Interventionskultur: Zur Soziologie von Interventionsgesellschaften
 9783531163024, 3531163027 [PDF]

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Zitiervorschau

Thorsten Bonacker · Michael Daxner Jan H. Free · Christoph Zürcher (Hrsg.) Interventionskultur

Thorsten Bonacker · Michael Daxner Jan H. Free · Christoph Zürcher (Hrsg.)

Interventionskultur Zur Soziologie von Interventionsgesellschaften

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

. 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Ten Brink, Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN 978-3-531-16302-4

Inhalt

Michael Daxner, Jan Free, Thorsten Bonacker und Christoph Zürcher Einleitung ...............................................................................................................7 Christoph Zürcher Der verhandelte Frieden: Interventionskultur und Interaktion in Nachkriegsgesellschaften .....................................................................................19 Conrad Schetter Von der Entwicklungszusammenarbeit zur humanitären Intervention Die Kontinuität einer Kultur der Treuhandschaft ................................................31 Jan Free Wege zu einer Soziologie moderner Friedenseinsätze .........................................49 Michael Daxner Das Konzept von Interventionskultur als Bestandteil einer gesellschaftsorientierten theoretischen Praxis .....................................................75 Susanne Buckley-Zistel Globale Rechtsprechung, lokale KonÀikte Der Internationale Strafgerichtshof als friedensstiftende Maßnahme in Uganda? ......................................................................................101 Werner Distler Die Bedingungen der Intervention: Interaktion in einer Ausnahmesituation............................................................................................. 119

6 Gabriel Motzkin Israel, Palästina und militärisch unterstützte humanitäre Interventionen ....................................................................................................141 Silvia Nadjivan EinÀuss der NATO-Bombardements 1999 auf den Regimewechsel .................149 Thorsten Gromes Probleme der Komplexität, Koordination, Konsistenz und Beendigung von Interventionen .........................................................................173 Thorsten Bonacker Die Gesellschaft der Anderen Kambodscha und die Interventionskultur der Weltgesellschaft .........................189 Jan Koehler Empirische Interventionsforschung – eine Problemannäherung für den Fall Afghanistan.....................................................................................219 Klaus Schlichte und Alex Veit Drei Arenen Warum Staatsbildung von außen so schwierig ist..............................................261 Autorinnen und Autoren ....................................................................................269

Einleitung Michael Daxner, Jan Free, Thorsten Bonacker und Christoph Zürcher

Durch das Ende der Blockkonfrontation hat die etwas diffuse internationale Gemeinschaft eine größere Handlungsfreiheit erhalten. Einerseits wenden die Akteure der internationalen Politik häu¿ger militärische Gewalt an, um lokale KonÀikte zu entschärfen oder zu beenden. Andererseits endet heute der Handlungsauftrag der internationalen Gemeinschaft nicht mehr damit, dass in der KonÀiktregion ein Waffenstillstand herbeigeführt und durchgesetzt wird. Vielmehr soll das Einmischen der internationalen Akteure die sozialen und politischen Strukturen am Ort des Einsatzes derart verändern, dass nicht erneut Gewalt ausbricht. Kurzum: Vor 1989 sollten KonÀikte solange eingefroren werden, bis sich die streitenden Parteien einigten, nach 1989 soll nicht nur der KonÀikt beendet, sondern auch gleich die Streitenden ausgetauscht werden. Statt um Peace-Keeping und PeaceEnforcement geht es heute um multidimensionales Peace-Building, um State- und Nation-Building: Neue Staaten mit neuen Formen der sozialen Organisation sollen an Stelle der alten treten, weil angenommen wird, dass diese alten Formen derart mangelhaft waren, dass sie aus sich heraus KonÀikte und Leid hervorbringen.1 Dass diese neuen Ordnungsmuster zumindest dem Anspruch nach dem westlichen Vorbild folgen, entspricht den bisherigen Erfahrungen mit erzwungener oder freiwilliger Globalisierung (Meyer, 2005; s. auch Conrad Schetters Beitrag im vorliegenden Band) und sollte deswegen nicht überraschen. Ob diese neue Dimension der internationalen Einmischung legitim ist oder nicht, wollen wir in diesem Sammelband nicht diskutieren – dieser Frage haben sich bereits andere Autoren gewidmet (bspw. Barnett & Weiss, 2008; Chesterman, 2001; Hinsch & Janssen, 2006). Ausgangspunkt unserer Überlegungen ist, dass Interventionen, wenn sie neue, bessere Gesellschaftsformen hinterlassen sollen,2 diese Operationen nicht nur aus politischer und militärischer Perspektive 1 Dieser Wandel wurde in zahlreichen Werken dargestellt, z. B. (Doyle & Sambanis, 2006; Hippler, 1996, 2004; Holzgrefe & Keohane, 2003; Rambotham, Woodhouse, & Miall, 2005; Weiss, 2007). 2 Es sollte nicht übersehen werden, dass auch humanitäre Interventionen nach Hunger- oder Naturkatastrophen zumeist Elemente von Verwestlichung enthalten (überspitzt, aber anschaulich: Bello, 2006). So wenden Hilfsorganisationen in Notfällen zumeist ein Standardprogramm an, dass die jeweiligen lokalen Gegebenheiten, Kapazitäten und Bedürfnisse oft nicht berücksichtigt (Telford & Cosgra-

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untersucht werden müssen, sondern auch aus einer soziologischen: Wenn Gesellschaften „gebaut“ werden sollen, sollten Gesellschaftswissenschaftler sich dafür interessieren. Gewiss ist der Gedanke einer „Soziologie humanitärer Interventionen“ (Nederveen Pieterse, 1997) nicht neu. Von älteren Arbeiten setzen wir uns aber durch unsere These ab, dass der Erfolg einer Staatsaufbau-Intervention nicht allein davon abhängt, wie sich die internationalen Akteure verhalten und welche Strategie angewendet wird. Vielmehr erklärt sich die Performanz aus der sozialen Eigendynamik der Gesellschaftsformen, die durch und während der Interventionen in der Einsatzregion entstehen. Das heißt, dass der Standardmodus der Forschungen und der politischen Kommentierung zu vereinfachend ist: Das Agieren der internationalen Akteure wird gerne als unabhängige Variable genommen und der Erfolg der Intervention als abhängige Variable, und dann werden mehrere Interventionsfälle miteinander verglichen. Diese Sicht reduziert einerseits die Intervenierten und ihre sozialen Systeme zu einer Art Black Box und blendet andererseits aus, was während der Intervention geschieht. Wie aber besonders anschaulich der Beitrag von Christoph Zuercher zeigt, ist es entscheidend, unter welchen die Bedingungen die Akteure innerhalb einer Interventionsgesellschaft stehen und wie diese Akteure miteinander agieren. Die Artikel des vorliegenden Sammelbands widmen sich deswegen diesen internen Prozessen – sowohl hinsichtlich theoretischer Aspekte als auch in Form von Fallstudien. Häu¿g nehmen Beobachter von Interventionen an, dass zwei homogene Akteursblöcke aufeinander treffen, zeitlich begrenzt interagieren und anschließend wieder getrennte Wege gehen. Die Leitmetapher dieser Vorstellung ist die des Arztes, der einen Patienten behandelt (Free, 2009). Zu Beginn unserer Auseinandersetzung mit der Soziologie von Interventionen stand die Einsicht, dass die Wirklichkeit nicht ganz so einfach ist, wie es diese Metapher anzeigt. Grundlage dieser Einsicht waren folgende Überlegungen und Erfahrungen aus eigenem Mitwirken in Interventionen, die die meisten Herausgeber und Mitautoren teilen: ƒ

Überhang von Idealismus in der Planungsphase: Interventionen beginnen mit idealistischen Zwecksetzungen (Befreiung, Wiederaufbau, Vertreibung der Diktatoren, aber auch Abhilfe bei Naturkatastrophen) und enden mit realistischen Kompromissen. Diese bergen oft den Keim erneuter KonÀikte und vielleicht Interventionen, oder sie hinterlassen ein Land oder eine Bevölkerungsgruppe in einem Zustand, der objektiv (und subjektiv schon gar und häu¿ger) schlechter ist als der Zustand vor der Intervention.

ve, 2007, S. 17). Recht bekannt ist auch die Praxis der USA, ausschließlich Nahrungsmittel aus den USA in den betroffenen Regionen zu verteilen (pointiert: Bolton, 2008, S. 204–209).

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Starker EinÀuss von interventionsfernen Diskursen: Interventionen sind wechselhafter öffentlicher Aufmerksamkeit unterworfen. Ihre Aufmerksamkeitskonjunktur ist den Regeln des Medienmarktes ebenso wie der Halbwertswertszeit von Aktualität unterworfen. In Ländern, die aktiv an der Entsendung von Truppen beteiligt sind, wie Deutschland im Kosovo oder in Afghanistan, ist die Aufmerksamkeit sicher anders als in solchen, die nur im zivilen Bereich durch Aufbauhilfe oder Teilnahme an internationaler Gerichtsbarkeit (also beispielsweise durch Rati¿zierung der Genfer Konventionen oder von Kooperationsabkommen mit Sondertribunalen) partizipieren. In der Regel beherrschen aber Legitimationsprobleme den Diskurs über die Intervention stärker als eine Diskussion der Zwecke und der Kriterien für Erfolg und Misserfolg. Das Missionsziel der Intervention entkoppelt sich von ihrem Anlass: Aufgrund der post-1989er Ausrichtung der Interventionen auf Staatsaufbau dominieren im Verlauf der Interventionen andere Probleme die Agenda in der KonÀiktregion als jener KonÀikt, wegen dem man interveniert hatte. Man interveniert, um beispielsweise eine massenhafte Vertreibung zu verhindern, und muss sich anschließend nicht nur um die Unterbringung der Flüchtlinge kümmern, sondern auch um den Wiederaufbau eines unabhängigen Justizsystems und die Bekämpfung von Korruption – Auslöser der Intervention ist eine Katastrophe oder ein konkretes Ereignis, aber heutzutage, in Zeiten der Staatsaufbau-Interventionen, ist das, was die Intervenierenden bekämpfen, Bad Governance (schlechte Regierungstätigkeit). Oft ist deswegen schon die Frage nach einer Exit-Strategie falsch gestellt, weil das Ende einer Intervention nicht länger davon abhängt, wie schnell und effektiv die humanitäre SchieÀage begradigt werden kann, die die Intervention notwendig gemacht hatte. Auch die Legitimität einer Intervention bekommt eine zeitliche Dimension: Nur weil der Anlass eine Intervention legitimiert hatte, ist nicht automatisch jedes Handeln der Intervenierenden legitim, weil Nation- und State-Building mit dem ursprünglichen KonÀikt viel loser verknüpft sind als Peace-Keeping und Peace-Enforcement. Historische Erfahrungen mit Staatsgründungen: Am Beispiel der europäischen Geschichte wurde gut herausgearbeitet, wie langwierig, ressourcenintensiv, kompliziert und konÀiktbehaftet Prozesse von Nationsbildungen und Staatsgründungen sind.3 Es ist schwer einzusehen, warum diese Prozesse in anderen Regionen einfacher und schneller ablaufen sollten, selbst wenn sie von der internationalen Gemeinschaft angeleitet und überwacht werden,

Aus den zahlreichen Veröffentlichungen zu diesem Thema seien hier nur wenige recht willkürlich ausgewählt: (Bourdieu, 2004b; Schulze, 1994; Smith, 2000).

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Michael Daxner, Jan Free, Thorsten Bonacker und Christoph Zürcher und wieso ein Vorgang, der zumeist kurzfristig erhebliche KonÀikte schafft und soziale Umwälzungen auslöst, relativ unbedarft als KonÀiktlösung propagiert wird.

Überlegungen dieser Art waren der Anlass einer Konferenz, die wir mit deutschsprachigen WissenschaftlerInnen im April 2008 in der Universität Potsdam durchführten.4 Sie war Auftakt einer intensiveren Beschäftigung mit jenem Aspekt von Interventionen, der oft in der Zielsetzung ausgeblendet wird und dann in der Praxis zum Träger all der Unwägbarkeiten und Kontingenzen wird, an denen Interventionen scheitern. Es ist der Aspekt der gesellschaftlichen Dynamik, die durch die Intervention in Gang kommt, und die zur Bildung von Interventionsgesellschaften führt. Diese Gesellschaften setzen sich aus intervenierenden und intervenierten Elementen zusammensetzen, die zur Interventionsgesellschaft integriert werden und sich nicht nur additiv auf- oder nebeneinander schichten. In Interventionsgesellschaften ¿nden sich kulturelle Mischungen und Abgrenzungen, die mit den ursprünglichen Strukturen kaum vermittelt sind: Traditionen, informelle KonÀiktregelungen und andere lebensweltliche Handlungsfelder werden verschoben, während neue, unbekannte Formen entstehen. Durch die Intervention ändern sich die sozialen Positionen in der „neuen“ Gesellschaft, weil im Vergleich zum Zeitpunkt vor der Intervention viele soziale Ressourcen und Fähigkeiten anders bewertet werden. Folglich ändern sich die Mechanismen, nach denen sozialer Status5 ausgehandelt und abgelesen wird. Oft verlieren traditionelle Annerkennungsmechanismen ihre Bedeutung in der neuen sozialen Konstellation nach der Intervention. Die neue soziale Situation der Intervention zwingt allen Beteiligten – auch den Intervenierenden – Variationen des eigenen Verhaltens auf. Es wird dadurch schwerer, das Verhalten anderer vorherzusagen, weswegen reziproke Erwartungen der beteiligten Akteure häu¿g nicht erfüllt werden. Man versucht sich im Neuen zu arrangieren, variiert – bewusst und unbewusst – das eigene Verhalten abermals, zumeist ohne überhaupt zu wissen, nach welchen Regelmäßigkeiten sozialer Status zugeschrieben wird. Diese recht blinde Variation kann zu weiteren FolgekonÀikten führen, die sich nur aus der sozialen Dynamik der Interventionsgesellschaft erklären lassen, aber nicht aus dem ursprünglichen KonÀikt, der zur Intervention geführt hatte. 4 Wir danken der Deutschen Stiftung Friedensforschung für die Förderung und Unterstützung der Konferenz. 5 Wir rekurrieren hier nicht auf eine bestimmte Theorie des sozialen Status, sondern verwenden diese Fachvokabel eher als Platzhalter für die jeweilige Schlüsselkategorie der jeweils bevorzugten Sozialtheorie. Wir machen kein Hehl daraus, dass wir in unseren Arbeiten zumeist nach Pierre Bourdieus Ansatz vorgehen, aber wir möchten die Einleitung nicht auf eine Theorie ausrichten, auch wenn es dadurch etwas ungenau wird.

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Wenn im Kosovo unmittelbar nach Übernahme der Staatsfunktionen durch UNMIK ein Journalist kritisiert, dass serbische und albanische Kinder nicht gemeinsam unterrichtet werden – weil ja multi-ethnische Perspektiven die Intervention legitimierten – dann ist das ein gutes Beispiel dafür, wie Debatten in den Entsendeländern die Legitimität einer Interventionen empirisch beschädigen können. Wenn westliche Frauen, die erkennbar für die und mit den Intervenierenden arbeiten, durch Kleidung „intervenierte Erscheinungen“ imitieren, z. B. indem sie sich mit Tschador verhüllen, kann das zu fatalen, nicht selten gewaltsamen KonÀikten führen, weil sich lokale Frauen dadurch attackiert fühlen, dass fremde Frauen zwar ein Emblem wie den Schleier tragen, sich sonst aber als schlechte Muslimas benehmen. Wenn westliche Vorstellungen von Vertragstreue und Loyalität auf lokale Realitäten von Vertrauen und Gefolgschaft stoßen, sind KonÀikte sogar programmiert. Ähnliche KonÀiktdynamiken kann man an vielen Nachkriegsgesellschaften beobachten, und sie sind heute besonders wichtig, weil die von der Intervention betroffene Bevölkerung in ebenso großem Maß Subjekt und Objekt der Intervention ist wie die Intervenierenden selbst. Das ist eine starke Hypothese, die die Sozialwissenschaften, vor allem Anthropologie und Soziologie provozieren muss. Der vorliegende Band versucht, erste Einsichten in die Binnendynamik groß angelegter humanitärer Interventionen zu geben. Daraus leiten sich zurzeit noch weniger Antworten als viele Fragen ab, die zu stellen man zu Beginn einer Intervention meist unterlässt; sei es aus Zeitdruck oder aus der Überzeugung, man kenne den Fahrplan der Intervention zur Genüge. Am Scheitern jeder Hearts and Minds-Kampagne in Afghanistan kann man die Folgen dieses Irrtums sehen. Erst seit Kurzem ist einzelnen Angehörigen des US-amerikanischen Militärs aufgefallen, dass ältere Afghanen es als beleidigend auffassen, wenn Soldaten den Kindern Süßigkeiten und Spielsachen zuwerfen. Sie würden sich wie Hunde behandelt fühlen, sagten von US-Soldaten befragte Afghanen (Wood, 2009). Aus traditioneller HöÀichkeit vor Fremden wurde dieser Ärger nur extrem selten artikuliert. Es ist bemerkenswert und unterstreicht die Notwendigkeit vermehrter sozialwissenschaftlicher Forschung, dass die üblichen, selbstverständlichen Goodwill-Maßnahmen des Militärs offenbar nie systematisch im afghanischen Kontext evaluiert wurden. Die Soziologie von Interventionsgesellschaften setzt sich mit der Struktur und den Akteuren dieser Gesellschaften auseinander. Sie verfolgt die Transformation der ursprünglichen KonÀikte in FolgekonÀikte als Ergebnis der Intervention. Und sie fragt nach der sozialen Dynamik des Zusammenwirkens von Exponenten verschiedener gesellschaftlicher Felder: Intervenierende und Intervenierte, aber auch Soldaten und Zivilisten, Repräsentanten von Staatlichkeit oder privaten Unternehmern, Angehöriger verschiedener Wertegemeinschaften etc. Dieses

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Zusammenwirken ist mehr oder weniger friedlich, mehr oder weniger kommunikativ, aber komplex und konÀiktintensiv ist es in jedem Fall. Auf der Grundlage des aktuellen Stands der Forschung verbieten sich Prognosen darüber, wie dieses Zusammenwirken im Einzelfall ausgeht. In der Tat legt es die bisherige soziologische Forschung nahe, keine großen Hoffnungen auf eine zukünftige Prognosefähigkeit zu legen, mit der kleinteilig KonÀiktdynamiken vorhergesagt werden könnten. Aus der soziologischen Sicht ist es naheliegend, keine Masterpläne oder einheitliche Strategien für Interventionen zu fordern und umzusetzen, sondern sektoral, mit kalkulierten Verlusten an Ef¿zienz und sicherlich nicht widerspruchsfrei vorzugehen. Funktionale Differenzierung scheint hier eine wichtige Voraussetzung dafür zu sein, dass nicht willkürliche Szenarien die Möglichkeiten sinnvollen und effektiven Handelns verdecken, auch wenn sie kurzfristig Beifall ¿nden sollten. „Ganzheitliche“ Ansätze sind deshalb oft zu idealistisch, weil sie im Gedankenexperiment störungs- und kontingenzfreie Umgebungen für die tatsächlich ablaufenden Handlungen projizieren. Dass diese Annahme nicht realistisch ist, weiß zwar fast jeder Akteur auf der Systemebene, es ergibt sich aber der Eindruck, dass sich nur solche Ansätze verkaufen und vermitteln lassen, weil Widerspruchsfreiheit einer Politik eine Bedingung für Glaubwürdigkeit geworden ist – sowohl in Verhandlungsprozessen innerhalb der internationalen Organisationen, als auch während des Wahlkampfs und in der Kommunikation mit der eigenen Wählerschaft. Insofern halten die tonangebenden Akteure an der Vorstellung der allgemeinen Planbarkeit von sozialen Entwicklungen während Interventionen fest. Die Analyse von Interventionsgesellschaften wird sich stets in der Spannung mit diesen normativen Ordnungsvorstellungen, wie sie im State- und Nation-Building vorherrschen, und KonÀikttheorien be¿nden. Diese Analyse muss davon ausgehen. dass sich die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen, KonÀiktregelungen und Alltagsformationen der Beteiligten deutlich von den stets normativen Vorstellungen von Zweck und Mitteleinsatz der Intervention unterscheiden. Umso wichtiger sind Dokumentation und Forschung auf jenem mikro-sozialen Feld, bei dem es fast evident ist, dass individuelle Zukunftsvorstellungen und Lebensführung nicht mit den normativen Ordnungen übereinstimmen, die durch das internationale Eingreifen auf Systemebene, oder eben makro-soziologisch vorgeben wird. Man kann dies verständlich machen, wenn man darauf hinweist, dass die Intervention KonÀikte hervorbringt, die notwendig in alltägliche Lebensgestaltung und folglich auch in tradierte KonÀiktregulierungs-Mechanismen eingreift. Es entstehen dadurch neue Symbol- und Normenkataloge, die Interaktionen regeln und möglich machen – also das, was man gemeinhin als „Kultur“ bezeichnet. Diese sich entwickelnden Sozialformen können gut an mikrosozialen Untersuchungen dargestellt werden. Eine Perspektive, in der einzelne Menschen noch sichtbar bleiben, kann leichter als eine makrosoziale Sicht zeigen, dass diese neue

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Interventionskultur selbst ein neues KonÀiktpotenzial hervorbringt, das nur bearbeitet werden kann, wenn man es kennt und nicht schon, wenn man vermutet, dass die Interventionspolitik diffuse „Spannungen“ oder „Verwerfungen“ produziert. Wir stoßen in vielen Analysen und Befunden auf ein bemerkenswertes Phänomen: Ausreichendes Datenmaterial für aussagekräftige statistische Analyse ¿nden Forscher häu¿g nur, wenn sie eine derart distanzierte Perspektive einnehmen, dass die einzelnen Interventionsfälle fast nur noch ihre Funktion als regionale Kennzeichnung behalten, aber sonst kaum noch Inhalte haben. Dann kann man mehrere Interventionen vergleichen, doch man erfährt wenig über die Zustände während einer Interventionen. Bis auf wenige Ausnahmen, die uns besonders wichtig sind und auf die wir in diesem Band mehrfach eingehen, ist die Quellenlage viele Arbeiten zu einzelnen Interventionen auf dem Niveau von gutem Journalismus. Zurzeit gilt hier noch, was auch für Journalisten gilt: Forscher sind nur so gut wie Quellen – wir ¿nden diesen Zustand nicht sehr befriedigend. Es gibt jede Menge subjektiver Erfahrungen, Gespräche, Bilder und Eindrücke, die dann mit Theorieverweisen angereichert werden, aber oft nicht empirisch veri¿ziert sind – also bloß plausibel bleiben. Dieses De¿zit an intersubjektiver Empire macht die Ergebnisse und Schlussfolgerungen angreifbar, zumal wenn der Leser die „plausiblen“, selbstverständlichen Gemeinplätze nicht akzeptiert – etwa bestimmte Vorstellungen von Dankbarkeit, Vertrauen, Kooperation und Zeitabläufen, die als Bedingungen des Erfolgs bestimmter Operationen angesehen werden. Die Home-Stories und Anekdoten, so unverzichtbar sie als Belege sein mögen, zeugen von der Unzuverlässigkeit der plausiblen, oft rezyklierten Tatbestände, die keine sind. Das ist nicht nur ein Plädoyer für mehr und genauere Feldforschung, sondern für mehr integrative anthropologische und ethnologische Anreicherungen soziologischer Methoden und für mehr Kooperation der Forscher untereinander. Doch diese Datenlage haben nicht nur die Wissenschaftler zu verantworten: Viele Interventionen sind (wie) Kriege, und es verwundert nicht, dass Regierungsstellen und Militärkommandos keine Primärdaten preisgeben. Dennoch wäre es hilfreich, würden sich deutsche und europäische Bürokratien stärker am USamerikanischen Muster orientieren und mehr Daten veröffentlichen. Auch private oder halbstaatliche Organisationen, die mit Interventionen zu tun haben, sind nicht allzu auskunftsfreudig: Viele Organisationen der Entwicklungshilfe haben offenbar wenig Sympathie für Transparenz und geben entweder keine Daten heraus oder verpacken sie in sehr unhandliche Formen (Aoi, De Coning, & Thakur, 2007; Easterly, 2006). Die Intervenierten bzw. die Gruppen der bereits bestehenden Interventionsgesellschaft wiederum sind gegenüber Befragungen und punktueller Einstellungsforschung zu recht misstrauisch, wenn solche Methoden überhaupt angewandt werden können. Der modellhafte Glücksfall war Pierre Bourdieu im Algerienkrieg um 1960: Da sitzt ein Sozialwissenschaftler mitten in der Interven-

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tion, noch dazu in der Statistikabteilung, und niemand fragt, ob er für seinen Vorgesetzten oder für seine Forschung Daten erhebt (Bourdieu, 2002, 2004a; Grenfell, 2006). Weil aber heute Kriege auch Informationskriege sind, sind die Schotten dicht, obwohl die Informationstechnik uns vieles erleichtern sollte. Die meisten Beiträge dieses Sammelbands be¿nden sich an jener prekären Grenze zwischen so genannter Grundlagenforschung und angewandter Analyse, nahe der Politikberatung. Viele Beiträge sind an dieser Grenze entstanden, entweder im Kontext akademischer Quali¿kation oder im Ergebnis von Forschungen und Beratungstätigkeiten am Ort einer Intervention bzw. ihrer nachträglichen Analyse. Die Rückbindung an Theorie und Hypothesenbildung macht aber das verbindende Element aller Beiträge aus. Sowohl unsere Potsdamer Tagung als auch die meisten Aufsätze in diesem Band zeigen: Die Gesellschaften, die als Ergebnis von Interventionen entstehen (und oft wieder vergehen), sind einem Wandel unterworfen, der nicht an traditionelle Muster sich verändernder Staatlichkeit und sich verändernder Gesellschaft gebunden sind. Nichts funktioniert so, wie man es sich von einem entstehenden Staat erhofft, aber es funktioniert, anders und oft unerwartet. Jede Regierungstätigkeit kann große moralische und pragmatische Probleme eröffnen, wenn sie nicht an die normativen Rahmensetzungen einer legitimen Staatlichkeit gebunden ist; denken wir an die Organisation von Dorfgemeinschaften, die von den Taliban oder lokalen Warlords abhängig sind (s. Jan Koehlers Beitrag im vorliegenden Band). Oft erfahren die Intervenierten konkrete Nachteile, wenn die Intervenierenden über ihre Lebenswelten, ihre Erfahrungen und Traditionen und auch über ihre Muster lokaler KonÀiktregelung hinwegsurfen. Es ist nicht einfach nur komisch oder absurd und ein bizarrer Ausdruck einer sich ausbreitenden westlich dominierten Weltkultur, wenn in einer Debatte zur Hochschulreform in Kabul das amerikanische Credit-Transfer System diskutiert wird. Hier wird vom Endzustand der gewollten Interventionsergebnisse her diskutiert. Damit wird aber der Entwicklungsprozess abgeschnitten, den „eigentlich“ die Intervenierten durchmachen sollen (Ownership), um ihr erzieltes Ergebnis mit der internationalen HochschulCommunity zu verhandeln. Die vielen anekdotischen Beispiele für die Nachteile verdichten sich bei den beiden Akteursgruppen ganz unterschiedlich, weil sie ja kollusiv in der Interventionsgesellschaft zusammengebunden sind: Wo die Intervenierten den dauernden und impertinenten Korruptionsvorwurf als Demütigung und Behinderung ihrer eigenen Selbstverständigung emp¿nden, brauchen ihn die Intervenierenden als Rechtfertigung dafür, dass sie sich in entscheidenden Fällen über die Rechte und Bedürfnisse der Intervenierenden hinwegsetzen, und dann die mangelnde Bereitschaft derselben, Eigenverantwortung zu übernehmen, beklagen. Solche Beispiele zeigen vor allem, dass die Forschung von einer mikrosoziologischen Perspektive ausgehen muss, die weder den AusgangskonÀikt noch

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alle FolgekonÀikte der Intervention kongruent abbildet; aber genau hier entstehen Vertrauen, Respekt, und ein kollektives Selbst, ein Wille zur Emanzipation. Wir haben dies in so vielen Interventionen festgestellt, dass man hier einen World Polity-Ansatz durchaus vertreten kann: Was die Bedeutung der sozialen Dynamiken angeht, sind Interventionsgesellschaften strukturell einander ähnlicher als die Akteure in jedem einzelnen KonÀiktfall. Oder anders: Es gibt eine Interventionskultur, die sich in jedem Interventionsfall nachweisen lässt. Diese These ist zu schwergewichtig, als dass wir sie in der Einleitung eines Sammelbandes beweisen könnten. Hierin zeigt sich eines der wichtigsten Desiderate der Forschung zu Interventionen: Wir sollten heraus¿nden, was transkulturell und transnational die Strukturmerkmale von Interventionsgesellschaften sind, aus denen wir dann aussagekräftige Kriterien zur Bewertung von Interventionen entwickeln können. Doch soweit wird dieser Sammelband seine Leser nicht führen; die Forschungsausrichtung, die wir hier vorstellen, ist noch zu jung. Die in diesem Band versammelten Forscher arbeiten folglich zumeist noch an den genauen Problemdiagnosen und den sich daraus ergebenen Operationalisierungen von Forschungsprojekten. Der Zweck des Buchs ist dementsprechend nicht, dicht an dicht Ergebnisse zu präsentieren, sondern den Lesern Einblicke in soziale Prozesse während einzelner Interventionen zu verschaffen, in denen die systematischen Einzelbeobachtungen an das soziale Ganze zurückgebunden wird. Auch zielt das Buch darauf ab, dass dadurch, dass Forscher sich über ihre laufenden Forschungen austauschen, sie ihre Vorhaben leichter und besser koordinieren können. Die thematische Bandbreite der Artikel ist dementsprechend groß. Sie reicht von theoretischen Abhandlungen über historischen und sozialpsychologischen ReÀexionen bis hin zu feldforschungsgesättigten Detailanalysen. Einige Texte konzentrieren sich auf die soziale Binnendynamik einer Intervention, während andere Texte untersuchen, welchen EinÀuss Diskurse in den Entsendeländern auf die Ereignisse am Ort der Intervention haben. Eine gemeinsame Methode haben die Beiträge nicht. Aber was sie verbindet, ist die Einsicht, dass man genau hinschauen muss, wie soziale Strukturen sich bilden und wie sich verändern, wenn man Interventionen realistisch beschreiben will. Der Wert solcher Beschreibungen sollte nicht unterschätzt werden. Interventionen treffen nicht auf Strukturen, sondern auf Menschen und Menschengruppen, deren Eigenschaften vielen Intervenierenden grundsätzlich fremd sind, bzw. fremd sein müssen. Wenn wir in einigen Interventionsgesellschaften – Afghanistan, Somalia – mehrere Generationen von jungen Menschen antreffen, die noch nie Frieden erfahren haben, deren Vorstellungen also noch nicht durch den Wunsch nach Nicht-Krieg geprägt sind, weil dieser eben schwer vorstellbar ist, dann ist das Herausführen aus diesem Zustand nur innerhalb der Interventionsgesellschaft, aber nicht von außen möglich. Auf das Handeln in diesen Interventionsgesellschaften

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bereiten die Texte in diesem Band auch vor, mit dem Blick immer darauf gerichtet, was geschieht, wenn aus Intervenierten wieder eine selbstbestimmte Gesellschaft wird. Der Dank der Herausgeber gilt den Mitgliedern der Arbeitsstelle Interventionskultur an der Universität Oldenburg und allen Mitarbeiterinnen im Sekretariat, der Deutschen Stiftung Friedensforschung, dem Sonderforschungsbereich 700 an der Freien Universität Berlin und dem Lektorat und der Betreuung beim VSVerlag Wiesbaden. Literatur Aoi, C., De Coning, C., & Thakur, R. (2007). Unintended consequences, complex peace operations and peacebuilding systems. In C. Aoi, C. De Coning & R. Thakur (Hrsg.), Unintended consequences of Peacekeeping Operations (S. 3–19). Tokyo: United Nations University Press. Barnett, M., & Weiss, T. G. (Hrsg.). (2008). Humanitarianism in Question. Politics, Power, Ethics. Ithaca, NY: Cornell US. Bello, W. (2006). The rise of the relief-and-reconstruction complex. Journal of International Affairs, 59(2), 281–296. Bolton, G. (2008). Aid And Other Dirty Business. London: Random House. Bourdieu, P. (2002). Ein soziologischer Selbstversuch. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourdieu, P. (2004a). Algerian landing. Ethnography, 5(4), 415–443. Bourdieu, P. (2004b). From the King’s House to the Reason of State: A Model of the Genesis of the Bureaucratic Field. Constellations, 11(1), 16–36. Chesterman, S. (2001). Just War or Just Peace? Humanitarian Intervention and International Law. Oxford: Oxford US. Doyle, M. W., & Sambanis, N. (2006). Making War & Building Peace. United Nations Peace Operations. Princeton, NJ: Princeton US. Easterly, W. (2006). The White Man’s Burden. Why the West’s Efforts to Aid the Rest Have Done So Much Ill and So Little Good. New York: Penguin. Free, J. H. (2009). Was bringt Bourdieus Soziologie der Analyse von PostkonÀikt-gesellschaften? In Deutsche Gesellschaft für Soziologie (Hrsg.), Tagungsband 34. Kongress der DGS. Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften (in Druck). Grenfell, M. (2006). Bourdieu in the Field: From the Bearn and to Algeria – A Timely Response. French Cultural Studies, 17(2), 223–239. Hinsch, W., & Janssen, D. (2006). Menschenrechte militärisch schützen. Ein Plädoyer für humanitäre Interventionen. München: Beck. Hippler, J. (1996). Das langsame Austrocknen des humantiären Interventionismus. In T. Debiel & F. Nuscheler (Hrsg.), Der neue Interventionismus. Humanitäre Einmischung zwischen Anspruch und Wirklichkeit (S. 77–102). Bonn: Dietz.

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Der verhandelte Frieden: Interventionskultur und Interaktion in Nachkriegsgesellschaften Christoph Zürcher

Peacebuilding-Missionen seit dem Ende des Kalten Kriegs zielen nicht nur auf die Herstellung von Frieden ab, sondern ebenso auf die Schaffung demokratischer Strukturen. In der Regel sind robuste und gut ausgestattete Peacebuilding-Missionen in der Lage, Kriege zu beenden, doch nur selten gelingt es darüber hinaus, auch demokratische Strukturen aufzubauen. Eine Analyse von 17 kürzlich erfolgter UN Peacebuilding-Missionen zeigt, dass es nur in jedem dritten Interventionsland zu einem signi¿kanten Anstieg von Demokratie (gemessen als ein Anstieg von drei oder mehr Punkten auf der Polity IV Skala) während der ersten fünf Jahre der Mission kommt. Nur jedes dritte Land erreicht ein demokratisches Niveau, das vergleichbar ist mit dem durchschnittlichen Demokratieniveau in der jeweiligen Region (Zürcher 2006). Andere Autoren kommen zu ähnlichen Ergebnissen. So ¿ndet Page Fortna (2006) keinen nennenswerten Effekt von Peacebuilding auf Demokratisierung. Sie führt diesen Befund darauf zurück, dass sich die positiven und negativen Wirkungen von Peacebuilding gegenseitig aufheben. Zumindest kurzfristig würden sich die zwei Ziele von Peacebuilding – Stabilität und Freiheit – grundsätzlich widersprechen. Eine ähnliche Argumentation verfolgen Paris und Sisk (2008), die ebenfalls auf die zahlreichen Dilemmata von Peacebuilding verweisen. Die Forschung zu Peacebuilding hat eine Reihe von Faktoren identi¿ziert, welche erklären, warum sich Gesellschaften in Nachkriegssituationen typischerweise nicht zu Demokratien entwickeln. Zum einen gilt prinzipiell, dass die in Nachkriegssituationen in aller Regel vorhandenen Kooperationsprobleme zwischen verfeindeten Gruppen nur schwer überwunden werden können. Auch fehlt es in Nachkriegssituationen an den Ressourcen, die notwendig sind, um jene politischen Institutionen zu unterstützen, die Demokratie ermöglichen. Ein weiteres Problem sind Unter¿nanzierung und mangelnde Koordination der Peacebuilding-Missionen. In vorliegenden Aufsatz wird die Auffassung vertreten, dass diese strukturellen Faktoren alleine keine überzeugende Erklärung des oftmals (aus einer demokratisch-normativen Position) unbefriedigenden Ergebnisses von Peacebuilding bieten. Stattdessen wird argumentiert, dass nicht nur die strukturellen Faktoren

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das Ergebnis von Peacebuilding-Missonen bestimmen, sondern, im Zusammenwirken mit strukturellen Faktoren, besonders auch die Interaktion zwischen externen Intervenierenden und lokalen Eliten. Diese Interaktion ist ein essentieller Teil der Interventionskultur, sie ist ein wichtiger und konstituierender Teil der alltäglichen Wirklichkeit der Peacebuilder, und sie bestimmt letztlich den Entwicklungspfad und damit das Ergebnis der Peacebuilidng Mission. Peacebuilding ist ein Handeln, welches darauf abzielt, diejenigen sozialen Konstellationen und sozialen Strukturen zu verändern, welche organisierte Gewalt ermöglichen oder gar fördern. Externe Peacebuilder und lokale Eliten sind die Protagonisten dieses Handelns. Peacebuilding ist demnach ein sozialer Prozess, der von der Interaktion zwischen Peacebuildern und lokalen Eliten geformt wird. Die sozialen Veränderungen, die Peacebuilding in eine Nachkriegsgesellschaft tragen soll, sind von dieser Interaktion bestimmt. Das analytische Verstehen dieser oftmals komplexen Interaktionen ist ein zentraler Aspekt einer Theorie der Interventionskultur. Peacebuilder und lokale Eliten haben ein gemeinsames Ziel: Peacebuildling. Die Peacebuilder haben sich per Mandat dazu verpÀichtet, einen Wandel zu Stabilität, Demokratie und Frieden herbeizuführen. Lokale Eliten, so mag es scheinen, sind an denselben Zielen interessiert, denn andernfalls hätten sie nicht ihre Zustimmung zur Peacebuilding-Mission gegeben. Dies gilt auch für friedenserzwingende Maßnahmen, die nach Kapitel VII der UN-Charta durchgeführt werden, denn in der Regel ermächtigen die Intervenierenden rasch einen lokalen und kooperationswilligen Partner. Ein Beispiel dafür ist die rasche Ermächtigung von Hamid Karzai zum Partner in Afghanistan. Allerdings ist diese grundsätzliche Übereinstimmung in den Zielen so lokker de¿niert, dass Peacebuilder und lokale Eliten über die genaue Bedeutung und Inhalte des Friedens verhandeln: wie werden welche Ressourcen verteilt, wann werden welche Reformen wie durchgeführt, welches sind die Prioritäten, wer kontrolliert welche Prozesse? Der Alltag der Peacebuilder, vom Leiter der UN-Mission vor Ort bis hin zum Ingenieur, der in einem entlegenen Bergdorf einen Brunnen bauen soll, ist eine auf Dauer gestellte Verhandlungssituation mit lokalen Eliten. Dies wird von den Peacebuildern auch erwartet: Schließlich sollen sie dafür sorgen, dass die Intervenierten kooperieren und die aufzubauenden sozialen Strukturen als die ihrigen begreifen. Wie in jedem Aushandlungsprozess ist auch der Ausgang dieser Verhandlung davon bestimmt, was die Beteiligten genau wollen, wie bestimmt sie auftreten und wie viele Ressourcen sie mobilisieren können, um ihre Ziele zu erreichen. Aber was wollen die Beteiligten wirklich? Der dominierende Ansatz in der Forschung zu Peacebuilding geht davon aus, dass sowohl die Peacebuilder als auch

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die lokalen Eliten Frieden und Demokratie anstreben, aber diese Ziele selten erreichen, weil ihnen die Kapazitäten fehlen. Ist diese Annahme gerechtfertigt? Es gibt mindestens drei gute Gründe anzunehmen, dass lokale Eliten möglicherweise gar nicht eine funktionierende Demokratie anstreben. Die Einführung demokratischer Regeln gefährdet, erstens, die Machtstellung der militärisch stärksten Gruppe, weil sie an den Wahlurnen verlieren könnte, was im Krieg gewonnen wurde. Eine gewaltfähige Gruppe, welche ihre Stellung durch Wahlen gefährdet sieht, wird mit einiger Wahrscheinlichkeit demokratische Verfahren ablehnen. Aus diesem Grund beurteilen viele politische Theoretiker, von Hobbes bis Huntington, die Chancen einer glückenden Transition von Krieg zu Demokratie als gering. Zweitens bringt ein liberaler Frieden Normen und Vorgaben zu Good Governance mit sich, die die Möglichkeiten einschränken, willkürlich zu regieren, Zwang auszuüben, und reich zu werden. Eliten, die während Bürgerkriegen reich und mächtig geworden sind, werden deswegen alle Reformen ablehnen, die ihre Art und Weise des ef¿zienten, wenn auch unlauteren Gelderwerbs beeinträchtigen: organisierte Kriminalität, Schmuggel, illegale private Besteuerung, Drogenanbau und Korruption. In jeder Postkriegsgesellschaft gibt es diesen Typus des „GewaltUnternehmers“. Man trifft sie in den Ministerien der Hauptstädte, aber auch in den Zentren der Provinz. Sie fahren luxuriöse SUVs, haben brandneue SatellitenTelefone und sind gut gekleidet. Und drittens gefährden demokratische Verfahren und Good Governance die Grundvoraussetzungen, auf denen die Autorität und das Überleben der meisten Regime in Nachkriegssituationen aufbaut: Patronagenetzwerke. Klientelismus ist ein endemischer Bestandteil schwacher Staaten; er ist die wohl grundsätzlichste Form von Regieren in Regionen, in denen Institutionen über wenige infrastrukturell gefestigte Macht verfügen. Klientelistische Netzwerke sind die Grundlage von Machtausübung und Machterhalt in vielen nicht-demokratischen Systemen. Eliten gehen impliziten Handel ein mit manchen gesellschaftlichen Gruppen und tauschen Schutz und Ressourcen gegen Loyalität (Kitschelt & Wilkinson 2007, van de Walle 2007, Reno 2000, Bratton & van de Walle 1996). Die Fähigkeit, solche Netzwerke zu betreiben und, wenn nötig, gefährliche Konkurrenten zu kooptieren, ist für Eliten in fast allen Nachkriegsgesellschaften zentral. Ein Wandel hin zu Good Governance gefährdet diese Mechanismen, und so ist es nicht überraschend, dass Eliten in Staaten, die vornehmlich durch Patronage und Klientelismus regiert wurden, sich Reformen widersetzen, die Patronage schwieriger machen und die Eliten so um die Möglichkeit bringen würden, mögliche Herausforderer nachträglich in das eigene Netzwerk aufzunehmen. Aus Afghanistan, Bosnien-Herzegowina, Kosovo und Tadjikistan liegen dazu gut dokumentierte Beispiele vor.

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Aus all diesen Gründen legt der Wandel zu einem liberalen und demokratischen Staat den lokalen Eliten in Nachkriegsstaaten erhebliche Adaptionskosten auf. Dementsprechend ist Demokratisierung in den Augen der lokalen Eliten eher ein Problem als eine Lösung, und folglich ziehen viele Eliten in Nachkriegsgesellschaften den Status Quo politischen Reformen vor. Gleichzeitig aber werden die Eliten versuchen, die materiellen und politischen Chancen, die die Peacebuilder anbieten, mit den Gefahren auszubalancieren, die die Implementierung von liberalem Peacebuilding bedeutet. Die Ressourcen, welche Peacebuilder in der Regel mitbringen – Geld und die Fähigkeit, politisches Kapital zu verleihen –, sind erheblich. Dementsprechend verstehen die lokalen Eliten die Anwesenheit der Peacebuilder nicht nur als Bedrohung, sondern auch als Gelegenheit. Sie werden versuchen, die internationalen Peacebuilder in eine Richtung zu lenken, die ihren Interessen förderlich ist: so viele Ressourcen – materielle wie symbolische – wie möglich zu gewinnen und zugleich so wenig Reformen wie möglich zu implementieren, die eventuell die eigene Machtstellung reduzieren könnten. Wenden wir uns nun den Peacebuildern zu. Im Lichte der Absichtserklärungen, Mandate und Programme vergangener Peacebuilding-Missionen kann wenig Zweifel daran bestehen, dass Peacebuilder Demokratie priorisieren und in dem Masse fördern, wie es ihre Ressourcen zulassen. Aber stimmt das? Zuletzt haben Barnett und Zürcher (2006, 2008) einige Zweifel an dieser Annahme geweckt. Sie erheben Einwände gegen die Annahme, dass die Unterstützung des Demokratieaufbaues einzig durch fehlende Ressourcen und fehlendes Personal limitiert wird. Vielmehr argumentieren sie, dass die Peacebuilder, wenn konfrontiert mit den Gegebenheiten vor Ort, einen pragmatischen Kurs wählen: Angesichts der geringen Nachfrage nach Demokratie in den Interventionsländern (zumindest seitens der Eliten) und der hohen Risiken ziehen sie es oft vor, mit Status quo orientierten Eliten zu kooperieren. Die Vorsicht der Peacebuilder ist nicht grundlos: Wir wissen mittlerweile, das Demokratisierung ein sehr risikobehafteter Prozess ist. In offenen politischen Räumen wird sich Wettbewerb zwischen vorherrschenden Eliten und Herausforderern üblicherweise intensivieren, aber die neuen demokratischen Strukturen sind zumeist noch zu schwach, um die politischen Auseinandersetzungen zu regulieren. Diese Gemengelage aus verschärftem Wettbewerb zwischen Eliten, plötzlicher, breiter politischer Partizipation und unterentwickelten demokratischen Institutionen ist risikoreich (Gleditsch 2002, Goldstone et al. 2005, Hegre et al. 2001, Mans¿eld & Snyder 1995, 2002; Snyder 2000). Peacebuilder sind deswegen nur selten bereit, die staatstragenden Eliten zur Implementierung derjenigen Reformen zu drängen, welche die Stabilität bedrohen könnten. Peacebuilder priorisieren Stabilität über Demokratie, was den Status Quo orientierten Eliten in die Hände spielt. Beispielsweise konnten Eliten in Bosnien, Kosovo,

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Rwanda and Tadjikistan den erheblichen Reformdruck, den Peacebuilder aufbauten, erfolgreich abwehren, indem sie behaupteten, die geforderten Reformen würden die heikle Nachkriegsstabilität gefährden. Die Verhandlungsmacht der Peacebuilder ist aus einem weiteren Grund eingeschränkt: Peacebuilder sind in hohem Maße von lokalen Akteuren abhängig. Schließlich ist deren Kooperation wesentliche Voraussetzung dafür, dass die verschiedenen Projekte der Peacebuilding-Mission zügig und reibungslos implementiert werden können. Ohne die Zustimmung der lokalen Eliten können weder Projekte umgesetzt noch die Sicherheit des internationalen Personals gewährleistet werden. Peacebuilder stehen aber unter starkem Druck, ihre Projekte abzuschließen – Karriere macht schließlich derjenige, der sein Budget ausgibt. Daraus ergibt sich ein starker Anreiz dazu, mit lokalen Eliten zu kooperieren, auch wenn diese nicht an demokratischen Reformen interessiert sind (Barnett et al. 2008). Erschwerend kommt hinzu, dass Demokratien of unwillig sind, für Demokratisierung Ressourcen und eventuell sogar Menschenleben zu opfern, weil, wie Bueno de Mesquita und Downs (2006) glaubhaft argumentieren, die heimische Wählerschaft die Demokratisierung ferner Länder selten als politische Priorität ansieht. Entsprechend zögerlich unterstützen Politiker Demokratisierungsbemühungen in Nachkriegsgesellschaften, falls diese risikoreich oder kostspielig sind. Und nicht zuletzt gilt auch, dass die Organisationsform der meisten Peacebuilding-Missionen kaum dazu geeignet ist, Anreize für politischen und sozialen Wandel zu schaffen. Die undurchsichtige Organisationsstruktur, die die verschiedenen Akteure verbindet, widerspricht faktisch oftmals den Prinzipien von accountability und Ef¿zienz, wie die ständigen Rufe nach einer besseren Koordination unter den verschiedenen Peacebuildern zeigen. Aus all diesen Gründen sind Peacebuilder zumeist nicht die vorbehaltlosen Demokratie-Förderer, als die sie sich gerne darstellen. Sie ziehen oftmals einen pragmatischen Kurs vor, weil ihnen Stabilität wichtiger ist als Demokratie, weil sie auf die Kooperation mit den lokalen Eliten angewiesen sind, und weil Politiker in den Entsendeländern oft nicht willens sind, viel Geld für Demokratisierung auszugeben, wenn die heimischen Wähler damit nicht zu beeindrucken sind. Gleichzeitig begrüßen lokale Eliten die liberalen Reformen, die ihnen die Peacebuilder auferlegen wollen, nicht immer mit offenen Armen. Dennoch lassen sich beide Seiten auf eine Interaktion ein, die zu großen Teilen von ständigen Verhandlungen geprägt ist, weil beide Seiten natürlich versuchen, ihre maximalen Ziele zu erreichen. Um die Performanz von Peacebuilding-Missionen zu verstehen, müssen diese Aushandlungsprozesse, die wiederum zentraler Bestandteil einer jeden Interventionskultur sind, verstanden werden.

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Zu Anschauungszwecken soll nun die Interaktion zwischen Peacebuildern und lokalen Eliten als ein einfaches Verhandlungsmodell dargestellt werden. Ich gehe von folgenden vereinfachenden Annahmen aus: Peacebuilder und lokale Eliten sind einheitliche Akteure, sie treten miteinander in Verhandlungen ein über die Reformen, welche den Frieden bringen sollen, und die Ressourcen, die für die Umsetzung dieser Reformen notwendig sind. Nehmen wir an, dass die Peacebuilder den ersten Zug machen und den lokalen Eliten ein Paket anbieten, das aus Ressourcen und bestimmten Reformvorschlägen besteht. Wenn die lokalen Eliten diesen Vorschlag akzeptieren, ist der Aushandlungsprozess abgeschlossen, und die Peacebuilder und die lokalen Eliten beginnen gemeinsam mit der Umsetzung der Reformen, welche zu einem demokratischen Endzustand führen sollen. Aber die lokalen Eliten können das Angebot auch ablehnen und stattdessen ein Reformpaket vorschlagen, aus dem ein weit weniger demokratischer Staat hervorgehen würde. Die Peacebuilder haben nun drei Optionen. Sie ziehen sich aus dem Friedensprozess zurück, sie versuchen, die lokalen Eliten zur Annahme des ersten Paketes zu zwingen, oder sie lassen sich auf Verhandlungen ein, die zu einer Aufweichung der demokratischen Reformagenda führen werden. Falls sie sich zurückziehen, besteht die Gefahr, dass wieder Krieg ausbricht, woraufhin die Peacebuilder an Ansehen verlieren würden. Wenn sie die Konfrontation mit den lokalen Eliten suchen, laufen sie Gefahr, als koloniale Verwalter zu erscheinen und nicht als neutrale Peacebuilder. Angesichts dessen erscheint die dritte Option möglicherweise als die beste. Schwächen wir nun die vereinfachende Annahme ab, dass die lokalen Eliten ein einheitlicher Akteur sind. In vielen Nachkriegsgesellschaften gibt es mehr als nur eine relevante Elitengruppe. Neben den zentralen Eliten in der Hauptstadt mag es eine stake Opposition geben; Rebellengruppen mögen immer noch über EinÀuss verfügen; lokal verwurzelte Provinz-Eliten könnten sich den Zentralisierungsbemühungen der zentralen Eliten widersetzen. Nun nehmen wir an, dass das obige Spiel abermals gespielt wird, nur jetzt zwischen Peacebuildern, lokalen Eliten und einer zweiten lokalen Gruppe, die in der Provinz ihre Machtpositionen hat. Wie im ersten Spiel bieten die Peacebuilder als erstes ihr Reformpaket an. Bevor die lokalen Eliten dieses Paket annehmen oder ablehnen, müssen sie nun zunächst mit der zweiten lokalen Gruppe verhandeln. Diese wird Reformen blockieren, welche auf eine Stärkung des Zentrums hinauslaufen werden – was aber gerade eines der Kernanliegen von internationalen Missionen in fragilen Staaten ist. Sollten beide Elitengruppen dem Reformpaket zustimmen, ist das Spiel vorüber. Wenn die zweite Gruppe aber den Vorschlag der Peacebuilder zurückweist, müssen sich die Mitglieder der zentralen Eliten entscheiden: Entweder verhandeln sie mit den Peacebuildern über eine Schwächung des Reformpakets, oder

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sie versuchen, die Provinzeliten zur Zustimmung zum Reformpaket zu zwingen, was das Risiko eines abermaligen Bürgerkriegs in sich birgt. Dies aber wollen weder lokale Eliten noch die Peacebuilder. Ganz offensichtlich also erhöht sich die Komplexität des Spiels, wenn eine zweite Elitengruppe mitspielt. Aus Sicht der Peacebuilder ist das Spiel komplizierter geworden, weil ihr Reformpaket nun von zwei verschiedenen Gruppen akzeptiert werden muss. Zudem verstärkt die Existenz einer zweiten mächtigen lokalen Gruppe das, was ich das „Paradox der Schwäche“ nenne: Sobald zentrale Eliten-Akteure glaubwürdig versichern, dass bestimmte Reformen die Provinz-Eliten verprellen könnten, wodurch ein (Wieder-)aufÀammen des Krieges wahrscheinlicher würde, gewinnen zentrale Eliten an Verhandlungsmacht. Mit anderen Worten: Gerade wenn zentrale Eliten gegenüber den Provinzeliten (oder anderen oppositionellen Gruppen) relativ gesehen schwach sind, erhöht sich ihre Verhandlungsmacht gegenüber den Peacebuildern, wodurch tiefgreifende Reformen unwahrscheinlicher werden. Dieses simple Modell verdeutlicht eines: Der Verlauf und das Endresultat des Peacebuilding-Prozesses wird entscheidend beeinÀusst durch die Interaktion zwischen lokalen Eliten und Peacebuildern und durch die Verhandlungsmacht, die jede Gruppe zur Verfügung hat. Daraus folgt ein wichtiges Forschungsdesiderat: Wir müssen weit besser verstehen, wodurch Verhandlungsmacht und -strategien der lokalen Eliten beeinÀusst werden: Welche Rolle spielt etwa das Vorhandensein natürlicher Ressourcen? Sind Eliten in ressourcenreichen Ländern weniger abhängig von den Ressourcen, welche Peacebuilder mitbringen, und deswegen auch weniger kooperativ? Welche Rolle spielt die militärische Stärke der Eliten? Welchen EinÀuss hat die Legitimität und Akzeptanz, welche Eliten seitens der eigenen Gesellschaft genießen? Welche Rolle kommt der Akzeptanz zu, welche die Peacebuilder genießen? Und wodurch wird diese Akzeptanz beeinÀusst? Über all dies haben wir bislang so gut wie keine Einsichten. Dennoch scheint die Annahme, dass Interaktionen entscheidend das Ergebnis von Peacebuilding-Interventionen beeinÀussen, höchst plausibel, wie die folgenden Überlegungen zeigen. Nach 1989 gab es zwanzig größere internationale Peacebuilding-Missionen.1 Im Rahmen eines Forschungsprojekts an der Freien Universität Berlin hat ein internationales Team von Länderexperten zu neun dieser Missionen vergleichende Fallstudien erstellt.2 Bearbeitet wurden Rwanda, Mazedonien, Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Mozambique, Namibia, Afghanistan, Tadjikistan und Timor-Leste. In fünf dieser Fälle entwickelten sich hybride oder gänzlich autokratische Regime (Bosnien-Herzegowina, Afghanistan, Kosovo, Tadjikistan und Rwanda), wohin-

Gemäß den Daten von Doyle und Sambanis (2000) und Paris und Sisk (2008). Erste Ergebnisse ¿nden sich in der Juli Ausgabe (2009) des Taiwan Journal for Democracy, welches online zugänglich ist unter http://www.tfd.org.tw/english/tjd.php.

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gegen viermal demokratische Strukturen entstanden (Namibia, Mazedonien, Mozambique und Timor-Leste). Interessanterweise scheint es so, dass in Bezug auf die Faktoren, welche üblicherweise für Erfolg oder Scheitern von Friedensmissionen verantwortlich gemacht werden, keine regelhafte Zuordnung erkennbar ist. Weder robuste und intrusive Missionen, noch Armut, noch Ausmaß der aufgewendeten Hilfsgelder korreliert regelhaft mit Erfolg bzw. Misserfolg. Zwei der vier „Erfolgsfälle“ ¿nden sich in sehr armen Ländern (Mozambique und Timor-Leste), zwei in im weltweiten Vergleich relativ wohlhabenden Ländern (Mazedonien und Namibia). Von den insgesamt fünf militärisch robusten und intrusiven Missionen ist nur eine in einem „Erfolgsland“ angesiedelt (Timor). Die Ausgaben für Entwicklungshilfe pro Einwohner waren mittel bis hoch in Mozambique und Timor-Leste, aber niedrig in Namibia und Mazedonien. Es korrelieren also weder große Eingriffstiefe, noch hoher Ressourceneinsatz, noch das Niveau der Entwicklungshilfe, noch die Kapazität der jeweiligen Nachkriegsgesellschaft mit einer erfolgreichen Demokratisierung. Aus dieser Einsicht folgt, dass das Ergebnis von Peacebuilding Prozessen kaum jemals von strukturellen Faktoren alleine bestimmt ist. Eine nähere Betrachtung der Fälle mit wenig erfolgreicher Nachkriegs-Demokratisierung zeigt, dass – wie vermutet – Peacebuilder und lokale Eliten sich faktisch auf ein Reformpaket verständigt haben, welches den Nachkriegs-Status Quo weitgehend intakt lässt und demnach nicht-demokratische Modi der Regierungen fortbestehen lässt.3 Mit Ausnahme von Namibia und Mozambique haben es die lokalen Eliten in allen Fällen geschafft, das ursprünglich vorgeschlagene Reformpakt neu auszuhandeln und die Vision des liberalen Friedens zünftig herunterzukochen. Der stärkste Trumpf der Eliten war Sicherheit. Peacebuilder akzeptierten Revisionen ihrer Reformpakete in Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Rwanda, Afghanistan und in einem gewissen Ausmaß in Timor-Leste angesichts einer Sicherheitslage, die sich zu verschlechtern drohte. Das oft wiederholte Argument der lokalen Eliten war, dass jedwede weitere Demokratisierung die prekäre Sicherheitslage und die Balance zwischen den ethnischen Gruppen destabilisieren könnte. In Bosnien-Herzegowina und Kosovo erwies sich die Zielvorstellung der Peacebuilder von einer multiethnischen und demokratischen Gesellschaft als undurchführbar. Selbst ein gewaltiger Ressourceneinsatz konnte das Haupthindernis eines demokratischen Friedens nicht aus dem Weg räumen: ethnische Politik. Die ethnischen Parteien in Bosnien-Herzegowina behandelten ihrer Gebiete wie Fürstentümer und waren Eine detaillierte Darstellung des Modells ¿ndet sich bei Barnett, Fang und Zürcher (2008), Barnett und Zürcher (2008) und Paris und Sisk (2008).

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nicht willens, Autonomie an den Zentralstaat abzugeben. In Kosovo brachten die Ausschreitungen im März 2004 die internationale Gemeinschaft dazu, dem Kosovo Unabhängigkeit zu gewähren und dabei den „Standards before Status“-Ansatz aufzugeben, der besagte, dass staatliche Unabhängigkeit nur durch Fortschritte in Good Governance zu erreichen sei. In beiden Fällen haben die Peacebuilder so die ethnische Separation unterstützt. In Afghanistan, dem vielleicht deutlichsten Fall einer Revision der Reformvorhaben, fühlt sich die herrschende Elite zunehmend nicht mehr dem Ziel der Demokratisierung verpÀichtet, Korruption nimmt zu und Good Governance ist ein ferner Traum. Dennoch hält die internationale Gemeinschaft an ihrem Engagement fest, weil sie fürchtet, die Unterstützung der lokalen Eliten zu verlieren. Die Revisionen in Timor-Leste ¿elen im Vergleich zu Afghansitan relativ bescheiden aus. Nach einer Reihe von Ausschreitungen in 2006 hat die internationale Gemeinschaft ihre Einstellung zu ökonomischer Liberalisierung überdacht und den lokalen Eliten ein größeres Mitspracherecht in der einheimichen Politik zugestanden. In Tadjikistan und Rwanda haben die Peacebuilder akzeptiert, dass die lokalen Eliten ihrer Länder autokratisch regieren. In Tadjikistan hatten die Peacebuilder nur wenig Ressourcen zur Verfügung, sodass sie kaum oder gar keinen Druck auf die Regierung ausüben konnten. Im Gegensatz dazu hätten die Geberländer das Regime in Rwanda durchaus unter Druck setzen können, da das Funktionieren des rwandesischen Staates weitgehend von Hilfsgeldern abhängt. Die Geber haben diesen Hebel nicht eingesetzt, weil die lokalen Eliten nachdrücklich darauf verwiesen, dass demokratische Reformen die labile Stabilität nach dem Genozid gefährden würden. Zusammenfassend lässt sich folgendes feststellen: Die Wirkungsmacht von Peacebuilding-Missionen in Bezug auf die Schaffung von Demokratie ist begrenzt. Intrusive und militärisch ausreichend unterstützte Missionen können wohl den Frieden sichern, aber sie können nicht Demokratie installieren. Auch da, wo die internationale Gemeinschaft gewaltige Ressourcen einsetzt, stößt sie an ihre (Demokratisierungs-)Grenze. Strukturelle Faktoren alleine können diese Grenze nicht befriedigend erklären. Vielmehr scheint es in der Tat so, als ob die Ergebnisse einer Nachkriegstransition zu einem erheblichen Teil von Interaktion zwischen Peacebuildern und den lokalen Eliten bestimmt werden. Wenn wir diese Interaktion empirisch und analytisch verstehen wollen, müssen wir die Präferenzen der Peacebuilder und der lokalen Eliten identi¿zieren, ihre sinnstiftenden Deutungsmuster, ihr strategisches und taktisches Verhandeln und die symbolischen und materiellen Ressourcen, die sie mobilisieren, um ihre Verhandlungsposition zu stärken. Kurz gesagt: Untersucht werden muss die dichte soziale Interaktion

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zwischen den beiden gesellschaftlichen Gruppen – Peacebuildern und lokalen Eliten, die die „Interventionskultur“ bilden. Ich halte das für eine spannende und lohnenswerte Aufgabe. Literaturverzeichnis Barnett, M., Fang, S., & Zürcher, C. (2008). The Peacebuilders Contract. A game theoretical approach. Vortrag gehalten auf der 104. Jahreskonferenz der American Political Science Association in Boston, 28.–31. August 2008. Barnett, M., & Zürcher, C. (2006). The Peacebuilder’s Contract: How External State-Building Reinforces Weak Statehood. Working Paper for the 2nd Conference of Rpps. Boulder, CO: Research Partnership on Postwar State-Building (RPPS). Barnett, M., & Zürcher, C. (2008). The Peace-Builders Contract. How External Statebuilding Reinforces Weak Statehood. In R. Paris & T. D. Sisk (Hrsg.), The Dilemmas of Statebuilding: Confronting the Contradictions of Postwar Peace Operations (S. 23– 52). London: Routledge. Bratton, M., & van der Walle, N. (1996). Democratic Experiments in Africa: Regime Transitions in Comparative Perspective. Cambridge: Cambridge UP. Bueno de Mesquita, B., & Downs, G. W. (2006). Intervention and Democracy. International Organization, 60 (Sommer 2006), 627–649. Doyle, M. W., & Sambanis, N. (2000). International Peacebuilding: A Theoretical and Quantitative Analysis. American Political Science Review, 94(4), 779–801. Gleditsch, K. S. (2002). All international politics is local: the diffusion of conÀict, integration, and democratization. Ann Arbor: University of Michigan Press. Goldstone, J. A., Bates, R. H., Gurr, T. R., Lustik, M., Marshall, M. G., Ulfelder, J., et al. (2005). A Global Forecasting Model of Political Instability. Paper presented at the Annual Meeting of the American Political Science Association, Washington D.C., 2005. Hegre, H., Ellingsen, T., Gates, S., & Gleditsch, N. P. (2001). Toward a Democratic Peace? Democracy, Political Change, and Civil War, 1816-1992. American Political Science Review, 95(1), 33–48. Kitschelt, H., & Wilkinson, S. I. (2007). „Citizen-Politician Linkages: An Introduction.“ In H. Kitschelt & S. I. Wilkinson (Hrsg), Patrons, Clients, and Policies: Patterns of Democratic Accountability and Political Competition (S. 1–49). Cambridge: Cambridge UP. Mans¿eld, E., & Snyder, J. (2002). Democratic Transitions, Institutional Strength, and War. International Organization, 56(2), 297–337. Mans¿eld, E. D., & Snyder, J. (1995). Democratization and the Danger of War. International Security, 20(1), 5–38. Page Fortna, V. (2008). „Peacekeeping and Democratization.“ In A. Jarstad & T. D. Sisk (Hrsg), From War to Democracy: Dilemmas of Peacebuilding (S. 39–80). Cambridge: Cambridge UP.

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Von der Entwicklungszusammenarbeit zur humanitären Intervention Die Kontinuität einer Kultur der Treuhandschaft Conrad Schetter

Mit dem Ende des Kalten Krieges wurde der Weltöffentlichkeit gewahr, dass sich das auf nationalstaatlichen Prinzipien basierende politische System, das durch die bipolare Weltordnung vierzig Jahre lang aufrechterhalten worden war, als eine Schimäre entpuppte und ins Wanken geriet: So erodierte in vielen Regionen der Welt das nationalstaatliche System aufgrund von Globalisierungs- und Lokalisierungstendenzen. Dies verdeutlichte, dass das Prinzip des Nationalstaats in vielen Regionen der Welt nie die Stabilität erreicht hatte, die ihm allgemein zugeschrieben wurde. Seit den 1990er Jahren nahmen zudem sprunghaft Anzahl und Intensität gewaltsamer, innerstaatlicher KonÀikte zu, die in der Regel um die Frage der Beschaffenheit von nationaler Staatlichkeit kreisten. Diese gewaltsamen KonÀikte hielten zum einen über die Medien Eingang in die Wohnzimmer des global village und erzeugten Betroffenheit über Kriege und humanitäre Katastrophen wie etwa in Ruanda, Darfur, Aceh oder Afghanistan. Zum anderen sah die westliche Welt zunehmend ihre Lebensstandards und Sicherheiten durch die offensichtlichen Folgen dieser gewaltsamen KonÀikte – nämlich das Aufkommen kaum zu kanalisierender Migrationsströme oder die Entstehung von Ressourcenengpässen etc. – gefährdet. Damit paarte sich die Verantwortung für humanitäres Handeln und Entwicklung mit handfesten Sicherheitsinteressen („Festung Europa“), was eine neue Interventionskultur entstehen ließ. So gewannen in den vergangenen 15 Jahren nicht nur innerstaatliche KonÀikte weltweit an Bedeutung, sondern nahm auch das Engagement der internationalen – respektive westlichen – Staatengemeinschaft durch peace building-Interventionen zu. Wenngleich es sich bei diesen nicht um ein völlig neues Phänomen handelt, so stellt ihre Anzahl und ihre Qualität eine neue Dimension des politischen Handelns dar. Damit entstand eine neue Interventionskultur, die auf dem bestehenden Paradigma von Entwicklung aufbaut. Denn die Geisteshaltung, die hinter militärischen Interventionen steht, knüpft an das in den Entwicklungsdiskursen vorherrschende Moment der Treuhandschaft an. Damit lässt sich auf habitueller Ebene eine Kontinuität von dem Entwicklungs- zum Interventionsparadigma zeichnen. Andererseits stellen gerade

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das Verständnis von „human security“, „humanitärer Interventionen“ und „zivilmilitärischer Zusammenarbeit“ eklatante Brüche mit dem bisherigen Selbstbild der Entwicklungspraxis dar, da die einstige Abgrenzung zwischen zivilen und militärischen Maßnahmen vielfältigen Überlappungen, Verschmelzungen und Grauzonen gewichen ist. Damit erfährt Entwicklungszusammenarbeit – gerade in Interventionen – eine Umwertung von einer moralischen VerpÀichtung hin zur Durchsetzung handfester Interessen. 1

Entwicklung als Treuhandschaft

„Entwicklung“ ist ein amöbenhafter Begriff, da mit ihm je nach Kontext ganz unterschiedliche, häu¿g diametral entgegenstehende Vorstellungen verbunden sind, zumal der Terminus mit einem recht unbestimmten semantischen Feld verknüpft ist. Es ist zudem ein Terminus, an dem sich in der Begriffsgeschichte der vergangenen Jahrhunderte die unterschiedlichsten Weltanschauungen sedimentierten – angefangen von der Vorstellung von Entwicklung als einem vorgeprägten Verlauf (Leibnitz 1978) bis hin zu einem offenen Prozess (Darwin 1983; Huxley 1948), von Stadien- und Stufenkonzepten (Comte 1877; List 1950), die von marxistischen Vorstellungen genauso wie von modernisierenden Entwicklungsschemata der nachholenden Entwicklung bestimmt wurden, bis hin zu den Dependenztheorien der 1960er Jahre und den Post Development Studies der 1990er Jahre (vgl. Kößler 1998; 2004). Bis heute hält die Irritation um diesen Begriff sowie die Leidenschaft, mit der die Vertreter einer bestimmten Richtung ihre Vorstellung vortragen, an – bis hin zu den Post Development Studies, die gar eine weitere Verwendung des Begriffes „Entwicklung“ als „eurozentristisches“ Konstrukt und als „kulturimperialistisches gesellschaftliches Projekt“ in Frage stellen (Esteva 1995). Trotz aller berechtigter Kritik lässt sich im allgemeinen Verständnis des Entwicklungsbegriffs im letzten Jahrhundert ein Wandel von einem biologischen zu einem sozialgeographischen Dualismus erkennen: Nun wird nicht mehr zwischen „zivilisierten“ und „wilden“ Gesellschaften unterschieden, sondern zwischen „entwikkelten“ und „unterentwickelten“ Ländern (Ziai 206) bzw. zwischen „versicherten“ und „nicht-versicherten“ (Cowen & Shenton 1996). Entsprechend veränderte sich die von Rudyard Kipling Ende des 19. Jahrhunderts beschriebene Mission des „white man’s burden“ von einem Zivilisierungs- zu einem Entwicklungsprojekt (Easterly 2006), in dem sozioökonomische Disparitäten zu einer „fragmentierten Entwicklung“ (Scholz 2004) unterschiedlicher Raumeinheiten führen (z. B. OECD-Welt vs. Nicht-OECD-Welt; Stadt vs. Land). Jedoch ist der Begriff „Entwicklung“ nicht allein nach ideologischen oder normativen Denkschulen zu unterteilen, sondern wachsen diesem Terminus auf-

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grund seiner Praxisnähe einerseits und seiner alltagssprachlichen Verwendung andererseits auch andere Konnotationen zu. So unterscheidet Thomas (2000: 777) Entwicklung als „Vision“ von Entwicklung als „historischem Prozess“ und Entwicklung als „Praktik“. In Letzterem sieht er nach dem Ende des Kalten Krieges den dominierenden Strang in den Diskursen um den Entwicklungsbegriff. So ging es in den letzten zwei Jahrzehnten weit weniger darum, normative Visionen von Entwicklung oder aber historisch abgeleitete Abfolgeschemta von Entwicklung zu entwerfen, sondern darum, „Entwicklung“ als praktisches Handeln zu verstehen, dessen Zielgerichtetheit nicht weiter diskutiert wird. Für die Durchsetzung dieses Paradigmas war vor allem das Ende des Kalten Krieges verantwortlich. So spielen seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion Auseinandersetzungen über ideologisch begründete Visionen idealer Gesellschaftsordnungen nur noch eine untergeordnete Rolle. Denn mit dem Kollaps des kommunistischen Herrschaftsmodells setzten sich im Verständnis der Entwicklungsinstitutionen Demokratie und Marktwirtschaft als die unumstößlichen Ziele gesellschaftlicher Entwicklung durch. Sind diese Ziele in befriedigendem Maße umgesetzt, ist – entsprechend Fukuyamas Vision – auch das Ende von Entwicklung erreicht. Damit erübrigten sich Diskussionen über Entwicklungsvisionen und stand allein die praktische Umsetzung zur Erreichung vorgegebener Entwicklungsziele im Vordergrund (vgl. Harriss 2001; Mosse 2005). Die Durchsetzung dieses Primats ging mit einer sprunghaften Zunahme an Entwicklungsorganisationen seit dem Beginn der 1990er Jahre einher, was zur Entstehung einer regelrechten Entwicklungsindustrie führte. So nahm mit dem Ende des Ost-West-KonÀikts die Bedeutung globaler Organisationen wie Weltbank, IMF, DAC/OECD etc. zu, um Marktwirtschaft und Demokratie weltweit, aber vor allem im ehemaligen Ostblock durchzusetzen. So sind Millionen von – gut ausgebildeten – Entwicklungsexperten, Buchhaltern und Ingenieuren in der Entwicklungsindustrie beschäftigt, verpÀichteten sich die Industriestaaten der Welt darauf, 0,7 % ihres Bruttoinlandproduktes für Entwicklung zur Verfügung zu stellen, und entstand neben der eher klassischen staatlichen Entwicklungszusammenarbeit ein regelrechter Entwicklungsmarkt, auf dem Nichtregierungsorganisationen (NROs) mit privaten Unternehmen, Stiftungen und Verbänden um Projektmittel konkurrieren. Mit der Etablierung dieser Entwicklungsindustrie traten Visionen über Entwicklung in den Hintergrund. Entwicklung avancierte zum Selbstzweck, also zu Entwicklung als Praktik: „Thus development has come to have a rather tautological meaning, referring not to a desirable state or the process of social change which might achieve it, but simply to whatever is done in the name of development, and development is now used to mean practice more than vision or process.“ (Thomas 2000: 777)

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Ein hervorstechendes Beispiel für dieses Verständnis von Entwicklung als Praktik stellen die Millenium Development Goals dar, in denen sich die Entwicklungsindustrie gewisse Ziele setzt, die anhand operationalisierbar erscheinender Kriterien abzulesen sind, aber deren Relevanz nicht weiter in Frage gestellt wird.1 Zudem werden die inhaltlichen Ziele von Entwicklungsprojekten in der Durchführung schnell von technischen und administrativen Aspekten überlagert, weshalb vielfach eine Entpolitisierung von Entwicklungsprojekten bemängelt wird (Ferguson 1994; Rottenburg 2002; Mosse 2005). Daher sind es weit weniger gewisse Visionen, die die gegenwärtige Dominanz von Entwicklung als Praktik bestimmen als ein Habitus im Bourdieuschen Sinne, der als Konstante auszumachen ist: nämlich die Treuhandschaft (Cowen & Shenton 1996). So wird Entwicklung als Praktik von dem Gedanken bestimmt, dass eine Intervention in einem bestimmten Gesellschaftssystem notwendig erscheint, um dieses zu verbessern. Mit diesem Verständnis wird Entwicklung als ein praxisorientierter Begriff aufgefasst, in dem (a) ein gesellschaftliches System von Außen als verbesserungswürdig eingestuft wird, in dem (b) die Lösung von Problemen machbar erscheint und in dem (c) Kompetenz hierfür von Außen benötigt wird (Ziai 2006). In dieser Vorstellung manifestieren sich – anders als der Begriff der „Entwicklungszusammenarbeit“ suggeriert – paternalistische Machtstrukturen, die die Betroffenen von Entwicklungsprozessen als Objekte erscheinen lassen und ihnen ihren Subjektstatus absprechen. Der Habitus der Treuhandschaft stellt daher eine Kontinuität vom Kolonialismus bis hin zu den gegenwärtigen Entwicklungspraktiken dar. So ist die De¿nitionshoheit über den Idealzustand einer Gesellschaft und über den Weg dorthin von der Kolonialverwaltung auf die Entwicklungsexperten übergegangen (vgl. Hüsken 2006; Ziai 2006: 33–41). Die Erscheinungen und Formen der Treuhandschaft mögen sich zwar in den vergangenen einhundert Jahren geändert haben, der Habitus ist jedoch ein ähnlicher. Eine zusätzliche Dimension des Entwicklungsdiskurses ist, dass gerade von Sozialethikern und Kirchen, aber auch in vielen of¿ziellen Verlautbarungen Entwicklung mit dem Gebot der Mitmenschlichkeit und der moralischen VerpÀichtung zur Solidarität verbunden wird (Hirsch & Seitz 2005). Dagegen nimmt seit den 1990er Jahren verstärkt die Tendenz zu, Entwicklung über Eigeninteressen 1 So pausen sich die Vorstellungen einer liberalen Weltordnung in Armutsbekämpfungsstrategien, Good Governance-Ansätzen etc. durch. Selbst die neuen Zauberbegriffe der Entwicklungsindustrie wie „Partizipation“ und „Empowerment“ sind kritisch zu beleuchten: So ist zu fragen, was zu tun ist, wenn die betroffene Bevölkerung gar kein Interesse an einer partizipativen Umsetzung von Projekten hat und in der Entwicklungsindustrie vorgeformte Vorstellungen von einem Subjektstatus ablehnt. Daher zeigt die Diskussion um partizipative Ansätze einmal mehr das grundlegende Dilemma auf, dass Entwicklung als Praktik kaum von treuhänderischen Vorstellungen zu lösen ist (Cooke & Kothari 2001, Hickey & Mohan 2004).

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der Geberländer zu de¿nieren und zu legitimieren – etwa über Sicherheits- oder über Wohlstandsdiskurse (Messner & Scholz 2005). Dieser Wandel war in erster Linie über die Depolitisierung und Technisierung von Entwicklung infolge ihrer Reduktion zur Praktik möglich. Damit ergibt sich die Frage, welchem Zweck Entwicklung als Praktik dienen soll. An dieser Stelle verschwimmen in der gegenwärtigen Diskussion recht häu¿g die Grenzen. Während die Sozialethik deutlich die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen ohne wenn und aber in den Vordergrund rückt, so wird in der aktuellen Diskussion vermehrt Entwicklung als ein Modell verstanden, das die Entwickelten und die zu Entwickelnden gleichsam integrieren soll. Frei nach dem Motto „Alles Gute kommt zusammen“ wird argumentiert, dass es „uns“ – also der westlichen Welt – besser geht, wenn es „den Anderen“ auch besser geht.2 Dies bedeutet jedoch letztlich eine gravierende Verschiebung der Perspektive, da das Wohlbe¿nden „der Anderen“ nur solange für die Geber von Belang ist, wie es der Durchsetzung der eigenen Interessen dient; Entwicklung steht damit zunehmend in einer einseitigen Dependenz zur De¿nition der Eigeninteressen. Die Durchsetzung dieses auf Eigennutz abgestellten Verständnisses von Entwicklung konnte in den vergangenen zwei Jahrzehnten mehrfach beobachtet werden: Änderte sich die Interessenlage, wurden die Entwicklungsmittel schnell von einem Land und einem Themenschwerpunkt in ein anderes Land und zu einem anderen Themenfeld verschoben. Prononcierte Beispiele sind „der Kampf gegen den Terrorismus“ oder „die Tsunami-Katastrophe“. Somit be¿ndet sich Entwicklung als Praktik in einem Spannungsfeld zwischen der Verfolgung normativer Ziele einerseits, die die Verbesserung der Lebensbedingungen der Menschen entsprechend liberaler Vorstellungen anstreben, und der Verfolgung klarer Eigeninteressen andererseits. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, weshalb mit aller Vehemenz Sicherheitsdiskurse um gewaltsame KonÀikte, mangelnde Staatlichkeit oder Terrorismus, die zunehmend die globale Sicherheit und die Handelsströme zu gefährden scheinen, seit den 1990er Jahre Einzug in die Entwicklungsthematik halten. Dies soll im folgenden Kapitel behandelt werden. 2

Konjunktur militärischer Interventionen

Die Verschiebungen im Entwicklungsverständnis sind vor allem im Zusammenhang mit der Zunahme und Intensivierung militärischer Interventionen zu sehen. So war Anfang der 1990er Jahre die Entwicklungspolitik noch davon geprägt, sich vor allem auf die hoffnungsvollen Länder zu konzentrieren und eben die Länder der „Bottom Billion“ (Collier 2007) aus der Entwicklungszusammenarbeit aus2

Siehe diesbezüglich etwa die Argumentation von Kerstin Müller (2005).

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zuschließen. Denn Letztere galten als hoffnungslose Fälle, in denen die institutionelle Rahmung für erfolgreiche Projektdurchführung fehlte, so dass Entwicklungsmittel versickern, ohne positive Veränderungen zu bewirken. Erst nach dem 11. September fand aufgrund der nun von Sicherheitsfragen dominierten Entwicklungsdiskurse ein Umdenken statt: So lautet nun die Formel, dass Terrorismus, Fanatismus und Staatsversagen am besten mit Entwicklungsmaßnahmen begegnet werden könne. Dieser Kurswechsel in der internationalen Entwicklungspolitik führte nicht nur zu einer Wiederaufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit bestimmten „Problemländern“, sondern gar zu einem völligen Paradigmenwechsel, der diese Länder mit einem Mal in den Fokus der Diskussion rückte.3 So engagierte sich die Entwicklungsindustrie zunehmend in Krisenregionen der Welt und wurde Teil groß angelegter internationaler Interventionen, in denen gleichzeitig militärische und zivile Ressourcen zum Einsatz kamen. Damit geriet die Entwicklungszusammenarbeit in das Fahrwasser einer neuen Ausrichtung der Weltpolitik, die davon geprägt ist, über breit angelegte Interventionen vermeintliche globale Bedrohungen zu beheben. Menzel schreibt pointiert: „Die klassische Projekthilfe ist … tot. Das neue Schlagwort, das auch die entwicklungspolitische Debatte beherrscht, lautet ‚Humanitäre Intervention‘.“ (Menzel 2005: 54)

So erblickten die außenpolitischen Konzeptionen der USA, vieler europäischer Staaten wie auch inter- und supernationaler Organisationen bereits Anfang der 1990er Jahre – also weit bevor sich dieser Paradigmenwechsel in der Entwicklungspolitik vollzog – in militärischen Interventionen ein probates Mittel, um gewaltsamen KonÀikten Einhalt zu gebieten. Die eigenen Sicherheitsinteressen waren primärer Auslöser für diese Art der Interventionen: So sah man durch die Gewalteskalation und hierdurch ausgelöste Flüchtlingsströme in Jugoslawien, Ruanda, Sierra Leone oder Haiti die Sicherheit und den Wohlstand an den eigenen territorialen Grenzen gefährdet. Die sprunghafte Zunahme an Interventionen lässt sich auch quanti¿zieren: Der UN-Sicherheitsrat autorisierte in den ersten 43 Jahren seit dem Zweiten Weltkrieg 13 friedenssichernde Missionen. Die gleiche Anzahl an friedenssichernden Missionen kam allein in den 43 Monaten zwischen 1988 und 1992 hinzu (Kühne 2005). Jedoch nahm nicht nur die Quantität der friedensstiftenden Interventionen rasant zu, sondern es änderten sich auch ihre Aufgabenschwerpunkte: Bis zum Ende des Kalten Krieges beschränkten sich peace keeping-Operationen primär auf die Überwachung von Waffenstillständen zwischen Staaten (z. B. auf dem Sinai oder auf Zypern). Im Laufe der 1990er Jahre entwickelten sich dann – meist unter Führung der UN – komplexe peace building3 In diesem Zusammenhang ist vor allem die Diskussion um die sog. Low Income Countries Under Stress (LICUS-Staaten) interessant.

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Missionen. Die Passivität niederländischer UN-Blauhelme bei dem Massaker von Srebrenica stellte hier den einschneidenden Wendepunkt vom peace keeping zu peace building dar. Damit veränderte sich der Auftrag vom Monitoring hin zu aktiven Kampfhandlungen, um gewaltsame KonÀikte zu beenden und Frieden zu stiften (MacGinty & Williams 2009). So sind Friedensmissionen der internationalen Gemeinschaft zunehmend durch ein breit ausgelegtes militärisches Mandat sowie durch die Integration gesellschaftlicher und staatlicher Aufgaben gekennzeichnet (Weir 2006), um „Staaten zu bauen“ (Fukuyama 2006). Die WeltbankAnalyse „Breaking the ConÀict Trap“ (Collier et al. 2004) unterstreicht gerade das enge Wechselverhältnis von entwicklungspolitischem und militärischem Engagement, um gewaltsame KonÀikte zu überwinden. Damit gewannen Entwicklungsmaßnahmen in Interventionen kontinuierlich an Bedeutung und konnte sich – trotz starker Vorbehalte – der Einbindung in breit angelegte Missionen nicht entziehen. Besonders die vergangenen Jahre verdeutlichen zudem, dass sich gegenwärtig ein recht weites Spektrum an Interventionen mit unterschiedlichen Mandatierungen ausgeprägt hat. So sind zu nennen: a) b) c) d)

UN-legitimierte militärische Interventionen, in denen UN-Blauhelme die militärischen Aufgaben übernehmen (Bosnien seit 1992, Somalia 1992–1993). UN-legitimierte militärische Interventionen, in denen von den UN beauftragte nicht UN-Truppen die militärischen Aufgaben übernehmen (ISAF in Afghanistan; IFOR bzw. SFOR in Bosnien nach 1995). Multilaterale militärische Interventionen, die nicht über ein UN-Mandat verfügen (NATO und EU im Kosovo 1999). Unilaterale Interventionen, die nicht über ein UN-Mandat verfügen (USA in Irak seit 2003, Äthiopien in Somalia seit 2006).

Die Interventionen in den vergangenen zwei Dekaden verdeutlichen zudem, dass die Grenzen zwischen einer Belassung des Souveränitätsstatus und der völligen Objektwerdung des Staates, in den interveniert wird, Àießend sind: Auf der einen Seite führten Interventionen zu einem unverkennbaren Protektoratstatus wie etwa im Kosovo (1999–2008) oder in Timor Leste (1999–2002); auf der anderen Seite bildeten sich Mischformen wie in Bosnien-Herzegowina aus, wo ein von der Europäischen Union eingesetzter Hoher Repräsentant über Vetobefugnisse gegenüber einer demokratisch gewählten Exekutive verfügt (Knaus & Martin 2003); andere Beispiele sind Afghanistan und Irak, wo die Souveränität durch die Einsetzung einer Übergangsregierung gleich nach der Intervention de jure wieder hergestellt wurde, aber de facto die Entscheidungsgewalt qua militärischer Präsenz und ¿nanzieller Mittel bei den intervenierenden Mächten verblieb (Schetter & Mielke 2008). Schließlich sind Länder zu nennen, in denen der Staat selbst aus der Positi-

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on seiner Schwäche heraus eine partielle oder zeitweise Intervention befürwortete. In diesen Fällen wurde zwar die Souveränität des Staates de jure nicht angetastet, doch de facto an internationale Akteure abgegeben. Rezentes Beispiel hierfür ist etwa die D. R. Kongo. So entstanden überall auf der Welt politische Ausnahmezustände, die Robert Cooper (2003) – einst Berater von Tony Blair und Generalsekretär für auswärtige und sicherheitspolitische Angelegenheiten des Rats der EU – als „liberal protectorates“ bezeichnet. Diese neuen politischen Konstruktionen wertet Menzel (2003) dagegen eher als „liberalen Kolonialismus“. Banuri (1990) zieht gar eine Kontinuitätslinie vom Kolonialismus über den Imperialismus und den Kalten Krieg bis hin zur gegenwärtigen Entwicklungspolitik: „What ‚we‘ can do for ‚them‘ then is just a ‚licence‘ for imperial intervention“ (Banuri 1990: 96). Zweifelsohne stehen Interventionen und die damit einhergehende Einschränkung staatlicher Souveränität in einem unauÀösbaren Widerspruch zum Ansinnen, eine liberale Staats- und Gesellschaftsordnung durchzusetzen (Richmond 2005, Paris 2004). So weist Gawrich (2005) darauf hin, dass „… den Okkupanten … die Legitimation durch Wahl“ fehlt. Besatzungsregime stellen daher im Lande selbst „Nichtdemokratien“ dar, die allenfalls „demokratieorientiert“ sein können. Versteht man militärische Interventionen als die Übernahme von Treuhandschaft, ergibt sich hier in verschärfter Form das Dilemma, das bereits für Entwicklung als Praktik aufgezeigt wurde. An den drei Feldern „Human Security“, „humanitäre Intervention“ und „zivil-militärische Zusammenarbeit“ will ich deutlich machen, weshalb gerade die Durchsetzung eines Verständnisses von „Entwicklung als Praktik“ eine notwendige Voraussetzung war, damit in der neu entstehenden Interventionskultur die Grenzen zwischen Sicherheit und Entwicklung verschwimmen konnten. 3

Human Security

1994 veröffentlichte UNDP einen ersten Report zu „Human Security“. Seitdem fand eine institutionelle Verstetigung dieses Begriffs statt, die sich in unterschiedlichen Konzeptionen, politischen Netzwerken sowie in der Einrichtung von Instituten und Kommissionen niederschlug. In seiner epistomologischen Herleitung ist der Begriff bemüht, die „harte“ Sicherheit mit dem soften Begriff des Menschlichen zu umgarnen.4 Damit leitete der Begriff „Human Security“ bereits auf der konzeptionellen Ebene das Verschwimmen von Entwicklung und Sicherheit ein, weshalb Roland Paris ihn als „slippery by design“ charakterisiert (Paris 2001: 88; Ein gutes Beispiel für diese bewusste semantische Verknüpfung ist der UNDP-Report „Security with a human face“, der den Human Security-Ansatz auf Afghanistan anwendete.

