auf mich Gefühle mit einer derartigen Direktheit und Unmittelbarkeit übertragen, wie ich es noch nie erlebt habe. Als ich mir die Hüften ansah – die übergroße rechte neben der kleinen linken – , erschien es mir, als sähe ich Merrick selbst, wie er mit seinem Stock langsam hinkend dahinzieht, den großen Hut auf der vorgezogenen Kapuze sitzend, die seinen gewaltigen Kopf vor den spöttischen Blicken seiner Umgebung schützen soll. Merrick, wie er nachts hinkend durch die dunklen Straßen von Whitechapel zieht, mit seinem Körper als schrecklicher Bürde. Dieses Bild entstand plötzlich vor mir wie eine Halluzination. Als ich seine Hände betrachtete, die wohlgeformte linke und die wuchtige, keulenartige rechte, konnte ich die beiden Hälften des Joseph Merrick erahnen, Seele und Körper: Der im Inneren eingesperrte feinfühlige, intelligente und liebenswerte Mensch, der alle, die ihn genauer kannten, mit seiner Freundlichkeit und Geduld beeindruckte; und das furchterregende, knorrige Äußere aus aufgetriebenen Knochen und wucherndem Gewebe, das auf seinen Geist wirkte wie ein Gefängnis.

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9 »Wo die Sonne niemals scheint« Mir schien, Als würde das Leben geschwind den endlosen Raum durchschreiten, Und nur einen Augenblick später brachen die ansteigenden Wogen Des Meeres der Vergangenheit über seinen Spuren Und verschlangen sie, wie ein nachjagendes Grab … Da lagen sie, in stumpfes Licht gehüllt, Unter dem Leichtuch einer klaren Nacht, Wie feierliche Erscheinungen, in ewige Ruhe gebettet – Mit ihnen war die Zeit eingeschlafen, wie auf einer Sonnenuhr im Dunkeln, Wo die Sonne niemals scheint. THOMAS HOOD (1799-1845), Das Meer des Todes

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Ich glaube nicht, dass die Hölle ein Ort ist, sondern ein Zustand des menschlichen Seins. »Das Böse an sich existiert nicht«, schrieb Augustinus, »sondern ist lediglich die Abwesenheit oder Negation des Guten.« Derlei Feinheiten liegen außerhalb meiner Kompetenz; ich bin Naturwissenschaftler, kein Theologe. Ich weiß nicht, woraus das Böse entsteht, aber ich habe gesehen, was es anrichtet. Ich habe seine Auswirkungen untersucht, als es bereits über die Sanftmütigen, Schwachen und Unschuldigen gesiegt hatte. Auf meinem Labortisch habe ich gesehen, welche Sprache das Böse sprechen kann. Ich war auch bei Hinrichtungen und Autopsien von Verbrechern anwesend und sah die schwarzen Brandstellen, die der elektrische Stuhl an ihren rasierten Köpfen und Beinen hinterlassen hatte. Ich sah, wie man ihre Schädel aufschnitt und ihr Gehirn entnahm. Doch böse Geister, die wie Fledermäuse im Autopsieraum herumschwirren, habe ich nie gesehen. Dennoch betrachte ich das Hirn eines Mörders immer mit einer gewissen prickelnden Neugier: was mag in diesen korallfarbenen, grauen Windungen verborgen liegen? Was geschah auf den komplizierten Wegen durch die feinen Vernetzungen aus Axonen und Dendriten, deren winzige und unzählige Funken die physikalische Grundlage unseres Denkens bilden? Ich weiß es nicht. Während meiner langjährigen Arbeit bin ich mit den schrecklichsten Gewalttaten und unverbesserlichen Mördern konfrontiert worden, aber einen Weg, die Abgründe der menschlichen Natur zu ergründen und ihrem Treiben ein Ende zu setzen, habe ich bis heute nicht gefunden. Die Mordwerkzeuge sind so vielfältig und unbegrenzt wie die Fantasie der Menschen, die sie benutzen: Gewehre, Schrotflinten, Pistolen, Messer, Beile, Äxte, Macheten, Eispickel, Stemmeisen, Krücken, Beinprothesen, Krawatten, Gürtel, 115

Handtücher usw. Ich weiß sogar von einem Fall, in dem ein Mann mit einem tiefgefrorenen Schinken erschlagen wurde. Viele Menschen werden mit Flaschen erschlagen, die im Gegensatz zu dem, was man im Fernsehen sieht, furchtbare Waffen sein können. Langhalsige Bierflaschen oder Cola- und Pepsiflaschen sind schwer genug, um eine Delle in ein Stück Holz zu schlagen. Entsprechend dramatische Auswirkungen haben sie auch auf den menschlichen Schädel. Die beiden Pathologen Werner U. Spitz und Russel S. Fischer haben sich eingehend mit den Abgründen der Unmenschlichkeit beschäftigt. Ihre Ergebnisse haben sie in einem Lehrbuch veröffentlicht, Medico-Legal Investigation of Death. Ein Laie sollte sich die zahlreichen Abbildungen nicht ansehen; für meine Kollegen und mich aber stellen sie die bittere Wirklichkeit dar. Tote Männer, Frauen und Kinder in jedem Stadium der Verwesung. Mordopfer: erschossen, erhängt, erstochen, verprügelt und zerstückelt. Leichen, die von Hunden und Ratten, von Fischen und Alligatoren, Käfern und Schaben angefressen wurden. Im Laufe der Jahre mussten wir eine gewisse Gleichgültigkeit gegenüber solchen Photos entwickeln, um mit unseren Untersuchungen klare und vor allem objektive Schlussfolgerungen zu erzielen. Es gibt allerdings ein Kapitel in diesem Buch, das mich immer wieder aufs Neue erschüttert, und ich habe lange überlegt, ob ich Ihnen in meinem Buch davon erzählen soll. Es handelt von Kindesmisshandlungen und -tötungen. Einer der Autoren dieses Kapitels spricht in diesem Zusammenhang von der ›Unmenschlichkeit in ihrer extremsten Form‹. Als Vater stehe ich jedes Mal, wenn ich mit einem solchen Fall konfrontiert werde, erschüttert und verständnislos vor dem Unfassbaren. Denn oft sind es die Eltern selbst, die ihren Kindern dieses unendliche Leid zufügen. Ein kleiner Junge zum Beispiel musste sterben, weil seine Eltern ihn gezwungen hatten, zur Strafe Pfeffer zu inhalieren. Ein Säugling wurde von seinem Vater zu 116

Tode geprügelt, weil sein Geschrei ihn bei der Übertragung eines Footballspieles störte. Bei meiner Arbeit kostet es mich oft große Mühe, meiner Empörung und meinem Zorn nicht nachzugeben, doch als Sachverständiger bin ich verpflichtet, auch solchen Verbrechen ohne Emotionen und rein sachlich zu begegnen. Ich gebe offen zu, dass mir das äußerst schwer fällt und manchmal auch nicht gelingt. Die Diskussion um Kindesmisshandlungen wird sowohl in den USA als auch in Europa in den vergangenen Jahren intensiv geführt. Ich kann das nur begrüßen, denn je mehr wir über derlei Vorfälle erfahren, desto sensibler werden wir für unsere Umgebung und können vielleicht auch ein Verbrechen verhindern. Einer der bedrückendsten Fälle, die ich zu bearbeiten hatte, war der eines kleinen fünfjährigen Mädchens. Ihre Überreste waren in einer Stofftasche gefunden worden, die man aus einem See gefischt hatte. Die Mutter und ihr Freund wurden des Mordes angeklagt. Sie hatten das Mädchen fast zehn Tage gezwungen, in der Ecke des Schlafzimmers zu stehen, ohne irgendeine Nahrung oder Wasser. Sie durfte sich nicht setzen oder hinlegen. Jedes Mal, wenn sie zusammenbrach, wurde sie gewaltsam gezwungen, wieder aufzustehen. Die beiden Peiniger gingen in ihrer Perfidität sogar so weit, dem Kind einen Brief für die Lehrerin mitzugeben, in dem sie mitteilten, das Mädchen dürfe aus gesundheitlichen Gründen weder essen noch trinken. Zum Glück bewahrte die Lehrerin diesen Brief auf, sodass er beim Prozess als Beweisstück dienen konnte. Die Anklage lautete auf ›Mord durch einen Gegenstand, der in den Schädel eingedrungen ist‹. Meine Aufgabe bestand darin, die Verletzung zu interpretieren. Nach ausführlichen Untersuchungen kam ich jedoch zu dem Schluss, dass das Mädchen nicht durch eine Kopfverletzung gestorben war. Das Loch im Kopf war angeboren gewesen, und unter Wasser hatte sich ein kleiner Knochen aus dem sich zersetzenden Schädel gelöst. Die Mordanklage wurde daraufhin modifiziert in ›Mord durch Ver117

hungern‹. Während des anschließenden Prozesses eröffneten sich den Anwesenden im Gerichtssaal die brutalen Abgründe der beiden Täter. Sie hatten das Mädchen Seife essen lassen, und wenn sie sich übergeben oder uriniert hatte, brutal mit einem Gürtel geschlagen. Der Freund der Mutter, ein sadistischer Rüpel namens Don MacDougall, war der Haupttäter gewesen. Die Mutter erhielt 15 Jahre Gefängnis und wurde wegen guter Führung frühzeitig entlassen. MacDougall wurde Anfang 1983 verurteilt und sollte bereits Ende 1992 ebenfalls wegen guter Führung entlassen werden. Unter dem Druck der aufgebrachten Öffentlichkeit war der Generalbundesanwalt jedoch gezwungen, die vorzeitige Entlassung aufzuheben. Während Sie diese Zeilen lesen, sitzt MacDougall immer noch hinter Gittern, und Sie werden sicherlich verstehen, dass ich keinerlei Mitleid für ihn empfinde. Vielleicht verstehen das Folgende nur diejenigen unter Ihnen, die in meinem Beruf arbeiten oder bei der Polizei und dem FBI. Für die anderen mag es ironisch klingen, aber nicht nur das Leben, sondern auch der Tod ist aufgebaut wie ein Drama: Einleitung, Höhepunkt, Schluss. Und es gibt Fälle, die erst nach langer Zeit zu einem Abschluss gebracht werden können. 1983 brachte mir der Leichenbeschauer von Naples, Florida, den Schädel eines etwa fünfjährigen Mädchens. Ich sollte feststellen, mit welchem Gegenstand er eingeschlagen worden war. Was ich herausfand, zeugte von brutaler Gewalt und Herzlosigkeit. Das Vorderhaupt war eingeschlagen worden, und der Gegenstand hatte die fragilen Knochen des kleinen Mädchens durch die Augenhöhlen gequetscht, war dann durch den Stirnknochen gedrungen und hatte eine Verletzung verursacht, die sich von der Nasenwurzel bis fast zum Scheitel erstreckte. Das Kind muss sofort tot gewesen sein. Ich führte verschiedene Messungen durch und untersuchte die scharfen Ecken, die am Knochen entstanden waren. Aus den Untersuchungsergebnissen ließ sich eindeutig schließen, dass die Tatwaffe eine flache 118

Oberfläche, zwei scharfe Ecken und parallel verlaufende Seiten haben musste. Es schien, als hätte der Täter mit der schmalen Seite eines Kantholzes oder eines ähnlichen Gegenstandes auf sein Opfer eingeschlagen. Die Jahre vergingen. 1992, fast zehn Jahre nach dem Tod des Mädchens, erzählte mir ein FBIAgent, dass er mit einem in Haft befindlichen Pädophilen gesprochen habe, der behauptete, das Mädchen getötet zu haben. Die sterblichen Überreste der Kleinen mussten exhumiert werden, und die erneute Untersuchung bestätigte die Aussage des Verbrechers. Er hatte mit einem Ziegelstein von ca. 4 cm Dicke auf das Mädchen eingeschlagen. Er bekannte sich schuldig, und der Schädel, den man aus Beweisgründen in der gerichtsmedizinischen Sammlung aufbewahrt hatte, konnte nun mit dem Körper beerdigt werden. Es liegt schon einige Jahre zurück, dass ich meinen ersten Fall von Kindesmord bearbeiten musste, doch vor ca. eineinhalb Jahren hat er mich erneut beschäftigt. 1978 wurde in einer alten Farbdose der Schädel eines gerade 13-jährigen Mädchens gefunden, das vor wenigen Wochen als vermisst gemeldet worden war. Der Schädel war sauber, die Farbdose jedoch stark angerostet. Ein Detail, das für die Aufklärung des Falles noch sehr wichtig werden sollte. Bei der Untersuchung stellten wir fest, dass die Kondylen, der Knorpel, der den Kopf auf dem Hals abstützt, an der Oberfläche durchgeschnitten und zurückgebogen war. Als die Polizei mir den Schädel brachte, war der Knorpel vertrocknet, geschwärzt und verhärtet; doch die mikroskopische Untersuchung zeigte, dass die Schnitte vor Beginn des Trocknungsprozesses gemacht worden waren. Der Kopf musste also direkt nach Eintreten des Todes abgetrennt worden sein. Der Oberkiefer wies eine Fraktur auf, die wahrscheinlich durch einen Schlag unter das Kinn entstanden war und zu einem stumpfen Trauma geführt hatte. Der Schlag war heftig genug gewesen, um das Mädchen zu töten, aber sicher, um es bewusstlos zu schlagen. Über den 119

gesamten Schädel verteilt fanden wir Schnitte. Einige saßen so tief, dass ein Messer diese Stellen selbst bei einer heftigen Attacke nicht erreicht hätte. Ich schloss daraus, dass der Täter den Schädel mit einem Messer entfleischt haben musste. Er hatte ihn abgekocht, um ihn innerhalb kurzer Zeit vollständig säubern zu können. Auf dem Schädeldach befanden sich parallel verlaufende, rostige Kratzer. Sehr wahrscheinlich waren diese entstanden, als der Mörder versuchte, den Schädel in die Farbdose zu zwängen. Mit jedem neuen Untersuchungsergebnis wurde das schreckliche Bild deutlicher: entführt, zusammengeschlagen, ermordet, enthauptet, den Schädel mit einem Messer abgeschabt, dann gekocht und in eine rostige Farbdose gesteckt. Wir konnten zwar ihre Identität und den Zeitpunkt der Entführung ermitteln, aber es wurde niemand verhaftet. Anfang 1994, ich schrieb gerade an der Originalfassung dieses Buches, wurde in Neu-England ein Mann unter dem Verdacht verhaftet, mehrere 12- bis 13-jährige Mädchen ermordet zu haben. Er lebte in demselben Bezirk, in dem man Jahre zuvor den Schädel des Mädchens gefunden hatte. Da ich zur gleichen Zeit mit einem Mordfall im Nachbarbezirk beschäftigt war, traf ich mich mit den Ermittlern und überreichte ihnen die Akte des kleinen Mädchens. Ich kann nur hoffen, dass die Gerechtigkeit den Verbrecher einholt. Die Frage nach dem Bösen in uns beschäftigt mich immer wieder aufs Neue. Was ist das, was Menschen zu Mördern werden lässt? Ich meine nicht den ›zufälligen‹ Mord ans Eifersucht oder auch Habgier, sondern das gezielte Quälen und Töten. Was geht in den Mördern und Mörderinnen vor? Welches Trauma müssen sie erlitten haben, das sie zu Bestien werden lässt? Zum Beispiel Michael Durocher. Er saß bereits in Florida in der Todeszelle, als er sich 1990 entschloss, doch noch sein Gewissen zu erleichtern. Er gestand den Beamten, wo er seine Freundin Grace Reed, deren fünfjährige Tochter Candice und 120

ihren gemeinsamen, sechs Monate alten Sohn Joshua vergraben hatte. Durocher war zum Tode verurteilt worden, weil er 1986 einen Verkäufer erschossen hatte – für 40 $. Das ErmittlerTeam fand die Leichen in Green Cove Springs. Durocher hatte durchblicken lassen, dass er Mutter und Tochter mit einer Schrotflinte erschossen hatte. Jacke und Knochen des Mädchens lieferten die Beweise: Eine Ladung Schrot war in der rechten Achselgegend in den Rücken eingedrungen und beim Brustbein ausgetreten. Die Knochen des kleinen Joshua jedoch wiesen keinerlei Schrotspuren auf. Auf welche Weise war er umgebracht worden? Durocher ließ die Ermittler im dunkeln: »Das müssen Sie schon selber herausfinden«, sagte er mit düsterem Unterton. Mit größter Sorgfalt richtete ich meine Aufmerksamkeit auf die kleinen, skelettierten Überreste vor mir. Die Rippen waren in keinem allzu guten Zustand mehr, aber soweit ich erkennen konnte, waren keine Schnitte oder Kerben auf ihnen. Sie waren unverletzt. Wenn ein Erwachsener erstochen wird, trifft die Tatwaffe mit 50-prozentiger Wahrscheinlichkeit keinen Knochen. Bei Kindern aber, bei denen die Knochen, insbesondere die Rippen, viel enger beisammen liegen, ist die Wahrscheinlichkeit viel höher. Der Säugling war noch immer mit Strampelhöschen und Lätzchen bekleidet. An den inneren Nähten waren die Höschenbeine offen, sodass die Windeln gewechselt werden konnten. Er trug ein T-Shirt mit Herzen und Ballons und darüber ein Jäckchen mit Kapuze. Die Knöpfe von Strampelhose und Lätzchen waren alle geschlossen; nur die beiden unteren Druckknöpfe des Jäckchens waren geöffnet. Wir machten Photos von der Kleidung und konnten nirgends eine Perforation entdecken. Als ich dem Säugling jedoch das Jäckchen auszog, entdeckte ich im Latz eine Perforation, die ich später auch an der gleichen Stelle im T-Shirt fand. Unter dem Mikroskop sah man an den Enden der synthetischen Fäden abgeschrägte scharfe Schnitte. Ich informierte die Staatsanwaltschaft und teilte ihr mit, dass das Kind meiner 121

Meinung nach ganz vorsichtig erstochen worden war. Von einem Mörder, der berechnend genug gewesen war, das Jäckchen vorsichtig anzuheben, das Messer durch zwei Lagen Unterwäsche hineingleiten zu lassen und das Jäckchen kaltblütig wieder über die tödliche Wunde des sterbenden Kindes zu legen. Durocher bestätigte bei seiner Vernehmung meine Vermutungen und bekannte sich des dreifachen Mordes für schuldig. Er wurde noch dreimal zum Tode verurteilt. 1993 wurde er auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Das Thema Todesstrafe wird in den USA sehr kontrovers diskutiert. Für mich ist es eine Art ›Politik der verbrannten Erde‹. Der Mörder ist tot, seine Opfer ebenfalls, und was zurückbleibt, ist die grausame Erinnerung. Sowohl die Angehörigen der Opfer als auch die des Täters bleiben mit Trauer und Unverständnis zurück. Gefühle, die sie nur schwer verarbeiten können und die ihr ganzes weiteres Leben prägen werden. Im Gegensatz zu Europa praktizieren bei uns noch viele Staaten die Todesstrafe. Über ihren Sinn lässt sich, wie gesagt, streiten, denn es ist nachgewiesen worden, dass sie keinerlei abschreckende Wirkung hat. Es gibt verschiedene Methoden, die Todesstrafe zu vollstrecken. Das belgische Gesetzbuch beispielsweise schrieb bis vor kurzem den Tod durch Enthaupten vor: »Jeder zum Tode Verurteilte wird enthauptet. Die Exekution findet öffentlich statt. Der Verurteilte wird in einem Zellenwagen zum Hinrichtungsplatz gebracht.« Man fühlt sich ins tiefste Mittelalter versetzt. Doch die Belgier haben die Todesstrafe im Dezember 1995 endgültig abgeschafft, und ich möchte nicht vergessen zu erwähnen, dass die letzte Hinrichtung bereits 1863 im flämischen Ypern stattfand. Der Tod durch Erhängen ist sicherlich auch keine schmerzfreie Art, jemanden hinzurichten. 1913 veröffentlichte das britische Medizinjournal The Lancet einen Artikel zum Thema. Im Idealfall wird der Hals zwischen dem ersten (Atlas) und zweiten (Axis) Halswirbel ausgerenkt, wodurch der zahnartige Fortsatz des Axis und 122

der Bogen des Atlas durchbrochen werden. Dieser Bruch durchtrennt das Rückenmark und verhindert das Atmen, gleichzeitig drückt das Seil die Atemwege zu. Meist jedoch bleibt das Hirn für ca. eine halbe Minute weiterhin mit Sauerstoff versorgt und damit der Erhängte bei Bewusstsein. Das Gehirn stellt erst dann seine Funktionen ein, wenn es absolut keinen Sauerstoff mehr zugeführt bekommt. Der Tod durch die Guillotine ist ähnlich problematisch. Das Messer durchschneidet zwar die Luftröhre, die Blutzufuhr und die Nervenenden, das Gehirn bleibt jedoch weiter mit Sauerstoff versorgt: zumindest für eine gewisse Zeit. Oft ist es so, dass die Verurteilten ihr Leiden unfreiwillig verlängern. Durch die Angst sowie den damit verbundenen heftigen Herzschlag und die rasend pumpenden Lungen wird das Hirn massiv mit Blut und Sauerstoff versorgt, sodass sich der Todeskampf einige schmerzvolle Sekunden hinzieht. Auch die Gaskammer ist keineswegs human – wenn man bei Hinrichtungen überhaupt von Humanität sprechen kann. Denn das Hydrogenzyanidgas hat keineswegs die unmittelbare Wirkung, die ihm gemeinhin zugesprochen wird. Es gibt auch immer wieder Fälle, in denen Verurteilte in einem letzten verzweifelten Versuch, ihr Leben zu verlängern, die Luft anhalten. Generell zwingt eine Vergasung den Verurteilten dazu, aktiv an seiner Hinrichtung mitzuwirken. Von allem anderen abgesehen, ist es insbesondere dieser Aspekt, der mich Vergasungen ablehnen lässt. In Florida, dem Staat, in dem ich praktiziere, wird die Todesstrafe durch den elektrischen Stuhl vollzogen. Eine im Vergleich zu anderen relativ schmerzlose Methode. Ich setze mich nicht für diese Form der Todesstrafe ein, aber sie ist neben der Todesinjektion sicher die Schmerzfreieste. Während meines Studiums wurde ich wiederholt zu Patienten geschickt, die mit Elektroschocks behandelt wurden. Es war meine Aufgabe, die Therapie zu überwachen, bei der eine niedrige Stromfrequenz durch das Hirn geschickt wird. Die Patienten verloren alle sofort das Bewusstsein, und 123

keiner konnte sich im Nachhinein an Schmerzen erinnern. Von daher gehe ich davon aus, dass auch der Verurteilte auf dem elektrischen Stuhl keine Schmerzen empfindet. Der Stromstoß bei der Exekution ist um einige Frequenzen höher und schaltet die Schmerzwahrnehmung aus. Sollte man sich grundsätzlich nicht dazu entschließen, die Todesstrafe abzuschaffen, so ist die Todesinjektion sicherlich die schnellste und absolut schmerzfreie Methode. Bei der Exekution wird dem Verurteilten ein ›Chemiecocktail‹ in die Venen gespritzt, der sofort die Atemfunktion lähmt, die Herztätigkeit stoppt und das Hirn durch Barbiturate stilllegt. Die Todesinjektion kann dann zu Schwierigkeiten führen, wenn der Verurteilte lange Jahre süchtig war und man die Vene nicht finden kann. Bei uns in den USA müssen grundsätzlich alle Hingerichteten autopsiert werden. Der berüchtigtste Mann, an dessen Autopsie ich teilgenommen habe, war der Serienmörder Ted Bundy, der am 24. Januar 1989 auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurde. Er hatte mindestens 36 Frauen umgebracht. Unter strengen Sicherheitsvorkehrungen wurde seine Leiche in die Gerichtsmedizin nach Gainsville gebracht. Ich kann mich noch gut daran erinnern, dass sich mehrere Journalisten grüne OP-Kleidung anzogen und sich als Assistenzärzte ausgaben, um der Autopsie beiwohnen zu können. Das half ihnen aber nichts; es war nur eine kleine, ausgewählte Gruppe zugelassen. Was mich am Leichnam Bundys verwunderte, war dessen Farbe. Er hatte nicht die Gefängnisblässe, wie man sie sonst kennt. Als nach der Exekution seine Zelle geräumt wurde, fand man dort eine Tube Selbstbräunungscreme. Vielleicht hatte Bundy vorgehabt zu fliehen, denn Wochen vor der Hinrichtung hatte er versucht, mit den Ermittlern einen Deal zu machen. Er wollte ihnen im Westen den Ort zeigen, an dem er seine Opfer vergraben hatte. Bundy war bereits einmal während eines Transportes geflohen. Mag sein, dass er auf eine zweite Chance gehofft hatte. Wie bei 124

allen Tätern, die auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet wurden, zeigte auch Bundys Kopfhaut ein rundes Brandmal. Beim Öffnen der Schädeldecke sahen wir eine große Menge geronnenen Blutes, die für diese Art des Sterbens typisch ist. Jedes Mal, wenn ich an einer solchen Autopsie teilnehme, betrachte ich das Gehirn des Hingerichteten mit größter Aufmerksamkeit. Die Hirnforschung hat viel Zeit und Geld in die Frage investiert, ob und wie sich das Gehirn eines Genies bzw. eines normalen Menschen von dem eines Kriminellen unterscheidet. Unwillkürlich fühlt man sich an die Geschichte von Dr. Frankenstein erinnert, in der der unachtsame Assistent das ›normale‹ Gehirn fallen lässt und dem Arzt stattdessen das eines Verbrechers gibt … Doch die Neurologen und Verhaltensforscher haben uns gezeigt, dass auch das Gehirn keine Antwort auf die Frage nach Gut und Böse geben kann. Im Allgemeinen sind die Gehirne von Genies und Verbrechern nicht zu unterscheiden. Auch das Hirn von Ted Bundy sah aus wie das jedes anderen Menschen.

