Identitat 353115138X, 9783531151380 [PDF]


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Table of contents :
353115138X......Page 1
Identitat......Page 3
Inhalt......Page 5
Vorbemerkung: Uber einen dreifachen Anspruch und den Mut zur Identitat......Page 12
1 Einladung zu einer historischen Soziologie der Individualitat......Page 20
2 Typische Individualitat und traditionelles Verhalten......Page 36
3 Erste Definitionen von Individualitat und Individualisierung......Page 42
4 Okonomische Entwicklungen im Wandel zur Moderne......Page 46
5 Normative Krisen......Page 68
6 Humanismus: Der Mensch lernt Zutrauen zu sich selbst......Page 80
7 Reformation: Der eigene Weg zum Heil und der Zwang zum Erfolg im Beruf......Page 94
8 Innenleitung......Page 114
9 Aufklarung......Page 120
10 Zwei Formen des Individualismus und eine Definition von Individualitat......Page 142
11 Differenzierung, Individualitat, Kampf um Aufmerksamkeit......Page 156
12 Anlehnung und Unterscheidung. Uber Mode und Lebensstile......Page 174
13 Individualisierung - zweite, auch die Last der Freiheit betonende Definition......Page 182
14 Differenzierung, Individualisierung, Individualitat......Page 186
15 Zweckrationalitat, innere Vereinsamung, Stilisierung des Lebens......Page 198
16 Geschmack und Lebensstil und feine Unterschiede......Page 206
17 Individualisierung und reflexive Modernisierung......Page 222
18 Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel......Page 240
19 Identitat - sich selbst zum Objekt machen......Page 254
20 Identitat als Integration von Grundhaltungen......Page 270
21 Identitat - stabile Orientierung in einem komplexen Rollensystem......Page 288
22 AuBenleitung......Page 304
23 Wir alle spielen Theater......Page 318
24 Spiegel und Masken......Page 334
25 Beschadigungen und mogliche Gefahrdungen der sozialen Identitat......Page 346
26 Anspriiche......Page 364
27 Behauptungen, Revisionen, Verwandlungen......Page 378
28 Die Krise der Lebenswelt: Entzauberung, Kolonialisierung, Ambivalenz......Page 398
29 Die Krise der Identitat in der Moderne......Page 412
30 Kompetenzen......Page 432
back-matter......Page 446
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Identitat
 353115138X, 9783531151380 [PDF]

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Zitiervorschau

Heinz Abels identitat

Heinz Abels

identitat Uber die Entsteliung des Gedankens, dass der Mensch ein Individuum ist, den nicht leiclit zu verwirlJachahmung", aus dem zweiten, „sich durch Auszeichnung geltend zu machen". (Hegel 1820, S. 350) Sigmund Freud fUhrt dieses Beispiel unter der Frage an, „wie sich die Menschen im allgemeinen affektiv zueinander verhalten", und kommt in WUrdigung dieses Gleichnisses zu dem Schluss, dass keiner „eine allzu intime Annaherung des anderen" vertrage. (1921, S. 95) Ich meine, man sollte aus dem Gleichnis - wie gezeigt - auch die verstandliche Suche nach sozialer Warme herauslesen. Ich fasse sie unter dem Begriff der sozialen Anerkennung. Der Pessimist und Menschenkenner Schopenhauer hat es naturlich nicht so freundlich interpretiert, weshalb ich Ihnen auch seinen Nachsatz nicht verschweigen will: „So treibt das BedtirfniB der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen Innern entsprungen, die Menschen zu einander; aber ihre vielen widerwartigen Eigenschaften und unertraglichen Fehler stoBen sie wieder von einander ab."

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Anlehnung und Unterscheidung. Uber Mode und Lebensstile

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der Mode und in der LebensfUhrung zum Ausdruck. Doch anders als bei den Stachelschweinen, die ja alles ganz vorsichtig machen, geht es bei den Menschen ziemlich hektisch zu, und es gibt auch keine „ma6ige Entfemung", die von Dauer ware. Ich will Simmels Sicht auf die Suche nach „Hingabe" und Nahe und den Kampf um Distanz in Anlehnung an die Gedankenfuhrung von MARKUS SCHROER nachzeichnen. Wie oben gezeigt unterscheidet Simmel zwischen einem abstrakten Individualismus, der auf Gemeinsamkeiten zwischen den Menschen und Gleichheit zielt, und einem quaHtativen, der auf Unterschiede und Eigenarten zielt. Obwohl Simmel den qualitativen Individualismus favorisiert, allein schon weil er den Bedingungen und Chancen der Modeme am besten entspricht, ist es nicht so, dass er den abstrakten als eine gesellschaftliche Vorstufe abtut. Im Gegenteil, er meint, „die gro6e Aufgabe der Zukunft" sei „eine Lebens- und Gesellschaftsverfassung, die eine positive Synthese der beiden Arten des Individualismus schafft". (Simmel 1901, S. 56) Dass die Idee der Gleichheit und die Idee der Einzigartigkeit, uberhaupt zusammengebracht werden konnen, sah Simmel schon in dem „DoppelbedUrfnis des Geistes, einerseits nach Zusammenfassung, andrerseits nach Unterscheidung" (Simmel 1890, S. 195) angelegt. Das Bediirfnis, Gegensatze zusammenzubringen, beschrankt sich aber nicht auf unser Denken allein, sondem kommt auch in unserem Handeln zum Ausdruck. Hier ist es das gleichzeitige Grundbedurfnis nach Bindung und nach Distanz. Beispiele, wo beide Bedtirfnisse sich zu einer „spannungsgeladenen Einheit" (Schroer 2000, S. 319) zusammenschlieBen, sind die Mode und der Lebensstil. 12.2

Simmel: Mode - Kompromiss zwischen Egalisierung und Individualisierung

Die Mode ist fur Simmel „eines jener gesellschaftlichen Gebilde" (Simmel 1900, S. 640) oder anders gesagt: ,,eine besondere unterjenen Lebensformen, durch die man ein Compromifi zwischen der Tendenz nach socialer Egalisierung und der nach individuellen Unterschiedsreizen herzustellen'' (Simmel 1895, S. 106f.) sucht. Die Mode hat im Denken und Handeln der Individuen die Funktion, sich mit bestimmten

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12 Anlehnung und Unterscheidung. Uber Mode und Lebensstile

anderen zusammenzuschlieBen und sich von bestimmten anderen abzugrenzen. „In sociologischer Beziehung ist sie (...) ein Product classenmaBiger Scheidung" (Simmel 1895, S. 107), und deshalb ist fiir die Mode auch das Folgende wesentlich: „Sie geniigt einerseits dem Bediirfnis nach socialer Anlehnung, insofeme sie Nachahmung ist; sie fuhrt den Einzelnen auf der Bahn, die alle gehen; andererseits aber befriedigt sie auch das Unterschiedsbediirfnis, die Tendenz auf Differenzierung, Abwechslung, Sichabheben, und zwar sowohl durch den Wechsel ihrer Inhalte, der der Mode von heute ein individuelles Geprage gegenliber der von gestem und morgen gibt, wie durch den Urnstand, dass Moden immer Classenmoden sind^, da6 die Moden der hoheren Schicht sich von denen der tieferen unterscheiden und in dem AugenbHck verlassen werden, in dem diese letzteren sie sich aneignen." (S. 106) Die Funktion der EgaHsierung und Individuahsierung, der Anlehnung und der Unterscheidung hat die Mode seit je iiberall dort gehabt, „wo soziale Unterschiede sich einen Ausdruck in der Sichtbarkeit gesucht haben." (Sinmiel 1900, S. 640) Neu ist allerdings das Tempo, in dem sie sich wandelt. Der Grund liegt im „Fliissigwerden der klassenmaBigen Schranken" und dem vielfachen individuellen, „manchmal auch ganze Gruppen umfassenden Aufsteigen von einer Schicht in die hohere" einerseits und dem drangenden Bedtirfnis des Mittelstandes und der stadtischen Bevolkerung nach Abwechslung andererseits. (ebd.) Der Mittelstand und die wohlhabenden Burger der Stadte sind flir Simmel die eigentlichen Trager der Mode: „Dort sind die Variabilitat, der Wunsch nach Abwechslung, das schnelle Tempo der Veranderungen zu Hause, die immer wieder neue Moden hervorbringen. Die unteren Schichten dagegen sind zu schwerfallig und unbeweglich, die oberen zu konservativ eingestellt, um Initiatoren der Mode zu sein." (Schroer 2000, S. 320) Als Simmel diesen Gedanken einige Jahre spater in seiner ,J*hilosophie des Geldes" (1900) wieder aufgriff, fugte er an dieser Stelle noch hinzu: „d. h. sie bezeichnet jedes Mai eine Gesellschaftsschicht, die sich durch die Gleichheit ihrer Erscheinung ebenso wohl nach innen einheitlich zusammenschlieBt, wie nach auBen gegen andere Stande abschlieBt" (Simmel 1900, S. 640). An dieser Formulierung wird das spater in der Soziologie so genannte Spiel von Inklusion und Exklusion deutlich, aber auch die von Pierre Bourdieu beschrieben Funktion der „feinen Unterschiede" wird hier benannt. Ich konmie darauf zuriick.

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Anlehnung und Unterscheidung. tJber Mode und Lebensstile

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Mode breitet sich fiir Simmel immer von oben nach unten aus, doch die soziale Dominanz ist nur von kurzer Dauer. Wegen der durchlassigen sozialen Grenzen wechseln die Moden in den oberen IGassen sehr schnell. Um sich von den unteren Klassen abzugrenzen, miissen sich die oberen „quasi permanent etwas Neues einfallen lassen" (Schroer 2000,S. 319f.) Wo sich die oberen Stande durch ihre Mode nicht mehr von den unteren absetzen konnen, verHert die Mode auch die Kraft, diejenigen, die sich durch sie von anderen Individuen auBerhalb ihres Kreises differenzieren wollten, nach innen zusammenzuschHeBen. Also muss standig etwas erfunden werden, was ein gemeinsames Bewusstsein erhalt, unter seinesgleichen und getrennt von anderen zu sein. Mode heiBt natiiriich nicht allein Kleidermode, sondem meint jede zeittypische Bevorzugung bestimmter Wertvorstellungen. Diese konnen sich auf einen bestimmten Lebensstil wie auf die Art, ein modemes Gefangnis zu bauen, auf den Geschmack wie auf die Kleidung oder die Art, soziologische Theorien zu entwerfen beziehen. Immer entsteht durch sie eine bestimmte objektive Kultur, die zumindest auf Zeit und fiir bestimmte Kreise Rahmen des Denkens und Handelns setzt. Wenn man sich klar macht, was das lateinische Herkunftswort „modus" urspriingUch bedeutete, namhch „Art und Weise", dann kann man mit diesem Begriff soziologisch praktisch jede Art der objektiven Kultur, d. h. der sozialen Organisation des Denkens und Handelns bezeichnen. Manche Moden sind kurz und prazis, z. B. in der Kleidermode, manche halten lange an und werden gar nicht mehr als Mode empfunden, z. B. die Art, wie die Arbeit in einer bestimmten Gesellschaft organisiert wird oder wie das Verhaltnis von Politik und Burger gesehen wird. In dem MaBe, wie sich Individuen auf diese objektiven Bedingungen, die keines von ihnen selbst geschaffen hat, aber die sie alle durch ihr Verhalten perpetuieren, einlassen, geraten sie unter den Zwang eben dieser objektiven Bedingungen. Im Grund sind sie von auBen bestimmt, oft sogar ihren eigenen Interessen entfremdet. „Die Herrschaft der Sachen droht den einzelnen schlieBlich zum Sklaven seiner eigenen Produkte zu machen." (Schroer 2000, S. 322) Der Druck der objektiven Kultur auf die subjektive Kultur der Individuen nimmt zu und beschleunigt sich. (vgl. Simmel 1900, S. 638643) Umgangssprachlich: Die Individuen kommen mit dem Tempo der Entwicklung nicht mehr mit, und sie kriegen die Fulle der Zwange und

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12 Anlehnung und Unterscheidung. Uber Mode und Lebensstile

Moglichkeiten, die sich daraus ergeben, nicht mehr auf die Reihe. Ihre „Daseinsinhalte" bleiben „fragmentarisch", „die kulturelle Steigerung der Individuen" bleibt „hinter der der Dinge (...) merkbar" zurtick. (Simmel 1900, S. 622 und 643) Im Grunde ist es die Situation des modemen Menschen in einer Welt, die er nicht mehr uberschaut und in der genau deshalb nach einem festen Halt sucht, die Simmel mit dem folgenden Satz liber die Scheinbefriedigung der Mode fiir das Bediirfnis nach Individualitat beschreibt: „Die Mode ist so der eigentliche Tummelplatz fur Individuen, welche innerlich und inhaltlich unselbstandig, anlehnungsbediirftig sind, deren SelbstgefUhl aber doch einer gewissen Auszeichnung, Aufmerksamkeit, Besonderung bedarf. Sie erhebt eben auch den Unbedeutenden dadurch, dass sie ihn zum Reprasentanten einer Gesammtheit macht, er fuhlt sich von einem Gesammtgeist getragen." (Simmel 1895, S. 109) Die soziologische Bedeutung der Mode liegt also darin, „den Egalisierungs- und den Individualisierungstrieb, den Reiz der Nachahmung und den der Auszeichnung zu gleich betontem Ausdruck" zu bringen. (Simmel 1895, S. 110) In beiden Hinsichten fallt fiir jeden etwas ab, ob er sich der Mode anpasst oder sich ihr bewusst zu entziehen sucht. In diesem zweiten Fall ist Unmodemitat die „blo6e Umkehrung der sozialen Nachahmung", und wenn es in bestimmten ICreisen Mode wird, „sich unmodem zu tragen", dann kriegt man auch beides: das Gefuhl der Individualisierung und Abgrenzung nach auBen und das Gefuhl, einem inneren Kreis zuzugehoren, in dem man sich sozial anlehnen kann. (vgl. ebd.) 12.3

Lebensstile - Systematisierung oder Formung von Fall zu Fall

Die doppelte Funktion der Egalisierung und der Individualisierung, sich anzugleichen und sich zu unterscheiden, erfullt auch eine andere Form des Denkens und Handelns: der Lebensstil. „Mit Hilfe des Lebensstils schlieBt man sich mit bestimmten Individuen zu einer Gruppe zusammen, wahrend man sich gegeniiber anderen abgrenzt." (Schroer 2000, S. 319) Das war schon die These von Simmel, der in dieser Hinsicht zwischen zwei Lebensstilen unterschieden hat:

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Anlehnung und Unterscheidung. Uber Mode und Lebensstile

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• „Auf der einen Seite die Systematisierung des Lebens: seine einzelnen Provinzen harmonisch um einen Mittelpunkt geordnet, alle Interessen sorgfaltig abgestuft und jeder Inhalt eines solchen nur soweit zugelassen, wie das ganze System es vorzeichnet; die einzelnen Betatigungen regelmaBig abwechselnd, zwischen Aktivitaten und Pausen ein festgestellter Tumus, kurz, im Nebeneinander wie im Nacheinander eine Rhythmik, die weder der unberechenbaren Fluktuation der Bedurfnisse, Kraftentladungen und Stimmungen, noch dem Zufall auBerer Anregungen, Situationen und Chancen Rechnung tragt - dafiir aber eine Existenz eintauscht, die ihrer selbst dadurch vollig sicher ist, dass sie uberhaupt nichts in das Leben hineinzulassen strebt, was ihr nicht gemaB ist oder was sie nicht zu ihrem System passend umarbeiten kann. • Auf der anderen Seite: die Formung des Lebens von Fall zu Fall, die innere Gegebenheit jedes Augenblickes mit den koinzidierenden Gegebenheiten der AuBenwelt in das moglichst gtinstige Verhaltnis gesetzt, eine ununterbrochene Bereitheit zum Empfinden und Handeln zugleich mit einem steten F[inhoren auf das Eigenleben der Dinge, um ihren Darbietungen und Forderungen, wann immer sie eintreten, gerecht zu werden. Damit ist freilich die Berechenbarkeit und sichere Abgewogenheit des Lebens preisgegeben, sein Stil im engeren Sinne, das Leben wird nicht von Ideen beherrscht, die in ihrer Anwendung auf sein Material sich immer zu einer Systematik und festen Rhythmik ausbreiten, sondem von seinen individuellen Elementen aus wird es gestaltet, unbektimmert um die Symmetrie seines Gesamtbildes, die hier nur als Zwang, aber nicht als Reiz empfunden wurde." (Simmel 1900, S. 689f.) Die Grenzen in der Struktur des Ich bringt Simmel mit dem Unterschied zwischen „Sein und Haben"^ zum Ausdruck. (vgl. Simmel 1900, Sicher nicht zufallig hat ein anderer Diagnostiker der Zeit, Erich Fromm, just diese Unterscheidung im Titel seines Buches ,Jlaben oder Sein" (1976) aufgenommen! ,JH[aben" steht in seiner negativen Bedeutung ftir die Sucht des modernen Menschen zu konsumieren, was die Mode diktiert, und fur seine innere Zerrissenheit. Er ist nicht ganz. „Sein" steht in seiner idealen Bedeutung fiir die Fahigkeit, aus einer inneren Reserve gegeniiber den Zwangen und Verlockungen der Welt den Sinn des Lebens selbst zu bestinmien, ganz zu sein.

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12 Anlehnung und Unterscheidung. Uber Mode und Lebensstile

S. 533) Den Menschen, der sich nicht gemein macht, ganz Personlichkeit ist, nennt Simmel „vomehm". (Simmel 1900, S. 535) Er entzieht sich der Rasanz der Mode, will also nicht verwechselt werden.5 Er ist sich seines Unterschieds bewusst, aber er braucht dazu kein Urteil von auBen: „Der vomehme Mensch ist der ganz Personliche, der seine Personlichkeit doch ganz reserviert. Die Vomehmheit reprasentiert eine ganz einzigartige Kombination von UnterschiedsgefUhlen, die auf Vergleichung beruhen, und stolzem Ablehnen jeder Vergleichung Uberhaupt." (ebd.) Es liegt auf der Hand, welchen Lebensstil Simmel flir den sinnvolleren halt. Schroer stellt diese Uberlegungen in einen groBeren Kontext der soziologischen Diskussion. Das erste Modell der Systematisierung des Lebens weist fiir ihn „unubersehbare Parallelen zu Webers Ideal der methodischen Lebensfiihrung auf, in dem eine Personlichkeit von innen heraus ihr Leben fiihrt." (Schroer 2000, S. 325) Das habe ich oben im Kapitel iiber den Puritanismus und die innerweltliche Askese und dann im Kapitel iiber DAVID RmSMANS These von der Innenleitung behandelt. „Im zweiten Modell dagegen", fahrt Schroer fort, „richtet ein Individuum sein Leben nicht nach einem einmal gefasst Plan, sondem passt sich geschickt an die sich wandelnden, auBeren Bedingungen und Gegebenheiten an." (Schroer 2000, S. 325) „Mit diesen beiden Modellen", so greift Schroer auf die spatere soziologische Diskussion aus, „nimmt Simmel (...) nicht nur die ahnlich gelagerte Unterscheidung David Riesmans von innen- und auBenorientierter Lebensfiihrung vorweg, sondem auch die Unterscheidung von einer methodischen Lebensfiihrung auf der einen und einer individuell zu gestaltenden »Bastelbiographie« auf der anderen Seite, die die gegenwartige Diskussion um Individualisierung bestimmt (...)"• (Schroer 2000, S. 325) Auf alle diese Thesen werde ich zuriickkommen, und wenn Ihnen dann einiges bekannt vorkommt, dann liegt das u. U. daran, dass Sie es so oder so ahnlich schon bei Simmel gelesen haben.

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Lesen Sie auch noch einmal in Kap. 10.3 vor Anm. 6 nach, worin Nietzsche die „hohere Natur des groBen Mannes" sah!

Modernes Bewusstsein zieht eine Bewegung vom Schicksal zur Wahl nach sich. Peter LBerger (1980)^ Schlicht gesagt meint »Individualisierung«: den Zerfall industriegesellschaftlicher Selbstverstdndlichkeiten sowie den Zwang, ohne Selbstverstdndlichkeit fur sich selbst und miteinander neue »Selbstverstdndlichkeiten« zufinden undzu erfinden. Ulrich Beck (1993) 2

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Individualisierung - zweite, auch die Last der Freiheit betonende Definition

Bei meiner ersten, das Bewusstsein der Freiheit des Individuums betonenden Definition^ habe ich Individualisierung als die eigene Vorstellung des Individuums von sich selbst und von der sozialen Bedeutung und Relevanz der gesellschaftlichen Verhaltnisse bezeichnet. Der Mensch nimmt die gesellschaftliche Ordnung und ihre Institutionen nicht mehr einfach hin, sondem reflektiert ihren Sinn fur sich. Er nimmt sich als ein besonderes Individuum an seinem spezifischen Ort in der Gesellschaft und in seiner besonderen Funktion wahr. Individualisierung bedeutet in diesem Sinne, gegen die Dominanz der Gesellschaft den Anspruch des Individuums auf eigenes Denken und Handeln zu erheben. Die Geschichte der Individualisierung ist der unmerkliche Kampf, gegeniiber kollektiven Verpflichtungen und traditionellen Orientierungen individuelle Vorstellungen von den richtigen Zielen und Mitteln des Handelns durchzusetzen. 1 2 3

Peter L. Berger (1980): Der Zwang zur Haresie, S. 24 Ulrich Beck (1993): Die Erfindung des Politischen, S. 151 Siehe oben Kap. 3.2 „Individualisierung - eine erste, das Bewusstsein der Freiheit betonende Definition*'.

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13 Individualisierung - zweite, auch die Last der Freiheit betonende Definition

Aus Simmels oben referierten Arbeiten iiber „Die beiden Formen des Individualismus" (1901) und „Zur Psychologic der Mode" (1895), vollends aber aus seiner Zeitdiagnose „Die GroBstadte und das Geistesleben" (1903) diirfte klar geworden sein, dass aus dieser Chance des Individuums zu einem wirklichen eigenstandigen Denken und Handeln allmahlich der Zwang erwuchs, sich als besonders und eigenstandig darstellen zu miissen. Individualisierung heiBt in dem Sinne, dass die Individuen allem, was sie sind und tun, eine personliche Note geben^ und dass sie das tunlichst tun, wenn sie nicht in der diffusen Masse untergehen woUen. Neben dieser, die Autonomie des Individuums gegeniiber der Gesellschaft betonenden Bedeutung des Begriffs „Individualisierung" findet sich eine zweite, die die Herauslosung des Individuums aus sozialen Bindungen betont. Das kann man einmal in dem Sinne verstehen, dass gemeinschaftUche Beziehungen, die dem Individuum Orientierung geben und es emotional tragen, an Kraft verlieren. Beispiele fiir Beziehungen und Institutionen, die an Uberzeugungskraft und Bindung verlieren, sind die Familie, die Kirche oder die Nachbarschaft. Das Individuum lost sich unmerklich aus diesen Beziehungen und kappt sie entweder ganz oder steht nur noch in lockerer Verbindung, ggf. auch nur auf Zeit und in einer interessenbestimmten RoUe zur Verfugung. Das war, wie gezeigt, schon GEORG SIMMEL aufgefallen, dass mit der Erweiterung des sozialen Kreises das Individuum immer weniger als „ganze Personlichkeit" wahrgenommen und beansprucht wird und statt dessen auf sich selbst gestellt und „mancher Stutzen" beraubt wird. (Vgl. Simmel 1890, S. 244) Das Problem der Modeme ist, dass die Kreise, in denen das Individuum auftritt, nicht nur groBer und komplexer werden und es nur in spezifischen Funktionen beanspruchen und anerkennen, sondem auch, dass sie zahlreicher werden und ihrer eigenen Logik folgen, also durchaus widersprtichlich sind. Individualisierung heiBt in diesem Sinne, auf sich selbst gestellt zu werden - ob man das will oder nicht. In der jungeren soziologischen Diskussion war es dann ULRICH BECK, dessen Gesellschaftsanalyse diese Herauslosung des Individuums aus traditionalen, gemeinschaftlichen Bezligen als „Freisetzung" und gleichzeitig „Entzauberung" (Beck 1986, S. 206) thematisiert hat. 4

Das wird gleich auch der Gedanke von Emile Durkheim sein.

13

Individualisierung - zweite, auch die Last der Freiheit betonende Definition 185

Entzauberung ist die Herauslosung fur ihn deshalb, well mit der Lockerung traditionaler Bindungen auch entsprechendes „Handlungswissen, Glauben und leitende Normen" (Beck 1986, S. 206) ihre sinnstiftende Kraft verlieren. Danach heiBt Individualisierung, dass die Gesellschaft dem Individuum die Entscheidungen, wie es mit ihm selbst weitergeht, selbst auferlegt. Ihm danmiert, dass mit der Freiheit von einengenden Traditionen, Macht und kulturellen Diktaten auch andere soziale Stlitzen weggebrochen sind. Bestimmte kulturelle Orientierungen, die ihm Routinen gestatten konnten, sind fragUch geworden, weil sie sich iiberlebt haben oder keiner mehr so richtig an sie glaubt. Auf der anderen Seite ist unbestreitbar, dass die Orientierungen zahlreicher werden und alle fur sich Sinn machen. Die Pluralisierung beschert dem Individuum neue Wahlmoglichkeiten, aber da man keine Erfahrungen hat, zu welchem Ende sie fiihren konnen, und auch nicht weiB, ob und ggf. wie sie sich gegenseitig bedingen, bleibt die Zukunft ungewiss. Auf der Rlickseite der Medaille Freiheit steht nicht etwa nur die Last, sie auszuhalten, sondem auch der Zwang, den unlibersichthch gewordenen sozialen Raum selbst zu strukturieren. Das Individuum muss permanent Entscheidungen treffen, ohne dass ihm gesichertes Handlungswissen zur Verfugung stunde, und wenn es die falschen Entscheidungen trifft, hat es die Konsequenzen selbst zu tragen. Individualisierung heiBt in dieser Hinsicht, dass sich das Individuum die Handlungsfolgen selbst anrechnet. (vgl. Beck 1983, S. 59) In Abwandlung des entsprechenden Gedankens bei der ersten, die positive Seite der Individualisierung betonenden Definition kann man es so formulieren: In der fortgeschrittenen Modeme steht das Individuum im Kampf, sich gegenliber der Gesellschaft zu behaupten, inzwischen ziemlich allein. Ging es friiher vor allem darum, gegenliber kollektiven Verpflichtungen und traditionellen Orientierungen individuelle Vorstellungen von den richtigen Zielen und Mitteln des Handelns durchzusetzen, sich das Soziale also aus freien Stucken anzueignen und es so zu individualisieren, geht es heute darum, fur seine Entscheidungen uberhaupt soziale Anschlusse zu finden. Darauf werde ich im Kapitel uber Individualisierung und reflexive Modemisierung noch einmal zuriickkommen. Zur Einstimmung will ich nur Becks These, Beispiel und Klarstellung zitieren. Die These lautet, dass in der fortgeschrittenen Modeme das Rollengefuge zerbricht und „in die Entscheidung der Individuen"

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13 Individualisierung - zweite, auch die Last der Freiheit betonende Definition

zerfallt. (Beck 1993, S. 63) Das Beispiel hat Beck in seiner „Risikogesellschaft" geliefert, wo er u. a. Entscheidungen hinsichtlich Familie, Ehe und Beruf thematisiert. Dort heiBt es: „Noch in den sechziger Jahren besaBen Familie, Ehe und Beruf als Bundelung von Lebensplanen, Lebenslagen und Biographien weitgehend Verbindlichkeit. Inzwischen sind in alien Bezugspunkten Wahlmoglichkeiten und -zwange aufgebrochen. Es ist nicht mehr klar, ob man heiratet, wann man heiratet, ob man zusammenlebt und nicht heiratet, heiratet und nicht zusammenlebt, ob man das Kind innerhalb oder auBerhalb der Familie empfangt Oder aufzieht, mit dem, mit dem man zusammenlebt, oder mit dem, den man liebt, der aber mit einer anderen zusammenlebt, vor oder nach der Karriere oder mitten drin. Wie dies alles kurzfristig, langfristig oder voriibergehend mit den Zwangen oder Ambitionen der Versorgungssicherung, der Karriere, des Berufs aller Beteiligten vereinbar ist." (Beck 1986, S. 163f.) Die Klarstellung findet sich in Becks „Theorie reflexiver Modemisierung". Dort schreibt er: Individualisierung meint nicht „Vereinsamung, das Ende jeder Art von Gesellschaft, Beziehungslosigkeit", sondem die Ausbildung neuer Lebensformen und Lebenslagen, „in denen die einzelnen ihre Biographic selbst herstellen, inszenieren, zusammenflickschustem mussen." (Beck 1993, S. 150) Diese Anstrengungen erfolgen in der fortgeschrittenen Modeme naturlich nicht im luftleeren, sprich: gesellschaftsfreien Raum und als freie Erfindungen der Individuen, sondem unter „sozialstaatlichen Regelungen" und neuen sozialen KontroUen, die „das Individuum als Akteur, Konstrukteur, Jongleur und Inszenator seiner Biographic, seiner Identitat, seiner sozialen Netzwerke, Bindungen, Uberzeugungen" voraussetzen. (S. 151) „Daher der Name Individualisierung", schreibt Beck, oder „schlicht gesagt, meint »Individualisierung«: den Zerfall industriegesellschaftlicher Selbstverstandlichkeiten sowie den Zwang, ohne Selbstverstandlichkeit fur sich selbst und miteinander neue »Selbstverstandlichkeiten« zu finden und zu erfinden." (ebd.) GEORG SIMMEL hat fur diese komplizierte Spannung zwischen dem Individuum und seiner Gesellschaft eine grundlegende theoretische Erklarung geliefert. Die nun folgenden Erklarungen von EMILE DURKHEiM, M A X WEBER und PIERRE BOURDIEU fugen weitere Aspekte hinzu und leuchten den Hintergrund aus, vor dem ich spater ULRICH BECKS zum Schluss zitierte Definition genauer erlautem werde.

Die individuelle Personlichkeit (...) entwickelt sich nachgerade mit der Arbeitsteilung. Emile Durkheim (1893) 1 Indem wir die kollektiven Institutionen erfassen, sie uns assimilieren, individualisieren wir sie und verleihen ihnen mehr oder minder unsere personliche Marke. Emile Durkheim (1895) ^

14

Differenzierung, Individualisierung, Individualitat

14.1 14.2 14.3

Solidaritat, Milieu, KoUektivbewusstsein Homogene Gesellschaften: Solidaritat der Ahnlichkeiten Durkheim: Differenzierte Gesellschaften - Solidaritat der Individualitat Anomie: Das Individuum weiB nicht mehr, wer es ist

14.4

„Die Frage", von der der franzosische Soziologe EMILE DURKHEIM (1858-1917) in seinem Buch „Uber soziale Arbeitsteilung" ausging, „war die nach den Beziehungen zwischen der individuellen Personlichkeit und der sozialen Solidaritat." Er prazisiert die Frage mit zwei weiteren, die zugleich zwei Thesen beinhalten: „Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhangt? Wie kann es zu gleicher Zeit personlicher und solidarischer sein?" (Durkheim 1893, S. 82) Denn das scheint ihm unwiderlegbar zu sein, dass beide Bewegungen - Individualisierung und Solidaritat - nicht nur parallel laufen, sondem einander bedingen. Die Erklarung liegt in der Veranderung der sozialen Solidaritat, die wiederum mit einer immer starkeren Arbeitsteilung zusammenhangt.

1 2

Emile Durkheim (1893): Uber soziale Arbeitsteilung, S. 473f. Emile Durkheim (1895): Die Regeln der soziologischen Methode, S. 100 Anm.

188

14 Differenzierung, Individualisierung, Individualitat

Um diese auf den ersten Blick widerspriichliche Entwicklung des zunehmenden Bewusstseins der Individualitat und des wachsenden GefUhls der Abhangigkeit zu verstehen, miissen kurz drei Zentralbegriffe aus Durkheims Theorie der Arbeitsteilung geklart werden: Solidaritdt, Milieu und Kollektivbewusstsein, 14.1

Solidaritat, Milieu, KoUelitivbewusstsein

Ganz allgemein heiBt Solidaritdt sich jemandem verbunden zu fiihlen. Durkheim hat fiir dieses Gefuhl eine doppelte Erklarung: „Jeder weiB, dass wir den lieben, der uns ahnlich ist, der so denkt und fuhlt wie wir. Aber das gegenteilige Phanomen ist nicht weniger haufig. Es kommt sehr oft vor, dass wir uns zu Personen, die uns nicht ahnUch sind, hingezogen fUhlen, gerade weil sie uns nicht ahnUch sind." (Durkheim 1893, S. 101) Diese scheinbar widersprlichHche Tatsache hat die Philosophen aller Zeiten bewegt, und beide Erklarungen wurden geme zur Begriindung einer besonders engen sozialen Beziehung, der Freundschaft, herangezogen. Weniger erhaben weiB der Volksmund: Gleich und gleich gesellt sich gem - Gegensatze Ziehen sich an. Durkheim leitet besonders aus der zweiten Erklarung das Prinzip der Entwicklung zur modemen Gesellschaft ab. Er schreibt: „Wie reich wir auch begabt seien, es fehlt uns immer etwas (...)." (Durkheim 1893, S. 102) Deshalb suchen wir immer jemanden, der etwas kann, was wir nicht konnen, und werden selbst aus dem gleichen Grund gesucht. So kommt es zu einer Aufteilung von unterschiedlichen, aber aufeinander bezogenen Leistungen. Durkheim nennt es „Aufteilung der Funktionen" oder Arbeitsteilung. Die Arbeitsteilung bewirkt etwas zwischen den Menschen; sie stellt zwischen ihnen „ein Gefuhl der Solidaritat" her. (ebd.) Solidaritdt als das Gefuhl der wechselseitigen Verbundenheit ist das Prinzip des Sozialen schlechthin. Die Form der Solidaritat ist abhangig vom spezifischen sozialen Milieu, worunter Durkheim die natUrlichen, regionalen, okonomischen und soziokulturellen Verhaltnisse versteht. Die wichtigsten sozialen Merkmale des Milieus sind die Zahl der sozialen Einheiten (das Volumen der Gesellschaft) und der Grad der Konzentration der Mitglieder (die Dichte der Gesellschaft). Drittens hangt die Ausformung der Solidaritat ganz wesentlich von der Differenzierung der einzelnen Telle des Ganzen und ihrer Funktion fureinander ab.

14 Differenzierung, Individualisierung, Individualitat

189

Die Summe der Uberzeugungen und Verhaltensmuster in einer Gesellschaft nennt Durkheim Kollektivbewusstsein. Es enthalt nicht nur Vorstellungen des Guten, also Werte, sondem auch Vorstellungen des Richtigen, also Normen. Es existiert unabhangig von den einzelnen Individuen und wird im kontinuierlichen Prozess der Sozialisation oder durch systematische Erziehung (»socialisation methodique«) (Durkheim 1903, S. 45) an jede neue Generation weitergegeben. Sei so wiejeder andere! Hans-Peter Muller (2000) 3 In diesem Augenblick ist unsere Individualitat gleich Null. Emile Durkheim (1893) 4 14.2

Homogene Gesellschaften: Solidaritat der Ahnlichkeiten

Durkheim unterscheidet nun zwei Entwicklungsstande der Gesellschaft. In einfachen Gesellschaften (»societes primitives«) mit uberschaubarer Bevolkerungszahl und lockerer Besiedlung leben die Menschen in abgegrenzten Gruppen oder Clans, die nach auBen, zu anderen Gruppen, relativ wenige Beziehungen pflegen. Das Charakteristikum der sozialen Struktur einer solchen Gesellschaft ist, „dass sie ein System von homogenen und untereinander ahnlichen Segmenten darstellt." (Durkheim 1893, S. 237) Deshalb nennt Durkheim diese Gesellschaften auch segmentdre Gesellschaften. In diesen einfachen Gesellschaften ist die Arbeit kaum geteilt. Im Prinzip sorgt jeder fiir seinen gesamten Lebensunterhalt selbst. Die Mitglieder sind sich im groBen Ganzen ahnlich; sie stimmen in ihren Anschauungen und religiosen Uberzeugungen, die seit je zu existieren scheinen, uberein und folgen ihnen wie mechanisch. Deshalb nennt Durkheim die Solidaritat, die diese Beziehungen auszeichnet, auch Solidaritat der Ahnlichkeiten oder mechanische Solidaritat. Diese Solidaritat bindet das Individuum direkt an die Gesellschaft. (vgl. Durkheim 1893, S. 156) 3 4

Hans-Peter Muller (2000): Emile Durkheim. De la division du travail social, S. 91 Emile Durkheim (1893): Uber soziale Arbeitsteilung, S. 182

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14 Differenzierung, Individualisierung, Individualitat

In einer traditionellen Gesellschaft ubt das Kollektivbewusstsein auf den einzelnen eine so starke KontroUe aus, dass er keine Individualitat ausbilden kann: „Die Solidaritat, die aus den Ahnlichkeiten entsteht, erreicht ihr Maximum, wenn das Kollektivbewusstsein unser Bewusstsein genau deckt und in alien Punkten mit ihm ubereinstimmt: aber in diesem Augenblick ist unsere Individualitat gleich Null." (Durkheim 1893, S. 181f.) Da die Arbeit nicht geteilt ist, sondem jeder im Prinzip alles so macht, wie die anderen es auch machen, ist weder ein sozialer Bedarf noch eine individuelle Chance fur eine Individualisierung vorhanden. Im Gegenteil, die Verhaltensmaxime lautet: „Sei so wie jeder andere!" (MuUer 2000, S. 91) In den einfachen, nicht differenzierten Gesellschaften „besteht das angemessene Handeln des Menschen darin, seinen Mitmenschen zu gleichen, in sich alle Wesenseigenschaften des Kollektivtypus zu realisieren (...)." (Durkheim 1893, S. 473) Durkheim halt es denn auch fur eine Illusion zu meinen, die Personlichkeiten in diesen segmentaren Gesellschaften seien „ganzheitlicher" gewesen, nur weil es keine Arbeitsteilung gab: „Wenn man sich die Vielfalt der Tatigkeiten von auBen betrachtet, die das Individuum damals ausfuhrte, dann kann es zweifellos so scheinen, als ob es sich freier und vollstandiger entwickelte. Aber in Wirklichkeit ist die Tatigkeit, mit der es aufwartet, gar nicht seine eigene. Die Gesellschaft, die Rasse wirken in ihm und durch es hindurch; es ist nur der Vermittler, durch den diese sich realisieren. Seine Freiheit ist nur scheinbar und seine Personhchkeit ist nur geborgt." (Durkheim 1893, S. 474f.) Der Einzelne verstand sich als Reprasentant typischer Erwartungen, und so wurde er auch angesehen.5 Die Freiheit zur Individualitat, wenn er sie uberhaupt aufgrund korperlicher Besonderheiten oder bestimmter Fahigkeiten beanspruchte, hatte er nur in dem Rahmen, den ihm seine soziale Gruppe durch Sitte und Tradition vorschrieb.

5

Das ist das, was ich oben in Kap. 2 mit „typischer Individualitat" und „Reprasentanten typischer Erwartungen" gemeint habe.

14 Differenzierung, Individualisierung, Individualitat

1^

Denken wir uns zehn Menschen, von denenjeder zehn Bedurfnisse hat. Jeder muss sich also zur Befriedigung seiner Bedurfnisse zehn verschiedenen Beschdftigungen widmen. Da aber jeder verschieden begabt und geschickt ist, so wird einer das, der andere jenes schlechter machen. Jeder kann alles und macht alles und ist dennoch schlecht bedient. Nun bilden wir aus den zehn Menschen eine Gesellschaft und jeder widmet sich fur sich und fur die neun anderen derjenigen Beschdftigung, die ihm am besten liegt. Jean-Jacques Rousseau (1762) 6 14.3

Durkheim: Differenzierte Gesellschaften - Solidaritat der Individualitat

Kommen wir zum entwickelten Typ der Gesellschaft oder der „Organisation hoherer Gesellschaften" (»societes superieurs«), wie es Durkheim im Untertitel seines Buches ausdriickt. Die Beziehungen anderten sich, als sich zwei entscheidende Randbedingungen der Gesellschaft veranderten: Die Bevolkerung nahm zu, und es kam zu einer sozialen Verdichtung. Dadurch wurden die Kommunikations- und Verkehrswege zahlreicher und komplexer, aber es entstanden auch neue Bedurfnisse und neue Abhangigkeiten der Menschen untereinander. Wo viele Menschen auf einem begrenzten Territorium dauerhaft leben, kommt es unausweichlich zu einer Konkurrenz. „Zunehmende Dichte bedeutet steigenden Wettbewerb um Lebenschancen und damit Bedrohung der gesellschaftlichen Solidaritat. Um diese SoUdaritat zu erhalten, muss daher die Konkurrenz beschrankt werden." (Jonas 1968, Bd. IV, S. 42) Ein Mittel dieser Beschrankung sieht Durkheim in der Arbeitsteilung. Keiner tut mehr alles, sondem jeder erfullt eine bestimmte Aufgabe in einem bestimmten Ausschnitt des gesellschafthchen Ganzen. Arbeitsteilung bedeutet Differenzierung der Funktionon und VersachUchung der sozialen Beziehungen. Die Individuen sind nicht mehr nach Abstammung gruppiert, „sondem nach der besonderen Natur der sozialen Tatigkeit, der sie sich widmen. Ihr naturliches und notwendiges Milieu ist nicht mehr durch ihre Geburt bestimmt, sondem durch ihren Beruf." (Durkheim 1893, S. 238) Deshalb stehen in der Arbeitsteilung im Grunde auch „nicht Individuen einander gegentiber, sondem soziale Funktionen." (S. 478) 6

Jean-Jacques Rousseau (1762a): Emile oder Uber die Erziehung, S. 190

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Die Arbeitsteilung fuhrt zu einer scheinbar widerspriichlichen parallelen Entwicklung des Individuums: Es wird durch die Organisation der „hoheren Gesellschaft" immer mehr abhangig und gleichzeitig immer autonomer. (Durkheim 1893, S. 82) Letzteres hangt mit einer Konsequenz der Arbeitsteilung zusammen, der beruflichen Spezialisierung. „Tatsachlich hangt einerseits jeder um so enger von der Gesellschaft ab, je geteilter die Arbeit ist, und andrerseits ist die Tatigkeit eines jeden um so personlicher, je spezieller sie ist." (S. 183) Wie deshalb aus der Arbeitsteilung Individualitat erwachst, kann man schon bei JEANJACQUES ROUSSEAU nachlesen. Das dem Unterkapitel vorangestellte Zitat aus dem Erziehungsroman „Emile oder Uber die Erziehung" geht namlich weiter: „Dann zieht jeder aus den Talenten aller anderen den gleichen Nutzen, als ob er alle selbst hatte. Jeder vervollkommnet (Hervorhebung, H. A.) sein Talent durch dauemde tJbung, und so kommt es dahin, dass nicht nur alle zehn vollkommen versorgt sind, sondem auch noch Uberschuss fur andere haben." (Rousseau 1762a, S. 190) In einer arbeitsteiligen Gesellschaft sind die einzelnen Mitglieder nun nicht mehr gleich, sondem unterscheiden sich nach ihrtvn funktionalen Beitrag ftir das Ganze. Durch die Arbeitsteilung entstehen spezielle Funktionen, die wiederum spezielle Tatigkeiten verlangen. Berufliche Spezialisierung und Individualisierung werden nicht nur ermoglicht, sondem ausdriicklich honoriert, weil sie im funktionalen Interesse einer arbeitsteiligen Gesellschaft sind. Das aber heiBt: Individualitat wird zur Voraussetzung der Entwicklung der Gesellschaft. In der „Logik funktionaler Ausdifferenziemng" liegt der Imperativ: „Unterscheide dich vom anderen, so sehr du kannst!". (Muller 2000, S. 91) Naturlich geht es nicht um Unterscheidung um des Unterscheidens willen, sondem um die Unterscheidung durch besondere funktionale, bemfliche Leistungen. Just in diesem Spiel der Funktionen sieht Durkheim das Gefuhl der Individualitat wachsen: Die Arbeitsteilung fordert namlich das Bewusstsein, dass jeder auf jeden angewiesen ist, dass aber auch jeder ftir das Ganze eine Funktion hat. In der Summe erganzen sich alle Leistungen zum Erhalt des Lebens aller. Die Solidaritat, die sich aus der Arbeitsteilung ergibt, nennt Durkheim deshalb organische Solidaritat. Es ist eine Solidaritat der Individualitat. Mit wachsender Differenziemng lockem sich - so Durkheim - auch die gemeinsamen Anschauungen und Gefuhle der Mitgheder der Ge-

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sellschaft. Die Ansichten dariiber, was „man" tun soil, werden heterogener, d. h. individueller. Das konnte bedeuten, dass die sozialen Bande schwacher wurden. Dies ist aber nicht der Fall. Wahrend in traditionalen Gesellschaften die Mitglieder durch ein einheitliches Kollektivbewusstsein vor allem tiber Werte zusammengehalten wurden, fuhlen sie sich in der modemen arbeitsteiligen Gesellschaft vor allem iXbevfunkti' onale Regeln und sachliche Rollen miteinander verbunden. Sie wissen sich als Individuum mit besonderen funktionalen Leistungen gebraucht. Aus Durkheims Vorlesungen zur Soziologie der Moral hat Muller den Schluss gezogen, dass das „modeme Kollektivbewusstsein aus dem moralischen Individualismus besteht". (Muller 2000, S. 95) Die Moral besteht in dem Bewusstsein, dass jedes Individuum von jedem anderen abhangig und flir jedes andere funktional wichtig ist. Deshalb hat Durkheim die Solidaritat der Individualitat ja auch organische Solidaritat genannt. Individualitat und Solidaritat sind flir Durkheim keine Gegensatze, sondem bedingen sich gegenseitig: „Eben hierin besteht der moralische Wert der Arbeitsteilung. Durch sie wird sich der Mensch seiner Abhangigkeit gegentiber der Gesellschaft bewusst; ihr entstammen die Krafte, die ihn zuriickweisen und in Schranken halten. Mit einem Wort: Dadurch, dass die Arbeitsteilung zur Hauptquelle der sozialen Solidaritat wird, wird sie gleichzeitig zur Basis der moralischen Ordnung." (Durkheim 1893, S. 471) Der Padagogik erklart er es noch genauer: „In bezug auf die Erziehung tut man immer so, als ob die Moralbasis des Menschen aus Allgemeinheiten bestUnde. Wir haben gesehen, dass das nicht der Fall ist." (S. 472f., Anm. 3) Offensichtlich befurchtet Durkheim auch, dass dem menschlichen Egoismus kein Einhalt geboten wurde, wurde man nur auf abstrakte Werte hoch tiber unseren Kopfen setzen: „Man hangt an nichts Gro6em, wenn man kein enger umgrenztes Ziel hat, und kann sich folglich kaum tiber einen mehr oder weniger verfeinerten Egoismus erheben. Wer sich dagegen einer bestimmten Aufgabe widmet, wird jeden Augenblick durch tausende von Pflichten der Berufsmoral an das Geftihl der gemeinsamen Solidaritat erinnem." (Durkheim 1893, S. 472) Die Moral der modemen, arbeitsteiligen Gesellschaften ist eine Berufsmoral. Sie fordert die Individualisierung, aber sie begrenzt sie auch. Durkheim betont deshalb auch, „dass in den hoheren Gesellschaften die Pflicht nicht darin besteht, unsere Tatigkeit oberflachlich auszudehnen.

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sondem sie zu konzentrieren und zu spezialisieren. Wir miissen unsere Horizonte begrenzen, eine bestimmte Aufgabe wahlen und ihr uns ganz hingeben, statt aus unserem Wesen eine Art vollkommenes Kunstwerk zu machen, das seinen ganzen Wert aus sich selbst bezieht und nicht aus den Diensten, die es leistet." (Durkheim 1893, S. 471) Individualitat steht also in Spannung zu Diensten und funktionalen Leistungen fur die Gesellschaft! Deshalb gelte auch folgendes: Zwar miisse die „Spezialisierung um so weiter getrieben werden, je hoher die Gesellschaft ist", aber diese Regel „wird von der gegenlaufigen Regel begrenzt", wonach es nicht „gut ware, die Spezialisierung so weit wie moglich zu treiben, sondem nur, soweit es notig ist." (S. 472) Durkheim ordnet die Individualitat ganz klar der funktionalen Ordnung unter. Muss man deshalb die schon zitierte Feststellung, die Arbeitsteilung stelle nicht Individuen, sondem Funktionen gegenliber und die Gesellschaft sei nur an dem Spiel der letzteren interessiert, als Untergang des Individuums in seinen Rollen, gar als Entfremdung lesen? Durkheim tut dies offensichtlich nicht, denn er antwortet auf die rhetorische Frage, ob die Arbeitsteilung „nicht eine Vermindemng der individuellen Personlichkeit" (Durkheim 1893, S. 473) nach sich ziehe, mit dem schon zitierten Nachweis, dass in einer Gesellschaft ohne Arbeitsteilung von einer „ganzheitlichen" Personlichkeit (iberhaupt nicht die Rede sein konne, und mit einer interessanten Definition der Personlichkeit und der Individualisiemng des Menschen: „Die individuelle Personlichkeit ist weit davon entfemt, durch die Fortschritte der Spezialisiemng beeintrachtigt zu sein, sondem entwickelt sich nachgerade mit der Arbeitsteilung. Eine Person zu sein heiBt tatsachlich, eine autonome Quelle des Handelns darzustellen. Der Mensch erwirbt diese Eigenschaft somit nur in dem MaBe, in dem er etwas in sich hat, das ihm und nur ihm allein gehort und das ihn individualisiert, womit er mehr ist als eine einfache Verkorperung des Gattungstyps seiner Rasse und seiner Gmppe. Man wird sagen, dass er, was auch immer die Ursache dafur sein sollte, die Gabe der freien Entscheidung hat und dass das gentigt, um seine Personlichkeit zu begriinden." (S. 473f.) Das Bewusstsein dieser Individualisiemng kann sich nur entwickeln, wenn sich das Individuum von den oben zitierten moralischen „Allgemeinheiten" lost und „auch die Inhalte seines Bewusstseins (...) einen personlichen Charakter haben". (Durkheim 1893, S. 474) Dazu scheint es nach Durkheim keines besonderen AnstoBes zu bediirfen, sondem

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die Individualisierung erfolgt quasi automatisch: Aus der Tatsache, dass sich uns die kollektiven Vorstellungen, wie wir uns als Mitglied einer Gesellschaft zu sehen haben, „von auBen aufdrangen", und Institutionen regeln, was wir zu tun und zu lassen haben, folge namlich nicht, „dass wir sie passiv aufnehmen und sie etwa keiner Modifikation unterzogen. Indem wir die kollektiven Institutionen erfassen, sie uns assimilieren, individualisieren wir sie und verleihen ihnen mehr oder minder unsere personliche Marke." (Durkheim 1895, S. 100 Anm. **) Ergo: Mit der Arbeitsteilung und der funktionalen Spezialisierung wird das Individuum „immer mehr zum unabhangigen Faktor seines eigenen Verhaltens. Die Arbeitsteilung tragt ihrerseits zu dieser Befreiung bei, denn die individuellen Naturen werden, indem sie sich spezialisieren, komplexer und sind damit zum Teil der Kollektivwirkung (...) entzogen." (Durkheim 1893, S. 474) Als ich oben die Form des Kollektivbewusstseins in modemen, arbeitsteiligen Gesellschaften beschrieben habe, habe ich eingeschrankt, die Mitglieder fiihlten sich vor allem uher funktionale Regeln und sachliche Rollen miteinander verbunden. Naturlich gehoren zum KoUektivbewusstsein der Modeme auch generelle Vorstellungen von richtig und falsch, gut und bose. Es sind Werte und Normen, die uns im Prozess der Sozialisation vermittelt werden und die wir so griindlich intemalisiert haben, dass wir schlieBlich handeln wollen, wie wir handeln sollen. Das kann man als Begrenzung der Individualisierung betrachten. Das kann man aber auch als Chance verstehen, dass sie als solche iiberhaupt von den anderen erkannt und anerkannt wird!

14.4

Anomie: Das Individuum weiB nicht mehr, wer es ist

Durkheims tjberlegungen tiber die Individualitat des Menschen in einer modemen, arbeitsteiligen Gesellschaft waren nicht vollstandig, wurde man nicht seine Skepsis zur Kenntnis nehmen, die ihn zu einem bemerkenswerten Vorwort zur zweiten Auflage seines Buches tiber die Arbeitsteilung (Durkheim 1902) veranlasste. Zur Erinnerung: Durkheim ging davon aus, dass das doppelte Bewusstsein, von jedem abhangig und fUr jeden unabdingbar zu sein, auch das Engagement des Individuums fUr die Gesellschaft steigem werde. Diese „positive Interpretation des Zusammenhangs von Arbeitsteilung und Solidaritat" sieht MAT-

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THIAS JuNGE im Vorwoit von 1902 revidiert. (Junge 2002, S. 85) Arbeitsteilung scheine nun die gesellschaftliche Solidaritat zu gefahrden. Dieser Einwand trifft zum Teil - immerhin hat Durkheim am Text des Buches liber die Arbeitsteilung nichts verandert! - und auch nur Durkheims Theorie der Gesellschaft. Das Problem, das seine Theorie des Individuums tangiert, wird in diesem Vorwort nur indirekt angedeutet. Entwickelt wurde es schon friiher, und es betraf auch nicht mehr die Chance der Individualitat, sondem die Krise der Identitat. Das werde ich gleich behandeln. Gehen wir kurz auf die „Revision" des Zusammenhangs von Arbeitsteilung und Solidaritat ein. Durkheim furchtet in seinem Vorwort von 1902, dass eine Gesellschaft auseinanderfallt, wenn die Individuen kein gemeinsames Interesse mehr entwickeln. Das aber sei die Situation, dass gemeinschaftliche Beziehungen sich auflosten und die alten sozialen Strukturen, wie sie im Dorf oder der Stadt, im Distrikt und in der Provinz bestanden hatten, spontan zusammengebrochen seien. (Durkheim 1902, S. 70f.) Es ware auch toricht zu hoffen, der Staat konne eine Gesellschaft, „die aus einer Unmasse von unorganisierten Individuen zusammengesetzt ist", zusammenhalten; im iibrigen stehe er auch „viel zu weit von den Individuen entfemt" und sei deshalb auch nicht in der Lage, „in das Bewusstsein der Individuen einzudringen und dieses von innen her zu sozialisieren." (S. 71) Und der Ausweg aus der Krise? Durkheim halt einen solchen fur gangbar und Erfolg versprechend, der das Individuum indirekt iiber Gruppen sozialer Nahe an die Gesellschaft bindet: „Eine Nation kann sich nur dann erhalten, wenn sich zwischen dem Staat und den Biirgem eine ganze Reihe von sekundaren Gruppen schiebt, die den Individuen nahe genug sind, um sie in ihren Wirkungsradius einzufangen und damit im allgemeinen Strom des sozialen Lebens mitzureiBen." (Durkheim 1902, S. 71) Solche nahen Gruppen gemeinschafthcher Beziehungen sind die Berufsgruppen. Man kann sie sich als Korporationen vorstellen, in denen sich Individuen gleicher sozialer Lage und gleicher Interessen regelmaBig treffen, wo sie sich in einem typischen gemeinsamen Denken und Handeln aufgehoben flihlen und ihr Bewusstsein von sich selbst und gegeniiber der Gesellschaft finden. Die von Junge so bezeichnete Revision andert im Grunde also nichts an der Erklarung, wie das Bewusstsein der Individualitat in einer arbeitsteiligen Gesellschaft funktioniert. Im Gegenteil, sie setzt den

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Rahmen, in dem das Individuum seine Individualitat findet und definieren soil, ausdriicklich voraus: den Beruf. Die neue Sicht auf das Individuum wird denn auch nur indirekt angesprochen, wenn Durkheim den Begriff der „gro6en Industrie" (Durkheim 1902, S. 64) verwendet. Kommen wir also auf diese andere Sicht zu sprechen, die - wie gesagt - nicht so sehr das Problem der Individualitat, sondem der Identitat des Menschen in der Modeme betrifft. Diese Sicht hatte Durkheim schon in seiner groBen empirischen Studie iiber den „Selbstmord" (Durkheim 1897) eingenommen. Diese Studie war zu dem Ergebnis gekommen, dass Selbstmorde ganz entscheidend von gesellschaftlichen Bedingungen abhangen und dann besonders haufig vorkommen, wenn die kollektiven Werte und Normen ins Rutschen geraten. Diesen gesellschaftlichen Zustand, in dem Normen und Regeln fragwiirdig werden oder gar zusammenbrechen, nennt Durkheim Anomie. Er weist empirisch nach, dass es unterschiedliche Grtinde flir einen Selbstmord gibt. Den Selbstmord, den Menschen begehen, die ihre sozialen MaBstabe verloren haben, deren „Handeln regellos" wird und die „darunter leiden", nennt Durkheim „anomischen Selbstmord". (Durkheim 1897, S. 296) Den anomischen Selbstmord gibt es in Zeiten gesellschaftlicher Krisen, aber paradoxerweise auch in Zeiten des Wohlstandes. Auf diese kritische Situation hebt Durkheim vor allem ab. In Zeiten, wo Menschen plotzlich zu Wohlstand gelangen, wachst auch die Gefahr, dass die Ordnung der Bediirfnisse und der Mittel, sie zu befriedigen, durcheinandergerat. „Man weiB nicht mehr, was moglich ist und was nicht, was noch und was nicht mehr angemessen erscheint, welche Anspriiche und Erwartungen erlaubt sind und welche iiber das Ma6 hinausgehen. Es gibt dann nichts mehr, worauf man nicht Anspruch erhebt." (Durkheim 1897, S.288) Ein solcher Zustand der Anomie wiirde die Selbstmordrate natUrlich nur temporar beeinflussen und keine konstante Rolle spielen. Doch fiir Durkheim gibt es „eine Sphare des gesellschaftlichen Lebens, wo er tatsachlich eine Art Dauerzustand ist, namlich in der Welt des Handels und der Industrie." (Durkheim 1897, S. 290) Seit langem gelte die „industrielle Prosperitat (...) als einziges und Hauptziel flir alle Volker", und die Industrie sei auch „das erhabenste Ziel des einzelnen" geworden. Es gebe auch keine moralischen Maximen mehr, die dem „Dogma vom wirtschaftlichen Materialismus", das im Grunde konservative

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Wirtschaftslehrer wie extreme Sozialisten vertraten, uberhaupt noch Einhalt gebieten konnten. Die Folge seien eine koUektive „Vergotzung des Wohlstandes" und eine „Entfesselung der Begierden". (alle Zitate Durkheim 1897, S. 292) Diese Situation sei durch die „fast unendliche Ausdehnung des Absatzmarktes" (ebd.), hier hat Durkheim die aggressive WeltwirtschaftspoUtik im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts vor Augen, an der Frankreich so gut wie England, Deutschland und die USA beteiUgt waren, noch verscharft worden. Jetzt kann der Produzent erwarten, die ganze Welt zum Kunden zu haben, und umgekehrt dehnt der Kunde den Horizont moglicher Bediirfnisse immer weiter aus, „Fieberhafte Betriebsamkeit" und „erhitzte Phantasie", was moglich sein konnte, steigem sich wechselseitig. Auf diese Weise „ist Krise und Anomie zum Dauerzustand und sozusagen normal geworden". (vgl. Durkheim 1897, S. 292) Worin besteht sie genau? OffensichtUch darin, dass die Individuen nirgendwo mehr feststehen, sondem fortgerissen werden von Begierden, die immer wieder neu von auBen entfacht werden. Etwas salopp konnte man es so sagen: Das Individuum weiB nicht mehr, wer es ist, aber es weiB, dass es mitmachen muss. Durkheim beschreibt die koUektive moralische Verfassung seiner Zeit mit folgenden Worten: „Es ist da ein Hunger nach neuen Dingen, nach unbekannten Genlissen, nach Freuden ohne Namen, die aber sofort ihren Geschmack verlieren, sobald man sie kennenlemt. Wenn dann der kleinste Rlickschlag kommt, hat man keine Kraft, ihn auszuhalten. Das Fieber fallt und man erkennt, wie steril dieses ganze Durcheinander war und wie alle diese unendlich iibereinandergehauften neuen Sensationen keine solide Grundlage fur ein Gliick bilden konnen, von dem man in den Tagen der Prtifung zehren konnte. (...) Wenn man gar kein anderes Ziel hat, als nur immer (iber den Punkt hinauszukommen, den man erreicht hat, wie schmerzhaft ist es dann, zurtickgeworfen zu werden!" (S. 293f.) Man ist geneigt, sich das Jahr der Veroffentlichung dieser Studie genauer anzusehen, so modem kommt einem die Analyse vor! Was Durkheim seinerzeit angesprochen hat, scheint mir eine sehr genaue Erklarung fiir die Krise der Identitat in unserer jetzigen Moderne zu sein, soweit sie die Unterwerfung unter das Diktat des Konsums und des richtigen Lebensstils betrifft. Darauf komme ich bei der soziologischen Diskussion iiber Identitat zuruck.7 7

Siehe vor allem Kap. 29.6 „Sennett: Die Korrosion des Charakters".