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vgl. King & Murray 2001). Andrew Mack (2002: 3) weist daraufhin, dass dem Begriff daher weniger ein analytisches Konzept zugrunde liegt als gemeinsame politische und moralische Werte, die in einer liberalen Weltordnung verankert sind. So steht bei dem Begriff die Sicherheit der Menschen im Vordergrund, die nun nicht mehr allein an physischer Sicherheit festgemacht wird, sondern auch an weichen Faktoren wie Armut, Gesundheit und Umwelt – die klassisch mit dem Begriff der Entwicklung verbunden sind. So wird „Unterentwicklung“ – etwa durch Armut oder Umweltkatastrophen – per se als Sicherheitsrisiko wahrgenommen (Duf¿eld 2007: 115). Diese Unbestimmtheit über die Zusammenhänge von Sicherheit und Entwicklung schlug sich in einer Weiterentwicklung des Konzepts nieder, nach der menschliche Sicherheit sowohl „freedom from fear“ als auch „freedom from want“ umfasst (CHS 2003).5 Hierbei bezieht sich „freedom from fear“ auf alle sicherheitsbedrohenden Gefahren, während „freedom from want“ gerade entwicklungsbezogene Kriterien in den Vordergrund stellt, die in etwa den Vorgaben der Millennium Development Goals entsprechen. Also wird auch hier Entwicklung an das Erreichen bestimmter Kriterien entsprechend eines Verständnisses von „Entwicklung als Praktik“ geknüpft. Die Verbindung zwischen Sicherheit und Entwicklung wird über den Wert der individuellen Freiheit hergestellt. Damit ¿ndet eine wichtige Verschiebung der Wahrnehmung statt, die gerade in Hinblick auf die Entstehung einer Interventionskultur wichtig ist. So werden entsprechend der Durchsetzung einer liberalen Weltordnung nun die Belange des Individuums in den Vordergrund gestellt und eben nicht mehr die des Staates. Diese Unantastbarkeit der staatlichen Souveränität, die im 20. Jahrhundert wesentliches Fundament der globalen Ordnung war, hatte bereits Boutros Boutros-Galis Agenda for Peace 1992 infrage gestellt. Mit dem Begriff der menschlichen Sicherheit wird daher die Sicherheit von Individuen über die von Staaten gestellt. Die Konjunktur dieses Verständnisses muss vor dem Hintergrund der „failed states“-Debatte gesehen werden. So suggerierten die Bürgerkriege, die seit den 1990er Jahren überall auf der Welt zu beobachten waren, dass Staatlichkeit außerhalb der OSZE-Welt häu¿g ihre Legitimation nicht durch ihre Bürger erfährt und zudem durch korrupte Strukturen geprägt ist. So tragen viele Staaten der Welt nicht nur die Gefahr des Zusammenbruchs und der Gewalteskalation in sich (Kaldor 2000; Münkler 2002), sondern nehmen die Verantwortung gegenüber ihren Bürgern nicht ausreichend wahr. Obgleich der Human Security-Diskurs das Individuum in den Vordergrund stellt, bleibt letztlich der Staat der eigentliche Bezugsrahmen, indem in effektive und in ineffektive Staaten unterteilt Hier tendierten die verschiedenen Staaten, die den Begriff „human security“ förderten, zu unterschiedlichen Positionen. So betonte Canada eher den Aspekt „freedom from fear“, während Japan der De¿nition von „freedom from want“ näher stand (Jockel & Sokolsky 2000; Ulbert & Werthes 2008). 5

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wird. Damit bleibt auch das Ziel der menschlichen Sicherheit – trotz der Betonung des Individuums – die Herstellung von einer, an einem liberalen Paradigma ausgerichteten Staatlichkeit. Der Human Security-Ansatz ist gerade in Hinblick auf die Schnittstelle zwischen Entwicklungsverständnis und Interventionspolitiken von herausragender Bedeutung. So zieht er die Souveränität des Staats zugunsten des Individuums bei Nichterfüllung gewisser Verantwortlichkeiten, zu denen nun auch Entwicklungsfelder wie Armutsbekämpfung, Bildung und Gesundheit gerechnet werden, in Zweifel. Damit wird – im Falle eines Staatsversagens – eine Verantwortung der globalen Entwicklungs- und Sicherheitsorganisationen für die Freiheit und selbstbestimmte Entwicklung von Individuen geradezu eingefordert. Diese Verantwortlichkeit der Schutzausübung macht bereits der Untertitel „Protecting and Empowering People“ des oben erwähnten Berichts der Commission on Human Security (2003) deutlich. Mit dieser VerpÀichtung zur Treuhandschaft bei Staatsversagen bietet der Ansatz der menschlichen Sicherheit daher die Legitimationsgrundlage für Interventionen im Namen der Humanität, auf die im folgenden Kapitel eingegangen werden soll. 4

Humanitäre Interventionen

Wenngleich Interventionen nichts Neues darstellen und auch während des Kalten Krieges stattfanden, ist die Legitimierung über einen Wertediskurs das eigentlich Neue an Interventionen (Menzel 2005): So spielt vor dem Hintergrund der Verbindung von Unterentwicklung und gewaltsamen KonÀikten, die gerade der Human Security-Diskurs beleuchtet, die Etikettierung von Interventionen als „humanitär“ für deren Legitimationen eine wichtige Rolle. Beispiele für sogenannte „humanitäre Interventionen“ stellen Bosnien-Herzegowina, Kosovo, Somalia, Timor Leste, Sierra Leone, D. R. Kongo oder Haiti dar. Die Souveränität eines Staates wird also dem Aspekt der Einhaltung universeller Menschenrechte oder dem Ansinnen, das blanke Überleben von Menschen zu schützen, untergeordnet (Daxner 2005). Die militärische Intervention wird demnach im Namen der Menschlichkeit vorgenommen, um Menschenleben zu retten bzw. eine gewisse Qualität von Leben aufrechtzuerhalten, wozu der betreffende Staat nicht in der Lage oder gar nicht willens ist (Hinsch & Janssen 2006). Damit avancierte das Human Security-Paradigma zum konzeptionellen Rückgrat der Forderung nach Responsibility to Protect (r2p). So greifen Protagonisten des r2p-Ansatzes auf die im Ansatz der menschlichen Sicherheit genannten Sicherheitsrisiken zurück, um die Bedrohung des Individuums über die Souveränität eines Staates zu stellen (ICISS 2001). Demnach geht es bei Interventionen darum, dass die Souveränität eines Staates zumindest zeitweise

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ausgesetzt oder eingeschränkt werden muss, um die menschliche Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten. Damit ¿ndet eine Ausdehnung von Treuhandschaft auf ganze politische Systeme statt. In der Tatsache, dass sich militärische Interventionen gegenwärtig gern mit dem Etikett des Humanitären schmücken, indem sie auf die gefährdete menschliche Sicherheit Bezug nehmen, sehen viele Kritiker (u. a. Mamdani 2007) vor allem einen Akt der Propaganda. So kann eine Intervention, die den Schutz von Menschen in den Vordergrund stellt, weit eher auf einen Rückhalt in der Bevölkerung an der „Heimatfront“ hoffen als eine, die den puren Akt des Militärischen betont. So wird bemängelt, dass in „humanitären Interventionen“ vielfach die wahren Interessen der intervenierenden Mächte – die vom Eigenschutz bis hin zu ökonomischen und geostrategischen Zielen reichen können – verschleiert würden, und ein normativer Zustand, nämlich wie ein Staat handeln sollte, absolut gesetzt würde (vgl. Harvey 2005). Damit – so die Kritiker – liege auch humanitären Interventionen stets ein kolonialer Habitus zugrunde. So schreibt Mamdani: „… humanitarian intervention … is the language of big powers. The history of colonialism should teach us that every major intervention has been justi¿ed as humanitarian, a ‚civilizing mission‘.“ (Mamdani 2007)

Der Ansatz, militärische Interventionen mit einer humanitären Mission zu legitimieren, bleibt daher fragwürdig. So bemängelt etwa Mark Duf¿eld (2007), dass jede von Eigeninteressen geleitete Intervention sich mit dem Rückgriff auf Mängel der menschlichen Sicherheit legitimieren lässt. Zudem ist zu fragen, wer letztlich entscheidet, wann ein Staat nicht in der Lage oder nicht willens ist, seine Mitbürger zu schützen, und wo die Schwellenwerte liegen, die ein Eingreifen im Namen des Humanitären erforderlich machen? Hier wird zwar gern auf die UN als multilaterales Entscheidungsgremium verwiesen. Jedoch stellen auch die UN keinen neutralen, überparteiischen Akteur dar, da die Entscheidungen des UN-Sicherheitsrats als dem zentralen Gremium von nationalstaatlichen Interessen dominiert werden. So ist der UN-Sicherheitsrat nur in einigen Fällen – etwa Afghanistan – zu einem einheitlichen Votum für die Genehmigung einer Intervention gelangt. Zudem machen Fälle wie Ruanda 1994, in Darfur seit 2003 oder in Myanmar 2007 deutlich, dass militärische Interventionen in offensichtlichen Fällen des Versagens von Staaten bzw. des bewussten Verstoßes von Staaten gegen Menschenrechte nicht statt¿nden, da die internationale Staatengemeinschaft nicht den nötigen Willen aufbringt. In gleicher Weise ist es aufgrund der Machtverhältnisse sehr unwahrscheinlich, dass eine militärische Intervention im Namen der Humanität in den USA, China oder Russland statt¿nden wird, falls einem dieser Staaten eklatante Menschenrechtsverletzungen zum Vorwurf gemacht werden sollten (von Hippel 2000: 100). Zudem ist zu fragen, um welche Qualität von Lebensschutz es sich

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handelt. So suggeriert der Begriff der „humanitären Intervention“, dass der Militäreinsatz allein dem Schutz des „nackten Lebens“ dient. Jedoch verdeutlichen gerade die Eigendynamiken von Interventionen, dass peace keeping sich immer häu¿ger in ein peace making verwandelte. Damit beschränkt sich die Intervention nicht mehr auf das Einhalten der Kämpfe, sondern zielt auf eine Überwindung der KonÀikte ab, was in der Regel mit der Schaffung eines „demokratischen Friedens“ und/oder eines „state buidlings“ einhergeht. Dementsprechend geht es dann bei der Intervention nicht mehr um den Schutz des nackten Lebens, sondern um die Etablierung normativ ausgerichteter Rahmenbedingungen, über die gewisse Qualitäten (etwa Menschenrechte) des Lebens gesichert werden sollen. Schließlich ist zu fragen, ob sich militärische und humanitäre Handlungen nicht per se ausschließen. So haben militärische Handlungen in Interventionen den Schutz von Menschleben zum Ziel bei Inkaufnahme der Versehrtheit anderer Menschen. Damit stellt sich die Frage, welches Menschenleben eine höhere Wertigkeit hat, was sich der De¿nition des Humanitären jedoch entzieht. 5

Zivil-militärische Zusammenarbeit

Aufgrund dieser AuÀösung der Grenzen zwischen dem zivilen und dem militärischen Bereich bei Interventionen entwickelte sich jüngst eine Debatte, die unter dem Schlagwort läuft „Keine Entwicklung ohne Sicherheit, keine Sicherheit ohne Entwicklung“, die zur Mantra einer neuen Interventionskultur avancierte. Fraglich hierbei bleibt jedoch, um wessen Sicherheit und Entwicklung es geht und wer überhaupt de¿niert, was Sicherheit und Entwicklung bedeuten. Dieses Zusammengehen von zivilen und militärischen Ansätzen unterstreichen auch die jüngsten richtungweisenden Veröffentlichungen der EU, NATO und UN. So wird uno sono das Zusammengehen von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik in integrierte Ansätze gefordert, wobei Letzteres militärischen Zielsetzungen in der Regel unter- bzw. nachgeordnet wird (Schetter & Glassner 2007). Im Zentrum dieser integrierten Missionen steht, dass in Interventionen zivile und militärische Akteure zusammenarbeiten sollen, um ein kohärentes Vorgehen aus einer Hand zu gewährleisten. Integrierte Missionen basieren auf der Annahme, dass Entwicklung und Menschenrechte untrennbar mit dem Ziel, Frieden und Sicherheit herzustellen, verbunden sind. Sie stehen ganz im Zeichen eines „neuen Humanitarismus“, der dem klassischen Denken der humanitären Hilfe eine Absage erteilt und jedes Handeln innerhalb komplexer Krisen als politisch und damit in gewisser Weise auch parteiisch begreift (vgl. Fox 2001). Ein praxisbezogenes Beispiel für diese integrierten Missionen, das gegenwärtig das Zusammengehen ziviler und militärischer Ansätze erprobt, stellen die Provincial

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Reconstruction Teams (PRTs) in Afghanistan dar, wenngleich die Struktur und die Eigenständigkeit der zivilen Akteure ja nach nationalem Konzept unterschiedlich ausgerichtet ist (Frerks et al. 2006). Die Grundannahme zivil-militärischer Zusammenarbeit lautet, dass Entwicklungsorganisationen und Militär sich gegenseitig durch ihre Arbeit abstützen und über die Gewinnung der hearts and minds der Bevölkerung zu einem Erfolg der Interventionsmission beitragen sollen. Daraus ergeben sich vielfältige Probleme. Erstens werden Entwicklungsorganisationen nun Teil der Intervention: Die grundlegenden Prinzipien von Unparteilichkeit, Neutralität und Unabhängigkeit, denen sich viele NROs verpÀichtet fühlen, können nicht mehr aufrechterhalten werden, wenn sie im Tross der Interventionstruppen unterwegs sind. So stehen viele NROs in vorderster Front von Interventionen, die den Aufbau von Staatlichkeit und moderner Zivilgesellschaft zum Ziel haben. Dieser Einbindung in Interventionen können sich NROs kaum noch erwehren, da ihre Finanzierung häu¿g weitgehend von den Projektmitteln der großen Geber (EU, Weltbank, ADB etc.) abhängig ist. De¿nierten sich NROs noch in den 1980er Jahren in erster Linie über ihren Status außerhalb des Staats, so sind sie nun zunehmend Empfänger staatlicher Projektgelder, womit sie sich in ein einseitiges Abhängigkeitsverhältnis begeben (Duf¿eld 2001). Zweitens gerät bei der zivil-militärischen Zusammenarbeit ein sozialethisches Verständnis von Entwicklung als Akt der Selbstlosigkeit ins Hintertreffen. So geht es nicht mehr darum, dass die Verbesserung der Lebensbedingungen der Bevölkerungsteile, die am stärksten Not leiden, im Vordergrund steht, sondern derjenigen, die für die Sicherheit der zivilen und militärischen Interventionskräfte von größtem Belang ist. Damit ist also die force protection Ausgangspunkt einer jeglichen Projektarbeit und nicht die humanitäre oder entwicklungsbezogene Notwendigkeit (siehe Schetter & Glassner 2006). Hier blitzt der Gedanke auf, dass sowohl die Bereitsteller wie die Empfänger von Entwicklungsprojekten pro¿tieren sollen. Entwicklungsprojekte laufen mit dieser Betonung des Eigennutzes Gefahr, zum Vehikel einer militärischen Agenda zu werden. Im Gegenzug sieht das Militär, das sich im Eigenverständnis häu¿g nicht als politische Partei, sondern als neutraler Akteur versteht, seine Aufgabe darin, ein sicheres Umfeld für Entwicklungsorganisationen zu schaffen. Drittens verwischen sich die Grenzen zwischen Entwicklungsorganisationen und Militär. So verfügt etwa das Militär über CIMIC6-Einheiten, die über zivile Kleinprojekte direkt den Schutz des Militärs erreichen sollen. Aufgrund ihrer Projekte ähnelt CIMIC auf den ersten Blick einer zivilen Organisation; in ihrer Intention verfolgt CIMIC jedoch keine humanitären Ziele, sondern will die Bevöl6

Civil-Military Cooperation.

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kerung beeinÀussen und die Informationsgewinnung erleichtern. Demnach könnte CIMIC auch den psychological operations zugeordnet werden. CIMIC arbeitet zudem wenig transparent, da die taktischen Intentionen, die über die Bevölkerung gewonnen Informationen, die Finanzierung etc. nicht offen gelegt werden. Zudem werden im Alltag die Grenzen zwischen zivil und militärischen Akteuren dadurch aufgehoben, dass sich CIMIC-Einheiten zivilen Symbolen bedienen (weiße Fahrzeuge etc.), wodurch Entwicklungsorganisationen die Möglichkeit genommen wird, sich in der Wahrnehmung vom Militär abzugrenzen. 6

Schluss

Stellte in den 1980er Jahren Entwicklung noch in vielen regionalen Kontexten geradezu das Gegenteil zu militärischen Handlungen dar, verschwammen in den letzen Jahren nicht nur die Konturen zwischen beiden Bereichen, sondern wird geradezu ein kausaler Zusammenhang zwischen militärisch zu leistender Sicherheit und zivil zu leistender Entwicklung hergestellt. Gerade die Genese von Interventionen von rein militärischen Missionen hin zu Friedens- und Staatsbildungsprojekten trug zu diesem Wandel bei. In diesem Zusammenhang wird Entwicklung bewusst eingesetzt, um gewisse politische Ziele zu erreichen, die von den Interessen der Gebergemeinschaft de¿niert werden. Damit verliert Entwicklung seine primäre sozialethische Ausrichtung und wird zu einem interessengeleiteten Instrument der Politik. So schreibt Duf¿eld pointiert „…development is a technology of security that is central to liberal forms of power and government“ (Duf¿eld 2007: viii). Dass sich Entwicklung in diese Richtung überhaupt wandeln konnte, war nur dadurch möglich, dass dieser Begriff immer weniger zur Auseinandersetzung über unterschiedliche Gesellschaftsvisionen und über den entsprechenden Weg dorthin diente, da das liberale Gesellschaftsmodell nicht mehr in Frage gestellt wurde. Damit erfuhr Entwicklung eine Reduktion auf seinen Projektcharakter – eben auf Entwicklung als Praktik. Hierbei setzt das Verständnis von Entwicklung als Praktik ein treuhänderisches Verständnis voraus, wie es in Interventionen explizit gemacht wird. Damit ist der treuhänderische Charakter von Interventionskulturen dem vorherrschenden Verständnis von Entwicklung als Praktik nicht unähnlich.

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Wege zu einer Soziologie moderner Friedenseinsätze1 Jan Free

Großangelegte humanitäre Interventionen mit Staatsaufbau-Komponenten gelten gemeinhin als politisches Problem. Die Beteiligung an solchen Interventionen wird schnell zu einem wichtigen Thema in nationalen politischen Diskursen, insbesondere wenn die Legitimation eines Einsatzes fraglich ist. Vom Erfolg oder Misserfolg solcher Einsätze hängt in der heutigen Stimmungsdemokratie einiges ab. Kein Wunder also, dass ein politikwissenschaftlicher Blickwinkel die Untersuchung von humanitären Interventionen bestimmt. Diese Dominanz zieht aber Probleme nach sich, denn heutige Interventionen sollen nicht nur Kämpfe beenden, sondern zudem auch an Einsatzort einen besseren Staat und einen bessere Gesellschaft hinterlassen. Es geht häu¿g um eine grundsätzliche Reform des Zusammenlebens in den intervenierten Regionen – wie es zuletzt in Afghanistan deutlich wurde. Doch die Spezialisten für menschliches Zusammenleben sind bislang kaum in Erscheinung getreten, wenn es um die Erforschung von militärisch gestützten Interventionen geht. Diese Zurückhaltung gründet sich gewiss teilweise darin, dass es recht schwer ist, für soziologische Forschungsvorhaben im Kontext von militärisch gestützten Interventionen Mittel einzuwerben, sofern es nicht um kleinteilige Evaluationsvorhaben geht. Ein anderes Problem ist aber auch, dass bislang kein tragfähiger Theorierahmen formuliert wurde, der verschiedenen Studien Halt bieten konnte.2 Missionen wie in Kosovo oder Afghanistan nenne ich modern, weil sie auf der Annahme beruhen, dass tiefgehende Veränderungen menschlichen Verhaltens möglich und auch planbar sind – siehe die Genese des Fortschrittsgedankens als eine typische ideengeschichtliche Charakteristik der Moderne (s. zur Genese des Fortschrittsgedankens Blumenberg, 1996; Jackson, 2004; Lasch, 1991; Pollard, 1971), die im Zusammenhang mit der Entstehung des Nationsgedankens wichtig ist (Free, 2007, 2009). Für die Annahme, dass heutige Interventionen spezi¿sch moderne Unternehmen sind, spricht aber auch die Modernitätsinterpretation von Jürgen Habermas. Habermas zielt darauf ab, das „Projekt der Moderne“ (Habermas, 1981, S. 482) weiterzuführen. Darunter versteht er die Ausbreitung von Rationalität. Wie sich nach Habermas’ Darstellung Rationalität als Spezi¿kum der Moderne entwickelt, liest sich wie eine Anleitung zum Staatsaufbau nach westlichem Modell: strukturelle Differenzierung, Differenzierung nach Form und Inhalt, ReÀexivität der symbolischen Reproduktion, funktionale Ausdifferenzierung; oder anders: Gewaltenteilung, Institutionsaufbau, Trennung von Glauben und Verwaltung, Trennung von Freundschaft und Geschäft. Ich weiß, dass das hier viel zu komprimiert ist, um wirklich verständlich zu sein; ich kann nur auf spätere Arbeiten verweisen (zudem s. Waldenfels, 1985, S. 94–119). 2 Für die kulturwissenschaftlichen und ethnologischen Disziplinen hat dieses Argument zuletzt Robert Rubinstein (2008) ausgearbeitet. 1

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Überraschen kann dieser Mangel kaum, ist doch die Theoriediskussion in der Soziologie (und anderen Wissenschaften, die sich mit menschlicher Sozialorganisation beschäftigen) nicht gerade dafür bekannt, einen breiten Konsens herstellen zu können. Während die schmale Ressourcenbasis kaum wissenschaftsimmanent zu ändern ist, können immerhin die Theorie-Probleme der aktuellen sozialwissenschaftlichen Erforschung des Nachspiels von humanitären Interventionen direkt angegangen werden. Und genau darum wird es in den folgenden Zeilen gehen. Ich will zunächst darlegen, wieso das Soziale während Peacebuilding- und Nationbuilding-Einsätzen anders gelagert ist als das Soziale in „normalen“ Gesellschaften. Anschließend werde ich darlegen, wieso Pierre Bourdieus Sozialtheorie mir geeignet erscheint, um diese besonderen Interventionsgesellschaften zu erforschen. Eine umfassende Sozialtheorie scheint zwar nicht zwingend notwendig zu sein, weil Soziologen und Ethnologen auch im Bereich von Peacekeeping und Nationbuilding selbst mit dem bisherigen Stand der Dinge zahlreiche wichtige Erkenntnisse liefern konnten. Aber die Geschichte der Wissenschaft hat gezeigt, dass es notwendig ist, die epistemologischen Grundlagen von Wissen zu verbreitern, um aus Wissen auch nutzbares Wissen machen zu können (Mokyr, 2005): Listen von exakten Naturbeobachtungen gab es bereits seit Jahrhunderten, doch erst nachdem erklärt werden konnte, weswegen die jeweiligen Phänomen überhaupt regelmäßig zu beobachten sind, konnten sie auf innovative und praktisch relevante Art und Weise genutzt werden (Mokyr, 2008, S. 438–439). Zwar mag es altmodisch sein, aber die Vorstellung, dass auch die Soziologie praktisch relevant sein kann, habe ich nicht ganz aufgegeben. Denn einerseits ist es den von Interventionen adressierten Bevölkerungen zu wünschen, dass der Übergang von kriegerischen zu friedlichen Zuständen möglichst schnell und verlustfrei vonstatten geht. Wenn die Soziologie diesen Prozess beschleunigen oder verbessern kann – umso besser. Dazu muss sie aber praktisch relevant sein.3 Und andererseits dürfte Praxisrelevanz auch einige ¿nanzielle Engpässe beheben können: Solange die Relevanz einer Disziplin unklar ist, halten sich Geldgeber eher zurück. Große Pläne Ursprünglich sollten Friedenseinsätze garantieren, dass kriegerische Aktivitäten in einer bestimmten Region unterbleiben, jetzt sollen sie eine bessere Gesellschaft hinterlassen. Dieser Wandel geschah natürlich nicht über Nacht. Im Konzept des klassischen Peacekeepings waren leicht bewaffnete Soldaten damit beschäftigt, 3 Warum Praxisrelevanz auch wissenschaftsphilosophisch unabdingbar ist, kann in den zahlreichen Werken von Jürgen Habermas nachgelesen werden; die Kurzfassung ¿ndet sich bei Waldenfels (1985, S. 98–99).

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unter der Aufsicht der UN zerstrittene Parteien zu trennen und zu überwachen, dass Waffenstillstandsabkommen eingehalten werden. Bald sollten PeacekeepingMissionen aber ebenfalls die Ursachen des KonÀiktes bearbeiten und die Basis für einen belastbaren Frieden schaffen. In Anlehnung von Isaiah Berlins Unterscheidung von negativer Freiheit und positiver Freiheit (Freiheit von X vs. Freiheit zu Y, s. Berlin, 1969) galt es nun, die Bedingungen herzustellen,4 die einen positiven Frieden ermöglichen. Das Ende der Blockkonfrontation bestätige viele Wissenschaftler und Politiker in ihrer Auffassung, dass positiver Frieden vor allem in liberalen Demokratien Halt ¿ndet. Zudem sahen sie neue Gefahren in zerfallenden Staaten, auf deren Gebieten Warlords und Terroristen sich etablieren konnten. Weil Staaten ohne funktionsfähige Regierung einem Friedenseinsatz aber nicht zustimmen können, wurde die vormals essentielle Vorgabe fallen gelassen, dass alle beteiligten KonÀiktparteien mit der Intervention einverstanden sein müssen. Mittlerweile hat sich die Doktrin der Responsibility to Protect (International Commission on Intervention and State Sovereignty, 2001) durchgesetzt – nicht nur in zahlreichen Hauptstädten, sondern auch in der UN-Vollversammlung. Laut dieser Doktrin wird die internationale Staatengemeinschaft dazu verpÀichtet, Menschenrechtsverletzungen auch mit Waffengewalt zu beenden, selbst wenn dafür die Souveränität eines Staates verletzt werden muss. Grundsätzlich bewertet diese Denkweise die Menschenrechte und den Schutz der Individuen höher als die Souveränität von Staaten. Implizit ist damit gefordert, dass, wenn Interventionen erfolgen, sie die jeweiligen Staaten und Regierungen korrigieren sollten, damit sich die Bedrohungssituation nachhaltig zum Besseren wandelt. Die Verantwortung des Wiederaufbaus (Responsibility to Rebuild), von der in verschiedenen UNDokumenten gesprochen wird, ist nur dann sinnvoll, wenn nicht genau dieselben Strukturen wieder aufgebaut werden, die jene Ereignisse begünstigt haben, wegen denen die Intervention in Angriff genommen wurde (Breau, 2007). Wenn man mit einem zerfallenen Staat konfrontiert ist, ist der Wiederaufbau-Charakter der jeweiligen Intervention noch deutlicher. Und keine Intervention will eine Diktatur hinterlassen, weswegen UN-geführte Friedenseinsätze tendenziell Demokratie fördern sollen.5 Wenn die Intervention gar von einem willkürlichen Staatenbündnis ausgeführt wird (s. Irak 2003), ist der Demokratie-freundliche Charakter noch betonter – wenigstens in der Rhetorik der Intervenierenden. Dann kann Regime Change sogar eines der zentralen Ziele einer Intervention sein.

4 Diesem Herstellungsgedanken entsprechend bezeichnete man internationale Friedenseinsätze nun als Peacebuilding Operations. Eine gute Übersicht darüber, wie sich die Konzepte der UN-Friedenseinsätze in den letzten 60 Jahren verändert haben, bieten Weiss (2007) oder auch Dolye & Sambanis (2006). 5 Ursprünglich hatten Friedenseinsätze der UN allerdings nicht viel mit Demokratieförderung zu tun. Über den Wandel der UN-Missionen seit den 1980er Jahre ist bereits viel geschrieben worden, sodass hier auf die umfassende Darstellung in Dobbins et. al. (2005) verwiesen werden kann.

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Wenngleich es heute häu¿g eine Aufgabe eines Friedenseinsatzes ist, demokratische Staaten zu errichten, werden Interventionen nicht primär als Instrument der Demokratisierung der Welt begriffen. Eher verstehen die politischen Entscheidungsträger Demokratisierung und Verwestlichung6 des Institutionsgefüges als Mittel, um einer von Krieg und gewaltsamen KonÀikten Bevölkerung zu mehr Sicherheit und Wohlstand zu verhelfen. Das Resultat dieser Politik ist natürlich eine konkrete Verwestlichung der intervenierten Regionen, aber darin unterscheiden sich Interventionen nicht von anderen Maßnahmen der Finanz- und Entwicklungshilfe.7 Pragmatisch betrachtet ist es vielmehr das Problem von Interventionen, dass die großen westlichen Staaten sich nicht ausreichend bewusst sind, dass sie im Grunde ihr Staatsmodell exportieren und dadurch eine gewisse Verantwortung gegenüber den intervenierten Bevölkerungen haben. Stattdessen tun Politiker und UN-Angehörige so, als besäßen Interventionen nicht dieses Moment der politischen Strukturanpassung, für das die Intervenierenden besser Sorge tragen müssten (Chandler, 2005, 2006; Tansey, 2007). Und dabei ist es mit einer Reorganisation der politischen Sphäre in heutigen Interventionen nicht getan: Ebenso stehen Reformen des Wirtschafts- und Bildungssystems, der Krankenversorgung, der Rechtsstaatlichkeit, sogar des Versicherungswesen an. Deutlich sichtbar wurde diese Aufgabenfülle im Kosovo, wo die UN-Mission ab 1999 mehrere Jahre die Regierungsgewalt übernahm und in allen Bereichen des Lebens Veränderungen anstieß (Jurekovic, 2006; Rossbacher, 2004). In Afghanistan hatte man ähnlich viel vor, allerdings ohne das Element der vollständigen Regierungsübernahme vonseiten der Intervenierenden (Daxner, Free, Schüßler, & Thiele, 2007; Rubin, 2004; Suhrke, Harpviken, & Strand, 2002). In ihrem Anspruch erinnern heutige Interventionen an Projekte klassisch moderner Weltverbesserung, allerdings unter erschwerten Bedingungen: Ausgerechnet während oder kurz nach einem Krieg soll das Leben von Millionen Menschen 6 Verwestlichung heißt hier, dass die staatlichen Institutionen sich dem westlichen Staatsmodell angleichen (z. B. in ihrer Gesetzgebung), aber auch, dass im Westen entstandene soziale Konventionen und Deutungsmuster als Grundlage für soziale Interaktion verbreitet werden. Dieser Prozess der globalen Verwestlichung ist dabei nicht primär als bewusster Imperialismus zu verstehen, sondern als Nebenwirkung davon, dass Staaten und andere Organisationen in der heutigen Zeit international und häu¿g global vernetzt sind. Die Funktionsweisen dieser globalen Netzwerke orientieren sich an westlichen Prinzipien und historischen Vorbildern (Meyer, 2005; s. auch die folgende Fußnote). Das heißt aber nicht, dass der Westen sich globalisiert, sondern, dass westliche Prinzipien die modi vivendi auf der internationalen Ebene stärker bestimmen als andere Prinzipen. Die sich herausbildende Weltgesellschaft (dazu einführend Albert, 2007) ist aber deswegen nicht sogleich nur eine Verlängerung des Westens (Bonacker, 2006). 7 Dazu haben John W. Meyer und seine Mitarbeiter unter dem Titel Weltkultur (Meyer, 2005) zahlreiche Studien vorgelegt (s. auch Levi-Faur, 2005). Sie beschränken sich thematisch allerdings nicht auf die Entwicklungshilfe, sondern analysieren die Prozesse, mit denen westliche Prinzipien und Arbeitsweise sich ausbreiten. Internationale Organisationen wie die UN spielen dabei eine wesentliche Rolle.

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renoviert werden. Innerhalb der alltäglichen Politik in den meisten „normalen“ Staaten wurden solche Vorhaben schon vor langer Zeit aufgegeben, doch in der Krisensituation des Kriegs vermeintlich Unmündiger (oder Entmündigter) wirken Kollektivverbesserungspläne wie zu Zeiten der französischen Revolution (Bell, 2001) offenbar wieder anziehend. Weltverbesserung zugunsten der armen Teufel ist salonfähig,8 sofern die Welt nur die ihrige ist und nicht unsere (s. Michael Daxners Beitrag zum Heimatdiskurs). Insofern zeigen die heutigen Interventionen eine Rückkehr des großangelegten Social Engineering an (Krause & Jutersonke, 2005; Suhrke, 2007). Natürlich war die Periode zwischen 1789 und 1989 nicht eine Zeit ohne Social Engineering. Insbesondere in den USA und in kommunistischen Länder gab es traditionell eine Neigung, die Formbarkeit von Gesellschaft zu überschätzen (Chomsky, 1967; Vidich & Lyman, 1985, passim). Doch weil die Erfolge solcher Projekte recht bescheiden aus¿elen, hat man gemeinhin den Glauben aufgegeben, dass soziale Veränderungen gesteuert werden könnten. In Afghanistan und anderswo gibt es jedoch im Rahmen der bestehenden Mandate keine Alternative, als daran zu glauben, dass Interventionen und die mit ihnen verbundenen massenhaften Reformvorhaben helfen und gelingen können.9 Besser als nur daran zu glauben, wäre allerdings, auch wissen zu können, ob die durch die Intervention angestoßenen Reformprojekte auch tatsächlich zu sozialen Verbesserungen führen. Im heimatlichen Berufsalltag reicht den einzelnen Intervenierenden häu¿g ihre Common Was aus meiner Perspektive des Nationalismusforschers durchaus überraschend ist (vgl. Free, 2007). Natürlich ist es möglich (und notwendig), am Erfolg von Interventionen zu zweifeln. Aber die Kritik am of¿ziellen Erfolgsglauben ¿ndet bereits auf einer Metaebene statt. Aus der Innensicht der Intervention sieht es anders aus. Natürlich ist es politisch legitim und sehr naheliegend anzunehmen, dass Interventionen scheitern (Daxner & Free, 2008, 2009), aber während der Intervention können die intervenierende Akteure, die konkret an Ort und Stelle handeln, nicht eine andere Erwartungshaltung an den Tag legen, als die, dass State-Building und Interventionen zu einer sicheren Gesellschaftsordnung führen werden. Es gibt innerhalb der Mandatierung nicht einen Plan B, nur politische Notlösungen: Ohne Statebuilding-Komponente ist man wieder bei klassischen Peacekeeping-Missionen, die aber nichts gegen failed states ausrichten können, was aber häu¿g Ziel der Einsätze ist. Die Legitimität der Afghanistan-Intervention beispielsweise speist sich auch daraus, dass den Afghanen geholfen werden soll. Da kann man sich kaum eingestehen, dass ihnen eventuell nicht zu helfen ist – zumindest nicht in der Art und Weise, wie es zurzeit versucht wird. Allerdings hat sich zu Beginn des Jahres 2009 die Erwartungshaltung merklich gesenkt. Kaum hatte US-Präsident Barack Obama sein Amt angetreten, verkündete er einen „neuen Realismus“ in der amerikanischen Außenpolitik, der einen Abschied von Maximalzielen in Afghanistan bedeutet. Auch der US-Verteidigungsminister Robert Gates hofft nun eher auf ein stabiles Afghanistan, nicht ein demokratisches. „Afghanistan is the fourth or ¿fth poorest country in the world, and if we set ourselves the objective of creating some sort of Central Asian Valhalla over there, we will lose. Nobody in the world has that kind of time, patience or money, to be honest“ (Gates, zitiert in „Democracy fades from Obama’s Agenda“, The Globe & Mail, 04. Februar. 2009). Wie sich diese geänderte Haltung auf die Legitimität der Intervention in den Heimatdiskursen auswirken wird, ist schwer abzuschätzen. 8

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Sense-Soziologie, um solche Einschätzungen vorzunehmen, doch in einer ihnen sehr fremden Umgebung hilft dieses Wissen über die vertrauten sozialen Felder nicht viel. Dann wäre eine Soziologie sinnvoll, die Indikatoren entwickelt, genau beschreibt und Trends einordnet, damit alle Beteiligen einer Interventionsgesellschaft erkennen können, an welcher Stelle auf der Entwicklungslinie von einem Interventionsfall zu einen Minimalprogramm der Aufklärung (Verfassung, institutionalisierte politische Mitbestimmung, Sicherheit von Besitz und Leben, rule of law usw.) man sich be¿ndet.10 Solche Einschätzungen im Kontext von Interventionen vorzunehmen, ist schwer, denn systemische Mindeststandards können schnell ausgerufen werden, sodass früh der Eindruck von Fortschritt entsteht. Fast überall auf der Welt kann nach kurzer Vorbereitungszeit eine Wahl durchgeführt werden, denn es gibt selten soziale Gruppen, die keine Erfahrung mit Mandatierungen haben.11 Nur ist ein Wahlgang noch nicht der Beweis erfolgreicher Demokratisierung, denn die Verfahrensform der Demokratie ist ungleich schneller zu meistern als die ideengeschichtliche Basis dieser Regierungsform.12 Fraglich ist also, wie Programme der Systemebene auf die konkreten sozialen Verhältnisse auswirken. Aber die Kopplung von Systemebene und sozialer Praxis interessiert doch auch die „normale“ Soziologie, also warum ist dann noch eine Interventionssoziologie notwendig? Weil Gesellschaft im Kontext von Interventionen unter anderen Bedingungen möglich ist als die uns vertraute Gesellschaft – das ist zumindest die These des Sammelbands. Diese Voraussetzungen müssen zunächst analysiert und dann in die konkreten Methoden und Forschungsdesigns integriert werden. Ich will die interventionsgesellschaftlichen Besonderheiten hier an zwei Punkten skizzieren: an dem erhöhten gesamtgesellschaftlichen Bezug und an den kollusiven Effekten, die von der Anwesenheit der Intervenierenden ausgelöst werden. Der erste Punkt erscheint auf den ersten Blick nicht besonders innovativ. Denn in Untersuchungen ist es üblich, auf die Konsequenzen des Untersuchten Gewiss runzeln nun einige Leser die Stirn darüber, wie man heute noch ein derart rückständiges und nicht-dialektisches Verständnis von Soziologie und Modernität haben kann. Es kann sein, dass ich es hier etwas mit dem Pragmatismus übertreibe, aber Wissenschaft sollte letztlich auch realen Bedürfnissen der Zeitgenossen nutzen und nicht nur wahre Aussagen produzieren. Dieser Gedanke speist sich zweifelsohne aus dem Wissenschaftsverständnis der Neuzeit und der Moderne (s. bspw. Blumenberg, 1996, 2001; Habermas, 1988a, 1988b; Marquard, 2004), aber diesen Anachronismus nehme ich in Kauf, denn mir behagt es eher, eine Wissenschaft zu betreiben, die relevant und nützlich ist, als eine, die nur Recht hat (zum Problem des post-modernen Relativismus s. de Zwart, 2002). 11 Wenngleich zumeist problematisch ist, ob und wie das Konzept der Repräsentation (Foucault, 1974) angewendet wird. Zur westlichen Demokratie gehört eben mehr als nur eine Wahl. 12 Finkel (2003) weist beispielsweise nach, dass politische Bildungsmaßnahmen notwendig sind, um zusätzlich zu Wahlgängen auch ein demokratisches Bewusstsein zu schaffen. Das gilt natürlich auch in etablierten Demokratien wie Deutschland. 10

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einzugehen und dabei die thematischen Grenzen des untersuchten Phänomens zu überschreiten. Aber diese Besinnung auf das große Ganze13 ist in Fall von Interventionen noch wichtiger als sonst, weil die Veränderungen der Systemebene in der Regel neben ihrem jeweiligem konkreten Nahziel auch dem Fernziel der gesamten Intervention zu gute kommen sollen – nämlich die oben umrissene „great make-over fantasy“ (Cramer, zitiert nach Suhrke, 2007, S. 1299). Deswegen reicht es nicht, sektoral begrenzte Evaluationsstudien aneinander zu reihen, die vor allem belegen sollen, ob ein Programm erfolgreich war, aber gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge vernachlässigen.14 Forscher, die in vergleichsweise stabilen sozialen Verhältnissen tätig sind, können diese große Rückbindung der konkreten Studienergebnisse an generelle soziale Trends in der Regel vernachlässigen. Denn wer beispielsweise in Deutschland überprüfen will, ob Bauern ein neues Subventionsprogramm annehmen, muss keinen sozialreformatorischen Aspekt im Hinterkopf behalten. In Wiederaufbauprogrammen im Kontext von Interventionen ist dieser Aspekt aber sehr wichtig und muss systematisch beachtet werden, beispielsweise wenn ein inhaltlich analoges Subventionsprogramm in Afghanistan zu evaluieren wäre. Zwar sagt man es nicht gerne, aber in Interventionen geht es auch darum, dass die Intervenierten neue Lebensformen übernehmen. Viele, wenn nicht sogar alle Programme und Projekte des Wiederaufbaus schleppen diesen sozialreformatorischen Impuls mit sich umher. Diese zusätzliche Last muss stärker und systematischer (d. h. methodisch und inhaltlich transparenter) beachtet werden.15 Zudem ist da noch die Anwesenheit der Intervenierenden, die einerseits direkt Regeln in vielen sozialen Feldern ändert, einige neue Felder überhaupt erst schafft und andererseits als Subtext in fast jeder nicht-privaten Interaktion mitläuft.16 So ändert eine Intervention gewöhnlich, in welcher Art und Weise in der intervenierNatürlich gibt es dieses große Ganze nicht konkret (Giesen, 1991), aber auch diskursive Phänomene können bedacht und untersucht werden. Letztlich ist der Diskurs zur Gesellschaft auch keineswegs freihändiges Fabulieren, sondern gegründet in eine Faktenbasis, wie immer löchrig und uneindeutig sie sein mag, und in eine Ideengeschichte, auch wenn sie abgehoben und utopisch sein mag. 14 Das heißt nicht, dass ich solche Studien unnötig ¿nde; es gibt sogar eine Menge Arbeiten, deren Autoren aus einer Evaluationsstudie eine höchst interessante und umfassendere Forschungsarbeit gemacht haben (bspw. Koehler, 2008; Mielke & Schetter, 2007; Zürcher & Koehler, 2008). Was das heißt, ist, dass sie allein nicht eine ausreichende soziologische Bearbeitung von Interventionsgesellschaften darstellen. 15 Es mag sein, dass einige NGOs mit dem Großen Plan der Interventionen nichts zu tun haben wollen, aber es ist kein Zufall, dass NGOs von der US-Regierung als „force multiplier“ bezeichnet werden (Lischer, 2007). Auch wer nur regional konzentriert seinem philanthrophisch Job nachgeht, dient letztlich der social engineering-Mentalität, die hinter der Intervention steckt. Ich ¿nde das auch nicht schlimm; ich lehne nicht jeden Versuch ab, gesellschaftliche Entwicklung beeinÀussen zu wollen. Nur kann ich nicht nachvollziehen, wie manche Aktivisten der Meinung sein können, ihre Tätigkeiten hätten keine (oder nur gute) politische Implikationen. 16 Siehe zu diesem Punkt in aller gebotener Knappheit Free, Schüßler & Thiele (2007). 13

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ten Region Machtpositionen erstritten und verteidigt werden können. Damit kann verbunden sein, dass manche Repräsentanten von Teilen der Bevölkerung nicht anerkannt werden, weil sie durch neue Wege aufgestiegen sind, die von Vielen noch als fremd wahrgenommen werden. Die Konstellation von Intervenierenden und Intervenierten ist zum Teil paradox: Die Intervention soll die Intervenierten in einem freien und souveränen Staat zurücklassen (also aus Unfreiheit emanzipieren), doch zum Zweck dieser Befreiung wird die Souveränität der Intervenierten zunächst reduziert. Um diesen Widerspruch operationalisieren und letztlich auÀösen zu können, sind die Intervenierenden auf enge Zusammenarbeit mit den Intervenierten angewiesen, sodass trotz eines mitunter gravierenden Kompetenzgefälles nur selten ein klarer Antagonismus von Herrscher und Beherrschtem auftritt. Schon aus Eigeninteresse versuchen zumeist alle Beteiligten Differenzen zu überbrücken (aber nicht auszuräumen): Die Intervenierenden wollen irgendwann die Intervention beenden können, und die Intervenierten nutzen die Intervenierenden als Macht- und Ressourcenreservoir. Selbstredend ist eine Konvergenz von Interessen an sich kein Problem. Bemerkenswert an der Figuration von Intervenierten und Intervenierenden ist jedoch, dass trotz gegensätzlicher Interessen eine enge Zusammenarbeit vorliegen kann. In Afghanistan war dies besonders deutlich: Dort unterstützten Intervenierende lokale Machthaber, die mit Demokratie und Menschenrechten nichts gemein hatten.17 Doch das gemeinsame Interesse an einer ruhigen Sicherheitslage18 und eine gewisse Pfadabhängigkeit der Interaktionen zwischen Intervenierenden und Intervenierten19 sorgt dafür, dass in einer Interventionsgesellschaft auch solche Akteure pro¿tieren und solche Politiken verfolgt werden, die den Idealen der Intervention zuwider laufen (Barnett & Zürcher, 2007; Goodhand & Sedra, 2007). Es gibt gewiss zahlreiche weitere Fälle solcher bewusster und unbewusster Kollusion zwischen Intervenierenden und Intervenierten, und keine soziologische Analyse sollte diesen Aspekt aus den Augen verlieren.20 In Hinblick auf die IntervenieEine detaillierte Fallstudien zu diesem Thema bietet Chayes (2006), generell siehe Rashid (2008). Die Sicherheitslage ist deswegen so prominent in den Abwägungen der Intervenierenden, weil in sie den Entsendeländern gewöhnlich als zentraler Indikator dafür genommen wird, wie gut oder schlecht die Arbeit der jeweiligen Kohorte von Intervenierenden war. 19 Wer einmal als Verbündeter der Intervenierenden gilt, verliert diesen Status kaum mehr. Dieser Effekt ist stärker unter Militärs (traditionelle Loyalitätsvorstellungen und vergleichsweise kurze Stationierungsdauer). Dieses Problem müsste allerdings noch genauer untersucht werden; Hinweise ¿nden sich beispielsweise in den Fallstudien von Chayes (2006), Maloney (2007) und Pouligny (2006). 20 So geben Lister & Wilder (2005) am Beispiel der Verwaltungsreformen in Afghanistan zu bedenken, dass Studien, die sich auf die technischen Aspekte von Reformen beschränken, zwar auch Ergebnisse bringen, aber mit der sozialen Praxis zu wenig zu tun haben. Es werde zu häu¿g nur der „de jure state“ untersucht, obwohl doch der „de facto state“ (40) ausschlaggebend sei. Reformen seien „part of broader political processes“ (39), was zu berücksichtigen sei. 17 18

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renden ist dabei spannend, dass aus kollusiven Gründen die Ansprüche gesenkt werden können und beispielsweise von bestimmten westlichen Idealvorstellungen abgerückt wird, was in den Entsendeländern der Intervenierenden nicht unbedingt nachvollzogen werden muss. Die Intervenierenden richten ihre Strategie zwischen den Polen einer heimatlichen naiven Maximalerwartung und den vermeintlichen Erfordernisse der lokalen Praktiken aus. Dass sie dabei beide Seiten ihrer Klientel enttäuschen, liegt auf der Hand, doch die Dynamik dieses ständigen Lavierens zwischen Heimatdiskurs und Praxisdruck sind kaum thematisiert, geschweige denn erforscht. Zweifelsohne gibt es ähnliche Probleme auch in Gesellschaften, die nicht von einer militärisch gestützten Statebuilding-Intervention betroffen sind. Das Besondere in Interventionsgesellschaften ist jedoch, dass sie a) ohne dieses Element der Kollusion nicht auskommen würden, und b) die Intervenierenden eben auch von Vorgaben von internationalen Organisationen und nationalen Regierungen beeinÀusst werden und insofern nicht einfach wie gewöhnliche Entscheidungsträger in gewöhnlichen Gesellschaften handeln. Was in diesem Zusammenhang beispielsweise zu untersuchen wäre, ist, in welchem Fällen sich Intervenierende und Intervenierte gegen Hauptquartier (in New York oder in den jeweiligen Entsendeländern) verbünden und in welcher Art und Weise dies geschieht. Ein derartiges Chargieren zwischen lokalen Erfordernissen und globalisierten RechenschaftspÀichten ist charakteristisch für Interventionsgesellschaften und setzt auch die Vertreter der Intervenierten unter einen gleichsam globalisierten Rechtfertigungsdruck. Ich hoffe, diese wenigen Zeilen reichen, um deutlich zu machen, dass Interventionen ein interessantes soziologisches Problem darstellen – und eben nicht nur ein politisches oder militärisches – und dass dementsprechend Soziologen sich mehr um Interventionen kümmern sollten. Ob diese Forschung sofort zu besserer Politik in aktuellen Interventionsfällen führt, wage ich zu bezweifeln. Dummerweise ist Soziologie in der Regel eine langfristige Angelegenheit, während praktische Politik und Administration eher kurzfristig orientiert ist. Dennoch ist erst einmal viel langwierige Grundlagenforschung notwendig, um dann ausreichend substanzhaltige Expertise auf Zuruf liefern zu können. Von einem besseren Zudem bietet die Untersuchung von Lister & Wilder (2005) ein gutes Beispiel, wie leicht kollusive Effekte den Forschern entschlüpfen können. So fanden Lister & Wilder heraus, dass in Afghanistan lokale Verwaltungen nur dann funktionieren, wenn das Gebiet, das sie verwalten sollen, von nur einer militärischen Partei kontrolliert wird. Daraus leiten die Forscher ab, dass mehr lokale Verwaltungsreformen nur dann gelingen können, wenn sich das Gewaltmonopol des afghanischen Staates entsprechend ausbreitet. Dass aber der Zusammenhang von militärischer Beherrschung und administrativer Durchdringung die politischen Eliten der Intervenierenden und Intervenierten in Kabul dazu verleiten kann, lokale Machthaber eher zu dulden als zu bekämpfen, wird in der Untersuchung nicht thematisiert.

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Verständnis der spezi¿schen sozialen Dynamiken von Interventionsgesellschaften werden jedenfalls gewiss alle Beteiligen und Betroffen pro¿tieren können. Aber wie diese Forschung aussehen kann, ist bislang noch offen geblieben. Deswegen will ich nun ein paar Zeilen zu methodischen und theoretischen Überlegungen schreiben, um diesen Aufriss hier abzurunden. Wie fast immer in der Soziologie steht auch in der theoretischen Annäherung an die Interventionsgesellschaft das Mikro-Makro-Problem21 im Zentrum. Probleme der konzeptionellen Annäherung Aktuelle Peacekeeping- und Nationbuilding-Operation berühren fast jeden Bereich des Lebens in den intervenierten Regionen. Entsprechend breit gefächert sind die Themen, die im Zusammenhang mit diesen Einsätzen diskutiert werden, vor allem geht es aber um Fragen der militärischen Strategie, um juristische Aspekte, moralisch-ethische Probleme und auch um den allgegenwärtigen Verdacht der machtpolitischen Motivation einzelner Akteure. Diese Akzentsetzungen ¿nden sich auch in der wissenschaftlichen Forschung. Inhaltlich dominieren einerseits international vergleichende Untersuchungen, die den EinÀuss einzelner Variablen auf Erfolg und Misserfolg von Friedenseinsätzen erörtern, und andererseits Betrachtungen, in denen die Legitimität von solchen Einsätzen ausgelotet wird, wobei Legitimität sehr unterschiedlich operationalisiert werden kann (z. B. hinsichtlich moralischen, juristischen oder normativen Dimensionen).22 Beide Zugänge haben mittlerweile eine vergleichsweise gefestigte methodologische Basis und viele bemerkenswerte Resultate hervorgebracht, doch das Phänomen der modernen humanitären Intervention mit Staatsaufbau-Absicht haben sie nicht vollständig erschlossen. Sie erhellen zwar den normativen Kontext bzw. die strategischen Voraussetzungen moderner Friedenseinsätze, durchdringen aber selten die konkreten Interaktionsprozesse während einer Intervention. Unterbelichtet bleiben die sozialen Dynamiken während einer humanitären Intervention und den langjährigen Phasen von Nation- und Statebuilding. Doch gerade sie beeinÀussen das Gelingen von KonÀiktregelungen und anschließendem Staatsaufbau, inklusive den mit ihm häu¿g verbundenen sozialen Reformvorhaben (Goodhand, 2002).

21 Das Mikro-Makro-Problem besteht darin, dass nicht klar ist, wie individuelle Praktiken auf der Mikro-Ebene) mit sozialen Strukturen, also der sozialen Makro-Ebene, zusammenhängen. Manche Theorien legen kausale Verhältnisse nahe, andere bestreiten sie, und auch wie die Kausalität gerichtet ist, bleibt noch ungeklärt (s. einführend Berard, 2005). 22 Beispielhaft für ersteren Typus sind Gizelis & Kosek (2005) oder Pushkina (2006), für letzteren Erman (2007) oder Burke (2004).

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Insofern ist es naheliegend, eine stärkere Verknüpfung von aktuellen politikwissenschaftlichen Ansätzen mit soziologischen Theorien anzustreben, um diesen „blinden Punkt“ auszugleichen (Bonacker, 2007, 2008). Von der systematischen Einbindung soziologischer Ansätze erwartet man ein besseres Verständnis einzelner Interaktionsfelder (Hagan, Schoenfeld, & Palloni, 2006), aber auch eine verbesserte, weil realitätsnähere Planung der jeweiligen Interventionen, wie der ehemalige US-Sondergesandte für nahezu alle Interventionsfälle seit 1989, James Dobbins, erläutert: „Setting the mission objective requires looking beyond its immediate purposes in order to appreciate the impact that an external military intervention will have upon both the society in question and the surrounding region, and to plan an outcome commensurate with the likely scale of commitment. Most interventions are launched for some immediate purpose, that is, to halt or prevent aggression, civil war, famine, genocide or the proliferation of weapons of mass destruction. This purpose may be achieved quite quickly, but the intervening authorities will then be left with the more dif¿cult, time-consuming and expensive task of refashioning the society in which it has intervened. The intervention itself will change power relationships within that society and among its neighbours.“ (Dobbins, 2008, S. 70)

Leider fehlen bislang Studien, die den EinÀuss von modernen Friedensmissionen auf soziale Verhältnisse in den Zielregionen untersuchen und dementsprechend genauer benennen können. Zwar gibt es einzelne Untersuchungen zur Interaktion von Intervenierenden und Intervenierten (bspw. Pouligny, 2006; Rubinstein, 2008; Theidon, 2006), doch sie bieten zumeist nur sozialwissenschaftlich informierte Nacherzählungen einzelner Episoden aus Interventionen. Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich behaupte nicht, dass diese Arbeiten minderwertig seien. Doch sie sind nicht bereits eine Soziologie humanitärer Interventionen. Denn diese muss sich zum Ziel geben, den sozialen Impact einer Intervention zu untersuchen – auch in gesamtgesellschaftlicher Hinsicht. Das bieten die bisherigen Untersuchungen jedoch nicht, weil die mikrosoziologische Analysen nicht systematisch mit makrosozialen Fragestellungen verknüpft werden. Zurzeit sind die mikrosoziologischen Studien zu Interventionen noch zu beliebig in Methodenwahl und Schwerpunktsetzung, um als methodische Vorlage denjenigen Forschern dienen zu können, die die soziale Dynamik in einer Interventionsgesellschaft untersuchen wollen. Die Studien berichten, was Forscher gesehen und erlebt haben, und was sie aus ihren Erlebnissen schließen. Wie die dargestellten Vorgänge mit der sich wandelnden sozialen Situation in Interventionsfällen zusammenhängen, wird jedoch kaum oder nur wenig systematisch behandelt. Die bisherigen mikrosozial ausgerichteten Untersuchungen sehen genau hin und arbeiten die Relevanz

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von Einzelfällen heraus, aber welches Bild sich aus diesen Mosaiksteinen ergibt, ist nicht ihre Fragestellung. Wer komplexe soziale Systeme untersuchen will, tut gut daran, die mikrosoziale Analyseebene mit der makrosozialen zu verbinden, um erklären zu können, wie individuelles Verhalten mit sozialen Verhalten zusammenhängt.23 Ohne etwas Theoriearbeit ist das nicht möglich.24 Eine Mikro-Makro-Verbindung herzustellen ist schon im Zusammenhang mit „normalen“ Gesellschaften nicht einfach, im Fall von teilweise sehr penetrierten und volatilen Interventionsgesellschaften aber noch schwieriger.25 In der Tat ist es derart schwierig, dass eine Zeitlang dafür plädiert wurde, den Erklärungsanspruch zu senken und sich nur auf die eine oder die andere Ebene zu beschränken. Das ist gewiss die methodisch-wissenschaftlich sicherste Lösung, aber zufriedenstellend ist sie nicht – jedenfalls nicht in Kontext von Interventionen. In Friedenszeiten und in einigermaßen etablierten sozialen Verhältnissen (wie in den westlichen Industrieländern) mag es angehen, sich in die Expertise der Bindestrich-Soziologien zurückzuziehen, doch Krieg und Wiederaufbau von durch Gewalt zerstörte soziale Systeme verlangt nach etwas mehr Übersichtswissen. Es wäre wichtig, sowohl den Intervenierenden als auch den Intervenierten beantworten zu können, wie Interventionen funktionieren und welche Folgen sie auf Individuen und soziale Gruppen haben. Das ist zweifelsohne viel Es geht auch ohne diese Verbindung, aber dann neigen Untersuchungen entweder zu abstrakten Modellbildungen wie in den klassischen Wirtschaftswissenschaften oder zu übergenauen Fallstudien, deren allgemeine Relevanz eher postuliert als bewiesen wird. 24 Ohne Theorie kommt nur die Common Sense-Soziologie aus, also das, was jeder inzwischen irgendwie über soziale Zusammenhänge weiß (oder ahnt). Ohne die Hilfe der Soziologie wäre es aber schwer, zwischen Ressentiment beladenen Vorurteil und Common Sense-Soziologie zu unterscheiden. Leider verlassen sich viele Entscheidungsträger (auf allen Ebenen) oft lieber auf ihren gesunden Menschenverstand und ihre Bauchgefühle, wenn es um Soziales geht (s. zuletzt Joseph S. Nye, „Scholars on the Sidelines“, Washington Post, 13. April 2009). Das ist ungefähr so, als würde man das Wetter nur mithilfe von Bauernweisheiten vorhersagen: Oft hat man recht, aber dennoch wären andere Methoden erfolgreicher. 25 Auch Pouligny, Doray und Martin (2008) betonen, dass „close interplay between the individual and collective levels“ (20) notwendig sei. Allerdings lösen sie dieses Mikro-Makro-Zusammenspiel in einer statischen Art und Weise dahingehend auf, dass „individuals cannot be considered in isolation from the culture to which they belong“ (ebd.). Hier schimmert die Vorstellung durch, dass während einer Intervention zwei Kulturen parallel bestehen und deswegen die Intervenierenden gut daran täten, die einheimische Kultur zu verstehen (cultural awareness-Argument). Sich mit lokalen Gebräuchen und Deutungsmustern vertraut zu machen, ist gewiss notwendig. Aber es ist nicht der Endpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Interventionen, möglichst genaue Verstehensanleitungen der lokalen Eigenarten zu liefern. Denn auch wenn man alle regionalen HöÀichkeitsregeln perfekt beherrscht, kann man trotzdem keine Ahnung davon haben, wohin sich die sozialen Strukturen in Kosovo, Afghanistan usw. entwickeln. Hier helfen die Konzepte von Bourdieu, weil sie eine Verbindung zwischen konkretem, individuellem Verhalten und makrosozialen Strukturen herstellen, wie ich im Folgenden genauer erläutern will. 23

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verlangt, und zunächst müssen ein paar vorläu¿ge Hinweise darauf genügen, wie ein solches Projekt angegangen werden könnte. Theoriearbeit Als Grundlage einer diesen Mangel adressierenden Soziologie der humanitären Interventionen bieten sich aus dem großen Theorie-Angebot der Soziologie vor allem solche Ansätze an, die einen möglichst großen Erklärungsanspruch aufweisen und zu interdisziplinärem Arbeiten geeignet sind. Denn zum einem sind bei der Analyse von Staatsaufbau-Prozessen alle Phänomene des Sozialen potentiell wichtig26 und zum anderen ist eine solche Soziologie nur dann zeitgemäß, wenn sie sich sinnvoll in die bestehende Forschungslandschaft integrieren lässt.27 Dieses vorsichtige Plädoyer für wissenschaftlichen Pragmatismus heißt nicht, dass eine empirisch-quantitative Soziologie einer qualitativen vorgezogen werden würde. Der klassische Streit, ob Soziologie die Frage „Was ist der Fall?“ zu beantworten habe oder sich eher um die Frage „Was steckt dahinter?“ kümmern solle (Luhmann, 1993), kann nicht am Gegenstand moderner humanitärer Interventionen ausgefochten werden. Denn erstens ist die Faktenbasis in fast allen Fällen äußerst dünn und löchrig, sodass empirische Grundlagenforschung trotz eventueller methodischen Fragwürdigkeiten28 jederzeit zu begrüßen ist: Was der Fall ist, ist im Fall von humanitären Interventionen mit anschließendem State- und Nation-building eben alles andere als klar. Und zweitens ¿nden zurzeit alle solche tiefgreifenden Eingriffe internationaler Akteure in Regionen statt, in denen die Alltagsheuristik westlicher und an westlichen Modellen geschulter Sozialwissenschaftler nicht mehr passt. Ein Beispiel: Rationalität bedeutet in Europa nicht dasselbe wie in Zentral-Asien (Schluchter, 2005), was Aussagen über die vermeintliche Irrationalität zentral-asiatischer Akteure unter Ein Staat entsteht ja nicht dadurch, dass eine Verfassung und die Struktur der öffentlichen Verwaltung entworfen wird (Foucault, 2000). 27 Letzteres soll nicht als Aufruf zur Anpassung und Unterordnung an Politikerbedürfnisse verstanden werden: Selbstverständlich geht es im Bemühen um eine soziologische Erforschung von modernen Friedensmissionen nicht um eine Transformierung der Soziologie in eine Wissenschaft der Herrschaftstechnik oder zu einer Zulieferwissenschaft für Kriegsführung (s. bspw. bereits Chomsky, 1969, 1971). Die Kompatibilitätsforderung zielt vielmehr auf die zum Teil unnötigen Grabenkämpfe innerhalb der Soziologie ab, deren Diskussionen außerhalb der Eingeweihten unnötig arkan und detailverliebt erscheinen (s. bspw. Turner, 2006). 28 Es ist nicht zu übersehen, dass viele Meinungsumfragen in der intervenierten Region legitimatorischen Zwecken dienen sollen und sehr eurozentristische Fragestellungen verwenden, wobei in der Regel nicht nachvollziehbar ist, ob deren Verständlichkeit zuvor getestet wurde. Folglich produzieren viele Umfragen im Kontext von Interventionen und deren Interventionsgesellschaften häu¿g Artefakte. 26

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einen großen Vorbehalt stellt. Insofern ist die qualitative Frage „Was steckt dahinter?“ ebenfalls von großer Bedeutung, um die generativen Prinzipien einer den westlichen Wissenschaftlern zunächst fremden Region herauszuarbeiten und in einen Zusammenhang mit den durch die Intervention aufgeworfenen Problemen zu stellen. Auch konsolidieren oftmals erst qualitative Untersuchungen jene Kategorien und Fragestellungen, die dann die Grundlage für weitere quantitative Forschungen bieten (Nastasi et al., 2007). Eine Soziologie von Interventionsgesellschaften ist also gut beraten, sich ein theoretisches Fundament zu geben, das beiden Arten von Fragestellungen sowie qualitativen und quantitativen Herangehensweisen Halt geben kann. Die in den letzten Jahren sich etablierende Methodologie des Mixed Methods Research präsentiert sich zuletzt gerne als selbstgenügsames neues Paradigma der Sozialforschung, das qualitative und quantitative Methoden verbindet (Denscombe, 2008; Greene, 2008). Doch in Anschluss an die detaillierte Diskussion des Paradigmen-Begriffs bei Kelle (2007) ist zu betonen, dass auch ausgefeilte und hochentwickelte Methodologien eine tragfähige Sozialtheorie benötigen. Eine Methodologie ersetzt nun einmal keine Theorie und kann nicht Grundlage für ein Forschungsprogramm sein, denn erst Theorie lässt erkennen, welche Fragen überhaupt sinnvoll und ertragreich sind.29 Während Kelle (2007) ohne Umschweife30 die Soziologie James S. Colemans (einführend Marsden, 2005) sowie dessen Erklärungsmuster des Makro-Mikro-Makro – Modells (Coleman, 1986; Mayntz, 2004) als theoretische Grundlage für eine qualitative und quantitative Fragestellungen integrierende Soziologie heranzieht, will ich im Folgenden darlegen, dass zumindest für die Analyse von Interventionsgesellschaften Pierre Bourdieus Sozialtheorie eine sehr geeignete epistemologische Grundlage ist. Dazu werde ich zunächst die Grundzüge von Bourdieus Soziologie skizzieren, auf ihren speziellen Entstehungskontext hinweisen, besonders relevante Theorieelemente und deren forschungspragmatische Konsequenzen hervorheben und parallel dazu den Bezug zu Interventionsgesellschaften deutlich machen.

29 Selbstredend beanspruchen die Vertreter des Mixed Method Research für diesen Ansatz auch in Regelfall nicht den Theorie-Status. Doch die Tendenz, zugunsten von Methodenfragen die Theoriediskussion zu vernachlässigen, teilen sie ebenso wie viele quantitative Forscher und übersehen dabei, dass die Wahrheit nicht einfach in der methodisch sauberen Welterkenntnis liegt (s. abermals Kelle, 2007). Man muss nicht unbedingt in die Tiefen der Erkenntnistheorie hinabsteigen, um zu dieser Einsicht zu gelangen, wie Savage und Burrows (2007) gleichsam methodologisch-immanent zeigen. 30 Das heißt: Die Wahl erfolgte weitgehend ohne die Diskussion von Alternativen, aber selbstredend nicht unbegründet.

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Die drei Komponenten der Sozialtheorie Bourdieus Übersichtliche Einführungen in Bourdieus Theorien gibt es mittlerweile fast ebenso häu¿g wie Abhandlungen zu jedem erdenklichen Detailproblem im Kontext von Bourdieus Arbeiten.31 Somit sinkt an dieser Stelle die Notwendigkeit einer weiteren detaillierten Übersicht – andere haben diese bereits in bester Form gegeben32 –, weswegen ich mich auf einige Kerngedanken und drei wichtige Konzepte (Feld, Kapital, Habitus) beschränken kann. Der gelernte Philosoph Pierre Bourdieu wandte sich der Soziologie zu, als er um 1960 als Angehöriger der französischen Armee in Algerien stationiert war (Bourdieu, 2002; Schultheis, 2004). Wie schon zuvor in seiner südfranzösischen Heimat wurde Bourdieu Zeuge von tiefgreifenden Wandlungsprozessen, die das Leben der Betroffenen stark veränderten (Grenfell, 2006). Im Grunde versuchte sich damals der französische Staat in Algerien im Staatsaufbau, was den algerischen Fall mit heutigen Interventionen verbindet.33 Bourdieu interessierten die Bewältigungsstrategien der (zwangs-) modernisierten Landbevölkerungen derart, dass er während seinem Militärdienst eine makrosoziale Untersuchung der algerischen Sozialstruktur vornahm und anschließend, dann im Dienst der Universität von Algier, mehrere Feldstudien in Algerien und Südfrankreich durchführte (Bourdieu, 2004; Wacquant, 2004). Er entwickelte seine Theorie und Herangehensweise äußerst pragmatisch, aber sicher in Phänomenologie und Erkenntnistheorie gegründet, erst im Angesicht seines Erkenntnisobjekts.34 Sein Ziel war zu untersuchen, wie Akteure mit Regeln umgehen und was passiert, wenn Akteure mit neuen Sets von Regeln konfrontiert werden. Dabei ging es ihm vor allem darum, die spezi¿schen Rationalitäten der Verhaltensweisen der untersuchten Menschen herauszuarbeiten: Bourdieu wollte die generativen Prinzipien des scheinbar hochgradig mythisch-irrationalen Verhaltens der kabylischen Bevölkerung Algeriens ebenso darstellen wie die für Europäer oftmals unsinnigen Verhaltensweisen zwangsurbanisierter Algerier (Alkemeyer, 2008). Dass er zugleich auch die Besonderheiten provinzieller Adaptionsstrategien am Beispiel Südfrankreichs analysierte, zeigt an, wie selbstreÀexiv Bourdieu Modernisierungsprozesse verstand und dass sein

Es mangelt aber an quantitativen Studien, die auf Bourdieus Konzepten aufbauen. Dirksmeier (2007) begründet dies damit, dass Bourdieu kein einheitliches Verfahren zur empirischen Analyse entwickelt habe. 32 Nach wie vor maßgeblich: Bourdieu & Wacquant (2006) mit umfassenden Literaturangaben. 33 Es gibt natürlich noch andere Gemeinsamkeiten, s. bspw. DiMarco (2006). 34 Noch in Algerien arbeitete Bourdieu zu Edmund Husserl und sah darin zunächst seine eigentliche akademische Aufgabe (Bourdieu, 2004, S. 419). Zur erkenntnistheoretischen und philosophischen Grundierung siehe auch Bourdieu (1974). 31

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Interesse an Algerien nicht nur ein primär politisches, aber wissenschaftlich unbedeutendes Statement darstellte (Yacine, 2004). An diesen beiden Gegenständen – Algerien und Südfrankreich – entwikkelte Bourdieu einen Grundgedanken, der auch in späteren Jahren sein analytischer Aufhänger geblieben ist: Akteure folgen nicht Gesetzen, sondern Strategien. Das heißt, Institutionalisierungen sind externe Regeln, die die Umgebungsvariablen für das Verhalten der Akteure bilden. Auf bestimmte Kon¿gurationen von solchen Umgebungsvariablen reagieren Akteure mit entsprechenden Strategien. Sie verhalten sich also nicht einfach wie auf Befehl, was wiederum bedeutet, dass sie nicht durch gezielte Veränderung von sozialen Strukturen gesteuert werden können. Folglich gibt es keine Kausalität zwischen institutionellem Setting und Akteursverhalten – sondern eine Relationalität. Die Sequenz von institutioneller Vorgabe (z. B. einem Gesetzeskatalog mit Polizeibewährung) und Verhalten der Menschen ist zwar nicht automatisch,35 aber keineswegs so undurchsichtig, wie das z. B. in der systemtheoretischen Metapher der Black Box36 oder in der Vorstellung des menschlichen freien Willen angezeigt ist.37 Denn Bourdieu ist durch seine ersten Studien zu dem Schluss gekommen, dass Strategie¿ndung nicht individuell erfolgt, sondern – grob gesagt – sozial bedingt ist. Die Voraussetzungen der individuellen Handlungen haben ihre Bedingungen sogar dermaßen in sozialen Zusammenhängen, dass den Einzelnen ihre Strategien in der Regel gar nicht mehr einsichtig sind: Was einem menschlichen Akteur als seine individuelle Entscheidung erscheint, versteht Bourdieu als Resultat eines bestimmten generativen Prinzips, das in bestimmten Schichten oder sozialen Gruppen weitverbreitet ist und ähnliche Strategien und Verhaltensweisen hervorbringt. Manche Strategien sind gleichsam inkorporiert und dermaßen selbstverständlich, dass man sie nicht mehr bewusst verfolgt, sondern nur anwendet. Am deutlichsten gelingt Bourdieu der Nachweis sozialer Bedingtheit von traditionell als sehr individuell begriffenen Phänomen in seiner Analyse von Ästhetikemp¿nden und persönlichem Geschmacksvorlieben, Die feinen Unterschiede (1987). Ist aber das Individuelle derart stark sozial vorgeprägt, fällt es schwer, von Strategien zu sprechen. Folglich stellt Bourdieu auch ganz allgemein die gesamten Praktiken der Akteure in den Vordergrund und nicht deren Strategien (Bourdieu, Es gibt bei Bourdieu nicht die Annahme einer makrosozial übergreifenden Nutzenmaximierungstendenz, die Reaktionen auf Situationen weitgehend prä¿guriert wie in den meisten Varianten der Rational Choice Theorie (Boudon, 2003; Hechter & Kanazawa, 1997). 36 Diese Metapher passt hier natürlich nicht 100%ig, aber das ist ja immer so bei Metaphern (Blumenberg, 1998, 2007). Für System A ist die Verarbeitung einer Irritation I im System B nicht einsichtig, also ist die Verarbeitung eine Black Box, aber mir geht es ja nicht nur um Systeme, sondern auch, ganz nicht post-modern, um Menschen. 37 Damit ist die Annahme gemeint, dass Menschen sich im Verlauf ihres Lebens relativ willkürlich ein Set von Normen auswählen, das ihre Entscheidungen zu bestimmten Handlungen einrahmt. 35

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1976, 1993). Es geht ihm also um eine deskriptive Analyse der Praktiken der Menschen, der Systematisierung dieser Praktiken (das heißt sowohl Clusterbildung und Relationierung der Praktiken zu andere Facetten der Gesellschaft) und um eine Untersuchung der Bedingungen und der Bedingtheit einzelner Praktiken und der Felder, in denen sie beobachtet werden können. Als Ergebnis dieses Ansatzes steht die Entdeckung von grundsätzlichen, Praxis generierenden Prinzipien, die sich in Korrelation mit gewissen Strukturmerkmalen des Sozialen (bzw. der Felder) zu sogenannten Habitus verdichten. Bourdieu beschreibt Habitus als: „(…) Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d. h. als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen für Praktiken und Vorstellungen, (…) die objektiv ‚geregelt‘ und ‚regelmäßig‘ sind, ohne irgendwie das Ergebnis von Einhaltung von Regeln zu sein.“ (Bourdieu, 1993, S. 98)

Das klingt etwas esoterisch, ist aber schnell entschlüsselt. Das Soziale teilt sich in verschiedene Felder auf, in denen unterschiedliche Regeln gelten. Wer Bundeskanzler werden will, braucht andere Fertigkeiten als jemand, der als Rennfahrer Erfolge feiern möchte. Bourdieu übersetzt diese Fertigkeiten in Kapitalarten und unterscheidet soziales, kulturelles, ökonomisches und symbolisches Kapital (Bourdieu, 1983, 1994, 2005a). Der jeweilige Habitus eines Menschen hängt nun damit zusammen, welche Kapitalkon¿guration er hat und in welchem Feld er agiert. In diesem Verhältnis gibt es aber keine Kausalität. Es verhält sich hier ein wenig wie bei dem Problem, ob zuerst die Henne und das Ei da war: Ein bestimmter Habitus begünstigt, dass ein Akteur beispielsweise vor allem soziales Kapital akkumuliert und in der PR-Branche tätig ist, zugleich begünstigt aber die Tätigkeit in der PR-Branche und die Verfügungsgewalt über viel soziales Kapital einen bestimmten Habitus. Das Fehlen von Kausalität ist aber nicht problematisch, weil es Bourdieu um die Genese der Strukturmerkmale des Sozialen geht und nicht um die Gesetze des Sozialen. In Bezug auf Handlungen erkennt Bourdieu hingegen Kausalitäten: Der Habitus erzeugt Handlungen (aber auch Gedanken, Wahrnehmungen, Äußerungen), und zwar nur diese, „die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen“ (Bourdieu, 1993, S. 102). Der Habitus lässt den Akteur agieren, aber er ist nicht vom Himmel gefallen, sondern ein historisches Produkt. Bourdieus Soziologie hat das Ziel, das Werden der Habitus zu rekonstruieren und dadurch den Menschen einsichtig zu machen. Wer die Geschichte der Habitus kennt, weiß um die Bedingungen der Handlungen, die der Habitus hervorbringt und kann sich darauf einstellen: Man kann dann beispielsweise versuchen, durch Reformprojekte eher diese Bedingungen zu beeinÀussen als die konkreten Verhaltensweisen, die von diesen Bedingungen abhängen. In

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derart gedrängten Form wirkt dieses Programm recht wolkig, funktioniert aber tatsächlich auch empirisch, wie beispielsweise Bourdieus Analysen des französischen Bildungssystems (Bourdieu, 1988; Bourdieu & Passeron, 1971) zeigen. Abgesehen davon, dass Bourdieus Sozialtheorie an historischen Beispielen entwickelt wurde, die heutigen Statebuilding-Interventionen durchaus ähnlich waren,38 hat sie den Vorteil, sowohl eine Verbindung der Makro- mit der Mikroebene zu bieten und zudem die klassisch-westliche Trennung von Objektivismus und Subjektivismus zu umgehen, die für die Analyse von nicht-westlichen Sozialformen mitunter problematisch ist. Das in dieser Verbindungsleistung entscheidende Theorie-Element ist der Habitus, aber analytisch stehen die Praktiken der Akteure im Vordergrund. Untersucht wird also nicht direkt der Habitus, sondern die Praktiken, die er erzeugt; eine Gewichtung, die sich sehr gut mit der sozialwissenschaftlichen Orientierung auf empirische Feldforschung verträgt. Diese Praktiken müssen sodann in einem Zusammenhang gebracht werden mit makrosozialen Strukturen, um verstanden39 werden zu können: „Sie [die Praktiken – JF] lassen sich daher nur erklären, wenn man die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen der Habitus, der sie erzeugt hat, geschaffen wurde, und die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen er angewandt wird, zueinander ins Verhältnis setzt.“ (Bourdieu, 1993, S. 104–105)

Es ist ein anspruchsvoller Auftrag, den Bourdieu den Sozialforschern erteilt, wie im folgenden Beispiel deutlich wird: „So wird man beispielsweise das, was in einem scheinbar vollkommen banalen Gespräch zwischen drei Gymnasiastinnen gesagt wird, nur dann wirklich verstehen, wenn man die drei Heranwachsenden nicht, wie es in vielen Tonband-Soziologien der Fall ist, auf ihre Vornahmen reduziert, sondern es schafft, aus ihren Worten der objektiven gegenwärtigen und vergangenen Beziehungen zwischen ihrem Werdegang und der die Struktur der schulischen Einrichtungen, die sie besucht haben, und damit die Struktur und Geschichte des Bildungssystems, die darin zum Ausdruck kommt, herauszulesen.“ (Bourdieu, 2005b, S. 403)40 38 Das stimmt für Algerien natürlich mehr als für die Provience, doch auf beide Fälle trifft zu, dass Modernisierungen als äußere Zwangsmaßnahmen wahrgenommen wurden (Reed-Danahay, 2004). 39 Bourdieu unterscheidet im Übrigen nicht zwischen ‚Erklären‘ und ‚Verstehen‘; die Verstehende Soziologie, wie sie z. B. auch Pouligny et al. (2008) fordern, lehnt er folglich ab (Bourdieu, 2005b). 40 Nebenbei: Das, was wirklich gesagt wird, wissen laut Bourdieu auch die drei Schülerinnen nicht. Denn „weil die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen“ (Bourdieu, 1993, S. 127). Bourdieu geht davon aus, dass ihre Praxis den Handelnden ausreichend selbstverständlich ist, dass sie sie nicht mehr vollständig verstehen können. Die Begründung steht auf mehr als hundert Seiten in seinem Buch Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (1993), das ich dringend zur Lektüre empfehle.

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Ohne eine Verbindung von qualitativen und quantitativen Methoden kann das natürlich nicht gelingen. Ebenso ist ein großes Vorwissen über alle Beteiligen Institutionen notwendig und ein großer Pool an verlässlichen Statistiken. Diese Anforderungen sind bereits nur schwer zu erfüllen, wenn Soziologen ihre eignen Gesellschaften untersuchen. Nun ist die wissenschaftliche Informationslage in Interventionsfällen in der Regel erheblich schlechter als in etablierten Gesellschaften. Aber deswegen sollte man nicht gleich nach einer neuen theoretischen Grundlage Ausschau halten, sondern lieber mit Grundlagenforschung beginnen. Die großen Fragen – Entstehen durch die Interventionen neue soziale Felder? Begünstigt die Interventionen vor allem Menschen mit einem bestimmten Habitus? Lösen Interventionen generell ähnliche Variation von Habitus aus? – können wir heute bestimmt noch nicht beantworten. Was aber geschehen kann, ist, dass plausible Thesen mit einem empirischen Unterbau versehen werden, der nicht nur die Thesen am Einzelfall belegt, sondern zugleich auch immer die gesamtgesellschaftliche Struktur im Blick behält und so die Schnittstellen offen hält für weitere Arbeiten. Soziologie kann mehr, als nur notwendige, aber kurzsichtige Evaluationen und arti¿zielle Meinungsumfragen durchzuführen. Dieses Mehr, das das Verstehen von Verhalten und soziale Dynamik ist, ist gerade in Statebuilding-Interventionen notwendig. Wer neue, bessere Gesellschaftsstrukturen schaffen will, sollte wissen, was er tut. Spontansoziologie und „gesunder Menschenverstand“ reichen nicht, selbst wenn kluge Menschen am Werk sind. Dazu sind die Turbulenzen während Interventionen schlichtweg zu stark. Bourdieus Soziologie hat den Vorteil, diese Turbulenzen erfassen zu können. Denn obwohl seine Theorie Elemente des Strukturalismus aufnimmt (Bourdieu, 1974) ist sie anfänglich formuliert worden, um Veränderungen zu analysieren und verständlich zu machen – und nicht, um die großen Strukturmerkmale von Gesellschaften zu erkennen. Nicht zuletzt dieser Fokus auf Veränderung macht Bourdieus Soziologie zu einem geeigneten Startpunkt für eine Soziologie der Statebuilding-Interventionen.41

41 Weil Bourdieus Soziologie sich gut zur Analyse von Veränderungen eignet, hat sich zuletzt ein reges Interesse der wirtschaftswissenschaftlichen Organisationsforschung an Bourdieus theoretischen Konzepten entwickelt (Emirbayer & Johnson, 2008; Everett, 2002; Swartz, 2008). Daraus ergeben sich vielversprechende Perspektiven für die Analyse von Binnenstrukturen der intervenierenden Organisationen und der sich konsolidierenden Post-ConÀict-Staaten.

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Das Konzept von Interventionskultur als Bestandteil einer gesellschaftsorientierten theoretischen Praxis Michael Daxner

I

Zugänge

Der Begriff Intervention hat eine erhebliche Bedeutungsbreite. In der Alltagssprache zielt er am häu¿gsten auf therapeutische Maßnahmen. Die unzähligen Varianten von Interventionen im Wortsinn werden meist mit Synonymen präzisiert, nur in der Politik internationaler Beziehungen ist der Begriff wiederum Gemeingut, mit oder ohne erklärendes Attribut. Die folgenden Ausführungen nehmen ihren Ausgangspunkt in einer ontologischen Verwendung des Begriffs: Es gibt Interventionen und wir beschreiben weniger ihre Durchführung als ihre unmittelbaren Folgen. Damit sind die Kontexte und Umgebungen von Interventionen nicht ausgeblendet, sie intervenieren selbst dauernd ihre Beschreibungen. Das wird mit der Entfaltung unseres Themas – den Auswirkungen von militärisch gestützten humanitären Interventionen – deutlich, wo schließlich im intervenierten Land die intervenierten Menschen eine Menge mikro-sozialer Effekte erleben, die sie nicht notwendig auf die globale oder jedenfalls groß dimensionierte Intervention direkt oder indirekt zurückführen. Wir bemühen uns, die Zahl der Neologismen und ungebräuchlichen Bedeutungsvarianten gering zu halten, ganz wird das nicht gelingen, vor allem bei der hier bereits verwendeten und im Deutschen nicht gebräuchlichen Passivform der/ des (I)intervenierten. Der Term sollte selbsterklärend sein, er kann aber in zweifacher Hinsicht verstanden werden. Als objektiver sozialer Modus – Mitglied einer Gruppe, Gemeinschaft oder Gesellschaft, die von einer Intervention betroffen und durch sie de¿niert werden –, und in einem immer begründungspÀichtigen empathischen Sinn, mit besonderer Betonung des passiven Zustands, dass die Gruppe die Intervention nicht wählen konnte, sie also im Wortsinn „erleidet“. (Das Pathos des Unterworfenseins spielt hier in den konkreten Fällen eine Rolle.) Welche der beiden Anwendungsweisen jeweils gemeint ist, ergibt sich unschwer aus dem Kontext, es ist aber sinnvoll, gleich zu Beginn darauf hinzuweisen, dass sie meist zusammen auftreten. Das Übersetzungsproblem einer überwiegend englischsprachigen Fachterminologie ist ebenfalls bedeutsam, wenn es um subtile gesellschaftliche Sachverhalte geht. Das Problem ist in Expertenkreisen bekannt, Politiker,

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Medien und die öffentliche Meinung sind aber keine Experten. Im soziologischen Kontext wird es immer wieder, und keineswegs nur in den Texten dieses Bandes, darauf ankommen, Konnotationen wie die Differenz zwischen Rechtsstaat und Rule of Law, oder zwischen Institutionalisierung und Governance etc. dort transparent zu machen, wo die Subtexte die Politik machen. 1 Interventionen unterschiedlicher Art gehören zum Instrumentarium zwischenstaatlicher und zwischengesellschaftlicher1 Politik seit jeher. Je nach Deutungshoheit sind sie friedlicher oder gewaltsamer Zielsetzung und Qualität; sie mögen hohe oder geringe Legitimität ausweisen. Es gibt unterschiedliche Kriterien für das Maß des Erfolgs, und für die Strategie und Taktik, die Methoden; und die erwarteten wie unerwarteten Ereignisse in Vorbereitung und Durchführung von Interventionen. Die Erfolgsperspektive wird oft für die Intervenierenden zu einer Art „Interventionswissenschaft“ stilisiert, wo es sich bloß um gefestigte Praxen von Interventionen handelt, zu denen alternative Optionen aus verschiedenen Gründen nicht angedacht werden (dürfen). Unerwartete Ereignisse bei Vorbereitung, Durchführung und vor allem den Folgen von Interventionen werden als Störungen im Konzept empfunden, anstatt als Korrektur durch die Wirklichkeit. Wir wollen uns nicht auf eine allgemeine und historische Abhandlung über die Subjekte, Objekte und Effekte von Interventionen einlassen. Wir möchten vielmehr einen relativ neuen Gedanken in eine Diskussion einbringen, die durch mehrere kumulierte Phänomene stimuliert wird: die besonderen Bestimmungen von Interventionsgesellschaften. Neue Kriege und asymmetrische Gewalthandlungen zwischen gesellschaftlichen Gruppen, keineswegs immer mit einem oder mehreren staatlichen Akteuren, haben zugenommen, oder sie haben wenigstens die Konfrontation von hegemonialen Blöcken, wie sie für den Kalten Krieg bis 1989 typisch waren, in den Diskursen zu Krieg und Frieden, Macht und Herrschaft, verdrängt. Militärische Interventionen tragen oft das Prädikat „humanitär“, was mehr ist als ein akzidentielles Attribut. Es wird in einem nicht aggressiven Kontext mit Friedensbemühungen gebraucht: Frieden-erzwingend, -schaffend, -bewahrend etc. Konzepte wie Human Security und Responsibility to Protect haben ältere Foci abgelöst. Von Weltgesellschaft (World Polity) im Kontext von Interventionen (Bon-

Mit „zwischengesellschaftlich“ meine ich lebensweltliche Kommunikation und KontaktpÀege, die z. B. in Interventionsgebieten im grenzüberschreitenden Familienverkehr geschieht, z. B. Kosovo-Mazedonien oder Montenegro, Afghanistan/Westpakistan etc. Dabei spielen die Interventionen und die staatlichen Grenzen für diese Kommunikation keine Rolle.