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10 Flammen und Asche Etwas sind doch die Geister, der Tod, er endet nicht alles, Und der Schatten entrinnt bleich und besiegt noch das Grab. Denn mir war’s, als neigte sich Cynthia über mein Lager, Die man am Rande des Wegs eben begraben im Lärm. Über mir hing der Gott des Schlafs nach dem Leichenbegräbnis, Und ich klagte, so kalt sei jetzt das Reich meines Betts. Gleich war die Haartracht noch, in der man zu Grab sie getragen, Gleich auch die Augen, das Kleid war an der Seite versengt. Und der gewohnte Beryll war am Finger benagt von dem Feuer; Und auch der Lethe Fluss hatte ihr Äußeres entstellt. Seufzer hauchte sie aus, und sie sprach; doch es klapperten kraftlos Mit den Fingern dabei mir ihre Hände den Gruß: »Reuloser – und keine andre darf hoffen, dass je du dich besserst –, Hat denn wirklich der Schlaf jetzt schon die Macht über dich?« »Jetzt mögen andre dich haben, bald werd’ ich dich allein besitzen; Dann bist du bei mir, vereint ruhn wir dann beide im Grab.«

PROPERZ (50 v. CHR.-16 N. CHR.), Elegien

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Das Sterben und der Tod gehören mit zu unserem Leben, und irgendwann muss sich jeder von uns mit diesem Thema auseinandersetzen. Beim Tod von Verwandten und engen Freunden werden wir mit Schmerz und Trauer, aber auch mit der rein organisatorischen Seite des Todes konfrontiert. Das Beerdigungsinstitut nimmt einem den größten Teil der Arbeit ab. Im Gegensatz zu den USA handelt es sich in Europa meist um alte Familienbetriebe. Die Mitarbeiter sind sehr verständnis- und rücksichtsvoll, und die Angehörigen müssen mehr oder weniger nur noch entscheiden, ob der oder die Verstorbene herkömmlich beerdigt oder verbrannt werden soll. Nachdem die katholische Kirche keinerlei Einwände mehr gegen die Kremation hat, lassen sich auch in Europa immer mehr Menschen einäschern. In Amerika war dies schon immer sehr verbreitet. In welchem Zusammenhang steht nun meine Arbeit mit Kremationen? Hin und wieder gibt es Fälle, in denen die Angehörigen vermuten, die Überreste ihres Verstorbenen seien verwechselt worden. Bei uns in den USA sind derlei Klagen mit immens hohen Schadensersatzforderungen verbunden, die in Millionenhöhe gehen können. Aus diesem Grund beauftragen die Anwälte meist einen forensischen Anthropologen mit der Untersuchung der Asche. Ehe ich Ihnen einen derartigen Fall erzähle, möchte ich jedoch die Funktionsweise eines Krematoriums genauer beschreiben. Für mich strahlen Krematorien immer etwas Fabrikartiges aus: Luftreinigungsrohre, Metallröhren, Fußböden aus Beton oder Kacheln und mehrere Öfen. Bei einem der Krematorien, die ich besuchte, hatte der Ofen zwei Türen. Eine ließ sich zu einem Raum hin öffnen, in dem die Trauerzeremonien stattfinden, die andere konnte vom Arbeitsbereich her geöffnet werden. Die Leichen werden meist durch das Beerdigungsinstitut 127

zum Krematorium gebracht, und die Angehörigen können die Kleidung des Verstorbenen bestimmen. Manche Tote tragen noch Schmuck oder sogar ihre Brille. Die meisten Krematorien lehnen es ab, die Toten in ihren Särgen zu verbrennen. Sie verwenden vielmehr eine feste Pappschachtel mit einem Dekkel. Nachdem sie umgebettet wurden, werden die Verstorbenen auf einem Rollwagen zum Ofen geschoben. Der Ofen ist mit Schamottestein ausgekleidet; d. h. mit gebranntem, feuerfestem Ton, der sich durch seine große thermische und chemische Widerstandsfähigkeit auszeichnet. Aufgrund der starken Inanspruchnahme müssen die Öfen jedoch regelmäßig instandgesetzt werden. Die raue und rissige Oberfläche im Inneren hat auch Nachteile. Auf der Oberfläche lagert sich Asche ab, die nicht vollständig entfernt werden kann. Für die Auskleidung des Ofens kann aber kein Metall verwendet werden, da es durch die von der Hitze ausgelösten chemischen Reaktionen binnen kurzer Zeit korrodieren würde. Lediglich Schamottestein hält der Hitze eine Zeit lang stand. In der Mitte des Ofens verläuft meist eine Rinne, damit die sterblichen Überreste aufgefangen und versorgt werden können. Für die Verbrennung wird Erdgas verwendet, und die Innentemperatur im Ofen beträgt ca. 927 °C. Die Einäscherung dauert unterschiedlich lang und hängt von den individuellen Eigenschaften des Leichnams ab. Fette Leichen verbrennen meist schneller als dünne, muskulöse. Im Durchschnitt rechnet man jedoch mit mehreren Stunden. Alle organischen Bestandteile werden durch die Kremation zerstört; zunächst verkohlen sie, dann werden sie vollständig verbrannt. Die Knochen werden bei diesem Vorgang schwarz. Sind alle organischen Komponenten verbrannt, hellt sich das Schwarz auf: von Dunkelgrau über Grau zu Hellgrau und schließlich Weiß. Den letztgenannten Zustand der Knochen bezeichnet man als kalziniert. Die Knochen sind jetzt extrem spröde, sehen aber noch immer mehr oder weniger normal aus. Knochen können unter der Einwirkung von Feuer 128

schrumpfen, manchmal um bis zu 25 Prozent. Sie können sich verdrehen und krümmen und winzig klein zersplittern. Interessante Veränderungen lassen sich beobachten, wenn man sich Knochen in den verschiedenen Verbrennungsstadien unter dem Mikroskop ansieht. Vor der Verbrennung sind die inneren Strukturen deutlich erkennbar. Das gleiche gilt nach der Verbrennung, obwohl die Kanäle verengt und geschrumpft sind. In der mittleren Phase ist nur noch sehr wenig von der Knochenstruktur erkennbar, da alles geschwärzt und verstopft ist. Die ›Kremente‹, d. h. die verbrannten Überreste eines Erwachsenen, wiegen durchschnittlich ein bis vier Kilogramm, wobei das Verhältnis von Asche zu Knochenfragmenten ca. 50:50 ist. Schädel und Becken sind meist noch erhalten, wenn der Leichnam im kalzinierten Zustand dem Ofen entnommen wird. Der geschulte Osteologe kann auch in diesem Stadium noch Geschlecht und ungefähres Alter bestimmen. Oft werden die Überreste jedoch mithilfe eines rechenartigen Kratzers und eines ähnlich geformten Besens aus dem Ofen gekehrt. Knochen und Asche werden in die Rinne am Boden des Ofens gekratzt und dann bis zu einem bereitstehenden Behälter gekehrt. Dieser Behälter, meist ein Metallkasten, wird dann zu einem großen Eisenmagneten gebracht. Dreht man dessen schlüsselförmigen Griff in die eine Richtung, wird die magnetische Kraft aktiviert, dreht man ihn in die andere Richtung, wird sie neutralisiert, sodass alle angezogenen Gegenstände hinunterfallen. Während dieses Vorgangs werden zum Beispiel orthopädische Platten, Zahnbrücken oder künstliche Hüftgelenke entfernt. Gleichzeitig wird der Eisenmagnet dazu benutzt, die fragilen kalzinierten Knochen zu zerstoßen. Danach werden die sortierten Überreste in einen Prozessor gegeben, der sie in kleinste Partikel zermahlt. Nun können sie vorsichtig in die Urne umgefüllt und bestattet werden. Um Verwechslungen zu vermeiden, legen die meisten Krematorien den Leichen bei der Einäscherung eine Metallplakette 129

mit Kennnummer bei. Meist ist diese Plakette aus Messing, damit sie mit in den Ofen gelegt werden kann (Messing schmilzt erst bei 988 °C). Bei der Entnahme des Leichnams wird auch die Plakette entnommen und zu den Akten gelegt. Was den Schmuck betrifft, den viele Verstorbene noch tragen, gibt es zwei verschiedene Möglichkeiten. Entweder wird er vor der Verbrennung entnommen und später mit in die Urne gelegt, oder er wird mit kremiert. Die meisten Juwelen widerstehen dem Feuer, da sie tief in der Erde entstanden sind, unter Temperaturen, die weit höher liegen als die im Ofen des Krematoriums. Die Porzellankronen von Zähnen können einbrechen, sie schmelzen aber nicht; ebenso wie Zahngold und -silber. Sterlingsilber beginnt erst bei 899 °C zu schmelzen, Gold bei 1063. Zahngold hat sogar einen noch höheren Schmelzpunkt, da es sich um eine Legierung handelt und nicht um reines Gold. Zahnfüllungen und -kronen aus Amalgam überleben die Flammen nicht, sondern lösen sich auf. Nach der Verbrennung findet sich am Boden des Ofens oft ein eigenartiger Stoff, die »Kremationsschlacke«, die aus kleinen Klumpen gräulich formlosen Materials besteht. Diese Schlacke nimmt die Form kleiner Bläschen an. Bricht man sie auf, lassen sich gläserne Hohlräume erkennen, die wie winzige Geoden aussehen. Für diese Erscheinung gibt es verschiedene Erklärungen: kremierte Haare, sandproduzierende, geschmolzene Silikate oder chemische Substanzen der Knochen, die zu silikatähnlichen Bröckchen reagieren. Selbstverständlich wird immer nur ein Leichnam in einem Ofen eingeäschert. Daher erklären sich auch die Wartezeiten für die Urnen. Dennoch kann es hin und wieder zu Verwechslungen kommen, oder die Angehörigen behaupten, die Urne sei nicht an den vorgesehenen Ort gebracht worden, oder der Leichnam eines Kindes sei mitverbrannt worden. In den USA führen derlei Klagen, wie gesagt, zu Schadensersatzforderungen in Millionenhöhe. Es sind solche Klagen bzw. Gerichts130

verhandlungen, bei denen ich zu Rate gezogen werde. Sie werden sich vielleicht fragen, wie es möglich ist, diese pulverisierte Menge verbrannter, unendlich kleiner Teilchen und kalzinierter Knochensplitter zu analysieren. Wie ist es möglich, zum Anfang der Verbrennung zurückzukehren, wie kann sortiert und rekonstruiert werden, was das Feuer zerstört hat? Durch die Verbrennung und das anschließende Zermahlen sind alle Hinweise auf Herkunft und Geschlecht unkenntlich geworden. Das Alter kann gelegentlich noch an arthritischen Veränderungen der Gelenke, der Wirbel oder anhand der Zahnstruktur rekonstruiert werden. Solche guterhaltenen Überreste sind in der Urne allerdings sehr selten und in der Regel so winzig, dass sie extrem schwierig zu bestimmen sind. Bei Kleinkindern oder Föten können die noch unausgewachsenen Knochen aussagekräftig sein. Manchmal ist sogar eine sehr präzise Altersbestimmung möglich. In einem Fall konnte ich anhand der kremierten Überreste eines Fötus aufgrund eines winzigen Knöchelchens, das die Flammen überlebt hatte, dessen Alter auf ein paar Wochen genau bestimmen. Meistens jedoch liefern nicht die sterblichen Überreste, sondern das ›Gepäck‹, das die Toten bei sich hatten, die wichtigen Hinweise. Die meisten von uns tragen eine erstaunliche Menge künstlichen Gepäcks in ihrem Körper. Jede Operation hinterlässt im Körper Spuren. Unerheblich, ob es sich um die Entfernung der Gallenblase, einen Bypass oder eine Brustoperation gehandelt hat, die Blutgefäße werden mit kleinen Metallclips abgeklemmt. Da diese Clips im Körper zurückbleiben, sind sie aus widerstandsfähigen, seltenen Metallen hergestellt, die nicht korrodieren. Das kann einfach hochwertiger rostfreier Stahl sein oder ein seltenes Metall wie beispielsweise Tantal. Anhand der Operationsunterlagen und der Einkaufslisten des betreffenden Krankenhauses können Anzahl und Art der Clips nachkontrolliert werden. Da sie nicht eisenhaltig sind, entgehen die Clips auch dem Stößelmagneten und gelangen so mit in die 131

Urne. Manchmal können sie mit bloßem Auge gesehen werden; häufiger und genauer aber unter dem Röntgengerät. Auch Zahnersatz ist für die Identifizierung von großem Nutzen. Kleine Zahnpflöcke aus rostfreiem Stahl oder Titan, die zur Befestigung der Kronen verwendet wurden, geben später wichtige Hinweise. Sie variieren aber nicht nur beträchtlich in ihrer chemischen Zusammensetzung, in Größe und Form (jede Sorte sieht verschieden aus), sondern sind häufig auch durch das Schleifen der Enden stark verändert. Diese Veränderungen werden später mit den Unterlagen des behandelnden Zahnarztes verglichen, wodurch der Patient posthum eindeutig identifiziert werden kann. Wir prüfen die Asche auch sorgfältig auf Nahtmaterialien aus rostfreiem Stahl, die bei operativen Eingriffen verwendet werden; bei einer Herzoperation wird zum Beispiel das Brustbein gebrochen und später wieder zusammengedrahtet. Darüber hinaus suchen wir nach metallenen Kathetern, die man bei der Implantation von Herzschrittmachern verwendet. Die Untersuchung eingeäscherter Überreste erfordert viel Geduld. Wir benötigen dazu ein Mikroskop, eine Pinzette und eine radiographische Apparatur mit Rasterkassetten, sodass jedes noch so winzige Metallstückchen durch die Röntgenstrahlen erkennbar und lokalisierbar ist. Wenn die Kremente in der Schachtel geröntgt wurden und man Metallstückchen gesichtet hat, dann beginnt die sprichwörtliche Suche nach der Stecknadel. Legt man ein Raster auf die ausgebreiteten Kremente und macht dann eine Röntgenaufnahme, findet man das Metallstück schneller. Die Arbeit muss detailbewusst dokumentiert werden: Gewicht, Anzahl usw., und eine Vielzahl von Photographien wird angefertigt. Ich bin oft erstaunt, was wir finden. Einmal fand ich in den Krementen ein Knöchelchen, das sich als der winzige Knochen aus dem Innenohr eines Kindes herausstellte – völlig unversehrt! Ohne genaue Kenntnisse der Menschlichen Anatomie und ihrer Varianten und ohne gu132

tes Vorstellungsvermögen und Fantasie kann diese Arbeit nicht geleistet werden. Wer bezahlt mir diese Arbeit? Meist sind es Anwälte. Entweder jene der Verteidigung oder die der Anklage. Das Unschöne an diesen Prozessen ist oft, dass versucht wird, bei den Nachforschungen Geld zu sparen. Normalerweise kostet die Arbeit viel Zeit und damit auch Geld. Diese Pfennigfuchserei ist allerdings ausgesprochen kurzsichtig. Denn je weniger Zeit investiert wird, umso weniger Beweismaterial lässt sich finden. Sind Bestattungsunternehmen in einen Prozess verwickelt, engagieren sie meist die besten Experten und geben ihnen die für ihre Dokumentation notwendige Zeit. Ein verständliches Verhalten, denn oft steht der gute Ruf des Unternehmens auf dem Spiel. Einen meiner Fälle möchte ich Ihnen im folgenden erzählen. Eine von ihrer Familie innig geliebte Frau starb nach langem und qualvollem Kampf gegen den Krebs. Nachdem die Ärzte die Krankheit diagnostiziert hatten, wurde sie zunächst operiert; doch nach einem knappen Jahr bildeten sich Metastasen. Man äscherte sie in der Stadt ein, in der sie verstorben war, und ihre Kremente wurden an einen großen Friedhof eines nahegelegenen Bundesstaates geschickt. Dort überführte man die als die ihren gekennzeichneten Überreste in eine Urne, die dann an den angewiesenen Platz in der Friedhofsurnenhalle gestellt wurde, wo sie bleiben sollte. Am gleichen Abend fand ein Passant an einer Schnellstraße einen Transportkarton mit dem Namen der Verstorbenen. Der Karton enthielt die eingeäscherten Überreste einer Leiche, und der Karton wurde von der örtlichen Polizei an die Familie ›zurückgegeben‹, die zutiefst schockiert war. Die Angehörigen nahmen sich einen Anwalt und strengten eine 10-Millionen-Dollar-Klage (!) gegen das Bestattungsunternehmen an. Die Anwälte des Unternehmens, beauftragt von der Versicherung des Friedhofs, fragten bei forensischen Anthropologen in ganz Amerika an. Sie waren auf 133

der Suche nach einem Wissenschaftler, der ein Expertenteam zusammenstellen sollte. Wissenschaftler meines Faches gibt es nicht allzu viele, sodass sie zwangsläufig auf mich stießen. Bei einem ›Vorstellungsgespräch‹ wurde ich von acht oder mehr Anwälten befragt und instruiert. Kurze Zeit später stellte ich das Team zusammen. Es bestand aus Clyde Snow, der in Brasilien die Überreste Mengeles untersucht hatte, Doug Ubelaker vom Smithsonian, Lowell Levine, einem der besten forensischen Zahnärzte Amerikas, Bob Kirschner, stellvertretendem Leichenbeschauer in Chicago, und Robert Fitzpatrick, dem besten forensischen Radiologen Amerikas. Für die chemischen und mikroskopischen Untersuchungen wurde eines der führenden Analyselaboratorien beauftragt. Zu Beginn des Gerichtsverfahrens wurde der klagenden Partei eine stattliche Summe angeboten, um das Verfahren durch einen Vergleich beizulegen. Sie lehnte ab. Man unterrichtete uns, dass wir uns auf einen Prozess einzustellen hätten, der durch alle Instanzen gehen würde – unsere Untersuchungen dürften folglich nichts außer Acht lassen. Stunden- und tagelang untersuchten wir die Kremente. Als unsere Ausgaben dementsprechend stiegen, intervenierte die Versicherungsgesellschaft beim Bestattungsunternehmen, d. h. beim Betreiber des Friedhofes: »Wir haben Ihnen eine ›Cadillac-Verteidigung‹ versprochen. Von einem Rolls-Royce hat niemand etwas gesagt!« Von der Verstorbenen gab es Dutzende von Röntgenbildern, zahnmedizinische und andere. Die medizinischen Unterlagen stapelten sich bis zu einem halben Meter. Wichtig erschien uns unter anderem, dass der Operateur zum Verschließen der Blutgefäße die bereits erwähnten Clips verwendet hatte. Nicht weniger als 29 Clips konnte ich auf den Röntgenaufnahmen erkennen, die vor ihrem Tod gemacht worden waren. Aus dem OP-Bericht ging hervor, dass sogenannte ›Hemaclips‹ einer speziellen Marke verwendet worden waren. Ein Blick in die 134

Einkaufsliste des Krankenhauses zeigte uns, dass es sich um Hemaclips aus Tantal handelte. In den Krementen der beigesetzten Urne fanden sich insgesamt 18 unversehrte bzw. halbierte Hemaclips. Die anderen elf waren während des Verbrennungs- und Mahlprozesses zerrieben worden und befanden sich nun in den Krementen. Dennoch konnten wir die kleinen Stückchen mithilfe von Röntgenbildern erspähen und später chemisch analysieren. Jede einzelne Probe der beigesetzten Kremente wies winzige Tantalfragmente auf. Die eingeäscherten Überreste, die an der Schnellstraße gefunden worden waren, wiesen diese Tantalfragmente nicht auf. Sie konnten der Frau, deren Namen auf dem Karton gestanden hatte, also gar nicht gehören. Darüber hinaus fanden wir in der beigesetzten Urne einen kleinen Zahnpflock, der für die Befestigung einer Krone benutzt worden war. Dieser war an beiden Enden vom Zahnarzt geschliffen worden. Die Veränderungen waren durch ihre Unregelmäßigkeiten sehr spezifisch. Unter den Röntgenbildern der Verstorbenen befanden sich auch fünf Aufnahmen dieses Zahnpflocks. Sowohl der Zahn als auch die Röntgenaufnahmen wurden mit einer Videokamera aufgenommen und die einzelnen Aufnahmen übereinander projiziert. Die Übereinstimmung war eindeutig. Das Ergebnis unserer Untersuchung demnach auch. Wir hatten nachgewiesen, dass die kremierten Überreste in der beigesetzten Urne der verstorbenen Frau gehörten und nicht jene, die man – makabrerweise – an der Schnellstraße gefunden hatte. Nachdem der erste aus unserem Team seine eidesstattliche Aussage gemacht hatte, beeilten sich die Kläger, den Prozess doch noch durch einen Vergleich beizulegen. Offen blieb jedoch die Frage nach der Identität der Überreste im Karton. Sie wurden nie identifiziert. Wir konnten lediglich herausfinden, dass es sich um die Kremente verschiedener Personen handeln musste. Ich untersuchte den Ofen des Krematoriums. Dort fand ich in den Rissen und Ecken der Schamotte135

steine Knochenfragmente und Asche. Vielleicht hatte ein verärgerter Angestellter die Reste zusammengekehrt, in den Karton gefüllt und an der Schnellstraße abgestellt, um dem Bestattungsunternehmen Schaden zuzufügen? Wer weiß …

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11 Der Tod in 10 000 Fragmenten Du magst sagen, dass die Wirklichkeit in keiner Weise interessant sein muss. Ich aber meine, dass – auch wenn die Wirklichkeit es sich leisten kann, uninteressant zu sein – Hypothesen dies nie können. JORGE LUIS BORGES (1899-1986), Der Tod und der Kompass

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Etwa 30 km nördlich von Gainesville führt die Interstate 75 durch eine grüne, liebliche Landschaft: weite Felder, dichte Pinienwälder und stämmige Eichen. Ich kann diesen Streckenabschnitt nicht fahren, ohne einen Blick auf ein Stück Weideland zu werfen, das ein wenig südlich der Ausfahrt nach High Springs liegt. Am Rande dieses Weidelandes steht eine einsame Eiche, und nach Westen hin erstreckt sich ein kleines Wäldchen. Von den Bäumen dieses Wäldchens geschützt, liegen die abgebrannten Überreste einer alten Hütte. Hier wurden am 28. Januar 1985 die Skelettreste zweier völlig verbrannter Menschen gefunden. Neben dem einen Skelett lag eine 12-kalibrige Schrotflinte, Modell Ithaka 37. Durch die Feuersbrunst, die die Hütte mitsamt den Menschen niedergebrannt hatte, war das Gewehr geschmolzen und der Schaft zu Asche zerfallen. Wenn Sie mich fragen, welcher mein schwierigster und zugleich verblüffendster Fall war, sage ich ohne Umschweife: der Meeks-Jennings-Fall. Im Laufe der Jahre habe ich die unterschiedlichsten menschlichen Überreste untersucht; historische und aktuelle, berühmte, rätselhafte. In Asien, Afrika, Europa, Südamerika und selbstverständlich in den USA. Doch nur 30 km von meiner Haustür entfernt bin ich auf das verwirrendste und komplizierteste Problem der forensischen Anthropologie gestoßen, das mich und meine Mitarbeiter jemals beschäftigt hat. Der Meek-Jennings-Fall begann mit einem höllischen Feuer, und die Ermittlungen erwiesen sich als dementsprechend komplex. Anderthalb Jahre waren meine Mitarbeiter und ich mit der Bearbeitung des Falles beschäftigt. Oft hatten wir das Gefühl, ein entscheidendes Beweisstück gefunden zu haben, das sich bei näherer Betrachtung jedoch als Irrtum erwies. Wir 138

mussten ein Gewirr von sterblichen Überresten ordnen, das von der Menge her einen Quadratmeter einnahm, dessen verzwickte Geschichte allerdings von Alaska bis Florida, über Tausende von Kilometern und über Dutzende von Jahren reichte. Alles an diesem Fall schien sich einer einfachen Lösung zu entziehen. Manchmal hatten wir den Eindruck, wir blickten durch ein Kaleidoskop und nicht durch ein Mikroskop. Zunächst gingen wir davon aus, es mit einem Feuer zu tun zu haben; dann stellte sich heraus, dass es zwei gewesen waren. Am Anfang handelte es sich um zwei Tote; später ergab sich, dass es vier waren. Die Morde geschahen paarweise, in zwei verschiedenen Staaten, weit voneinander entfernt. Es gab zwei kurze Briefe, die auf Selbstmord hindeuteten, sich aber als gefälscht herausstellten. Wir mussten eine Unmenge von Röntgenbildern vergleichen – vor und nach dem Tod aufgenommen; darunter einige von sehr dürftiger Qualität. Andere Röntgenbilder, die den Fall im Nu gelöst hätten, waren zerstört worden. Der Irrtum einer Chirurgin stürzte uns in Schwierigkeiten, die zunächst unlösbar schienen. Die Goldfüllung eines Zahnes war monatelang nicht verfügbar, während unsere Erkenntnisse durch den Fund eines anderen Zahnes, Hunderte von Kilometern entfernt, stark in Zweifel gezogen wurden. Im Verlauf unserer Nachforschungen hielten wir es für möglich, dass die Knochen in der verbrannten Hütte ein makabrer Scherz waren und jemand sie absichtlich dort hingelegt hatte. Ein gerissener Mörder, so skrupellos, dass er sich seine eigenen Zähne ausreißen würde, um Spuren zu verwischen bzw. uns auf die falsche Fährte zu locken. »Wir werden zusammen gehen, sodass unsere Asche nicht getrennt werden kann«, stand in einem Abschiedsbrief, den die Polizei nahe der abgebrannten Hütte gefunden hatte. Es war unsere Aufgabe, zu beweisen, dass diese Prophezeiung falsch war. Neben den Skelettresten zweier Menschen fanden wir auch die Reste eines verbrannten Hundes sowie die einge139