15

Zweckrationalitat, innere Vereinsamung, Stilisierung des Lebens

15.1

Weber: Zweckrationalitat und innere Vereinsamung der Individuen Klassenlage ist Marktlage: Gesellschaftliche Interessen Standische Lage: Gemeinschaftliche Gefuhle und Ehre Stilisierung des Lebens

15.2 15.3 15.4

hatte in seiner Studie iiber die „Protestantische Ethik und den Geist des Kapitalismus" (1904/05), die ich oben referiert habe, gezeigt, dass ein spezifisches Berufsethos, in dem zweckrationales Denken, die Pflicht zu individuellem Erfolg und eine hohe Selbstkontrolle eine feste Verbindung eingehen, nicht nur die wirtschaftliche Entwicklung in Westeuropa und den Vereinigten Staaten angetrieben und im Kapitalismus ihre spezifische Form gefunden hat, sondem auch eine neue Reflexion des Menschen iiber sich selbst in Gang gesetzt hat. M A X WEBER

15.1

Weber: Zweckrationalitat und innere Vereinsamung der Individuen

Auf dem Markt zahlt nur der individuelle Erfolg, und die Individuen gehen im Prinzip als Konkurrenten um Marktchancen miteinander um. Doch am Ende beherrscht dieses Prinzip der Zweckrationalitat nicht nur die Wirtschaft, sondem auch die gesellschaftlichen Institutionen und die menschlichen Beziehungen in diesen Institutionen. Sie funktionieren ohne Ansehen der Person und nach sachlichen Regeln. Die reinste Form dieser gesellschaftlichen Beziehungen finden wir in der Burokratie. Die Sorge, die Weber mit Blick auf die entsprechende Zukunft umtrieb, ist bekannt. Eine so verrechtlichte Gesellschaft droht zum „Gehause (der) Horigkeit" zu werden. (Weber 1918, S. 332) Wir werden zu Marionetten, die sich an den Faden bewegen, die die Gesellschaft zieht. Das nachlutherische protestantische Berufsethos hat den Menschen als Individuum definiert - auf sich gestellt und gezwungen, sich in al-

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15 Zweckrationalitat, innere Vereinsamung, Stilisierung des Lebens

lem im Prinzip so zu verhalten, wie es dieses Wirtschaftssystem verlangt: zweckrational, frei von Gefuhlen, individuell erfolgreich. Ohne Rucksicht auf individuelle Wunsche und Fahigkeiten, ohne Bezug zu Sinnfragen oder soziale Bediirfnisse gilt in der Gesellschaft dieser Modeme nur der Sachzwang. Deshalb sei, so Weber in einem Vortrag ein Jahr vor seinem Tod, auch das Schicksal seiner Zeit „niit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zuriickgetreten sind aus der Offentlichkeit." (Weber 1919, S. 510) Was daraus folgte, liegt auf der Hand: die „innere Vereinsamung des einzelnen Individuums'\ (Weber 1904/05b, S. 93) Und aus der unaufhaltsamen Rationalisierung der Modeme folgt fur Weber ein zweites: Die vollkommene Burokratisierung der Welt macht uns zu „Fellachen", die in ein stahlhartes „Gehause der Horigkeit" gesperrt sind. (vgl. Weber 1918, S. 332; 1904/05a, S. 224)i Ich fasse diese Analyse zusammen. Die westliche Modeme ist von einer spezifischen Zweckrationalitat bestimmt, die auch die sozialen Beziehungen durchdringt. Frei von Affekten, ohne Anspruch auf Sinnerfullung und zur Not auch ohne Rucksicht auf andere sucht das Individuum die geeignetsten Mittel aus, um zum eigenen Erfolg zu kommen. Diese Zweckrationalitat feiert ihre groBten Triumphe im wirtschaftlichen Handeln, aber sie greift auf alle Bereiche des Lebens tiber. Dieses „Verhangnis", wie Weber es nennt, ist nicht mehr aufzuhalten. Die Konsequenzen liegen auf der Hand. Diese Rationalitat der Modeme „entzaubert" die Welt und hinterlasst ein groBes geistiges Vakuum. „Es gibt keine uberlegene Wahrheit mehr." (Brodersen u. Dammann 2002, S. 7) Die Individuen beginnen nach letzten Orientierungen und nach Gemeinschaften zu suchen, in denen Konsens liber solche Orientierungen besteht. Der zweckrationale Umgang vemnsichert und enttauscht Fjodor M. Dostojewski, auf den sich so viele kritische Beobachter der industriellen Moderne bezogen haben, hatte schon frtih gegen den Glauben an eine perfekte Planung des Lebens und aller Verhaltnisse, wie sie dem 19. Jh. zum Beispiel von dem utopischen Sozialisten Charles Fourier (1772-1837) versprochen und durch den Kjistallpalast auf der Londoner Weltausstellung (1851), wo sich das technische Zeitalter feierte, scheinbar verwirklicht wurde, polemisiert. Mit dieser Planung und Rationalitat (Vernunft) bis ins Letzte hore die Freiheit des Menschen auf Deshalb mtisse dieser Vernunft auch widersprochen werden, um „das Hauptsachlichste und Teuerste" zu erhalten: „unsere Individualitat". (vgl. Dostojewski (1864): Aufzeichnungen aus dem Untergrund, S. 461)

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Zweckrationalitat, innere Vereinsamung, Stilisierung des Lebens

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die Individuen. Deshalb suchen sie nach personlichen Bindungen an Personen und Gruppen, mit denen man auf der Basis von Vertrauen, Einverstandnis und Nicht-Konkurrenz verkehren kann. In dieser Zeit taucht der Wunsch nach Gemeinschaft auf. Es ist auch eine Suche nach sozialer Nahe und gefiihlsmaBigem Einverstandnis.

15.2

Klassenlage ist Marktlage: Gesellschaftliche Interessen

Hier kommt nun die verhalten konstruktive Sicht Webers, der sehr wohl sah, dass der Geist des Kapitalismus nicht nur die Individuen in die innere Vereinsamung trieb, sondem auch die Gesellschaft auseinandertrieb, ins Spiel. Weber kannte auch die Vision, die KARL MARX mit seiner These vom Klassenkampf in die Welt gesetzt hatte. Danach wiirden sich die in das Joch entfremdeter Arbeit eingespannten Klassen ihrer wahren Interessen bewusst werden und die Verhaltnisse in einem revolutionaren Akt zum Tanzen bringen. Gegen diese Klassentheorie, die die soziale Lage ausschlieBlich aus der Verfiigung bzw. Nicht-Verfligung liber die Produktionsmittel erklart und behauptet, dass das Bewusstsein der Individuen durch dieses Sein bestimmt ist (vgl. Marx 1859, S. 8f.), setzt Weber eine Theorie, die diese Verbindung trennt und zwischen Klassenlage und stdndischer Lage unterscheidet. In der ersten Hinsicht stehen die Individuen zueinander in einer gesellschaftlichen, in der zweiten in einer gemeinschaftlichen Beziehung zueinander. Damit ist eine grundsatzliche Unterscheidung der sozialen Einbindung des Individuums angesprochen, namlich die Unterscheidung von Vergemeinschaftung und Vergesellschaftung. Weber nennt eine soziale Beziehung dann »Vergemeinschaftung«, „wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns (...) auf subjektiv gefiihlter (affektueller Oder traditionaler) Zusammengehorigkeit der Beteiligten beruht. »Vergesellschaftung« soil eine soziale Beziehung heiBen, wenn und soweit die Einstellung des sozialen Handelns auf rational (wert- oder zweckrational) motiviertem Interessenaw^g/^/c/z oder auf ebenso motivierter InitXQ^stwverbindung beruht." (Weber 1922, S. 21) Eine typische gesellschaftliche Beziehung ist der Tausch auf dem Markt oder der Zweckverein; eine typische gemeinschaftliche Beziehung ist die Familie. Diese Unterscheidung ist naturlich nicht in einem ausschlieBenden

202

15 Zweckrationalitat, innere Vereinsamung, Stilisierung des Lebens

Sinne zu verstehen, denn „die groBe Mehrzahl sozialer Beziehungen (...) hat teils den Charakter der Vergemeinschaftung, teils den der Vergesellschaftung." (Weber 1922, S. 22) Nehmen wir diese reine, idealtypische Trennung zunachst einmal an und schauen, wie Weber Klassenlage und standische Lage bestimmt. Er schreibt: „Wir wollen da von einer »Klasse« reden, wo 1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifische ursachUche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit 2. diese Komponente ledigHch durch okonomische Guterbesitz- und Erwerbsinteressen und zwar 3. unter den Bedingungen des (Giiter- oder Arbeits-) Markts dargestellt wird (»Klassenlage«)." (Weber 1922, S. 632) Es gibt also eine „gemeinsame Bedingung des Schicksals der Einzelnen", die die »Klassenlage« ausmacht, „die Art der Chance auf dem Markf\ und deshalb konstatiert Weber auch: „»Klassenlage« ist in diesem Sinne letztlich: »Marktlage«." (ebd.) Es sind also „eindeutig okonomische Interessen, (...) welche die »Klasse« schaffen." (S. 633) Auf dem Markt wird das Individuum zunachst uber seine Interessen definiert, beansprucht und zugelassen. Und so muss es sich zunachst und vor allem auch selbst definieren. Wie Marx ist sich auch Weber dariiber im Klaren, dass Marktverhaltnisse immer auch Machtverhaltnisse sind. Doch anders als Marx sieht Weber aus der Interessenlage, die daraus entsteht, nicht notwendig den Kampf gegen die Spielregeln des Marktes folgen, sondem stellt empirisch eine Anerkennung der Spielregeln fest. (vgl. Kreckel 1992, S. 60) Indem sich die Arbeiterschaft rational „vergesellschaftet", indem sie sich z. B. in Gewerkschaften zusammentut, verhalt sie sich marktgerecht und wahrt ihre Chancen. Sie folgt ebenso wie die Kapitalisten zweckrationalen Prinzipien, allerdings ganz anderen Interessen!

15,3

Standische Lage: Gemeinschaftliche Gefuhle und Ehre

„Das gesellschaftliche Leben", hat der Ungleichheitsforscher REINeinmal geschrieben, lasst sich „fur Weber niemals nur auf rationale Gesichtspunkte reduzieren", und deshalb kann auch die Gliederung der Gesellschaft „nicht allein auf Marktungleichgewichte zuruckgefuhrt werden". (Kreckel 1992, S. 60) Neben der Marktlage wirkt ein stdndisches Prinzip.

HARD KRECKEL

15

Zweckrationalitat, innere Vereinsamung, Stilisierung des Lebens

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Vor dem Hintergrund der eben getroffenen Unterscheidung zwischen gesellschaftlichen (um die es gerade auf dem Markt ging) und gemeinschaftlichen Beziehungen definiert Weber Stande nun so: „Stdnde sind, im Gegensatz zu den Klassen, normalerweise Gemeinschaften, wenn auch oft solche von amorpher Art. Im Gegensatz zur rein okonomisch bestimmten »Klassenlage« wollen wir als »standische Lage« bezeichnen jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschatzung der »Ehre« bedingt ist, die sich an irgend eine gemeinsame Eigenschaft vieler kniipft. Diese Ehre kann (...), aber (...) muss nicht notwendig an eine »Klassenlage« ankniipfen, sie steht normalerweise vielmehr mit den Pratensionen (Anspriichen, H. A.) des nackten Besitzes als solchem in schroffem Widerspruch. Auch Besitzende und Besitzlose konnen dem gleichen Stande angehoren und tun dies haufig und mit sehr fuhlbaren Konsequenzen, so prekar diese »Gleichheit« der sozialen Einschatzung auf die Dauer auch werden mag." (Weber 1922, S.635) Als ein Beispiel dieser standischen Gleichheit von Besitzenden und Besitzlosen fuhrt Weber den Chef im amerikanischen Betrieb an, der sich abends zum Billard mit seinen Angestellten trifft und dort selbstverstandlich als Gleicher unter Ebenbiirtigen auftreten muss. Ein anderes Beispiel ware die Schreibwerkstatt oder auch die immerwahrende Initiative zur Rettung der Moorpfade im Emsland, liber die sich Menschen jenseits von Klasse und Besitz zumindest in einem Teil ihres Lebens definieren. Normalerweise ist es aber so, dass Stande sich durch Ahnlichkeit in alien oder wenigstens den meisten Bedingungen und Eigenschaften auszeichnen, die das Lebensschicksal bestimmen. Die Einschatzung dieses Bundels von Merkmalen der standischen Lage macht, wie gesagt, die Ehre aus. Damit kommt Weber zu einer interessanten sozialen Abgrenzung. Die standische Ehre findet ihren Ausdruck namlich „normalerweise vor allem in der Zumutung einer spezifisch gearteten LebensfUhrung an jeden, der dem Kreise angehoren will." (Weber 1922, S. 635) In dieser Formulierung wird deutlich, dass es im Stand um gemeinschaftliche Beziehungen geht. Wer dazu gehoren will, muss sich alien anderen innerlich verbunden fuhlen und das auch nach auBen zum Ausdruck bringen. Die Individuen sind sich ihrer sozial gebundenen Individualitat bewusst: konform gegeniiber bestimmten anderen und distanziert gegeniiber diffusen anderen.

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15 Zweckrationalitat, innere Vereinsamung, Stilisierung des Lebens

In der Sprache der Gruppensoziologie wurden wir von einem „WirGefiihl" sprechen, das auf der einen Seite sicherstellt, dass man das StandesgemaBe beachtet, und auf der anderen Seite die Distanz zu denen wahrt, die eben nicht standesgemaB sind. Weber, der durchaus noch die deutliche soziale Abstufung Ende des 19. Jahrhunderts kannte und sich selbst einer bildungsbiirgerlichen Elite zurechnen lieB, hat die Situation des Burgertums vor Augen, das sich seine soziale Stellung zwischen dem Adel, den Handwerkem und den Proletariem erkampft hatte. Dort wurde individuelle Leistung hoch geschatzt, aber eben auch Konformitat einer standesgemaBen Lebensfuhrung. Nach innen war man sich seiner Individualitat bewusst und nach auBen wurde gezeigt, dass man den sozialen Erwartungen an die zugeschriebene Plazierung auch gerecht wurde. Dazu gehorte auch, dass man in „geordneten Familienverhaltnissen" lebte, in den „richtigen Kreisen" verkehrte und „auf Abstand hielt". Weber bringt dieses Spiel zwischen Inklusion und Exklusion damit zum Ausdruck, dass er noch Kleidervorschriften bei der Abgrenzung und das sog. Konnubium, also die StandesgemaBe Heirat, bei der Eingrenzung erwahnt. Auch heute diirfte es so sein, dass man in bestimmten Kreisen verkehrt oder sich gegenseitig nachweist, dass man dazu gehort. 15.4

Stilisierung des Lebens

Stande sind immer Trager spezifischer Konventionen, und indem sie an ihnen festhalten, sorgen sie fiir eine »Stilisierung« des Lebens, (Weber 1922, S. 637) Individualitat steht unter sozialer Kontrolle. Lassen wir die zeitgebundene Konnotation des Begriffs des Standes einmal beiseite, dann bedeutet Stilisierung praktisch die Demonstration der Zugehorigkeit zu einer mehr oder weniger klar abgegrenzten Gruppe. Individualitat kann dann als typische Reaktion auf feste soziale Erwartungen verstanden werden. Den Zwang, der damit verbunden ist, haben wir schon in der mittelalterlichen typischen Reprasentanz kennengelemt! Wir werden dieser Rahmung der Individualitat spater in DAVID RIESMANS These von der AuBenleitung2 und gleich in PIERRE BOURDIEUS These vom klassentypischen Verhalten wiederbegegnen. Kap. 22.3 „AuBenleitung: offen und immer im Trend" und Kap. 22.4 , J^estchancen fiir Identitat oder paradoxe Formen einer neuen Innenleitung?".

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Zweckrationalitat, innere Vereinsamung, Stilisierung des Lebens

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Kommen wir zuriick auf Webers Sicht auf die standische Gliederung der Gesellschaft um die Wende des 19. Jahrhunderts, eine Sicht, die auch von einer konservativen Hoffnung gepragt war. Weber schreibt, dass die Menschen eines Standes aufgrund ihrer Lebensfiihrung, insbesondere durch die Art des Berufs, eine besondere Wertschdtzung erfahren. (vgl. Weber 1922, S. 180) Sie ist gemeint, wenn Weber von sozialer Ehre oder Prestige spricht. (vgl. S. 631) Wahrend Klassen ihre eigentliche Heimat in der »Wirtschaftsordnung« haben, haben Stande sie in der »sozialen Ordnung«, in der Sphare der Verteilung der Ehre. (vgl. S. 639) Insofem stehen sie auch in einem gewissen Gegensatz zum Markt, der ja ohne „Ansehen der Person", rein nach sachlichen Interessen funktioniert. Der Markt „wei6 nichts von Ehre". (S. 638) Die von Kreckel so bezeichnete hemmende Wirkung des standischen GefUhls auf die totale Rationalisierung der okonomischen Existenz besteht nicht zuletzt darin, dass sich die Individuen in ihrer Individualitat einem geglaubten Rahmen zurechnen, der gegenstrukturell, das heiBt diffusaffektiv und eben nicht sachlich-rational organisiert ist!3 Ganz unsoziologisch: Die Individualitat, die iiber die standische Stilisierung des Lebens erfahren und gezeigt wird, tut gut, weil man sich zu Hause ftihlt. Mit Blick auf die okonomische Fundierung des Lebens (schliefilich ist auch eine standische Lebensfiihrung okonomisch mitbedingt!) muss man noch einen anderen Unterschied zwischen den gesellschaftlichen Beziehungen in der Wirtschaftsordnung und den gemeinschaftlichen in der sozialen Ordnung hervorheben: Wahrend Klassen „sich nach den Beziehungen zur Produktion und zum Erwerb der Giiter" unterscheiden, gliedem sich Stande „nach den Prinzipien des GviiQvkonsums in Gestalt spezifischer Arten von »Lebensfuhrung«." (Weber 1922, S. 639, kursive Hervorhebungen H. A.) So ist ein typischer Zug gerade in den „h6chstprivilegierten Schichten", dass „gewohnliche physische Arbeit" disqualifiziert wird, und die „Gliederung nach »Ehre« und standischer Lebensfiihrung" ftihlt sich „in der Wurzel bedroht, wenn der bloBe okonomische Erwerb und die bloBe, nackte, ihren auBerstandischen Ursprung noch an der Stim tragende, rein okonomische Macht" soziales Ansehen verleiht. (Weber Talcott Parsons hat diese Differenzierung („affektiv" - „neutrar') als eine Orientierungsalternative („pattern variable") des Handelns genannt. (Vgl. Parsons 1951, S. 58-67; fur eine schnelle Ubersicht Abels 2004, Bd. 2, Kap. 4.3 ,JParsons: Alternative Wertorientierungen des Handelns".)

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15 Zweckrationalitat, innere Vereinsamung, Stilisierung des Lebens

1922, S. 638) Das fuhrt auch zu der immer wieder zu beobachtenden Ausgrenzung des sozialen Aufsteigers. In den Worten Webers klingt das so: „Die standisch privilegierten Gruppen akzeptierten eben deshalb den »Parvenu« niemals personlich wirklich vorbehaltlos - mag seine Lebensfiihrung sich der ihrigen noch so voUig angepasst haben - , sondem erst seine Nachfahren, welche in den Standeskonventionen ihrer Schicht erzogen sind und die standische Ehre nie durch eigene Erwerbsarbeit befleckt haben." (ebd.) Zur standesgemaBen Lebensfiihrung zahlt Weber ausdrlicklich die „formale Erziehungsweise", also wohl Ausbildung, entsprechende Lebensformen, „Abstanimungsprestige oder Berufsprestige" und „standische Konventionen". (Weber 1922, S. 179f.) Mit dem Begriff der Lebensfiihrung kommt eine subjektive Komponente in die Erklarung einer geschichteten Gesellschaft hinein. Durch eine standesgemaBe Lebensfiihrung vergewissem sich und erkennen sich die Individuen gegenseitig an, dass sie zu Recht dazugehoren, und den anderen geben sie zu erkennen, wo ihre Grenzen sind. Nach innen stabiKsiert sich so iiber gemeinschafthche Beziehungen eine soziale Ordnung, in der man mit entsprechender intemer Wertschatzung rechnen kann. Nach dieser Theorie sind sich die Individuen ihrer sozial gebundenen IndividuaUtat bewusst, und sie bringen dieses Bewusstsein durch eine standesgemdfie StiUsierung ihres Lebens zum Ausdruck. Die standische Lebensfiihrung ist gewissermaBen das Gegenprinzip zur FunktionaUtat des Berufes. Sie ist von Gefiihl, Tradition und einer typischen Ehre getragen. Das Bewusstsein der IndividuaUtat wird immer wieder bestatigt durch die unbewusste Verdoppelung des Verhaltens der anderen in sozialer Nahe und durch die genaue Beobachtung und Ablehnung des Verhaltens der vielen anderen in sozialer Feme. Dieses Prinzip der sozialen SchlieBung und Distanzierung steht im Mittelpunkt einer hochst aktuellen Theorie der Demonstration von IndividuaUtat, der Theorie von PIERRE BOURDIEU iiber „Die feinen Unterschiede" (1979). Es ist eine Theorie der leichten und reflektierten, der bemiihten und verbissenen und der unbekiimmerten Stilisierung des Lebens.

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Geschmack und Lebensstil und feine Unterschiede

16.1 16.2

Okonomisches, kulturelles und soziales Kapital Bourdieu: Sozialer Raum und Habitus, Lebensstil und Geschmack Distinktion: Distanz zur Notwendigkeit Im bewahrten Rahmen: Pratention und Abgrenzung in der Masse Doxa: Die Dinge sind, wie sie sind Der Sinn ftir den Platz in der Gesellschaft

16.3 16.4 16.5 16.6

Das Buch „Die feinen Unterschiede" (1979) des franzosischen Soziologen PIERRE BouRDffiU (1930-2002), das in kiirzester Zeit die soziologische Diskussion weltweit fiir sich einnahm, ist ein Buch iiber eine real existierende Klassengesellschaft, die es aber nicht einseitig mit der Verfugung oder Nichtverfugung iiber die Produktionsmittel - wie etwa KARL MARX - oder iiber die Marktlage - wie etwa M A X WEBER - erklarte, sondem iiber „die Wechselbeziehungen zweier Raume - dem der okonomisch-sozialen Bedingungen und dem der Lebensstile". (Bourdieu 1982, S. llf.) Der Lebensstil bringt einen bestimmten Geschmack zum Ausdruck, und nach diesem Geschmack vor allem kann man die groben Grenzen und die feinen Unterschiede zwischen Klassen in der modemen Gesellschaft nachzeichnen. Diese These setzte sich auch deshalb rasch in den Kopfen der Soziologen, die aus der Kritik an den gesellschaftlichen Verhaltnissen heraus etwas andem woUten, aber auch vieler, die genau das nicht wollten, fest, weil sie mit einer Unzahl von empirischen Belegen daherkam. Auf den mehr als 900 Seiten der „feinen Unterschiede" fehlt nichts, was man nicht schon immer gem iiber „die anderen" wissen wollte, aber auch nichts, was man sich in seinem Traum iiber die Wiirde der eigenen Individualitat nicht ganz so geme eingesteht. Man kann diese empirische Studie auch als eine implizite Geschichte der Klassifizierung des Individuums durch seine konkreten Lebensverhaltnisse lesen. So werde ich das im folgenden tun und stelle die These auf, dass Bourdieu in „den feinen Unterschieden" die Uberfor-

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16 Geschmack und Lebensstil und feine Unterschiede

mung der Individualitat durch klassenspezifische Welterklarungen, das ist der Sozialisationaspekt, und durch ebenso klassenspezifische Handlungsformen, das ist der Handlungsaspekt, beschrieben hat. Was ist Bourdieus Grundannahme? Er sagt, dass die okonomische Lage und die Stellung im Beruf zwar wichtige Indikatoren fiir die Plazierung in einer sozialen Klasse sind, doch die wesenthche Unterscheidung der Klassen besteht in der Verfugung iiber drei Kapitalsorten und durch Unterschiede in Geschmack und Lebensstil. Die Klasse selbst versteht Bourdieu als sozialen Raum, in dem spezifische Dispositionen des Denkens und Handelns wirken. Die klassenspezifische Disposition, die gewissermaBen eine unbewusste Theorie der Praxis ist, wird als Habitus^ bezeichnet. Mit KARL MARX teilt Bourdieu die Uberzeugung, dass okonomisches Kapital ein wichtiges Merkmal zur Bestimmung von Klassen ist, und er nimmt auch an, dass es typische Formen des Denkens und Handelns in jeder Klasse gibt. Doch, wie gesagt, halt Bourdieu die Verfugung iiber die Produktionsmittel nicht fiir das alleinige Kriterium zur Unterscheidung der Klassen, und er sieht auch nicht den antagonistischen Gegensatz, in dem sich Klassen unversohnlich gegeniiberstiinden. Ich will es so verkiirzen: Die Klassen im Bourdieuschen Modell zeichnen sich durch objektive okonomische, kulturelle und soziale Unterschiede aus, die typische Vorstellungen generieren, was sich in ihren Kxeisen geziemt und wie Individualitat zum Ausdruck kommen sollte. Die Klassen bleiben unter sich, das Individuum wird, ohne dass es das merkt, von seiner Klasse bestimmt. An M A X WEBERS Unterscheidung von Klasse und Stand interessiert Bourdieu die „kulturell-symbolische Dimension" (Schwingel 1995, S. 101), die in der spezifischen, stdndischen LebensfUhrung zum Ausdruck kommt. Damit kommt gewissermaBen das Individuum zum sprechen, aber - so muss man Bourdieus Analyse lesen - es spricht in klassenspezifischer Weise. Es meint, frei zu handeln, aber der Habitus generiert immer aufs Neue bestimmte Muster. Insofem kann man Bourdieus Buch als eine Erklarung fiir das soziale Bewusstsein lesen, das die Individuen von sich haben, und als Schil-

1

Diesen Begriff werde ich gleich erklaren. Vielleicht lesen Sie aber zur Einstimmung noch einmal nach, was ich oben in Kap. 1, Anm. 4 dazu geschrieben habe.

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Geschmack und Lebensstil und feine Unterschiede

209

derung sozial gerahmter Individualitdt, Eine wesentliche stmkturelle Bedingung dieser Rahmung ist die Verfugung uber drei Kapitalsorten.

16.1

Okonomisches, kulturelles und soziales Kapital

Die erste Kapitalsorte nennt Bourdieu okonomisches Kapital, und damit sind vor allem Geld und Eigentum gemeint. Obwohl dieses Kapital nach wie vor fur die Differenzierung nach Klassen wichtig ist, ist ein anderes ftir gesellschaftliche Differenzierung und das Bewusstsein der Individuen von sich selbst und gegeniiber der Gesellschaft entscheidender, das kulturelle Kapital. Das kulturelle Kapital besteht in Wissen und Qualifikationen, aber auch in Handlungsformen und Einstellungen, die in der Familie und im Ausbildungssystem erworben wurden. Die „amtlich beglaubigte Form des kulturellen Kapitals" nennt Bourdieu Bildungskapital. (Bourdieu 1979, S. 449) Das Gewicht des kulturellen Kapitals hangt davon ab, wie man es sich angeeignet hat (Inkorporation), wie man es zum Ausdruck bringt (Objektivation) und wie es in Bildungstiteln festgestellt ist (Institutionalisierung). Die Art, wie man sein kulturelles Kapital erworben hat, ist fur die Unterscheidung und die Abgrenzung zwischen den Klassen ganz wichtig. Es macht namlich einen erheblichen Unterschied, ob man seine kulturelle Kompetenz schon von Kind auf oder erst spat uber die Schule und nach einem miihevollen sozialen Aufstieg erworben hat. Der Wert des kulturellen Kapitals hangt also von der sozialen Laufbahn ab, auf der es inkorporiert wurde. Ich komme darauf zuriick. Das kulturelle Kapital differenziert die Klassen und es entscheidet uber die Plazierung des Individuums in seiner Klasse. Kommen wir zur dritten Kapitalsorte, die Bourdieu soziales Kapital nennt. Darunter kann man im weitesten Sinne die sozialen Beziehungen, Uber die man verfugt, verstehen. Es ist bezogen auf eine bestimmte Gruppe oder ein Beziehungsnetz, in denen dieses soziale Kapital eine symbolische Bedeutung hat. Natiirlich fallt einem ein gewisses soziales Kapital zunachst in den SchoB: Seine Familie, Verwandtschaft, Nachbarschaft und Arbeitskollegen hat man nun mal. Um das Kapital zu halten, es gut zu nutzen und zu vergroBem, muss aber Institutionalisierungsarbeit geleistet werden: „Anders ausgedriickt, das Beziehungsnetz ist das Produkt individueller oder kollektiver Investitionsstrategien, die

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16 Geschmack und Lebensstil und feine Unterschiede

bewusst Oder unbewusst auf die Schaffung und Erhaltung von Sozialbeziehungen gerichtet sind, die friiher oder spater einen unmittelbaren Nutzen versprechen." (Bourdieu 1983a, S. 192) Lassen wir diesen instmmentellen Aspekt einmal beiseite, dann wird an den sozialen Beziehungen etwas anderes deutlich: Uber sie erfahrt das Individuum, wie „man" in seinen Kreisen denkt und handelt, und so wird es sozialisiert. Es lemt auch die Muster der Individualitat und die typischen sozialen Erwartungen an eine „normale" Identitat. Durch sein Handeln stabilisiert das Individuum seine soziale Identitat oder sucht ihr systematisch eine neue Kontur zu geben. Doch diese Geschichte schreibt es nicht aus freien Stiicken, sondem aus einer typischen sozialen Disposition heraus, die mit dem sozialen Raum, in dem es lebt, gegeben ist. 16.2

Bourdieu: Sozialer Raum und Habitus, Lebensstil und Geschmack

Alle drei Kapitalsorten zusammen bestimmen die Plazierung des Individuums im sozialen Raum. Der soziale Raum besteht aus objektiven sozialen Positionen, worunter Bourdieu die statistisch erfassbare objektive okonomische, kulturelle und soziale Lage versteht, und aus einer ,,Struktur objektiver Relationen, die die mogliche Form der Interaktionen wie die Vorstellungen der Interagierenden determiniert". (Bourdieu 1979, S. 378f.) Ich will diesen Gedanken fortfuhren. Soziale Raume sind Gemeinschaften - auch wenn sich die darin Interagierenden dieser Form der Bindung gar nicht bewusst sind - , die sich dadurch auszeichnen, dass sie uber gemeinsame kulturelle Vorstellungen verfugen, die sie naiv als kollektive Wahrheit definieren. Uber diese koUektive Wahrheit erzielen die Individuen permanent Konsens. Das erfolgt Uber die wechselseitige Beobachtung und Anerkennung ihres Handelns. Uber die typische Sprache, die sich in solchen Raumen ausbildet, werden die kollektiven Vorstellungen des richtigen Verhaltens immer wieder bestatigt, sodass sie schlieBlich normativ werden. Indem sich alle auf sie einlassen und sie verinnerlichen, entsteht eine kollektive Identitat, die letztlich jedem auch den Rahmen seiner Individualitat vorgibt.

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21_1

Es gibt eine Wechselbeziehung zwischen strukturellen Bedingungen wie Einkommen, Geschlecht, Alter und Berufsstand auf der einen Seite und praktischen Handlungsweisen und Einstellungen auf der anderen. In dieser klassenspezifischen Wechselwirkung bildet sich ein bestimmter Habitus heraus. Darunter versteht Bourdieu „eine allgemeine Grundhaltung, eine Disposition gegenliber der Welt, die zu systematischen Stellungnahmen fiihrt." (Bourdieu 1983, S. 132) Der Habitus ist „ein System verinnerlichter Muster (...), die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahmehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen - und nur diese." (Bourdieu 1967 S. 143) Die Prinzipien, dies alles zu erzeugen, beherrscht das Subjekt intuitiv, es kann sie, aber es weifi niclit um sie. „Einen Habitus haben" heiBt „sein Metier verstehen". (Bourdieu 1988, S. 279) Das Individuum lebt nach einem klassenspezifischen Schema des Denkens und Handelns. Die typischen Praxisformen und Einstellungen bezeichnet Bourdieu als „Lebensstil". (vgl. Bourdieu 1979, S. 278f.) Nach Bourdieu unterscheiden sich die sozialen Klassen vor allem durch den Geschmack. In ihm findet das Gewicht des kulturellen Kapitals seinen auffalligsten Ausdruck. Bourdieu unterscheidet zwischen drei Geschmacksarten, dem „barbarischen", dem „mittleren" und dem „legitimen" Geschmack. Schon die Wortwahl zeigt, woran Bourdieu die Klassifikation der franzosischen Gesellschaft, die er fast minutios untersucht, bemisst: Der Geschmack ist ein Indiz fur die Stellung in einer Herrschaftsstruktur. Unter diesem Blickwinkel lasst sich die Gesellschaft so differenzieren: Da ist erstens die „herrschende Klasse", die Bourgeoisie, die sich aus zwei Fraktionen zusammensetzt, „den liber okonomisches Kapital verfiigenden »herrschenden Herrschenden« (idealtypisch: Untemehmem) und aus den iiber Kulturkapital verfiigenden »beherrschten Herrschenden« (idealtypisch: Intellektuellen)." (Schwingel 1995, S. 106) Den Geschmack der Bourgeoisie bezeichnet Bourdieu als »reinen oder legitimen« Geschmack. „Die zweite groBe soziale Klasse stellt die Mittelklasse oder das Kleinbiirgertum dar - mit den (...) Fraktionen des absteigenden, exekutiven und neuen Kleinbiirgertums." (S. 106f.) Dort herrscht ein »mittlerer oder pratentioser Geschmack« vor. „Die dritte Klasse schlieBlich ist die Klasse der schlechthin Beherrschten oder (...) »classe populaire«." (S. 107) Zu ihr gehoren die Arbeiter und die Bau-

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16 Geschmack und Lebensstil und feine Unterschiede

em. Bei ihnen hat Bourdieu einen »volkstumlichen oder barbarischen Geschmack« ausgemacht. Der Habitus wirkt hinter dem klassenspezifischen Verhalten als generatives Prinzip und erzeugt Motive und Bedurfnisse, Geschmack und Lebensstil, Uber sie vergewissert sich das Individuum seiner selbst und distanziert es sich von den anderen, und iiber diesen kollektiv gerahmten individuellen Geschmack und Lebensstil wird es auch von den anderen definiert. Gehen wir die Klassen im Einzelnen durch und schauen, wie sich das Individuum in seinem sozialen Raum gibt. Gelassenes Bewusstsein milheloser Uberlegenheit. Hilde Spiel (1990) 2 Die Kenntnis und Beherrschung feiner Lebensformen ist eine Frage langer Gewohnung. Guter Geschmack, Manieren und kultivierte Lebensgewohnheiten sind wertvolle Beweise der Vomehmheit, denn eine gute Erziehung verlangt Zeit, Hingabe und Geld und kann deshalb nicht vonjenen Leuten bewerkstelligt werden, die ihre Zeit und Energie fiir die Arbeit brauchen. Thorstein Veblen (1899) 3

16.3

Distinktion: Distanz zur Notwendigkeit

Die Existenzbedingungen der Bourgeoisie zeichnen sich „durch die Suspendierung des okonomischen Zwangs und zugleich durch objektive wie subjektive Distanz zum Drangenden der Praxis" aus. (Bourdieu 1979, S. lOOf.) Der Lebensstil ist in allem durch eine „Distanz zur Notwendigkeit" (S. 103) gekennzeichnet.4 Der „gute" Geschmack des alteingesessenen kulturellen Establishments zeigt sich darin, Form und Funktion der Dinge zu trennen und ihnen gegentiber gewissermaBen eine asthetische, zweckfreie Haltung einzunehmen. Damit ist gemeint, 2 3 4

Die Lyrikerin Hilde Spiel iiber die Haltung eines Absolventen einer englischen Eliteschule. (1990: Weiche Welt ist meine Welt?, S. 187) Thorstein Veblen (1899): Theorie der feinen Leute, S. 50 Bei Theodor Fontane wird die Distanz von der Notwendigkeit in einem schonen Bild beschrieben. Der alte Stechlin rasoniert: „Ich bin sonst nicht fur Sammler. Aber wer Wetterfahnen sammelt, das will doch was sagen, das ist nicht bloB eine gute Seele, sondem auch eine kluge Seele, denn es ist da so was drin, wie ein Fingerknips gegen die Gesellschaft." (Fontane 1899, S. 253)

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die Dinge nicht auf ihre praktische Funktion oder - im Fall der Kunst realistische Wiedergabe zu priifen, sondem den Stil, die Form und ihren hintergriindigen Sinn zu schatzen. Je mehr die objektiven Bedingungen das hergeben, „umso starker wird der Lebensstil auch Ausfluss dessen, was Weber eine »Stilisierung« des Lebens nannte, d. h. eine systematische Konzeption, die die vielfaltigsten Praktiken leitet und organisiert, die Wahl eines bestimmten Weins oder einer Kasesorte nicht minder als die Ausstattung eines Landhauses." (Bourdieu 1979, S. 103) Diese Stilisierung des ganzen Lebens dient der Aufwertung und Zurschaustellung der eigenen Individualitat. Aber auch sie erfolgt nicht aus freien Stiicken, sondem wie der klassenspezifische Habitus sie erzwingt. Und ihm ist eine Differenzierung eingeschrieben, die feine Unterschiede macht. Die Freiheit von der Notwendigkeit muss namlich eine lange Tradition haben!^ Die feinen Unterschiede innerhalb der herrschenden Klasse lassen sich vor allem an der Aneignung des kulturellen Kapitals festmachen. Auch hier gilt das Prinzip der Anciennitat: Wer sein Bildungskapital schon im Eltemhaus erworben hat, blickt verachtlich auf den Aufsteiger hinab. Es kommt noch etwas anderes hinzu: Wer sein kulturelles Kapital von Kind auf akkumuliert hat, konnte es in MuBe in vielerlei Hinsicht differenzieren. Es war ihm und seinesgleichen selbstverstandlich, und seine Inkorporation bedeutete keine ubermaBige Anstrengung. Man konnte gelassen damit umgehen und musste es anderen in der gleichen Lage nicht beweisen Diese Gelassenheit wird der Aufsteiger, wie Bourdieu feststellt, nicht erreichen, weil man ihm die Plackerei des Aufstiegs immer ansehen wird. (vgl. Bourdieu 1983, S. 136) Distinktion lebt von einem zeitlichen Vorsprung symbolischer Kompetenz und von der Ablehnung nachtraglicher Qualifikation. Bei der sozialen Vergewisserung der Zugehorigkeit in den herrschenden Klassen spielt fur Bourdieu die Einstellung zur »legitimen Kunst« eine besondere Rolle. „Von alien Produkten, die der Wahl der Konsumenten unterliegen, sind die legitimen Kunstwerke die am starksten klassifizierenden und Klasse verleihenden, weil sie nicht nur in ihrer Gesamtheit distinktiven, will heiBen Unterschied und Anderssein betonenden, Charakter tragen, sondem kraft des Spiels der TeilunWie die „hochstprivilegierten Schichten" mit dem ,J^arvenu" umgehen, konnten wir gerade bei Max Weber lesen. (vgl. oben Kap. 15.4 „StiIisierung des Lebens")

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gen und Unterteilungen in Gattungen, Epochen, Stilrichtungen, Autoren, Komponisten, etc. eine endlose Reihe von distinguos^ zu erzeugen gestatten." (Bourdieu 1979, S. 36) Diejenigen, die solche feinen Unterschiede wahmehmen und artikulieren konnen und wissen, dass andere das eben nicht konnen, niitzen ihr „Mehrwissen", um das Bild ihrer sozialen Identitat auszumalen, aber auch um ihm scharfe Konturen zu geben. Konturen halten nicht nur zusammen, sondem grenzen auch ab. Wer das Spiel der feinen Unterschiede beherrscht, fuhrt seinem Selbstbewusstsein immer neue Energie zu. Die symboHsche Aufwertung der angenommenen eigenen IndividuaUtat steht wahrscheinlich im umgekehrten Verhaltnis zur symboUschen Abwertung aller anderen, die solche Unterscheidungen nicht beherrschen oder noch nicht einmal kennen.^ In jeder Klasse bedingen sich okonomisches, kulturelles und soziales Kapital. In der herrschenden Klasse ftihrt die Wechselwirkung zu einer SchlieBung des sozialen Raums. Um namlich eine asthetische Einstellung ausbilden zu konnen, bedarf es eines ausreichenden okonomischen Kapitals, das z. B. Kindem erlaubt, lange in Ausbildungssystemen zu bleiben. Wem schon fruh ein soziales Kapital zur VerfUgung stand, indem er mit interessanten Leuten zusammen kam und geistige Anregungen erfuhr, hat einen uneinholbaren Vorsprung vor denjenigen, die sich spater erst alles anlesen miissen. Diese Kapitalsorten begunstigen also materialiter das kulturelle Kapital. Das wiederum vergroBert sich, indem Individuen gleicher sozialer Positionen und gleicher symbolischer Verhaltensformen in Kontakt treten und sich in ihren Einstellun6 7

distinguo (frz.), (feine) Unterscheidung. Was man in dieser Hinsicht erleben kann, will ich an einem Seminar schildern, das ich einmal Uber Bourdieus ,X)ie feinen Unterschiede" gehalten habe. Zur Illustration seiner These, dass die mit dem barbarischen Geschmack Strauss' „An der schonen blauen Donau", die mit dem mittleren Liszts „Ungarische Rhapsodie" und die mit dem legitimen Geschmack Bachs „Kunst der Fuge" schatzen, habe ich diese Stucke vorgespielt. Kaum war der Ausschnitt aus der Kunst der Fuge verklungen, meldete sich ein alterer Teilnehmer und sagte, das sei doch die Aufnahme von N. N., und dessen Interpretation sei doch etwas verstaubt! Man sah formlich, wie viele, nachdem sie ungeriihrt ein neues StUck vom Kuchen des legitimen Geschmacks nun wenigstens dem Namen nach kennengelernt und ihren Selbstwert gerade innerlich erhoht hatten, in sich zusammensackten. Wir, mich naturlich eingeschlossen, haben uns dann in lautem Lachen zu verstehen gegeben, dass wir trotz dieses feinen Unterschieds keinen Schaden an der sozialen Identitat genonmien haben. (Hoffentlich!)

16

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gen und ihrem Selbstbewusstsein wechselseitig bestarken. Uber das Zusammenspiel von okonomischem, kulturellem und sozialem Kapital kommt es zu einer SchlieBung der Gruppe, die sich die Individuen durch die von Weber so genannte „Stilisierung des Lebens" wechselseitig bestatigen. Die Stilisierung griindet, wie bei Weber gehort, im Bewusstsein, einem bestimmten, privilegierten Stand anzugehoren und sich von einem anderen zu unterscheiden. (vgl. Weber 1922, S. 637) Das soziale Selbstverstandnis ist getragen von einer spezifischen Ehre, die ein bestimmtes Verhalten zumutet und erwartet und angemessenes, „ehrbares" Handeln durch Achtung belohnt. Bourdieu iibertragt diesen Gedanken der Stihsierung des Lebens auf die Strategic der herrschenden Klassen, die sich durch „Beherrschung von Spielregeln und verfeinerte Spiele" bewusst oder unbewusst von den anderen zu unterscheiden sucht. (Bourdieu 1970b, S. 68) Durch Distinktion bleibt ihr kulturelles Kapital, und selbstverstandHch auch ihr soziales, im wahrsten Sinne des Wortes exklusiv.

Jener Hang zum Hoheren.^ Der Kleinbiirger istformlich. Er braucht das, denn er muss bis zu seinem Lebensende etwas beweisen. SdndorMdrai (1941)9

16.4

Im bewahrten Rahmen: Pratention und Abgrenzung in der Masse

Damit kommen wir zu den Mittelklassen. Hier folgt man „vorzugsweise orthodoxen Kulturregeln" und definiert darliber auch, was gut und schon ist und was sich schickt; man setzt „auf altbewahrte Klassik und scheut jede riskante kulturelle Investition, die daneben gehen konnte." (MuUer 1992, S. 320f.) Die Mittelklasse halt sich an eine asthetische Regel weniger aus selbstbewusster Uberzeugung, sondem weil sie sie 8 9

So konnte man es z. B. bei einem Bankelsanger der 70er Jahre, Franz-Josef Degenhardt, horen, der tibrigens auch von dem folgenden Rat zu berichten wusste: „Spiel nicht mit den Schmuddelkindern!". Sandor Marai (1941): Wandlungen einer Ehe, S. 165

216

16 Geschmack und Lebensstil und feine Unterschiede

als Kanon emster und wertvoller Kultur gelemt hat und das Gelemte als Mittel zum Zweck der Anerkennung durch andere einsetzt. Mit dem Bekenntnis zu diesem Kanon halten sich die Individuen in der Nahe der „besseren Kreise" in ihrer Klasse und versuchen ihnen zu imponieren. Sie differenzieren allerdings auch in ihrer Klasse, indem sie iiber den schlechten Geschmack der „wirklichen" kleinen Leute spotten. Bestimmte Gruppen greifen aber auch liber die Grenzen der Klasse hinaus und nehmen damit eine scheinbar widerspriichliche Haltung ein. In keiner Klasse werden so viele bunte Blatter gelesen und Sendungen uber die feine Welt der Royals und die aparte des Jetsets verfolgt wie in der Mittelklasse. Sie ist auch der eifrigste Konsument der feinen Kuche im Femsehen. Was steckt dahinter? Ich meine, es ist der widerspriichliche Wunsch, der eigenen Individualitat die kleine Flucht nach ganz weit drauBen zu erhalten, sich also von der Masse, die solche Bilder des feinen Lebens noch nicht einmal kennt, zu differenzieren und gleichzeitig sich symbolisch bei alien vemlinftigen Menschen der eigenen Kreise zu halten, indem man sich iiber die Skandale „der da oben" entriistet, ihre menschlichen Schwachen genau registriert und sie letztlich auf das eigene MaB stutzt oder sogar noch darunterdriickt. Die Mittelklasse ist eine mobile Klasse. Hier gibt es die haufigsten Auf- und Abstiege und die feinsten Abstufungen sozialer Differenzierungen. Ein entscheidendes Vehikel, einen besseren Status zu erreichen oder zu halten, ist die formale Bildung. Wer die richtigen Abschliisse nachweisen kann, ist gut dran, zumindest fiirs Erste. Mit der Hohe des Bildungsabschlusses wird auch ein bestimmter Kanon der „richtigen" und „wichtigen" Kulturinhalte assoziiert, und deshalb definieren sich die Angehorigen der Mittelklasse auch iiber diese Regeln des guten Geschmacks und den Kanon des Wissenswerten. Bourdieu wendet sich nun zwei Gruppen zu, die um den sozialen Wert dieses Kanons wissen, ihn in dem einen Fall aber nicht auf dem iiblichen Weg erworben haben und in dem anderen Fall ersetzen. Die ersten hoffen, im Kampf um den sozialen Status aufzuholen, indem sie sich an eine kulturelle Norm anpassen, die zweiten lehnen diese Norm ab und lemen etwas Neues, um so ihren sozialen Status aufzuwerten. Bourdieu nennt sie alte und neue Autodidakten. Der Begriff des Autodidakten wird gewohnlich mit einem Menschen assoziiert, dem eine Kunst nicht in die Wiege gelegt wurde oder der etwas nicht von Grund auf und nach einem giiltigen Plan gelemt hat, sondem der sich irgend-

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wie zu Leistungen hochhangelt, die fast an die wirklichen Meister ihres Metiers herankommen. Die Charakterisierungen, die Bourdieu aus seinen empirischen Untersuchungen der Mittelklasse herausgelesen hat, kann man so verstehen, dass das Selbstbewusstsein der Autodidakten nicht stabil ist. Der alte Autodidakt, stellt Bourdieu fest, entwickelt gegeniiber der legitimen Kunst „eine ziellos schwarmerische Andacht" und zeigt Ehrfurcht vor „klassischer" Bildung. Davon gibt er, auch ohne dass er darum gebeten worden ware, standig Proben ab. Genau dadurch schlieBt er sich von denen aus »besserem Hause« ab, „die ihre Ignoranz durch Ignorierung der Fragen oder Situationen, die sie an den Tag bringen konnten, tamen." (Bourdieu 1979, S. 148f.) Der asthetische Geschmack ist nicht aus sich begriindet und hat sein Ziel nicht in sich selbst. Die neuen Autodidakten unterscheiden sich von den alten, dass sie anderen Gottem folgen. Sie haben sich bis zu einer relativ hohen Stufe durch die Schule durchgebissen und zeigen ein „fast blasiertes, zugleich vertrautes und emiichtertes Verhaltnis zur legitimen Kultur (...), das mit der ehrfurchtigen Haltung des alteren Autodidakten nichts gemein hat, obwohl es zu gleich intensivem und passioniertem Einsatz fiihrt." (S. 149) Sie erheben modeme Zeitstromungen zum Kanon und machen ihr Bild von sich selbst an dem fest, was in irgendeiner intellektuellen Avantgarde, aktuellen »Gegenkultur« (vgl. S. 167) oder etablierten Nische als Rahmen des richtigen Denkens definiert worden ist. Die dritte, bei weitem groBte Gruppe der Mittelklasse stellen die aufstrebenden Kleinburger dar. Ihren Geschmack bezeichnet Bourdieu als „pratentios". Im Deutschen hat das Wort einen leicht negativen Klang und wird mit „Anma6ung" assoziiert. Im Franzosischen ist die Konnotation etwas anders und meint eher „behaupten, vorgeben", aber auch „streben nach". Ich will es in diesem Sinn interpretieren. Es ist ein Geschmack, der vorgibt, etwas selbstverstandlich zu sein, das er in Wirklichkeit nicht ist: er hat sich nicht aus dem Habitus distanzierter Gelassenheit ergeben. Zweitens ist es ein Geschmack, der nach etwas strebt, namlich nach Aneignung dessen, was den aufstrebenden Kleinbtirgem als gesellschaftlicher Kanon des Wissens, der Bildung und der Kulturguter erscheint. Das Kleinburgertum strengt sich an, um dazuzugehoren. Das zeigt sich in typischen Verhaltensweisen, die einen hoheren Status und eine andere Identitat suggerieren. Bourdieu beschreibt sie drastisch so: Im

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Verhaltnis des Kleinbtirgertums zur Kultur manifestiert sich „Bildungseifer als Prinzip, das je nach Vertrautheit mit der legitimen Kultur, d. h. je nach sozialer Herkunft und entsprechendem Bildungserwerb, unterschiedliche Formen annimmt: So investiert das aufsteigende Kleinbiirgertum seinen hilflosen Eifer in Aneignungswissen und Gegenstande, die unter den legitimen die trivialeren darstellen - Besuch historischer Statten und Schlosser (statt z. B. von Museen und Kunstsammlungen), Lekture popularwissenschaftlicher und geschichtskundlicher Zeitschriften, Photographieren, Sammeln von Kenntnissen iiber Filme und Jazz mit demselben bewundemswerten Einsatz und Erfindungsreichtum, die es dafUr aufwendet, »Uber seine Verhaltnisse« zu leben, zum Beispiel mit der Einrichtung von »Nischen« (»Koch-«, »Ess-«, und »Schlafnische«) die Raume in der Wohnung kunstreich zu multiplizieren oder sie durch »kleine Tricks« zu vergroBem (»Ablagen«, »Raumaufteiler«, »Schlafcouch«), wobei wir von all den Imitaten schweigen wollen und dem, was sonst noch dazu dient, »mehr« (wie man so sagt) aus etwas »zu machen« - ganz wie ein Kind, das »gro6 sein« spielt. Der Bildungseifer zeigt sich unter anderem in einer besonderen Haufung von Zeugnissen bedingungsloser kultureller Beflissenheit (Vorliebe fur »wohlerzogene« Freunde und fiir »bildende« oder »lehrreiche« Auffuhrungen) (...)• Der Kleinblirger ist ganz Ergebenheit gegentiber der Kultur." (Bourdieu 1979, S. 503f.) In einem Satz wie z. B. »Malerei ist schon, aber schwer zu verstehen«, den Bourdieu „vomehmlich bei den aus unteren oder mittelstandischen Verhaltnissen stammenden Kreisen des etablierten Kleinbtirgertums" zu horen bekommen hat, sieht er „die Anerkennung der eigenen Inkompetenz und kulturellen Minderwertigkeit" zum Ausdruck kommen. (S. 148 Anm. 93) Die Kleinblirger leben in latenter Angst, etwas falsch zu machen und einen Status, den sie sich vormachen, zu verlieren. Die Individualitat ist im Kern unsicher. Das soziale Selbstbild borgt sich Energie, indem es die Treue zu einer fremdgesetzten Norm mit sozialer Reputation gleichsetzt. Bourdieu beschreibt diese angestrengte Haltung so: „Die Kleinblirger haben kein spielerisches Verhaltnis zum Bildungsspiel: sie nehmen die Kultur zu emst, um sich einen Bluff oder Schwindel zu erlauben oder auch nur die lassige Distanz, die von wirklicher Vertrautheit zeugt; zu emst, um nicht standig besorgt zu sein, ob sie nicht bei Unkenntnissen oder Schnitzem ertappt werden." Sie haben nicht „die Gelassenheit derjenigen, die sich ermachtigt fiihlen, ihre Bildungs-

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lucken zu gestehen und sogar auf ihnen zu bestehen. (...) Die Kleinbiirger machen aus der Bildung eine Frage von wahr und falsch, eine Frage auf Leben oder Tod." (Bourdieu 1979, S. 518) Als „der beste Kunde von Massenkultur" (Muller 1992, S. 333) verwechselt der Kleinburger die Neuheit und Haufigkeit von kulturellen Zeichen mit der legitimen Kultur. Indem er sich auBere Zeichen zueigen macht, hofft er, sozialen Abstand nach oben zu verringem und nach unten zu vergroBem. Das auBert sich z. B. in dem von Bourdieu schonungslos so bezeichneten „naiven Exhibitionismus des »ostentativen Konsums«, der Distinktion in der primitiven Zurschaustellung eines Luxus sucht, liber den er nur mangelhaft gebietet." (Bourdieu 1979, S. 61) In dem Augenblick, wo die pratentiose Klasse in einen neuen, scheinbar exklusiven Trend einwilligt, hat sie schon verloren. Bourdieu beschreibt ihr Dilemma lapidar so: „Per Definition sind die unteren Klassen nicht distinguiert; sobald sie etwas ihr eigen nennen, veriiert es auch schon diesen Charakter. Die herrschende Kultur zeichnet sich immer durch einen Abstand aus." Kaum wurde Skifahren popular, begann die herrschende Kultur auBerhalb der Piste zu fahren: „Kultur, das ist im Grunde auch immer etwas »au6erhalb der Piste«." (Bourdieu 1983, S.138) Das Bewusstsein des Kleinbiirgers von seiner Individualitat wird von einer latenten Verleugnung des sozialen Habitus gedriickt. HANS MAGNUS ENZENSBERGER hat es einmal so gesagt: „Der Kleinburger will alles, nur nicht Kleinburger sein. Seine Identitat versucht er nicht dadurch zu gewinnen, dass er sich zu seiner Klasse bekennt, sondem dadurch, dass er sich von ihr abgrenzt, dass er sie verleugnet. Was ihn mit seinesgleichen verbindet, gerade das streitet er ab. Gelten soil nur, was ihn unterscheidet: der Kleinburger ist immer der andere." (Enzensberger 1976, S. 4)10 Die soziale Identitat des Kleinbiirgers ist nicht wirklich garantiert, weil sie unbewusst die Anerkennung in einem fremden sozialen Raum sucht. 10

Das hatte schon Honore de Balzac, der genaue Beobachter seiner Gesellschaft, in seiner „Menschlichen Komodie" festgestellt, dass „kleine Geister" ihre guten wie schlechten Gefuhle „durch eine endlose Kette von Kleinigkeiten" befriedigen, dies aber sich selbst nicht eingestehen wollen, sondern auf andere projizieren: „Es ist eine der widerlichsten Gewohnheiten dieser Liliputanerseelen, ihre eigene Kleinlichkeit andern unterzuschieben." (Balzac 1835, S. 30)

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Doxa: Die Dinge sind, wie sie sind

Kommen wir zur dritten Klasse, der »classe populaire«. Deren Einstellung zur Welt und zu den Kulturgutem bezeichnet Bourdieu als doxa, Mit diesem griechischen Wort meint er ein Alltagsdenken, das die Dinge als selbstverstandlich hinnimmt, in den Kategorien betrachtet, wie die Natur sie vorgibt, und ihren Wert danach beurteilt, was man praktisch damit anfangen kann. Bei der bildenden Kunst hat man es deshalb auch gem, wenn man darauf „etwas erkennen" kann. Die Erklarung der Welt erfolgt im Modus des „gesunden Menschenverstandes", an sich selbst schatzt man, dass man die Dinge „ganz niichtem" sieht. Das Selbstbewusstsein speist sich iiber die feste Uberzeugung, dass alle anderen die Welt genau so sehen wie sie. 16.6

Der Sinn ftir den Platz in der Gesellschaft

Wo sind die Fluchtpunkte der Individualitat nach Bourdieus Analyse der Modeme? Welche Konturen gibt es, und welcher Rahmung ist sie notwendig unterworfen? Die Fragen lassen sich relativ leicht beantworten. Durch das tagliche Handeln wird das einem sozialen Raum angemessene Prinzip des Denkens und Handelns immer wieder verstarkt. Der Habitus generiert immer wieder die Praxisformen, die fur den sozialen Raum angemessen sind. Und ebenso generiert er den Rahmen, in dem sich die Individuen auch selbst zu sehen haben. Indem sie ihn total verinnerlicht haben, funktioniert er automatisch als immer neue Zuweisung des Individuums an den richtigen Ort. In alien sozialen Klassen generiert der Habitus das Gefiihl, dass man in seinen Kreisen kompetent ist. Deshalb weiB man sich auch der Achtung seinesgleichen sicher. Indem man sich dazu gehorig ftihlt, kennt man die Grenzen, an denen man sich von anderen unterscheidet. Auch das starkt das Bewusstsein der sozialen Individualitat. „Die Erfahrung von sozialer Welt und die darin steckende Konstruktionsarbeit vollziehen sich wesentlich in der Praxis, jenseits exphziter Vorstellung und verbalen Ausdrucks. Einem Klassen-Unbewussten naher als einem »Klassenbewusstsein« im marxistischen Sinn, stellt der Sinn fur die eigene Stellung im sozialen Raum - Goffmans »sense of one's place« die praktische Beherrschung der sozialen Struktur in ihrer Gesamtheit dar - vermittels des Sinns ftir den eingenommenen Platz in dieser."