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Das Konzept von Interventionskultur

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acker, 2007) oder globaler Innenpolitik zu sprechen, ist ebenso gebräuchlich geworden wie von den Effekten von „Glokalisation“ (Zygmunt Bauman), und darin Interventionen als logisch und folgerichtig einzubeziehen. Kontroversen zwischen Pazi¿sten und Bellizisten, die immer schon simplistisch waren, gehen nunmehr völlig an der Sache vorbei. Legitimation, Anlässe, Vorbereitung, Implementation und die Abwägung von Alternativen zu einer realisierten Intervention sind ein eigenes, kompliziertes Kapitel der internationalen Beziehungen geworden. Wegen der Schwäche von Staatlichkeit (und damit verbunden oft mit der Schwäche agierender Nationalstaaten) werden durch die Entscheidung zur Intervention auch noch innergesellschaftliche Brüche und KonÀikte an die Öffentlichkeit gebracht. Sehr häu¿g hat die Mehrheit der Bevölkerung eine andere Position zur Intervention als ihre politische Führung. Eine Vielzahl von machtpolitischen, ideologischen und taktischen Motiven kann den Interventionen vorgelagert sein und sie begleiten. Vor allem die Abgrenzung zum „Krieg“ hat mehr als nur semantische Bedeutung. Allein die völkerrechtliche Dimension der Interventionsfolgen in diesem Kontext ist erheblich komplexer geworden (Somerseth u. a., 2006). Ein Bespiel für die Wandlungen in der Umgebung von Interventionsdiskursen soll zeigen, wie scheinbar vertraute Muster ins Wanken geraten: Die RechtsLinks-Koordinate ist zwar keineswegs erledigt, aber nicht mehr verlässliche Orientierung, wenn es z. B. um die weitgehend konsensfähige Kritik am liberal Statebuilding oder die VerpÀichtung sich an Interventionen zu Beteiligen geht. Dabei werden unterschiedliche Elemente dieses Konzepts, z. B. Wahlen, Marktwirtschaft und Privatisierung, für sich oder insgesamt als ungenügende Mittel kritisiert oder aber es wird auf das Fehlen hinreichender zusätzlicher Elemente hingewiesen, wie etwa staatlicher Institutionen, der Schaffung politischer Räume für die Zivilgesellschaft, oder politische Integration der intervenierten Gesellschaft. Liberal Statebuilding setzt die Position der Intervenierenden sehr oft „konstant“, d. h. diese ändert sich zwar mit den Umständen der Intervention, aber nicht aus sich heraus oder durch andere, in der eigenen Gesellschaft liegende Umstände. Diese Umstände wurden früher von der rechten wie der linken Kritik jeweils hervorgehoben und kontrovers gegen die Interventionskonzepte verwendet (z. B. durch Aufdeckung und Denunziation bestimmter Interessen). Am Beispiel Deutschlands nach 1945 kann man das gut aufgliedern. Links (sozialistisch, zunehmend nicht auf marxistische Grundpositionen verengt) bedeutete lange Zeit moralische Parteinahme und idealistische Begründungen für oder gegen militärische Interventionen. Rechts hingegen war stärker realistisch eingestellt und auf die hegemonialen Akteure, v. a. des Kalten Krieges, orientiert. Wir können einen Wandel anhand der fast völligen Abkehr vom optimistischen Internationalismus der späten Entkolonisierungszeit und der Befreiungsbewegungen

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verdeutlichen: Während die KonÀikte in Algerien, Lateinamerika, Zentralafrika und Südostasien die Unterstützung des bewaffneten Kampfes („Volkskampf“) geradezu zentral für die Linke werden ließen (ca. 1960 bis 1975), ist nach dem Ende der Kalten Kriegs eher ein pessimistischer Internationalismus bei der Linken zu beobachten. Eine Erklärung dafür ist sicher die ausgebliebene große Friedensdividende nach 1989. (Für Europa wurde sie bis auf die Balkankriege eingelöst, aber der Weltfrieden als Ergebnis des Aufhörens hegemonialer Dualität war nicht eingetreten, so wenig wie das Ende der Geschichte.) Wichtiger für unsere Überlegungen aber ist, dass sich die Vorstellungen über fundamentalen Wandel im Zuge der Befreiung der Dritten Welt (noch) in nationalstaatlichen Kategorien und Denkmustern bewegten. Das heißt: Am Ende der siegreichen Revolution würde doch wieder ein Staat herauskommen, ein sozialistischer, womöglich, aber ein Nationalstaat. Es wurde mit den Positionswechseln von Volk, Nation und Staat auch rhetorisch gespielt. Heute wird spiegelbildlich von der Linken abgelehnt, was man damals als moralisch geboten erachtete: das (auch bewaffnete) Eingreifen zugunsten der Unterdrückten und Erniedrigten, auch wenn sie nur indirekt, ideologisch oder symbolisch mit dem Standort dieser Linken, also der ersten Welt, verbunden sind. Wenn in Deutschland die Partei Die Linke heute den militärischen Rückzug aus Afghanistan für alles westliche Militär fordert, nimmt sie damit billigend in Kauf, dass verheerende Bürgerkriege und erneute undemokratische und unrepublikanische Hierarchien die Afghanen heimsuchen. Auch ist das Argument vieler politisch gebildeter Afghanen, dass der Westen das Land nicht „wieder“, wie nach 1989, „allein lassen“ dürfe, offenbar nicht wirksam. Die Dialektik von hinschauen und wegschauen wird uns noch beschäftigen. Auf der politischen Rechten, der die koloniale Ordnung immer wichtiger war als die Freiheit der Bevölkerung, gibt es hingegen starke Einbrüche in einen früher imperialistisch gemeinten Bellizismus (in Deutschland zum Beispiel bei so unterschiedlichen Christdemokraten wie Todenhöfer, Gauweiler und Wimmer). Der humanitäre Kontext – Human Security, Responsibility to Protect, Responsibility to Rebuild – hingegen ist heute eher eine Angelegenheit der Konservativen. Daran kann man die begrenzte Tauglichkeit des alten binär codierten Musters Rechts-Links gut studieren. Eine weitere Erklärung für diesen Schwenk ist relativ einfach, aber vielleicht nicht hinreichend. Weil die nationalstaatliche Logik und die Bindung an die nationalen Werte und Organisationsformen nachgelassen hat, sind es nicht nur pazi¿stische Elemente, die die neuen Interventionen kritisieren lassen, sondern auch eine Umwertung des Committment, also der selbstbestimmten Verbindlichkeiten gegenüber Menschenrechten, Entwicklungschancen, gepaart mit der Einsicht, dass Interventionen nur begrenzt Problemlösungen beinhalten und KonÀikt-Regulierungen bewirken können. Es gibt auch neue Beziehungen zwischen den institutionellen Akteuren (Regierungen, Parlamente, Militär) und ihrer „gesellschaftlichen Basis“, d. h. der

Das Konzept von Interventionskultur

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Aufmerksamkeit und Wertung, die Interventionen erfahren. (Wir werden dies im Begriff des Heimatdiskurses ausführlich aufgreifen.) Auf der Ebene des institutionellen Interventionspolitik und -legitimation können wir verschiedene Phasen beispielsweise von UN-legitimierten und getragenen Interventionen studieren (Stromseth u. a. 2006, v. a. Kap. 2, Rossbacher 2003) studieren, deren letzte die größte Ausweitung des Mandats (Ost-Timor, Kosovo) und die höchste Bedeutung der Nach-Interventionsphase aufweisen. Ein anderer Aspekt ist das weitgehende Auseinanderfallen von post-conÀict und post-intervention als Charakteristika der Gesellschaften, die Ziele der Intervention waren. (So erfolgte die eigentliche Intervention westlicher Truppen in Afghanistan 2001 erst nach Beendigung des KonÀikts und der Entmachtung der Taliban.) Die Literatur und auch die Einzelforschungen zu Interventionen sind reichhaltig und folgen mehreren, in den einzelnen Disziplinen gleichermaßen geübten Konventionen: Die Referenzen geben hauptsächlich Ausdifferenzierungen solchen Leit-Studien oder Zusammenfassungen wieder, die sich als wirkungsmächtig oder zur Legitimation von Interventionen (bzw. zur Opposition dagegen) als praktikabel erwiesen haben. Was die empirische Seite angeht, sind sie oft plausibel, aber nicht methodisch im Sinne von anthropologischer oder soziologischer Feldforschung abgesichert, was ihre Verwertung für die Praxis und die politischen Entscheidungen, die sich auf sie berufen, nicht gänzlich entwertet, aber eben auch nur rudimentär absichert. Wie in allen sensiblen politischen Bereichen ist außerdem die Quellenlage selbst ein Problem, da die besten Informationen meistens von nicht nennbaren Personen kommen oder nicht legal gewonnen wurden oder erst kompliziert veri¿ziert werden müssen; das alles ist bekannt und trifft keineswegs nur für den sensiblen Teil des militärischen oder geheimdienstlichen Materials zu. Da die Beratungsindustrie – vor allem dort, wo Think-Tanks höher rangieren als akademische Forschung – auch ein massives Interesse an ihrer Selbstreproduktion hat, ohne sich jedoch wie z. B. die Sicherheitsindustrie selbst in Lebensgefahr ihrer Protagonisten zu bringen, sind auch hier tief gestaffelte Schichten der Diskursbildung offenzulegen. Was wir hier beschreiben, ist in vielen Disziplinen bekannt und hat auch mit der SchnittÀäche von ausdifferenziertem Neuen gegenüber älteren paradigmatischen Schichten zu tun. Wenn wir trotzdem einer Interventionssoziologie das Wort reden und keinen Bindestrich verwenden, dann hat das jedoch mehr als nur den Grund, eine gar nicht so kleine Nische abzusichern. Im Gegenteil, wir können durchaus auf verschiedenen fachlichen Hochzeiten tanzen, wir stellen nur fast immer das gleiche De¿zit fest, nämlich das genuin Soziologische; dass die soziale Dynamik und die Kommunikationsprozesse, die eine Folge von und im Gefolge von Interventionen auftreten, fast wie Black Boxes behandelt werden, oder eben praktikabel, plausibel und beratungswirksam sein

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müssen, um zur Kenntnis genommen zu werden. Umgekehrt hat es einige Schwierigkeiten, den Anteil an Grundlagenforschung förderungsfähig auszuweisen, weil der Ausschlussgrund bzw. Vorwurf der Beratungsnähe oft nicht zu entkräften ist: Woher hat man denn seine empirischen Einsichten, die für die Antragsbegründung herhalten müssen?, fragen Gutachter und verweisen darauf, dass eben die politischen Akteure für die ihnen offensichtlich nützlichen Forschungen auch zahlen sollten. Soweit also ein Motivationsbericht, der zeigt, dass es sich auch abseits der Ideologieforschung lohnt, nach nationalen und anderen systemischen Traditionen der Disziplinen und nach dem Verhältnis der relativen Freiheit bei gleichzeitiger Wirkungsabsicht der Forschungen zu fragen. 2 Das beobachtete disziplinäre De¿zit – die ungenügende trans-disziplinäre Bearbeitung von Interventionen und von Gesellschaften während und nach Interventionen – provoziert eine stärker anthropologische, ethnologische und soziologische Befassung mit den Akteuren auf gesellschaftlicher Ebene.. Das zielt weniger auf eine Ausdifferenzierung des Verhältnisses von Staat und Gesellschaft im liberalen Modell; vielmehr wollen wir versuchen, parallele oder konkurrierende Modelle gesellschaftlicher Formierung darauf anzuwenden, Interventionsgesellschaften zu verstehen. Das de¿nitorische Element soll nicht überbetont werden, aber wir wollen uns nur solchen Gesellschaften zuwenden, die Subjekte und Objekte von bestimmten Interventionen sind. Die Bestimmung dieser Interventionen ist u. a. durch ihre humanitäre Legitimation gegeben, die mithilfe von Militär durchgeführt wird und die (wenigstens mittelfristig) andauernde Präsenz von Intervenierenden nach der Beendigung der militärischen Kampfhandlungen nach sich zieht. Es interessiert uns nur in zweiter Linie, in welcher Form das Regiment über diese Gesellschaften ausgeübt wird (Besatzung, Protektorat, Berater, indirekte Hegemonie etc.). In dem meisten Fällen empirischer Erforschung solcher Gesellschaften sind die jeweiligen Formen von Herrschaft, ihre formellen und informellen Qualitäten eher die unabhängigen Variablen. Damit verlangen wir nach einer Theorie und einer Empirie, die es erlaubt, die Effekte von Interventionen auf Intervenierte und Intervenierende differenziert zu erkennen und sie in Bezug auf die Konsequenzen für die einzelnen Gruppen zu bewerten. Wir müssen hier verschiedene Diskursstränge auseinanderhalten. In ehemaligen Kolonialmächten hat die anthropologische, ethnologische und postkoloniale Diskussion andere und kontinuierlichere Entwicklungen genommen als in Deutschland, wo der Nazismus eine weit tieferen Einschnitt in die Forschung, aber auch in die Alltagsphilosophie und Alltagsphilologie mit sich gebracht hat,

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die Wissenschaft erholt sich langsam davon; die Befunde an der Bruchstelle zur Vergangenheit sind deshalb besonders deutlich zwischen der älteren Nachkriegsgeneration und den jüngeren Forschern, die sich mit Kritik der Themen und ihrer fachlichen Vorläufer einigermaßen leichter tun und die Literatur der postkolonialen Forschung, v. a. in Frankreich, Großbritannien und den USA ganz anders aufnehmen konnte (Referenzpersonen wie Bernd Glatzer, Georg Elwert, Hermann Kreutzmann). Dies ist ein kurzer Hinweis auf ein Forschungsdesiderat, das sich im Folgenden teilweise selbst erklärt, aber auch Bestandteil unserer Gesamtforschungen zur Interventionsgesellschaft sein wird. Wissenschaftlich stellen wir eine Überhitzung des konstruktivistischen Paradigmas in der politischen Wissenschaft fest – alle sind lieber Beobachter als im Praxis-Feld tätig –, und zugleich gibt eine merkwürdige Vernachlässigung der gesellschaftlichen Aspekte all der mit Intervention zusammenhängenden Maßnahmen und Begründungszusammenhänge. Es gibt einen latenten „Streit der Fakultäten“ mit mehr als nur pragmatischen bzw. zufälligen Hintergründen. Die Fachgeschichte in den einzelnen nationalstaatlichen Systemen ist immer schon auch abhängig gewesen von der Kolonialgeschichte, von der Kriegserfahrung, von Diktatur und Demokratie in der jüngsten Entwicklung der jeweiligen Wissenschaftssysteme. Die oft in den USA gebräuchliche fachliche Zusammenfassung Anthropology and Sociology erscheint uns angemessen. Wir haben zwar keine Begriffszählungen vorgenommen, können aber gut belegen, dass State-Building und Nation-Building die beiden übermächtig häu¿gen Zielpunkte sind, während Society-Building auch im übertragenen Sinn selten vorkommt. Das wäre aber bei allen (neo-)institutionalistischen Ansätzen mehr als nötig (Lemay-Hébert 2009). Es wird nämlich entweder stillschweigend unterstellt, dass die Entscheidungsbildung bzw. die individuelle „Wahl“ von Gesellschaftsstrukturen nach bekannten oder nach invariablen Mustern erfolgt. Selbst wenn das Herstellen einer „neuen“, d. h. grundsätzlich von der „alten“ unterschiedenen Gesellschaft, gar nicht das Ziel einer Intervention sein sollte, dann würden doch in den gesellschaftlichen Umständen der jeweiligen Staatsgründungen, Revolutionen, Reformen, Widerstände fast nur Phänomene zum Tragen kommen, die in den politischen Konzepten kaum präzisiert werden. Wo man es wissen sollte, z. B. bei Wahlen, beherzigt man die soziologischen Erkenntnisse nicht und drückt die Verfahren gegen bessere Kenntnis der entlegitimierenden sozialen Folgen – bis hin zu Unruhen, Gewalt und neuen GroßkonÀikten – durch. Damit kann man aber die in der intervenierten Gesellschaft vorhandenen Bedingungen etwa zur Entwicklung eines Nation-bildenden Nationalismus gar nicht hinreichend in eine von außen herangetragene Strategie einbinden, muss also scheitern. (Nebenbei bemerkt, und später einsichtig, ist diese Vernachlässigung des Sozialen auch innerhalb der Interventionsgesellschaft selbst anzutreffen. Zwar kennt man sich dort besser aus, aber nicht selten werden die

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Ebenen, die KonÀiktaushandlungen unvermeidlich machen, z. B. in Konfrontation mit dem KonÀiktregulierungspotenzial von Traditionen bei Aufbau von Rechtssystemen (vgl. Ledwidge 2009) oder beim Einsatz von Versöhnungspraktiken (vgl. Suhrke u. a. 2009) unzutreffend übertragen.) Bei den Interventionsforschern selbst stellen wir große Sensibilität gegenüber diesen gesellschaftlichen Aspekten fest, aber selten gehen sie selbst theoretisch oder feld-praktisch „hinein“. Wenn institutionelle Akteure einander anomisch gegenüberstehen, wird der KonÀikt von oben entweder dezisionistisch oder von unten lebensweltlich-traditionell gelöst, bei der jeweiligen Entlegitimation des einen oder anderen Akteurs (Beispiele: Schetter 2009). II

Gesellschaftliche Dynamiken und KonÀikte verlangen nach einer KonÀiktsoziologie und die KonÀiktgruppe der Interventionen nach einer speziellen Theorie

1 Zunächst stellt sich unabweisbar die Frage nach den ethischen und politischen Positionen der Forschenden. Es ist das keine PÀichtübung, sondern eine auch für die empirische Arbeit und die Verwertung unserer Ergebnisse unabdingbare Diskussion, der wir uns stellen. Hearts and Minds, Embedded Science and Journalism, (un)beabsichtigte Effektivierung auch von solchen Interventionen, die man prinzipiell ablehnt bzw. Reform solcher, die man persönlich vertreten kann, die aber im Forschungszusammenhang die Unabhängigkeit des Urteils beeinÀussen mögen, sind hier bedeutsam. Einige der Autoren in diesem Band sind an ihrer Universität etwa mit dem Vorwurf des Neokolonialismus konfrontiert, weil sie nachgewiesen haben, dass die Bereitstellung des Gutes ‚Sicherheit‘ durch Kommandanten oder Warlords von den Menschen einer legitimeren (?) staatlichen Instanz vorgezogen wird. Es wird sozusagen empirische Komplizenschaft vorgeworfen, weil die Erklärung der Ursachen für solche Verhaltensweisen mit deren Billigung gleichgesetzt wird, also nicht von vornherein die wünschbare Alternative den Untersuchungsgang bestimmt. Der reduktionistische Vorwurf „Politik werde auf Governance reduziert“ ist nur deshalb von Bedeutung, weil er das viel größere Thema berührt: wieweit die Forschungen eine ontologische Komplizenschaft begründen, mit der Kenntnisnahme dessen, „was der Fall ist“, auch wenn man schon vorher weiß, „was dahinter steckt“ oder dieses erst nachher heraus¿nden wollen kann (vgl. Jan Free im Bezug zu Luhmann 1993 in diesem Band).

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Die allgemeine Ebene dieser ReÀexion hat eine Schnittstelle mit der Philosophie, wo es um ethische Fragen geht, und der moralischen Legitimation, wenn wir unabweisbar in der Sphäre wissenschaftlicher Politikberatung und Kommunikation stehen. Diese Ebene zu verfolgen, ist nicht unser Hauptanliegen, aber sie steht am Beginn unserer Überlegungen und wird ständig durch Kritik und Kommentierung unserer Arbeit herausgefordert. 2 Wir begreifen Militärische Intervention als Teil einer unscharf abgegrenzten politischen Großkonstellation sind heute als Realität und Forderung Bestandteil normaler globalisierter Politik, die auch Weltinnenpolitik heißen kann. ƒ ƒ

ƒ

Interventionen sind ein Sonderfall eingreifender KonÀiktregulierung, mit dem Zweck, einen gewaltsam ausgetragenen KonÀikt gewaltsam zu regeln; humanitäre Interventionen haben explizit nicht das Ziel, Eroberungen oder Kolonisierung durch die Intervenierenden zu bewirken; häu¿g aber die Intention als Sekundäreffekt hegemoniale oder andere EinÀussnahme auf das Resultat der Intervention zu verstätigen; die Abwendung einer „humanitären“ Katastrophe setzt einen Verständigungsprozess über deren Qualität voraus, es werden Präzedenzfälle geschaffen (vgl. die Debatten über die Legitimation des externen Eingreifens in Darfur und Myanmar). militärisch gestützte humanitäre Interventionen greifen mit Waffengewalt aufgrund angenommener höherer Legitimation in Souveränität und andere Rechtsgüter der intervenierten Gesellschaften bzw. Staaten ein, ohne dass Besatzung oder dauerhafte militärische Besetzung zu den Zielen gehört. Die Rolle des Militärs ist gleichwohl von entscheidender Bedeutung für die Quali¿zierung der Intervention, auch als Abgrenzung z. B. gegen Interventionen internationaler Gerichte2 oder wirtschaftlicher Mächte (nichtstaatliche Akteure mit direkter Intervention).

Die Legitimation von Interventionen respektiert nicht mehr unbedingt die staatliche Souveränität und die diversen Agenten der Staatlichkeit: Legitimation verleihen Konzepte wie Human Security, Responsibility to Protect, prä-emptive Sicherung der eigenen Interessen- und Gewaltsphäre usw. Keine dieser Legitimationen ist unumstritten oder universell akzeptiert. Aber nur solche Konzepte treten in den Rang von primären Legitimationen, aus denen Prinzipien bzw. prinzipiengeleite2

Vgl. den Beitrag von Susanne Buckley-Zistel in diesem Band.

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tes Handeln abgeleitet werden können. Aus Präzedenzfällen abgeleitete Normen gehen in das „Repertoire“ von Legitimationen ein. Insofern sind diese Interventionen auch nicht grundsätzlich neu; dass sie oft die Form der „Neuen Kriege“ annehmen, hat einen anderen theoretischen Hintergrund, nämlich die Veränderung der Staatlichkeit in den beteiligten Gesellschaften. Wenn Staaten als Akteure wegfallen oder teilweise durch andere Strukturen ersetzt werden, die sich in gewandelten Konzepten von Governance äußern, wird dies bisweilen polemisch als Ersatz von Politik durch einen festgelegten, meist negativ bewerteten Herrschaftsmodus kritisiert. Der Angriff könnte ignoriert werden, wenn nicht die teleologische Konstruktion von „Staat“ eine solch eingewurzelte Rolle in der Frage von Legitimität einer Intervention spielte. Auch die Tatsache, dass in allen Interventionen sowohl die auslösenden als auch die durch die Intervention erst geschaffenen KonÀikte Ressourcen für wenigstens einen beteiligten Akteur sind, sollte beachtet werden. Überhaupt wäre die Betrachtung von KonÀikten als maßgebliche Ressourcen für die Interventionsbeteiligten ein wichtiger Aspekt retrospektiver Erklärungsansätze: Oft erkennt man erst im Nachhinein, wer in welchem Umfang von welchen Interventionsumständen pro¿tiert hat. In jedem Krieg, auch in lang anhaltenden gewaltsamen KonÀikten, gibt es immer Menschen, die als soziale Gruppe sehr wohl betroffen sind, aber subjektiv keine große Änderung ihrer Lebensumstände erfahren. Sie würden das weiterbestehen dieser Umstände oder gewisse Änderungen jedenfalls nicht kausal auf den Krieg oder die Intervention zurückführen. Aber dieser stellt für sie eine (oft nicht als solche wahrgenommene) Ressource dar. An dieser Stelle tritt eine Besonderheit des Konzeptes der Interventionskultur (IK) erstmals deutlich hervor: die Legitimationen auf Systemebene können eine Intervention niemals hinreichend begründen und absichern. Die von der Intervention betroffenen Gesellschaften sind, relativ unabhängig vom Grad ihrer staatlichen Kohärenz und dem Typus von Governance, der sie zusammenhält, sozial und kulturell bestimmte Akteure im Geschehen nach der Intervention. Interventionsgesellschaften sind solche, die nach einer Intervention als Verbindung von Intervenierten und Intervenierenden durch eine besondere Beziehung gekennzeichnet sind. Diese besondere Beziehung trennt die Intervenierten teilweise von den Kontinuitäten ihrer Gesellschaftsform vor der Intervention ab, während bei den Intervenierenden auch die jeweilige Heimatgesellschaft3, z. B. Entsendestaaten von Militär, durch die Intervention beeinÀusst werden. Es versteht sich, dass unser Gesellschaftsbegriff nicht-emphatisch gebraucht wird, wir also nicht von Dass wir den Heimatbegriff bewusst verwenden, wird beim Abschnitt über den Heimatdiskurs erklärt werden. Wir greifen hier in eine kulturell und politisch hochemp¿ndliche Diskursstrategie ein, in der der Begriff ansonsten, wenigstens im Deutschen, überwiegend negativ konnotiert oder stark individualistisch-emotional besetzt ist. 3

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vorgesellschaftlichen oder minderen nicht-gesellschaftlichen Zuständen ausgehen. Das ist von entscheidender Bedeutung dort, wo anstatt von Vergesellschaftungsprozessen von vorneherein der Wechsel des Herrschaftssystems, wie z. B. bei der Invasion des Irak, vorgesehen ist. Mit anderen Worten: eine Intervention kann, aber muss keineswegs die Herrschaftsformen einer Gesellschaft nachhaltig verändern; in jedem Fall wird sie aber in die Vergesellschaftungs- und Vergemeinschaftungsprozesse eingreifen. Deshalb wird die Ebene der Lebenswelt bedeutungsvoll, und nicht nur die für die politischen Wissenschaften und Akteure relevante Systemebene. Empirisch gilt es genauer zu erforschen, worin diese Beziehung zwischen Intervenierten und Intervenierenden besteht, wenn sie als „besondere“ gekennzeichnet wird, d. h. sie kann ihre Formen nur aus der Tatsache beziehen, dass Intervenierende und Intervenierte sozial auf einander stoßen. Weder frühere imperiale noch koloniale Herrschaftsformen seitens der Intervenierenden noch vorausgesetzter Widerstand der Mehrheit der Intervenierten stehen am Beginn der Interventionsgesellschaft. Dieser Hinweis ist wichtig, weil beide Tendenzen im Verlauf der Interventionsgesellschaft sich einstellen können bzw. den jeweiligen diskursiven Strategien beider Lager, der Intervenierenden und der Intervenierten, eingeschrieben werden. Diese Randbedingungen vor Augen können die Beziehungen mehr oder weniger gleichberechtigt, stark ungleich (z. B. Besatzung), sozial und politisch einseitig (z. B. Protektorat), „kollusiv“4 u. v. m. sein; nicht in der Typisierung liegt der praktische Gewinn, sondern in der Differenzierung innerhalb des zwingenden Schemas der auf einander bezogenen Parteien. Die gesellschaftliche Situation nach Interventionen – Friedenssicherung, Wiederaufbau, Staatenbildung – ¿ndet ihren Ausdruck in zwei wesentlichen Programmpunkten außerhalb der Sicherheitsdoktrin: in Capacity-Building und in Institution-Building. Akteursorientiert kann man das auch als Ausbildung quali¿zierter Individuen (und zwar Experten) und funktionsgerechter Institutionen bezeichnen. Über die Techniken der beiden Programme ist hinreichend viel geforscht und analysiert worden, auch kennen wir die Widerstände, denen sie begegnen. An einem speziellen Aspekt kann man allerdings einen etwas komplexeren soziologischen Zugang zur Interventionsgesellschaft konstruieren. Interventionen sind Spezialfälle weltgesellschaftlicher KonÀikte. Wenn die Akteurskonstellation der Weltgesellschaft durch die kulturelle Zurechenbarkeit der Akteure bzw. Institutionen bestimmt ist, dann spielen sich KonÀikte innerhalb der Interventionskultur immer in Widersprüchen dieses Konzepts ab. Es ist dabei für das folgende Argument unerheblich, ob die Prämissen der westlichen 4 Kollusion spielt im Verhältnis der beiden Gruppen eine besondere Rolle. Wir haben den Begriff in gewisser weise neu „entdeckt“, es gibt aber einige Vorläufer des Sprachgebrauchs, erstmals im Kontext: Wiegele 1992.

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Kultur – Entwicklung von Fortschritt und Gerechtigkeit – tatsächlich, ausschließlich oder nur abgeleitet gelten. Die Prädikate der Moderne sind es, die die interne KonÀikthaftigkeit offenbaren, durch Merkmale wie etwa Ungleichzeitigkeit, Friktionen mit starken Traditionen oder von den Betroffenen (Intervenierten wie Intervenierenden) entwickelter Ratlosigkeit, wenn Institutionen wegfallen (z. B. alte KonÀiktregulierungen auf lebensweltlicher Ebene) und das Vakuum nicht gefüllt werden kann, (z. B. wenn die Intervention brüchig gewordene Familienstrukturen zerstört, aber keine attraktive Alternativen anbietet). Die sich daraus ergebenden KonÀikte müssen der Intervention zugerechnet werden, sie können nicht aus dem Root-ConÀict (UrsprungskonÀikt) abgeleitet werden, und es ist nicht möglich, retrospektiv anzugeben, wie sich diese Akteure ohne Intervention weiter entwickelt und verhalten hätten. Das löst einen Legitimationskrise aus, in der das Akteursvakuum bzw. die gewollte oder abgelehnte Transformation der Institutionen und des sozialisierenden Curriculums erklärt werden müssen, um eigene politische Handlungen zu rechtfertigen. Wenn diese sich gegen die Intervenierenden richten, werden die Normen als „westlich“ i.S. von nicht authentisch, traditionswidrig und die rituellen Aushandlungsprozesse behindernd dargestellt. „Westlich“ ist auch die negative Konnotierung selbstkritischer und interventionskritischer Bewertung von Programmumsetzungen seitens der Intervenierenden. Wer den Begriff gebraucht, rekurriert jedenfalls nicht automatisch und gar explizit auf Weber, Sombart oder John Meyer. Aber in der Analyse müsste ja man geradezu den Begriff deshalb dekonstruieren, weil er nach Meyer in der World Polity seine scheinbar geographische, auch symbolische, Bedeutung verloren hätte, er ist ein bloß ungleichmäßig wirksames, aber unumkehrbares Prinzip. Wenn ablehnende Politiken demnach als Alternative zu den von ihnen bekämpften westlichen Institutionen doch wieder solche selbst aufbauen, die diesen (aus Theorie abgeleiteten „realen“) westlichen Kriterien entsprechen, vielleicht noch weniger ausdifferenziert oder verspätet, dann kann man der Kritik des Westlichen am Programm ideologiekritisch begegnen. Um dies zu können, müssten vor allem die Intervenierenden aber den Kontext kennen, unter denen ihnen die anti-westliche Position entgegen gehalten wird. Während ohne weiteres einsichtig ist, warum in Afghanistan der sowjetische Kommunismus so westlich war wie der amerikanische Marktliberalismus, wird es kompliziert, wenn es um die westlichen und nicht-westlichen Aspekte islamischer Institutionsbildung geht und schon gar, wenn in Südosteuropa westlich mit der supra-nationalen Hegemonie der EU erklärt wird, während die nationale Regress als authentisch dagegen gestellt wird. Von solchen Erweiterung der Akteursfelder sind viele Bereiche der Interventionsgesellschaft konkret betroffen, etwa bei der kulturellen Zurechnungsfähigkeit von supra-nationalstaatlichen Akteuren (EULEX, ISAF), in allen Bereichen der Multilegalität (Hainzl und Zips 2005, Boege 2007, Ledgwidge 2009), bei der Einführung von SchulpÀicht usw. Meyer macht

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eine nützliche Beobachtung, wenn er feststellt, dass Vergemeinschaftungsformen, in denen die Individuen stark aufgehen, den Vergesellschaftungsformen mit starker Betonung der Stellung des Individuums unterlegen sind (Meyer 2005). Das kann z. B. an der Stellung ernannter oder familiär prädisponierter lokaler Anführer im Vergleich zu gewählten Amtsträgern gut überprüft werden. Aber unser Hauptargument bei Interventionen, in denen westlich auch mit der geographischen Herkunft der Intervenierenden assoziiert wird, soll sein, dass der Vorwurf westlicher Superiorität wegfällt, wenn aus dem formalen Prinzip die mögliche Vielfalt inhaltlicher Bestimmungen aufgezeigt und als kompatibel mit nicht-westlichen Grundsätzen „übersetzt“ wird. Wenn für uns die Notation „westlich“ mit der von „Modernisierung“ zusammenfällt, ist dies gerade bei modernisierungswilligen anti-westlichen Intervenierten nicht der Fall. 3 In aller Regel – und damit von den meisten Kriegen ob mit oder ohne nachfolgende Okkupation unterschieden – ist die humanitäre Intervention prinzipiell eine Befreiungsaktion. Das ist eine starke Hypothese, die sich angreifbar macht und machen will. Sie sollte nicht von der Standpunktlogik der Intervenierenden her legitimiert werden, auch wenn die eine ebenso große diskursive Rolle spielt wie z. B. das Befreiungsbegehren einer unterdrückten Gruppe. Die Legitimationsverfahren internationaler Institutionen – und ihr Versagen bei bestimmten, legitimierbaren Interventionen – sind dagegen ein besserer Ausgangspunkt. Dass dies nicht in einem idealistischen Konstrukt statt¿ndet, versteht sich; aber auch Befreiung mit dem Ziel von mehr Frieden nach einer Intervention kann unemphatisch diskutiert werden. Befreiung war stets eine starke Legitimation, und sei es vor der eigenen Klientel und nicht nur für die Weltöffentlichkeit oder die Intervenierten. (Starke Rhetorik: Befreiung der eigenen Menschen durch Intervention beim Gegner, Befreiung der Menschen von der gegnerischen Herrschaft und Befreiung der eigenen Verbündeten von der Unfähigkeit ihrer Regierungen, den Gegner abzuwehren – diese drei Figuren haben wir im letzten Jahrhundert gesehen; mit dem Absterben wirkungsvoller Ideologien sind die Befreiungsmotive besonders schwach geworden.) Ganz sicher haben Befreiungsbewegungen zur Emanzipation aus Zwang und Unterdrückung eine ganz andere Dimension als solche, die zu einer bestimmten Interpretation von Freiheit befreien sollen. Das Befreiungsmotiv Friedens erzwingender Interventionen stößt regelmäßig auf das romantische Widerstandsmotiv der intrinsischen Befreiung (Wenn dir jemand die Freiheit anbietet, nimm sie nicht, es ist nicht die Freiheit, die Freiheit kann dir niemand geben, du musst

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sie dir nehmen – Qeimada, 1969)5. Heute wird statt dieses Freiheitsbegriffs ein Verfügungsbegriff verwendet, ownership, der Zugang zu und Verfügung über Ressourcen innerhalb eines institutionellen Gefüges bedeutet. Die Bestimmung über dieses Gefüge selbst, die im Freiheitsbegriff eingeschlossen wäre und die dazu notwendige gesellschaftliche Organisationsfreiheit, ist aber bei Interventionen i. d. R. nicht gegeben. Das liegt u. a. daran, dass es nach der Intervention eine einheitliche Gesellschaft des intervenierten Staates nicht geben kann, sondern eben eine Interventionsgesellschaft. (Ownership6 ist eine scheinbar benevolente Vokabel, die das Gegenteil von kolonialen oder unterordnenden Absichten ausdrückt, aber oft sich durch die Bedingungen, unter denen Eigentümerschaft angetreten werden kann, desavouiert. Beispiele dafür sind die Verfassungen, die etwa dem Kosovo oder Afghanistan aufoktroyiert wurde, oder das Eigentum an Curricula und Forschungsfragen in privaten Universitäten. Die Absicht, Ownership zu ermöglichen, kann durchaus ernst gemeint sein; sie kann aber die Emanzipationsbestrebungen von Intervenierten durchkreuzen (die daraus resultierenden Zweifel an der Aufrichtigkeit politischer Aussagen sind massenhaft wirksam im Heimatdiskurs). NGOs können die politische Absicht oft ernster meinen als Militärs, oder aber Militärs von ihrer Mission, Ownership herzustellen, überzeugter sein als die lokalen Regierungen usw. Wenn die Intention Befreiung ist, dann bedeutet die Intervention z. B. die Befreiung einer unterdrückten Gruppe durch eine unterdrückende Gruppe, gleichgültig, ob es sich um Mehrheiten oder Minderheiten handelt. Ob eine solche Befreiung z. B. durch einen erzwungenen Regimewechsel und die dadurch bewirkte Beendigung eines KonÀikts auf der Systemebene wirksam ist, Anerkennung ¿ndet, und die Souveränität des betreffenden Staates (wieder) herstellt, ist eine Frage; die andere, uns mehr und nachhaltiger interessierende Frage ist, ob diese Befreiung von den betroffenen Menschen als eine solche wahrgenommen wird, ob sie gebilligt oder bloß hingenommen wird, ob sich im lebensweltlichen Bereich für diese Menschen etwas ändert, und wenn ja, zum Besseren, ob sie nicht vielleicht kontrafaktischen Widerstand provoziert usw. Die Antworten auf solche Fragen werden oft stellvertretend von den Macht ausübenden Akteuren für die Bevölkerung(en) unterstellt – Legitimationshypostasierung – oder vor-empirisch aus den Beurteilungskriterien der Intervention abgeleitet, von Laien, z. B. den Soldateneltern der Entsendestaaten, oder Experten, wie den analysierenden Wis5 Qeimada: Politischer Schlüssel¿lm, wie Befreiung zum ‚macchiavellistischen‘ Instrument der Ausbeutung und weitergehender Unterdrückung werden kann. Regie: Gillo Pontecorvo, mit Marlon Brando. 6 Vgl. Reich 2006; CORE/IFSH 2009; das oft feststehende Attribut „local“ hat eine gewisse bedeutungsmindernde Qualität. Die lasten, die mit Ownership verbunden sind und die Rechte bzw. Freiräume, die sie schafft, sind ungleichmäßig verteilt.

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senschaftlern7. In dem Maß, in dem sich objektiv betroffene, meist Intervenierte, von der Intervention nicht subjektiv betroffen fühlen, wird Ownership zu einem Diskurselement auf der Systemebene. (Genauso ist früher Befreiung zu einem harten Schicksal verkommen, wenn sie Menschen aus ihrem Kontext heraus oder ohne jeden Bezug zur ihrer Lebenssituation zur Revolution herausgerissen hatte.) Wenn auf der Systemebene „Befreiung“ z. B. heißen kann „Befreiung zur Staatlichkeit, zur Demokratie etc.“, also zu wert- und funktionsgeladenen Potenzialen, bedeutet sie auf der Ebene der Gesellschaft immer die Befreiung der Menschen (meist bestimmter Gruppen) von unzumutbarer Unterdrückung und zu politischer Aktion. Der emanzipatorische Aspekt und – reziprok – die Solidarität in der Interventionspolitik sind zwei deutlich unterbelichtete Aspekte. Wird Befreiung nicht aus Sicht der jeweiligen Interessen beschrieben, sondern bekommt ihre Normativität erst im Vollzug der Intervention, dann kann ihre Legitimation in dem Maß erkennbar gemacht werden, indem z. B. politischer Raum für die Intervenierten geschaffen wird. Die Befreiung schwacher oder besonders unterdrückter Gruppen erfordert mikro-sozial ganz andere Maßnahmen als eine großÀächige Befreiung zum eigenen Standpunkt. 3.1 Dass dabei der Zeit nach der Intervention entscheidende Bedeutung zukommt, und dass in dieser Zeit die Interventionsgesellschaft sich herausbildet, also nicht einseitig gebildet wird, ist der Ausgangspunkt für die folgende vorläu¿g zusammenfassende Bestimmung: ƒ

ƒ ƒ

Für einen begrenzten, aber nicht abschätzbaren Zeitraum bilden Intervenierte und Intervenierende eine Gesellschaft – die Interventionsgesellschaft – mit unterschiedlichen Verschmelzungs- und Integrationgraden und einer binnendifferenzierten Latenz zu FolgekonÀikten: diese sind das Ergebnis der Interventionsgesellschaft und nicht kausal aus den Wurzel-KonÀikten (Root-ConÀicts) abzuleiten, die der Anlass der Intervention waren. Die Interventionsgesellschaft bildet eine Interventionskultur. Wir verwenden hier keinen breiten Kulturbegriff, sondern fokussieren ihn auf die gemein-

Aussagen in diesem Bereich können sowohl verinnerlichte Normen als auch habituelle Einstellungen wiedergeben. Im ersten Fall wäre z. B. eine solidarische Aussage oder ihre Verweigerung Ergebnis politischer Sozialisation, im zweiten eine kulturelle „Selbstverständlichkeit“. Hier liegt ein Desiderat der empirischen Forschung. 7

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ƒ ƒ ƒ

Michael Daxner samen Praktiken der Traditionsgestaltung, lebensweltlichen KonÀiktregulierung und Wertorientierung, was sich vor allem ausdrückt in moralischen und ästhetischen Normierungen auch im Alltagshandeln, sowie im Heimatdiskurs der Intervenierenden (und zunehmend der Intervenierten), und in einer Verbindung der beiden Gruppen über unterschiedlich af¿ne Habitus mit mehr oder weniger kohärenten und kollusiven Bindungen. Habitusübertragungen oder Abgrenzungen (v. a. bei zu großer Nähe) sind wichtige Erscheinungen, die ebenso untersucht werden müssen wie die interne Struktur der Intervenierenden, die teilweise über die Intervenierten mehr zu kennen meinen als sie über sich selbst wissen.

Mikrosoziale Ansätze politischer Ethnologie und Anthropologie führen in die Nähe eines Konstrukts von Interventionsanthropologie, d. h. implizit der Behauptung, dass Gesellschaften nach einer Intervention einen speziellen Habitus annehmen und ausagieren. (Es handelt sich um einen homo interventionis und nicht einen homo interventus, die Intervenierenden können sich nicht aus der neuen Gesellschaft davonstehlen.) Gleichzeitig werden Gründungsmythen und andere formative Narrative umgedeutet. Hierbei ist es wichtig, sich nicht ausschließlich auf die mikro-soziale Untersuchungsebene zu begeben, weil deren Verbindung zur Systemebene bzw. zum System ja in enger Wechselbeziehung steht (vor allem, bei den typischen Störungen zwischen beiden Ebenen, negativ konnotiert). Am Beispiel der nicht-hierarchisch, sondern funktional geordneten Governance-Elemente können hier historische und anthropologische Feldforschungen zu wichtigen, zeitgemäßen Einsichten beitragen.8 Zurück zur Befreiung. Natürlich ist der gesamte Interventionsdiskurs mit vielen Subtexten gespickt, die nicht nur die tief gestaffelten „weiteren“ Interessen der Akteure repräsentieren, und viele davon haben nichts mit den Motiven der Befreiung, Durchsetzung von Menschenrechten, Beseitigung von Diktaturen usw. zu tun. Das heißt, dass sich v. a. im Heimatdiskurs9 verschiedene, auch widersprüchliche Legitimationsebenen treffen. Offen treten diese Brüche auf, wenn Konzepte wie Human Security in ihrer Reichweite überdehnt oder allein gestellt werden. Befreiung auf der mikrosozialen Ebene ist eine Funktion der wahrgenommenen Veränderung und Veränderbarkeit grundlegender Umstände durch die be8 Vgl. die Beziehung zwischen den Grundlagenstudien von Fredrick Barth in den 50er Jahren des letzten Jahrhunderts zu Habitusvarianten (Barth 1958), die in der Interventionsgesellschaft Afghanistan bei paschtunischen Stämmen eine Rolle spielen kann, z. B. in Fragen von Gefolgschaft (Allegiance) und Eigentumsordnung. Aktuell werden solche Probleme u. a. erörtert bei der Tagung: Local Politics in Afghanistan (ZEF Bonn 2009), die in einem Band „Beyond the State“ veröffentlicht werden. 9 Vgl. Daxner, DGS 2008 (ms.).

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troffenen Menschen und Gruppen. Viele Menschen in Interventionsgesellschaften wissen zwar um die Umstände, die zur Intervention geführt haben, sie mögen auch Partei im vorangegangenen KonÀikt gewesen sein, aber wenn sich an ihren alltäglichen Lebensumständen nichts oder fast nichts geändert hat, hat das andere Konsequenzen als wenn durch die Umstände der Interventionskultur Handlungsspielräume erweitert oder eingeengt werden; so kann z. B. lebensweltliche Tradition als KonÀiktregulierung durch neue, „im Prinzip“ begrüßte und wünschenswerte Institutionen im konkreten Fall unterlaufen und entlegitimiert werden, was den gängigen Vergemeinschaftungsformen arg zusetzt. Befreiung zur autonomen Bestimmung der Grenzen und Optionen von Multilegalität (Legal Pluralism) ist aber eine Voraussetzung von Freiheit als einem wesentlichen, die liberale Staatsgründungsminima überschreitenden Konzept. Die Untersuchung von Interventionskulturen ist eine Aufgabe trans-disziplinärer Soziologie. Die Gewinnung von Kategorien und die Stützung bzw. Relativierung der Hypothese, dass viele Interventionsgesellschaften gleichartige Erscheinungen unabhängig vom konkreten kulturellen Umfeld produzieren, die dann als Interventionskultur erscheinen ist wichtig; sowohl für die Vorbereitung und Durchführung humanitärer Interventionen als auch für die Prognose bestimmter Eintretenswahrscheinlichkeiten von FolgekonÀikten. Es wäre ein Missverständnis, hier einen Hebel zur zusätzlichen Effektivierung bzw. Legitimation der Interventionen selbst zu sehen. Natürlich können die Ergebnisse der Forschungen zur Interventionssoziologie in alle Ebenen der Interventionspraxis einÀießen – als Schulung, Analyse und optimierendes Element. Aber sie können nicht die Intervention selbst und den Root-ConÀict steuern, sind also auf den Effekt der Intervention als Träger angewiesen. 4

Bourdieu und die Folgen

In vieler Hinsicht stand Bourdieu Pate für unsere Überlegungen, in meinem Fall sowohl von der pädagogischen Soziologie als auch von der Kriegserfahrung in Algerien her. Im Folgenden werden nur sehr kursorische Bezüge hergestellt zu einer ungemein ertragreichen theoretischen sozialwissenschaftlichen Zugangsweise. Dass der Algerienkrieg mittlerweile auch den militärischen Überlegungen neue kritische Impulse gibt, ist kein Zufall.

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4.1 Der Algerienkrieg ist im Zuge der unsäglichen Vorgehensweise der USA im Irak wieder in den Fokus der Analysen geraten, ebenso wie Vietnam. Aber es gibt nicht nur militärische Logiken in Algerien zu studieren. In kaum einem lang dauernden bewaffneten KonÀikt sind die gesellschaftlichen Ursachen, Folgen, Verarbeitungen und Leerstellen eines KonÀikts so deutlich geworden und so wahrnehmbar an die OberÀäche gedrungen. Dieser Aspekt steht am Beginn von Bourdieus langdauernder Karriere als Soziologe. Was im Übergang von Anthropologie zur Sozialwissenschaft angelegt war, sollte zu einem breiten und für unsere Theoriebildung entscheidenden Gesamtwerk werden. In diesem Kapitel ist es weder möglich noch auch notwendig, Bourdieus Theoriebildung und Methoden umfassend darzustellen. Allerdings halten wir fest, dass die frühen Arbeiten zu Algerien und Frankreich und die Quellen dazu im deutschsprachigen Raum relativ schwer zugänglich sind, und dass sich die deutsche Bourdieu-Rezeption vor allem an Spezialdiskursen festmacht, die oft nicht miteinander verbunden sind, z. B. die Ungleichheit im Bildungssystems und die Entwicklung von Habitus, Hexis und Hysteresis. Auch werden die ReÀexionen über die Möglichkeiten und Grenzen der Sozialwissenschaften, bei Bourdieu ständig thematisiert, zu wenig auf die theoretische Praxis seines Ansatzes zurückgebunden. Nun sind aber viele Elemente der späteren Entfaltung von Theorie und Kritik in den algerischen Erfahrungen und ReÀexionen bereits angelegt. Wenn wir also auf Bourdieu als einen entscheidenden Anreger unserer Überlegungen verweisen, dann wegen der im Folgenden in Stichworten aufgeführten Theoriestücke: ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ ƒ

die Annäherung an die „Intervenierten“, die Bedeutung von Körper(lichkeit) für soziale Zusammenhänge, das Verhältnis von Empathie und Distanzierung (Objektivation), die Habitustheorie, inklusive Hexis und Hysteresis, die Theorie der Kapitalien (ökonomisch, kulturell, sozial) und das Prinzip der Relationalität, die Fragen der Ungleichzeitigkeit bei Konzepten wie „Ehre“, Geschmack und Modernisierung, sowie die Rückbindung der Beobachtungen und Analysen auf die die intervenierende Gesellschaft (in seinem Fall: Frankreich).

Die Grundlagen all dieser Theorie-Elemente und praxeologischen Ansätze sind in der Literatur gut aufgearbeitet und zugänglich, gewinnen für uns aber in den algerischen Anfängen besondere Bedeutung.

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Am Begriff der Intervenierten, der nicht von Bourdieu stammt, möchten wir einige Aspekte unseres Ansatzes deutlich machen. Wir haben uns entschieden, diesen Begriff, der substantivisch selten verwendet wird, einzuführen, weil wir auch die Objektrolle der Menschen bei Interventionen verdeutlichen wollten. Das ist ein zentraler Punkt unseres Ansatzes. Wir verwenden die beiden Begriffe Interventierte/Intervenierende bewusst als gleichwertige grammatische Terme. Es ist auffällig, dass in den meisten Texten statt der Intervenierten oft die lokale Bevölkerung, oder eine konkrete sozio-geogra¿sche oder politische Bezeichnung gewählt wird; umgekehrt werden die Intervenierenden oft als Internationale Staatengemeinschaft oder durch ihre konkrete militärische oder administrative Funktion beschrieben. Wir hingegen meinen, dass der Text der Intervention die Gleichwertigkeit der beiden Gruppen impliziert, wenn sie zu einer „Interventionsgesellschaft“ verschmelzen sollen. Innerhalb dieser Gesellschaft gibt es Machtgefälle und komplexe Subjekt-Objekt-Beziehungen wie in jeder anderen Gesellschaft auch; die passive Zuschreibung der Objektrolle bei Intervenierten und die aktive der Intervenierenden sind sozusagen ein „realistisches“ Element dieser Konstruktion. Im englischen Sprachgebrauch dominiert der Begriff „Invasion“, der für uns aber zu punktuell ist. Im Falle Algeriens waren die Franzosen – Zivilisten und Militär – ja längst da, im Krieg (Aufstand, Revolution) aber wird in spezieller Weise in das gesellschaftliche Gefüge interveniert, also eingegriffen, und zwar nicht punktuell oder spontan. Damit verändern sich lebensweltliche Bezüge auch dann, wenn sie formal über längere Zeit scheinbar erhalten bleiben. Bourdieu erläutert nun sehr präzise, warum strukturalistische anthropologische Ansätze (er kommt ja von Lévi-Strauss) nicht genügen. Sein Schritt in die Soziologie schließt die Pole Empathie und Objektivation mit ein; wir halten dies für entscheidend in einer Situation, in die Position des sozialwissenschaftlichen Forschens selbst in einer Legitimationskrise sich be¿ndet (denken wir nur an „embedded“ research and journalism, und den Versuch, v. a. Anthropologie zu kriegstauglichen Anregungen zu instrumentalisieren (Barcott 2008). Die Komplizität des Sozialwissenschaftlers wird hier herausgefordert, wie das heute u. a. Dirk Baecker (Baecker 2002, Daxner 2009) thematisiert. Das gesellschaftliche Verhältnis der Intervenierenden und Intervenierten zu einander ist nicht nur eine Machtfrage, sondern auch eine der permanenten Vergesellschaftung. Die KonÀikte, die durch diesen Vergesellschaftungsprozess entstehen oder auch reguliert werden, unterscheiden sich sehr von denen, die zur Intervention geführt haben. Sie spielen sich überwiegend auf der Ebene der Lebenswelt und nicht auf der Systemebene ab, wirken aber immer in diese hinein, wie sie umgekehrt durch diese dauernd af¿ziert werden. (Das theoretische Konzept System-Lebenswelt spielt deshalb im IK-Ansatz eine Rolle, ist aber nicht unvermittelt mit dem Ansatz Bourdieus kompatibel.)

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Wenn wir uns vom Fall Algerien lösen, ohne deshalb die hier gemachten Grundpositionen zu verlassen, können wir feststellen, dass die Intervenierten in verschiedenen Modi unterschiedlich agieren und reÀektieren: als Objekte von Besatzung oder Exklusion oder als Subjekte von Widerstand, Revolution oder Subversion. Die Modi ändern sich wiederum mit den Phasen und Formen der Intervention. In kollusiven Situationen entstehen Abhängigkeiten, die zwar den Strategen der Intervention bewusst sein können, aber kaum in die konkreten und vor allem sagbaren Planungen eingehen, z. B. bei den notwendigen Komplizitäten mit prinzipiellen Antagonisten. (Das ist häu¿g bei lokalen militärischen Installationen wie PRTs (Provincial Reconstruction Teams in Afghanistan u. a.) und den umgebenden Warlords oder Kommandons der Fall.) Gerade die Nichtsagbarkeit des Verhältnisses, die auch die Kollusivität bedeutet, hat entscheidenden gesellschaftlichen Formierungscharakter und reguliert weit mehr an Verhalten als jede Hearts and Minds-Kampagne. 4.2 Ein anderer Aspekt sind Interventionsfolgen, die sich nicht aus psychologischen Vermutungen heraus beschreiben und erklären lassen, und für die Bourdieu wichtige Deutungsmuster herausgearbeitet hat. Die Folgen von Entwurzelung (Bourdieu: Déracinement) sind sozial und schlagen von dort in das Verhalten durch. Wir wollen das an zwei Beispielen deutlich machen: das eine bezieht sich auf Migrationsund Rückkehrerfahrungen, das andere auf lebensweltliche „Kontaminationen“. Interventionen haben meist eine Welle von Flucht, Vertreibung und Umsiedlung zur Folge. Diese können sich mit vorangegangen Migrations- und Fluchtbewegungen überschneiden, die Effekte überlagern oder verstärken. Im Falle von Kosovo hat die „große“ Flucht erst nach dem zunächst erfolglosen Bombardement Serbiens durch die NATO begonnen, obwohl sie schon davor antizipiert und eine Begründung für die militärische Intervention war. Im Falle Afghanistans haben eine regelmäßige grenzüberschreitende Arbeitsmigration und ein traditionell starkes Absetzen von jungen Eliten ins Ausland eine komplizierte Überlagerung erfahren, die wenigstens fünf Wellen von Flucht und Remigration bzw. interner Umsiedlung, meist als Land Æ Stadt-Bewegung nach sich zogen. In beiden Fällen haben sich mehrere konÀiktträchtige Veränderungen bemerkbar gemacht: ƒ

eine starke Konkurrenz zwischen den Rückkehrern und den Daheimgebliebenen: Lifestyle, kulturelle und moralische Erfahrungen, die Stellung zu Traditionen etc. be¿nden sich im Wettbewerb um Machtpositionen sowohl

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auf der Systemebene als auch in den lebensweltlichen Wertordnungen und KonÀiktregulierungen; unterschiedlicher Umgang mit den Intervenierenden: Alte Positionen, wie „Vermittler“ oder „Boten“ verlieren ihre Bedeutung; die Intervenierenden selbst umgeben sich bevorzugt mit solchen Remigranten, die sie „lesen“ können; bei positiver Exilerfahrung steigt die Erwartung der Remigranten, dass die Lebenssituation im eigenen Land an den Maßstäben des Exillandes sich orientiert, doch diese Erwartung wird regelmäßig enttäuscht. Die negativen Erfahrungen führen oft zu Aggressionen gegen das eigene Land, und münden nicht selten in eine Radikalisierung und die Vorbereitung auf Widerstand aus dem Exil. (Die Madrassas der Deobandi-Richtung in Pakistan sind ein Beispiel für nachhaltige Indoktrination (Hartung and Reifeld 2006, Golam Hossain10). Insgesamt sind Exilgruppen leichter beeinÀussbar – und auch ausbeutbar. All diese Phänomene werden auf der Systemebene wenig wahrgenommen, entfalten sich aber in der mikrosozialen Lebenswelt, Familie, Nachbarschaft, Dorfgemeinschaft; stark umkämpfter Bildungssektor: Hier geht es nicht nur um das Brechen von Wissensmonopolen, sondern auch um die Umgestaltung von mikrosozialen Milieus durch Literarisierung, Weltkenntnis und Geschlechteremanzipation.

Die KonÀikte auf diesen Feldern hängen oft nur sehr indirekt mit den Auslösern der Intervention zusammen. Verstärkt werden sie regelmäßig durch analoge KonÀikte innerhalb der Sozialstruktur beider Lager (also durch Rivalitäten innerhalb der Intervenierten und der intervenierenden). Wenn wir alle Auswirkungen dieser KonÀikte zusammenfassen, dann entstehen hochgefährliche Mischungen von Ressentiments und Folgen für das Verhältnis von Intervenierten und Intervenierenden. Die folgende Aufzählung gibt einen schmalen Ausschnitt an beobachtbaren Phänomenen wieder, an denen die empirischen Forschungsdesiderate festgemacht werden können: ƒ ƒ

Enttäuschung: Die bei der Intervention überzogen geweckten Erwartungshaltung schlagen in Aggression gegen die Intervenierenden und ihre „Kollaborateure“ um, man könnte dies als ein post-koloniales Syndrom bezeichnen. Umwertung der Intervention: Sowohl im Kosovo als auch in Afghanistan hat sich das Element der Befreiung durch die Intervention in systematische Abwehr der Besatzung entwickelt. An den Differenzen der beiden Interven-

10 Mit Golam Hossain (Dakha, Bangladesh), AvH-Fellow, wird gerade ein Forschungsantrag mit der AS Interventionskultur Oldenburg vorbereitet.

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Michael Daxner tionsgeschichten können sehr wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, wie etwa das Verhältnis von Bedürfnissen der Intervenierenden zur intendierten Bedürfnisbefriedigung durch die intervenierenden zu bewerten ist. KonÀikte entstehen auch durch das Phänomen der zweiten Viktimisierung11: Vor allem in Afghanistan stößt die Kritik der Intervenierenden an der Korruption und Unfähigkeit, die den Intervenierten habituell zugeschrieben wird, auf zunehmenden Widerstand, weil sie ein zweites Mal aus Opfern (des Krieges und der Armut) Opfer macht. nämlich der Dominanz und Fehlbewertung durch die Intervenierenden. In beiden Fällen wurde aber der legitimierende Befreiungsaspekt sehr schnell in die Ownership-Option umgeleitet, wenn es um die beiden oben beschriebenen Programme zu Capacity- und InstitutionBuilding ging. Die kollusiven Verhältnisse zeigen sich am deutlichsten dort, wo die Intervenierenden unterschiedliche Verfahren eigener Patronage, Loyalität und Instrumentalisierung anwenden und damit andere Habitus wirksam werden lassen als die ihnen verbundenen lokalen Partner, z. B. an der Grenzziehung zwischen geduldeter und geahndeter Regelübertretung.

Wir haben als anderes KonÀiktfeld die „Kontamination“ angesprochen, der Begriff ist in Anführungszeichen, weil er nur übertragen und nicht diskriminierend gebraucht werden soll. Ein Leitbeispiel: Bei der Ankunft am Flughafen Kabul am 23.12.2007 wurde ich mit einem Weihnachtsbäumchen und anhängender Telefonkarte der lokalen Telefongesellschaft empfangen, wie andere Passagiere auch. Das Symbol wird „ideologiefrei“ verwendet. Dazu nicht im Widerspruch, wird dem Begehren von Taliban und lokalen „legitimen“ Machthabern, Mädchenerziehung und -schulen restriktiv zu behandeln bzw. abzuschaffen, tolerant begegnet, mit dem Hinweis auf lokale Tradition und Scharia-Interpretation. Hier liegt ein massives Problem auch der westlichen, v. a. US-amerikanischen kulturellen Differenzierung. In der kommunitaristischen Tradition wird die Scharia-Interpretation als solche „respektiert“ und nicht eine bestimmte Auslegung. Durch die Horizontalisierung aller Ideologie werden aber bestimmte Erwartungen in die Befreiung durch die Intervention, z. B. durch die Konkurrenz von Lebensstilen, unterlaufen, bzw. privatisiert. Es geht hier um eine Form der Subordination, die nicht so sehr dem postkolonialen Habitus zuzurechnen ist, sondern eine große Statusunsicherheit mit einem gewissen Opportunismus paart.

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Der Begriff wurde erstmals of¿ziell vom Gouverneur von Herat eingeführt. Vgl. Daxner 2007.

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Heimatdiskurs

Im Rahmen unserer eigenen Forschungen mussten wir uns immer wieder der Frage stellen, wieweit es sich bei der Rekonstruktion von Heimatdiskursen und ihrer Dekonstruktion um Artefakte einer Meinungs- und Einstellungsanalyse handelt, die aus Medien und anderen öffentlichen Meinungsäußerungen gewonnen wurden. Wir haben sehr früh den Begriff Heimatdiskurs eingeführt und halten ihn für relevant zur Präzisierung der Theorie von Interventionsgesellschaften bzw. deren Wahrnehmung in den Ursprungsgesellschaften der Intervenierenden. Der Begriff Heimatdiskurs ist nicht etabliert12. Wir haben den Begriff gewählt, weil er schon von der Wortwahl ironische und pathetische Elemente13 enthält. Heimatdiskurs meint das Ensemble aller diskursiven Praktiken von Gesellschaften, deren Mitglieder (Soldaten und Zivilisten) in Interventionsgesellschaften tätig sind; im Heimatdiskurs wird die öffentliche Legitimation von Interventionen in Frage gestellt, und zwar auf verschiedenen Ebenen: von der privaten Nutzenabwägung und Moral bis hin zum nationalen Selbstverständnis. Aus den gewöhnlichen Medienanalysen können wir gute Erkenntnisse über die Einstellung zur Intervention gewinnen; die Wirksamkeit von Legitimationsstrategien wird deutlich, und ein ständiger Rekurs auf die eigene Situation, d. h. die im Land und in der Heimat, kann politisch gemacht werden. „Unsere Sicherheit“ wird durch die Intervention verteidigt; „unsere Interessen“ werden gewahrt, indem wir die BündnisverpÀichtungen gegenüber den NATO-Partnern auch dann erfüllen, wenn wir inhaltlich nicht von der Intervention überzeugt sind usw. Auch wenn die Intervenierten einen legitimatorischen Hintergrund abgeben, sind sie nicht das Subjekt/Objekt der Intervention (vgl. 4.1), sondern eine Randbedingung. Als Subjekte würden sie eine normative Letztbegründung für eine Intervention abgeben, als Objekte sind sie nur instrumentell dem Zweck der intervenierenden zugeordnet. Sie erhielten Subjektstatus erfolgte die Intervention in ihrem Namen. Die Aneignung ihrer Interessen durch die Intervention bedeutet nicht nur eine Objektivierung, sondern auch eine Herausforderung für die Gesellschaft der Intervenierenden14. Unseres Wissens haben wir ihn erstmals in die Wissenschaft bei der Tagung 2008 eingeführt: FolgekonÀikte humanitärer, militär-gestützter Interventionen, Potsdam 19.4.2008. In der neueren Ethnographie erscheint der Begriff selten. Im Zusammenhang mit Interventionspolitik ist er jedoch ein Neologismus. Die hier wiedergegebene Kurzde¿nition ist einem Abschnitt eines Forschungsantrags an die DFG vom Juli 2009 entnommen. 13 Ironie und Pathos als Modi, vgl. z. B. Bohrer 2000, Schmitz 1999, sowie die Literatur zum Heimatroman und zur Philosophie (v. a. Ernst Bloch). 14 Die Interventionskritische Kampagne „Not In Our Name“ in den USA ist ein gutes Beispiel für einen Aspekt des Heimatdiskurses, in dem Subjekt und Objekt-Positionen über eine ethische Politikbestimmung fraglich werden. Vgl. Statement von NION am 17.6.2002. 12

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Könnten wir die Frage, ob „wir“ wegen der Afghanen am Hindukusch militärisch präsent sind, positiv beantworten, genügte die Meinungsanalyse um Zustimmung zur Politik zu orten und ggf. die Informationspolitik, Glaubwürdigkeit usw. zu korrigieren. Die Antwort ist aber keinesfalls positiv, es geht um uns, unsere Interessen, unsere Sicherheit etc. und die Situation der Afghanen ist ein Seiteneffekt, der die moralische Flanke schützt. Nun hat sich aber der militärisch gestützte Wiederaufbau zu einem unerwarteten Krieg entwickelt (Janice Stein 2009). Wenn wir gemeinsam be¿nden, dass wir uns im Krieg be¿nden, hat das Folgen: Es gibt Gefallene, es gibt Kriegsopfer, es kann Kriegerdenkmäler geben, es gibt schon eine neue Medaille, es gibt Hinterbliebene und es gibt eine heftige Diskussion über das kriegsbedingte PTSS.15 Alle diese Einzelheiten verändern den Diskurs und die diskursiven Strategien. Wenn wir uns jetzt – oder schon im Kosovo – im Krieg be¿nden, ändert dies erneut das Nachkriegsnarrativ der Bundesrepublik Deutschland. Das schlägt sich unmittelbar in der Identi¿kation der Bundeswehrangehörigen mit Out of Area-Einsätzen nieder, während der Staatsbürger in Uniform in den Hintergrund tritt (so ein ranghoher General 2008). Vor allem die militärischen Kontigente der Intervenierenden sind vom Heimatdiskurs in hohem Maße beeinÀusst, was allerdings schwierig empirisch zu untersuchen ist. Reaktionen können erhöhter Patriotismus und kompensatorische Selbsterhöhung sein, z. B. bei osteuropäischen Alliierten im Irak oder in Afghanistan, oder aber ein kritischerer Blick aufs eigene Land; auch zivile Beobachter, vor allem nichteingebettete Journalisten können dazu beitragen, das eigene Land aus der Sicht der Interventionsgesellschaft wahrzunehmen; wie gesagt, die empirischen Studien zum Heimatdiskurs sind ebenso ungenügend wie die Quellen von Information und die diskursiven Strategien nur unzulänglich analysiert sind: hier erschließt sich ein neues Forschungsfeld.16 Von hier begründen wir unsere ethische Forderung, dass es niemals genügt, als Intervenierende die intervenierte Gesellschaft zu kennen oder sie ansatzweise zu verstehen, sondern die Intervenierenden müssen sich selbst kennen. Das ist genau die Differenz zur traditionellen, entlastenden Ignoranz – vom Befehlsnotstand bis zur BündnisverpÀichtung. Das Selbst-Verstehen ist eine Auseinandersetzung im und mit dem Heimatdiskurs.

Anhand des Films „Willkommen zu Hause“, 9.2.2009 ARD, kann man die Diskussion, die Tage später im Bundestag zum post-traumatischen Stress-Symptom ablief verstehen. Der Film war schon 2008 sendebereit, wurde aber aus undurchsichtigen Gründen verschoben. Er arbeitet in vielen Rahmensequenzen mit nicht-spezi¿schen Kriegsmetaphern, hauptsächlich im Hintergrundbildmaterial, in dem Versatzstücke früherer Kriegsdiskurse überdeutlich werden. Auf unsere Nachfrage beim Sender, ob wir mit dem Regisseur und anderen verantwortlichen im Zuge unserer Forschungen diskutieren könnten, wurde freundlich abgewehrt, die Sache sei abgedreht und man würde sich anderen Themen zuwenden. 16 Die AS Interventionskultur hat im Juli 2009 einen umfassenden Antrag zur Grundlagenforschung zum Heimatdiskurs an die DFG gestellt. 15

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Eine soziologische Spezialisierung und Erweiterung

Viele soziologische Theorien beziehen den KonÀikt in die Grundlagen ihrer Aussagen und Argumente ein. Der internationale KonÀikt ist längst ein Thema, dessen sozialwissenschaftliche Dimension zu seiner Erklärung herangezogen wird und auch einen didaktischen Beitrag zum verstehenden Herangehen leistet. Aber, wie eingangs angesprochen und auch bei Jan Free diskutiert, die Interventionsgesellschaft ist bislang nur implizites Material für strukturelle politische Überlegungen, bei denen meist die Fragen danach, was mit dem Staat bzw. den Parteiungen und Gruppen zu geschehen hätte und was mit ihnen tatsächlich geschieht, getrennt bleiben. Das typische Beispiel dafür ist, dass bestimmte KonÀikte, die erst die Intervention hervorgebracht und die Interventionsgesellschaft zeigt, ohne weiteres der Situation vor dem Interventions-auslösenden KonÀikt zugeschrieben werden. Eine Interventionsgesellschaft ist eine Gesellschaft, und zwar sui generis, meist nicht auf Dauer und mit einem Ausgang: So wie Kriege sich erschöpfen und zu Ende gehen, so gehen auch Interventionsgesellschaften zu Ende, meist mit der Übernahme bestimmter normativer Neuregelungen durch die Mehrheit der Intervenierten. Es kann aber durchaus sein, dass die KonÀikte der Interventionsgesellschaft Teil des Narrativs der neuen Gesellschaft werden, die sich herausbildet. Literatur Baecker, D. (2003): Der Krieg als Ritual der Gesellschaft. In: T. Oberender und U. Haß (Hrsg.), Gott gegen Geld (S. 19–33). Berlin: Alexander. Barcott, R. (2008). Anthropology in ConÀict: An Exchange. Survival 50(3), 127–162. Barth, F. (1969). Ethnic Groups and Boundaries. Oslo: NUP. Barth, F. (1956). Ecological Relationships of Ethnic Groups in Swat. American Anthropologist 58, 1079–1089. Boege, V. (2007). Traditional Approaches to ConÀict Transformation – Potential and Limits. Occasional Paper Series No. 5, January 2007, Brisbane: University of Queensland. Bonacker, T., & Weller, C. (Hrsg). (2006). KonÀikte der Weltgesellschaft, Frankfurt a.M.: Campus. Bonacker, T. (Hrsg.). (2009). Sozialwissenschaftliche KonÀikttheorien, Wiesbaden: VS Verlag für Sozialwissenschaften. CORE/IFSH (2009). Peacebuilding Dynamics and the Struggle for Local Ownership in Post-war Kosovo. Bibliographie 2009. Hamburg: CORE/IFSH. Daxner, M. (2007). Social Research and the Self-Respect of a Society. Vortrag gehalten auf der Konferenz „Social Research and ConÀict Resolution“, Herat, 25./26.11.2007.

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Daxner, M. (2009). Politische Ethik im Dilemma zwischen Zerstörung von Staatlichkeit und der Errichtung von Zivilgesellschaften. Vortrag während des Symposiums „Elemente einer politisch begründeten Ethik“, Oldenburg, 9.7.2009. Daxner, M. (2009a): Whose Hearts and Minds should be Approached. Vortrag während des Symposiums „Local Politics in Afghanistan“, Bonn, (ZEF). Hainzl, G., & Zips, W. (2005). Rechtsanthropologie und anthropologische Friedensforschung. Juridicum 4, 191–195. Hartung, J.-P., & Reifeld, H. (Hrsg.). (2009). Islamic Education, Diversity, and National Identity: Dini Madaris in India Post 9/11. Delhi: Sage. Ledwidge, F. (2009). Justice in Helmand – The Challenge of Law reform in a Society at War. Asian Affairs, 40(1), 77–89. Lemay-Hébert, N. (2009). Statebuilding without Nation-building? Legitimacy, State Failure and the Limits of the Institutionalist Approach. Journal of Intervention and Statebuilding, 3(1), 21–45. Meyer, J. W. (2005). Weltkultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Reich, H. (2006). „Local Ownership“ in ConÀict Transformation. Berghof Occasional Paper No. 27. Berlin: Berghof Reserach Center. Rossbacher, D. (2003). Friedenssicherung am Beispiel der Interimsverwealtung der Vereinten Nationen im Kosovo. Hamburg: Kovac. Schetter, Conrad: Conference on Local politics in Afghanistan, 26.–28. März 2009 (Bonn, ZEF). Stromseth, J., Wippman D., & Brooks, R. (2009). Can Might Make Rights? Cambridge: Cambridge UP. Suhrke, A., Wimpelmann Chaudhary, T., Hakimi, A., Berg Harpviken, K., Sarwari, A., & Strand, A. (2009). CMI Report, R 2009 /1. Oslo: CMI/PRIO. Wiegele, T. (1992). The Clandestine Building of Lybia’s Chemical Weapons Factory; a Study in International Collusion. Carbondale, IL: Southen Illinois UP.

Globale Rechtsprechung, lokale KonÀikte Der Internationale Strafgerichtshof als friedensstiftende Maßnahme in Uganda?1 Susanne Buckley-Zistel

„[T]here can be no peace without justice“, so die Worte des ehemaligen VN Generalsekretärs Ko¿ Annan über die Relevanz internationaler Strafgerichtshöfe für gewaltsame KonÀikte (ICTR, 1998). Doch ist das uneingeschränkt der Fall oder kann sich die Suche nach Gerechtigkeit auch negativ auf einen Friedensprozess nieder schlagen? Dies exemplarisch anhand der Interventionen des Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in der KonÀiktregion Nordugandas zu untersuchen ist Gegenstand dieses Kapitels. Obgleich Friedenssicherung nicht zu den Aufgaben des IStGH zählt, überwiegt unter poltischen Entscheidungsträgern und Befürwortern der normative Standpunkt, dass ein dauerhafter Frieden der strafrechtlichen Verfolgung von Tätern bedürfe. Durch die rechtliche Aufarbeitung von Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord und Verbrechen der Aggression – alles Bestandteile des IStGH Mandats – sollen Kulturen der StraÀosigkeit beendet werden. Das Wirken des IStGHs stelle einen Ausgleich zwischen Vergeltung und Strafe her, reduziere den Wunsch nach Rache, erkenne das Leiden der Opfer an und erleichtere durch die Individualisierung von Schuld den Aussöhnungsprozess unter Unschuldigen. In diesem Sinne, so argumentiert der Beitrag, kann der IStGH durchaus als friedensstiftende Maßnahme verstanden werden. Doch wird er diesem Anspruch im Kontext gewaltsamer KonÀikte gerecht? Um diese Frage zu beantworten diskutiert das Kapitel zunächst die Möglichkeiten und Grenzen von Recht als Mittel der Versöhnung, um im Anschluss den IStGH als Organ zu beschreiben. Dem schließt sich eine Darstellung des KonÀikts in Norduganda sowie eine Analyse der Intervention des IStGH und ihren Auswirkungen an.

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Für die konstruktiven Kommentare von Kirstin Janssen-Holldiek bin ich sehr dankbar.

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Susanne Buckley-Zistel Recht als Mittel der Friedenssicherung

Obwohl die Verknüpfung von Rechtssprechung und Friedenssicherung weit in die Geschichte der westlichen Welt zurückreicht und als Erklärung für die Daseinsberechtigung von völkerrechtlichem Kriegsrecht herangezogen werden kann (Bothe, 1999, S. 212), wird erst seit Ende des Kalten Krieges Rechtsprechung in (Post-) KonÀiktsituationen eine zunehmende Bedeutung beigemessen. Die zahlreichen Bürgerkriegen zu Beginn der 1990er Jahre sowie deren extremes Ausmaß an Gewalt, vor allem auch gegen Zivilpersonen, führte zur Einrichtung der ersten internationalen Strafgerichtsgerichtshöfe unter dem Mandat der Vereinten Nationen – für das ehemalige Jugoslawien (1993) und Ruanda (1994) – um mit Völkermord, Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und ethnischer Säuberung buchstäblich ‚zu Recht‘ zu kommen. Da sie durch Kapitel VII der VN Charta legitimiert wurden, handelt es sich bei ihnen um „Maßnahmen bei Bedrohung oder Bruch des Friedens und bei Angriffshandlungen“ (so der Titel des Kapitels), d. h. Maßnahmen der Friedenssicherung. Darauf nimmt das Statut des Internationalen Strafgerichtshofs für Ruanda (…) expressis verbis Bezug, in dem es überzeugt ist, „that in the particular circumstances of Rwanda, the prosecution of persons responsible for serious violations of international humanitarian law … would contribute to the process of national reconciliation and to the restoration and maintenance of peace“ (ICTR, 1994, S. 94).

Ähnliches spiegelt sich auch in den Worten der Anklägerin Louise Arbour am Internationalen Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien wieder: „The Security Council, acting under Chapter VII of the United Nations Charter, has created the ICTY to play a unique, crucial and timely role in the peace process“ (ICTY, 1997). Durch ihre explizite Verbindung von Rechtssprechung und Friedenssicherung ebneten der Internationale Strafgerichtshof für Ruanda und der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien den Weg für weitere Tribunale in Nachkriegsgesellschaften, wie z. B. den Spezialgerichtshof für Sierra Leone und die Außerordentlichen Kammern an den Kambodschanischen Gerichten (Buckley-Zistel, 2009). Darüber hinaus reanimierten sie die Diskussion über einen fest etablierten internationalen Strafgerichtshof, der als Instanz für alle Kriegsverbrechen dienen sollte. Diese Diskussion begann bereits nach dem zweiten Weltkrieg im Anschluss an die Tribunale von Nürnberg und Tokyo, war jedoch durch die politische Lage während des Kalten Krieges auf Eis gelegt und gewann erst zu dessen Ende – und der damit verbundenen steigenden Zahl an Bürgerkriegen (HSR, 2006) – wieder Aufwind. So erblickte im Jahre 2002 nach langem diplomatischen Ringen der In-

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ternationale Strafgerichtshof in Den Haag das Licht der Welt. Begünstigt wurde sein Entstehen des Weiteren durch ein sich zunehmend verfestigendes, weltweites Einvernehmen, dass Menschenrechte und -würde gegen Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen rechtlich geschützt werden müssen (Kaul, 2004), sowie einer tendenziell zunehmenden Verrechtlichung der internationalen Friedenssicherung und des normengeleiteten Handelns (Brock, 2004). Den Entstehungsprozess des ISthGH begünstigte zudem die Weiterentwicklung des humanitären Völkerrechts, die Verbesserung der internationalen Beziehungen nach Ende des Kalten Krieges (wodurch eine direktere Einmischung in politische, humanitäre und militärische Krisen möglich wurde), sowie eine Erweiterung des Sicherheitsbegriffs und dessen Durchsetzung (Kerr & Mobbekk, 2007, S. 30). Es stellt sich nun die Frage, wie aus normativer Sicht die Sicherung von Frieden durch internationale Strafgerichte gewährleistet werden kann. Nach einem gewaltsamen KonÀikt verfolgen Tribunale das Ziel, vergangenes Unrecht richtigzustellen, einen Ausgleich zwischen Vergehen und Strafe herzustellen und somit den Wunsch nach Vergeltung zu reduzieren (Buckley-Zistel, 2007). Zudem setzten sie ein Zeichen, dass Rechtsbrüche strafrechtlich geahndet werden und schrecken so vor künftigen Straftaten ab. Da sie über Einzelpersonen richten, ziehen sie zumindest formal eine Trennung zwischen Tätern und Opfern (selbst wenn diese nicht immer möglich ist), was dazu führen kann, dass die Täter ein Gesicht bekommen und der Rest einer Gemeinde implizit unschuldig gesprochen wird. Dies kann sich positiv auf einen Aussöhnungsprozess auswirken und das Vertrauen in eine neue soziale Ordnung stärken. Des Weiteren lässt sich argumentieren, dass die Vergeltung von Verbrechen eines Regimes durch einen Strafgerichtshof die Legitimität des Regims unterminiert und seine Ideologie diskreditiert, was sich wiederum positiv auf ein friedliches Miteinander auswirken kann (de Brito, Gonzalez-Enriquez, & Aguilar, 2001, S. 313). Und auch das bloße Wegschließen von Tätern und Rädelsführern mag sich als Vorteil erweisen, da sie ihre Anhängerschaft nicht mehr zu Menschenrechtsvergehen und Kriegsverbrechen anstacheln können (Lie, Binningsbo, & Gates, 2006, S. 8). Einige Wissenschaftler resümieren daher: „Post-conÀict trials will lead to a stable and more durable peace in autocratic as well as democratic societies“ (Lie, et al., 2006, S. 10). Da diese Aufgabe vermehrt dem Internationalen Strafgerichtshof zufällt, soll er im Folgenden ausführlicher beschrieben werden. Der Internationale Strafgerichtshof Der Internationale Strafgerichtshof ist seit Juli 2002 ein bedeutendes Instrument zur Bekämpfung schwerster Menschenrechtsverbrechen. Auf der Konferenz in

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Rom im Juli 1998 stimmten mehr als 120 Staaten für ein Vertragswerk, das die Umsetzung von Strafrecht nicht mehr ausschließlich als nationale Angelegenheit betrachtet, sondern verrechtlichte Normen im Bereich der Menschenrechte und Strafjustiz, sowie juristische Prozessabläufe international institutionalisiert. Hauptaufgabe des IStGH ist es, Personen, die gemäß des Rom-Statuts schwerste Verbrechen begangen haben, zur Verantwortung zu ziehen, deren Verbrechen aufzudecken und entsprechend zu bestrafen. Darüber hinaus sollen im Unterschied zu den Statuten der vorherigen internationalen Gerichtshöfen auch die Anliegen der Opfer berücksichtigt werden. Die Erwartung an den IStGH hat Ko¿ Annan mit den Worten „[w]e owe a justice that also brings healing“ (Annan, 2003) formuliert. Dadurch wird Gerechtigkeit als elementare Voraussetzung für den Prozess der Versöhnung verstanden, der die Situation der Opfer bzw. Hinterbliebenen von Opfern einbezieht und ihnen soweit wie möglich Hilfe und damit eine neue Perspektive mittels des bereits eingerichteten Opferentschädigungsfonds anbieten soll (Janssen-Holldiek, 2008). Der Strafgerichtshof übt seine Gerichtsbarkeit ausschließlich über Personen aus und macht diese individuell für begangene Verbrechen verantwortlich und strafbar. Es ist dabei unerheblich, welches Amt die Person bekleidet, sodass auch die völkerrechtlich anerkannte „absolute Immunität“ eines Staatsoberhauptes keine Bedeutung hat (Nitsche, 2007, S. 263), wie jüngst durch das Ausstellen eines Haftbefehls gegen den sudanesischen Präsidenten Omar Hassan al-Bashir demonstriert wurde. Jedoch beschränkt sich die Zuständigkeit des Strafgerichtshofs auf Straftatbestände, die nach Inkrafttreten des Rom-Statuts – d. h. nach dem 1. Juli 2002 – begangen wurden und die derzeit Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und Aggressionsverbrechen umfassen, wobei letzeres bis heute noch nicht de¿niert wurde (ICC, 2002). Gemäß seinem Statut ergänzt der Strafgerichtshof innerstaatliche Gerichtsbarkeit. Entsprechend des Komplementaritätsgrundsatzes hat die nationale Rechtssprechung gegenüber der internationalen Jurisdiktion Vorrang. Damit wird er nur in den Fällen tätig, wo der Staat „nicht willens oder in der Lage“ ist, die Ermittlungen oder die Strafverfolgung „ernsthaft durchzuführen“ (Fassbender, 2002, S. 15), d. h. ohne eigennützige politische Intensionen. Somit unterscheidet sich der IStGH deutlich von den internationalen Tribunalen für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda, die aufgrund der Errichtung durch eine Sicherheitsrat-Resolution vorrangig zuständig sind und dessen Zustimmung es bedarf, um Verfahren an nationale Gerichte leiten zu können. Zudem verfügt der IStGH nicht über eine universelle Gerichtsbarkeit. Auch wenn die im Rom-Statut aufgeführten Straftatbestände Bestandteil des Völkergewohnheitsrechts sind und damit universelle Gültigkeit haben, so bindet er als völkerrechtlicher Vertrag die Staaten, die dem Rom-Statut beigetreten sind. Ent-

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sprechend kann der Gerichtshof nur unter folgenden Voraussetzungen strafverfolgend tätig werden: Wenn entweder der Staat, in dessen Hoheitsgebiet sich das Verbrechen ereignet hat, oder der Staat, dessen Staatsangehörigkeit der mutmaßliche Täter besitzt, die Gerichtsbarkeit des Gerichtshofs anerkannt hat (Art. 12 RS); oder wenn der UN-Sicherheitsrat eine Situation durch eine entsprechende Resolution unter Berufung auf Kapitel VII der UN Charta an den IStGH überweist (Art. 14 RS). Hinsichtlich der ersten Bedingung kann jeder Vertragsstaat die Situation, gemäß derer es den Anschein hat, dass der Gerichtsbarkeit unterliegende Verbrechen begangen wurden, an den Ankläger des IStGH überweisen und diesen ersuchen festzusellen, ob Anklage erhoben werden soll (Art. 14). Darüber hinaus können sich auch andere Staaten auf eigenen Wunsch seiner Jurisdiktion unterwerfen. Daneben ist der Ankläger des IStGH befugt, aus eigener Initiative (proprio motu) anhand von ihm zugegangener Informationen Ermittlungen durchzuführen und mit Zustimmung der Vorverfahrenskammer Anklage zu erheben.2 In allen Fällen, d. h. sowohl bei einer Überweisung durch einen Vertragsstaat wie auch durch den Sicherheitsrat, obliegt es dem Ankläger zu überprüfen, ob es für die Verfahrenseinleitung eine hinreichende Grundlage gibt, wobei er verpÀichtet ist, in alle Richtungen zu ermitteln und dabei „gleichermaßen die belastenden wie die entlastenden Umstände“ zu erforschen (ICC, 2002). Die Richter können ihrerseits die Entscheidung des Anklägers anfechten und prüfen. Damit behält sich der IStGH die alleinige Kompetenz vor, zu entscheiden, ob er über die bei ihm anhängig gemachten Sache Gerichtsbarkeit hat, bzw. ob ein Fall zulässig ist oder nicht (Heilmann, 2006, S. 143–148). Folglich entscheidet der Gerichtshof, ob ein Staat willens oder fähig ist, ein Verfahren ernsthaft durchzuführen. Bei der Ausübung seiner Arbeit, insbesondere bei den Ermittlungen und bei der Auslieferung Verdächtiger, ist der Internationale Strafgerichtshof auf die Kooperationsbereitschaft der Staaten angewiesen. Als juristische Institution kann er zwar Haftbefehle erlassen, verfügt jedoch über keine Polizei, um diese vollziehen zu können. Ohne das Erscheinen des Verdächtigten gibt es aber keine Verfahren vor dem Gerichtshof. Bis dato ¿nden alle Interventionen des IStGH in Afrika statt: Norduganda, Sudan, Demokratischen Republik Kongo und Zentralafrikanischen Republik. Vor dem historischen Hintergrund von Kolonialisierung und Fremdbestimmung warnen Kritiker, vor allem aus dem globalen Süden, dass die Souveränität und das Recht der Selbstbestimmung afrikanischer Staaten erneut nicht ausreichend respektiert werde, dass der IStGH sich von manipulativen Staatschefs benutzen lasDie Aufgaben des IStGH werden in der Vorverfahrenskammer, der Hauptverfahrenskammer und der Berufungskammer wahrgenommen. Vor dem IStGH anhängig gemachte Fälle werden zunächst der Vorverfahrenskammer unterbreitet, die entscheidet, ob sie der Hauptverfahrenskammer unterbreitet werden. 2

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se (Clark & Waddell, 2008), und dass mit westlich-geprägten Normen den lokalen Gegebenheiten von Krieg und Frieden entsprochen werden solle (Simpson, 2008). Vor diesem Hintergrund, schreibt Richard Dowden, „[i]f the ICC is going to step into Africa’s complex wars, it must understand the local contexts and think through the effects of its actions. Local input and outcomes based on peace and reconciliation must be as close to the heart of the ICC’s mission as justice“ (Dowden, 2007).

Ob der IStGH dies leistet, wird im Folgenden exemplarisch am Fall Norduganda beschrieben. Der KonÀikt in der Acholi-Region Nordugandas Seit über 20 Jahren ist der Norden Ugandas von einem der grausamsten Rebellenaufstände betroffen. Nach der gewaltsamen Amtsübernahme des heutigen Präsidenten Yoweri Museveni im Jahre 1986 entwickelte sich unter der Bevölkerung der Acholi eine Rebellenbewegung, die binnen weniger Jahre zur Schaffung der Lord’s Resistance Army (LRA) führte. Obwohl die LRA zunächst keine ausdrücklichen politischen Ziele verfolgte, sondern sich auf die Verwirklichung der Zehn Gebote berief, erklärt sie sich vermehrt zur Rebellenarmee eines unterdrückten und marginalisierten Nordens. Zwar ist dieser politische Anspruch der LRA, für die Interessen des Nordens zu stehen, vor dem Hintergrund ihrer wahrlosen, meist auf die eigene Zivilbevölkerung gerichteten Gräueltaten unglaubwürdig, aber der Vorwurf der Marginalisierung des Nordens vonseiten der Regierung ist nicht unberechtigt.3 Sie geht zurück auf die Divide-and-Rule-Politik der britischen Kolonialisten (1893–1962), die Ugandas ethnische Gruppen geschickt zu ihren eigenen Gunsten manipulierten und eine bleibende Kluft in der sozialen Landschaft hinterließen, die bis zum heutigen Tage ethnische Identität mit politischer Zugehörigkeit verknüpft (Buckley-Zistel, 2008a).4 Seit Ugandas Unabhängigkeit im Jahre 1962 entscheidet diese Nord/Süd-Spaltung des Landes maßgeblich über Machtkämpfe und Allianzen, und sorgt dafür, dass das Land ohne Unterbrechung von gewalt3 Im Gegensatz dazu scheint Kony einigen Rückhalt unter Regierungsgegnern in der Diaspora zu ¿nden. Darunter be¿nden sich Mitglieder ehemaliger Regierungen aus Ugandas Norden, die das Anliegen verfolgen, wieder die Macht zu verlagern (ICG, 2008, S. 6). 4 In Uganda bedienten sich die Briten der Aristokratie und den Verwaltungsstrukturen des damaligen Königreichs Buganda durch welches sie den Rest des Landes regierte. Der Norden, also die Region der Acholi, diente als Rekrutierungsbereich für Soldaten und Sicherheitskräfte, um das kolonialisierte Terrain militärisch zu kontrollieren. Diese Form der ‚indirekten Herrschaft‘ führte zu gravierenden Spaltungen in der heutigen ugandischen Gesellschaft.