äscherten Überreste eines zweiten Hundes, die mit denen des ersten vermischt waren. Die Hütte war ein altes Farmhaus gewesen, was bedeutete, dass allerlei Zeugs mit verbrannt war. Wahrscheinlich waren viele wilde Tiere hier gestorben, und ihre Knochen hatten über Jahre hinweg in der Nähe des Hauses gelegen. Außer Kugeln, Patronen und Schuhösen fanden wir sogar eine alte chinesische Münze. Hätte die Polizei mich doch nur zwei Tage früher angerufen! Doch der Sheriff war davon ausgegangen, dass ich noch im Ausland, in Peru, sei. Tatsächlich war ich jedoch einen Tag, bevor die Tat entdeckt wurde, zurückgekommen. Es wäre für mich also ein leichtes gewesen, den Tatort fachmännisch nach Beweismaterial abzusuchen. Stattdessen hatte eine Ermittlerin vom Labor des Amtsarztes jedes Knochenstückchen, das sie finden konnte, eingesammelt und in eine Tüte getan. Als ich die Tüte im Labor öffnete, hätten die Knochen nicht bunter gemischt sein können. Schließlich zählte ich 10 000 Knochenfragmente; vermischt, zerstampft – zahllose Knochen, die sich in Staub und Asche aufgelöst hatten. Wären die Knochen einfach in zigtausende Teile geschnitten worden, wäre die Arbeit leichter gewesen. Doch wie es jetzt aussah, waren die Reste zweimal durchmischt worden: zuerst durch das Feuer, dann durch die Spurensicherung. Als die Todesfälle von High Springs bekannt wurden, ergab sich bald die Verbindung zu einem besonders schrecklichen und verabscheuungswürdigen Doppelmord in New Hampshire, der einige Tage vorher entdeckt worden war. Die Presse stürzte sich auf diesen Fall, und Zeitungen aus New Hampshire, Massachusetts und Florida verfolgten ihn mit großem Interesse. Wir in Gainesville wurden von den Politikern aus New Hampshire unter Druck gesetzt. Die dortigen Behörden machten auch keinen Hehl daraus, dass sie von unserer Arbeit nichts hielten. Für sie waren wir unfähige Trottel und Hinterwäldler. In Anbetracht der Tatsache, dass ich anderthalb Jahre damit verbrachte, 140

die Skelette peinlich genau zu untersuchen und zu rekonstruieren, empfinde ich diese Unterstellung, gelinde gesagt, als Beleidigung. Nachdem wir unsere Untersuchungsergebnisse und Beweise vorgelegt hatten, wurden sie vom Bundesanwalt von New Hampshire demonstrativ nicht beachtet, und er erklärte den Fall für nicht abgeschlossen. Später wurde er Gouverneur des Staates … Eines muss man ihm lassen, er hat es sehr gut verstanden, sich in der Öffentlichkeit ins rechte Licht zu rükken. Der faszinierendste Aspekt des Meek-Jennings-Falles war jedoch die Persönlichkeit des Mörders. Noch über den Tod hinaus schien er uns mit seiner Gerissenheit zu verspotten. Tiefe, romantische Gefühle und entfesselte und rasende Wut gingen in der Meek-Jennings-Affäre Hand in Hand. Die ›Flammen der Liebe‹ haben fast alles zerstört – beinahe auch die Wahrheit. Bis zum heutigen Tag ist es mir ein Rätsel, warum niemand den Brand entdeckt hat. An der Bezirksstraße 236, wo sich auch die Ausfahrt der Interstate 75 befindet, steht eine ShellTankstelle, kaum 2 km entfernt. Es ist unglaublich, dass niemand den Rauch bzw. die Flammen gesehen hat und die abgebrannte Hütte erst zehn Tage nach dem Brand entdeckt wurde. Als die Ermittler an den Tatort kamen, war das Mauerwerk des Hüttenkamins erkaltet, und über der Asche war das gesamte verzinkte Dachwerk zusammengebrochen. Die Bäume, die in Windrichtung vor der Hütte stehen, waren kaum verbrannt, während andere, westlich der Hütte, bis zu zwölf Meter hoch geschwärzt und angekohlt waren. Ein dramatischer Beweis für die Intensität des Feuers. Der ganze Boden war von den herabgestürzten Wellblechteilen des Daches bedeckt. Erst als die Beamten die heruntergefallenen Dachteile wegräumten, stießen sie auf die ersten Knochen. Sie fanden zwei nebeneinander liegende Skelette und eine verbrannte Schrotflinte. Die Position der Knochenfragmente schien darauf hinzuweisen, dass die beiden Körper Seite an Seite liegend von den Flammen erfasst 141

worden waren. Eines der Skelette lag etwas näher an der Tür. In der Asche fand man einige Coleman-Gasflaschen, die jedoch keinerlei Anzeichen einer Explosion aufwiesen, sodass anzunehmen ist, dass sie bereits vor dem Feuer leer waren. Die Skelettreste lagen auf und unter einem Maschendraht, der anscheinend Teil eines alten Gatters war. Einige Knochenteile waren durch die Maschen gefallen, andere lagen noch darauf. So konnten wir nachweisen, dass die beiden Körper zunächst auf dem Draht gelegen hatten. Unter dem Maschendraht stießen wir auf etwas Außergewöhnliches: zu Asche verbrannte Kohlebriketts, die aber ihre Form behalten hatten. Wer auch immer das Feuer gelegt hatte, hatte auch eine beträchtliche Anzahl von Kohlebriketts unter die Leichen platziert, um sicherzugehen, dass sie soweit wie möglich verbrannten. Doch wir wurden noch mit einer weiteren Absonderlichkeit konfrontiert: Außerhalb der Hütte, in der Nähe des Eingangs, fanden wir das einzelne Fragment einer weiblichen Fibula (ein langer, dünner Knochen, der das Schienbein stützt); knapp zwei Meter von den Überresten der anderen weiblichen Knochen entfernt. Dieses Knochenfragment war nicht so stark verbrannt, wie die anderen, aber zerbrochen und an einem Ende angekohlt. Wie kam dieses Fragment nach draußen? Wir zerbrachen uns die Köpfe, konnten uns den Zusammenhang aber nur so erklären, dass das Knochenstück von der explosiven Gewalt des Feuers herausgeschleudert worden war, bevor es vollständig verbrennen konnte. Die Hütte war aus einem Kiefernholz gebaut, das einen hohen Harzanteil hat und explosionsartig brennt. In solch einem Feuer fallen die Dachsparren, scharfkantige Blechteile sausen herunter, und heftige Konvektionsströmungen wirbeln aus allen Richtungen. Tatsächlich wurde neben der Fibula die Asche eines herabgestürzten Dachbalkens gefunden. Ich nehme an, dass der Knochen während des Feuers zerbrach und dann vom Rest des Skeletts weggeschleudert wurde. Die Fibula sollte in meinen weiteren Ermitt142

lungen noch eine bedeutende Rolle spielen. Ungefähr zwanzig Meter von der Hütte entfernt war ein blauer Fiat geparkt. Im Kofferraum wurden Kleidung und persönliche Gegenstände gefunden, die ihre Besitzer als Glyde Earl Meek, einen 49-jährigen Weißen, und Page Jennings, eine 21-jährige Weiße, identifizierten: Teure Cowboystiefel mit aufwendigen Kappen und hochpolierten Spitzen, ein Hemd und eine Jeans sowie eine rote Windjacke und Herrenunterwäsche. Neben diesen Kleidungsstücken, die fein säuberlich zusammengelegt worden waren, standen Page Jennings’ weiße Reebok-Sneakers. In einem der Schuhe, der blutverschmiert war, steckte eine Sonnenbrille. Eine Baseballmütze des StacksRestaurant, des Gainesville Holiday Inn, in dem Page Jennings gekellnert hatte, fand sich ebenfalls im Kofferraum. Ihr hautfarbener BH und die geblümte Unterwäsche lagen, ebenfalls sorgfältig zusammengefaltet, auf ihrem Sweatshirt und einem grünkarierten Hemd. Wenn die beiden Toten Meeks und Jennings waren, hatten sie sich nackt den Flammen hingegeben. Auf der Rückbank des Fiat fanden wir einen Wagenheber und ein Überbrückungskabel, und auf der Ablage lag ein ErsteHilfe-Kasten, eine Kaffeetasse aus Plastik und ein Handtuch. Die Bezüge der Sitze waren durch die Abnutzung bereits aufgeplatzt. Das bei weitem Interessanteste war jedoch der lange, seltsam formulierte Abschiedsbrief, den wir auf dem Vordersitz fanden. Sauber, handschriftlich geschrieben, auf vier beidseitig beschriebenen Blättern. Ein achtseitiges Schreiben ist als Abschiedsbrief für einen Selbstmörder äußerst ungewöhnlich. Die Rechtschreibung war im großen und ganzen korrekt, der Wortschatz umfangreich und die Ausdrucksweise gut. Hin und wieder hatte der Verfasser des Briefes in Klammern ein ›(sic)‹ hinzugefügt, als ob er sich der Rechtschreibung nicht ganz sicher sei. Darüber hinaus war jede Seite sorgfältig nummeriert: #1 von 4, #2 von 4 usw. 143

Dieser Brief, dessen Inhalt ich Ihnen im folgenden vorlegen möchte, erwies sich als das irritierendste und vieldeutigste Element des gesamten Falles. Hilton Inn Gainesville Freitag, den 18. Januar 1985, 12:45 h Wir haben alle Vorbereitungen getroffen und sind nun bereit das zu tun, was, so denken Page und ich, der einzige Weg ist, wie wir für alle Zeit vereint sein können. Die ständigen Einmischungen Außenstehender in unser Leben sind ein für allemal vorbei. Wir wissen, dass, wenn wir so weitermachen wie bisher, unsere Liebe in Hass umschlagen und uns trennen könnte. Allein diesen Gedanken kann keiner von uns ertragen. Die Liebe, die wir füreinander empfinden, seit sich unsere Augen in Alaska zum ersten Mal trafen, ist so stark, dass wir sie uns in den vergangenen 19 Monaten öfter bewiesen, als es die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben tun. Probleme haben wir natürlich auch gehabt, aber es waren weniger unsere eigenen als jene, die durch die Einmischung anderer entstanden. Der Schmerz, den Page durch ihre Familie erleiden musste, macht für mich all das, was wir in der vergangenen Woche getan haben, erträglich. Sie wurde von ihrer Familie, als wir aus Alaska zurückkamen, abgewiesen, weil sie jemanden liebt, den ihre Familie ablehnt. Statt sie zu unterstützen und ihr zu sagen, wir verstehen dich zwar nicht, aber halten trotzdem zu dir, redeten sie ihr zu, sie solle zusehen, wie sie mich loswerden oder abhauen könne. Wir gingen nach Texas. Die Einmischung (sic) setzte sich fort: ihr wurde Geld geschickt, damit sie zum Geburtstag ihres Vaters nach Hause kommen könne – ohne mich. Die Familie ging davon aus, dass wir uns getrennt hätten, daher ging ihre Mutter, sobald Page aus dem Flugzeug gestiegen war, mit ihr in Portland einkaufen. Auf dem Heimweg nach Jackson, N.H., erzählte sie ihrer Mutter, dass wir sehr wohl 144

noch zusammen seien. Hierauf machte ihre Mutter sofort kehrt und brachte alle Geschenke in die Geschäfte zurück. Als sie schließlich in Jackson ankamen, sagte ihr Vater, sie solle verschwinden und nie wieder auftauchen. Ihr Bruder fluchte, sie solle ›in den Arsch gefickt‹ werden, und er wolle sie nie wieder sehen oder etwas von ihr hören. Sie rief mich in Texas an, erzählte mir, was passiert war, dass sie nach Portland zurückfahre und ich sie in Houston abholen solle. Als sie wieder zu Hause war, besprach ich mit ihr, während sie auf meinem Schoß saß, fast vier Stunden lang, was sie durchgemacht hatte. Wir gingen wieder nach Alaska und arbeiteten an dem denkbar ungünstigsten Ort für ein Mädchen mit den Gedanken, die Page hatte, die sie mir aber bis letzte Woche nie wirklich gesagt hat. Die Briefe ihres Bruders tragen zum Verständnis dessen bei, worüber ich schreibe: Unter-Druck-Setzen, Abweisen, Druck, Züchtigung, Druck, das, was zu Hause passierte, und noch mehr Druck. Ihr Bruder, der ihr ›helfen‹ wollte, redete ihr ein, mich für immer zu verlassen. Sie konnte ihm nichts erzählen, um ihn nicht zu verletzen, aber auch mir nicht, weil sie mich auch nicht verletzen wollte. Sie behielt alles für sich, und das wurde ihr zu viel. Die Forderung ihres Bruders, wir müssten ›morgen Nachmittag um fünf verschwinden‹ oder er sei mit seiner Geduld endgültig am Ende, brachte für Page das Fass zum Überlaufen. Der Bruder hinterließ einen Zettel, auf dem stand, sie solle ›die Milch, eine halbe Zwiebel, Käse, Becks Bier, Suppe usw.‹ mitnehmen. Das hieß für Page, alles zu nehmen, was ihn an sie erinnerte, und aus seinem Leben zu verschwinden. SCHON WIEDER. Alle unsere Briefe haben wir verbrannt, sodass niemand sie berühren kann. All unsere Photos genauso. Ich musste ihr versprechen, das Haus in New Hampshire niederzubrennen, damit sicher ist, dass für niemanden ein Andenken zurückbleibt. Es schien, als ob sie einfach verschwinden wollte; so, als sei sie nie auf der Erde gewesen. 145

In der letzten Woche sprachen wir die Pläne durch, die so oft Thema gewesen waren, wenn sie sehr niedergeschlagen war. Zunächst wollten wir zusammen gehen und ›sie bezahlen lassen‹. Doch letztendlich fuhr ich allein, während sie auf meine Rückkehr wartete, um mit mir gemeinsam im Feuer zu sterben. Warum? Weil ich sie so sehr liebte, das ist der einzige Grund, der mir in den Sinn kommt. Mehr als mein Leben. Während meiner Abwesenheit dachte sie, glaube ich, dass ich zwar das tun würde, was wir tun wollten, aber dann erwischt würde. Nur eine Straße weiter würde ein Feuer nämlich direkt entdeckt werden. Es war nur so ein Gefühl, das ich hatte, als wir uns am Donnerstag nachmittag bei ihrem Bruder zu Hause trafen. Sie hat seitdem nicht viel mit mir gesprochen, nur dass sie bereit sei und seitdem ich gegangen sei meditiert hätte. Mental war sie bereit. Sie werden denken, der Kerl ist verrückt – bin ich aber nicht. Seit unsere Pläne feststanden, habe ich wie ein rationaler Mensch gehandelt. Ich habe eine Übernachtung im Motel organisiert, bin essen gegangen, habe Sachen in Hartford verkauft, die Flinte gekauft und für den Fall, dass ich auf dem Rückweg angehalten würde, entschieden, sie nur gegen mich selbst zu richten und keinem Unschuldigen weh zu tun. Wenn wir nicht so hätten vorgehen können, wie es geplant war, wäre Page mit einer an ihren Leib gebundenen Autobatterie in Jacksonville von einer Brücke gesprungen. Aber ja – verrückt vor Liebe und Sorge um diese Frau, mit der ich für immer und ewig, im Geiste und in der Asche, verbunden sein will. Wir werden zusammen gehen, sodass unsere Asche nicht getrennt werden kann; nur unsere Knochen könnten in getrennte Gräber gelegt werden, wie ihr Bruder es will. Page sagt, wenn wir im Ganzen sterben würden, lasse er uns in zwei Gräbern beisetzen, aber so machen wir ihm einen Strich durch die Rechnung. Wenn ich hier sitze und mir vor Augen führe, was mir bevor146

steht, ist es entsetzlich (sic), aber ich habe mein Wort gegeben, und das ist und war für mich schon immer eine Pflicht. Niemand kann von mir sagen, dass ich je behauptet hätte, etwas zu tun, das ich dann nicht auch wirklich getan habe. Page weiß das, und vielleicht hat sie dieses Wissen genutzt. Ich bereue nicht, was geschehen ist, denn hätten wir es nicht getan, hätte ich irgendwann bestimmt allen das Leben genommen. Doch jetzt muss ich mit meinen eigenen Händen Page das Leben nehmen und die einzige Liebe, die ich habe, töten. Page sagt, dass sie das so braucht, wie ihre Meditation es ihr gesagt hat. Sie weiß, dass ich es tun werde und hat keine Sorge, dass ich einen ›Rückzieher‹ machen werde, indem ich ihr nicht folge. Mein Wort – und sie vertraut mir so sehr. Ihrem Bruder wird nichts passieren, sodass er für den Rest seines Lebens zusehen kann, wie er damit zurechtkommt. Das ist der Preis dafür, im Tagebuch zu schreiben, sie sei ›krank‹. Ich persönlich würde ihm gerne auflauern und ihn erledigen, aber sie hat mir das Versprechen abgenommen, es ihm nicht so einfach zu machen, sondern ihn jeden Tag darüber nachdenken zu lassen. Ich habe versprochen, mit ihr zu gehen, und so soll es geschehen. Den Ort, den wir uns aussuchten, fanden wir nach vielem Herumfahren. Es war wie eine Fügung, oben auf einem Hügel, es schien genau richtig für sie zu sein. Wir waren dort zweimal zum ›Picknick‹, schmiedeten Pläne und gaben uns unsere Versprechen. Sie wartet nun, und ich muss tun, was ich nicht glauben kann zu tun, doch ich muss es für mich und sie tun. Hier wird im Brief eine Zeile ausgelassen. Die beiden letzten Zeilen darüber, die mit ›Sie wartet nun …‹ beginnen, sind in einer eiligeren und leicht schrägen Schrift geschrieben, als ob er hastig aufgesprungen wäre. Es folgen einige Leerzeilen. Dann fährt der Briefschreiber fort: Vielleicht bin ich doch verrückt, dass ich der einzigen Frau, für die ich wirklich Liebe empfunden habe, das Leben nahm. 147

Und ich will nicht sterben, aber ich muss, nur um zu sehen, ob wir wieder zusammen sein können, so wie Page es sich vorgestellt hat. Es war das Schrecklichste, doch fühle ich ihre Liebe irgendwie mehr als je zuvor. Die nächsten fünf Worte sind zwar durchgestrichen, aber dennoch lesbar. Ich nahm sie in meine Der Brief geht dann weiter: Zuerst sollte ich erzählen, dass, als wir alles zu unserer Verbrennung herrichteten, sie so fröhlich war wie in den ganzen letzten Wochen nicht mehr. Sie hat nur noch geredet und hatte so einen Elan, dass wir danach noch über zwei Stunden sprachen und einfach nur Spaß miteinander hatten, uns umarmten, unser Heiratsversprechen wiederholten und hofften, das Richtige für uns zu tun. Als wir fertig waren, nahm ich sie in meine Arme und sagte: »Page, ich liebe dich.« Die Antwort war: »Mike, es warst immer nur du, und ich will für immer deine allerletzte Liebe sein.« Sie saß vor mir, ich hinter ihr, und ich begann ihr den Hals zuzudrücken, mindestens zwei Minuten lang. Sie schien sich nicht ein einziges Mal zu sträuben, und als ich dachte, sie hätte ihr Leben ausgehaucht, ließ ich los und legte meine Arme um sie. Aber verdammt, sie begann sich zu bewegen, und ich konnte nichts anderes tun, als ihre Schultern zu streicheln und mit ihr zu sprechen. In nicht weniger als 20 Minuten lag sie weinend in meinen Armen, sprach mit heiserer Kehle und schluchzte: »Mike, du hast es versprochen! Du hast es versprochen.« Aber ich konnte nicht mehr. Wir redeten noch eine Weile, und die allerletzten Worte, die sie sprach, waren: »Mike, ich liebe dich – für immer.« Und dieses Mal hielt ich fest, bis sich meine Arme, Finger und mein ganzer Körper verkrampften. Ich legte sie wieder auf das Laken, sie war reglos und blau angelaufen. Ich breitete gerade das Holz unter der Plattform aus, als sie anfing 148

zu zucken. Ich hielt den Strahler auf sie, wusste, dass sie dieses Mal nicht zurückkommen würde, konnte es aber nicht ertragen, sie zuckend vor mir liegen zu sehen. Also nahm ich einen großen Stein und schlug ihr den Kopf ein, was sie endgültig umbrachte. Das ist der Grund, warum ihr Kopf an der rechten Seite eingeschlagen sein könnte. Ich selbst habe mich entschieden, mir ein Seil umzulegen, bevor ich die Flinte benutze – für den Fall, dass mir dasselbe passiert und ich von der Plattform falle. Das ist der einzige Grund, warum an mir eventuell Seilabdrücke zu finden sind, wenn sie nicht weggebrannt sind oder so. In der braunen Tasche ist die Asche ihres kleinen Hundes, der letztes Jahr in Texas gestorben ist. Wir hatten ihn in San Antone eingeäschert und sie wollte seine Asche bei der unseren haben, genauso wie die Knochen des Welpen Chelsea bei uns sind. Ich hatte sie aus New Hampshire mitgebracht. Es wird jetzt Zeit für mich, da hochzugehen, alles zu beenden und für alle Zeiten bei meiner Liebsten zu sein. Page war wirklich die wunderschönste Frau der Welt, aber manchmal ein Teufel. Ich empfinde das so, weil so viele Dinge gegen sie arbeiteten – Druck – warum wir uns schließlich zu diesem Schritt entschieden. Den Rest meines Lebens irgendwo mit ihr zu verbringen ist alles, was ich hoffte. Ich habe sie geliebt. Lebt wohl D. Mike Daniels für Page Jennings Daniels Ich werde das Feuer mit 21 100-Dollar-Noten entfachen, weil sie gerade 21 Jahre und 16 Tage alt geworden ist. Aufgrund dieses ungewöhnlichen Briefes, mit seiner stellvertretenden Unterschrift von Page Jennings und den finsteren Andeutungen auf die Morde in New Hampshire konzentrierte sich die Polizei mit ihren Ermittlungen auf den zwölf Tage zuvor in Pinkham Noth, New Hampshire, verübten grässlichen 149

Doppelmord. Dort hatten die Beamten am 16. Januar in einer abgebrannten Skihütte die Leichen der Eltern von Page Jennings gefunden: Malcolm Jennings und Elizabeth B. Jennings. Das Ehepaar wurde tot, mit zahllosen Einstichen, aufgefunden. Beide waren geknebelt und in ihren Schlafzimmern mit Nylonseilen erhängt worden. Wer auch immer sie ermordet hatte, schien gehofft zu haben, dass der Brand alle Spuren verwischen würde. Die Leichen hatten durch das Feuer jedoch nur leichten Schaden genommen und konnten sofort einwandfrei identifiziert werden. Meine Arbeit als forensischer Anthropologe richtet sich logischerweise auf die Toten und nicht auf die Lebenden. Ich beschäftige mich selten mit den Launen und Eigenarten der Menschen, solange sie noch leben. Doch in diesem Fall war ich dazu gezwungen, mehr als sonst, die Persönlichkeit der Verstorbenen zu berücksichtigen. Weil der Fall so stark im Licht der Öffentlichkeit stand, wurde in den Zeitungen und im Fernsehen ausführlich über die Betroffenen berichtet. Ein Mann tauchte in diesen Berichten immer wieder auf: Glyde Earl Meek. Und so wurde ich mit dem Leben dieses Mannes vertraut. Die Polizei hatte keine Probleme, die wahre Identität des ›D. Mike Daniels‹ festzustellen; des Mannes, der den Abschiedsbrief geschrieben hatte. Es war Glyde Earl Meek, ein kräftig gebauter, rothaariger Mann aus Washington, mit einer Reihe von Vorstrafen und einer Gefängnisakte. Er war außerordentlich athletisch gebaut und hatte zu Studienzeiten die Ringermannschaft der Washington State University angeführt. Meek war berühmt für seine Einbruchsakrobatik: Er konnte Mauern hochklettern und durch den Schornstein oder ein Dachfenster in das Gebäude eindringen. Er hatte eine enorme Kraft in den Oberarmen und war sehr gelenkig. Meek hatte ›einen verrückten Körper; wie ein Gorilla‹, sagte ein früherer Klassenkamerad später. 150

Glyde Earl Meek kam am 22. Juli 1935 in Pasco, Washington, als Sohn von Pearl und Joe Meek zur Welt. Er war der zweite von drei Söhnen. Sein Vater, der in der Nähe von Seattle für verschiedene Elektrizitätsfirmen arbeitete, war ein brutaler Mann. In einem Interview mit dem Boston Globe erzählten die Verwandten, dass er seine Frau ständig geschlagen habe. »Er war ein brutaler Kerl und zu nichts zu gebrauchen«, urteilte seine Schwester, Thelma Cole. Schließlich ließen sich die Eltern Meeks scheiden. Während ihre Mutter arbeitete, wurden Glyde Earl und seine Brüder von Tante Thelma versorgt. Sein Cousin sagte später aus, Earl sei schon immer ein Rotzbengel gewesen: »Er war schon mit drei, vier Jahren ein Dieb. Eigentlich hätte er Karriere machen können, denn er konnte gut mit Leuten umgehen. Aber irgendwas fehlte ihm.« Ein ehemaliger Mitschüler erzählte den Reportern der New Hampshire Sunday News, dass Meek »ein Typ war, der nicht nach den Regeln der Gesellschaft leben konnte. Er hatte viel Talent, konnte es aber nicht ins System einbringen.« In den frühen fünfziger Jahren kam Meek auf die Pasco High School, dort blieb er zwei Jahre und wechselte dann auf die Walla Walla High School. Er wurde als ›ehrenwerter, aber fauler Schüler‹ beschrieben, der sich im Sport, insbesondere beim Football und beim Ringen, hervortat. Einmal, als er seinen Mitschülern imponieren wollte, kletterte er auf den Turm des Elektrizitätswerkes, sprang herunter, schnappte sich die Isolierkabel und schwang in Tarzanmanier mit ihnen herum. »Er stand auf sowas«, sagte ein früherer Mitschüler, »er suchte immer nach Aufregung.« Meeks Zeiten auf der Walla Walla High School waren der Höhepunkt seines Lebens. Er wurde stellvertretender Schülersprecher und erhielt ein Sportstipendium der Washington State University. Sein Studium hat er allerdings nie beendet. 1959 heiratete er, wurde 1969 geschieden und ließ seine Frau mit den zwei Söhnen sitzen. Meek hat sich nie um den Kontakt zu 151

seinen Kindern bemüht, und die beiden wissen bis heute nicht, wer ihr Vater ist. In den frühen 60er Jahren hatte Meek mehrere Einbruchdiebstähle begangen. 1962 wurde er von Art Eggers, dem damaligen Staatsanwalt von Walla Walla, hinter Gitter gebracht. »In fünf oder sechs Häuser in Walla Walla war eingebrochen worden sowie in einen Supermarkt in Seattle. Meek kam immer von oben in die Läden rein. Er war ein teuflisch guter Fassadenkletterer und Einbrecher«, berichtete Eggers den Reportern. »Als wir ihn schnappten, schleppte er gerade Diebesgut im Wert von 10 000 Dollar ab – Kleider, Schnaps –, alles aus Geschäften in Salt Lake City. Hätte ich ihn in einer Kneipe statt auf einem Raubzug getroffen, hätte ich ihn für einen richtig netten Kerl gehalten. Ich mache diesen Job schon recht lange, und Meek ist sozusagen mein Lieblingsgauner.« Als Häftling Nr. 212 104 kam Meek ins Staatsgefängnis von Walla Walla. Zunächst war er ein vorbildlicher Häftling und glänzte in der Footballmannschaft. Doch nach einem misslungenen Fluchtversuch wurde seine Haftstrafe verlängert, bis man ihn schließlich 1970 auf Bewährung entließ. Er war damals 35 Jahre alt und hatte bereits acht seiner besten Jahre im Gefängnis verbracht. Meek heiratete zum zweiten Mal und machte sich mit einer eigenen Firma, Alpine Sign Co., im Bereich der Schilderwerbung erfolgreich selbstständig. 1972 kam seine Mutter durch einen Selbstmordversuch ums Leben. Sie war zur Alkoholikerin geworden und litt an schweren Depressionen. Freunde erzählten, dass Meek bei ihrer Beerdigung nicht aufgehört habe zu weinen. Fred Mielke lernte Meek, der damals Shorty genannt wurde, als Mitglied einer Gruppe von Freiwilligen kennen, die entlassenen Strafgefangenen helfen: »Shorty war ein sympathischer und hart arbeitender Kerl. Bei einer Autopanne wäre er der erste gewesen, der dir geholfen hätte.« Nachdem auch seine 152

zweite Ehe in die Brüche gegangen war, »ging alles den Bach runter«, wusste Mielke zu berichten. Es folgte eine weitere, einjährige Haftstrafe wegen Einbruchs. Ende der 70er Jahre wurde Meek erneut auf Bewährung entlassen. Damals lernte er Debbie Alderfer aus Pennsylvania kennen. Kurze Zeit nach seiner Entlassung wurde er verhaftet, weil er versucht hatte, Damenunterwäsche im Wert von 7 Dollar zu stehlen. Aus Angst, wieder ins Gefängnis zu müssen, floh er mit seiner Freundin nach Tucson, Arizona, wo er eine weitere Schilderfirma eröffnete. Ungefähr zu dieser Zeit begann Meek auch jenen Decknamen zu benutzen, mit dem er den Abschiedsbrief unterschrieb: Daniel Mikel Daniels. Es war einer von zehn falschen Namen, die er sich von Zeit zu Zeit zulegte. Meek und Debbie Alderfer hatten geheiratet, doch Meek war ein besitzergreifender Ehemann, der seiner Frau nicht erlaubte, in Kontakt mit ihren Eltern zu treten. Acht Jahre gehorchte Debbie ihm. »Ich liebte ihn«, erzählte sie später dem Boston Herald. »Mein Leben mit ihm, fand ich, war die Sache wert. Er hatte mich überzeugt, dass, riefe ich meine Eltern an, unsere Spur entdeckt würde und er wieder ins Gefängnis müsse.« Anfang der 80er Jahre suchte Glyde Earl Meek einen Chiropraktiker auf. Eigentlich eine Nebensächlichkeit; doch sie sollte für meine Ermittlungen von großer Bedeutung sein. Denn dieser Chiropraktiker machte sechs Röntgenaufnahmen von Meeks Rücken, die sich später als die einzigen Röntgenaufnahmen von Meek herausstellten. Eine Aufnahme zeigt den oberen Brustkasten, eine andere den Kiefer mit einer goldenen Zahnfüllung. Diese Zahnfüllung wurde später zu einem entscheidenden Beweisstück. 1983 zog das Paar nach Alaska in der törichten Hoffnung, dort Gold zu finden. Was Meek fand, war eine Stelle als Hausmeister eines Ferienhauses an der Seal Bay. Hier war es, wo er der jungen Page Jennings zum ersten Mal begegnete. Eine unheilvolle Begegnung, die für die Familie Jennings töd153