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(Bourdieu 1984, S. 17) Man weiB, wer man ist und zu wem man nicht gehort. Bourdieu fahrt deshalb fort: „Die Wahmehmungskategorien resultieren wesentlich aus der Inkorporierung der objektiven Strukturen des sozialen Raums. Sie sind es folglich, die die Akteure dazu bringen, die soziale Welt so wie sie ist hinzunehmen, als fraglos gegebene, statt sich gegen sie aufzulehnen und ihr andere, wenn nicht sogar voUkommen kontrare Moglichkeiten entgegenzusetzen: Der Sinn fiir die eigene soziale Stellung als Gespiir dafiir, was man »sich erlauben« darf und was nicht, schlieBt das stillschweigende Akzeptieren der Stellung ein, einen Sinn fiir Grenzen (»das ist nichts fiir uns«), oder, in anderen Worten, aber das gleiche meinend: einen Sinn fiir Distanz, fiir Nahe und Feme, die es zu signalisieren, selber wie von Seiten der anderen einzuhalten und zu respektieren gilt - und dies sicher umso starker, je rigider die Lebensbedingungen sind und je rigider das Realitatsprinzip vorherrscht." (S. 17f.) Unmerklich werden die Akteure dazu gebracht, die Welt, wie sie ist, hinzunehmen. Durch Distinktion und mittels „feiner Unterschiede" hoffen sich die einen von den anderen abzugrenzen, wahrend die anderen durch Pretention und immer neue Kopien von Statussymbolen die Illusion eines hoheren Status nahren. Solange diese Illusion tragt, sei es dass man in MaBen „mithalten" kann oder dass einem die getraumte symbolische Nahe reicht, befriedigt das Leben. Problematisch wird es fur die, deren untere Stellung strukturell in ein prestigereiches Umfeld eingebunden ist, die den groBen sozialen Abstand auch spiiren, aber ihn mit alien Mitteln, z. B. mit den Symbolen eines hoheren Status, aus ihrem Bewusstsein ausklammem. Innerhalb jeder Klasse klebt die Individualitat am Grundtext des Habitus. Moglicherweise stiitzt das aber genau die soziale Identitdt. Individualisierung in dem Sinne, dass das Individuum aus sozialen Gewissheiten herausgerissen worden ware und auf sich selbst gestellt sei, wlirde dann auch gar nicht als Leiden an der Gesellschaft (oder einer nie gewonnenen Individualitat!) zum Bewusstsein kommen. Die Dampfung anderen Begehrens konnte man aber noch auf eine andere Weise erklaren. MARKUS SCHWINGEL hat sie angedeutet. Er wendet sich gegen eine Interpretation der Habitustheorie, wonach „eine individuelle Praxisform und der ihr zugrundehegende Habitus (...) durch die gruppen- und klassenspezifischen Bedingungen, die fiir sie konstitutiv sind, vollkommen determiniert waren. Die Individualitat

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von Praktiken", so halt Schwingel dagegen, „liegt gerade in der akteurspezifischen Nutzung des (gruppen- bzw, klassenspezifischen) Spielraumes, der mit dem Habitus verinnerlicht wurde; sie kommt in der jeweiligen Verwendung klassenspezifisch verteilter Ressourcen und Moglichkeiten zum Ausdruck." (Schwingel 1995, S. 66) Worin bestehen diese individuellen Unterschiede? Schwingel sieht sie zum einen in der „spezifischen Stellung, die ein Akteur innerhalb der Struktur seiner Klasse innehat" (Schwingel 1995, S. 66), womit wohl der spezifische Schnittpunkt sozialer Kreise im Sinne von Georg Sinunel oder die soziale und berufliche Position im Sinne einer strukturfunktionalen Theorie gemeint sein diirfte. Zum anderen sieht Schwingel als Kriterium der individuellen Unterschiede innerhalb sozialer Gruppen und Klassen „die Besonderheit (der) sozialen Laufbahn". (ebd.) Das konnten wir oben bei der Inkorporation des kulturellen Kapitals nachlesen. Sind das aber Beweise genereller Freiheit des Individuums? Unbestritten, dass genau so die Anpassungen der Individuen an Strukturen, die ihnen selbst auBerlich und verborgen bleiben, funktionieren. Nach allem, was wir bei Bourdieu gelesen haben, kann man sich auch gut vorstellen, dass genau diese Illusion der Freiheit existiert und sei es nur in der virtuellen Form: Wenn ich wirklich wollte, konnte ich mich auch ganz anders verhalten. Moglicherweise ist dieser konstruktive Vorbehalt dem Habitus jeder Klasse in der Modeme eingeschrieben. Das wiirde erklaren helfen, warum das Individuum eine strukturelle Veranderung des Bewusstseins in der Modeme aushalt, die ULRICH BECK wenige Jahre spater als Individualisierung bezeichnet hat.

Ach, ware es die Beschworung einer Zukunft geblieben, die es zu verhindem gilt! Ulrich Beck (1986)^ Individualisierung ist ein Prozess, bei dem sich die Art des Eingebundenseins des Individuums in die Gesellschaft verdndert. Flavia Kippele (1998) 2

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17.1

Beck: Ein neuer Modus der Vergesellschaftung - »Individualisierung« Freisetzung Entzauberung Kontrolle Reflexive Modernisierung

17.2 17.3 17.4 17.5

schildert in seinem Buch „Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Modeme" eine Wirklichkeit, die „aus den Fugen zu geraten scheint". (Beck 1986, S. 12) Aus den Fugen geraten ist sie aus verschiedenen Griinden. Stichworte gentigen: Aufklarung geglaubter Gewissheiten und der Verlust von Sicherheiten, Sinnkrise, Rationalisierung der Arbeit und ungleiche Lebenslagen, globale Risiken und Zerstorung der Natur, Widersprticlilichkeit und Beliebigkeit politischer Legitimationen. Die Gesellschaft ist sich selbst zum Risiko geworden. ULRICH BECK ( * 1 9 4 4 )

Letzter Satz eines Vorwortes „Aus gegebenem Anlass", das Ulrich Beck seinem Buch ,^isikogesellschaft" noch rasch vorangestellt hat, als mitten in die Korrektur der Fahnenabziige die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl fiel. Flavia Kippele (1998): Was heifit Individualisierung? Die Antworten soziologischer Klassiker, S. 15

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Blicken wir auf das Individuum: Es kann langst nicht mehr hoffen, dass sein Leben in festen Bahnen und nach „normalen" Mustem, an die alle glauben, verlaufen wird. Es sieht sich im Gegenteil gezwungen, in einer Gesellschaft, die ihm keine festen Orientierungen mehr geben kann, permanent, als einzelner und selbst zu entscheiden, wie es in seinem Leben weitergeht und wie es leben will. Doch so einfach ist die Entscheidung nicht, denn die sozialen Normen verflussigen sich und die Muster des „normalen" oder „individuellen" Lebens werden immer zahlreicher. Damit steigen zwar die WahlmogUchkeiten, aber auch das Risiko, falsche Entscheidungen zu treffen. Und dem Individuum dammert auch, dass die Entscheidungen, die es trifft, nicht so frei sind, wie es geme glaubt, sondem strukturell erzwungen werden oder typischen sozialen Mustem folgen, die eine wirkliche Individualitat gar nicht zulassen. Das Individuum fuhlt sich gleichzeitig von der Gesellschaft/r^/gesetzt und auf sich gestellt und zugleich von ihr bestimmt. Diese Entwicklung im Verhaltnis zwischen Gesellschaft und Individuum zeichnete sich schon am Ende des 19. Jahrhunderts ab und gewann in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg an Fahrt. Beck spricht von einem „Gestaltwander' im Verhaltnis von Individuum und Gesellschaft und einem neuen „Modus der Vergesellschaftung". Er nennt ihn „IndividuaHsierung". (Beck 1986, S. 205) Individualisierung, so habe ich es oben bei der zweiten, auch die Last der Freiheit betonenden Definition formuliert, bedeutet den Zwang, einen untibersichtlich gewordenen sozialen Raum selbst zu strukturieren. Um die Komplexitat zu reduzieren, mlissen Prioritaten gesetzt, Rollen koordiniert und Handlungslinien entworfen werden. Kurz: Das Individuum muss fortlaufend Entscheidungen treffen, deren Handlungsfolgen es in direkter Linie nicht weit abschatzen kann und in scheinbaren Nebenplatzen kaum bedenkt. Gleichwohl hat es sich die Folgen selbst anzurechnen. (vgl. Beck 1983, S. 59) Individualisierung, so hat es Beck spater formuliert, heiBt, die eigene Biographic kontinuierlich selbst herzustellen und zu inszenieren. (vgl. Beck 1993, S. 150)

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Beck: Ein neuer Modus der Vergesellschaftung - »Individualisierung«

Beck behauptet, dass sich in alien reichen westlichen Industrielandem seit den 1960er Jahren „ein gesellschaftlicher »Individualisierungsprozess« von bislang unerkannter Reichweite und Dynamik vollzogen hat und immer noch vollzieht (...), in dessen Verlauf auf dem Hintergrund eines relativ hohen materiellen Lebensstandards und weit vorangetriebener sozialer Sicherheiten durch die Erweiterung von Bildungschancen, durch Mobilitatsprozesse, Ausdehnung von Konkurrenzbeziehungen, Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen, Verkiirzung der Erwerbsarbeitszeit und vielem anderen mehr die Menschen in einem historischen Kontinuitatsbruch aus traditionellen Bindungen und Versorgungsbezugen herausgelost und auf sich selbst und ihr individuelles »(Arbeitsmarkt-)Schicksal« mit alien Risiken, Chancen und Widerspriichen verwiesen wurden und werden." (Beck 1983, S. 40f.)^ „Jenseits von Klasse und Stand"^ ergibt sich in der Modeme eine neue Klassifizierung des Individuums, namlich nach seiner Lebenslage und nach der Art, wie es sein Leben fuhrt. Es ist gewissermaBen eine Verschiebung der Koordinaten der Individualitat, die Beck im Auge hat - weg von der Determination durch Klasse und Stand, hin zu der Freiheit vielfaltiger Optionen. Uber diese Freiheit hinaus, die in einer reichen Versorgungsgesellschaft gegeben ist, verschieben sich die Koordinaten aber weiter bis zu dem Zwang, in wechselnden, unverbundenen Lebenslagen standig neu entscheiden zu mtissen, was zu denken und zu tun ist und was man von sich halten soil. Es entstehen neue Strukturen sozialer Differenzierung. Sie hangen mit der individuellen Fahigkeit, solche Entscheidungen in einer Gesell-

Beck schreibt in einer Anmerkung, dass diese These „eine Reihe von Vorlaufern und Parallelen in soziologischen Diskussionen" hat. Von den Vorlaufern, die er nennt, will ich vor allem Berger, Berger, Kellner (1973), bei denen viel mehr als die von Beck zitierte These von der ,J^luralisierung und Individualisierung sozialer Lebenswelten" zu lesen ist, erwahnen, daneben Durkheims Studie Uber den Selbstmord (1897), die Zivilisationstheorie von Elias (1939), Sennetts Buch „Verfall und Ende des offentlichen Lebens" (1974) und schlieBlich Riesmans Studie ,J3ie einsame Masse" (1950). So lautete, mit einem Fragezeichen versehen, der Aufsatz, in dem Beck seine Individualisierungsthese zum ersten Mai aufgestellt hat. (Beck 1983)

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schaft, die das Individuum mit immer weiteren Institutionalisierungen leitet und kontroUiert, immer wieder treffen zu konnen. Jenseits von Klasse und Stand sieht Beck, bedingt durch den relativen Wohlstand und die weitreichende soziale Sicherung der Bevolkerung, in der Bundesrepublik „eine Entwicklungsvariante der Sozialstruktur an Bedeutung gewinnen, die weder Marx noch Weber antizipiert haben. Bei moglicherweise konstant bleibenden oder sich sogar verscharfenden Ungleichheiten in Einkommen, Bildung und Macht werden die klassischen Themen und Konflikte sozialer Ungleichheit zunehmend verdrangt durch die Themen und immanenten Widersprtiche eines gesellschaftUchen IndividuaHsierungsprozesses, der die Menschen immer nachdriicklicher mit sich selbst und den Fragen der Entfaltung ihrer Individualitat, ihres personHchen Wohin und Wozu konfrontiert, sie aber zugleich einbindet in die Enge und Zwange standardisierter und gegeneinander isoHerter Lebenslagen." (Beck 1983, S. 68) Durch Niveauverschiebungen infolge von wirtschaftUchem Wohlstand Oder Bildungsexpansion sind „subkulturelle Klassenidentitaten weggeschmolzen, »standisch« eingefarbte Klassenlagen enttraditionalisiert und Prozesse einer Diversifizierung und Individualisierung von Lebenslagen und Lebenswegen ausgelost worden." (Beck 1983, S. 36) Spater hat Beck die Vervielfaltigung und Individualisierung auch auf Lebensstile (Beck 1986, S. 122) bezogen und - ganz ahnlich wie PffiRREBouRDffiU (Bourdieu 1979, 1983a, 1984) - behauptet, dass sich soziale Klassen heute dariiber und nicht mehr, wie in der Marxschen Klassentheorie, iiber die Verfugung Uber die Produktionsmittel, definieren! Die Entscheidung Uber den Lebensstil steht im Zentrum der Individualisierungsthese. Jeder steht sozusagen immer allein vor der Frage, wie es in seinem Leben weitergehen soil. Er ist deshalb auf sich selbst gestellt, weil sich soziale Bindungen auflosen und institutionelle Sicherheiten erodieren. Selbst entscheiden zu konnen, ist im Prinzip ein Stuck Freiheit; Entscheidungen unter dem sanften Druck eines sozialen Kreises und dem manchmal etwas starkeren der Moden und Konjunkturen, der rechtlichen Regelungen und institutionellen Zwange treffen zu sollen, schon weniger; allein entscheiden zu mUssen, ohne sicher zu wissen, was daraus in direkter Linie oder gar auf den vielen Nebenschauplatzen des eigenen Lebens folgt, ist Risiko. Auch deshalb hat Beck sein Buch „Risikogesellschaft" genannt.

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Diesen „widerspruchlichen Prozess der Vergesellschaftung", (Beck 1983, S. 42) unterscheidet Beck nach mehreren Dimensionen und spricht von einer „dreifachen Individualisierung": • „Herausldsung aus historisch vorgegebenen Sozialformen und bindungen im Sinne traditionaler Herrschafts- und Versorgungszusammenhange (»Freisetzungsdimension«), • Verlust von traditionalen Sicherheiten im Hinblick auf Handlungswissen, Glauben und leitende Normen (»Entzauberungsdimension«) • und - womit die Bedeutung des Begriffes gleichsam in ihr Gegenteil verkehrt wird - eine neue Art der sozialen Einbindung (»Kontroll- bzw. Reintegrationsdimension«)." (Beck 1986, S. 206) Gehen wir die drei Thesen einzeln durch. Der Hauptgegensatz alles Modernen gegen das Alte besteht darin, dass die Menschen nicht mehr durch ihre Geburt auf den von ihnen einzunehmenden Platz gestellt warden. Theodor Fontane (1899) 5 17.2

Freisetzung

Die Herauslosung aus „historisch vorgegebenen Sozialformen" hat mehrere Dimensionen. Zum einen hat sich das Individuum aus Familien- und Verwandtschaftsbeziehungen gelost. Die Griinde liegen in der Ausweitung und Differenzierung des Arbeitsmarktes, auf dem das Individuum ohne traditionelle Rucksichten frei seinen Beruf finden konnte, in der sozialen Sicherheit, die durch Arbeitsgesetzgebung garantiert wurde, und in der raumlichen und sozialen Mobilitat der Bevolkerung. Die Individuen wurden aus „Versorgungszusammenhangen" freigesetzt, weil staatliche Sicherungssysteme sie ersetzten. Die Freisetzung von der Familie erfolgte aber noch auf eine andere Weise: Die Ehegesetzgebung sicherte der Frau eine eigenstandige Existenz, auch wenn sie diesen Versorgungszusammenhang verlieB. Im Ubrigen hatte die lange Diskussion um die Gleichstellung von Mann und Frau in der FaTheodor Fontane (1899): Der Stechlin, S. 237

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milie letztlich doch das gute Ende, dass diese traditionale Herrschaft aufgebrochen wurde. Nehmen wir die weitere Freisetzung, die Beck die „Herausldsung aus stdndisch geprdgten sozialen Klassen'' (Beck 1986, S. 208) nennt. Auch sie war seit langem im Gang, z. B. seit der Sozialgesetzgebung der Bismarck-Ara, aber auch seit dem heftigen oder auch stillen Ringen der poHtischen Parteien um eine Versohnung zwischen Arbeit und Kapital Oder eine Versohnung der Arbeitnehmer mit sich selbst. Diese sozialpoUtischen und poHtischen Anstrengungen erhielten in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg eine neue Qualitat. Parteien und Gewerkschaften bewegten sich aufeinander zu, raumten Rechte ein oder erkampften Anspriiche und gaben schheBlich Garantien, die einen Klassenkampf uberflUssig machten. FUr traditionale Klassenbindungen bestand in einer „offenen Gesellschaft" keine Notwendigkeit mehr. An die Stelle der Solidaritat trat die Sozialpolitik. Die Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen setzte das Individuum nicht nur von gemeinschafthchen Bindungen frei, sondem verbriefte ihm auch die Option, seine Bindungen selbst zu wahlen. In der offenen Gesellschaft wurden auch frtihere standische Orientierungen schwacher. Das hing mit einer deutlichen Anhebung des Bildungsniveaus und einer enormen Ausweitung des Konsums zusammen. Soziale und kulturelle Klassenbindungen lockerten sich in dem MaBe, wie sich die Verhaltensweisen in der Freizeit, im Konsum und in der Mode anglichen und wie Individuen durch hohere Bildungsentscheidungen und langere Qualifikation Traditionen durchbrachen und ihre Plazierung in der Gesellschaft selbst betrieben. SchlieBlich haben auch die Anhebung des verftigbaren Einkommens und die Veranderungen der Wohnverhaltnisse und des Freizeitverhaltens die traditionellen Modelle der Differenzierung nach Schichten oder Klassen obsolet gemacht. Die Herauslosung aus den so bezeichneten traditionellen Bindungen hieB auch, dass gemeinschaftliche Beziehungen aufgegeben wurden. Wahrend frtiher Klasse und Stand, aber auch Familie oder Nachbarschaften auf der kognitiven Ebene durch das diffuse Bewusstsein, in einem gemeinsamen Sinnhorizont zu leben, und auf der sozialen Ebene durch wechselseitige Zuneigung und unbefragte Solidaritat zusammengehalten wurden, treten in der fortgeschrittenen Modeme an die Stelle der gemeinschaftlichen gesellschaftliche, d. h. sachliche, verrechtlichte.

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funktionale Beziehungen. Es sind oft nur noch lockere und fluchtige Verbindungen, in denen sich Individuen in jeweiligen Rollen und mit sachlichen Interessen gegenuberstehen. Die Frage, wer der Einzelne in diesem komplexen Prozess uberhaupt ist, wird von den anderen nicht gestellt, und er selbst wurde bei dieser Frage leicht ins Grtibeln geraten! Fur die vielen Rollen, die das Individuum heute nebeneinander und nacheinander spielen muss, gibt es keine eindeutigen koUektiven Muster, sondem viele Optionen, von denen jede fUr sich Sinn macht. Fiir jeden Lebensstil gibt es gute Griinde und legitime Vorbilder, und da die Pluralisierung und der Wandel der Lebensstile als individuelle Freiheit propagiert werden, braucht sich in dieser Hinsicht auch keiner zu fragen, was ihn an einen anderen dauerhaft bindet oder was andere von ihm erwarten. Die Gesellschaft ist in der Tat eine „Loseblattsammlung von Individuen"! (Beck 1991, S. 42) Und deshalb muss jeder in jeder Rolle allein entscheiden, welchen Stellenwert sein nachstes Handeln fiir sein Leben haben soil. Als ein Beispiel fiir die Last der Freiheit habe ich schon an anderer Stelle^ in den Worten von Beck die Entscheidungen skizziert, die heutzutage in Abstimmung von Familie, Beruf und Ehe anfallen. (vgl. Beck 1986, S. 163f.) Das Beispiel lasst sich in zweierlei Hinsicht weiterftihren. Da ist einmal die Lage der Frauen, die sich verandert hat. Ihre Berufstatigkeit und neue Rechte machen sie prinzipiell frei von der frliheren Versorgungsbindung in einer Familie. Individualisierung heifit also, dass sie sich frei gegen ein Muster entscheiden konnen, das traditionell ihre Rolle pragte.^ Auf der anderen Seite andert sich aber auch etwas bei denen, die sich fiir die soziale Bindung der Familie entscheiden und trotzdem ihren Anspruch auf Berufstatigkeit aufrechterhalten. Dann gerat die Familie unter Individualisierungsdruck. Das muss man so verstehen, dass Rollen individuell auf die Anforderungen und Chancen auBerhalb der Familie abgestimmt werden miissen. Da ist zum anderen die Veranderung der sozialen Bindung in der Familie selbst. Beck glaubt Anzeichen dafiir zu sehen, dass sich unter diesen Bedingungen der Freisetzung „der Typus der VerhandlungsfamiVgl. oben Kap. 13 „Individualisierung - zweite, auch die Last der Freiheit betonende Definition". Andererseits muss man naturlich auch fragen, ob sich eine junge Frau uberhaupt noch fiir ein traditionelles Frauenbild entscheiden kann. Wer begriinden will, warum er nicht berufstatig sein will, kommt schon in arge Erklarungsnote!

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lie auf Zeif herausbildet, „in der die bildungs-, arbeitsmarkt- und berufsorientierten Individuallagen, soweit sie nicht von vomherein auBerfamiliale Lebensformen vorziehen, ein eigenartig widerspruchsvoUes Zweckbiindnis zum geregelten Emotionalitatsaustausch auf Widerruf eingehen," (Beck 1986, S. 208f.) Dieses Urteil mag man als ubertriebene Desillusionierung abtun. Es andert aber nichts an der Tatsache, dass der Anspruch auf individuelle Freiheit und gleiche Rechte es mit sich bringt, dass sich auch in einer so intimen Gemeinschaft wie der Familie die Individuen immer seltener als ganze Person aufgehoben und gefordert fiihlen. Aus der Sicht einer alteren, kritischen soziologischen Theorie konnte man sagen: Die gesellschaftlichen Verhaltnisse, die durch Funktionalitat und Entfremdung der Person gekennzeichnet sind, schlagen auf die Familie als Idee ursprlinglicher Gemeinschaft durch. Und andererseits ist nicht zu ubersehen, dass in diese gemeinschaftlichen Bindungen die gesellschaftlichen Anspriiche hineinreichen, und zwar fur jedes Mitglied: Die vielen RoUenerwartungen, die von auBen aufrechterhalten werden und in ihrer Heterogenitat und Pluralitat die Entscheidungskraft einer intimen Gemeinschaft uberfordem, konnen leider nicht an der Haustur abgestreift werden. Das ist eben der Unterschied zwischen einem gebundenen Buch und einer Loseblattsammlung: Beim Buch ergeben die Blatter zusammen eine gemeinsame Geschichte, und bei der bleibt es; in der Loseblattsammlung kann jede Seite immer wieder ausgetauscht werden, wenn eine neue Geschichte geschrieben werden soil. Die Blatter, die ausgetauscht wurden, hinterlassen keine Spuren. Und trotzdem erwarten wir alle von uns und den anderen, dass wir motiviert und in der Lage sind, jeden Tag einen eigenen Text zu schreiben. Individualisierung, so mochte ich eine erste Zwischenbilanz Ziehen, bedeutet, dass die Gesellschaft dem Individuum das Recht auf Eigenheiten einraumt und das Individuum dieses Recht inzwischen durchgangig auch als Anspruch erhebt. Nach der Freisetzung aus festen kollektiven Orientierungen und engen sozialen Bindungen empfindet mancher diese Freiheit zu jedweder oder auch nur irgendeiner Eigenheit als Zwang, nur ja nicht so zu sein wie alle anderen. In einer Gesellschaft, die fur alles und jedes die richtige Mode anpreist, bleibt es nicht aus, dass man sich und den anderen manchmal auch nur vormacht, man sei anders.

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Der Heine Monch: Was wiirden meine Leute sagen, wenn sie von mir erfiihren, dass sie sich aufeinem kleinen Steinklumpen befinden, der sich unaufhorlich drehend im leeren Raum um ein anderes Gestim bewegt, einer unter sehr vielen, ein ziemlich unbedeutender! (...) Ich sehe, wie sie sich verraten und betrogenfUhlen. Es liegt also kein Auge aufuns, sagen sie. BertoltBrecht(1938)^ ... Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zuriickgetreten sind aus der Offentlichkeit. Max Weber(1919)^ 17.3

Entzauberung

Kommen wir zur zweiten These, der Entzauberung. Was darunter zu verstehen ist, liegt spatestens nach M A X WEBERS dusteren Prognosenio auf der Hand: Es gibt keine verbindlichen Sinnsysteme mehr, auf die sich alle bezogen. Das wurde nicht erst durch die Aufklarung in Gang gesetzt, erhielt aber dort seine moraUsche und poHtische Rechtfertigung. Ganz entscheidend haben im 20. Jahrhundert die Medien, und hier vor allem das Femsehen, dazu beigetragen, dass aus der Darstellung der Fulle des Lebens fur alle wenigstens ein Schluss herauskam: Fur fast alles gibt es gute Grlinde, und kein Wert und keine Norm, kein Geheimnis und kein Glaube ist im Prinzip besser oder schlechter als ein anderer. Entzauberung heiBt denn auch, dass naives Vertrauen auf einen festen Sinn nicht mehr moglich ist. Individualisierung beinhaltet Entzauberung von Gewissheiten und Freisetzung des Individuums zu eigenen Entscheidungen. Obwohl Werte und Orientierungen fast beliebig werden, mtissen sie gleichwohl entschieden werden. Das erste bedeutet Pluralisierung, und zwar Pluralisierung in vielerlei Hinsicht und in verschiedenen Bereichen des Lebens gleichzeitig. Das zweite heiBt, dass neue soziale Konstellationen entstehen oder hergestellt werden mtissen, in denen gehandelt wird. 8 Bertolt Brecht (1938): Das Leben des Galilei, S. 64 9 Max Weber (1919): Wissenschaft als Beruf, S. 510 10 Siehe oben Kap. 15.1 ,2weckrationalitat und innere Vereinsamung der Individuen".

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17 Individualisierung und reflexive Modernisierung

Das Individuum muss im Grunde ohne Netz und doppelten Boden alles selbst erfinden, entscheiden - und vor anderen rechtfertigen! In dieser Hinsicht trifft es den einen mehr und den anderen weniger. Der eine ist zu einem solchen Verhalten mehr in der Lage als ein anderer, dieser ist in soziale Beziehungen eingebunden, die eine relative Sicherheit in dieser Hinsicht geben, und jener ist ratios auf sich gestellt. Die von Weber so bezeichnete „Intellektualisierung, Rationalisierung und Entzauberung der Welt" hat einen Mentalitatswandel nach sich gezogen: Wenn das Individuum wissen will, wer es ist, dann hat es sich selbst zu erfinden - oder sich an Moden und Konjunkturen zu halten, in denen es lemt, das tun zu woUen, was es tun soil. Damit bin ich beim dritten Teil der Individualisierungsthese. 17.4

KontroUe

Die dritte These spricht von einer „neuen sozialen Einbindung" des Individuums. Wie oben schon gesagt, bilden die einzelnen Faktoren der sozialen Existenz in der Summe hochst differenzierte Individuallagen, die sich selbst wieder wandeln. Das Individuum ist gehalten, aus seiner individuellen Lage die Entscheidungen seines eigenen Lebens zu treffen, aber es sieht sich von Institutionen und Regelungen, von Moden und Erwartungen umstellt, die seine individuellen Entscheidungen in eine bestimmte Richtung lenken oder Standardentscheidungen sogar erzwingen. Das Private wie das Offentliche geraten unter den Druck von Moden und Konjunkturen, von Institutionen und Standards. Diesen neuen Modus der Vergesellschaftung nennt Beck Re-Integration und KontroUe. Ein wesentliches Kennzeichen dieser neuen Vergesellschaftung ist die Verrechtlichung des Lebens. Was ist gemeint? Beck denkt z. B. an die institutionellen Regelungen des Bildungssystems, des Arbeitsmarktes oder der sozialen Versorgung, durch die unser Leben prozessiert wird. „Standisch gepragte, klassenkulturelle oder familiale Lebenslaufrhythmen werden uberlagert oder ersetzt durch institutionelle Lebenslaufmuster. Eintritt und Austritt aus dem Bildungssystem, Eintritt und Austritt aus der Erwerbsarbeit, sozialpolitische Fixierungen des Rentenalters, und dies sowohl im Langsschnitt des Lebenslaufes (Kindheit, Jugend, Erwachsenensein, Pensionierung und Alter) als auch im taglichen Zeitrhythmus und Zeit-

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Individualisierung und reflexive Modernisierung

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haushalt (Abstimmung von Familien-, Bildungs- und Berufsexistenz)." (Beck 1986,8.21 If.) Fur diesen Zusammenhang von Freisetzung und Standardisierung gibt Beck ein pittoreskes Beispiel, das Femsehen: „Das Femsehen vereinzelt und standardisiert. Es lost die Menschen einerseits aus traditional gepragten und gebundenen Gesprachs-, Erfahrungs- und Lebenszusammenhangen heraus. Zugleich befinden sich aber alle in einer ahnlichen Situation: sie konsumieren institutionell fabrizierte Femsehprogramme, und zwar von Honolulu bis Moskau und Singapur. Die Individualisierung - genauer: Herauslosung aus traditionalen Lebenszusammenhangen - geht einher mit einer Vereinheitlichung und Standardisierung der Existenzformen." (Beck 1986, S. 213) Will man den Rahmen, der dem Individuum bei der Suche nach sich selbst und beim Versuch, seine Individualitat zu finden und zum Ausdruck zu bringen, gegeben ist, auf einen knappen Nenner bringen, dann kann man es in den Worten des kanadischen Sozialphilosophen CHARLES TAYLOR tun, der die drei Seiten des Unbehagens an der Modeme so zusammenfasst: „Die erste Befurchtung betrifft den sogenannten Sinnverlust, das Verblassen des moralischen Horizonts. Bei der zweiten geht es um das Verschwinden der Zwecke angesichts der wuchemden instrumentellen Vemunft. Die dritte gilt einem gewissen Mangel an Freiheit." (Taylor 1991, S. 17) Die Entzauberung hat dem Individuum den festen Halt bei seiner Suche nach dem Sinn seines Lebens genommen. Die Freisetzung hat ihm die Aufgabe beschert, gemeinschaftliche Bindungen selbst herzustellen. Die zunehmende Institutionalisierung und Verrechtlichung der gesellschaftlichen Beziehungen rahmen nicht nur seine Individualitat, sondem kontrollieren auch seine Vorstellungen von Freiheit. Uberspitzt kann man sagen: Nach der Individualisierungsthese sieht sich das Individuum genotigt, ununterbrochen Entscheidungen fur sein nachstes Handeln zu treffen, ohne sich auf einen sozialen Konsens des Richtigen Oder Vemiinftigen (des Guten schon gar nicht!) stutzen zu konnen, aber in dem unguten doppelten Gefuhl, dass seine individuellen Entscheidungen schon durch Sachzwange praformiert sind und dass die Folgen seines Handelns nicht eindeutig sind. Das ist die These, die Beck unter dem Stichwort der „reflexiven Modernisierung" aufstellt.

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17 Individualisierung und reflexive Modernisierung Die Modeme ist kein Fiaker, aus dem man, wenn es einem nicht passt, an der ndchsten Ecke aussteigen kann. 1 ^

17.5

Reflexive Modernisierung

Das Individuum ist, wenn es darauf besteht, ein solches zu sein, selbst riskant geworden. Die Gesellschaft ist es nicht minder. Die strukturellen Veranderungen, die sie zur „Risikogesellschaft" gemacht haben, fasst Beck unter der These der »reflexiven Modemisierung«, und seine diesbezugUche Frage lautet: „Wie verandert sich das Gesicht der Industriegesellschaft im Zuge reflexiver Modemisierungen?". (Beck 1991,8.40) Was ist unter „reflexiver Modernisierung" zu verstehen? Beck gibt die Antwort, indem er zwischen einfacher und reflexiver Modernisierung unterscheidet und das Verhaltnis zwischen beiden Uber eine grundsatzHche Frage anspricht: „Einfache Modernisierung meint RationaHsierung der Tradition, reflexive Modernisierung meint Rationalisierung der Rationalisierung. Modernisierung wurde bislang immer in Abgrenzung gedacht zur Welt der tJberlieferungen und Rehgionen, als Befreiung aus den Zwangen der unbandigen Natur. Was geschieht, wenn die Industriegesellschaft sich selbst zur »Tradition« wird? Wenn ihre eigenen Notwendigkeiten, Funktionsprinzipien, Grundbegriffe mit derselben Riicksichtslosigkeit und Eigendynamik zersetzt, aufgelost, entzaubert werden, wie die Mochte-gem-Ewigkeiten friiherer Epochen?" (Beck 1991,8.40) Die Antwort liegt auf der Hand: Dann wird die Modeme selbst zum Thema. Konkreter, eine alte und eine neue Modeme geraten in Konflikt. Die neue wird in dem 8inne „reflexiv", dass die Rationalisiemng die RationaHsiemng entzaubert. (vgl. Beck 1991, 8. 40) Diesen „Konflikt der zwei Modemen" konnen wir nicht unter der Decke der soziologischen Theorie halten, denn er ist langst im Alltag der Menschen ausgebrochen! Dann riicken Fragen wie „Was verandert sich auch, obwohl wir etwas ganz anderes geplant oder angenommen haben?" oder „Was sind mogliche Nebenfolgen, wenn wir versuchen, die Welt zu 11

Ulrich Beck in leichter Abwandlung eines Zitates von Max Weber. (Beck 1991, S.50)

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verbessem?". Ich driicke es hier bewusst umgangssprachlich aus, weil man so am ehesten auf die Frage nach den nichtintendierten Folgen des Handelns (oder Unterlassens) in einer Modeme, die zum Selbstlaufer zu werden droht, stoBt. Schon auf der Ebene des Alltagsdenkens gerat die „orthodoxe Ordnungsschematik industriegesellschaftlicher Institutionen und Lebensformen" (Beck 1996a, S. 23) durcheinander. Wahrend in der ersten Modeme das Denken sich an „Begriffen wie Industrie, Nationalstaat, Klassen, Manner- und Frauenrollen, Kleinfamilie, Technikglauben, wissenschaftlichem Wahrheitsmonopol etc." festhalten konnte, entstehen mit der Individualisierung und gleichzeitigen Globalisierung ganz neue, „andersartige Identitaten, Akteure, Politikstile, Beziehungsmuster und Verantwortungsformen." (S. 22 und 23) Uber diese Phanomene der zweiten Modeme konnen wir nicht in den Begriffen der ersten Modeme reden. Welche Begriffe zur Erklarung wir brauchen und welche Deutungsmuster wir vielleicht erst erfinden mtissen, kann man erahnen, wenn man sich klar macht, wie es zu dem „Konflikt der zwei Modemen" gekommen ist. Er lasst sich theoretisch mit der Rationalisiemngsthese von MAX WEBER erklaren: Rationalisierung bedeutet nicht nur Versachlichung, sondem auch konsequente Anwendung und Steigerung von Entscheidungen, und das in alien Lebensbereichen. Was fiir den Handel gilt, gilt auch fur die Organisation der Arbeit, die Lebensfiihrung und den Glauben. Aber irgendwann kommt ein Punkt, an dem diese Steigerungen Nebenfolgen haben, die sich gegenseitig blockieren. Sie werden lange nicht bemerkt, aber bedingen einander. Diesen Rlickbezug bezeichnet Beck als »Reflexivitat«i2. Im Grunde meint Reflexivitat der Nebenfolgen also „wnreflektierte Modemisierung". (Beck 1996b, S. 289) Nun ist es nicht so, dass niemand diese Nebenfolgen bemerkte, aber dem einen fallen diese, dem anderen jene auf. Vor allem Experten machen sich Gedanken liber diese Nebenfolgen, aber sie „reflektieren" (jetzt im Sinne des „Nachdenkens"!) und begriinden sie jeweils nur in einem Ausschnitt und setzen sie selektiv in Beziehung nur zu bestimmten anderen. In der Summe stellt sich das Wissen liber die Nebenfolgen der Modernisierung als ein „Konfliktfeld pluralistischer Rationalitatsansprliche", im Einzelnen als ein Nebeneinander von „Nicht-Wissen" 12

„reflectere" (lat.) - zuriickwenden, sich wenden auf.

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17 Individualisierung und reflexive Modernisierung

dar! (vgl. Beck 1996b, S. 299) Auch in dieser Hinsicht passt das Bild von der Loseblattsammlung, die die Individuen in der Gesellschaft darstellen: Jeder weiB etwas und halt es fur wichtig, und ganz viel anderes weiB er eben nicht. Aber jeder ahnt, dass sich hinter seinem Rucken etwas nach eigenen Gesetzen abspielt, und mancher hat das Gefuhl, dass es Entwicklungen sind, die im Widerspruch zu dem stehen, was ihm von Technikem, Politikem und wem auch immer im Geist der modemen, das hieB: immer schoneren neuen Welt versprochen wurde! Aufgebrochen ist der Widerspruch der Modeme mit der okologischen Frage: „Mit ihr werden Basispramissen europaischen Denkens und Handelns fragwurdig: die Vorstellungswelt des grenzenlosen Wachstums, die technische Fortschrittsgewissheit, die Gegeniiberstellung von Natur und Gesellschaft." (Beck 1996a, S. 20) Doch um diese Frage allein geht es in der Risikogesellschaft schon lange nicht mehr. Die „Ordnungsmodelle des Sozialen" selbst wurden fraglich. (ebd.) Aus der Rationalisierung folgt namlich zweitens, dass „die Gesellschaft der Institutionen und die Gesellschaft der Individuen (...) in ihren Grundformen" nicht mehr korrespondieren. (Beck 1991, S. 45) Was ist gemeint? Beck sieht es so: Die Menschen werden aus Sicherheiten, die mit der Industriegesellschaft zunachst gegeben waren, und aus Standardlebensformen, wie sie sich traditional ergeben hatten, freigesetzt. Hier ist sich z. B. niemand mehr seines Arbeitsplatzes sicher, und dort tut jeder im Grunde, was er will. Hier tun die Institutionen so, als ob man sich fur einen festen Beruf vorbereiten mtisse und als ob der dann fiir ein Leben gelten soil, und dort geht man z. B. davon aus, dass ein Vater auch der Verdiener und der Ehemann usw. ist. Was Beck sagen will, ist, dass das System einer alteren Logik folgt und die Individuallagen durch eine hohe Pluralisierung von Rollen gekennzeichnet sind, die nur zum Teil den Erwartungen der Institutionen entsprechen. Ein Beispiel: Betriebe erwarten, dass die Motivation der Arbeiter dauerhaft, hoch und kontinuierlich ist; der eine Arbeiter rechnet damit, dass er mit seinen 55 Jahren liber kurz oder lang mit einer Entlassung rechnen muss, und wird nur noch begrenzte Motivation aufbringen, und der andere betrachtet seinen Job nur als notwendiges libel, das seine frohliche Freizeit unterbricht. Oder ein anderes Beispiel: In der Diskussion um den Generationenvertrag wird unterstellt, dass im Fall des Falles, wenn also private Altersvorsorge und gesetzliche Rente nicht ausreichen, doch eine Solidargemeinschaft eintreten

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wird, obwohl die Individualisierung seit langem eine Mentalitat begunstigt hat, in der jeder zunachst und vor allem nur an sich denkt. Ein letztes Beispiel, das auch Beck erwahnt: In der Familiensoziologie gilt die Kleinfamilie traditionell als das Muster, nach dem alle Altemativen, Gefahren und Katastrophen bewertet werden, tatsachlich haben sich aber so viele Varianten des Zusammenlebens etabliert, dass man nicht mehr von Familie, sondem von Famili^n sprechen miisste. (vgl. Beck 1991,8.43) Fazit: „Die Konsensformen und -formeln (...) zerbrockeln" (Beck 1991, S. 45) - mogen sie nun Klasse, Kleinfamihe, Ehe, Beruf, Frauenrolle, MannerroUe, Solidargemeinschaft oder eben auch Individualitat und Identitat lauten. Im Zuge reflexiver Modernisierung geraten die Institutionen, worunter man den kollektiv unterstellten Konsens, wie Gesellschaft sinnvoll geregelt ist, verstehen kann, unter Druck: Sie „verlieren (...) ihre historischen Grundlagen, werden widerspriichlich, konflikthaft, individuumabhangig, erweisen sich als zustimmungsbedtirftig, auslegungsbediirftig, offen fur interne Koalitionen und soziale Bewegungen." (Beck 1991, S. 50) Individuumabhangig werden die Institutionen nicht, „weil die Individuen so machtig, sondem weil die Institutionen historisch widerspriichlich werden" (S. 45). Individualisierung heiBt in dieser Hinsicht, dass jeder einzelne fur sich entscheiden muss, welchen Wert er welcher institutionellen Regelung beimisst. Hier klingt eine von PETER L . BERGER, BRIGITTE BERGER und HANSFRIED KELLNER in ihrem Buch liber „Das Unbehagen in der Modemitat" aufgestellte These, dass die modeme Identitat „besonders individuiert" ist, an: „Das Individuum (...) erlangt (...) einen sehr wichtigen Platz in der Hierarchic der Werte. Individuelle Freiheit, individuelle Autonomic und individuelle Rechte werden als moralische Imperative von fundamentaler Bedeutung ftir selbstverstandlich genommen, und das oberste dieser individuellen Rechte ist das Recht, sein Leben so frei wie moglich zu planen und zu gestalten. Dieses Grundrecht wird von einer Vielzahl modemer Ideologien ausfiihrlich legitimiert." (Berger, Berger u. Kellner 1973, S. 71)13

13 Diese These wird in Kap. 29.5 „Besonders individuiert - der enge Rahmen der Autonomie" behandelt.

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17 Individualisierung und reflexive Modernisierung

Doch was ist von diesem neuen Grundrecht zu halten, wenn man die zunehmende Verrechtlichung aller Lebensbereiche, die Institutionalisierung, KontroUe und Standardisierung zur Kenntnis nimmt, die Beck angesprochen hat? Was kann man von dem formalen Recht der individuellen Freiheit halten angesichts der Tatsache, dass gesellschaftliche Forderungen und Moglichkeiten in sich widerspriichhch und in ihren Folgen nicht zu tibersehen sind? Im Raderwerk beginnt es zu knirschen, und die Widersprtiche werden bewusst. In dieser Situation helfen weder Wegsehen noch eine Pohtik des Durchwurschtelns, und das Rad der Zeit zurtickdrehen geht schon gar nicht: „Die Modeme ist kein Fiaker, aus dem man, wenn es einem nicht passt, an der nachsten Ecke aussteigen kann, sagte Max Weber. Dies gilt auch, wenn die Modeme in die Kurve der Selbstanwendung geht." (Beck 1991, S. 50) Das hat M A X WEBER zwar nicht von der Modeme gesagt, sondem von der Wissenschaft (vgl. Weber 1919a, S. 543), aber als Metapher passt es ganz gut. Um im Bild zu bleiben: Je schneller die Modeme in die Kurve der Selbstanwendung kommt, umso mehr steigt die Gefahr, dass wir die Krafte, die wir entfesselt haben, nicht mehr beherrschen. Wenn wir nicht auf die Bremse treten - zumindest iiber Konsequenzen nachdenken - und alles weiter machen, was wir technisch und ideologisch machen konnen, dann wird der soziale Fortschritt ziemlich bald an sein Ende kommen. Und wenn wir uns nicht den Widerspriichen zwischen den Institutionen und den individuellen Lebenslagen stellen, auch. Beck hofft nun darauf, dass die Widersprtiche so offensichtlich werden, dass eine offentliche »Reflexion« einsetzt, die nach Wegen in eine andere, »zweite Modeme« sucht. Um die „Praxis des industriellen Weiter-So" ganz gezielt zu unterlaufen, spricht er die „Folgenbremser, Zweifler, Umdenker in alien Bereichen, Etagen, Themen gesellschaftlicherEntwicklung" an. (Beck 1991, S. 51) Die Theorie reflexiver Modemisiemng nimmt das latente Unbehageh, das allmahliche „Bewusstsein der Selbstgefahrdung" emst. (Beck 1996a, S. 26) Direkt auf das Handeln gewendet ist reflexive Modemisiemng „das Bemiihen, Sprache und damit Handlungsfahigkeit, Wirklichkeit wiederzugewinnen". (ebd) Welche Wissenschaft, wenn nicht die Soziologie, ware mehr gefordert, diese offentliche Reflexion in Gang zu setzen und gegen die Ideologen, die uns das Blaue vom Himmel versprechen oder uns mit schwarzen Szenarien an der Hoff-

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nung zu leben hindem, soziologische Aufklarung zu setzen?! Und da es nie um eine „Gesellschaft an sich" geht - wen betrafe diese Verpflichtung mehr als das konkrete Individuum? Das Individuum als Idee, Forderung und Handlungsimpuls ist nicht an sein Ende gekommen, sondem ist - wie die Modeme selbst, von der JURGEN HABERMAS (1981a) das behauptet hat - ein „unvollendetes Projekt". Projekte darf man nicht ins Blaue und auf gut Gluck entwerfen. Nattiriich spielt immer ein bisschen ideale Zukunft mit, und in der Zeit des Wunschens macht man auch geme einmal die Augen vor der schnoden ReaUtat (incl. des eigenen Konnens!) zu. Aber wenn wir uns emsthaft an die Frage heranmachen, wer wir sind und wer wir sein wollen, dann miissen wir die objektiven Bedingungen, unter denen wir das Bild von uns und von unserer Zukunft konstruieren, sehr genau zur Kenntnis nehmen. Die soziologischen Erklarungen, wie das Projekt Individuum nach einem langen Weg am Ende in einer riskanten Modeme angekommen ist, und was die Bedingungen inzwischen sind, unter denen IndividuaHtat heute gefunden und prasentiert werden muss, sollten einen ganz praktischen Effekt haben: Jetzt weiB man wenigstens schon einmal, wo man mit seinen Fragen anfangen konnte. Damit wir nicht vergessen, dass wir die Frage nach den Bedingungen stellen, um unser Projekt Individuum auf einen guten Weg zu bringen, sollten wir uns den folgenden Rat eines klugen Beobachters der groBen und kleinen Dinge des Lebens zu Gemtite fuhren: Wir dilrfen die Dinge nicht so sehen, wie sie sind, sondem wie sie sein sollen. Bernard Shaw 14

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Noch immer muss ich um Hilfe bitten: Wo steht das? Frank Brockmeier hat inzwischen herausgefunden, dass es genau umgekehrt in „The Devil's Dictionary" (1906) des amerikanischen Satirikers Ambrose G. Bierce heil3t: ,JEndeavor to see things as they are, not as they ought to be." Vielleicht bezog sich Shaw ja gerade auf diesen Satz. Jedenfalls gefallt mir Shaws Kritik, wenn sie denn von ihm stammt, besser!

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17 Individualisierung und reflexive Modernisierung

Ich zitiere diesen Rat ausdrlicklich auch am Ubergang zu der nun folgenden soziologischen Diskussion liber Identitat! Wir sollten ihn bei unserer eigenen Antwort auf die Fragen, die ganz am Anfang dieses Buches standen und die ich gleich noch einmal aufnehme, berucksichtigen und auch bei den Erklarungen, die uns die Soziologie bei diesem Thema anbietet, immer im Hinterkopf behalten.

Ich bin viele. Helga Bilden (1997) 1 Die modeme Identitdt ist besonders ojfen. Peter L. Berger, Brigitte Berger, Hansfried Kellner (1973) ^ Ich probiere Geschichten an wie Kleider. Max Frisch (1964)^ Die WUrde der eigenen Lebensform. Erik H. Erikson (1950) 4

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Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel

18.1 18.2 18.3 18.4

Antworten Fragen und Zweifel Uberblick iiber die soziologische Diskussion iiber Identitat Eine Definition und ein Ziel

Die Geschichte des Individuums in der Modeme ist die Geschichte einer doppelten Freiheit. Die eine Freiheit bezeichne ich als „Freiheit zur Individualitat". Mit dieser Geschichte, die ich oben nachgezeichnet habe, beginnt aber auch die Geschichte der „Freiheit von einem einheitlichen gesellschaftUchen Orientierungsrahmen", in dem die IndividuaHtat fur einen selbst und vor den anderen Sinn machen wiirde. Diese zweite Geschichte der Freiheit des Individuums ist von Anfang an in die andere eingewoben, und das vorlaufige Ende dieser Geschichte ist 1 2 3 4

Helga Bilden (1997): Das Individuum - ein dynamisches System vielfaltiger Teil-Selbste, S. 238 Peter L. Berger, Brigitte Berger, Hansfried Kellner (1973): Das Unbehagen in der Modernitat, S. 70 Max Frisch (1964): Mein Name sei Gantenbein, S. 19 Erik H. Erikson (1950): Wachstum und Krisen der gesunden Personlichkeit, S. 119

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18 Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel

bekannt: Das zu eigener Individualitat freigesetzte Individuum sah sich plotzlich vor eine Fiille von Optionen gestellt, die alle gleich Sinn machten. Weder waren diesbezugliche Entscheidungskriterien leicht zu finden, noch waren die Entscheidungen wirklich freigestellt. Die gesellschaftlichen Bedingungen einer fortgeschrittenen Modeme rahmten die Entscheidungen, und sie hatten je nach sozialer Lage unterschiedliches Gewicht. Das war der Tenor der letzten Diskussion tiber die soziale Geschichte des Individuums und seiner Individualitat. Es war eine zweifache Individualisierung, die das Individuum durchmachte und durchmacht. Es wird angehalten, auf eigenen FiiBen zu stehen, selbst zu denken und seine Einzigartigkeit zu zeigen. Gleichzeitig sieht es sich aber auch alleingelassen, denn soziale Bindungen losen sich auf, feste Orientierungen verfliichtigen sich, und einzigartige Entscheidungen laufen ins Leere, weil fiir alles schon Muster voriiegen, die zu missachten nicht opportun ist, weil man sonst Anerkennung verliert. Die ursprungliche Konnotation des Begriffs „Individualisierung", namlich Einzigartigkeit gegeniiber anderen zeigen zu wollen und zu durfen, hat sich verschoben. In der „reflexiven Modeme", in der sich ihre eigenen Bedingungen gegen sie zu wenden beginnen, bedeutet Individualisierung, in vielen Fragen des eigenen Lebens auf sich allein gestellt zu sein. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist pluralisiert, und deshalb gibt es bei vielen Entscheidungen - wenn man sie uberhaupt trifft! - gute Griinde, sie auch anders zu treffen. Das Individuum behilft sich, indem es sich nie ganz und schon gar nicht fiir die Ewigkeit festlegt, sich mehr oder weniger elegant tiber die Runden bringt und die Frage, wer es in all diesem eigentlich selbst ist, nicht aufkommen lasst. Um genau diese Frage geht es nun unter dem Stichwort „Identitat". Auch hier werde ich prominente Theorien referieren, die erklaren, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen die Arbeit an der Identitat vonstattengeht. Soziologen stufen diese Bedingungen in der Modeme als problematisch ein und sprechen von einer Krise der Identitat. Gleichwohl setze ich einige Hoffnung darauf, dass Identitat tatsachlich gewonnen werden kann. Deshalb nenne ich zum Schluss auch Kompetenzen. Mit ihnen lieBe sich das, was im Laufe der europaischen Geschichte unter dem Schlagwort „Individualitat" gewollt und gesollt wurde, ein Stiick weit einlosen, und es lieBe sich auch die Last der „Individualisiemng", wie sie uns eine Modeme, die aus den Fugen zu geraten droht, beschert hat, aushalten, - vielleicht sogar abwerfen.

18 Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel

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Nun zum Thema selbst und zum Aufbau der folgenden soziologischen Diskussion um ein zentrales Thema unser unruhigen Modeme und auch zu dem Ziel, das ich dabei verfolge. Es ergibt sich aus dem Zitat von Erik H. Erikson, das ich diesem Kapitel vorangestellt habe, und aus der Erklarung, die ganz am Ende des letzten Kapitels stand. Da man nun eine Person nennt ein Ding, das sich bewusst ist, es sei eben dasjenige, was vorher in diesem oder jenem Zustand gewesen: so sind die Tiere auch keine Personen. Hingegen weil die Menschen sich bewusst sind, dass sie eben diejenigen sind, die vorher in diesem oder jenem Zustande gewesen: so sind sie Personen. Christian Woljf (1720)^ 18.1

Antworten

Ich beginne mit einem Zitat von ERIK H . ERIKSON, auf dessen Theorie der Identitat sich viele innerhalb und auBerhalb der Soziologie immer wieder beziehen. Er schreibt: „Eine dauemde Sorge um seine Identitat fuhrt entweder zum Prahlen oder zum Klagen; man prahlt damit, dass man genau weiB, wer man ist (...), oder man beklagt sich dariiber, dass man nicht wei6, wer man ist." (Erikson 1974, S. 140) In der ersten Hinsicht wurde ich heute vorsichtiger formuheren. Leuten, die damit prahlen, genau zu wissen, wer sie sind, begegnet man heutzutage nur ganz selten, und wenn man uberhaupt jemanden trifft, der das ungefragt von sich behauptet, dann kommt einem schnell der Verdacht, dass er im Grunde nur von sich eingenommen ist und sich und uns etwas vormacht. In der zweiten Hinsicht scheint mir Erikson ein Problem benannt zu haben, das sich heute noch genau so stellt. Wer sich wirklich fragt, wer er ist, findet oft keine Antwort. Mehr noch: Wem eine solche Frage in den Sinn kommt, hat den Eindruck, dass das, was Teil der Antwort sein konnte, von vielen Seiten bedroht ist. In der Alltagssprache wird das Wort „Identitat" oft mit Situationen assoziiert, in denen ein Individuum in eine existentielle Krise gerat oder etwas verliert oder dass ihm etwas abgesprochen wird, was ihm unbeChristian Wolff (1720): Verniinfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, auch alien Dingen uberhaupt, § 924

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18 Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel

dingt zukommt. Manchmal haben wir auch den Verdacht, dass jemand seine wahre Identitat verbirgt oder dass ein anderer heute so und morgen so ist. Interessanterweise ist das ein Verdacht, den wir ganz selten auch gegeniiber uns selbst haben. Wo das Individuum den Begriff Identitat direkt mit sich selbst in Verbindung bringt, hat er oft auch eine ausgesprochen positive Bedeutung. Es assoziiert mit ihm eine Charakterstarke und die tJberzeugung, dass es im GroBen und Ganzen so ist, wie es ist und dass es im Kern auch immer so gewesen ist und sein wird. Uberhaupt scheinen viele der Meinung zu sein, man konne beim Menschen nur dann von „Identitat" sprechen, wenn er in alien Situation „sich gleich" sei (wenigstens im Prinzip!) und konsequent nach festen Grundsatzen handele. Interessanterweise ist diese Konnotation schon im lateinischen Ursprung des Wortes Identitat angelegt, denn es kommt von „idem", was libersetzt „derselbe" oder „dasselbe" heiBt. In diesem Sinne lasst sich auch lesen, wie der groBe Aufklarer CHRISTIAN WOLFF die Menschen als Personen definiert: Sie sind es deshalb weil sie „eben diejenigen sind, die vorher in diesem oder jenem Zustand gewesen" sind (Wolff 1720, § 924). Je nachdem wie man die Worte betont, kann man diese Definition so interpretieren, dass sich der Mensch seiner vergangenen Zustdnde innewerden und sie im Lichte der Gegenwart reflektieren kann.6 Man kann es aber auch so lesen, dass sie sich als diejenigen, das heiBt als bestimmte, denen man etwas liber alle Zustande hinweg zurechnen kann, erkennenJ Das wUrde nahe legen, die Person tiber Gleichheit und Kontinuitat zu definieren. In der Alltagssprache wird das, wie gesagt, naiv getan. Die Soziologie ist skeptisch, ob es eine solche gleiche und konstante Identitat uberhaupt gibt. Ich will Sie auf diese Skepsis und auf die verzweigte Diskussion einer Soziologie der Identitat uberhaupt vorbereiten, indem ich eine Frage formuliere, die Ihnen sicher auch schon gekommen ist.

Gleich werde ich andeuten, dass wir die Zustande nicht nur feststellen, sondern sie unmerklich so bewerten, dass sie zu unserem aktuellen Bild von uns passen. Auf das Zitat von Wolff komme ich ganz zum Schluss in Kap. 30.4 „Bewegliches Denken" (Anm. 5) noch einmal zuriick, weil ich meine, einem zu hohen Anspruch an die Identitat in der Moderne die Spitze nehmen zu sollen.

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Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel

18.2

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Fragen und Zweifel

Die Frage lautet: „Wer bin ich?". Man kann die Frage auch differenzieren, und dann lauten die aufeinander bezogenen „einfachen" Fragen, wie ganz am Anfang schon erwahnt, so: „Wie bin ich geworden, was ich bin?", „Wer will ich sein?", „Was tue ich?" und „Wie sehen mich die anderen?" Identitat ist die Antwort auf diese Fragen.8 Gehen wir die Fragen und mogliche Antworten, wie sie der gesunde Menschenverstand parat hat, im Einzelnen durch. Wir sind die Geschichten, die wir Uber uns zu erzdhlen vermogen. Jan Assmann (1997) 9 Was die Frage nach der eigenen Biographic angeht, diirfte sich die Meinung, dass es da nichts zu diskutieren gabe, breitester Zustimmung erfreuen. Die Vergangenheit sei Vergangenheit, und daran versuchten nur Lugner und Tauscher etwas zu andem. Wir, die wir zwar manches vergessen, aber nichts verdrehen, „wissen", wie es war, und deshalb ergibt sich unser Bild von uns auch konsequent aus einer Vergangenheit, die so ist wie sie ist, und deshalb ist das Bild von uns auch immer gleich. Soziologen haben da ihre Zweifel! Die Erinnerungen daran, wer wir in welchen Situationen waren und was wir erfahren haben, sind weder vollstandig, noch eindeutig. Das Wissen um die eigene Biographic und damit um die aus ihr erwachsene Struktur des eigenen Handelns steht nicht fest, sondem wandelt sich. Es gibt unmerkliche Revisionen der eigenen Geschichte. Manchmal vergisst man einfach, was man friiher war und wollte, manchmal bringt man es unmerklich auf Vordermann. Dann findet man auch neue Erklarungen, warum man in einer bestimmten Weise handelt, und unter der Hand werden auch die Ziele des Handelns immer wieder neu definiert. Wir erinnem uns immer nur an das, was unser aktuelles Bild von uns bestatigt. Schon das ist also eine Konstruktion. Das mag die betriiben, die meinen, sie seien sich immer treu geblieben 8 9

Sie denken an die Erklarung, die ich ganz am Ende des letzten Kapitels abgegeben habe! Jan Assmann (1997): Moses der Agypter, S. 34

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18 Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel

und warden ihr Fahnchen nicht nach dem Wind hangen. Doch um diesen frommen Wunsch geht es nicht, sondem um die Tatsache, dass das Individuum nicht allein auf einer Insel und in einer konstanten Umwelt lebt, sondem in sozialer und symbolischer Wechselwirkung mit zahlreichen, wechselnden anderen und in einer dynamischen, komplexen Welt. Wer meint, dass er davon nicht beeindruckt wird, kommt fiir eine soziologische Betrachtung nicht in Frage. Wer meint, dass er umso rigider an seinem Bild von sich selbst festhalten mlisse, wird moghcherweise den Anschluss an die Optionen des kulturellen und sozialen Wandels verpassen. Damit will ich keineswegs jemanden ermuntem, das Fahnchen der Identitat gar nicht erst aufzustellen. Ich will nur vor einer zwanghaften Vorstellung wamen, man sei nur dann identisch, wenn man unbeirrt starren Prinzipien folgt. Umgekehrt heiBt das naturlich nicht, dass wir uns uberhaupt nicht iiber Bedingungen und Prinzipien unseres Denkens und Handelns klar werden soUten. Das mlissen wir sehr wohl - denn sonst wissen wir nicht wirklich, wer wir sind. Aber wir sollten das Muster unseres Denkens und Handelns immer in dem Bewusstsein identifizieren, dass wir die Verbindung zwischen unserer Vergangenheit und einer moglichen Zukunft selbst herstellen. Um diese in Angriff zu nehmen, muss sich jene gefallen lassen, dass wir frtiheres Handeln wie Nichthandeln, Ereignisse und ausgebliebene Erfahrungen neu bewerten und dass wir uns in einem neuen Licht sehen. Wenn wir die Zukunft als Chance denken wollen, mtissen wir gegebenenfalls einen neuen Anlauf aus unserer Biographic nehmen!