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samen KonÀikten betroffen ist, wenn auch mit unterschiedlicher Intensität. Trotz des bizarren Auftretens der LRA und ihrer Gräueltaten ist es daher wichtig, die Rebellion nicht de-politisiert als die Tat von ‚Wilden und Verrückten‘ zu betrachten, sondern anzuerkennen, dass es legitime Verbitterung unter der nördlichen Bevölkerung gibt und daher eine Veränderung der politischen Situation zur Lösung des KonÀikts zentral ist (Branch, 2007, S. 182; Finnström, 2008, S. 238). Leidtragende des KonÀikts ist seit 20 Jahren primär die Bevölkerung der Acholi, die sowohl von der LRA als auch von Regierungstruppen gepeinigt wird, wenn auch auf unterschiedliche Weise. So tötet und verstümmelt die LRA unter der Leitung des Rebellenführers Joseph Kony Zivilisten und zwangsrekrutiert Kinder als Rebellen, Sexsklavinnen und Träger. Die Schätzungen der entführten Kinder belaufen sich auf 30.000 Fälle (HRW, 2003; Ojera Latigo, 2008, S. 94), sie werden meist aus ihren Dörfern entführt, trainiert und in aggressive und skrupellose Kombattanten transformiert. Um ihre Rückkehr in die heimischen Gemeinden zu unterbinden werden sie häu¿g gezwungen, die Häuser ihrer Familien niederzubrennen und teils ihre eigenen Angehörigen zu ermorden, sodass sie ein Gefühl der Schuld und Täterschaft von ihrer Familie entfremdet und für immer an die LRA bindet. Auch den nationalen Streitkräften werden massive Menschrechtsverletzungen vorgeworfen, die bisher ungeahndet blieben. Diese umfassen außergerichtliche Hinrichtungen, Vergewaltigungen, Folter, willkürliche Verhaftungen, sowie unwürdige und unmenschliche Behandlung von Verdächtigen (HRW, 2005). Um der LRA das Rekrutierungsfeld zu entziehen und die Suche nach den Rebellen zu vereinfachen, zwingt die Regierung zudem einen Großteil der Bevölkerung im Norden, unter unwürdigen Zuständen in Binnenvertriebenenlagern zu leben. So befanden sich zum Höhepunkt der Auseinandersetzungen im Jahre 2005 ca. 1,6 Millionen, d. h. 90 % der Bevölkerung, in dürftig ausgestatteten Lagern, die den Ansprüchen einer angemessenen Unterbringung nicht gerecht wurden (Ojera Latigo, 2008, S. 94). Die wöchentliche Mortalitätsrate belief sich nach Schätzungen auf 1,000 Personen (Branch, 2007, S. 181). Jeder, der sich zu weit von den Lagern entfernte, riskierte, entweder von den Rebellen entführt, von der ugandischen Armee der Kollaboration bezichtigt oder von einer Landmine verletzt zu werden (Allen, 2006, S. 53–54). Vor dem Hintergrund resümiert Sverker Finnström: „People live with a harsh reality. They exercise little or no control over their surroundings or even their lives“ (Finnström, 2008, S. 133). Branch (2007, S. 181) geht soweit zu argumentieren, dass Vertreibung – in der Art und Weise wie sie die ugandische Regierung durchführe – auch ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit sei und sich die Regierung dafür verantworten müsse. Nach jahrelangen Auseinandersetzungen und einigen gescheiterten Friedensverhandlungen erlies die ugandische Regierung 2000 ein Amnestiegesetz, das den

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LRA-Rebell ermöglichte, ohne Strafverfolgung die Waffen niederzulegen, was zwar einige Kombattanten, doch keinen der Anführer zur Aufgabe veranlasste (Akhavan, 2005, S. 410). Im März 2002 startete Musevenis Regierung Operation Iron Fist, um mit Vehemenz gegen die LRA vorzugehen, was die Ausbreitung des KonÀikts zur Folge hatte (African Rights, 2000). Vor diesem Hintergrund wand sich Museveni am 16. Oktober 2003 an den IStGH. Mit dem „Referral of the Situation concerning the Lord’s Resistance Army“ machte zum ersten Mal in der jungen Geschichte des Tribunals eine Regierung Gebrauch von Artikel 13 (a) und Art. 14 des Römischen Statuts, um diesem die Jurisdiktion zu übertragen. Daraus ergaben sich sowohl für die ugandische Regierung als auch für den Strafgerichtshof eine einzigartige Gelegenheit: Erstere behauptete, somit Frieden und Gerechtigkeit nach Norduganda zu bringen (Branch, 2007, S. 179), und für letzteren versprach die freiwillige Übertragung einen frühzeitigen Vertrauensbeweis in seine Kapazitäten sowie eine willkommene Gelegenheit, sein Daseinszweck unter Beweis zu stellen (Akhavan, 2005, S. 404). Im Jahre 2005 erließ der IStGH Haftbefehle gegen fünf LRA-Rebellenführer: Joseph Kony, Vincent Otti, Okot Odhiambo, Raska Lukwiya, and Dominic Ongwen. Lukwiya starb 2006, Otti 2007, und keiner der anderen wurde bisher gefasst. In dem Zeitraum seit Beginn der Zuständigkeit des IStGH (2002) und der Erstellung der Haftbefehle hat sich die LRA, nach Aussagen des Chefanklägers Luis MorenoOcampo, 2.200 Tötungen, 3.200 Entführungen und über 850 Angriffen zu Schulden kommen lassen (Apuuli, 2008, S. 810). Obwohl Beweismaterial für Vergehen von Regierungstruppen vorliegt, wurden bisher keine Anklagen erhoben (HRW, 2009, S. 14). Ein Jahr später versuchte die Regierung erneut, Friedensverhandlungen mit der LRA zu frühen. Dieses Mal ließen die Rebellen sich auf die Gespräche ein, da sie, so argumentieren einige Beobachter, sich durch die Anklage beim IStHG unter Druck gesetzte fühlten und hofften, dadurch einer Festnahme zu entgehen (Akhavan, 2005). Die Verhandlungen führten schließlich zu einem Waffenstillstandsabkommen im Jahr 2006 und ein Jahr später zur Übereinkunft der Parteien – in Form des Agreement on Accountability and Reconciliation between the Government of Uganda (The Government) and the Lord’s Resistance Army/Movement (LRA/M) vom 29. Juni 2007 – die Verbrechen nicht vor dem IStGH, sondern vor dem nationalen Gerichtshof und/oder traditionellen Gerichten zu verhandeln (ICG, 2008, S. 3). Basierend auf dem Prinzip der Komplementarität könnte dies dem Anspruch des IStGH genügen, dass Staaten die Ahndung von Verbrechen selbst durchführen, solange eine Reihe von Maßstäben eingehalten werden (ICG, 2008, S. 3). Die ugandische Regierung verpÀichtete sich, nach Unterzeichnung eines Friedensvertrags beim VN Sicherheitsrat die Übertragung des Falles vom IStGH an den ugandischen Gerichtshof zu beantragen. Falls gewährt, bliebe Uganda ein

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Jahr, um die nötigen Mechanismen zu entwickeln und um Kony und seine Führungsgruppe vor Gericht zu bringen. Im März 2008 hatten sich die KonÀiktparteien nach eigenen Angaben über alle Punkte eines Friedensvertrags geeinigt, doch unterließ es die LRA, im Mai zu unterzeichnen. Auch weiter Termine wurden von Kony nicht eingehalten, sodass am 29. November 2008 die letzte Frist für die Unterzeichnung verstrich.5 Die Intervention des IStGH hatte eine Reihe verschiedenartiger Wirkungen auf den KonÀikt. Zum einen wird argumentiert, dass die drohende Verhaftung die LRA Führung an den Verhandlungstisch zwang, sie also einen katalysatorischen Effekt auf die Friedensverhandlungen hatte (Apuuli, 2008, S. 804). Ferner erschwerte die Intervention des IStGH dem Sudan als Hauptverbündeten der LRA, die Rebellen zu unterstützen, und sie erhöhte die internationale Aufmerksamkeit auf die Entwicklungen in Uganda, wodurch regionale und internationale Bemühungen, den Friedensprozess voranzutreiben verstärkt wurden (Grono & O’Brian, 2008, S. 16). Vonseiten der LRA wird hingegen wiederholt behauptet, die Haftbefehle des IStGH stünden einem Friedensvertrag im Weg, da ihre Anführer nicht willens seien, Strafen abzusitzen. Doch auch einer möglichen Übertragung vom IStGH auf nationale Gerichte begegnet sie mit Skepsis, da sie in nationalen Verfahren keine Garantie über den Gegenstand der Gerichtsverhandlungen hätte und sich ohne Gewähr in die Hände der Regierung begeben würde (ICG, 2008, S. 10). Nach eigenen Worten besteht die LRA auf einem „negotiated settlement in which both parties address the key issues of the root causes of the war, how to resolve them and draw a programme for reconciliation and accountability that guarantees lasting peace in and the national unity of the country“ (ICC Monitoring and Outreach Programme, 2007, S. 16),

ohne jedoch konkret zu erläutern, welche Form dies annehmen soll. Bezüglich der Rolle des IStGH ist zu beachten, dass er – wie oben bereits erläutert – nur tätig wird, wenn die Regierung eines Landes unwillig oder unfähig ist, Verbrechen strafrechtlich zu verfolgen. Der Anruf des IStGH durch Museveni zeigt jedoch, dass Uganda gewillt ist, die LRA vor Gericht zu stellen und auch das Argument der Unfähigkeit ist hinfällig, da Uganda über einigermaßen solide Rechtsstaatstrukturen verfügt (Branch, 2007, S. 187). Einzig die Tatsache, dass die ugandischen Truppen den Anführern der LRA nicht habhaft werden konnte – und das über mehr als zwanzig Jahre hinweg – scheint die Intervention des IStGH Gegenwärtig scheinen sich die Truppen der LRA in der an Norduganda grenzenden DR Kongo auf neue Angriffe vorzubereiten, wo der Terror weiter geht: Zwischen dem 24.12.2008 und dem 17.1.2009 ermordete die LRA über 865 kongolesische Zivilisten und entführten mindesten 160 Kinder (HRW, 2009). 5

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zu legitimieren. Doch ist es die Obliegenheit des Gerichthofs, einzuschreiten, um eine Bürgerkriegspartei zu beseitigen, wenn nationale Kräfte versagen? Wird sie dadurch nicht selbst zur KonÀiktpartei? In der Tat wird die Unparteilichkeit des IStGHs vielerorts angezweifelt, auch weil Museveni und Chefankläger MorenoOcampo in einer gemeinsamen Presseerklärung von dem Beginn der Intervention des Gerichtshofs berichteten. Zudem wird kritisiert, dass bisher nur die Vergehen der LRA geahndet werden, nicht jedoch die der ugandischen Armee. Dies schlägt sich negativ auf die Glaubwürdigkeit des IStGHs nieder, der als Handlanger der ugandischen Regierung erscheint. Obgleich Moreno-Ocampo inzwischen beteuerte, dass alle Vergehen untersucht würden, kam es bisher zu keinem Haftbefehl gegen nationale Streitkräfte (Branch, 2007, S. 188). Situation in Norduganda Es stellt sich die Frage, welchen EinÀuss die Intervention des IStGH auf den Frieden in Norduganda hat. Dies kann, wie von Dowden im obigen Zitat angeführt, nur vor dem Hintergrund des lokalen Kontextes beantwortet werden. Generell lässt sich konstatieren, dass durch über zwei Jahrzehnte Krieg und Vertreibung die sozialen Strukturen der Acholi stark beeinträchtigt wurden. Die Bevölkerung lebt in einem Umfeld, in dem das Vertrauen in beide KonÀiktparteien erschüttert ist und auch die Verlässlichkeit untereinander scheint beeinträchtigt (RLP, 2005, S. 8–9). Insbesondere das Leben in den Vertriebenenlagern hat die Gesellschaft maßgeblich geprägt, sodass eine ‚Rückkehr‘ zu alten Werten schwer möglich scheint. Von manchen wird es auch gar nicht gewünscht, pro¿tieren sie doch von der Neude¿nierung der gesellschaftlichen Rollen. So haben Lagerleiter oft die vormals einÀussreichen Ältestenräte in ihrer Führungsrolle abgelöst, Jugendliche stellen die Position ihrer Eltern in Frage und auch Frauen haben durch eine Neuverteilung der Geschlechterrollen und steigende Erwerbstätigkeit an Selbstverantwortung und Unabhängigkeit gewonnen.6 Trotz oder gerade wegen der überwiegenden Machtlosigkeit durch ihr Lagerleben, gab es unter den Acholi schon sehr früh kritische Stimmen gegen den IStGH (Allen, 2006, S. 86–87). Zum einen wurde das Timing in Frage gestellt, da die Hoffnung auf eine friedliche Lösung wuchs und diese nicht in Einklang mit den Haftbefehlen gesehen wurde. Unter dem Motto „peace now, justice later“ wurde die Präferenz einiger Vertreter der Zivilgesellschaft ausgedrückt, mit der Ahndung der Verbrechen bis zu einem dauerhaften Frieden zu warten (RLP, 2005). Des Weiteren wurde, wie bereits erwähnt, die Unparteilichkeit des IStGH 6

Interviews mit Acholi-Leaders in Norduganda im Mai 2007.

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in Frage gestellt. Da für die Acholi sowohl die Regierung als auch die LRA zu den KonÀiktverursachern gehören, wirkt sich die offenbare Nähe des IStGH zu Museveni kontraproduktiv auf ihr Vertrauen in einen internationalen Strafprozess aus. In der Tat sind 70 Prozent der Acholi der Meinung, dass auch die ugandische Armee Gräueltaten begangen hat und 55 Prozent verlangen, dass sie sich vor Gericht dafür verantworten muss (ICTJ, 2007, S. 4). Aus dieser Perpektive handelt der IStGH weniger im Sinn von Gerechtigkeit und Frieden, sondern, „the court ¿nds itself complicit with the very crimes it claims to prosecute and responsible for intensifying the very violence it claims to solve“ (Branch, 2007, S. 189). Weiterhin besteht die Gefahr, dass durch die Intervention des IStGH die Acholi zu ‚Opfern’ degradiert und ihre eigene Handlungsspielräume unterminiert werden. Gerechtigkeit in Form des Internationalen Strafgerichtshofs kommt von außen und wächst nicht da, wo die Gewalt am intensivsten war und die Menschen mit den Folgen von extern induzierter Gerechtigkeit leben müssen. Ferner verleitet die Intervention dazu, auf Gerechtigkeit zu warten und sich nicht um die eigene Gemeinde und ihre Anliegen zu kümmern (Branch, 2007, S. 194). Vor allem in Anbetracht der Tatsache, dass die Acholi durch ihr Dasein in Vertriebenenlagern ohnehin wenig Kontrolle über ihr Leben ausüben können (Finnström, 2008, S. 133), scheint eine Übernahme der juristischen Verantwortung durch ein internationales Organ kontraproduktiv hinsichtlich einer Verbesserung ihrer politischen und sozialen Position in Uganda. Dieser Aspekt des fehlenden local ownerships der Vergangenheitsarbeit wird auch von einigen Acholi kritisiert. Eine weitere Herausforderung ist die lokale Adaption des IStGH Opferprogrammes, da es den kulturellen Ansprüchen und Bedürfnissen kaum entspricht (Branch, 2007, S. 191). In Norduganda, so wie in vielen anderen nicht-westlichen Kulturen, werden Zeugenaussagen ausschließlich im Umfeld vertrauter Personen und in sicherer Privatsphäre geleistet, wobei dies meist mehrere Gemeindemitglieder umfasst. Im Gegensatz dazu müssen Opfer vor dem IStGH als Individuen aussagen, ohne dass ihrem Bedürfnis nach Vertraulichkeit nachgekommen wird. Urteile über angemessene Reparationen werden nicht, wie unter den Acholi üblich, von der Gemeinschaft und in deren besten Interesse getroffen, sondern durch technokratische Entscheidungsprozesse, die in Norduganda nur schwer nachzuvollziehen sind. Dies wirft die Frage auf, ob und wie eine auf ausgleichende Gerechtigkeit abzielende internationale Institution den Bedürfnissen der Acholi gerecht werden kann. Vor diesem Hintergrund wird häu¿g betont, dass die Acholi über eigene Mechanismen verfügen, Gerechtigkeit zu schaffen. Jene sind, im Gegensatz zum IStGH,

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Susanne Buckley-Zistel „based on the sound theory, which emphasizes peace before justice. It is in distinct contrast to the retributive, adversarial approach, which insists on justice before peace. The differences are not just conceptual but cosmological and epistemological“ (Ojera Latigo, 2008, S. 108).

Das Hauptziel eines traditionellen Ansatzes ist die (Wieder-) Herstellung sozialer Beziehungen. Es handelt sich also um wiedergutmachende und nicht ausgleichende Gerechtigkeit (Buckley-Zistel, 2008a), in der mit Hilfe des Ältestenrats versucht wird, die KonÀiktparteien zusammenzubringen, um durch die Akzeptanz von Schuld Vergebung und Aussöhnung zu ermutigen (Ojera Latigo, 2008, S. 107). Viele Nordugander argumentieren daher, dass anstelle des IStGHs traditionelle KonÀiktlösungsmechanismen angewandt werden sollten, unter denen eine Zeremonie besonders hervorsticht: Mato Oput (das gemeinsame Trinken der bitteren Wurzel des Oput Baums). Ursprünglich wurde sie verwandt, wenn ein Clanmitglied ein Mitglied eines anderen Clans getötet hat. Sie könnte daher genutzt werden, um ex-Kombattanten in ihrer Heimatgemeinden zu re-integrieren (RLP, 2005, S. 24). Das Ritual richtet sich sowohl an individuelle als auch an kollektive Schuld und zielt darauf ab, moralische Werte und Dignität wieder herzustellen. Wie anderen Formen der traditionellen KonÀiktbearbeitung basiert der Prozess auf verschiedenen Komponenten: Schlichtung, Erziehung, Versöhnung und Wiedergutmachung (Quinn, 2007, S. 398). Im Falle einer Schlichtung, die einer Verhandlung ähnelt, wird der Vorfall dem Ältestenrat oder dem Rat der Weisen vorgetragen, der dann über eine angemessenen Form der ‚Strafe‘ entscheidet, wobei letzter eng mit Sozialisierung und Wiedergutmachung verbunden ist und, im Gegensatz zu einem westlichen System der strafenden Gerechtigkeit, nur die ultima ratio darstellt. Der entscheidende Teil des Prozesses basiert auf Mediation, d. h. der Auslotung der verschiedenen Perspektiven und Interessen der KonÀiktparteien (Buckley-Zistel, 2008a). Im Idealfall sind in einem Mediationsprozess alle Parteien gleich stark und erreichen mit Hilfe der Mediatoren eine für alle zufriedenstellende Lösung, wodurch sowohl individuelle KonÀikte gelöst werden, als auch das soziale Gleichgewicht in der Gemeinschaft wieder hergestellt wird. Unter den Acholi spielt zudem Wiedergutmachung eine wichtige Rolle (Quinn, 2007, S. 399). Versöhnung ist streng ritualisiert, vor allem im sogenannten Mato Oput: „In a new vessel, the masters of ceremony mix the pounded extract from the roots of the oput tree with an alcoholic drink, and then the killer and the next of kin of the person who has been killed kneel down and begin to drink from the same vessel simultaneously while women from both clans make shrill cries and shout the war cries of the two clans. Members of the two families join in to drink from the same vessel for the ¿rst time. Meanwhile the master of ceremonies cuts off the head of the ram

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brought by the killer and the head of the goat from the next of kin of the dead man. The ram’s head is ceremoniously handed over to the next of kin of the dead man and the goat’s head given to the killer. The bull is ritually speared to death and skinned and the meat is cooked and eaten together. Other cooked food items from both sides are served to the elders, who are allowed to mingle freely. From now on, the members of the two clans resume their normal social intercourse. In this way, the Acholi people make good the damage caused by the spilling of the sacred blood of human beings“ (Ojera Latigo, 2008, S. 105).

Doch obwohl traditionelle Ansätze der KonÀiktbearbeitung wie Mato Oput in den vergangen Jahren enorm an Aufmerksamkeit gewonnen haben, sind sie bei weitem keine Panacea, sondern oft mit Herausforderungen behaftet (Böge, 2006). Das trifft auch in Norduganda zu. So wird Mato Oput dort nur im Zusammenhang mit kleineren Delikten verwendet. Das Ritual ist somit nur schwerlich auf das Ausmaß der Gewalt in Norduganda anwendbar. Eine weitere Schwierigkeit ergibt sich aus einer Gender-Perspektive: Mato Oput ist die Angelegenheit des Ältestenrats, der ausschließlich aus Männern besteht. Insbesondere vor den Hintergrund der weitreichenden Sexualverbrechen an Frauen ist deren Ausschluss aus dem Ritual problematisch (JRP, 2007, S. 13). Des Weiteren haben durch die veränderten Sozialstrukturen in Norduganda viele KonÀiktbearbeitungsmechanismen, die auf einem bestimmten Rollenverständnis wie dem Respekt vor Ältestenräten beruhen, an Legitimität verloren (JRP, 2005, S. 21). Nun sind Traditionen nicht starr, sondern dynamisch und passen sich aktuellen Bedürfnissen an. Daher argumentieren einige Vertreter der Zivilgesellschaft, dass der Prozess an die neuen, immanenten Herausforderungen adaptiert werden solle (JRP, 2007). Es ist außerdem fraglich, welche Bedeutung Mato Oput gegenwärtig in Norduganda hat. Tim Allen konstatiert, dass es vor allem einzelne zivilgesellschaftliche Organisationen und Glaubensverbände waren, die das Konzept propagierten (Allen, 2006, S. 134–135). Mit großer Unterstützung internationaler Geber, die zurzeit ein besonderes Augenmerk auf traditionelle KonÀiktbearbeitung legen (Mac Ginty, 2008), stieg das Ritual schnell zu einer vermeintlich autochthonen Alternative zum IStGH auf. Ob es häu¿g angewendet wurde – und derzeit von einzelnen Gemeinden zu Wiedereingliederung von Ex-Kombattanten angewendet wird – ist umstritten, nicht zuletzt deswegen, weil inzwischen viele verschiedene Rituale unter den Begriff zu fallen scheinen (Allen, 2006, S. 165). Die Frage drängt sich auf, welche Form der Vergangenheitsarbeit von der Bevölkerung Nordugandas präferiert wird. Eine empirisch repräsentative Studie des International Centers for Transitional Justice (ICTJ) versucht die Präferenzen der Acholi zu eruieren, ohne jedoch zu einem eindeutigem Resultat zu kommen. Bezogen auf die Kriegsverbrechen sagten 70 Prozent, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden sollten, d. h. ein Großteil der Bevölkerung spricht

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sich gegen eine Amnestie aus. Des Weiteren sprachen sich 97.5 Prozent für die Enthüllung der Wahrheit über die Vergehen aus, um zukünftige Verbrechen zu vermeiden, mit der Vergangenheit abschließen zu können, symbolische und materielle Wiedergutmachung zu erhalten und den Weg zur Versöhnung zu ebnen (ICTJ, 2007, S. 6–9). Die Befragten fürchteten Vergeltung der LRA sowie Rache der vormaligen Opfer, eine Re-Traumatisierung der Opfer durch ihre Zeugenaussagen und generell einen negativen EinÀuss auf den Friedensprozess (ICTJ, 2007, S. 10– 11). Im Gegensatz zu einer früheren Studie hatten 2007 immerhin 60 Prozent der Befragten vom IStGH gehört – 2005 lag der Anteil noch bei 27 Prozent. Davon waren 64 Prozent der Meinung, der IStGH solle seine Haftbefehle zurückziehen, bis Frieden nach Norduganda gekehrt sei. Beachtliche 76 Prozent waren gar der Meinung der Gerichtshof gefährde den Friedensprozess (ICTJ, 2007, S. 4).7 Bezüglich der Strafverfolgung der LRA kommen eine Reihe von Studien zu dem Schluss, dass nach wie vor Uneinigkeit darüber herrscht, wie Gerechtigkeit am besten hergestellt werden kann (Allen, 2006; ICTJ, 2007; RLP, 2005). „When asked which mechanisms would be most appropriate to deal with LRA or UPDF, nearly equal numbers mentioned the ICC (29 %) and the Ugandan national court system (28 %). Twenty percent said the Amnesty Commission. When faced with the proposition that „it is important to have trials for the LRA leaders,“ over half of the respondents (59 %) either strongly agreed or agreed. On the other hand, only 24 percent of respondents said they understood the national criminal justice system“ (ICTJ, 2007, S. 4).

Im Gegensatz zu einer früheren Studie zeigten sich die Befragten allerdings eher bereit, Gerechtigkeit um des Friedens willen aufzugeben – 80 Prozent sprachen sich für einen Frieden mit Amnestie und gegen Gerichtsverfahren aus (ICTJ, 2007, S. 4). Dies reÀektiert möglicherweise die Befürchtung der Bevölkerung Nordugandas, dass Gerichtsverfahren den Friedensprozess gefährden. Über die Hälfte der Befragten bevorzugt Vergebung, Versöhnung und Integration von LRA-Anführen (zum Beispiel durch Mato Oput), wobei eine etwas kleinere Gruppe (41 %) Strafverfahren bevorzugen würde.

Die Studie basiert auf Interviews in nordugandischen Haushalten. Insgesammt wurden 2.875 Personen in 38 Binnenvertriebenenlagern, 21 Übergangslagern, 59 Dörfern und 9 Stadtgebieten befragt. (ICTY, 2007, S.11) 7

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Stiftet der IStGH Frieden in Uganda? Wie steht es nun mit der friedensstiftenden Wirkung des Internationalen Strafgerichtshofs in Norduganda? Die LRA hat den Friedensvertrag nicht unterzeichnet, weil gegen ihre Anführer Haftbefehle des IStGH vorlagen. Insofern hat der IStGH nicht Frieden bewirkt – jedenfalls nicht in einem engeren Verständnis. Erweitert man jedoch den Blickwinkel und fragt, ob der IStGH in Norduganda generell friedensfördernd wirken, d. h. zu einer nachhaltigen Transformation der KonÀiktlinien beitragen kann, ergibt sich ein differenzierteres Bild. Wichtig ist zunächst das Für und Wider von Strafverfolgung unter den Acholi an sich. Die Umfrage von ICTJ verdeutlicht, dass Uneinigkeit besteht, ob die Täter vor ein nationales oder internationales Gericht gestellt oder durch traditionelle Mechanismen in die Gesellschaft (re-)integriert werden sollten. Relevant erscheint jedoch ein Mitspracherecht der Acholi – schließlich ist es ja ihr KonÀikt/Frieden –, wodurch potentiell sowohl ihre aktuelle EinÀusslosigkeit als auch ihre Position in Uganda verbessert werden könnten. Die Notwendigkeit einer Verbesserung der Situation der Acholi führt unweigerlich zur politischen Implikation der IStGH Intervention. Es besteht die Tendenz, Rechtsprechung als neutral und universal anzusehen und ihre Durchsetzung als technokratisches Unterfangen zu betrachten, ohne dem lokalen Kontext einer (Nach)KonÀiktgesellschaft mit ihren meist extrem verhärteten Fronten Rechnung zu tragen (Buckley-Zistel, 2008b). Da jede Intervention immer auch politisch ist, müssen die Konsequenzen für das Ende des KonÀikts mitgedacht werden. Unter diesem Gesichtspunkt sind die anfängliche Nähe des IStGH zu Musevenis und die fehlende Ahndung der Verbrechen der ugandischen Streitkräfte äußerst problematisch, da sie die Dynamik des KonÀikts zugunsten der Regierung Ugandas beeinÀusst. Außerdem macht der Fall Nordugandas deutlich, dass Gerechtigkeit nicht nur die Form von Strafverfolgung annehmen kann. Gerechtigkeit ist ein normatives Konstrukt, das in erster Linie einen Soll-Zustand beschreibt und zum Ziel hat, ungerechtes Handeln in rechtmäßiges zu wandeln. Sie basiert auf den geltenden Normen und Werten einer Gemeinschaft, die allgemein verbindlich sind und (zumindest in der westlichen Welt) in Form von kodi¿ziertem, d. h. geschriebenem Recht im Falle eines Vergehens als Grundlage für strafrechtliche Sanktionen dienen. Bezogen auf den IStGH nimmt dies die Form von ausgleichender Gerechtigkeit an, da ein Vergehen mit Strafe ausgeglichen wird, sodass Gerechtigkeit mit Rechtssprechung gleichgesetzt wird. Alternativ dazu verfolgt wiedergutmachende Gerechtigkeit das Ziel, beispielsweise in Form von traditioneller KonÀiktbearbeitung wie etwa Mato Oput, soziale Beziehungen zwischen KonÀiktparteien (wieder)herzustellen. Dies basiert

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auf der Annahme, dass eine Straftat im Wesentlichen die Verletzung einer Person durch eine andere Person ist – und nicht einfach die eines Gesetzes. Folglich ist es wichtig, den Tätern diese personale Ebene ins Bewusstsein zu rufen und sie zu ermutigen, ihre Taten wiedergutmachen zu wollen, zum Beispiel in Form von Reparationen. Im Gegensatz zu einem Verfahren der ausgleichenden Gerechtigkeit diskutieren Opfer, Täter und Gemeindemitglieder den Sachverhalt im Rahmen eines informellen, auf Konsensus ausgerichteten Prozesses, der auf die Verbesserung ihrer Beziehungen abzielt und die Täter, falls reumütig, wieder in die Gemeinde eingliedert. Das oberste Ziel ist demnach nicht Vergeltung durch Strafe, sondern eine Verbesserung der Beziehung zwischen den KonÀiktparteien. In Uganda stehen sich diese Formen der Gerechtigkeit durch den Internationalen Strafgerichtshof und die nationalen Gerichte einerseits und Mato Oput andererseits gegenüber und es herrscht Uneinigkeit, welche Option effektiver ist. Für die Sicherung des Friedens in Norduganda ist es jedoch relevant, von einer konfrontativen Position der „Gerechtigkeit versus Frieden“ abzukommen und zu fragen, wie Frieden und Gerechtigkeit zusammen erreicht werden könnten. Wichtig wäre hierbei, Gerechtigkeit nicht nur im Sinn von Strafverfolgung zu verstehen. Denn was der IStGH und traditionelle Mechanismen gemein haben, ist, dass sie beide eine bestimmte Art von Gerechtigkeit verfolgen – der IStGH unter Berufung auf internationale Normen, Mato Oput durch Bezug auf traditionelle Werte – die als ideale Lösung für die Situation in Norduganda propagiert wird (Branch, 2007, S. 193). Sowohl ausgleichende als auch wiedergutmachende Gerechtigkeit beschäftigen sich trotz aller Unterschiede in erster Linien mit krimineller Gerechtigkeit – sie versuchen vergangenes Unrecht zu korrigieren –, lassen jedoch soziale, politische und ökonomische Gerechtigkeit außen vor. In diesem Sinne de-politisiert die Anwendung von Gerechtigkeit die doch immer höchst politische Konstellation einer (Nach-) Kriegsgesellschaft. Es ist gerade (auch) letztere, die für einen dauerhaften Frieden in Norduganda relevant ist. Das würde erfordern, die Situation Nordugandas im Allgemeine – und der Acholi im Besonderen – zu verbessern, zu einem sozialen, politischen und ökonomischen Wandel beizutragen und somit den Frieden nachhaltig zu sichern. Literatur African Rights (2000). Northern Uganda: Justice in ConÀict. London: African Rights. Akhavan, P. (2005). The Lord’s Resistance Army Case: Uganda’s Submission of the First State Referral to the International Criminal Court. The American Journal of International Law, 99(2), 402–421. Allen, T. (2006). Trial Justice. The International Criminal Court and the Lord’s Resistance Army. London: ZED.

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Die Bedingungen der Intervention: Interaktion in einer Ausnahmesituation Werner Distler

Eine internationale Intervention in eine Gesellschaft bedeutet in erster Linie das Aufeinandertreffen von internen und externen Akteuren im Alltag, die sich gegenseitig unbekannt und fremd sind. Die verschiedenen Akteure müssen ihre gewohnten und aus der Routine entstandenen Verhaltensweisen unter den Bedingungen und Gegebenheiten einer Intervention, die eine Ausnahmesituation ist, modi¿zieren. Neue und gemeinsam durch Interaktion konstruierte Verhaltensweisen entstehen und werden die Grundlage des Handelns. Die Interaktion de¿niert also die Beschaffenheit, Möglichkeiten und Grenzen der so konstituierten Interventionsgesellschaft. Diese Interaktion ist für externe wie interne Akteure gleichermaßen eine Herausforderung. Aufgrund der empirischen Erfahrungen, die in Missionen wie denen im Kongo, im Kosovo, im Irak, in Bosnien oder Afghanistan gesammelt wurden, werden heute in der Literatur über Interventionen1 mehr und mehr die Problematiken, Risiken und „Dilemmata“ (Paris und Sisk, 2007) internationaler Interventionen deutlicher herausgearbeitet. Dabei wird das Verhältnis zwischen externen und internen Akteuren zwar zunehmend als zentrale Quelle von Chancen und Risiken der Interventionen genannt, tatsächlich fehlen aber noch ausführliche und theoretisch fundierte Arbeiten zur Bedeutung der Akteure und ihrer sozialen Beziehungen. Der vorliegende Artikel will an dieser Lücke ansetzen und den Mehrwert konstruktivistischer Forschung für die Analyse von Interventionen aufzeigen: Der Konstruktivismus rückt die Akteure der Intervention und ihre sozialen Beziehungen in den Mittelpunkt der Analyse. Es ist eine der zentralen Thesen dieses Artikels, dass die Art und Weise der Interaktion (also der sozialen Beziehungen) die Verfasstheit, Möglichkeiten und Grenzen der Intervention de¿niert. Eine theoretische Annäherung an Interaktion wird mit Hilfe von Ansätzen von George Herbert Mead und Herbert Blumer, sowie der konstruktivistischen Interpretation dieser Autoren, geleistet. Auf diesem Weg wird die Bedeutung der Interaktion für Akteure und besonders deren EinÀuss auf Wandel im Verhalten In der Literatur werden unterschiedliche Begriffe für die Interventionen benutzt, hauptsächlich aber Peace-, Nation- und Statebuilding.

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und der Identität der Akteure aufgezeigt: Nach Mead verändern Akteure durch Krisen- und Ausnahmesituationen ihre erlernten und gewohnten Handlungsweisen und schaffen unter Umständen sogar neue Handlungsroutinen. Diese neuen Handlungsroutinen verfestigen sich zu neuen Strukturen. Gleiches gilt also auch im Falle einer Intervention, die für die Akteure eine solche Krisen- und Ausnahmesituation darstellt. Die Akteure verlieren die Sicherheit alter Strukturen und konstruieren nun gemeinsam in ihren sozialen Beziehungen neue Handlungsroutinen. Diese Routinen erschaffen die Interventionsgesellschaft mit. Durch den stark bewegten Charakter einer Interventionsgesellschaft, bedingt auch durch die hohe Mobilität der externen Akteure, entstehen jedoch keine verlässlichen Routinen. Stattdessen bleibt die Interaktion durch einen ständigen Ausnahmecharakter de¿niert: Die Routinen sind kurzlebige, „unsichere Routinen“. Der Artikel will drei Bedingungen der Interaktion in einer Intervention vorstellen. Sie beziehen sich auf die Wahrnehmung gegenseitiger Fremdheit, die zeitliche Dimensionen der Interaktion und Nähe und Distanz der Akteure in einer Intervention. Sie sollen einen ersten kritischen Blick auf eine Interventionsgesellschaft bezüglich der Interaktion der Akteure ermöglichen und somit auf Möglichkeiten und Grenzen einer Intervention hinweisen. Empirische Grundlage des Artikels sind Interviews, die der Autor mit Mitgliedern der UNMIK Police im Kosovo zwischen September 2007 und März 2008 geführt hat. Das weite Feld der Interventionen Die sozial- und politikwissenschaftliche Literatur benützt eine Vielzahl von Begriffen, um dem Phänomen der Interventionen gerecht zu werden. Die prominentesten Begriffe sind Peacebuilding (Lederach, 1997; Zartman and Rasmussen, 1997; Doyle and Sambanis, 2000; Crocker, Hampson und Aall, 2001; Paris, 2004; Talentino, 2004a; Tschirgi, 2004; Doyle and Sambanis, 2006; Bonacker, 2007), Nationbuilding oder Externes Nationbuilding (Talentino, 2004b; Hippler, 2004a; Fukuyama, 2006; Dobbins, 2003, 2005, 2007), in den letzten Jahren auch vermehrt Statebuilding (Fukuyama, 2004a, 2004b; Caplan, 2004; Chesterman, 2005; Paris und Sisk, 2007). Diese Begriffe greifen oftmals ineinander, werden teilweise – wie Nationbuilding und Statebuilding – in der angelsächsischen Diskussion synonym verwendet, an anderer Stelle jedoch genauestens voneinander abgegrenzt (Schneckener, 2007; Talentino, 2004b). Dabei stehen für die Autoren oft nicht einmal die unterschiedlichen Gewichtungen des normativen Gehalts der Begriffe im Mittelpunkt, sondern eher pragmatische Fragen: Wie können wir Frieden, Nation oder Staat „anwendbar“ de¿nieren – und dann in einer internationalen Mission „(auf)bauen“?

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Eine Frage liegt all diesen Konzepten zugrunde: Welche Möglichkeiten, Herausforderungen und auch Grenzen einer externen Intervention in einer KonÀiktoder Post-KonÀikt-Gesellschaft gibt es? Diese Frage stellt sich unabhängig davon, ob das Ziel nun funktionierende Staatlichkeit oder ein umfassender Frieden sein soll. Im Fokus der Literatur stehen meistens die externen Akteure, ihr Handeln und die möglichen Strategien und Policies der Durchführung einer Intervention. Beispielhaft sieht man dies am Wandel, den der Begriff Nationbuilding durchlaufen hat: Nationbuilding bezeichnet im Zusammenhang mit Interventionen nicht mehr die Genese einer sozialen Gruppe, die sich als Nation versteht, sondern wird im Zusammenhang mit internationalen Missionen als „eine Strategie zur Erreichung konkreter Politikziele“ verstanden (Hippler, 2004a: S. 19). Diese Strategien, oft mit verschiedenen Schwerpunkten und Ansätzen (Schneckener, 2007), sollen die Stabilisierung der Gesellschaften und der Staatlichkeit erreichen, Sicherheit, Frieden und Entwicklung garantieren. Interventionen ¿nden in unterschiedlichen Intensitäten und Ausmaßen statt, von kurzen Stabilisierungsmissionen bis hin zu Langzeit-Missionen, bei denen die externen Akteure ein hohes Maß an Autorität und Gewalt inne haben, entweder durch transitional authority, wie im Kosovo oder Ost-Timor, oder in komplizierten politischen Konstruktionen, wie Irak und Afghanistan (Zaum, 2006; Grif¿n und Jones, 2001; Doyle, 2002; De Grasse und Caan, 2006; Chesterman, 2005). Aufgrund der wachsenden empirischen Erfahrungen durch die anhaltende Dauer einiger Missionen und die schwierigen Entwicklungen von Interventionen, ob im Kongo, Afghanistan, Kosovo, Bosnien oder Irak, treten in den letzten Jahren vermehrt kritische Analysen und Fragestellungen zu den vielfältigen Problemen und Herausforderungen von Interventionen in den Vordergrund. Chesterman (2007) zeigt beispielsweise anhand des Begriffes Ownership, wie wenig die regelmäßig bemühte Sprache der Missionen und Interventionen oftmals nachvollziehbar de¿niert und inhaltlich gefüllt ist. Thorsten Bonacker (2007) weist auf die KonÀiktträchtigkeit von Interventionen hin und auf die Gefahr, dass neue und stabile KonÀiktsysteme gerade aufgrund einer Intervention entstehen können. Talentino (2007) diskutiert die Bedeutung von Wahrnehmung der Akteure einer Peacebuilding Mission im Zusammenhang mit der „Dynamic of Imposer and Imposed Upon“. Paris und Sisk (2007), Mitglieder des Sustainable Peacebuilding Network, nennen zusammenfassend fünf grundsätzliche und interagierende Dilemmata, basierend auf „underlying tensions and contradictions“ (Paris und Sisk, 2007, S. 4–5), denen sich externe Akteure bei Interventionen bzw. Statebuilding gegenüber sehen:

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Werner Distler „Footprint Dilemmas“: „The footprint of an operation refers to its degree of intrusiveness in the domestic affairs of the host state“ (Paris und Sisk, 2007, S. 5). Das Dilemma für die externen Akteure entsteht hinsichtlich der Frage, wann eine dominante internationale Präsenz (heavy footprint) und wann eine zurückhaltende internationale Präsenz (light footprint: „a less intrusive international presence“ Paris und Sisk, 2007, S.5) in den verschiedenen Bereichen der Intervention gewählt werden soll. Der „light footprint“ verzichtet auf eine massive externe Präsenz und EinÀussnahme und damit verbundene „distorting effects that the presence of powerful external actors can have“ (Ebd.). Am Beispiel Afghanistan wird das Dilemma deutlich: Der light footprint der externen Akteure in der ökonomischen Reform des Landes seit 2001 hat die Legitimität und Kapazität der Regierung in Kabul geschwächt, nicht gestärkt (Ebd). Gleichzeitig wird der militärische footprint in Afghanistan immer stärker – noch ohne jedoch eine Verbesserung der Sicherheitslage des Landes (bis zum Frühjahr 2009) erreicht zu haben. „Duration Dilemmas“: Interventionen verlangen oft lang andauernde Präsenz von internationalen Akteuren. Genau diese Präsenz und lang anhaltende Prozesse jedoch lassen Desillusionierung, Unmut und Widerstand in der lokalen Bevölkerung entstehen. Ebenfalls damit in Verbindung stehen die Kosten, die für die Länder und Organisationen anfallen, die die Intervention durchführen, und die daraus resultierende Frage nach einer Exit-Strategie (vergleiche hierzu auch Schneckener, 2007, S. 12–14). „Participation Dilemmas“: Ein besonderes Dilemma ist die Wahl der Kooperationspartner und zukünftigen Entscheidungsträger eines Landes. Hier müssen die externen Akteure eine Balance zwischen dem EinÀuss ehemaliger KonÀiktparteien und deren Partizipation an der politischen Zukunft des Landes und der Gewinnung von neuen Gruppen und schließlich der Gesamtbevölkerung für den neuen politischen Prozess ¿nden. Hier stellt sich auch die Problematik des local ownership: Wer soll der zukünftiger „owner“ sein? Alte Kräfte oder neue Entscheidungsträger? Ein weiterer Aspekt des participation dilemma ist die Tatsache, dass die internationale Präsenz selbst politische Partizipation hemmen kann, anstatt sie, wie eigentlich nötig, zu fördern. Hier hat die de facto desicion-making power der externen Akteure einen hemmenden Charakter auf die lokale politische Partizipation. „Dependency Dilemmas“: „Related to both the footprint and duration dilemmas is the risk of fostering within the host society dependence on the international presence“ (Paris und Sisk, 2007, S. 6) Die Autoren verweisen auf die Risiken, die von einer Kombination aus Abhängigkeit und Widerstand gegen internationale Präsenz entstehen, besonders hinsichtlich der Erfahrungen in „colonial societies“ (Paris und Sisk, 2007, S. 6) . Das eigentliche Ziel

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der internationalen Präsenz, nämlich die Schaffung von Konditionen eines sich selbst erhaltenden Friedens und stabiler Staatlichkeit, kann durch solche Abhängigkeiten gefährdet werden: „ (…) statebuilding missions can work against their own ultimate goal of fostering self-government“ (Paris und Sisk, 2007, S. 6) „Coherence Dilemmas“: Für Externe Akteure besteht die Notwendigkeit, nicht nur organisatorische Kohärenz zwischen den verschiedenen internen und externen Akteuren herzustellen, sondern auch normative Kohärenz, die sich auf die Werte bezieht, die vermittelt werden sollen. Dies ist bei Missionen, die einen multinationalen, multilateralen, multidimensionalen und multikulturellen (Hansen, Ramsbotham und Woodhouse, 2004) Charakter haben, eine enorme Herausforderung.

In allen fünf Dilemmata stehen die Beziehungen zwischen externen und internen Akteuren im Mittelpunkt, gekoppelt an strategische und funktionale Erwägungen des Statebuilding. Gerade die wechselseitigen BeeinÀussungen der Akteure hinsichtlich deren jeweiliger Entscheidungen werden von Paris und Sisk deutlich gemacht. Umfassende und systematische Arbeiten zu den Akteuren in den Interventionen sind jedoch in der Literatur noch selten. Die wenigen vorliegenden Untersuchungen erforschen zumeist die externen Akteure, während die internen, lokalen Akteure im Dunkeln bleiben. Auch die hier von Paris und Sisk aufgeführten Dilemmata für Statebuilder stehen noch beispielhaft für diese Sichtweise. Zwar gibt es Ausnahmen in der Forschung (Pouligny, 2006; Köhler & Zürcher, 2008, Roberts 2009), umfassende Analysen über die lokalen Kräfte in Interventionen sind jedoch noch rar. Eine weitere damit verbundene Forschungslücke, der sich dieser Artikel widmen wird, ergibt sich hinsichtlich des Miteinanders und der sozialen Beziehungen der externen und lokalen Akteure in den Interventionen, der tagtäglichen Interaktion zwischen den verschiedenen Gruppen und Personen und der Herausforderung von interkultureller Kommunikation in der Intervention (eine Ausnahme, die die Problematik der Akteure zumindest anschneidet: Schmelzer und von Gienanth, 2005). Peace-, Nation- und Statebuilding ¿nden innerhalb eines konkreten sozialen Raumes statt, in dem sich die Akteure bewegen und den sie gestalten: Hier ist auch der notwendige Ansatzpunkt für eine soziologische Perspektive auf das Thema Intervention. Konzentriert man sich in der Forschung nur auf strategische Fragen ohne die Bedingungen der Intervention zu kennen, bleibt die Analyse zwangsläu¿g abstrakt und realitätsfern. Denn Verhalten, Handlungen und Interessen von Akteuren lassen sich erst in der Betrachtung und Analyse der Interaktion zwischen Akteuren verstehen.

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Werner Distler Die Bedeutung von Interaktion „Der symbolische Interaktionismus beruht letztlich auf drei einfachen Prämissen. Die erste Prämisse besagt, dass Menschen ‚Dingen‘ gegenüber auf der Grundlage der Bedeutungen handeln, die diese Dinge für sie besitzen. Unter ‚Dingen‘ wird hier alles gefasst, was der Mensch in seiner Welt wahrzunehmen vermag – physische Gegenstände (…); andere Menschen, (…); Institutionen, (…); Leitideale (…); Handlungen anderer Personen, (…); und solche Situationen, wie sie dem Individuum in seinem täglichen Leben begegnen. Die zweite Prämisse besagt, dass die Bedeutung solcher Dinge aus der sozialen Interaktion, die man mit seinen Mitmenschen eingeht, abgeleitet ist oder aus ihr entsteht. Die dritte Prämisse besagt, dass diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegneten Dingen benutzt, gehandhabt und verändert werden.“ (Blumer, 1973, S. 81)

Dieses Zitat von Herbert Blumer, der sich auf die Arbeiten von George Herbert Mead (Blumer 1969; Mead, 1964, 1967 und 1982) stützt, unterstreicht die weit reichende und konstituierende Bedeutung von Interaktion für die soziologische Schule des Symbolischen Interaktionismus. Für die konstruktivistische Forschung bietet der Symbolische Interaktionismus wichtige Grundlagen.2 Auch dieser Artikel knüpft an ihn an. Wichtig sind dabei besonders zwei Grundannahmen: Erstens die Annahme, dass durch Interaktion zwischen Individuen Gesellschaft und sozialer Raum überhaupt erst konstituiert werden: Die Realität wird hier zu einer sozialen Realität. Zweitens die damit verknüpfte Annahme, dass durch Interaktion in krisenhaften Situationen Wandel im Handeln und der Identität der Akteure und damit verknüpft auch in einer durch Akteure geschaffenen Struktur statt¿nden kann. Wie sind diese Annahmen theoretisch begründet? Erste Annahme: Interaktion formt Akteure und die sie umgebende soziale Realität. Für Blumer besteht eine Gesellschaft „aus Individuen, die miteinander interagieren“ (Blumer, 1973, S. 86). Soziale Interaktion wird hier zu einem ständigen Prozess, der menschliches Verhalten formt.

Beispielhaft ist hierfür die Arbeit von Alexander Wendt, der sich in seinen Ausführungen über den Sozialkonstruktivismus in den Internationalen Beziehungen auf Mead und Blumer bezieht (Wendt, 1992). Die Nähe zwischen Konstruktivismus und Interaktionismus zeigt sich in vielen Grundannahmen des Konstruktivismus. Soziale Akteure konstruieren gemeinsam ihre soziale Welt („…social relations make or construct people – ourselves – into the kind of beings we are. (…) Constructivism holds that people make society, and society makes people.“, Onuf, 1998, S. 59) und materielle Faktoren erhalten nur durch die Akteure ihre Bedeutung (Wendt, 1992, S. 403). Auch die Wichtigkeit von Sprache, beim Interaktionismus das zentrale Symbol, wird im Konstruktivismus immer wieder betont (Zehfuß, 1998; Onuf, 1998). 2

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Diese Interaktion, die Interpretation und Bedeutungsvermittlung beinhaltet, ist eine symbolische Interaktion, die über rein reÀexartige Interaktion hinausgeht. „Im wesentlichen besteht das Handeln eines Menschen darin, dass er verschiedene Dinge, die er wahrnimmt, in Betracht zieht und auf der Grundlage der Interpretation dieser Dinge eine Handlungslinie entwickelt.“ (Blumer, 1973, S. 95) Um Bedeutung zu vermitteln, ist symbolische Interaktion notwendig. Symbole sind hauptsächlich Sprache und Handlungen. Symbole können beim Gegenüber die gleiche Bedeutung über ein Objekt auslösen und damit gemeinsames Handeln ermöglichen. Damit werden Objekte ein „Produkt symbolischer Interaktion“ (Blumer, 1973, S. 90). Dies gilt nach Blumer für alle Kategorien von Objekten, physikalische Objekte (z. B. ein Haus), soziale Objekte (z. B. ein Freund) und abstrakte Objekte (z. B. moralische Prinzipien, eine Idee, Gerechtigkeit etc.). „Die Beschaffenheit eines Objektes – und zwar eines jeden beliebigen Objektes – besteht aus der Bedeutung, die es für die Person hat, für die es ein Objekt darstellt. Diese Bedeutung bestimmt die Art, in der sie das Objekt sieht; die Art, in der sie bereit ist, in Bezug auf dieses Objekt zu handeln; und die Art, in der sie bereit ist, über es zu sprechen.“ (Blumer, 1973, S. 90)

Akteure lassen also durch „Kommunikation als soziale Interaktion“ (Burkart, 2003) Bedeutungssysteme entstehen und erschaffen oder konstruieren soziale Realität. Die solch einer sozialen Realität zugrunde liegenden Handlungsweisen werden durch wiederholte Interaktion fortgepÀanzt (die so genannte „Verkettung von Handlungen“, Blumer, 1974, S. 96) und Bedeutungen somit weitergetragen und bewahrt. Zweite Annahme: Interaktion in krisenhaften Situationen führt zum Wandel im Handeln der Akteure und damit in der sie umgebenden Struktur Die Bedeutung von Interaktion liegt aber nicht nur zwischen Akteuren: Interaktion ist auch für einen Akteur selbst konstituierend und kann einen Wandel des Verhaltens nach sich ziehen. Das Selbst eines Individuums ist auch nichts anderes als ein Objekt. „Wie andere Objekte, so entwickelt sich auch das ‚Selbst-Objekt’ aus einem Prozess sozialer Interaktion, in dem andere Personen jemanden die eigene Person de¿nieren.“ (Blumer, 1973, S. 92) Dies geschieht in der Rollenübernahme: Dafür nimmt das Subjekt die Rolle Anderer an, um die an ihn gerichteten Erwartungen in der sozialen Interaktion zu verstehen und sein Handeln dementsprechend auszurichten: „Taking the role of

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the other (or ‚roletaking‘) is taking the perspective of the other, seeing the world from the other’s perspective and directing self accordingly“ (Charon, 1979, S. 97). Folgt man Mead, so erfolgt für die Subjektivität des Akteurs infolgedessen eine „zentrale Differenzierung zwischen dem ‚me‘ als demjenigen Teil der Subjektivität ‚de¿ned in terms of others‘ und dem ‚I‘ als dem nicht auf Andere reduzierbaren Teil der Subjektivität (…).“ (Herborth, 2004, S. 69).3 Entscheidend hinsichtlich Veränderungen des Handelns ist das „I“: Es bleibt eine spontane und kreative, unbewusste und auch vorsoziale Instanz der Subjektivität, während sich im „me“ die Routine und umgebende Struktur und Gesellschaft widerspiegelt. Das „I“ bietet den Schlüssel zu der Frage nach Wandel in sozialen Strukturen, wenn man als Struktur eine Vielzahl von Handlungsroutine der Akteure versteht (Herborth, 2004). Das „I“ als Kreativitäts- und Spontaneitätsinstanz reagiert auf Krisen und gibt neue Handlungsmöglichkeiten vor, die sich dann wiederum als neue Routinen (Strukturen) festigen können.4 Das Individuum (Akteur) und die ihn umgebene soziale Welt werden so nicht nur kodeterminiert, sie entstehen in einem von Blumer betonten gemeinsamen Prozess und können sich auch (durch Krisensituationen) gemeinsam verändern. Solch eine Interaktion innerhalb eines Akteurs und dann mit anderen Akteuren besitzt sicherlich großes KonÀiktpotential: Die soziale und damit auch kulturelle Vorprägung eines Akteurs (im „me“) ist in diesem Prozess sicherlich nicht zu unterschätzen, eben weil sie einen Teil der Subjektivität des Akteurs ausmacht. Interaktion in der Intervention Externe und interne Akteure schaffen sich durch ihre Interaktion in der Intervention eine neue gemeinsame soziale Welt und Realität, die wiederum die Akteure entsprechend prägt und spezi¿sche Handlungen hervorbringt. Diese Interaktion in der Intervention ¿ndet unter bestimmten Gegebenheiten und Bedingungen statt. Diese Gegebenheiten und Bedingungen der Interaktion in einer Intervention bestimmen das Verhalten der Akteure und sind auch verantwortlich für möglichen Wandel in diesem Verhalten. Wie in der zweiten Annahme vorgestellt, können 3 „The ‚me‘ is that part of subjectivity which is de¿ned in the terms of others; the character and behavioural expectations of a person’s role identity (…) are socially constituted. (…) The ‚I‘ is the part of subjectivity in which this appropriation and reaction to roles and its corresponding existential freedom lies.“ (Wendt, 1992, S. 419) 4 Die Handlungsroutinen von Akteuren können durch verschiedene Arten von Krise in Frage gestellt und sogar verworfen werden: Durch exogen Schocks (brute facts), durch Entscheidungskrisen oder durch ReÀexionen willentlich herbeigeführt werden. (Herborth, 2004,S. 79/80, siehe auch Oevermann, 1991)

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Krisen Handlungsweisen von Akteuren verändern. Der Begriff der Krise geht aber bei der Betrachtung einer Intervention zu weit. Sicherlich ist eine Intervention Folge eines KonÀikts innerhalb einer Gesellschaft, aber das de¿niert noch nicht die gemeinsamen alltäglichen Erfahrungen der externen und internen Akteure und deren Interaktion als ausschließlich krisenhaft; Krisen sind vielmehr eine mögliche Ausprägung des Miteinanders. Hier soll für die weitere Betrachtung von Interventionen der Begriff der Krise durch den Begriff der Ausnahme ersetzt werden. Eine Ausnahme erfasst, neben einer hauptsächlich als negativ betonten Krise, auch positive Situationen für Akteure, die innerhalb einer Intervention erfolgen können, aber keinen bekannten oder alltäglichen Charakter haben. Die Interventionsgesellschaft – Wer interagiert mit Wem? Ausgangspunkt für die Interaktionsbedingungen, unter denen eine Intervention statt¿ndet, ist also, dass die Situation der Interaktion eine Ausnahmesituation für die Akteure darstellt. Diese Situation ist zuerst gekennzeichnet durch die Tatsache, dass die externen Akteure in einer Intervention in einer ihnen fremden und unbekannten Umgebung und mit ihnen fremden Akteuren leben und arbeiten. Lokale Akteure sind darüber hinaus auch durch vergangene und anhaltende KonÀikte geprägt. Sie bringen diese Erfahrungen in die Interventionssituation ein. Ist noch jener KonÀikt zwischen verschiedenen internen Akteursgruppen aktuell, der die Intervention ausgelöst hatte, kann dies Auswirkungen auf die externen Akteure haben, bis hin zu einer konkreten Bedrohung des Lebens, wenn externe Akteure zwischen die Fronten der alten KonÀiktparteien geraten. Verstärkt wird diese Situation dann, wenn die externen Akteure selbst zu einer KonÀiktpartei werden. Man denke an den Kongo, Afghanistan oder den Irak. Die Dichte und Intensität von Interaktion zwischen externen Akteuren und internen Akteuren ist ein erster Anhaltspunkt für die Betrachtung einer Interventionsgesellschaft. Setzt man bei einem ersten groben, kreisförmigen Modell einer Interventionsgesellschaft die externen Akteure zentral in die Mitte des Kreises, können drei mögliche Dimensionen von Interaktion unterschieden werden: ƒ ƒ

In einem ersten Kreis um die externen Akteure herum können diejenigen Akteure angesiedelt werden, die direkt und regelmäßig mit den externen Akteuren interagieren, die direkt Interventionsberührten. Der zweite Kreis besteht aus denjenigen Akteuren, die nur sporadisch oder indirekt mit den externen Akteuren interagieren, die indirekt Interventionsberührten.

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Werner Distler Der dritte Kreis besteht aus denjenigen Akteuren einer Interventionsgesellschaft, die keine oder nur äußerst begrenzte Interaktion mit den externen Akteuren und den anderen Kreisen haben. Sie sind die Interventionsunberührten.

Für eingehende Analyse einer Interventionsgesellschaft müssen diese groben Dimensionen nun empirisch untersucht werden. Die erste Ebene der Untersuchungen sollte sich mit folgender Frage beschäftigen: Wie und mit welchen Folgen interagieren die Akteure? Diese Frage zielt auf die alltäglichen Bedingungen der Intervention für die Akteure und wird noch in diesem Artikel betrachtet. Eine zweite Ebene an Untersuchungen sollte das Bild erweitern: Welche (internen) Gruppen und Akteure sind wo in dem Modell angesiedelt, wie beeinÀusst die Interaktion diese Akteure? Diese Fragen zielen mehr auf die Aussichten politischer Strategien und auf Strukturen der Gesellschaft. Ein mögliches Beispiel hierfür: Jede Intervention produziert Interventionsgewinner, d. h. interne Akteure, die aufgrund der internationalen Intervention eine Verbesserung ihrer Position innerhalb der lokalen Gesellschaft (sozial, politisch, ökonomisch etc.) erfahren haben. Zwischen diesen Interventionsgewinnern und den externen Akteuren ¿ndet eine regelmäßige und intensive Interaktion statt, sie sind hauptsächlich im Kreis der direkt Interventionsberührten anzusiedeln. In einer multiethnischen Gesellschaft mit rivalisierenden Gruppen oder in einer Gesellschaft, die stark durch Warlords und deren Anhänger geprägt ist (Marten, 2006), kann es entscheidend für den Verlauf und die Ziele einer Intervention sein, wo in dem Modell sich diese einzelnen Gruppen be¿nden: Be¿nden sich unter den Interventionsgewinnern hauptsächlich Vertreter einer bestimmten Gruppe, die Mitglieder einer rivalisierenden Gruppe aber hauptsächlich unter den Interventionsunberührten, womöglich sogar als Gegner oder Verlierer der Intervention, so ist ein anhaltender KonÀikt durch die Struktur der Interventionsgesellschaft wahrscheinlicher. Eine Sozialstrukturanalyse oder eine KonÀiktanalyse kann über das hier vorgeschlagene Modell einer Interventionsgesellschaft unter den Gesichtspunkten der Interaktion „gelegt“ werden, um neue, konkretere Modelle von Interventionsgesellschaften zu gewinnen und gleichzeitig die KonÀiktbeziehungen aufzuzeigen. Damit entsteht wichtiges Wissen über Chancen und Risiken von Peace-, Nationund Statebuilding. Beide Fragestellungen (nach den Bedingungen und nach den Positionen der Akteure) sind relevant. Vorgeschaltet und deshalb hier behandelt ist aber die Frage nach den allgemeinen und strukturellen Merkmalen der Interaktion.

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Die Bedingungen der Interaktion in einer Intervention Auf den kommenden Seiten sollen drei beispielhafte und allgemeine Bedingungen vorgestellt werden, die eine Intervention zwangsläu¿g prägen. Diese Bedingungen zeigen den Ausnahme- und unter Umständen sogar Krisencharakter der Interaktion für die individuellen Akteure auf. Empirische Basis der hier vorgestellten Bedingungen sind Interviews, die der Autor mit Mitgliedern der UN-Polizeimission im Kosovo zwischen Ende 2007 und Anfang 2008 geführt hat. In diesen Interviews wurden hauptsächlich deutsche Polizistinnen und Polizisten nach ihren Erfahrungen in der Interaktion mit anderen internationalen Polizisten und Einheimischen befragt. Den anderen Bedingungen über- und vorgeordnet ist die Wahrnehmung der Gegenseitigen Fremdheit, die sich auch in den folgenden Bedingungen wieder ¿ndet. Die Bedingungen können immer zwei Dimensionen erfassen: Die erste Dimension entspringt der Interaktion verschiedener externer Akteure untereinander, die zweite Dimension der Interaktion zwischen externen und internen Akteuren. Die Bedingungen werden hier in einer abstrakten Form vorgestellt. Grundsätzlich wird angenommen, dass die Bedingungen der Interaktion in allen Fällen einer Intervention wieder ¿nden lassen, jedoch in diesen Fällen spezi¿sche Ausprägungen haben können.5 Sie sind dabei nur eine Auswahl und können auch nur verkürzt wiedergegeben werden. Die Wahrnehmung gegenseitiger Fremdheit „Die Menschen im Kosovo wissen wahrscheinlich am wenigsten, wie ihnen geschieht. Die müssen sich vorkommen, als ob sie jemand von der Steinzeit ins nächste Jahrtausend katapultiert hätte. Während die Internet-Cafes wie Pilze aus dem Boden schießen, kann man auch noch Dinge beobachten, wie sie sich vor 100 Jahren zutrugen. (…) Unser Vermieter hat wenige Tage nach unserem Einzug unsere Miete in ein Kalb umgesetzt. Dieses hat er direkt neben unserem Haus geschlachtet und nach dortiger Tradition schön ausbluten lassen. Es stank übrigens eine Woche lang nach Blut, (…).“ (Konrad, 2006, S. 14)

Fremdsein ist ein Schlüsselbegriff für interkulturelle Kommunikation6, da in einer Situation zwischen zwei sich gegenseitig fremden Akteuren nur begrenzt auf Interaktionserfahrungen zurückgegriffen werden kann. Die gemeinsame Sozialisation 5 Das Interviewmaterial bezieht sich primär auf die Erfahrungen der Polizistinnen und Polizisten in der Mission im Kosovo. Da jedoch so genannte „Wiederverwender“, also Beamten, die an mehreren Interventionen in unterschiedlichen Ländern teilgenommen haben, Àießen auch Erfahrungen aus anderen Fällen ein. Somit gibt es bereits empirische Hinweise auf eine Anwendbarkeit der Bedingungen für alle Fälle von Interventionen. 6 Die Disziplin der Interkulturellen Kommunikation stellt ebenfalls die Bedingungen der Interaktion zwischen Akteuren in den Mittelpunkt. Viele zentrale Begriffe spiegeln sich hier also wider.

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bzw. gemeinsame Symbole fehlen in dieser Kommunikation, die aufeinander treffenden Akteure sind in erster Linie „mental“ durch ihre eigene Kultur7 „programmiert“ (Hofstede, 1997, S. 2–6), gerade auch in alltäglichen Verhaltensweisen. In der wechselseitigen Wahrnehmung von Fremdem liegt eine der wichtigsten Herausforderungen für Akteure in einer Intervention. Gegenseitiges Fremdsein kann zu einer zu einer wahrgenommenen Bedrohung der eigenen Identität durch die „Fremden“ führen, auch wenn dies nicht zwingend erfolgen muss. Im Falle einer solchen empfundenen Bedrohung beruht eine Ablehnung des Fremden auf einer (unbewussten) Überhöhung des Bekannten, des Vertrauten. Folge kann ein Überlegenheitsbewusstsein gegenüber dem Fremden sein, eventuell auf der Grundlage ethnischer Zugehörigkeit (Ethnozentrismus). Hier beurteilt der Akteur die ihm Fremden nach seinen eigenen kulturellen Normen: „Alles, was von den eigenen Normen, Sitten, Wertorientierungen, Gewohnheiten, Verhaltensmustern abweicht, gilt als minderwertig, fragwürdig, oft sogar als abartig und unmoralisch.“ (Maletzke, 1996, S. 24). Der Andere wird also abgewertet, die eigene Kultur aufgewertet. Zentrales Beispiel für ein gelebtes Überlegenheitsbewusstsein ist die Einstellung der europäischen Kolonialherren gegenüber den „eingeborenen“ und „primitiven“ Bewohner ihrer Kolonien. Selbst wenn gewohnte Handlungsweisen und Interaktion in einer neuartigen interkulturellen, multinationalen Situation nicht in eine solch negative Form des Ethnozentrismus führen müssen, so bleibt doch festzuhalten, wie stark Akteure ein Gefühl der Selbstverständlichkeit (Maletzke, 1996, S. 23) in ihrem gewohnten Umfeld für gewisse Abläufe, Vorgänge oder für Relationen entwickelt haben können, die in einer Intervention so nicht mehr gelten.8 Die zu erbringende Interaktionsleistung externer Akteure, z. B. von Polizistinnen und Polizisten, die in einem stark multinationalen Umfeld arbeiten und innerhalb der lokalen Bevölkerung leben, ist somit grundsätzlich hoch. Auch wenn individuelle Fähigkeiten variieren und die Beamtinnen und Beamten in Schulungen vorbereitet werden, ist die Eingewöhnung in die Ausnahmesituation der Inter7 Eine Bemerkung zu dem Begriff „Kultur“: Er wird in dieser Arbeit als ein nicht essentialistischer Begriff verstanden, d. h. die Inhalte dessen, was „Kultur“ de¿niert werden nicht als gegeben, sondern als durch die Akteure konstruiert verstanden. Gleiches gilt für Identität. 8 Hofstede erklärt eine solche Situation wieder mit Hilfe der mentalen Programmierung eines Akteurs mit fundamentalen Werten und den dazugehörigen oberÀächlichen Kulturmerkmalen wie Rituale, Helden und Symbole. Diese Programmierung ¿ndet bereits in der Kindheit statt und ist dem Akteur oftmals nicht bewusst. In einer ihm neuen Umgebung kann der Akteur zwar die Rituale und Symbole versuchen zu erlernen, die dahinter liegenden fundamentalen Werte bleiben ihm jedoch höchstwahrscheinlich verschlossen. Der Akteur wird hier laut Hofstede mental in seine Kindheit zurückgeworfen und muss selbst einfache Dinge wieder erlernen. Hierin liegen auch Gefühle der Angst, HilÀosigkeit und Feindseligkeit begründet, die der Akteur angesichts der neuen Umgebung emp¿ndet (Hofstede, 1997, S. 288 f.).

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ventionen immer eine Herausforderung, wie in den Interviews erkennbar ist. Ein Überlegenheitsgefühl der extern Intervenierenden ist nicht selten zu beobachten und wird angesichts der schlechten „Verfassung“ der sie umgebenden (Post-)KonÀiktgesellschaft verstärkt.9 Lokale Akteure, sehen sich in der Interaktionssituation häu¿g einer Vielzahl von externen Akteuren gegenüber. Dies verkompliziert die Interaktion. Darüber hinaus stehen die externen Akteure durch ihre Autorität, Fähigkeiten und capabilities in einer asymmetrischen Beziehung und Machtdistanz (Hofstede, 1997, S. 25–62) zu den Einheimischen. Es ist anzunehmen, dass KonÀikte und Probleme mit Intervenierenden aus Sicht der internen Akteure stärker wahrgenommen werden, weil die Intervenierenden Fremde sind. Dies zeigt sich beispielsweise dann, wenn in Frage gestellt wird, aus welchen Motiven die externen Akteure sich im Land engagieren. Lokale Akteure können, ob nun in ständiger Interaktion oder im Bereich der Interventionsunberührten angesiedelt, Zweifel an dem Willen, dem Interesse und der (Opfer-)Bereitschaft externer Akteure haben, tatsächlich die Lage ihres Landes zu verbessern. Externe Akteure werden Adressaten bei Unzufriedenheit und KonÀikten z. B. wenn militärische Einsätze der Intervenierenden viele Zivilisten töten oder die internationale Verwaltung als inef¿zient wahrgenommen wird. Am Beispiel der Interventionen im Kosovo und Afghanistan ist zu beobachten, dass die positive Wahrnehmung am Beginn einer Mission (z. B. die „Befreiung“ der Kosovo-Albaner durch die NATO oder die „Vertreibung“ der Taliban) im Verlauf der Mission nachlassen kann und sich die Wahrnehmung der Externen verschlechtert und damit die Legitimität der Mission in Frage stellt.10 Welchen Anteil an dieser verschlechterten Wahrnehmung die Fremdheit der Akteure hat, ist nicht quanti¿zierbar bzw. noch nicht untersucht. Die grundsätzliche Bedeutung dieser wahrgenommenen Fremdheit hinsichtlich KonÀikte mit internen Akteuren ist jedoch nur schwer abstreitbar. Interne Akteure sehen in den Intervenierenden nicht eine homogene Gruppe, sondern unterscheiden klar nach Nationalität der individuellen Akteure. Deutsche Polizistinnen und Polizisten im Kosovo berichten einhellig von einer sehr positiven Einstellung der Bevölkerung gegenüber Deutschland und deutschen Beamten. Die UN-Police und andere Nationalitäten, so beispielsweise afrikanischen Nationen, werden hingegen abgelehnt. Zur Begründung werden positive Narrative über 9 Zum Beispiel der schlechte Zustand von Infrastruktur, geringe Bildungsniveaus, hohe Gewaltraten und Kriminalität oder als rückständig empfundene soziale Verhaltensweisen. 10 Siehe die Ergebnisse einer in Afghanistan durchgeführten Umfrage im Auftrag der TV Sender ARD, ABC und BBC: http://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan772.html (Stand 11.02.2009) und die Early Warning Reports des UNDP über die Meinung der Bevölkerung im Kosovo über der UNMIKVerwaltung (UNDP Early Warning Reports 2002–2008).

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bestimmte Nationalitäten und grundsätzliche positive Zuschreibungen bemüht. Dadurch erscheinen einzelne Nationen als „Freunde“ (andere bleiben „Feinde“). Befreundete Nationen scheinen weniger fremd zu sein als andere und werden teilweise auch bewundert. Deutschland ist beispielsweise vielen Bewohnern des Kosovo bekannt, viele Menschen haben dort gelebt, sprechen die Sprache, und besonders unter den albanischen Bewohnern wird die Beteiligung am NATO Einsatz 1999 positiv bewertet. Auch Gespräche mit Einheimischen im Kosovo haben gezeigt, dass Kosovaren europäische Nationen oftmals deutlich besser bewertet als afrikanische und asiatische Nationen. Diese Nationen bleiben „fremd“, und man begegnet ihnen mit einem Überlegenheitsgefühl. Um dieses Phänomen gänzlich zu verstehen, ist jedoch eine eingehende Analyse in den jeweiligen Fällen notwendig: Lokale Konstruktionen, oftmals historisiert, von „geschätzten“ und „nicht geschätzten“ internationalen Akteuren könnten die Erfolgsaussichten von einzelnen Projekten wahrscheinlich jedoch erheblich beeinÀussen. Die Wahrnehmung von Fremdheit begründet auch die ständige Ausnahmesituation in der Intervention. Sie zwingt die Akteure dazu, neue Formen des Handelns und Kommunizierens zu ¿nden. Gewohnte Abläufe des Alltags werden abgelöst von improvisierten Formen des Handelns, basierend auf der Qualität der gemeinsamen Interaktion: Ein internationaler Akteur sieht sich neuen Situationen ausgesetzt, in der plötzlich seine Fähigkeit, eine andere Sprache zu beherrschen oder einen Ausgleich zwischen anderen internationalen Akteuren herbeizuführen, bedeutender ist als seine Fachkompetenz in seiner heimatlichen Dienststelle und Umgebung. Die Wahrnehmung von Fremdheit bleibt eine zentrale Bedingung der Interaktion, die in der theoretischen aber auch praktischen Betrachtung und Analyse einer Intervention in den Mittelpunkt gerückt werden sollte. Sie interveniert unausweichlich bei allen zentralen Fragen und Umsetzungen einer Mission, und konstruiert die Interventionsgesellschaft mit. Dauer und zeitliche Dimensionen der Intervention Eine weitere wichtige Bedingung von Interventionen ist die Dauer der Intervention oder die Zeitdimensionen innerhalb einer Intervention. Zum Dilemma der Dauer haben sich Paris und Sisk (2007) aus einer strategischen Perspektive geäußert, sie hat aber auch eine direkte Auswirkung im Alltag der interagierenden Akteure: Interne Akteure erleben ihre Lebensrealität in ihren vertrauten Räumen basierend auf den Erfahrungen der Vergangenheit, der Gegenwart und den Vorstel-

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lungen über die Zukunft. Die Vergangenheit ist geprägt durch den KonÀikt, der die Intervention auslöste. Hier spielten die externen Akteure der Intervention keine oder eine geringe Rolle. Die Gegenwart und kürzliche Vergangenheit ist dann durch die Interventionserfahrungen geprägt, die in Zusammenhang mit den externen Akteuren stehen. Die persönliche Zukunft und auch die Zukunft des Landes werden aber auch ohne externe Akteure durchgespielt. Das Wissen, dass die Intervenierenden nur vorübergehend anwesend sind, bestimmt den Diskurs. Der externe Akteur sieht eine Mission unter ganz anderen zeitlichen Aspekten: Für ihn gibt es eine Vorbereitungsphase, dann die Mission selbst, die oftmals nur einen überschaubaren Zeitraum dauern wird, für deutsche Polizistinnen und Polizisten beispielsweise ein Jahr. Innerhalb der Mission durchlebt der Akteur alle Phasen eines Aufenthaltes „in der Ferne“: eine Phase der Eingewöhnung, eine Phase der Vertrautheit und schließlich bereits die Vorbereitung auf die Abreise, die Phase des Abschieds. In diesem Zusammenhang ist die Kurve der kulturellen Anpassung von Interesse: Sie bezieht sich auf die Gefühle einer Person, die in der Fremde über einen bestimmten Zeithorizont hinweg arbeitet und lebt. Die erste Phase ist die kurze Phase der Euphorie, gefolgt vom längeren Kulturschock, dann einer Phase der langsamen Akkulturation, also Eingewöhnung, die schließlich in die Phase der Stabilität führt (Hofstede, 1997, S. 288). Auch Polizistinnen und Polizisten im Einsatz gehen durch diese Phasen. Zwar mag die individuelle Fähigkeit gerade hinsichtlich der Verarbeitung des Kulturschocks variieren, sein Eintreten ist aber gewiss. Zwei Aspekte haben auf die Phasen der Anpassung EinÀuss: Erstens, wie oft der Akteur auch innerhalb der Mission Ort und Tätigkeit wechselt. Hier kann es zu Wiederholungen der Anpassungsphasen kommen. Zweitens, ob der Akteur die Möglichkeit hat, die Anpassung an die neuen Bedingungen durch den Kontakt mit anderen externen Akteuren zu verzögern. Die Freizeit der externen Akteure wird hauptsächlich mit anderen externen Akteuren verbracht. So können Rückzugsräume entstehen, die eine Anpassung erschweren. Doch auch eine doppelte Belastung ist möglich: Müssen externe Akteure am Arbeitsplatz und in der Freizeit mit unbekannten Akteuren interagieren, kann der Kulturschock auf verschiedenen Ebenen wirken und sich dadurch unter Umständen verlängern, bzw. die allgemeine Akkulturation verzögern. Die Zeithorizonte der beiden Akteursgruppen differieren beträchtlich. Auch auf politischer Ebene hat dies Auswirkungen: Während lokale Eliten immer im Spannungsfeld der Vergangenheit und der eigenen Position in der Zukunft stehen, beschäftigen sich Akteure innerhalb der internationalen Missionen aufgrund kurzfristiger Mandate oftmals nur mit beschränkten Zeiträumen und mit der Frage einer möglichen Exit-Strategie. Aufgrund der Rotation der internationalen Akteure sind lokale Akteure innerhalb von relativ kurzen Zeiträumen mit einer Vielzahl von Internationalen

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konfrontiert, die sich nicht immer in Verhalten und auch inhaltlicher Ausrichtung der Arbeit aufeinander beziehen. Zusätzlich zu den oben aufgeführten Herausforderungen der gegenseitigen Fremdheit, die zu Unsicherheiten in der Interaktion führt, sollen im Arbeitsleben so multiple und voneinander stark abweichende Implementierungskonzepte umgesetzt. Im Bereich der Polizei können so z. B. innerhalb weniger Jahre deutsche, englische, französische, schwedische und chinesische Vorstellungen von korrekter Polizeiarbeit auf interne Akteure angewendet werden. In den Interviews bestätigten die deutschen Polizistinnen und Polizisten eine ihnen immer wieder vermittelte Erschöpfung bzw. ein Desinteresse der internen Akteure an neuen Konzepten nach einer weiteren Rotation. Auch auf der „Arbeitsebene“ einer Intervention wird also ein Zustand permanenter Ausnahme geschaffen, da mittel- oder langfristige Konsolidierungsprozesse strukturell permanent unterlaufen werden. Nähe und Distanz Die räumliche Distanz zwischen den internen und externen Akteuren ist oftmals groß: Externe Akteure leben meistens in abgegrenzten Gebieten. Diese Gebiete können entweder gänzlich von der lokalen Bevölkerung isoliert sein (wie militärische Feldlager und andere Sicherheitszonen), oder es sind Wohnviertel, in denen sich externe Akteure bevorzugt aufhalten. Im zweiten Fall entstehen oft isolierte Gebiete, die stark durch die Lebensgewohnheiten der externen Akteure geprägt sind. Auch die Konsummöglichkeiten passen sich diesen Umständen an. Nur wenige externe Akteure leben zwischen Einheimischen. Die Gründe dafür liegen oft in der Praxis der Mission: Im Kosovo werden nach einer Rotation oftmals Wohnungen weiterempfohlen, das Militär in Missionen lebt sowieso kaserniert bzw. in Feldlagern zusammen. Zusätzlich zu dem privaten Lebensraum sind viele Internationale natürlich besonders durch den Arbeitsort, nicht selten prominent und besonders gesichert gelegen, von lokalen Akteuren distanziert. Auch in der privaten Lebensgestaltung scheinen externe Akteure ausgewählte Restaurants, Bars etc. zu bevorzugen. Ganz deutlich ist zu beobachten, wie von Neuankömmlingen immer mehr bereits durch externe Akteure „ausgetretene Wege“ beschritten werden. Auch hier besteht eine Distanz zu lokalen Akteuren, die allenfalls als Servicepersonal auftreten. Auf die Interventionsgewinner wurde bereits eingegangen; sozialer Austausch zwischen den externen Akteuren und diesen Gewinnern ¿ndet regelmäßig statt, am Arbeitsplatz, in Häusern, in denen Internationale leben, in Geschäften und anderen Serviceleistungen, oder in der Gastronomie. Interne Akteure können hier

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durch Nähe zu den externen Akteuren nicht nur ökonomisch pro¿tieren, sondern gleichzeitig auch in anderen Feldern wie beispielweise Bildung: Junge Einheimische, die eine Fremdsprache erlernen, können durch Arbeit für externe Akteure, z. B. als Übersetzer, ein Vielfaches der lokal üblichen Löhne verdienen. Die Nähe zwischen Interventionsgewinnern und Internationalen fördert aber auch gegenseitige Abhängigkeit. Wie stark sich ökonomische Strukturen in einer Interventionsgesellschaft ändern, wenn die Haupteinnahmequelle, nämlich Einnahmen durch externe Akteure (z. B. Konsum, Infrastruktur, Dienstleistungsaufträge, Bildungsförderung etc.), ausbleiben, ist ein wichtiges Feld für zukünftige Forschung. Anzunehmen ist, dass verschiedenste Branchen mit deutlich weniger Einnahmen rechnen müssen. Nähe zu den externen Akteuren kann auch für lokale Akteure negative Folgen in den eigenen Gruppen haben: Lehnt das eigene Umfeld die Intervention ab, wird die Distanz von Interventionsgewinnern zu diesen Umfeld zunehmen. Im schlimmsten Fall werden Interventionsgewinner, wie angehende Polizistinnen und Polizisten, mit den externen Akteuren gleichgesetzt und zu Zielen von Gewalt, wie es in Afghanistan oder dem Irak regelmäßig zu beobachten ist. Doch auch Formen der sozialen Ächtung können Folge von Nähe zu externen Akteuren sein, wie folgendes Beispiel aus einer Stadt im Kosovo zeigt: Alleinstehende Frauen, die sich öffentlich mit externen Akteuren in ihrer Freizeit zeigen, müssen mit sozialer Ächtung und Abstempelung als eine Frau, die sich wie eine Prostituierte gegenüber den „Fremden“ verhält, fürchten. Interaktion in der Intervention – Zusammenfassung und Ausblick Der vorliegende Artikel will die sozialen Beziehungen der externen und internen Akteure und die Bedeutung ihrer Interaktion in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit der Diskussion und Forschung über Interventionen rücken. Anhand der vorgestellten drei Bedingungen der Interaktion soll aufgezeigt werden, wie kompliziert die alltägliche Ausgangssituation einer Intervention bei der Umsetzung von Politiken und Agenden tatsächlich ist. Akteure und ihr Handeln müssen sich durch die Erfahrungen und Bedingungen der Intervention verändern. Missionen können dabei auch schnell das Vertrauen der lokalen Bevölkerung verlieren. Die aktuellen Entwicklungen in Afghanistan geben hierfür ein ernüchterndes Beispiel.11 11 Siehe die Ergebnisse einer in Afghanistan durchgeführten Umfrage im Auftrag der TV Sender ARD, ABC und BBC: http://www.tagesschau.de/ausland/afghanistan772.html (Stand 11.02.2009) Die Umfrage des „Afghan Institute for Social and Public Opinion Research“ zeigt eine deutliche verschlechterte Wahrnehmung der Gesamtlage des Landes und der Intervenierenden. Im Vergleich zu 77 Prozent im Oktober 2005 emp¿nden im Januar 2009 nur noch 40 Prozent der Befragten dass die Entwicklung

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Interventionsgesellschaften verlieren anscheinend auch nach Jahren nicht ihren Ausnahme- und Krisencharakter. Nähe der Akteure und Verständnis für die Handlungen und Strukturen sind aufgrund der Fremdheit der Akteure grundsätzlich schon schwer zu leisten, durch die Rotation und Mobilität der externen Akteure ist eine Konsolidierung der Interventionsgesellschaft nur schwer möglich. Die Betrachtung der strategischen Ebene einer internationalen Mission greift daher ohne die Analyse der sozialen Dimensionen einer Intervention zu kurz. Ohne Sensibilität für die Bedeutung der Wahrnehmung gegenseitiger Fremdheit, von zeitlichen Dimensionen der Intervention oder von Fragen der Nähe und Distanz der Akteure können nur unzureichende und unvollständige Antworten auf die Fragen nach den Gründen der Probleme und Dilemmata von Missionen gegeben werden. Die Analyse der Interaktion kann verschiedenes leisten: Erstens ist wirkliches Verstehen von Problemen einer Intervention möglich, ebenso wie eine tiefgehende Analyse der Interventionsgesellschaft und der sozialen Beziehungen in dieser Gesellschaft. Zweitens können Interventionspraktiker durch die Betrachtung der Interaktion die eigene Rolle und das eigene Verhalten reÀektieren. Drittens ermöglicht diese Form der Analyse es auch, konkrete Vorschläge für die Zukunft einer Mission auszuarbeiten und Fehlervermeidungsstrategien zu entwickeln. Um nicht weiterhin den Fehler zu machen, die internen Akteure nur als ein entferntes Analyseobjekt zu betrachten, wäre besonders bei der Untersuchung von Interventionsgesellschaften eine Kooperation mit internen Akteuren dringend geboten. Sonst kann auch die Wissenschaft die gegenseitig Fremdheit und Distanz zwischen externen und internen Akteuren kaum überwinden. Literatur Blumer, H. (1969). Symbolic Interactionism. Perspective and Method. Englewood Cliffs, NJ: Prentice-Hall. Blumer, H. (1973). Der methodologische Standort des Symbolischen Interaktionismus, in: Arbeitsgruppe Bielefelder Soziologen, Alltagswissen, Interaktion und gesellschaftliche Wirklichkeit. Hamburg, Rowohlt. Bonacker, T. (2007). Der fragmentierte Frieden. Peacebuilding in der entgrenzten Weltgesellschaft, in: Zeitschrift für Genozidforschung 8,78–99.

ihres Landes in die richtige Richtung geht. Landesweit sieht einviertel der Bevölkerung die Verantwortung für die Gewalt bei den USA und der NATO/ISAF. 34 Prozent der Bevölkerung machen die Intervenierenden für zivile Opfer in ihrer Gegend verantwortlich. Die Arbeit der USA wird von 32 Prozent der Befragten als positiv beschrieben, im Oktober 2005 waren es 68 Prozent. Innerhalb von drei Jahren haben die Intervenierenden drastisch an Zustimmung in der Bevölkerung des Landes verloren.

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Israel, Palästina und militärisch unterstützte humanitäre Interventionen Gabriel Motzkin

Wenn wir an militärisch unterstützte humanitäre Interventionen denken, denken wir normalerweise an militärische Peacekeeping-Operationen wie sie die UN in den letzten 50 Jahren durchgeführt hat. In der Zeit vor den Auswirkungen des Zerfalls Jugoslawiens dachten wir zumeist, dass solche Operationen nur dann effektiv durchgeführt werden könnten, wenn es einen Frieden gab, der erhalten werden konnte. UN-Operationen schienen hingegen nicht erfolgreich zu sein, wenn ein KonÀikt noch aktiv ausgetragen wurde, wie beispielsweise im Libanon. Es gab aber auch eine ältere Tradition: UN-Operationen, die Kriegsoperationen waren. So war der Korea-Krieg of¿ziell eine UN-Operation, obwohl er in Wirklichkeit ein amerikanischer Krieg war. Diese Art von Operationen war seltener, weil es sehr schwierig war, einen Konsens für solche Interventionen herbeizuführen. Aber auch sie sind verwurzelt in der Geschichte der UN, die ursprünglich ein Zusammenschluss der siegreichen Alliierten des Zweiten Weltkriegs war. Die UN wurde als eine Organisation zur Kriegsführung gegründet; auf dieser Grundlage wurde sie in San Fransisco eine Organisation, die sich mit den Folgen von Kriegen beschäftigte. Zuletzt übernahm sie die Funktionen des Völkerbundes, der als moribunde Institution bis 1946 existiert hatte. Folglich ereignete sich die Innovation der Peacekeeping-Intervention erst später, vielleicht erstmalig in Kinshasa. Diese Intervention warf die Frage aus, ob die Operation Frieden herstellen sollte, wo noch kein Friede bestand; oder ob sie Frieden garantieren sollte, nachdem ein Waffenstillstand erzielt worden war. Die Möglichkeit, dass auch andere Organisationen als die UN Peacekeeping-Operationen ausführen, wurzelt in dieser Mehrdeutigkeit. Die Intervention in Bosnien war erfolgreich, weil sie als eine Operation entworfen worden war, die zugleich Frieden erhalten als auch Frieden herstellen sollte. Infolgedessen erlauben sich auch andere Institutionen als die UN, solche Interventionen durchzuführen. Interventionen in den KonÀikt zwischen Israel und Palästina, wie beispielsweise die UN-Mission auf den Golan Höhen und im Libanon oder die amerikanischen Truppen im Sinai, sind Interventionen, die Frieden erhalten und nicht herstellen sollen. Darüber hinaus sind sie oft nicht sichtbar für die lokale Bevölkerung, wie das Beispiel der UN-Kräfte auf den Golan Höhen zeigt.