liche Folgen haben sollte. Page Jennings war eine hübsche junge Frau. Sie hatte eine schnelle Auffassungsgabe, las gern und verfügte über einen ausdrucksvollen Schreibstil mit einem ausgeprägten Sinn für Humor. Da ihre Eltern wohlhabend waren, genoss sie alle Vorzüge einer wohlbehüteten Kindheit und guten Ausbildung. Sie schien für ein glückliches Leben ohne Probleme bestimmt zu sein. Unter den 1100 Schülern der Kennet High School in Conway, New Hampshire, erhielt sie den Honours-Grad. Sie engagierte sich in der Schülermitverwaltung und war Schulsprecherin. Sie erlitt zwei schwere Knieverletzungen, konnte aber dennoch im letzten Schuljahr im Speerwurf antreten. Die Verletzungen waren so schwer, dass sie operiert werden musste. Ein Umstand, der für die späteren Ermittlungen sehr wichtig sein sollte. Bis zu diesem Zeitpunkt war das Leben Page Jennings wohlgesinnt gewesen. Erst in ihrem ersten Jahr auf dem Simmons College in Boston musste sie eine bittere Niederlage hinnehmen. Ihr Studium der Physiotherapie verlief ziemlich erfolglos; einen schwierigen Pflichtkurs in organischer Chemie bestand sie nicht, wodurch ihr Selbstbewusstsein ins Wanken geriet. Daraufhin entschied sich Page, die Schule für ein Jahr zu unterbrechen und andere Wege zu gehen. Sie nahm einen Job als Köchin in einem Urlaubsort an der Seal Bay in Alaska an, wo sie im Juni 1983 Glyde Earl Meek traf. Meek verliebte sich sofort in die sympathische junge Frau. Wie man sich denken kann, beurteilte seine Frau die Beziehung eher kritisch. Später berichtete sie dem Boston Herald, dass Page »eine Menge Probleme hatte. Irgendwie hatte ich den Eindruck, dass Earl ihr da raushelfen wollte, sie beschützen wollte. […] Er war völlig verknallt in sie.« Page hingegen genoss die Aufmerksamkeit des älteren Mannes. Er machte mit ihr Ausflüge in die Umgebung, und in einem Brief an ihre Eltern beschreibt sie begeistert, wie sie auf einem dieser Ausflüge zum ersten Mal einen Weißkopfadler 154

gesehen habe. Im Herbst 1983 verließ das seltsame Trio gemeinsam Alaska, und nach einiger Zeit trennt sich Debbie Alderfer von den beiden. »Ich war darüber nicht verbittert«, erklärte sie später den Reportern, »ich hoffte einfach, er würde sein Glück finden. Aber ich fürchte, dem war nicht so.« Im Oktober besuchen Page und Meek gemeinsam Pages Eltern in Jackson, New Hampshire. Der Besuch muss eine einzige Katastrophe gewesen sein, denn die Familie war entsetzt von diesem ungehobelten Menschen, der dazu noch um Jahre älter war als ihre Tochter. Für die Jennings erschien Meek wie ein Wesen aus einer anderen Welt. Insbesondere Pages Bruder Chris machte kein Geheimnis aus seiner Abneigung. Später äußerte er sich dann auch entsprechend den Reportern gegenüber: »Dieser Kerl hatte nichts zu bieten und keinen Ehrgeiz. Sie hatte wirklich etwas Besseres verdient.« Doch Page wollte mit Meek zusammenbleiben. Ende des Jahres 1983 zog das Paar nach Texas, nach Palm Harbor. Page trat eine Stelle als Sportjournalistin beim Rockport Pilot an. Ihre Kollegin erinnerte sich, dass sie mehr als einmal mit Blutergüssen im Gesicht zur Arbeit gekommen war. Zu ihren Eltern hielt Page auch weiterhin Kontakt. Diese gaben ihr wiederholt zu verstehen, dass sie sie immer noch liebten, doch ihre Verbindung mit Meek nicht akzeptieren könnten. Im Frühjahr 1984 entschieden sich Page und Meek nach Alaska zurückzukehren. Ihren Kollegen hinterließ Page einen Brief mit einem Zitat von D. H. Lawrence: Liebe Kollegen, zum Abschied gebe ich euch diese weisen Worte mit auf den Weg. Die Arbeit macht keinen Sinn, wenn sie einen nicht im Bann hält wie ein spannendes Spiel. Vermag sie das nicht, so macht sie keinen Spaß, und man sollte besser etwas anderes tun. »Alles, was wir in unserem Leben haben, ist das Leben selbst. Wenn du dein eigenes Leben nicht lebst, ist es nicht mehr wert als eine Handvoll Mist.« Doch in der Beziehung zwischen Page und Meek begann es 155

zu kriseln, und im September 1984 ging Page zurück nach Rockport, Texas. Nachdem sie einen Psychiater konsultiert hatte, entschied sie sich, zu ihrem Bruder nach Florida zu ziehen. In Gainsville fand sie eine Anstellung als Kellnerin im Gainsville Holiday Inn. Anfang Dezember 1984 tauchte Meek in Florida auf und überredete Page, ihn bei sich einziehen zu lassen. Jetzt wohnten beide im Apartment des Bruders, in dem Page ein Zimmer hatte. Chris Jennings reagierte empört und rasend vor Zorn. Nicht nur, dass sich Meek wieder in das Leben seiner Schwester eingeschlichen hatte, nein, er hatte sich sogar unter demselben Dach eingenistet. Während Chris versuchte, seiner Schwester einen Halt im Leben zu geben, machte Meek all seine Versuche zunichte. Page selbst schwankte hoffnungslos und verwirrt zwischen den beiden Männern hin und her. So wurde das Leben der drei in dem kleinen Apartment allmählich zum Alptraum. Ende Dezember, Anfang Januar ging Meek auf einige dubiose ›Geschäftsreisen‹. Später rekonstruierte die Polizei seine Reisen nach Louisiana, Texas und Jacksonville, Florida, wo er den blauen Fiat kaufte, der später im Feld vor der abgebrannten Hütte gefunden wurde. Zu Weihnachten fuhr Page nicht zu ihren Eltern nach Hause, und am 5. Januar 1985 zogen sie und Meek, nach einem Streit mit Chris Jennings, aus dem gemeinsamen Apartment aus. Die beiden nahmen sich ein Zimmer im Gator Court Hotel in Gainsville. Das letzte Mal, dass Chris Jennings seine Schwester lebend sah, war am 11. Januar, als sie ihren Teil der Kaution abholte. Laut Polizeibericht müssen sich die nächsten Tage wie folgt abgespielt haben: 12. Januar: Meek fährt in Richtung Norden; wahrscheinlich in der Absicht, die Eltern von Page Jennings zu ermorden. Er übernachtet im Motel in Brattleboro in North Carolina. Für die kommende Nacht meldet er sich im Bridgeport Motor Inn in 156

Connecticut an. 14. Januar: Meek wird in Hartford, Connecticut, gesehen, als er versucht, Schmuck zu verpfänden. Der Pfandleiher erinnert sich später daran, dass Meek zunächst erwähnte, der Schmuck sei von seiner Tochter, die bei einem Skiunfall ums Leben gekommen sei. Später jedoch behauptete er, sie sei bei einem Autounfall gestorben. Die Ereignisse streben ihrem tödlichen Ende entgegen. 16. Januar: Malcolm und Betty Jennings werden ermordet in ihrem brennenden Ferienhaus aufgefunden. Beide wurden in ihren Schlafzimmern mit Nylonseilen erhängt und dann erstochen. Chris Jennings wird umgehend von der Polizei benachrichtigt und macht sich sofort auf den Weg nach New Hampshire. Dieses Verhalten rettete ihm wahrscheinlich das Leben; denn später findet die Polizei in seinem Apartment einen weiteren Brief von Glyde Earl Meek. In diesem spricht er offen über die Morde in New Hampshire: Freitag, 18. Januar 1985 (…) Wir sind nun für immer und ewig zusammen. Mike. »Gerechtigkeit wird siegen«, hast du in deinem hinterhältigen Brief an Page geschrieben, in dem du ihr rätst zu fliegen oder den Bus nach Seattle oder Texas zu nehmen. Nur um ihr dort einzuflüstern, sie solle mal ein paar Wochen nach Hause kommen. Du Drecksack! »Daniels ist ein toter Mann, wenn er hier herkommt«, schreibst du. Tja, jetzt musst du mit dem Ganzen leben, Bucko: Mal, Betty und wir. Ihr Idioten, die ihr überall eure Nase reinstecken müsst. Page ist so verbittert, dass dies die einzige Möglichkeit für sie ist, wie wir für immer zusammenbleiben können – verbrennen. Ruf mal die Polizei an, Buk157

ko. Die haben ein paar Briefe und Informationen und wer weiß was sonst noch für dich. Chris Jennings hatte Page vor seiner Abreise nach New Hampshire an der Wohnungstür eine Nachricht hinterlassen, unter welcher Telefonnummer sie ihn erreichen könne. Auf seiner persönlichen Mitteilung Page! Ich brauche dich, wirklich! In Liebe, dein Chris war das ›dich‹ durchgestrichen und ein mehrmals unterstrichenes NEIN darübergeschmiert worden – wahrscheinlich auch von Glyde Earl Meek. Sowohl der lange Abschiedsbrief als auch die Zeilen an Chris Jennings sind auf den 18. Januar datiert. Einen Tag später wurden die Eltern Jennings beerdigt, und Chris Jennings geht noch immer davon aus, dass seine Schwester lebt. Erst am 28. Januar werden die verbrannten Skelette gefunden und zwei Tage später an mich zur Untersuchung weitergeleitet. Wie bereits erwähnt, waren die sterblichen Überreste nicht fachmännisch eingesammelt worden. Vor mir lag ein Haufen von Knochen, teilweise eingeäschert. Doch das Büro des Sheriffs besorgte mir Photographien des Tatorts, die fast einen Meter groß waren und alle Einzelheiten erkennen ließen. Wir verglichen die Knochenfragmente mit den Photos und konnten bald belegen, dass es sich um die Überreste zweier Erwachsener handelte; eines Mannes und einer Frau. Die Frau musste um die 20 bis 25 Jahre alt gewesen sein, der Mann etwa 45 bis 60. Die Innenseite der Schädeldecke des männlichen Skeletts war mit Klümpchen groben Schrots verschmolzen, und in den Mund war eindeutig der Lauf einer Schrotflinte eingeführt worden. Ehe der Mann verbrannt war, hatte er sich also mit der Schrotflinte in den Kopf geschossen. 158

Ehe es Röntgenaufnahmen gab, war die Identifizierung unbekannter Leichen nahezu unmöglich. Die Verstorbenen konnten in solchen Fällen lediglich durch ihre Kleidung und ihre persönlichen Sachen identifiziert werden. Die Kleidung von Page Jennings und Glyde Earl Meek hatten wir, wie gesagt, im Fiat gefunden. In der Hütte fanden wir dagegen keinerlei persönliche Gegenstände. Mein Arbeitsgebiet sind Knochen, der psychologische Hintergrund eines Falles interessiert mich weniger bzw. liegt außerhalb meiner Kompetenz. Doch viele Zusammenhänge im Fall Meek-Jennings, vor allem der Abschiedsbrief, waren mehr als seltsam: Warum hatte Page Jennings den Brief nicht mit unterschrieben? Ihre Freude im Angesicht des eigenen Todes klang ausgesprochen unglaubwürdig. Das stümperhafte Erdrosseln und das brutale Zerschmettern des Kopfes seiner Geliebten stand im krassen Gegensatz zu Meeks romantischen Liebesbeteuerungen. Für die Analyse des Briefes wurden ein forensischer Psychiater, eine Psychologin und ein Graphologe hinzugezogen, die zu der eindeutigen Einschätzung kamen, dass der Brief gefälscht sei. Die Ermittlungen in diesem Fall wurden im Laufe der Zeit immer verzwickter. Die Polizei hatte einen Wagen von Meek ausfindig gemacht, der jetzt einer seiner früheren Freundinnen gehörte. In diesem Auto fanden sie in einer Streichholzschachtel einen Zahn von Meek, der mit jenen Zähnen verglichen wurde, die man am Tatort gefunden hatte. Das Ergebnis war eindeutig: es handelte sich um Zähne Glyde Earl Meeks. Die Vermutung, bei den Toten handle es sich nicht um Page Jennings und Glyde Earl Meek, wurde lauter: Hatte sich Meek seine Zähne gezogen, um die Polizei auf eine falsche Fährte zu führen? Wenn die beiden nicht tot waren, wo hielten sie sich dann jetzt auf? Ich wendete mich an Meeks Kieferorthopäden und erbat von ihm die Röntgenaufnahmen. Im Unterkiefer hatte er eine auffällige Goldfüllung gehabt, die nun für mich zum 159

vordringlichsten Beweisstück wurde. Denn Gold hat einen sehr hohen Schmelzpunkt, und selbst wenn die Hütte lichterloh in Flammen gestanden hat, müsste die Goldfüllung noch vorhanden sein. Wir untersuchten den Boden der Hütte Millimeter für Millimeter – nichts. Lebte Meek also noch? Der Oberkiefer der weiblichen Leiche war nur schlecht erhalten und kalkweiß. Er war so klein, dass er einem Zwerg hätte gehören können. Normalerweise beträgt der durchschnittliche Gaumendurchmesser eines weiblichen Schädels ca. 50 Millimeter. Die Gaumenplatte, die vor mir lag, maß jedoch lediglich 43 Millimeter. Es konnte sich also nicht um den Kiefer der 21jährigen Page Jennings handeln. Ein weiteres Problem stellte eines der Schienbeine der weiblichen Leiche dar. Wie berichtet, hatte sich Page Jennings mit 17 Jahren einer Knieoperation unterzogen. Die Röntgenaufnahmen existierten zwar nicht mehr, die Chirurgin konnte sich jedoch daran erinnern, dass sie in das Schienbein zwei Einschnitte gemacht hatte, mittels derer die Sehne befestigt wurde. Dieses sogenannte ›HauserVerfahren‹ hinterlässt charakteristische Kennzeichen: In das Schienbein werden zwei kleine, parallel verlaufende Rechtecke geschnitten, die immer auf dem Knochen sichtbar bleiben. Ich war mir absolut sicher: Auf dem sorgfältig rekonstruierten Schienbein der weiblichen Leiche waren keinerlei Einschnitte zu sehen. Tagelang hatte ich daran gearbeitet, den Knochen aus 36 einzelnen Fragmenten zusammenzusetzen und anschließend zu röntgen. Die Narben müssten zu sehen sein, wenn es sich tatsächlich um die Leiche von Page Jennings handelte. Lebte Page Jennings noch? Wir beendeten unseren Bericht an den Staatsanwalt und ließen auch unsere Zweifel nicht außer Acht. Leider wurden die Informationen an die Presse weitergegeben, die sie in bekannter Manier ausschlachteten: Page Jennings und Glyde Earl Meek am Leben! Wer sind die Toten aus der Hütte? Der Mörder und seine Geliebte sind noch immer auf freiem Fuß! 160

Meek wurde auf die Fahndungsliste des FBI gesetzt, sein Photo ging an alle Polizeidienststellen in den USA. Währenddessen wucherten die Gerüchte und Vermutungen wie Unkraut. Mich persönlich verärgerte das Verhalten der Behörden, der Presse und der Öffentlichkeit derart, dass ich beschloss, den Fall so lange weiter zu untersuchen, bis er endgültig geklärt war. So widmeten sich meine Studenten und ich ein weiteres Jahr den Untersuchungen. Ich wage zu bezweifeln, dass seit dem Bestehen der forensischen Anthropologie zwei Skelette so genau untersucht wurden wie jene aus der abgebrannten Hütte bei High Springs. In den Jahren 1985 und 1986 widmeten wir ihnen jede freie Minute, die uns zur Verfügung stand. Wir untersuchten also erneut die Knochenfragmente. Da sich das Skelett einer Leiche, die verbrannt wird, auf charakteristische Art und Weise verhält, konnten wir die einzelnen Fragmente aufgrund ihrer Farbe und Oberflächenstruktur bestimmten Knochen zuordnen und diese rekonstruieren. Je nach Dicke des kompakten Knochenteils, scheint jeder Knochen anders zu reagieren. Manche Oberflächenstruktur mustert sich ›karoartig‹ und zerbricht in winzige Kuben. Das Schienbein, mit dünner Kompakta, birst zu einer Art ›Schachbrettmuster‹. Das Oberfächenverbrennungsmuster des Oberschenkelknochens ist ellipsoid. Aufgrund seiner dickeren Außenschicht, der Kompakta, platzt seine Oberfläche halbmondförmig auf. Diese unterschiedlichen Verbrennungsmuster ermöglichten uns, die Knochenfragmente wieder zusammenzusetzen. Dazu benutzten wir Leim, der für den Modellbau verwendet wird. Denn dieser Leim dehnt sich bei Feuchtigkeit nicht aus und kann mit Aceton wieder entfernt werden, wenn man einen Fehler gemacht haben sollte. Die einzelnen Fragmente waren häufig so zerbrechlich, dass sie nach dem Zusammenkleben geschient werden mussten. Das weibliche Schienbein zum Beispiel war ein sehr krummes Ding, das aussah wie ein Bohnensprössling. Was vor uns lag, war eigentlich nichts anderes als ein großes 161

Puzzle. Gewissenhaft prüften wir die Oberflächenstruktur der Knochenfragmente und achteten auf spezifische Höcker, die auf Muskelansätze hinweisen. Ein weiterer wichtiger Faktor war die Farbe, denn, wie ich bereits erklärt habe, verändern Knochen beim Verbrennungsvorgang ihre Farbe: cremefarben, Dunkelgelb, Schwarz, Dunkelgrau, Grau, Hellgrau und Weiß. Als Ergebnis unserer Arbeit dürfen Sie sich jedoch keine vollständigen Skelette vorstellen. Wir haben vielmehr aussagekräftige, nachweisbare Langknochen rekonstruiert, von denen bereits Röntgenaufnahmen existierten – sollte es sich bei den Toten wirklich um Page Jennings und Glyde Earl Meek handeln. Nach und nach konnten wir Gerücht um Gerücht, Vermutung um Vermutung widerlegen. Das erste Rätsel, das wir lösten, war das der kleinen Gaumenplatte. In Versuchen konnte ich nachweisen, dass menschliche Knochen unter der Einwirkung von Feuer um ca. 20-25 Prozent schrumpfen können. Die Zähne des Oberkieferfragments passten zu den kieferorthopädischen Röntgenaufnahmen von Page Jennings. Es war ihr Oberkiefer, der beim Feuer geschrumpft war. Der Schienbeinknochen beschäftigte mich sehr lange. Wenn es sich eindeutig um den Oberkiefer von Page Jennings handelte, was war dann mit dem operierten Schienbein? Also suchte ich die Chirurgin nochmals auf, um sie intensiv zu befragen und mir die OP-Berichte geben zu lassen. Kein Wunder, dass wir keine Einschnitte, wie sie beim Hauser-Verfahren üblich sind, gefunden haben … Die Chirurgin hatte schlichtweg vergessen, welches Verfahren sie damals gewählt hatte. Es konnte keine Einschnitte auf dem Schienbein von Page Jennings geben, weil nie welche gemacht worden waren! Nachdem diese beiden Rätsel gelöst waren, war der Rest mehr oder weniger ein Kinderspiel: Der rekonstruierte Oberarmknochen war identisch mit den Röntgenaufnahmen von Page Jennings, und auch das Wadenbeinfragment, das beim Brand aus der Hütte ge162

schleudert worden war, stimmte mit Röntgenaufnahmen von Page Jennings überein. Nun bestand keinerlei Zweifel mehr: Das weibliche Skelett war das von Page Jennings. Die Röntgenaufnahmen, die der Chiropraktiker seinerzeit von Meeks Brustkorb gemacht hatte, verglich ich mit denen, die wir von den Rippenfragmenten erstellt hatten. Auch hier war die Übereinstimmung eindeutig: Die männliche Rippe aus der ausgebrannten Hütte gehörte Glyde Earl Meek. Der Generalbundesanwalt von New Hampshire behauptete jedoch weiterhin, der Fall sei ungeklärt und Meek am Leben. Er gab zu bedenken, dass Meek ein bekannter Zuchthäusler sei, die gefundenen Zähne nicht mehr im Kiefer verankert waren und daher weiterhin die Möglichkeit bestand, dass Meek den Tatort präpariert hatte. Mit einer Rippe …? Ich beschloss daher nach der ominösen Goldfüllung zu suchen, die Meeks Unterkiefer geziert hatte. Ich bat drei Archäologen, mir zu helfen: Rebecca Saunders, Michael A. Russo und Charles R. Ewen. Wir siebten alles, was von der Hütte übrig war, mit einem feinmaschigen 1/3-cm-Gittersieb durch – vergeblich. Das Goldinlay war nicht zu finden. Darauf ordnete ich an, das gesamte gesiebte Material nochmals zu sieben. Dieses Mal mit einem 1/6-cm-Gittersieb. Eine junge Studentin von mir fand schließlich die Goldfüllung. Sie war tatsächlich nicht geschmolzen, ihre Originalform war noch deutlich erkennbar. Nach dem Vergleich mit den Röntgenaufnahmen stand fest. Es handelte sich um das Inlay Glyde Earl Meeks. Die Behörden in New Hampshire hielten aber immer noch an ihrer Hypothese fest, Meek habe sein Goldinlay ins Feuer geworfen, um die Polizei auf eine falsche Spur zu locken. Kurze Zeit später konnte jedoch Dr. Merz nachweisen, dass ein größeres Fragment des männlichen Kiefers mit Meeks kieferorthopädischen Röntgenaufnahmen übereinstimmte. Und jetzt musste auch den Behörden einleuchten, dass Meek nicht seine 163

Zähne, eine Rippe und den halben Kiefer ins Feuer geworfen haben konnte. Nach zweijähriger Arbeit hatten wir nachgewiesen, was von Anfang an am wahrscheinlichsten erschien: Page Jennings und Glyde Earl Meek waren tot. In der abgebrannten Hütte von High Springs waren ihre Gebeine gefunden worden. Eine umfangreiche und arbeitsaufwendige Untersuchung war endlich abgeschlossen und Meek von der Fahndungsliste des FBI gestrichen. Was wirklich vorgefallen ist zwischen dem 11. und 18. Januar 1985, werden wir nie erfahren. Ich gehe allerdings davon aus, dass Meek Page Jennings und ihre Eltern umgebracht hat. Chris Jennings hatte Glück, dass er nicht zu Hause war, als Meek ihn aufsuchte. Vielleicht wurde Page auch bereits Tage vor dem Mord an ihren Eltern umgebracht, wer weiß. Bei beiden Morden versuchte Meek die Spuren durch Brandstiftung zu verwischen – in Unkenntnis der modernen kriminaltechnischen Möglichkeiten. Schließlich, als das Feuer bereits loderte, erschoss er sich selbst. Warum, werden wir nie erfahren. Sein grausames Geheimnis hat Meek mit ins Grab genommen. Chris Jennings verließ Gainesville und zog wieder in den Norden. Bis heute schickt er mir jedes Jahr eine Weihnachtskarte.