Wo die Wunsche hin wollen, da geht die Fantasie eben mit. Franz Xaver Kroetz (1981) 10 Damit bin ich bei der zweiten Frage: „Wer will ich sein?" Sie zielt auf das Bild von uns in einer fiir moglich gehaltenen Zukunft. Diese Zukunft liegt in jedem Augenblick unseres Handelns unmittelbar vor uns. Identitat ist also auch immer neuer Entwurf. Auf diese Zukunft hin muss die Vergangenheit gegebenenfalls neu bedacht werden. Wer sich z. B. vomimmt, ab morgen ein ganz neuer Mensch zu sein, und das 10 Franz Xaver Kroetz (1981): Der Mondscheinknecht, S. 59

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Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel

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emsthaft in Angriff nimmt, wird sich nicht an alle Niederlagen erinnem dtirfen, die er bei ahnlichen Vorhaben hat einstecken miissen. Er wird sie hochstwahrscheinlich nicht ganz vergessen konnen, aber vielleicht wird er bei griindhcher Durchsicht des Lebens Kerne von Mut oder Selbstbewusstsein in ihnen entdecken. Die Hoffnungen, die ich mit solchen Rekonstruktionen verbinde, konnen Sie nachvollziehen, wenn Sie das letzte Wort im Zitat von JAN ASSMANN betonen. Identitat ist Feststellung, wer wir aufgrund unserer Biographie sind, und zugleich Entwurf. Wir mtissen in der Lage sein, eine Geschichte iiber uns zu erzahlen, die unser Denken und Handeln vor der Zukunft sinnvoll integriert. In Hinsicht auf die Entwicklung des Individuums heiBt Identitat, die Vergangenheit mit der Gegenwart in einer sinnvoUen Ordnung zu halten und die Zukunft planvoll anzugehen. Insofem kann man Identitat gleichsetzen mit dem Wissen um eine eigene Biographie. Ich spreche nicht von „der" Biographie, sondem von „einer", um im Bewusstsein zu halten, dass sie sowohl zuruck in die Vergangenheit wie nach vome in eine mogliche Zukunft Konstrukt ist. Das Konstrukt hangt eng mit den Zielen zusammen, die wir haben. Nun ist das mit den Zielen, die wir uns vomehmen, so eine Sache. Manchmal wissen wir „ganz genau", was wir wollen, manchmal belassen wir es bei ganz allgemeinen Entwurfen. Manches wird uns erst im Nachhinein „klar", dass wir es „eigentlich" gewollt haben, und manche Ziele „vergessen" wir auch einfach. Frliher war uns vor allem dies wichtig, heute ist es das, und morgen ist es vermutUch jenes. Konstant ist, dass wir Ziele anstreben und dass wir uns gem zurechnen, dass wir sie erreichen (mit Misserfolgen ist es natiirlich anders!). Aber die Inhalte der Ziele sind nicht konstant. Beides miissen wir unserer Identitat zurechnen. Das Bild, das wir von uns unter der Perspektive unserer individuellen Ziele haben, bleibt vage und muss auch so bleiben, wenn wir nicht Chancen der Zukunft verspielen wollen. Auch in dieser Hinsicht muss sich unsere Vergangenheit gefallen lassen, dass wir sie im neuen Licht sehen. Identitat ist das Bild von uns vor einer moglichen Zukunft.

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18 Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel Der flexible Rollenspieler weifi schliejilich nicht mehr, wer er eigentlich wirklich ist. David Riesman (1950) H

Die Frage „Was will ich sein?" hangt naturlich mit der Frage zusammen, was ich tue. Diese Frage fiihrt uns rasch dazu, dass wir einiges gar nicht aus freien Stiicken tun. Wir sind nicht allein auf der Welt, und deshalb mtissen wir auch einiges tun und sein, was uns die Kultur im Prozess der Sozialisation nahegelegt hat oder was die Gesellschaft und konkrete andere von uns erwarten. Die Soziologie nennt solche Erwartungen „soziale Rollen". Sie gelten fur alle, die sich in derselben Position des Handelns befinden. Die Frage, wer ich bin, muss immer auch fur diese, alle anderen genau so fordemde, RoUe beantwortet werden. Da wir viele Rollen spielen, die sich zum Teil sogar widersprechen, wir ihnen aber nicht entkommen konnen, mtissen wir die Frage, wer wir als Handelnde „wirklich" sind, situationsspezifisch beantworten. Die Antwort kommt in dem Zitat von HELGA BILDEN vor dieser Einleitung ganz gut zum Ausdruck. Unter der Perspektive der Beanspruchung in vielen Rollen heiSt Identitat, durch alle diese Rollen ein Muster zu erkennen, das Sinn macht und moglichst nicht im Widerspruch zu unserem aktuellen Bild von uns selbst steht. Wir alle spielen Theater. Erving Gojfman (1959)

Die vierte Frage wird geme von den Selbstbewussten mit dem Bekenntnis abgewehrt, es sei ihnen schnurzpiepegal, wie andere sie sahen. So glucklich unbeirrt sind wir anderen leider nicht, und wenn wir uns genau beobachten, dann stellen wir fest, dass wir schon darauf bedacht sind, vor den anderen einen ganz bestimmten Eindruck zu erwecken, und umgekehrt erwischen wir uns dabei, dass wir oft ganz ahnlich gedacht und gehandelt haben wie die, die uns wichtig sind. Identitat ist das Bewusstsein des Bildes, das andere von uns haben. Doch auch dieses Bild ist nicht klar, zumindest fur den kritischen Soziologen nicht. Denn erstens konnen wir uns etwas vormachen, wie andere uns sehen, zweitens vermitteln wir vor wechselnden Personen auch unterschiedli11

David Riesman (1950): Die einsame Masse, S. 152

18

Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel

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che Eindriicke von uns (vor dem angebeteten Schonen auf der Ferieninsel verhalte ich mich anders als vor der gmmmelnden Erbtante), und drittens passen wir die Bilder, die die anderen von uns haben, an das, was wir aktuell sein wollen, an. In dem Zusammenhang will ich die schon referierte These von GEORG SiMMEL wiederholen, dass Individualitdt allein schon dadurch zustande kommt, dass jeder Mensch in einem einzigartigen Schnittpunkt sozialer Kreise steht.12 Die gleichzeitige Zugehorigkeit des Individuums zu zahlreichen sozialen Kreisen mindert zwar die soziale Kontrolle und erlaubt ihm, ein „individuelles Gesetz", einen eigenen Lebensstil gegentiber der Gesellschaft zum Ausdruck zu bringen, aber in Wirklichkeit droht dem Individuum, von der objektiven Kultur mit ihren Erwartungen, Regelungen und Institutionen uberwuchert zu werden. Dieser pessimistische Gedanke zieht sich durch viele Theorien der Identitat. Und auch ein anderer Gedanke Simmels spielt in vielen soziologischen Theorien eine Rolle: die Tatsache, dass das Individuum in der Masse, hier vor allem in der Stadt, unterzugehen droht. Deshalb legt es sich eine Haltung zu, die zu allem und zu alien passt. Das Bild, das das Individuum selbst von seiner Identitat hat und das die anderen von ihm haben, bleibt diffus. Simmel hat es „unpersonliche Darbietungen" (Simmel 1903, S. 130) genannt. Die von ihm beschriebenen Wunderlichkeiten und Kapricen, mit denen wir manchmal unsere Besonderheit zum Ausdruck bringen, haben wenig mit unserer Identitat, aber viel mit der Anpassung an die Erwartungen der anderen zu tun. Kommen wir auf die soziale Einbettung der Identitat zu sprechen: In Hinsicht auf die Interaktion mit anderen heiBt Identitat, dass sich das Individuum seiner Einzigartigkeit und seiner Normalitat zugleich bewusst ist und dass es beides zeigt. Aus all diesen Uberlegungen mochte ich den Schluss ziehen, dass man nicht von der Identitat, sondem immer nur von einer Identitat sprechen kann, wie sie zu der aktuellen Situation passt. Die vorab zitierte Beschreibung, sie sei „besonders offen" (Berger, Berger, Kellner 1973, S. 70), scheint mir ganz treffend. Ich sollte allerdings nicht unterschlagen, dass die Autoren diese Qualitat als Teil der Krise der modernen Identitat ansehen.

12

Vgl. oben Kap. 11.2 „Simmel: Die einzigartige Schneidung sozialer Kreise".

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18 Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel

Wenn Sie bis hierhin den Eindruck haben, dass Identitat schwer zu greifen ist und dass ihr Gelingen von vielen, durchaus widerspriichlichen Oder zufalii gen Bedingungen abhangt, dass sie auch gar nicht gewonnen wird und dann feststunde, sondem immer neuer Entwurf ist, dann ist dieser Eindruck richtig. Vielleicht haben Sie selbst schon solche Gedanken gehabt. Dann hoffe ich, Sie mit der gleich folgenden soziologischen Diskussion in den Stand zu setzen, sich das Unbehagen an der Identitat in der Modeme zu erklaren und aus den Erklarungen Konsequenzen ftir Ihre Aufgabe der Identitat zu Ziehen. Die anderen, denen solche Zweifel noch nicht gekommen sind oder die sie nicht auf ihre Identitat beziehen, mochte ich in ihrer Selbstgewissheit natUrlich nicht aufschrecken. Aber ich gebe zu bedenken, dass Zweifel auch im praktischen Leben immer gut sind, denn damit halt man auch das Denken uber sich und die Welt frisch. Das beansprucht auch die Soziologie und das intendiert sie. Am Ende der gleich folgenden langen theoretischen Auseinandersetzung mit dem Thema Identitat sollte dann die Gewissheit stehen, dass man einiges, woriiber man leicht hinwegdenkt, verstanden hat und dass man mit diesem Wissen entschiedener handelt. Wer dann zu dem Schluss kommt, dass ihm die soziologischen Theorien, die dazu bemliht werden, helfen, bei seinen Vorstellungen liber seine Identitat zu bleiben, der hat keinesfalls umsonst gelemt! Soviel zur praktischen Seite einer Soziologie der Identitat.

18.3

Uberblick iiber die soziologische Diskussion uber Identitat

Wenden wir uns nun der soziologischen Diskussion zu. Ich werde in folgenden Schritten vorgehen. GEORGE HERBERT MEAD konzentriert seine Erklarungen der Identitat auf die Kommunikation, in der sie gewonnen wird. Seine zentrale These ist, dass sich das Individuum seiner selbst bewusst wird, indem es sich mit den Augen des Anderen betrachtet. Identitat hat also etwas mit den Anderen zu tun. ERIK H . ERIKSON entwickelt aus einer psychoanalytischen Entwicklungstheorie den Gedanken der Verschrankung von psychosexueller und psychosozialer Entwicklung des Individuums. Er versteht Identitat als einen lebenslangen Prozess. Von anderen Theoretikem unterscheidet er sich dadurch, dass er ganz offen von einer gesunden Personlichkeit spricht, die sich in einer „gelungenen Identitat"

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auBert. Erikson nennt sie „Ich-Identitat". Sie lebt von dem standigen Anspruch, soziale Erwartungen und eigene Uberzeugungen, die Blicke der anderen auf uns und unser Selbstbild, das Bild der anderen von uns und unsere Biographic selbstbewusst zu verbinden. Fur TALCOTT PARSONS heiBt Identitat, dem Rollenpluralismus, der durch die soziale Differenzierung entstanden ist, eine angemessene individuelle Integration entgegenzusetzen. Das Individuum muss beides konnen: sich an gesellschaftliche Werte dauerhaft binden und zugleich ein einzigartiges Orientierungsmuster gegeniiber diesen Werten finden. Das nimmt auch DAVID RIESMAN an, aber genau das bringt ihn zu der kritischen These, dass das Individuum der Modeme aufiengeleitet ist. Es tut das, was alle tun, und ist bereit, sich immer wieder neu auf den Zeitgeist einzustellen. Das Individuum legt sich die Haltung eines flexiblen Rollenspielers zu. Zum Schluss weiB der AuBengeleitete nicht mehr, wer er ist und was mit ihm geschieht. ERVING GOFFMAN hat die soziologische Diskussion liber Identitat mit der These verunsichert, dass Identitat im Alltag eine Frage der Presentation ist. Der deutsche Titel des Buches „The Presentation of Self in Everyday Life" (1959) bringt es noch scharfer zum Ausdruck: „Wir alle spielen Theater". Dabei steht die Strategic im Vordergrund, uns von unscrer besten Seite zu zeigen. Und man wird auch den Verdacht nicht los, dass jemand seine „wahre Identitat" nicht preisgibt. Aber wenn man genauer hinsieht, dann sind es auch Strategien, unser bedrohtes Selbst zu schiitzen. Dazu greifen wir manchmal auch zu Tricks. Wir tun so, als ob, und schaffen uns damit einen Freiraum fur unsere Identitat und erlauben den anderen, so zu tun, als ob sie genau dieses Schauspiel fUr die Wahrheit hielten. ANSELM STRAUSS bezieht sich ausdriicklich auf Goffmans dramaturgischen Ansatz und vertritt in seinem Buch „Mirrors and Masks" (1959) die These, dass wir in der Interaktion mit anderen Masken aufsetzen, mit denen wir unsere Identitat zum Ausdruck bringen wollen, und uns in den anderen spiegeln, die uns mit ihren Erwartungen und Reaktionen sozial verorten. Die Zuschreibung von auBen nennt Strauss „soziale Identitat". Interaktion ist ein kompliziertes Spiel, in dem soziale Identitat immer neue verortet wird. Wir verorten uns selbst, indem wir mit einer bestimmten Maske das Thema und den Rahmen unseres Handelns und damit unsere personale Identitat andeuten, und wir werden durch die anderen verortet, die

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mit ihren Erwartungen, Kontrollen und Zugestandnissen unseren Status definieren. Auf die Macht der anderen, einem Individuum eine soziale Identitat zuzuschreiben, und die Strategien, mit denen es sich vor Zugriffen auf seine Identitat schiitzt, hebt ERVING GOFFMAN in seiner Studie „Stigma" (1963) ab. Die Studie tragt den bezeichnenden Untertitel „Notes on the Management of Spoiled Identity". Doch es ist nicht nur eine Beschreibung der Strategien, wie durch ein sichtbares Stigma Diskreditierte mit ihrer beschddigten Identitat umgehen, sondem auch eine Beschreibung der Strategien, wie Menschen, die etwas zu verbergen haben, also diskreditierbar sind, ihre Identitat zu schiitzen versuchen. Und da jeder irgendetwas an sich hat, das er nicht so geme vor den anderen ausbreiten mochte, handelt das Buch auch von der anstrengenden IdentitatspoUtik des „ganz normalen" Individuums. Unverkennbar hangt unsere Identitat ganz wesenthch von der Interaktion mit anderen ab. Nach Mead ist sie sogar unbedingte Voraussetzung, fur Goffman und Strauss ist sie dariiber hinaus aber auch der Rahmen, in dem personale Identitat vorgespielt, eingeschrankt oder gar beschadigt wird. Das Individuum lebt nun mal in der Gesellschaft, ihren Erwartungen kann es nicht entgehen, wie es umgekehrt ohne ihre Reaktionen nicht leben kann. Das versuche ich im Kapitel „Anspruche" deutlich zu machen. Wir brauchen die Anerkennung durch die anderen, aber wir haben auch Anspruch auf Nichtaufmerksamkeit und Distanz. Flir die Erklarung, warum wir Anerkennung brauchen und was sie beinhaltet, fiihre ich vor allem CHARLES TAYLOR an. Das Kapitel „Behauptungen" zeichnet Strategien nach, mit denen wir unsere Identitat gegen andere, abtragliche Erwartungen durchzusetzen trachten, aber auch grundsatzlich darum kampfen, dass wir nicht in der Masse untergehen. „Behauptung" verstehe ich aber nicht nur im defensiven Sinne, wie es UwE SCHIMANK vor allem tut, sondem auch in dem Sinne, dass wir etwas von uns behaupten, in diesem Zusammenhang also eine bestimmte Identitat. Wir woUen einen bestimmten Eindruck von uns erwecken - warum wir das wollen, ist uns vielleicht gar nicht bewusst! -, und wir riicken dafur einiges in unserer Biographic unmerklich in ein neues Licht. Auf dieses Problem bin ich nicht von Ungefahr gerade schon zu sprechen bekommen. Im Kapitel „Behauptungen" will ich die Frage nach der „wahren" Identitat von der uberfordemden, moralischen Erwartung der Konstanz und Gleichheit wegzie-

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Identitat: Antworten, Fragen, eine Definition und ein Ziel

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hen und die These untermauem, dass Identitat fortlaufende Konstruktion ist. Um die Bedingungen, unter denen diese Konstruktion heute erfolgt, zu benennen, beschreibe ich die „Krise der Lebenswelt" unter den gro6en soziologischen Schlagworten der „Entzauberung", der „Kolonialisierung" und der „Ambivalenz". In diesem Kapitel fuhre ich Erklarungen von M A X WEBER, JURGEN HABERMAS, ANTHONY GIDDENS, JEANFRANCOIS LYOTARD und ZYGMUNT BAUMAN an. Ihre Beschreibungen

der Modeme fiihre ich auf die These zu, dass der modeme Mensch sich in einer Situation wiederfindet, die nicht mehr eindeutig ist. Seine Identitat zu finden und sie auch noch zu behaupten, fallt dem Individuum immer schwerer, weil der Sinn der Wirklichkeit und seines moglichen Lebens sich pluralisiert hat. Diese Skepsis findet sich auch bei PETER L . BERGER, BRIGITTE BERGER und HANSFRIED KELLNER, die von einem Unbehagen in der Modemitat sprechen. Fiir sie ist Identitat ein Krisenbegriff. Sie ist offen, was heiBt, dass wir sie immer auf der Hohe der Zeit halten. Identitat ist besonders differenziert und uberall etwas fremd, und sie ist besonders reflexiv, was mit einer metaphysischen Heimatlosigkeit einhergeht. SchUeBUch tritt sie mit dem Anspruch auf, besonders individuiert zu sein, verkennt aber den engen Rahmen der Autonomic. RICHARD SENNETT tragt zu diesem dunklen BHck auf die Identitat in der Modeme die These bei, dass der Mensch in einer Gesellschaft, die fragmentiert ist, seine Identitat und Lebensgeschichte nicht mehr zu einer in sich stimmigen Erzahlung btindeln kann, sondem durchs Leben driftet. Die flexible Personhchkeit ist es nicht aus eigenem Antrieb, sondem weil diese Quahtat von der Gesellschaft erzwungen wird. Meine abschlieBende Frage, was die wahre Identitat ist, stellt in Rechnung, dass in der modemen Gesellschaft nichts feststeht und dass deshalb auch Identitat nicht feststehen kann. Der nochmalige Hinweis auf den Umgang mit der eigenen Biographic ist so gedacht, dass wir uns standig mit einem passenden Bild von uns auf den Stand bringen, Chancen der Modeme zu nutzen und Zumutungen abzuwehren. Das ist auch der Gmnd, warum ich das Kapitel „Kompetenzen" ganz an das Ende gestellt habe. Es soil den soziologischen Blick auf die Identitat in der Modeme wieder etwas weiten und sowohl Bedingungen nennen, unter denen Identitat gewonnen und behauptet werden kann, als auch Kompetenzen aufzeigen, die dafiir vonnoten sind. Bei meinen

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Uberlegungen beziehe ich mich unter anderem auf ERIK H . ERIKSON, LoTHAR KRAPPMANN, AARON ANTONOVSKY und KARL MANNHEIM. Unter einer tFberschrift, die einen tJberblick uber die soziologische Diskussion tiber Identitat verspricht, darf der obligatorische Satz nicht fehlen, dass das natiirlich gar nicht zu leisten ist, da die Literatur uferlos ist. Ich habe mich bemiiht, die wichtigsten Linien - so wie ich es sehe und wie sie heute von anderen immer wieder genannt werden nachzuzeichnen. Im Ubrigen verweise ich auf den Vorspruch vor dem Kapitel 30.4 „Bewegliches Denken". 18.4

Eine Definition und ein Ziel

Um der nun folgenden soziologischen Diskussion Uber Identitat einen Rahmen zu geben, will ich den Begriff definieren: Identitat ist das Bewusstsein, ein unverwechselbares Individuum mit einer eigenen Lebensgeschichte zu sein, in seinem Handeln eine gewisse Konsequenz zu zeigen und in der Auseinandersetzung mit anderen eine Balance zwischen individuellen AnsprUchen und sozialen Erwartungen gefunden zu haben. Was ich mir unter einem moglichen Ziel vorstelle, das unter dem Etikett Identitat erreicht werden soil, das klingt in dem Zitat von ERIK H . ERIKSON vor diesem einfiihrenden Kapitel an.

Die ganze Welt ist unser Spiegel, in dem wir uns betrachten mUssen, um den richtigen BlickfUr die Selbstbeobachtung zu bekommen. Michel de Montaigne (1580) 1 In gewisser Weise geht's dem Menschen wie der Ware. Da er weder mit einem Spiegel aufdie Welt kommt noch als Fichtescher Philosoph: Ich bin ich, bespiegelt sich der Mensch zuerst in einem andren Menschen. Karl Marx (1867)'^

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Identitat - sich selbst zum Objekt machen

19.1 19.2 19.3

Soziale Kommunikation: Symbole, Denken, RoUenubemahme Mead: Innere Kommunikation - sich selbst zum Objekt machen Zwei soziale Phasen der Entwicklung der Identitat: »play« und »game« Zwei Seiten des Ichs: »I« und »me« Reflexives Bewusstsein: »self«

19.4 19.5

Fur den amerikanischen Sozialpsychologen GEORGE HERBERT MEAD (1863-1931) ist Kommunikation „das Grundprinzip der gesellschafthchen Organisation des Menschen". (Mead 1934, S. 299) Diese These gilt auch fur die Organisation von Identitat. Unser Bewusstsein von uns selbst entsteht aus der permanenten Kommunikation zwischen uns und den anderen. Das erklart Mead so: Indem wir uns in die Rolle des anderen hineinversetzen und uns vorstellen, wie er auf uns reagieren wird, betrachten wir uns auch selbst, wie wir reagieren. Wir werden auf uns selbst aufmerksam, ja mehr noch: Wir sehen uns mit den Augen des anderen, und erst auf diesem Umweg liber den anderen werden wir uns unserer selbst bewusst! Das ist in Kurze Meads Erklarung der Entstehung von Identitat. 1 2

Michel des Montaigne (1580): Die Essais. Erstes Buch, 25. Hauptstuck, S. 58 Karl Marx (1867): Das Kapital. Band 1, S. 67 Anm. 18

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Identitat - sich selbst zum Objekt machen Taking the role of the other - selfconsciousness George Herbert Mead

19.1

Soziale Kommunikation: Symbole, Denken, RoUeniibernahme

Kommunikation ist der Prozess, in dem sich die handelnden Individuen dariiber verstandigen, wer sie sind, wie sie wahrgenommen werden wollen und welchen Sinn sie ihrem wechselseitigen Handeln beimessen. Kommunikation ist ein Prozess, in dem ego und alter aus ihren wechselseitigen Reaktionen Vorstellungen von sich gewinnen. Meads Theorie der Identitat ist vor einem bestimmten geistigen Hintergrund zu sehen. Mead studierte zunachst Philosophie, spater auch Psychologic. In Harvard wurde ihm eine Geschichtsphilosophie vermittelt, „die das Reich Gottes als geschichtliche Verwirklichung einer Gemeinschaft aller Menschen durch umfassende Verstandigung interpretierte." (Joas 1999, S. 171) Wenn Mead menschliche Kommunikation erklart, dann unterstellt er, dass wir im Prinzip an einer Verstandigung uber Ziele und Formen des Handelns und liber unsere Bilder voneinander interessiert sind. Zweitens stand Mead unter dem Einfluss des Pragmatismus, einer Sozialphilosophie, die das Wesen des Menschen in seinem Handeln (griech. pragmein) erkannte. Als Psychologe orientierte sich Mead stark an der damals in den USA vorherrschenden psychologischen Theorie des Behaviorismus und betrachtete den Menschen als ein Wesen, das auf Reize seiner Umwelt reagiert. Um Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede zu der Theorie von JOHN B . WATSON herauszustellen, bezeichnete er seine Theorie als Sozialbehaviorismus. Damit wollte er zum Ausdruck bringen, dass die Umwelt des Menschen vor allem in den wechselseitigen Reaktionen der Individuen besteht. Vom strengen Behaviorismus unterschied sich Mead, indem er gegen das Modell eines mehr oder weniger passiv auf seine Umwelt reagierenden Subjektes das Bild des aktiv handelnden und denkenden Individuums in den Vordergrund stellte. Vom strengen psychologischen Behaviorismus unterschied sich Mead auch durch die Annahme, dass die Umwelt, auf die der Mensch reagiert, nicht feststeht, sondem „in gewissem Sinne als Hypothese" (Mead 1934, S. 293) existiert. Das versteht Mead in doppelter Hinsicht:

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Identitat - sich selbst zum Objekt machen

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Das Individuum kann sich seine Umwelt selbst aussuchen und es kann seine Umwelt „organisieren" (Mead 1934, S. 293). Das ist ein wesentlicher Unterschied zum Tier. Der zweite Unterschied besteht darin, dass der Mensch auf ein Kontinuum von Reizen reagiert, dessen Pole von Zeichen und Symbolen markiert werden, und dass nur er in der Lage ist, Symbole zu schaffen und auf sie zu reagieren. Diese spezifisch menschliche Konomunikation will ich kurz skizzieren. Der Mensch reagiert auf Zeichen, Gesten und Symbole. Zeichen ist alles, was unsere Sinne reizt, von der quietschenden Tur oder dem Gelb des Zitronenfalters bis zum Apfel, der uns auf den Kopf fallt. In der Reaktion auf solche Zeichen unterscheiden wir uns nicht grundsatzlich vom Tier. Zeichen, die in der Form von Verhalten eine Reaktion hervorrufen, nennt Mead Gesten. Hier gibt es einen wichtigen Unterschied zum Tier. Ein Tier reagiert auf eine Geste in festgelegter, instinktiver Weise, wahrend der Mensch erst einmal iiberlegt, was sie in der konkreten Situation bedeuten konnte, seine Reaktion also verzogert. Wahrend der undressierte Hund auf die angelegten Ohren des anderen Hundes mit nachsichtigem Knurren reagiert, Uberlegen wir, ob die sanfte Art unseres Gegeniibers echt oder nur eine raffinierte Strategic ist, uns in Sicherheit zu wiegen. Wir denken also dartiber nach, was der Sinn dieses Verhaltens in dieser Situation ist, und entscheiden uns dann fur ein bestimmtes Verhalten. Zeichen, in denen ganze Erfahrungskomplexe gebtindelt sind und die tiber die konkrete Situation hinaus auf einen weiteren Sinnzusammenhang verweisen, nennt Mead Symbole. Symbole, die in einem bestimmten sozialen ICreis die gleichen typischen Reaktionen auslosen, bezeichnet Mead als signifikante Symbole. Diese komplexe Auszeichnung des Menschen gegeniiber dem Tier, den Sinn einer Situation zu reflektieren, nennt Mead Geist (»mind«). Er ist dem Menschen nicht vorab gegeben, sondem aus sozialen Erfahrungen entstanden, die das Individuum mit anderen gemacht hat und fortlaufend macht. Geist heiBt, „eine Situation in einen ideellen Rahmen" bringen. (Mead 1934, S. 224) Die Idee ist der Sinn, der einer Situation beigelegt wird. Geist hat das Individuum in dem Augenblick, wo es Symbole verwendet und sich der moglichen Bedingungen und Konsequenzen seines eigenen und des Verhaltens des anderen bewusst wird. Ich komme sofort darauf zurlick. Menschliche Kommunikation erfolgt im Wesentlichen tiber die Sprache. Sprache ist Symbolisierung von Erfahrung. Das bedeutet: Er-

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Identitat - sich selbst zum Objekt machen

fahmngen, die sich aus Reaktionen ergeben haben, die alle Beteiligten als erfolgreich angesehen haben, wurden im Laufe der Zeit „symboiisiert" (Mead 1934, S. 52 Anm. 9) und als Erwartungen „generaHsiert". Die Sprache als das Symbolsystem par excellence ist Trager intersubjektiv geteilten Wissens und versorgt uns mit den Erklarungen fur Situationen, wie wir sie normalerweise erleben. In der Sprache erklaren wir uns auch selbst. Natilrlich brauchen wir nicht immer horbar zu sprechen, wenn wir uns den Sinn einer Situation klar machen. Das bewaltigen wir mittels Denken. Denken ist nichts anderes als „ein nach innen verlegtes oder implizites Gesprach des Einzelnen mit sich selbst" (Mead 1934, S. 86; vgl. 1913, S. 245). Er nimmt die auBeren Erfahrungen in sich hinein, vergleicht sie mit fruheren und spielt die Reaktionen durch, die er selbst oder die anderen in einer vergleichbaren Situation gezeigt haben. So entstehen „innere Erfahrungen", die sich allmahlichen zu „Haltungen" (»attitudes«) verdichten. Diese Haltungen sind „Anfange von Handlungen" (Mead 1934, S. 43). Diesen Gedanken kann man in eine Erklarung von Identitat verlangem: Haltungen sind auch Konzepte von uns selbst, als wer und wie wir handeln werden. Nattirlich sind diese Haltungen unbewusst. Ich habe gerade gesagt, dass der Geist eine Situation in einen ideellen Rahmen bringt. Da Mead von sozialen Situationen redet, in denen sich mehrere Teilnehmer wechselseitig beeinflussen, heiBt das auch, dass sich das Individuum den Sinn des Verhaltens der anderen klarmacht. Damit ist ein weiteres spezifisches Prinzip der Kommunikation angesprochen, durch das sich der Mensch vom Tier unterscheidet: Er ist in der Lage, sich denkend in die RoUe des anderen hineinzuversetzen. Mead nennt diese Fahigkeit „taking the role of the other" (Mead 1934, S. 113). Rolleniibernahme heiBt, dass ich mich, bevor ich handele, in die Rolle des anderen hineinversetze und mir vorstelle, wie er auf mein Verhalten reagieren wird. Ich denke also tiber mein Verhalten und seine Reaktion von seinem Standpunkt aus nach! Das kann ich relativ sicher abschatzen, weil wir beide in dergleichen Gesellschaft sozialisiert worden sind und die gleichen Symbole verwenden. Wir interpretieren unser Handeln wechselseitig unter der Annahme, dass es ahnlichen Prinzipien folgt. Zu diesen Prinzipien gehort nattirlich auch, dass alter sich in meine Rolle versetzt und von meiner Perspektive aus denkt und weiB, dass ich mich in seine Rolle versetze und deshalb mein Ver-

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halten in eine ganz bestimmte Richtung lenken werde. Und er weiB, dass ich weiB, dass er das weiB usw., usw. Auf diese Weise verschrdnken sich unsere Perspektiven, und so stellen wir uns in unserem Handeln aufeinander ein. Durch wechselseitige Rolleniibemahme wird eine kommunikative Verstandigung liber Perspektiven und Rollen moglich. Wegen dieser permanenten Wechselseitigkeit der Kommunikation kann man sie auch als Interaktion 3 bezeichnen. Fuhren wir den Gedanken der wechselseitigen Wahmehmung weiter und fragen, was Kommunikation ftir die Selbstwahmehmung des Individuums bedeutet. Meads These ist, dass es sich nur so seiner Identitat bewusst wird.

19.2

Mead: Innere Kommunikation - sich selbst zum Objekt machen

Diese Verstandigung uber Perspektiven und Rollen spielt sich aber nicht nur zwischen Personen, sondem auch innerhalb des Individuums ab, denn „sagt eine Person etwas, so sagt sie zu sich selbst, was sie zu den anderen sagt". (Mead 1934, S. 189) Nur so kann das Individuum den Sinn von etwas verstehen. Ausgehend von dem Grundgedanken der wechselseitigen Verschrdnkung der Perspektiven zwischen den Personen in einer Interaktion entwickelt Mead eine zweite These liber die spezifische Kommunikation zwischen Menschen: Im Prozess der Kommunikation teilt die Person etwas mit. Indem sie aber etwas mitteilt, befindet sie „sich selbst in der Rolle der anderen Person, die sie auf diese Weise anregt und beeinflusst. Indem sie diese Rolle der anderen ubemimmt, kann sie sich auf sich selbst besinnen und so ihren eigenen Kommunikationsprozess lenken." (Mead 1934, S. 300) In der Interaktion handelt die Person, und bevor sie handelt, denkt sie. In der Interaktion handelt aber auch der andere, und liber dessen Der Begriff taucht meines Wissens bei Mead zwar nur an einer einzigen Stelle auf. Nimmt man aber zu seiner Erklarung, dass Verhalten zwischen Individuen in Kommunikation besteht, in der sie sich wechselseitig wahrnehmen und beeinflussen, noch den Gedanken der Verschrankung der Perspektiven hinzu, dann macht der Begriff durchaus Sinn. Vgl. zu der durchaus sinnvollen Einbeziehung Meads in die Griindungsgeschichte des „Interaktionismus" Abels 2004, Bd. 2, Kap. 5.3.

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Identitat - sich selbst zum Objekt machen

Handeln denkt sie ebenfalls nach. Denken zielt also immer in zwei Richtungen: Ich mache mir klar, was ich mit meinem Handeln bezweeke, was ich also dem anderen mitteilen will, und ich mache mir sein Handeln klar. Wenn ich mir dann noch die moglichen Reaktionen des anderen auf mein beabsichtigtes Handeln vorstelle, dann werde ich mir meines Handelns bewusst. Das ist fur Mead „der Ursprung des Selbstbewusstseins." (Brumlik 1973, S. 23) Selbstbewusstsein (»self-consciousness«) ist Voraussetzung von Identitat. Im Prozess der Rolleniibemahme geht es also nicht nur um Interaktion, sondem auch um Identitat, denn indem ich mir Standpunkte und Haltungen des anderen mir gegentiber klar mache, lose ich diese Standpunkte und Haltungen auch in mir selbst aus. Ich priife, wie es wohl ware, wenn ich an seiner Stelle stlinde. Dabei werde ich mir bewusst, was die Ausloser des eigenen Handelns sind, warum es ggf. dem gleicht, was der andere tut, oder ganz anders ist. Mead betont nun, dass ohne diesen „Umweg" liber den anderen Identitat nicht zu gewinnen ist. Paradox kann man es so sagen: Das Individuum wird sich seiner Identitat erst bewusst, wenn es sich mit den Augen der anderen sieht. Das Individuum gewinnt „Erfahrung von sich als einem Ich nicht unmittelbar, sondem nur im Kontrast zu einem entfremdeten Teil des eigenen Selbst, der sich ihm eben in der Hineinnahme von Verhaltensweisen anderer entfremdet." (Gehlen 1956, S, 147) Durch die tJbemahme der Rolle des anderen kontrolliert der Einzelne seine eigenen Reaktionen. (Mead 1934, S. 300f.) Er lost mit seinem Sprechen zu anderen die Haltungen bei sich selbst aus, die er bei den anderen mit der Verwendung gemeinsamer, signifikanter Symbole identifiziert oder auslosen will. Insofem ist Konmiunikation grundsatzlich nicht nur an andere, sondem auch an das Subjekt selbst gerichtet: „Fur die Identitat ist es notwendig, dass die Person auf sich selbst reagiert. Dieses soziale Verhalten (»social conduct«) schafft die Bedingung ftir ein Verhalten (»provides behavior«), in dem Identitat auftritt. AuBer dem sprachlichen", fahrt Mead fort, „kenne ich kein Verhalten, in dem der Einzelne sich selbst Objekt ist, und soweit ich sehen kann, ist der Einzelne solange keine Identitat im reflexiven Sinn (»reflexive sense«), als er nicht sich selbst Objekt ist. Diese Tatsache gibt der Kommunikation entscheidende Bedeutung, da sie ein Verhalten ist, bei dem der Einzelne in dieser Weise auf sich selbst reagiert." (Mead 1934, S. 184,KorrekturH.A.)

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Identitat - sich selbst zum Objekt machen

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Erst durch den Bezug auf andere vermag ich eine Vorstellung von mir selbst, ein Selbstbewusstsein zu gewinnen. Identitat und Interaktion spielen also standig ineinander. Selbstbewusstsein ist ein Prozess, in dem sich das Individuum selbst zum Objekt seiner Wahmehmung macht. Denken, hieB es eben, ist ein nach innen verlegtes Gesprach. Durch innere Kommunikation thematisiert sich das Individuum gleichsam selbst. Es schaut sich selbst zu. Das Individuum ist also gleichzeitig Subjekt des Handelns wie auch sein eigenes Objekt. Es beobachtet sich aus der Sicht der anderen und in Reaktion auf diese Sicht der anderen. Es steht gewissermaBen im Mittelpunkt wie auBerhalb dieses Kreises. Das ist eine wesentliche Fahigkeit, durch die sich der Mensch vom Tier unterscheidet. Das Tier kann sich nicht zuschauen, wie es handelt. Diese Fahigkeit ist die Voraussetzung fur die Entwicklung von Identitat.

19.3

Zw^ei soziale Phasen der Entv^^icklung der Identitat: »play« und »game«

In der Entwicklung der Identitat lassen sich zwei soziale Phasen unterscheiden, in denen das Kind lemt, sich an einem groBeren System zu orientieren, und es sich gleichzeitig seiner Identitat mehr und mehr bewusst wird. (Mead 1934, S. 200) Die erste ist das play oder Rollenspiel, die zweite das game oder Mannschaftsspiel, das sozialen Regeln folgt. Im play schltipft das Kind in die RoUe wichtiger Bezugspersonen, sogenannter signifikanter Anderer. Es denkt und handelt von ihrem Standpunkt aus. Deshalb tut es auch nicht so, als ob es der andere ware, sondem - so heiBt es bei Mead - es ist der andere in diesem Augenblick. Es ist die schimpfende Mutter, und es ist das Krokodil, das dem Kasper ans Zeug will. Es nimmt in seinem Handeln immer jeweils eine bestimmte Perspektive ein. Und wenn der Knabe mit Begeisterung und Hingabe ganz allein ftir sich den Ball vors Garagentor wummert, dann ist er der groBe Olli oder der kleine Icke.4 Nach und nach gerat das Kind aber in Spielsituationen, an denen mehrere Handelnde gleichzeitig beteiligt sind und in denen bestimmte Ich weiB, dass die heute ganz anders heiBen, aber da ich ihre Namen manchmal schon gar nicht mehr richtig verstehe, sehen Sie mir bitte meinen Kenntnisstand vergangener Zeiten nach!

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Regeln, wie „man" handeln soil, existieren. So tritt es zunachst ganz unbefangen gegen seinen Ball, bis es feststellt, dass andere just an diesem Ball auch Interesse haben. Gehen wir davon aus, dass beide lemfahig sind und dass ihr Tun ansteckend ist, schon entwickelt sich ein Spiel, in dem die einen dies und die anderen das wollen. Einige bringen schon Erfahrungen mit und nennen das ganze dann FuBballspiel. Es werden Tore markiert und definiert, wer Freund und wer Gegner ist. Damit ist auch klar, in welche Richtung und zu welchem Zweck der Ball bewegt werden soil. Und schon ist es vorbei mit dem egoistischen Vergniigen, Einer wird verdonnert, sich hinten hin zu stellen und jeden Ball, der von den anderen kommt, nur ja festzuhalten. Einem zweiten wird klargemacht, dass er sich am besten hinten aufhalt und die anderen auf keinen Fall vorbeilassen darf. Alle anderen erklaren sich zu Sturmem und rennen los. Doch wehe, wenn einer was falsch macht, z. B. den Ball unter den Arm nimmt, oder wenn etwas nicht gelingt, dann heiBt es „Das darf man nicht!", „Du sollst doch ...!" oder „Warum hast du nicht...?", und manche Kinder geben es dann auf. (Sie ahnen schon, wie kompliziert es ist, was uns am Wochenende von professionellen Spielem geboten wird!) Wenn das Kind aber weiter mitspielen will, dann muss es sich an bestimmte Regeln halten. Ein solches geregeltes Spiel nennt Mead game. Im game muss jeder die Rolle, die ihm zugedacht ist oder die er beansprucht, „richtig" spielen, und er muss gleichzeitig wissen, warum und wie er auf das Handeln aller anderen reagieren muss. Er muss sozusagen den Geist des Spiels erfassen und die Rollen aller Beteiligten mehr oder weniger in seinem Kopf prasent haben. Wahrend das Kind mit seiner Puppe oder allein mit seinem Ball vor der Garage nur eine einzige Perspektive eines anderen einnahm, muss sich das Kind nun in die Perspektive vieler anderer zugleich hineinversetzen. In diesem game, in dem die Handlungen aller Beteiligten sich gegenseitig beeinflussen, reicht es nicht aus, wenn man sich nur auf seine eigene Aufgabe oder die nur eines Mitspielers konzentriert, sondem man muss im Prinzip die tatsachlichen und moglichen Handlungen und Perspektiven aller Beteiligten vor Augen haben. Die Summe aller Perspektiven in einem bestimmten Handlungszusammenhang nennt Mead den generalisierten Anderen. „Der grundlegende Unterschied zwischen dem Spiel (»play«) und dem Wettkampf (»game«) liegt darin, dass in letzterem das Kind die Haltung aller ande-

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ren Beteiligten in sich haben muss. Die vom Teilnehmer angenommenen Haltungen der Mitspieler organisieren sich zu einer gewissen Einheit, und diese Organisation kontrolHert wieder die Reaktion des Einzelnen. Wir brachten das Beispiel des Baseballspielers. Jede seiner eigenen Handlungen wird von den Annahmen liber die voraussichtiichen Handlungen der anderen Spieler bestimmt. Sein Tun und Lassen wird durch den Umstand kontrolliert, dass er gleichzeitig auch jedes andere Mitglied der Mannschaft ist, zumindest insoweit, als diese Haltungen seine eigenen spezifischen Haltungen beeinflussen, Wir stoBen somit auf ein »anderes«, das eine Organisation der Haltungen all jener Personen ist, die in den gleichen Prozess eingeschaltet sind. Die organisierte Gemeinschaft oder soziale (Korrektur H. A.) Gruppe, die dem Einzelnen seine einheitliche Identitat gibt, kann »der (das) verallgemeinerte Andere« genannt werden. Die Haltung dieses verallgemeinerten Anderen ist die der ganzen Gemeinschaft. So ist zum Beispiel bei einer sozialen (Korrektur H. A.) Gruppe wie einer Spielmannschaft eben dieses Team der verallgemeinerte Andere, insoweit es - als organisierter Prozess Oder soziale Aktivitat (Korrektur H. A.) in die Erfahrung jedes einzelnen Mitgliedes eintritt." (Mead 1934, S. 196f.) Im Grunde ist der „generalisierte Andere" der gedachte Horizont der Vorstellungen, was „man" in einer bestimmten Situation gewohnlich so tut und was man deshalb auch von alien Beteiligten mit Fug und Recht erwarten kann. In diesem Sinne setzt JURGEN HABERMAS den „generalisierten Anderen" auch mit dem „Kollektivbewusstsein" in der Theorie von EMELE DURKHEIM gleich. (Habermas 1981b, Bd. 2, S. 73) Es ist die Summe der gesellschaftlichen Vorstellungen, was der Sinn einer bestimmten Situation ist, und der Erwartungen, wie jeder in dieser Situation zu handeln hat. Insofem kann man auch sagen, dass der „generalisierte Andere" sowohl die spezifischen Rollen in dieser Situation und letztlich in der Gesellschaft iiberhaupt meint. Den Unterschied zwischen dem signifikanten Anderen und dem generalisierten Anderen kann man an einem Beispiel verdeutlichen: Die Mutter B., die das Madchen C. taglich erlebt, ist die signifikante Andere, die das Madchen im play nachahmt. Wenn das Madchen C. sich seine Gedanken tiber die „neuen Miitter" macht, die sich von ihren Kindem emanzipieren, dann orientiert es sich an der generalisierten Anderen. Der generalisierte Andere ist das Bild, das „man" in einer Gesellschaft von einer bestimmten Rolle oder einem bestimmten sozia-

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len Zusammenhang hat. Der generalisierte Andere ist die Summe der generellen Haltungen, die man in einer konkreten Situation von alien Handelnden erwartet. Er ist das Prinzip oder der Sinn der Interaktion. Im play geht das Kind in der Rolle eines signifikanten Anderen ganz auf, im game muss es sich genau davon entfemen und das generelle Prinzip des Handelns aller Beteiligten erfassen. Letztlich wachst das Kind in immer groBere symbolische Welten hinein und lemt ihre Regeln zu begreifen. Es spielt nicht mehr nur seine Rolle und versteht nicht nur die Rolle seiner unmittelbaren Partner in der Interaktion, sondem es erfahrt, dass es in der Familie, in einer Organisation, in der Gesellschaft allgemeine Vorstellungen gibt, wie zu handeln ist. Insofem kann man den generalisierten Anderen auch als die Summe der Erwartungen aller, und letztlich als die Normen und Werte der Gesellschaft, die in einer bestimmten Situation relevant sind, bezeichnen. Mit der Fahigkeit, sich auf die Perspektive eines generalisierten Anderen einzustellen, ist die Voraussetzung fur die Entwicklung von Identitat gegeben. Die Verinnerlichung des generalisierten Anderen bildet zusammen mit der Rolleniibemahme die anthropologische Pramisse der Identitat. Erkenne dich selbst. Tempel des Apoll in Delphi Each to each a looking glass. Ralph Waldo Emerson (1847^

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Zv^ei Seiten des Ichs: »I» und »me«

Nun beobachten wir aber, dass Menschen vollig verschieden sind, obwohl sie die gleichen Werte und die gleichen signifikanten Symbole teilen. Jede Identitat weist einzigartige Merkmale auf. Das konnte man damit erklaren, dass die Erfahrungen eben doch nicht gleich sind. Das sieht auch Mead so, aber er fragt grundsatzlicher, was denn die Voraussetzungen dafiir sind, dass jedes Individuum unterschiedliche Erfah5

Ralph Waldo Emerson (1847): Astraea. Auf das Bild des Spiegels und dieses Zitat von Emerson komme ich noch ausfuhrlich zu sprechen in Kap. 24 „Strauss: Spiegel und Masken"; vgl. dort besonders Anm. 6

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rungen macht. Die Erklarung hangt wieder mit der aktiven Rolle des Individuums zusammen. Diese Aktivitat kommt einmal aus dem Inneren des Menschen, und zum anderen entwickelt sie sich in der Auseinandersetzung zwischen Individuum und Gesellschaft. Diese Aktivitat verteilt er auf zwei Seiten des Ichs. Die eine Seite nennt er das »I«, die andere das »me«.6 Das darf man sich nicht so vorstellen, als seien hier zwei getrennte Instanzen gemeint. Es sind vielmehr „zwei korrespondierende Seiten des Ich einander gegenubergestellt." (Strauss 1964, S. 30) Das »I« ist vorsozial und unbewusst. Seine biologische Basis ist ein konstitutioneller Antriebsuberschuss. In ihm kommen sinnHche und korperiiche Bedurfnisse spontan zum Ausdruck. Deshalb mochte ich das »I« auch als impulsives Ich bezeichnen. Es ist nie vollstandig soziaHsierbar und tendiert - in Traum, Phantasie oder spontaner Aktion dazu, die soziale SelbstdiszipUnierung des Individuums, die ja mit der Orientierung am generahsierten Anderen erfolgt, aufzuheben. Da ist es dem Freudschen „Es" durchaus vergleichbar. Doch anders als Freud, der im Es einen brodelnden Kessel chaotischer Energie sah, sieht Mead die konstruktive Funktion dieses biologischen Impulses. Weil das impulsive Ich nicht voll sozialisiert werden kann, bringt es immer wieder „Neues und Schopferisches in die Situation". (Strauss 1964, S. 30) Es kommt den Zumutungen der anderen in die Quere, die sich im Laufe der Zeit ein bestimmtes Bild von unserer Identitat gemacht haben, aber es durchbricht auch unsere eigenen Strategien, unsere Identitat glatt zu schleifen. Das »I« kommt nur in der Einzahl vor. Die andere Seite des Ichs, die gewissermaBen die Bilder reflektiert, die andere mit uns verbinden, nennt Mead das »me«. Da das »me« die Identifikation des Individuums durch andere widerspiegelt, mochte ich

Die vielen Versuche, die Begriffe »I« und »me« zu ubersetzen, befriedigen allesamt nicht, weshalb wohl die meisten Soziologen es bei den englischen Begriffen belassen. Auch der Vorschlag von Anselm Strauss, zwischen „Ich an sich" und „Mich" zu unterscheiden, ist unbefriedigend. (Strauss 1964, S. 30) Ein ganz unsinniger Versuch, das Problem der tJbersetzung zu losen, findet sich in der deutschen Ubersetzung von „Mind, Self, and Society", wo das Wort Ich in unterschiedlichen Anfiihrungszeichen steht. (vgl. Mead 1934, S. 216, Anm.) Man stelle sich vor, man mtisste diesen Text laut lesen! Ich werde deshalb die beiden Begriffe gleich inhaltlich umschreiben.

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es als reflektiertes Ich^ bezeichnen. Wohlgemerkt: Ich spreche von einem reflektierten, nicht von einem reflexiven Ich! Das »me« ist die Summe der sozialen Bilder von uns, die wir im Laufe der vielen Beziehungen zu anderen und unter dem sanften Druck der Sozialisation verinnerlicht haben und mit denen wir uns in konkreten Interaktionen konfrontiert sehen. In dem MaBe, wie wir uns die sozialen Bilder, die die anderen von uns haben, auch als typische Bilder von uns in typischen Situationen selbst zurechnen, kann man das »me« auch als soziale Identitat bezeichnen.8 Da wir zu unterschiedlichen Zeiten und in verschiedenen Rollen ganz verschiedene Bilder von uns erfahren, sie im Prozess der Sozialisation zu Selbstbildem verarbeiten und im Prozess der Interaktion als Muster fUr uns typischen Denkens und Handelns verwenden, gibt es auch zahlreiche reflektierte Ichs. Ego reflektiert die Reaktionen alters. Das jeweilige Bild von uns, das wir uns aus diesen Reaktionen machen, ist das »me«. Jedes »me« speist sich aus der Erinnerung, wie andere uns gesehen und auf uns reagiert haben, und aus der aktuellen Erfahrung, was sie von uns erwarten und wie sie uns identifizieren. Nehmen wir diese Erklarung mit der These von der wechselseitigen Rolleniibemahme, die Voraussetzung fur „Selbstbewusstsein" ist, zusammen, dann kann man sagen, dass das reflektierte Ich die soziale Grundlage der Identitat reprasentiert. Was die historische Dimension des »me« angeht, so kann man sie vielleicht mit drei Fragen verdeutlichen: Wie haben mich andere gesehen, wie haben sie deshalb auf mich reagiert, und welchen Schluss habe ich daraus gezogen, um mein weiteres Verhalten so zu organisieren, dass ich weiter mit ihnen auskam? Aus den entsprechenden Antworten generieren wir unser soziales Selbstbild und typische Bilder von den anderen. Aus der gemeinsamen Erfahrung konnen wir uns vorstellen, wie die anderen auf unser Handeln reagieren werden, und deshalb konnen wir auch selbst handeln. Unter der Perspektive von Identitat meint das reflektierte Ich die Seite zugewiesener Identitat, die intemalisierte Vorstellung von dem Hier denke ich naturlich an das von Charles H. Cooley so genannte „Spiegelselbst". (Cooley 1902, S. 184) Obwohl Mead sich kritisch mit Cooleys Identitatskonzept auseinandersetzt (Mead 1934, S. 269, Anm. 26), scheint er den Gedanken der Spiegelung stillschweigend fiir seine Theorie genutzt zu haben. Vgl. dazu auch Anm. 11 in Kap. 24 „Spiegel und Masken".

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Bild, das sich der andere wahrscheinlich von mir gemacht hat. Ich betone „wahrscheinHch", well man es naturiich nicht genau weiB. Aus einer spateren Theoriediskussion miisste man sagen: Es ist eine Konstruktion. Das reflektierte Ich enthalt die organisierten Werthaltungen, die im Verlauf der SoziaUsation erworben werden. Das »me« ist das, was das Subjekt iiber sich selbst im Prozess der Rolleniibemahme erfahren hat. Es bezeichnet „meine Vorstellung von dem Bild, das der andere von mir hat, bzw. auf primitiver Stufe meine Verinnerlichung seiner Erwartungen an mich." (Joas 1991, S. 139) Erst im Prozess der Rollenubemahme, referierte ich oben, erfahrt das Individuum etwas liber sich selbst. Indem es sich namlich in die Position des anderen versetzt, betrachtet es sich aus dessen Perspektive. Der Einzelne wird sich selbst zum Objekt. (Mead 1934, S. 180) Dabei hat das »me« in jedem einzelnen Falle eine ganz bestimmte Funktion: „Das »me« als Niederschlag einer Bezugsperson in mir ist sowohl Bewertungsinstanz fiir die Strukturierung der spontanen Impulse wie Element eines entstehenden Selbstbildes. Trete ich mehreren fur mich bedeutsamen Bezugspersonen gegenliber, so gewinne ich mehrere unterschiedliche »me's«." (Joas 1991, S. 139) Mead vergleicht das reflektierte Ich mit SiGMUND FfeEUDS „UberIch", der Zensur-Instanz der Triebimpulse. Auch das ist im Grunde ja die Hinneinnahme der Gebote und Verbote signifikanter Anderer, hier naturiich vor allem des Vaters. Das System der reflektierten Ichs reprasentiert die diversen intemalisierten Haltungen anderer dem Individuum gegeniiber. Insofem kann man auch sagen, im reflektierten Ich kommt die Kontrolle des generalisierten Anderen zum Ausdruck. Auf diesen Aspekt hebt ANSELM STRAUSS ab, wenn er schreibt: „Der generalisierte Andere ist der Reprasentant der Gesellschaft im Individuum. Selbst bei Abwesenheit anderer ist das Individuum imstande, sein Verhalten so zu organisieren, dass es dabei beriicksichtigt, welche diesbeziiglichen Haltungen es von ihrer Seite zu gewartigen hatte. Daher hangt der generalisierte Andere bei Mead sowohl mit Selbstkontrolle wie mit sozialer Kontrolle eng zusammen." (Strauss 1964, S. 30) Das Verhaltnis beider Instanzen kann man so verstehen: Das impulsive Oder spontane Ich reagiert auf die vielen reflektierten Ichs widerstandig und verandemd; die reflektierten Ichs sind eine permanente soziale Kontrolle des spontanen Ichs.

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Im Laufe der Sozialisation macht das Individuum immer neue soziale Erfahrungen, was auch bedeutet, dass es neue Identifikationen durch andere erfahrt und selbst neue Identifikationen vomimmt. Es nimmt zahllose Standpunkte vieler anderer ein, was auch Standpunkte zu sich selbst einschlieBt. Die reflektieiten Ichs werden aber nicht nur zahlreicher, sondem sie differenzieren sich auch immer mehr, manche widersprechen sich sogar. Die Klassenkameraden sehen einen anders als die Eltem, der Freund erwartet anderes von mir als mein Chef, die Nachbam behandeln mich auf ihre Weise, und mit meinen Enkeln gehe ich auf meine Weise um. All das zeigt, dass das System der reflektierten Ichs keineswegs festgefiigt und homogen, sondem standig in Bewegung ist. Das ist auch die Annahme, unter der nun Identitat im eigentlichen Sinne zu denken ist. Mead nennt sie das »self«.

19.5

Reflexives Bewusstsein: »self«

Aus der Differenz zwischen dem spontanen, unreflektierten Handeln des impulsiven Ichs und der Perspektive, die sich aus der Sicht der anderen auf das Individuum ergibt, dem reflektierten Ich, entwickelt sich ein reflexives Bewusstsein. Die Vielheit der Perspektiven setzt Reflexivitat immer aufs Neue in Gang. Die verschiedenen reflektierten Ichs „mUssen, wenn konsistentes Verhalten uberhaupt moglich sein soil, zu einem einheitlichen Selbstbild synthetisiert werden. Gelingt diese Synthetisierung, dann entsteht das self." (Joas 1991, S. 139) Dieses self kann man mit dem Wort Identitat ubersetzen. Manche Autoren ubersetzen den Begriff auch mit Ich-Identitdt, so auch HANS JOAS, einer der besten Kenner Meads und Herausgeber seiner Aufsatze. Ich will beide Begriffe verwenden, weil eine solche Differenzierung in Meads Arbeiten angelegt ist. Auf der einen Seite erklart Mead das self namlich so, wie GEORG SIMMEL, bei dem Mead ubrigens wahrend seines Aufenthaltes in Berlin Vorlesungen gehort hat, Individualitat als spezifische Form beschrieben hat. Mead spricht davon, dass „jede einzelne Identitat" deshalb ihre „spezifische Individualitat" hat, „weil jede einzelne Identitat innerhalb dieses (gesellschaftlichen, Erganzung H. A.) Prozesses, wahrend sie seine organisierten Verhaltensstrukturen (in Form von Symbolen und Erwartungen, Erganzung H. A.) spiegelt, ihre

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eigene und einzigartige Position innerhalb seiner formt und somit in seiner organisierten Struktur einen anderen Aspekt dieses ganzen gesellschaftlichen Verhaltensmusters spiegelt als den, der sich in der organisierten Struktur irgendeiner anderen Identitat innerhalb dieses Prozesses spiegelt" (Mead 1934, S. 245). Wo es um diese objektive, einzigartige und relativ dauerhafte Form der Vermittlung des spontanen Ichs mit seinen reflektierten Ichs geht, kann man den Begriff „self' mit „Identitat" ubersetzen. Mit der Einschrankung „relativ dauerhafte Form" ist allerdings die zweite Seite des „self', die man in der Tat als Ich-Identitat bezeichnen kann, gleich mit angesprochen. Ego steht namlich in einem standigen Dialog mit alter. Das sind die signifikanten Bezugspersonen und die vielen diffusen anderen. Insofem steht Identitat als einzigartige Position Oder Form auch nicht fest, sondem wird in der Reflektion der Erwartungen der anderen und in der Antizipation ihrer Reaktionen in der Interaktion immer wieder neu entworfen. Wegen dieser Reflexivitat kann man das permanent mitlaufende Selbstbewusstsein egos als IchIdentitdt bezeichnen. Ich-Identitat ist reflexives Bewusstsein und handelnde Instanz nach auBen und nach innen. Mead schreibt: „Die Ich-Identitat handelt in bezug auf andere und ist sich der Objekte ihrer Umgebung unmittelbar bewusst. In der Erinnerung stellt sie die handelnde Identitat ebenso wieder her wie die anderen, denen gegeniiber sie handelte." (Mead 1913, S. 244) Erinnerung ist Selbstbeobachtung, und in diesem Vorgang macht sich der Beobachter zum Objekt: „Konkret gesagt, man erinnert sich an etwas und fragt sich, wie man diese oder jene Sache nur hat in Angriff nehmen konnen, tadelt sich fur eigenes Versagen oder briistet sich mit eigenen Erfolgen. So findet man in der wiederhergestellten Identitat (»redintegrated self«) (...) sowohl ein Subjekt wie ein Objekt." (Mead 1913, S. 241) Ego spielt gewissermaBen noch einmal seine Handlungen durch und macht sich zum „me", „das kritisiert, zustimmt, Vorschlage macht und bewusst plant". Dieses sich aus der Perspektive der anderen noch einmal beobachtende ego nennt Mead „reflective self". (S. 244, im enghschen Original S. 376) Vom „self in the full meaning of the term" (Mead 1913, englisches Original, S. 377) kann man erst sprechen, wenn sich ego bewusst (»self-conscious ego«) wird, warum es wie gegeniiber wem gehandelt und wie es auf die Reaktionen alters reagiert hat.