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Jedoch gibt es noch eine andere Kategorie von Interventionen: eine, die der Welt einstmals vertrauter war, aber die heute nur noch selten vorzu¿nden ist. Diese Interventionsform kann als militärische Besatzung bezeichnet werden. Diese Art zeichnet aus, dass sie Enklaven entstehen lässt und ein determinierender Faktor in Bezug auf die lokale Bevölkerung ist: Der militärische Besatzer lebt immer in der geschlossenen Gesellschaft der Okkupationstruppen. Zugleich interagieren die Besatzer mit der lokalen Bevölkerung. Während es eine Menge Gesetze darüber gibt, wie eine solche Besatzungsmacht sich verhalten darf, ist heutzutage das Gefühl vorherrschend, dass solche Besatzungen illegal sind, wenn sie zeitlich verlängert werden. Die amerikanische Besatzung Deutschlands dauerte eine Dekade, bis sie von einer amerikanischen Nato-Präsenz ersetzt wurde, die wiederum zu einer alliierten Truppe umgebildet wurde. Der Effekt der Besatzungsmacht auf die lokale Bevölkerung nahm über die Jahre ab, während die Amerikaner weiterhin in ihren Enklaven als eigene Gesellschaft lebten. Enklaven sind oft als Enklaven der Verfolgten analysiert wurden, wie beispielsweise die Ghettos der Juden in Osteuropa. Besatzer werden selten als Enklaven-Gesellschaft wahrgenommen. Der Grund dafür liegt darin, dass gemeinhin angenommen wird, dass im Kampf um soziale Dominanz die Besatzer über die Besetzten gewinnen. Dementsprechend werden die normannischen Eroberer des angelsächischen Englands nicht als Enklaven-Gesellschaft verstanden. Eher wird die Gesellschaft der Mehrheit als bedroht angesehen. Heutzutage haftet jedoch der Gesellschaft der Besatzer die Aura der Unbeständigkeit an, weil es nur wenige historische Beispiele gibt, dass die Besatzer sich kulturell und sozial gegen die Besetzten durchsetzen konnten. Der Prozess der Entkolonialisierung heißt, dass die meisten Eroberungen der letzten 200 Jahre nicht erfolgreich waren, im Unterschied zu den meisten Eroberungen in der vorherigen Geschichte. Es gab zwar immer schon einzelne Beispiele für nicht erfolgreiche Eroberungen – z. B. die Hyksos in Ägypten oder die Kreuzzüge –, aber gewöhnlich wurden die Besatzungstruppen nicht in einer Rebellion der Eroberten abgelöst, sondern eher von einer späteren Eroberung durch andere erobernde Mächte. In der heutigen Welt sind erfolgreiche Eroberungen einer fremden Macht kaum zu ¿nden. Das einzige Beispiel, das einem in den Sinn kommt – mit der Ausnahme des einen Falls, den wir gleich diskutieren werden –, ist die Besatzung von Teilen Azerbaijans durch Armenien, und diese Intervention war unternommen worden, um die dort lebende armenische Bevölkerung zu beschützen. Man kann sich aber auch eine andere Art von Intervention vorstellen, in der Form, wie sie oben bereits erwähnt wurde, und die von der amerikanischen Intervention in Afghanistan repräsentiert wird, also in einer Form, die eine Verlänge-

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rung der Peacekeeping Operationen der Nachkriegszeit sind. Diese Operationen sind jedoch dadurch gekennzeichnet, dass sie nur temporär sind: Sie sind nicht als Eroberungen gedacht. Dementsprechend sind die Interaktionen mit der lokalen Bevölkerung in der Regel auf ein Minimum begrenzt, denn schließlich gibt es keinen zwingenden Grund für die Besatzungstruppen mit der lokalen Bevölkerung zu interagieren. Bis jetzt haben wir zwei Typen von militärischer Intervention untersucht: Interventionen, die Frieden herstellen oder erhalten sollen, und die Konsequenz zeitlich begrenzter Besatzung. Der andere Typus sind die Formen von Eroberungen. Diese beinhalten: das Verdrängen der lokalen Bevölkerung, das Einbringen von Siedlern und das Errichten einer lokalen Kolonie durch das Besetzthalten der lokalen Bevölkerung. Manchmal beginnen diese Operationen ohne eine militärische Intervention (beispielsweise im Fall wirtschaftlicher Enklaven oder Siedlungstätigkeit ohne militärischen Schutz), aber irgendwann benötigen sie fast immer die militärische Intervention einer externen Macht. Es gibt auch Fälle, die alle diese verschiedenen Charakteristiken aufweisen. Mit diesem Set an Kategorien können wir uns dem KonÀikt zwischen Israel und Palästina zuwenden. Israel besetzte ursprünglich die West Bank und den Gazastreifen als Folge des israelischen Siegs im Krieg. Zu dieser Zeit war nicht klar, was der Zweck der Besatzung sein würde. Die wichtigste Erklärung war, dass die Besatzung solange andauern würde, bis die arabischen Staaten, also Ägypten und Jordanien, zu einem Friedenschluss bereits sein würden. Die Idee war, dass Israel sich aus den besetzen Gebieten wieder zurückziehen würde, aber in gewissen Regionen die Grenzen neu gezogen werden würden. Dementsprechend wurde die lokale Bevölkerung aus drei arabischen Dörfern vertrieben. Angestrebt war, dass dieser Landstrich permanent ein Teil Israels bleiben würde. Analog dazu begann Israel, die Stadt Kalkilya zu zerstören, lenkte aber auf Druck der USA ein. Entscheidend ist hierbei, dass diese drei Dörfer anschließend nicht von Israelis besiedelt wurden; sie wurden entvölkert. Folglich stellt ein kleiner Teil des israelischen Verhaltens einen klaren Fall von Vertreibung der lokalen Bevölkerung dar. Schon bald nach dem Krieg begannen kleine Gruppen von Israelis davon zu träumen, die Westbank zu besiedeln, die sie als wesentlichen Teil des historischen jüdischen Heimatlands ansahen. Es ist wichtig zu betonen, dass die israelische Regierung zunächst gegen diese prospektiven Siedler eingestellt war – wenngleich der Widerstand nicht sehr stark war. Erst später unterstützte die Regierung die Siedlungspläne. Demzufolge ist der Siedlungsgedanke ein der Intervention nachgeordnetes Phänomen. Schließlich, nach einiger Überlegung, entschloss sich Israel, Palästina in die israelische Wirtschaftszone einzugliedern. Weil Israel hohe Tarife hatte und Palästina niedrige, entstand ein künstlich verknappter Markt für israelische Güter.

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Diese Situation sollte nicht als Kolonialismus bezeichnet werden: Was dadurch entstand, war keine Kolonie, sondern ein Satellitenstaat. Palästina trug sehr wenig zur israelischen Wirtschaft bei; Israels Wirtschaft trug hingegen stark und mit Pro¿t zur palästinensischen bei. Um es zusammenzufassen: Wenn wir Palästina als Land analysieren, das von einer Eroberung bedroht ist, dann sehen wir weniger eine Kolonie als eine Situation, in der die lokale Bevölkerung von Vertreibung oder von Verdrängung durch Siedler bedroht ist. Die Israelis verstanden ihr Handeln auf eine andere Weise. Das lag daran, dass sie ihre Besatzung unter dem Aspekt einer militärischen Besatzung verstanden, als Teil einer friedenserhaltenden Operation, und es sollte erwähnt werden, dass sie die palästinensische Bevölkerung als Subjekte einer militärischen Besatzung behandelten. Folglich neigten die Israelis dazu, diejenigen Aspekte ihrer Politik zu ignorieren, die ein Gefühl potentieller Vertreibung hervorrufen konnten. Die Israelis verbrachten viel Zeit damit, über die gesetzlichen Rahmen einer Besatzung nachzudenken, und sie betrachteten sich tatsächlich, zumindest bis zur ersten Intifada, als humane Besatzer. Zudem lebten die Besatzungstruppen in einer klassischen Enklaven-Situation. Sie hatten wenig Kontakt mit den Menschen in den besetzten Zonen. Fraternisierungen, d. h. sozialer Kontakt zwischen Besatzern und Besetzten unterschiedlichen Geschlechts, kamen nicht vor. Die Armee lebte in eigenen Camps, aus denen sie sich nur herauswagte, um Steuerungsfunktionen auszuüben und beispielsweise Cafés zu besuchen. Die Israelis zeigten auch die normale Paranoia von Besatzungstruppen in feindlichen Ländern und verließen ihre Camps mit stetig zunehmender Besorgnis. Der soziale Kontakt mit den Siedlern war ebenfalls nicht intensiv, vor allem weil Israel ein kleines Land ist und die Besatzer bei jeder sich bietenden Gelegenheit nach Hause zurückkehrten. Der entscheidende Punkt hierbei ist, dass deswegen die israelische Besatzung das Verhalten und die Symbole einer militärischen Besatzung beibehielt, lange nachdem sie aufgehört hatte, eine rein militärische Besatzung zu sein. Palästina war also weder eine Kolonie noch in das Land der Besatzer eingemeindet, so wie Algerien oder Ost-Jerusalem, sondern eher eine militärische Besatzung mit einer Siedlerpopulation. Die direkte Analogie besteht hier zu der amerikanischen Inanspruchnahme des Westens, wo die Armee die amerikanischen Ureinwohner beherrschte und Siedlungstätigkeit gefördert wurde, allerdings mit dem signi¿kanten Unterschied, dass die Amerikaner sehr viel grausamer zu den Ureinwohnern waren und viele von ihnen umbrachten, und dass es sehr viel mehr amerikanische Siedler gab als es heute israelische gibt. Die Amerikaner institutionalisierten eine Form der scheinbaren Autonomie für die eingeborene Bevölkerung, die Indianreservate genannt wurde und in welchen die amerikanischen Ureinwohner vorgeblich souverän waren. Wie auch in anderen Fällen, erlaubt es diese Souveränität den Amerikanern,

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den Ureinwohnern grundlegende Rechte, wie sie die Verfassung vorschreibt, zu versagen. Doch weil die Siedler siegreich waren, ist dieser Aspekt der amerikanischen Geschichte heute fast ausgelöscht. Von den beiden sozialen Gruppen, die Eingeborenen und die Soldaten, haben die Eingeborenen in einen beschützen Status überlebt, während die Enklaven-Gesellschaft der Soldaten nur noch in Romanen und Kino¿lmen fortbesteht. In anderen Worten: In der Situation von Interventionen ist die Gesellschaft der Besatzer die mehr gefährdete, nicht die die Eingeborenen oder der Siedler. Es ist dann naheliegend zu erwarten, dass das Ausmaß an Paranoia in dieser Gesellschaft am höchsten ist, wenn ihre Situation eine befristete ist, sogar wenn es einer permanente „befristete“ ist. Im Gegensatz dazu haben die Siedler eine Stabilität, die ihnen durch ihr Vorhaben gewährt wird. Wie die Siedler im Gazastreifen nehmen sie die Instabilität ihrer Situation nicht wahr, weil keine Gesellschaft den Siedlern als denkbarer Ersatz erscheint. Zudem emp¿nden sich die Siedler als Eingeborene – das ist ja der Punkt am Dasein als Siedler. In Fall der Israelis wird dieses Selbstverständnis als Eingeborene durch einen Rekurs auf biblische Geschichte und Vorstellungswelten gestärkt. Es ist höchst bedeutsam, dass die Siedler die Siedlungsbewegung als eine Rückkehr zu ihrem Heimatland begreifen. Dieses Gefühl wird auch noch von der jüdischen Religion bestärkt, in der das Versprechen des Lands dem Versprechen der Erlösung im Christentum funktional gleichwertig ist (siehe Exodus, III). Folglich kann der KonÀikt zwischen Siedlern und der ursprünglichen Bevölkerung als Kampf um Herkunft verstanden werden. Siedler sind unwillig, sich selbst als Kolonisten zu sehen. In dem speziellen Fall hier, sehen die israelischen Siedler die Palästinenser als Kolonisten. Dementsprechend klar ist die Struktur des KonÀikts zwischen diesen beiden Gruppen: Es ist ein Nullsummenspiel, in dem die eine Seite nur das gewinnen kann, was die andere Seite verliert. Wie bereits erwähnt, macht die Anwesenheit der Armee jedoch aus der Situation eine Dreierkonstellation. Obwohl sich Siedler und Armee ein Stück weit miteinander identi¿zieren, gibt es auch mehr als nur kleine Spannungen, denn die Interessen der Armee als Besatzungsmacht sind nicht identisch mit denen der Siedler und die Armee lebt in ihrer eigenen Enklave. Gegenüber den Palästinensern verhält sich die Armee paranoid und gegenüber den Siedlern ein wenig schizophren. Was ist mit den Palästinensern? Die Palästinenser tendieren nicht ganz ohne Grund dazu, sich gegenüber den Siedlern paranoid und gegenüber der Armee schizophren zu verhalten. Der Grund dafür ist, dass auch sie die Armee als temporäre Macht begreifen und die Siedler als permanente. Infolgedessen gibt es ihn ihrer Vorstellung eine Situation, in der die Armee sich zurückzieht. De¿nitionsgemäß würde ein Rückzug der Siedler bedeuten, dass man sie enteignen müsste. In anderen Worten, Paranoia steht in einem Zusammenhang mit dem Ausmaß des Wun-

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sches, die Quelle zu eliminieren, die die Paranoia verursacht. Paranoia entsteht nicht aus dem Wunsch nach Frieden. Aber es gibt noch ein tieferes Motiv für die palästinensische Schizophrenie: die Ungleichheit zwischen ihren Sehnsüchten und ihrer Situation ist extrem groß. Dieses Verhältnis kennzeichnete einst die Diaspora der Juden, aber die Juden fanden einen Weg, diese extreme Ungleichheit zu überbrücken, indem sie die vorherrschende Situation als eine temporäre ansahen und sich nach einer Situation sehnten, die als irreal verstanden wurde. In anderen Worten: Sie meisterten die Ungleichheit zwischen Wünschen und Wirklichkeit, indem sie eine negative Synthese zwischen einer zurückgewiesenen Gegenwart und einer irrealen Zukunft schufen, die auf einer fortlaufend wieder erlebten Vergangenheit basierte. Die Palästinenser weisen die Gegenwart ebenfalls zurück, aber sie haben noch nicht eingesehen, dass ihre vorgestellte Zukunft irreal ist. Deswegen können sie nicht eine Verbindung zwischen Vergangenheit und Gegenwart herstellen. Entsprechend leben sie immerfort abwechselnd in der Vergangenheit und in der Gegenwart: Ihre Reaktionen und Handlungen sind folglich widersprüchlich, weil manche einen Beigeschmack der Vergangenheit haben und manchen einen Beigeschmack der Gegenwart, und das macht sie schizophren. Diese Schizophrenie ist jedoch eine Verteidigung gegen eine Paranoia, die sich entwickeln würde, sollten sie die Unwirklichkeit ihrer vorgestellten Zukunft akzeptieren. Ob Schizophrenie oder Paranoia schlimmer ist, ist eine offene Frage. Gewiss können paranoide Gesellschaften produktiver sein, sowohl kulturell als auch ökonomisch, als schizophrene Gesellschaften. Dazu sollte man noch einen Faktor hinzufügen, nämlich die Art und Weise, in der der Andere vorgestellt wird. Solche imaginären Konstruktionen mögen reziprok sein oder auch nichts miteinander zu tun haben. Ohne empirische Forschung sind Überlegungen zu diesem Thema notwendig spekulativ. Dennoch, wie die Streitparteien die anderen sich vorstellen, de¿niert die anderen. Darüber hinaus müssen solche imaginären Bilder nicht auf eine gesicherte Datenlage beziehen. Palästinenser und Israelis mögen wenig voneinander wissen, aber dennoch verhalten sie sich so, als wüssten sie genau Bescheid. Die Palästinenser glauben, dass sie einer militärischen Intervention ausgeliefert sind. Sie beziehen sich auf diese militärische Intervention mit einer Mischung aus Feindseligkeit und Funktionalismus. Die Israelis hingegen sind sich nie so recht sicher, ob sie eine Besatzungsmacht sind. Zum Teil ist die Besatzung undeutlicher geworden durch die Siedlungen. Zum Teil ist Palästina nicht recht ein Nationalstaat mit de¿nierten Grenzen, weswegen nicht eindeutig klar ist, dass Palästina besetzt ist. Diese Situation ist sogar noch verschärft worden, seitdem Palästina in verschiedene Regionen unterteilt wurde, die manchmal unter palästinensischer Herrschaft und manchmal unter israelischer Kontrolle sind. Diese internen Grenzziehungen bedeuten, dass aus der

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Sicht der Besatzungsmacht Zone A, palästinensisch kontrolliert, nicht besetzt ist, weil dort keine Truppen der Besatzungsmacht stationiert sind, weswegen die Grenze zu Zone A eine wirkliche Grenze ist; und dass Zone C, vollständig unter israelischer Kontrolle, auch nicht „richtig“ besetzt ist, weil sie hochgradig in das Gebiet Israels inkorporiert ist. In anderen Worten: Der Oslo-Friedensprozess hat die Besetzung beendet, auch wenn die Denkgewohnheiten und Verhaltensweisen, die zuvor eingeschliffen worden waren, fortbestehen. Die mentale Wirklichkeit ist die mentale Wirklichkeit der Prä-Oslo-Zeit, während die physische Wirklichkeit eine andere ist. Zuletzt hat die Entwicklung einer indigenen Gruppe auf der palästinensischen Seite, die mit der Selbstverwaltung einiger palästinensischer Gebiete beauftragt ist, die Situation verändert: Während zuvor die Palästinenser die Situation der Israelis nicht wahrgenommen hatten, nehmen die Israelis seit Oslo zunehmend die Palästinenser nicht mehr wahr, weil die meisten Palästinenser sich nun nicht mehr wie zuvor unter direkter israelischer Kontrolle be¿nden. Diese Selbstvergessenheit angesichts einer realen Situation lässt den Anderen, also die Palästinenser, noch imaginärer werden. Die Konsequenz daraus ist, dass der Zweck der Intervention und auch der Reaktion auf die Intervention nicht ist, Frieden herzustellen oder zu erhalten, sondern vielmehr den Status quo zu erhalten. Die Besatzung hat nicht länger einen externen Zweck; ihr Zweck ist nur die Konsequenz ihrer Existenz. Teilweise ist eine solches Ergebnis in der Natur von humanitären Peacekeeping Operationen angelegt, die auch weitergehen, ohne zu berücksichtigen, ob es einen Zeitpunkt gab, an dem die Operation ihren eigentlichen Zweck schon erfüllt hatte. An diesem Punkt der Entwicklung ergibt sich eine Situation, in der beide Parteien nicht mehr länger verstehen, warum sie an den Positionen festhalten, die sie innehaben, aber alle Seiten haben ein Gefühl, dass es negative Auswirkungen hätte, wenn man irgendeine Position aufgeben würde. So können die Palästinenser nicht ihr Recht auf Rückkehr aufgeben, obwohl diese Forderung aus der palästinensischen Perspektive illusorisch ist, und die Israelis können nicht von der Vorstellung ablassen, dass die Besatzung notwendig ist, um die Sicherheit ihres Staats und ihrer Gesellschaft zu gewährleisten, was eine wenigstens fragwürdige Schlussfolgerung ist. Die Realität der Siedlungen entzieht der Besatzung ihre Bedeutung als Besatzung, trotzdem versteht die militärische Enklave die Intervention nicht als ein Unternehmen, das zugunsten der Siedlungen besteht, sondern als Besatzung. Es bleibt die Frage, ob diese Situation nur den KonÀikt zwischen Israel und Palästina kennzeichnet oder ob sie allen Interventionen dieser Art zueigen ist. Unsere Antwort ist, dass dieser KonÀikt davon geplagt ist, dass diese beiden Ebenen vermischt und verwechselt werden. Die Wirklichkeitsprobleme aller Interventionen verstärkten den Stillstand im NahostkonÀikt, und der KonÀikt zwischen Israel

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und Palästina zeigt, dass die Art und Weise, in der solche Interventionen wahrgenommen werden, nicht angemessen für alle KonÀikte sein könnten. Diese letzten Schlussfolgerungen haben Auswirkungen auf jede zukünftige militärische Intervention der UN oder der NATO im NahostkonÀikt. Meiner Auffassung nach würde ein solche Intervention eine noch bizarrere und phantastischere Situation entstehen lassen, weil sie die Interaktionen zwischen mehreren Vorstellungsinseln vervielfachen würde, ohne die Möglichkeit zu haben, die Wirklichkeit des KonÀikts anzugehen. Das heißt in anderen Worten, dass jede Intervention der KonÀiktlösung nachfolgen sollte, um Frieden zu erhalten, weil jede Intervention nur die lokalen Pathologien anreichert. Eine solche Intervention wird lange dauern, und sie wird zur Folge haben, dass die intervenierenden Truppen von den lokalen Pathologien angesteckt werden.

EinÀuss der NATO-Bombardements 1999 auf den Regimewechsel in Serbien 2000 Silvia Nadjivan

Der vorliegende Beitrag ist als Diskussionspapier konzipiert, wobei er an Thorsten Bonackers Plädoyer anknüpft, in der Forschung „sowohl die Makro- als auch die Mikroperspektive“ (Bonacker, 2008, S. 4 f.) zu verbinden. So wird hier auch dessen Feststellung aufgegriffen, dass gerade die Mikroperspektive, die bisher in der Forschung zu „humanitären Interventionen“ vernachlässigt wurde, „in Einzelfallstudien zu spezi¿schen Aspekten des PostconÀikt-Peacebuilding“ (ebd.) zum Tragen kommt. Denn das Problem der Makroperspektive ist laut Bonacker, dass die Frage ausgeblendet bleibt, „welche Mechanismen der Vergesellschaftung und Vergemeinschaftung sich in Interventionsgesellschaften herausbilden“ – nämlich: „was in diesen Gesellschaften an lebensweltlicher Strukturbildung, an Interaktionsmustern und KonÀikten zwischen den Intervenierenden und den Intervenierten passiert“ (ebd., S. 5). Genau diesen Interaktionsmustern und KonÀikten soll im Weiteren nachgegangen werden. Ebenso wie Bonacker sieht auch Jan H. Free (2008, S. 19) in der mikrosoziologischen Methode die Möglichkeit, Erzählungen von AkteurInnen1 zu analysieren. So betont Free, dass bisher nicht die Praxis der AkteurInnen untersucht wurde, um Möglichkeiten der KonÀiktbeilegung zu erkennen. „Die naive Frage: Was passiert eigentlich“, hat laut Free bei „der Erforschung von Interventionen“ durchaus „noch ihre Berechtigung.“ (ebd.) Und hier – so Free weiter – hilft Pierre Bourdieus Sichtweise, „die Interventionsgesellschaft als Ganzes im Blick zu behalten. Bourdieu löst Gesellschaft nicht in Individuen auf, sondern in Relationen zwischen Individuen“ (ebd., S. 20), wie noch weiter ausgeführt wird. Richtungsweisend für den vorliegenden Beitrag ist daher Frees Anspruch an zukünftige mikrosoziologische Forschungsarbeiten „nach Bourdieus Vorbild … die objektiven Strukturen dieser zahllosen Beziehungen von Intervenierenden und Intervenierten herauszuarbeiten.“ (Ebd.)

Obwohl meistens von männlichen Entscheidungsträgern die Rede ist, wird in diesem Beitrag bewusst die geschlechtsneutrale Formulierung verwendet. Schließlich fungiert auch Sprache als „Feld“ für (Be-)Deutungskämpfe rund um De¿nitionsmacht.

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Die Begriffe „Interventionsgesellschaft“, „Intervenierende“ und „Intervenierte“ werde ich zunächst hinsichtlich ihrer Anwendbarkeit überprüfen; danach werde ich die NATO-Bombardements auf die Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) 1999 „aus der bottom-up-Sicht“ (Bonacker, 2008, S. 6) beleuchten, um auf diese Weise die Mikro- mit der Makroperspektive zu verknüpfen. Schließlich stelle ich grundsätzliche Fragen zu Vorbedingungen und Folgeerscheinungen von militärischen Interventionen. Den theoretischen Rahmen bildet dabei Pierre Bourdieus Ansatz zum „politischen Feld“. Zu den Begriffen „Interventionsgesellschaft“, „Intervenierende“ und „Intervenierte“ Laut Michael Daxner bilden die „Intervenierenden“ und die „Intervenierten“ gemeinsam – „physisch und kulturell“ – die „Interventionsgesellschaft“, „und zwar auf dem geographischen Gebiet der Letzteren“ (Daxner, 2008, S. 12). Die AutorInnen Jan H. Free, Maike Schüßler und Ursula Thiele de¿nieren „Interventionsgesellschaft“ außerdem als „Zusammentreffen von Intervenierenden und Intervenierten, in der soziale Gruppen und Akteure nicht über dieselben Möglichkeiten und Ressourcen verfügen“ (Free & Schüßler & Thiele, 2008, S. 40). „Diese Ausstattungsunterschiede an sozialem, kulturellem, symbolischem und ökonomischem Kapital (Bourdieu)“ – so die AutorInnen weiter – „bestimmen die Topographie des sozialen Raums“ (ebd.). Damit führen diese Ausstattungsunterschiede zu Regeln des Verhaltens, Kommunizierens in einer bestimmten sozialen Konstellation (ebd.). Nicht zu vergessen sind dabei die sozial konstruierten (und teils gegensätzlichen) Interessen der unterschiedlichen AkteurInnen innerhalb der Interventionsgesellschaft. Bezogen auf das NATO-Bombardement auf die BR Jugoslawien bzw. konkret auf Serbien im Jahr 1999 würde dieser Ansatz bedeuten, dass der soziale Raum der „Interventionsgesellschaft“ in Serbien unterschiedlich positionierte und ausgestattete AkteurInnen mit teils gegensätzlichen Interessen umfasste: „Intervenierende“ wären demnach so genannte ‚internationals‘ – nämlich internationale politische, militärische, ‚zivilgesellschaftliche‘ AkteurInnen wie RepräsentantInnen von EU, OSZE, UN und von nationalen Regierungen, NATO-Führung, NATO-Einheiten wie auch internationale zivilgesellschaftliche AkteurInnen und NGO-VertreterInnen. „Intervenierte“ wären demnach so genannte ‚locals‘ (Slobodan Miloševiü und seine Gefolgsleute, Regimeparteien, regimetreue Medien, Polizei und Armee als Teil des Machtapparates wie auch oppositionelle PolitikerInnen, Medienleute, NGO-AktivistInnen sowie die breite, meist nicht politisch oder ‚zivilgesellschaftlich‘ aktive Bevölkerung.

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„Intervenierende“ sind – so die AutorInnen Free, Schüßler und Thiele – vom ersten Tag der Intervention an ein konstitutiver Bestandteil der Interventionsgesellschaft. Beide Gruppen, „Intervenierende“ und „Intervenierte“ bildeten eine gemeinsame Gesellschaft und teilten folglich einen gemeinsamen sozialen Raum, wobei in diesem Raum durch die Intervention die „Spielregeln“ (ebd.) geändert würden. In Verbindung mit transformierten Bedeutungszuschreibungen und Rahmenbedingungen verändern sich eigene Positionen in der „neuen“ Gesellschaft. (Ebd.) Diese Ausführungen lassen mehrere Fragen aufkommen, wobei zunächst der Begriff „Intervention“ kritisch hinterfragt wird: In Anlehnung an die PolitologInnen Jörg Becker und Mira Beham wird hier davon ausgegangen, dass seit dem Kosovo-Krieg in vorherrschenden öffentlichen Debatten der „gerechte Krieg“ wieder ‚salonfähig‘ geworden ist – und zwar mit dem Anspruch, die „humanitäre Intervention“, wie beispielsweise den NATO-Einsatz in Jugoslawien 1999 und in Afghanistan 2001, propagandistisch zu legitimieren. (Becker & Beham, 2006, S. 64 f.) Auch die Friedensforscher Wolf-Dieter Narr und Andreas Buro betonen, dass „der ‚Westen‘ Menschenrechtsverletzungen je nach seinen eigenen Interessen begeht oder übersieht“. Durch bewusste Ausblendungen werde ein „Mythos von der humanitären militärischen Intervention“, verbunden mit der Vorstellung vom „gerechten Krieg“ kolportiert. (Narr & Buro, 1999, S. 21; zit. n. Schütz, 2003, S. 4) Den Begriff „humanitäre Intervention“ relativiert die Politikwissenschaftlerin Cathrin Schütz außerdem durch ihren Verweis auf die Flüchtlingspolitik der NATO-Staaten während der 78-tägigen Bombardements: Anstatt „die zügige Aufnahme von KriegsÀüchtlingen voranzutreiben“, demaskierte das Feilschen um die Verteilungsfrage sowie das Ausbleiben humanitärer Hilfe (wie Lebensmittellieferungen, Zelte, medizinischer Versorgung usw.) „das offensichtliche Unvorbereitetsein“ (Schütz, 2003, S. 17) der NATO-Staaten auf die durch den Einsatz entstandenen Folgen wie beispielsweise die durch das Bombardement ausgelösten Flüchtlingsströme. Beim Begriff „Intervention“ handelt es sich also wie bei „West-Balkan“ von einem politisch konstruierten Begriff, der erst später in die Sozialwissenschaften transportiert worden ist. So erschien der terminus technicus „West-Balkan“ im Rahmen des 1999 geschaffenen Stabilisierungs- und Assoziierungsprozesses (SAP), um jugoslawischen Nachfolgestaaten (ohne Slowenien und inklusive Albanien) eine EU-Beitrittsperspektive zu signalisieren. (Bieber, 2008, S. 407) Der Begriff „Intervention“ ist ebenfalls kein ursprünglich politikwissenschaftlicher, sondern politischer, der von politischen EntscheidungsträgerInnen geprägt wurde und ideologisch aufgeladen ist. Um kein Missverständnis aufkommen zu lassen, betone ich an dieser Stelle, dass ich mit der Verwendung des Begriffs „Interven-

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tion“, diese als militärische Maßnahme nicht automatisch befürworte, sondern als ein Synonym für Krieg verstehe. Zentrale Fragestellung Nun zu den offenen Fragen: Von welchen internationalen AkteurInnen ist bei der Bezeichnung „Intervenierende“ nun konkret die Rede – von UN-, EU-, OSZERepräsentantInnen oder NATO-Einheiten? Hier ist es angebracht, Intervenierende begrifÀich zu spezi¿zieren und gemäß Bourdieus Feld-Begriff zu kategorisieren. Wann beginnt eine militär-gestützte humanitäre Intervention? Am ersten Tag des militärischen Eingriffs, der NATO-Bombardements am 24. März 1999, oder schon früher, im Zuge diplomatischer Verhandlungen, wie beispielsweise bei den Verhandlungen zum (letztlich gescheiterten) Vertrag von Rambouillet im Februar und März 1999? Oder sollte der Beginn der Intervention noch früher angesetzt werden, nämlich an dem Tag, als erstmals in der internationalen Öffentlichkeit NATO-Bombardements in Erwägung gezogen wurden, um der Gewalt des Miloševiü-Regimes gegenüber albanischen Rebellen und vor allem gegenüber der albanischen Zivilbevölkerung im Kosovo ein Ende zu setzen? Diese internationale Debatte konnte nämlich vom Miloševiü-Regime dazu genutzt werden, aufgrund der „äußeren Bedrohung“ im Oktober 1998 den Ausnahmezustand auszurufen und ein neues restriktives Informationsgesetz zu verabschieden, das durch drakonische Geldstrafen regimekritische Medienarbeit nahezu unmöglich machte (Antoniü, 2002, S. 441–445). So gesehen wären RepräsentantInnen der NATO-Staaten bereits 1998 konstitutiver Bestandteil der Interventionsgesellschaft in Serbien gewesen. Daran knüpfen auch die folgenden Fragen an: Wie sind die 1992 verhängten und mehrmals verschärften politischen und wirtschaftlichen UN-Sanktionen gegen die BR Jugoslawien, gefolgt vom NATO-Einsatz in Bosnien-Herzegowina 1995, im Zusammenhang mit der „humanitären Intervention“ 1999 zu begreifen? Welche Faktoren bestimmen die Entstehung einer Interventionsgesellschaft direkt, welche können zu den Vorbedingungen dieser gezählt werden? Wie ist die internationale Anerkennung der Unabhängigkeit der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien seit Dezember 1991 und Bosnien und Herzegowina 1992 hier zu verorten? Haben nicht bereits diese Maßnahmen auf internationaler Ebene (Anerkennung staatlicher Souveränität, UN-Sanktionen, UN- und NATO-Einsätze) die „Spielregeln“ in Serbien verändert? Kann die internationale (nicht unumstrittene) Anerkennung der am 17. Februar 2008 einseitig verkündeten Unabhängigkeit des Kosovo als Teil oder als Folgeerscheinung der Interventionsgesellschaft in diesem Raum betrachtet werden?

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Eliten, Krieg, Kriegsökonomie Die Kriege auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien während der 1990er Jahre weisen laut Peter Imbusch (2006, S. 221) sehr komplexe KonÀiktstrukturen auf, wobei durch ihre innere Dynamik „die eigentlichen KonÀiktursachen“ und der „genuine… KonÀiktgegenstand“ nicht mehr klar zu erkennen sind. Darüber hinaus änderte sich parallel zu den Kampfhandlungen der „Charakter des KonÀikts“ dahingehend, dass sich aus „einem binnenstaatlichen KonÀikt“ bald ein „internationaler KonÀikt“ entwickelte – und zwar infolge von Staatszerfallsprozessen und der international anerkannten Unabhängigkeitserklärungen der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken (ebd.). Nach der staatlichen Eigenständigkeit von Slowenien und Kroatien seit Dezember 1991 und Bosnien und Herzegowinas seit 1992 blieb von der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien (SFRJ) als „Restjugoslawien“ die Bundesrepublik Jugoslawien (BRJ) zurück. Der internationalen Anerkennung von Sloweniens und Kroatiens Unabhängigkeit (u. a. seitens Deutschlands und Österreichs im Dezember 1991 und der EG im Jänner 1992) folgten bald politische und wirtschaftliche Sanktionen seitens OSZE, EG/EU und UNO gegenüber der Bundesrepublik Jugoslawien (bestehend aus Serbien, Kosovo und Montenegro). Diese Sanktionen wurden in den Folgejahren mehrmals verschärft, sodass die serbische/jugoslawische Regierung bald mit einem internationalen Handels- und Kreditembargo konfrontiert war. Die Verhängung von Sanktionen und Wirtschaftsembargo führte jedoch nicht zu den gewünschten Resultaten wie rasches Kriegsende und Sturz des Miloševiü-Regimes. Im Gegenteil, zum einen solidarisierte sich die Bevölkerungsmehrheit in Serbien aufgrund der gemeinsamen äußeren Bedrohung mit dem eigenen Regime (ebd., S. 241), zum anderen hatte sie aufgrund von Wirtschaftskrise, HyperinÀation – bis zu 35 Milliarden Prozent im Jahr 1993 (Antoniü, 2002, S. 25) – und dem täglichen existentiellen Kampf größtenteils keine Zeit und notwendigen Ressourcen, sich oppositionell zu betätigen und zu organisieren (ebd., S. 167). So wurde die Herrschaft des Miloševiü-Regimes über längere Zeit mit geringen Kosten gesichert, nicht obwohl, sondern weil2 die Bevölkerungsmehrheit am Existenzminimum lebte. (Nadjivan, 2008, S. 73) Es spricht einiges dafür, die Analyse von Interventionen schon vorher anzusetzen. Zu klären gilt dann, ab wann internationale AkteurInnen als „Intervenierende“ zu bezeichnen sind: Ist es der Zeitpunkt der international anerkannten oder nicht anerkannten Unabhängigkeit ehemals jugoslawischer Teilrepubliken? Ist es der Zeitpunkt, wenn entweder erstmals politische und wirtschaftliche Sanktionen verhängt oder wenn der erste NATO-Einsatz beschlossen wird? 2

Diese Behauptung ist in Anlehnung an Heinrich Popitz (1992, S. 101) formuliert.

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So half das 1992 gegenüber BR Jugoslawien verhängte UN-Handelsembargo den kriegsführenden Eliten, die inzwischen in Kroatien und Bosnien und Herzegowina durch Gewalt und Raub lukrative Einnahmequellen gefunden hatten, sich im blühenden Schwarzmarkthandel zusätzlich zu bereichern. Dieses Embargo wurde nach der Unterzeichnung des Dayton-Vertrags 1995 gelockert und mit dem Gewaltausbruch im Kosovo 1998 wieder verschärft. Erst nach dem Regimewechsel in Serbien 2000 wurde dieses Embargo endgültig abgeschafft. In diesen acht Jahren Embargo konnten lebenswichtige Güter in Serbien weiterhin erworben werden, allerdings am Schwarzmarkt und zu überhöhten Preisen, wovon vorwiegend regimenahe paramilitärische und kriminelle Kreise und schließlich die Machtelite selbst pro¿tierten (Kanzleiter, 2003, S. 104). Die dreizehnjährige autoritäre Herrschaft des Miloševiü-Regimes war insgesamt charakterisiert von einer Aushöhlung staatlicher Institutionen, laufenden Staatszerfallsprozessen, Kriegen, Kriegsökonomie, UN-Sanktionen, internationaler Isolation, Wirtschaftskrise, Kriminalität und Korruption. In diesen Jahren bereicherten sich kriminelle Kreise rund um die Machtelite, während die Bevölkerungsmehrheit im Zuge von Wirtschaftskrise und HyperinÀation verarmte. Das heißt innere Angelegenheiten in Serbien wurden seit Anfang der 1990er Jahre von außen – von konkreten internationalen AkteurInnen – bestimmt. Als internationale AkteurInnen (EntscheidungsträgerInnen von EU, UNO und nationalstaatlichen Regierungen) erkannten, dass die politischen und wirtschaftlichen Sanktionen nicht die gewünschten Erfolge (wie den Regimesturz in Serbien) brachten, setzten sie auf Verhandlungsdiplomatie und KonÀiktmanagement und Deeskalation, um die durch Kriege entstehenden Schäden möglichst gering zu halten (Imbusch, 2006, S. 241). Die militärische Intervention 1999 ist daher im Kontext ihrer Vorgeschichte zu begreifen. Mögliche begrifÀiche Spezi¿zierungen bei Interventionen Ich schlage vor, die Interventionsgesellschaft in Serbien in diesem Zusammenhang nicht allein auf den Zeitraum der NATO-Bombardements, vom 24. März bis zum 10. Juni 1999, zu begrenzen. Stattdessen sollen Ereignisse und Entwicklungen, die sich vor dem 24. März 1999 ereigneten, als Vorbedingungen, Ereignisse und Entwicklungen nach dem 10. Juni 1999, wie beispielsweise der Regimesturz 2000, als Folgeerscheinungen der hier spezi¿zierten „militärischen Phase“ der Interventionsgesellschaft de¿niert werden. Die „militärische Phase“ wird somit auf die Dauer der NATO-Bombardements begrenzt und als Teil der Interventionsgesellschaft insgesamt gesehen, wobei die zeitlichen Grenzen dieser breit verstandenen Interventionsgesellschaft Àießend sind. Grundsätzlich wird hier davon aus-

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gegangen, dass die Interventionsgesellschaft auf dem Territorium des ehemaligen Jugoslawien spätestens mit dem Ausbruch des Krieges in Slowenien und später Kroatien 1991 entstand, weil sich internationale AkteurInnen – wie zuvor ausgeführt – und im Sinne Mary Kaldors (2000, S. 92) vom ersten Tag an umfassend in die kriegerischen jugoslawischen Staatszerfallsprozesse einmischten. Cathrin Schütz geht in ihren Ausführungen sogar weiter und betont, dass es 1991 das „gemeinsame Ziel westlicher Staaten … war“, den Staatssozialismus abzuschaffen und die (ex-)jugoslawische Wirtschaft „für ausländische Investoren durch Einführung von Marktwirtschaft und ‚Demokratie‘ [zu öffnen]“ (Schütz, 2003, S. 123). Unter Rekurs auf Erich Schmidt-Eenboom (1995) verweist sie sogar auf die von der deutschen Regierung in den 1970er und 1980er Jahren gesetzten und vom Bundesnachrichtendienst verfolgten Ziele3, das ehemalige Jugoslawien zu spalten. (Schütz, 2003, S. 124) Diese Umstände machen deutlich, dass der zeitliche Beginn von Interventionen nicht so einfach zu bestimmen ist, und dass Interventionen auch von konkreten politischen und wirtschaftlichen Interessen der „Intervenierenden“ abhängig sind. Die „militärische Phase“ der Intervention und folglich der Interventionsgesellschaft in der BR Jugoslawien bzw. in Serbien bezieht sich somit auf die NATO-Bombardements, sprich den Krieg zwischen dem Miloševiü-Regime und den NATO-Staaten. Unter Berücksichtigung des schwierigen Unterfangens, neue Phänomene begrifÀich adäquat zu erfassen, werden nun die Begriffe „Intervenierende“ und „Intervenierte“ einer kritischen Betrachtung unterzogen. Ein grundsätzliches Problem ergibt sich aus der Konnotierung: Das Wort „Intervenierende“ weist als Partizip Präsens Aktiv (PPA) auf eine eigene Handlung hin. Wenn „Intervenierende“ die NATO-Führung bezeichnet, bedeutet das, dass NATO-Staaten bzw. deren nationale EntscheidungsträgerInnen die aktiven bombardierenden AkteurInnen waren. Dagegen wären die Bombardierten, die „Intervenierten“, Mitglieder bzw. EinwohnerInnen der BR Jugoslawien sprachlich gesehen im passiven Zustand, nämlich im Partizip Perfekt Passiv (PPP). Die Dichotomie „Intervenierende“ und „Intervenierte“ weist in diesem Sinn Ähnlichkeiten mit jener von „Herrschenden“ und „Beherrschten“ auf, wonach der zumeist männlich konnotierten herrschenden „Elite“ die weiblich konnotierte beherrschte „Masse“ gegenüber stehen könnte. In Anlehnung an Eva Kreisky (2003, S. 3) wird davon ausgegangen, dass „Männlichkeiten … [und Weiblichkeiten] politisch-diskursiv hergestellt“ werden. So stellt auch der Krieg eine „Form politischen ‚Diskurses‘ und sozialer ‚Praxis‘“ (Kreisky, 2003, S. 13) dar. Den Krieg im Kosovo begreift Kreisky u. a. als Inszenierung unterschiedlich konstruierter Männlichkeiten: jene „modernisiert3 Inwiefern diese Ziele auch erreicht wurden bzw. ob der spätere Zerfall des ehemaligen Jugoslawien darauf zurückgeführt werden kann, geht an dieser Stelle nicht hervor.

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archaische“ der serbischen Seite „in Konfrontation mit der archaischen Männlichkeit der kosovarischen Albaner“ wie auch „die technologisch hochgerüstete postmoderne Cyber- und Super-Männlichkeit der NATO“, die „über beiden Kontrahenten [drohend und aggressiv] schwebte“ (Kreisky, 2003, S. 13). Zwar stimmt es, dass sich die Bombardements auf dem Territorium der BR Jugoslawien ereigneten und nicht in einem der NATO-Staaten, dennoch waren die „Intervenierten“ nicht so (weiblich konnotiert) passiv wie der Begriff implizit vermuten lässt. Umgekehrt gab es in den NATO-Staaten keine vorherigen Volksbefragungen. Die damaligen Regierungen beschlossen sozusagen „absolut“, losgelöst von den eigenen WählerInnen und dem UN-Sicherheitsrat, diese militärische Maßnahme. Daher ist es sinnvoll, hegemoniale Verhältnisse und Elitestrukturen in „intervenierenden“ und „intervenierten“ Gesellschaften wie auch auf internationalem Niveau zu beleuchten, um Suggestionen von Aktiv und Passiv zu relativieren. Außerdem hilft Bourdieus „Feld“-Konzept dabei, jene als „Intervenierende“ und „Intervenierten“ titulierten AkteurInnen besser zu verorten. Verortung von „Intervention“ in Bourdieus „Feld“ „Intervenierte“ bzw. „endogene“ (Becker & Beham, 2006, S. 69) Kräfte, also unterschiedliche regimeerhaltende und oppositionelle AkteurInnen unter dem Miloševiü-Regime, lassen sich unter Heranziehen der Arbeiten von Pierre Bourdieu sowie Juan Linz und Alfred Stepan lokalisieren und ihrem Aktionsradius gemäß de¿nieren. Laut Bourdieus (2001, S. 49) stellt das Feld „ein Kräftefeld und ein Kampffeld zur Veränderung der Kräfteverhältnisse“ dar, wobei hier AkteurInnen ihren Machtverhältnissen, Positionen und Interessen entsprechend handeln. Sinnzuschreibungen resultieren aus „der Relation, durch das Spiel der Oppositionen und Distinktionen“ (ebd., S. 90). Interaktionen und Kämpfe ¿nden sowohl innerhalb der einzelnen Felder als auch zwischen diesen statt. Festzuhalten bleibt, dass die Grenzen zwischen allen genannten Feldern Àießend verlaufen. Während des Miloševiü-Regimes umfasste somit das „politische Feld“ regimetreue und oppositionelle PolitikerInnen (politische Eliten). Das „gesellschaftliche Feld“ bestand aus „regimetreuen und oppositionellen Medienleuten und oppositionellen ‚zivilgesellschaftlichen‘ Formationen (gesellschaftlichen Eliten) sowie aus der (unprivilegierten) Bevölkerungsmehrheit, die von Eliten des politischen und gesellschaftlichen Feldes mobilisiert werden konnten. (Nadjivan, 2008, S. 23) Das wirtschaftliche Feld war vor allem durch die „politische Kapitalunion“ bestimmt, weil unter dem Miloševiü-Regime (wie zuvor unter dem Staatsozialismus) die politische Elite bzw. die Nomenklatur Wirtschaft und Finanzwesen kontrollierten. Darüber hinaus versammelten sich im wirtschaftlichen Feld Privat-

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unternehmen, Kleingewerbe und AkteurInnen der Schattenwirtschaft sowie kriminelle und ma¿otische Verbände (ebd.). Neben politischer Kapitalunion macht auch Kriegsökonomie die Àießenden Grenzen zwischen (kriminalisierter) Politik und Wirtschaft deutlich. Mit Kriegsökonomie wird der Umstand bezeichnet, dass sich Paramilitärs (und zum Teil verurteilte Kriegsverbrecher) auf ihren Raubzügen selbst ¿nanzierten, während sich auch die Machtelite dabei bereichern konnte. „Ausstattungsunterschiede“ bestimmten nicht nur den sozialen Raum in der militärischen Phase der Interventionsgesellschaft 1999, sondern das gesamte Miloševiü-Regime – bis zu seinem Fall 2000. Auch heute – neun Jahre nach dem Regimewechsel 2000 – determinieren Ausstattungsunterschiede AkteurInnen und ihr Handeln im politischen und gesellschaftlichen Feld. Das „politische“ und „gesellschaftliche Feld“ auf internationaler Ebene Hinsichtlich des Regimewechsels in Serbien 2000 wird oft die Frage nach dem internationalen EinÀuss darauf gestellt. Selten wird unterdessen gefragt, inwiefern internationale AkteurInnen – durch eigene Interessen geleitet und gewollt oder ungewollt – das Miloševiü-Regime unterstützt haben. So kann nicht nur auf die NATO-Bombardements, sondern auf das gesamte Miloševiü-Regime bezogen festgestellt werden, dass internationale AkteurInnen (RepräsentantInnen von nationalen Regierungen, EG/EU, OSZE und UN) keine konstante Politik betrieben, sondern widersprüchliche Richtungen einschlugen (Nadjivan, 2008, S. 183). Daher sollten ebenso wie „Intervenierte“ auch Intervenierende in ein politisches, gesellschaftliches und wirtschaftliches Feld unterteilt werden. Damit könnten Kooperationen und KonÀikte sowie damit verbundene Widersprüche zwischen „Intervenierenden“ und „Intervenierten“ begrifÀich erfasst werden. Nachdem Miloševiü den Krieg in Bosnien und Herzegowina (1992–1995) mit verursacht hatte, konnte er sich bei der Unterzeichnung des Dayton-Friedensabkommens im Dezember 1995 (in Paris) national und international als „Garant für den Frieden“ inszenieren (Pribiüeviü, 1997, S. 34). Realpolitisch war dieser Vertrag eine Absage an das von der serbischen Regierung stets propagierte Interesse des sogenannten ‚serbischen Volkes‘ – nämlich die staatliche Vereinigung aller Serben und Serbinnen. Miloševiü schien bei den internationalen Friedensverhandlungen ausschließlich an dem Erhalt seiner eigenen Machtposition interessiert gewesen zu sein, weil er alles daran setzte, um mit Hilfe internationaler Politik seine nationale Legitimation gestärkt zu wissen. So übte er auf die politische Führung der Republika Srpska Druck aus, den Vertrag trotz geopolitischer Nachteile (für Serbien und die Republika Srpska) zu unterzeichnen (ebd., S. 113).

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Der Dayton-Vertrag wurde von den Kriegsparteien nicht zuletzt vor dem Hintergrund militärischen Drucks unterzeichnet. Inzwischen war es zu NATOLuftangriffen auf Bosnien und Herzegowina gekommen, während eine englischfranzösische Schnelle Eingreiftruppe nach Bosnien und Herzegowina entsandt wurde (Kaldor, 2000, 97 f.). Damit waren laut Mary Kaldor (ebd., S. 94) stets kriegsführende bzw. -treibende Republiks- bzw. Staatschefs wie vor allem Slobodan Miloševiü und Franjo Tuÿman, neben Alija Izetbegoviü (aus dem politischen Feld), Verhandlungspartner auf internationaler Ebene. Miteinander kooperierende Formationen des gesellschaftlichen Feldes wie vor allem regierungsunabhängige NGOs und Medien fungierten umgekehrt nicht als Ansprechpartner von westeuropäischen und USamerikanischen Regierungen, die im auseinanderfallenden Jugoslawien intervenierten. Miloševiü wurde folglich – wie auch seine Widersacher bzw. Amtskollegen in den anderen ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken – von internationalen AkteurInnen bis Mitte der 1990er Jahre gestärkt, während Ma¿a- und Kriegsökonomie sowie Vertreibungen der Zivilbevölkerung und Menschenrechtsverletzungen nicht beseitigt wurden (ebd., S. 97 f.). So stärkten internationale AkteurInnen vor allem mit dem Dayton-Vertrag die politischen Eliten vor Ort. Oppositionelle Formationen des gesellschaftlichen Feldes wie regierungsunabhängige NGOs und Medien erhielten kein Gehör im politischen Feld, wurden aber gleichzeitig von diesem und internationalen AkteurInnen des gesellschaftlichen Feldes seit Anfang der 1990er ¿nanziell unterstützt (z. B. von George Soros, der Heinrich Böll Stiftung, USAID…). In lokale AktivistInnen wurde einerseits die Hoffnung gesetzt, gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben, andererseits wurden sie auf internationaler Ebene nicht als gleichwertige Partner im politischen Feld behandelt. (Ebd., S. 99) Nachdem der Krieg in Kroatien sowie Bosnien und Herzegowina mit dem Dayton-Vertrag beendet worden war, brach die Gewalt im Kosovo aus. Im Zusammenhang mit der Kriegs- und Ma¿aökonomie hatten formelle und informelle Mitglieder der serbischen Machtelite konkrete Interessen an diesem „neuen Krieg“ im Kosovo, um sowohl eigene Machtpositionen zu sichern als auch neue Einnahmequellen zu erschließen. So kam es im Kosovo kaum zu direkten Kampfhandlungen zwischen der paramilitärischen Kosovo-albanischen UÇK („Kosovo-Befreiungsarmee“) und serbischen Militärs und Paramilitärs. Stattdessen wendete sich die Gewalt der Militärs und vor allem der Paramilitärs gegen die Zivilbevölkerung im Kosovo. (Ebd., S. 247) Charakteristisch an den erstmals von Mary Kaldor insbesondere im Zusammenhang mit den Kriegen in Ex-Jugoslawien de¿nierten „neuen Kriegen“ ist zumal, dass sich paramilitärische Einheiten durch Gewalt und Raub an Zivilpersonen – d. h. von „der paramilitärischen Raubökonomie“ (Kanzleiter, 2003, S. 99) – selbst ¿nanzieren (Kaldor, 2000, S. 246) und weiters zumeist

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ZivilistInnen, nicht Militärs oder Paramilitärs, in diesen Neuen Kriegen verletzt, misshandelt und getötet werden (Münkler, 2006, S. 299). Ebenso wie serbische Paramilitärs ¿nanzierte sich auch die UÇK durch Drogenhandel und außerdem aus Geldern der albanischen Diaspora in Westeuropa (Kanzleiter, 2003, S. 111). Anfang der 1990er Jahre dürfte der Heroin-Schmuggel aus der Türkei über Bulgarien, Makedonien, Serbien, Kosovo und Bosnien und Herzegowina nach Westeuropa illegale Waffenkäufe ¿nanziert haben (Reljiü, 2007). Cathrin Schütz vermerkt zudem, dass UÇK-Rebellen „in gewisser Weise als Bodentruppe der NATO“ (Schütz, 2003, S. 12) während der Bombardements fungierten. Unterdessen konnte sich die NATO auf den Schutz der eigenen Soldaten konzentrieren und ausschließlich Luftangriffe durchführen, wodurch „der Tod von jugoslawischen Zivilisten billigend in Kauf genommen wurde“ (ebd., S. 13). Ihre Behauptung, dass die „Bombardierung von Zivilisten kein Einzelfall“ war, belegt Schütz anhand mehrerer Beispiele (ebd., S. 12–16) und demontiert damit den humanitären Anspruch der Intervention, nämlich Menschenrechte und -leben zu schützen. Die Interventionsgesellschaft wird hier folglich als Verdichtung der drei Felder begriffen werden, wobei Kämpfe um Macht und Herrschaft in und zwischen diesen statt¿nden – in Abhängigkeit von den jeweiligen Interessen der AkteurInnen. Intervenierende und Intervenierte als zwei Eckpunkte in einem Kontinuum Der Frage, wie sich nun Intervenierende und Intervenierte empirisch fassen lassen, soll an dieser Stelle nachgegangen werden. Angenommen wird, dass ebenso wie die Grenzen des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Feldes Àießend verlaufen, auch die Grenzen zwischen Intervenierten und Intervenierenden nicht trennscharf zu bestimmen sind. „Intervenierende“ und „Intervenierte“ sind daher nicht als zwei strikt voneinander zu trennende Gruppen zu begreifen, sondern stattdessen als zwei Eckpunkte in einem Kontinuum. Die Unterteilung kann sich im zeitlichen, räumlichen und zum Teil biographischen Verlauf verschieben. „Intervenierende“ und „Intervenierte“ können also als zwei Idealtpyen begriffen werden, wobei die Kriterien für diese Eckpunkte in jeder Fallstudie konkret festgelegt werden sollten. Interessant ist in diesem Zusammenhang folgendes Detail, das zeigt, dass die begrifÀiche Suggestion von aktiven und passiven AkteurInnen relativiert werden muss: Jörg Becker und Mira Beham verweisen darauf, dass ihnen namentlich NGOs in Belgrad bekannt sind, „die im Sommer 1998 von Belgrad aus das Außenministerium in Bonn zu einem militärischen Eingriff in den Kosovo aufforderten. (Becker & Beham, 2006, S. 64)

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Der Vorteil der Gliederung der beiden idealtypisch angenommenen Eckpunkte „Intervenierende“ und „Intervenierte“ im Rahmen des Drei-Felder-Modells ist, dass „Intervenierende“ und „Intervenierte“ nicht als zwei statische und strikt voneinander getrennente Gruppen, sondern – wie auch die drei Felder – als „Verdichtungen“ gesellschaftlicher Verhältnisse (Poulantzas 2002) betrachtet werden können. Darüber hinaus lassen sich die hierarchischen Positionen, Interessen und Ausstattungsunterschiede der unterschiedlichen AkteurInnen Felder-spezi¿sch festmachen. AkteurInnen des gesellschaftlichen Feldes (z. B. Medienleute, NGOs) können nicht auf die gleichen Ressourcen zurückgreifen wie Eliten des politischen Feldes (z. B. Regierungen). Die Machtelite des Miloševiü-Regimes verfügte nicht über den gleichen Aktionsradius wie beispielsweise die US-Regierung unter Bill Clinton. Hegemoniale und elitäre Strukturen bestehen somit nicht nur innerhalb, sondern auch zwischen den drei dynamischen Feldern, deren Grenzen stets Àießend sind – auf nationaler, supranationaler wie auch auf internationaler Ebene. Im Folgenden wird das Kontinuum im Drei-Felder-Modell erprobt. Widersprüche der NATO-Bombardements 1999 Die NATO-Bombardements (24. März – 10. Juni 1999), die als „humanitäre Intervention“ betitelt und als „Krieg im Namen der Menschenrechte“ (Kaldor, 2000, S. 241) inszeniert wurden, waren höchst widersprüchlich: Sie wurden erstens ohne Zustimmung des UN-Sicherheitsrates nach Kapitel VII der UN-Charta eingeleitet. Die NATO-Mitglieder, sprich die nationalstaatlichen Regierungen (AkteurInnen des politischen Feldes), vereinbarten untereinander die Luftangriffe (Münkler, 2006, S. 207 f.). Das Scheitern der Verhandlungen in Rambouillet und später in Paris (Kaldor, 2000, S. 251) wurde zwar der kompromisslosen serbischen Seite zugeschrieben, jedoch bestand auf internationaler Ebene das Bestreben, „Miloševiü eine Lektion zu erteilen“ (ebd.). So gesehen wurden die NATO-Bombardements nachträglich durch die anhaltenden „ethnischen Säuberungen“ im Kosovo legitimiert (ebd., S. 243). Neben Schütz merkt auch Slobodan Antoniü (2001, S. 264 f.) die nachträgliche Legitimierung auf internationaler Ebene an – und zwar aufgrund der erst während der Bombardements organisierten Vertreibung der albanischen Bevölkerung. Unter Verweis auf das „Friedensgutachten 1999“ von drei großen deutschen Friedensforschungsinstituten, wonach Vertreibungen durch die Bombardements eskalierten, relativiert Schütz diese of¿zielle Legitimierung (Schütz, 2003, S. 17). Zudem betont auch sie, dass sich die NATO-Führung seit 1998 auf

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den Krieg gegen BR Jugoslawien vorbereite und Verbündete im politischen Feld dafür zu gewinnen trachtete. (Ebd., S. 116) Zweitens brachten die Bombardements oppositionelles Handeln in Serbien fast völlig zum Stillstand. Regimetreue und oppositionelle AkteurInnen des politischen und gesellschaftlichen Feldes waren gleichermaßen von der „äußeren Bedrohung“ betroffen, sodass diese äußere Bedrohung eine kollektive Erfahrung, um nicht zu sagen „kollektives Leid“, in Serbien darstellte. Nach dem in Serbien 1998 verhängten Ausnahmezustand, verbunden mit drastischen Einschränkungen in der Medien- und Informationsfreiheit, galt während der NATO-Bombardements 1999 Kriegszustand. Dieser brachte zusätzlich verschärfte Zensurmaßnahmen mit sich. So machten diese Bombardements oppositionelles Handeln in Serbien, geschweige denn innenpolitischen Widerstand gegen die Regime-Gewalt im Kosovo, nahezu unmöglich (Nadjivan, 2008, S. 164). Abgesehen davon determinierte die äußere Bedrohung das Alltagsleben der Bevölkerungsmehrheit, die (unter anderem infolge der Visa-PÀicht) nicht die Möglichkeit hatte, das Land zu verlassen (ebd., S. 161). Drittens ließen die NATO-Bombardements vorherige Feindbildkonstruktionen des Miloševiü-Regimes Wirklichkeit werden. Nachdem die äußere Bedrohung im Kontext des Kalten Krieges bereits unter Josip Bros Tito im ehemaligen Jugoslawien als Integrationsfaktor instrumentalisiert worden war, konnten unter Slobodan Miloševiü seit Ende der 1980er Jahre die Nachbarrepubliken und (1989 abgeschafften) Autonomen Provinzen wie auch die homogenisiert dargestellte „internationale Gemeinschaft“ als äußere Feinde rede¿niert werden. Viertens waren die NATO-Bombardements und damit verbundenen Zerstörungen kostspieliger als verstärkte internationale Hilfszahlungen für einzelne zivilgesellschaftliche, und parteipolitische oppositionelle Bewegungen gewesen wären. Diese Bewegungen, die unter dem Oberbegriff „Druga Srbija“ (Anderes Serbien) zusammengefasst werden könnten, hatten bereits seit Ende der 1980er Jahre gegen das Miloševiü-Regime agitiert – nicht zuletzt mithilfe internationaler Netzwerke. Während dieses 78-tägigen Krieges waren laut Cathrin Schütz (2003, S. 2) „32.000 AngriffsÀüge“ der NATO über die BR Jugoslawien zu verzeichnen. Die Politologin verweist außerdem darauf, dass bis Juli 1999 die NATO-Führung Angaben über die Zerstörung durch die Bombardements machte, seit September 1999 diese allerdings verweigerte. Dazu Schütz: „Waren die anfänglich gemachten Auskünfte schlichtweg falsch, so wurde fortan vermieden, die Angaben von of¿zieller Seite zu berichtigen.“ (Schütz, 2003, S. 11) Schätzungen zufolge betrug die materielle Zerstörung in Jugoslawien 30 Milliarden US-Dollar (N.N., 2006). Schütz problematisiert die zivilen Opfer der „NATO-Kriegsverbrechen“. Laut Amnesty International wären keine ausreichende Vorsichtsmaßnahmen

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getroffen worden, um zivile Verluste zu minimieren“ (Amnesty International; zit. n. Schütz, 2003, S. 24). Auf Druck von Amnesty International wurden „Klageschriften“ hinsichtlich etwaiger „NATO-Kriegsverbrechen“ im Kriegsverbrechertribunal in Den Haag (ICTY) „nach einigem Zögern“ durchgesehen, jedoch „verworfen“ (Schütz, 2003, S. 26). Angeklagt wurde folglich keiner der NATO-EntscheidungsträgerInnen.4 Fünftens mobilisierten die NATO-Bombardements allerdings die „Wut“ der Bevölkerung auf das Miloševiü-Regime, das durch die Wirtschaftskrise die Bevölkerungsmehrheit in Arbeitslosigkeit und Armut getrieben hatte, alle begonnenen Kriege verloren und letztlich nicht mehr die Sicherheit in Serbien selbst garantieren konnte (Nadjivan, 2008, S. 148). Somit erreichte das Miloševiü-Regime nach dem Ende der NATO-Bombardements auf Jugoslawien 1999 den Höhepunkt seiner Legitimitätskrise (Antoniü 2002, 281). Infolge der zehnjährigen internationalen Isolation sowie aufgrund der NATO-Luftangriffe 1999 war die Wirtschaft vollkommen zerstört. Der Lebensstandard vieler Menschen Serbiens sank so tief, dass er mit der Situation nach dem Zweiten Weltkrieg verglichen werden konnte (Popoviü 2002, S. 141). Außenpolitisch war das Miloševiü-Regime nach dem Krieg gegen die NATO-Länder nun völlig isoliert (Antoniü 2002, 283). Als regimetreue Medien bei Beendigung der 78-tägigen Bombardements auf die Bundesrepublik Jugoslawien den „Sieg“ Serbiens über den „NATO-Pakt“ verkündeten, reichte es infolge des offensichtlichen Widerspruchs zur sozialen Realität vielen Menschen, vor allem ehemaligen Miloševiü-AnhängerInnen. Diese Wut war schließlich der Motor für Widerstand und breites oppositionelles Engagement, was von Intervenierenden – wie bereits ausgeführt – schon seit Anfang der 1990er Jahre intendiert worden war. Der durch RepräsentantInnen des MiloševiüRegimes mitverantwortete Krieg gegen NATO-Länder legitimierte umgekehrt oppositionelle Formationen des politischen und vor allem gesellschaftlichen Feldes und förderte deren Popularität und folglich Macht. Sie schienen angesichts der katastrophalen gesamtgesellschaftlichen Lage Alternativen zum Miloševiü-Regime zu bieten (Nadjivan, 2008, S. 163).

4 Während der NATO-Bombardements wurden laut Kaldor 1.400 Menschen „versehentlich“ getötet, was von der NATO-Führung daraufhin als „Kollateralschaden“ bagatellisiert wurde (Kaldor, 2000, S. 254). Gemäß Vedran Džihiü und Helmut Kramer (2005, S. 18 f.) kamen während der NATO-Luftangriffe „ca. 140 serbische Polizei- und Armeeangehörige“, 1.500 Kosovo-AlbanerInnen und 5.000 serbische ZivilistInnen ums Leben. Die Zahl der Todesopfer während der KonÀikte 1998 und 1999 im Kosovo werden auf ca. 12.000 geschätzt. Obwohl es an dieser Stelle nicht um Hochrechnungen von Menschenleben gehen kann, sei dennoch an die Opferzahl während des Krieges in Bosnien und Herzegowina von 1992 bis 1995 erinnert: 250.000 Menschen.

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Die NATO-Bombardements 1999 führten nicht automatisch zum Regimewechsel 2000, sondern radikalisierten dessen Form. Sie markierten den Höhepunkt der Legitimationskrise des Miloševiü-Regimes. International unterstützte oppositionelle Bewegungen wie vor allem die Studierendenbewegung OTPOR (Widerstand) konnten die breite Wut und soziale Unzufriedenheit innerhalb der serbischen Bevölkerung kanalisieren. Klarer Weise ist es müßig zu fragen, ob es auch ohne Bombardements zu einem Regimewechsel gekommen wäre, weil wir den Beweis nicht antreten können. Festzuhalten bleibt, dass das MiloševiüRegime Ende der 1990er Jahre keine Ressourcen für den eigenen Machterhalt aufbringen konnte. Der Regimewechsel 2000 in Serbien Zu den wichtigsten Voraussetzungen für den Sturz des Regimes gehörte dessen innerer Zusammenbruch. Die Machtelite – konkret: Miloševiü-Elite bzw. der parastaatlich und kriminell verstrickte Miloševiü-Clan (als Schnittmenge des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Feldes) – hatte sich jahrelang durch Kriegsökonomie und Wirtschaftskrise bereichert. Da die Bevölkerungsmehrheit über unzureichende Ressourcen verfügte, hatten der Machtelite geringe Mittel ausgereicht, um die eigenen Positionen zu sichern. Doch nun fehlten ihr materielle Ressourcen, um die staatliche Apparatur bzw. ihre eigene Legitimation weiterhin zu ¿nanzieren. Inzwischen war es auch kein Geheimnis mehr, dass die USRegierung das Miloševiü-Regime stürzen wollte. So wurden Oppositionelle des politischen und vor allem des gesellschaftlichen Feldes in Serbien international unterstützt (Antoniü 2002, 281–283). Um das Regime zu stürzen, konzentrierten sich laut Schütz sogar CIA-Aktivitäten auf die Unterstützung von „kosovo-albanischen Extremisten“ (Schütz, 2003, S. 117). Nachdem der Machterhalt des Miloševiü-Regimes auf Ressourcenknappheit für die Bevölkerungsmehrheit basiert hatte, konnte wiederum auf Basis von Ressourcenknappheit dessen Sturz erfolgen – bzw. organisiert werden. Da die Bevölkerungsmehrheit am oder sogar unter dem Existenzminimum lebte, konnten wirtschaftlich ausgerichtete Wahlversprechen offensichtlich den Wahlausgang und damit die Abwahl von Slobodan Miloševiü am 24. September 2000 beeinÀussen. Intervenierende vor allem des politischen Feldes investierten daher vorwiegend in „opinion leaders“ vor Ort, oppositionelle Medien und NGOs (AkteurInnen des gesellschaftlichen Feldes), die die international erwünschte öffentliche Meinung forcieren bzw. teilweise auch herstellen sollten. Diese AkteurInnen vor Ort können als Schnittstelle zwischen den beiden Polen Intervenierende und Intervenierte begriffen werden. Denn viele der seit An-

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fang der 1990er Jahre auf dem Raum des ehemaligen Jugoslawien tätigen NGOs stammen aus Westeuropa oder den USA. So waren beispielsweise 2005 allein in Serbien 1.000 NGOs registriert. (SEE Online, zit. n. Becker & Beham, 2006, S. 70) Internationale Non-Pro¿t-Organisationen dienen einerseits („endogen“ gesehen) der „Rentenökonomie“, die vor Ort die fehlende Marktwirtschaft kompensieren und schnelle, korrupte und räuberische „Rentenaneignung“ auf Seiten lokaler Eliten ermöglichen solle. Andererseits schaffen diese Organisationen („exogen“ gesehen) mit der Akquierierung von „Balkanprojekte[n]“ ihre eigene Existenzberechtigung und Finanzierung, was bis heute der Fall ist. (ebd., S. 70) Im Zusammenhang mit dem Regimewechsel 2000 kann festgehalten werden, dass internationale Subventionen für oppositionelle Bewegungen und Medien in Serbien zwar kurzfristig dem Land mehr Geld brachten. Mittelfristig stärkten sie allerdings die Professionalisierung höchst heterogener Oppositionsbewegungen des politischen und vor allem gesellschaftliche Feldes vor Ort (Nadjivan, 2008, S. 74), was den Regimewechsel zwar begünstigte, allerdings die Folgezeit erschwerte.5 Im Unterschied zum inzwischen bankrotten Staatsapparat erhielten Oppositionelle des politischen und vor allem des gesellschaftlichen Feldes Ende der 1990er Jahre internationale Subventionen. So konnte zum Beispiel der DS-Chef Zoran Ðinÿiü seinen internationalen Verbündeten Finanzhilfen für die Vorbereitung des Regimewechsels entlocken. BürgerInneninitiativen, allen voran die Widerstandsbewegung OTPOR und das infolge der NATO-Bombardements formierte „Bürgerparlament“ („graÿanski parlament“), genossen aufgrund der weit verbreiteten sozialen Unzufriedenheit eine immer stärkere Unterstützung (Trkulja, 2002, S. 45). Noch bevor Miloševiü auf Druck der international gestärkten Opposition für den 24. September 2000 vorgezogene jugoslawische Präsidentschaftswahlen ausschreiben ließ, waren Vorwahl-Kampagnen Oppositioneller der politischen und gesellschaftlichen Feldes im Gange. Die neu gegründete Koalition DOS (Demokratska Opozicija Srbije) der bürgerlich-demokratischen Oppositionsparteien hatte inzwischen einen gemeinsam aufgestellten Kandidaten, Vojislav Koštunica6, der möglichst viele Menschen ansprechen sollte. Obwohl bis heute die Wahlergebnisse umstritten sind, wird davon ausgegangen, dass die Opposition die Wahl mit einem knappen Vorsprung gewinnen konnte. Gewählt wurde jedoch weniger ‚für‘

Kräfte der Kontinuität, die zuvor Pro¿teure des Miloševiü-Regimes waren, deligitimieren seit 2001 politische und wirtschaftliche (nicht zuletzt neoliberale) Reformen als „Ausverkauf“ von und „internationale Verschwörung“ gegen Serbien (Nadjivan, 2006, S. 162, 176). 6 Koštunica sollte sich erst in den Jahren nach dem Regimewechsel durch seine „non-action-Politik“ als Konservator von Ideologie, Recht, Machenschaften und Strukturen des Miloševiü-Regimes erweisen (Nadjivan, 2006, S. 161 f.).

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die – international unterstützte – Opposition und ihren Kandidaten, sondern vielmehr ‚gegen‘ die Fortsetzung des Miloševiü-Regimes (Nadjivan, 2008, S. 152). Nachdem Miloševiü und seine Gefolgschaft den Stimmenvorsprung von Koštunica nicht anerkennen wollten und einen zweiten Wahldurchgang forderten, verhinderte die Opposition diesen durch Massenproteste und Streiks. Der Regimewechsel wurde somit durch den Wahlsieg Koštunicas am 24. September 2000 eingeleitet, durchgesetzt wurde er durch eine Massendemonstration am 5. Oktober 2000. Dieser „peti oktobar“ („fünfte Oktober“) gestaltete sich als eine soziale Massenbewegung gegen Armut, Arbeitslosigkeit und gegen die politische Führung Serbiens (Jugoslawiens), die nicht in der Lage war, existentielle Grundvoraussetzungen für die Bevölkerung sicher zu stellen, geschweige denn die KosovoProblematik zu lösen (Vidojeviü, 2002, 110 f.; Nadjivan, 2008, S. 154). Ermöglicht wurde der Regimewechsel bzw. Regimesturz durch einen ‚ideologielosen‘ – ungeachtet aller ideologischen Gegensätze vollbrachten – Zusammenschluss höchst heterogener Kräfte des gesellschaftlichen Feldes, die sich mit internationaler Unterstützung auf ein gemeinsames Ziel konzentrierten: „Gotov je – Fertig ist er“. Dieser im Kontext personalisierter Politik auf Miloševiü bezogene Slogan wurde von der oppositionellen Studierendenbewegung OTPOR geprägt. OTPOR – Schnittstelle von Intervenierenden und Intervenierten im politischen und gesellschaftlichen Feld Obwohl es zahlreiche höchst heterogene oppositionelle Bewegungen in Serbien gab und weiterhin gibt, wird dennoch OTPOR exemplarisch aufgegriffen, um nachzuzeichnen, inwiefern sich aus einer Studierendenbewegung nach den NATO-Bombardements eine Massenbewegung entwickelte und dabei zu einer Schnittstelle zwischen Intervenierenden und Intervenierten bzw. zwischen internationalen und nationalen AkteurInnen des politischen und gesellschaftlichen Feldes wurde. Auslöser für die Gründung von OTPOR war das im Mai 1998 erlassene Universitätsgesetz, das die Entlassung regimekritischer Universitätsbediensteter möglich machte. Als Reaktion auf dieses neue, als repressiv und ungerecht perzipierte Gesetz formierte sich die StudentInnenbewegung OTPOR („Widerstand“) in Belgrad. Zunächst waren es nur wenige AktivistInnnen des gesellschaftlichen Feldes, die für freie demokratische Wahlen, eine unparteiische Universität und unabhängige Medien zu demonstrieren begannen (Kandiü, 2001, S. 3; Nadjivan, 2008, S. 138). Nach den NATO-Bombardements entwickelte sich OTPOR zu einer Massenbewegung. So war das Schlüsselereignis der OTPOR-Bewegung – mit der

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geballten Faust als Markenzeichen – nach den NATO-Bombardements aus dem universitären Umfeld herauszutreten und sich in eine elementare Protestbewegung zu entwickeln (ûurgus, 2001, S. 31). Zentrale AktivistInnen des Studierendenprotests 1996/97, der neben dem BürgerInnenprotest die Anerkennung des Wahlsieges der Oppositionsparteien auf lokaler Ebene durchgesetzt und damit Neuwahlen verhindert hatte, aktivierten erneut ihre Netzwerke und motivierten vorwiegend junge Menschen zum Widerstand. Dass die OTPOR-Bewegung Mut und Jugend sowie Jugendkultur und politisches Handeln – ohne of¿zielle Nähe zu Oppositionsparteien – vereinte, verhalf ihr zu Sympathie und Unterstützung innerhalb der Bevölkerung (Antoniü, 2002, S. 283). Diese Bewegung bot nämlich die Möglichkeit, sich gegen das inzwischen delegitimierte Regime zu vereinen, und zwar mit nur einem Ziel, dem Sturz des Regimes (Nadjivan, 2008, S. 139). Bis 2000 stellte OTPOR eine informelle, beinahe parastaatliche Bewegung dar, weil ihr eine of¿zielle Registrierung als Nichtregierungsorganisation von staatlicher Seite verweigert wurde (Kandiü 2001, S. 3). So ähnelte die Agitation von OTPOR jener der jungen illegalen KommunistInnen während des Zweiten Weltkriegs (Antoniü 2002, S. 283). Gewalt wurde von OTPOR nicht angewendet, sondern öffentlichkeitswirksam inszeniert, das Miloševiü-Regime im Sinne üblicher Feindbildkonstruktionen als Aggressor dargestellt. OTPOR machte sich folglich regimeeigene Methoden zunutze: Den vom Regime instrumentalisierten Opfermythos (gegenüber „äußeren“ und „inneren Feinden“) wandten OTPORAktivistInnen nun gegen dieses selbst an. Nachdem Miloševiü und seine engere Gefolgschaft die Kriege mit Rekurs auf die „äußere Bedrohung“ und Feindbildkonstruktionen legitimiert hatten, begründeten OTPOR-AktivistInnen ihren Kampf gegen das Regime mit der gleichen Strategie. Öffentlichkeitswirksam wurde die (teils sozial reale) Polizeigewalt gegen junge ‚wehrlose‘ AktivistInnen in Szene gesetzt, während hingegen regimetreue Medien umgekehrt die Bedrohung der „vom Ausland Bezahlten“ OtporistInnen kolportierten. Auf der Regime-Seite war nicht zuletzt von „Terroristen“ oder „faschistischer Organisation“ die Rede; auch Vergleiche mit der „Hitlerjugend“ blieben nicht aus (Kandiü 2001, S. 8). Indem die OTPOR-Bewegung ein einziges Ziel hatte – nämlich das Ende des Miloševiü-Regimes – und dieses auch öffentlichkeitswirksam zu verbreiten wusste, versammelte sie zahlreiche SympathisantInnen. So half die Idee des ‚ideologielosen‘ Widerstands dabei, aus OTPOR eine ‚catch-all‘-Bewegung zu machen, die vielen, auch gegensätzlichen politischen Orientierungen und interessierten Financiers entgegen kam (Nadjivan, 2008, S. 140). Auf diese Weise wurde mit nationaler und internationaler organisatorischer, logistischer sowie ¿nanzieller Unterstützung aus einer kleinen studentischen Gruppe des gesellschaftlichen

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Feldes eine Massenbewegung von RegimekritikerInnen bzw. -gegnerInnen, deren Aktionsradius und Netzwerk weder auf das gesellschaftliche Feld noch auf die Klassi¿zierung Intervenierte beschränkt werden konnte. International bzw. „exogen“ gesehen, wurde OTPOR von Organisationen unterstützt, die mit der US-Regierung verknüpft waren oder von dieser ¿nanziert wurden – namentlich von Becker und Beham genannt: „National Endowment for Democracy, United States Institute for Peace, USAID und das International Republican Institute“ (Becker & Beham, 2006, S. 69) sowie Soros-Foundation (ebd., S. 83 f.). Die Frage der Finanzierung gehörte allerdings bis zum Regimewechsel zu den am besten gehüteten Geheimnissen von OTPOR, sodass nur Mutmaßungen angestellt werden konnten. Interessant bei der internationalen Vernetzung von OTPOR ist vor allem, dass während der NATO-Bombardements OTPOR die Tätigkeiten eingestellt hatte. Offen bleibt an dieser Stelle, ob diese Entscheidung von internationalen AkteurInnen („Internationals“) empfohlen wurde. Im Unterschied dazu, gab es sehr wohl vereinzelte NGOs im gesellschaftlichen Feld, die ihre Tätigkeiten während der NATO-Bombardements sogar verstärkt fortsetzten, wie beispielsweise „Frauen in Schwarz“ und die Gewerkschaft „Nezavisnost“ („Unabhängigkeit“). Der Großteil oppositioneller Arbeit im gesellschaftlichen Feld war allerdings eingestellt. Auch dieses Detail verdeutlicht, dass nicht so einfach zwischen Intervenierenden und Intervenierten unterschieden werden kann. Als problematisch an dem Phänomen OTPOR stufen Becker und Beham folgende Faktoren ein: „1. Der Souveränitätsvorbehalt und das Verbot der Einmischung in innere Angelegenheiten ist nicht nur nach wie vor gültiges Völkerrecht, diese Prinzipien sind als rechtliche Argumente hoch einzuschätzen, weil sie gerade von den USA für sich in Anspruch genommen werden. Genau in diesem Land ist eine Finanzierung von Parteien und Wahlkämpfen aus dem Ausland strikt verboten. 2. Es gibt keinerlei Bericht von dritter und unabhängiger Seite über die Finanzströme solcher NGOs wie OTPOR … 3. Vielerlei Erfahrungen sprechen dafür, daß der Wechsel von undemokratischen zu demokratischen Strukturen nur dann zu einem stabilen Systemwechsel führen kann, wenn die sozialen Kräfte, die diesen Wechsel erreichen wollen, endogener Natur sind.“ (Becker & Beham 2006, S. 69 f.)

Nach dem Regimewechsel verlor OTPOR an seiner ursprünglichen Faszination, nicht zuletzt weil seit 2001 verstärkt internationale Netzwerke und GeldÀüsse rund um OTPOR publik wurden. Inzwischen ist diese Organisation in Serbien selbst marginalisiert, auf internationaler Ebene zu einem intervenierenden Akteur (Organisator von und Trainer für politische Umbrüche) reüssiert.

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Wie treffend Becker und Behams Erkenntnis ist, dass „endogene“ Kräfte einen langfristigen Systemwechsel herbeiführen können, dürften die Umstände rund um die Ermordung des serbischen Premiers Zoran Ĉinÿiü am 12. März 2003 illustrieren. Bis heute ist dieser Polit-Mord trotz erfolgter Verurteilungen nicht vollkommen geklärt – Stichwort: Auftragsvergabe, das heißt, die Frage, wer den Mord in Auftrag gegeben hat. Die Verurteilten können ausschließlich als Vollzugskäfte betrachtet werden. Medienanalysen, die 2005 vor Ort durchgeführt wurden, belegen, dass der erste Premier nach dem Regimewechsel 2000 bis zum Attentat medial vorwiegend im negativen Kontext erschien (ûurgus o. J.; zit. n. Nadjivan, 2006, S. 208). Während seiner Oppositionstätigkeit in den 1990er Jahren und seiner Amtszeit von 2001 bis 2003 wurde Ĉinÿiü aufgrund seiner perfekten Deutschkenntnisse und internationalen Kontakte zu politischen und wirtschaftlichen Eliten in EU-Staaten, allen voran in Deutschland, als „innerer Verräter“ denunziert, der an der „westlichen Verschwörung“ gegen Serbien beteiligt gewesen wäre (ebd.). Nach seiner Ermordung wurde diese skeptische, fast feindliche Haltung ihm gegenüber von tiefer Trauer zu seinem Tod ersetzt (ebd., S. 209; vgl. auch Greenberg 2006). Resümee Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass enge Kontakte zu internationalen Intervenierenden für lokale Intervenierende delegitimierend wirken können, wie im Fall von OTPOR und besonders im Fall von Ĉinÿiü ersichtlich ist. Ĉinÿiüs Verbindungen zu internationalen Eliten des politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Feldes sowie zu lokalen parastaatlichen, paramilitärischen Kreisen dürften seinen Tod begünstigt haben. In drastischer Weise ist damit die Schlussfolgerung der AutorInnen Free, Schüßler und Thiele (2008, S. 41) untermauert, dass „Interventionen auf westlichen Standards (auf Demokratie, Zivilgesellschaft, kapitalistischer Marktwirtschaft, Rechtsstaatlichkeit,…)“ basieren und sich dementsprechend an „interventionskompatible“ Eliten, d. h. vorwiegend im westlich-liberalen Ausland ausgebildete und arbeitende Eliten, wenden, also an diejenigen locals, die mit diesen Vorstellungen vertraut sind und arbeiten können. Ihren Ausführungen entsprechend bildet sich schnell eine implizite Interessengemeinschaft zwischen Intervenierenden und dieser lokalen Elite, die womöglich von großen Teilen der Bevölkerung nur eingeschränkt anerkannt ist (ebd.). In diesem Punkt stimmen somit Free, Schüßler und Thiele mit Becker und Beham (2006, S. 69 f.) überein, dass of¿zielle RepräsentantInnen auch die Zustimmung der eigenen WählerInnen benötigen, um legitimierter Weise einen nachhaltigen Systemwechsel (und nicht nur Regimewechsel wie in Serbien 2000) voranzutreiben.

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Einschränkend muss erwähnt werden, dass bis Mitte der 1990er Jahre Miloševiüs innenpolitische Position nicht zuletzt auf internationaler Ebene gestärkt wurde. Das sollte sich erst allmählich infolge der BürgerInnen- und Studierendenproteste 1996/97 und vor allem infolge der Regimegewalt seit 1998 im Kosovo ändern. Daher wird an dieser Stelle für einen breiten Begriff von Intervention plädiert. Wie die vorherigen Ausführungen verdeutlichen, sollten neben einem breiten Interventionsbegriff auch „Intervenierende“ nicht ausschließlich auf internationale AkteurInnen beschränkt bleiben. Es würde nämlich zu kurz greifen, regimeerhaltende und oppositionelle Eliten des politischen und gesellschaftlichen Feldes unter dem Miloševiü-Regime in Serbien einfach als „Intervenierte“ zu deklarieren. Hier ist es sinnvoll, bei zukünftigen Forschungsarbeiten beide Pole (Intervenierende und Intervenierte) penibel auszudifferenzieren, um teils prozesshafte Überschneidungen, Schnittstellen und damit verbundene Widersprüche klar herauszuarbeiten. Schließlich ist selbst der Regimewechsel bzw. -sturz in Serbien als Prozess zu begreifen, wobei die so genannte „humanitäre Intervention“ bzw. „militärische Phase“ der Intervention 1999 einen Faktor unter vielen darstellte. Weitere Faktoren waren insbesondere internationale EinÀüsse auf jugoslawische Staatszerfallsprozesse spätestens seit Anfang der 1990er Jahre wie auch die mit den Staatszerfallsprozessen einhergehende Kriegsökonomie, damit verbundene Wirtschaftskrise und HyperinÀation. Obwohl diese Zusammenhänge in ihrer Komplexität hier lediglich skizziert werden konnten, sollte dennoch illustriert werden, dass neben den NATO-Bombardements 1999 auch der Regimewechsel 2000 als äußerst widersprüchliches Phänomen zu verstehen ist. Ebenso wie Intervenierende und Intervenierte als zwei idealtypische und zugleich veränderbare Eckpunkte zu begreifen sind, sollten auch das politische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Feld in ihrer Dynamik gedacht werden. Einzig ein dynamisches und ausdifferenziertes Begriffs-Werkzeug scheint geeignet zu sein, Überschneidungen und Widersprüchlichkeiten der soziokulturellen Wirklichkeit auf Mikro-, Meso- und Makroebene zu untersuchen. Literatur Antoniü, S. (2002). Zarobljena zemlja. Srbija za vlade Slobodana Miloševiüa [Das gefangene Land. Serbien unter der Regierung von Slobodan Miloševiü]. Beograd: Otkrovenje. Becker, J., & Beham, M. (2006). Operation Balkan. Werbung für Krieg und Tod. BadenBaden: Nomos. Bieber, F. (2008). Europa-Vorstellungen in einem gespaltenen Serbien. In I. Schwarcz, A. Suppan (Hrsg.), Quo vadis EU? Osteuropa und die EU-Erweiterung (S. 397–412). Wien: LIT.

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Probleme der Komplexität, Koordination, Konsistenz und Beendigung von Interventionen Thorsten Gromes

Am Anfang einer Intervention stehen unbegründet große Hoffnungen und eine ausgeprägte Überheblichkeit. Jedenfalls zeigt sich ein solches Bild im Lichte der Theorien von Pierre Bourdieu und Niklas Luhmann. Beide Werke lassen zweifeln, ob Eingriffe von außen den Verlauf und Austrag von zuvor kriegerisch ausgetragenen KonÀikten wie gewünscht beeinÀussen können. Nach Bourdieu spiegelt der Habitus die sozialen Strukturen wider, so die Macht- oder Kapitalverteilung in den verschiedenen sozialen Feldern. Der Habitus strukturiert das Wahrnehmen, Fühlen, Denken, Werten und Handeln. Jeder Versuch, ein soziales Feld umzugestalten, trifft auf vom Habitus erzeugten Widerstand. Denn als Produkt der bisherigen sozialen Strukturen betreibt der Habitus deren Reproduktion (Bourdieu 1976; Bourdieu/Wacquant 1996).1 Mit Luhmann (1984) muss man schon Steuerungsversuche des Subsystems Politik in einer funktional differenzierten Gesellschaft skeptisch sehen. Doch daraus ergibt sich noch kein Anlass, alle Hoffnung fahren zu lassen. Denn auf manchem (Nach-)Kriegsschauplatz, in dem interveniert werden soll, besteht eher eine ethnische Segmentierung als eine funktionale Differenzierung. Bosnien und Herzegowina beispielsweise war im Krieg faktisch in drei Gebiete zerfallen, in denen jeweils eine ethno-nationalistische Partei nahezu sämtliche Bereiche des öffentlichen Lebens dominierte oder kontrollierte (Gromes 2007: 179–184). Wie seit Ende des Ost-West-KonÀikts üblich (Jarstad/Sisk 2008: 1; Paris 2004: 5), versuchen die Interventen, Demokratie, Rechtsstaat und Marktwirtschaft zu verwurzeln. Ihr unbescheidenes Ziel besteht darin, eine funktionale Differenzierung herbeizuführen. Gerade nach einem kurzen Krieg mag der Habitus aufgrund seiner Trägheit als Ressource der Friedenskonsolidierung erscheinen. Im Falle einer solchen Kontinuität würden sich in ihm aber Strukturen ¿nden, die möglicherweise zur Eskalation beigetragen haben. Allerdings bedeutet ein Krieg, zumal ein innerstaatlicher, einen Bruch mit der vertrauten Welt. Je heftiger und Àächendeckender ein Krieg tobt, desto mehr erschüttert und modi¿ziert er den Habitus. Gerade ein Bürgerkrieg bewirkt nicht nur den Tod von Angehörigen, Freunden oder Nachbarn, sondern zerstört oftmals das Konzept der Familie, Freundschaft und Nachbarschaft. Wohnungen, Schulen, Verkehrswege und Arbeitsstätten gehen ebenso verloren wie das Gefühl einer minimalen Sicherheit und des Vertrauen-Könnens. Es stellt sich die Frage, ob kriegsbedingte Habitusstrukturen eine größere Trägheit aufweisen als die in Friedenszeiten geprägten Strukturen.