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12 Verlorene Legionen Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, Du habest uns hier liegen gesehen, wie ihr Gebot es befahl. SIMONIDES, Grabinschrift für die 300 Spartaner, die an den Thermopylen fielen

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In vielerlei Hinsicht ist der Vietnamkrieg eines der schwärzesten Kapitel amerikanischer Geschichte. Dies zeigt sich auch im Verhalten der Öffentlichkeit zu den noch immer vermissten Soldaten. Obwohl ›nur‹ noch 2200 Soldaten aus dem Vietnamkrieg vermisst werden – im Gegensatz zu 78 750 aus dem Zweiten Weltkrieg –, schlagen die Emotionen diesbezüglich hohe Wellen. Diverse Kriegsfilme tun ihr übriges; so kursiert beispielsweise das Gerücht, in Hanoi gebe es ein Lagerhaus, in dem sich die sterblichen Überreste US-Militärangehöriger bis zur Decke stapeln. Der Begriff für die Vermissten lautete bis vor kurzem noch ›Missing In Action‹, abgekürzt MIA. Heute spricht man offiziell nur noch von ungelösten Fällen. Doch auch wenn den Vorfällen die sprachliche Schärfe genommen wurde, haben sich die Ereignisse von damals und das Schicksal ihrer Landsleute tief in die Herzen vieler US-Bürger gegraben. Zweimal im Jahr besuche ich das amerikanische USMilitärzentrum auf Hawaii, das für die Identifizierung der Leichen zuständig ist: das Central Identification Laboratory Hawaii, CILHI genannt. Das CILHI verfügt über die modernsten und bestausgestatteten forensischen Labors der Welt. Das Gebäude teilt es sich mit dem Leichenschauhaus des Militärs, das sich um aktuelle Fälle kümmert. Es wird aber auch hinzugezogen, wenn sich zum Beispiel ein Flugzeugabsturz ereignet hat und eine Vielzahl von Toten zu identifizieren ist. Die Arbeit des CILHI ist ausgesprochen schwierig und umfangreich. Sie müssen sich vorstellen, dass manche Skelette bzw. Knochenfragmente erst nach mehr als fünfundzwanzig Jahren aus Vietnam zurückkommen und identifiziert werden müssen. Die Särge, in denen sich oft nur einige wenige Knochen befinden, werden mit großen militärischen Ehren entge166

gengenommen: Mitglieder der Ehrengarde tragen die mit dem Sternenbanner versehenen Särge in die Laboratorien. Und auch dort werden die Särge während des Untersuchungszeitraumes jeden Abend wieder mit der Flagge bedeckt. Am Beginn der eigentlichen Arbeit steht die genaue Sichtung der Knochen. Es ist nicht immer gewährleistet, dass die Knochenfragmente in einem Sarg auch zu ein und derselben Person gehören. Zunächst werden alle Tierknochen ausgesondert, eine noch vergleichsweise leichte Übung. Dann ist der zuständige Anthropologe gefordert, zu prüfen, ob es sich um die sterblichen Überreste eines Amerikaners oder eines Asiaten handelt. Knochengröße und -form sind hier ausschlaggebend. Alle als asiatisch klassifizierten Knochen werden selbstverständlich an Vietnam zurückgegeben. Dann gilt es zu analysieren, welche Knochen zusammengehören, also von einem (bestimmten) Menschen stammen. Es würde an ein Wunder grenzen, könnte allein aufgrund der anthropologischen Untersuchungen bestimmt werden, um welchen Militärangehörigen es sich handelt. Neben einem forensischen Anthropologen ist jedem Fall daher auch ein forensischer Zahnarzt zugeteilt. Er hat es in gewisser Weise einfacher, denn ihm liegen von nahezu allen Militärangehörigen zahnärztliche Berichte vor. Diese sind, nach bestimmten Kennzeichen geordnet, im Computer gespeichert. Wir sprechen von Computer Assisted Post Mortem Identification, CAPMI (Postmortales computerunterstütztes Identifikationssystem). Über 2500 zahnärztliche Berichte sind im CAPMI gespeichert. Das heißt aber leider nicht, dass uns von allen 2200 vermissten Soldaten zahnärztliche Berichte vorliegen; vielmehr gibt es von einigen mehrere. Die Liste aller Vermissten, deren Berichte im CAPMI gespeichert sind und die Ähnlichkeiten mit bestimmten sterblichen Überresten haben, werden ausgedruckt und bearbeitet. Der Zahnarzt muss dann die alten Röntgenbilder mit den postmortalen Aufnahmen vergleichen, was eine äußerst diffizile Arbeit ist. Gleichzeitig wird 167

recherchiert, wo genau die sterblichen Überreste gefunden wurden, wo die Soldaten, die man in die engere Wahl genommen hat, als letztes stationiert waren und welcher Art ihr letzter Einsatz war. Am Ende einer Untersuchung geben alle beteiligten Wissenschaftler Berichte ab, die vom Laborleiter geprüft und unterzeichnet werden. Die vollständige Akte geht dann an das zuständige Büro in Washington, wo sie kopiert und, zur erneuten Prüfung, an mehrere unabhängige Gerichtsanthropologen geschickt wird. Wenn auch diese Gutachter dem Ergebnis der Untersuchung zustimmen, werden die Angehörigen verständigt. Ein Offizier besucht die Angehörigen und erklärt ihnen das Ergebnis des Berichtes. Sollte die Familie den Bericht aus irgendwelchen Gründen anzweifeln oder gar ablehnen, ist sie berechtigt, einen unabhängigen Gutachter ihrer Wahl zu Rate zu ziehen. Dies kommt relativ selten vor, und in jenen Fällen, in denen man mich um Hilfe bat, konnte ich dem Bericht der CILHI unvoreingenommen zustimmen. Nach der Einverständniserklärung der Familie kontrolliert ein weiteres Gremium die Unterlagen: das sogenannte Armed Forces Identification Review Board (AFIRB). Das ›Review Board‹ besteht aus Offizieren der verschiedenen Militärzweige, die in Südostasien gedient haben. Erst wenn auch sie der Identifizierungsempfehlung des CILHI zugestimmt haben, werden die sterblichen Überreste freigegeben und an den Friedhof überführt, den die Familie bestimmt hat. Trotz dieses langwierigen Prozesses gelingt es uns nicht immer, eine eindeutige Aussage zu machen. Und so werden wohl einige der sterblichen Überreste, die sich noch im CILHI befinden, niemals identifiziert werden. Ein umständliches Verfahren, werden Sie vielleicht denken. Doch ich selbst bin nicht ganz unschuldig daran, dass es dieses detaillierte Verfahren gibt, und will Ihnen erzählen, wie es dazu kam. Eigentlich ist es der Hartnäckigkeit einer Offizierswitwe zu verdanken, dass die Arbeit des CILHI überprüft und einer we168

sentlichen Verbesserung unterzogen wurde: Am 21. Dezember 1972 stürzte über Laos, in der Nähe des Ortes Pakse, ein AC 130 A-Kanonenflugzeug ab. Die mit 16 Mann besetzte AC 130 A hatte den Auftrag gehabt, entlang des Ho Chi Min-Pfades nordvietnamesische Fahrzeuge anzugreifen. Die Flugabwehr traf das Flugzeug von unten, und binnen weniger Minuten füllte es sich, wie später ein Überlebender berichtete, mit hochentzündlichem Kerosin. Der Pilot versuchte seine Maschine in Richtung Thailand und damit in Sicherheit zu steuern, erkannte aber bald die Aussichtslosigkeit der Situation. Er selbst blieb im Cockpit, forderte seine Leute jedoch auf, sich unverzüglich zur hinteren, offenen Rampe der Maschine zu begeben und abzuspringen. Kaum hatte er seinen Befehl ausgesprochen, ging ein Ruck durch das Flugzeug, das außer Kontrolle geriet und binnen weniger Sekunden Feuer fing. Zwei Männer wurden herausgeschleudert und konnten sich mit ihren Fallschirmen retten. Sie sollten die einzigen Überlebenden dieses Unglücks sein. Die anderen vierzehn Besatzungsmitglieder, einschließlich des Piloten Lieutenant Colonel Thomas Hart, starben. Dreizehn Jahre später, im Sommer 1985, erhielt ich einen Anruf von Lieutenant Colonel Harts Witwe. Sie erzählte mir, sie sei in der League of Families, einer Hilfsorganisation, die sich um Fälle vermisster Angehöriger kümmert, aktiv. Und sie sei nicht bereit, die Aussagen des CILHI bezüglich der sterblichen Überreste ihres Mannes zu akzeptieren. Frau Hart, eine resolute und mutige Frau, war sogar selbst nach Laos geflogen und hatte an der Absturzstelle nach möglichen Hinweisen gesucht. Die Knochenstücke, die sie fand, schickte sie später an die US-Behörden. Nun bat sie mich, ein weiteres Gutachten zu erstellen, denn den Untersuchungen des CILHI traue sie nicht. Zunächst sagte ich zu, musste später aus beruflichen Gründen jedoch kurzfristig absagen. So kam es, dass mein Kollege Michael Charney den Fall übernahm. Das 169

CILHI hatte sterbliche Überreste eines Soldaten als die des verstorbenen Lieutenant Colonels identifiziert, doch Charney machte kein Geheimnis daraus, dass er den offiziellen Bericht anzweifelte. In Fernsehinterviews sprach er von VoodooZauber, der nichts mit Wissenschaft zu tun habe. Dadurch erhielt der ›Pakse-Fall‹ eine solch große Aufmerksamkeit, dass ich im Dezember 1985 erneut einen Anruf erhielt. Dr. Ellis Kerley, forensischer Anthropologe und Professor an der University of Maryland, bat mich, an einer Kommission teilzunehmen, die im Auftrag der US-Armee das CILHI besuchen und seine Arbeit beurteilen solle. Außer Kerley und mir gehörte auch der forensische Zahnarzt Lowell Levine aus New York dem Gremium an. Wir reisten also nach Hawaii. Wenn möglich, sollte man Arbeit und Privatleben auseinander halten, aber manchmal spielt uns das Schicksal einen Streich, und wir müssen persönlich schwierige Entscheidungen treffen. So erging es Kerley. Laborleiter des CILHI war ein Freund von ihm, Tadao Furue. Er war Kerleys Trauzeuge gewesen, und jetzt sollte Kerley seine Arbeit beurteilen. Furue war ein bemerkenswerter Mann mit einer außergewöhnlichen Vergangenheit. In den letzten Tagen des Zweiten Weltkriegs hatte man ihn als Kamikaze-Flieger ausgewählt, und nur das schnelle, unvorhersehbare Ende des Krieges durch den Abwurf der Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki rettete ihm, paradoxerweise, das Leben. Später studierte er in Tokio und wurde dort bereits als Student von einem US-Militärlabor eingestellt, das mit der Identifizierung amerikanischer Studenten beauftragt war. Während dieser Zeit arbeitete auch Kerley in Tokio; so lernten sich die beiden kennen. Als Kerley in Japan heiratete, war Furue sein Trauzeuge. Trotz dieser engen persönlichen Bindung führte Kerley seine Untersuchungen mit wissenschaftlicher Unvoreingenommenheit durch. Das Labor, das wir damals zu Gesicht bekamen, war ein zweistöckiger grauer Klotz, einem Lagerhaus nicht 170

unähnlich. Ein Zahnröntgenapparat war das einzige Röntgengerät, das dem Labor zur Verfügung stand. Sämtliche anthropologischen Instrumente waren Furues Privateigentum, ebenso wie die gesamte Bibliothek. Die Photolaborausrüstung war so bescheiden, dass Furue gezwungen war, seine eigene Kamera zu benutzen. Die Filme und deren Entwicklung zahlte er aus eigener Tasche. Strenggenommen waren die Aufnahmen also nicht Eigentum der USA, sondern Furues. Während der knapp drei Tage, in denen wir alle Unterlagen sichteten, Berichte lasen etc., beschlich uns allmählich ein sehr ungutes Gefühl. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass einige von Furue durchgeführte Identifizierungen einer genaueren Untersuchung nicht standhielten. Noch Mitte des Jahres 1985 hatte das CILHI über die Toten von Pakse behauptet, dass jeder Einzelne der vierzehn vermissten Männer anhand von Knochen und Zahnfragmenten, die an der Absturzstelle gefunden worden waren, identifiziert werden konnte. Die gesamte Crew könne als identifiziert gelten. Stolz erzählte uns Furue, dass sie insgesamt 50 000 Knochen- und Zahnfragmente geborgen und analysiert hätten. Als wir uns seine Photos anschauten, bemerkten wir, dass viele der Identifizierungen auf erschreckend wenig Beweismaterial beruhten; zum Beispiel auf der Untersuchung winzigster Knochensplitter. Und selbst wenn vollständigere Skelettreste vorhanden gewesen wären, wäre unter den gegebenen Umständen eine eindeutige Identifizierung nur bedingt möglich. In unserem Abschlussbericht vermerkten wir unter anderem, dass im ›Pakse-Fall‹ nur fünf Identifizierungen als sicher gelten könnten. Wir mussten auch das Verteidigungsministerium über die Zustände in Hawaii informieren: das CILHI bedurfte einer Renovierung und musste ausstattungsmäßig dringend auf den neuesten Stand der Wissenschaft gebracht werden. Unsere Entdeckungen wirbelten eine Menge Staub auf, sodass sogar die 20-Uhr-Nachrichten von ABC darüber berichteten. Die überzogenen Reaktionen des Verteidigungs171

ministeriums, mit denen wir zu kämpfen hatten, möchte ich hier nicht erwähnen. General Crosby vom Verteidigungsministerium stand der Angelegenheit glücklicherweise gelassener gegenüber. So konnten wir in den folgenden Monaten mit Genugtuung verfolgen, dass nahezu alle unsere Reformvorschläge in die Tat umgesetzt wurden. Ende 1986 lud uns der General nochmals zu einem Abschlussbesuch ins CILHI ein. Dort vereinbarten wir das oben beschriebene Gutachterverfahren. Seither arbeiten wir und einige andere unabhängige Gutachter eng mit dem CILHI zusammen. Mit Tadao Furue wurde großzügig verfahren. Er wurde zum Senior-Anthropologen ernannt und übernahm primär beratende Funktion. Dennoch ist zu verstehen, dass ihn die Überprüfung des Labors mit all ihren Folgen sehr mitgenommen hat. Wie sieht die Zukunft des CILHI-Labors aus? Die Knochenfragmente und Zahnfunde werden immer spärlicher, wodurch die Identifizierung schwierig, wenn nicht unmöglich wird. Eines nicht allzu fernen Tages wird sich das CILHI daher sicherlich auf DNA-Analysen verlassen, die weniger zeitaufwendig und genauer sind als die physikalischen Untersuchungen. Momentan verfügt das Labor noch nicht über die notwendigen Kapazitäten. Zumindest nicht in dem Umfang, der notwendig wäre, um die Vietnamakten endlich zu schließen. Ich würde es begrüßen, wenn die Regierung dem Labor die notwendigen finanziellen Mittel zur Verfügung stellen würde, um ein eigenes DNA-Labor einzurichten. Sicherlich kein billiges Unterfangen; im Vergleich zu den Kosten des Vietnamkrieges jedoch verschwindend gering. Der sogenannte ›Pakse-Fall‹ fand für die meisten Angehörigen der Opfer kein glückliches Ende. Frau Hart bat mich um die erneute Untersuchung der sterblichen Überreste ihres Mannes. Ich akzeptierte. Eine Militäreskorte brachte den Sarg in mein Labor nach Gainesville. Das Einzige, was der große Aluminiumsarg enthielt, waren sieben winzige Knochenstück172

chen. Sorgfältig beschrieb ich jedes einzelne Fragment und erläuterte, welche Schlussfolgerungen bezüglich Alter, Größe, Gewicht etc. daraus geschlossen werden könnten. Die Armee beauftragte Ellis Kerley, den Fall Hart, inklusive meiner Ergebnisse, erneut zu prüfen. Schließlich sprach er die Empfehlung aus, die Identifizierung von Lieutenant Colonel Thomas Hart zu widerrufen. Frau Hart verklagte die US-Regierung auf Schadensersatz und erhielt $ 500 000 zugesprochen. Die Anwälte der Regierung gingen allerdings in Berufung und gewannen schließlich den Prozess. Trotz ihrer Beharrlichkeit konnte die Witwe, deren angebrachte Zweifel zu einer umfassenden Reform des CILHI geführt hatten, nicht beweisen, dass die voreilige Identifizierung ihres Mannes durch Furues Labor absichtlich falsch gestellt worden war. Später wurden noch weitere Identifizierungen von Opfern aus Pakse widerrufen. Eine Familie, deren Sohn eindeutig identifiziert worden war, lehnte die Übernahme seiner sterblichen Überreste einfach ab. Sie wollte oder konnte die Identifizierung nicht akzeptieren und überließ die Knochen Dr. Charney. Dieses unangenehme Nachspiel verdeutlicht die menschliche Tragik, die hinter diesen Identifizierungen steht. Manche Familien kämpfen um die Wahrheitsfindung, andere sind überfordert und lehnen jede Zusammenarbeit ab. Seit dem ›Pakse-Fall‹ habe ich es mir daher zur Regel gemacht, keinen Kontakt zu den betroffenen Familien mehr aufzunehmen. Zum einen würden ihre Empfindungen meine Objektivität beeinträchtigen, zum anderen denke ich, dass sie nicht zu viel über die Umstände des Todes ihres Angehörigen wissen sollten. Denn der Tod im Krieg ist sicherlich kein Heldentod, den man glorifizieren sollte. Oft dauert das Sterben lang und ist sehr schmerzvoll. Die Opfer des Absturzes von Pakse sind auf der VietnamGedächtnis-Mauer in Washington zu lesen. Ein Mahnmal, dessen Anblick mich immer wieder tief bewegt.

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13 Der verwechselte Pizarro In der Hitze des Gefechts war es Pizarro nicht mehr möglich, seinen Brustharnisch richtig zu befestigen, und er warf ihn schließlich von sich; einen Arm verbarg er in seinem Umhang, mit der anderen ergriff er sein Schwert und sprang seinem Bruder zu Hilfe. Aber es war zu spät, Alcantara torkelte, zu viel Blut hatte er schon verloren, dann brach er zusammen. Pizarro warf sich den Eindringlingen entgegen und teilte wie ein aufgebrachter Löwe schnelle und kraftvolle Hiebe nach allen Seiten aus, als ob das Alter seinen Gliedern nichts anhaben könnte. »Verräter«, schrie er, »seid ihr gekommen, um mich unter meinem eigenen Dach zu töten?« WILLIAM H. PRESCOTT (1796-1859), Entdeckung und Eroberung von Peru

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Francisco Pizarro (1478-1541) war der außereheliche Sohn eines spanischen Hauptmannes. Sein Leben war gekennzeichnet von Kriegen und Kämpfen; 1502 ging er nach Westindien und eroberte von Panama aus 1531-33 mit einer kleinen Streitmacht das Inkareich. Den Inkaherrscher Atahualpa ließ er hinrichten. Im Jahre 1534 wurde er zum Marqués de los Characas y de los Atabillos erhoben und gründete ein Jahr später die neue Landeshauptstadt Lima. Auch im Bürgerkrieg gegen Almagro trug er 1538 den Sieg davon; wurde jedoch einige Jahre danach von dessen Anhängern brutal ermordet. Dank der gewissenhaften Chronisten wissen wir nahezu genauso viel über die Ermordung Pizarros wie über die politischen Attentate unserer Zeit. Pizarro wurde 1541 von Verschwörern auf brutale Art und Weise umgebracht. Nachdem nahezu alle seine Gefolgsleute im Kampf gestorben waren, stand er den Angreifern allein gegenüber. Diese hieben mit Schwertern und Degen so lange auf ihn ein, bis er schließlich starb. Noch in der Nacht beerdigte Dona Inés Munoz, die Witwe seines treuesten Mitstreiters, der ebenfalls dem Komplott zum Opfer gefallen war, die Leichen Pizarros und ihres Mannes in der Kathedrale von Lima. Doch Pizarro sollte auch im Tod keine Ruhe finden. Vier Jahre nach seinem Tod wurden die sterblichen Überreste exhumiert und gemeinsam mit den beerdigten Schwertern des Eroberers unter den Hauptaltar der Kathedrale umgebettet. Im Jahr 1551 wurde eine weitere Umbettung vorgenommen. Pizarros Tochter und eine weitere Verwandte ließen eine Kapelle bauen, in der der Tote ruhen sollte. Aus den Kirchenaufzeichnungen geht hervor, dass die Knochen in einen Holzsarg gelegt, mit schwarzem Samt bedeckt und mit dem Kreuz von Santiago geschmückt wurden. In der Zwischenzeit wurde die Kathedrale renoviert, und am 4. Juli 1606 175

brachte man die sterblichen Überreste Pizarros wieder in die Kirche zurück, die jedoch 1609 durch ein schweres Erdbeben stark beschädigt wurde. Die Knochen Pizarros wurden anscheinend gerettet und müssen irgendwann zwischen 1623 und 1629 wieder in die neuerbaute Kathedrale gebracht worden sein. 1746 erschütterte wiederum ein Erdbeben die Gegend, und die Kathedrale wurde völlig zerstört. Erst 32 Jahre später war die Kirche neu aufgebaut. Zum 350. Todestag von Pizarro, 1891, wurde erstmals ein Komitee von Wissenschaftlern berufen, das die gut erhaltene, mumifizierte Leiche aus der Krypta der Kathedrale untersuchen sollte. Es handelt sich übrigens um eine sogenannte ›natürliche Mumie‹; d. h. aufgrund des außergewöhnlich trockenen Klimas, das in der Höhe Limas herrscht, wurde die Leiche auch ohne künstliche Einbalsamierung konserviert. Die Wissenschaftler verließen sich damals bei ihrer Identifizierung auf die historischen Aufzeichnungen der Kirche und gingen davon aus, dass der Leichnam Pizarros bei allen Umbettungen sorgfältig aufbewahrt worden war. In den Kirchendokumenten wird auch ein mit braunem Samt bedeckter Holzsarg erwähnt, der eine Bleikiste mit folgender Inschrift enthalten soll: AQVI ESTA LA CABECA DEL SENOR MARQVES DON FRANCISCO PIZARO QVE DESCVBRIO Y GANO LOS REYNOS DEL PIRV Y PVSO EN LA REAL CORONA DE CASTILLA (Hier liegt der Schädel von Marquis Don Francisco Pizarro, der im Namen der Krone Kastiliens Peru entdeckte und eroberte). Diese Inschrift sollte Jahrhunderte nach ihrer Eingravierung zu einem entscheidenden Beweis werden. Das Komitee verwendete große Sorgfalt darauf, die Mumie von innen und außen, Zentimeter für Zentimeter zu beschreiben. Die Forscher äußerten sich erstaunt darüber, dass dem Toten die Hände fehlten und der Schädel größtenteils kahl und unbedeckt war, während der übrige Körper von ledriger Haut 176

überzogen sei. Die Genitalien fehlten, und das Gewebe wies an manchen Stellen Löcher auf. Die Schädelform des Toten identifizierten sie als die eines Kriminellen, denn sie sei grobschlächtig, und der Mann habe ein vorstehendes Kinn. (Es versteht sich von selbst, dass die moderne Anthropologie von der Physiognomie eines Toten keine Rückschlüsse auf dessen Charakter zieht, aber damals waren derlei Einschätzungen leider weit verbreitet.) Die Wissenschaftler schlossen, dass die Mörder Pizarro die Genitalien und die Hände abgehackt hätten, nachdem sie ihn ermordet hatten. Die Hautzersetzungen an einigen Stellen führten sie auf die Dolchstöße zurück, durch die Pizarro umgebracht worden war. Schließlich befanden sie ohne den geringsten Zweifel, dass es sich bei der Mumie um Francisco Pizarro handeln müsse. Nachdem die Mumie gesegnet worden war, beerdigte man sie wieder. Die Reste der Organe tat man in eine Flasche, die in den Sarkophag gelegt wurde, ebenso wie die Kleidungsstücke des Toten. Für die sterblichen Überreste Pizarros wurde ein besonders aufwendig verzierter Sarkophag aus Glas, Marmor und Bronze hergestellt, an dem in den kommenden Jahren Hunderttausende vorbeidefilierten. Ich konnte sogar beobachten, wie Menschen vor der Mumie niederknieten und beteten. Der amerikanische Anthropologe W. J. McGee, der an dieser ersten Identifizierung teilnahm, veröffentlichte drei Jahre später einen umfangreichen Bericht über die Untersuchungen. Dieser wäre sicherlich nie angezweifelt worden, wären nicht 1977 vier Arbeitern, die die Krypta reinigten, einige Backsteine aus einem großen Pilaster gefallen. In der sichtbar gewordenen Nische entdeckten sie eine Reihe von Holzbrettern. Zunächst verschwiegen die vier den Kirchenoffiziellen den Fund; und als sie am nächsten Tag wiederkamen, entfernten sie weitere Backsteine und legten eine weitere Reihe frei. Zwischen den Brettern fanden sie zwei Holzki177

sten, die menschliche Knochen und einen Bleisarg enthielten. Auf diesem Sarg war eine Inschrift zu lesen: ›AQVI ESTA LA CABECA DEL SONOR MARQVES DON FRANCISCO PIZARO …‹, der weitere Text war identisch mit jenem, den die Offiziellen der Kirche 1661 aufgeschrieben hatten. Nachdem der Fund bekanntgeworden war, wandten sich die Behörden an Dr. Hugo Ludena, einen anerkannten peruanischen Historiker. Ludena wiederum zog weitere Wissenschaftler hinzu: Dr. Pedro Weiss, einen international bekannten Arzt und Anthropologen, sowie das Ehepaar Soto, die beide Radiologen sind. Ludena, Weiss und die Sotos kamen nach ihren Untersuchungen zu dem Schluss, dass der Schädel, den man im Bleisarg gefunden hatte, der von Pizarro sein musste. Ihre Ergebnisse wurden allerdings von anderen Wissenschaftlern heftig bestritten, sodass sich Ludena an einen meiner Kollegen, Dr. Robert Benfer, wandte. Bob sagte seine Hilfe zu und bat mich, ihn zu begleiten. Anfang 1984 flogen wir zweimal nach Lima, um die Knochen zu untersuchen, und am 4. Juli nahmen wir an der Öffnung des erwähnten Sarkophags teil. Die Mumie untersuchten wir anschließend in der Bibliothek der Kathedrale. Von den beiden Holzkisten, die man gefunden hatte, enthielt die erste (Sarg A) die Skelettreste verschiedener Menschen. Wir identifizierten die Überreste zweier Kinder, einer älteren Frau, den Schädel eines Mannes sowie das schädellose Skelett eines zweiten Mannes. Darüber hinaus befanden sich auch die rostigen Reste eines Schwertes in diesem Sarg, der mit braunem Samt ausgelegt war, auf dem noch die Umrisse eines Kreuzes zu sehen waren. Das Kreuz selbst war verschwunden, aber die Nägel zu seiner Befestigung waren noch vorhanden. Da sie das recht seltene Metall Vanadium enthielten, schlossen wir, dass sie wohl aus geschmolzenem Schwertmetall hergestellt worden waren. Der zweite Holzsarg (Sarg B) war hellgrün gestrichen, und sein Inneres war mit einer Art rotem Gips 178

bedeckt. Wir fanden ebenfalls menschliche Knochen und den Bleisarg mit der Inschrift, in dem sich ein männlicher Schädel befand. Im Verlauf unserer Untersuchungen stellten wir fest, dass dieser Schädel zu den schädellosen Überresten des älteren Mannes passte, die wir in Sarg A gefunden hatten. Die Schädelbasisknochen, die in den Halsbereich übergehen, waren kongruent mit den oberen Wirbeln des Skeletts in Sarg A. Der Mann hatte bereits zu Lebzeiten zahlreiche Zähne verloren, einschließlich der meisten oberen Backenzähne. Zum Zeitpunkt seines Todes musste er ca. sechzig Jahre alt gewesen sein und 1,65 bis 1,75 Meter groß; dies konnten wir mithilfe der Länge seiner Knochen berechnen. Da Pizarro ein außereheliches Kind war, gibt es keine Angaben über seine Geburt. Die Historiker schätzen jedoch, dass er bei seinem Tod zwischen dreiundsechzig und fünfundsechzig Jahre gewesen ist. Als Bob und ich den Schädel und die Knochen genauer untersuchten, entdeckten wir deutliche Spuren von Verletzungen. Allein im Halsbereich fanden wir Hinweise auf mindestens vier Schwerthiebe. Eine Verletzung deutete darauf hin, dass eine Waffe mit zweischneidiger Klinge von rechts in den Hals eingetreten war und den ersten Halswirbel verletzt hatte. Das Ziel dieses Hiebes war eindeutig: Der Angreifer hatte die rechte vertebrale Arterie durchtrennen wollen. Ein absolut tödlicher Schlag. Auch der zweite Schwerthieb kam von rechts. Er schlug ganze Wirbelteile weg und muss mit enormer Kraft ausgeführt worden sein. Der dritte Hieb in den Hals spaltete fast das Rückenmark. Der vierte ging durch die rechte intervertebrale Öffnung weiterer Halswirbel und traf, genau wie der erste, die rechte Wirbelsäulenarterie. Bei der weiteren Untersuchung der Wirbelsäule stellten wir noch weitere Verletzungen fest. Der sechste Brustwirbel wies deutliche Spuren einer Stichwunde auf, die mit einer Klinge in einem Winkpl von 15° nach unten ausgeführt worden war. Ein 179

zweiter Schlag hatte den Unterleib durchbohrt und den zwölften Brustwirbel verletzt. Die neunte, rechte Rippe war ebenfalls verletzt worden, aber da die äußere Schicht sehr porös war, konnten wir nicht mehr feststellen, ob diese Verletzung auch von einer Stichwunde herrührte. Der allgemeine Zustand des Rückgrates mit Pockennarben und Brüchen deutete darauf hin, dass es sich um einen Mann gehandelt haben musste, der ein langes und gewalttätiges Leben geführt hatte. Arme und Hände wiesen sogenannte Defensivverletzungen auf; das Opfer hatte also versucht, sich zu wehren. Durch den rechten Oberarm ging ein glatter, schräger Schnitt. Wahrscheinlich hatte der Gegner ein schweres Schwert verwendet, sicherlich keinen Degen, um den Mann kampfunfähig zu schlagen. Am linken ersten Mittelhandknochen waren unterhalb des Daumens zwei tiefe Verletzungen erkennbar; der rechte Mittelhandknochen fehlte völlig und lag auch nicht im Sarg. Vielleicht wurde er abgeschlagen. Die Spuren eines verheilten Bruches zeigten, dass sich der Mann in seiner Jugend einmal den Arm gebrochen hatte. Auf einigen Fersenknochen fanden wir grünliche Flecken: Pizarro hatte sich, der Historie zufolge, mit einem sogenannten ›Maurischen Sporn‹ beerdigen lassen. Es konnte sich also möglicherweise um Grünspanflecken handeln, die durch das Kupfer, das der Sporn enthielt, entstanden waren. Anhand der Ausprägung der Muskelansatzstellen konnten wir feststellen, dass der Mann Rechtshänder gewesen war. Viele Gelenke zeigten sogenannte Ausziehungen, die auf Arthritis hinwiesen. Wie wir wissen, verursachte Pizarro das Reiten so starke Schmerzen, dass er es vorzog zu laufen. Die Knochenmaße und -ausprägungen verrieten uns, dass es sich um einen kräftigen, robusten Mann gehandelt haben musste. Der Unterkiefer war vom Schädel abgefallen, wie es normalerweise nach dem Tod der Fall ist. Am unteren Rand, unterhalb des Kinns, befanden sich elf feine Kerben, die in ver180

schiedene Richtungen wiesen und wahrscheinlich durch eine scharfe, zweischneidige Waffe hervorgerufen worden sind. Eine dieser Kerben stimmte genau mit einer der tieferen Stichwunden am Hals überein. Ein weiterer Beweis dafür, dass der Schädel wirklich zu jenen Knochen gehörte, die wir in Sarg A gefunden hatten. Die vielsagenden Kerben bedeuteten, dass entweder wiederholt auf den Hals des Mannes eingestochen worden war oder, was wahrscheinlicher ist, dass der Mörder mit seinem Schwert auf ihn einstach und die Klinge im Hals vor und zurück bewegte, um höher in den Hals- und Kopfbereich zu gelangen. Auch der Schädel selbst wies Verletzungen auf. Durch den rechten Jochbogen des Schädels, einer Art Knochenbrücke, die von den Wangenknochen nach hinten führt, ging ein glatter Bruch bzw. Schnitt. Die Ursache hierfür könnte ebenfalls ein Schwerthieb gewesen sein. Ein weiterer Schlag muss die linke Augenhöhle getroffen haben und hinterließ seine Spuren, als er die Augenhöhlenwand durchbrach. Die Klinge eines Degens oder Dolches war durch den Hals hoch zur rechten Seite der Schädelbasis gegangen und gelangte ins Gehirn. Der Angreifer muss sie dann gedreht und nochmals zugestochen haben. Doch trotz all dieser gefährlichen Stichwunden blieb der Hirnkasten erstaunlich unversehrt. Der hohe Nasenrücken wies deutliche Spuren einer alten, verheilten Fraktur auf; der Mann hatte sich also einmal die Nase gebrochen. Der Mann, und bei Bob und mir verstärkte sich schon während der Untersuchung die Vermutung, dass es sich tatsächlich um Francisco Pizarro handeln musste, war grauenhaft und äußerst schmerzvoll gestorben. In ihrem Rachedurst stachen die Attentäter immer wieder auf ihn ein und konzentrierten sich dabei auf seinen Kopf und den Hals. Die Knochen wiesen etwa vierzehn Einkerbungen auf, die von scharfen Klingen verursacht worden waren, sowie eine Handfraktur, die möglicherweise durch einen stumpfen Gegenstand herbeigeführt wurde. 181