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Kritisch muss man diesen Gedanken Meads so verlangem: Im Grunde sind die Erinnerungsbilder, die uns das Gedachtnis bietet, Einschatzungen des Verhaltens damals von heute aus. In diese Einschatzungen gehen die Erinnerungen der Reaktionen der anderen von damals wie die gedachter Beobachter von heute ein. So ist es auch, wenn wir aktuell handeln. Das handelnde Ich erinnert sich vergangener Reaktionen der anderen auf vergleichbares Handeln und der eigenen auf diese und antizipiert mogliche Reaktionen der aktuellen anderen und eigene Reaktionen auf diese. Erst, ich muss das noch einmal betonen, indem sich der Mensch dessen bewusst wird, konnen wir von reflexiver Identitat oder Ich-Identitat sprechen. Auf dieses reflexive Handeln und die „Prozesshaftigkeit der sich entfaltenden und verandemden Ich-Identitat" hebt auch ALVIN W . GOULDNER in der Identitatstheorie von Mead ab: „Die Ich-Identitat ist kein passiver Empfanger auBerer Formgebung, sondem eine selektiv handelnde Instanz, die sich wandelt, indem sie sich zu anderen verhalt und auf sie einwirkt." (Gouldner 1973, S. 194) Diese Vorstellung hat Gouldner bewogen, Mead in die Tradition des romantischen Denkens^ zu stellen. (vgl. S. 193) Auch dort blieb alles Entwurf. Nichts stellte sich im Fluss des Lebens (und des Denkens dartiber!) fest. Ich-Identitat ist das aktuelle reflexive Bewusstsein des Individuums von sich selbst und von den gesellschaftlichen Strukturen, unter denen es denkt und handelt. Ich betone „aktueir', weil dieses Bewusstsein nicht automatisch zustande kommt und weil es sich auch nicht feststellt und dann immer nur wiederholt wurde. Dagegen spricht allein schon die Kumulation der Erfahrungen egos mit den vielen anderen. Die Identitatstheorie Meads ist nur zu verstehen, wenn man sie als Teil seiner Theorie der menschlichen Kommunikation liest. Deshalb gibt es auch keinen Entwicklungsplan, nach dem sich das reflexive Bewusstsein schneller oder langsamer, besser oder schlechter entwickeln konnte. Genau dies unterstellt die zweite klassische Identitatstheorie, die von ERIKSON H . ERIKSON.

Vgl. Kap. 10.3 ,3xkurs: Romantik - jeder Gegenstand ist eine in sich vollkommene Welt".

Die gesunde Personlichkeit meistert ihre Umwelt aktiv, zeigt eine gewisse Einheitlichkeit und ist imstande, die Welt und sich selbst richtig zu erkennen. Marie Jahoda (1950) 1

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Erikson: Identitat im Lebenszyklus - Kemkonflikte, IchQualitaten, Tugenden Die ersten vier Antworten auf die Frage „Wer bin ich?" Die Jugendphase: „Wer bin ich, wer bin ich nicht?" Die drei Phasen des Erwachsenenalters Ich-Identitat: Konstanz und Hoffnung der Emeuerung Nostalgische Vorstellungen oder eine inkonsistente Zeit?

20.2 20.3 20.4 20.5 20.6

Identitat ist das Thema des danisch-amerikanischen Psychoanalytikers (1902-1994). „Kein anderes Wort ist so eng mit dem Namen Eriksons verbunden, und keiner seiner Begriffe hat ihm so viel Aufmerksamkeit abverlangt und ihn dabei doch gequalt, weil eine allzu interessierte Offenthchkeit ihn falsch anwendete." (Coles 1974, S. 98) Auf Erikson, der nach seiner Ausbildung bei Anna Freud in die USA ging und dort einer der bedeutendsten sozialwissenschaftUch ausgerichteten Psychoanalytiker wurde und auf die offentHche Diskussion groBen Einfluss hatte, bezieht sich die gesamte soziologische Diskussion liber Identitat. Daftir gibt es mehrere Griinde. Erstens verbindet Erikson die uberaus populare psychosexuelle Theorie Sigmund Freuds mit einer psychosozialen Entwicklungstheorie, offnet also den Blick flir die sozialen Bedingungen der Entwicklung von Identitat. Zweitens unterlegt er seiner Entwicklungstheorie die Vorstellung von einer „gesunden Personlichkeit". Deshalb lasst sie sich ERIK H . ERIKSON

Marie Jahoda auf einem „Symposium tiber die gesunde Personlichkeit" 1950; zitiert nach Erikson (1950b), S. 57.

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auch wie ein Fahrplan lesen, wo man nachschlagen kann, wann man wo bei normaler Fahrt angekommen sein sollte. Drittens setzt die Entwicklungstheorie Eriksons gegen die manchmal bedmckende Vorstellung der klassischen Psychoanalyse, dass in der ersten Phase die PersonHchkeit schon entschieden werde und die spatere Entwicklung nur noch eine Variation eines Grundthemas sei, die Uberzeugung, dass sich die Personlichkeit lebenslang entwickelt und dementsprechend Revisionen immer moghch sind. Viertens versteht Erikson Identitat nicht als eine Art Ergebnis, das einmal erreicht worden ist und dann wie ein Pels in der Brandung des Lebens unverruckbar feststunde (oder feststehen sollte!), sondem sie wandelt sich in den sozialen Beziehungen zwischen uns und den anderen und in der Vermittlung zwischen der Erinnerung an das, was wir waren und wollten, und den Vorstellungen von der eigenen Zukunft. Identitat ist ftir Erikson das Bewusstsein des Individuums von sich selbst und Kompetenz der Meisterung des Lebens. Dieses Bewusstsein wie auch die Kompetenz entwickeln sich nach einem „epigenetischen Prinzip" (Erikson 1950b, S. 57). Damit ist gemeint, „dass alles, was wachst, einen Grundplan hat, dem die einzelnen Teile folgen, wobei jeder Teil eine Zeit des Ubergewichts durchmacht, bis alle Teile zu einem funktionierenden Ganzen herangewachsen sind." (ebd.) Deshalb spricht Erikson auch von einer „Identitat im Lebenszyklus" (1959a). Wie versteht Erikson nun dieses menschliche Wachstum, und was ist das Ziel? Beide Fragen finden in dem folgenden langeren Zitat und in einer interessanten Anleihe bei einer groBen Sozialforscherin ihre Antwort: „Das menschliche Wachstum soil hier unter dem Gesichtspunkt der inneren und auBeren Konflikte dargestellt werden, welche die gesunde Personlichkeit durchzustehen hat und aus denen sie immer wieder mit einem gestarkten Gefuhl innerer Einheit, einem Zuwachs an Urteilskraft und der Fahigkeit hervorgeht, ihre Sache »gut zu machen«, und zwar gemaB den Standards derjenigen Umwelt, die fur diesen Menschen bedeutsam ist. Der Ausdruck »seine Sache gut machen« {to do well) deutet nattirlich auf das ganze Problem der Relativitat der Kultur hin. So kann z. B. der Personenkreis, der fiir einen Menschen wichtig ist, glauben, er mache seine Sache gut, wenn er viel »Gutes tut«; Oder wenn er (...) viel Geld macht; oder wenn es ihm gelingt, die Realitat auf neue Weise zu sehen oder zu meistem; oder auch wenn er sich nur gerade durchbringt." (Erikson 1950b, S. 56) Und was nun die Frage

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angeht, was unter einer „gesunden Personlichkeit" zu verstehen ist, nimmt Erikson seine Anleihe bei der osterreichischen Sozialforscherin MARIE JAHODA^, die auf dem gleichen „Syniposium liber die gesunde Personlichkeit", auf dem Erikson sein Konzept vorstellte, vorgetragen hatte, dass „die gesunde Personlichkeit ihre Umwelt aktiv meistert, eine gewisse Einheitlichkeit zeigt und imstand ist, die Welt und sich selbst richtig zu erkennen". (zit. nach Erikson 1950b, S. 57) Es waren diese beiden Aspekte, die Eriksons Theorie ungeheuer popular machten: Das Prinzip des Wachstums, dessen Stufen leicht nachzulesen waren, und die Vorstellung einer „gesunden Personlichkeit". AuBerdem lieB sich die Theorie als kritische Analyse der Charakterstruktur in den westlichen Gesellschaften lesen. Den empirischen Nachweis, dass der Charakter durch die Bedingungen des Aufwachsens in diese oder jene Richtung gelenkt wird, hat Erikson auf Anregung von MARGRET MEAD in kulturanthropologischen Studien bei Indianerstammen in den USA und in Charakterstudien historischer Personlichkeiten wie Luther, Hitler, Gandhi oder Gorki erbracht. SchlieBlich hat Erikson bis ins hohe Alter in zahlreichen offentlichen Auftritten gezeigt, was man konkret tun muss, damit Identitat in der Modeme gelingen kann. 20.1

Erikson: Identitat im Lebenszyklus - Kernkonflikte, IchQualitaten, Tugenden

Identitat entsteht nicht allein aus dem Individuum heraus, sondem wird auch kulturell und sozial konstituiert. Das ist die Grundannahme Eriksons. Deshalb verbindet er seine Entwicklungstheorie der Identitat mit einer Sozialisationstheorie. Die Entwicklung selbst ist eine Abfolge von phasenspezifischen Krisen oder „KemkonfIikten", die bewaltigt werden mtissen. Zu einer Krise kommt es im Kindes- und Jugendalter, weil das sexuelle, korperliche und geistige Wachstum mit den Moglichkeiten und den Anforderungen der sozialen Umwelt nicht ubereinstimmt, und im Erwachsenenalter, weil typische Herausforderungen der sozialen Sie ist unter anderem fiir ihre Studie liber „Die Arbeitslosen von Marienthal" (1933) bekannt, die sie zusammen mit Hans Zeisel und Paul Lazarsfeld durchgefiihrt hat. Spater hat sie sich mit moralischen Einstellungen und geistiger Gesundheit befasst.

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Umwelt eine Anderung der bis dahin erworbenen geistigen Orientierungen und Handlungskompetenzen verlangen. Jede Phase „kommt zu ihrem Hohepunkt, tritt in ihre kritische Phase und erfahrt ihre bleibende Losung." (Erikson 1950b, S. 60) Diese bleibende Losung besteht in einer bestimmten Grundhaltung des Menschen zu sich selbst und zu seiner Umwelt. Diese Grundhaltung bezeichnet Erikson auch als „Ich-QuaUtdt." Sie sagt etwas aus tiber die relative psychosoziale Gesundheit. Ein Beispiel fiir eine positive Ich-Qualitat ist in der frlihen Kindheit das Urvertrauen, eines fiir eine negative im reifen Erwachsenenalter die Verzweiflung. Alle Grundhaltungen bauen aufeinander auf. Wo eine Losung der psychosexuellen und psychosozialen Kiisen nicht oder nur unvollstandig gehngt, bleibt das Ich schwach. (vgl. Erikson 1956, S. 149) In jeder Phase bildet sich eine bestimmte Tugend aus. Darunter versteht Erikson eine „Grundstarke", mit der das Individuum sich und andere durchs Leben „steuert". (Erikson 1982, S. 36 und 1961, S. 98) Manchmal bezeichnet Erikson die Tugenden auch als Ich-Starke. Kommt die individuelle Entwicklung mit den Moglichkeiten und Herausforderungen der sozialen Umwelt in ein harmonisches Gleichgewicht, werden Starken und Tugenden in das Ich integriert und Voraussetzungen geschaffen, die Probleme der nachsten Phase zu bewaltigen. Unter Identitat kann man die Integration aller Grundhaltungen des Individuums zu sich und zur Welt verstehen. Sie ist so etwas wie die personliche Form oder der individuelle Stil, also ein objektiver Tatbestand, aber auch ein subjektives Gefiihl. Dieses Gefuhl hat einen „vorbewussten Anteil", dessen man sich aber tiber die Reaktionen der anderen bewusst werden kann. (Erikson 1956, S. 148) Obwohl sich die Identitat lebenslang entwickelt, macht Erikson doch klar, dass die entscheidende Weichenstellung in der Adoleszenz erfolgt, denn dort verlasst der Heranwachsende allmahlich primare, gemeinschaftliche Beziehungen und bereitet sich auf zweckgerichtete, gesellschaftliche Beziehungen vor. Es ist die Phase, in der sich das Individuum seiner selbst im Spiegel der anderen oft schmerzhaft bewusst wird. Erikson unterscheidet acht Phasen im Lebenszyklus, in denen Jewells eine spezifische Antwort auf die Frage „Wer bin ich?" gegeben wird. (Erikson 1950b, S. 98 und 1956, S. 215)

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Wenn die Psychoanalyse bisher noch das Psychosexuelle vom Psychosozialen unterscheidet, so habe ich (...) untemommen, eine Brucke zwischen beiden zu bauen. (...)

Wechselseitige Durchdringung des Biologischen, Kulturellen und Psychologischen. Erik H.Erikson (1950)^ 20.2

Die ersten vier Antworten auf die Frage „Wer bin ich?"

Erikson erklart die psychische Entwicklung in den ersten vier Lebensphasen ahnlich wie Freud, stellt aber hier schon den Bezug des Kindes zur sozialen Umgebung her. Er verlagert den Akzent der Psychoanalyse von den „Bedingungen, die das individuelle Ich entstellen und lahmen, auf die Frage nach den Wurzeln des Ich in der Gesellschaft". (Erikson 1950a, S. 11) Die psychosexuelle Entwicklung und die psychosoziale bedingen sich wechselseitig, und die Stufen der Ich-Starke, die Erikson beschreibt, sind psychische und soziale Qualitaten des Kindes zugleich. Erste Pliase: „Ich bin, was man mir gibt." Die erste Phase, das Sauglingsalter, uberschreibt Erikson mit der Aussage: „Ich bin, was man mir gibt." Damit will er zum Ausdruck bringen, dass der Saugling total von der Mutter abhangig ist. Die psychosoziale Krise, die der Saugling erlebt, ist die Erfahrung, dass die Befriedigung seiner Bediirfnisse nicht standig oder nicht immer in ausreichendem Ma6e erfolgt. Die Ungewissheit, ob und wann und wie diese Befriedigung erfolgt, kann sich verdichten zu einem Gefuhl des Misstrauens und der Resignation. Umgekehrt fuhrt die Erfahrung der regelmaBigen und liebevollen Zuwendung zu einem Gefuhl grundsatzlichen Vertrauens. Erikson nennt diese Grundhaltung Urvertrauen. Der Kemkonflikt in dieser ersten Lebensphase ist also der zwischen Misstrauen und Urvertrauen. Die Tugend oder Ich-Starke dieser ersten Phase, die den ersten Ansatz einer gelingenden Identitat bildet, nennt Erikson Hoffnung.

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Erik H. Erikson (1950a): Kindheit und Gesellschaft, S. 102

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Zweite Phase: „Ich bin, was ich will." In der zweiten Phase, dem Kleinkindalter, entwickelt sich im Kjnd auf die Frage, wer es ist, die Antwort: „Ich bin, was ich will." Das Kleinkind lemt Dinge zu greifen und festzuhalten. Manchmal gelingt es, manchmal nicht. Fallen ihm die Dinge anfangs noch aus der Hand, lemt es allmahlich, dass die Kunst, sie festzuhalten und loszulassen, von seinem Willen abhangt. Ahnlich ist es auch mit seinen Bewegungen. Das Kleinkind beginnt zu krabbeln und erkundet seine Umgebung. Es will also etwas. In dieser Phase wird es aber auch mit einem fremden Willen konfrontiert, indem z. B. die Eltem fordem, etwas ganz bestimmtes zu tun und etwas anderes zu unterlassen. Hier denkt Erikson nicht nur an die von Freud beschriebenen vielen Niederlagen und schlieBlichen Siege der analen Phase, sondem ganz allgemein an die Erwartungen der Eltem, dass ihr Kind lemt, etwas zu konnen und zu wollen, was es konnen soil. Die psychosoziale Krise dieser Phase sieht Erikson in dem Missverhaltnis zwischen den Fordemngen, die an das Kind gestellt werden - vor allem von seinen Erziehem, zunehmend aber auch von ihm selbst - , und dem, was es tatsachlich schon kann. In dieser Phase entscheidet sich, ob die Gmndhaltung zur Autonomie oder zu einem Gefuhl von Scham und Zweifel ausschlagt. Die Tugend oder Gmndstarke dieser Phase ist der Wille. Dritte Phase: „Ich bin, was ich mir vorstellen kann." Das Spielalter ist die dritte Phase. „Das Kind weifi jetzt sicher, dass es ein Ich ist; nun muss es herausfinden, was fUr eine Art von Person es werden will." Es lemt sich freier zu bewegen und gewinnt ein schier unbegrenztes Betatigungsfeld, und gleichzeitig vervoUkommnet sich sein Sprachvermogen. Es kann sich als Ich ausdriicken. Bewegung und Sprache erweitem seine Vorstellungswelt. (vgl. Erikson 1950b, S. 87) Wie George Herbert Mead gezeigt hat, beginnt das Kind im play Pollen wichtiger Bezugspersonen durchzuspielen, indem es sie ist. Das sieht auch Erikson so und fiigt hinzu, dass das Spielalter die Zeit der unendlichen Wissbegier und des immer neuen Vergleichens und Messens mit den Eltem ist. (vgl. 1950b, S. 89) Als uberzeugter Psychoanalytiker verweist er aber auf die besondere Qualitat des Vergleichs: In seiner Phantasie versetzt sich das Kind an die Stelle der Eltem und spielt erotische und sexuelle Bediirfnisse in der Phantasie durch. Deshalb hat Freud diese Entwicklungsstufe infantil-genitale Phase genannt.

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In ihr kommt es zu einer libidinosen Beziehung zu den Eltem, die aber mit dem unbewussten Geftihl einhergeht, dass eine solche Beziehung nicht statthaft ist. Es kommt also zu einem Konflikt zwischen sexuellen Bediirfnissen und kulturell zugelassenen Befriedigungen. Im Grunde geht es aber um mehr als das erwachende geschlechtliche Bediirfnis: Es geht um den generellen Konflikt, dass das Kind in seiner Wissbegier Grenzen uberschreiten will, und im Nachhinein feststellt, dass es dabei Territorien und Personen verletzt hat. In diesem Alter dringen Kinder mit nervenden Fragen in das Ohr der Eltem ein, werden korperlich aggressiv oder malen sich in der Phantasie aus, wie sie sich liber andere stellen konnten und was sie ihnen alles antun konnten, um das eigene Ich so richtig groB erscheinen zu lassen. Und gelegentlich regt sich bei diesem Wunsch, das Ich groB zu denken, auch das Geftihl, andere dabei zu verletzen. Kinder erfahren es schmerzlich am eigenen Leibe, wenn sie im Spiel mit anderen Kindem auf deren ahnlich motivierte Phantasien und Handlungen treffen. Der Kemkonflikt im Spielalter heiBt deshalb Initiative vs. SchuldgefUhl. Die positive Ich-Qualitat besteht darin, sich das sozial Zulassige vorzunehmen und das Falsche zu unterlassen. Die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?" heiBt in dieser Phase: „Ich bin, was ich mir zu werden vorstellen kann." Die Tugend dieser Phase ist die Zielstrebigkeit. Vierte Phase: „Ich bin, was ich lerne." Um das 6. Lebensjahr tritt eine Pause in der sexuellen Entwicklung ein. Freud spricht von Latenz, Erikson nennt diese vierte Phase Schulalter. Jetzt lemt das Kind Dinge, die fiir das Leben ntitzlich sind, und erfreut sich daran, etwas zu konnen und sich mit anderen zu messen. Die Antwort auf die Frage „Wer bin ich?" lautet denn auch: „Ich bin, was ich leme." Der Kemkonflikt dieser Phase besteht in der Erfahrung, den Anforderungen, die das Kind an sich selbst oder die wichtige Bezugspersonen stellen, gerecht zu werden oder an ihnen zu scheitem. Mit der Erfahrung des Konnens entwickelt sich die „Lust an der Vollendung eines Werkes durch Stetigkeit und ausdauemden FleiB", mit der Erfahrung des Versagens sinkt das Selbstvertrauen. (Erikson 1950b, S. 103 und 1950a, S. 254) Im ersten Fall bildet sich ein Geftihl von Leistung Oder Werksinn, im zweiten ein MinderwertigkeitsgefUhl aus. Die Tugend, die sich in dieser Phase ausbildet, ist die TUchtigkeit.

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Manchmal sag' ich mir: Dein Schicksal ist einzig. Johann Wolfgang Goethe (1774) 4 Ich mache mir nichts daraus, nur langweilt es mich manchmal, wenn man mir sagt, ich solle mich meinem Alter entsprechend benehmen. Manchmal benehme ich mich viel erwachsener als ich bin - wirklich -, aber das merken die Leute nie. Sie merken Uberhaupt nie etwas. J. D.Salinger (1951)^ Vielleicht versteht mich keiner. Ulrich Plenzdorf(1973) 6 20.3

Die Jugendphase: „Wer bin ich, wer bin ich nicht?"

Anders als Freud, der die Grundstruktur der Personlichkeit in der friihesten Kindheit im Wesentlichen ausgebildet sieht, geht Erikson davon aus, dass sich die Identitat in der funften Lebensphase, der Adoleszenz entscheidet. Zwar entwickelt sich die Identitat lebenslang, aber die Weichen fiir die weitere Entwicklung werden hier gestellt, denn der Heranwachsende verlasst allmahlich primare, die ganze Person betreffende, gemeinschaftliche Beziehungen und bereitet sich auf zweckgerichtete, ihn nur in bestimmten Rollen beanspruchende, gesellschaftliche Beziehungen vor. Und es ist die Phase, in der sich das Individuum seiner selbst im Spiegel neuer anderer oft schmerzhaft bewusst wird. Es kommt es zu einem raschen Korperwachstum, die Geschlechtsreife wird erreicht, und der Jugendliche orientiert sich nach drauBen, d. h. er sucht sich neue Bezugspersonen, was zu einer Neubewertung der alten Orientierungen fiihrt. Gerade was diese psychische Struktur angeht, ist die Ubergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter eine Phase des Zweifels, des Experimentierens, Entwerfens und Revidierens. Erikson fasst diese „natiirliche Periode der Wurzellosigkeit" in ein schones Bild: „Wie der Trapezktinstler muss der junge Mensch in der Mitte heftiger Bewegtheit seinen sicheren Griff an der Kindheit aufge4 5 6

Johann Wolfgang Goethe (1774): Die Leiden des jungen Werther, S. 88. J. D. Salinger (1951): Der Fanger im Roggen, S. 17. Ulrich Plenzdorf (1973): Die neuen Leiden des jungen W., S. 27.

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ben und nach einem festen Halt am Erwachsenen suchen. Ein atemloses Intervall lang hangt er von einem Zusammenhang zwischen Vergangenheit und Zukunft und von der Verlasslichkeit derer ab, die er loslassen muss, und derer, die ihn aufnehmen werden." (Erikson 1959b, S. 77) Deshalb uberschreibt Erikson die Phase des Zweifels und des tJbergangs auch nicht mit einer Antwort, sondem mit einer Frage: „Wer bin ich, wer bin ich nicht?". Der Kemkonflikt ist der zwischen Identitat und Identitdtsdijfusion. In der Adoleszenz entscheidet sich, ob es zu einer stabilen Identitat konmit oder ob sie ohne Kontur und Kraft bleibt. „Was fur eine Kombination von Trieben und Abwehren, von SubUmierungen und Fahigkeiten auch immer sich aus der Kindheit des jungen Menschen ergeben" hat, nun muss „sie in Hinbhck auf seine konkreten MogUchkeiten in der Arbeit und in der Liebe Sinn haben; was das Individuum in sich selbst zu sehen gelemt hat, muss jetzt mit den Erwartungen und Anerkennungen, die andere ihm entgegenbringen, tibereinstimmen; was immer an Werten flir ihn bedeutungsvoU geworden ist, muss jetzt irgendeiner universellen Bedeutsamkeit entsprechen." (Erikson 1959b, S. 77, Hervorhebungen H. A.) Das Bewusstsein vom eigenen Ich gerat auf den Priifstand der Identifizierung von auBen. Das hat man sich als einen zweifachen Prozess vorzustellen: Zum einen prlift der Jugendliche, wie seine kindlichen Identifizierungen mit denen neuer Bezugspersonen zusammenpassen. Zum anderen identifiziert ihn die Gesellschaft als jemanden, der den primaren Raum der Familie verlasst und sich auf den Weg in die Gesellschaft macht. „Aus eben diesem Grunde konfirmiert die Gesellschaft - in alien Arten ideologischer Strukturierungen - zu diesem Zeitpunkt das Individuum und weist ihm Rollen und Aufgaben zu, in denen es sich erkennen und sich anerkannt fuhlen kann." (Erikson 1959b, S. 77) Das tut die Gesellschaft naturlich auch aus einem hochst eigenen Interesse, denn solche Konfirmationen eines neuen Status, sei es die Jugendweihe, die christliche Konfirmation oder das Ritual der ersten gemeinsamen Zigarette zwischen Tochter und Vater, sollen dem Jugendlichen nicht nur Starke geben, sondem ihn auch an die Gesellschaft binden. Blicken wir wieder auf die Identitatsentwicklung des Jugendlichen selbst. Erikson beschreibt die Anforderungen in einer Zeit des Umbruchs so: „Junge Menschen miissen zu ganzen Menschen aus ihrem

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eigenen Wesen heraus werden, und das in einem Entwicklungsstadium, das sich durch eine Vielfalt von Veranderungen im korperlichen Wachstum, in der genitalen Reifung und in der gesellschaftlichen Bewusstwerdung auszeichnet." (Erikson 1959b, S. 78) „Die Ganzheit, die in diesem Stadium erreicht werden muss," bezeichnet Erikson „als Geflihl der inneren Identitat"; um es zu erfahren, „muss der junge Mensch eine fortschreitende Kontinuitat •



zwischen dem empfinden, was er wahrend der langen Jahre der Kindheit geworden ist, und dem, was er in der vorgeahnten Zukunft zu werden verspricht; zwischen dem, wofiir er sich selbst halt, und dem, wovon er bemerkt, dass andere es in ihm sehen und von ihm erwarten." (Erikson 1959b, S. 78)

Die Suche nach Identitat ist, so habe ich schon referiert, besteht in der Vermittlung von alten und neuen Identifikationen: „Individuell gesprochen, schUefit die Identitat all die aufeinanderfolgenden Identifikationen jener friiheren Jahre in sich, wo das Kind wie die Menschen zu werden wiinschte, von denen es abhing, und oft gezwungen war, so zu werden - aber sie ist mehr als die Summe all dieser Identifikationen. Die Identitat ist ein einzigartiges Produkt, das jetzt in eine Krise tritt, die nur durch neue Identifikationen mit Gleichaltrigen und Fiihrerfiguren auBerhalb der Familie gelost werden kann. Die jugendliche Suche nach einer neuen und doch zuverlassigen Identitat lasst sich vielleicht am besten in dem bestandigen Bemiihen beobachten, sich selbst und andere in oft unbarmherzigem Vergleich zu definieren, zu iiberdefinieren und neu zu definieren; wahrend sich die Suche nach zuverlassigen Ausrichtungen in der ruhelosen Erprobung neuester Moglichkeiten und altester Werte verrat. Wo die sich ergebende Selbstdefinition aus personlichen oder kollektiven Griinden zu schwierig wird, entsteht ein Gefuhl der Rollenkonfusion." (Erikson 1959b, S. 78f.) An dieser Beschreibung wird deutlich, warum Erikson der Jugendphase die entscheidende Bedeutung fiir die Ausbildung der Identitat beimisst: Hier geraten alte Identifikationen auf den Priifstand, und hier wird der Jugendliche in neuen Rollen, fiir die er etwas leisten muss, identifiziert. Wenn der Jugendliche sich „in manchmal krankhafter, oft absonderlicher Weise darauf konzentriert herauszufinden, wie er, im Vergleich zu seinem eigenen Selbstgefuhl, in den Augen anderer er-

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scheint" (Erikson 1950b, S. 106), dann ist das ein Ringen um Selbstbewusstheit und Anerkennung. Mit dieser Suche nach Anerkennung durch neue Bezugspersonen lasst er oft auch die alten Bezugspersonen vollig hinter sich. Eltem wundem sich dann, dass nichts mehr von dem zahlt, was ihm fruher wichtig war, oder erfahren schmerzhaft, dass der Jugendliche die Konfrontation mit ihnen geradezu sucht, um ihnen dann zu sagen, dass sie ihm uberhaupt nichts mehr bedeuten. Die oft mit groBen Worten und deuthchen Gesten demonstrierte Ablosung darf aber nicht darliber hinweg tauschen, dass der Jugendliche selbst sie durchaus als Risiko erlebt. Hinter gespielter Selbstsicherheit verbirgt sich der Zweifel, wohin man sich wenden soil. Manchen iiberfallt das Geflihl, dass keiner - sprich: die Erwachsenen - ihn versteht! Da sind die Freunde auBerordentlich wichtig, aber da sie alle auf der gleichen Suche nach ihrer Identitat sind, verstarken sich manche Zweifel noch. Manches Problem (meist mit den Eltem!) schaukelt sich schon durch die Erfahrung, dass die anderen die gleichen Probleme haben, erst richtig hoch. In dieser Situation der gemeinsamen Suche nach der eigenen Identitat entscheiden sich Jugendliche scheinbar aus heiterem Himmel „totar' fUr eine Meinung, fiir ein Ziel oder fiir ein Outfit und lehnen alles andere „totar' ab. Diese unbedingte Hingabe ist der Versuch, eine gerade entworfene Identitat zusammenzuhalten. Die anderen in der Gruppe bilden dafur gewissermaBen den Chor, der diesen Entwurf absegnet und stutzt. Das erfolgt in der kommentierenden Form von Kritik („Find ich doof!") und Lob („Echt cool!")- Eltem und Lehrer stehen oft ziemlich ratios da, wenn Jugendliche heute mit aller Entschiedenheit eine Sache vertreten, die sie morgen schon wieder vergessen haben werden. Es sind Probeidentitaten, die nur dadurch zusammengehalten werden konnen, dass man sich scharf abgrenzt (meist gegen Erwachsene) und altemative Muster abwehrt. Jugendliche suchen sich so vor einer drohenden Diffusion der Identitat zu schiitzen. Nach dem Prinzip absoluter Exklusion und absoluter Inklusion bestimmt der Jugendliche scheinbar fiir die Ewigkeit, wer er ist und wer er auf keinen Fall sein will. „Ist eine bestimmte willkiirliche Abgrenzung angenommen, so darf nichts, was hineingehort, drauBen gelassen, so kann nichts, was drauBen sein soil, innen geduldet werden. Eine Totalitat ist absolut inklusiv, oder sie ist vollstandig exklusiv, ob die absolut zu machende Kategorie eine logische ist oder nicht und ob die Telle wirklich sozusagen ein Verlan-

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gen nacheinander haben oder nicht." (Erikson 1950b, S. 79) Nach diesem Prinzip entwerfen die Jugendlichen ihre Identitat voreinander und erwarten, dass sie alle ftir die Ideale, die dahinter stehen, einstehen. Die Jugendphase ist die Zeit des moralischen Rigorismus und totalitaristischer Haltungen. „Wenn das menschliche Wesen auf Grund zufalliger oder entwicklungsmaBiger Veranderungen einer wesentlichen Ganzheit verlustig geht, baut es sich und die Welt wieder auf, indem es Zuflucht zu etwas nimmt, was wir Totalitarismus nennen konnen." (Erikson 1964, S. 79) Erikson wamt davor, das als „reinen regressiven oder infantilen Mechanismus" abzutun: Es ist der Versuch, in einer Zeit, wo sich die festen Orientierungen auflosen und das Individuum nicht mehr weiB, wer es ist, sich eine totale Gestalt von sich und dem Sinn seines Lebens vorzustellen. Dieses Bedurfnis geht einher mit dem BedUrfnis nach enger Solidaritat und unbedingter Treue. Treue ist die Tugend, die in dieser Lebensphase ausgebildet wird. Treue ist die feste Verpflichtung auf Ideale und idealisierte Personen. Die Tugend der Treue ruht auf dem unbedingten Glauben an etwas Wahres auf, mag dies nun in Werten und Ideologien oder in konkreten oder erdachten Personen gesucht werden. Treue ist eine auBerordentlich dichte Beziehungsform. Mit ihr wird die Identitat an etwas gebunden, das selbst Teil dieser Identitat wird. Treue ist „der Eckstein der Identitat." (Erikson 1961, S. 108) Neben die Frage „Wer bin ich?" tritt in der Jugendphase die Frage „Wer will ich sein?", und deshalb steht am Ende auch eine doppelte Antwort: „Ich will der sein und der nicht." Ich sage „am Ende", aber diese Antwort ist - folgt man Eriksons These von der lebenslangen Entwicklung der Identitat - immer nur eine vorlaufige. In der Jugendphase synthetisiert sich aber aus dem eingangs genannten Grund, dass der Jugendliche primare, gemeinschaftliche Beziehungen verlasst und sich in gesellschaftlichen Beziehungen durch eigene Leistungen etablieren muss, und aus dem besonderen Grund der sozialen Vergewisserung in Form der unbedingten Treue und des entschiedenen Ausschlusses letztlich das Muster der Identitat. Ab hier steht das Bewusstsein vom eigenen Ich in emsthafter Spannung zu einer sozialen Identitat, die andere einem zuschreiben, und zu Personen und Haltungen, mit denen man nicht identifiziert werden will.

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Freundy so du etwas bist, so bleib dock ja nicht stehn: man muss von einem Lichtfort in das andre gehn. Angelus Silesius (1624-1677) ^ Hat einer dreifiig Jahr voruber, so ist er schon so gut wie tot. Johann Wolfgang von Goethe (1831) ^

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Die drei Phasen des Erwachsenenalters

Der Jugendliche hat sich auch darliber definiert, dass er vieles ganz anders als die Erwachsenen machen will. Jetzt ist er selbst einer und muss flir sich wissen, wer er ist und was er als „Experte des richtigen Lebens", als der er sich in Abgrenzung von den Erwachsenen oft gefiihlt hat, zu tun hat. Was ist neu, und wo kann man die Zasur zwischen Jugend und Erwachsenenphase machen?9 Ich definiere die Zasur, die nattirlich keine wirkliche ist, mit dem Eintritt in den Beruf, der Versorgung mit einem eigenen Einkommen, und der Verpflichtung auf eine dauerhafte Bindung ggf. mit dem Ziel, eine Familie zu grtinden. Diese Ziele und Status konnen einander bedingen, miissen es aber nicht, sie konnen auch zeitlich versetzt erreicht werden. Im Kern aber ist es ein zeitlich begrenzter Bereich zwischen 20 und 30, von dem in unserer Gesellschaft angenommen wird, dass dort die entsprechenden Entscheidungen getroffen werden und die ersten Ziele erreicht sein sollten. Entlang dieser sozialen Herausforderungen betrachtet Erikson die weitere Entwicklung der Identitat im Erwachsenenalter: „In der Jugend findet man heraus, was man gem tun mochte oder wer man gem sein mochte - und man probiert das in wechselnden Rollen. Im friihen Erwachsenenalter lemt man, mit wem man bei der Arbeit und im Privatleben gem zusammensein mochte - mit wem man nicht nur Intimitaten austauschen, sondem Intimitat teilen mochte. Und im reifen Erwachsenenalter lemt man schlieBlich zu erkennen, wofur und fur wen man Sorge tragen kann." (Erikson, 1974, S. 140) Angelus Silesius (Johannes Scheffler) In: Das deutsche Gedicht. Johann Wolfgang von Goethe (1831): Faust. Der Tragodie zweiter Teil, 6787f Ich will hier nicht auf die uferlose Diskussion um das Ende der Jugendphase und die Versprechungen, dass wir alle in der Postadoleszenz for ever young bleiben, resp. die Sorge, dass viele das tatsachlich so sehen und sich fiir nichts verantwortlich fiihlen, eingehen. Das wtirde den Rahmen bei weitem sprengen.

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Sechste Phase: „Ich bin, was ich einem anderen gebe und was ich in ihm finde." In der sechsten Phase, dem friihen Erwachsenenalter, ist die weitere Entwicklung der Identitat von der Partnerschaft bestimmt. Die Antwort, die in dieser Phase auf die Frage, wer man ist, gegeben werden kann, lautet ungefahr so: „Ich bin, was ich einem anderen gebe und was ich in ihm finde." Es geht also um die Wechselwirkung zwischen Partnem, die sich Ueben und fureinander da sind. GeHngt diese Beziehung, entsteht ein wechselseitiges Gefiihl der Intimitdt, geUngt sie nicht, kommt es zur Isolierung. In dieser Phase wird bei einer gehngenden Entwicklung als Tugend Oder Grundstarke, mit der das Individuum sich und andere durchs Leben steuert, die Liebe ausgebildet. Siebte Phase: „Ich bin, was ich mit einem anderen zusammen aufbaue und erhalte." In der siebten Phase, dem eigentlichen Erwachsenenalter, wird der Identitat Kraft durch die Erfahrung „Ich bin, was ich mit einem anderen zusammen aufbaue und erhalte" zugefuhrt. Der Kemkonflikt heiBt deshalb Generativitdt gegen Selbstabsorption, Die erste Grundhaltung meint die Bereitschaft, durch ein Kind die Gesellschaft am Leben zu erhalten. Bei der zweiten schrecken die Partner vor dieser Verantwortung zuriick und Ziehen sich ganz auf sich selbst zurlick. Die gesunde Entwicklung der Identitat wird in dieser Phase vom Gefiihl, „benotigt zu werden" (Erikson 1964, S. 114), gespeist. Diese Erfahrung hebt Erikson in den Rang einer anthropologischen Konstitution. Der Mensch hat es „notig", benotigt zu werden, um nicht „der seelischen Deformierung der Selbst-Absorption zu verfallen, in der er zu seinem eigenen Kind und SchoBtier wird" (ebd.). In diesem misslingenden Fall beanspruchen sich manche Partner auch wechselseitig als SchoBhund, regredieren in narzisstische Selbstbespiegelung oder arrangieren ihr Zusammenleben als Zweckgemeinschaft zur gegenseitigen Bedurfnisbefriedigung. Bei einer gesunden Entwicklung der Identitat bildet sich die Tugend der Fursorge aus.

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Achte Phase: „Ich akzeptiere, was ich geworden bin." In der achten und letzten Phase des Lebens, dem reifen Erwachsenenalter, geht es darum, das zu sein, was man geworden ist, was heiBt, seine bisherige Entwicklung zu akzeptieren, und zu wissen, dass man einmal nicht mehr sein wird. Der Kemkonflikt der Identitat in dieser Phase heiBt deshalb Ich-Integritat vs. Verzweiflung. (Erikson 1950a, S. 262f.) Das Wachstum der Personhchkeit und damit die Summe der Grundstarken, die Identitat konstituieren, vollenden sich in der Tugend der Weisheit. 20.5

Ich-Identitat: Konstanz und Hoffnung der Erneuerung

Die wichtigste Botschaft des Identitatskonzeptes von ERIK H . ERIKSON ist die, dass sich Identitat Uber das ganze Leben hin entwickelt, und „das Kemproblem der Identitat", so kann man die Theorie zusammenfassen, besteht „in der Fahigkeit des Ichs, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuitat aufrechtzuerhalten." (Erikson 1959b, S. 82)10 Erikson nennt das personate Identitat. Wo dieses Bewusstsein mit dem Gefiihl zusammenkommt, „dass auch andere diese Gleichheit und Kontinuitat erkennen", spricht er von Ich-Identitdt. (Erikson 1946, S. 18) Diese Differenzierung, die ja nur klinstlich ist und die beiden Seiten der Medaille Identitat beschreibt, lasst sich durchaus mit dem Konzept von GEORGE HERBERT MEAD verbinden, wo wir gehort haben, dass das Individuum in der Interaktion Objekt immer neuer Anderer wird, dies auch weiB, und dass es uber deren BHck Objekt flir sich selbst wird. Obwohl Erikson das nicht expUzit sagt, spielt doch dieser Gedanke der Abhangigkeit der Identitat von den wechselseitigen Bildem eine groBe Rolle. Die Wechselwirkungen horen nie auf, und deshalb ist IchIdentitat auch nichts Starres, im Gegenteil: Sie wird standig auf neue Erfahrungen vom Ich und den Anderen eingestellt. Natlirlich kann das so aussehen, dass das alte Muster beibehalten wird, aber wahrscheinli10

Ganz zum Schluss (vgl. unten Kap. 30 „Kompetenzen") werde ich diesen Satz noch einmal aufgreifen und einwenden, dass Eriksons Identitatstheorie in diesem Punkt alle, die nicht von Geburt an Weise sind, uberfordert. Deshalb werde ich von der Fahigkeit sprechen, Gleichheit und Kontinuitat „anzunehmen". Auch das ist keine leichte Arbeit.

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cher ist es, dass die Identitat unmerklich an neue Ziele und Umstande angepasst wird. Das wiederum hat zur Folge, dass wir von den Anderen in anderer Weise identifiziert werden, und auch darauf reagieren wir, indem wir zeigen, wer wir jetzt sind und wie wir von den Anderen gesehen werden wollen. Fur die Ich-Identitat als der individuellen und sozialen Annahme der Kontinuitat und Gleichheit des Ichs heiBt das, die eigene Lebensgeschichte mit der Gegenwart, in der wir handeln und uns mit Erwartungen der anderen auseinandersetzen, und mit der Zukunft, so wie wir sie angehen, abzustimmen. Das zu konnen und auch zu wollen, macht Identitat aus: „Das Gefiihl der Identitat setzt stets ein Gleichgewicht zwischen dem Wunsch, an dem festzuhalten, was man geworden ist, und der Hoffnung, sich zu emeuem, voraus." (Erikson 1974, S. 113) Nach der Seite der kontinuierlichen Erinnerung hin, wer man war, kann man Eriksons Annahme von einer gelungenen Identitat vielleicht so zusammenfassen: Identitat besteht in der kritischen Vergewisserung der eigenen Biographie und ihrer weisen Annahme. Nach der Seite der kontinuierlichen Vorbereitung der eigenen Zukunft heiBt Identitat, sich selbst ihre Meisterung zuzutrauen. 20.6

Nostalgische Vorstellungen oder eine inkonsistente Zeit?

LOTHAR KRAPPMANN hat bei der Wurdigung dieses Identitatskonzeptes die Frage aufgeworfen, ob Eriksons Beschreibungen „nicht wahrhaft nostalgisch" anmuten und ob „die »postmodemen« Lebensverhaltnisse die Bemtihungen um Identitat nicht langst als aussichtslos, sogar als dysfunktional erwiesen" hatten. (Krappmann 1997, S. 66) Auf diese Frage gibt er zwei Antworten. Die erste argumentiert historisch und wendet sich an die Adresse derer, die Erikson vorgeworfen haben, sein harmonisierendes Modell spiegele die idealisierende Erfahrung einer harmonischen Gesellschaft der amerikanischen Mittelschicht wider. Krappmann halt dagegen: „Keineswegs geht er in seiner Auseinandersetzung mit dem Identitatsproblem von gesicherten Verhaltnissen aus, denn Eriksons Sicht der Problematik entsprang seinen Studien in den vierziger Jahren, in denen er Entwicklungsprozesse von Kindem in gegensatzlichen Kulturen, den verfUhrerischen Einfluss politischer Bilderwelten auf die Heranwach-

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senden und die Auswirkungen des Kriegserlebnisses auf heimkehrende Soldaten untersucht hatte. Er fragte folglich nach dem Platz des Individuums in einer sich umsturzenden Welt, in der zunehmend zweifelhaft wurde, wie sich personliche Lebensplane mit massiven gesellschaftlichen Veranderungen verbinden lassen. (Krappmann 1997, S. 66f.) Die strukturellen Bedingungen, unter denen Identitat zu suchen war, scheinen also durchaus vergleichbar denen zu sein, die heute mit wamenden Begriffen wie „Zerfall traditionaler Sicherheiten", „Auflosung des Sozialen" oder „Zerfaserung des Selbst angesichts konturloser Rollen und unlibersehbarer Altemativen" (Tenbruck 1962, S. 45) belegt werden. Gleichwohl deutet Krappmann in einer zweiten Antwort an, dass Identitat, die nach dem Konzept von Erikson „an den Schnittstellen von personlichen Entwurfen und sozialen Zuschreibungen" entsteht und insofem immer »problematisch« sei, „weil die vom einzelnen zu leistende Integration von der sozialen Gruppe, der er angehort, anerkannt werden muss" (Krappmann 1997, S. 67), heute schwieriger zu gewinnen ist. Er schreibt: „Diese Anerkennung ist leichter zu erhalten, wenn die Synthese, die Menschen sich erarbeiten, zu den akzeptierten Bildem von Personlichkeit, zu vorstellbaren Lebenswegen und ublichen sozialen Rollen passt." (ebd.) Was die Anerkennung angeht, sollte das, was DAVID RIESMAN Uber den auBengeleiteten Charakter (ubrigens zur gleichen Zeit!) geschrieben hat, zu denken geben! Einiges habe ich schon dazu gesagt; ausfUhrlich komme ich gleich darauf zu sprechen. Und was die „akzeptierten Bilder" und „ublichen Rollen'' angeht, gibt Krappmann zu bedenken, dass „die Gesellschaft (...) in ihren Erwartungen nicht konsistent" ist, dass es „den geteilten Sinn (...) nur sehr begrenzt" gibt und dass „auch die »sozialen Rollen« und »Laufbahnen«, von denen Erikson spricht, (...) keineswegs eindeutig" sind. (Krappmann 1997, S. 79). Die Beschreibungen der gegenwartigen Gesellschaft durch die Soziologen lauteten ganz anders: „Auflosung traditionaler Rollen, Entnormativierung, Wertewandel, Uniibersichtlichkeit, Pluralisierung, Individualisierung". (S. 80) Angesichts dieser Zeitdiagnose mute Eriksons „Rede von angebotenen Rollen und Laufbahnen und von der Einfugung der Heranwachsenden in eine koUektive Zu-

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kunft, in deren Rahmen sie auf Einheit und Kontinuitat vertrauen konnen", dann doch „nostalgisch" an. (Krappmann 1997, S. 80)ii Ich mochte noch eine letzte kritische Vennutung anschlieBen: Die Optionen in der Modeme sind so zahlreich geworden und suggerieren jede fur sich Sinn, so dass das Individuum sich letztlich nur noch danach entscheiden kann, was kurzfristig Erfolg verspricht und langerfristig alternative Entscheidungen nicht unmoglich macht. HEINER KEUPP hat vor einigen Jahren provokant den »Abschied von Erikson« gefordert und die rhetorische Frage gestellt, „ob es uns iiberhaupt noch geHngen kann, die »inneren Besitzstande« angesichts einer sich immer schneller verandemden gesellschafthchen Wirklichkeit zusammenzuhalten". (Keupp 1988, S. 431) Naturiich ist seine Antwort negativ: Es gehngt uns nicht. Identitat ist nichts anderes als die Kunst, sie immer wieder neu zusammenzustellen. Keupp bezeichnet deshalb auch „Identitat als Patchwork". Diese Praxis bleibt naturiich unterhalb der optimistischen Ziele der Theorie von Erikson. Aber gerade deshalb lohnt es sich, auf sie zu bUcken. Die Theorie von TALCOTT PARSONS, um die es jetzt geht, erhebt den hohen Anspruch, in dem sich die Identitat nach der Theorie von Erikson vollenden sollte, erst gar nicht. Sie erklart lediglich, wie das Individuum eine stabile Orientierung in einem komplexen Rollensystem findet. Dabei steht auch nicht der Gedanke irgendeiner Vollendung der Personlichkeit, sondem das Interesse der Gesellschaft an verlasslichen, d. h. aus Uberzeugung mitmachenden Individuen im Vordergrund.

11 Lesen Sie auch noch einmal die Andeutung meiner Kritik an dieser Kunst (des Vertrauens) in der letzten FuBnote.

Merke: du hast eine Rolle zu spielen in einem Schauspiel, das der Direktor bestimmt. (...) Deine Aufgabe ist einzig und allein, die zugeteilte Rolle gut durchzujuhren; die Rolle auszuwdhlen, steht nicht bei dir. Epiktet (50-138)^

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Identitat - stabile Orientierung in einem komplexen Rollensystem

21.1

Das Problem des homo sociologicus: Individualitat nur auBerhalbderRollen? Parsons: Identitat - ein Problem in Zeiten stmktureller Differenzierung und Pluralisierung Objekt in vielfaltigen Interaktionssystemen Identitat: Code zur Erhaltung des Personlichkeitssystems

21.2 21.3 21.4

Um sich klarzumachen, wo TALCOTT PARSONS (1902-1979), eine zentrale Figur in der amerikanischen und europaischen Soziologie in der zweiten Halfte des letzten Jahrhunderts, das Thema Identitat lokalisiert, muss man sich einige seiner Grundannahmen vor Augen fuhren: In einer Theorie der Institution zeigt er2, wie Wertorientierungen in einer Gesellschaft so verbindlich werden, dass wir an ihnen, wie das ja auch Durkheim3 gesagt hat, nicht vorbeikommen. Institutionen sind „normative Muster", die definieren, „welche Formen des Handelns oder welche sozialen Beziehungen in einer gegebenen Gesellschaft als angemessen, rechtmaBig oder erwartet betrachtet werden. Die institutionellen Muster unterscheiden sich von anderen normativen Mustem, die das Handeln bestimmen konnen, durch zwei Hauptkriterien. Erstens sind sie von einem allgemeinen normativen Empfinden getragen; sie zu 1 2 3

Epiktet (50-138): Handbiichlein der Moral und Unterredungen, S. 29 Vgl. Abels 2004, Bd. 1, Kap. 4.5 ,JParsons: Normative Muster". Vgl. Abels 2004, Bd. 1, Kap. 4.1 „Durkheim: Soziale Tatsachen".

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befolgen ist nicht bloB zweckmaBig, sondem eine moralische Pflicht. Zweitens sind sie keine »utopischen« Muster, die - so erstrebenswert sie immer sein mogen - nur von einigen wenigen oder nur unter auBergewohnlichen Umstanden verwirklicht werden. Der extreme Altruismus der Bergpredigt z. B. oder auBergewohnliches Heldentum werden zwar allgemein gebilligt, doch vom gewohnlichen Menschen erwartet man nicht, dass er sie verwirklicht. Wenn ein Muster dagegen institutionalisiert ist, so wird seine Befolgung zum Bestandteil der legitimen Erwartungen der Gesellschaft, wie auch der jeweils Handelnden." (Parsons 1940, S. 140f.) Institutionen sichem die Freiheit des Individuums, weil sie Verhalten fur alle festlegen und somit berechenbar machen, und sie schranken ein, weil sie Geltung beanspruchen und Regelverletzungen sanktionieren. Dass uns die normativen Muster letztlich nicht als Zwang und Einschrankung erscheinen, erklart Parsons mit der Erzeugung einer konformen Motivation im Prozess der SozialisationA Letztlich wollen wir uns so verhalten, wie wir uns verhalten sollen. Parsons nennt die dauerhafte Bereitschaft zur Zustimmung Wertbindung (»commitment«). Wertbindung ist ein Medium, liber das sich soziale Systeme, also Systeme konkreten Handelns, nach MaBgabe vorab definierter Rollen konstituieren. Institutionalisierung ist die HinfUhrung zur Ordnung der Rollen.'^ RALPH DAHRENDORF, Ende der 50er Jahre der wichtigste Transporteur dieser von Parsons vertretenen Rollentheorie nach Deutschland und zugleich entschiedener Kritiker, hat die starke These vertreten, dass die damals herrschende Soziologie den Menschen grundsdtzUch in dieser gesellschaftlichen Verortung sieht. Der Mensch dieser Soziologie, der homo sociologicus, ist von der Gesellschaft, konkret von Erwartungen, umstellt. Und genau hier lage auch sein Problem: Seinen Auftritt kann er nur nach der MaBgabe der Rollen haben, und was seine Individualitat ausmacht, passt oft nicht zum Drehbuch. Identitat im Angesicht der „argerlichen Tatsache der Gesellschaft" ware dann die Bilanz, welcher personliche Rest einem nach der Erftillung aller Erwartungen bleibt. 4 5

Vgl. Abels 2004, Bd. 2, Kap. 2.6 ,J^arsons: Herstellung funktional notwendiger Motivation". Fiir einen tJberblick liber die Rollentheorie, vor allem nach Parsons, und ihre Kritik vgl. Abels 2004, Bd. 2, Kap. 3 , Jlolle".

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Homo sociologicus - ein Schatten, der seinem Urheber davongelaufen ist, um als sein Herr zurilckzukehren. RalfDahrendorf(1958) 6

21.1

Das Problem des homo sociologicus: Individualitat nur auBerhalb der RoUen?

Die Gesellschaft ist nach der Theorie von Parsons ein einheitliches Ganzes, in dem die einzelnen Teile in einer bestimmten Ordnung (Struktur) zueinander stehen und fureinander eine bestimmte Bedeutung Oder Aufgabe (Funktion) haben. Sie ist ein System, das wiederum in Systeme unterteilt istJ Das oberste System ist das kulturelle System, In ihm sind alle Werte, Normen und Symbole vereint, die unser Handeln in dieser Gesellschaft leiten. Parsons nennt das kulturelle System deshalb auch »shared symbolic system which functions in interaction«. (Parsons 1951, S. 11) Es hat eine normative Funktion. Auf der Ebene der konkreten Interaktionen, also der Wechselwirkungen zwischen handelnden Individuen, schlagt sich das kulturelle System in sozialen Erwartungen nieder, was in der Gesellschaft insgesamt oder in spezifischen Bereichen als ublich, angemessen und legitim gilt. Erwartungen des normalen Verhaltens kann man als Rollen bezeichnen. Rollen kommen in sozialen Systemen zum Ausdruck. Unter einem sozialen System versteht Parsons jeden spezifischen Zusammenhang der Handlungen von mehreren Individuen. Die Familie ist ein soziales System, in dem Vater, Mutter und Kinder ihr Verhalten aneinander orientieren, das FuSballspiel eines zum kurzfristigen Austausch von Stadtefeindschaften oder das Arbeitsteam eines zum effizienten Einsatz aller Krafte bei der Herstellung von Eierschecken. Unter dem Aspekt, dass Handlungen von Individuen in einer spezifischen Weise aufeinander bezogen sind, ist auch das Finanzamt und die Disco ein soziales System. Soziale Systeme sind Systeme von Erwartungen spezifischen Verhaltens.

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Ralf Dahrendorf (1958): Homo sociologicus, S. 43. Lesen Sie doch einmal nach, auf welche Parabel ich am Ende des 26. Kapitels verweise. Eine Einfuhrung in diese Systemtheorie finden Sie in Abels 2004, Bd. 1, Kap. 6.1 ,J^arsons: Systemtheorie der Strukturerhaltung".

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Auf der dritten Ebene stehen die Personlichkeitssysteme, also die Individuen, deren Denken und Handeln ebenfalls eine typische Struktur aufweist. Parsons versteht sie auch deshalb als Systeme, weil jedes Denken und Verhalten jedes andere beeinflusst und insgesamt dazu tendiert, das Ganze der Personlichkeit in einem Gleichgewicht zu halten. Das Denken und Handeln der Individuen steht unter dem normativen Druck des kulturellen Systems und ganz konkret unter der Vorgabe spezifischer Rollen in konkreten sozialen Systemen. Rollen halten fest, wie sich das Individuum auf der Bilhne des Lebens zu verhalten hat und - so haben Kritiker die Rollentheorie von Parsons durchweg gelesen - wie es sich auch selbst sehen soil. Identitat ist RoUenidentitat! Dahrendorf hat den Geist dieser Theorie so beschrieben: „Die Tatsache der Gesellschaft ist argerlich, weil wir ihr nicht entweichen konnen. (...) FUr jede Position, die ein Mensch haben kann, sei sie eine Geschlechts- oder Alters-, Familien- oder Berufs-, National- oder Klassenposition oder von noch anderer Art, kennt »die Gesellschaft« Attribute und Verhaltensweisen, denen der Trager solcher Positionen sich gegeniibersieht und zu denen er sich stellen muss." (Dahrendorf 1958, S. 27) Wo das Problem im Verhaltnis von Individuum und Gesellschaft liegt, schildert Dahrendorf am Beispiel des Studienrates Schmidt, dem es offensichtlich so geht wie alien, wenn sie die Btihne des Lebens betreten: Sobald sich das erste Bewusstsein regt, stellen sie fest, dass alles schon getan ist: „Es lasst sich schwerlich bestreiten, dass die Gesellschaft aus Einzelnen besteht und in diesem Sinne von Einzelnen geschaffen ist, wenn auch die bestimmte Gesellschaft, in der HenSchmidt sich findet, mehr von seinen Vatem als von ihm geschaffen sein mag. Andererseits drangt die Erfahrung sich auf, dass die Gesellschaft in irgendeinem Sinne nicht nur mehr, sondem etwas wesentlich anderes ist als die Summe der in ihr lebenden Einzelnen. Gesellschaft ist die entfremdete Gestalt des Einzelnen, homo sociologicus ein Schatten, der seinem Urheber davongelaufen ist, um als sein Herr zuriickzukehren." (Dahrendorf 1958, S. 43) Das erinnert an KARL MARX und FRIEDRICH ENGELS, die in ihrer Vorrede zur „Deutschen Ideologic" die Selbstunterwerfung des Menschen unter die gesellschaftlichen Verhaltnisse so gegeiBelt hatten: „Die Menschen haben sich bisher stets falsche Vorstellungen liber sich

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selbst gemacht, von dem, was sie sind oder sein sollen. Nach ihren Vorstellungen von Gott, von dem Normalmenschen usw. haben sie ihre Verhaltnisse eingerichtet. Die Ausgeburten ihres Kopfes sind ihnen liber den Kopf gewachsen. Vor ihren Geschopfen haben sie, die Schopfer, sich gebeugt." (Marx u. Engels 1846, S. 13) Die gesellschafthchen Verhaltnisse sind den Menschen fremd geworden und haben sich verdinglicht. Sie sind normative Faktizitat. So sieht es auch Dahrendorf. Die Rollen sind Faktizitaten, die Freiheit einschranken. Er fragt nun, wieso die Gesellschaft tagUch erzwingen kann, dass der Mensch seine Freiheit aufgibt oder gar nicht erst beansprucht und seine Rollen spielt. Seine Antwort lautet so: „Ubernimmt und bejaht er die an ihn gestellten Forderungen, dann gibt der Einzelne seine unberuhrte Individualitat zwar auf, gewinnt aber das Wohlwollen der Gesellschaft, in der er lebt; straubt der Einzelne sich gegen die Forderungen der Gesellschaft, dann mag er sich eine abstrakte und hilflose Unabhangigkeit bewahren, doch verfallt er dem Zom und den schmerzhaften Sanktionen der Gesellschaft." (Dahrendorf 1958, S.27) Der homo sociologicus der Mitte des 20. Jahrhunderts prominentesten Soziologie, so habe ich den Begriff schon erlautert, ist der Mensch, der Rollen verpflichtet ist - und ihnen auch verpflichtet sein soil. Diese Definition des Menschen in der Gesellschaft hat Konsequenzen: Macht er mit, bleibt nicht viel von seiner Individualitat, verweigert er sich, dann verweigert man sie ihm. Versteht man Identitat als das Gefuhl, eine gewisse individuelle Linie in seinem Verhalten auch gegen die Erwartungen der anderen beizubehalten, und als Anspruch, dass diese Individualitat auch von den anderen bestatigt wird, dann ware das Thema nach dieser pessimistischen Sicht schon erledigt. Im Zuge einer erfolgreichen (naturUch aus der Sicht der Gesellschaft!) Sozialisation hatte die Gesellschaft mit ihren Rollenerwartungen das Individuum schon erdriickt, bevor es uberhaupt sich als solches zu denken wagt. Versteht man allerdings Identitat als individuelles Arrangement des Denkens und Handelns innerhalb der gesellschafthchen Erwartungen, dann liefert Parsons' Theorie die Erklarung, wie sie moglich ist und warum sie genau so gedacht werden sollte.