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Die Politik der Interventen fokussiert auf den Aufbau einer bestimmten institutionellen Ordnung. Kritiker dieses systemtischen Ansatzes weisen mit guten Argumenten darauf hin, dass der Erfolg von Interventionen nicht nur von der Gestalt der (politischen) Institutionen abhängt. Doch das Institutionengefüge lässt sich leichter, schneller und direkter prägen als die Wahrnehmungen, Einstellungen und Interessen der KonÀiktparteien. Daher scheint es verständlich, dass sich Friedensabkommen und Friedenskonsolidierer sowie die wissenschaftliche Debatte auf den Aufbau der politischen Institutionen konzentrieren, auch wenn deren Form das Denken und Handeln der KonÀiktparteien nur zum Teil, nicht aber vollständig beeinÀusst. Im Folgenden möchte ich einige Probleme von Interventen schildern, die in einer Nachkriegsgesellschaft um des lieben Friedens willen eine Demokratie etablieren möchten. Dabei spreche ich zunächst die Probleme der Komplexität, der Koordination und der Konsistenz an. Anschließend stelle ich dar, wie schwer sich Interventen damit tun, ihr Eingreifen zu beenden. Der Fall Bosnien und Herzegowina soll die skizzierten Probleme illustrieren.2 Verortungen Das Netzwerk Interventionskultur bringt verschiedene Disziplinen sowie inhaltliche und regionale Schwerpunkte zusammen. Das erfordert mehr noch als sonst, den eigenen Beitrag im Gegenstand und mit den benutzten Begriffen zu verorten. Ich setze eine Intervention nicht mit einer militärischen Intervention gleich. Intervention bedeutet, dass externe Akteure, mit welchen Mitteln auch immer, in einen KonÀikt eingreifen, um dessen Verlauf zu beeinÀussen. Das Ziel der Intervention kann darin bestehen, einer KonÀiktpartei zum Sieg zu verhelfen oder zumindest die Niederlage einer Seite abzuwenden oder den KonÀiktaustrag in bestimmte Bahnen zu lenken. Oftmals stellt man externe und lokale Akteure oder Interventen und Intervenierte einander gegenüber. Externe Akteure besitzen keine Wurzeln in der Gesellschaft, in die sie intervenieren. Als lokale Akteure bezeichnet die einschlägige Literatur keineswegs Bürgermeister oder Kämmerer, wohl aber die originären Parteien des KonÀikts, dessen Verlauf die Interventen prägen möchten.

2 Ich danke dem Deutschen Akademischen Austauschdienst für die Finanzierung meines Aufenthalts in Bosnien und Herzegowina von März bis Juni 2005. Mein Dank gilt zudem der Deutschen Forschungsgemeinschaft für die Förderung meines Projekts „Ohne Staat und Nation ist keine Demokratie zu machen. Die Demokratisierung von Nachbürgerkriegsgesellschaften.“ Im Rahmen dieses Projekts konnte ich im Oktober und November 2008 in Bosnien und Herzegowina forschen.

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In der deutschen wie der internationalen Debatte begegnet man oft dem Begriff der Post-KonÀikt-Gesellschaft. Setzt man KonÀikt nicht mit Krieg gleich und geht man stattdessen von einem breiteren KonÀiktbegriff aus (Bonacker/Imbusch 1996: 63–65), kann es keine Post-KonÀikt-Gesellschaft geben. Schon der Streit über Sinn und Unsinn dieses Begriffs widerlegt die Existenz einer PostKonÀikt-Gesellschaft. Wer Post-KonÀikt-Gesellschaft sagt, meint in aller Regel eine Nach(bürger)kriegsgesellschaft.3 Dieser Band versammelt Beiträge zu Interventionen in Kontexten, die man deutlich unterscheiden sollte. Das gilt erstens für die KonÀiktebene: So gibt es Interventionen in zwischenstaatliche oder innerstaatliche KonÀikte. Das gilt zweitens auf der Zeitachse: Intervention können vor, während und nach einem gewaltsamen oder sogar kriegerischen Austrag statt¿nden. Des Weiteren kann man für Nachkriegsgesellschaften unterscheiden, ob der Krieg mit dem Sieg einer Seite oder einer ausgehandelten Regelung endete. Gegenstand meines Beitrags sind Interventionen zur Friedenskonsolidierung, die nach einem Abkommen einen sich selbst tragenden innerstaatlichen Frieden errichten sollen. Bei dem illustrierenden Beispiel Bosnien und Herzegowina handelt es sich um eine ethnisch gespaltene Nachkriegsgesellschaft. Das Komplexitätsproblem Institutionen de¿nieren und verkörpern Regeln und setzen diese durch, so auch die Institutionen der Demokratie. Interventen wollen allerdings Regeln nicht nur durch den Aufbau von Institutionen etablieren. Sie beziehen sich auf Regeln, wenn sie den Intervenierten antworten, an diese appellieren, sie kritisieren oder gar sanktionieren. Diese Regeln sehen die Interventen als verallgemeinerungsfähig und universell gültig an. Doch indem sie sie anwenden, stoßen die Interventen auf das Komplexitätsproblem. Macht man sich den Steuerungspessimismus von Bourdieu und Luhmann zu eigen, scheinen die Erfolgsaussichten von Intervention ohnehin gering. Sie sinken umso tiefer, je weniger die Interventen über das Objekt ihres Eingreifens wissen. Zufallstreffer trotz geringer Kenntnisse sind ebenso wenig ausgeschlossen, wie exzellentes Wissen garantiert, dass eine Intervention die gewünschten Resultate erzielt. Sowenig eine Nachkriegsgesellschaft funktional differenziert sein mag, sosehr bleibt sie für die externen Akteure ein extrem komplexes Gebilde. Die Interventen können keinesfalls bis hinunter auf die kommunale Ebene alle Probleme, die maßgeblichen Akteure und Praktiken sowie die zugrunde liegenden Normen, Wahrnehmungen und Regelungen kennen. Das 3

Siehe zur Problematik des Begriffs post-conÀict peace-building: Ramsbotham 2000: 170–174.

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Komplexitätsproblem beschränkt sich nicht auf den individuellen Interventen, der weder die gesamte Nachkriegsgesellschaft kennen kann noch muss. Das Komplexitätsproblem gilt auch für die Gesamtheit aller Personen und Organisationen, die unter einem gemeinsamen Interventionsziel arbeiten. Selbst wenn irgendwer spezielle Kenntnisse besitzt, stehen sie damit noch lange nicht genau den Interventen bereit, die sie in einer bestimmten Situation am meisten brauchen. Weil ein Großteil der Interventen nach nur kurzer Präsenz die Nachkriegsgesellschaft verlässt und seine erworbenen Kenntnisse mitnimmt, verliert das Komplexitätsproblem auch auf Dauer allenfalls teilweise seine Monstrosität. Wie Kimberley Coles (2007: 23–24, 42) für die Mission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) in Bosnien und Herzegowina schildert, erfuhren die Mitarbeiter erst sehr kurzfristig von ihrem Arbeitsvertrag, der üblicherweise eine Anstellung für sechs Wochen bis sechs Monate vorsah. Die wenigsten Kollegen besaßen Expertise für den slawischen Raum. Auch Gret Haller (2002: 114–115), die frühere Ombudsfrau für Menschenrechte in Bosnien und Herzegowina, berichtet, dass nur wenige Interventen länger als ein Jahr blieben. Aufgrund der hohen personellen Fluktuation hätte man ständig von vorne anfangen müssen, was die KonÀiktparteien auszunutzen wussten. Besitzen die Interventen mehr Zeit, um sich auf ihren Einsatz vorzubereiten, stehen sie vor dem Problem, dass der Krieg viele verfügbare Daten über die betroffene Gesellschaft mehr als überholt hat. Neue, verlässliche Angaben liegen gerade kurz nach Kriegsende nicht vor. Dieses Problem verringert sich mit der Interventionsdauer, dafür aber steigt im gleichen Maß der Informationsbedarf über die bisherige Intervention und deren Wirkung. Ein Großteil der Intervenierenden lebt in der Hauptstadt einer Nachkriegsgesellschaft.4 Hauptstädte repräsentieren aber nie die regionalen und keineswegs immer die ethnischen und politischen Ausdifferenzierungen eines Landes. „Auf Wiedersehen, Bosnien. Ich geh nach Sarajewo“, witzelt man dort. Interventen in einer Hauptstadt wie Sarajewo hängen leicht einer mehrfachen Illusion an: einer Illusion des relativen Wohlstands, einer Illusion der relativen Weltoffenheit und einer Illusion, die Hauptstadt und deren Einwohner seien politisch repräsentativ. Die letzte Kommunalwahl im Oktober 2008 in der von Besuchern als sehr multiethnisch empfundenen Altstadt von Sarajewo brachte zwei bemerkenswerte Ergebnisse: Ausdrücklich kroatische oder serbische Parteien gewannen nicht einen Sitz, während die landesweit unbedeutenden Listen „Politische Jugendbewegung“ und „Unsere Partei“ acht bzw. sieben Prozent der Stimmen gewannen (Centralna Izborna Komisija 2008). 4 Schlichte/Veit (2007) zeigen, wie die Interaktion von Akteuren in unterschiedlichen Arenen die Intervention vor große Probleme stellt.

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Neben den Illusionen der Hauptstadt verhindert im nicht-englischen und nicht-französischen Raum die Sprachbarriere, dass die Interventen eine Nachkriegsgesellschaft in ihrer Komplexität erkennen. Nur wenige Interventen besitzen überhaupt Kenntnisse der anzutreffenden Sprache(n) und ein noch geringerer Teil kann sich darin verständigen. Laut Coles (2007: 28) trennt das Sprachproblem die meisten Interventen von den Intervenierten. Viele Interventen beschränken ihre Kontakte auf andere Intervenierende und erfahren wenig über Land und Leute. Für die Kommunikation mit den Intervenierten sind sie Übersetzern ausgeliefert, die nicht immer unvoreingenommen und frei von eigenen Interessen agieren.5 Die politischen Systeme ethnisch gespaltener Nachbürgerkriegsgesellschaften sind oft von Machtteilung gekenntzeichnet (Rothchild/Roeder 2005: 5–6) und entsprechend komplex . Bosnien und Herzegowina liefert in dieser Hinsicht ein extremes Beispiel (Gromes 2007: 158–171): Es handelt es sich um eine Föderation aus zwei Entitäten, namentlich aus der Republika Srpska und der Föderation von Bosnien und Herzegowina, die ihrerseits aus zehn Kantonen besteht. 13 Ministerpräsidenten und 135 Minister regieren die gut dreieinhalb bis vier Millionen Bürger.6 Die 42 Sitze des Repräsentantenhauses der Parlamentarischen Versammlung von Bosnien und Herzegowina teilen sich seit den letzten entsprechenden Wahlen im Herbst 2006 zwölf Parteien und Parteienbündnisse (Gromes 2006: 527). Die wahre Komplexität zeigt sich aber erst in den konkordanzdemokratischen Entscheidungsverfahren (Lijphart 1977: 25–47) der Bundesebene wie auch der beiden Entitäten. Zwischen den externen Akteuren und KonÀiktparteien besteht eine Asymmetrie der Kenntnisse. Die Interventen wissen weit weniger über die betroffene Gesellschaft als die Intervenierten; zudem wissen die Intervenierten weit mehr über die Interventen als umgekehrt. Die Interventen sind weniger, machen ihre Ziele transparenter und lassen sich einfacher in ihrem EinÀuss unterscheiden als die Intervenierten. Daher sind Friedensmissionen für Forscher eher zugänglich und leichter zu analysieren als die KonÀiktparteien. Das erklärt, warum sich so viele Studien als interventen¿xiert zeigen. Das Koordinationsproblem Die Präsenz zahlreicher intervenierender Akteure verschärft in vielen Fällen das Problem der Komplexität. In ihren Erklärungen beschwören die Interventen gerne Fast komisch mutet an, wenn, wie in Bosnien und Herzegowina, die Interventen Straßen einen zweiten, international leichter verständlichen Namen wie Pacman oder Arizona verleihen. 6 Eigene Zählung im April 2008 auf Basis der Internetangaben von Bosnien und Herzegowina, der beiden Entitäten und der zehn Kantone in der Föderation von Bosnien und Herzegowina.

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die internationale Gemeinschaft. Niemand weiß besser als sie selbst, dass sich hinter diesem verklärenden Begriff eine Vielzahl von Staaten, staatlichen Agenturen und internationalen Organisationen verbirgt, die unterschiedliche und gegensätzliche Interessen verfolgen und die divergierende Entscheidungs- und Berichtsverfahren sowie Finanzierungs- und Rekrutierungspraktiken aufweisen. Hinzu tritt ein buntes Bündel nationaler und transnationaler zivilgesellschaftlicher Organisationen. Niemand weiß besser als die Interventen selbst, wie wichtig es ist, gegenüber den KonÀiktparteien die Fiktion einer internationalen Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, als möglichst einig und geschlossen aufzutreten und das jeweilige Vorgehen aufeinander abzustimmen. Die Interventen können aber dem Koordinationsproblem nicht entkommen (Paris/Sisk 2007: 6). Nimmt man realitätsfremd an, dass alle Interventen gleichgerichtete politische Interessen verfolgten, bliebe weiter die Herausforderung, zahlreiche Akteure unterschiedlicher Größe, Ausstattung, Präsenzdauer und Programmlogik aufeinander abzustimmen. Dabei gilt die oft zu hörende Klage, dass jeder Koordination wolle, aber keiner koordiniert werden möchte. Schauen die Missionsleiter bei Luhmann nach, werden sie zwar immer noch nicht das Koordinationsproblem aus der Welt schaffen können, aber wenigstens wissen sie dann, warum. Das Friedensabkommen für Bosnien und Herzegowina (General Framework Agreement for Peace in Bosnia and Herzegovina 1995) setzte eine Reihe von Friedensmissionen ein: Die NATO sollte eine multi-nationale Friedenstruppe führen, die Vereinten Nationen entsandten die International Police Task Force, die OSZE kümmerte sich um die Organisationen von Wahlen, um den Schutz der Menschenrechte und die Rüstungskontrolle. Der Internationale Währungsfonds sollte den ersten Gouverneur der Zentralbank ernennen, der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte die drei ausländischen Richter des neunköp¿gen Verfassungsgerichts auswählen. Die Unterzeichner bestellten zudem einen Schlichter, der zu klären hatte, zu welcher Entität die strategisch wichtige Stadt Brþko gehören sollte. Schließlich berief das Friedensabkommen den Hohen Repräsentanten, der unter anderem die Aktivitäten jener Organisationen koordinieren sollte, die sich um die Umsetzung der zivilen Vorgaben des Friedensschlusses kümmerten. Der Hohe Repräsentant hatte dabei ausdrücklich die Autonomie dieser Organisationen zu respektieren. Nach dem Kriegsende gründeten die an Bosnien und Herzegowina interessierten Staaten und internationalen Organisationen zwecks ihrer Abstimmung den Friedensimplementierungsrat. Dessen Steuerungsausschuss gehören an die USA, die Präsidentschaft der Europäischen Union, die Europäische Kommis-

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sion, Russland, Deutschland, Großbritannien, Frankreich, Italien, Japan, Kanada sowie die Organisation der Islamischen Konferenz, vertreten durch die Türkei.7 Über die Anfänge der Nachkriegsintervention meinte Michael Steiner (2004: 64), damals im Büro des Hohen Repräsentanten: „Ich erinnere mich nur zu gut daran, wie oft wir darunter litten, dass es zu Beginn keine gemeinsamen Entscheidungsstrukturen und keine klare Koordinierungsbefugnisse gab.“ Strukturen der Abstimmung mildern das Koordinationsproblem bestenfalls ab, doch politische Kontroversen zwischen den Interventen sorgen dafür, dass die Koordination stets ein Thema bleibt. Das zeigte sich in Bosnien und Herzegowina etwa Ende Juni 2008 bei einem Treffen des Friedensimplementierungsrats, der verkündete, die Zeit sei noch nicht reif dafür, das Büro des Hohen Repräsentanten zu schließen. Russland ließ seine Distanzierung von diesem Beschluss in die Erklärung aufnehmen (Peace Implementation Council 2008). Das Konsistenzproblem Die skizzierten Probleme der Komplexität und Koordination tragen zum Konsistenzproblem bei, das in vier Varianten auftritt. Erstens herrschen oft Spannungen zwischen den proklamierten Zielen und den eingesetzten Mitteln (Paris/Sisk 2007: 7; Tansey 2007: 637; Zaum 2007: 230). Ein drastisches Beispiel dafür geben die Vollmachten, mit denen der Hohe Repräsentant nicht zuletzt die Demokratisierung bewirken sollte. Ende 1997 hat dieser vom Friedensimplementierungsrat das Mandat erhalten, Politiker und Beamte ihres Amtes zu entheben, die seiner Ansicht nach gegen das Friedensabkommen verstoßen haben (Peace Implementation Council 1997: para. XI). Des Weiteren durfte er Gesetze für nichtig erklären, ändern oder selbst erlassen. Bis Ende 2008 setzte der Hohe Repräsentant fast 200 Of¿zielle ab; insgesamt nutzte er die beschriebenen Vollmachten in 860 Fällen.8 Die Eingriffe dienten zwar unter anderem dem Ziel, Bosnien und Herzegowina zu demokratisieren, wiesen aber einen undemokratischen Charakter auf. Die Bürger sollten lernen, dass politische Entscheidungen demokratisch zustande kommen müssen. Allerdings konnten sie den Hohen Repräsentanten nicht aus mehreren Kandidaten auswählen. In einer Demokratie beschränken und kontrollieren eine gewählte Opposition und Gewaltenteilung die Macht der Regierung. Es gab jedoch keine von den Bürgern berufene Opposition oder eine unabhängige Justiz, welche die Macht des Hohen Repräsentanten begrenzten. Das Recht soll jeden binden, der Hohe Repräsentant aber stand 7 8

http://www.ohr.int/ohr-info/gen-info/#pic. Daten auf Grundlage der Angaben unter: http://www.ohr.int/decisions/archive.asp.

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über dem Gesetz. Bei Absetzungen agierte er als Ankläger und Richter in einem. Diese Herrschaft eines „wohlwollenden Despoten“ (Knaus/Martin 2003: 62) demonstrierte den Intervenierten: „Das Argument der Macht ist stärker als die Macht der Argumente“, wie Dragan Mikereviü (Interview 2005), ehemaliger Ministerpräsident der Republika Srpska, beklagte. Die Demokratisierungsdiktatur trug dazu bei, die vorherrschenden autoritären Einstellungen bei den Politikern und Wählern aufrechtzuerhalten. Eine zweite Variante des Konsistenzproblems zeigt sich in Widersprüchen zwischen den Praktiken der Interventen innerhalb eines Sachbereichs. Diese Widersprüche vermitteln den Eindruck, Gleiches werde ungleich behandelt, und die Regeln würden nicht einheitlich und durchgängig angewandt. In einem anonymen Interview (2002) erklärte ein Mitarbeiter des Büros des Hohen Repräsentanten, man habe es verworfen, klare Kriterien für Amtsenthebungen zu formulieren, da diese die notwendige Flexibilität nehmen würden. In einem anderen anonymen Interview (2005) hieß es, Absetzungen erfolgten etwas zufällig und willkürlich, da bestimmte Prinzipien nicht durchgehalten werden könnten. Nur wer sich auffällig verhalte, falle in ein Raster für mögliche Amtsenthebungen. Als drittes bestehen ZielkonÀikte und Spannungen zwischen den Praktiken der Interventen in verschiedenen Sachbereichen (Tansey 2007: 637). In Bosnien und Herzegowina verfolgen die Interventen das Ziel, einerseits der in das Friedensabkommen integrierten neuen Verfassung Geltung zu verschaffen und andererseits den Staat zu demokratisieren. Die Dayton-Verfassung sieht unter anderem eine dreiköp¿ge Präsidentschaft vor. Den serbischen Vertreter wählen die Bürger der Republika Srpska, den bosniakischen Repräsentanten und kroatischen Vertreter bestimmen die Bürger der Föderation von Bosnien und Herzegowina (General Framework Agreement for Peace in Bosnia and Herzegovina 1995: Annex 4, Art. V). Serben aus der Föderation und Bosniaken sowie Kroaten aus der Republika Srpska können nicht der Präsidentschaft angehören, was dem demokratischen Prinzip der allgemeinen und gleichen Wahl widerspricht. Als vierte Unterform des Konsistenzproblems treten Widersprüche zwischen den Forderungen oder Politiken der Interventen in der Nachkriegsgesellschaft und ihren Praktiken in den Entsenderstaaten auf. Seit einigen Jahren soll die Perspektive des Beitritts zur Europäischen Union die Friedenskonsolidierung in Bosnien und Herzegowina vorantreiben.9 Die Europäische Union verlangte für eine weitere Annäherung eine strukturelle Reform der Polizei. Lange Zeit bestand sie darauf, dass europäische Standards gelten und die Entitäten ihre Zuständigkeit über die Polizei aufgeben müssten. Die Kritiker der Polizeireform unter den KonÀiktparteien zeigen aber unter anderem auf Deutschland, wo die Länder einen Großteil 9

Zum EinÀuss der Beitrittsperspektive auf die KonÀikttransformation s. Gromes 2009.

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der Polizeiarbeit verantworten (anonymes Interview mit einem Minister der Republika Srpska 2005). Aus dem Konsistenzproblem kann folgen, dass die KonÀiktparteien ihre Verstöße gegen Regeln und Prinzipien mit der Inkonsistenz der Interventen entschuldigen. Inkonsistente Praktiken der Interventen untergraben deren Glaubwürdigkeit und können bei den Intervenierten den Verdacht nähren, die Friedensmissionen verfolgten andere als die proklamierten Ziele. Das Konsistenzproblem kann Akteuren eine Basis verschaffen, die gegen die Präsenz der Interventen mobilisieren. Auswege aus der Intervention Friedensmissionen kommen in der Regel, nicht um zu bleiben, sondern um zu gehen. Das Beschwören von Ownership sollte man daher nicht als bloße Legitimierungsstrategie abtun. Die lokalen KonÀiktparteien leben hingegen dauerhaft in ihrer Gesellschaft und gehen von einem weit längeren Zeithorizont aus als die Interventen. Die Intervenierten können die Interventen aussitzen, jedoch nicht umgekehrt. Des Weiteren können sich einzelne lokale Akteure für eine Zeit unsichtbar machen und aus der Politik zurückziehen. Den Interventen steht diese Option nicht offen; denn solange sie anwesend sind, müssen sie auch Präsenz zeigen, ihre Politik erklären sowie in Fortschritts- und Rechenschaftsberichte darlegen. Natürlich machen Interventen ihren Verbleib in einer Nachkriegsgesellschaft nicht stets von den Resultaten ihrer Intervention abhängig. Wollen sie aber ihre Präsenz erst mit ihrem Erfolg beenden, müssen sie erkennen können, wann sie das Ziel eines sich selbst tragenden Friedens erreicht haben. Als Kriterium bietet sich an, wie weit die KonÀiktparteien die Bestimmungen des Friedensschlusses umgesetzt haben (Hampson 1996: 9, 207). Das kann zeigen, wie sehr sich die KonÀiktparteien an das Friedensabkommen gebunden fühlen. Allerdings enthalten Friedensverträge oft mehrdeutige und widersprüchliche Formulierungen und klammern Probleme aus, damit alle Seiten zustimmen. Bisweilen erlegen sie den Unterzeichnern zu rigide VerpÀichtungen auf, die sie auch mit gutem Willen nicht implementieren können (Crocker/Hampson 1996: 55; Stedman/Rothchild 1996: 25–26). Zudem wirken nicht alle Bestimmungen eines Friedensabkommens unbedingt stabilisierend. Ähnliche Probleme tauchen auf, fragt man danach, wie sehr die Friedensmission die in ihrem Mandat festgelegten Ziele erreicht hat. Dieses Kriterium bezieht sich zudem auf die möglicherweise zu geringen Ambitionen der beteiligten Akteure statt auf die Erfordernisse der Friedenskonsolidierung (Downs/Stedman 2002: 45–47).

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Um den Stand des erreichten Friedens genauer zu verorten, könnte man erheben, wie sehr der einst kriegerisch ausgetragene KonÀikt transformiert wurde. Zusätzlich lässt sich nach potenziellen Gewaltakteuren und Kriegsmitteln fragen. a) b) a) b) c)

a) b) c) d) a) b) c) d)

a) b) c)

1. Transformation beim KonÀiktgegenstand Bleibt der KonÀiktgegenstand des Krieges dominant? Kommen neue KonÀiktlinien auf? 2. Transformation der KonÀiktparteien Gehen die früheren Bürgerkriegsparteien in neue Gruppen auf? Nimmt die Polarisierung zwischen den früheren Bürgerkriegsparteien ab? Verändern sich die Organisationen, welche die Hauptverantwortung für den Krieg trugen? 3. Transformation des KonÀiktaustrags Tragen die Kontrahenten ihren KonÀikt inner- oder außerhalb der gemeinsamen Institutionen aus? Nimmt die politische Gewalt ab? Ziehen sich Gewaltakteure zurück, treten neue auf? Legitimieren, leugnen, verharmlosen oder verurteilen die politischen Eliten auftretende Gewalt? Verurteilen die KonÀiktparteien Kriegsverbrechen der eigenen Seite? 4. Wahrnehmung der KonÀikttransformation Sehen die KonÀiktparteien einen Wandel beim KonÀiktgegenstand? Erkennen die KonÀiktparteien Änderungen bei ihren Gegnern? Nehmen die KonÀiktparteien einen transformierten KonÀiktaustrag wahr? Fürchten die KonÀiktparteien den Kollaps der Demokratie oder großÀächige politische Gewalt? 5. Gefahrenpotenziale Wer sind potenzielle Akteure einer kriegerischen Eskalation? Welche Mittel eines kriegerischen KonÀiktaustrags stehen bereit? Worin könnten Anlässe einer kriegerischen Eskalation bestehen?

Der vorgestellte Fragenkatalog erlaubt es, den Stand des erreichten Friedens näher zu skizzieren. Allerdings liefert die Liste noch keine Angaben, welche Antworten einen sich selbst tragenden Frieden anzeigen. Des Weiteren kann man auch mit diesem Katalog einem Grundproblem der Friedenskonsolidierung nicht ganz entkommen: Solange sich Interventen in einer Nachkriegsgesellschaft engagieren,

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lässt sich nicht sicher sagen, ob der Frieden auch ohne ihr Engagement andauern würde oder einzelne Erfolge der KonÀikttransformation von Dauer wären. Es gibt bestenfalls plausible Szenarien, aber keine Gewissheit darüber, was ohne die Präsenz der Interventen geschehen würde. In Bosnien und Herzegowina spielte diese Frage zumindest in den öffentlichen Verlautbarungen zunächst keine Rolle. Gerade die Vertreter der USA betonten, das Engagement solle nur ein Jahr dauern. Angesichts der Probleme dieser Nachkriegsgesellschaft rückte man davon ab, aber es dauerte eine Weile, bis der damalige US-Präsident, Bill Clinton, verkündete, man bleibe so lange vor Ort, wie für den Frieden erforderlich (Goldston 1997: 18–19; Woodward 1999: 153–154). Ende 2008 dauerten die Friedensmissionen in Bosnien und Herzegowina an. Die einst mehr als 60.000 Soldaten umfassende Friedenstruppe war mit noch 2.100 Beteiligten im Land.10 Der Hohe Repräsentant überwachte weiterhin die Umsetzung der zivilen Vorgaben des Dayton-Abkommens. Die OSZE organisierte längst keine Wahlen mehr, widmete sich aber unter anderem dem Bildungssektor.11 Die Annäherung an die Europäische Union sollte mit der klaren Aussicht auf Beitritt den Ausweg aus der Intervention ebnen. In diesem Sinne de¿nierten die Interventen ihre Abtrittsstrategie über den Eintritt der Intervenierten (High Representative 2004). Parallel dazu kam es zur Europäisierung oder genauer zur EU-isierung der Friedensmissionen: Die Europäische Union übernahm die Führung der Friedenstruppe, löste die Polizeimission der Vereinten Nationen ab und machte dem von Dayton-Abkommen eingesetzten Hohen Repräsentanten zusätzlich zu ihrem Sondergesandten in Bosnien und Herzegowina. Der Hohe Repräsentant (2006) stellte in Aussicht, sein Büro bald zu schließen, und machte seitdem kaum noch von den Instrumenten Gebrauch, Of¿zielle zu entlassen und Gesetze zu verfügen. So nahm er zwischen 2006 und Anfang Dezember 2008 nur noch zwei Amtsenthebungen vor.12 In diesem Zeitraum verschlechterte sich die Lage deutlich – jedenfalls nach Ansicht des Friedensimplementierungsrats (Peace Implementation Council 2008) und vieler meiner Interviewpartner, die ich während einer Forschungsreise in Bosnien und Herzegowina im Oktober und November 2008 traf. Angetrieben von scharfen Kontroversen zwischen den politischen Eliten, kam es zu einer Polarisierung zwischen den ethnischen Gruppen, zu wiederholten Krisen in den demokratischen Institutionen, aber zu keiner gewaltsamen Eskalation des politischen KonÀikts. Ein Teil der Interventen wie auch Vertreter der bosniakischen KonÀiktpartei führen die Verschlechterung auf die passivere Rolle der Friedensmissionen zurück und warnen entsprechend davor, das Büro des Hohen Repräsentanten zu schließen. www.euforbih.org/eufor/index.php?option=com_content&task=view&id=145&Itemid=62. www.oscebih.org/oscebih_eng.asp. 12 Daten auf Grundlage der Angaben unter: http://www.ohr.int/decisions/archive.asp. 10 11

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Gegen diese Linie kann man einwenden, nicht die größere Zurückhaltung der Interventen und das in Aussicht gestellte Verschwinden des Hohen Repräsentanten hätten diese Entwicklung verursacht, sondern die Wahlkämpfe 2006 und 2008 und einmalige äußere Ereignisse wie die Unabhängigkeit von Montenegro und Kosovo. Mit Politikern der serbischen Seite könnte man behaupten, es sei kein Zufall, dass gerade nach einem der sehr seltenen Eingriffe des Hohen Repräsentanten im Herbst 2007 die Krise ihren Höhepunkt erreichte.13 Angenommen, tatsächlich die passivere Rolle und das erwogene Ende einer der wichtigsten Friedensmissionen hätten die skizzierte Verschlechterung verursacht. Daraus leitet sich noch lange nicht ab, dass Fortschritte der Friedenskonsolidierung eine fortgesetzte und wieder aktivere Präsenz der Interventen erfordern. Denn womöglich ging die negative Entwicklung darauf zurück, dass ein Teil der KonÀiktparteien die Krise provozierte, um einen Verbleib der Interventen zu bewirken. Die bosniakischen und kroatischen Parteien sprechen sich für einen Verbleib des Hohen Repräsentanten samt seinen weit reichenden Vollmachten aus (Nezavisne novine 2008). Sie zeigen sich extrem unzufrieden mit dem gegebenen politischen System, können dieses aber nicht gegen den Willen der Serben ändern und setzen daher darauf, im Zusammenspiel mit den Interventen ihre Interessen eher durchsetzen zu können. Entsprechend stellen sich die serbischen Parteien gegen den Verbleib des Hohen Repräsentanten und dessen Vollmachten. Sie können mit der Dayton-Verfassung besser leben als die bosniakische und kroatische Seite; und die konkordanzdemokratischen Veto-Mechanismen geben ihnen ein Instrument, unliebsame Änderungen zu verhindern. Diese kurze Skizze soll genügen, um zu verdeutlichen, wie schwer es fällt, verantwortungsbewusst darüber zu entscheiden, ob der geschlossene Frieden ein Ende der Interventionen aushält oder nicht. Bosnien und Herzegowina zählt in dieser Abwägung zu den vergleichsweise einfachen Fällen, denn die exit-Strategie der Integration besteht keineswegs in allen Nachbürgerkriegsgesellschaften. Schluss Gutmeinende Interventen kommen, um KonÀikte zu regeln, aber oft kommen sie nicht zum Gehen, da sie Teil der KonÀikte werden. Als Menschen aus anderen Staaten sind sie externe Akteure, die allerdings dem KonÀikt nicht äußerlich bleiben. Interventen können den KonÀiktparteien die Sicherheit garantieren, zwischen ihnen vermitteln, Wiederaufbauhilfe leisten, an der Reform der Streitkräfte, Polizei, Gerichte, Medien und Wirtschaft mitwirken oder Manipulationen von Wahlen 13

Zu dieser Krise s. Gromes 2008: 31.

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erschweren und so den geschlossenen Frieden stabilisieren. Allerdings stabilisieren Interventen oftmals den KonÀikt. Sie wohnen, essen, trinken und zahlen sehr gut dafür. Sie stellen Fahrer und Übersetzer ein, sie sorgen für den ZuÀuss von Geld und Materialien für den Aufbau. Mit ihrer Präsenz geht ein MittelzuÀuss einher, der die Herrschaft lokaler oder nationaler Führungscliquen der einzelnen KonÀiktparteien festigen kann. Umfassende Friedensmissionen mit Vollmachten wie in Bosnien und Herzegowina können die KonÀiktparteien dazu verleiten, untereinander keine Kompromisse zu suchen, sondern auf ihre Maximalposition zu beharren. Denn zumindest vom Gegner drohen keine Konsequenzen, wenn man diesen mit massiven Vorwürfen, Provokationen und Forderungen überzieht, von denen man weiß, dass er diese ablehnen muss. Lang andauernde und schwer zu beende Friedensmissionen wie in Bosnien und Herzegowina zeigen Folgendes: Sie sind weder erfolgreich genug noch ausreichend gescheitert. Damit ist eine Euphorie über Interventionen ebenso unbegründet wie ein Fatalismus der Friedenskonsolidierung. Es gibt schlimmere Schlüsse. Literatur Bonacker, T., & Imbusch, P. (1996). Begriffe der Friedens- und KonÀiktforschung: KonÀikt, Gewalt, Krieg, Frieden. In P. Imbusch & R. Zoll (Hrsg.), Friedens- und KonÀiktforschung. Eine Einführung mit Quellen. Opladen. Bourdieu, P. (1976). Entwurf einer Theorie der Praxis auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Bourdieu, P., & Wacquant, L. J. D. (1996). ReÀexive Anthropologie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Centralna Izborna Komisija Bosne i Hercegovine: Izbori 2008, www.izbori.ba/Mandati27102008/ShowMunicipality.asp, 2008. Coles, K. (2007). Democratic Designs. International Intervention and Electoral Practices in Postwar Bosnia-Herzegovina. Ann Arbor: U of Michigan P. Crocker, C. A. & Hampson, F. O. (1996). Making Peace Settlements Work. Foreign Policy, 104, 54–71. Downs, G., & Stedman, S. J. (2002). Evaluation Issues in Peace Implementation. In S. J. Stedman, E. M. Cousens & D. Rothchild (Hrsg.), Ending Civil Wars. The Implementation of Peace Agreements (S. 43–69). Boulder, CO: Lynne Rienner. General Framework for Peace in Bosnia and Herzegovina, www.oscebih.org/overview/ gfap/eng/, 14.12.1995. Goldston, J. A (1997). The role of the OSCE in Bosnia: Lessons from the ¿rst year. Helsinki Monitor, 3(8), 6–36. Gromes, T. (2006). Der Souverän vor der Souveränität? Die Wahlen in Bosnien und Herzegowina im Oktober 2006. Südosteuropa, 54(4) 508–538.

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Die Gesellschaft der Anderen Kambodscha und die Interventionskultur der Weltgesellschaft1 Thorsten Bonacker

„There are plenty of people in the modern world who know what is best for everyone else.“ (Nils Brunsson & Bengt Jacobsson 2000: 1)

Interventionen in staatliche Angelegenheiten können auf sehr unterschiedlichen Wegen geschehen, beispielsweise durch militärische Zwangsmaßnahmen, durch diplomatischen Druck, durch konditionierte Entwicklungshilfe oder durch zivilgesellschaftliche Kampagnen. Besonders prominent sind seit Beginn der 1990er Jahre Interventionen durch internationale Organisationen, vor allem im Rahmen von UN geführten Friedensmissionen. Diese Missionen demonstrieren, dass die symbolische Bedeutung territorialer Grenzen schwächer geworden ist. Offenkundig ist dies für die sogenannten schwachen Staaten, die gar nicht in der Lage sind, ihre Grenzen zu kontrollieren oder ihre Regierungsgewalt auf ihrem Territorium auszuüben. Aber auch jenseits dieser dramatischen Fälle von Staaten, in die gleichsam permanent von anderen Staaten oder von nicht-staatlichen Gewaltakteuren interveniert wird, ist Intervention in diesem weit verstandenen Sinne fast schon ein Normalfall der Weltgesellschaft geworden. Dies gilt – vor allem seit der „Agenda for Peace“ und der Ausweitung der Aufgaben von Friedensmissionen – insbesondere für PostkonÀiktgesellschaften, in denen eine (häu¿g militär-gestützte) Intervention den Beginn für eine mehr oder weniger ausgeprägte Institutionalisierung und Normalisierung der Intervention markiert. So lässt sich etwa für Kambodscha sagen, dass die United Nations Transitional Authority in Cambodia (UNTAC) zwar formal nur 19 Monate, nämlich von Februar 1992 bis September 1993 dauerte, diese aber gewissermaßen der Türoffner für ein umfassendes internationales Engagement war, das Kambodscha zu einem der am stärksten von Entwicklungshilfe abhängigen Staaten machte. Wer die Entwicklung Kambodschas in den letzten zwanzig Jahren verstehen möchte, der wird vor allem auch die Präsenz, Diskurse und Praktiken der internationalen Akteure in und rund um Kambodscha 1

Für Kommentare und Unterstützung danke ich Dominik Pfeiffer und Hilka Langohr.

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und die Interaktionen zwischen internationalen Akteuren, nationalen Eliten und der Zivilgesellschaft analysieren müssen (vgl. Hughes 2003: 85 ff.). In der klassischen politikwissenschaftlichen Literatur und in den Internationalen Beziehungen wird Intervention trotz dieser Diagnose häu¿g als Gegenbegriff zu Souveränität verstanden. Interventionen sind aus dieser Perspektive dann vor allem Verletzungen einer im internationalen System verankerten Norm der territorialen Souveränität von Staaten. Neorealistisch betrachtet, gehen diese Normverletzungen auf die strukturelle Anarchie und das daraus resultierende Sicherheitsdilemma im internationalen System zurück, in dem Staaten Bedrohungen ihrer Souveränität dann mit der Verletzung der Souveränität anderer beantworten, wenn sie über die geeigneten Mittel verfügen und sich zugleich davon die effektive Abwehr der Bedrohung versprechen. Versteht man die internationalen Beziehungen hingegen auch als internationale Gesellschaft, in der Souveränität eine verankerte Norm darstellt, die Staaten (und nicht-staatliche Akteure) aus einsehbaren Gründen akzeptieren, stellen Interventionen Staaten vor allem vor Legitimationsprobleme. Dementsprechend befasst sich ein Großteil der Literatur zu Interventionen in den Internationalen Beziehungen mit normativen Begründungen und Legitimationskontexten von Interventionen unter den Bedingungen institutionalisierter normativer – beispielsweise völkerrechtlicher – Erwartungen an Souveränität (Hasenclever 2000; Welsh 2004). Dieser klassischen Beschäftigung mit Interventionen soll im Folgenden vor allem auch angesichts ihrer zunehmenden Institutionalisierung eine andere, stärker soziologische Perspektive an die Seite gestellt werden. Interventionen können nämlich nicht nur in Bezug auf eine international akzeptierte Norm analysiert werden, sondern sie stellen darüber hinaus eine Aktivität dar, die die Gesellschaft, in der sie statt¿ndet, mehr oder weniger nachhaltig verändert. Man kann auch sagen, dass Interventionen selbst eine Form der Vergesellschaftung darstellen, indem Akteure miteinander neuartige soziale Beziehungen eingehen und gesellschaftliche Muster bilden oder transformieren. Zahlreiche Aufsätze im vorliegenden Band berichten von dieser strukturierenden Aktivität von Interventionen. Ein besonders auffallendes Beispiel für eine solche Vergesellschaftung durch Interventionen ist die Zunahme von Prostitution in Interventionsgesellschaften. Intervenierende und Intervenierte gehen jedenfalls soziale Beziehungen unterschiedlichster Art ein, so dass die Interaktionen zwischen diesen Gruppen im Sinne Simmels Vergesellschaftung produziert. Robert Rubinstein (2008) hat UN-Friedensmissionen aus dieser Perspektive als kulturelle Aktivität analysiert und gezeigt, dass die Kenntnis lokaler kultureller Traditionen einen wichtigen Faktor für den Erfolg von Friedensmissionen darstellt. Wie die Interaktion zwischen der Mission und der lokalen Bevölkerung verläuft und wie die Mission von der Bevölkerung wahrgenommen wird, prägt entscheidend die Legitimität und damit die Erfolgswahrscheinlichkeit

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der Mission. Zur Illustrierung greift Rubinstein auf eine Situation der Intervention in Somalia zurück: „Colonel (Retired) Mark Walsh, the zone director of Southern Somalia during UNOSOM (United Nations Operation in Somalia), says he knew nothing of the local culture when he arrived in Somalia. Needing to get to his post, he managed to get a ride in the back of a pickup truck with a small group of Somali men. He later learned that he was well regarded by local elders because his behavior and actions during that ride had conveyed an appropriate sense of respect. Their initial evaluation of him was transmitted from person to person, building for him a positive reputation that facilitated his work for the rest of his stay. When he relates this story, Walsh stresses that this happy outcome could easily have come to grief if he had acted in ways that offended his hosts. He says, because he acted in ignorance of Somali culture that could just as easily have been the case. For example, he gave no thought to the gender of those in the pickup truck. It was happenstance that the truck he approached had no women or girls in it. But since he was simply looking for transportation, had the available truck had women in it, then his action might, inexplicably to him, have had a different result. Similarly, if the ages of occupants of the truck had happened to be different, his actions might have been as inappropriate and offensive“ (Rubinstein 2008: 36).

Interventionen können also entweder aus der Perspektive des internationalen Systems oder als Interaktion zwischen Akteuren im Rahmen einer – durch die Intervention entstehenden – Interventionsgesellschaft analysiert werden. Beide Perspektiven haben ihre Stärken, aber auch ihre Schwächen: Die Systemperspektive ignoriert die gesellschaftlichen Folgen, die selbst wiederum das internationale System transformieren können. Die gescheiterte Intervention in Somalia hat indirekt zum zögerlichen Handeln der internationalen Gemeinschaft in Ruanda beigetragen. Der interaktionistischen, kultursoziologischen Perspektive entgeht die Einbettung einer Interventionsgesellschaft in eine institutionalisierte Umwelt, durch die die Akteure der Interventionsgesellschaft erst legitimiert werden und ihre Handlungsfähigkeit erhalten. Wie ließe sich ansonsten erklären, dass es im Zuge unterschiedlicher Interventionen und unterschiedlicher KonÀiktkonstellationen zu relativ ähnlichen institutionellen Mustern – Koalitionsregierungen, Verwaltungsaufbau, Menschenrechtsförderung – und auch zu ähnlichen Folgen – Korruption, Zunahme häuslicher Gewalt und organisierte Kriminalität – kommt? Im Folgenden soll deshalb eine Perspektive auf Interventionen und Interventionsgesellschaften vorgeschlagen werden, die eine Intervention als kulturelle Praxis begreift, dabei aber stärker makrosoziologisch argumentiert und Souveränität als globales kulturelles Artefakt versteht. Intervention ist dann kein Gegenbegriff zu Souveränität, sondern Souveränität ermöglicht als kulturelles Artefakt geradezu Interventionen. Innerhalb der Internationalen Beziehungen hat Stephen

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Krasner ähnlich argumentiert: Souveränität wird von Staaten zwar symbolisch bestätigt, von starken, machtvollen Staaten aber dort unterminiert, wo Eigeninteressen verfolgt werden (vgl. Krasner 1999/LIPSON). Im Folgenden möchte ich zwar an Krasners Beschreibung der Entkopplung von symbolischer Normbestätigung und praktischer Normverletzung in gewisser Weise anschließen, dabei aber stärker aus Sicht des soziologischen Neoinstitutionalismus der World Polity-Theorie argumentieren. Zunächst skizziere ich die Forschungsperspektive der World Polity-Theorie und mache sie für die Beantwortung der Frage fruchtbar, was eine Interventionsgesellschaft charakterisiert. Hier wird argumentiert, dass die dauerhafte Macht von Interventionen weniger aus direktem Zwang, sondern aus normativem Druck besteht (1). Im Anschluss daran beschreibe ich Kambodscha als eine solche Interventionsgesellschaft (2). Kambodscha ist aus mehreren Gründen ein interessanter Fall für eine soziologische Analyse von Interventionen. Erstens war Kambodscha eine der ersten großen UN-Missionen nach dem Ost-West-KonÀikt, die zudem für einen gewissen Zeitraum volle Regierungsgewalt ausgeübt hat. Zweitens vollzog sich die Intervention im Rahmen der UNTAC ohne direkte Gewaltanwendung und ohne Zwangsmaßnahmen, da UNTAC auf dem Pariser Friedensabkommen beruhte. Und drittens ist Kambodscha bis heute von einem starken internationalen Engagement geprägt, das sich als Institutionalisierung der Intervention verstehen lässt (3). Die These des Beitrags lautet, dass Interventionsgesellschaften durch die Macht der rationalisierten Anderen geprägt sind, die globale Modelle und weltweite Standards scheinbar interesselos verbreiten. Diese Verbreitung führt zu einer „organized hypocrisy“ (Lipson 2007) und zu einer Gleichzeitigkeit von Wandel, verstanden als formale Anpassung an globale Anforderungen, und der Entkopplung der formalen Strukturen von den realen Praktiken in Interventionsgesellschaften (4). 1

Interventionsgesellschaften aus Sicht der World Polity-Forschung

Staaten, (internationale) Organisationen und Individuen sind aus Sicht des soziologischen Neoinstitutionalismus keine gegebenen Akteure, die miteinander oder untereinander interagieren, sondern sie sind zunächst einmal Konstrukte einer rationalisierten globalen Kultur. Ihre Handlungsfähigkeit und ihre Identität erhalten sie durch die Übernahme global institutionalisierter Muster, die festlegen, wie ein Staat aussehen sollte, was Organisationen beinhalten und wie Individuen sich verhalten sollten. Die Souveränität von Staaten ist also, kurz gesagt, eine auf globaler Ebene institutionalisierte Vorstellung darüber, wie sich ein Staat (inklusive seiner Führung) inszenieren sollte, um als souverän zu gelten. Die World Polity-Theorie legt damit ihren Fokus auf die rationalisierte Umwelt von Akteuren bzw. auf die

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Bedeutung von Institutionen, durch die die Akteurshaftigkeit (actorhood) von Einheiten generiert wird. Das Forschungsprogramm der World Polity-Theorie betont deshalb auch die Bedeutung weltkultureller Modelle für lokale Bedingungen und Interaktionen: „Worldwide models de¿ne and legitimate agendas for local action, shaping the structures and policies of nation-states and other national and local actors in virtually all of the domains of rationalized social life – business, politics, education, medicine, science, even family and religion. The institutionalization of world models helps explain many puzzling features of contemporary national societies, such as structural isomorphism in the face of enormous differences in resources and traditions, ritualized and rather loosely coupled organizational efforts, and elaborate structuration to serve purpose that are largely of exogenous origin“ (Meyer et al. 1997: 145).

Interventionen erscheinen aus dieser Sicht nicht als eine Verletzung von Souveränität, sondern in erster Linie als eine Verbreitung rationalisierter weltkultureller normativer und kognitiver Modelle und Skripts, an die sich Akteure wie Staaten oder Organisationen halten sollten, wenn sie gegenüber einer relevanten Umwelt als legitim gelten wollen. Souveräne Staaten müssen sich mit anderen Worten angemessen benehmen, sie müssen auf unterschiedlichen Gebieten wie der Bildung, des Rechts oder der Verteidigung Standards erreichen und darüber hinaus Rituale entwickeln, mit denen sie zu erkennen geben, dass sie den weltweit of¿ziellen Beschreibungen eines guten Staates entsprechen. Souveränität ist dann nichts anderes als „another name for multiform responsibilities“ (Meyer 1994: 52). PostkonÀiktgesellschaften sind in eine institutionalisierte und rationalisierte globale Umwelt eingebettet, die de¿niert, was in PostkonÀiktsituationen geschehen muss, damit es nicht zu einem Rückfall in Gewalt kommt. Diese global akzeptierten Mechanismen und Instrumente des PostconÀict Peacebuilding, die mit dem Begriff des liberalen Friedens zusammengefasst werden, führen dazu, dass sich die Maßnahmen und Strukturen in PostkonÀiktgesellschaften trotz großer Unterschiedlichkeit der Gesellschaften und der KonÀikte ähneln: Es werden Demokratisierungsbemühungen gefördert, Märkte liberalisiert, Zivilgesellschaften gestärkt, individuelle Rechte (vor allem Frauenrechte) protegiert, Verwaltungsapparate aufgebaut, Polizisten und Militärs geschult (vgl. zum Konzept des liberalen Friedens Richmond 2007). Von Interventionsgesellschaften ist deshalb zu erwarten, dass sie sich auf der formalen Ebene ähneln, weil sie sich unter gleichen globalen Umweltbedingungen entwickeln und sich an den gleichen Modellen der richtigen Friedensförderung, des guten Staates und der effektiven (transparenten und verantwortungsbewussten) Organisation orientieren. Vier Aspekte scheinen für Interventionsgesellschaften charakteristisch:

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Erstens werden Interventionen durch rationalisierte Organisationen ausgeführt. Dazu gehören neben dem Militär auch zivile Organisationen bis hin zu NGOs. Sie alle legitimieren sich und die Intervention nicht über ein Eigeninteresse, sondern über universale Prinzipien wie Menschenrechte, Demokratie, Frieden und Stabilität. Organisationen neigen bekanntlich zu Ritualen, die sie als kollektive Akteure sichtbar werden lassen. Friedensmissionen verwenden spezi¿sche Symbole und interne Rituale, um nach innen und außen Handlungsfähigkeit zu demonstrieren (vgl. Rubinstein 2008). Sie entkoppeln häu¿g intern die formalen Anforderungen von ihren realen Praktiken. So entsprechen die Vorgaben und Empfehlungen für eine kulturell sensible Vorbereitung auf Auslandseinsätze häu¿g nicht ihrer tatsächlichen, häu¿g kurzfristigen Durchführung. Die formalen Strukturen von Organisationen verändern sich aufgrund des Wandels exogener Vorgaben. Ein klassisches Beispiel dafür ist das Gendermainstreaming in Friedensmissionen. Ob sich demgegenüber dann auch die realen Praktiken wandeln, erscheint zweifelhaft. Zweitens kann man erwarten, dass Interventionen aufgrund der Diffusion formaler Modelle ähnliche Folgen haben. Zu diesen Folgen zählen, drittens, der Zuwachs an formalen Organisationen sowohl auf der Ebene der Vereinten Nationen (sichtbar etwa an der Gründung der UN Peacebuilding Commission) als auch in den Missionen und in den betroffenen Ländern. Eine weitere Folge besteht, viertens, in der Diskrepanz zwischen den Zielen von Interventionen und dem tatsächlich Erreichten. Diese Diskrepanz hat zu einer skeptischen Beurteilung des Erfolgs von Peacebuilding-Interventionen geführt. Auf der einen Seite scheinen Peacekeeping-Missionen für die Herstellung negativen Friedens durchaus effektiv zu sein (Fortna & Howard 2008), auf der anderen Seite ist die Diskrepanz zwischen den hohen Ansprüchen multidimensionaler Missionen und der Realität von PostkonÀiktgesellschaften unübersehbar (Doyle & Sambanis 2006; Richmond 2007). Die These dieses Beitrags lautet, dass diese Diskrepanz kein Resultat einer mangelhaften Durchführung von Interventionen, beispielsweise von zu wenig Koordination und zu wenig Ressourcen, sondern eine erwartbare, strukturelle Folge von Interventionen unter den Bedingungen einer dezentralen Weltgesellschaft ist (vgl. auch Paris 2009). Interventionen werden hier vor allem als eine aktive Verbreitung weltkultureller Modelle durch Akteure verstanden, deren Autorität sich aus ihrem Bezug auf universale Prinzipien speist. Diese Akteure werden von Meyer im Anschluss an Mead als rationalisierte Andere (rationalized others) bezeichnet. Ich möchte im Folgenden zeigen, dass die Macht einer Intervention weniger aus einer direkten Kontrolle und einem unmittelbaren Zwang zur Befolgung von Regeln und Normen, sondern aus einer scheinbar interesselosen Verbreitung rationalisierter Standards der Weltkultur durch solche Anderen besteht. Die Interaktion zwischen Intervenierenden und Intervenierten verläuft demzufolge

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auf zwei Wegen: als direkte Interaktion zwischen Anwesenden, etwa zwischen internationalen Ausbildern und lokaler Polizei, und als indirekte Interaktion über die Kommunikation von Standards des angemessenen Verhaltens und Handelns durch generalisierte und rationalisierte Andere. Interventionsgesellschaften sind demzufolge durch zwei Entwicklungen gekennzeichnet: durch Wandel und durch Entkopplung. Auf der einen Seite werden formale Modelle wie Demokratie und freie Märkte und die mit ihnen verbundenen Standards symbolisch bestätigt und übernommen. Auf der anderen Seite werden die formalen Strukturen von den realen Aktivitäten und Praktiken abgekoppelt. Entkopplung wird wiederum häu¿g öffentlich thematisiert. Diese öffentliche Thematisierung ist es, die aus Interventionen Interventionsgesellschaften macht, weil nun nicht mehr nur Anwesende – die Intervenierenden und die Intervenierten – miteinander interagieren, sondern die Gesellschaft als solche betrachtet wird. Interventionsgesellschaften sind mit anderen Worten immer Gesellschaften der (rationalisierten) Anderen, deren Modelle nur partiell umgesetzt werden (können), was wiederum von diesen Anderen kritisiert und dann meistens mit Reformvorschlägen beantwortet wird. Gerade weil Interventionen häu¿g über eine unmittelbare Aktivität etwa im Rahmen von UN-Friedensmissionen hinaus wirken und Macht über die Institutionalisierung normativen Drucks entfalten, ist ein Fall wie Kambodscha mit einer relativ kurzen Mission, aber einer nachhaltigen Institutionalisierung für die Illustration der hier entwickelten Perspektive besonders interessant. 2

Kambodscha als Interventionsgesellschaft

Die nachkoloniale Interventionsgeschichte Kambodschas ist in hohem Maße durch den Ost-West-KonÀikt und dessen AuÀösung sowie durch regionale machtpolitische Strategien geprägt. Zahlreiche Analysen der Gewaltherrschaft der Roten Khmer, die von 1975 bis 1979 dauerte, haben gezeigt, dass diese vor allem durch Interventionen externer Staaten ermöglicht wurde. Die Interventionsgeschichte begann mit dem US-Bombardement während des Vietnamkriegs2 und der Unterstützung des Regimes von Lon Nol durch die Vereinigten Staaten. Der antikommunistische General, der 1969 Premierminister wurde, hatte ein Jahr später die volle Macht im Staate durch einen friedlichen Putsch gegen Prinz Sihnouk erlangt. Während die USA in ihm einen Verbündeten gegen die kommunistische Bewegung in Indochina im Allgemeinen und gegen die Viet Cong im Besonderen sahen, versuchte Lon Nol seine Macht durch diese Allianz zu stärken. Politische 2 Zur Rolle der US-Intervention in Kambodscha in den 1970er Jahren vgl. Kiernan 1996: 16 ff., Chandler 1999: 96 f., Golzio 2003: 147.

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wie militärische Fehlentscheidungen, eine fundamentale Fehleinschätzung über den Charakter der US-Intervention sowie der vom Regime maßgeblich verursachte wirtschaftliche Niedergang des Landes besiegelten nach einem fünfjährigen Bürgerkrieg sein Ende (vgl. Hensengerth 2008: 15 ff.). Seine Gegner, die später als Rote Khmer bekannt gewordene kommunistische Guerilla, verdankte indes zum einen ihre neue Größe dem Zulauf neuer Kräfte durch die US-Bombardements. Zum anderen konnte die VR China den um Hilfe ersuchenden Prinzen davon überzeugen, ein Bündnis mit den Kommunisten einzugehen, der schließlich im März 1970 die Gründung der Nationalen Einheitsfront Kampucheas bekannt gab – eine Allianz, die ohne die Intervention Chinas undenkbar gewesen wäre. Mit dem im Volk verehrten Prinzen auf ihrer Seite wurde aus einer kleinen Guerilla schnell eine Massenbewegung,3 die schließlich zum Triumph Pol Pots im April 1975 und zur Machtübernahme der Roten Khmer führte. Das Terrorregime der Roten Khmer, dem schätzungsweise runde zwei Millionen Kambodschaner zum Opfer ¿elen, wurde wiederum durch eine Intervention Vietnams 1978/79 beendet, das die sozialistische Volksrepublik Kampuchea ausrief. Weder westliche Staaten noch die Vereinten Nationen erkannten diese Intervention an. Stattdessen unterstützten sie – gemeinsam mit China – die Gegenbewegung, die sich in erster Linie aus Roten Khmer und Royalisten zusammensetze. „The unusual importance awarded to Cambodia by the superpowers, as a result of its propinquity to the conÀict in Vietnam during the Cold War, entails that Cambodia has long been the target of intensive international attention. The current ‚international community of Cambodian watchers‘ replaces the bipolar blocs of the 1970s and 80s, which supported different sides in the civil war years. In the 1980s, these bipolar blocs comprised China and Thailand, broadly supported by ASEAN, the Western powers and the United Nations, on the one hand, and the Soviet Union, the Socialist Republic of Vietnam and the rest of the Soviet Bloc, on the other. Interventionary policies on both sides during this decade varied from diplomatic to economic to military support for the contending armies. The power of these contending interventionary drives and their devastating impact on Cambodia in the 1980s is well-known, and has been blamed for trapping Cambodia in a bloody but internationally and regionally convenient, stalemate for a decade“ (Hughes 2003: 86 f.).

Erst 1991 wurden auf internationaler Ebene die Verbrechen aus der Zeit der Roten Khmer öffentlich anerkannt (vgl. Kiernan 2002). Im gleichen Jahr und im Zusam3 „In 1969, the Cambodian government under Lon Nol estimated that members of anti-government factions numbered 2,400 (..), but already by the end of 1970, the members of the NUFK (die engl. Abkürzung für die Einheitsfront, Anm. d. A.) had reached between 12,000 and 15,000, which in turn increased to a number between 18,000 and 25,000 by the end of 1971, and to between 35,000 and 40,000 by the end of 1972 (…)“ (Amakawa 2005/2006).

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menhang damit wurde unter Vermittlung der UN ein Waffenstillstandsabkommen und im Anschluss daran das Pariser Friedensabkommen unterzeichnet, das von Michael Vickery etwas drastisch als „the last stage in the international campaign to destroy the PRK/SOC (die neue provietnamesische Regierung, TB) as part of the U.S. vendetta against Vietnam“ (Vickery 2007: 14) bezeichnet wird. Dieses markierte den Beginn der von den KonÀiktparteien gewollten Intervention durch die UN, die mit der Sicherheitsratsresolution 745 im Jahr 1992 die United Nations Transitional Authority in Cambodia (UNTAC) eingesetzt hatte, deren Aufgabe in der Einrichtung einer internationalen Administration in Kambodscha bestand. Das Mandat dieser ersten multidimensionalen UN-Mission umfasste vor allem die Durchführung und Überwachung freier Wahlen, Menschenrechtsförderung, die Restrukturierung des Militärs, den Aufbau der zivilen Verwaltung und rechtsstaatlicher Institutionen, die Rückkehr von Flüchtlingen und den Wiederaufbau der Infrastruktur. Die Mission endete im September 1993 mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung und der Bildung einer Koalitionsregierung. Allerdings hatten Anhänger und Mitglieder der Roten Khmer die ersten Wahlen bereits boykottiert und einen Guerillakrieg gegen die Übergangsregierung begonnen. 1996 lief mit Ieng Sary ein hochrangiger Roter Khmer zur Regierung über. Gleichzeitig wurde Pol Pot von seinen Genossen in einem Schauprozess zu lebenslangem Hausarrest verurteilt, weil seine Paranoia und Säuberungswut, indem sie sich nun auch gegen die treuesten Mitstreiter richtete, diesen endgültig zu weit ging. Den anderen Führern der Roten Khmer wurde später zunächst weitgehend Amnestie gewährt. 1997 putschte der heutige Regierungschef Hun Sen gegen seinen Koalitionspartner Norodom Ranariddh in der Regierung, woraufhin es zu zahlreichen gewaltsamen Übergriffen kam. Die internationale Gemeinschaft – allen voran die UN und ASEAN – intervenierten über Sanktionsandrohungen und starken diplomatischen Druck, sodass Hun Sen und die Cambodia People Party (CCP) einlenkten und 1998 eine neue Koalitionsregierung bildeten. Faktisch hat sich Kambodscha politisch seitdem zu einem Ein-Parteien-Staat unter der Führung von Hun Sen entwickelt. Kambodscha ist heute einer der am stärksten von Entwicklungshilfe abhängigen Staaten. Für 2009 wurde dem Land laut Informationen des Auswärtigen Amtes Entwicklungshilfe in Höhe von etwa einer Milliarde US-Dollar versprochen. In 2007 wurden für Kambodscha knapp eine halbe Milliarde US-Dollar ausgegeben.4 Diese wird vor allem für Projekte zur Unterstützung der Demokratisierung, für Armutsreduktion und ländliche Entwicklung, Ausbau des Gesundheitssystems und Bekämpfung von HIV/AIDS, Förderung von Rechtsstaatlichkeit sowie Ausbau des Bildungswesens verwendet. Die meisten Beobachter der Entwicklung seit Ende der 1990er Jahre kommen zu dem Schluss, dass sich in Kam4

Vgl. http://stats.oecd.org/index.aspx (abgerufen am 30.7.2009).

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bodscha eine klientelistische Struktur etabliert hat, von der vor allem die Elite um Premierminister Hun Sen pro¿tiert. Sorpong Peou zufolge kontrolliert die Regierung alle wesentlichen gesellschaftlichen Bereiche und verhindert eine effektive Opposition auch mit Androhung oder Anwendung von Zwang und Gewalt. Hun Sen „rewarded those who served to maintain his grip on power, even if they had bad records in terms of human rights violations, and did not hesitate to defend or protect those who showed him loyality. Cambodian elite members showed a lot of interest in commercial activities that advanced their personal gains, but little inclination toward democracy“ (Peou 2007: 163). Die Analyse der Folgen von UNTAC fällt ambivalent aus. Auf der einen Seite wird hervorgehoben, dass UNTAC einen wichtigen Beitrag zur Stabilisierung und Demokratisierung geleistet hat. Sichtbar ist dies an den gemessen an internationalen Standards freien und weitgehend fairen Wahlen mit hoher Wahlbeteiligung. Seit 1998 herrscht negativer Frieden, was angesichts der extremen Gewalt in den 1970er Jahren und der Instabilität bis in die 1990er Jahre hinein als Erfolg zu werten ist. Angesichts der nach wie vor großen Armut im Land kann die durch die internationalen Organisationen vorangetriebene Demokratisierung als Chance verstanden werden, als Staatsbürger respektiert und gehört zu werden.5 Auf der anderen Seite ist auch deutlich, dass außerhalb der großen Städte – vor allem Phnom Penhs – das Wissen um demokratische Prinzipien und Menschenrechte wenig verbreitet ist. „There are no doubts that democracy has indeed brought many bene¿ts to some people in Cambodia since 1993; and the cities – primarily Phnom Penh – have developed massively in terms of public provision and private wealth. Ending the international proxy element to Cambodia’s internal struggles paved the way both for the UN and democratization, as well as for huge foreign investment and development“ (Roberts 2009: 161). Außerhalb der Städte ist die Situation allerdings von Entrechtung, Landnahme und Patronage gekennzeichnet. „Before UNTAC began statebuilding in accordance with the PPA’s [Paris Peace Agreement’s, TB] blueprint, land claims, and disputes were more often than not worked through informally under the previous non-democratic system via village chief‘s interpretation of events, a monk‘s mediation or a provincial court‘s binding and relatively inexpensive verdict. The introduction of the rule of law and democracy has accelerated signi¿cantly the rise of a legal system akin to those in the US and Europe. In Cambodia, this is unaffordable for the majority of poor people, most of who are without substantial state or private legal aid interventions“ (Roberts 2009: 162). Die durchschnittliche Lebenserwartung liegt derzeit bei 56 Jahren, ca. ein Drittel aller Einwohner leben unterhalb der internationalen Armutsgrenze. Kambodscha belegt Platz 133 von 177 des Human Development Index. Zudem ist Kambodscha das Land mit der höchsten Rate an HIV/AIDS-Erkrankungen in Südostasien. 5

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UNTAC hat nach den Interventionen durch andere Staaten den Weg für eine Institutionalisierung der Intervention vor allem durch internationale Organisationen und NGOs sowie über bi- und multilaterale Entwicklungszusammenarbeit bereitet. Die Wahlen 1993 wurden gemeinhin als Erfolg von UNTAC gewertet, auch wenn die Intention der internationalen Gemeinschaft weniger darin lag, Kambodscha intern zu demokratisieren, sondern eine legitime und damit international anerkennbare Regierung zu kreieren (so der UNTAC-Of¿zielle David Ashley, vgl. Vickery 2007). Aber: „It has become increasingly clear that Cambodia also needed ‚peacebuilding‘ – the institutional, social, and economic reforms that can serve to defuse or peacefully resolve conÀict (…) Only concerted action by the government, the donor community, nongovernmental organizations, and the UN – both during and following UNTAC – could have kept a peace on track and have ensured a continued effort at reconstruction and reconciliation“ (Doyle 2000: 89 f.). Die Institutionalisierung der (gewollten) Intervention zeigt sich in dem dauerhaften Engagement dieser externen Akteure in die Angelegenheiten des kambodschanischen Staates. Als Interventionsgesellschaft hat Kambodscha seit den 1980er Jahren vier unterschiedliche Stränge der Transition und damit auch der Intervention durchlaufen: von der Kommandoökonomie zur weitgehenden Marktliberalisierung, vom Bürgerkrieg zu Frieden und Stabilität sowie vom Autoritarismus zur formalen Demokratie (vgl. Hughes 2003). Hinzu kommt der Übergang von der Amnestierung der Verbrechen der Roten Khmer hin zu ihrer strafrechtlichen Verfolgung im Rahmen von Transitional Justice-Maßnahmen, die zugleich auch einen Übergang hin zu rechtsstaatlichen Prinzipien markieren. Während es 1979 noch zu einem Schauprozess gegen Pol Pot und Ieng Sary kam, bemühten sich die Vereinten Nationen seit Anfang 2000 um einen fairen Prozess gegen die noch lebende Elite des Khmer Rouge Regimes. Diese Bemühungen führten schließlich zur Einrichtung der Extraordinary Chambers in the Court of Cambodia (ECCC). Auf massiven Druck der Vereinten Nationen stimmte die Regierung 2003 der Einrichtung eines Hybridtribunals zu – allerdings mit der AuÀage, dass dieses Gericht im Rahmen des kambodschanischen Rechtssystems agiert und keine Entscheidung ohne eine Zustimmung der kambodschanischen Richter und Staatsanwälte gefällt werden kann. Nach der Eröffnung des ersten Hauptverfahrens im Frühjahr 2009 gegen den Leiter des Foltergefängnisses Tuol Sleng versuchten internationale und kambodschanische Nichtregierungsorganisationen, die Vereinten Nationen und einige westliche Regierungen eine Ausweitung der Anklagen jenseits der zur Zeit verhandelten fünf Fälle zu erreichen. Zum ersten Mal besteht im Rahmen eines internationalisierten Strafverfahrens die Möglichkeit, dass Opfer als Nebenkläger auftreten. Im Zusammenhang mit dieser juristischen Opferbeteiligung engagieren sich zahlreiche kambodschanische und internationale NGOs für die Stärkung der

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Opferrechte und darüber hinaus für die öffentliche Aufarbeitung der Verbrechen der Roten Khmer.6 Der kambodschanische Transitionsprozess, der mit der UN-Intervention angestoßen wurde, kann als eine Mischung aus gelungener Transformation auf der einen und Konsolidierung klientelistischer Machtnetzwerke auf der anderen Seite betrachtet werden. Deutlich wird dies vor allem in den Bereichen der Demokratisierung und der Rechtsstaatlichkeit. In Bezug auf den demokratischen Transitionsprozess kann man feststellen, dass die landesweiten Wahlen seit Ende des Bürgerkriegs ohne Frage einen Fortschritt in Sachen Demokratisierung darstellen. Die Regierung in Phnom Penh bekennt sich nach außen zu demokratischen Prinzipien und führt auf allen Politikebenen Wahlen durch. Zugleich gibt es bislang keine demokratisch herbeigeführte Machtübergabe: Die regierende Cambodia People Party (CPP) stellt fast alle Bürgermeister im Land. Auf dem Corruption Perception Index von Transparency International belegt Kambodscha derzeit Platz 166 von 180. Kambodscha lässt sich deshalb als eine formale Wählerdemokratie bezeichnen. Zugleich scheint der Ausgang von Wahlen aufgrund von Patronage und Klientelismus weitgehend determiniert zu sein. „Opposition parties continued to resist the electoral rule of fairness that required them to accept their losses and allow the winning party to form a new government. Government of¿cials performed their functions poorly in meeting people’s needs. Many deeply engaged in corrupt practices that diminished their political legitimacy“ (Peou 2007: 60). Diese Diskrepanz zwischen öffentlicher Rhetorik und tatsächlicher Praxis wiederholt sich auch auf dem Gebiet der Rechtsstaatlichkeit.7 Auf der einen Seite wurde im Zuge von Justizreformen ein formal unabhängiges Gerichtswesen aufgebaut. Zugleich nahm die Regierung die Amnestieregelungen für Verbrechen der Roten Khmer zurück und befolgte damit völkerrechtliche Vorgaben. Ebenso akzeptierte sie die strafrechtliche Verfolgung durch die ECCC. Auf der anderen Seite macht Peou deutlich, dass es jenseits symbolischer Bestätigungen internationaler Rechtsstandards eine Kultur der Straf- und Verantwortungslosigkeit gebe. „In practice, the Cambodian elites repeatedly violated the norm of accountability. Although corruption remained widespread and Hun Sen made promises to donors that his government would combat corruption, he did little to hold high-ranking of¿cials accountable for their corrupt actions“ (65). Trotz dieser weit verbreiteten 6 In diesem Zusammenhang stehen auch zwei vom Auswärtigen Amt und dem Institut für Auslandsbeziehungen geförderte Projekte, die wir am Zentrum für KonÀiktforschung in Phnom Penh 2008 und 2009 durchgeführt haben. Vgl. Zum Thema Transitional Justice in Kambodscha auch Bonacker, Form & Pfeiffer 2009. 7 Vgl. dazu das entsprechende monitoring des Center for Social Development: http://www.csdcambodia.org/legalpub.html.

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Korruptionspraxis war Kambodscha das erste asiatische Land, das 1999 bei der Weltbank Unterstützung für den Kampf gegen Korruption beantragte. 2004 hat Hun Sen öffentlich einen „Krieg gegen die Korruption“ ausgerufen. In Bezug auf die ECCC zeigt sich ebenfalls ein gemischtes Verhalten: Zwar wird die Tätigkeit der ECCC grundsätzlich von der Regierung für wichtig gehalten. Einer Ausweitung der Anklagen wird aber entgegengehalten, dass für Kambodscha Stabilität wichtiger sei als die Aufarbeitung der Vergangenheit. Eine intensivere Aufarbeitung der Vergangenheit sei, so Hun Sen 2006, zudem eine Bedrohung für die nationale Versöhnung (vgl. Gellman 2008).8 Sowohl die Anti-Korruptions-Rhetorik als auch dieser Hinweis auf die bedrohte Versöhnung zeigen, dass die kambodschanische Regierung im Rahmen internationaler normativer Erwartungen und Standards handelt. Die gleichzeitige Transformation formaler Strukturen (Wahlen, Anti-Korruptionsprogramme, strafrechtliche Aufarbeitung) und eine davon abweichende Praxis sind, wie ich im Folgenden argumentieren möchte, nicht einfach als Scheitern der Intervention, sondern als typische Konsequenz ihrer Institutionalisierung zu verstehen. 3

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Interventionen sind unter den Bedingungen einer rationalisierten Weltkultur eine Sache des scheinbar interesselosen Handelns. Wer interveniert, rechtfertigt dies in der Regel durch den Verweis auf höhere, universale Prinzipien. Dies gilt für alle Arten moderner Akteure: Interventionen in soziale Beziehungen oder in persönliche Belange von Individuen werden von den Intervenierenden ebenso durch den Hinweis auf höher stehende Werte begründet wie Eingriffe von und in Organisationen oder Staaten. Therapeuten berufen sich auf Gesundheit, die Polizei auf Sicherheit, Unternehmensberater auf Effektivität und internationale Organisationen auf Menschenrechte und Frieden. Diese höheren Prinzipien sind gleichsam die sakralen Bestandteile einer global verbreiteten rationalisierten Kultur, durch die Akteure legitimiert werden und durch diese erst ihren Status als handlungsfähige Akteure erhalten. Die Weltkultur besteht aus einer inkohärenten Ansammlung solcher Prinzipien, die sowohl normative als auch kognitive Elemente beinhalten. Akteure müssen sich nicht nur an global institutionalisierte Regeln halten, sie müssen auch normativen Prinzipien folgen und sich Wissen über unterschiedlichste Zusammenhänge aneignen. Damit ein Staat wie Kambodscha als legitimer Akteur der Weltgesellschaft auftreten kann, muss er sich beispielsweise an geltendes VölVgl. auch http://ki-media.blogspot.com/2006/12/hun-sen-khmer-rouge-story-has-ended.html (abgerufen am 30.7.2009).

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kerrecht halten, er muss Mitglied in verschiedenen internationalen Organisationen sein, er muss sich als Menschenrechte schützender und sich um das Wohl seiner Bevölkerung sorgender Staat darstellen, und er muss wissen, wie man effektiv gegen Korruption vorgeht. Die Souveränität eines Staates ist letztlich eine Konsequenz der erfolgreichen Inszenierung wenigstens einiger zentraler Bestandteile dessen, was im Rahmen der Weltkultur als angemessenes Verhalten eines Staates gilt. Selbst Staaten, die offenkundig gegen einige dieser Prinzipien verstoßen, können sich nicht vollständig von weltkulturellen Erwartungen abkoppeln. Sie müssen wenigstens glaubhaft machen, dass sie ihre Grenzen kontrollieren und ein Gebiet verwalten können und sie müssen als Staaten international kommunizieren können. Eine zu starke Abweichung von institutionalisierten Skripts für angemessenes staatliches Handeln erhöht für Staaten das Risiko entweder gar nicht mehr als Staat betrachtet zu werden oder als Objekt einer notwendigen Intervention zu gelten – wobei diese Intervention nur in den seltensten Fällen militär-gestützt erfolgt. In der Regel intervenieren Akteure in staatliche Bereiche über andere Wege wie Entwicklungshilfe, Diplomatie, Protest oder das monitoring und campaigning durch NGOs. Intervenierende, Staaten, internationale Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen erscheinen im Rahmen solcher institutionalisierter Interventionen nicht nur als kulturell eingebettete und sozial konstruierte Akteure, sondern als Agenten höherer Prinzipien. Sie sind im Auftrag der Weltgesellschaft und nicht im Eigeninteresse unterwegs. Akteure erhalten ihre Fähigkeit zu handeln aus den standardisierten Regeln und Skripts ihrer globalen, rationalisierten Umwelt. Insofern sie anderen Akteuren diese Regeln beibringen wollen, handeln sie als Agenten dieser rationalisierten Umwelt. „Im Extremfall“, so Meyer (2005: 64), „repräsentiert ein agenthafter Akteur überhaupt keine anerkannte Einheit und kein Interesse, sondern ist ausschließlich ein Agent von Prinzipien. Eine solche priesterliche Haltung stellt die hochentwickelte und hoch angesehene Rolle dar, die sich überall im modernen System ¿ndet und die mit beträchtlicher Autorität verbunden ist.“ Die Intervenierenden inszenieren sich zumindest teilweise als solche priesterliche Agenten. Sie wollen Staaten in der Peripherie der Weltgesellschaft beibringen, was es heißt, ein entwickelter, anständiger Staat zu sein. Sie wollen Organisationen zeigen, was es heißt, effektiv kollektive Ziele zu verfolgen. Und sie wollen Individuen zeigen, was es heißt, Rechte zu haben, ein selbstbestimmtes Leben zu führen und sich um die eigenen Angelegenheiten zu kümmern. Interventionen sind aus einer solchen neoinstitutionalistischen Sicht weniger als zeitlich befristete mehr oder weniger spektakuläre Eingriffe durch Staaten oder internationale Organisationen zu verstehen. Vielmehr legitimiert die Weltkultur spezi¿sche Akteure, die im Namen globaler Prinzipien beständig intervenieren. In diesem Sinne ließe sich auch sagen, dass die Weltkultur eine spezi¿sche Inter-

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ventionskultur hervorbringt. Missionen wie UNTAC sind Agenten einer solchen Interventionskultur. An sie schließen wiederum andere Agenten an, sodass die Intervention letztlich über solche Agenten institutionalisiert wird. Sichtbar ist dieser Institutionalisierungsvorgang über den Verlauf von Entwicklungshilfezahlungen und über die Präsenz internationalen Personals und die Aktivitäten internationaler NGOs. So erhielt Kambodscha vor UNTAC kaum nennenswerte Gelder im Rahmen internationaler Entwicklungshilfe. 1993, also mit dem Ende von UNTAC, zahlten Geberländer knapp 200 Millionen US-Dollar of¿zielle Entwicklungshilfe, zehn Jahre später waren es über 300 Millionen US-Dollar. Gegenwärtig sind ca. 2000 NGOs und Gruppen internationaler Geber in Kambodscha registriert. Damit hat Kambodscha bezogen auf die Einwohnerzahl die höchste NGO-Dichte weltweit (vgl. Brinkley 2009). Entscheidend für eine solche Institutionalisierung ist die rationalisierte weltgesellschaftliche Umwelt von Staaten und Organisationen, weil sie die Prinzipien und Modelle bereitstellt, die von agenthaften Akteuren im Rahmen von Interventionen verbreitet werden. Die Weltgesellschaft ist aus Sicht des soziologischen Neoinstitutionalismus kein kollektiver Akteur, sondern eine Umwelt, deren Standards und Prinzipien über agenthafte Akteure vermittelt und verbreitet wird. Andere Akteure erhalten ihre Handlungsfähigkeit durch die Übernahme solcher Standards, weshalb man weltweit eine Diffusion rationalisierter und standardisierter Modelle beobachten kann. Unter Rationalisierung versteht der soziologische Neoinstitutionalismus im Anschluss an Weber: „the structuring of everyday life within standardized impersonal rules that constitute social organization as a means to collective purpose. Denotatively, through rationalization, authority is structured as a formal legal order increasingly bureaucratized; exchange is governed by rules of rational calculation and bookkeeping, rules constituting a market, and includes such related processes as monetarization, commercialization, and bureaucratic planning; cultural accounts increasingly reduce society to the smallest units – the individual“ (Meyer, Boli & Thomas 1987: 12 f.). Zentrale Elemente der rationalisierten weltgesellschaftlichen Umwelt, die Interventionen legitimiert und über die sie institutionalisiert werden, sind demzufolge der Universalismus und Individualismus des okzidentalen Rationalismus, die Logik instrumenteller Rationalität, die Bedeutung formaler Organisationen, aber auch die Verwissenschaftlichung aller Bereiche des gesellschaftlichen Lebens (vgl. auch Berkovitch & Bradley 1999). Wenn Interventionen sich institutionalisieren, ist deshalb zu erwarten und zu beobachten, dass es zu einer formalen Übernahme dieser Prinzipien in der Interventionsgesellschaft kommt. Formuliert werden diese Prinzipien beispielsweise im Rahmen der Programme für gute Regierungsführung oder in den Richtlinien und Leitfäden für Organisationen, die sich für Projekte aus der Entwicklungszusammenarbeit bewerben (vgl. Rottenburg 2002).

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Intervenierende üben je nach Phase der Intervention unterschiedliche Formen von Druck aus. Dieser Druck sorgt für formale Ähnlichkeiten von Organisationen der Interventionsgesellschaft mit weltweit verbreiteten Standards. Di Maggio und Powell (1983) unterscheiden drei Formen solchen Drucks, der über die weltgesellschaftliche Umwelt bzw. über agenthafte Akteure auf andere Akteure, hier vor allem auf die Intervenierten, ausgeübt wird: unmittelbarer Zwang, mimentischer Druck und normativer Druck. Unmittelbarer Zwang ist im Rahmen internationaler Interventionen vor allem für internationale Administrationen wie UNTAC charakteristisch, die faktisch die Regierungsgewalt übernehmen. Aber auch Abhängigkeiten von externen Ressourcen sorgen für Möglichkeiten, direkten Zwang auszuüben. Dass der kambodschanische Staatshaushalt fast zur Hälfte aus Entwicklungshilfegeldern gefüllt wird, ermöglicht einen direkten Druck sowohl auf die Regierung als auch auf stark abhängige nicht-staatliche Organisationen. Formale Ähnlichkeiten können aber auch durch Nachahmung entstehen. Der Grund für solche Imitationen vorhandener Organisationsformen, -strategien und -strukturen besteht in einer Unsicherheit darüber, wie man am besten exogenen Anforderungen begegnet. Unter Unsicherheitsbedingungen kopieren Organisationen andere Organisationen, die sie für besonders erfolgreich und einÀussreich halten. Mit Interventionen geht strukturell eine solche Unsicherheit einher, sodass es nicht verwundert, wenn kambodschanische Regierungs- und Nichtregierungsorganisationen formell ihren westlichen Geberorganisationen ähneln. Je stärker eine Intervention institutionalisiert ist, desto geringer dürfte solche Unsicherheit und desto größer dürfte die bereits über Imitation erreichte Diffusion rationalisierter Modelle sein. Man kopiert dann nicht mehr exogene Organisationen, sondern diejenigen, die im Rahmen der Intervention besonders erfolgreich sind, also diejenigen, die besonders viel Budget aus externen Geldern generiert haben. Je länger Interventionen dauern, desto wichtiger wird der normative Druck auf Organisationen. „Normative pressure pertain to what is widely considered a proper course of action, or even a moral duty, such as when there are signals from the organizational environment that the adoption of a particular practice or structure is a correct moral choice“ (Boxenbaum & Jonsson 2008: 80). Solcher normativer Druck wird vor allem über Ausbildungen und Organisationsberatungen ausgeübt, die in der Regel zwar schon ein wesentlicher Teil von UN-Missionen wie UNTAC sind, später aber zum zentralen Instrument für die Ausübung von Druck auf die Intervenierten werden. Der auch in Kambodscha zu beobachtende Wandel von formalen Strukturen (formal freie Wahlen, Schaffung formal unabhängiger Gerichte, Landreformen, Garantie eines Rechts auf Bildung) ist auch einem Wandel nationaler Politik geschuldet. Dieser Wandel geht aber weniger auf endogene Prozesse beispielsweise auf einen innergesellschaftlich hervorgerufenen Modernisierungsprozess zurück,

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sondern er ist Ausdruck eines Wandels in der weltgesellschaftlichen Umwelt der kambodschanischen Interventionsgesellschaft. Dies ist freilich keine Eigenart von Interventionsgesellschaften, sondern gilt aus einer makrosoziologischen Perspektive betrachtet letztlich mehr oder weniger für alle Formen gesellschaftlichen Wandels. Aber Interventionsgesellschaften machen diesen Zusammenhang besonders deutlich. Die Einrichtung der ECCC zur strafrechtlichen Verfolgung des Massenmords der Roten Khmer geht beispielsweise zurück auf die globale Institutionalisierung der normativen Erwartung an Staaten (und Organisationen), sich mit ihrer gewaltsamen Vergangenheit auseinanderzusetzen. Dieser Wandel des kulturellen Gehalts des Nationalstaats ist Ausdruck des Siegeszuges des Menschenrechtsdiskurses, der dazu führt, dass staatlich durchgeführte Massenmorde wie diejenigen in der Zeit der Demokratischen Volksrepublik Kampuchea zwischen 1975 und 1979 heute als Menschenrechtsverbrechen aufgefasst und dementsprechend von Nachfolgestaaten strafrechtlich geahndet werden sollten und nicht mehr amnestiert werden dürfen. Die starke Berücksichtigung der Opfer in den Verfahren an den ECCC drückt ebenfalls aus, dass das weltgesellschaftliche Modell für angemessenes staatliches Handeln von den Vorgaben der Menschenrechte geprägt ist. Eine solche Betonung der individuellen Opfer und ihrer Rechte im Rahmen des kambodschanischen Rechts ist nur mit dem Hinweis auf dessen rationalisierte Umwelt der Weltgesellschaft erklärbar. Für die Institutionalisierung der Intervention ist offenkundig der Nationalstaat und seine Funktionsfähigkeit zentral. Friedensmissionen sind, wie UNTAC, in erster Linie statebuilding Missionen. Dies liegt vor allem an der überragenden Bedeutung des Staates als rationale und bürokratische, kollektiv bindende Organisation für die Verbreitung weltkultureller Muster. Staaten sind in der Lage – oder sollten es sein –, Àächendeckend Normen und Prinzipien umzusetzen. Im Kontext von Interventionen wird erwartet, dass sie insbesondere Prinzipien der Weltgesellschaft implementieren. Genau auf diesem Wege institutionalisieren sie die Intervention. Bislang wurde argumentiert, dass die Institutionalisierung der Intervention in erster Linie durch verschiedene Formen des Drucks auf die Intervenierten Transformation erzeugt. Als Interventionsgesellschaft hat sich Kambodscha formal den Anforderungen seiner rationalisierten Umwelt angeglichen: Der Staat inszeniert sich als Hüter der Menschenrechte und als ein sich um das Wohl seiner Bevölkerung sorgender Staat. Er treibt dafür Handel und baut die Infrastruktur aus. Er pÀegt eine nationale Kultur und ist Mitglied in zahlreichen wichtigen internationalen Organisationen wie ASEAN, der WTO und der Weltbank, deren Regeln er mit beschließt und befolgt. Zugleich existieren zahlreiche nicht-staatliche Organisationen und zivilgesellschaftliche Protestgruppen (Hughes 2002). Dieser Transformation entspricht allerdings auf der anderen Seite eine Konsolidierung

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klientelistischer Strukturen und sozialer Patronage sowie der Ausbau informeller sozialer Kontrolle durch die CPP. (Hughes 2009). Diese Konsolidierung ist Folge der für Interventionsgesellschaften erwartbaren Entkopplung zwischen formalen Strukturen und symbolischen Normbestätigungen einerseits und der informellen, realen Praxis andererseits. Diese Entkopplung (bzw. lose Kopplung) zwischen formaler Struktur und Aktivitätsstruktur ist zuerst bei Organisationen beobachtet worden. „Meyer and Rowan (1977) proposed that organizations decouple their practices from their formal or espoused structure to solve (…) problems of institutional pressures. In effect, decoupling means, that organizations abide only super¿cially by institutional pressure and adopt new structures without necessarily implementing the related practices“ (Boxenbaum & Jonsson 2008: 81). Der direkte, mimetische und normative Druck auf die Intervenierten führt mit anderen Worten auf der einen Seite zur Erwartung von Konformität mit weltgesellschaftlich institutionalisierten Prinzipien und Standards. Die Intervenierten adaptieren diese Erwartungen, indem sie entsprechende formale Strukturen einrichten und damit symbolisch Konformität signalisieren und inszenieren. Auf der anderen Seite ist die tatsächliche Umsetzung auf der praktischen Ebene häu¿g entweder nicht möglich oder nicht gewollt, wobei der Neoinstitutionalismus vor allem den ersten Fall der Diskrepanz zwischen externer normativer Erwartung und den faktischen Möglichkeiten der Erfüllung dieser Erwartungen im Blick hat. „Zu solchen Entkopplungserscheinungen kommt es“, so Meyer (2005: 99), „weil Nationalstaaten sich am Modell einer externen Kultur orientieren, die sich nicht einfach komplett und als voll funktionsfähiges System importieren lässt. Die Weltkultur enthält zahlreiche verschiedene Varianten der dominanten Modelle, was dazu führt, dass widersprüchliche Prinzipien in eklektischer Weise miteinander kombiniert werden.“ Es liegt also Meyer zufolge in der Logik der Befolgung des externen Drucks, also in der Logik der Intervention selbst, dass massive Entkopplungserscheinungen auftreten. Dies trifft nicht nur auf die Regierung und auf Fragen der Staatsführung zu, sondern auch auf das Verhältnis zwischen Gebern und den geförderten lokalen NGOs. Geber treten als agenthafte Akteure der Weltkultur auf, die über normativen oder auch direkten (¿nanziellen) Druck den Geförderten sowohl weltkulturelle Standards vermitteln als auch sie in die Lage versetzen wollen, diese Standards weiter zu verbreiten. Dies stellt die lokalen NGOs vor das Problem inkonsistente oder sie überfordernde Prinzipien umzusetzen, wie das Beispiel von NICFEC (Neutral and Impartial Commitee for Free and Fair Elections in Cambodia) zeigt, deren Aufgabe es war, extern geförderte Projekte zur Förderung von Rechtsstaatlichkeit durchzuführen. Der Direktor beschreibt das Dilemma der heterogenen Erwartungen einer rationalisierten Umwelt:

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„Donors wanted locals to do what they wanted them to do. They gave locals their agendas and expected them to follow. At the same time, they did not think about the future of their recipient local organizations. They hardly gave thought to institutional sustainability. All we were required to do was to follow their guidelines. But as an organization, we couldn‘t always do what funders demanded that we do. For instance, we needed to spend some money for activities related to voter registration and had to take money from other projects that donors funded. But we were accused of misspending money. This made it dif¿cult for an organization such as ours to function because we did not function simply to please each and every funding agency. As an organization, we had several functions that did not always ¿t the donors‘ policys agendas“ (Interview, zit. nach Peou 2007: 173).