Interessanterweise fanden sich die meisten Verletzungen auf der rechten Körperhälfte – der Angreifer war also Rechtshänder. Die außergewöhnlich vielen Verletzungen am Hals stimmten erstaunlich genau mit den Berichten über Pizarros Ermordung überein. Ihr Aussehen legte die Vermutung nahe, dass sie Pizarro zugefügt worden waren, als er bereits am Boden lag. Denn die Defensivverletzungen an Händen und Armen zeigten, dass das Opfer vergeblich darum gekämpft hatte, die auf ihn niederprasselnden Hiebe abzuwehren. Das letzte, was Pizarro gesehen hat, muss grauenvoll gewesen sein: blitzende Stahlspitzen, die auf ihn niedersausen und Kopf, Kehle und linkes Auge durchstechen. Der Tod kann nur noch eine Erlösung für ihn gewesen sein. Ich sollte noch darauf hinweisen, dass Stichwunden nicht unbedingt Spuren auf den Knochen hinterlassen müssen. In einem meiner aktuellen Fälle weist die Haut des Ermordeten vierundzwanzig verschiedene Stichwunden auf, wovon nur acht auf dem Skelett erkennbar sind. Es ist von daher wahrscheinlich, dass auch auf Pizarro häufiger eingestochen wurde, als seine Knochen erzählen. Die anderen Knochen aus Sarg A konnten nicht eindeutig identifiziert werden. Die beiden Kinderskelette könnten Pizarros Söhne Juan und Gonzalo sein, von denen behauptet wird, sie seien im Alter von zwei bzw. vier Jahren gestorben. Die Zahnüberreste des älteren Kindes lassen auf ein 8- bis 11jähriges Kind schließen. Die sterblichen Überreste des jüngeren Skeletts sprechen für ein etwa 2-jähriges Kind. Auch über die weiblichen Skelette lassen sich nur Vermutungen anstellen. Vielleicht gehören sie Dona Inés Munos, der Frau Alcantaras, der im Kampf für Pizarro fiel; und vielleicht handelt es sich bei dem zweiten männlichen Skelett um Alcantara selbst. Wir wissen es nicht. Die Wunden und auch die Inschrift auf dem Bleisarg belegen jedoch eindeutig, dass es sich um die sterblichen Überreste 182

Francisco Pizarros handelt. Doch wer war dann der Tote im Sarkophag? Bob und ich wurden nach dessen Öffnung feierlich in die Bibliothek der Kathedrale geführt. Dort lag zwischen den wunderschön verkleideten Wänden, prächtigen ledergebundenen Folianten und einer Vielzahl von goldenen und silbernen Kruzifixen die ledrige Mumie eines Unbekannten. Bei Berührung rutschte die Haut weg, und es war nur noch ein Augapfel vorhanden. 1891 war der Kopf vom Körper getrennt und wieder festgedrahtet worden. Wir photographierten und vermaßen die Mumie und konnten, auch wenn die Genitalien fehlten, feststellen, dass es sich um einen Mann handeln musste. Er war ca. 1,65 Meter groß gewesen und hatte eine, wie wir es nennen, ›grazile‹ Skelettmorphologie. Er war zu Lebzeiten bestimmt kein großer Kämpfer gewesen; seiner Körperstruktur nach eher ein Schwächling. Jedes übrig gebliebene Hautstück untersuchten wir minutiös auf Anzeichen von Verletzungen. Es gab keine. Die blanken Knochen betrachteten wir unter verschiedenen Vergrößerungsgeräten, konnten aber keinerlei Hinweise auf unverheilte Brüche, Splitter oder Kratzer finden. Das Skelett war einwandfrei; der Unbekannte hatte anscheinend ein ruhiges, gewaltfreies Leben geführt. Wahrscheinlich war er ein Kirchenmann oder Gelehrter gewesen. Kein Vergleich also zu dem Leben eines Francisco Pizarro. Es musste sich um eine Verwechslung handeln. Vor diesem Hintergrund erscheint die eingangs erwähnte Beurteilung der Wissenschaftler, die die Mumie 1891 untersuchten, mehr als lächerlich. Sie hatten dem Toten ein kriminelles Aussehen attestiert! Nur so viel zu der ›Möglichkeit‹, Kriminelle an ihrer Körperstruktur erkennen zu können. Pizarros Knochen wurden in den gläsernen Sarkophag gelegt, und wenn Sie einmal nach Lima kommen, können Sie sie in der Krypta besichtigen. 183

14 Arsen oder Buttermilch Duncan ist in seinem Grab; nach des Lebens Fieberkrämpfen schläft er gut, Verrat hat sein Schlimmstes getan: weder Stahl noch Gift, Feindschaft im Innern, auswärtige Truppenaushebungen, nichts kann ihn mehr berühren! WILLIAM SHAKESPEARE (1564-1616), Macbeth, Dritter Akt, 2. Szene

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Die Sommer in Washington D.C. können schrecklich heiß sein, und der 4. Juli 1850 muss wohl höllisch gewesen sein. Präsident Zachary Taylor, Held der Schlacht von Buena Vista im mexikanischen Krieg, war gerade von einer Zeremonie zurückgekehrt. In der prallen Sonne war der Grundstein für das Washington Monument gelegt worden. Taylor war müde, hungrig und durstig und schlang ein üppiges Mahl aus rohem Gemüse, frischen Kirschen und eisgekühlter Buttermilch herunter. Wenig später musste er bemerken, dass ihm seine Mahlzeit scheinbar gar nicht bekommen war, denn es quälte ihn ein schlimmer Durchfall. Fünf Tage später war der Präsident tot. Er war Sechsundsechzig Jahre alt geworden und nur sechzehn Monate Präsident gewesen. Taylors Tod markierte einen wichtigen Meilenstein in der amerikanischen Geschichte, denn die Auseinandersetzungen um die Sklaverei eskalierten, und vielleicht hätte er die Südstaatler zur Vernunft bringen können. Doch das ist reine Spekulation. Der plötzlich Tod Taylors hat immer wieder Historiker beschäftigt: Mit Sechsundsechzig sei der Präsident zwar alt, aber nicht altersschwach gewesen. Aufgrund der zahlreichen Feldzüge in Mexiko und Florida war er abgehärtet und an Hitze gewohnt. Konnten rohes Gemüse und Obst, runtergespült mit kalter Milch, einen solchen Mann umbringen? 1928 und 1940 wurden Bücher veröffentlicht, deren Autoren die Möglichkeit erwogen, dass Taylor von Verschwörern, die die Sklaverei befürworteten, umgebracht worden sei. War also Taylor der erste ermordete Präsident und nicht Lincoln? Ich persönlich hatte mir kaum Gedanken darüber gemacht, bis mich 1991 Clare Rising besuchte. Sie hatte an der University of Florida Englisch studiert und war die Autorin eines histo185

rischen Romans, der während des Bürgerkriegs spielte. Während ihrer Recherchen war sie auch auf den Fall Taylor gestoßen, der sie seitdem nicht mehr losgelassen hatte. Sie beschrieb mir seine Symptome: Erbrechen, Magenkrämpfe, Durchfall und fortschreitende Entkräftung, die sie in zeitgenössischen Berichten gelesen hatte. Von mir wollte sie wissen, ob derartige Symptome von einer Vergiftung herrühren könnten. Ich bin kein Arzt, aber ich konnte Rising bestätigen, dass es sich durchaus um die Anzeichen einer Arsenvergiftung handeln könne. »Gut, wie kann man das nachweisen?«, fragte sie mich. »Nun«, antwortete ich ihr, »wenn das Opfer noch einige Tage, nachdem es das Gift zu sich genommen hat, lebte, hat sich das Gift bereits im Skelettsystem eingelagert. Sie brauchen also nur die sterblichen Überreste zu untersuchen.« Clare Rising entpuppte sich als äußerst hartnäckige und zielstrebige Frau. Ich war überhaupt nicht an der Taylor-Frage interessiert und gab ihr daher die Adressen und Telefonnummern zahlreicher Kollegen, von denen ich überzeugt war, dass sie über das nötige Fachwissen verfügten. Ich schlug ihr vor, sich an Doug Ubelaker vom Smithsonian zu wenden oder an das Armed Forced Instiute of Pathology am Walter Reed Hospital. Ich überschüttete sie förmlich mit Adressen – es hatte keinen Sinn. Sie kam immer wieder mit ihren Fragen zu mir. Sie hatte die große Hoffnung, einer vernachlässigten Figur der amerikanischen Geschichte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Ich war indes weniger optimistisch. Die Exhumierung eines amerikanischen Präsidenten würde sicher nicht leicht werden, wenn wir überhaupt eine Genehmigung bekämen. Und wenn, dann würde das Medienecho so groß werden, dass man nicht mehr in Ruhe arbeiten konnte. Damals ahnte ich noch nicht, wie Recht ich mit meinen Befürchtungen haben sollte. Zunächst erklärte ich Clare Rising die rechtliche Seite: Die sterblichen Überreste gehören den Angehörigen, rechtlich sind sie ihr Besitz. Als erstes müssten also die Angehörigen Taylors 186

um Erlaubnis gefragt werden. Diese können dann ein staatlich zugelassenes Beerdigungsinstitut beauftragen, das Grab zu öffnen. Rising war begeistert. Sie hatte Ahnenforschung betrieben und wusste, wer der nächste direkte Verwandte war. Sie nannte den Namen eines Mannes aus Louisiana, den viele Millionen Menschen kennen. Ich habe schon erwähnt, dass Clare Rising sehr hartnäckig war, dennoch war ich überrascht, als sie mich wenige Wochen nach unserem Gespräch aus Louisiana anrief und sagte, die Sache sei perfekt! Risings Begeisterung wirkte sich nicht nur auf die Angehörigen, sondern auch auf den Bestattungsunternehmer ansteckend aus. Er sagte zu, die Exhumierung kostenlos vorzunehmen. Zachary Taylor lag auf dem Zachary Taylor National Cemetary in Louisville, Kentucky. Wie alle öffentlichen Friedhöfe in Amerika, war auch dieser dem Veteranenverband unterstellt. Die Familie Taylor hatte den Grundbesitz seinerzeit der Bundesregierung geschenkt, allerdings ein kleines Stück Land behalten, auf dem die Familiengruft stand. Ehe ich mich bereit erklärte, an der Exhumierung teilzunehmen, dachte ich darüber nach, ob die Aktion wirklich Sinn machte. Ich bin der Ansicht, dass auch die Toten eine Privatsphäre besitzen und es einen zwingenden Grund geben muss, sie in ihrer Ruhe zu stören. Im vorliegenden Fall bestand vielleicht die Möglichkeit, zu beweisen, dass der Präsident Opfer eines Gewaltverbrechens geworden war. Letztlich war es das Einverständnis der Familie, das auch mich von der Richtigkeit des Unterfangens überzeugte. Wenn sie die Exhumierung ihres Vorfahren nicht als Würdelosigkeit empfand, dann war es auch keine. Schließlich handelte es sich um eine ernsthafte Untersuchung. Rising hatte sogar entfernte Verwandte in Rom und Stockholm angeschrieben, und alle waren mit der Untersuchung einverstanden. Die New York Times hingegen bezeichnete unser Vorhaben als ›anmaßende Geringschätzung gegenüber 187

dem Toten‹. Eine Einschätzung, die ich nicht teilen konnte, denn schließlich ging es darum, einen Mord zu beweisen bzw. auszuschließen. Das Team, das ich zusammenstellte, bestand aus Dr. Nichols, einem staatlichen Leichenbeschauer, Dr. William Hamilton, Leichenbeschauer in Florida (Hamilton hatte bereits mehrere Exhumierungen von Arsenvergifteten vorgenommen), zwei jungen Wissenschaftlerinnen, Arlene Albert und Dona AustinSmith, die für die Photos zuständig sein sollten, einem pensionierten Anwalt und Historiker, Bill Goza, der uns in historischen Fragen beraten sollte, und mir. Und natürlich meine liebe Frau Margret nicht zu vergessen, die unsere Arbeit mit einer Videokamera aufnehmen würde. Wir vereinbarten einen Termin, reservierten Hotelzimmer und mieteten uns einen Kleinbus. Doch dann begannen die Schwierigkeiten. Clare Rising rief mich an und erzählte, dass der Veteranenverband Bedenken angemeldet hätte. Also setzte ich mich ans Telefon und erreichte schließlich einen der hochgestellten Offiziere. »Es tut mir Leid«, sagte er, »aber die Angelegenheit muss auf höherer Ebene entschieden werden.« »Auf höherer Ebene?« »Ja, im Weißen Haus. Schließlich handelt es sich nicht um irgendwen, sondern um einen Präsidenten.« Das war donnerstags. Die Exhumierung war für den kommenden Montag geplant. Ich sah keine Chance, innerhalb dieser kurzen Zeit eine Genehmigung aus Washington zu bekommen. Der Veteranenverband saß sozusagen am längeren Hebel. Ihm gehörte der Friedhof, wenn auch nicht das Grundstück, auf dem das Mausoleum stand, doch sie konnten ganz einfach das Eingangstor verschließen. Schwer enttäuscht, denn mittlerweile interessierte mich das Projekt doch sehr, rief ich Clare Rising an, um ihr die Umstände zu erläutern. Vielleicht später irgendwann, jetzt war nicht an eine Exhumierung zu denken. Wir stornierten das Hotel und sagten auch alle anderen Vereinba188

rungen ab. Wenige Stunden später rief mich Rising zurück. Sie habe mit Richard Greathouse, dem Leichenbeschauer, gesprochen. Dieser sei ein Mann von außergewöhnlicher Bestimmtheit und einem ausgeprägten Sinn für Zuständigkeiten. Er lasse mir ausrichten, dass er sich vom Veteranenverband nichts vorschreiben lasse. Ihm persönlich sei es egal, ob ich jetzt nach Louisville komme oder nicht, er allerdings werde am Montag das Grab Zachary Taylors öffnen. Die Regierung könne ihn nur mit Waffengewalt daran hindern! Also machten wir sämtliche Stornierungen rückgängig und fuhren nach Louisville. Als wir am Sonntag nachmittag im Hotel, das direkt neben dem Friedhof liegt, eintrafen, standen auf dem Parkplatz Übertragungswagen von verschiedenen Fernsehsendern: CNN, die Today Show, Good Morning America und noch einige andere hatten sich dort versammelt. In der Lobby wartete bereits Clare Rising: der Veteranenverband wünsche sofort ein Treffen mit uns. Das große Medienaufgebot machte den Vertretern des Verbandes Sorgen. Diesbezüglich konnte ich sie gut verstehen, denn ein derartiges Aufgebot an Presse hatte auch ich nicht erwartet. Sie stimmten der Exhumierung zu, allerdings nur unter der Bedingung, dass keine Photos gemacht würden. Ich gab zu verstehen, dass ich als forensischer Anthropologe dazu verpflichtet sei, mein Tun zu dokumentieren. Dass wir also nicht arbeiten könnten, wenn wir keine Aufnahmen machen dürften. »Wer garantiert uns, dass wir die Bilder nicht am Mittwoch in der Regenbogenpresse zu sehen bekommen?« »Ich. Oder haben Sie schon irgendeines meiner wissenschaftlichen Bilder in einer Zeitschrift der Regenbogenpresse gesehen?« Das beruhigte ihn. Den Abend verbrachten wir mit der Familie Taylor, die uns zu einem festlichen Dinner eingeladen hatte. Wir waren nicht wenig erstaunt zu hören, dass die Angehörigen mit Nachbarn vereinbart hatten, dass wir im Notfall über ihre Mauer auf den 189

Friedhof hätten klettern können. Das war ja nun zum Glück nicht mehr nötig. Als wir am Montag morgen auf dem Friedhof eintrafen, wurden auch unsere letzten Hoffnungen auf eine ruhige Untersuchung zerstört. Polizei und Feuerwehr regelten den Verkehr im Eingangsbereich, auf Auslegerkränen wurden Fernsehkameras installiert, und Hunderte von Schaulustigen säumten den Hauptweg. Die Polizei eskortierte uns zum Mausoleum, wo wir unter den Blicken der zahlreichen Zuschauer unsere Ausrüstung auspackten. Der ortsansässige Bestattungsunternehmer hatte einige starke Freiwillige organisiert, die die massive Marmorplatte bewegten, welche die Gruft versiegelte. Nachdem die Platte entfernt worden war, erblickten wir einen verrotteten Holzsarg, in dessen Inneren sich ein Bleisarg befand. Am Kopfende entdeckten wir eine rechteckige, verschweißte Platte, unter der sich zwei inzwischen zerbrochene Glasfenster befanden. Durch sie hatte man einen Blick auf den Präsidenten werfen können, als dieser im Weißen Haus aufgebahrt gewesen war. Da das Mausoleum zu klein war, um darin zu arbeiten, brachten wir den Sarg ins Labor des örtlichen Leichenbeschauers und begannen dort mit unserer eigentlichen Arbeit. Der Bleibehälter wies deutliche Perforationen auf. Aus historischen Aufzeichnungen war bekannt, dass Taylor nicht einbalsamiert geworden war, seine Frau hatte es verboten. Stattdessen hatte man seine Leiche für die Aufbahrung in Eis gepackt. Im Verlauf der Verwesung mussten sich die Buttersäuren an einigen Stellen durch das Metall gefressen haben. Die daraus entstandenen Löcher waren insofern wichtige Hinweise, als sie bewiesen, dass Taylor tatsächlich nicht einbalsamiert worden war. Im 19. Jahrhundert hatte man zur Einbalsamierung neben anderem auch Arsen verwendet; jetzt konnten wir davon ausgehen, dass mögliche Arsenspuren nicht von der Arbeit des Bestatters herrührten. Aber wie sollten wir den Bleisarg öffnen? Zunächst arbeite190

ten wir mit einer kleinen Lötlampe, mit der wir vorsichtig die Lötnähte des Sarges aufschmolzen. Doch als ich durch ein Stück offene Naht lugte, durchfuhr mich ein Schreck. Der Sarg war innen mit Stoff ausgelegt: wenn dieser Feuer fing, würde binnen kurzer Zeit alles in Flammen stehen. Nach kurzer Überlegung griffen wir auf die altbekannte Stryker-Säge zurück. Mit ihrer oszillierenden Klinge wird sie eigentlich bei Autopsien, primär im Kopfbereich, eingesetzt; doch auch jetzt war sie uns eine große Hilfe. Die Säge ging durch den Sarg, als sei es Käse, und wir konnten den oberen Teil leicht abnehmen. Was wir zu Gesicht bekamen, war das, was nach 207 Jahren noch von Zachary Taylor übrig war. Taylor war vollständig skelettiert, allerdings klebten noch viele Haare am Schädel. Auch die buschigen Augenbrauen des Präsidenten waren noch erkennbar; sie hafteten an den Oberaugenwülsten über seinen Augenhöhlen. Das Skelett steckte noch im Beerdigungsanzug, der Schädel ruhte auf einem Bündel Stroh, das unter den Stoff gestopft worden war. Das Gebiss war bis auf einen fehlenden Zahn und eine herausgefallene Krone noch vollständig vorhanden. Taylor muss zu Lebzeiten ein strahlendes und gewinnendes Lächeln gehabt haben. Der Anzug, in dem man den Präsidenten beerdigt hatte, war eine Art Overall, aus einem Stück Stoff. Taylor trug weder Strümpfe noch Schuhe, aber seine knochigen Hände steckten in vornehmen Handschuhen. Unter dem heruntergefallenen Kiefer fanden wir eine große Fliege, die man ihm um den Hals gebunden hatte. Die gesamte Kleidung muss weiß gewesen sein, doch jetzt war sie vergilbt und hatte durch die Verwesung tabakbraune Flecken. Außer ein paar Klumpen Leichenfett, eine wachsartige Substanz, die sich bildet, wenn das Körperfett mit Feuchtigkeit in Verbindung kommt, waren die sterblichen Überreste, wie gesagt, vollständig skelettiert. Zunächst machten wir eine Reihe von Photos. Dann untersuchte der Gerichtszahnarzt die Zähne, und ich schnitt vorsich191

tig die Handschuhe auf und entfernte die Fingernägel. Vom Kopf des Präsidenten entnahm ich eine Haarprobe. Wir entnahmen einige Zehennägel und im Brustkorbbereich ein kleines Stück Leichenfett sowie Stoffproben von der Unterseite des Körpers. Letztere hatten die während des Verwesungsprozesses gebildeten Flüssigkeiten aufgesaugt. Falls der Präsident durch Arsen vergiftet worden war, mussten sich Spuren davon in allen diesen Proben finden. Die Proben wurden halbiert und sorgfältig verpackt. Die eine Hälfte wurde ans Oak Rich National Laboratory geschickt, die andere ans Kentucky Laboratory. Es war jetzt ca. 16 Uhr, und unsere Untersuchungen waren abgeschlossen. Der Bleisarg konnte also wieder verschlossen werden. Zwei Ururururenkelinnen des Präsidenten, die wir am vorhergehenden Abend beim Dinner kennengelernt hatten, baten uns, ihren Vorfahren einmal sehen zu dürfen, ehe der Bleisarg wieder zugeschweißt würde. Ich habe bereits beschrieben, wie Taylor aussah, und hatte einige Bedenken. Vorsichtig erklärte ich den beiden, auf was sie sich einstellen müssten und ob sie wirklich sicher seien, dass sie ihn anschauen wollten. Beide bestanden darauf. Den beiden jungen Frauen wurde also der Eintritt in den Raum gestattet, und sie warfen einen Blick auf ihren berühmten Vorfahren. Sie waren sehr beeindruckt und nicht im geringsten erschüttert. Auch Clare Rising, die so viel Zeit und Energie auf die Auflösung des ›Taylor-Puzzles‹ verwendet hatte, wurde ein Blick auf den toten Präsidenten gestattet. Sie näherte sich dem Sarg mit beträchtlichem Zögern und großer Ehrfurcht. Ich beobachtete sie genau und konnte spüren, was in ihr vorging: Vor ihr lag nicht einfach ein Skelett, sondern die sterblichen Überreste einer legendären Gestalt der amerikanischen Geschichte – Zachary Taylor. Schließlich wurde der Sarg geschlossen, mit dem Sternenbanner bedeckt und zum Friedhof zurückgebracht. Kurz nachdem meine Frau und ich nach Gainesville zurück192

gekehrt waren, veröffentlichte das Büro von Dr. Nichols die Ergebnisse. Sie waren eindeutig und unmissverständlich: Die Arsenspuren, die man hatte nachweisen können, waren im Rahmen des Normalen und damit unbedeutend. Sie hätten niemals den Tod des Präsidenten auslösen können. Wird Arsen in hoher Dosis verabreicht, führt es innerhalb weniger Stunden zum Tod; in diesem Fall sind keine Spuren in Haaren, Knochen oder Nägeln nachzuweisen. Lebt das Opfer, wie im Fall Taylor, jedoch noch einige Tage weiter, lagern sich Giftspuren ab. Nach allem, was über den Tod des Präsidenten bekannt war und aufgrund der Untersuchungsergebnisse konnte eindeutig bewiesen werden, dass Taylor nicht umgebracht worden war. Vielleicht hatte man ein anderes Gift verwendet, doch die Krankheitssymptome Taylors sprachen eindeutig für Arsen. Zachary Taylor war eines natürlichen Todes gestorben. Alle Vermutungen über den Tod Zachary Taylors sind reine Spekulation. In jenen Tagen wurden bei Durchfall Abführmittel verschrieben und gezielt Flüssigkeit entzogen; vielleicht hatte Taylors Körper diese Behandlung nicht überstanden. Im 19. Jahrhundert waren auch die hygienischen Bedingungen nicht besonders gut. Wahrscheinlich waren Obst und Gemüse ungewaschen oder in schmutzigem Wasser gereinigt worden. Und die Julihitze des Sommers 1850 war sicherlich ein guter Nährboden für E.coli, die sich im Darm des Präsidenten hätten einnisten können. Die Medien reagierten auf das Untersuchungsergebnis, wie zu erwarten gewesen war. Das Mordopfer Zachary Taylor war eine ›heiße Story‹; der natürliche Tod eines US-Präsidenten von anno dazumal keine Schlagzeile wert. Schnell wurden die Satellitenschüsseln abgebaut, die Übertragungswagen verschwanden, und wir wurden nicht mehr beachtet. Clare Rising beendete ihr Buch über Zachary Taylor, aber soweit mir bekannt ist, wurde es bis jetzt nicht veröffentlicht. Sie hing an ihrer Vergiftungstheorie und hat sich auch nach der 193

Exhumierung umfangreichen Recherchen in der medizinischen Literatur gewidmet, um herauszufinden, ob Taylor vielleicht mit einem anderen Gift umgebracht worden ist. Für mich persönlich steht jedoch fest, dass der 12. Präsident der Vereinigten Staaten eines natürlichen Todes starb. Und es ist der außergewöhnlichen Hartnäckigkeit Clare Risings zu verdanken, dass wir dies wissen.