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21 Identitat - stabile Orientierung in einem komplexen Rollensystem Identitdt, Entfremdung - Modeworte, attraktivfur sensible Gemilter in bewegten Zeiten. Frei nach Talcott Parsons (1968) 8

21.2

Parsons: Identitat - ein Problem in Zeiten struktureller Differenzierung und Pluralisierung

Nach Parsons ist das Verhaltnis zwischen Individuum und Gesellschaft normalerweise nicht problematisch, und von daher gabe seine Rollentheorie auch keinen Anlass, die Flinte ins Kom zu werfen. Im Gegenteil. Im Prinzip sind die Rollen richtige und vemtinftige Erwartungen, und eigentlich boten sie auch gute Voraussetzungen daflir, dass das Individuum in ihrem Rahmen eine Identitat findet und durch sein Handeln zum Ausdruck bringt. „EigentUch", denn als genauer Beobachter der Modeme sieht Parsons, dass die Individuen mit der Identitat ein Problem haben oder dass einige zumindest meinen, sie hatten ein Problem. Wie kommt es zu diesem Problem? Fur Parsons hangt es mit der zunehmenden Komplexitat und Differenzierung der Gesellschaft zusammen. Er schreibt: „Der Begriff »Identitat« ist zu einem Modewort geworden, das zwar primar als terminus technicus dem Bereich der Sozialpsychologie angehort, das jedoch auch - besonders in den Vereinigten Staaten - breitere Kreise von Intellektuellen anzieht. Die Verbreitung derartiger Begriffe - man denke auch an den eng verwandten der Entfremdung - ist in der Regel symptomatisch fur die Spannungen, die durch Veranderungen der Struktur einer Gesellschaft und der kulturellen »Definition der Situation« erzeugt werden. FUr die beiden genannten Begriffe mochte ich hier lediglich behaupten, dass ihre Verbreitung - vom sozialen System her gesehen - teilweise als Konsequenz einer zunehmenden strukturellen Differenzierung der Gesellschaft zu interpretieren ist, durch die eine zunehmende Pluralisierung der Rollenverpflichtungen des typischen Individuums produziert wird. Dadurch wird namlich ein haufig verwirrender Bereich von Wahlmoglichkeiten und - nachdem man sich einmal festgelegt hat - von sich vielfaltig uberlappenden Zwangen freigesetzt." (Parsons 1968, S. 68) Vgl. Talcott Parsons (1968): Der Stellenwert des Identitatsbegriffs in einer allgemeinen Handlungstheorie, S. 68.

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Das Problem der Identitat in der Modeme hangt also mit der tJberforderung des Individuums durch Differenzierung und Pluralisierung zusammen. Parsons fuhrt den Gedanken weiter: „Das System der primaren Rollenbindungen von Individuen wurde auBerordentlich differenziert; aber gleichzeitig haben sich auch die Sozialsysteme, die unmittelbar Interesse auf sich Ziehen, ungeheuer ausgedehnt - bis zu einem Punkt, wo eigentlich die ganze Welt fur jedes einzelne einigerma6en aufgeklarte Individuum zum Handlungsfeld wird. Daher ist das Individuum entschieden starker und bewusster damit beschaftigt, herauszufinden, was und wer es in dem ganzen Universum von Identitaten aller moglichen Menschen auf der Erde ist." (Parsons 1968, S. 71) Die tatsachlichen oder symbolischen Beziehungen zu zahlreichen anderen Individuen werden nicht nur komplexer und fordem differenzierte Entscheidungen, sondem sie konfrontieren das Individuum auch mit hochst unterschiedlichen Identitaten und hochst unterschiedlichen Erwartungen. „Diese Entwicklungsprozesse", fahrt Parsons fort, sind „dafur verantwortlich, dass das Problem der Identitat (und das damit zusammenhangende, aber von diesem zu unterscheidende der Entfremdung) innerhalb der westlichen Kultur - vor allem der Vereinigten Staaten - in den Vordergrund geriickt ist. Es ist natiirlich verstandlich, dass die Identitatsprobleme vor allem in den sensiblen (Korr. H. A.) Gruppen der jungeren Generation akut sind, da diese Individuen in ein Interaktionssystem einzutreten haben, das erheblich komplexer und verzweigter ist als das, dem ihre Eltem zum entsprechenden Zeitpunkt ihres Lebenszyklus gegenliberstanden." (Parsons 1968, S. 71) Es kommt sicher nicht von ungefahr, dass Parsons den Begriff der Identitat zweimal mit dem „damit zusammenhangenden" der Entfremdung zusammenbringt und ihn als „Modewort" bezeichnet, das attraktiv fiir Intellektuelle geworden sei. Es war die historische Erfahrung der Studentenbewegung in den USA und ihrer Kritik an entfremdenden gesellschaftlichen Verhaltnissen, die den Theoretiker der Ordnung liber den Zusammenhang von Individuum und Gesellschaft in zwei Richtungen nachdenken lieB. In der einen Richtung stellte sich die Frage, was die Voraussetzung fiir die freiwillige Zustimmung zu einer Gesellschaft ist. Das mindeste war nach seiner Theorie, dass die Ordnung als legitim und die sozialen Rollen als eindeutig erschienen. Die eine Bedingung war gerade durch

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die aufkommende Kritik an den „Verhaltnissen" offentlich ins Gerede gekommen, die zweite Bedingung hielt Parsons selbst flir fraglich. Fraglich deshalb, weil die Differenzierung - nicht nur der Arbeit, sondem des ganzen Lebens - zu einer Pluralisierung von Rollen gefuhrt hatte, die wiederum zu einer tJberlappung von Zwangen - und man kann hinzufiigen: auch zu Widerspruchen - ftihrten. Fraglich auch deshalb, weil die Sozialsysteme sich ausdehnten und komplexer wurden. Dadurch ergaben sich ganz neue funktionale Differenzierungen, aus denen heraus Rollen hochst unterschiedlich bestimmt werden konnten. Die Komplexitat der sozialen Systeme schwachte die Normativitat eines generellen kulturellen Konsenses. In der anderen Richtung, mit Blick auf das Individuum, stellte sich die Frage, was diese Entwicklung flir das Individuum selbst bedeutete, von dessen freiwilliger Bindung ja Gesellschaft abhing. Da stand zu befiirchten, dass das Individuum durch die Komplexitat der Rollen geistig und sozial uberfordert wird, durch ihre Widersprtiche in Konflikte gerat und deshalb immer haufiger mit der Frage konfrontiert wird, wer es eigentlich ist. Der kritische Beobachter der amerikanischen Gesellschaft, DAVID RIESMAN (1950), hatte diese Frage mit der These beantwortet, das Individuum orientiere sich nicht mehr an sich selbst, sondem an den anderen und tue das, was „man" so tut. Diese „Au6enleitung" uberlagere jede Frage nach der Identitat. Darauf komme ich noch zu sprechen. Fine andere kritische Diskussion, die in der These HERBERT MARCUSES (1964) von der „Eindimensionierung" des Menschen miindete, sah Identitat grundsatzlich gefahrdet, weil die „entfremdeten Verhaltnisse" den Menschen von sich selbst entfremdeten. Das war der Hintergrund, vor dem Parsons den „Stellenwert des Identitatsbegriffs" definierte. Betrachten wir diese Uberlegungen etwas genauer und fragen, warum und wie wir normalerweise unsere Rollen spielen, denn das ist der Kontext, in dem Parsons Identitat definiert. Die Handelnden konnen ihre Rollen spielen, weil sie die kulturellen Werte intemalisieren und nach und nach auBere Erwartungen nach innen verlagem und zum inneren Antrieb machen. In der Psychologic wurden wir von tJber-Ich oder Gewissen sprechen, in der Theorie von Parsons geht es um die Ausbildung einer sozial-kulturellen Personlichkeit, die sich durch eine feste Wertbindung (»commitment«) an das kulturelle System auszeichnet. Die kulturellen Standards werden zum

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konstitutiven Bestandteil des Personlichkeitssystems. Die Individuen denken und verhalten sich also ahnlich oder „normar'. Es kommt noch ein zweites hinzu: Jedes Individuum hat ein Interesse an Gratifikation^ und an Vermeidung von Frustration. Die Zustimmung zu dem, was alien als normal gilt, verspricht die groBere Gratifikation, zumindest wird man nicht bestraft. Auch aus diesem Grunde ist das Individuum motiviert, den gesellschaftlichen Werten und Normen freiwillig zuzustimmen. 21.3

Objekt in vielfaltigen Interaktionssystemen

Und dennoch kommt neben dieser Normalitatsannahme auch ein Gedanke von Andersheit ins Spiel, denn Parsons nimmt die RoUenvielfalt und die unterschiedlichen Erfahrungen, die Individuen im Laufe ihres Lebens machen, in den Blick. Danach kann man Identitat als individuelle Variation der Kombination von kultureller Bindung, sozialer Erfahrung und spezifischer Rollenkonstellationen verstehen. Das hat schon GEORG SIMMEL mit seinem Konzept der sozialen Kreise gemeint. „Anders" ist das Individuum aber auch deshalb, und hier erwahnt Parsons GEORGE HERBERT MEAD, well jedes Individuum in „in jedem durch kulturelle Symbolsysteme vermittelten System menschlicher sozialer Interaktion (...) sowohl als Handelnder, der »motiviert« ist (er hat Wiinsche, Ziele, intemalisierte Wertorientierungen und naturlich Affekte, »Gefuhle«), als auch als ein Objekt von Orientierungen, und zwar fiir andere Handelnde wie auch fiir sich selbst, begriffen werden" muss. (Parsons 1968, S. 73) Die Bedeutung als Objekt variiert von „Kontext zu Kontext", konkret von Interaktion zu Interaktion. SchlieBlich ist nicht zu leugnen, dass das Individuum „in vielfaltigen Interaktionssystemen eingebettet" ist, „so dass der Teil seines motivationalen Systems, der jeweils »engagiert« ist, von Situation zu Situation verschieden sein wird". (Parsons 1968, S. 73) In jeder Interaktion stellen sich Fragen wie: Was ist das Besondere an dieser Situation, welche Rolle wird mir angetragen, was sind meine Erwartungen, und was kann und will ich hier tun? Im Grunde geht es darum, wie mich die anderen in der konkreten Situation sehen und wie ich mich selbst sehe. Das InVgl. zu dieser Erklarung des Handelns Abels 2004, Bd. 2, Kap. 4.3 ,J^arsons: Alternative Wertorientierungen des Handelns".

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dividuum macht sich selbst zum Objekt, indem es die Motivation seines Handelns reflektiert und sich die Tatsache bewusst macht, dass es „Objekt von Orientierungen" ist. Unter dieser doppelten Imphkation entwirft Parsons nun seine Konzeption der individuellen Identitat: „Erstens: Um angemessen in psychischen und sozialen Bereichen und in deren bestandigem Zusammenspiel zu fungieren, muss die Personlichkeit des Individuums als ein hinreichend deuthch konstituiertes und fest umrissenes Objekt definierbar sein - und zwar, damit Fragen wie »Wer oder was bin ich bzw. ist er?« beantwortet werden konnen, sowohl fur das Individuum selbst wie fur seine Interaktionspartner. In diesem Zusammenhang muss man sich daran erinnem, dass die PersonHchkeit als Objekt das Produkt eines sozialen Prozesses innerhalb eines kulturellen Rahmens ist; Identitat konstituiert sich nicht auf der biologischen Ebene. Zweitens: Die Tatsache, dass Rollenpluralismus an Bedeutung gewinnt, bedeutet, dass die Individuen mehr zentrifugalen Kraften ausgesetzt sind, weil an jede Rollenverpflichtung je eigene Erwartungen, Belohnungen und Verpflichtungen gekniipft sind. Flir die Personlichkeit wird es unerlasslich, ein angemessenes Niveau der Integration dieser einzelnen Komponenten herzustellen. Das intemalisierte Selbstbild ist der natUrliche Bezugspunkt fiir diese Integrationsleistung. Es ist wichtig, sich hier noch einmal vor Augen zu halten, dass die Individualisierung ein Produkt des von uns genannten Differenzierungsprozesses ist." (Parsons 1968, S. 73) Wie sich das Individuum in einer konkreten Interaktion selbst sieht, woran es sich orientiert und in welchen Kontexten es sich wie verhalt, das ist naturlich nicht zufallig oder willkiirlich, sondem Ergebnis seiner spezifischen SoziaUsation. Aus seiner Systemtheorie heraus, die ich eingangs schon kurz angesprochen habe, versteht Parsons das Individuum als PersonlichkeitS5*};5'^^m. Als solches handelt das Individuum in sozialen Systemen in Interaktion mit anderen nach MaBgabe eines kulturellen Systems von Werten und Normen und auf der Basis des Systems seiner spezifischen Erfahrungen. Blicken wir genauer auf die Struktur des Personlichkeitssystems. Es baut sich auf aus „Objekten", „die durch Erfahrung im Verlauf des Lebens gelemt wurden - wobei diese Erfahrung mittels kultureller, symbolisch generalisierter Medien »kodifiziert« wurde." (Parsons 1968, S. 73) Wie Freud, auf den sich Parsons nun ausdrticklich bezieht, gezeigt

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hat, sind diese Objekte zunachst und grundlegend soziale Objekte. Indem es ihre Erwartungen intemalisiert, entwickelt das Kind ein Bewusstsein seiner selbst, aber nicht nur seiner selbst, sondem auch des Systems von Erwartungen, die im sozialen System Familie herrschen. Es ist der Geist seiner Bezugsgruppe, von dem aus das Kind seine Rolle und die komplementaren Rollen der anderen interpretiert. Im Laufe der Entwicklung werden die sozialen Systeme der Sozialisationsagenturen immer komplexer, und das Rollenrepertoire wird differenzierter. Und zweitens muss man sagen, dass der kulturelle Konsens uber Rollen briichig geworden ist. Genau hier sieht Parsons denn auch das Problem der Identitat in der Modeme: „Das haufig als Rollenpluralismus bezeichnete Phanomen ist ein einzigartig charakteristisches Merkmal modemer Gesellschaften. Das erwachsene Individuum ist der Brennpunkt eines komplexen Rollensystems. (...) Wenn diese mannigfaltigen Rollenverpflichtungen, die mit zunehmendem Status des Individuums und mit wachsender Komplexitat der Gesellschaft komplexer werden, von ein und demselben Individuum gehandhabt werden soUen, miissen sie systematisch miteinander verkniipft werden." (Parsons 1968, S. 78) Das Ergebnis dieser systematischen Verknlipfung kann man als „individuelle Identitat" bezeichnen. Identitat ist also erstens ein Strukturbegriff. 21.4

Identitat: Code zur Erhaltung des Personlichkeitssystems

Identitat ist aber auch ein Funktionsbegrijf. Was damit gemeint ist, wird klar, wenn man kurz auf einige Grundannahmen der oben schon angedeuteten Systemtheorie Parsons' und die vier Funktionen blickt, die Systeme erfuUen miissen, um sich selbst zu erhalten.io Fiir Parsons ist die gesellschaftliche Wirklichkeit nicht zufallig, sondem geordnet. Die spezifische, relativ stabile Ordnung der Beziehungen zwischen bestimmten sozialen Phanomenen nennt er Struktur, (vgl. Parsons 1945, S. 54) Zweitens bedingt die Struktur der Beziehungen, dass die einzelnen Phanomene fureinander eine bestimmte Bedeutung haben. Sie erftillen eine bestimmte Funktion, (vgl. S. 48) Struktur und 10

Ausfiihrlich dazu Abels 2004, Bd. 1, Kap. 6.3 „Grundfunktionen der Strukturerhaltung. AGIL-Schema".

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21 Identitat - stabile Orientierung in einem komplexen Rollensystem

Funktion stellen ein sinnvolles Ganzes dar. Deshalb bezeichnet Parsons die dynamische Zuordnung sozialer Phanomene auch als System. Systeme tendieren dazu, sich selbst zu erhalten. Damit sie das konnen, mlissen die Funktionen von der Struktur her definiert werden. Deshalb bezeichnet Parsons seine Theorie auch als strukturfunktionalistische Systemtheorie. (vgl. Parsons 1951, S. 19)ii Diese Theorie versucht, „Bedingungen zu bestimmen, unter denen Beziehungen zwischen den Systembestandteilen zur Stabilitat tendieren - sei es in »statischem« Sinne oder im Sinne des Durchlaufens einer regelmaBigen Entwicklung." (Parsons 1958, S. 154) Es sind vier Bedingungen, die ein System erfUllen muss, damit es sich erhalt. Parsons nennt sie deshalb Grundfunktionen der Systemerhaltung. Es sind „Mechanismen, die ihrer Tendenz nach die Ordnung schtitzen" (Parsons 1961, S. 173), also die Struktur in einem flieBenden Gleichgewicht halten. Nur wenn ein System alle diese vier Funktionen erfUllt, kann es auch seine Aufgabe erfullen. Und, das will ich ausdrticklich hervorheben: Jedes System erfullt diese vier Funktionen, wenn auch in unterschiedlicher Weise. Betrachten wir die vier Funktionen im Einzelnen. A adaptation: Das System muss in der Lage sein, sich an seine auBeren Bedingungen anzupassen, aber es muss auch in der Lage sein, diese auBeren Bedingungen ggf. in seinem Sinne zu verandem. G goal attainment: Das System muss in der Lage sein, Ziele zu setzen und Mittel bereitzustellen, diese Ziele zu realisieren. I integration: Das System muss moglichst alle Systemelemente so integrieren, dass sie zur Zielerreichung beitragen. L latent pattern maintenance: Das System muss in der Lage sein, sein latentes Strukturmuster zu erhalten, auch wenn die beteiligten Personen abwesend sind. Ich mache diese vier Funktionen, die nach ihren Anfangsbuchstaben zum sog. AGIL-Schema zusammengezogen werden, zunachst am Beispiel des sozialen Systems Kirchenchor klar. A wie adaptation heiBt, dass der Kirchenchor im Normalfall bereit und in der Lage ist, Kirchenlieder und nicht, sagen wir, revolutionare Kampflieder zu singen. Das erwartet die Kirche von ihm, und 11

Genau umgekehrt sieht es Niklas Luhmann, fur den Funktionen Strukturen erst erzeugen. Vgl. fUr einen kurzen tJberblick iiber diese andere Systemtheorie Abels 2004, Bd. 1, Kap. 6.4 ,J^uhmann: Systemtheorie der Strukturerzeugung".

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G

I L

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dieses Interesse haben zunachst einmal auch die Choraiitglieder. Das soziale System Kirchenchor und seine kulturelle Umwelt Kirche sind im Einklang. Aber die Bedingungen einer anderen Umwelt konnen sich andem, indem z. B. der fromme Nachwuchs ausbleibt. Dann wird das soziale System Kirchenchor versuchen, herauszukriegen, woran das liegt, und feststellen, dass die jungen Leute etwas schmissigere Rhythmen bevorzugen und auch ganz andere Vorstellungen von der politischen Verantwortung der Kirche haben. Ergo wird sich der Chor um ein neues Liederbuch kiimmem, passt sich also veranderten Bedingungen an; aber er muss auch die Kjrchenoberen zu einem neuen Denken bewegen, verandert also letztlich seine auBeren Bedingungen. wie goal attainment heiBt, dass der Kirchenchor sagt, welche Lieder gesungen werden soUen und was man damit erreichen will Erbauung oder Aufrlittelung oder beides. Und naturlich muss er auch geeignete Mittel finden (geiibte Stimmen, kraftige Trompeten und einen volltonenden Kirchenraum), diese Ziele zu verwirklichen. wie integration heiBt, die altgedienten Stimmen mit dem revolutionaren Schwung zu harmonisieren. wie latent pattern maintenance heiBt, dass sich der Kirchenchor regelmaBig trifft, dass man sich iiber Sinn und Zweck der Ubung verstandigt, dass alle regelmaBig den Kirchenboten lesen usw., jedenfalls: Das soziale System entwickelt ein Gruppenbewusstsein, das auch dann bestehen bleibt, wenn man mal drei Wochen nicht Ohr an Ohr geiibt hat.

Dieses latente Strukturmuster kann man auch als den typischen Code bezeichnen, in dem sich das System verstandigt. In diesem Code ist festgehalten, wie alle, die zu einem bestimmten sozialen System gehoren, zu denken und zu handeln haben. Was fur ein soziales System gilt, gilt auch fur das Personlichkeitssystem. Auch dort gibt es einen bestimmten Code, der das spezifische Denken und Handeln des Individuums definiert. Diese „Code-Struktur" (Parsons 1968, S. 83) der individuellen Personlichkeit nennt Parsons Identitat. Sie kontrolliert die Handlungen des Individuums. Parsons fahrt fort: „Die betreffende Art der Kontrolle entspricht der, auf die man anspielt, wenn man sagt, eine Person handle »ihrem Charakter

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entsprechend«." (Parsons 1968, S. 84) Und da er vom Normalfall erfolgreicher Sozialisation und Intemalisierung ausgeht, kann Parsons auch den nachsten Schluss Ziehen: „Die meisten normal integrierten Personen verfugen liber relativ stabile Orientierungsmuster im Umgang mit Situationen und anderen Menschen." (ebd.) Am Beispiel des sozialen Systems Kirchenchor sollte deutlich geworden sein, dass alle vier Grundfunktionen ineinander spielen. Wo eine nicht gewahrleistet ist, ist das System gefahrdet. So trifft es auch auf das Personlichkeitssystem zu, deshalb will ich, nicht nur der Vollstandigkeit halber, die vier Grundfunktionen an einem entsprechenden Beispiel verdeutlichen. Ich nehme der Einfachheit halber den oben schon erwahnten Studienrat Schmidt, den Dahrendorf in das kalte Wasser der argerlichen Tatsache der Gesellschaft geworfen hatte. A wie adaptation heifit, dass Studienrat Schmidt sich auf die Erfahrung, dass seinen Schulerinnen im Eltemhaus ganz bestimmte Werte nicht mehr vermittelt Worden sind, mit dem gezielten Interesse einstellt, das nachzuholen. Er passt sich also an veranderte Umweltbedingungen an. Da aber fur eine Werteerziehung bestenfalls eine diffuse Erwartung, leider aber kein Platz im Curriculum existiert, muss er seinen Direktor und die Ministerin davon iiberzeugen, dass solche hinfort einen legitimen, Wahlentscheidungen uberdauemden Platz erhalt. Studienrat Schmidt verandert also seine Umwelt. Dem Personlichkeitssystem Schmidt wird die individuelle Fahigkeit der Anpassung eingeschrieben. G wie goal attainment heiBt, dass Studienrat Schmidt neben der Vermittlung von klugem Wissen seine Aufgabe vor allem darin sieht, aus jungen Leuten „gute Menschen" zu machen. Daflir entrlimpelt er nicht nur zur Not Curricula, sondem begeistert seine Schulerinnen und beansprucht ihre Freizeit fUr soziale Projekte. Dem Personlichkeitssystem Schmidt wird individuell eingeschrieben, dass es sich ein Ziel vor Augen nimmt und es mit alien Mitteln verfolgt. I wie integration heiBt, die Schulerinnen mit dem heiBen Herzen so zu dampfen und die, die „keinen Bock" haben, so zu motivieren, dass ein Projekt herauskommt, mit dem sich alle identifizieren und das auch noch geniigend Raum fur normale Erwartungen und Anstrengungen lasst. Dem Personlichkeitssystem Schmidt wird eingeschrieben, dass es Auseinanderstrebendes zusammenhalt und Aktivitaten integriert.

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wie latent pattern maintenance heiBt, dass Studienrat seine Erziehungsziele auch dann im Herzen bewegt, wenn die Klasse in die Sommerferien entschwunden ist oder wenn ihm die lieben Kolleginnen nachweisen, dass man auch mit solchen Aktivitaten nicht nach A14 kommt. Vielleicht wird ihn gerade diese schnode Kritik begeistem, sein soziales Interesse auch iiber die Schule hinaus auszudehnen. Dem Personlichkeitssystem Schmidt wird eingeschrieben, sein gesamtes Denken und Handeln nach einem bestimmten, charakteristischen Muster auszurichten.

Wenden wir dieses Beispiel eines guten Menschen ins Theoretische der Grundfunktionen der Strukturerhaltung. Identitat ist der individuelle Code des Personlichkeitssystem, der die Fahigkeit der doppelten Anpassung, der Verfolgung eines bestinmiten Ziels und der Integration der wichtigsten Aktivitaten beinhaltet. Er ist das latente Muster, das sich mehr oder weniger klar durch das Leben zieht und auch gegeniiber divergenten Erwartungen und unter diffusen Handlungsbedingungen relativ stabil bleibt. Parsons fasst sein Konzept der Identitat so zusammeni2: „Die individuelle Identitat als Kern des Personlichkeitssystems wurde in diesem begrifflichen Rahmen als komplexer Mechanismus gedacht werden mlissen, der fur eine angemessene Balance zwischen verallgemeinerten und individualisierten Momenten verantwortlich ist. Jedes Individuum ist - uberflussig das zu sagen - ein »Kind« seiner Kultur und Gesellschaft und naturlich der besonderen Erfahrungen, die es innerhalb der beiden Systeme gemacht hat. (...) Die hochgenerahsierten und allgemein akzeptierten kulturellen Bindungen und Gruppenmitgliedschaften sind somit unvermeidlich Bestandteil der Identitat - um so mehr, je »intellektueller« das Individuum ist. Gleichzeitig variiert die Kombination von Momenten, die in eine Identitat eingegangen sind, von Fall zu Fall: in irgendeiner Hinsicht ist sie einzigartig. Das umso mehr, je differenzierter die sozialen und kulturellen Systeme, mit denen das Individuum in enge Beriihrung gekommen ist, sind. Es durfte von daher evident sein, dass nach unserer Auffassung die Wahrscheinlichkeit auBerordentlich gering ist, dass in irgendeiner Gesellschaft die individuellen Identitaten vollig gleich sind; um so geringer, je weiter der Differen12

Achten Sie bei seiner Definition von Identitat auch noch einmal darauf, wen das Problem der Identitat vor allem betrifft (oder besser: „trifft"?)!

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zierungsprozess der Gesellschaft und der Kultur fortgeschritten ist." (Parsons 1968, S. 84f.) Identitat ist zum einen eine objektive Tatsache, die sich aus der individuellen Kombination von Erfahrungen im Sozialisationsprozess, der naturlich lebenslang ablauft, ergibt. Wegen der einzigartigen Sozialisation eines jeden Individuums spricht Parsons auch von „individueller Identitat". Dieser Strukturbegriff der Identitat ist auch deshalb gerechtfertigt, weil jedes Individuum eine einzigartige Kombination von Rollenverpflichtungen und Positionen in sozialen Systemen darstellt.i^ Zum anderen ist Identitat ein Funktionsbegriff, Identitat ist das Strukturprinzip des Handelns des Personlichkeitssystems, sein spezifisches „Orientierungsmuster", mit dem das Individuum soziale Erwartungen und individuelle Wlinsche immer wieder auf die Reihe bringt. Ich habe oben kurz die Gefahr erwahnt, dass sich das Individuum in der Modeme durch die Komplexitat der Rollen geistig und sozial tiberfordert fiihlt und schlieBlich nicht mehr weiB, wer es eigenthch ist. Diese Gefahr hat auch Parsons gesehen, weshalb er dann ja auch so eindringlich die Bedingungen einer stabilen Orientierung in einem komplexen RoUensystem beschworen hat. Seine Identitatstheorie ergab sich konsequent aus seiner Rollentheorie, die er schon Jahrzehnte vorher entwickelt hatte und die er in einer bewegten Zeit, den 60er Jahren, vor dem Vorwurf in Schutz nahm, die Entfremdung des Individuums in einer verdinglichten Welt hinzunehmen. Der Aufsatz uber den „Stellenwert des Identitatsbegriffs in einer allgemeinen Handlungstheorie" ist aber auch eine Reaktion auf die Arbeit eines Diagnostikers der amerikanischen Gesellschaft, der 1950 mit einer Studie uber den amerikanischen Sozialcharakter fiir Furore gesorgt hatte und spater Kollege von Parsons in Harvard wurde. Ich meine die schon angesprochene Studie von DAVID REESMAN.

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Das erinnert, wie gesagt, stark an Georg Simmels These vom einzigartigen Schnittpunkt der sozialen Kreise, in dem nur ein Individuum vorkommen kann. In Simmelscher Terminologie wurden wir sagen: Identitat ist die spezifische Form des Individuums.

Der wilde Mensch lebt in sich, der gesellige hingegen ist immer aufier sich und lebt nur in der Meinung, die andere von ihm haben. Selbst die Empfindung seines Daseins nimmt er nur aus ihrem Urteil. Jean-Jacques Rousseau (1754) 1 Er sah nichts. Aber sollte er das sagen? Hans Christian Andersen (1848) 2

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AuBenleitung

22.1 22.2 22.3 22.4

Traditionsleitung: die Furcht vor Schande Innenleitung: Prinzipien halten auf Kurs Riesman: AuBenleitung - offen und immer im Trend Restchancen fur Identitat oder paradoxe Formen einer neuen Innenleitung?

Im Jahre 1950 veroffentlichte der Chicagoer Soziologe DAVID RffiSMAN (1909-2002) mit anderen eine beriihmte Studie iiber den amerikanischen Sozialcharakter, die den bezeichnenden Titel „The lonely crowd" trug. Dieser Titel wurde zum geflugelten Wort und traf den Nerv von Intellektuellen und Soziologen gleichermaBen. In dieser Studie kommt Riesman zu dem Ergebnis, dass es mit unserer Vorstellung, anders als alle anderen zu sein, nicht weit her ist. Im Klartext: Das Individuum tut das, was alle, die ihm wichtig sind - von den engsten Freunden und nachsten Nachbam bis zu den entfemtesten Fans der gleichen Musik und den anonymen Trendsettem weltweit, vor allem aber aller Konsumenten ringsum -, auch tun. Er steuert sich nicht mehr selbst nach festen Prinzipien durch ein eigenes Leben, sondem lasst sich von den anderen steuem. Der Mensch der Modeme ist „au6enge1 2

Jean-Jacques Rousseau (1754): Abhandlung iiber den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit, S. 264. Hans Christian Andersen (1848): Des Kaisers neue Kleider.

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leitet". Das ist die zentrale These dieses Buches, das insofem indirekt etwas iiber Bedingungen der Identitat aussagt, als es eine typische Personlichkeitsstruktur beschreibt, wie sie sich in den Vereinigten Staaten ergeben hat. HELMUT SCHELSKY, der ein Vorwort zu der deutschen Ausgabe geschrieben hat, sah in dieser Studie allerdings auch die deutsche Wirkhchkeit, wie er sie in den 50er Jahren beobachtete, getroffen. Auch hier wiirden die morahschen Normen durch die Meinung der Umwelt und der OffentUchkeit konstituiert und geregelt. Der neue Typ des AuBengeleiteten wende sich aber ab von einer „alteren Moralitat (...), die darin bestand, dass der einzelne die moraHsche Verantwortung fur seine Handlungen nur in den ein Leben lang festgehalten prinzipiellen Grundsatzen seines eigenen Innem und Gewissens fand. »Au6enlenkung« als eine neue Form des Gewissens!" (Schelsky 1958, S. 12) Es ist ein Wandel weg von einem „prinzipiellen und individualistischen Gewissen" (ebd.). Mit dieser bitteren Feststellung habe ich schon eine altere Orientierung, die „Innenleitung", angesprochen, die Riesman geschwunden sah. Ich habe sie und eine noch altere, die „Traditionsleitung" schon an anderer Stelle nachgezeichnet.3 Ich will die diesbezuglichen Thesen von Riesman kurz wiederholen. 22.1

Traditionsleitung: die Furcht vor Schande

Riesman sieht einen Zusammenhang zwischen Bevolkerungsbewegungen und Sozialcharakter, worunter er die typische Verhaltenssteuerung in einer Zeit versteht. Uber Jahrtausende waren die meisten Gesellschaften demographisch durch geringe Siedlungsdichte und einen relativ hohen Bevolkerungsumsatz gekennzeichnet, was bedeutet, dass es kaum zu tiefgreifenden sozialen Veranderungen gekommen ist. Die Bevolkerung war im Durchschnitt recht jung, und eine Generation loste die andere ab, ohne tiefe Spuren zu hinterlassen. (vgl. Riesman 1950, S. 27) Jeder bewaltigte sein Leben so, wie es alle anderen seit je getan hatten. Riesman hat diese Verhaltenssteuerung als Traditionsleitung bezeichnet: „Der traditionsgeleitete Mensch steht der Kultur wie einer einheitlichen Macht gegentiber, auch wenn ihm diese durch jene spezi3

Vgl. oben Kap. 2.2 „Traditionslenkung" und Kap. 8 „Innenleitung".

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AuBenleitung

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fische kleine Gruppe von Menschen, mit denen er in taglichem Kontakt steht, nahegebracht wird. Diese erwartet von ihm nicht, dass er sich zu einer bestimmten Personlichkeit entwickelt, sondem lediglich, dass er sich in der allgemein anerkannten Art und Weise verhalte." (Riesman 1950, S. 40) Der Traditionsgeleitete wird von abweichendem Verhalten durch die Furcht vor Schande abgehalten. 22.2

Innenleitung: Prinzipien halten auf Kurs

In Europa nahm ungefahr seit dem Mittelalter die Bevolkerung rasch zu. Das hing mit verbesserten landwirtschaftlichen Methoden und einer deutlichen Steigerung der Ertrage zusammen, was zu mehr Geburten fiihrte. Mit einer Bevolkerungszunahme beginnt nicht nur eine verdichtete Siedlung, was Intensivierung der Kommunikation bedeutet, sondem auch - bedingt durch die Arbeitsteilung - eine Differenzierung der Funktionen der MitgHeder der Gesellschaft. Soziale Mobihtat und Femhandel nehmen zu. Mobihtat bedeutet Verlassen von vertrauten Kontexten, und Femhandel bedeutet auch Vermittlung von fremden Erfahmngen. Das Traditionsgefuge lockert sich, unterschiedhche Verhaltensmuster bilden sich heraus, die jedes ftir sich funktional sinnvoll sind, in der Summe aber konkurrierend wirken. Die alte Verhaltenssteuemng passt nicht mehr. „Die groBten Chancen, die diese Gesellschaft zu vergeben hat - und die groBte Initiative, die sie denen abverlangt, die mit den neuen Problemen fertig werden wollen - , werden von Charaktertypen verwirklicht, denen es gelingt, ihr Leben in der Gesellschaft ohne strenge und selbstverstandliche Traditions-Lenkung zu flihren." (Riesman 1950, S. 31) Traditionslenkung ist von Natur aus schwerfallig. Jeder neue Einzelfall wird als Bedrohung der Routine im konkreten Fall gesehen. Die gesellschaftliche und okonomische Entwicklung wird aber schneller und bringt neue Moglichkeiten und Fordemngen in immer rascherer Folge. Gefordert ist deshalb eine Orientierung an Prinzipien, die gmndsatzlich und auch in sich wandelnden Situationen gelten. Solche Prinzipien bildeten sich in Europa in der Renaissance im 15./16. Jahrhundert und der Reformation heraus. Wahrend die Renaissance die Individualitat des Menschen betonte und die Personlichkeit als das Ergebnis allseitiger Bildung idealisierte, betonte die Protestantische Ethik, wie sie M A X WEBER beschrie-

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ben hat, auf der einen Seite eine religios fundierte, prinzipiengeleitete Hinwendung zur diesseitigen Welt und die rationale Verftigung liber sie und auf der anderen Seite die Verantwortung des einzelnen Individuums fur sein eigenes Leben. Diese neue Verhaltenssteuerung hat Riesman Innenleitung genannt. Der innengeleitete Mensch nimmt sozusagen einen „seelischen Kreiselkompass" in sich auf, der ihn auf Kurs halt. Diesem nach innen verlegten Steuerungsorgan gehorcht er aus Uberzeugung, und wenn er von ihm abweicht, „so wird ihn dies mit Schuldgefuhl erfullen." (Riesman 1950, S. 40) Der innengeleitete Typ folgt einem „prinzipiellen und individualistischen Gewissen", wie wir gerade bei Schelsky (1958, S. 12) lesen konnten - , und deshalb prinzipiell auch gegen das soziale Gewissen, das andere ihm vorleben. 1st es nicht sonderbar, dass der Mensch meistens gar nicht das Eigene sagt, sondem das, wovon er glaubt, dass andere es sagen wurden (...). Thomas Mann (1936) ^ Hast Du was, dann hist Du was.

22.3

Riesman: AuBenleitung - offen und immer im Trend

Dieser Typus wird im 20. Jahrhundert allmahlich abgelost durch einen Charaktertyp, der fur Riesman „seit kurzem in dem gehobenen Mittelstand unserer Stadte in Erscheinung" tritt. (Riesman 1950, S. 35) Wie ist es zu diesem neuen Typus gekommen? Riesman erklart es so: Technik, Wirtschaft und Handel brachten im 19. Jahrhundert einen relativen Wohlstand fur alle. Das ftihrte zu einem Ruckgang der Geburten. Die Bevolkerung stagnierte zunachst und schrumpfte im 20. Jahrhundert in den meisten Industrienationen. Wichtiger fur die Anderung im sozialen Charakter sind aber die sozialen Konsequenzen des okonomischen und gesellschaftlichen Wandels, der sich mit der Industrialisierung seit der Mitte des 18. Jahrhunderts beschleunigt hatte. 4

Thomas Mann (1936): Joseph in Agypten, S. 857

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Mit der zunehmenden Arbeitsteilung begann sich auch die Gesellschaft immer mehr zu differenzieren. Auch die Rollen, die sich damit ergaben, wurden zahlreicher und differenzierter. Pohtische Entwicklungen garantierten groBere individuelle Freiheiten, diese Rollen wahrzunehmen und zu gestalten. Mit der Anerkennung unterschiedlicher Interessen lieBen sich auch fur die verschiedensten Verhaltensformen gute Griinde anfuhren. Die geschlossenen Weltbilder wurden entzaubert Oder losten sich auf, und es kam zu einer Vielfalt von Uberzeugungen und Einstellungen. Fur die gleichen Situationen stehen heute konkurrierende Muster des Verhaltens zur Verfugung. Die Menschen geraten mit immer mehr fremden Kulturen in Kontakt, was bedeutet, dass sie permanent mit Neuem und Anderem konfrontiert werden. Und sie sehen, dass das Neue und das Andere auch Sinn macht und insofem sogar eine realistische Alternative zum eingelebten Verhalten sein konnte. Die Massenmedien tun ein Ubriges, die Altemativen bekannt zu machen, und sie zeigen, dass die Altemativen auch gelebt werden konnen. Es kommt noch etwas hinzu: Aufgrund eines allmahlich ansteigenden breiten Wohlstands und wachsender Freizeit trat an die Stelle des dauemden „Knappheitsbewusstseins" des innengeleiteten Menschen ein „Uberflussbewusstsein", das in ein „Verbrauchsbedurfnis" miindet. Fur immer mehr Menschen entwickeln sich die materiellen Bedingungen so, dass sie sich immer mehr von dem leisten konnen, was ihnen die Konsumindustrie anbietet und die Massenmedien als modemen Lebensstil vor Augen fuhren. Die Frage, warum die Menschen der Faszination eines Lebensstils erliegen, der ja von auBen erzeugt wird, und ihre Innenleitung nach eigenen Prinzipien aufgeben, ist nicht leicht zu beantworten. Aus Riesmans Schilderungen kann man vielleicht die folgende Erklarung konstruieren: Nach der Erfahrung des bescheidenen Lebens und der erzwungenen Hinnahme des Mangels wachst das Bewusstsein, dass man sich nun etwas leisten kann und dass man sich etwas Gutes tut, wenn man seinen Lebenserfolg auch in sichtbaren Produkten vor aller Augen zum Ausdruck bringt. Im Grunde geht es also um zweierlei: um das Bedtirfnis, den eigenen Wert festzustellen, und zweitens um das Bedlirfnis, ihn auch durch andere bestatigt zu finden. Letzteres hangt mit dem menschlichen Bedtirfnis nach sozialer Anerkennung zusammen. Niemand halt Einsamkeit auf Dauer aus, um so

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weniger, wenn es kein inneres Steuerungszentrum mehr gibt, das auch in einer solchen Situation das Individuum auf dem Kurs des „richtigen" Lebens halt. Da die groBen Sinnsysteme und kleinen Prinzipien ihren Geist ganz aufgegeben haben oder sich in zahllose Varianten verfluchtigt haben, beginnt man sich unmerkhch an dem zu orientieren, was „man" in bestimmten Kreisen denkt und tut. Es ist sicher beides, was dabei eine RoUe spielt: unbedachte Anpassung, die Zugehorigkeit sichert, und symboUsche Annaherung an Menschen, die anscheinend den Kurs des „richtigen" Lebens schon gefunden haben, Diese Steuerung durch Orientierung an den anderen nennt Riesman „Au6enleitung". Die AuBenleitung hat Konsequenzen ftir die Identitat in der Moderne. Die anderen werden namhch unter der Hand zum MaBstab des Handelns und des Bildes von einem selbst. Wenn man sich an ihnen orientiert, kann man eigenthch nichts falsch machen, und man darf sicher sein, dass sie die Verdoppelung ihres Denkens und Handelns durch uns anerkennen, denn letzthch bestatigen sie sich dadurch auch ihr eigenes Leben. Und aus dieser Anerkennung, vielleicht auch nur NichtMissbilhgung unseres Verhaltens, erwachst allmahUch ein inneres Selbstbild, dessen Rahmung durch die anderen uns immer weniger zum Bewusstsein kommt, je mehr wir ihre Vorgaben zu inneren Wunschen machen. Sehen wir uns nun genauer an, wie und auf welchen Feldem Riesman die AuBenleitung wachsen sieht. Da ist einmal der Geschmack. Riesman sieht in einer okonomischen Skizze die Individuen als „Verbrauchergenossenschaft" (Riesman 1950, S. 92) an, in der keiner durch ubertriebenen Konsum Neid und Ablehnung provoziert, in der aber auch keiner durch Nicht-Besitz der „richtigen" Giitern die stumme Anerkennung durch die Genossen aufs Spiel setzen mochte. Schon diese symbolische Gruppe hat sich nicht aus eigenem Interesse allein konstituiert, da z. B. die Wirtschaft kontinuierlich fur bestimmte Zielgruppen Bedtirfnisse weckt und die Werbung in den Massenmedien dies dann als normalen Lebensstil verkauft. Auf diese Weise kommt es zu einer „Sozialisierung des Geschmacks" (S. 86), der dann in den Bezugsgruppen, denen sich das Individuum verpflichtet fiihlt, auch prompt hochgehalten wird. Um Sicherheit des Geschmacks zu bekommen, muss man sich nur umsehen, was die anderen anziehen, sagen Oder tun, und ganz unproblematisch ist die Suche nach dem „eigenen" Geschmack, wenn man sich die Bilder der Massenmedien vom „richti-

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AuBenleitung

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gen" Leben ansieht. Die inflationare Ratgeberliteratur fiir alle Lebenslagen tut in dieser Hinsicht diskret ein Ubriges. Ein zweites Feld ist das fruhzeitige Erlemen normalen Verhaltens. Die Massenmedien, so die These von Riesman, stellen die Verbindung zwischen dem eigenen Ich und der AuBenwelt her. (Riesman 1950, S. 37) Dort lemt z. B. das Kind, die Welt mit den Augen „des" IGndes zu sehen, „d. h. mit denen des anderen Kindes". (S. 109) Da die Bilder mitten aus dem Leben eines ganz normalen Kindes gegriffen zu sein scheinen, iiberzeugen sie und stiften an, sich genau so zu verhalten. In dem MaBe, wie einem das gelingt, wachst auch die Chance, von den anderen, die sich genau so verhalten, anerkannt zu werden. Nicht nur fiir Kinder diirfte das Bediirfnis, dazuzugehoren, auBerordentlich stark sein. In der Anpassung an die anderen verliert das Individuum viel an Individualitat, gewinnt aber eine soziale Identitat, die ihm gut tut. Als dritten Bereich mochte ich die scheinbare Befriedigung des Bediirfnisses nach Individualitat nennen. Trotz der wohltuenden Erfahrung, dazuzugehoren, bleibt der Wunsch nach Individualitat naturlich bestehen, doch auch der kann leicht in der Welt der AuBenleitung befriedigt werden: Die Konsumindustrie, die ganz gezielt an der „Sozialisierung des Geschmacks" mitarbeitet, tut das in einer Zeit der harten Konkurrenz um Kunden naturlich nicht ins Blaue hinein, sondem differenziert nach Zielgruppen und befriedigt deren latentes Bediirfnis, doch auch ein bisschen anders als die anderen zu sein, mit einer Differenzierung ihrer Produkte. Sie steigert die soziale Attraktivitat der Produkte durch leichte Variationen, die die Homogenitat der Zielgruppe und die gewiinschte Anstiftung zur wechselseitigen Beobachtung und Anerkennung des richtigen Konsumverhaltens nicht storen, aber das unterschwellige Bediirfnis befriedigen, in der Masse nicht aufzugehen. Es sind oft nur Kleinigkeiten, die natiirlich auch ihren Preis haben, die die Unterschiede dann ausmachen. Riesman nennt es „marginal differentiation" (Riesman 1950, S. 61). Es ist zu befiirchten, dass diese marginale Differenzierung das Einzige ist, an dem der AuBengeleitete seine Identitat festmacht! Ich habe so viel von Konsum und Mode als einer Erklarung fiir die Form und Macht der AuBenleitung gesprochen, dass der Eindruck entstehen konnte, das sei der einzige Faktor, der dafiir verantwortlich gemacht werden konnte, und der einzige soziale Bereich, in dem sich AuBenleitung abspielt. Das ist aber keineswegs Riesmans These. Er fasst

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Mode in einem viel weiteren Sinne und rechnet dazu auch die Konjunkturen des Verhaltens in der Freizeit, des Denkens iiber Politik, wie sie von anderen gemacht werden sollte oder wie man sich selbst dafur einsetzt, der Vorstellungen von der richtigen Erziehung der Kinder oder der Einstellungen des Individuums zu Sexualitat oder Moral und vor allem zu sich selbst. Es geht im Grunde um die Frage, wie das Individuum in einer Gesellschaft, deren Orientierungsmuster sich standig wandeln, aber unablassig in sein Leben eingreifen und ihm abverlangen, auf der Hohe der Zeit zu bleiben, Schritt halt. Dieses Problem ist in der Mitte des 20. Jahrhunderts zweifellos grell aufgesprungen, aber die Vorboten, so sieht Riesman es auch, kamen schon friiher daher. Als ein Beispiel zitiert er (Riesman 1950, S. 39) die Schilderung des Stepan Arkadjewitsch Oblonskij in LEO TOLSTOIS „Anna Karenina" aus dem Jahre 1878. Ich gebe sie in einer neueren Ubersetzung wieder: Stepan Arkadjewitsch hielt ein liberates Blatt, nicht gerade ein sehr radikales, sondem eines von jener gemdfiigten Richtung, die den Meinungen des Uberwiegenden Teils der Bevolkerung entsprach. Und obgleich ihn weder die Wissenschaften noch die Kunst oder die Politik besonders interessierten, hielt er an der Aujfassung fest, die die Mehrheit des Publikums und seine Zeitung iiber diese Dinge hatten, und dnderte seine Ansichten nur dann, wenn auch die Mehrheit sie dnderte, oder genauer: er dnderte sie nicht, sondem sie wandelten sich unmerklich von selber. Uberhaupt wdhlte Stepan Arkadjewitsch seine Richtung, seine Ansichten nicht selbst, sondem sie fanden zu ihm, ganz wie die Fasson seines Hutes oder der Schnitt seines Anzugs: er trug, was allgemein gerade getragen wurde. (...) Er liebte seine Zeitung wie die Zigarre nach dem Mittagessen wegen der leichten Umneblung, in die sie seinen Kopfversetzte. (Tolstoi 1878, S. 13ff.) Kommen wir zurtick zur Beschreibung der Bedingungen, unter denen Riesman in der amerikanischen Gesellschaft die AuBenleitung wachsen sieht. Neben dem Diktat der Mode, das er von der Konsumindustrie und den Massenmedien kontinuierlich erhoben sieht, ist ein zweiseitiger Prozess fur die AuBenleitung maBgebend: Die Gesellschaft wird auf der einen Seite btirokratisiert, was bedeutet, dass das Verhalten der

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Menschen untereinander von auBen geregelt wird; auf der anderen Seite ist das Individuum in zahlreiche soziale Bezuge gleichzeitig eingebunden und muss mit hochst unterschiedlichen sozialen Erwartungen zurecht kommen. Da ein verbindliches, inneres Prinzip der Verhaltenssteuerung nicht mehr vorhanden ist oder angesichts der Fiille von Moglichkeiten und Erwartungen nur noch schwach funktioniert, beginnt der modeme Mensch sich an dem zu orientieren, was ihm die wichtigsten Bezugspersonen vorleben - oder wovon er denkt, dass sie so leben. Diese Orientierung nennt Riesman, wie gesagt, Aufienleitung: „Das gemeinsame Merkmal der aufiengeleiteten Menschen besteht darin, dass das Verhalten des Einzelnen durch die Zeitgenossen gesteuert wird; entweder von denjenigen, die er personlich kennt, oder von jenen anderen, mit denen er indirekt durch Freunde oder durch die Massenunterhaltungsmittel bekannt ist. Diese Steuerungsquelle ist selbstverstandHch auch hier »verinneriicht«, und zwar insofem, als das Abhangigkeitsgefuhl von dieser dem Kind friihzeitig eingepflanzt wird. Die von den aufiengeleiteten Menschen angestrebten Ziele verandem sich jeweils mit der sich verandemden Steuerung durch die von auBen empfangenen Signale. Unverandert bleibt ledigHch diese Einstellung selbst und die genaue Beobachtung, die den von den anderen abgegebenen Signalen gezollt wird." (Riesman 1950, S. 38) Diese Erklarung des Handelns hatte, der schottische Moralphilosoph JOHN LOCKE als „law of opinion or reputation" (Locke 1690b, Buch II, Kap. 28, § 10 und 12) bezeichnet.5 Ihm gehorchen wir mehr als dem gottlichen oder staatlichen Gesetz! Der auBengeleitete Mensch lemt „Signale von einem sehr viel weiteren als dem durch seine Eltem abgesteckten Kreis aufzunehmen. Die Familie stellt nicht mehr jene eng miteinander verbundene Einheit dar, mit der er sich identifiziert, sondem lediglich einen Teil einer weiterreichenden sozialen Umgebung, an die er sich friihzeitig gebunden fuhlt. In dieser Hinsicht ahnelt der auBengeleitete Mensch dem traditionsgeleiteten Menschen, denn beide leben in einem Gruppenmilieu, und beiden fehlt die Fahigkeit des innengeleiteten Menschen, seinen Weg allein zu gehen. Doch ist dieses Gruppenmilieu in beiden Fallen grundverschieden. Der auBengeleitete Mensch ist »Weltburger«." Er ist Vgl. oben Kap. 9.1 ,£rfahrung, Selbstbeobachtung und die Beobachtung der anderen".

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„in gewissem Sinne uberall und nirgends zu Hause; schnell verschafft er sich vertraulichen, wenn auch oft nur oberflachlichen Umgang und kann mit jedermann leicht verkehren." (Riesman 1950, S. 41) Das Problem des auBengeleiteten Menschen besteht darin, dass er sich auf viele Sender und haufigen Programmwechsel einstellen muss. Um die Signale von uberallher zu empfangen, ist „nicht erforderlich, einen Kodex von Verhaltensregeln, sondem jenes hochempfindliche Gerat, womit er diese Nachrichten empfangen und gelegentlich an ihrer Verbreitung teilnehmen kann, zu verinnerlichen. Gegentiber KontroUen durch Schuld oder Furcht vor Schande, wenngleich diese selbstverstandlich weiterexistieren, besteht ein wesentUcher Beweggrund fur den auBengeleiteten Menschen in einer dijfusen Angst. Der Kontrollmechanismus wirkt jetzt nicht in der Art des Kreiselkompasses, sondem wie eine Radaranlage." (Riesman 1950, S. 40) Wahrend der innengeleitete Mensch sich an Prinzipien oder vorbildlichen Gestalten orientierte, um einen festen, eigenen Weg zu gehen, „sieht der auBengeleitete Mensch sein Leben haufig gar nicht als eine individuelle Karriere an. Ihn verlangt nicht nach Ruhm, der ihn bis zu einem gewissen Grade seiner Gruppe von Kollegen {peer-group) entfremden oder aus einem bestimmten Lebensstil herausreiBen wurde. Er sucht vielmehr die Achtung, vor allem aber die affektive Zuneigung einer strukturlosen und sich standig in ihrer Zusammensetzung wandelnden Gruppe von Kollegen und Zeitgenossen." (Riesman 1950, S. 150) Es ist eine paradoxe Situation, denn genau mit diesen Kollegen und Zeitgenossen, denen er „Aufmerksamkeit widmet, um sich nach ihren Verhaltensweisen und Werturteilen zu richten", steht er in Konkurrenz, da sie die gleichen Ziele wie er verfolgen. (ebd.) Der auBengeleitete Mensch bewegt sich „auf einer MilchstraBe von fast, wenn auch nicht ganzlich ununterscheidbaren Zeitgenossen." (Riesman 1950, S. 150) Die MilchstraBe besteht bekanntlich aus schier unendlich vielen Stemen, und dem unbewaffneten Auge sehen alle gleich aus und scheinen an ihrem Ort fixiert. Auf der „sozialen MilchstraBe" ist es nicht ganz so voll, aber dort ist alles in Bewegung, und man weiB nicht, wem man im nachsten Augenblick begegnet. „Unter dem Zwang, mit einer Vielzahl von Menschen zu verkehren, sie fur sich zu gewinnen und beeinflussen zu miissen, behandelt der auBengeleitete Mensch alle anderen Menschen wie Kunden, die immer recht haben." (S. 152) Um mit alien irgendwie zurecht zu kommen, ist er

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flexibel und spielt die RoUe, die ihm im Augenblick den groBten Erfolg Oder wenigstens den geringsten Arger verspricht. So spielt der auBengeleitete Mensch eine Rolle nach der anderen, manchmal sogar mehrere Rollen zugleich. Das hat Folgen fur die eigene Identitat, weil er „schlieBlich nicht mehr weiB, wer er eigentlich wirklich ist und was mit ihm geschieht." (Riesman 1950, S. 152) Um ein Sprichwort abzuwandeln, kann man es so sagen: Wer es alien recht machen will, macht es keinem recht, am wenigsten sich selbst. Es kann sich kein Prinzip ausbilden, nach dem das Individuum strukturiert handelt und nach dem es als Individualitat identifiziert werden konnte. Der AuBengeleitete gibt „die feste Charakterrolle des innengeleiteten Menschen auf und ubemimmt dafur eine Vielfalt von Rollen, die er im geheimen festlegt und entsprechend den verschiedenen Begebenheiten und Begegnungen variiert." (Riesman 1950, S. 152)6 Es gibt eine Identitat fur diese Situation und eine andere fur eine andere und eine dritte fur eine dritte. Das Individuum zeigt nicht, wer es ist, sondem was es kann. Unbewusst misst es sein Konnen an dem, was die anderen sagen, und ebenso unbewusst bleibt, dass die Kunst nur funktioniert, wenn das Individuum immer wieder vergisst, was es gestem gedacht und getan hat. Wer sich immer wieder an Prinzipien erinnert, die gestem gegolten haben, gilt als zwanghaft, wer mit der Zeit geht, als dynamisch. Die bewegliche Umstellung ist nicht nur moglich, sondem, so muss man Riesman interpretieren, auch geboten, weil die verschiedenen Rollen, die der auBengeleitete Mensch den vielen anderen gegenuber spielen muss, „weder institutionalisiert noch klar voneinander abgesetzt sind". (Riesman 1950, S. 152) Sie sind keineswegs eindeutig, sondem diffus, und sie sind auch nicht zwingend, sondem Optionen. In der ersten Hinsicht lebt der AuBengeleitete in der latenten Angst, etwas falsch zu machen, solange er nicht weiB, was „man" heute so richtig macht. In der zweiten Hinsicht ist er allerdings freier als der innengeleitete Mensch, denn er kann jede Option fur sich und die anderen legitimieren, wenn er nur die entsprechende Bezugsgmppe wahlt. Bei Jugendlichen schiitteln wir den Kopf, wenn sie heute das und morgen das fUr wahnsinnig wichtig halten, und den anderen ErwachseLesen Sie doch einmal in Kap. 11.5 „Innere Reserve, Kampf um Aufmerksamkeit, tJbertreibung der Eigenart" nach, was Georg Simmel iiber die Blasiertheit in der GroBstadt gesagt hat!

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nen kreiden wir es als Charakterschwache an, wenn sie „ihr Fahnchen nach dem Wind hangen". Doch AuBenleitung macht sich nicht nur vor unserer Haustur breit, sondem ist in die Bedingungen der Modeme eingewoben. Zwar meinen viele, die iiberhaupt zu dieser Diagnose durchstoBen, sie seien die einzigen, die „nicht alles mitmachen" und „authentisch" sind, aber im Grunde ist das bei vielen nur Illusion, um den Gedanken der Entfremdung von der eigenen Identitat, der ja mit der AuBenleitung verbunden ist, nicht an sich herankommen zu lassen. Im Grunde sind wir dankbar fur die soziale Anerkennung, die wir erfahren, wenn wir so „normar' sind wie die anderen, die uns wichtig sind. Da die Muster der Normalitat selbst im Fluss sind, konnen wir unser Bild von uns im Wandel der Muster des richtigen Lebens im wortlichen Sinn auch nicht feststellen. Identitat bleibt offen, Individualitat bleibt im Trend.

22.4

Restchancen fiir Identitat oder paradoxe Formen einer neuen Innenleitung?