Die in Interventionsgesellschaften wie Kambodscha zu beobachtende Diskrepanz zwischen den Zielen der Intervention, also der Adaption weltkultureller Standards, ist eine erwartbare Konsequenz von institutionalisierten Interventionen. Das gilt sowohl für nicht-intendierte als auch für intendierte Entkopplungen. In der neoinstitutionalistischen Organisationsforschung wird in diesem Zusammenhang zwischen einer nur losen Kopplung zwischen talk und decision auf der einen und action auf der anderen Seite gesprochen (Brunsson 2002). Entkopplung bedeutet dann, dass Organisationen vor allem reden und entscheiden, dies aber nicht zu äußerlich sichtbaren Handlungen führt. Organisationen begegnen normativem Druck vor allem rhetorisch und symbolisch. Ob sie wirklich ihre Praktiken ändern, ist eine ganz andere Frage. Michael Lipson (2007) hat diese für UN-Friedensmissionen – und die sich daraus entwickelnden Interventionsgesellschaften – typischen Entkopplungssituationen im Anschluss an Brunsson als „organized hypocrisy“9 bezeichnet, für die es vier Gründe gibt. Erstens sind es häu¿g die fehlenden Kapazitäten, die dazu führen, dass Organisationen oder der Staat unter den Bedingungen einer institutionalisierten Intervention lediglich auf der Vorderbühne weltkulturelle Modelle adaptieren. Ein Land wie Kambodscha, das sich auf den hintersten Rängen des Human Development Index be¿ndet, ist schlicht nicht durchgängig in der Lage, die anspruchsvollen Erwartungen an moderne Staatlichkeit umzusetzen. Es kann sogar, darauf weist Krasner (1999) hin, dysfunktional für die Erfüllung von elementaren Staatsaufgaben sein, diesen Erwartungen praktisch gerecht werden zu wollen – etwa, wenn der Staat seine knappen Ressourcen in gesellschaftlich nicht für vordringlich erachteten Bereichen ausgibt. So besteht eine Kritik an dem ¿nanziell aufwendigen Strafverfahren gegen die Führungselite der Roten Khmer 9 Meyer (2005: 99) spricht ähnlich von „Fassadenmodernität“. Grundsätzlich gilt, dass solche Entkopplungsphänomene vor allem auch in der Peripherie der Weltgesellschaft anzutreffen sind (vgl. Holzer 2006).

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gerade darin, dass eigentlich andere Probleme wie der Ausbau der Infrastruktur und der Kampf gegen Armut drängender sind (vgl. Pham et al. 2009). Zweitens ist die Weltgesellschaft gerade dadurch gekennzeichnet, dass es keine zentrale Autorität gibt, die normative Ansprüche formuliert. Infolgedessen besteht die weltkulturelle Umwelt von Staaten aus inkohärenten und teilweise widersprüchlichen Erwartungen, die von unterschiedlichen agenthaften Akteuren in die Interventionsgesellschaft eingebracht und an Organisationen adressiert werden. Auf der einen Seite soll die kambodschanische Regierung für Stabilität sorgen. Auf der anderen Seite soll es zu einer möglichst breiten gesellschaftlichen Aufarbeitung der Vergangenheit kommen. Drittens kommt es in Interventionsgesellschaften auch zu einer Diskrepanz zwischen den externen und den lokalen oder regionalen Idealen, wobei sich ein Teil der Legitimität des Staates aus einer – wiederum vor allem symbolischen – Verkörperung dieser regionalen Ideale speist. Der Staat wird von einem Großteil der kambodschanischen Bevölkerung nach wie vor mit dem Bild der Familie als schützender Vater interpretiert, während er sich international als moderner, egalitärer Staat präsentieren muss, der individuelle Rechte achtet und garantiert (vgl. Urs 2007). Viertens können Staaten und Organisationen auch kompensatorisch ihre formalen Strukturen von realen Praktiken entkoppeln. Lipson (2007) spricht hier von „counter-coupling“: „Talk and decisions can satisfy demands to address an issue without actually taking action. Action can be insulated from opposition by contrary formal decisions that diffuse pressure to change action. Thus, the causal relationship under organized hypocrisy between action, on the one hand, and talk and decisions on the other, is one of ‚reverse‘ or ‚compensatory‘ coupling“ (10). Die kambodschanische Regierung unter Hun Sen versteht es meisterlich, internationale Standards symbolisch zu bestätigen und diese Bestätigung mit faktisch illiberalen Praktiken wie etwa der illegalen Abholzung von Wäldern und Enteignung zu verbinden. Die Institutionalisierung von Interventionen führt also zu beidem: zu (symbolischem) Wandel durch die Änderung formaler Strukturen und zur „organisierten Täuschung“ durch eine Abkopplung der formalen Strukturen von den tatsächlichen Praktiken. Letzteres kann erklären, warum Interventionen zwar viel öffentliches Gerede und Inszenierungen bis hin zu formalen Entscheidungen, gleichzeitig aber keinen wirklichen Fortschritt bewirken. So bleibt Kambodscha auch über fünfzehn Jahre nach Beginn der internationalen Intervention auf allen wesentlichen Indizes, die die Anpassung gesellschaftlicher Realitäten an internationale Standards messen, seit UNTAC auf den hinteren Rängen.

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Dass Entkopplung und organisierte Täuschung wesentliche Charakteristika für Interventionsgesellschaften sind, sagt noch nichts darüber aus, wie sich eine Interventionsgesellschaft herausbildet. Dafür muss nicht nur zwischen intervenierenden und intervenierten Akteuren und Agenten unterschieden werden. Vielmehr sind zwei weitere Aspekte für die Entstehung und Institutionalisierung von Interventionsgesellschaften zentral: ein spezi¿scher Typus des Agenten, nämlich der rationalisierte Andere und die sich mit ihm vollziehende Trennung einer Sphäre des Handelns von einer Sphäre des Beobachtens. Intervenierende können verschiedene Rollen in einer Interventionsgesellschaft spielen: Zum einen treten sie im Rahmen von Missionen als Akteure auf, die bestimmte Ziele verfolgen, beispielsweise die Durchführung von Wahlen vorbereiten oder die Infrastruktur wieder aufbauen. Insofern aber Akteure kulturell eingebettet und selbst sozial konstruierte Einheiten sind, greifen sie dafür immer schon auf institutionalisierte Skripts und Modelle zurück, die ihr Handeln legitim und sinnvoll erscheinen lassen. Sie sind deshalb immer auch Agenten höherer Ziele. Dass UNTAC in erster Linie eine Mission zur Durchführung von Wahlen mit dem Ziel der Schaffung einer legitimen Regierung war, wird nur vor dem Hintergrund weltkultureller Modelle von legitimer Staatlichkeit und liberalem Frieden verständlich. Das gilt freilich nicht nur für die Ziele, die im Rahmen von UN-Missionen verfolgt werden, sondern auch für die Art und Weise ihrer Umsetzung. Die Intervenierenden inszenieren sich als formale Organisation, die effektiv und transparent arbeitet – so, wie es sich nach weltkulturellen Maßstäben für formale Organisationen gehört. Die Agentschaft bezieht sich folglich sowohl auf das eigene Selbst der Intervenierenden, die auch nach außen inszenieren, dass sie legitime Akteure sind, als auch auf die Ziele, die sie verfolgen. Weil Interventionen die Modelle einer rationalisierten Weltkultur verbreiten, bestehen ihre Ziele hauptsächlich in einer Rationalisierung des öffentlichen Lebens: der Aufbau einer öffentlichen Verwaltung, die Institutionalisierung von Menschenrechten in einer Verfassung, die Schaffung einer kapitalistischen Ökonomie, die Ausweitung und Formalisierung von Bildungszugängen – und das alles im Namen wissenschaftlicher Erkenntnisse. UNTAC entspricht genau dieser Rationalisierung bzw. Institutionalisierung von Standards einer rationalisierten Umwelt der Interventionsgesellschaft: Im Mittelpunkt standen administrative Reformen, capacity building, der Ausbau des öffentlichen Sektors, die Einrichtung einer unabhängigen Legislative sowie die Förderung der Zivilgesellschaft und insbesondere von Frauenrechten (vgl. Peou 2007: 167 ff.).

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Mit der Intervention kommt aber noch ein weiterer Typus ins Spiel, der für die Verbreitung weltkultureller Modelle zentral ist und den Meyer im Anschluss an Mead als den rationalisierten Anderen beschreibt: „The contemporary world is ¿lled with rationalized agents who function vis-à-vis organizing as others. They do not much engage in, control, produce, or direct their agents to produce their own decision-based action (…). They are not actors, but they instruct and guide putatively self-interested actors in the widest variety of matters: how to organize the good society, how to live safely and effectively in the natural world, how to respect the human members of society, and on and on. In particular, they play Mead‘s role of the ‚generalized other‘, providing national, organizational, and individual actors with reÀexive depictions of their proper roles. Exactly as, Mead suggests, they provide identities, structures, and recipes for activity routines that make sense in terms of some larger (nowadays universalized and rationalistic) community“ (Meyer 1994: 47).

Eine Interventionsgesellschaft ist demzufolge nicht nur eine Gesellschaft kulturell konstruierter Akteure – grob gesagt: Intervenierende und Intervenierte –, sondern sie besteht erstens auch aus agenthaften Akteuren, die versuchen, sich als durch allgemeine Modelle legitimierte Akteure zu inszenieren und legitimierte Ziele und Interessen zu verfolgen. Dies gilt natürlich in erster Linie für jene Akteure der kambodschanischen Nachkriegsgesellschaft, die im Transitionsprozess als Gewinner erscheinen wie die CPP, die sich als moderne Volkspartei inszeniert, aber auch für zivilgesellschaftliche Gruppen, die sich auf weltkulturell institutionalisierte Prinzipien wie individuelle Rechte beziehen, oder für die neuen städtischen Unternehmer, die das Prinzip marktwirschaftlicher Rationalität verkörpern. Zweitens aber sind Interventionsgesellschaften auch durch die Anwesenheit von rationalisierten Anderen gekennzeichnet, die nicht handeln, sondern die beobachten – und zwar im Auftrag weltkultureller Prinzipien. Sie sprechen über universelle Dinge, statt zu handeln, sie beraten und instruieren, sie tragen keine unmittelbare Verantwortung, sondern verbreiten rationalisierte Ideen und Vorstellungen über gutes Regieren, richtige Lebensführung und effektives Organisieren. Eine wichtige Eigenschaft dieser rationalisierten Anderen ist Meyer (1996) zufolge das Theoretisieren. Rationalisierte Andere betrachten es als ihre Aufgabe, abstrakte Aussagen beispielsweise über Erfolgsbedingungen und Wirkungszusammenhänge von Interventionen zu machen und davon abgeleitet Handlungsempfehlungen zu produzieren. So werden Interventionen typischerweise von einer Vielzahl von De¿zitanalysen begleitet, die entweder über die Probleme des intervenierten Staates berichten und jenen als fragil oder (zu) schwach beschreiben. Oder es wird versucht zu erklären, warum Interventionen nicht die Resultate hervorgebracht haben,

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die von den rationalisierten Anderen erwartet wurden, was also gewissermaßen die constraints einer Intervention sind (vgl. für Kambodscha Peou 2007: 125 ff.). Die Bedeutung dieser Anderen wird deutlich, wenn man sich klar macht, dass Gesellschaften nicht nur aus der Interaktion zwischen Anwesenden besteht. Dies gilt auch für Interventionsgesellschaften: Vergesellschaftung vollzieht sich auch hier nicht nur über den direkten Kontakt zwischen externen und lokalen Akteuren – auch wenn dieser zweifelsohne notwendig für die Entstehung einer Interventionsgesellschaft ist. Vor allem im Zuge ihrer Institutionalisierung vergesellschaftet eine Intervention Individuen aber auch jenseits einer konkreten face-to-face-Situation. Genau dafür ist die Differenzierung zwischen Handeln und Beobachten zentral, die sich mit den rationalisierten Anderen als (weltgesellschaftlich) institutionelles Rollenmuster vollzieht. Rationalisierte Andere verbreiten weltkulturelle Standards über Beobachtung und Theoretisierung, nicht über eigenes Handeln. Typische Andere sind Wissenschafter/innen, NGOs und internationale Organisationen und natürlich Berater/ innen aller möglichen – lokalen und internationalen – Akteure.10 Sie evaluieren und analysieren das Handeln der Akteure vor dem Hintergrund weltkultureller Normen und Erwartungen. Und sie erheben Informationen über das Land, Einstellungen der Bevölkerung und sammeln Daten, die für die Intervention relevant sind oder ihre Folgen dokumentieren. Die weltgesellschaftlich institutionalisierte Rolle des rationalisierten Anderen können unterschiedliche Organisationen oder Individuen übernehmen. Von großer Bedeutung gerade für Interventionen sind dabei zweifellos die Vereinten Nationen. Sie spielen in Interventionen gleichzeitig mehrere Rollen: als agenthafter Akteur in Gestalt einer Mission wie UNTAC, aber auch als rationalisierter Anderer, der wiederum die Probleme anderer Akteure beobachtet und beispielsweise über best practice-Sammlungen theoretisiert. Eine wichtige Rolle spielen hier die neben den Special Representatives des UN-Generalsekretärs in Interventionsgesellschaften auch die Sonderbeauftragen der Vereinten Nationen, die keine Entscheidungen treffen, aber öffentliche Stellungnahmen abgeben, deren EinÀuss auf die Autorität des Sonderbeauftragen als generalisierten Anderen zurückgeht. So stellte der von 2000–2005 für Menschenrechtsfragen in Kambodscha zuständige Sondergesandte des UN-Generalsekretärs Peter Leuprecht in Bezug auf die mangelhafte Strafverfolgung fest: „The government over the past decade has been repeatedly urged to take effective and urgent measures to address this problem (…) However little or no progress have been seen“ (UN Doc.E./CN.4/2005/116, Dezember 2004: 7). Eine ähnliche Rolle der Beobachtung der Diskrepanz zwischen öffentlichen Ankündigungen und tatsächlichem Handeln erfüllen klassisch NGOs. Für 10

Vgl. für eine neoinstitutionalistische Theorie der Beratung Meier 2004.

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die Problematik von Menschenrechtsverletzungen und mangelhafter Strafverfolgung haben etwa kambodschanische NGOs wie ADHOC (Cambodia Human Rights and Development Organization) beständig öffentlich auf Versäumnisse der kambodschanischen Regierung hingewiesen. Auch sie beziehen ihre Autorität aus weltkulturell institutionalisierten Prinzipien und ihrer Rolle als rationalisierte Andere, die diese Prinzipien scheinbar ohne Eigeninteresse verbreiten. Ein weiteres Beispiel für die Bedeutung der rationalisierten Anderen sind jene internationalen und lokalen Akteure, die das Konzept der Vergangenheitsbewältigung (Transitional Justice) verbreiten und weiterentwickeln. Kambodschanische NGOs wie das Documentation Center of Cambodia (DC-CAM) greifen diese aus dem Menschenrechtsdiskurs heraus entwickelten Konzepte auf und konfrontieren den Staat mit den entsprechenden global institutionalisierten Erwartungen des angemessenen staatlichen Umgangs mit vergangenen Makroverbrechen. Wie weit die Autorität solche global verbreiteten, ursprünglich aber aus westlichen kulturellen und religiösen Kontexten stammenden Modelle reicht, zeigt sich an den in vielen nicht-westlichen Ländern und auch in Kambodscha anzutreffenden Versuchen, die eigene kulturelle Tradition der KonÀiktbearbeitung mit westlichen Ansätzen zu verbinden, um sie als weltgesellschaftlich anschlussfähig zu präsentieren. Für Kambodscha sind hier Ansätze ein Beispiel, die versuchen traditionelle buddhistische Formen der Versöhnung mit westlichen, menschenrechtsbasierten Ansätzen zu verknüpfen: „Thus, modern adaption of ancient religious teachings may serve as a bridge between Buddhist practice and Western notions of human rights and democratic accountability“ (Gellman 2008: 51). Zugute kommt den generalisierten Anderen die Tatsache, dass sich Akteure auf der Vorderbühne einer Interventionsgesellschaft öffentlich inszenieren müssen, dass es also jede Menge öffentliche Kommunikation gibt, über die sich die Akteure wechselseitig beobachten können, von Anderen aber zugleich auch beobachtet werden (vgl. Holzer 2006: 265 ff.). Werron & Holzer (2009) sprechen in diesem Zusammenhang von imaginierten Publika, an die die öffentliche Kommunikation adressiert ist. Diese Publika fungieren wie rationalisierte Andere: „Just like the ‚others‘, publics (1) observe actors rather than acting themselves, (2) they do so by theorizing actions and performances, and (3) they produce and rely on the distinction between acting and observing operations, between taking and theorizing responsibility“ (Werron & Holzer 2009: 12; vgl. auch Werron 2007). In gewissem Sinne konstituieren sich Interventionsgesellschaften über diese indirekte Interaktion der Akteure, die über die Anderen vermittelt wird. Die rationalisierten Anderen verkörpern in diesem Zusammenhang das globale Publikum, denn sie sind es, die die weltkulturell institutionalisierten Modelle weltweit verbreiten und für normativen Druck auf eine Interventionsgesellschaft sorgen. Sie kritisieren UNMissionen für fehlende Effektivität und mangelhaftes local ownership. Und sie

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beklagen die Korruption und den Autoritarismus der Regierung. Sie entwickeln Indizes zur Messung des gesellschaftlichen Fortschritts und evaluieren Projekte zur Förderung aller möglichen kollektiven Ziele. Kurzum: Sie entwickeln weltkulturelle Prinzipien nicht nur beständig weiter, sondern sie konfrontieren Akteure mit diesen Prinzipien und vor allem mit der Abweichung des empirischen Handelns von diesen Prinzipien. Diese Abweichung lässt sich vor diesem Hintergrund auch als Folge der Diskrepanz zwischen der öffentlichen Kommunikation und der tatsächlichen Praxis oder als Folge der an unterschiedliche Publika gerichteten Kommunikation verstehen. Je stärker Akteure die in der Öffentlichkeit von den rationalisierten Anderen thematisierten Prinzipien reÀektieren und zur Grundlage ihrer öffentlichen Selbstinszenierung machen, desto größer wird in der Regel die Diskrepanz zwischen dem, was öffentlich gesagt, und dem, was tatsächlich gemacht wird (Werron & Holzer 2009: 18). Dies gilt in Interventionsgesellschaften umso mehr, weil die normativen Anforderungen vielseitig und inkonsistent sind, weil es zumeist an Kapazitäten fehlt, diesen Anforderungen gerecht zu werden und weil die Vorderbühne der öffentlichen Normbestätigung gerne dafür genutzt wird, auf der Hinterbühne eine diesen Normen entgegenstehende Politik zu verwirklichen. Insofern sich öffentliche Kommunikation und Selbstinszenierung an unterschiedliche imaginierte Publika mit je spezi¿scher Erwartungen richten, können Akteure dazu gezwungen sein, sich selbst und ihre Ziele jeweils unterschiedlich darzustellen. Dass man an dieser Diskrepanz auch politisch scheitern kann, zeigt ein Blick auf die Situation der Regierung unter Prinz Sihanouk vor und während des Vietnam-Kriegs, die versucht hat, unterschiedliche externe Anforderungen auszubalancieren und sie mit eigenen Interessen etwa der Zurückdrängung der Kommunisten zu verbinden. Die öffentliche Diskreditierung der ECCC durch Hun Sen unter Berufung auf höhere Ziele wie Stabilität und Frieden ist ein anderes Beispiel dafür, wie Akteure versuchen, die inkonsistenten Anforderungen einer externen Umwelt entweder selektiv für sich zu nutzen oder allen Anforderungen möglichst gerecht zu werden, das heißt in diesem Fall Vergangenheitsbewältigung sowohl zu betreiben als auch zu begrenzen. In Interventionsgesellschaften sind Akteure deshalb fortwährend gezwungen, an der Grenze zwischen ihrer öffentlichen Darstellung und dem, was sie tatsächlich machen, zu arbeiten. Dies liegt vor allem an der institutionalisierten Präsenz der rationalisierten Anderen, durch die organisierte Täuschung bei allen Akteuren zum Normalfall wird. Für die Reproduktion einer Interventionsgesellschaft fast noch wichtiger als diese organisierte Entkopplung ist deren permanente kommunizierte Beobachtung durch die Akteure und die Anderen. Öffentliche Kommunikation bildet dann gleichsam die (Vorder-)Bühne, auf der sich die agenthaften Akteure wechselseitig beobachten und Entkopplungsphänomene thematisieren können. Dabei greifen sie auf weltkul-

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turelle Modelle zurück, die von den rationalisierten Anderen entwickelt wurden. Diese Anderen können sich selbst wiederum an der öffentlichen Debatte beteiligen und die Intervention und das Handeln der Interventionsakteure theoretisieren und öffentlich bewerten. Das Ergebnis dieser Dauerbeobachtung von Entkopplungserscheinungen ist zum einen noch mehr Entkopplung, weil die Akteure beobachten, dass sie von rationalisierten, mit viel Autorität ausgestatteten Anderen beobachtet werden, und zum anderen die ständige Ankündigung von Reformen bei allen Akteuren. Reformierung im Sinne der Anpassung an exogene Vorgaben führt wiederum zu mehr Beratungsbedarf und damit zu einer Ausweitung von formalen, bürokratischen Organisationsaktivitäten und von Beratungstätigkeiten. Vor diesem Hintergrund scheint der Ruf nach klaren Maßstäben für das Ende von Interventionen und nach Exit-Optionen illusorisch. Was man vielmehr aus neoinstitutionalistischer Sicht bei Interventionen erwarten kann, ist die Fortsetzung von Interventionen und die Herausbildung von Interventionsgesellschaften. 5

Zusammenfassung

Das Ziel von Interventionen besteht in der Wiederherstellung der Souveränität von Staaten. Souveränität, so habe ich im Anschluss an den soziologischen Neoinstitutionalismus argumentiert, ist ein Ausdruck für eine Vielzahl von Verantwortlichkeiten, die ein Staat heutzutage übernehmen muss. Die Anforderungen an Staatlichkeit werden auf globaler Ebene als Elemente einer rationalisierten Weltkultur formuliert. Interventionen bestehen in erster Linie in einer Verbreitung dieser Anforderungen durch agenthafte Akteure und rationalisierte Andere, die im Gegensatz zu den unmittelbar Intervenierenden nicht handeln und entscheiden, sondern beobachten und evaluieren. Aus soziologischer und neoinstitutionalistische Perspektive sind vor allem Prozesse der Institutionalisierung von Interventionen und die damit einhergehende Entstehung von Interventionsgesellschaften interessant (vgl. Schneiberg & Clemens 2006), für die die Unterscheidung zwischen Handeln und Beobachten zentral ist. Die Vergesellschaftung zwischen Intervenierenden und Intervenierten vollzieht sich sowohl über die direkte Interaktion als auch über Formen indirekter Interaktion im Rahmen öffentlicher Kommunikation. Ein wesentliches Charakteristikum von Interventionsgesellschaften ist, wie ich versucht habe am Fall Kambodschas zu zeigen, die Entkopplung von formalen Strukturen und realen Praktiken, die sich auch als eine organisierte Täuschung beschreiben lässt. Diese Täuschung ist kein Resultat einer mangelhaften Durchführung, sondern sie ist eine erwartbare Folge von Interventionen. Sie betrifft alle Akteure, und sie kann wiederum öffentlich beobachtet werden, was zu einer Verstetigung der Intervention vor allem in der Form der Institutionalisierung von Reform und Bera-

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tungstätigkeit führt. Etwas überspitzt ließe sich sagen, Beratung ist die Fortsetzung der Intervention unter Einbeziehung anderer Mittel. Gerade weil Entkopplung aus verschiedenen Gründen eigentlich unvermeidbar ist, ist zum einen für eine soziologische Analyse von Interventionsgesellschaften eine empirische Analyse ihrer öffentlichen Kommunikation besonders interessant, weil hier Entkopplungsprozesse wiederum gefördert und/oder öffentlichkeitswirksam thematisiert und skandalisiert werden. Entkopplung kann dabei, wie Lipson (2007) für Friedensmissionen gezeigt hat, durchaus auch funktional sein, etwa weil normativer Erwartungen der Erreichung von wiederum normativ wünschbaren Zielen im Wege stehen können. Darüber hinaus können Akteure aus der öffentlich kommunizierten Einsicht, dass ihr eigenes Handeln nicht den erwarteten Standards entspricht, einen Legitimationsgewinn ziehen, weil Akteure glaubwürdiger erscheinen. Auch dies ist ein Grund dafür, warum die Dauerbeobachtung von Entkopplung durch rationalisierte Andere, aber auch durch die agenthaften Akteure selbst, zur Ausdifferenzierung einer Interventionsgesellschaft beiträgt. Dass die Entkopplung zwischen symbolischer Normbestätigung und realer Praxis aber auch für die Intervenierenden ein Problem darstellen kann, hat Robert Rubinstein in seinen kultursoziologischen Analysen von UN-Friedensmissionen gezeigt. Insofern die Vereinten Nationen ihre Legitimität und Autorität gerade ihrer Rolle als Agent universaler Prinzipien verdanken, gerät sie dann in Probleme, wenn ihr Handeln als nicht diesen Prinzipien entsprechend oder wenn sie als nicht ausreichend handlungsfähig betrachtet wird: „The United Nations’ projection of its root metaphor through its symbolic repertoire, represented in mission statements, mandates, and other activities, encourages people to see the peacekeeping missions as supporting self-determination and local action. As a result, local populations meet peacekeeping missions with high expectations. Those expectations lead them to see themselves as full partners with the United Nations and to assume that they will have signi¿cant roles in the reconstruction of their communities“ (Rubinstein 2008: 134).

Dies führt auch dazu, dass die lokale Bevölkerung im Rahmen von Interventionen Erwartungen entwickelt, die sich an global institutionalisierten Modellen orientieren. Obwohl es in Kambodscha keine rechtsstaatliche Tradition und ein nur unzureichendes System der Strafverfolgung durch eine unabhängige Exekutive gibt, sind fast 87 % der Kambodschaner der Auffassung, dass die ECCC wichtig für die Aufarbeitung der Verbrechen während des Khmer-Rouge-Regimes sind. Hingegen wollen nur 1,7 % eine Vergebung für die angeklagte Führungselite und 71 % glauben, dass die ECCC dazu beiträgt, das Vertrauen in der Bevölkerung wieder herzustellen (vgl. Pham et al. 2009). Insofern ist zu erwarten, dass ein substantieller Bevölkerungsanteil auch einer gegenüber den jetzigen fünf Ankla-

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gen erweiterten Strafverfolgung zustimmen würde. Sollte das Gericht allerdings scheitern und die Vereinten Nationen die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen, würden sie wiederum stark an Glaubwürdigkeit einbüßen, was vor allem angesichts der ohnehin beschädigten Reputation der UN in Kambodscha ein herber Rückschlag für sie wäre. Dass für ein solches Scheitern aber vor allem auch die kambodschanische Regierung verantwortlich wäre, zeigt, dass Interventionsgesellschaften komplexe Muster der Vergesellschaftung hervorbringen. Dabei geht es nicht nur um die direkte Interaktion zwischen intervenierenden Akteuren, der staatlichen Elite und lokalen und globalen zivilgesellschaftlichen Organisationen, sondern auch um die indirekte, öffentliche Interaktion. Auf dieser Vorderbühne kann man viel versprechen, man kann aber auch viel(en) widersprechen, ohne dass dies auf der Hinterbühne irgendwelche Konsequenzen hätte. Interventionsgesellschaften leben von diesen Scheinheiligkeiten. Eine soziologische Analyse ihrer Herausbildung und Reproduktion sollte sich vor allem auch der öffentlichen Inszenierung der Akteure und Agenten auf der einen und der Thematisierung und Politisierung von Entkopplungsphänomenen auf der anderen Seite widmen. Denn Interventionsgesellschaften bestehen nicht zuletzt daraus, dass in ihnen viele öffentlich darüber reden, was gut für alle ist. Literatur Amakawa, N. (2005/2006). Cambodia – Aspects of crimes committed during the Pol Pot regime. Comparative genocide studies, 2005–2006(2), 1–17. Berkovitch, N. & Bradley, K. (1999). The Globalization of Women’s Status: Consensus/ Dissensus in the World Polity. Sociological Perspectives, 42(3), 481–498. Bonacker, T., Form, W., & Pfeiffer, D. (2009). Why Deal with the Past? Transitional Justice and Civil Society in Cambodia: A World Polity Perspective. Unveröffentlichtes Manuskript. Boxenbaum, E. & Jonsson, S. (2008). Isomorphism, Diffusion and Decoupling. R. Royston, C. Oliver, S. Roy & K. Sahlin (Hrsg.), Organizational Institutionalism (S. 78–98). London: Sage. Brinkley, J. (2009). Cambodia’s Curse. Struggling to Shed the Khmer Rouge’s Legacy. Foreign Affairs, 88(2), 111–122. Brunsson, N. (2002). The Organization of Hypocrisy. Talk, Decisions and Actions in Organizations. Oslo: Copenhagen Business School Press. Brunsson, N., & Jacobsson, B. (2000). A World of Standards. Oxford: Oxford UP. Chandler, D. P. (1999). Brother number one. A political biography of Pol Pot. ColoradoOxford: Westview Press. Di Maggio, P. J. & Powell, W. W. (1983). The iron cage revisited: Institutional isomorphism and collective rationality in organizational ¿elds. American Sociological Review, 48(2), 147–160.

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Empirische Interventionsforschung – eine Problemannäherung am Beispiel Afghanistans Jan Koehler

Einleitung Sicherheit und Entwicklung sind zentrale Begriffe für die militärischen und zivilen Interventionen der westlichen Staatenwelt in Afghanistan. Beide Begriffe werden als einander bedingende, sich gegenseitig verstärkende Funktionen der Intervention erklärt: Development without security is unachievable, and security without development is meaningless erklärt die afghanische Regierung in ihren Millenium Development Goals (Government of Afghanistan 2005: 9) und die Strategiepapiere der Bundesregierung zu Afghanistan stehen seit 2007 unter dem Motto Keine Sicherheit ohne Entwicklung und keine Entwicklung ohne Sicherheit (Bundesregierung 2007: 4, 11). Dabei steht der Aufbau von Staatlichkeit als berechenbare institutionalisierte Herrschaft in Räumen, in denen der Leviathan abhanden gekommen ist (oder wo er nie wirklich Fuß gefasst hat) im Vordergrund.1 Was dabei Sicherheit ausmacht und wer Sicherheit produziert bzw. konsumiert ist im Rahmen von solchen Interventionen nicht eindeutig festgelegt (vgl. Münch 2009). Der Begriff „Sicherheit“ kann die Selbstsicherung der Interventen, z. B. die Schaffung eines sicheren Umfeldes für Entwicklungs- und Wiederaufbaumaßnahmen, meinen, er kann auf die Stabilisierung von staatlicher Herrschaft abzielen, oder er kann nachfrageorientiert den Schutz der von kollektiver Gewalt bedrohten Bevölkerung relevant setzen.2 Diese Konnotationen des Begriffs sind unter Interventionsbedingungen in Kriegsgebieten nur schwer zur Deckung zu bringen. Der Selbstschutz der InterVgl. Wimmer April 2002. Dieser Prioritätensetzung entspricht auch der Bonn-Prozess, der auf dem sogenannten Petersberger Abkommen aufbaut und einen Fahrplan für diese Schaffung grundlegender staatlicher Institutionen in Afghanistan vorsah (siehe UN 05.12.2001). 2 Zu Sicherheitsbegriffen, die es im afghanischen Interventionskontext zu differenzieren gilt, vgl. Daxner/Free/Schüßler/Thiele 2008: 35–36; zu Sicherheit als sicheres Umfeld für Interventen und entstehende staatliche Herrschaftsorganisationen vgl. ISAF PRT Of¿ce 2006: 10 (PRT Terms of Reference); zu Sicherheit als Schutzverantwortung (der Intervenierenden sowie des intervenierten Territorialstaates) vgl. Schorlemer 2007; für den afghanischen Kontext auch Oxfam January 2008: 16–18.

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venten kann die Autorität nationaler Herrschaft untergraben und im Falle von militärischem Selbstschutz zum Sicherheitsproblem für die lokale Bevölkerung werden; Stabilisierung von staatlicher Herrschaft kann im Falle korrupter oder repressiver Regierungsführung zum Sicherheitsproblem sowohl der Interventen, als auch der eigenen Bevölkerung werden; und separat hergestellte Sicherheit von Lokalgesellschaft kann, sofern sie aus eigener Kraft oder durch staatsferne lokale Akteure erwirkt wird, Feindseligkeit gegenüber der Einmischung des Staates oder der Interventen in lokale Angelegenheiten nach sich ziehen. Ebenso wie der Begriff der Sicherheit ist der Begriff der Entwicklung, der mit Sicherheit kausal verknüpft sein soll, diffus. Im weitesten Sinne sind alle plan-induzierten gesellschaftlichen Prozesse Entwicklungen. Klar ist, dass nicht jede gesellschaftliche Entwicklung gemeint ist und von den Interventen gefördert wird. Gemeint sind im Interventionsrahmen nur intendierte und geplante Veränderungen, die eine mit der etablierten Staatenwelt kompatible gesellschaftliche und politische Ordnung schaffen. Dieser normative Kern von Entwicklungsinterventionen, nämlich die auf Modernisierung abzielende Absicht, wird dabei heute in aller Regel nicht mehr explizit kenntlich gemacht und modernisierungstheoretisch begründet. Sie wird stattdessen durch oft inhaltslose Fassadenwörter der internationalen Entwicklungssprache, wie local ownership, participatory approaches oder community driven development, verbrämt. Im Falle von Afghanistan treffen die westeuropäischen und nordamerikanischen Interventionsmächte in dem Versuch, den Staat als oberstes politisches Ordnungsprinzip wieder herzustellen und seine Geltungsmacht durchzusetzen, auf kulturell fremde und staatlichen wie internationalen Interventionen gegenüber misstrauisch, mitunter feindselig eingestellte Lokalgesellschaften. Gleichzeitig bieten die gestürzten Taliban mittelfristig eine islamistische Alternative zum entstehenden Nationalstaat an. Kurzfristig stellen sie in den von ihnen dominierten Landesteilen essenzielle Äquivalente staatlicher Kernfunktionen in den Bereichen Sicherheit (Gewaltkontrolle), Recht (Verhandlung von KonÀikten und Durchsetzung von Entscheidungen) und materieller Reproduktion (Schutz und logistische Unterstützung des lokal dominanten Opiumanbaus, Heroinherstellung und Drogenfernhandels) her.3 Da der Kampf um politische Gestaltungsmacht in Afghanistan sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene asymmetrisch geführt wird, spielen techni3 Aufschlussreich ist in dieser Hinsicht die NeuauÀage des Verhaltenskodex (layeha) der Mujaheddin durch den Führungsrat der Taliban in 2006, der Rechte und PÀichten der Taliban gegenüber der Lokalbevölkerung festlegt (siehe dazu Gehringer 2006). Das Regelbuch wurde 2009 aktualisiert und hebt noch stärker als zuvor die SchutzverpÀichtung der Mujaheddin gegenüber der Zivilbevölkerung hervor (laut englischsprachigen Nachrichten auf Al Jazeera, 28.07.2009; der vollständige Text liegt dem Autor vor).

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sche und militärische Überlegenheit und in bezifferbaren Leistungen gemessene Entwicklungserfolge für den Erfolg der KonÀiktparteien – die Interventen und der durch sie gestützte Staat auf der einen und die verschiedenen aufständischen Gruppen auf der anderen Seite – eine untergeordnete Rolle. Wichtiger ist die Fähigkeit, die eigene Interpretation von Zuständen und Prozessen glaubwürdig zu kommunizieren.4 Damit stehen die Interventionsmächte, zusammen mit der von ihnen gestützten afghanischen Regierung, in direkter Konkurrenz mit den militanten staatsfeindlichen Kräften um Herzen, Köpfe und Bäuche der afghanischen Bevölkerung.5 Die Frage, wie die Bevölkerung die Entwicklung der Sicherheitssituation wahrnimmt und ob sie wahrgenommene Entwicklungen in einen kausalen Zusammenhang mit der zivil-militärischen Intervention bringt, ist aus diesem Grund von zentraler Bedeutung. Der Erhalt bzw. die Gewinnung von Akzeptanz der militärischen wie zivilen internationalen Präsenz unter relevanten – also meinungsbildenden oder anderwärtig einÀussreichen – Zielgruppen in der Bevölkerung hat strategische Bedeutung.6 In Afghanistan soll Akzeptanz in der Breite vor allem über verbesserte Sichtbarkeit der nationalen wie internationalen Anstrengungen

Für eine Diskussion der Rolle, die latente Formen von Macht in asymmetrischen KonÀikten spielen, siehe Lukes 2005. 5 Die Devise „winning the hearts and minds“ tauchte wohl das erste Mal im Rahmen des Guerilla Krieges der Malayan National Liberation Armee gegen britisch geführte Commonwealth Streitkräfte (1948–60) auf und wurde hier auch ein zentraler Bestandteil einer entstehenden Counter Insurgency Doktrin, die letztlich zur erfolgreichen Befriedung Malaysias führte; die Devise wurde auch im Vietnamkrieg (1950–1975) gebraucht. Sie wurde hier allerdings weit weniger erfolgreich in militärisches Vorgehen umgesetzt. Für einen Vergleich beider Fälle siehe Nagl 2006; der Titel des Buches, Learning to Eat Soup with a Knife, weist auf einen für Counter Insuregency Strategien einÀussreichen Autoren hin, der im Auftrag der britischen Regierung auf der Seite der Aufständischen stand: T. E. Lawrence schreibt: „The Turks were stupid; the Germans behind them dogmatical. They would believe that rebellion was absolute like war […]. [W]ar upon rebellion was messy and slow, like eating soup with a knife“ Lawrence 2000: 198; als Berater und Lenker des arabischen Aufstands gegen das Osmanische Reich erkennt er die Schwächen konventioneller Militärdoktrin in der Aufstandsbekämpfung.. Mittlerweile ist die zentrale Bedeutung der Haltung der intervenierten Bevölkerung im Rahmen von komplexen Interventionen sowie Aufstandsbekämpfung allgemein von vielen Interventen erkannt worden und im US-amerikanischen Fall auch in öffentlich zugängliche Counter Insurgency Field Manuals eingegangen (siehe Nagl, Petraeus, Amos 2007). Solche Doktrinen kommen allerdings in der Praxis nicht immer zur Anwendung. 6 Siehe hierzu die die neue taktische Direktive für ISAF vom 06.07.2009, in der General Stanley McChrystal, der neue NATO Kommandeur in Afghanistan, diese strategische Bedeutung explizit unterstreicht und eine Änderung der militärischen Kultur von Befehlshabern bis hinunter zu den Mannschaftsdienstgraden fordert. Um die Ernsthaftigkeit seines Anliegens zu unterstreichen hat er die Direktive in allen nicht-operativen Teilen öffentlich zirkulieren lassen. 4

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und eine für die Bevölkerung klar sichtbare Friedensdividende erreicht werden.7 Konkret wird dieses Ziel mit zivilen Instrumenten der zivil-militärischen Zusammenarbeit (Civil-Military Cooperation, CIMIC), der Nothilfe und der langfristigeren Entwicklungszusammenarbeit verfolgt. Entwicklung schafft unter Bedingungen komplexer Interventionen aber nicht zwingend mehr Akzeptanz in der Empfängergesellschaft und ist nicht automatisch förderlich für nachhaltige Sicherheit.8 Entwicklungsinterventionen zielen auf wesentliche Veränderungen in der Politik (vor allem good governance, Sicherheitssektorreform, Rechtsstaatlichkeit), Wirtschaft (z. B. nachhaltige Wirtschaftsförderung, Wasserbau und erneuerbare Energien) und im sozialen Bereich (z. B. Bildung, Frauenförderung, Krisenprävention und KonÀiktbearbeitung) der Interventionsgesellschaft ab. Diese Veränderungen sollen durch einen konditionalen9 Transfer von Ressourcen, Techniken und Normen erzielt werden. Die durch Entwicklungszusammenarbeit angestrebten Veränderungen sind nicht nur umfassend;10 sie setzen auch einen Grad gesellschaftlicher Differenziertheit in funktional getrennte Teilsysteme (Gesellschaft, Staat, Wirtschaft, Politik) voraus, der in von KonÀikten zerrissenen Ländern wie Afghanistan oft nicht gegeben ist.11 Deshalb wurde nach der militärisch erfolgreichen Intervention von Vgl. NATO 05.07.2007; Bundesregierung 2007. Daxner, Free, Schüßler, Thiele 2008: 27 beobachten hierzu: „Es ist die Crux von humanitären Interventionen nach dem Ende der Blockkonfrontation, dass humanitäre und militärische Komponenten immer enger verknüpft werden und auch verknüpft sein müssen, um nachhaltig positive Ergebnisse erzielen zu können. […] [Es] haben sich die KonÀikte gewandelt, die mit Interventionen bearbeitet werden sollen und [sie] sind mit dem klassischen Peacekeeping-Modell nicht mehr zu regeln“. 8 Aufschlussreich hierzu ist die neuere Diskussion um eine Soziologie von Interventionsgesellschaften, die in Anlehnung an Pierre Bourdieus ethnogra¿sche Methode des Erfassens von Kontinuität und Wandel in extern induzierten gesellschaftlichen Umbrüchen (Modernisierung, Kolonialisierung) gegenwärtige Interventionen als umfassende Gesellschaftstransformationsprojekte begreift und analysiert (siehe Free 2008). 9 Konditionalität ist für einige Bereiche der Entwicklungszusammenarbeit (EZ) explizit gefordert – wie z. B. für Strukturanpassungsprogramme (SAP) und Armutsbekämpfungsstrategien (PRSP) von Weltbank (WB) und Internationalem Währungsfonds (IWF). Doch auch dort, wo Konditionalität verneint wird, sind erbrachte Leistungen immer an einzuhaltende Standards und Rahmenbedingungen gekoppelt, die von der Geberseite gesetzt werden. 10 Die Interim Afghan National Development Strategy (I-ANDS) arbeitet den anvisierten gesellschaftlichen Transformationsprozess für die funktionalen Sphären „Sicherheit“, „Governance, Rule of Law and Human Rights“ und „Economic and Social Development“ aus. 11 Zu den wiederholt gescheiterten Versuchen von König Ahmanullah (1919–29) über Daud Khan (zunächst als Premierminister unter König Zahir Shah, 1973–78 nach seinem Putsch als Präsident) bis hin zur kommunistischen Herrschaft nach 1978, Modernisierung im Sinne funktionaler Differenzierung durch staatlich betriebene gesellschaftliche Reformen voranzutreiben, siehe Rubin 2002: 5–15, 53 ff. Auch Cramer, Goodhand 2002 analysieren Afghanistans spezielles historisches Verhältnis zu Staatlichkeit, das sich seit den Anfängen als Stammeskonföderation unter Ahmed Shah Durrani (1747–72) 7

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2001 als oberste Priorität die funktionale Trennung dieser Bereiche über den institutionellen Aufbau von moderner Staatlichkeit betrieben (der Bonner Prozess auf Grundlage des Petersberger Abkommens, s. FN 1). Die Neuverfassung fragmentierter Gesellschaften über moderne Institutionen staatlicher Herrschaft ist nach theoretischer Erkenntnis und empirischer Erfahrung ein radikaler und konÀiktvoller Prozess, der gegen bestehende lokale Ordnungselemente antritt und für eine Vielzahl der betroffenen gesellschaftlichen Akteure zumindest kurzfristig mehr Unsicherheit als Sicherheit bedeuten kann.12 Es ist damit eine empirisch zu klärende Frage, ob komplexe Interventionen über ihre militärische Sicherheits- und zivile Entwicklungskomponente zu einer Verstetigung von Sicherheit als zentraler Governance-Leistung beitragen. Theoretische Grundlagen komplexer Interventionen Die angenommene gegenseitige Abhängigkeit von Sicherheit und Entwicklung scheint plausibel zu sein. Sie ist aber empirisch nicht nachgewiesen. Gerade deshalb kann die enge Verzahnung der zwei Konzepte – Sicherheit und Entwicklung – nicht unhinterfragt als gegeben angenommen werden. Und genau das – also den unterstellten Nexus hinterfragen – möchte ich auf den folgenden Seiten tun. Denn die Annahme einer gegenseitigen Abhängigkeit ist voraussetzungsreich und wirft eine Reihe grundsätzlicher Fragen auf, die geklärt werden müssen, bevor die Kausalitätsvermutung in einem überprüfbaren Modell gefasst werden kann. Dafür ist zunächst eine begrifÀiche Einkreisung von Sicherheit und Entwicklung als ein Bestandteil gesellschaftlicher Ordnung vonnöten. Im weitesten Sinne geht es bei externen Interventionen in fremde, von Zusammenbruch staatlicher wie gesellschaftlicher Institutionen geprägter Länder wie Afghanistan darum, das Problem gesellschaftlicher Ordnung in den Griff zu bekommen. Nach Norbert Elias muss jede Gesellschaft drei Grundfunktionen für die vergesellschafteten Individuen bereitstellen (Elias 1983): die Sicherung zwar nie zum modernen (hier: autonomen, nach innen und außen wirklich souveränen) Territorialstaat einwickelt hat, aber doch über längere Phasen stabile politische Ordnungsmuster hervorgebracht hat, welche auf modernen staatlichen und traditionell-gesellschaftlichen herrschaftsrelevanten Institutionen fußten. 12 Der Klassiker zur Interdependenz zwischen organisierter Gewalt, Schutz und der Herausbildung von Institutionen staatlicher Herrschaft ist Tilly 1985. Untersuchungen zur jüngeren Dynamik von Gewalt und Staatlichkeit vgl. Koehler, Zürcher 2003; Zürcher 2007: Kapitel 8, 209 ff. Für Afghanistan sprechen Daxner, Free, Schüßler, Thiele 2008: 29 fast polemisch von einem notwendigen „Krieg um die Herstellung eines Gewaltmonopols, das heißt einen inner-afghanischen Krieg gegen Kriegsherren, Milizen, Behördenwillkür, gegen die alten stammesrechtlichen Regionalismen, gegen abgestandene Männerherrschaft […]“.

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der materiellen Reproduktionsfähigkeit, die Gewaltkontrolle sowie eine über Ideen und Weltbilder vermittelte symbolische Ordnung. Erst durch das Ineinandergreifen dieser spezi¿sch ausgeprägten Funktionen entstehen unterschiedliche soziale Ordnungen, die als Gesellschaften de¿niert werden können. Kern dieser funktionalen Konzeption gesellschaftlicher Ordnung ist die Sicherung des Fortbestehens von den im Einzelfall sehr unterschiedlichen zwischenmenschlichen Zusammenhängen, die eine Gesellschaft ausmachen. Ohne materielle Reproduktionsmöglichkeiten sterben die vergesellschafteten Subjekte. Ohne eine verlässliche Einschränkung der Gewaltoption in der gesellschaftlichen Interaktion brechen komplexe Beziehungen ganz zusammen (durch Rückzug oder Vernichtung).13 Die symbolische Ordnung ist wesentliche Voraussetzung für den Fortbestand von gesellschaftlichen Zusammenhängen weil sie eine sinnvolle Interpretation der Welt schafft, der über den physischen Niedergang der einzelnen Gesellschaftsbausteine (individuelle Menschen, Familien, Gemeinden u. ä.) hinausweist. Jede Gesellschaft, die über einen längeren Zeitraum fortbesteht, ist, nach Elias, ein spezi¿scher Lösungsentwurf dieser drei universellen Probleme – materielle Reproduktion, Einhegung der Gewaltoption und Vorgabe einer symbolischen Ordnung. Dies gilt nicht nur für die (westlich intervenierten) Gesellschaften, über die in diesem Artikel Aussagen gemacht werden, sondern auch für die (westliche, intervenierende) Gesellschaft, die Aussagen über die intervenierte Gesellschaft macht. Durch Intervention beförderte soziale Ordnung, die die eliaschen Grundfunktionen in den Griff bekommen soll, greift dabei zurück auf in Europa gewachsene und weltweit mit unterschiedlichem Erfolg erprobte fundamentale Konzepte von (Rechts-)Staatlichkeit und (Zivil-)Gesellschaft, welche Menschen als Staatsbürger mit Anspruch auf dem Individuum zugeschriebene Rechte neu verfasst. Auf diesem modernisierungstheoretischen Fundament gründen alle of¿ziellen Programme,14 die in Afghanistan für Sicherheit und Entwicklung sorgen sollen. Ein vollständiger Zusammenbruch von Gesellschaft durch entfesselte Gewalt ist nur für die Extremfälle der physischen Vernichtung (Genozid) und des vollständigen Rückzugs bzw. der Vertreibung von Gesellschaftssegmenten festzustellen. Meist reduziert entfesselte Gewalt lediglich die Reichweite und Mannigfaltigkeit gesellschaftlicher Interaktion – eine Dynamik, die als „Verkriegung von Gesellschaft“ (Waldmann 1995) bezeichnet wurde. Gesellschaftlich eingehegte und kulturell eingebettete Formen von Gewalt sind hingegen selbst wesentlicher Bestandteil gesellschaftlichen Zusammenhangs. Nicht jede Manifestation von Gewalt ist also ein Zeichen von gesellschaftlichen AuÀösungserscheinungen. Elias geht es um die Lösung des Gewaltproblems im Sinne der Einhegung von willkürlicher Gewaltanwendung, die Individuen und Gruppen per se als Alltagsressource im Umgang miteinander zur Verfügung steht. Dies ist die eigentliche Leistung von Zivilisationsprozessen. 14 Vom europäischen Paradigma des demokratisch legitimierten Rechtstaates und einer auf Wachstum ausgerichteten und am Leitfossil des Bruttosozialproduktes gemessenen freien Marktwirtschaft weichen lediglich informelle Interventen mit explizit anti-westlicher ideologischer Agenda ab – die 13

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Mit dem Grundproblem gesellschaftlicher Ordnung sind externe Interventionen in zerfallene Staaten in jedem Fall konfrontiert. Wenn die Interventen ausziehen, um state building zu betreiben, sind sie mit diesem Problem nicht nur konfrontiert sondern machen sich explizit die Lösung des Problems zur Aufgabe. State-building bezeichnet einen extern eingeleiteten und unterstützten Prozess, der den Territorialstaat als zentrale Institution in der Bewältigung der Universalprobleme gesellschaftlicher Ordnung einführen bzw. wieder herstellen soll. In diesem Prozess soll der Staat auf dem von ihm beanspruchten Territorium als regelnde Ordnungsmacht gegen vorhandene, lokale Ordnungsmächte antreten (also effektive Gebietsherrschaft ausüben). Diese lokalen Akteure und Institutionen, die auch staatsähnliche Funktionen ausüben (lokal Reproduktionschancen und Gewaltkontrolle sichern und eine symbolische Ordnung de¿nieren), können je nach Region Ältestenräte, organisierte Stammesverbände, Milizen, Gewaltunternehmer mit Gefolgschaft, institutionalisierte religiöse Autoritäten, Patronagenetzwerke regionaler Machthaber oder auch, wie im Falle der in Afghanistan operierenden Taliban, komplexe Herrschaftsapparate mit Anspruch auf alternative Staatsbildung sein. Die Reichweite der Geltung von Regeln und die soziale wie geogra¿sche Reichweite der Durchsetzungsmacht von Akteuren, in deren Zusammenspiel gesellschaftliche Ordnungsmuster entstehen, ist dabei sehr unterschiedlich. Für den Erfolg oder das Scheitern von Interventionsstrategien sind diese lokalen institutionellen Zusammenhänge einerseits und die Durchsetzungsmacht der lokalen Akteure andererseits die entscheidenden EinÀussfaktoren.15 Der Staat muss sich als von den Interventen unterstütztes Ordnungsprinzip gegen lokale Akteure und die institutionellen Regeln, nach denen sie agieren, durchsetzen können. Taliban und die sie stützende Kräfte – oder taktierende Pragmatiker auf der Suche nach kleinräumigen Lösungen – Geheimdienste, Diplomaten und Militärs in Verhandlungen mit lokalen Machthabern. 15 Anhand von so genannten schwachen Staaten in Südostasien analysieren Clementset al. 2007 das Dilemma, das sich ergibt, wenn weberianische Vorstellungen autonomer (also von gesellschaftlichen Institutionen abgekoppelter) Staatlichkeit im Rahmen von externem state-building auf real existierende hybride politische Ordnungen aus etwas Staat, etwas traditioneller Ordnung und etwas neuer Nicht-Regierungs-Ordnung (hier einschließlich privater Gewalt- und Rechtsorganisationen) trifft. Die Autoren leiten aus ihrer Analyse die Forderung ab, hybride politische Ordnungen nicht als einen Übergangszustand vor oder nach dem Staatszerfall zu sehen, sondern als ein Phänomen gesellschaftlicher Ordnung, das zum weberianischen Territorialstaat funktionsäquivalente Governanceformen hervorbringen kann und potenziell zu neuen Formen von Staatlichkeit führen wird (ähnlich argumentiert von Trotha, wenn er Parastaatlichkeit und konzentrische Ordnung im afrikanischen Kontext erläutert, allerdings ist er pessimistischer, was Funktionsäquivalente für Rechtstaatlichkeit und Gewaltmonopol angeht; siehe Trotha 2000). Während diese Analyse überzeugt, ist doch die abgeleitete Handlungsempfehlung an externe Staatskonstrukteure, ihre Interventionen schon in der Planung auf die Erschaffung dieses neuen hybriden Staatswesens umzustellen, etwas abenteuerlich. Interventen können ja nur Ordnungsprinzipien, Technologien und Institutionen anbieten, die sie erstens selbst verstanden haben und zweitens normativ vertreten können.

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Dies tut er im Zweifelsfall mit Gewalt. Damit staatliche Gewalt nicht zu Bürgerkrieg und gesellschaftlicher AuÀösung führt, beansprucht der Staat das legitime Gewaltmonopol und Rechtshoheit gegenüber seiner lokalen Konkurrenz. Damit sind Interventionen, die wie in Afghanistan Sicherheit und Entwicklung im Rahmen von state-building bereitstellen wollen, in ihrem Kern der extern unterstützte Kampf für ein legitimes Gewalmonopol und die Rechtshoheit des Staates als die basalen Prinzipien moderner staatlicher Ordnung (vgl. Daxner, Free, Schüßler, Thiele 2008: 29). Eine Diskussion der Konzepte von Sicherheit, Entwicklung sowie transnationaler Governance (die Sicherheit und Entwicklung bereitstellen will), die hinter komplexen Interventionen wie in Afghanistan stehen, ist Gegenstand des folgenden Abschnittes. Sicherheit Der Begriff Sicherheit hat im Interventionskontext eine Vielzahl von teilweise widersprüchlichen Bedeutungen. Der Gebrauch des Begriffes ist grundsätzlich nach Produzenten und Konsumenten16 – also denen, die Sicherheit (vermeintlich oder tatsächlich) herstellen und den Nutznießern von Sicherheit – und nach der begrifÀichen Reichweite einzuteilen. Im Fall Afghanistans, wie für die meisten zivil-militärischen Interventionen in Kriegsgebieten, die moderne Staatlichkeit herstellen wollen, ist Sicherheit nach folgenden Produzenten und Konsumenten zu unterscheiden: ƒ

ƒ

Die Sicherheit der Interventen, hergestellt durch die Interventen (sowohl im Interventionsgebiet als auch in den Herkunftsstaaten, z. B. vor Anschlägen international operierender Terroristen mit Rückhalt im Interventionsgebiet; kurzfristiges Ziel der Intervention) Die Sicherheit der Interventen, hergestellt durch stabile Staatlichkeit im Interventionsgebiet (Langzeitziel der Intervention)

Chojnacki und Branoviü (2007) stellen dem radikal gewaltoffenen Raum des Gewaltmarktes (Elwert 1997) drei qualitativ nach Anbietern und Nachfragenden differenzierte Sicherheitsvarianten gegenüber: Sicherheit als öffentliches Gut, Sicherheit als Pool-Gut, und Sicherheit als privates Gut. Bei humanitären (Kosovo) bzw. staatsgründenden (Afghanistan) Interventionen in gewaltoffenen Räumen geht es im Kern darum, Sicherheit zu verallgemeinern, also aus einem privaten bzw. Pool-Gut ein öffentliches Gut zu machen – dem Prozess entsprechend, der von Chojnacki und Branoviü etwas umständlich als „Ver-Governance-ung“ bezeichnet wird (Chojnacki, Branovic 2007: 195). Im Kern geht es in einem eliasschen Sinne um die Ausbreitung gewaltfreier Räume sowie die verbindliche Verregelung von KonÀiktaustragung. 16

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Die Sicherheit des durch die Intervention geschaffenen oder gestützten Staates, hergestellt durch den militärischen Teil der Intervention (mittelfristiges Ziel der Intervention) Die Sicherheit des durch die Intervention geschaffenen oder gestützten Staates durch die Sicherheitskräfte dieses Staates (innere und äußere Souveränität des Staates, Autonomie und Selbstschutz) Die Sicherheit der Bevölkerung, hergestellt durch die Interventen (Schutz vor Gewaltwillkür von Staat, Kriegsherren, Aufständischen und der eigenen Gewalt, z. B. in Form sogenannter Kollateralschäden) Die Sicherheit der Bevölkerung, hergestellt durch den eigenen Staat (als eine zentrale Funktion der durch die Intervention angestrebten modernen Rechtstaatlichkeit) Die Sicherheit der Bevölkerung, hergestellt durch nicht-staatliche Dienstleister und lokale Institutionen (lokale, mehr oder weniger sozial eingebettete Gruppen, die in der Lage sind, Gewalt nach anerkannten Regeln zu kontrollieren und zu beschränken)

Im Falle der begrifÀichen Reichweite von Sicherheit sind im Wesentlichen zwei Sicherheitsbegriffe zu unterscheiden: ein enges Verständnis von physischer Sicherheit, das sich aus dem oben geschilderten eliaschen Gewaltproblem ableiten lässt und den Schutz vor (willkürlicher) physischer Gewalt relevant setzt (vgl. Wilke 2009); und ein wenig scharf de¿nierter Begriff der human security, der sich auf Schutz vor allen möglichen Bedrohungen lebenswichtiger Belange von Menschen bezieht.17 Sowohl physische Sicherheit als auch human security de¿nieren sich durch ihre verhindernde und ermöglichende Kernfunktion: Gesellschaftsmitglieder werden vor bestimmten existenziellen Bedrohungen geschützt (Schutzkomponente von Sicherheit) und gesellschaftsnotwendige Erwartungssicherheit wird geschaffen (ermöglichende Komponente von Sicherheit). Unter Kontextbedingungen, in denen sich gesellschaftliche Zusammenhänge nach gewaltsamen Krisen neu ordnen, erscheint es vertretbar zu sein, den Sicherheitsbegriff auf das physische Gewaltproblem – also auf Schutz vor willkürlicher 17 So de¿nieren die Vereinten Nationen, die diesen Begriff prägten, human security fogendermaßen: „The Commission on Human Security (CHS) de¿nes human security as the protection of „the vital core of all human lives in ways that enhance human freedoms and ful¿llment. Human security means protecting fundamental freedoms. It means protecting people from critical and pervasive threats and situations. It means using processes that build on people’s strengths and aspirations. It means creating political, social, environmental, economic, military and cultural systems that, when combined, give people the building blocks for survival, livelihood and dignity“, siehe United Nations Trust Fund for Human Security 2009.

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Gewalt sowie der gesellschaftlichen Einhegung der Gewaltoption im KonÀiktfall durch Normen und Institutionen – zu beschränken. Wenn Gewalt als dominante Machtressource in KonÀikten (Bürgerkrieg) die von den Interventionskräften vorgefundene Situation bestimmt, dann ist ein (empirisch im Einzelfall näher zu bestimmendes) Mindestmaß an physischer Sicherheit Voraussetzung für wirtschaftliche und gesellschaftliche Rahmenbedingungen, die als human security gefasst werden können. Insofern kann physische Sicherheit nach der oben gegebenen De¿nition als grundlegend, anderen weiter gefassten Formen von Sicherheit vorgeordnet, gesehen werden. Physische Sicherheit muss also im Kontext von Interventionen operationalisiert werden, die bestimmte Formen sozialer Ordnung herstellen wollen. Dafür müssen empirisch drei Aspekte der Sicherheit näher betrachtet werden. Erstens muss auf der Outputseite geklärt werden, wer Sicherheit auf welche Weise herstellt. Es muss also geklärt werden, welche Akteure in welchen institutionellen Rahmenbedingungen an der Herstellung von Sicherheit bzw. Unsicherheit beteiligt sind. Die relevanten lokalen, nationalen und externen Akteure, die einen intentionalen EinÀuss auf die physische Sicherheit von Gesellschaftselementen haben, müssen dafür erfasst werden, ihre Strategien und Wirkungsmacht muss analysiert werden und die institutionellen Einschränkungen, in denen sie agieren, müssen verstanden und auf ihren tatsächlichen Geltungsbereich hin untersucht werden. Diese Aufgabe kann als Kartogra¿e der sicherheitsrelevanten Akteure in der sie betreffenden institutionellen Landschaft gefasst werden. Zweitens, auf der Inputseite ist festzustellen, bei wem Sicherheit ankommt und über welche Mechanismen diese Sicherheit geleistet wird. Da Sicherheit als kollektives Gut, neben beobachtbaren und ggf. messbaren Größen immer auch eine starke subjektive Note im Sinne der wahrgenommenen Sicherheit hat, spielen die Meinungen und Einschätzungen der Empfänger der Sicherheitsleistungen hier eine entscheidende Rolle. Letztlich muss in diesem Zusammenhang an der hermeneutischen Front geklärt werden, wo die De¿nitionsmacht über relevante Sicherheit liegt und ob das Angebot an Sicherheit qualitativ überhaupt der Nachfrage aufseiten von Zielgruppen entspricht. Physische Sicherheit ist zwar im Sinne der verlässlichen Einhegung von Gewaltoptionen in der gesellschaftlichen Interaktion eine universelle Voraussetzung gesellschaftlicher Ordnung und kann insofern als anthropologische Konstante des sozialisierten Individuums gesehen werden. Gleichwohl wird Sicherheit und Unsicherheit nicht unabhängig vom spezi¿schen kulturellen Kontext hergestellt. Dieser kulturelle Kontext legt interpretierend fest, welche Güter besonders schützenswert sind, welche Gruppen besonders relevant sind und wer unter welchen Umständen ausgeschlossen bleibt, ohne dass dadurch der gesellschaftliche Zusammenhalt in Mitleidenschaft gezogen wird.

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Der kulturell überformte Aspekt von Sicherheit kommt besonders dann zum Tragen, wenn im Rahmen von externen Interventionen Konzepte, die sich in den Weltregionen der intervenierenden Kräfte als selbstverständlich durchgesetzt haben, auf Lokalgesellschaften übertragen werden, welche ggf. mit grundsätzlich anderen Selbstverständlichkeiten leben.18 Die Sozialanthropologie spricht hier von gesellschaftsspezi¿schen Relevanz- und Plausibilitätsstrukturen, die kulturell codiert vorbewusste Orientierung des Einzelnen in der Gesellschaft möglich machen.19 So kann beispielsweise nicht a priori davon ausgegangen werden, dass im Rahmen der Herstellung von Sicherheit in jeder Gesellschaft die körperliche Unversehrtheit des Individuums das wichtigste Maß ist; abhängig vom kulturellen Kontext kann die maßgebliche Einheit der Haushalt oder die als Ehrgemeinschaft konstituierte, patrilinear erweiterte Familie (Clan oder Sippe) sein, deren Unversehrtheit es vor allem und unter Umständen auch unter Einsatz von Leib und Leben einzelner Mitglieder zu schützen gilt. In einem solchen Fall kann dann die externe, staatliche und anderwärtige Durchsetzung von Schutzgarantien für Einzelne als emp¿ndliche Bedrohung für das entsprechende Kollektiv angesehen werden.20 Entwicklung Die zweite Komponente, auf die komplexe internationale Interventionen in Krisengebieten wie Afghanistan abzielen, ist Entwicklung. Die erwartete Wirkung ist doppelköp¿g: Zum einen sollen kurzfristig von der Lokalgesellschaft nachgefragte, gut sichtbare Entwicklungserfolge mit unmittelbarem EinÀuss auf die Lebensqualität der Zielgruppen Vertrauen in die neue, extern gestützte politische Ordnung herstellen; ebenso soll durch die Entwicklungsmaßnahmen die Akzeptanz des internationalen militärischen wie zivilen Engagements erhöht werden. Vor dem Hintergrund asymmetrischer militärischer Bedrohungen wird der erwarteten akzeptanzsteigernden Wirkung von Entwicklung somit ein mittelbarer EinÀuss auf die Eigensicherheit der intervenierenden externen Kräfte sowie der durch die Intervention unterstützten Träger gesellschaftlicher Ordnung (vor allem Zu diesem Problem im Hinblick auf die Governanceforschung siehe Risse 2007: 13 ff.; zum erkenntnistheoretischen Grundproblem des „blinden Flecks“ in der empirischen Sozialforschung, der durch das Unvermögen des Beobachters entsteht, sich außerhalb der beobachteten gesellschaftlichen Realität zu positionieren, siehe z. B. Rottenburg 2002: 12 f. 19 Vgl. Relevanz- und Plausibilitätsstrukturen als kulturspezi¿sche vorbewußte Orientierungsmuster neben der semantischen Struktur bei Elwert: 1996, S. 56 f. 20 Dieses Dilemma gilt beispielsweise für Gesellschaften, die die kollektive Ehre der Familie relevant setzen und mit institutionalisierten BlutracheverpÀichtungen absichern. Der staatliche Schutz von Leib und Leben des Einzelnen kann hier leicht zu einer Beschädigung der innerhalb der Lokalgesellschaft reproduktionsnotwendigen Ressource „Ansehen“ führen (vgl. Koehler 2000: 38 ff.). 18

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geförderte staatliche und zivilgesellschaftliche Organisationen) zugeschrieben. Sichtbare Entwicklungserfolge sollen die Legitimation der neuen Ordnung in den Augen einer skeptischen, von Gegnern dieser Ordnung umworbenen Bevölkerung steigern. Zum anderen bedeutet Entwicklung im Kontext internationaler state building-Interventionen langfristig politisch gesteuerten gesellschaftlichen Wandel. Extern unterstützte bzw. forcierte Entwicklung ¿ndet im Rahmen der Entwicklungszusammenarbeit traditionell über den Transfer von Know-How und Technologien (Technische Zusammenarbeit oder TZ) sowie über den Transfer von Finanzmitteln in Form von besonders günstigen Krediten oder Infrastrukturhilfen (Finanzielle Zusammenarbeit oder FZ) statt. In beiden Fällen ist der Transfer von bi- bzw. multilateralen Gebern zu Empfängern an Konditionen geknüpft, die auf organisatorische oder strukturelle Veränderungen der vorhandenen gesellschaftlichen Ordnung21 abzielen (z. B. die Strukturanpassungsprogramme von Weltbank und IWF oder die durch diese Institutionen geforderten Poverty Reduction Strategy Papers/PRSPs). Die Ziele der Programme sind dabei vielfältig und zielgruppenabhängig. Ganz allgemein geht es aber immer darum, die Qualität in den gesellschaftlichen Subsystemen Wirtschaft, Politik und Soziales, gemessen an westlichen Standards funktionsfähiger demokratischer Rechtstaaten und kapitalistischer Marktwirtschaften, zu verbessern. Neben der modernisierungstheoretischen Hoffnung auf eine durch steuerbare gesellschaftliche Entwicklung erreichbare Verbesserung des menschlichen Daseins steht hinter diesem Vorgehen auch die Vorstellung, dass systemkompatible demokratische Rechtstaaten intern weniger krisenanfällig sind und im internationalen Rahmen anderen demokratischen Rechtsstaaten gegenüber weniger aggressiv auftreten – also im Sinne von unilateralen wie multilateralen Interessen der Stabilität durch Entwicklung gedient wird. Auch in diesem langfristigen Sinne wird somit ein Zusammenhang zwischen extern beeinÀusster Entwicklung bestimmter gesellschaftlicher Ordnungsmuster und der Sicherheit sowohl der lokal betroffenen als auch der externen Akteure unterstellt. Externe Entwicklungsinterventionen im Sinne der TZ und FZ, die nicht im Kontext von Krisen und Staatszerfall statt¿nden, setzen handlungsfähige staatliche Partnerinstitutionen in den Empfängerländern voraus. Entwicklungsprogramme werden in Kooperation mit diesen Partnern umgesetzt, wobei die Leitdifferenz zwischen Geber und Nehmer erhalten bleibt aber die nationale Verantwortung souveräner Staaten für die Eingriffe in gesellschaftliche Organisation formal 21 Der Staat als Hebel für gesellschaftliche Veränderungen wird hier in einem soziologischen Sinne als eine weitverbreitete und besonders wirkungsvolle Ordnungsinstanz und damit als ein möglicher, aber nicht zwingend vorhandener, Bestandteil gesellschaftlicher Organisation begriffen.

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gewahrt wird. Dabei kann Entwicklungspolitik wie im US-amerikanischen Fall, untergeordneter Teil der Außenpolitik eines Landes sein, sie kann, wie im bundesdeutschen Fall, eigenständiger Bestandteil der Außenbeziehungen eines „Geberlandes“ sein oder, wie im Falle multilateraler Entwicklungsorganisationen wie Weltbank, IWF oder UNDP von nationalen Interessen einzelner Staaten losgelöster Organisationssinn sein. In jedem Fall wird als Ansprechpartner für Entwicklung der Staat als lokal politikfähiger Akteur vorausgesetzt (mit Ausnahme von humanitären Einsätzen und, eingeschränkt, im Bereich der Nothilfe). Das systemische Vertrauen in funktionsfähige und nach transparenten Regeln operierende staatliche Partnerinstitutionen ist ein grundsätzliches Problem der Entwicklungszusammenarbeit (EZ). Es setzt voraus, dass zumindest zwei zentrale Aspekte gesellschaftlicher Ordnung nicht nur pro forma gegeben sind, sondern semantisch nachvollziehbar und mit den Erwartungshaltungen der Geberorganisationen in Einklang zu bringen sind: der rationale Anstaltsstaat, der mit einem bürokratischen Apparat ein erhebliches Maß an Autonomie von gesellschaftlichen Kräften behauptet hat und eine Zivilgesellschaft, die legal organisiert mit diesem Staat in einem vertragsähnlichen und arbeitsteiligen Verhältnis steht. Dies ist zwar in Verfassungen und Gesetzestexten formal vielerorts der Fall, hat aber oft wenig praktische Relevanz. NGOs können dabei faktisch die informell gesteuerten Machterweiterungen von Regierungen sein und die staatliche Bürokratie kann von Partikularinteressen mächtiger Patronagenetzwerke unterlaufen oder gar gekapert sein (siehe hierzu Koehler, Zürcher 2004). Anders verhält es sich im Falle komplexer Interventionen in Ländern wie Afghanistan, deren politische Ordnung in Jahren der Verkriegung von Gesellschaft weitgehend zerbrochen ist. Hier ist von vornherein klar, dass moderne staatliche und zivilgesellschaftliche Synapsen, die kompatibel für Entwicklungszusammenarbeit sind, erst geschaffen werden müssen. Entwicklungspolitik und latente modernisierungstheoretische Annahmen Für die Analyse modernisierender Entwicklung bzw. Entwicklungszusammenarbeit ist das hermeneutische Problem kulturell überformter Deutungen von analytisch zu fassenden Phänomenen und Prozessen weitaus komplexer als im überschaubaren Fall der physischen Sicherheit.22

22 Im Falle der physischen Sicherheit lassen sich vermutlich mehr gesellschafts- und kulturunabhängige anthropologische Konstanten formulieren und empirisch nachweisen. Physische Unsicherheit wirkt radikalselektiv; die mit physischer Unsicherheit verbundene Einsamkeit von Schmerz, Angst

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Hinter komplexen, staatsaufbauenden Interventionen steht die auf Sicherheit als Resultat ausgeweitete optimistische modernisierungstheoretische Hoffnung, dass Gesellschaft, richtig angepackt, entwickelt – also modernisiert – werden kann. Gesellschaftlicher Wandel hin zu einem positiv gesetzten, modernen Gesellschaftsmodell ist mit den richtigen Techniken und den richtigen Anreizen machbar, das war die liberale Antwort auf die klassischen und neueren Dependenztheorien, die Klassenkampf bzw. die Befreiung von Abhängigkeiten in einem ungerechten Weltsystem als endogene Triebkraft gesellschaftlichen Fortschritts begriffen hatten.23 Das moderne Gesellschaftsmodell, im Kern basierend auf Rechtstaatlichkeit, Zivilgesellschaft und Marktwirtschaft, ist für die Vertreter von Modernisierungstheorien dabei in der Regel kein eurozentrischer Selbstzweck. Es dient viel mehr der Annäherung an die in der in den UN-Millienium Development Goals manifestierten Utopie einer Welt ohne Krieg und ohne Armut.24 Erweitert wurde die modernisierungstheoretische Hoffnung dabei zunächst um die grundlegende Annahme, dass (richtige) Entwicklung notwendige Voraussetzung für nachhaltige Sicherheit ist. Insbesondere im Rahmen der Do-No-Harm Debatten in den 90er Jahren wurde aber evident, dass Westliche Entwicklungshilfe auch Unsicherheit, KonÀikt und schlechte Regierungsformen unterstützen oder sogar hervorbringen konnte. In der Folge dieser Debatten setzte sich als Fortführung der Modernisierungsdebatte dann die Einsicht durch, dass Modernisierung als Grundlage für nachhaltige Sicherheit bestimmte Governanceformen voraussetzt – und deshalb für Good Governance gesorgt werden muss. So wurde Regierungsführung von einer Kontextbedingung der Entwicklung im Sinne guter (transparenter, inklusive, demokratischer und rechtstaatlicher) Regierungsführung (Good Governance) zu einem zentralen Ziel von Entwicklung. Good Governance als Voraussetzung für nachhaltige und erfolgreiche Entwicklungsmaßnahmen soll also gleichzeitig Ziel von Entwicklungszusammenarbeit sein (siehe Abschnitt „Interventions-Governance“ unten). Die Modernisierung, auf die in solch komplexen Governanceinterventionen abgezielt wird und die durch das Zusammenwirken transnationaler Akteure erreicht werden soll, wird über drei Rechtfertigungsstrategien in der eigenen wie auch der Zielgesellschaft vermittelt:25 und Todeserfahrung konfrontiert kulturell codierte Kollektivwirklichkeiten mit universellen Fragen des Menschseins. 23 Für den historischen Überblick über die Debatte, auf den ich mich hier beziehe, siehe Rottenburg 2002: 1 ff.; auch Hoebink 1997. 24 Für Afghanistan siehe Government of Afghanistan 2005; für eine fundamentale Kritik der Utopie und ihrer Umsetzung durch Entwicklungsplaner aus der Insiderperspektive siehe Easterly 2006. 25 Für eine fundierte Diskussion der kulturverankerten Metacodes des etablierten Entwicklungsdiskurses siehe Rottenburg 2002; speziell zum Technologiecode der Entwicklungszusammenarbeit auch Hubig, Rottenburg 2007: 221–224.

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Wissenschaftlich begründeter Technologietransfer (Metacode Objektivismus): die Modernisierung, die die Interventen anbieten, ist wertfrei, unpolitisch und wissenschaftlich erwiesen zielführend. Sauberes Trinkwasser ist sauberes Trinkwasser ist sauberes Trinkwasser. Partizipation, Ownership, Partnerschaft (Metacode Kulturautonomie und Souveränität): Die intervenierten Gesellschaften (Empfänger, Nutznießer in der Sprache der Entwicklungszusammenarbeit) wollen die Modernisierung, die die Interventen (die Geber in der Sprache der Entwicklungszusammenarbeit) meinen, und nehmen die dafür notwendigen Ressourcen und Technologien teilnehmend nach und nach in Besitz. Globale Menschenrechte (Metacode Universalismus): Grundlegende Standards und Normen im Bereich der Menschenrechte sind universell gültig und sind im Regelwerk der Vereinten Nationen verankert. Entwicklungspolitik, die auf die Stärkung dieser Standards und Normen im Bereich Menschenrechte, Good Governance oder Armutsbekämpfung abzielt, kann sich auf diese universellen Prinzipien berufen.

Jeder der drei Argumentationsstränge kann dabei sowohl auf theoretische als auch auf empirische Gründe verweisen, die für das Argument sprechen. Sauberes Trinkwasser und funktionierende Infrastruktur werden, nicht zuletzt durch InformationsÀüsse, die Vergleiche mit anderen Ländern, Regionen oder Gesellschaftsschichten erleichtern, von vielen Menschen als Wert an sich angesehen. Partizipative, kultursensible und auf lokale Aneignung Wert legendes Vorgehen wird auch von den Empfängern von Entwicklungshilfe oft konditionalen und politisch forcierten Ansätzen vorgezogen. Und universale Menschenrechte werden selten von denen in Zweifel gezogen, denen diese Rechte verwehrt werden, sondern tendenziell eher von denen, die diese Rechte beschneiden. Ein prinzipielles Problem ist damit aber nicht zu lösen – dass nämlich diese Rechtfertigungsstrategien für Modernisierungsanstrengungen einige zentrale Entwicklungsziele schon als gegeben voraussetzen. Es wird vorausgesetzt, dass die Metacodes, die als codierte und damit vorgeordnete Form des Wissens immer in einen kulturellen Kontext eingebunden sind, bei den Empfängern auch gelten oder geltend gemacht werden können; und es wird vorausgesetzt, dass Partnerstrukturen existieren, die willens und fähig sind, die Ressourcen und Technologien der angebotenen Entwicklung partizipativ bzw. selbstständig zu übernehmen und als etwas Eigenes zu de¿nieren. Diese Probleme sind zumindest dem Anschein nach zu lösen, wo international anerkannte Regierungen ihre Entwicklungsländer vertreten und die einschlägigen internationalen Verträge unterschrieben haben. Doch selbst in diesen Fällen kann nicht vorausgesetzt werden, dass formale Erklärungen tatsächlich Wille

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und Fähigkeiten von Regierungen oder der gesellschaftlichen Realität im Lande entsprechen. Im Falle von Interventionen in Ländern, deren staatliche Institutionen neu aufgebaut werden, sind diese Voraussetzungen nicht einmal der Form nach gegeben. Der Bruch zwischen empirisch erfassbarer gesellschaftlicher Realität und dem normativen Anspruch der Entwicklungszusammenarbeit auf politisch neutralen Technologietransfer, auf von souveränen und legitimen Partnern nachgefragte Modernisierungsleistungen und auf die universelle Anwendbarkeit von handlungsleitenden Prinzipien gerechter gesellschaftlicher Organisation, ist augenfällig. Diese Situation muss in der Untersuchung transnationaler Bemühungen, Sicherheit und Entwicklung als sich gegenseitig bedingende Interventionsleistungen lokal umzusetzen, methodologisch berücksichtigt werden. Es wäre falsch, den Annahmen der externen Akteure zu folgen, ohne zu untersuchen, ob diesen Annahmen einer soziale Wirklichkeit vor Ort entspricht. Sicherheit und Entwicklung durch Interventions-Governance Wenn es keinen Staat gibt und damit auch zivilgesellschaftliche Institutionen in einem normativ-westlichen Sinne fehlen,26 können die Governanceleistungen physische Sicherheit und modernisierende Entwicklung im Rahmen von Interventionen nur transnational, also im Zusammenwirken von externen Interventen, entstehenden staatlichen Strukturen und lokalen Leistungsträgern erbracht werden. Mit dem Begriff Governance werden intentionale Reglungsprozesse bezeichnet, die soziale Ordnung von Kollektiven herstellen.27 Dabei ist der Begriff für fragmentierte und von individueller Durchsetzungsmacht gekennzeichnete Gesellschaften wie Afghanistan nur dann zu gebrauchen, wenn intentionales Handeln auch die nicht-intendierten, erratischen, aber dennoch ordnenden Folgen des Handelns von Governance-Akteuren einschließt. Weiter muss der Governance-Begriff Akteure berücksichtigen, die jenseits des Nationalstaates De¿nitionsmacht darüber haben, was öffentliche Belange sind, die kollektiver Regelung bedürfen. Dies kön26 Also gesellschaftliche Organisationen, die kollektive Interessen gegenüber Staat und Wirtschaft unabhängig vertreten und damit ein Teil des liberalen Staatsbürgerverständnis geworden sind (zu den verschiedenen Ansätzen, Zivilgesellschaft zu fassen siehe Manor, Robinson, White 26.08.1999). Von Sozialanthropologie und Ethnologie wird seit einiger Zeit thematisiert, dass Zivilgesellschaft einen starken westlichen, der liberalen Gesellschaftstheorie entsprungenen, Bias hat und funktionale Äquivalente von eigenständig organisierter Gesellschaft in solchen Räumen außer Acht lässt, die nicht oder anders staatlich verfasst und marktwirtschaftlich organisiert sind (siehe Hann, Dunn 1996). 27 Governance wird hier verstanden als „institutionalisierte Modi der sozialen Handlungskoordination, die auf die Herstellung und Implementierung verbindlicher Regelungen bzw. auf die Bereitstellung kollektiver Güter abzielen“ (siehe Teilprojekt A1 2009: 4).