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15 Der Zar aller Russen »Die Welt wird niemals erfahren, was wir mit ihnen gemacht haben …« PETER WOJKOW, sowjetischer Botschafter in Polen, 1935

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Es war ein sonniger Tag in Sibirien, als ich die Stufen zum zweiten Stock des gerichtsmedizinischen Labors hinaufstieg, in dem die Skelette aufbewahrt wurden. Das Labor befand sich in Jekaterinburg, 1300 km von Moskau entfernt, tief im Uralgebirge. Jekaterinburg erschien mir wie das Golgatha des Kommunismus. Denn hier fand Anfang des 20. Jahrhunderts eine verhängnisvolle Massenexekution statt. In der Nacht vom 16. auf den 17. Juli 1918 wurde Zar Nikolaus II., der letzte der Romanows, aufgefordert, sich mit seiner gesamten Familie und der Dienerschaft in den Keller des Ipatjew-Hauses, des sogenannten ›Hauses der besonderen Bestimmung‹, zu begeben. Dort wurde den Versammelten gegen Mitternacht von Kommandant Jakob Jurowsky das Exekutionsdekret vorgelesen. Zar Nikolaus II., Zarin Alexandra, ihr Sohn Alexander, ihre vier Töchter Olga, Tatjana, Marie und Anastasia, der Leibarzt Sergej Botkin, der Koch Kharitonow, der Diener Trupp und das Dienstmädchen Demidowa hörten die Verlautbarung, und kaum dass Jurowsky zu Ende gelesen hatte, fielen auch schon die ersten Schüsse. Der Zar, seine Familie und die ganze Dienerschaft starben im Kugelhagel. Am 19. Juli berichtete die Lokalzeitung ›Der Ural Arbeiter‹ vom Tod des Zaren: HINRICHTUNG VON ZAR NIKOLAUS, DEM BLUTGEKRÖNTEN MÖRDER OHNE BOURGEOISE FORMALITÄTEN ERSCHOSSEN, ABER IN ÜBEREINSTIMMUNG MIT UNSEREN NEUEN DEMOKRATISCHEN PRINZIPIEN

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Die Familie wurde mit keinem Wort erwähnt, und für ein dreiviertel Jahrhundert blieben die Umstände des Massakers ein Geheimnis der Sowjets. Trotz angestrengter Nachforschungen prozaristischer Kreise konnten die Leichen damals nicht gefunden werden. Außerhalb der Stadt, in einer verlassenen Mine, wurde lediglich ein einzelner Finger gefunden, der nachweislich einer Frau gehörte. 1979 barg man in den Außenbezirken von Swerdlowsk (so hieß Jekaterinburg während der Sowjetzeit), aus einem flachen, moorigen Grab, neun mehr oder weniger vollständig erhaltene Skelette. Außer den Skeletten waren auch Gewehrkugeln, Seilstücke und ein zerbrochener Behälter ans Tageslicht gekommen, in dem einmal Schwefelsäure gewesen sein musste. Waren das die sterblichen Überreste der Familie Romanow und ihrer Dienerschaft? Gemeinsam mit einigen Kollegen machte ich mich auf den Weg nach Jekaterinburg, um das herauszufinden. Man führte uns eine Treppe hinauf und einen langen Korridor entlang, an dessen Ende das provisorische ›Leichenschauhaus‹ lag. Wir wurden in einen quadratischen Raum mit zwei Fenstern geführt, in dessen Mitte zwei Tische standen. Entlang den Wänden standen ebenfalls Tische, die mit weißen Laken bedeckt waren. Insgesamt waren in diesem Raum neun Skelette aufgebahrt. Auf mich übten sie eine besondere Faszination aus. Vor vierundvierzig Jahren, als Elfjähriger, hatte ich in dem Buch ›Seven League Boots‹ von Richard Halliburton zum ersten Mal von den Romanow-Morden gelesen. Das Buch war aus dem Jahre 1935, und Halliburton berichtete darin, wie er nach Swerdlowsk gekommen war und einen der Zarenmörder, Peter Zacharowitsch Ermakow, aufgespürt hatte. Ermakow litt offenbar an Kehlkopfkrebs, denn hustend und blutspuckend berichtete er Halliburton die schaurige Geschichte der Morde. Am 12. Juli hatten wir unser letztes Treffen und bekamen un197

sere Befehle. Wir setzten die Hinrichtung vier Tage später an – auf die Nacht vom 16. auf den 17. Für die Beseitigung der Leichen war ich selbst verantwortlich. Wir mussten uns so unauffällig wie möglich verhalten, damit die Romanows keinen Verdacht schöpften. Und ich wollte sichergehen, dass die Leichen sicher verschwanden, die Weißen sollten nicht einen Knochen finden. Im Juli belagerten die antibolschewistischen Weißrussen Jekaterinburg, und mit der Eroberung der Stadt wurde täglich gerechnet. Den 14. Juli verbrachte Ermakow mit der Suche nach einem passenden Ort, um die Leichen loszuwerden. Er entschied sich schließlich für einen stillgelegten Minenschacht, ungefähr 20 km außerhalb der Stadt. Auch Jakob Jurowsky war mit dem Ort einverstanden. Am nächsten Morgen fuhren wir einige Kanister Benzin zur tiefgelegensten der Minen. Zusätzlich bestellte ich noch einige Eimer Schwefelsäure und eine Wagenladung Brennholz. Einer meiner Soldaten bewachte die Vorräte, damit kein Unbefugter sich an ihnen zu schaffen machte. Es wurde ein Fahrer beordert, der seinen Lieferwagen mit laufendem Motor vor die Hintertür des Ipatjew-Hauses stellen sollte. So hoffte man, das Krachen der Gewehrsalven zu übertönen. Waganof war immer bei mir. Er war ein guter Bolschewik, der den Zaren genauso hasste wie ich. Wir konnten uns darauf verlassen, dass er genau zielen würde. Jurowsky selbst hatte ein Nagant-Gewehr. Waganof und ich Mauser, jeder von uns trug zwanzig Extraladungen Munition bei sich, denn nur wir drei sollten die Hinrichtung ausführen. Wir suchten nach einem geeigneten Raum für die Erschießung und entschieden uns für den Wachraum im Keller. Dort unten würden die Schüsse nicht so laut zu hören sein. Er hatte auch genau die richtige Größe, ca. 5,50 m lang und 3,50 m breit. Um Mitternacht klopfte Jurowsky an die Zimmertür des Za198

ren und teilte ihm mit, er und seine Familie würden evakuiert, da in den Außenbezirken Jekaterinburgs bereits Kämpfe ausgebrochen seien. Nach ungefähr einer Stunde war die Zarenfamilie und ihre Gefolgschaft zum Aufbruch bereit. Die Tür öffnete sich, und der Zar kam mit Alexei auf dem Arm hinaus. Beide trugen Armeemützen und -jacken. Der Rest der Familie folgte. Die Zarin und die Mädchen waren weiß angezogen und trugen Kissen bei sich. Jurowski musste ihnen gesagt haben, sie sollten Kissen mitnehmen, damit sie im Auto bequem sitzen könnten. Anna, das Mädchen der Zarin, kam mit zwei Kissen heraus. Hinter ihr erschienen Botkin, der Koch, und der Kammerdiener des Zaren. Niemand war aufgeregt, ich bin sicher, sie ahnten nichts. Wir führten sie in den Keller, draußen startete der Fahrer den Motor. Dann begann Jurowsky mit der Urteilsverkündung. Er schrie die Verurteilten geradezu an: »Ihr denkt, die Weißen werden euch retten – werden sie nicht! Ihr denkt, ihr kommt nach England, um später wieder Zar zu werden – da irrt ihr euch. Ihr seid für eure Verbrechen am russischen Volk zum Tode verurteilt worden!« Der Zar schien nicht verstanden zu haben und rief um den Motorenlärm zu übertönen: »Was? Was? Gehen wir nicht von hier weg?« Jurowskys Antwort war ein Schuss ins Gesicht des Zaren. Die Kugel ging direkt ins Hirn. Der Zar taumelte zu Boden und bewegte sich nicht mehr. Ich feuerte auf die Zarin. Stand nur knapp zwei Meter von ihr entfernt, konnte also gar nicht danebengehen. Ich erwischte sie im Mund; in zwei Sekunden war sie tot. Als Nächstes schoss ich auf Botkin. Er hatte die Hände erhoben und sein Gesicht halb weggedreht. Die Kugel erwischte ihn am Hals, und er fiel nach hinten. Jurowsky hatte den Zarewitsch aus dem Stuhl geschossen, in dem er gesessen hatte. Jetzt lag er stöhnend am Boden. Der Koch kauerte in einer Ecke. Ich zielte auf seinen Kopf und den Rest des Körpers. Auch der Kammerdiener ging zu Boden; ich weiß nicht, wer ihn erschoss. Waganof durchsiebte die Mädchen mit einem 199

Schwenk. Sie lagen auf einem Haufen und stöhnten und starben. Er gab noch ein paar Salven auf Olga und Tatjana ab. Die beiden jüngeren Mädchen, Maria und Anastasia, waren neben Botkin gefallen. Ich glaube nicht, dass irgendjemand von uns das Dienstmädchen, Anna, getroffen hat. Sie war in ihrer Ecke heruntergerutscht und versteckte sich hinter den beiden Kissen. Später entdeckten wir, dass die Kissen mit Juwelen vollgestopft waren. Vielleicht hatten die Schmuckkästchen die Kugeln abgewehrt. Aber einer der Wärter schnitt ihr mit dem Bajonett die Kehle durch. Wir riefen die Scharfrichter der Tcheka (Geheimpolizei), die draußen warteten. Sie sollten uns helfen, die Arbeit zu beenden, und sie prügelten und stachen mit ihren Bajonetten auf jeden ein. Der Zarewitsch war immer noch nicht tot. Er lag auf dem Boden und krümmte sich. Jurowsky schoss ihm ein zweites Mal in den Kopf, das gab ihm den Rest. Anastasia lebte auch noch. Einer der Wächter drehte sie auf den Rücken, sie schrie, und er erschlug sie mit seinem Gewehrkolben. Dann trugen wir die Leichen nach oben und legten sie auf den Lastwagen. Der Kellerraum sah schrecklich aus. Alles war blutüberströmt, und Schuhe, Kissen und anderer Krimskrams lag herum. Insgesamt haben wir bestimmt an die achtunddreißig Schüsse abgefeuert. Wir brauchten zwei Stunden bis zur Mine, und die Morgendämmerung brach bereits an. Es war schon zu hell, um die Leichen zu verbrennen, darum postierte ich Wachen, die auf den Wagen aufpassen sollten. Im Laufe des 17. Juli wurde die persönliche Habe des Zaren zusammengetragen und nach Moskau gebracht. Gegen 22.00 Uhr erschien Ermakow dann wieder bei der Mine. Im Schein der Lampen zogen wir die Leichen aus. Bei der Zarin und den Mädchen fanden wir jede Menge Schmuck: Diamanten, die im Korsett eingenäht waren, Halsbänder, Goldkreuze und andere Sachen. Den Schmuck schickten wir später auch nach Moskau. Die Kleider wurden getrennt ver200

brannt, die Leichen schleppten wir zum Mineneingang, zwei Kilometer von der Straße entfernt. Dort errichteten wir einen Scheiterhaufen aus Holzbalken, die groß genug waren, um die Leichen in zwei Lagen übereinander zu schichten. Wir überschütteten die Leichen mit fünf Kanistern Benzin und zwei Eimern Schwefelsäure und zündeten das Holz an. Wegen des Benzins brannte der Scheiterhaufen bald lichterloh. Ich überwachte den Brand, denn ich wusste, dass die Weißen jedes auch noch so kleine Knöchelchen als Heiligtum verehren würden. Also stieß ich herunterfallende Teile wieder zurück ins Feuer und goss immer wieder Benzin nach, bis alles zu Asche verbrannt war. Ermakow behauptete Halliburton gegenüber, er habe die ›imperialistische Asche‹ zusammengekehrt, in Dosen gefüllt und dann in der Luft verstreut. Der Wind wirbelte sie wie Staub herum und trug sie über Wälder und Felder. Am nächsten Tag regnete es. Wenn also irgendjemand behauptet, er habe einen toten Romanow entdeckt, dann erzähl ihm von der Asche, dem Wind und dem Regen. Laut Ermakow wurden der Zar und seine Familie also durch drei Scharfrichter erschossen, ihre Leichen von Salzsäure zersetzt und anschließend zu Asche verbrannt. Verzeihen Sie mir, dass ich den Bericht Ermakows so ausführlich zitiert habe, doch er enthält einige Körnchen Wahrheit, und diese galt es zu finden. Was mich misstrauisch machte, war die angebliche Tatsache, dass die Leichen mit Säure unkenntlich gemacht und verbrannt worden sein sollten. Ich habe schon die irrationalsten Dinge erlebt, wenn Verbrecher eine Leiche verschwinden lassen wollen, aber dies erschien mir doch sehr unglaubwürdig. Acht Tage nach den Morden erreichten die weißrussischen Truppen Jekaterinburg. Im Ipatjew-Haus fanden sie ein Chaos vor: zertrümmerte Möbel, leere Zimmer und eingerissene 201

Wände. Der Keller war erstaunlich sauber, aber in einem Raum fanden sich an den Wänden und auf dem Boden Löcher von Kugeln und Bajonettstichen. Die Gerüchteküche brodelte, und die Untersuchungsbeamten erhielten einen Hinweis auf eine verlassene Mine außerhalb der Stadt. Innerhalb und außerhalb der Mine fanden sie insgesamt fünfundsechzig halbverbrannte Gegenstände, die auf die Zarenfamilie hinwiesen. Zum Beispiel die Gürtelschnalle des Zaren, die Gürtelschnalle des Zarewitsch, ein Smaragdkreuz, Topasperlen, einen Perlenohrring, ein Ulm-Kreuz (ein zaristischer Orden), ein Monokel, drei kleine Ikonen, das Brillenetui der Zarin, Knöpfe und Haken, die anscheinend von einem Korsett stammten, Militärmützen, Schuhschnallen und die obere Gebissplatte von Dr. Botkin. Das einzige Knochenfragment, das gefunden wurde, war ein einzelner weiblicher Finger. Die weißrussische Armee wurde wieder aus Jekaterinburg vertrieben. Die Untersuchungsergebnisse konnten zwar veröffentlicht, das Rätsel der verschwundenen Leichen aber nicht gelöst werden. 1935 wurde das Ipatjew-Haus zum Staatsarchiv und war nicht mehr für die Öffentlichkeit zugänglich. 1977 wurde es dann abgerissen, weil es sich mehr und mehr zum Wallfahrtsort für die Anhänger des Zarentums entwickelt hatte. Kein Geringerer als Boris Jelzin ordnete den Abriss an. In den Jahrzehnten nach dem Verschwinden des Zaren wurde ein Mantel des Schweigens über die Vorgänge gelegt. Anfänglich als Akt revolutionärer Gerechtigkeit gerühmt, brachte der Mord an der Zarenfamilie, der den Rest der Welt entsetzte, die neue Regierung zunehmend in Verlegenheit. Es wurde nie über das Schicksal der Familie gesprochen, sondern nur von der Hinrichtung des Zaren. So kam es, dass sich die Menschen fragten, ob nicht vielleicht noch jemand von der Zarenfamilie lebte. Vielleicht hatten sich durch einen Zufall ja alle retten können … Das beharrliche Schweigen der Offiziellen verstärk202

te die Gerüchte, und eine nicht geringe Anzahl von Menschen machte ihren Anspruch auf die Krone der Romanows geltend. Es gab zahlreiche Anastasias, genauso viele Alexeis, Alexandras, Olgas, Tatjanas und Marias. Die wohl bekannteste Frau, die den Anspruch erhob, Anastasia zu sein, war Anna Anderson. Sie litt unter völliger Amnesie, sah der Zarentochter aber erstaunlich ähnlich. Obwohl sie kein Russisch sprach, konnte sie sich an bemerkenswerte Einzelheiten des Hofprotokolls und der Familiengeschichte erinnern. 1984 starb sie im Alter von 82 Jahren in Virginia. Ihre Leiche wurde verbrannt, nur ein paar abgeschnittene Haare überdauerten. Diese sind jedoch, wie wir sehen werden, von zweifelhaftem Wert, um ihre Ansprüche geltend zu machen. Unter Michail Gorbatschow, im Zuge von ›Perestroika‹ und ›Glasnost‹, wurde eine Vielzahl geheimer Akten freigegeben. Edward Radzinsky, ein sowjetischer Schriftsteller, der seit fast fünfundzwanzig Jahren unauffällig den Tod der Zarenfamilie recherchiert hatte, entdeckte eine Unmenge von Dokumenten. Darunter auch das fünfzehnbändige Tagebuch des Zaren sowie die Augenzeugenberichte von Jurowsky und Ermakow. Von Grigori Nikulin, dem Leutnant Jurowskys, gab es sogar eine Tonbandaufzeichnung aus dem Jahr 1964. Das wichtigste Dokument war die sogenannte ›Jurowsky-Notiz‹, ein ausführlicher Bericht über die Morde. Nach und nach kristallisierte sich ein vollständiges Bild heraus: eine brutale Geschichte von Mord, Blut, Betrug, Angeberei und Trunkenheit. Laut der ›Jurowsky-Notiz‹ bestand das Erschießungskommando aus zwölf Männern. Unter ihnen auch Jurowsky selbst, sein Leutnant Nikulin und Ermakow. Die Zarenfamilie wurde unter dem Vorwand geweckt, man wolle Photos von ihnen machen, um Gerüchten entgegenzutreten, sie seien tot. Für die Zarin und den kranken Alexei hatte man Stühle bereitgestellt, alle anderen stellten sich hin. Nachdem Jurowsky das Urteil vorgelesen hatte, zweimal, fielen die ersten Schüsse. Nikolaus 203

II. starb sofort, doch die anderen waren schwieriger zu töten. Die Kugeln prallten regelrecht an ihnen ab und bohrten sich in die Wände. Insbesondere die Frauen waren schwer zu töten. Auch als die lettischen Wachen mit ihren Bajonetten auf sie einstießen, rutschten diese am Brustkorb ab. Später stellten die Mörder fest, dass die Korsetts der Frauen mit Diamanten und Edelsteinen ausgestopft gewesen waren, die wie kugelsichere Westen gewirkt hatten. Insgesamt erbeuteten sie achtzehn Pfund Diamanten. Die Leichen wurden zur Mine gebracht und in den nur zweieinhalb Meter tiefen Schacht geworfen. Mit Handgranaten, die in den Schacht geschleudert wurden, wurde der Eingang verschlossen. Dies könnte eine Erklärung für die vielen Gegenstände sein, die die weißrussische Armee am Tatort fand. Doch die grausame Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ermakow, der bei der Hinrichtung betrunken gewesen war, hatte sich einige Kumpane zu Hilfe gerufen, um die Leichen wegzuschaffen. Diese waren genauso betrunken und prahlten am nächsten Tag mit ihrer ›Heldentat‹. Als Jurowsky davon erfuhr, ließ er die verstümmelten Leichen ausgraben und auf einen Karren laden. Es war ein verregneter Sommer, und der Wagen blieb immer wieder im Schlamm stecken. Da es bereits Morgen wurde, blieb ihnen nichts anderes übrig, als die Leichen direkt an Ort und Stelle zu vergraben. Zwei der Leichen verbrannte Jurowsky; die von Alexei und, wie er annahm, die des Dienstmädchens. Er hatte sich verschätzt, innerhalb welcher Zeit die Leichen verbrennen würden, vielleicht ging ihm auch das Benzin aus. Auf jeden Fall ordnete er an, im Sumpf eine Grube auszuheben und die Leichen hineinzuwerfen. Aus Angst vor dem Leichengeruch wurden die Toten mit Schwefelsäure übergossen. Jurowsky schrieb in seinem Bericht: Wir verteilten Erde und Lehm darüber, legten Bretter aus und fuhren mehrmals darüber – von dem Loch war keine Spur mehr zu sehen. 204

1989 geschah dann das Unglaubliche: Ein sowjetischer Autor, Geli Ryabow, schrieb in den Moskauer Nachrichten, er habe 1979, gemeinsam mit dem Geophysiker Alexander Avdonin, außerhalb von Swerdlowsk in einem niedrigen Grab die Skelette der Zarenfamilie entdeckt. Aus Angst hätte er sich erst jetzt mit seiner Entdeckung an die Öffentlichkeit getraut. Meine Kollegen und ich hörten 1992 zum ersten Mal von diesem Fund. Die Zeitungen berichteten ausführlich, anscheinend hatten die Russen angefragt, ob sie aus den USA technische Hilfe bekommen könnten. Mich persönlich interessierte das Geheimnis der Romanows schon seit meiner Kindheit. Vielleicht bot sich jetzt für mich die Gelegenheit, mit den modernen Mitteln der Wissenschaft Licht in dieses dunkle Kapitel der Geschichte zu bringen. Ich wandte mich an den leitenden Leichenbeschauer der Army und erkundigte mich nach dem Stand der Dinge. Er hatte nichts von einem offiziellen Auftrag gehört. Seine Abteilung beschäftigte sich nicht mit den Romanows. Fasziniert von der vor mir liegenden Arbeit, stellte ich ein Expertenteam zusammen. Außer Bill Goza, der schon bei der Exhumierung Zachary Taylors geholfen hatte, und meiner Frau, die wieder die Videodokumentation übernehmen sollte, gehörten dem Team Dr. Lowell Levine, Dr. Michael Baden und Cathryn Oaks an. Cathryn arbeitet für das New York State Police Department und ist Spezialistin für die Untersuchung von Haar- und Faserproben. Ein Fax des Präsidenten der University of Florida an Dr. Alexander Avdonin, der bei der Entdeckung selbst dabeigewesen war, ermöglichte uns nach einigen Schwierigkeiten endlich die Arbeit. Wir erhielten eine offizielle Einladung aus Jekaterinburg und flogen nach Russland. Avdonin und Dr. Nikolai Nevolin, der das staatliche forensische Büro des Bezirks Swerdlowsk leitete, holten uns vom Flughafen ab. Am nächsten Tag sollte sich endlich die Tür zu dem Raum öffnen, in 205

dem die Knochen aufbewahrt wurden. Zunächst verweigerten uns die Russen den Zutritt mit Kameras, und es wurde uns verboten, Aufnahmen zu machen. Also untersuchten wir die Skelette, ohne Photos zu machen, und legten die ersten Ergebnisse vor. Die Russen waren beeindruckt. Ihre Wissenschaftler hatten für die gleichen Analysen und Identifizierungen einige Wochen gebraucht. Das anfängliche Misstrauen verschwand, und wir konnten unsere Arbeit ungestört fortsetzen. Wir nummerierten die Skelette von eins bis neun. Fünf waren weiblich, vier waren männlich. Von den weiblichen Skeletten waren drei gerade erst ausgewachsen. Die Gesichter waren alle stark zertrümmert, was es schwierig, wenn nicht gar unmöglich machte, die Gesichtszüge zu rekonstruieren. Der Umstand stimmte jedoch mit den Berichten über die Morde überein, in denen davon gesprochen wird, dass den Opfern mit Gewehrkolben die Gesichter zerschmettert wurden. Die Zähne aller weiblichen Skelette waren behandelt worden; die der männlichen nicht. Eines der männlichen Skelette hatte im Oberkiefer keine Zähne mehr und im Unterkiefer nur wenige. Es handelte sich also vielleicht um Dr. Botkin, dessen obere Gebissplatte die weißrussische Armee geborgen hatte. Im Grab hatte man auch einzelne Zähne gefunden. Der Zahnschmelz wies bei allen deutliche Spuren von Säureeinwirkung auf. Vierzehn Kugeln, die im Kaliber einer .32er entsprachen, und die Reste einer Handgranate wurden im Grab gefunden. Die Russen teilten uns mit, dass neun Kugeln von Nagants stammten, vier wahrscheinlich von einer Browning und eine aus einer Mauser. Die Kugeln hatten vermutlich in den Körpern gesteckt und sich im Verlauf des Verwesungsprozesses gelöst. Die Leichen 2, 3 und 6 hatten Wunden im Kopfbereich, die eindeutig auf Durchschüsse hinwiesen. Leiche 9 hatte eine Stichwunde im Brustbereich, möglicherweise von einem Bajonett. Skelett 1 konnten wir aufgrund des Beckens als erwachsene 206