Die Krankung der Individualitat, nur Mitlaufer zu sein, konnen wir nicht gut ertragen. Deshalb wehren wir sie im Alltag durch kleine Abweichungen ab. Riesman nennt es, wie schon gesagt, „marginal differentiation" (1950, S. 251), durch die sich der auBengeleitete Mensch seiner Einzigartigkeit zu vergewissem sucht. SiGMUND FREUD hat diese Strategic der Absetzung der Ahnlichen voneinander den „Narzissmus der kleinen Differenzen" genannt: „Ich habe mich einmal mit dem Phanomen beschaftigt, dass gerade benachbarte und einander auch sonst nahestehende Gemeinschaften sich gegenseitig befehden und verspotten, so Spanier und Portugiesen, Nord- und Suddeutsche, Englander und Schotten usw. Ich gab ihm den Namen »Narzissmus der kleinen Differenzen«." (Freud 1930, S. 104) Moglicherweise liegt in dieser kleinen Differenz der Kern der Identitat, um den allein herum der AuBengeleitete seine Identitat organisiert. Zu dieser tjberlegung wlirde auch die These von RICHARD SENNETT passen, dass es im 20. Jahrhundert gar nicht zu einem tJbergang von der Innenleitung zur AuBenleitung gekommen sei, sondem dass die Menschen der Modeme nur in einer neuen Form der Innenleitung leben: Sie wUrden von ihrem Narzissmus bestimmt, und der sei „die pro-

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testantische Ethik von heute". (Sennett 1974, S. 418) Diese Diagnose der scheinbar AuBengeleiteten kann man vielleicht so zusammenfassen: Sie klinimem sich so sehr um das, was „man" sagt, well sie daran die Kriterien der Selbsterforschung finden. Sie wollen deshalb wissen, was die anderen fiir richtig halten, weil sie dann abschatzen konnen, ob sie es selbst richtig machen. Deshalb leben sie ja auch nach Riesman standig in dijfuser Angst. Man kann Sennetts Diagnose der Formierung der PersonHchkeit aber auch noch in einem anderen Sinne lesen: Obwohl das Individuum in der Modeme sich in vielen Bereichen an dem aus-, vielleicht sogar aufrichtet, was „man" denkt und tut, beginnt es sich unter der Hand auch von den anderen zuriickzuziehen. Sennett konstatiert das am „Ruckzug aus dem gemeinsamen Handeln" (Sennett 1974, S. 420), sowohl am Arbeitsplatz wie in der Nachbarschaft, wie in der Politik. Im Grunde ist es eine schleichende Entsolidarisierung. Jeder hat nur noch die eigenen Interessen im Kopf. Um in der harten Konkurrenz um knappe Outer - seien es Arbeitsplatze, wirtschaftliche oder soziale Erfolge Oder einfach soziale Aufmerksamkeit und Anerkennung - nicht hinten runterzufallen, darf man sich keine Fehler leisten und keine Schwachen zeigen. Vor allem GefUhle miissen unterdrlickt werden. Deshalb kommt es fiir Sennett auch zu einer ganz neuen Form der Askese: Das Individuum gestattet sich selbst nicht mehr, seine Gefuhle auszuleben, und vor allem ist es darauf bedacht, sie auch nicht zu zeigen.7 Es unterwirft sich einer permanenten Selbstkontrolle. Da die Individuen gelemt haben, dass der Erfolg in der Konkurrenz um knappe Guter von den Anstrengungen des Einzelnen abhangen, muss sich jeder auch standig beobachten, wo er in dieser Konkurrenz steht, was er vielleicht falsch gemacht hat und was er vielleicht andem sollte. Da aber die Bedingungen, unter denen Interessen definiert und die Mittel, sie umzusetzen, gefunden werden konnten, diffus sind, beginnt das Individuum immer mehr den Blick auf sich selbst zu lenken. So wie sich der Calvinist standig prtifte, ob ihm seine Taten einen Hinweis auf den Gnadenstand geben, beobachtet sich das Individuum der Modeme, wer es ist - nach den MaBstaben, die ihm kein Gott und keine 7

Wir sollten uns nicht von den exhibitionistischen daily talkshows tauschen lassen. Es sind Schauspiele mit begrenzter kathartischer Wirkung, bei denen Menschen dazu gebracht werden, zu glauben, die Explosion der Gefuhle bringe endlich zum Ausdruck, wer sie „wirklich" sind.

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Religion, sondem die anderen Menschen liefem. Bei Berger, Berger und Kellner werden wir spater lesen, dass die Identitat in der Modeme „besonders offen" ist und das Individuum sich zugleich immer mehr auf sich konzentriert: „Die Subjektivitat erlangt bislang ungeahnte »Tiefen«." (Berger u. a. 1973, S. 71)8 Hier haben wir die Erklarung ftir die nur scheinbar widerspriichliche Entwicklung. Und eine andere Konsequenz kann man sich bei so infizierten Identitatssuchem auch vorstellen: In dem MaBe, wie sie sich in sich selbst versenken, hoffen sie, auf etwas zu stoBen, wodurch sie sich tatsachUch von alien anderen unterscheiden. Solange dieses „etwas" nicht dingfest gemacht werden kann - z. B. durch eine Hypothese zur eigenen Identitat! - , reicht vielen zur Abwehr der AuBenleitung die Vorstellung, dass sie wenigstens „mehr denken als die anderen". Ich meine das keineswegs ironisch! Zurtick zu Riesmans These von der Aufienleitung und zu einer Einschatzung der unbewussten Strategic, das Bewusstsein der AuBenleitung abzuwehren oder gar nicht erst aufkommen zu lassen: Sie ist nicht wirklich erfolgreich, aber sie beruhigt. Die kleinen Differenzen werden signalhaft betont, gleichwohl bedienen sie sich der Auszeichnungen, die von unmissverstandlichen Modejoumalen und dem uberall wehenden Zeitgeist als die „richtigen" und angemessenen propagiert werden! Die Konsequenz? Die „unverwechselbare" Personlichkeit, die wir manchmal sein wollen, trifft sich in hunderten von Spiegeln. Die Bestatigung durch diese hundertfache Spiegelung scheint mehr zu wiegen als die Enttauschung, sich nicht von anderen unterscheiden zu konnen. Vielleicht ist es aber sogar noch weniger dramatisch, und die allermeisten wollen sich nicht wirklich unterscheiden. Moglicherweise haben Soziologen, die von der „argerlichen Tatsache der Gesellschaft" (Dahrendorf 1958), der „Eindimensionierung" des Menschen (Marcuse 1964) Oder vom „Leiden an der Gesellschaft" (Dreitzel 1980) gesprochen haben, etwas beschworen, was die allermeisten Menschen nicht wirklich beunruhigte. Wir die allermeisten schaffen den Auftritt auf der Blihne des Lebens ganz leidlich. So zumindest kann man die folgende Theorie von ERVING GOFFMAN lesen. Wenn es dabei aber um unsere Identitat geht, dann miissen wir am Stuck und an uns einiges tun! Vgl. auch die weitere Begriindung fiir die Selbstpriifung in Kap. 29.3 „Besonders differenziert - und uberall etwa fremd", Anm. 10.

Die ganze Welt ist Buhne, und alle Frau'n undManner blofie Spieler. Sie treten auf und gehen wieder ab, sein Lebenlang spielt einer manche Rollen ... William Shakespeare (1599) 1 NatUrlich ist nicht die ganze Welt eine BUhne, aber die entscheidenden Punkte, in denen sie es nicht ist, sind nicht leicht zufinden. Erving Goffinan (1959) 2

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Wir alle spielen Theater

23.1 23.2 23.3 23.4 23.5

Goffman: Impression management Die Maske ist unser wahreres Selbst Dramatische Auftritte Rollendistanz So tun, als ob: normal wie alle und ganz einzigartig

Das im Jahr 1959 erschienene Buch „The presentation of self in everyday life" von ERVING GOEFMAN (1922-1982) geht von der Hypothese aus, dass das Individuum, wenn es sich anderen prasentiert, daran interessiert ist, den Eindruck, den sie von ihm haben, zu kontrollieren. (vgl. Goffman 1959, S. 17) Im Deutschen erhielt das Buch den sprechenden Titel „Wir alle spielen Theater", womit Goffman durchaus einverstanden war, denn nach eigener Aussage sind die Gesichtspunkte seines Buches „die einer Theatervorstellung". Den Unterschied zwischen Buhne und Leben sieht er so: „Auf der Buhne werden Dinge vorgetauscht3. Im Leben hingegen werden hochstwahrscheinlich Dinge dargestellt, die echt, dabei aber nur unzureichend erprobt sind." (Goffman 1959, S.3) 1 2 3

William Shakespeare (1599): Wie es Euch gefallt, II 7, 668ff Erving Goffman (1959): Wir alle spielen Theater, S. 67 Im Original heiBt es „make-believe", was auch „so tun als ob" bedeutet.

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23 Wir alle spielen Theater Der Mensch tut keine nur einigermafien gesammelte Aufierung allgemeiner Natur, ohne sich ganz zu verraten, unversehens sein ganzes Ich hineinzulegen, das Grundthema und Urproblem seines Lebens irgendwie im Gleichnis darzustellen. Thomas Mann (1924) 4

23.1

Goffman: Impression management

Das Anliegen seines Buches formuliert Goffman so: „Diese Untersuchung befasst sich mit einigen der ublichen Techniken, die angewandt werden, um hervorgerufene Eindriicke aufrechtzuerhalten, und mit einigen haufigen Folgeerscheinungen, die mit der Anwendung derartiger Techniken verbunden sind." (Goffman 1959, S. 17) Um dieses „dramaturgische Problem" der Darstellung vor anderen geht es in fast alien seinen Schriften. Goffman interessierte, „wie Menschen in sozialen Situationen sich darstellen, sich wahmehmen und ihre Handlungen koordinieren." (Oswald 1984, S. 211) Wegen seiner hochst differenzierten, oft witzigen, Beschreibung der Techniken der Darstellung vor anderen haben wohlwollende Kollegen Goffman auch als „die Autoritat fUr impression management" bezeichnet. (Scott u. Lyman 1968, S. 86) Manche - und nicht nur Soziologen! - lesen ihn auch, well sie die Tricks kennenlemen wollen, mit denen man sich im Alltag liber Wasser halten oder ganz gro6 rauskommen kann. Ich meine, dass das weder dem eigentlichen Thema Goffmans noch seiner theoretischen Leistung gerecht wird. Doch beides ist nicht so leicht herauszufinden. Zunachst zum Thema: Es geht erstens um »Interaktion«. Dieses Thema behandelt Goffman aus zwei theoretischen Richtungen. Er behandelt es aus der Richtung von M A X WEBER, den er zwar nur ganz vereinzelt zitiert, dessen Annahme, dass soziales Handeln „seinem von den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer'' bezogen und „daran in seinem Ablauf orientiert" (Weber 1920c, S. 653) ist5, ihn aber unverkennbar fasziniert haben muss. Und er behandelt es aus der Richtung von GEORGE HERBERT MEAD, dessen Annahme von der Rolleniibemahme ihn ebenfalls ungemein interessierte. 4 5

Thomas Mann (1924): Der Zauberberg, S. 495 Zu Webers Theorie des Handelns vgl. Abels 2004, Bd.. 2, Kap. 4.2 „Weber: Bestimmungsgriinde des Handelns".

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Wir alle spielen Theater

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Mit seiner These, dass soziales Handeln Schauspiel ist, entwickelt Goffman Webers Annahme in die Richtung der Manipulation des zu meinenden Sinns weiter und fuhrt Meads These von der Rolleniibernahme in der Richtung der kalkulierten Wirkung fort. Das interaktionistische „Paradigma ist auch insofem weitergekommen, als Goffman, vergUchen mit Mead, viel genauer Bescheid weiB liber die Tricks im Handwerk des taglichen Lebens. Er schaut inmier noch zu, aber er staunt nicht mehr. Er weiB, wie es gemacht wird, und das beschreibt er kuhl und distanziert." (Steinert 1977, S. 84) Das zweite Thema lautet »Identitat«. Goffman behandelt es unter der Perspektive der Presentation. Und ich will gleich wamend hinzufugen: Er lasst keinen Zweifel daran, dass die Individuen so tun - ich meine sogar: so tun mtissen - , als ob es bei der Darstellung vor anderen um die wirkliche Identitat geht. Es geht denn auch um mehr als die Darstellung. Das standig wiederkehrende Thema in fast alien seinen Schriften waren die „Gefahren, denen das Selbst in der Interaktion ausgesetzt ist." (Oswald 1984, S. 211) Als RALF DAHRENDORF im Jahre 1969 sein Vorwort zu der deutschen Veroffentlichung von Goffmans Buch schrieb, fuhlte er sich an den totalen Ideologieverdacht bei KARL MANNHEIM erinnert. Bei Goffman sah er den „totalen Rollenverdacht". Wie nach Mannheim Denken gar nicht anders moglich ist als Denken von einem bestimmten Standpunkt aus, so sei Handeln nicht anders moglich als Handeln in Rollen. Nach der Lektiire falle es schwer, noch Moglichkeiten zu sehen, „aus der totalen Institution Gesellschaft" auszubrechen. (Dahrendorf 1969, S. VIII)6 Extreme Gefahrdungen beschreibt Goffman in seinem Buch „Asyle" (1961a), in dem es um die Vereinnahmung durch totale Institutionen wie Gefangnisse, psychiatrische Kliniken oder Gefangenenlager geht, und in seinem Buch „Stigma" (1963), das den bezeichnenden Untertitel „tJber Techniken der Bewaltigung beschadigter Identitat" tragt. Dort wird z. B. gezeigt, welche Anstrengungen Behinderte untemehmen miissen, damit Nicht-Behinderte so tun konnen, als ob sie sie wie „Normale" behandelten.^ Um weniger dramatische, gleichwohl immer 6 7

Im Vorwort zur 4. Auflage seines ,Jlomo Sociologicus" (1963) hatte Dahrendorf noch von einer „ebenso amiisanten wie subtilen Studie" gesprochen, die mit Recht preisgekront worden sei. (Dahrendorf (1958), 14. Aufl. 1974, S. 9) Vgl. unten Kap. 25 „Beschadigungen und mogliche Gefahrdungen".

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23 Wir alle spielen Theater

riskante Versuche, die eigene Identitat vor den Vereinnahmungen durch die anderen zu schtitzen, geht es in alien ubrigen Schriften. Das ist auch der Grund, weshalb man Goffmans Soziologie als die typische Soziologie des Menschen in der Massengesellschaft bezeichnet hat. (Williams 1986, S.349) So hatte es schon ALVIN W . GOULDNER in seiner Generalabrechnung mit der westlichen Soziologie (1970) gesehen. Danach beschreibe Goffman die Uberlebensstrategien der Angehorigen der Mittelklasse, die „eifrig an einer Illusion des Selbst" basteln, obwohl sie wissen, dass sie den gesellschaftlichen Verhaltnissen unterlegen sind. Diese biirgerliche Welt des impression management „wird von angstlichen, auBengeleiteten Menschen mit feuchten Handen bewohnt, die in der permanenten Angst leben, von anderen bloBgestellt zu werden oder sich unabsichtlich selbst zu verraten." (Gouldner 1970, S. 457) Mit diesem Urteil wurde Goffman direkt in das Erbe von DAVID RiESMAN eingesetzt, der, wie gerade gezeigt, Anfang der 50er Jahre mit seiner These von der AuBenleitung dem Individuum der Modeme jegliche Illusion von Freiheit und Einzigartigkeit geraubt hatte. Doch scharfer als bei Riesman entlarvt sich fur Gouldner in den Beschreibungen Goffmans die moralische Seite dieses Verhaltens: Wahrend Riesman den Ubergang von einer religios motivierten Innenleitung zu einer Anpassung um der sozialen Anerkennung willen beschrieb, beschreibt Goffman nach der Meinung Gouldners den Ubergang von „Menschen mit einem in sich ruhenden calvinistischen Gewissen zu Spielem, die nicht gemaB innerer Einsicht, sondem in schlauer Antizipation der Reaktion anderer auf eine raffinierte Methode »einsteigen«." (Gouldner 1970, S. 463) Einsteigen, so muss man wohl erganzen, in das Schauspiel auf der Buhne des Lebens, bei dem es m. E. aber nicht um die Unterhaltung des Publikums, sondem um die Prasentation einer Identitat geht, der man sich nicht immer sicher ist. Unter dieser Perspektive will ich einige Kemaussagen von Goffmans beruhmtestem Buch „Wir alle spielen Theater" referieren.

23 Wir alle spielen Theater

323 Aufmeine Oberfldche ist Verlass. (...) Jetzt miisste er sich nur noch selber glauben, er miisste sich mit ihren Augen sehen. John von Duffel (2001) 8

23.2

„Die Maske ist unser wahreres Selbst"

Die Grundannahme des Buches erschlieBt sich einem mit der eingangs zitierten lakonischen Hypothese und einem bemerkenswerten Zitat. Es stammt von einem der Griindervater der amerikanischen Soziologie, ROBERT EZRA PARK (1864-1944), der einige Zeit in Deutschland studiert und spater wesentlich zur Verbreitung der Gedanken Simmels in den USA beigetragen hat. Park schreibt: „Es ist wohl kein historischer Zufall, dass das Wort Person in seiner urspriinglichen Bedeutung eine Maske bezeichnet. Darin liegt eher eine Anerkennung der Tatsache, dass jedermann iiberall und immer mehr oder weniger bewusst eine Rolle spielt." (Park 1926, zitiert nach Goffman 1959, S. 21; vgl. im engl. Original S. 249) Wir sind Eltem oder Kinder, Lehrer oder Schiller, Christ oder Jude. „In diesen Rollen erkennen wir einander; in diesen Rollen erkennen wir uns selbst." (ebd.) Unsere Gesichter, fahrt Park fort, sind lebende Masken, die zwar auch unsere wechselnden Gefuhle zum Ausdruck bringen, aber mehr und mehr dazu tendieren, sich an den Typus anzupassen, den wir verkorpem wollen. „In einem gewissen Sinne und insoweit diese Maske das Bild darstellt, das wir uns von uns selbst geschaffen haben - die Rolle, die wir zu erfullen trachten - , ist die Maske unser wahreres Selbst: das Selbst, das wir sein mochten. SchlieBlich wird die Vorstellung unserer Rolle zu unserer zweiten Natur und zu einem integralen Teil unserer Personlichkeit. Wir kommen als Individuen zur Welt, bauen einen Charakter auf und werden Personen." (Park 1926, zitiert nach Goffman 1959, S. 21; vgl. im engl. Original S. 249f.) Das Zitat von Park muss man so verstehen, dass wir unsere Masken nicht zufallig9 wahlen, sondem wir wahlen - natiirlich nicht notwendig bewusst! - solche, die uns so prasentieren, wie wir sein wollen. Das ist wohl auch der Grund, weshalb Goffman von „presentation" spricht. John von DUffel (2001): Ego, S. 18 und 224 Lesen Sie doch die Uberschrift zu diesem Unterkapitel noch einmal laut!

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23 Wir alle spielen Theater

Den Gedanken kann man fortspinnen: Nicht wie wir erscheinen, sondem wie wir erscheinen woUen, das sagt etwas uber uns. Von Woody Allen wird der Satz kolportiert, 90 % des Lebens bestiinden darin, sein Gesicht zu zeigen. Goffman spricht von face-work (Goffman 1955) und analysiert unter dieser Perspektive die rituellen Elemente in sozialen Interaktionen. Und noch einen anderen Gedanken eines empfindsamen Beobachters der Menschen mochte ich Hinen nicht vorenthalten. JEANJACQUES ROUSSEAU hat ihn seinem Emile ans Herz gelegt: „Der Mann von Welt verbirgt sich ganz hinter seiner Maske. Da er fast niemals zu sich kommt, ist er sich immer fremd, und missmutig, wenn er dazu gezwungen ist. Was er ist, ist nichts; was er scheint, ist ihm alles." (Rousseau 1762a, S. 232) Lassen wir die Not, nur ja nicht zu sich selbst kommen zu miissen, einmal beiseite und konzentrieren uns auf das Schauspiel, das wir voreinander und fiireinander aufftihren. Goffman interessiert sich vor allem fur den Schein, der dort erzeugt wird, und genauer - es geht schlieBlich um Identitat - um die Botschaft, die die Schauspieler mit der Auffuhrung bewusst vermitteln wollen oder ungewollt vermitteln.io Gerade diese Differenz fasziniert ihn, weshalb er auch den Pannen auf der Buhne besondere Aufmerksamkeit schenkt. Es ist das gleiche Interesse, mit dem der Psychoanalytiker SiGMUND FREUD an den Briichen im Sprechen seiner Patienten uber ihre Traume ansetzte, um Tiefenstrukturen zu erkunden. Goffman ist neugierig auf das, was sich hinter der Maske tut und was vor und nach der Auffiihrung passiert. Wahrend der zynische Menschenkenner FRffiDRiCH NIETZSCHE mahnte, „es gehore zur feineren Menschlichkeit, Ehrfurcht vor der Maske zu haben und nicht an falscher Stelle Psychologic und Neugierde zu betreiben" (Nietzsche 1886, 270), treibt Goffman genau diese Neugierde an. Ehrfurcht vor den Masken hat er nur insofem, als er keine Maske besser oder schlechter bewertet als eine andere. Er stellt keinen blo6, und er verurteilt kein Handeln. Das moralische Urteil ist nicht seine Sache, sondem nur „die formale soziologische Analyse" (Goffman 1959, S. 18).

10

Darauf zielte auch das literarische Zitat vor dem letzten Unterkapitel.

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Die Welt als Buhne, die darauf wartet, dass wir das wichtige und traurige, das komische und bedeutungslose Drama unserer Vorstellungen inszenieren. Wie riihrend und charmant sie ist, diese Idee! Und wie unvermeidlich! Pascal Mercier (2004) H

23.3

Dramatische Auftritte

Goffmans zentrale Begriffe der Analyse des Schauspiels sind Interaktion (»interaction«), Darstellung (»performance«) und RoUe (»part« or »routine«). Ihre Definition markiert den Rahmen, in dem wir nach seiner Ansicht Identitat finden und prasentieren. Bevor wir uns diese Begriffe genauer ansehen, will ich die Perspektive in Erinnerung rufen, die Goffman bei seiner Feldstudie nach eigenen Worten eingenommen hat. Es ist die Perspektive einer Auffiihrung im Theater, und unter dieser Perspektive ktindigt er an, was er tun wird: Er werde zeigen, wie sich das Individuum in ganz alltaglichen Situationen darstellt, wie es den Eindruck, den es auf andere macht, kontrolliert und lenkt, und was es tun darf und was nicht, wenn es sich in seiner Selbstdarstellung vor ihnen behaupten will. (vgl. Goffman 1959, S. 3) Es geht also nur um das „Wie" einer Darstellung. Und wenn Goffman nach der Identitat des Darstellers fragt, dann geht es hochstens um eine Identitat, die er wissentlich oder unwissentlich prasentiert. Um die Frage, ob es „wahr" ist, was den anderen auf der Btihne des Lebens geboten wird, geht es in Goffmans dramaturgischem Ansatz ausdrticklich nicht! Wenden wir uns nun der Definition der drei zentralen Begriffe zu. Goffman definiert Interaktion, das heiBt »face-to-face-interaction« als den „wechselseitigen Einfluss, den Individuen untereinander auf ihre Handlungen wahrend ihrer unmittelbaren physischen Anwesenheit" ausuben. (Goffman 1959, S. 18) Unter einer Darstellung versteht er all das, was ein Teilnehmer einer konkreten Interaktion veranstaltet und tut (»activity«) und was die anderen Teilnehmer in irgendeiner Weise beeinflusst. Unter diesem Aspekt der Darstellung sind an der Interaktion Darsteller und Publikum, Mitspieler und Zuschauer beteiligt. Als Rolle (»part« oder »routine«) schlieBlich bezeichnet Goffman das vorab fest11 Pascal Mercier (2004): Nachtzug nach Lissabon, S. 277

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23 Wir alle spielen Theater

gelegte Handlungsmuster, das dann in der Darstellung entfaltet wird und auch bei anderen Gelegenheiten gezeigt und gespielt werden kann. (vgl. Goffman 1959, S. 18) Da es hier um das Thema Identitat geht, werde ich mich im wesentlichen auf das Kapitel »Darstellungen« konzentrieren, in dem Goffman das anstrengende Spielen unserer »parts« vor Publikum und zusammen mit anderen Spielem beschreibt. Darstellung bezeichnet das aktuelle Gesamtverhalten vor anderen und nur das. Es geht nicht um die Frage, ob die Darstellung wahr oder falsch, gut oder schlecht ist, sondem nur darum, was passiert und wie es gemacht wird. Um einen Titel aus einem anderen Kontext zu bemiihen, kann man sagen: Goffman sieht im Medium die Botschaft. Doch das Medium hat schon eine Geschichte, denn natlirlich erfindet das Individuum nicht in jeder Situation ein komplett neues Schauspiel, sondem verwendet mehr oder weniger bewusst ein „standardisiertes Ausdrucksrepertoire", mit dem es „die Situation flir das Publikum der Vorstellung zu bestimmen" sucht. Goffman nennt dieses Repertoire Fassade (»front«). (Goffman 1959, S. 23) Dazu gehort zum einen das BUhnenbild, der gestaltete Raum, in dem wir auftreten. Ein solcher Raum ist z. B. unsere Wohnung, das Auto, das Lokal, das wir am liebsten besuchen, oder auch - wie wir gleich lesen werden - der Schutzwall am Meeresstrand. Dazu gehort zweitens die „personliche Fassade". Dazu zahlen Statussymbole, Kleidung, Geschlecht, Korperhaltung oder die Art zu sprechen. SchlieBlich gibt es noch „soziale Fassaden", worunter man die sozialen Erwartungsmuster versteht, die mit einer bestimmten Rolle verbunden sind, z. B. die festen Vorstellungen, wie „man" sich als Arzt oder als gute Mutter zu verhalten hat. In der Entwicklung der Gesellschaft ist es dazu gekommen, „eine groBe Anzahl verschiedenartiger Handlungen durch eine kleine Anzahl von Fassaden darzustellen." (Goffman 1959, S. 27) Diese Reduzierung auf typische Verhaltensweisen und entsprechende Fassaden, die alle kennen, die in dieser Gesellschaft groB geworden sind, macht die Er~ wartung der Zuschauer sicherer: Sie brauchen nur ein kleines Vokabular von Fassaden zu kennen, um zu wissen, was vor sich geht und was als nachstes passiert. Und der Schauspieler weiB das zu nutzen! Fassaden gehoren zur dramatischen Gestaltung.

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Dramatische Gestaltung bedeutet, sich in einer Rolle als etwas Besonderes darzustellen. So sagt der eine, wie wahnsinnig anstrengend das ist, was er tut, und der andere gibt zu verstehen, er mache das alles mit links. Goffman interessiert noch ein weiterer Kunstgriff zur Darstellung der Identitat, den man so beschreiben kann: Wer auf der wirklichen Buhne des Lebens auftritt, mochte geme auch zeigen, wer er eigentlich noch ist. Dazu deutet er Facetten seiner Identitat an, die man auf den ersten Blick nicht vermuten wurde. Preedy, ein Englander, der zum ersten Mai am Strand in Spanien auftritt, zeigt uns, wie das geht: Preedy am Strand „Auf alle Fdlle aber war er darauf bedacht, niemandem aufzufallen. Als erstes musste er alien, die moglicherweise seine Gefdhrten wdhrend der Ferien sein wUrden, klarmachen, dass sie ihn uberhaupt nichts angingen. Er starrte durch sie hindurch, um sie herum, Uber sie hinweg - den Blick im Raum verloren. Der Strand hdtte menschenleer sein konnen. Wurde zufdllig ein Ball in seine Ndhe geworfen, schien er uberrascht; dann liefi er ein amiisiertes Ldcheln Uber sein Gesicht huschen (Preedy, der Freundliche)^'^, sah sich um, verbliifft darUber, dass tatsdchlich Leute am Strand waren, und warf den Ball mit einem nach innen gerichteten Ldcheln nicht etwa mit einem, das den Leuten zugedacht wdre - zuriick und nahm heiter seine absichtslose Betrachtung des leeren Raums wieder auf. Aber jetzt war es an der Zeit, eine kleine Schaustellung zu inszenieren, die Schaustellung Preedys, des Geistmenschen. Durch geschickte Manover gab erjedem, der hinschauen wollte, Gelegenheit, den Titel seines Buches zu bemerken - einer spanischen Homer-Ubersetzung, also klassisch, aber nicht gewagt und zudem kosmopolitisch -, baute dann aus seinem Bademantel und seiner Tasche einen sauberen, sandsicheren Schutzwall (Preedy, der Methodische und VernUnftige), erhob sich langsam und rdkelte sich (Preedy, die Raubkatze!) und schleuderte die Sandalen von sich (trotz allem: Preedy, der Sorglose!). Preedys Hochzeit mit dem Meerl Es gab verschiedene Rituale. Einmal jenes Schlendern, das zum Laufen und schliefilich zum Kopfsprung ins Wasser wird, danach ruhiges, sicheres Schwimmen auf den Horizont zu. Aber natUrlich nicht wirklich bis zum Horizont! Ganz plotzUch drehte er sich auf den RUcken und schlug mit den Beinen grofie weiJ3e Schaumwogen auf; so zeigte er, dass er weiter hinaus hdtte schwimmen konnen, wenn er nur gewollt hdtte, dann reckte er den 12

Die Klammerzusatze sind offensichtlich soziologische Leseanleitungen Goffmans.

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Oberkorper aus dem Wasser, damit jeder sehen konnte, wer er war. Die andere Methode war einfacher. Sie schloss den Schock des kalten Wassers ebenso aus wie die Gefahr, Ubermiitig zu erscheinen. Es ging darum, so vertraut mit dem Meer, dem Mittelmeer und gerade diesem Strand, zu erscheinen, dass es keinen Unterschied machte, ob er im Wasser oder draufien war. Langsames Schlendem hinunter an den Saum des Wassers - er bemerkt nicht einmal, dass seine Zehen nass werden: Land und Wasser sindfur ihn eins! - die Augen zum Himmel gerichtet, emst nach den fur andere unsichtbaren Vorzeichen des Wetters ausspdhend (Preedy, der alteingesessene Fischer)." (Sansom (1956): A Contest of Ladies; zitiert nach Goffman (1959), S. 8f) Preedyi3 fallt nicht mit der Tiir ins Haus und gibt auch nicht plump an, sondem wahlt eine Inszenierung der kleinen Andeutungen in der Hoffnung, konkreten (und vor allem gedachtenl) wichtigen Zuschauem etwas zu bieten, was Aufmerksamkeit erregt und Anerkennung bringt. Dabei darf er nicht zu dick auftragen, aber auch nicht so zurtickhaltend sein, dass keiner merkt, was er zum Ausdruck bringen wollte. Wie schmal der Schwebebalken ist, kann man am schonen Spiel des „name dropping" ablesen: Wer zum Beispiel in jedem Satz sagt, dass er mit Tom wieder mal die Weltratsel gelost hat, fallt vom Balken der Aufmerksamkeit; wer nicht mitgekriegt hat, dass keinem der Name etwas sagt, hat es noch nicht mal auf den Balken geschafft. Ahnlich ist es mit dem Florett der feinen Ironie: Manche wird gar nicht bemerkt, bringt also nichts; manche wird fur bare Miinze genommen. Deshalb verlangt die dramatische Gestaltung einer Rolle standige Ausdruckskontrolle. Wenn das Publikum die Darstellung falsch interpretiert oder vielleicht einem Missgeschick des Darstellers zu groBe Aufmerksamkeit schenkt, besteht die Gefahr, dass es eine ganz andere Definition der Situation vomimmt, die die geplante Darstellung nicht mehr zulasst. Deshalb muss der Darsteller jeden storenden Eindruck vermeiden, denn er weiB: Ein falscher Ton zerstort den Klang eines ganzen Orchesters. Wenn ich nicht mitkriege, dass mein kiinftiger Schwiegervater meinen Zukunftsplanen mit versteinerter Miene zuhort, rede ich mich um Kopf und Kragen. Das Eis, auf dem wir voreinander auftreten, scheint also sehr dlinn zu sein. 13

Wer ubrigens gerade gemeint hat, Preedy selbst erlebt zu haben, dem sei hiermit der soziologische Blick bescheinigt!

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Er hatte sich gegen die Lehne zurUckgeworfen, trommelte mit den Fingem einen unregelmdjiigen nachdenklichen Rhythmus aufdem Holz und verwahrte sich durch unmdjiige Zerstreutheit des Blicks gegen die Griisse, mit denen seine Bekannten aufden Tisch zukamen (...). Uwe Johnson (1959) 14

23.4

RoUendistanz

Goffman erwahnt nun eine Strategic, die auf den ersten Blick das Ende eines gemeinsamen Schauspiels zu signalisieren scheint: die Strategic der RoUendistanz. Doch gerade diese Strategic eroffnet dem Individuum die Chance, die Situation und die Fassaden, das Buhncnbild und sogar die Zuschauer neu zu definieren. Es ist eine Strategic, Identitat zu behaupten! RoUendistanz heiBt nicht Verweigcrung oder Unfahigkeit, sondem im Gcgcnteil die hohe Kompctenz, souveran mit ciner Rolle umzugehen. Ihr Zweck ist, soziale Zumutungen, die die Darstcllung der Identitat storen, zuruckzuweisen. Man will zeigen (oder wenigstens beanspruchen), dass man noch anderes und mehr ist als in der Rolle erwartet und ermoglicht wird. Goffman geht davon aus, dass das Individuum immer „an einem Gefuge von Rollen teilnimmt" und es gleichzeitig die Fahigkeit besitzt, „sein Engagement fur andere Schemata in der Schwebe zu haltcn; es crhalt so eine oder mchrerc ruhende Rollen aufrecht, die bei anderen Gelegenheiten ausgetibt werden." (Goffman 1961b, S. 101) Das ist die eine Seite, weshalb dramatische Darstellungen nur ein Ausschnitt aus einer groBeren Wirklichkeit sind. Es bleiben immer Bereiche auBen vor, die unter anderen Umstanden relevant werden. Der Blick auf diese anderen Bereiche - sprich: Rollen, aber auch Facetten der Identitat kann nic ganz vermieden werden. ANSELM STRAUSS hat sogar davon gesprochen, dass jede Interaktion eine Intcraktion mit abwesenden Zuschauem ist. (Strauss 1959b, S. 58)i5 RoUendistanz ist die unbewusste (oft natUrlich auch bewusste!) symbolische Reaktion auf Erwartungen aus einem anderen Relevanzsystem. Wie wir gerade an Preedys tollem Auftritt in seinen vielen Rollen gesehen haben, soil der Blick auf andere Facetten der Identitat oft auch 14 15

Uwe Johnson (1959): Mutmassungen uber Jakob, S. 177 Vgl. Kap. 24.3 „Soziale Identitat: Statusarten, Verortungen, Erklarungen".

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gar nicht vermieden werden. Mittels Distanz gegeniiber einer aktuellen RoUe deuten wir fiir uns und andere an, wer und was wir noch sind. Zur Rollendistanz gehort deshalb auch, die Erwartungen der anwesenden Zuschauer zu beeinflussen. Einige Attribute, die sie ihm zuschreiben, mag das Individuum akzeptieren, andere nicht. Da in einer Interaktion jeder Darsteller auch Zuschauer und jeder Zuschauer auch Darsteller ist, beeinflusst jede Definition der Situation jeden anderen in dieser Situation. Auf der Ebene des gemeinsamen Handelns versucht jeder, den anderen zu einem Verhalten zu bewegen, das in das eigene Handlungskonzept passt. Auf der Ebene der Identitatsdarstellung versucht jeder, bei dem anderen ein Bild von sich zu erzeugen, das die Verfolgung eigener Ziele begtinstigt. Rollendistanz ist eine Strategic, soziale Erwartungen neu zu defmieren. Das Individuum will sich Optionen eroffhen, die es fur die Darstellung seiner Identitat in einer konkreten Situation braucht. Das ist nicht immer leicht, und es gelingt grundsatzlich nur in Literaktionen von ungefahr Gleichen. Wo Macht die Situation dominiert, ist nur fur eine Seite Rollendistanz moglich. Rollendistanz ist eine Vorwartsstrategie der Identitatsdarstellung. Es gibt aber auch nachtragliche Korrekturen sozialer Erwartungen, die sich aus der Situation ergeben haben oder dort offenbar wurden. Solche distanzierenden Methoden, mit denen wir uns als Person wieder ins Spiel der eigenen Identitatsarbeit bringen, sind Erklarungen, Entschuldigungen und Scherze, unbewusst auch Albemheit usw. Es sind alles Methoden, durch die das Individuum bittet, bestimmte Defmitionen seiner Person zu streichen. (Goffman 1961b, S. 118) Rollendistanz ist der Versuch des Individuums, das Bild, das andere von ihm haben oder haben sollen, aktiv zu beeinflussen. Ein Beispiel fiir diese Strategic, die soziale Identitat neu zu definieren, ist der von Goffman einfiihlsam beschriebene kleine Junge, der auf dem Karussell wild herumhampelt, um den anderen Kindem und vor allem seinen angsthchen Eltem zu signalisieren, dass er kein Baby mehr ist. Rollendistanz kann aber auch der freiwillige Verzicht auf ein bestimmtes Recht sein, das man in einer bestimmten RoUe ausiiben konnte. Goffman bringt dazu das Beispiel des Chirurgen, der bei einer komplizierten Operation auf ein Missgeschick seines Assistenten nicht mit einem strengen Verweis reagiert, der ihn womoglich noch unsicherer machen wilrde, sondem mit einem jovialen „Das ist mir bei meiner

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ersten Operation genau so passiert!" die Situation rettet. Hier hat Rollendistanz etwas mit der Abwagung der Vor- und Nachteile eines bestimmten Handelns fiir die Fortfiihrung eines gemeinsamen Handelns zu tun. Dabei mag das Interesse an der Darstellung einer bestimmten Facette der eigenen Identitat durchaus eine Rolle spielen. (Wer wusste nicht, dass der Verzicht auf eine kleine Macht soziale Bindung sogar verstarkt und die gute Seite der Identitat zum Strahlen bringt?!) Damit komme ich noch einmal auf die oben angeschnittene Frage zuriick, ob eine Darstellung wahr oder falsch ist. Gerade nach der Beschreibung der Strategie der Rollendistanz kann man das nicht mehr als eine moralische Frage betrachten. Da jede Definition der Situation Konsequenzen hat, ist jede Darstellung insofem wahr. Dass sich das Individuum seiner Definitionen und Strategien nicht immer bewusst ist und dass die anderen moglicherweise ganz andere Definitionen wahrnehmen, steht auf einem anderen Blatt. So kann man auch nur festhalten, dass Rollendistanz eine Strategie ist, mit der wir unsere Identitat schutzen und prasentieren. Selbstverstandlich bleibe ich auch bei meiner Lesart, dass Goffman um die Gefahrdung des Individuums weiB, und deshalb wollte er niemanden bloBstellen, sondem nur vor Illusionen wamen. Every man i^ in certain respects like all other men, like some other men, like no other men. Clyde Kluckhohn; Henry A. Murray (1948) 16

23.5

So tun, als ob: normal wie alle und ganz einzigartig

Dieses Anliegen sollte man auch unterstellen, wenn Goffman die unbewussten Strategien des Individuums aufdeckt, sich gleichzeitig als anders als alle anderen und als so normal wie alle anderen zu prasentieren. Im Anschluss an Meads These, dass das Individuum in der Interaktion mit anderen Objekt fiir die anderen und fiir sich ist, mochte ich die These vertreten, dass es zumindest das Erstere auch will: Es will auch bemerkt werden. Daraus ergibt sich aber ein Balanceproblem: Es 16

Clyde Kluckhohn; Henry A. Murray (1948): Personality Formation, S. 35

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mochte nicht, dass andere ihm zu nahe treten, deshalb mochte es nicht zu sehr bemerkt werden; es will aber auch nicht in der Masse untergehen, deshalb macht es sich auffallig. Das Individuum hat das Bedurfnis, so normal wie alle anderen und so einzigartig wie keiner zu sein.i^ Oder anders: So ganz unauffallig will doch eigentlich niemand sein, aber so ganz anders zu sein als alle anderen, traut sich auch kaum einer zu. Wie ich gleich zeigen werde, brauchen wir offensichtlich beides: Wir woUen die Anerkennung, und dafiir prasentieren wir uns als normal und besonders, wie es gerade angebracht ist. Wir wollen aber auch nicht immer auf der Biihne und unter Dauerbeobachtung stehen und beanspruchen deshalb ein gewisses Ma6 an Nichtaufmerksamkeit.is An dem Spiel auf der Buhne des AUtags andert der Wunsch naturlich ebenso wenig wie der Anspruch! Im Gegenteil, je mehr uns beides bewusst wird, umso mehr haben wir das Problem, so zu tun, „als ob" wir etwas waren, was wir nicht sind. Auf diese Prasentation der Identitat vor den anderen hebt eine kritische Interaktionstheorie ab, die von einer Balance zwischen gespielter Normalitat und angeblicher Einzigartigkeit spricht. Dieses Bild der Balance zwischen phantom normalcy und phantom uniqueness wird zwar meist Goffman zugeschrieben, doch diese Gegeniiberstellung ist nur zum Teil ein Zitat aus seinen Arbeiten und dann auch noch aus einem spezifischen Kontext. Goffman verwendet nur den Begriff phantom normalcy und meint damit ein strategisches Kalktil, das Menschen anwenden, deren soziale Identitat aufgrund eines auffalligen Stigmas gefahrdet ist. (Goffman 1963, S. 152) Es handelt sich also um Personen, die Aufmerksamkeit nicht entgehen konnen. Sie miissen so tun, als ob sie normal wie alle anderen sind, damit diese so tun konnen, als ob sie sie als Normale betrachten. (vgl. a.a.O., S. 122) Auf dieses komplizierte Spiel, Beschadigungen und mogliche Gefahrdungen der sozialen Identitat zu vermeiden, komme ich spater noch einmal zu sprechen.i9 17

Blattem Sie doch einmal weiter zum letzten Absatz in Kap. 27.1 „iJber Identitatsbehauptung, negative Identitat und Strategien gegen Entindividualisierungserfahrungen". 18 Vgl. Kap. 26.1 „Anerkennung" und Kap. 26.2 „Anspruch auf Nichtaufmerksamkeit". 19 Vgl. Kap. 25.4 ,JDiskreditierte: Korrekturen und doppelte Konstruktion von Normalitat" und Kap. 25.5 „Diskreditierbare: Tauschen und Informationskontrolle".

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Aus dieser doppelt gebrochenen Strategic, Annahmen von Normalitat im Spiel zu halten, lasst sich dann der Schluss Ziehen, den JtJRGEN HABERMAS aus Goffmans Beschreibungen der Auftritte des Individuums auf der gesellschaftlichen Buhne gezogen hat. Er unterstellt dem Individuum namhch das BedUrfnis, sich als cinzigartig darzustcllen. Da cs aber viellcicht gar nicht so anders ist als die andcren, macht es sich und den andcren vor, dass es cinzigartig sci. Habermas nennt diese vorgespielte Individualitat phantom uniqueness. (Habermas 1968, S. 132) Der Einzelne tut so, als ob er ganz cinzigartig ist, und lenkt dadurch bewusst Aufmcrksamkeit auf sich. Vermutlich ware Goffman mit dem Komplementarbcgriff der phantom uniqueness durchaus einverstanden gewesen ware, denn er fUgt sich genau in die Erklarung fur die von ihm beschriebene Strategic der Rollcndistanz ein. Doch wie diese Strategic der RoUc sclbst nicht cntfliehcn kann, so gcben auch die Strategien gespieltcr Normalitat und gcspielter Einzigartigkeit nicht wirklich Freiheit. Hinter ihnen scheint die Gefahrdung von sozialcr Idcntitat auf - nicht nur fur des sozialen AuBcnscitcrs, wie ich weiter untcn^o zeigen werde, sondem auch der „Normalen", die sich alle mitten im Zentrum der Gesellschaft wahnen. Auch darauf komme ich noch zurtick.^i AuBcrdem gebe ich zu bedenken: So eindringlich Goffman beschrieben hat, wie Individuen in der Interaktion mit anderen cine soziale Idcntitat vor anderen prasentieren, so wenig dtirfen wir ubersehen, dass sic ja nur behauptet wird. Ob sic stimmt oder gar „wahr" ist, wissen wir nicht. Aber das fallt auch nicht in das Feld einer soziologischen Theorie der Idcntitat. Schr wohl aber fallt die Behauptung in die Soziologie, denn wie haben wir oben gelesen: „Niemand wahlt seine Maske zufallig" und „Die Maske ist unser wahreres Sclbst"? Ich will auch noch einmal den Bogen zu DAVID RIESMANS These von der AuBenlcitung schlagen. Dort habe ich von der Illusion gesprochen, der sich viele hingeben, die meinen, sie seien die einzigen, die „nicht alles mitmachen" und seien deshalb auch ganz „authentisch". So lassen sie den Gedanken der Entfremdung von einer individuellen Iden20 21

Vgl. Kap. 25 „Beschadigungen und mogliche Gefahrdungen der sozialen Identitat". Vgl. Kap. 26.2 „Anspruch auf Nichtaufmerksamkeit" und Kap. 27.1 „iJber Identitatsbehauptung, negative Identitat und Strategien der Entindividualisierungserfahrungen".

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23 Wir alle spielen Theater

titat, der ja mit der AuBenleitung verbunden ist, nicht an sich herankommen. Nach der Lekture Goffmans ist das Problem schon in das ganz normale Schauspiel, das wir tagtaglich voreinander auffuhren, eingewoben. Und doch kann man gerade aus dieser These von der dramatischen Inszenierung einer bestimmten Identitat Hoffnung schopfen. Bei der Selbstdarstellung des Individuums in den sozialen Rollen geht es namlich nicht nur darum, es mit alien zu konnen und nicht aus dem Rahmen zu fallen, das war das Thema bei Riesman, sondem auch darum, seine Identitat vor den anderen zu schiitzen. Das Individuum gibt Kostproben davon, was es kann, und wenn es die Erwartungen der anderen damit befriedigt, kann es sicher sein, dass niemand danach fragt, wer es „in Wirklichkeit" ist und was die „wirklichen Griinde" fiir sein Verhalten sind. Und so braucht es sich auch vor keinem fiir sein Verhalten zu rechtfertigen. Seine soziale Identitat wird vom Publikum gemacht, das kann es gar nicht vermeiden. Die Beeintrachtigungen, die es dadurch erfahrt, werden gleich unter der Perspektive der Zuschreibung eines sozialen Status und der Definitionsmacht noch einmal zur Sprache kommen.22 Um seine Ich-Identitdt, um den Begriff von Erikson aufzugreifen, geht es erst dann, wenn die Bilanz zwischen den Erwartungen der Anderen und dem Bild vom eigenen Selbst, zwischen der Investition in die Darstellung und der Reaktion von Zuschauem und Mitspielem ungunstig ausfallt. Auf dieses komplizierte Wechselspiel zwischen uns und den anderen, auf unsere wechselseitigen Interpretationen und Definitionen und auf die Verortungen unserer sozialen Identitat geht die folgende Theorie von ANSELM STRAUSS ein. Seine These ist, dass wir uns bei der Suche nach unserer Identitat in den anderen spiegeln und ihnen mit bestimmten Masken imponieren.

22

Vgl. Kap. 25.1 ,2uschreibung eines sozialen Status" und 25.3 ,JDefinitionsmacht".

Ich habe nie schauspielern mussen, well es nichts Schoneres gibt, als normal zu sein. Uwe Seeler 1

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Spiegel und Masken

24.1

Theoretische Vorbemerkung liber Interaktion, Interpretation und die Verkettung von Definitionen Strauss: Die Einbettung der Identitat in die soziale Organisation des Lebens Soziale Identitat: Statusarten, Verortungen, Erklarungen

24.2 24.3

Das Buch „Mirrors and Masks" des damaligen Chicagoer Soziologen ANSELM STRAUSS (1916-1996) steht in der Tradition GEORGE HERBERT MEADS, dessen Beitrage zur Sozialpsychologie er kurz zuvor schon (Strauss 1956) herausgegeben hatte. Vor allem aber war es die Theorie des Schiilers und Nachfolgers von Mead, HERBERT BLUMER, von dem er an der University of Chicago promoviert worden war, die Strauss bewog, „The Search for Identity", so der Untertitel seines Buches, nachzuzeichnen. Diese Theorie will ich kurz darstellen. 24.1

Theoretische Vorbemerkung iiber Interaktion, Interpretation und die Verkettung von Definitionen

FUr HERBERT BLUMER (1900-1987), den Namensgeber und eigentlichen Begriinder des Symbolischen Interaktionismus, ist „das menschliche Zusammenleben", wie er es spater einmal formuliert hat, „ein Prozess, in dem Objekte geschaffen, bestatigt, umgeformt und verworfen werden. Das Leben und das Handeln von Menschen wandeln sich notwendigerweise in Ubereinstimmung mit den Wandlungen, die in ihrer 1

Der friihere FuBballnationalspieler in einem Zeitungsinterview. (Westdeutsche Allgemeine Zeitung, 5.11.1986)

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Objektwelt vor sich gehen." (Blumer 1969, S. 91) Es gibt also nicht die objektive Realitat, sondem sie wird von Menschen als solche geschaffen. Blumer fasst Meads Erklarung, wonach die Beteiligten der Kommunikation sich den Sinn ihres Handelns iiber gemeinsame Symbole erschliefien und sich wechselseitig in die Rolle des anderen versetzen, genauer und sagt, dass sie damit einander anzeigen, wie sie die Situation verstehen und wie der andere sie verstehen soil. Sie produzieren in der Interaktion fortlaufend gemeinsame Symbole, an denen sie sich dann orientieren, die sie durch ihr Handeln bestatigen, revidieren und wieder neu definieren. Der Sinn der Interaktion wird fortlaufend ausgehandelt^, und es kommt zu einer gemeinsamen Definition der Situation. Diese Definition schafft objektive Handlungsbedingungen und strukturiert die weiteren Interaktionen. WILLIAM I. THOMAS, den Blumer als einen der geistigen Vater des Symbolischen Interaktionismus bezeichnet, hat die Kraft der Definitionen so ausgedrlickt: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind auch ihre Folgen real." (Thomas u. Thomas 1928, S. 114) Auf diesem sog. Thomas-Theorem basieren Blumers „drei einfache Pramissen" iiber das Handeln der Menschen: Sie handeln Dingen, wozu physische Gegenstande wie andere Menschen, Institutionen wie Ideen zahlen, gegeniiber auf der „Grundlage der Bedeutungen", die sie fiir sie haben. Zweitens sind die Bedeutungen solcher Dinge Ergebnis sozialer Interaktionen, in denen die Individuen miteinander gestanden haben, Oder entstehen erst in aktuellen. „Die dritte Pramisse besagt, dass diese Bedeutungen in einem interpretativen Prozess, den die Person in ihrer Auseinandersetzung mit den ihr begegnenden Dingen benutzt, gehandhabt und abgeandert werden." (Blumer 1969, S. 81) Interaktion ist Interpretation und ein formender Prozess, in dem jede einzelne Handlung und Interpretation jede andere bedingt. Dadurch, dass die Handelnden sich fortlaufend anzeigen, wie sie die Situation definieren, verketten Das ist keineswegs nur im Sinne einer bewussten Verhandlung gemeint. Blumer hat es in einem Seminar einmal am Beispiel der zwei Muhlsteine erklart: Was oben mit dem Kom passiert, hat Konsequenzen unten, und das wiederum bewirkt oben usw., usw. Blumer hat das Bild vom „milling process" tibrigens benutzt, um Massenverhalten zu erklaren. Danach registrieren wir kleinste Zeichen im Verhalten unserer Nebenleute als Definition, was als nachstes passieren konnte oder sollte, verhalten uns entsprechend und bestatigen damit das Verhalten der anderen.

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sich die einzelnen Handlungen. Dieser Begriff der Verkettung (»interlinkage«) ist durchaus wortlich zu verstehen, denn eine Handlung greift in die andere, ist Reaktion auf eine Handlung und Bedingung fur eine nachste. Jede Definition der Handlung bedingt die nachste. Die kontinuierliche Verkettung der Definitionen begriindet gemeinsames Handeln. Jedes Handeln geht notwendig „aus dem Hintergrund friiherer Handlungen der Teilnehmer" hervor. (Blumer 1969, S. 100) Jeder Handelnde bringt in die Interaktion einen Satz von Bedeutungen und Interpretationen mit, die er im Laufe seines Lebens kennengelemt hat. Jeder ist zu jedem Zeitpunkt seines Handelns in seine Biographie eingebunden. Deshalb ist in der Interaktion jeder Handelnde auch in die Biographie aller anderen eingebunden. „Gemeinsames Handeln stellt sozusagen nicht nur eine horizontale Verkettung der Aktivitaten der Teilnehmer dar, sondem auch eine vertikale Verkettung mit vorangegangenem gemeinsamen Handeln." (S. 101) Das ist die theoretische Basis des Buches „Spiegel und Masken". 24.2

Strauss: Die Einbettung der Identitat in die soziale Organisation des Lebens

Das Vorwort des Buches »Mirrors and Masks« beginnt mit dem folgenden Satz: „Identity as a concept is fully as elusive as is everyone's sense of his own personal identity." (Strauss 1959a, S. 9) Identitat als Vorstellung3 ist also genauso schwer zu fassen wie das GefUhl einer eigenen personlichen Identitat. Gleich im zweiten Satz erklart Strauss, warum Identitat so schwer zu fassen ist: „Identitat, was immer sie sonst sein mag, ist verbunden mit den schicksalhaften Einschatzungen seiner selbst - durch sich selbst und durch andere. Jeder prasentiert sich anderen und sich selbst und sieht sich in den Spiegeln ihrer Urteile. Die In der deutschen Fassung wird „concept" mit ,3egriff * ubersetzt. Nachdem ich den Bezug zu Blumers These, dass jede Interaktion davon bestimmt ist, wie die Handelnden sie fur sich definieren und fur einander entwerfen, hergestellt habe, vermute ich aber, dass Strauss mit „concept" nicht so sehr „Begriff', sondern tatsachlich „Konzept" im Sinne von ,£ntwurf' oder „Vorstellung" gemeint hat. Zu dieser Interpretation sehe ich mich auch ermuntert, weil Strauss sich ausdriickUch auf Goffmans dramaturgischen Ansatz (z. B. 1959a, Kap. Ill, Anm. 22 und 26) bezieht. Vgl. auch unten Kap. 27, Anm. 12.

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Masken, die er der Welt und ihren Burgem zeigt, sind nach seinen Antizipationen ihrer Urteile geformt. Auch die anderen prasentieren sich; sie tragen ihre eigenen Masken und werden ihrerseits eingeschatzt." (Strauss 1959b, S. 7) Und Strauss schlieBt ein schones Bild an, das auch etwas von der Uberraschung wiedergibt, wenn wir uns im Spiegel der anderen sehen und uns vor diesen Spiegeln in Positur setzen: „Das alles gleicht ein bisschen der Erfahrung des kleinen Jungen, der sich zum ersten Mai (ruhig und in Pose) in den vielen Spiegeln des Frisors Oder in dem dreiteiligen des Schneiders sieht." (ebd.)"^ Mit dem Bild der Spiegel und Masken ist auch der Ansatz schon angedeutet, den Strauss zur Erklarung des Prozesses der Identitat, denn das ist sie fiir ihn, verfolgt: Er will eine Sozialpsychologie betreiben, in der psychische Prozesse und symbolische Interaktion in Wechselwirkung mit der sozialen Organisation des Lebens gesehen werden. (vgl. Strauss 1959b, S. 9) Den Begriff der sozialen Organisation fasst Strauss iibrigens sehr weit. Im Grund ist damit die Tatsache gemeint, dass unser ganzes Denken und Handeln in sozialen Strukturen, wie konkret oder lose sie auch sein mogen, und Prozessen, wie spontan Oder langfristig auch immer, erfolgt. Deshalb betont Strauss auch, dass eine sozialpsychologische Analyse des Individuums immer auch die historische Perspektive einnehmen muss, und er sagt auch gleich, wie das Thema Identitat unter dieser Perspektive zu behandeln ist: „Ein Interesse an personlichen Stilen, Strategien und Karrieren - kurz, an personlichen Identitaten - verlangt ein paralleles Interesse an gemeinsamen oder kollektiven Identitaten, im Lauf der Zeit gesehen." (S. 190) Individuen gehoren immer bestimmten Gruppen an, und insofem implizieren Identitaten „nicht nur personliche, sondem auch soziale Geschichte". (S. 178) Der Mensch ist in „eine zeidiche Matrix" eingebettet, „die er nicht selbst geschaffen hat, die aber eigentumlich und subtil auf etwas von ihm selbst Geschaffenes bezogen ist - namlich auf seine Auffassung der Vergangenheit als Bestimmung seiner selbst." (Strauss 1959b, S. 179) Darauf komme ich gleich noch einmal zuriick. Weil Strauss von der Einbettung der Identitat in soziale Prozesse ausgeht, richtet er sein Augenmerk auch nicht auf „Struktur oder OrgaStellen Sie sich vor, wie jemand Ihnen eine gute Geschichte iiber sich erzahlt und plotzlich bemerkt, dass ein Dritter Sie beide mit seinem Camcorder ins Visier nimmt. Denken Sie an die Worte „Spiegel" und ^Masken".

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nisation der Personlichkeit", und seine soziologisch fundierte Arbeit handelt deshalb auch nicht von »Ich-Identitat« - das war das Thema der parallelen Diskussion seinerzeit, die von der Entwicklungstheorie des Psychoanalytikers ERIK H . ERIKSON^ beherrscht wurde - , sondem davon, „wie Personen mit anderen Personen verflochten sind und dadurch beeinflusst werden und sich gegenseitig beeinflussen." (Strauss 1959b, S. 11) Das war die These von Blumer. Eine wesentliche Form der wechselseitigen Beeinflussung ist die Sprache. In ihr bringen wir zum Ausdruck, wie wir die anderen sehen und wie wir uns selbst sehen. Sprache definiert, klassifiziert und bewertet Situationen und Personen. So wie wir mit einem Namen Personen „definieren", so klassifizieren wir im Grunde mit jedem Satz uns, die anderen, die Situation und die Geschichte der Verhaltnisse, auch wenn uns das nicht bewusst ist: „Wenn wir klassifizieren, stehen unsere Erwartungen notwendig Vergangenheit und Zukunft gegentiber. Erwartungen haben mit folgenreichen Beziehungen zwischen uns und dem Objekt zu tun. Doch Erwartungen beruhen auch auf Erinnerungen an vergangene Erfahrungen mit Objekten, die - so glauben wir - den gegenwartigen gleichen." (Strauss 1959b, S. 21) Erwartungen, die wir wechselseitig hegen, sind wertende Schllisse, die wir aus Erfahrungen gezogen haben, und wertende Einschatzung der Zukunft. Letzteres kam in dem schon zitierten Satz zum Ausdruck, dass die Masken, die wir den anderen zeigen, nach der Antizipation ihrer Urteile geformt sind. 24.3

Soziale Identitat: Statusarten, Verortungen, Erklarungen

Auf der „Suche nach Identitat" betrachten wir die anderen als Spiegel, die das Bild, was wir geme von uns vermitteln mochten, reflektieren. Sie sind es mit ihren Erwartungen, Anerkennungen und Sanktionen, die unsere Identitat von auBen formen. Ihre Reaktionen registrieren wir nicht nur, sondem wir antizipieren sie und formen danach unser Bild von uns. Naturlich gilt das wechselseitig fur ego und alter. Strauss bringt diese Wechselseitigkeit der Erwartungen und Reaktionen der Ihm bescheinigt Strauss iibrigens in seiner allerersten Anmerkung, dass er den Begriff der Identitat in brillanter Weise benutzt, aber ebenfalls beklagt habe, dass seine BezUge auBerst vage sind. (vgl. Strauss 1959b, S. 7, Anm. 1 unter Bezug auf Erikson (1956): The Problem of Identity.)