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nen machtautonome Akteure innerhalb des territorial de¿nierten Nationalstaates sein, wie lokale Kriegsherren, korporativ handlungsfähige Stammesverbände oder auf der Mikroebene unabhängige Dorfräte; es können aber auch machtautonome Akteure jenseits des Nationalstaates sein, hier im Falle von Interventionen, die auf Sicherheit und Entwicklung abzielen, vor allem bilaterale und multilaterale militärische sowie Entwicklungsorganisationen. Governance-Akteure in Afghanistan sind damit neben den entstehenden staatlichen Akteuren und den klassischen bi- und multilateralen Entwicklungsakteuren auch externe international sowie national geführte Militärorganisationen, private Sicherheits¿rmen und lokale formelle wie informelle Machthaber, die unmittelbaren EinÀuss auf Entwicklungs- und Sicherheitsleistungen nehmen. Die Spielregeln, die sich zwischen diesen Akteuren herausbilden und zur Regelung kollektiver Belange der intervenierten Gesellschaft beitragen, und die ordnungsfördernden Leistungen, die über diesen Wirkungszusammenhang erbracht werden, können als transnationale Interventions-Governance bezeichnet werden. Der Aufbau von entsprechenden gesellschaftsordnenden Institutionen ¿ndet aber eben nicht auf grüner Wiese statt. Man ¿ndet auch in fragmentierten, von Bürgerkriegen gezeichneten Gesellschaften wie Afghanistan funktionale Äquivalente des Staates, die zumindest kleinräumig neben Sicherheit auch Governanceleistungen in den Bereichen physische Reproduktionsfähigkeit und sinnschaffende symbolische Ordnungsmuster erbringen. Die Qualität der Strukturen, die als funktionale Äquivalenten der Staatlichkeit fungieren, ist dabei eine entscheidende Variable mit EinÀuss darauf, ob die Intervention in ihrem Angebot an Governanceleistungen als willkommene Erlösung von unzumutbaren Bedingungen oder aber als illegitime Einmischung in lokale Angelegenheiten aufgenommen wird. Wenn Interventen, wie die Taliban auf ihrem Siegeszug gegen die Kriegsherren 1994–96, im Wesentlichen gegen Gewaltwillkür und Anarchie anzutreten haben, ist als Legitimation der gewaltsam ergriffenen Macht die Durchsetzung der hobbesianischen Basalfunktion des Leviathan ausreichend: Schutz vor der willkürlichen Gewalt der Kommandone und zuverlässige Regelung solcher KonÀikte, die mit lokalen Institutionen nicht in den Griff bekommen werden konnten. Dies reichte für die Taliban aus, um zumindest vorläu¿g von weiten Teilen der Bevölkerung als wünschenswertere Ordnungsalternative zum Gewaltmarkt der Kommandeure akzeptiert zu werden. Die Situation von Interventen ist hingegen ungleich schwieriger, wenn diese gegen eine handlungsfähige politische Ordnung antreten, wie die von den USA geführte Invasion in 2001 in Afghanistan. Diese Intervention löste das Regime der Taliban mit militärischen Mitteln ab und etablierte eine neue Ordnung, in der der militärisch unterworfenen Talibanelite kein Platz eingeräumt wurde. Ein Friedensprozess wurde nicht begonnen. Aus dieser Ausgangssituation folgt, dass die

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von den USA geführte Intervention deutlich größere Anstrengungen unternehmen muss, um breite Akzeptanz für die neue, extern gestützte Ordnung zu erlangen. Die Legitimation von fremdherrschaftsgestützter gesellschaftlicher Ordnung soll in komplexen Interventionen durch Leistungen erreicht werden, die über transnationale Interventions-Governance erbracht werden. Sicherheit und Entwicklung sind die zentralen beabsichtigten Leistungen von Interventions-Governance. Das Verhältnis zwischen Interventions-Governance und den Leistungen Sicherheit und Entwicklung funktioniert dabei nur in einem doppelten und teilparadoxen Sinne: Einerseits ¿ndet Governance als Wirkungszusammenhang zwischen lokalen, nationalen und bi- wie multilateralen Akteuren im Rahmen der Intervention statt und soll Leistungen erbringen, die die Legitimation der neuen Ordnung befördern; andererseits ist eine bestimmte, normativ aufgeladene Lesart von Governance, nämlich good governance, ein durch die zivil-militärische Intervention zu erreichendes Resultat, welches das Verhältnis zwischen Gesellschaft und Staat (dann als Zivilgesellschaft und Rechtstaat) prägen soll. Governance ist somit gleichzeitig Input- und Outputfunktion im Verhältnis der Geber und Empfänger von Interventionsleistungen. Sicherheit (wie auch Unsicherheit) und Entwicklung (wie auch Stagnation oder Zusammenbruch) sind das Ergebnis eines zumindest in Teilen koordinierten und intentionalen Zusammenwirkens eines transnationalen AkteursgeÀechtes. Theorie des extern gesteuerten Wandels Versuchen wir nun, die bisher diskutierten theoretischen Annahmen über einen kausalen Zusammenhang zwischen Sicherheit und Entwicklung im Rahmen komplexer Interventionen auf ein Modell zu reduzieren, ergibt sich folgendes Bild doppelter rückgekoppelter Verstärkung:

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Good Governance macht Sicherheit nachhaltig

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Good Governance

Entwicklungszusammenarbeit stärkt Good Governance an der Schnittstelle zwischen Staat und Gesellschaft

Schutz

Sicherheit

Entwicklung Akzeptanz

Militärisch erzwungene physische Sicherheit ermöglicht die Erbringung von grundsätzlichen Funktionen von Staatlichkeit

Herrschaft

Staatliche Handlungsfähigkeit ermöglichen Entwicklungszusammenarbeit

Der innere Ring stellt die angenommene direkte Wechselwirkung zwischen militärisch durch externe und im Aufbau be¿ndliche nationale Kräfte erzwungener Sicherheit da, durch die Maßnahmen der Nothilfe, Aufbauhilfe und längerfristigen Entwicklungszusammenarbeit möglich werden. Die so bewirkte Entwicklung hat nach diesem Modell eine Steigerung von Akzeptanz der staatsbildenden Interventionsbemühungen zur Folge. Dies wirkt sich unter Bedingungen asymmetrischer Kriegsführung positiv auf die Sicherheit der externen wie nationalen Akteure aus. Die Legitimation der staatlichen Institutionen wächst, sofern die angeschobene Entwicklung als sichtbare Friedensdividende von der Bevölkerung wahrgenommen wird und mit der neuen, fremd gestützten staatlichen Ordnung in Verbindung gebracht wird. Der äußere Ring zeigt dabei den längerfristigen Prozess des Aufbaus von Staatlichkeit und Normalisierung von Entwicklungszusammenarbeit, der im Bonn-Prozess (Peterberger Abkommen) den Anfang nahm und den Aufbau zentralstaatlicher Institutionen priorisierte. Dabei setzt die militärische Präsenz, ausgehend vom Zentrum politischer Macht, Inseln physischer Sicherheit gegen die Herausforderung staatsfeindlicher Kräfte durch, in denen staatliche Institutionen und die sie unterstützenden bilateralen und multilateralen Organisationen Fuß fassen können.28 So entstandene staatliche Handlungsfähigkeit ermöglicht dann, 28 Dieser Ansatz kann auch als Tintenkleckstheorem bezeichnet werden – die Sicherheitsinseln sollen sich demnach um die Distriktzentren herum vergrößern und letztlich zusammenÀießen, wie Tinten-

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strategische, langfristig ausgelegte Entwicklungszusammenarbeit über Partnerstrukturen. Diese Entwicklungszusammenarbeit befördert wiederum effektive, legitime und transparente Regierungsführung, was durch Stabilisierung einer symbiotischen Beziehung zwischen sich entwickelndem Rechtsstaat und sich entwickelnder Zivilgesellschaft zu nachhaltiger Sicherheit führt. Beiden Wirkungsringen zugrunde liegt die Annahme, dass Entwicklung durch Armutsbekämpfung, Steigerung der Leistungsfähigkeit und Diversi¿zierung der Wirtschaft und Verbesserung der Regierungsführung nachhaltig strukturelle KonÀiktursachen (sogen. root causes), die Unsicherheit nach sich ziehen, transformieren kann.29 Dabei wird als gegeben angenommen, dass es einen kausalen Zusammenhang zwischen Armut (gemessen am Einkommen), wirtschaftlicher Unter- oder Fehlentwicklung (gemessen anhand des BSP) und schlechter Regierungsführung (gemessen an Demokratie- und Rechtstaatlichkeitsindizes) gibt. Die empirisch begründete Literatur, welche sich dem Thema widmet, erkennt zwar einen starken Zusammenhang zwischen Bürgerkrieg und ökonomischen Niedergang (Collier October 2004), kommt zu keinen eindeutigen universell anwendbaren Ergebnissen hinsichtlich wirtschaftlicher „Unterentwicklung“ und der Gewaltanfälligkeit einer Gesellschaft (vgl. Easterly 2006). Dies legt, wie hier vorgeschlagen, eine Einzelfallprüfung dieser Kausalitätsannahmen nahe. Damit ist das Model von Veränderung beschrieben, das zentraler Bestandteil der theoretischen Begründung komplexer Interventionen ist. Die Aussagekraft dieses Modells, das Sicherheit und Entwicklung über tranznational erwirkte Governanceleistungen interdependent verbindet, wird nun anhand von Ergebnissen einer Wirkungsbeobachtung zur internationalen Intervention in Nordost-Afghanistan einer kurzen exemplarischen Prüfung unterzogen werden. Sicherheit und Entwicklung in Nordostafghanistan, eine Zwischenbilanz Die Provinzen Kunduz, Takhar und Badakhshan im äußersten Nordosten Afghanistans fallen in das seit 2004 von Deutschland geführte Regionalkommando Nord. Seit dieser Zeit sind die drei ethnisch heterogenen Provinzen auch der wesentliche Schwerpunkt von bundesdeutschen Entwicklungsinterventionen, zunächst der Not- und Übergangshilfe, später auch der Technischen und Finanziellen kleckse auf Löschpapier; siehe Leithead 14.07.2006. Diese Annahme liegt dabei sowohl der normativ handlungsleitenden Friedensforschung als auch diversen Ansätzen von konÀikttransformativen bzw. friedensfördernden Entwicklungsansätzen zugrunde; siehe exemplarisch Anderson, Spelten 2000, December; IA 2001; Ropers 2000; Goodhand, Atkinson 2001; Oxfam January 2008. 29

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Zusammenarbeit im Rahmen langfristigerer Projektvorhaben. Obwohl es andere Großprojekte im Nordosten gibt, wie z. B. technische wie institutionelle Neugestaltung der Wassernutzung in den Flussoasen von Kunduz und Takhar durch die Europäische Union, kommt der Bundesrepublik hier eine besondere Rolle in der Herstellung von Sicherheit und Entwicklung im Sinne des oben herausgearbeiteten interdependenten Entwicklungsmodells zu.30 Ich möchte das oben herausgearbeitete Modell einer Kausalbeziehung zwischen Entwicklung und Sicherheit im Rahmen transnationaler Gouvernanceleistungen auf einige Ergebnisse der empirischen Arbeit vor Ort beziehen. Ich beschränke mich hier exemplarisch auf solche Ergebnisse, die zur Veri¿zierung der theoretischen Annahmen geeignet erscheinen; mein Anliegen ist es nicht, die gesellschaftliche Dynamik in den drei Provinzen seit dem Beginn der internationalen Intervention 2001/02 darzustellen. Die Forschungsergebnisse, die der folgenden Darstellung zugrunde liegen, sind in Koehler, Zürcher 2007 und Koehler 2008 publiziert. Direkte Rückkoppelung Nach dem bisher verfügbaren Datenmaterial hat sich Sicherheit aus afghanischer Sicht in den Zielprovinzen zwar verbessert und diese Verbesserung wird als ein Resultat der transnationalen Governanceleistungen wahrgenommen; Sicherheit ist dabei aber sowohl in der afghanischen Wahrnehmung als auch nach den ethnographischen Beobachtungen und Fallstudien losgelöst von erbrachten Entwicklungsinputs. Mehr Entwicklungsinputs führen nicht unmittelbar zu mehr Sicherheit. Aus Sicht der Afghanen sind die beobachteten Verbesserungen ihrer Sicherheit vor allem auf Einschränkung machtwillkürlicher Handlungsoptionen von lokalen Gewaltunternehmern (komandans) durch militärische Präsenz und die Entstehung von staatlichen Institutionen als politischer Handlungsrahmen für Ressourcen- und Machtkonkurrenz. Die Hoffnung auf eine unmittelbare Verbesserung von Sicherheit durch Entwicklungserfolge bezieht sich im oben herausgearbeiteten Modell allerdings nicht in erster Linie auf die Sicherheit der lokalen Bevölkerung, sondern auf die Sicherheit von Interventen und den durch die Intervention geschaffenen bzw. unterstützten Staat. Im Modell leitet sich der erhöhte Sicherheits-Output aus der erhöhten Akzeptanz der Intervention in der Bevölkerung durch Entwicklungsleistungen ab.

30 Die Entwicklung in drei Provinzen wird vom Autor seit 2003 regelmäßig vor Ort verfolgt, wobei in Kunduz und Takhar seit 2006 eine systematische Wirkungsbeobachtung in Zusammenarbeit zwischen BMZ und SFB 700 (Teilprojekt C1) etabliert wurde.

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Entwicklung kommt bei relevanten Teilen der afghanischen Bevölkerung tatsächlich an und wird auch wertgeschätzt. Dabei handelt es sich aber vor allem um kleinteilige, wenig auf Nachhaltigkeit und Synergie ausgerichtete Infrastrukturprojekte, die über neu geschaffene zivilgesellschaftliche Organisationen (sog. Community Development Councils) und mehr oder weniger inklusive und transparente Vergabeverfahren (z. B. den Provincial Development Funds) in die Fläche gebracht wurden. Eine Sicherheitswirkung für die Interventen erscheint zwar plausibel, ist aber allenfalls indirekt und kann nur im Einzelfall nachgewiesen werden (Quick Impact Projekte/QIP, vertrauensschaffende Maßnahmen, entry points, ggf. Informationen aus der Bevölkerung über geplante Anschläge auf Entwicklungsinfrastruktur, Veränderung der Anreizstruktur von Gemeindevertretern). Es fällt auf, dass trotz der breiten Umsetzung des National Solidarity Programmes (NSP), Quick Impact Projekten und von Maßnahmen der entwicklungsorientierten Nothilfe und ähnlicher, bei ländlicher Infrastruktur ansetzender Programme die Sicherheitslage seit 2006 in der Schlüsselprovinz Kunduz kontinuierlich schlechter geworden ist. Demgegenüber ist die Sicherheitslage in Takhar und Badakhshan relativ stabil geblieben. Brenzlige Gegenden, die von den Taliban oder von anderen bewaffneten Gruppen als Rückzugsraum bzw. Brückenkopf in der Region genutzt wurden, konnten durch Anreize der Entwicklungszusammenarbeit alleine in den beobachteten Fällen nicht sicherer gemacht werden (siehe auch Fallbeispiel unten).31 Die Behauptung, dass ohne diese Maßnahmen die Situation sich schneller und extremer verschlechtert hätte, kann dabei weder ausgeschlossen noch bestätigt werden. Sie ist lediglich eine Spekulation. Wenn der unmittelbare EinÀuss von Entwicklungs-Inputs auf Sicherheit spekulativ oder situativ bleibt, so hat umgekehrt Unsicherheit von Intervenierten wie Interventen einen erheblichen EinÀuss auf die Nutzung von Entwicklungschancen. Landfrieden erscheint dabei aus afghanischer Perspektive als Grundvoraussetzung für die Nutzung solcher Chancen. Wenn Leib, Leben und die Integrität des Haushaltes als elementarer kollektiver Akteur durch tatsächliche oder glaubwürdig angedrohte physische Gewalt bedroht sind, sind die Anreize der Entwicklungsprogramme bestenfalls nachgeordnet. Wenn die Beteiligung an solchen Programmen (z. B. in Form von Grundbildungsprogrammen für Mädchen) von lokalen oder 31 Versuche, die lokale Bevölkerung und ihre Repräsentanten durch Entwicklungsanreize stärker an der of¿ziellen Ordnung als Alternative zu den Offerten der Aufständischen zu interessieren, gab es 2007 beispielsweise in den paschtunischen Siedlungsgebieten um Lala Maidan in der Provinz Kunduz und in Chin Zai in Takhar. Seit Anfang 2009 ist zu diesem Zweck für den Problemdistrikt Chardara in Kunduz ein eigener Distrikt Stabilization Fund aufgelegt worden. Bisher waren allerdings vor allem die Negativanreize oder Druckmittel der Aufständischen stärker, als dass die Aussicht auf Entwicklungsinputs das Verhalten der Bevölkerung signi¿kant verändert hätte.

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externen Gewaltunternehmern als unislamische Kollaboration diffamiert wird, kann Kooperation mit den Interventen selbst zum Sicherheitsrisiko werden (wie in jüngster Zeit in den Distrikten Aliabad, Chardara, Khanabad und in Imam Sahib). Die unproportionale Interdependenz zwischen Entwicklungsaktivitäten, Sicherheit für Entwicklungsakteure in den Gemeinden, Sicherheit der Gemeinden und die lokale Leistungsschwäche des afghanischen Staates lässt sich fokussiert an dem Fallbeispiel Lala Maidan in Aliabad veranschaulichen. Lala Maidan ist ein mantaqa (Dorfcluster oder Siedlungsgebiet), das im schmalen bewässerten Streifen westlich des Kunduz Flusses liegt. Es ist nur über eine handgezogene Fähre mit der weitaus besser erschlossenen Infrastruktur entlang der Haupttrasse Kunduz-Baghlan verbunden. Die Dörfer sind hauptsächlich von paschtunischen Stämmen32 sowie einigen Belutschen bewohnt. Einige Dörfer praktizieren Transhumanz wobei das Vieh im Sommer in das Shiva Hochland nach Badakhshan gebracht wird. Lala Maidan war während der Talibanzeit unter der direkten Kontrolle von lokalen Talibankommandeuren. Als einÀussreichster unter ihnen gilt Kommandeur Haikal aus Lala Maidan 3.33 Dieser war zeitweise der Sicherheitschef (andere Quellen bezeichnen ihn als Geheimdienstchef) der Taliban in Kunduz. In den 80er Jahren war er ein lokaler Kommandeur des Jihads gegen die Sowjetunion. Haikal und andere Kommandeure Àohen nach dem Fall der Taliban nach Pakistan. Im Rahmen des staatlichen Amnestie- und Reintegrationsprogramms für Taliban, Takim-e solh, kam er mit seiner Gefolgschaft 2006 zurück nach Aliabad. Es gab wiederholt Spannungen mit der bis März 2007 von einem tadschikischen Ex-Mujaheddin der Nordallianz geführten Distriktverwaltung, die auch gegenüber dem PRT (Provincial Reconstruction Team als Teil der ISAF) Anschläge auf der Haupttrasse Kunduz-Baghlan mit den Ex-Taliban Lala Maidans in Verbindung brachte. Ende 2006 sprach Haikal persönlich beim PRT vor, lud Vertreter ein, das mantaqa zu besuchen und bot seine offene Unterstützung an. Er erklärte, es leid zu sein, von Entwicklungschancen durch die Negativpropaganda der Distriktverwaltung und afghanischer Sicherheitskräfte abgeschnitten zu werden. Dieses Treffen war der Ausgangpunkt für eine Reihe von informellen Zusammenkünften zwischen ehemaligen Talibankommandeuren und hochrangigen Vertretern des PRT (zunächst im Rahmen von Takim-e solh, dann auf Wunsch einiger Ex-Taliban ohne die of¿ziellen afghanischen Vertreter). In Lala Maidan war es erklärtes Interesse des PRT, das Dorf des einÀussreichen Ex-Kommandeurs, der Kooperationsbereitschaft signalisiert hatte, stärker in einen Entwicklungsprozess einzubinden. Vor allem Kakar und Asakzai. Die Dörfer sind auf Karten durch Nummern unterschieden, die sich allerdings von den lokalen Toponymen unterscheiden; auf den AIMS-Karten wird es unter der Nummer 1 geführt. 32 33

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Nachdem am 29.04.2007 ein afghanischer Mitarbeiter der DWHH in unmittelbarer Nähe des Dorfes Haikals gezielt ermordet worden war, wurde die Zusammenarbeit mit Lala Maidan sowie die informellen Konsultationen zwischen PRT und Ex-Kommandeuren zunächst auf Eis gelegt. Ziel war es, die Würdenträger der Gemeinde zu einer deutlichen und öffentlichen Positionierung gegen ideologische Gewalttäter zu bewegen. Der Erfolg dieses Vorgehens ist schwer zu erfassen; in dem Dorf wurden seit März 2007 eine Reihe Interviews geführt, es war auch eine Zielgemeinde für das Fokusgruppeninterview sowie für die Umfragen im März und Juli. Das Ergebnis ist dabei nicht eindeutig. Klar ist, dass die Bewohner selbst unter Druck stehen und – für den ländlichen Raum untypisch – keine weit reichenden Sicherheitsgarantien für das unmittelbare Umfeld der Siedlung geben können. Selbst das hart gesottene paschtunische Surveyteam fühlte sich nach Einbruch der Dämmerung nicht sicher und wurde von einem Vertrauten des Ex-Kommandeurs einige Kilometer zur Fähre begleitet. Klar ist auch, dass die Bevölkerung sowohl unter dem Misstrauen der afghanischen Sicherheitskräfte als auch unter der Gefährdungslage leidet. In Einzel- und Gruppeninterviews wurden willkürliche Verhaftungen mit erpressten Freikäufen ganzer Personengruppen durch Polizei und Geheimdienst beklagt.34 Unwahrscheinlich ist allerdings, dass die Teilhabe an Entwicklungschancen als Anreiz ausreicht, um mit bewaffneten Gruppen zu Brechen, deren EinÀuss in das Dorf hineinreicht und die in der weiteren Umgebung (vor allem in dem Waldgebiet westlich des mantaqas) Fuß gefasst haben. Vermutlich haben die Afghanen recht, wenn sie die Bedeutung von (eigener) Sicherheit für (eigene) Entwicklungschancen hervorheben; daraus folgte aber gerade nicht, dass Entwicklung gegen Sicherheit – hier die Übernahme des langfristigen Risikos, sich für Entwicklungsinputs jetzt gegen die Neo-Taliban zu positionieren – aufgewogen werden kann. Der Fall Lala Maidan ist bezeichnend für das Dilemma der ungleichen Interdependenz zwischen Sicherheit auf der einen und Entwicklung auf der anderen Seite. Er bestätigt, dass Sicherheit zentral für Entwicklung ist und dass verbesserte ökonomische Bedingungen mit der besseren Sicherheitslage und mit Entwicklungsmaßnahmen in Verbindung gebracht werden. Kann man aber mit Entwicklungsanreizen und Entwicklungserfolgen die Sicherheit der Bevölkerung, der lokalen staatlichen Organisationen und der internationalen Akteure verbessern? Die Entwicklungen in Lala Maidan zeigen, dass 34 Der Distriktgouverneur hatte sich in einem Interview am 04.03.2007 mit dem Autor damit gebrüstet, dass Ende 2006 eine Anschlagsserie dadurch unterbunden werden konnte, dass er den Bewohnern seines Distrikts klar gemacht hätte, ihre Nachbarschaft würde kollektiv bestraft werden, wenn in deren Nähe Anschläge verübt würden. Er führte allerdings nicht aus, dass diese Strafmaßnahmen Verhaftungen mit erpressten Freikäufen sein könnten.

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Anreize aus der Werkzeugkiste der Entwicklungszusammenarbeit sehr wohl neue Optionen in der Zusammenarbeit auch mit skeptischen oder potenziell feindseligen Kräften eröffnen können. Man kann solche Kräfte dadurch alleine aber nicht für die neue staatliche Ordnung einnehmen, insbesondere dann nicht, wenn diese Gruppen – im vorliegenden Fall ganze Gemeinden – sich sowohl von Seiten des organisierten bewaffneten Widerstandes als auch von Seiten einer feindselig und unberechenbar auftretenden Staatsmacht unter Druck gesetzt fühlen. Man muss anerkennen, dass die Gemeinden zwischen den Stühlen sitzen und die Gegner der derzeitigen staatlichen Ordnung ein glaubwürdiges und langfristiges Bedrohungspotenzial haben. Man kann den EinÀussgrößen in solchen Gemeinden, die ja politische Gemeinwesen und keine uniformen und gleichgeschalteten Körperschaften sind, lediglich zusätzliche Anreize für ihre eigenen Macht- und Sicherheitskalküle geben. Diese können allenfalls die riskante Option, sich gegen den gewalttätigen Widerstand im Rahmen der eigenen EinÀusssphäre zu positionieren, akzeptabler machen. In den Jahren des Krieges war es die erprobte und vorgezogene Überlebensstrategie afghanischer Haushalte und Gemeinden, es sich mit keiner übermächtigen gewaltfähigen Gruppe zu verderben und in möglichst viele Richtungen reziproke Verbindungen aufzubauen. Unter Bedingungen, in denen lokal dominante Gewaltakteure häu¿g wechseln und man wenig Zutrauen in den Bestand der Herrschaftsordnung der Stunde haben kann, ist diese Strategie plausibel, trägt aber nicht zur Verstetigung einer legitimen Herrschaftsordnung bei. Ein eindeutiger direkter Wirkungszusammenhang (positive Rückkoppelung) zwischen Entwicklungsbemühungen und der Sicherheit der afghanischen Bevölkerung, des afghanischen Staates sowie der externen Interventen kann also im Untersuchungsgebiet nicht festgestellt werden. Der Wirkungszusammenhang scheint nur in eine Richtung zu wirken: Ohne Sicherheit kann Entwicklung nur sehr begrenzt statt¿nden. Offen bleibt an dieser Stelle die Frage, ob Sicherheit durch Entwicklungsleistungen gestärkt und dauerhaft in staatlichen und gesellschaftlichen Institutionen verankert werden kann, wenn basale physische Sicherheit nicht durch Aufständische, lokale Gewaltunternehmer oder willkürliche Staatsgewalt bedroht wird. Es ist ja durchaus möglich, dass es sich in der angenommenen direkten positiven Rückkoppelung zwischen Sicherheit und Entwicklung nicht um eine sofortige, kontextunabhängige, sondern um eine zeitlich verschobene Interdependenz handelt, die bestimmter Grundvoraussetzungen in Sachen Sicherheit bedarf. In den Distrikten, in denen die unmittelbare Gewalt von Aufständischen bzw. lokalen

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Gewaltakteuren über lange Zeit zurückgedrängt war (wie beispielsweise in der Provinz Badakhshan oder in weiten Teilen Takhars) gibt es dafür Anzeichen.35 Der Governance-Umweg zur intendierten Wirkung Auch das bisherige Ergebnis der erwarteten sich gegenseitig verstärkenden Interdependenz zwischen Sicherheit und Entwicklung über den Umweg von Governance ist gemischt. Gemessen an der kolossalen Aufgabe wurde formal beachtliches erreicht. In den ersten vier Jahren wurde der im Rahmen der Petersberger Afghanistankonferenz der UNO beschlossene Prozess abgeschlossen, über den die grundlegenden Institutionen von Staatlichkeit geschaffen und legitimiert werden sollten: Die Verfassung wurde geschrieben und verabschiedet und die Übergangsregierung wurde durch Präsidents-, Parlaments- und Provinzratswahlen zu einer souveränen, national wie international weitgehend anerkannten Regierung, welche zumindest „auf dem Papier“ strategische Entwicklungsentscheidungen für das Land trifft.36 Der Staat in den Regionen Im Nordosten ist in den meisten Distrikten ein klarer Rückgang des unmittelbaren MachteinÀusses von lokalen Gewaltunternehmern festzustellen, sofern sie nicht willens oder in der Lage waren, ihre Macht in das entstehende staatliche Rahmenwerk zu übersetzen.37 Es ist ein klarer Wandel von roher Durchsetzungsgewalt hin zu zumindest pro forma an den Staat angegliederte Positionen und Ämter zu verzeichnen.38 Waren Polizeiuniformen 2003 auch in den Provinzzentren noch Dieser Frage wird in Zukunft systematisch nachgegangen werden, eine Auswertung differenziert nach Distrikten steht alleine deshalb noch aus, weil sich die Aktivitäten der Aufständischen im Beobachtungszeitraum 2007 bis 2009 erheblich verschoben und auf Kunduz Provinz konzentriert haben. 36 Wie im Falle der Afghan National Development Strategy (ANDS) oder der Millenium Development Goals (MDG), siehe Government of Afghanistan 2005; Government of the Islamic Republic of Afghanistan 2008. 37 Ein bekanntes Beispiel für Kriegsherren, die sich in den neuen Staat hinein und damit weg von ihrer regionalen Machtbasis kooptieren lassen haben, ist Ismail Khan aus Herat, der in der Regierung Karzai Energieminister wurde. Ein Gegenbeispiel ist General Dostum, der es abgelehnt hat, seine regionale Machbasis im Norden des Landes für eine Position in Kabul aufzugeben. 38 Dieser Trend wird sowohl von Umfragen, die nach der Relevanz und Dominanz von lokalen informellen Kommandeuren fragen als auch von Beobachtungen und Interviews seit 2003 für den Nordosten bestätigt. Die durchgängig häu¿gste Erklärung von Afghanen, die angaben, dass sich ihre Sicherheit in den vergangenen Jahren verbessert hat, war ein Verweis auf den Rückgang der lokalen 35

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skurrile Einzelerscheinungen, die eher an die Handlungsunfähigkeit oder Abwesenheit staatlicher Sicherheitsorgane erinnerte, so entwickelten viele informelle Lokalkommandeure relativ schnell ein Interesse daran, ihre Milizen in of¿zielle Positionen einzugliedern. Selbst wenn die reale Durchsetzungschancen der Entwaffnungs- und Demobilisierungsprogramme (DDR, DIAG)39 wenig bedrohlich erschienen, wollte man am Prestige des neuen „Staatsspieles“ partizipieren.40 Der Preis dafür ist, dass Milizführer und ihre Anhängerschaft mit ihren Partikularinteressen und ihrer Gewaltkultur zumindest temporär in die staatlichen und staatlich anerkannten privaten Sicherheitsdienste absorbiert wurden (vgl. Wilder 2007; The Human Rights Research and Advocacy Consortium 2004).41 Der Staat ist seit Abschluss des Petersberger Prozesses in allen Provinzen etabliert und mit Distriktverwaltungen sowie einigen Fachministerien auch in den meisten42 Distrikten präsent. Dies heißt allerdings nicht, dass der Staat auch immer jenseits der Provinz- und Distrikthauptstädte handlungsfähig oder handlungswillig ist. Selbst wenn, wie in vielen Distrikten des Nordostens, die Sicherheitslage kein Problem darstellt, fehlt es regelmäßig an administrativen Kernkompetenzen und governance-relevanten Basisdaten wie Informationen über Demogra¿e, Wirtschaft und die soziale Situation in den Distrikten. Diese Informationen liegen, sofern sie überhaupt glaubwürdig und aktuell erhoben wurden, gestückelt bei unterschiedlichen externen Entwicklungsorganisationen vor, die getrennt voneinander ihre eigenen programmbezogenen Daten sammeln und diese in aller Regel nicht mit den zuständigen Regierungsstellen teilen selbst wenn diese Interesse anmelden (vgl. Koehler 2008). Häu¿g ist das Interesse der Distrikt- und Provinzadministration an Vorgängen im Hinterland, die nicht unmittelbar ihren EinÀuss und ggf. ihre informellen Einnahmen betreffen, gering. Die Leistungsfähigkeit ist dabei stark von den eingesetzten Personen und den jeweiligen Kontextbedingungen in den Distrikten

Gewaltwillkür durch bewaffnete Gruppen. Siehe Koehler, Zürcher 2007 zur Statistik und Koehler 2008 zu den qualitativen Daten. 39 Demobilisation, Disarmament and Rehabilitation; Disbandment of Illegal Armed Groups. 40 Beispiele hierfür sind Kommandon Khudbuddin in Khostaq; Qariwardooj in Baharak, die 2003 noch als Renegaten gegen die entstehenden staatlichen Einmischungen in ihren lokalen Herrschaftsbereich auftragen und sich dann aber zumindest formal der neuen Ordnung gefügt haben (siehe Koehler April 2004; Gosztonyi, Fararoon April 2004). 41 Dieses Problem von zu erwartender „very bad governance“ in den lokalen Sicherheitsdiensten wird durch das neue, von der US-amerikanischen Militärführung eingeführte und durch das afghanische Innenministerium unterstützte Programm der selektiven Wiederbewaffnung von ehedem marginalisierten Milizen zur lokalen Bekämpfung der Taliban mit erheblicher Wahrscheinlichkeit eskalieren (vgl. Ayub, Kouvo, Wareham 2009: 12f.). 42 Der Staat ist mitunter gezwungen, sich aus einigen Distrikten temporär zurückzuziehen, wenn der militärische Druck der Aufständischen zu hoch wird. Bisher ist es bei kurzzeitigen taktischen Rückzügen geblieben.

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abhängig. Eine direkte Wirkung von sogenannten Capacity Building Programmen auf die Leistungsfähigkeit und Leistungsbereitschaft der Distriktadministrationen ist dabei bisher nicht festzustellen. Selbst die staatlichen Qualitätssicherungsprogramme von IDLG und IARCSC43 haben die selbst gesteckten Ziele bisher nicht erreicht und sind in einigen Distrikten eher zum Teil einer nicht leistungsbezogenen Ämtervergabe geworden.44 Trotz der eklatanten Leistungsschwächen ist die Distriktverwaltung das relevante Gesicht des Staates für den überwiegenden Anteil der afghanischen Bevölkerung, der überhaupt mit dem Staat in Berührung kommt. Die Nachfrage nach staatlichen Leistungen kann man in jedem Distriktzentrum am Vormittag der Werktage anhand des Besucherandrangs sehen (Nachmittags kümmern sich die Angestellten und Funktionäre in der Distriktadministration um die wirtschaftlichen Belange ihrer Haushalte – meist handelt es sich dabei um landwirtschaftliche Arbeit). Der Staat wird dabei einerseits als Amt für den Erhalt von Dokumenten, Zerti¿katen und Urkunden aufgesucht; andererseits wird die Distriktadminstration auch als Anlaufstelle von KonÀiktparteien aufgesucht, für die die lokalen, meist informellen Streitschlichtungsformen versagen (siehe Koehler 2008; vgl. für andere Teile Afghanistans Koehler June 2005). Bewertung der Sicherheitsleistung der internationalen Truppen und der Provinzregierung Im Nordosten ist das Image des Staates im Kernbereich Sicherheit besser als seine tatsächlich festzustellende Leistungsfähigkeit (mehr Inputlegitimation als Outputlegitimation). In Umfragen 2007 und 2009 wird der Staat hier als wichtigster Faktor für eine überwiegend positiv eingeschätzte Sicherheitslage genannt. Die Angst vor einem neuen Bürgerkrieg oder der Rückkehr der Taliban überwiegt hier; man sieht den neuen Staat (noch) als wichtigste Alternative zu einer Rückkehr der Gewaltwillkür. Nicht zuletzt aufgrund seiner tatsächlichen Machtde¿zite als Exekutive wird der Staat dabei zumindest im Nordosten nicht als Teil des Sicherheitsproblems wahrgenommen. Dies galt bis Mitte 2008 auch für die den Staat absichernden internationalen Truppen der ISAF. Diese wurden in den Umfragen von 2007 auch ganz überwie43 Independent Directorate for Local Governance; Independent Administrative Reform and Civil Service Commission. 44 Zu diesem Schluss kommen zumindest zwei bisher unveröffentlichte Governance Kontextanalysen, die im Auftrag der GTZ 2007 und 2008 in Kunduz, Takhar und Badakhshan durchgeführt wurden. Die Kritik ist exemplarisch und bezieht sich dabei vor allem auf die Ämtervergabe in den Distrikten Warsaj in Takhar und Jerm in Badakhshan.

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gend als Sicherheitsbedingung und nicht als Unsicherheitsfaktor wahrgenommen. Dies bezog sich auf drei unterschiedliche lokale Bedrohungsphänomenen, die von den lokalen Gesprächspartnern relevant gesetzt wurden: der Schutz vor willkürlicher, sozial nicht eingebetteter Machtausübung der Kommandeure; der Schutz diffamierter Minderheiten, die mit der gestürzten Talibanregierung in Verbindung gebracht werden, vor gewaltsamer Vertreibung oder Vergeltungsmaßnahmen; und die Selbstbeschränkung eigener Gewalt, also der Schutz vor unverhältnismäßigen oder als willkürlich angesehenen Zwangsmaßnahmen durch die externen Truppen. Diese überwiegend positive Beurteilung hat sich allerdings durch die Eskalation von aufständischen Anschlägen und Gegenmaßnahmen der Sicherheitskräfte in der Provinz Kunduz und Takhar abgekühlt (Im Jahr 2007 sahen nur 5 Prozent der Befragten die ISAF als Sicherheitsbedrohung an, wohingegen dieser Anteil im Frühjahr 2009 auf 30 gestiegen war.). Auch die Diskussion um eine Wiederbewaffnung von Milizen als lokales Bollwerk gegen Talibanin¿ltration trägt selbst in entlegenen Gebieten wie Warsaj, die von Sowjets, Bürgerkrieg und Taliban weitgehend verschont geblieben waren, zu einer verschlechterten Sicherheitswahrnehmung bei. Zentral ist dabei die Angst vor bewaffneten Gruppen jenseits der Kontrolle des Staates und jenseits der sozialen Kontrolle der Dörfer. Lokale Institutionen und Sicherheit Dies führt zu der Frage, in wie weit lokale Institutionen Sicherheit auf sich alleine gestellt herstellen können. Lokale Institutionen, die Probleme in einer zuverlässigen Weise lösen und so zu dem de¿zitären Gut Sicherheit beitragen, stehen besonders dann hoch im Kurs, wenn äußere Rahmenbedingungen von willkürlicher Gewalt und Machtmissbrauch bestimmt sind und eher für Unsicherheit in der Bewältigung des Alltages von Haushalten und dörÀichen Gemeinschaften stehen.45 Die wichtigste gesellschaftliche Einheit, die lokal Sicherheit konsumiert – deren physischer Bestand also vor allem zu schützen ist – ist der Haushalt. Das Ansehen des Haushalts in der dörÀichen Gemeinschaft und der physische Schutz des Haushalts, der in aller Regel durch einen Haushaltsvorstand repräsentiert wird, sind dabei entscheidende Größen.

45 Die Rolle des Lokalen als Ort des Widerstandes gegen nationale und internationale institutionelle Penetrationsversuche ist eingehend und grundsätzlich von James Scott behandelt worden (Scott 1990, Scott 1998). Der Aufstieg des Lokalen als Antwort auf dysfunktionale staatliche Ordnung ist ein Dauerbrenner der politischen Anthropologie (vgl. Trotha, Klute 2001; Trotha 2005). Schetter interpretierte jüngst den Kampf gegen Aufständische in Afghanistan als einen Kampf gegen lokale Ordnungsformen, die sich nicht in nationalstaatliche Herrschaftsmuster pressen lassen (Schetter 2007: 251 f.).

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Die nächstgrößere Einheit ist die Nachbarschaft. Sie kann ein ganzes Dorf umfassen oder lediglich einen Siedlungsteil. Nachbarschaften können durch eigene Moscheen, also institutionalisierte öffentliche Treffpunkte der nachbarschaftlichen Gemeinde, markiert sein; Sie können einen eigenen Sprecher oder Ältesten haben (wie z. B. im Falle des rais mahallah in einigen usbekischen Siedlungen) oder nur informell, im Rahmen von Gemeinschaftsarbeiten (hashar) wie bei der saisonalen Säuberung von Bewässerungskanälen, miteinander verbunden sein. Ganze Dörfer haben in Kunduz und Takhar oft, aber bei weitem nicht immer, einen mehr oder weniger repräsentativen Dorfrat (shura). Dieser kann gewählt, aus anerkannten Ältesten (z. B. der Nachbarschaften) „natürlich“ gewachsen, oder auch von einem lokalen Kommandeur oder anderem Machthaber autorisiert worden sein kann.46 Die Dorfräte – ob als regelmäßig tagende Institution mit fester Mitgliedschaft oder als problembezogenes offenes Treffen unter betroffenen Dorfbewohnern – sind ein zentrales Instrument, mit dem die Gemeinden kollektive Probleme, einschließlich lokaler KonÀikte, zu lösen versuchen. Seitdem Dorfräte im Rahmen des National Solidarity Programme (NSP) als Community Development Councils (CDCs) vielerorts über ein von der Weltbank entwickeltes Wahlverfahren formalisiert wurden, sind sie die wichtigste Anlaufstelle für NGOs und EZ Organisationen geworden, die im ländlichen Raum Projektarbeiten durchführen. Dorfgrenzen überschreitende Institutionen, über die kollektive Probleme gelöst werden, sind, abhängig von den lokalen sozialen und wirtschaftlichen Begebenheiten, die für Bewässerungssysteme zuständigen Wasserwarte oder merobs, die im Rahmen der bewässerten Landwirtschaft entlang der Flussoasen in Kunduz und Takhar eine zentrale Rolle spielen. Ihr EinÀuss beschränkt sich allerdings auf ihre Funktion als Wart und Verhandlungsführer in der Bewässerungszuteilung und haben keine sonstige politische oder sicherheitsrelevante Rolle. Außerdem existieren in Gruppen, für die Stammeszugehörigkeit als Institution erhalten geblieben ist, so genannte tribale jirgas, über die Streitfälle geschlichtet und Probleme über Siedlungsgrenzen hinweg gelöst werden können. Den gesellschaftlich eingebetteten lokalen Governance-Institutionen gemeinsam ist, dass sie zwar viele Probleme auf Gemeindeebene durch Konsensentscheidungen, durch Mediation und durch Aushandlungsprozesse lösen können; sie sind aber in ihrer Reichweite auf die Gemeinde beschränkt und versagen dann, wenn KonÀiktparteien oder deren externe Patrone mehr Macht ins Spiel bringen als die lokalen Verfahren aushalten.

46 Einen aktuellen Fall hierfür habe ich unter den Zieldörfern nicht identi¿ziert; eigenen Beobachtungen zu von Machthabern vereinnahmten shuras entstammen Felderhebungen, die der Autor 2003 in Badakhshan durchgeführt hat; angeblich gibt es aber solche Fälle auch in den beiden Zielprovinzen.

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Im Kontext einer komplexen Intervention, die funktionstüchtige Staatlichkeit neu erschaffen und landesweit durchsetzen möchte, interessiert aus der Warte der Bevölkerung besehen vor allem, inwieweit die entstehenden lokalen Institutionen des Staates Probleme lösen oder aber Probleme schaffen, und ob sie als Problemlöser mehr taugen als die oben aufgeführten lokal verfügbaren gesellschaftlichen Funktionsäquivalente für Problemlösungen. Entwicklungsleistungen und der Staat Im Bereich von Entwicklungsde¿ziten wird der afghanische Staat von der Bevölkerung kaum als Problemlöser gesehen, sieht man einmal von der nicht unwichtigen Tatsache ab, dass viele der befragten Afghanen die verbesserte Sicherheitslage als wichtigste Ursache für eine positive Entwicklung der lokalen Wirtschaft ansahen. Diese wird zum Teil zumindest als Output der Regierung bewertet. Wahrgenommene Verbesserungen durch lokale Hilfs-, Infrastruktur- und Trainingsmaßnahmen werden, selbst wenn sie im Rahmen von pro forma nationalen Programmen wie dem National Solidarity Programme (NSP) umgesetzt werden, kaum als Leistung des eigenen Staates anerkannt. Hier überwiegt ganz realistisch eine Zuschreibung dieser Inputs an die Adresse derer, die Geld, Inhalte und oft auch Umsetzung zur Verfügung gestellt haben – die Geber und ihre Umsetzungsorganisationen. Der afghanische Staat gewinnt zwar Legitimation über formelle Verfahren (Wahlen auf verschiedenen Ebenen,47 eine verfassungsgebende Versammlung) und über eine allgemeine Anerkennung der Rolle des Staates im Erhalt von dem Mehr an Landfrieden, den es in Teilen des Landes im Vergleich zu den vergangenen, von Besatzung, Widerstand und Bürgerkrieg gebrandmarkten Jahrzehnten gibt. Gleichzeitig wird der Staat aber nicht mit Wiederaufbau und Entwicklung des Landes in Verbindung gebracht; dadurch geht ein wesentlicher Bestandteil des Interventionsmodells als Friedensdividende dem Staat verloren: Der Staat wird nicht im Sinne von Good Governance als Leistungserbringer und Problemlöser gesehen. Einerseits hat der afghanische Staat durch die sich herausbildende Art der Regierungsführung systemimmanente Legitimitätsprobleme – vor allem endemische und in Teilen dysfunktionale Formen der Korruption sowie die Altlast an Gewaltunternehmern in allen lukrativen oder machtrelevanten Bereichen des Staates. Andererseits ist ein allgemeines Problem zentral, das jenseits der EinÀusschancen 47 Dies gilt nicht mehr für das Wahldesaster 2009, das als Lehrbuchbeispiel für die Delegitimierung von Institutionen dienen kann.

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des afghanischen Staates auf lange Sicht dominant sein wird: der Staat, so wie er jetzt verfasst ist, wird auf absehbare Zeit nicht in der Lage sein, Sicherheit und Entwicklung auf der Grundlage nationaler Ressourcen zu ¿nanzieren. Alleine die angestrebte Sollstärke der Sicherheitsdienste würden nur durch ihre Gehälter die gesamten derzeitigen legalen Staatseinnahmen verschlingen.48 In anderen Worten: Der afghanische Staat wird so, wie er sich 2002 als Zentralstaat verfasst hat, nicht in der Lage sein, sich selbst zu erhalten. Governance-Szenarien der Zukunft Aus dieser Einschätzung folgen drei mögliche Entwicklungsszenarien, die alle von dem Governancemodell der Intervention abweichen. Erstens ist ein Zusammenbruch des durch die Intervention entstandenen Staates möglich. Dies könnte zu einer erneuten Verkriegung von Gesellschaft führen, die einer Herrschaftsübernahme durch die Taliban oder einer ähnlichen, sich religiös legitimierenden Bewegung gegen Anarchie, Machtmissbrauch und Korruption den Weg ebenen würde. Oder es könnte auf den Trümmern des gescheiterten Staates einen neuen, bescheideneren Versuch der Machteliten geben, einen weniger anspruchsvollen Staat als politisches Rahmenwerk zu entwickeln. Zweitens könnten die Interventen versuchen, die Finanzierung und den militärischen Schutz des afghanischen Staates auf Dauer zu gewährleisten. Dies würde zu einer extremen Form des Client State führen, der mit einiger Sicherheit auch die Legitimationskrise auf Dauer stellen würde. Die dritte Option ist es, einen Neuanfang zu wagen und es den Afghanen zu überlassen, ihren Staat auf ein realistisches Leistungsniveau zu beschränken und ihn als islamisch legitimierte, national codierte Herrschaftsreferenz in einem faktisch föderalen und von lokalen Machtautonomien gekennzeichneten Herrschaftsverband zu begreifen. Keines der drei Szenarien wird dabei jemals Eingang in die Strategiepapiere der Interventen ¿nden; man wird versuchen, die Fassade eines handlungsfähigen modernen legitimen Staates solange es geht aufrecht zu erhalten, und sich pragmatisch damit ab¿nden, dass der Regierungsalltag im Land anders aussieht.

48 Zugrunde gelegt ist eine Sollstärke der Sicherheitsdienste von 250.000 Mitarbeitern bei einem durchschnittlichen Sold von 200 USD pro Monat, was mit 600.000 USD etwas unter den Staatseinnahmen von 890 Millionen USD im ertragsreichen Jahr 2007 liegt.

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Fazit Grundsätzlich geht es bei externen Interventionen in fremde, vom Zusammenbruch funktionsfähiger staatlicher Institutionen heimgesuchter Länder wie Afghanistan darum, das Problem gesellschaftlicher Ordnung in den Griff zu bekommen. Die oben zusammengefassten Ergebnisse aus quantitativen Umfrageauswertungen und qualitativ erworbener Erkenntnisse zur Organisation der intervenierten Gesellschaft lassen eine Reihe von Rückschlüssen auf Chancen und Grenzen transnational erwirkter Sicherheit und Entwicklung im Rahmen komplexer Interventionen zu, die über das konkrete Fallbeispiel in Nordost-Afghanistan hinausweisen. Diese will ich abschließend zusammenfassen. Die bisher für Nordost-Afghanistan festgestellte Dynamik gesellschaftlicher Ordnungsprozesse unter dem Eindruck von Perioden hoher Gewaltwillkür bestätigen eine seit Max Weber und Norbert Elias etablierte Annahme der Soziologie, nämlich dass Schutz vor willkürlicher Gewalt49 elementarer ist für Etablierung von sozialer Ordnung als die Verbesserung materieller Reproduktionschancen. In dem Bemühen, durch eine komplexe Intervention eine staatlich verfasste Neuordnung von Lokalgesellschaften in Afghanistan zu erreichen, kommt verbesserter Sicherheit als transnational erwirkte Governance-Leistung damit eindeutig eine höhere Priorität zu als Entwicklungsleistungen. Das Beispiel zeigt, dass Schutz vor willkürlicher Gewalt in den Augen vieler Betroffenen nicht nur ein Wert an sich, sondern auch maßgebliche Voraussetzung für positive wirtschaftliche Entwicklungen ist. Die Schutzkomponente der Governance-Leistung Sicherheit verbessert Planungssicherheit der Wirtschaftsakteure und ist Voraussetzung für erhöhte Rechtsicherheit bei marktwirtschaftlichen Transaktionen. Problematisch dabei ist, dass die Sicherheit der Bevölkerung – anders als Wiederaufbau und Entwicklung zum Wohle der Bevölkerung – nicht expliziter Auftrag und auch nicht Teil des Sicherheitsbegriffs der in Afghanistan intervenierenden externen Kräfte ist. Das ISAF-Mandat bezieht sich lediglich auf die Schaffung einer sicheren Umgebung, die Wiederaufbau, Entwicklung und die Verfestigung staatlicher Institutionen ermöglicht. 50 Also die Lösung des Gewaltproblems durch die Etablierung gewaltfreier Räume mit erheblich verbesserter Planungssicherheit der Akteure und die Rolle, die letztlich die Behauptung des legitimen Gewaltmonopols des Staates in der Ausweitung und institutionellen Verstetigung dieser gewaltfreien Räume (eigentlich: gesellschaftliche Räume reduzierter Gewaltwahrscheinlichkeit) dabei spielt. 50 Die Rhetorik hat sich dabei nach dem Machtwechsel im Weißen Haus und den personellen Änderungen in für Afghanistan zuständigen diplomatischen sowie militärischen Spitzenpositionen radikal geändert: General McChrystal stellt seit seinem Amtsantritt konsequent die Sicherheit der Afghanen in den Fordergrund des Auftrages. Er sieht die Notwendigkeit eines Strategiewechsels und erklärt, dass die Sicherheit und der Schutz der Bevölkerung sowohl vor den Aufständischen als auch vor der sie bekämpfenden Militärmaschinerie kriegsentscheidend sei (siehe BBC NEWS 2009a; BBC NEWS 49

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Im Fall der ISAF (und damit auch der PRTs in den Provinzen) ist die Sicherheit der Bevölkerung also allenfalls eine indirekte Funktion der eigenen Präsenz – die (innere) Sicherheit verbessert sich theoretisch dadurch, dass der staatliche Sicherheitssektor aufgebaut wird und Wiederaufbau sowie Entwicklung greifen. Die OEF operiert ohnehin auf der Grundlage eines Sicherheitsbegriffs der Entsenderstaaten (coalition of the willing), der jenseits der afghanischen Bevölkerung im Rahmen eines Krieges der USA gegen in Afghanistan operierenden Terroristen de¿niert ist. Obwohl bisher weder Mandat noch strategische Ausrichtung des internationalen militärischen Engagement die physische Sicherheit der Bevölkerung in den Vordergrund stellte, zeigt die Fallstudie, dass die internationale militärische Präsenz in Nordost-Afghanistan durchaus mit drei entscheidenden Sicherheitsgütern in Verbindung gebracht wird: mit dem Rückgang der komandan-Wirtschaft, mit dem Schutz von mit den Taliban assoziierten Minderheiten vor der (von lokalen Machthabern der Nordallianz dominierten) staatlichen Gewalt und letztlich mit dem verantwortungsvollen Umgang mit eigenen Gewaltmitteln – also der Selbstbeschränkung des eigenen Gewaltvorteils. Dieses Ergebnis zeigt, dass von großen Teilen der Bevölkerung als signi¿kant wahrgenommene Verbesserungen der Sicherheit nach langen Perioden hoher Gewaltwillkür mit relativ begrenzten Mitteln und indirekten Wirkungen erreicht werden kann. Entscheidend ist dabei, dass ein positiver Prozesses wahrgenommen wird, in dem willkürliche Gewaltausübung rückläu¿g ist. Weiter spielt eine Rolle, dass die externe Militärmacht als neutral und berechenbar eingeschätzt wird, zugänglich ist und mit konkreten Leistungen in Verbindung gebracht wird, die von der Bevölkerung auch nachgefragt werden. Die erreichten Verbesserungen der Sicherheit sind allerdings volatil und umkehrbar, wie zurzeit die Gewalteskalation im Raum Kunduz seit Mitte 2008 zeigt. Der Trend kann sich nicht nur für die Sicherheit der externen Akteure, sondern auch für die wahrgenommene Sicherheit der Bevölkerung ändern. An diesem Problem setzt in dem Interventionsmodell die transnationale Governance-Leistung Entwicklung an. Ziel ist es, eine sichtbare Friedensdividende allgemein verfügbar zu machen und durch die Stärkung von rechtstaatlichen wie zivilgesellschaftlichen Institutionen Frieden und Stabilität langfristig abzusichern. Das Fallbeispiel Nordost-Afghanistan hat gezeigt, dass infrastrukturelle Kleinmaßnahmen, die über partizipative Verfahren in die Fläche gebracht werden, sehr wohl als Friedensdividende und als greifbar nützliche Konsequenz der internationalen Präsenz angesehen werden. In einigen der betrachteten Fälle schaffte 2009b). Dabei bleibt bisher allerdings völlig unklar, wie mehr Militär unter den diffusen Sicherheitsbedingungen in Afghanistan in mehr Sicherheit für die Lokalbevölkerung übersetzt werden soll.

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diese im wesentlichen auf Infrastrukturmaßnahmen begrenzte Entwicklungsdynamik sogar auf Seiten besonders skeptischer Personengruppen (Ex-Taliban) und den von ihnen dominierten Gemeinden Anreize, sich aktiv zu beteiligen und an der neuen Ordnung (probeweise) mitzumachen. Die Opportunitätskosten für passives oder feindseliges Verhalten konnten in diesen Fällen spürbar angehoben werden. Ungeachtet dessen wurde auch deutlich, dass Entwicklungsanreize alleine nicht mit konkreten oder latenten langfristigen Bedrohungen konkurrieren können – im Angesicht von physischer Unsicherheit sind Entwicklungschancen, sofern ihre Betätigung den physischen Druck erhöhen könnte, als handlungsleitender Anreiz dem Sicherheitsbedürfnis nachgeordnet. Dieses Misstrauen in die Langfristigkeit der neuen, militärisch abgesicherten und durch Entwicklungsmaßnahmen unterstützten Ordnung wird dadurch noch verstärkt, dass die zuständigen Institutionen des afghanischen Staates auf Distrikt-, Provinz- und zentralstaatlicher Ebene nicht mit der Friedensdividende in Form von Entwicklungsleistungen in Verbindung gebracht werden – der Input ist zwar willkommen, wird aber fremden und damit Àüchtigen, und eben nicht eigenen beständigen Akteuren zugeschrieben. Sowohl für die langfristige Entwicklungskomponente als auch für die mit militärischen Mitteln unterstützte Sicherheitskomponente der Intervention ist die institutionelle Schwäche des afghanischen Staates das zentrale Problem. Dabei ist der entstehende afghanische Staat zugleich Partner, Patient und Hindernis. Nachhaltige Entwicklungszusammenarbeit und der Second Row Approach des Militärs setzten staatliche Akteure voraus, die fähig und willens sind, zu kooperieren. Beides kann zumindest auf Distrikt- und Provinzebene nicht vorausgesetzt werden. Entweder fehlen grundsätzliche Steuerungsfähigkeiten in Konkurrenz zu den informellen Formen von Machtausübung; oder die Verstrickung der Vertreter staatlicher Institutionen in informellen Formen der Machtausübung und Ressourcenausbeutung verschieben handlungsleitende Anreize der Akteure soweit, dass staatliche Einrichtungen wie die Distriktpolizei, der Geheimdienst oder die Administration des Gouverneurs selbst zu staatsfernen oder staatsfeindlichen Unternehmungen werden. Wenn der Wille da ist, aber die Fähigkeiten fehlen, wird der Partner zum Patienten, der durch „train and equip“ Maßnahmen befähigt werden soll, seine Aufgaben als Dienstleister in der Herstellung öffentlicher Güter wahrzunehmen. Gilt der Partner hingegen als unzuverlässig – und das ist in der Untersuchungsregion der weitaus häu¿ger anzutreffende Fall – kann weder klassische Entwicklungszusammenarbeit noch der Second Row Approach in der Herstellung von Sicherheit zum Erfolg führen. In diesem Fall wird der dysfunktionale Partner umschifft. Bei schwachen staatlichen Akteuren – wie im Falle vieler Distriktadministrationen – führt das

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allerdings zur Perpetuierung des Problems: der Staat bleibt auf dieser Ebene dysfunktional. Starke, aber unkooperative staatliche Akteure können mitunter nur umgangen werden, wenn ihre Eigenbeteiligung an RessourcenÀüssen (meist zu Lasten der Empfänger) geduldet wird. Dies wiederum führt dazu, dass Governance-Formen gestärkt werden, die gemessen an Kriterien effektiver Rechtsstaatlichkeit als subversiv anzusehen sind, nicht jedoch jene Gute Regierungsführung, die Teilziel der komplexen Intervention ist (siehe Barnett, Zürcher 2006). Die in der Untersuchungsregion evidenten Formen transnationalen Zusammenwirkens lösen dieses Problem für nachhaltige Entwicklung und zuverlässige Sicherheit durch afghanische staatliche Institutionen nicht. Komplexe Interventionen und die transnationale Interventions-Governance, die sie nach sich ziehen, sind nach den bisherigen Erkenntnissen nicht in der Lage, langfristig die Grundprobleme gesellschaftlicher Ordnung über den Aufbau von funktionsfähigen legitimen staatlichen Institutionen zu lösen. In einem institutionellen Sinne schwächt Interventions-Governance die Struktur, die eigentlich an ihre Stelle treten soll: Souveräne Staatlichkeit. Zu klären bleibt zuletzt die Frage, ob Interventions-Governance denn die lokalen gesellschaftlichen Institutionen stärkt, die vor Ort der Anarchie von Machtmissbrauch und Gewaltwillkür Einhalt gebieten. Zunächst ist festzustellen, dass die Lokalgesellschaft dynamisch und adaptiv organisiert ist und dabei eine Reihe von gesellschaftlichen Institutionen hervorgebracht hat, die zur Lösung der meisten Alltagsprobleme herangezogen werden und diese in vielen Fällen auch lösen. Die lokale institutionelle Landschaft weist dabei aber drei grundsätzliche Probleme auf. Das erste Problem ist die institutionelle Vielfalt. Local Governance ist sehr heterogen organisiert; was in einem Dorf funktioniert und zuverlässig ist, kann im Nachbardorf ganz anders organisiert sein. Weiter ist die Reichweite und Inklusivität von lokalen Institutionen stark eingeschränkt. Lokale Probleme der Gruppe, die die Institution anerkennt, werden zuverlässig gelöst, Probleme mit anderen Gemeinden oder einer anderen Gruppe innerhalb der Gemeinde, die nicht partizipiert, bleiben ungelöst. Und letztlich basieren lokale Institutionen fast immer auf der Annahme, dass sich die Teilnehmer aus Eigeninteresse, sozialer Kontrolle oder Brauchtum an die Spielregeln halten; Wird aber von Gewaltunternehmern mehr Macht ins Spiel gebracht, als die Institution aushält, droht sie zu „vermachten“ und ihr Regelungspotenzial einzubüßen (Koehler 2004b). Deshalb ist die Frage nach externer Durchsetzungsmacht durch den Staat bzw. durch Staatsfunktionen substituierende internationale Kräfte, die lokale Problemlösungen vor roher Durchsetzungsgewalt schützen, auch entscheidend für die Wirksamkeit dieser gesellschaftlichen Institutionen. Im Vergleich zur Machtwill-

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kür von Bürgerkrieg und Kommandeursgewalt war hier im Untersuchungsgebiet eine Verbesserung des Handlungsspielraumes von lokalen Gemeindeinstitutionen zu verzeichnen. Das Problem der Reichweite und des Schutzes vor Vermachtung stellt sich grundsätzlich auch für die extern initiierten und unterstützten Gemeindeorganisationen (die CDCs). Hier ist festzustellen, dass diese extern erschaffnen Institutionen bisher selten ein politisches Eigenleben entwickelt haben. Sie bleiben, sofern sie überhaupt für die Lösung von Alltagsproblemen relevant sind, ein Transmissionsriemen zwischen traditionellen Autoritäten und externen Gebern. Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse Die Annahme, dass Sicherheit und Entwicklung sich entsprechend des oben vorgestellten Interventionsmodells gegenseitig bedingen und verstärken, kann anhand der Fallstudie Nordost-Afghanistan quali¿ziert werden: Der Pfeil der Kausalität, der von Sicherheit auf Entwicklung zeigt, ist eindeutig stärker, als der Pfeil, der in umgekehrte Richtung zeigt. Sicherheit ist eine Voraussetzung für Entwicklung, Entwicklung ist nicht notweniger Weise eine Voraussetzung für Sicherheit. Dies gilt für Interventionen in Kriegs- und Nachkriegsgebiete, die von kollektiver Gewalt, Machtwillkür und gesellschaftlicher Fragmentierung heimgesucht sind. Das Ergebnis kann für befriedete Gebiete anders aussehen. Grundsätzlich zeigt der Fall Nordost-Afghanistan auch, dass Sicherheit und Entwicklung als transnationale Governance-Leistungen mit schwachen oder dysfunktionalen staatlichen Institutionen auf Seiten der intervenierten Gesellschaft erbracht werden können. Beide Leistungen können von Zielgruppen temporär sogar als relativ erfolgreich wertgeschätzt werden. Sie sind aber vollkommen abhängig von Ressourcen, Willen und Organisationsvermögen externer Kräfte (im Zusammenspiel mit lokalen, nicht-staatlichen Akteuren, Organisationen und Institutionen, wobei diese, wie die CDC, teilweise erst durch die externen Interventen geschaffen wurden). Governance-Leistungen brauchen in diesem eingeschränkten Sinne keinen funktionierenden staatlichen Partner – sie brauchen aber als Funktionsäquivalent eigene Sanktionskapazitäten in Form von Anreizen (Entwicklung) und zugetrauter Durchsetzungsgewalt. Das zentrale Risiko dieser exterritorialen GovernanceInseln ist, dass sie das institutionelle Gefüge, das den Interventen einen Rückzug in absehbarer Zeit ermöglichen sollte, schwächen. Transnationale InterventionsGovernance simuliert dabei Staatlichkeit fürs Volk und der Staat, der eigentlich für die Gesellschaft ein Regieren ermöglichen sollte, kapselt sich ab und dient den Partikularinteressen lokaler Machthaber. Damit ist ein institutionelles Scheitern des Staates vorprogrammiert.

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Jan Koehler Literatur

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Drei Arenen Warum Staatsbildung von außen so schwierig ist Klaus Schlichte und Alex Veit

Mittagspause in Kampala: Zwischen deutschen und ugandischen Kollegen kommt das Gespräch auf das Thema Korruption. Wie so oft zwischen Gesprächspartnern aus verschiedenen Ländern wird vergleichend diskutiert. Eine deutsche Kollegin kritisiert an den ugandischen Verhältnissen, dass der Halbbruder des Präsidenten offenbar in eine Korruptionsaffäre bei der Beschaffung gebrauchter Armeegüter aus Bulgarien und der Ukraine verwickelt sei. Die ugandischen Kollegen fragen nach, wovon denn der Bruder des deutschen Präsidenten lebe. Wir sind noch im Zeitalter der Kanzlerschaft Gerhard Schröders, und die deutsche Kollegin verweist auf die Tatsache, dass dessen Bruder in Deutschland von Sozialhilfe lebe. Das sei ein Indiz für die Integrität und Korruptionsfestigkeit des deutschen politischen Systems. Ihre ugandischen Kollegen sind schockiert und fragen entsetzt nach, wie man denn so einen Mann wählen könne, der sich noch nicht einmal um seinen Bruder kümmere! Die deutsche Kollegin antwortet, der Kanzler könne doch nicht einfach seinem Bruder einen Posten zuschanzen. Doch, antworten die ugandischen Kollegen, das sei sogar seine PÀicht, denn wie sollten seine Wähler sonst zu ihm Zutrauen fassen: Wer sich noch nicht einmal um seinen Bruder kümmere, dem könne man doch wohl auch nicht Verantwortung für die Geschicke des Landes übertragen. Man kann in dieser Geschichte vielleicht eine christliche Kritik der Agenda 2010 lesen oder auch nicht. Was uns daran entweder amüsiert oder irritiert, verweist auf eine Differenz, die für unser Thema zentral ist: Offenbar unterscheiden sich in der Weltgesellschaft die Muster der Bewertung von politischem und sozialem Handeln. Das hat für die Politik internationaler Organisationen weit reichende Konsequenzen. Denn diese Organisationen agieren simultan in verschiedenen Arenen, in denen Politik jeweils anders funktioniert. Diese unterschiedlichen sozialen Logiken schaffen enorme Probleme. Wie gezeigt wird, lassen sich viele Probleme externer Interventionen auf Unterschiede und Interaktionen zurückführen, die zwischen drei Arenen statt¿nden, in denen jeder größere Interventionsakteur bestehen muss. Wir argumentieren, dass viele Schwierigkeiten externer Intervention sowohl auf diese Unterschie-

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Klaus Schlichte und Alex Veit

de als auch die Interaktion zwischen verschiedenen Arenen zurückzuführen ist. Durch die gegenwärtige institutionelle Struktur der Weltgesellschaft ist aber jeder größere Interventionsakteur dazu verurteilt, in diesen drei Arenen zu bestehen. Dabei ist es gleichgültig, ob Interventionen den hergebrachten Zielen der Entwicklungspolitik gewidmet sind oder sich den neuen, nicht minder hehren Zielen der Staatsbildung oder der Governance widmen. Die drei Arenen sind die Metropole, das Base Camp und das Bush Of¿ce. Nach der Vorstellung dieser drei Arenen und ihrer Interaktionen werden die zentralen Beobachtungen noch einmal in Thesenfom zusammengefasst. Der Beitrag schließt mit der Diskussion einiger weiterführender Fragen. Vorweg eine Bemerkung zum Material, aus dem diese Thesen generiert wurden. Das diesem Beitrag zugrundeliegende Papier (Schlichte & Veit, 2007) ist das Ergebnis einer Diskussion über Beobachtungen, die wir während verschiedener längerer Feldforschungen vor allem in Uganda und der Demokratischen Republik Kongo gemacht haben. Dieses Material ist bislang noch nicht vollständig systematisiert. In der Literatur über Interventionen im weitesten Sinne, vor allem über Entwicklungshilfeprojekte, ¿nden sich aber verwandte Beobachtungen, die die hier skizzierten Zusammenhänge bestätigen (bspw. Ferguson, 1987; Rottenburg, 2002; Calderisi, 2006). Evidenz für die hier vorgestellten Thesen lässt sich aber auch in vielen Erfahrungsberichten von Entwicklungshelfern ¿nden.1 Die drei Arenen Internationale Organisationen, die mit Projekten des state-building in Ländern jenseits der OECD-Welt befasst sind, werden besonders disparaten äußeren EinÀüssen und Anforderungen ausgesetzt. Diese äußeren Bedingungen werden in drei geographisch, politisch und sozial sehr weit voneinander entfernten Arenen produziert. Dabei handelt es sich zum einen um die Metropole, in denen sich die Zentrale einer internationalen Organisation be¿ndet; zum zweiten um die Hauptstadt des Zielstaates, in der die Programme in dem betreffenden Land koordiniert werden. Die dortige Filiale der internationalen Organisation nennen wir das Base Camp. In der dritten Arena wiederum be¿ndet sich das Bush Of¿ce. Damit ist das Büro gemeint, das etwa in einem Provinzstädtchen die Programme der internationalen Organisation letztlich in die Tat umsetzt. Die jeweiligen UmwelteinÀüsse und Anforderungen in diesen Arenen beeinÀussen den Austausch von Wissen, Anweisungen und materiellen Ressourcen Wir danken besonders Astrid Nissen, Jago Salmon und Annette Weber für ihre Bereitschaft, ihre Erfahrungen in diesem Feld mit uns zu teilen.

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innerhalb der Organisation, also zwischen den Arenen. In jeder Arena müssen die Mitarbeiter der internationalen Organisation versuchen, sowohl die Ansprüche der Büros in anderen Arenen zu bedienen, als auch die stark von äußeren EinÀüssen bestimmten Interessen auf der eigenen Ebene zu wahren. Da diese Ansprüche und Interessen weit auseinander klaffen, entstehen nicht nur Policy-Leitlinien, die nur entfernt an den tatsächlichen Problemen der Zielgesellschaft orientiert sind, sondern kommt es auch zu einer häu¿g sehr freien Interpretation dieser Leitlinien auf der Ebene der Implementierung. Die Folgen dieses Koordinationsproblems sind nicht-intendierte und vor allem unerwünschte Auswirkungen der Politik internationaler Organisationen. Sie jedoch zu thematisieren ist schwierig, weil das of¿zielle Bild dieser Politik auf „Erfolge“ angewiesen ist, um sich zu legitimieren, um Budgets und Karrieren fortzuführen und um eventuell vorhandene übergeordnete Ziele nicht zu gefährden. Zunächst zur obersten Arena, der Metropole: Hier verhandelt eine Modellorganisation zunächst mit den Regierungen ihrer Mitgliedsstaaten über die Identi¿kation von Einsatzgebieten. Nennen wir dieses Einsatzgebiet das „Problemland“. In den Entscheidungen geht es um die De¿nition von Aufgaben, und um die Mittel und Wege, mit denen die diagnostizierten Probleme bearbeitet werden sollen. Es ist wohl weder ein Geheimnis noch eine Überraschung, dass in Institutionen wie dem UN-Sicherheitsrat taktische Verhandlungen geführt werden und politische Aufgaben einem diplomatischen Geben-und-Nehmen unterliegen. Oftmals handelt es sich hierbei um Realpolitik, mit der Mitgliedsstaaten ihre Machtposition auszubauen versuchen, ohne dabei die Nöte des Problemlands an die erste Stelle zu setzen. Gerade im Feld des state-building, in dem es um Probleme wie Armut und Krieg in fernen Gesellschaften geht, ist dieser Prozess aber auch von moralischen Erwägungen der Akteure geprägt. Die Moral des Gebens orientiert sich aber nur zum Teil an den Bedürfnissen der Empfänger, sondern vor allem an der Frage von Ehre und Schande im unmittelbaren Umfeld. Dies lässt sich daran zeigen, dass versprochene ¿nanzielle Mittel gelegentlich in viel zu großem Umfang bereitgestellt werden. In anderen Fällen fallen die materiellen Ressourcen grotesk klein aus. Aber auch an den seltsamen Konjunkturen der Aufmerksamkeit, die als CNN-Effekt nur unzureichend beschrieben worden sind, zeigt sich die diskursive Willkürlichkeit, der Organisationen in der metropolen Arena ausgesetzt sind. Wichtig in diesen Entscheidungsprozessen sind sowohl die Mitgliedsstaaten, als auch die Öffentlichkeiten aus Experten, Journalisten und Wählern. Das Umfeld der Zentrale einer internationalen Organisation, die metropole Arena, ist also zunächst einmal auf sich selbst ¿xiert. Gleichviel ob Moral- oder aber Realpolitik die Entscheidung über Mandat und Ausstattung einer internationalen Organisation bestimmt: Was im Problemland gebraucht wird, wird oft nur in geringem Maß

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Grundlage der Verhandlungsprozesse. Damit ist nicht gesagt, dass internationale Organisationen vollständig abhängig von ihrem metropolen Umfeld sind.2 Vielmehr verfügen diese bürokratischen Apparate durch ihren Schatz an Erfahrungen und Wissen über ein relativ großes Maß an institutioneller Autonomie. Durch die Expertise über die Probleme der Welt erhalten sie Stimme und Gewicht, und können die politische Ausrichtung der Mission mitbestimmen. Doch wie kommt diese Expertise eigentlich zustande? Geht es um einen speziellen Fall, das Problemland, rücken nun die Berichte und Einschätzungen aus dem Base Camp, das Organisationsbüro in der Hauptstadt des Problemlands, ins Blickfeld. Durch das gesammelte Fachwissen der dortigen Angestellten erhalten solche Berichte den Schein von objektiver Information. Doch solche Darstellungen sind notwendig von Erwägungen geprägt, die einerseits aus der sozialen und politischen Logik in der Base-Camp-Arena entstehen, andererseits aber auch auf innerorganisatorische Erfordernisse Rücksicht nehmen. Mitarbeiter internationaler Organisationen gewinnen ihr Fachwissen in großem Maß durch die Zusammenarbeit mit lokalen Partnern und Institutionen, also etwa durch Angehörige der lokalen Zivilgesellschaft und die einheimische Regierung. Diese Institutionen und Personen, die wir Intermediäre nennen, sind jedoch notorisch störrische und verdächtige Partner. An ihnen zeigt sich, was passiert, wenn real existierende legalrationale Verwaltung auf Gesellschaften trifft, in denen ganz andere Logiken das politische Handeln bestimmen. Am offensichtlichsten ist dies an der Regierung des Problemlands, die ja zugleich Lösung und Problem in state-building-Projekten ist. Die Problemregierung soll einerseits gemeinsam mit der internationalen Organisation auf Lösungen hinarbeiten. Zugleich sind solche Regierungen aber auch Teil von patrimonial geprägten Hierarchien. Verhält sich eine Regierung in einem Land wie Uganda etwa vollständig entsprechend den Vorstellungen der internationalen Organisation, wird in der Regel ihre lokale Machtbasis erodieren (Schlichte, 2005: 261–276). Um ein Beispiel zu nennen: In vielen Ländern werden Posten in staatlichen Einrichtungen anhand von persönlichen Beziehungen vergeben. Wenn nun etwa im Rahmen einer Armeereform Dienstgrade nur noch aufgrund professioneller Eignung vergeben werden, wie es internationale Organisationen wünschen, lösen sich die auf persönlichen Beziehungen basierenden Vertrauensverhältnisse zwischen der Regierung und ihrer Armee und innerhalb der Armee schnell auf. Doch eine unruhige Armee stellt für viele Regierungen, gerade in Ländern mit Bürgerkriegserfahrung, ein unbedingt zu vermeidendes Problem dar. Folgerichtig wird die Regierung versuchen, die von außen kommenden Vorschläge anzupassen und 2 Einige Autoren betonen sogar die bürokratische Selbstbezüglichkeit dieser Organisationen als Hauptursache ihrer ausbleibenden Erfolge, s. Bamett & Finnemore, 1999.

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zugleich die verbundenen materiellen Ressourcen in ihrem Sinne zu nutzen. Dies bemerken internationale Organisationen bisweilen; zumindest verdächtigen sie Regierungen regelmäßig, es am Willen zu Good Governance mangeln zu lassen. Die soziale und politische Logik in der Arena des Base Camps verschließt sich also zunächst der Idee der legal-rationalen Verwaltung. Nun kann sich die internationale Organisation nur selten eine neue Regierung aussuchen, wenn ihr das Verhalten der gegenwärtigen missfallt. Das Base Camp muss die Programme der Organisation an die soziale Logik vor Ort anpassen, um überhaupt agieren zu können. Durch solche Erfahrungen gewinnen die Mitarbeiter im Base Camp zwar an Wissen über die lokalen Verhältnisse. Doch der Bericht an die Metropole kann nicht allein über den Verdacht der Korruption gegenüber dem lokalen Partner klagen. Schwierigkeiten müssen benannt, aber auch Erfolge vorgewiesen werden. Zugleich sollten Lösungsvorschläge unterbreitet werden, die sich an den aktuellen Policy-Diskursen in der Metropole orientieren. Denn im Base Camp weiß man, dass Programme nur genehmigt werden, wenn sie mit dem metropolen Diskurs kompatibel sind. Die Expertise, die im Base Camp generiert wird, ist also nicht einfach objektives Wissen über Probleme und Lösungen. Vielmehr ist diese Expertise eine Synthese aus Annahmen über schwierige Partner, metropolen Diskursen, und eine diplomatische Abwägung von Erfolgen und Problemen. Nicht zuletzt müssen in die Berichte und Vorschläge des Base Camps auch noch die Erfahrungen einÀießen, die aus der konkreten Projektarbeit stammen. Denn die Expertise des Base Camps speist sich auch aus den Erfahrungsberichten und Einschätzungen der Organisations¿lialen auf dem „platten Land“. Diese kann man als Bush Of¿ces bezeichnen. Die Bush Of¿ces zeichnen sich dadurch aus, dass hier die häu¿ge Diskrepanz zwischen Anforderungen aus den übergeordneten Arenen und der lokalen sozialen Realität noch deutlicher zu spüren ist als in den Konferenzräumen und Bürogebäuden in der Hauptstadt. So sind etwa Projektlaufzeiten, die auf einige Monate oder wenige Jahre begrenzt sind, häu¿g inkompatibel mit dem Maß an Veränderung, das lokal erreicht werden soll. Auch hier ist die internationale Organisation auf lokale Partner angewiesen, deren Handlungsrationalität nur in seltenen Fällen völlig kongruent mit den Zielen der internationalen Intervention sind. Im Bush Of¿ce muss wiederum eine doppelte Anpassungsleistung erbracht werden: Einerseits müssen die Anforderungen aus den höheren Ebenen an lokale Realitäten angepasst werden. Zugleich müssen in den Rechenschaftsberichten und Vorschlägen über das weitere Vorgehen, die in die Hauptstadt gesandt werden, lokale Realitäten mit den Policy-Diskursen in der Hauptstadt und der Metropole in Einklang gebracht werden. Die drei Arenen, in denen viele internationale Organisationen tätig sind, zeichnen sich also durch stark unterschiedliche Machtstrukturen aus. Diese stel-

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len jeweils ganz eigene Anforderungen an die internationale Organisation. In der Metropole ist dies die Kakophonie der diplomatischen und öffentlichen Stimmen, mit denen über Mandat und Ausstattung verhandelt wird. Im Base Camp und Bush Of¿ce trifft die Organisation auf Partner, die sich nie ganz entsprechend den Programmen der Organisation verhalten, weil sie in lokale soziale Zusammenhänge eingebettet sind, denen in maßgeblichen Positionspapieren und Absichtserklärungen kaum Rechnung getragen wird. In allen Arenen wird eine Anpassungsleistung zwischen dem Wünschenswerten und dem politisch und sozial Möglichen erbracht. Die Verbindung dieser Arenen, zwischen denen Legitimität, Wissen und materielle Ressourcen ausgetauscht werden, ist eine weitere Synthese unterschiedlicher Anforderungen. Im Ergebnis kann eine internationale Organisation nicht einfach die besten Lösungen für identi¿zierte Probleme auf der lokalen Ebene erarbeiten. Ihre Praxis besteht stattdessen aus der unentwegten Bastelei an Kompromissen zwischen widersprüchlichen Anforderungen. Thesen und Fragen Zwei abschließende Thesen sollen noch einmal zusammenfassen, warum die Politik vieler internationaler Organisationen so endlos und so wenig erfolgreich ist. Die erste These: Die Politik internationaler Organisationen ist metropolenorientiert. Über die Themen und die Maßnahmen, über das, was wichtig ist, darüber ob und wie etwas angegangen wird, was überhaupt zum Problem wird, entscheiden nicht irgendwie objektivierbare Bedürfnisse, sondern die moralischen Ordnungen der in den westlichen Metropolen vorherrschenden politisch-moralischen Diskurse. Hinzu kommen institutionelle Eigeninteressen. Dort wo bestehende Organisationen sich an laufende Diskurse oder neue Themen ankoppeln können, erhalten diese Themen besonderes Gewicht. Ein Beispiel hierfür wäre etwa die Entdekkung der Entwicklungspolitik durch das Militär. Die Konvergenz der Diskurse über Entwicklung und Sicherheit ist nämlich nicht das Resultat veränderter politischer Verhältnisse in den Zielgebieten der Interventionen. Diese Konvergenz hat viel mehr damit zu tun, dass militärische Apparate auf der ganzen Welt ihre Fortexistenz und Vergrößerung über neue Diskurse zu legitimieren versuchen. Die zweite These lautet: Die Politik internationaler Organisationen scheitert an der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Mit der Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, ein Ausdruck der auf Emst Bloch (vgl. Dietschy 1988) zurückgeht, ist gemeint, dass im globalen sozialen Raum gleichzeitig unterschiedliche soziale Formen existieren, die nach der Matrix der Theorien der Modeme eigentlich nur nacheinander auftreten dürften. So bestehen feudale Formen, Neo-Traditionalismen und an Ehre und Schande orientierte Sozialordnungen neben der forma-

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len Rationalisierung, wie sie sich in kapitalistischen Unternehmen und oder der bürokratisierten Politik ¿nden. Häu¿g widersprechen sich diese Logiken sogar innerhalb ein und desselben Gemüts. Diese Ungleichzeitigkeit sorgt auch innerhalb von internationalen Organisationen für KonÀikte. Die Welt passt nicht zur bürokratischen Logik der Organisation. Die Organisationen – und häu¿g auch die wissenschaftliche Theorie derselben – haben vergessen, dass ihre soziale Umwelt anders strukturiert ist als sie sich vorstellen. Mit diesen Thesen sind nicht alle Rätsel um die emergenten Politikformen der externen Staatsbildung gelöst. Es bleiben viele offene Fragen, von denen hier abschließend nur drei kurz diskutiert werden sollen. Die erste dieser Fragen zielt auf die Besonderheit dieser Phänomene: Haben nicht alle Organisationen, die in mehreren Kontexten arbeiten, ähnliche Probleme? Gibt es etwa zwischen einem Innenministerium und lokalen Polizeidienststellen eine ähnliche Spannung? Was aber ist das charakterisierende Merkmal solcher Organisationen? Dass sie plurilokal sind, dass sie groß sind, oder einfach nur, dass sie tatsächlich mit außerorganisationellen Umwelten, mit Nicht-Organisation konfrontiert werden? Für die Interventionsforschung wäre es sicher eine übergreifende Fragestellung, wie stark sich die in Interventionen beobachtbaren Politikformen von anderen, vielleicht nur auf den ersten Blick grundverschiedenen Politikfeldern unterscheiden. Eine zweite Frage zielt auf die theoretische Einordnung der gekoppelten Arenen: Welche theoretischen Angebote gibt es eigentlich, um mit Themen wie externer Staatsbildung adäquat umzugehen? Das Governance-Konzept scheint bisher viel zu viel zu umfassen, um hier ein gutes Angebot zu sein. Es bedeutet zwar eine Erweiterung der bisher sehr am Staat ¿xierten Theorie-Diskussionen der Politikwissenschaft. Doch in der Tendenz unterstellt das Governance-Konzept eine prästabilierte Harmonie von Interessenlagen, über die sich schon Voltaire in seiner Kritik an Leibniz berechtigt amüsierte. Wo das Governance-Konzept diese liberale Harmonie nicht intendiert, wird es indes von gängigen Begriffen der Politik ununterscheidbar. Eine letzte Frage zielt auf die politischen Alternativen zu den hier beobachteten Prozessen: Die Kosten des politischen Projekts der Staatsbildung, nicht nur die monetären, sind ja hoch. Unserer skizzenhaften Analyse zufolge sind dabei Probleme gekoppelter Arenen ein Grund dafür, warum so wenig gelingt. Aber gibt es Alternativen, andere Organisationsmodelle? Wenn es nicht möglich ist, andere, gegenüber den lokal vor¿ndlichen Verhältnissen offenere Politikformen zu ¿nden, dann würde dies bedeuten, dass Interventionen nur noch auf nicht-intendierte Effekte hoffen können. Dann wäre den Interventionen der Grundwiderspruch eigen, nur Dinge zu wollen, aber nicht verwirklichen zu können.

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Autorinnen und Autoren

Prof. Dr. Thorsten Bonacker, Professor für Friedens- und KonÀiktforschung am Zentrum für KonÀiktforschung der Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Theorien und Methoden der Friedens- und KonÀiktforschung, KonÀikte in der Weltgesellschaft, Soziologie der internationalen Politik, Menschenrechte und Zivilgesellschaft in Prozessen der Friedenskonsolidierung. Veröffentlichungen: KonÀikte der Weltgesellschaft (hrsg. mit C. Weller, 2007); Sozialtheorien im Vergleich: Der NordirlandkonÀikt als Anwendungsfall (hrsg. mit U. Schimank und R. Greshoff, 2008); Entgrenzungsfolgen. NGOs und die Quellen politischer Macht in der Weltgesellschaft am Beispiel internationaler Sanktionen, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen, Heft 1/2008 (mit S. Schüssler). Prof. Dr. Susanne Buckley-Zistel, Professorin für Friedens- und KonÀiktforschung am Zentrum für KonÀiktforschung der Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Mediation, KonÀikttransformation, Transitional Justice, Traumaarbeit, Geberpolitiken und post-positivistische IB Theorien. Veröffentlichungen: ConÀict Transformation and Social Change in Uganda: Remembering After Violence (Rethinking Peace and ConÀict Studies), 2008; Nation, Narration, Uni¿cation. The Politics of History Teaching after the Rwandan Genocide. Special Issue on Reconciliation in Rwanda, in: International Journal of Genocide Research, Heft 7/2009; We are Pretending Peace: Local Memory and the Absence of Social Transformation and Reconciliation in Rwanda, in: P. Clark und Z. Kaufman (Hrsg.): After Genocide: Transitional Justice, Post-ConÀict Reconstruction, and Reconciliation in Rwanda and Beyond, 2009. Prof. Dr. Michael Daxner, Professor für Soziologie an der Universität Oldenburg und Gastprofessor am Otto-Suhr-Insitut der FU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: KonÀikt- und Kultursoziologie, Hochschulpolitik und Jüdische Studien. Veröffentlichungen: Graveyard of Good Intents, in: World Policy Journal, Heft Summer 2009; Islam auf dem Balkan, 2007; Bildung, Wissenschaft und Kultur in Südosteuropa, 2006.

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Autorinnen und Autoren

Werner Distler, Doktorand am Graduiertenzentrum Geistes- und Sozialwissenschaften der Philipps-Universität Marburg. Arbeitsschwerpunkte: Nationbuilding, Statebuilding, internationale Polizeimissionen, Soziale Interaktion, Kosovo, Südafrika. Veröffentlichungen: Soziale Interaktion der Akteure im Feld: Die Interventionsgesellschaft im Nation- und Statebuilding, in: H.-G. Soeffner (Hrsg.): Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008 (im E.); Konsolidierungsprojekt Südafrika. 15 Jahre Post-Apartheid (hrsg. mit K. Weissenbach, im E.). Jan Free, Lehrbeauftragter des Instituts für Sozialwissenschaften der Universität Oldenburg und Autor für ZEIT ONLINE. Arbeitsschwerpunkte: Militärischhumanitäre Interventionen seit 1989, Weltgesellschaftstheorien, Wandel sozialer Semantiken, Nationalismusforschung, Theorie des Mythos. Veröffentlichungen: Was bringt Bourdieus Soziologie der Analyse von PostkonÀikt-gesellschaften?, in: H.-G. Soeffner (Hrsg.): Unsichere Zeiten. Herausforderungen gesellschaftlicher Transformationen. Verhandlungen des 34. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Jena 2008 (im E.); Noam Chomsky: Empörung als öffentliche Aufgabe, in: T. Jung & S. Müller-Doohm (Hrsg.), Fliegende Fische. Eine Soziologie des Intellektuellen in 20 Porträts, 2009; Civil Reconstruction in Afghanistan. A Report for The Greens/European Free Alliance in the European Parliament (mit M. Daxner, 2008). Dr. Thorsten Gromes, Politologe, Wissenschaftlicher Mitarbeiter der Hessischen Stiftung Friedens- und KonÀiktforschung. Arbeitsschwerpunkte: Friedensprozesse, Demokratisierung, ethnische KonÀikte, Bosnien und Herzegowina, Makedonien. Veröffentlichungen: Demokratisierung nach Bürgerkriegen, 2007; Gemeinsame Demokratie, geteilte Gesellschaft, 2008; The Prospect of European Integration and ConÀict Transformation in Bosnia and Herzegovina, 2009. Jan Koehler, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am SFB 700 Governance in Räumen begrenzter Staatlichkeit der FU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: KonÀiktaustragung, Institutionen, gesellschaftlicher Wandel; regionaler Schwerpunkt Kaukasus, Zentralasien, Afghanistan. Veröffentlichungen: Institutionalisierte KonÀiktaustragung, Kohäsion und Wandel. Theoriegeleiteter Praxischeck auf Gemeindeebene, in: J. Eckert (Hrsg.): Anthro-

Autorinnen und Autoren

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pologie der KonÀikte; Georg Elwerts konÀikttheoretische These in der Diskussion, 2004; ConÀict and the state of the state in the Caucasus and Central Asia: an empirical research challenge, in: Berliner Osteuropa 21/2004 (mit C. Zürcher); Potentials of disorder in the Caucasus and Yugoslavia (hrsg. mit C. Zürcher, 2003). Prof. Dr. Gabriel Motzkin, Direktor des Van Leer Jerusalem Instituts, Professor emeritus für Geschichte, Philosophie, und deutsche Literatur an der Hebräischen Universität Jerusalem. Arbeitsschwerpunkte: Geschichtsphilosophie, Philosophie der Zeit, Saekularisierungstheorie, Philosophie der Evolution, Heidegger. Veröffentlichungen: Time and Transcendence: Secular History, the Catholic Reaction and the Rediscovery of the Future, 1992; Jüdisches Denken in einer Welt ohne Gott (hrsg. mit J. Mattern und S. Sandbank, 2001); Hermann Cohens ‚Religion der Vernunft aus den Quellen des Judentums’ (hrsg. mit H. Holzhey und H. Wiedebach, 2000). Dr. Silvia Nadjivan, bis 2009 Wissenschaftliche Mitarbeiterin und Lehrbeautragte am Institut für Politikwissenschaft der Universität Wien. Arbeitsschwerpunkte: Transformationsprozesse in Südosteuropa, Gender und Migrationsprolitik in Europa. Veröffentlichungen: Wohl geplante Spontaneität: Der Sturz des MiloševiüRegimes als politisch inszenierte Massendemonstration in Serbien, 2008; Europa – verÀucht begehrt. Europa-Vorstellungen in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Serbien (mit V. Džihiü, H. Paiü und S. Stachowitsch, 2006); Armut als Politikum in Serbien, in: political economix, Heft 25/2008. Dr. Conrad Schetter, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn. Arbeitsschwerpunkte: KonÀikte, Governance, Ethnizität, Geopolitik. Veröffentlichungen: Ethnizität und ethnische KonÀikte in Afghanistan, 2003; Facing Ethnic ConÀicts. Towards a New Realism, 2004 (hrsg. mit A. Wimmer, R. Goldstone, D. Horowitz, U. Joras); Kleine Geschichte Afghanistans, 2004. Prof. Dr. Klaus Schlichte, Professor für Internationale Beziehungen am Institut Politikwissenschaft der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Arbeitsschwerpunkte: Soziologie und Geschichte internationaler Beziehungen, Krieg und Politik. Politische Soziologie der Weltgesellschaft.

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Autorinnen und Autoren

Veröffentlichungen: In the Shadow of Violence. The politics of armed groups, 2009; Uganda, or: the internationalisation of rule, in: Civil Wars, Heft 4/2008; Der Staat in der Weltgesellschaft. Politische Herrschaft in Afrika, Asien und Lateinamerika, 2005. Alex Veit, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für interdisziplinäre KonÀiktund Gewaltforschung der Universität Bielefeld. Arbeitsschwerpunkte: Politik und Gesellschaft in Afrika, Bürgerkriege und humanitäre Interventionen, internationale Organisationen, komparative Gewaltforschung. Veröffentlichungen: Verkoppelte Arenen. Wieso scheitern State-builder?, in: K. Dingwerth, D. Kerwer und A. Nölke (Hrsg.): Die Organisierte Welt: Internationale Beziehungen und Organisationsforschung, 2009; Figuration of Uncertainty. Armed Groups and „Humanitarian“ Military Intervention in Ituri (DR Congo), in: Journal of Intervention and Statebuilding, Heft 2,3/2008; Coupled arenas: Why state-building is so dif¿cult, Working Paper Micropolitics 3/2008 (mit K. Schlichte). Prof. Dr. Christoph Zürcher, Professor für Internationale Beziehungen am OttoSuhr-Insitut der FU Berlin. Arbeitsschwerpunkte: International Governance, Fragile Staatlichkeit, Ursachenforschung von Bürgerkriegen, KonÀikte und Entwicklung, Quantitative und Qualitative Annäherungen an die Probleme von KonÀikt und Governance, Internationale und innerstaatliche Dimensionen von Demokratisierungsprozessen. Veröffentlichungen: The Origins of Social Capital: Evidence from a Survey of Post-Soviet Central Asia, in: Comparative Political Studies, Heft 6/2009 (mit S. Radnitz, J. Wheatley); The Post-Soviet Wars: Rebellion, Ethnic ConÀict and Nationhood in the Caucasus, 2007; The Peace Builders Contract. How External Intervention Reinforces Weak Statehood (mit M. Barnett, 2007).