Frau identifizieren. Dem Schädel fehlten die Gesichtsknochen. Auf dem Unterkieferknochen saß eine schlecht gearbeitete Brücke, keine sehr kostspielige zahntechnische Arbeit. Besonders auffällig war jedoch die Vergrößerung der Gelenkoberflächen der Knöchelgelenke. Diese Frau musste viel gekniet haben. Möglicherweise während sie die Böden schrubbte. Die Gesamtzusammenhänge wiesen darauf hin, dass es sich bei diesem Skelett um Anna Demidowa, das Mädchen der Zarin, handelte. Skelett 2 hatte als einzige einen intakten Rumpf, der durch Leichenfett zusammengehalten wurde. Im Becken- und Wirbelsäulenbereich hatten die Russen je eine Kugel gefunden. Das Skelett war das eines ausgewachsenen Mannes mit einer sehr flachen, fliehenden Stirn. Wahrscheinlich handelte es sich um Dr. Botkin, den Arzt. Dafür sprach auch die Tatsache, dass dem Skelett die oberen Zähne fehlten. Im Schädel war eine Schusswunde sichtbar: Die Kugel war durch den linken Frontalknochen in der oberen Ecke der Stirn eingetreten und durch die rechte Seite wieder ausgetreten. Skelett 3 gehörte einer jungen, erwachsenen Frau mit einer gewölbten Stirn, die zum Zeitpunkt des Todes ca. 20 Jahre alt gewesen sein musste. Wir ordneten es vorläufig der Großherzogin Olga zu, denn die Kopfform stimmte außergewöhnlich gut mit Photographien von Olga überein. Die Hälfte der mittleren Gesichtspartie und der Unterkiefer fehlten. Die Beinknochen waren leider nicht mehr intakt, da sie nach der Ausgrabung zerlegt worden waren. Also konnten wir zur Größenbestimmung lediglich die Armknochen verwenden. Wir errechneten eine Körpergröße von ca. 1,65 Meter. Dr. Levine fand zahlreiche Amalgamfüllungen, Olga musste zu Lebzeiten ein Faible für Süßigkeiten gehabt haben. Ebenso wie ihre Schwestern, in deren Zähnen wir ebenfalls zahlreiche Füllungen fanden. Eine Kugel hatte sie unterhalb des linken Kiefers getroffen, den Kiefer gebrochen, ging durch den Gaumen hinter die Nase und 207

trat durch den Frontalknochen des Schädels wieder aus. Die Attentäter mussten ihr die Waffe also unters Kinn gehalten oder sie erschossen haben, als sie bereits am Boden lag. Von Skelett 4 nahm ich an, dass es sich um das des Zaren handelte. Es gehörte einem Mann mittleren Alters von recht kleiner Statur. Der Gaumen war sehr breit und flach, was mit Photos übereinstimmte, die von Nikolaus II. gemacht wurden, ehe er sich einen Bart wachsen ließ. Auch die hervorstehenden Oberaugenwülste, die gebogenen, hervorstehenden supraorbitalen Knochen glichen den bekannten Photographien. Die Hüftknochen wiesen die charakteristischen Verschleißerscheinungen und bekannten Deformationen auf, die bei Reitern auftreten. Und der Zar war ein begeisterter Reiter gewesen, der viele Stunden auf dem Rücken von Pferden verbracht hatte. Der außergewöhnlich schlechte Zustand der Zähne, an denen keinerlei Ausbesserungen vorgenommen worden waren, passte allerdings nicht ins Bild. Die übrig gebliebenen Zähne enthielten keine Füllungen und waren zu braunen Stummeln verkommen. Der Unterkiefer wies deutlichen Parodontosebefall auf. Der Besitzer dieses Gebisses war beim Zahnarzt längst überfällig gewesen. Warum war er nicht gegangen? Als Zar hätte er sich doch einen sehr guten Zahnarzt leisten können. Ich schätze, Nikolaus II. hatte schlicht und ergreifend Angst vor dem Zahnarzt. Zumindest machten seine Zähne diesen Eindruck. Auch dem Zaren war das Gesicht zertrümmert worden: unterhalb der Augenhöhlen und oberhalb des Kiefers klaffte ein großes Loch. Während wir den Schädel genauer untersuchten und herumreichten, geschah das Unheimliche. Plötzlich vernahmen wir ein Klappern im Hirnkasten. Vorsichtig leuchteten wir mit einer Taschenlampe in den Schädel und blickten durch die Öffnung, an der normalerweise das Rückenmark verankert ist. Was wir entdeckten, war ein kleines, geschrumpftes Objekt: das ausgetrocknete Gehirn von Zar Nikolaus II.! Ich bin mir sicher, dass es sich um den Schädel des Zaren 208

handelt, denn kein anderer ähnelte dem Profil von Nikolaus II. so sehr wie dieser. Dr. Botkin (Skelett 2) hatte eine ausgesprochen flache, fliehende Stirn; der Schädel von Skelett 9 war viel zu groß und zu alt (wir ordneten ihn dem 61-jährigen Diener Trupp zu), und die Schädelform von Skelett 8, das massiv mit Säure überschüttet worden war, stimmte auch nicht mit der des Zaren überein. Skelett 5 gehörte einer jungen Frau zwischen 18 und 21 Jahren. Wie bei Skelett 3 fehlte auch hier die mittlere Gesichtspartie. Dr. Levine und ich kamen überein, dass es sich um die jüngste der fünf Frauen handelte, deren Skelette wir vor uns hatten. Denn die Weisheitszähne waren noch nicht vollständig ausgebildet, und die Entwicklung des Kreuzbeines war noch nicht abgeschlossen. Die Gliedmaßen bewiesen, dass der Wachstumsprozess erst kurz beendet und die Wirbelsäulenausbildung noch nicht ganz abgeschlossen war. Ihre Größe schätzten wir auf 1,71 Meter. Das Skelett gehörte Marie, die zum Zeitpunkt der Exekution 19 Jahre alt gewesen war. Skelett 6 gehörte ebenfalls einer jungen Frau, die jedoch ausgewachsen war. Der Entwicklungsstand ihrer Zähne und ihrer Knochen lag zwischen denen von Skelett 3 und Skelett 5. Kreuzbein und Beckenkamm waren voll entwickelt, sodass ihr Alter mindestens 18 Jahre betragen haben musste. Ihre Größe konnten wir anhand der Extremitätenknochen auf 1,67 Meter schätzen. Sie lag also auch größenmäßig zwischen den beiden anderen jungen Frauen. Da auch ihr Schlüsselbein voll entwikkelt war, konnten wir ihr Alter mit mindestens 20 Jahren angeben. Die Großherzogin Tatjana war im Juli 1918 21 Jahre alt gewesen. Auf der hinteren linken Schädelhälfte war deutlich ein Einschussloch zu erkennen und eine Austrittsöffnung an der rechten Schläfe. Man hatte der jungen Frau also in den Kopf geschossen. Bei den Skeletten 3, 5 und 6 handelte es sich um die Töchter des Zaren; Olga, Marie und Tatjana. Keines dieser Skelette war 209

jung genug, um Anastasia zugeordnet werden zu können, die in der Nacht des Massakers 17 Jahre alt gewesen war. Die russischen Wissenschaftler waren sehr bemüht, das Skelett Anastasias zu identifizieren. Sie vermuteten, es handle sich um Skelett 6. Wir konnten dem aufgrund der beschriebenen Altersbestimmung nicht zustimmen. Beherzt bemühten sie sich, das Gesicht zu rekonstruieren, indem sie zahlreiche Klebebänder über die fehlenden Stellen spannten. Eine unnötige Arbeit, wie sie feststellen mussten; Anastasia befand sich nicht in diesem Raum. Skelett 7 war in vielerlei Hinsicht das wichtigste von allen. Es gehörte einer älteren Frau, deren Brustkorb anscheinend durch Bajonettstiche verletzt wurde; die Knochen waren nicht gut genug erhalten, um das mit Bestimmtheit zu sagen. Was unsere Aufmerksamkeit erregte, waren die außerordentlichen zahntechnischen Arbeiten. Dr. Levine ging zunächst davon aus, dass es sich bei den silbrig glänzenden Kronen um Aluminiumprovisorien handelte. Zu seiner Verwunderung stellte sich jedoch heraus, dass sie aus Platin waren! Darüber hinaus fanden wir präzise gearbeitete Porzellankronen und Goldfüllungen. Eine derart kostspielige Behandlung konnten sich sicherlich nur die Reichsten der Reichen leisten. Insbesondere aufgrund dieses Skelettes hatten die Entdecker des Grabes damals angenommen, dass es sich um die sterblichen Überreste der Zarenfamilie handeln musste. In ihren Tagebüchern erwähnt die Zarin wiederholt Zahnarztbesuche. Skelett 8 war nur noch sehr bruchstückhaft vorhanden und durch Säureeinwirkung schwer beschädigt. Dennoch konnten wir es als das eines älteren Mannes identifizieren, der zwischen vierzig und fünfzig Jahre alt gewesen sein musste. Der Oberkiefer fehlte, dem Unterkiefer, den man wiedergefunden hatte, fehlten sämtliche Zähne. Der Mann musste ein abgeflachtes Profil gehabt haben, denn der Bereich um die Augenbrauen war erstaunlich flach. Wir entdeckten einen verheilten Bruch 210

der Elle. Wir kamen zu dem Schluss, dass es sich um das Skelett des Kochs, Iwan Mikhailowitsch Kharitonow, handeln musste. Skelett 9 gehörte einem kräftigen, grobknochigen Mann über 1,83 Meter. Der Hinterkopf fehlte, und die Zähne waren in keinem guten Zustand. Von vorn nach hinten ging eine Stichwunde durch den Brustknochen. Ich glaube aber nicht, dass dieser Brustknochen zum restlichen Skelett gehört. Für das Skelett gilt, dass die robuste Größe der Knochen mit den Beschreibungen übereinstimmt, die wir von Trupp, dem Kammerdiener des Zaren, haben. Im Verlauf unserer Untersuchungen entdeckten wir eine Vielzahl von Übereinstimmungen zwischen dem Zustand der einzelnen Skelette und den Berichten über die Hinrichtung. Wodurch wir letztlich zweifelsfrei sagen konnten, dass es sich um die Zarenfamilie und ihre Dienerschaft handeln musste. Am Ende bildeten die untersuchten Skelette ein aussagekräftiges Netz von Indizienbeweisen. Lediglich die Skelette von Alexei und Anastasia fehlten. In seinem Bericht schreibt Jurowsky darüber, dass er neben der Grube noch zwei weitere Leichen verbrannte: die einer Frau und eines Mannes. Zunächst hielt Jurowsky die weibliche Leiche für die Zarin, später korrigierte er sich, es müsse sich wohl doch um das Mädchen Demidowa gehandelt haben. Eine Verwechslung, die eine Vielzahl von Menschen hoffen ließ, Anastasia sei noch am Leben. Wenn man jedoch in Betracht zieht, dass die Leichen bereits drei Tage in der Sommerhitze gelegen hatten und ihre Gesichter zertrümmert worden waren, erscheint eine Verwechslung als plausibel. Die Leichen waren nackt und konnten anhand ihrer Kleidung nicht mehr unterschieden werden. Die Hitze hatte sie aufgebläht, die Gesichter waren eingeschlagen und blutverschmiert. Eine einwandfreie Identifizierung ist unter solchen Umständen äußerst schwierig. Erschwerend kommt 211

hinzu, dass Jurowsky unter Zeitdruck stand, sich die Opfer also bestimmt nicht mehr genau angesehen hat. Wie ich eingangs erwähnte, gibt es von Nikulin, dem Leutnant Jurowskys, sogar eine Tonbandaufzeichnung, in der er über die Hinrichtung berichtet. Auf die Frage, ob Anastasia den Kugeln vielleicht ausgewichen sei, antwortete er kalt: »Sie starben alle.« Ich fürchte, wir müssen ihm Glauben schenken. 1993 ergaben in Großbritannien durchgeführte DNA-Tests Sensationelles: Die DNA Prinz Philips stimmte zu 98,9 Prozent mit der der Romanow-Knochen überein! Die Verwandtschaftsbeziehungen sind eindeutig und gehen auf Königin Viktoria zurück. Alexandra, die Frau des Zaren, und Prinzessin Viktoria von Hessen waren Schwestern und Enkelinnen der Königin. Prinz Philip, Enkel von Prinzessin Viktoria, musste daher die gleichen Erbinformationen aufweisen wie seine Mutter und ihre Vorfahren. Lassen Sie mich die Zusammenhänge etwas genauer erklären. Wir müssen zwei verschiedene Arten DNA unterscheiden: die nukleare DNA im Zellkern (lat. nucleus = Zellkern), die den allergrößten Teil unserer Erbinformationen enthält, und die mitochondriale DNA. Erstere geht während des Verwesungsprozesses schnell verloren, sodass es praktisch unmöglich ist, intakte nukleare DNA aus Leichen zu isolieren. Bakterien überschwemmen die Leiche, Fliegen legen ihre Eier ab und verunreinigen so den Körper mit ihrer eigenen DNA. Im Gegensatz zur nuklearen DNA kommt die mitochondriale DNA nicht im Zellkern vor, sondern in sogenannten Mitochondrien, die in großer Zahl als ›Kraftwerke‹ der Zelle im Zellsaft schwimmen. Diese Mitochondrien werden immer nur von der Mutter vererbt. Bei der Befruchtung von Samen und Eizelle bricht der Schwanz des Spermiums, der die väterlichen Mitochondrien enthält, ab, die Mitochondrien des Vaters gehen also verloren. Im Gegensatz dazu werden die Mitochondrien der mütterlichen Eizelle bei den nach der Befruchtung einsetzen212

den Zellteilungen auf alle Zellen vererbt. Und zwar ohne Veränderung von einer Generation zur nächsten. Veränderungen der mitochondrialen DNA sind selten, in 4000 Jahren kommt es durchschnittlich zu einer Veränderung (Mutation). Mit der sogenannten PCR-Methode (engl. für Polymerase Chain Reaction), deren Erklärung hier zu weit führen würde, vermehrte man DNA, die man aus den Knochen der Romanows isoliert hatte, und verglich sie mit der DNA Prinz Philips. Glücklicherweise müssen bei einer solchen Analyse nicht alle der 16 569 Basenpaare, aus denen die mitochondriale DNA besteht, analysiert werden. Die Analyse kann sich auf die sogenannte ›hypervariable Region‹ beschränken. Eine solche Analyse wird selbstverständlich mithilfe von Computern durchgeführt. Dr. Mary-Claire King von der University of California überprüfte die Proben, die wir aus Jekaterinburg mitgebracht hatten, und bestätigte die Ergebnisse der Briten. Damit war einwandfrei bewiesen, dass es sich um Skelette der Zarenfamilie handelte. Hätte sich Anna Anderson, die sich zeitlebens für Anastasia hielt, nicht einäschern lassen, könnten wir heute die Wahrheit beweisen. Eine Kommission in Russland wird sich mit unseren Untersuchungsergebnissen auseinandersetzen, und ich denke, dass letztlich die DNA-Tests der Briten den Ausschlag geben werden. Dann werden die sterblichen Überreste der Romanows wohl in St. Petersburg beerdigt werden. Eine Fußnote gibt es noch zu dieser langen, außergewöhnlichen Geschichte. Während meiner Arbeit kam ich zu dem Schluss, dass die Arme und der durch Bajonettstiche verletzte Brustknochen von Skelett 9 (Kammerdiener Trupp) eigentlich zu Skelett 4, also dem Zaren, gehören. Die Knochen müssen im Verlauf der Jahre durcheinander gekommen sein. Ich habe die Russen über diesen Sachverhalt informiert, sie schienen mir auch zu glau213

ben, aber keiner scheint für die Korrektur zuständig zu sein. So werden die Arme des Dieners dem Zaren wohl auch noch im Tod dienen.

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16 »Diese kurzen Zeilen und unsere toten Körper« »Das Gefäß ist leer, die Hüllen abgefallen. Wir, die dich lange getragen, werden überdauern. Noch eine Nacht und noch einen Tag.« So die Knochen in mir sagen. Daher sollen sie befolgen meinen Willen, Jetzt, solange ich noch ihr Herr bin. Solange Körper und Seele noch Kraft haben, Sollen sie antreiben diese störrischen Sklaven. Bevor das Feuer des Verstandes erlischt, Der Rauch der Gedanken weggeblasen ist, Und lassen in immerwährender Nacht allein Das standfeste und bleibende Gebein. A. E. HOUSMAN (1859-1936), Der unsterbliche Teil

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Während ich diese Zeilen schreibe, ist es Frühling, Anfang März. Die Azaleen beginnen zu blühen, und die Studenten radeln fröhlich über den Campus. Doch es hat auch andere Zeiten gegeben; damals, im August 1990. Ich erinnere mich an die Studenten, vier Frauen und einen Mann, die damals teuflisch gequält, misshandelt und ermordet wurden. Eine der Frauen wurde geköpft und ihr Kopf auf ein Bücherregal in der Nähe ihrer Wohnungstür gelegt. Insgesamt erlitten die Opfer einundsechzig Stichwunden, Schnitte und andere Verletzungen. Es waren Sonja Larson, 18, Christy Powell, 17, Christa Hoyt, 18, Tracy Paules, 23, und Manny Taboada, 23. Die Angst, die die Morde auslösten, war so groß, dass viele Kommilitonen die Stadt verließen. Heute haben die Geschworenen den Mörder zum Tode verurteilt. Danny Harold Rolling, ein Landstreicher, hatte sich des fünffachen Mordes und der dreifachen Vergewaltigung für schuldig erklärt. Meine Rolle in diesem Fall war relativ klein. Der Leichenbeschauer, Dr. Hamilton, hatte mich gebeten, die Verletzungsspuren auf den Knochen der Opfer zu analysieren. Eine meiner besten Studentinnen, Dana Austin-Smith, half mir dabei. Knochen sagen oft mehr über die Mordwaffe aus als die Haut oder anderes Gewebe. Haut kann sich dehnen, verdrehen, und während des Verwesungsprozesses verschwindet sie ganz. Knochen aber dokumentieren die Verletzungen bis weit über den Tod hinaus. Wir fanden heraus, dass die Morde mit einem großen Messer verübt worden sein mussten. Der Griff hatte auf dem Rücken eines Opfers einen Abdruck hinterlassen, und die Spitze war am Brustkorb wieder ausgetreten. Das heißt, das Messer war auf einer Länge von 20 cm in den Körper des armen Mädchens 216

eingedrungen. Wenn wir die Kompression des Brustkorbes infolge der Gewaltanwendung mit berücksichtigen, könnte die Klinge auch etwas kürzer gewesen sein; ca. 18-20 cm. Wir fertigten von den betroffenen Knochen Abgüsse an und untersuchten diese unter dem Mikroskop. Ich entdeckte scharfe Einschnitte und auch stumpfe, die vom Klingenrücken stammen mussten. Auf einem Wirbelkörper konnten wir deutlich eine punktuelle Markierung erkennen, die das Messer beim Eintritt in den Körper verursacht haben musste, und eine Ansammlung von Knochenwunden, aufgrund derer wir uns genauere Vorstellungen von der Breite der Klinge machen konnten. Schließlich konnten wir mit Gewissheit sagen, dass die Mordwaffe ein Messer von ca. 18-20 cm Klingenlänge und 3,2-3,8 cm Breite war. Die Klinge war scharf und glatt, ihr Querschnitt ähnelte einem länglichen Fünfeck. Sie musste dick sein, denn sie war durch stabile Knochen gegangen, ohne zu schwingen. Auf den Knochen hatten wir keinerlei Anzeichen von sogenanntem ›Klingenschwingen‹ entdecken können – ein technischer Begriff, der ein bestimmtes Schnittmuster beschreibt, das von dünnen Klingen hervorgerufen wird. Wir überlegten lange, um welche Art Messer es sich handeln könnte. Wahrscheinlich um ein Armeemesser. Dr. Hamilton bat mich um eine möglichst genaue Angabe. War es ein Air Force Survival Messer gewesen? Ich verneinte. Diese Messer sind auf dem Klingenrücken, der nur 12,7 cm lang ist, gezackt. Konnte es ein Marine Corps Utility Messer, ein Ka-Bar, gewesen sein? Dies schien mir sehr wahrscheinlich. Dennoch bereitete mir die Frage eine schlaflose Nacht. Am nächsten Morgen ging ich in eine Waffenhandlung, ließ mir ein Ka-Bar zeigen und maß es aus. Jetzt war ich sicher, dies musste die Mordwaffe sein. Später recherchierte die Polizei, dass Rollings einige Wochen vor den Morden tatsächlich ein Ka-Bar gekauft hatte – das allerdings bis heute nicht aufgetaucht ist. Das Gericht gestattete dem Staatsanwalt, als ›Beweisstück‹ 217

ein Ka-Bar beizubringen sowie die Originalknochen der Opfer, die man während der Autopsie entfernt hatte, um die grausamen Spuren des Verbrechens belegen zu können. Die Photos der Opfer waren teilweise geschwärzt, da das Gericht sie für zu grausam hielt. Ich muss offen zugeben, auch für einen Menschen wie mich, der durch seine Arbeit viele schreckliche Dinge zu Gesicht bekommt, dokumentieren diese Photos eine außergewöhnliche Brutalität. Rolling wurde erst im November 1992, also zwei Jahre nach den Verbrechen, mit den Morden in Verbindung gebracht. Er hatte sich selbst angezeigt und behauptet, er sei zu den Morden getrieben worden, weil man ihn als Kind misshandelt habe. Später machte er keinerlei Aussagen mehr, vielleicht hoffte er, alle Spuren ›fachmännisch‹ verwischt zu haben. Er hatte wirklich ›saubere‹ Arbeit geleistet. Bis auf ein Stück Klebeband, das er zum Fesseln der Opfer verwendet hatte, hatte er alles beseitigt. Zwei Leichen hatte er sogar gewaschen. Dennoch fand die Spurensicherung Spermaspuren und konnte nachweisen, dass sie von Rolling stammten. Als er im Gerichtssaal mit dem Messer und den Knochen konfrontiert wurde, gab er auf … Ich habe diesen Fall bewusst ans Ende meines Buches gesetzt. Denn er zeigt noch einmal, welche Möglichkeiten die forensische Anthropologie hat. Gemeinsam mit Dr. Hamilton konnten wir ein Netz wissenschaftlicher Indizien um Rolling legen und zuziehen. Wir können mit unserer Arbeit die Toten nicht wieder lebendig machen, aber durch uns können sie ›sprechen‹, ›anklagen‹ und den Täter überführen. Wenn auch die Gewissheit, dass der Schuldige seine gerechte Strafe bekommt, nur ein schwacher Trost für die Angehörigen ist. Unsere Erkenntnisse wachsen mit jedem gelösten Fall. Wir lernen mehr über die Psyche der Täter, ihre Waffen und Methoden. Vielleicht – eine kleine Hoffnung, die ich habe – wirkt 218

unsere Arbeit ja auch abschreckend, denn der ›perfekte Mord‹ ist nahezu unmöglich. Es sind weniger die Ermittler von Polizei und FBI als die Gerichtsmediziner und forensischen Anthropologen, die den Verbrechern das Handwerk legen. Wir rasen nicht durch die Straßen von San Francisco, sondern arbeiten in Laboratorien, wie dem C. A. Pound Human Identification Laboratory. Dennoch habe ich gelegentlich Zweifel. Wer wird mich und meine Kollegen und Kolleginnen, von denen ich Ihnen einige kurz vorstellen konnte, ersetzen? Wer übernimmt nach meiner Pensionierung meine Studenten? Ich weiß es nicht. Während ich am Manuskript der amerikanischen Originalausgabe schrieb, warteten im Labor 48 verkohlte Leichen, die man aus dem abgebrannten Haus der Davidianer-Sekte in Waco geborgen hatte. Mein Kollege Clyde Snow hielt sich in Mexiko auf, um zu klären, ob die Leichen ermordeter zapatistischer Revolutionäre von der mexikanischen Armee ermordet wurden. Und auch die Massengräber in Bosnien schreien geradezu nach Aufklärung. Dennoch gibt es an amerikanischen Universitäten kaum Programme für forensische Anthropologie. Dabei könnten sich größere Staaten wie Texas, Florida, Kalifornien, New York etc. leicht mehrere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen leisten. Ich fürchte, der Bedarf ist groß. Allein in Florida könnten wir, es ist bittere Wahrheit, aufgrund der hohen Mordund Selbstmordrate sechs Stellen für forensische Anthropologen einrichten. Wenn ich solchen Gedanken nachgehe, fällt mir immer der Spruch über dem Türsturz des Leichenschauhauses von New York City ein: Taceant Colloquia. Effugiat Risus. Hic Locus Est Ubi Mors Gaudet Succurrere Vitae. (Unnötiges Geschwätz verstumme. Verbannt das Gelächter. Hier ist der Ort, an dem der Tod mit Freude dem Leben beisteht.) 219

Ich habe keinen Platz für eine Inschrift über meiner Labortür, doch wenn, würde ich die folgenden Worte des britischen Polarforschers Robert Falcon Scott wählen: Hätten wir überlebt könnte ich eine Geschichte über die Kühnheit die Ausdauer und den Mut meiner Reisegefährten erzählen, die das Herz eines jeden Engländers rühren würde. Diese kurzen Zeilen und unsere toten Körper erzählen nun die Geschichte. Das haben sich meine Kollegen und ich zur Aufgabe gemacht, die toten Körper sprechen zu lassen, damit sie uns ihre Geschichte erzählen.

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Dank

Mein größter Dank gilt meiner Frau Margret. Es gibt wohl keine Geschicktere und Erfahrenere, wenn es darum geht, Blutflecken zu entfernen. Seit Jahren unterstützt sie meine Arbeit mit Rat und Tat. Dank ihrer habe ich den Bezug zur lebendigen Welt nie verloren. Wir trafen uns in Fräulein Berrys Spanischkurs in meinem zweiten Jahr an der Noth Dallas High School. Am Ende des Jahres schloss Fräulein Berry einen Handel mit mir ab: Sie würde mir ein C geben, wenn ich verspräche, niemals mehr Spanisch zu belegen. Bereitwillig stimmte ich zu. Die Sprache Cervantes’ und Calderons beherrschte ich zwar nie, aber ich traf Margret. Wir heirateten 1955 und während all dieser Jahre motivierte mich meine Frau zu immer größeren Anstrengungen. Sie war es, die mich überredete, eine Tätigkeit in Afrika anzunehmen, um über Paviane zu arbeiten und sie mitzunehmen, obwohl sie im fünften Monat schwanger war. Unsere beiden Töchter, Lisa und Cynthia, sind in Afrika geboren. Margret war immer die aktivere und abenteuerlustigere von uns beiden, und ihr Mut sowie ihre Geduld mit der absonderlichen Seite meiner Arbeit erstaunt mich immer wieder. Es gibt auch sicherlich wenig Frauen, die während eines Diavortrages über die fortschreitende Tätigkeit von Maden auf dem menschlichen Gesicht, ruhig sitzen bleiben, wie Margret auf einer Tagung der American Academy of Forensic Scientists. Ihr klarer Verstand und ihr großes Herz haben mich mein ganzes Berufsleben begleitet. Ohne meine Frau wäre ich vielleicht nur ein Knochenvermesser geworden. Weiterer Dank gilt meinen Lehrern und wissenschaftlichen 221

Weggefährten: Tom McKern, Clyde Snow, Michael Baden, Lowell Levine, Doug Ubelaker, William Hamilton, Wallace Grace, Joe Davis, Curtis Mertz, Bob Benfer, Bill Goza. Insbesondere ohne die Hilfe der Leichenbeschauer in Florida, Wallace Graves und Joe Davies, wäre meine Geschichte dürftig ausgefallen. Besonders erwähnt werden muss auch Curtis Mertz aus Ashtabula in Ohio, der mir half, das Meek-JenningsPuzzle aufzulösen. Mertz sammelte in diesem verworrenen Fall alle Informationen über die Zähne, die postmortalen Überreste und die Röntgenaufnahmen, die vor dem Tod der Opfer angefertigt worden waren. Wir arbeiteten als Team, und die letzten überzeugenden Identifizierungen anhand der Zähne sind sein Verdienst. Besonderen Dank schulde ich auch Bob Benfer, der mich auf historische Fälle aufmerksam machte; Bill Goza, Forscher und bewundernswerte ›Quelle‹; der Wentworth Foundation und der Verwaltung der University of Florida. C. Addison Pound Jr., Stifter des Labors, das seinen und den Namen seiner Eltern trägt, gab mir die Möglichkeit, meinen Interessen nachzugehen. Seine fortwährende Unterstützung des Labors ist ein leuchtendes Beispiel dafür, wie eine Privatperson Einfluss auf die Verbrechensbekämpfung nehmen und den Opfern helfen kann. Margrets Hilfe war für mich unschätzbar, sie las das Manuskript korrektur und machte viele nützliche Vorschläge. Einige der Photos in diesem Buch sind von ihr, bei den anderen sorgte sie für die Beschaffung. Die Yale’s Beinecke Library stellte mir ein Photo von den Töchtern des Zaren zur Verfügung, wofür auch ihren Mitarbeitern Dank gebührt. Dr. Alexander Avdonin danke ich für seine Hilfe und Gastfreundschaft. Seiner Hilfe haben wir es zu verdanken, dass wir die Skelette der Zarenfamilie analysieren konnten. Gemeinsam danken wir unserer Literaturagentin Esther Newberg und unseren Lektoren beim amerikanischen Verlag 222

Doubleday Bill Thomas und Rob Robertson, die das Manuskript mit Geduld und Argusaugen gelesen haben. William R. Maples, Ph. D. Michael C. Browning

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