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Individuen mit zwei Zeilen aus einem Gedicht von SON6 zum Ausdruck:

RALPH W . EMER-

Each to each a looking-glass Reflects the other that doth pass^ Das Bild des Spiegels, den wir fUreinander darstellen und in dem wir uns selbst erkennen, ist ein haufiger Topos der Literatur und der anderen WissenschaftenS vom Menschen. Statt vieler anderer zitiere ich nur die drei folgenden Menschenbeobachter. Der Humanist MICHEL DE MONTAIGNE (1533-1592), der sich in seinen „Essais" die Frage stellte, wie der Mensch sich selbst finden konne, stellte fest: „Die ganze Welt ist unser Spiegel, in dem wir uns betrachten miissen, um den richtigen Blick fiir die Selbstbeobachtung zu bekommen." (Montaigne 1580, I. Buch, 25. Kapitel, S. 58) Der alte JoHANN WOLFGANG VON GOETHE schrieb auf dem Hohepunkt der deutschen Romantik gegen die gerade zitierte Maxime liber dem Eingang zum Apollotempel in Delphi folgendes: „Hiebei bekenn' ich, dass mir von jeher die groBe und so bedeutend klingende Aufgabe: erkenne dich selbst, immer verdachtig vorkam, als eine List geheim verbiindeter Priester, die den Menschen durch unerreichbare Forderungen verwirrten und von der Tatigkeit gegen die AuBenwelt zu einer inneren falschen Beschaulichkeit verleiten wollten. Der Mensch kennt nur sich selbst, insofem er die Welt kennt, die er nur in sich und sich nur in ihr gewahr wird. Jeder neue Gegenstand, wohl beschaut, schlieBt ein neues Organ in uns auf. Am allerfordersamsten aber sind unsere Nebenmenschen, welche den Vorteil haben, uns mit der Welt aus ihrem StandDas Werk des amerikanischen Dichters und Philosophen RALPH WALDO EMERSON (1803-1882), einem der wichtigsten Vertreter der Romantik in Amerika, kreist um Themen wie kulturelle Identitat, Individualismus oder Gesellschaft und Einsamkeit. Ursprunglich wollte Emerson dem Gedicht den griechischen Titel „gnothi seauton" (,£rkenne dich selbst!") geben. (Emerson 1904, Vol. IX, p. 428) Da er aber befurchtete, dass nur wenige diese Worte verstunden, wahlte er den Titel „Astraea". Das ist der lateinische Name fiir die Gottin der Gerechtigkeit, die als letzte das heruntergekommene Menschengeschlecht verlieB und nun am Himmel als Stembild der Jungfrau thront. Emerson 1847, S. 994. Der Ubersetzerin von ,Mirror and Masks" scheint nicht ganz klar zu sein, wem dieses Zitat (S. 34) zuzuordnen ist. Die Ubersetzung (, Jeder fiir jeden ein Spiegel / Gibt den anderen wieder") steht jedenfalls an einer falschen Stelle. (S. 26) Fiir die Soziologie hat z. B. Janpeter Kob (1979) die Diskussion nachgezeichnet.

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punkt zu vergleichen und daher nahere Kenntnis von uns zu erlangen, als wir selbst gewinnen mogen. Ich habe daher in reiferen Jahren groBe Aufmerksamkeit gehegt, inwiefem andere mich wohl erkennen mochten, damit ich in und an ihnen, wie an so viel Spiegeln, liber mich selbst und liber mein Inneres deutlicher werden konnte." (Goethe 1823, S. 38)9 Und da der Mensch nicht mit einem eigenen Spiegel auf die Welt gekommen ist und auch nicht in philosophischer Selbstgenligsamkeit »Ich bin ich«io sagen konne, „bespiegelt sich der Mensch zuerst in einem andren Menschen." Das war die Uberzeugung von KARL MARX. (Marx 1867, S. 67 Anm. 18) Kehren wir zu dem Zitat von Emerson zurlick, an das Strauss unmittelbar so anschhefit: „Die Zuschauer, die reagieren werden, mogen anwesend oder abwesend sein; sie konnen spezifische andere Personen Oder so generalisiert sein wie die Aquivalente von »man« oder »die Gotter«; sie mogen lebendig sein oder seit langem tot (»Was wlirde sie dazu gesagt haben?«) oder noch nicht geboren (»Was werden sie sagen?«). Solche Vorwegnahmen der Antworten anderer" gehen in die Organisation der Handlung ein. (Strauss 1959b, S. 34) Wir setzen entsprechende Masken auf, mit denen wir zeigen, wer wir unter ihren Erwartungen sein woUen. Masken sind Symbole unserer Identitat. Strauss nimmt nun an, „dass der Modus der Interaktion sich zu jeder Zeit oder in jeder Phase der Interaktion andert und nicht flir ihre gesamte Dauer der gleiche bleibt." (Strauss 1959b, S. 76f.) Wir andem unsere Haltung vor dem Spiegel, und die Spiegel verschieben sich ebenfalls kontinuierlich. Diese von den Spiegeln reflektierte Stellung nennt Strauss Status. Es ist die soziale Identitat in einer Interaktion. Der Status kann ganz viele Facetten haben. Strauss spricht von Statusarten. Wir handeln in ein und derselben Situation nacheinander oder gleichzeitig in unterschiedlichen Statusarten, die wir flir uns bewusst oder unbewusst in Anspruch nehmen oder zu denen uns die anderen mit ihren Erwartungen und sozialen Definitionen ebenso bewusst oder unbewusst notigen. Am Anfang des Abendessens, zu dem uns die neuen Nachbam eingeladen haben, spielen wir die Rolle des freundlichen 9

Vielleicht waren es auch diese Bedenken Goethes, die Emerson zogern lieBen, die Uberforderung am Apollotempel zu wiederholen! 10 Die Kritik richtete sich gegen den Transzendentalphilosophen Johann Gottlieb Fichte, der in der „Selbstsetzung" eines „absoluten Ichs" den Kernpunkt des menschlichen Wissens sah. (Vgl. oben Kap. 19, Anm. 2.)

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Neugierigen, dann die RoUe des wohlwollenden, allwissenden Alteingesessenen, ehe wir vorsichtig ausloten, wie die Neuen wohl darauf reagieren, wenn wir ihnen sagen, dass wir mit anderen Nachbam gar nicht gut auskommen, um ihnen schlieBlich von unseren Sorgen erzahlen, die wir mit unseren Kjndem haben. Wenn wir uns in jeder einzelnen Phase unseres Auftritts vor den Anderen vorstellen, wie sie wohl in diesem AugenbUck auf uns reagiert haben, welche Erwartungen bei ihnen entstanden sind und welche Identitat sie uns damit zugewiesen haben, dann diirfte klar sein, dass Identitat im Spiegel der anderen haufigen Statuswechsel impliziert. Und Goffmans Analysen haben gezeigt, dass wir tunlichst auch kontrollieren, ob unser Handeln mit dem Status, in dem wir uns befinden, zusammenpasst. In freien Interaktionsformen gehen Personen von einem Status zum anderen tiber, und sie wissen auch, wie sie sich der Situation entsprechend zu verhalten haben: „In bestimmten Interaktionsarten kennen die Teilnehmer vorher die verschiedenen Statustypen, die vertreten sein werden, und, wie in religiosen Ritualen, sogar die genaue zeitliche Anordnung der Handlung." (Strauss 1959b, S. 80) Wenn ich mich zum Traualtar begebe, weiB ich, wer welchen Status innehat und wie er sich dementsprechend wohl auch verhalten wird. Doch die allermeisten Interaktionen sind nicht so streng geregelt, und „fUr die meisten Zwecke braucht die Gesellschaft den Personen ihren Status nicht so streng zuzuweisen oder formale Mechanismen anzuwenden, damit sie sich anstandig und angemessen benehmen." (ebd.) In fast alien Situationen des Alltags wissen wir, was man von uns erwartet und wie wir uns verhalten sollen. Wurden wir uns fragen, was unsere soziale Identitat in solchen Situationen ist, wurden wir uns eine ungefahre Antwort geben, wie wir sie uns in dhnlichen Situationen immer geben. Die soziale Identitat ist das typische Bild, das andere in einer typischen Situation von uns haben und das wir als solches wiedererkennen und uns zurechnen.n Und auch mit neuen Erwartungen der anderen kommen wir deshalb in der Regel zurecht, indem wir bewusst oder unbewusst auf ihre ebenfalls bewussten oder unbewussten typischen Re11

Das erinnert naturlich an die reflektierte Seite des Individuums, die Mead „me" nennt. Nimmt man den Gedanken hinzu, dass wir uns das typische Bild, das andere von uns haben, sukzessive selbst zurechnen, kann man den Begriff des „me" durchaus mit „soziale Identitat" gieichsetzen. (Vgl. dazu oben Kap. 19.4 „Zwei Seiten des Ichs: »I« und »me«", Anm. 8.)

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gieanweisungen reagieren, wer wir sein sollen. Das meinte Blumer mit den wechselseitigen Definitionen der Situation. In jeder Interaktion wird die Situation fortlaufend von alien Beteiligten definiert, und das bedeutet auch, dass der Status definiert wird, den jeder haben soil und der bestimmtes Handeln festlegt. Der schweizerische Schriftsteller M A X RRISCH (1911-1991), der wusste, wie Menschen ihre Identitat entwerfen und die der anderen herbeihandeln, hat es so ausgedriickt: „In gewissem Grade sind wir wirklich das Wesen, das die anderen in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt: Auch wir sind die Verfasser der anderen; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich fiir das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht fiir die Anlage, aber fur die Ausschopfung dieser Anlage. Wir sind es, die dem Freunde, dessen Erstarrtsein uns bemtiht, im Wege stehen, und zwar dadurch, dass unsere Meinung, er sei erstarrt, ein weiteres Glied in jener Kette ist, die ihn fesselt und langsam erwurgt. Wir wunschen ihm, dass er sich wandle, o ja, wir wUnschen es ganzen Volkem! Aber darum sind wir noch lange nicht bereit, unsere Vorstellung von ihnen aufzugeben. Wir selber sind oft die letzten, die sie verwandeln. Wir halten uns fiir den Spiegel und ahnen nur selten, wie sehr der andere seinerseits eben der Spiegel unseres erstarrten Menschenbildes ist, unser Erzeugnis, unser Opfer." (Frisch 1985, S.29) Was sich in jeder Interaktion nachweisen lasst, fallt in einer sozialen Gruppe besonders auf. Da ihre Mitglieder sich in der Regel iiber einen langeren Zeitraum kennen und in einer dauerhaften Interaktion zueinander stehen, bleibt es gar nicht aus, dass Gruppen „ihre Mitglieder in alle Arten vorlaufiger Identitaten hinein- und aus ihnen herauszwingen" konnen, und sie tun es auch. (Strauss 1959b, S. 81) Das nennt Strauss Statuszwang. Wem zwanzig Jahre lang eingeredet wurde, dass er sich durch seine gleichbleibende Freundlichkeit vor alien anderen Kollegen auszeichnet, der scheut schlieBlich nicht nur den Konflikt mit den anderen, sondem vergisst vielleicht auch die aggressiven Wiinsche, die ihn lange geplagt haben. Die soziale, zugewiesene Identitat iiberlagert das Bewusstsein der eigenen Identitat. Im Grunde impliziert „Interaktion von Natur aus den Statuszwang" (Strauss 1959b, S. 87), was aus Blumers These der wechselseitigen Definition auch verstandlich ist: Wir definieren die Situation und uns wechselseitig so, um ein bestimmtes Verhalten herbeizufiihren. Dazu

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ein Beispiel: Wenn mich die Politesse auf dem Behindertenparkplatz erwischt, werde ich mich vielleicht im Status des armen SUnders prasentieren, der nur ganz ausnahmsweise und in hochster Eile hier gelandet ist, und sie mit dem Zuspruch, dass sie natUrlich vollig Recht hat, in die RoUe der absoluten Herrscherin drangen, die Gnade vor Recht ergehen lassen moge. NaturHch kann ich mein Gluck nicht zwingen (und Politessen schon gar nicht!), aber versuchen kann man es ja mal. Die Interaktion ist ein kompUziertes Wechselspiel von sozialen Anspriichen an Statusarten, damit verbundenen BewilHgungen und KontroUen und individuellen Strategien der Zustimmung oder Verweigerung. (vgl. Strauss 1959b, S. 92f.) In diesem Spiel wird die soziale Identitat immer neu „verortet". Wir verorten uns selbst, indem wir mit einer bestimmten Maske das Thema und den Rahmen unseres Handelns und damit unsere personale Identitat andeuten, und wir werden durch die anderen verortet, die mit ihren Erwartungen, Kontrollen und Zugestandnissen unseren sozialen Status definieren. In ihren Erwartungen spiegeln wir uns und entscheiden, ob wir das soziale Bild von uns in unser Selbstbild ubemehmen, weil wir z. B. dadurch die soziale Zustimmung erhalten, oder ob wir es korrigieren, um unsere personale Identitat ins Spiel zu bringen oder wenigstens zu schutzen. In diesem Wechselspiel muss auch eine Identitat verortet werden, die wir nur auf Zeit haben. So sind wir z. B. nur fur eine bestimmte Phase Jugendlicher, Kranker oder Trauemder. Mit diesem Status wird uns nicht nur eine bestimmte Identitat zugeschrieben, wer wir also „sind" und wie wir uns selbst zu sehen haben, sondem auch ein bestimmtes Verhalten abverlangt. Es gibt gesellschaftliche Vorstellungen davon, wie man sich als Jugendlicher verhalten sollte und wie lange man in dieser Phase verweilen darf. Das mag so diffus sein, wie es will, jedenfalls merken wir, dass es nicht nur unsere eigenen Vorstellungen sind, von denen unser Bild als Jugendlicher abhangt. Auch flir die soziale Identitat als Kranker gibt es gesellschaftliche Vorstellungen. Uber bestimmte Krankheiten kann man offen reden, andere sollte man besser vorsichtig umschreiben. Und wenn man krank ist, dann wird erwartet, dass man diese Facette der Identitat nicht ubertreibt und dass man signalisiert, wann diese Identitat nicht mehr gilt. Strauss beschreibt dieses Wechselspiel von sozialen Erwartungen an eine bestimmte Statusart auf Zeit und angemessenem eigenen Anzeigen der sozialen Identitat am Beispiel eines Trauemden. „Da die trauemde

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Person in der einen Phase anders handelt als in einer anderen (oder dies von ihr erwartet wird), ist es wesentlich, dass andere wissen, in welcher Phase sie sich befindet, und dass sie den anderen diese Information gibt. Sie muss sich letztHch ftir die anderen identifizieren." (Strauss 1959b, S. 136f.) Gegen den moghchen Wunsch, die eigene Identitat ganz liber die Trauer zu definieren, steht die soziale Erwartung einer angemessenen Form, Dauer und Bewertung von Trauer. Die Erwartung der angemessenen Bewertung beinhaltet, dass das Individuum auch zeigt, welche Facette der sozialen Identitat zur Zeit die entscheidende ist. Das Beispiel zeigt, dass die Identitat selbst bei einem so individuellen und intimen Ereignis in die soziale Organisation des Lebens eingebunden ist. Das Individuum wird „sozial verortet", indem man es mit bestimmten „sozialen Substantiven" kennzeichnet. (Stone u. Hagoel 1978, S. 47) Mit diesen Etiketten einer sozialen Identitat, heiBen sie nun Mann, Fliichtling oder MauerblUmchen, ist die Erwartung verbunden, dass die so bezeichnete Person ein bestimmtes, konsistentes Verhalten zeigt. Und nattirlich kann sich auch die Person selbst mit solchen sozialen Substantiven einen bestimmten Status zuschreiben, den sie durch ein entsprechendes Verhalten den anderen gegenliber zum Ausdruck bringen will. 12 Die Spiegel und die Masken bedingen sich wechselseitig. Und man darf auch nicht vergessen, dass an dieser Verortung der Identitat nicht nur ein konkretes ego und konkrete alter beteiligt sind, sondem viele andere. Wir spielen vielleicht unbewusst die Rolle mit, die wir friiher in einer ahnlichen Situation gespielt haben, oder nehmen schon eine Rolle vorweg, wie wir sie geme einmal spielen wollen. Vielleicht meinen wir auch gar nicht den, liber den wir uns gerade so aufregen, sondem einen anderen, an den wir uns nicht rantrauen, oder vielleicht wollen wir unbewusst symbolisch etwas wiedergutmachen, was wir friiher versaumt haben. Interaktion ist immer auch Interaktion mit „unsichtbaren Dritten", heiBt es bei Strauss, und man kann hinzufligen: Identitat spiegelt sich nicht nur nacheinander, sondem auch gleichzeitig vor vielen anderen: „Obwohl nur zwei Hauptdarsteller auf der Biihne stehen, sind auch andere, nur dem Publikum oder einem der beiden Akteure sichtbare Spieler anwesend. Somit kann sich jeder Dar12

Um diese Behauptung einer neuen Identitat geht es in Kap. 27.3 „tJber Konversion, Umwandlungen und Therapie".

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steller, indem er sich auf den anderen einstellt, zugleich auf einen unsichtbaren Dritten einstellen, als ware dieser tatsachlich anwesend." (Strauss 1959b, S. 58) Jede Person „tritt mit mehr Identitaten als mit ihrem Korper allein in eine Situation ein" (Stone u. Hagoel 1978, S. 49), und sie spielt vor mehr als einem Spiegel. Die wechselseitigen Erwartungen sind deshalb zumindest komplex, oft aber auch widerspriichlich. Das merkt man spatestens dann, wenn das Verhalten des einen den Erwartungen des anderen nicht entspricht. Dann ist die soziale Definition einer Statusart zunachst einmal unterbrochen, und alter fragt, was die Motive sein konnten, warum sich ego anders als erwartet verhalt, wahrend ego an seine Identitatsarbeit geht. Naturlich ist auch der Fall denkbar, dass es jemandem vollig egal ist, was die anderen erwarten und was sie von ihm denken, aber der Normalfall ist doch wohl der, dass man „praktische Erklarungen" (Scott u. Lyman 1968)13 abgibt, warum man sich anders als erwartet verhalten hat. Man entschuldigt sich, wenn man die Erwartungen der anderen fur legitim halt, die Definition der Situation also akzeptiert, oder rechtfertigt sich, wenn man andere Motivgriinde dagegensetzt. Die erste Form, die Kluft zwischen Erwartung und Handlung, zwischen zugeschriebener und prasentierter Identitat zu tiberbriicken, stellt den Status quo ante (vgl. S. 85) wieder her, repariert also die beschadigte soziale Identitat, die zweite definiert den Rahmen um, in der eine andere Identitat gelten soil. Und wieder beginnt der Prozess der Spiegelung und der Maskerade. Das Individuum muss aus den Reaktionen der anderen ablesen, in welcher sozialen Identitat es ab hier angesehen wird, ob man seine Entschuldigung bzw. seinen neuen Identitatsentwurf akzeptiert oder nicht. Aus dieser Spiegelung ergibt sich dann, mit welchen Masken man weitermacht. Und denken wir daran, was wir oben im Anschluss an die deutliche These von ROBERT EZRA PARK gelesen haben: Wir wahlen nicht irgendeine Maske, sondem immer die, die unser Bild von uns, wie wir unbewusst sein wollen, prasentiert. Dass wir uns mit einer Maske manchmal sogar schiitzen miissen, ist das Thema des nachsten Kapitels. Dort geht es um reale und befurchtete Beschadigungen der Identitat. 13

Scott und Lyman zeigen auch, dass solche Erklarungen in einer sprachlich angemessenen Form abgegeben werden miissen, um akzeptiert zu werden, und dass Identitaten vor allem sprachlich ausgehandelt werden.

25

Beschadigungen und mogliche Gefahrdungen der sozialen Identitat

25.1 25.2 25.3 25.4

Zuschreibung eines sozialen Status Goffman: Virtuelle und tatsachliche soziale Identitat Definitionsmacht Diskreditierte: Korrekturen und doppelte Konstruktion von Normalitat Diskreditierbare: Tauschen und Informationskontrolle

25.5

Beim Schauspiel der Identitat, wie es ERVING GOFFMAN beschrieben hat, haben wir gesehen, dass die Individuen fortlaufend kontrollieren miissen, welchen Eindruck sie tatsachlich erwecken, damit sie weiter so handeln konnen, wie sie handeln wollen, und welche Korrekturen sie dabei vomehmen, wenn sie sich mit Erwartungen konfrontiert sehen, die sie fiir unangemessen halten. Bei ANSELM STRAUSS ist deutlich geworden, dass wir uns zwar in bestimmten Masken prasentieren, um einen bestimmten Eindruck zu erwecken, dass wir aber immer auf die sozialen Spiegel reagieren. SchlieBlich habe ich im Zusammenhang mit HERBERT BLUMERS These, dass Interaktionen von wechselseitigen Definitionen zusammengehalten werden, das Thomas-Theorem erwahnt: „Wenn Menschen Situationen als real definieren, sind auch ihre Folgen real". (Thomas u. Thomas 1928, S. 114) Wer eine Handlungssituation, z. B. eine Priifung, von vomherein als aussichtslos definiert, wird seinen Prtifer erst gar nicht mit verwegenen Thesen reizen, wer sich sicher ist, dass die da oben sowieso mit uns machen, was sie wollen, darf sich nicht wundem, wenn die da oben ... Um dieses Gewicht des Glaubens, wie eine Situation ist, und das daraus folgende Zutrauen eigenen Handelns geht es im folgenden zwar auch. Das Hauptaugenmerk soil aber auf der Tatsache liegen, dass in dieser Definition der Situation auch Macht im Spiel ist, und dass wir manchmal gezwungen sind, strategisch vorzugehen, um unsere soziale Identitat vor Ubergriffen zu schiitzen. Ich betrachte das Thema „Definition der Wirklichkeit" deshalb zunachst von auBen unter dem Aspekt der Zuschreibung einer sozialen Identitat.

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Beschadigungen und mogliche Gefahrdungen der sozialen Identitat Nicht allein das Angeborene, sondem auch das Erworbene ist der Mensch. Johann Wolfgang von Goethe (1829) 1

25.1

Zuschreibung eines sozialen Status

Erwartungen haben eine strukturierende Kraft. Das war vor allem bei HERBERT BLUMER, aber auch bei TALCOTT PARSONS und bei ANSELM STRAUSS ZU lesen. Identitat ist nicht nur das, was wir selbst an uns selbst dafur halten, sondem auch das, was von anderen uber uns gedacht wird. Das war mit dem Bild des Spiegels bei Strauss gemeint. Dort tauchte auch der Gedanke auf, dass die anderen uns eine bestimmte Identitat zuschreiben und ein entsprechendes Verhalten erwarten. Auf diese Art der Festlegung hatte schon der amerikanische Kulturanthropologe RALPH LINTON (1893-1953) mit seiner Unterscheidung zwischen einem zugeschriebenen und einem erworbenen Status hingewiesen. In der Tradition der vergleichenden Kulturanthropologie halt Linton fest, dass der kulturelle Hintergrund die PersonUchkeit pragt. In jeder Gesellschaft gibt es ein spezifisches Wertesystem, das auch regelt, wie psychische und soziale Bediirfnisse befriedigt werden sollen. Die strukturelle Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft nimmt Linton mit der These in den Blick, dass es in jeder Gesellschaft bestimmte Platze gibt, die unabhangig von den Individuen existieren und ein bestimmtes Verhalten festlegen. Den Platz, „den ein Individuum zu einer bestimmten Zeit in einem bestimmten System einnimmt", nennt Linton Status und „die Gesamtheit der kulturellen Muster (...), die mit einem bestimmten Status verbunden sind", Rolle. (Linton 1945, S. 252) Der Einzelne muss also eine Rolle spielen, wie sie sich von der strukturierenden Vorgabe eines Status aus ergibt. Linton fragt nun, wie man uberhaupt zu einem sozialen Status kommt. Seine Antwort kommt in der beruhmten Unterscheidung zwischen einem zugeschriebenen (»ascribed«) und einem erworbenen (»achieved«) Status zum Ausdruck. „Ascribed statuses are those which are assigned to individuals without reference to their innate differences or abilities. They can be predicted and trained for from the moment of 1

Johann Wolfgang von Goethe (1829): Maximen und Reflexionen, 1219

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birth. The achieved statuses are, as a minimum, those requiring special quahties, although they are not necessarily limited to these. They are not assigned to individuals from birth but are left open to be filled through competition and individual effort." (Linton 1936, S. 115) Der ascribed status resultiert aus kulturellen Annahmen uber die Bedeutung von Alter, Geschlecht, Herkunft und ahnlichem^, der achieved status beruht dagegen auf individueller Leistung. Ein Beispiel fiir den Effekt eines zugeschriebenen Status ist die Erwartung, dass ein Kind aus gutem Haus auch bessere Leistungen in der Schule erbringt, oder die umgekehrte Erwartung, dass man von einem Kind aus der Obdachlosensiedlung solches von vomherein nicht erwarten kann.3 Der zugeschriebene Status ist Teil der sozialen Identitat, denn Zuschreibungen verorten und bewerten das Individuum und definieren durch entsprechende Erwartungen an sein Verhalten auch das Bild, das es von sich selbst hat oder haben sollte. Ein Beispiel: Wer 80 Jahre alt ist, hat in einer statischen Gesellschaft einen hoheren Status, weil er auf eine groBere Erfahrung zurlickblicken kann, aber in einer dynamischen Gesellschaft mit Jugendlichkeitstouch sieht das ganz anders aus. Dass mit der Feststellung, ein Mann oder eine Frau zu sein, in gottlob vergangenen (hoffe ich doch!) Zeiten auch definiert war, was sie zu sein hatten, kennen Sie sicher noch aus der Schulzeit oder vom Horensagen. Zwei Kostproben: In „Hermann und Dorothea" steht der Satz „Dienen leme beizeiten das Weib", und das „Lied von der Glocke" stellt fest, dass der Mann beizeiten hinaus ins feindliche Leben muss.

2 3

Um dieses „ahnliche" geht es gleich beim Thema „Stigma". Wie das funktioniert, hat das Experiment,J^ygmalion im Klassenzimmer" (Rosenthal und Jacobson, 1968) gezeigt. Lehrern wurden zwei Gruppen von Kindern zugeteilt. Von der ersten Gruppe hieB es, sie hatte bei einem Leistungstest besonders gute Ergebnisse, von der zweiten, sie hatte nur unterdurchschnittliche Leistungen gezeigt. In Wahrheit unterschieden sich die Leistungen dieser Kinder uberhaupt nicht. Als man dann nach einem halben Jahr diese beiden Gruppen testete, zeigte sich, dass ihre Leistungen tatsachlich dem entsprachen, was man ihnen vorher „zugeschrieben" hatte. Die Erklarung liegt auf der Hand: Positive Erwartungen fuhren zu wohlwollender Unterstutzung und spornen zu besonderen Leistungen an, negative fUhren zu Unterforderung und demotivieren. (Versuchen Sie bitte nicht, dieses soziale Experiment zu wiederholen! Es lasst sich moralisch nicht rechtfertigen.)

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Auch der Status, den man aufgrund individueller Leistung erreicht, hangt von sozialen Bewertungen ab. Natiirlich kann ich mich flir den groBten halten, wenn ich es 24 Stunden in einem Kafig mit hungrigen Coyoten ausgehalten habe, aber wenn alle anderen das fur Unsinn halten, relativiert sich die Leistung erhebhch. Auch die hochst individuelle Leistung, durch die ich mich vor alien anderen auszeichne, bedarf der sozialen Anerkennung, sonst hat sie in der Spannung zwischen Individuum und Gesellschaft auf Dauer keinen Bestand. Erst durch die Erfahrung der sozialen Bewertung wird der erworbene Status Teil der sozialen Identitat. 25.2

Goffman: Virtuelle und tatsachliche soziale Identitat

An der Differenzierung der beiden Feststellungen des sozialen Status ist deutlich geworden, dass die Identitat des Individuums zu einem erheblichen Teil von den Zuschreibungen seiner Mitmenschen abhangt. Um diesen Prozess der Definition von auBen und die Reaktionen des Individuums auf abtrdgliche Definitionen geht es ERVING GOFFMAN in seinem Buch „Stigma" (1963). Er beschreibt den Vorgang der Definition so: „Die Gesellschaft gibt uns vor, nach welchen Kjriterien wir Personen einordnen, und nennt uns auch gleich die Attribute, die wir bei ihnen als natiirlich und normal erwarten konnen. Soziale Situationen definieren den Typ von Menschen, dem man aller Wahrscheinlichkeit nach dort begegnet. Die Handlungsroutinen in definierten Situationen erlauben uns, erwarteten Anderen zu begegnen, ohne dass wir ihnen besondere Aufmerksamkeit schenken miissten. Selbst wenn uns ein Fremder begegnet, dann stellen wir uns nach den ersten Eindrticken eine »soziale Identitat« vor, die mit den Kategorien und Attributen konstruiert wird, die wir kennen." (Goffman 1963, S. 2)4 Der Andere, dem wir begegnen, ist uns im Grunde also nicht vollig neu, sondem wir greifen auf „ahnliche" Situationen zurtick und ordnen ihn gleich in ein Schema ein. Er wird charakterisiert und verortet nach unseren Vorerfahrungen mit Menschen dieser Art in solchen SituatioGoffman spricht deshalb lieber von »sozialer Identitat« als von »sozialem Status«, well damit neben strukturellen Attributen (z. B. Beruf) des Individuums auch personliche (z. B. Ehrlichkeit) angesprochen werden, die mit seiner besonderen Biographie und seiner Personlichkeit zu tun haben. (1963, S. 2)

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nen. Damit meine ich, dass wir im Alltag normalerweise in einer „naturlichen Einstellung" denken: Die Wirklichkeit ist so, wie wir sie kennen; die anderen sehen sie genauso, wie wir, weil wir in einer gemeinsamen Welt leben, deren Bedeutungen uns vertraut sind und in der sich die Erfahmngen gleichen.5 Deshalb erfolgen auch die Definitionen des Anderen nach unseren Typisierungen im Gestus des „das weiB jeder" Oder „der ist so". Unser Handeln dem Anderen gegeniiber erfolgt auf der Basis des „wie gewohnt" und des „und so weiter".^ Aus unseren individuellen Erfahmngen erwachsen generelle Erwartungen. Die Konsequenzen fiir die Definition des Anderen und seines Verhaltens liegen auf der Hand: Die „sicheren" Erwartungen wandeln sich unmerkHch in „normative Erwartungen, in zu Recht erhobene Anspriiche" um. (Goffman 1963, S. 2) Erinnem wir uns an die These von WDLLIAM I. THOMAS, dann ist auch die Relevanz dieser normativen Erwartungen klar: Sie bewirken eine bestimmte soziale Identitat des Anderen. Sie wird durch unsere „berechtigten Anspriiche" konstmiert! Goffman fahrt fort: „Normalerweise denken wir naturiich nicht darliber nach, dass wir solche Anspriiche erheben und was sie bedeuten. Erst wenn die Frage auftaucht, ob sie erfiillt werden oder nicht, werden sie uns bewusst. Erst dann machen wir uns wahrscheinhch klar, dass wir die ganze Zeit bestimmte Annahmen gemacht haben, was und wie unser Gegeniiber sein sollte." (Goffman 1963, S. 2, Hervorhebung H. A.) Wenn man genau hinsieht, bilden unsere ersten Annahmen von den Anderen in der Regel nicht ihre objektive Wirklichkeit ab, sondem sind Forderungen, die aus einer konstruierten Wirklichkeit resultieren. Wegen dieser Differenz nennt Goffman sie auch „abgeleitete" (»in effect«7) Forderungen. Und auch wenn wir einem Individuum einen bestimmten „Charakter" zuschreiben, dann sollten wir nicht vergessen, Das ist in Kurzform die Erklarung der naturlichen Einstellung zur Welt, die der Phanomenologe Alfred Schtitz (1932, 1975) geliefert hat. Genaueres dazu in Abels 1998, Kap. 3.5 „Die Lebenswelt der natUrlichen Einstellung". Auch das kann man bei Schiitz, hilfsweise auch in Abels 2004, Bd. 2 Kap. 5.7 ,£thnomethodologie: Methodisches im Alltagshandeln" nachlesen. Uber diese (ironisierenden?) Anfiihrungszeichen habe ich lange mit Kollegen und besonders mit Frank Brockmeier, dem ich herzlich danke, gegrtibelt. Ich interpretiere die Aussage jetzt im Sinne des lateinischen Begriffs „efficere" - „hervorbringen, bewirken". Danach meint „in effect" die Ableitung aus unseren Vorannahmen, die etwas bewirkt, also das Konstrukt, das dann de facto etwas bewirkt, wie es in der zitierten These von William I. Thomas mitgedacht wird.

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dass es sich um eine „abgeleitete" Charakterisierung handelt, die im latenten Ruckgriff auf unsere Vorannahmen erfolgt. Unter dieser Perspektive der Konstruktion, die dann tatsachlich auch etwas beim Anderen bewirkt, lese ich auch Goffmans Unterscheidung der sozialen Identitat: • Die aus unseren Annahmen, wie jemand nach unseren Erfahrungen eigentlich sein sollte, resultierende Identitat nennt Goffman virtuelle (»virtual«) soziale Identitat. Es ist das Bild, wie er nach unseren ungepruften Vorerfahrungen mit Menschen dieser Art eigentUch sein miisste.s • Die Einordnung nach Uberprufbaren sozialen Kategorien und tatsachlich vorhandenen Eigenschaften bezeichnet Goffman als tatsdchliche (»actual«) soziale Identitat.^ Goffmans Buch »Stigma« handelt von der Definitionsmacht hinter der Zuschreibung der virtuellen sozialen Identitat und davon, wie Menschen mit einer beschadigten Identitat umgehen und welche tatsachliche soziale Identitat sie als Gegendefinition ins Spiel bringen. Daraufmachte der Herr dem Kain ein Zeichen, damit ihn keiner erschlage, der ihnfinde. Genesis 4, 15

25.3

DeHnitionsmacht

Goffman ist ein typischer Vertreter des „Definitionsansatzes", der mit dem Zitat von WILLIAM I. THOMAS eingangs schon angesprochen wurde. „Die Grundannahme dieses Ansatzes besteht darin, dass Identitaten von Personen wie ebenso soziale Situationen oder uberhaupt alle handlungsrelevanten »Realitaten« nicht identifiziert, sondem definiert oder konstruiert, nicht erkannt, sondem gesetzt werden." (Reck 1981, S. 8) Im Sinne Durkheims ist es eine soziale Tatsache, und - noch einmal - nach Thomas hat es tatsachlich Folgen! Nach dem, was ich in der vorletzten Anmerkung gesagt habe, konnte man hier das Wort „tatsachlich" auch durch das Wort „wirklich" ersetzen, vorausgesetzt, man versteht es als Gegensatz zu Spekulationen und anderen Voreingenommenheiten.

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Erwaitungen, habe ich eben gesagt, haben eine strukturierende Kraft. Diese Tatsache lieB sich schon in der oben kurz angedeuteten Rollentheorie nachlesen.io Mit dem Definitionsansatz wird ihr Gewicht fur die Identitat deutlich: Erwartungen definieren, wer der andere ist und wie er sich verhalten soil. In der Regel passen Erwartungen und das Bild, das wir von uns selbst haben, auch zusammen, und deshalb reagieren wir auf „normale" Erwartungen auch auf die „ubliche" Weise. Die Definitionen von uns und den anderen sind in der Regel komplementar. Liegen die Definitionen auseinander und haben die Handelnden ein Interesse am Fortgang der Interaktion, kommt es zu Korrekturen und Anpassungen.n Diese Anstrengungen gehen in Richtung wechselseitig angemessener Definition. Hierbei unterstelle ich naturlich, dass die Chancen, die Situation und die Handelnden zu definieren, gleich sind. Doch wie sieht es aus, wenn jemand mehr Definitionsmacht hat und ein anderer sich gegen abtragliche soziale Definitionen nicht wehren kann? Goffman hat das Thema „Definitionsmacht" eindringhch in seinem Buch „Asyle" (1961a) beschrieben. Es ist das Ergebnis einer mehrjahrigen Arbeit als visiting scientist in einer psychiatrischen Klinik. In diesem Buch beschreibt Goffman Menschen in Institutionen, in denen ihnen die Mittel zur Darstellung ihrer Identitat genommen werden. Das Buch handelt aber nicht nur von der „totalen Institution" einer psychiatrischen Klinik, sondem von der ganz normalen Ausschaltung von Identitat durch einen Apparat und von den Versuchen der Insassen, ihre Identitat zu erhalten oder neu zu finden. Das erfolgt zum Teil im Konsens mit der Institution, zum Teil aber auch gegen die offiziellen Regeln, indem sich z. B. ein „underlife" organisiert.12 Das Thema Definitionsmacht hat Goffman dann in seinem Buch „Stigma" direkt mit den Strategien derer zusammengebracht, die im 10

Vgl. oben Kap. 21.1 „Das Problem des homo sociologicus: Individualitat nur auBerhalb der Rollen?" 11 Auf die Strategie der Identitatsbehauptung, die Uwe Schimank als Versuch der eigenen Definition der Identitat gegen ihre Bedrohung wertet, komme ich in Kap. 27.1 „()ber Identitatsbehauptung, negative Identitat und Strategien gegen Entindividualisierungserfahrungen" zu sprechen. 12 Der Film ,JEiner flog iiber das Kuckucksnest" schildert das underlife in einer geschlossenen Anstalt, der Film „Das Leben ist schon" den verzweifelten Gegenentwurf, mit dem ein Vater seinem kleinen Sohn die Realitat des Konzentrationslagers verheimlichen will.

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ganz normalen Alltag, also auBerhalb einer totalen Institution, ihre Identitat schtitzen mtissen. Goffman deklariert sein Buch im Untertitel treffend als „Notes on the Management of Spoiled Identity", also als Anmerkungen zum Umgang mit beschadigter Identitat. Die Ausgangssituation sieht so aus: Wenn wir einem Fremden begegnen, vergleichen wir ihn mit einem Menschen, wie wir ihn unter gegebenen Umstanden normalerweise erwarten. Weist er ein auffalliges Merkmal auf, priifen wir, ob es nach unseren Annahmen positiv oder negativ ist. Fallt der Vergleich negativ aus, tendieren wir zu dem Schluss, dass ihm etwas fehlt oder dass er minderwertig ist. Ein solches Merkmal, das der Person schadet, nennt Goffman Stigma. Dieses Merkmal, das manchmal auch als Defekt (»failing«). Mangel oder Fehler (»shortcoming«) oder Handicap bezeichnet wird, „schafft eine besondere Diskrepanz zwischen faktischer und tatsachlicher sozialer Identitat." (Goffman 1963, S. 2f.) Unter einem Stigma verstanden die Griechen ein Zeichen, das in den Korper geschnitten oder gebrannt wurde, um etwas Ungewohnliches oder Schlechtes im Charakter des Zeichentragers offentlich kundzutun.i3 Goffman interpretiert den Begriff des Stigmas weiter und versteht darunter Attribute, die in irgendeiner Form das Individuum diskreditieren, es also in seiner Identitat beschadigen. Solche Stigmata konnen korperliche Auffalligkeiten, aber auch Hautfarbe, fehlende Bildung oder ein bestimmter „unehrenhafter" Beruf, weiter auch Herkunft, Charakterfehler, missbilligte Neigungen und ahnliches sein. Wer beispielsweise aus einer Proletarierfamilie stammte, war ftir die feinen Kreise im osterreichischen Heer abgestempelt; wer in den amerikanischen Siidstaaten schwarz war, gait lange als Mensch zweiter Klasse, und zur Homosexualitat bekannte man sich in Deutschland bis in die allerjungste Vergangenheit besser nicht.i^ 13 14

In diesem Zusammenhang denkt man naturlich auch an das Kainsmal, das ich im zweiten Vorspruch erwahnt habe. Lesen Sie zur Sicherheit aber einmal nach, warum der Herr es dem Kain eingeschrieben hat. Das letzte Beispiel zeigt auch, dass die Definition eines personlichen Merkmals als Stigma von den Wertmustern sozialer Kreise und von der Macht der individuellen Gegendefinition abhangt. In bestimmten Kreisen ist Homosexualitat nach wie vor ein Tabu, in anderen fast glamourhafte Normalitat, und als ein Regierender BUrgermeister iiber seine homosexuellen Neigungen sprach, „bekannte" er sich ausdrticklich nicht dazu, sondern rtickte den Anspruch auf seine eigene Definition seiner Identitat mit den Worten „Und das ist gut so!" zurecht.

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Stigmamerkmale haben eine symbolische Funktion, und in der Regel weisen sie dem Individuum einen niedrigeren sozialen Status zu und schranken mittels entsprechender Erwartungen die Freiheit des Handelns ein. Um in dem alten Bild zu bleiben, kann man sagen: Den Stigmatisierten werden diskreditierende Erwartungen in die Identitat „eingeschnitten". Der Status einer Person, konnten wir bei Strauss lesen, hat insofem strukturierende Funktion, als mit ihm bewusst oder unbewusst Erwartungen eines typischen Verhaltens verbunden werden. Handelnde klassifizieren eine Situation und sich selbst nach den Mustem, die ihnen vertraut sind, und erwarten wechselseitig Verhalten, das ihnen als typisch und normal gilt. Stigmatisierten wird im Grunde das Recht beschnitten, sich selbst und die Situation aus eigenem Anspruch zu definieren. Umgekehrt erwartet man von ihnen kein „normales", sondem ein „typisches" anderes Verhalten. Die Chancen der Stigmatisierten, sich gegen eine negative soziale Identitat zu wehren, sind noch dadurch beschrankt, dass die anderen meinen, dass das Stigma jede andere Statusart uberstrahlt. In der Sozialpsychologie spricht man vom halo-Effekt. „Halo" ist die englische Bezeichnung fur den Heiligenschein, der auf frommen Bildem die Aufmerksamkeit der Betrachter auf das „Wesentliche" konzentrierte und alles andere uberstrahlte. Egal was die Heilige tat, sie tat es als Heilige, und mit dem Heiligenschein war schon alles gesagt. Auch in der Interaktion schlieBen wir unbewusst aus einem sozialen Merkmal, z. B. einem bestimmten Beruf auf andere potentielle Merkmale, z. B. Bildungsinteressen. (vgl. Hofstatter 1954, S. 370) Wer die StraBe fegt, liest kein gutes Buch, und wer einen Doktortitel hat, liest nur gute Blicher. Oder? Wer Totengraber im Dorf ist, wird ganz sicher nicht Karnevalsprinz werden wollen. Noch einmal: Oder? Wo solche komplementaren Erwartungen erfullt werden, scheint fur die AuBenstehenden der soziale Status konsistent zu sein. In Wirklichkeit nehmen sie nur Merkmale wahr, die ihrem Vor-Urteil entgegenkommen. Dass diese Vor-Urteile sich bei Menschen, die in irgendeiner Weise nicht den Normalitatsvorstellungen entsprechen, negativ auswirken, liegt auf der Hand. Um solche Menschen geht es im Buch „Stigma". Um den falschen Eindruck zu vermeiden, Goffman gehe es um absolute Ausnahmeerscheinungen, spreche ich allgemeiner von Menschen mit einem sichtbaren oder unterstellten Fehler oder Makel. Dabei mochte

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ich gleich betonen, dass beide Begriffe soziale Konstruktionen sind. Es gibt keinen Makel an sich, sondem Makel ist immer nur das, was als solcher von aufien definiert wird. Erst in der Reaktion auf diese soziale Definition bewertet das Individuum ein bestimmtes Merkmal als Makel. Kein Kind kommt von sich darauf, dass rote Haare, und kein Erwachsener, dass sein Glaube etwas Minderwertiges sind. Das Spektrum sozialer Definitionen ist breit. So berichten z. B. NORBERT ELIAS und JOHN L . SCOTSON (1965) iiber den verbissenen Kampf zwischen „Au6enseitem und Etablierten" in einer englischen Kleinstadt, wo es um den einzigen Makel, nicht seit Ewigkeiten schon in der Gemeinde gelebt zu haben, ging. Die Nationalsozialisten definierten, was lebenswert war, und handelten danach. Auch das Spektrum der Merkmale, die Individuen sich als Makel zurechnen, ist breit. Der eine ist schon bei einem Pickel auf der Nase am Boden zerstort, der andere sieht seinen Selbstwert nicht einmal bei einer sichtbaren Behinderung bedroht. Wenn ich im Folgenden von einem Makel spreche, dann in dem Sinne, dass er zum „Identitatsaufhanger" (»identity peg«) (Goffman 1963, S. 56) geworden ist oder zu werden droht: Der Makel ist in der Spiegelung tatsachlicher oder erwarteter Reaktionen der anderen so gravierend, dass er die gesamte soziale Identitat definiert. Es ist ein Stigma mit hohem halo-Effekt. Und da es hier um soziale Identitat unter den Augen der anderen geht, geht es auch um Definitionsmacht, und zwar um die Macht, etwas als Makel zu definiereni5 und einem anderen zuzuschreiben, und um die Gegenmacht, den sozialen Teil der Identitat aus eigenem Recht zu definieren. Die Definition der sozialen Identitat nach einem auffalligen, diskreditierenden Merkmal zwingt die Stigmatisierten zu einer doppelten Anstrengung: Sie mlissen mit den Zuschreibungen der anderen fertig werden, und sie mtissen es den anderen leicht machen, mit ihnen umzugehen! Deshalb stelle ich das Stigmamanagement der Diskreditierten unter die folgende Uberschrift. 15

Howard S. Becker hat in seinem Buch „Au6enseiter" (1963) gezeigt, dass abweichendes Verhalten auch dadurch als solches definiert wird, well jemand entsprechende Regeln setzt und durchsetzt. Johannes Feest und Erhard Blankenburg beschreiben aus teilnehmender Beobachtung ,JDie Definitionsmacht der Polizei" (1972) bei der selektiven Identifizierung potentieller Missetater und Ahndung einer konkreten Straftat.

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25.4

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Diskreditierte: Korrekturen und doppelte Konstruktion von Normalitat

Individuen, haben wir gehort, denen die Gesellschaft ein auffalliges Merkmal als Makel zuschreibt, werden als nicht der Norm entsprechend angesehen und als „beschadigt" diskreditiert. Wer diese Beschadigung nicht als soziales Schicksal hinnehmen und gleichzeitig eine soziale Identitat nach eigener Vorstellung erreichen will, muss an der Vermittlung zwischen dem Selbstbild und dem sozialen Bild, das die anderen zurtickwerfen, arbeiten. Goffman bezeichnet diese Anstrengung als Stigmamanagement. Eine Form des Managements besteht darin, dass Individuen, die etwas an sich als Makel empfinden, ihre soziale Identitat durch Korrekturen an sich selbst zu verbessem suchen. Solche Korrekturen reichen von der kleinen Schonheitsoperation bis zur prothetischen Korrektur nach einer Brustamputation, vom Nachholen eines Schulabschlusses bis zur Trennung von einem Partner, der durch sein Verhalten zu sehr an die eigene friihere Identitat, die jetzt als unpassend empfunden wird, erinnem konnte. Der Diskreditierte passt sich also an die herrschende Normalitat an, indem er sich ihre Attribute zulegt. AuBenstehende begreifen oft nicht die soziale Not, die hinter solchen Anstrengungen steht. Und geradezu tragisch werden die Anstrengungen, wenn sie nicht den Bewertungen der relevanten Anderen entsprechen. Da sie die Macht haben, jemanden anzuerkennen, definieren sie auch, welche Korrekturen angemessen und erfolgreich sind. Wer sich schon immer liber den Jugendlichkeitswahn der Gesellschaft mokiert hat, wird auch die perfekteste Schonheitsoperation fur peinlich halten. Wer uberzeugt ist, dass symbolisches Kapital nur iiber Generationen akkumuliert werden kann, dem wird auch der rasanteste Bildungsaufstieg nicht imponieren. Zum Stigmamanagement gehort deshalb auch, dass man ein Publikum findet, das die Korrekturen akzeptiert und honoriert. Das stigmatisierte Individuum muss nicht nur mit seinem Selbstbild fertig werden, sondem auch mit dem Bild, das andere ihm bei seinen Bemiihungen zurtickspiegeln. Die neue soziale Identitat und die neue Normalitat, die man durch diese Korrekturen erreichen will, bedurfen der sozialen Anerkennung. Doch man darf eines nicht ubersehen: Selbst diese geborgte Identitat bleibt ein Stiick auBerlich. Die Korrekturen, so heiBt es bei Goffman, bewirken keinen vollkommen normalen

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Status, sondem transformieren die Identitat von einer, die mit einem Makel belastet war, in eine, die einen Makel korrigiert hat. (vgl. Goffman 1963, S. 9) Im Klartext: Die Selbstdefinition der „neuen" Identitat erfolgt oft unter der Definitionsmacht der alten. Diskreditierte leisten eine doppelte Identitatsarbeit: Sie definieren ihre personliche Identitat nach den „normalen" Erwartungen der Anderen, und sie prasentieren eine soziale Identitat, die es den „Normalen" ermoglicht, sie wie „Normale" zu behandeln. Dire soziale Identitat wird uber die normativen Erwartungen der anderen definiert und durch das entsprechende Verhalten konfirmiert. Die latente Bereitschaft, sich an die Standards der Normalitat anzupassen, kommt auch bei einem anderen Stigmamanagement zum Ausdruck, die Goffman als Verbergen oder Kaschieren bezeichnet. Wer sich z. B. in der Jugend zu einer blodsinnigen Tatowierung hat hinrei6en lassen, wird sie als gereifter Normalburger vielleicht mit langen Armeln unsichtbar machen wollen oder sie mit einem sozial akzeptierten tattoo zumindest zu iiberspielen versuchen. Ein Beispiel fUr Kaschierung durch Verhalten ist der Mann, der sich bei Vortragen immer in die zweite Reihe und in direktem Blickkontakt zum Redner setzt und nach jahrelangem Theaterbesuch plotzlich nur noch in die Oper geht und das alles, um sich (und den anderen natiirlich auch!) nicht einzugestehen, dass er schwerhorig ist und eigentlich ein Horgerat braucht. Diese Art des Stigmamanagements ist oft von der Angst begleitet, dass die Tamung nachlasst. Kommen wir zu den Fallen, in denen Diskreditierte sich nicht mit den sozialen Etiketten arrangieren, sondem sie zu korrigieren suchen. Diese Individuen versuchen, ihre soziale Identitat durch eine neue Definition von Normalitat bei den anderen zu begrunden. Das Stigmamanagement tendiert also zu Korrekturen an den Einstellungen der anderen. So versuchen z. B. Individuen ihren korperlichen Makel gar nicht zu verbergen, sondem definieren ihn fiir sich und vor allem fur die anderen in eine spezifische Bedingung eines ansonsten normalen Verhaltens um. Da ist der Hinkende, der sich in die zweite Mannschaft des Tennisclubs spielt, oder die Rollstuhlfahrerin, die es ablehnt, dass man ihr die Tur aufhalt. Diese Form des Stigmamanagements ist besonders interessant, weil sich die Betroffenen nicht nur eine eigene Normalitat definieren, sondem auch die soziale Akzeptanz herbeihandeln. Sie setzen namlich gleichzeitig die zugeschriebene soziale Identitat, wie man

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also „eigentlich" nach den Erwartungen der anderen sein sollte, auBer Kraft, ubemehmen also Definitionsmacht, und sie helfen den „Normalen", so zu tun, als ob sie sich so normal wie gegeniiber ihresgleichen verhielten. Da poltert ein Beinamputierter im Aufzug frohlich los, man solle ihm nicht auf seinen HolzfuB treten, und alle sind froh, dass er die Situation entspannt. Wenn dann sogar noch jemand sagt, er wurde sich aber auch immer vordrangen, dann haben alle anderen das Gefiihl, sich ganz normal wie gegeniiber Ihresgleichen verhalten zu haben. Diskreditierte leisten eine doppelte Konstruktion von Normalitat fUr sich, indem sie mit Korrekturen und Anpassungen ihre Hoffnung auf normale Akzeptanz nahren, und fiir die anderen, denen sie taktvoll die Illusion erhalten, sie wurden sich ganz zwanglos, nett und normal verhalten. (vgl. Goffman 1963, S. 116, 119) Letzteres kann dann dazu fuhren, dass sich der Stigmatisierte liber die wirkliche Akzeptanz tauscht. Er nimmt es fiir bare Miinze, wenn ihm die anderen sagen „Im Grunde bist Du doch auch nicht anders als wir". So berichtet Goffman von einem BHnden, wie schockiert die Leute waren, als sie horten, dass er zum Tanztee gegangen war.i6 Das Stigmamanagement der Diskreditierten ist oft wie eine Gratwanderung: Sie diirfen nicht so ganz anders sein, dass die Anderen sich nicht daran anschlieBen konnen, es darf aber auch nicht zu nah an die Grenze des Normalen kommen oder sie gar iiberschreiten wollen, weil sich dann die Anderen in ihrer inklusiven Normalitat irritiert fiihlen. Goffman sagt es so: Von den Stigmatisierten wird erwartet, dass sie ihr Gliick nicht erzwingen und die ihnen gezeigte Akzeptanz nicht auf die Probe stellen. (vgl. Goffman 1963, S. 121) Trotz groBter Anstrengungen, sich symbolisch unauffallig zu machen, miissen viele Stigmatisierte mit dem Verdacht der Scheinakzeptanz leben. Eine andere Form, eine neue Normalitat fiir die anderen zu konstruieren, besteht darin, ein korperliches Stigma dramatisch einzusetzen. So erbringen manche Personen Leistungen, die man bei einer bestimmten Versehrtheit nicht erwartet. Wir kennen alle Berichte, dass jemand trotz seiner Behinderung einen schwierigen Berg bezwungen hat oder nach einer Beinamputation auf einem Ski die Piste runter-

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Sehen Sie sich unter diesem Aspekt der „normalen Erwartungen" an Behinderte doch einmal den Film „Der Duft der Frauen" an!

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saust.i^ Dieses offentliche Verhalten ist eine Gegendefinition insofem, als negative soziale Erwartungen zurtickgewiesen und Leistungen trotz einer dagegensprechenden Behinderung erbracht werden, und Herausforderung deshalb, weil viele, vielleicht sogar die meisten, ohne irgendein Handicap mit solchen Leistungen gar nicht mithalten konnten. Die „Normalen" sehen sich also mit der Frage konfrontiert, wo sie ihre eigenen Leistungen einordnen! Ein gutes Beispiel, an dem diese beiden Strategien deutlich werden, sind die Paralympics. Die Teilnehmer verstehen sie keineswegs als geschlossene Veranstaltung, wo man untereinander Trost und Ermunterung findet, sondem ausdriicklich als selbstbewusste Inszenierung einer eigenen Identitat, In der Sprache Lintons konnte man auch sagen, die Diskreditierten versuchen, vom zugeschriebenen Status in den Leistungsstatus zu wechseln. Bei diesem ojfensiven Stigmamanagement darf aber nicht ubersehen werden, dass viele Stigmatisierte in ihrem „Sonderstatus" gefangen bleiben: Sie haben Gegendefinitionen nicht gefunden oder nicht durchgehalten haben oder die „Normalen" haben sie nicht zugelassen. Deren latente Verweigerung der Gegendefinition hangt oft mit Hilflosigkeit zusammen. So lassen sich Rollstuhlfahrer an der Kasse wohl oder tibel nach vome schieben, weil die anderen so ihre Verlegenheit tiberspielen. Doch bei manchen Stigmata sind weder Korrekturen moglich noch wird eine Annaherung an eine Scheinnormalitat zugelassen. Im Gegenteil, sie dienen der Gesellschaft dazu, einen „Maker' im sozialen Bewusstsein lebendig zu halten und die Bezeichneten auf Zeit oder dauerhaft auszugrenzen. Typische Beispiele dieser Brandmarkung ist der geschorene Kopf fur weibliche Kollaborateure im Zweiten Weltkrieg oder der gelbe Davidsstem, der vordergrlindig „nur" eine negative Identitat bezeichnete, im Grunde aber und von Anfang an den Ausschluss aus der Gesellschaft und schlieBlich die Ausloschung der Stigmatisierten definierte. 17

Ich erinnere mich an eine Studentin, der nach einem schweren Sportunfall und zahlreichen vergeblichen Therapien eine Beinamputation drohte. Zu einer schlieBlich erfolgreichen, von einer Schamanin angeleiteten Selbsttherapie gehorte es, sich auf Krucken und ganz allein auf die Spuren der Inkas zu begeben. In dem Film, den sie dabei gedreht hat, wird mit keinem Wort erwahnt, unter welchen korperlichen Leiden sie gearbeitet hat. Im Gesprach berichtete sie allerdings, dass dieses sichtbare Handicap sie in manchen gefahrlichen sozialen Situationen sogar geschiitzt hat.

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Jeder Mensch hat auch seine moralische backside, die er nicht ohne Not zeigt und die er solange wie moglich mit den Hosen des guten Anstandes zudeckt. Georg Christoph Lichtenberg (1768-1771) ^^

25.5

Diskreditierbare: Tauschen und InformationskontroUe

Man hat Goffman immer wieder nachgesagt, er interessiere sich nur fur das Absurde und Groteske und deshalb beschreibe er auch nicht Menschen aus der Mitte des normalen Lebens, sondem AuBenseiter und Ausnahmen. Doch das „Absurde" - und hier steht er ganz in der Tradition des romantischen Denkens - interessiert Goffman nur aus einem einzigen Grund: weil es unsere Annahmen liber das Normale herausfordert. So schreibt er z. B. liber sein Interesse an Kriminellen: „Das Entscheidende bei Kriminellen (ist) nicht, was sie tun und warum sie es tun. (...) Das Entscheidende ist vielmehr das Licht, das ihre Situation durch ihren Kontrast zu unserer auf das wirft, was wir tun." (Goffman 1971, S. 344 Anm.) Mit def Methode des extremen Kontrastes zwingt er, sich der Bedingungen von Normalitat zu vergewissem. Dieses Interesse war bei der Schilderung der Identitatsarbeit der Diskreditierten unverkennbar. Noch naher an die komplizierte Arbeit, Identitat in der Interaktion mit anderen zu finden und zu schiitzen, fiihrt uns Goffman nun mit der Beschreibung der Strategien von Personen heran, deren Andersartigkeit auf den ersten Blick nicht sichtbar ist, die von den Anderen bei fluchtiger Betrachtung also als normal angesehen werden konnen. Im Kampf um die Definition ihrer sozialen Identitat haben sie scheinbar den Vorteil, dass nur sie die Wahrheit kennen. Aber sie wissen, dass die Anderen ihre abtraglichen Bewertungen sofort bei der Hand hatten, wenn ihr verborgener Makel sichtbar wiirde. Goffman bezeichnet diese Personen als diskreditierbar. (vgl. Goffman 1963, S. 42) Sie wiegen sich in der trligerischen Sicherheit einer vorgespiegelten Identitat, die unter dem Vorbehalt steht, dass die wahre Identitat nicht entdeckt wird. Ihre Identitatsarbeit vor anderen besteht darin, die Informationen liber einen bestimmten Teil ihrer Identitat so zu steuem, dass sie nicht beschadigt wird. Fur sich selbst bedeutet Identitatsarbeit, dass das Individuum 18

Georg Christoph Lichtenberg (1768-1771): Sudelbizcher, Heft B, 78

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moglichst fest vergisst, was es diskreditieren konnte, und sich eine neue Welt konstruiert, in der sich alles zu einem guten Anfang fligt. Zur Identitatsarbeit kann aber auch gehoren, mit der latenten Angst zu leben, dass die anderen merken, dass mit der Fassade der sozialen Identitat etwas nicht stimmt. Das Diskreditierbare kann in der personlichen Vergangenheit liegen, sei es dass jemand etwas getan hat, was schon damals falsch war oder was ihm heute peinlich ist, sei es dass er ein soziales Erbe, z. B. eine „falsche" Herkunft, mitschleppt. Dann besteht eine Strategie darin, liber die dunkle Seite der Biographie zu schweigen und Kontakte zu friiheren Mitwissem zu kappen.i9 Das wird nicht immer moglich sein, und dann kann man nur auf die Diskretion der Mitwisser hoffen.20 Nehmen wir z. B. an, dass sich jemand friiher geme in lockeren Massagesalons fit gehalten hat und heute ein biederes Leben flihrt, Dann kann er nur hoffen, dass ihm die Damen von damals nicht begegnen und wenn doch, dass sie ihn nicht mit lautem Hallo begrtiBen, sondem diskret an ihm vorbeisehen.2i Nehmen wir als Beispiel fur den Makel eines sozialen Erbes den Fall, dass jemand von einer Mutter stammt, die sich im Krieg mit dem Feind eingelassen hat. Solange man die soziale Demiitigung furchtet, ist eine Strategie, diejenigen, die iiber damals Bescheid wissen, mit denen, vor denen man sein neues Leben fuhrt, auseinanderzuhalten.22 Es gibt auch Makel, die nur als Moglichkeit bestehen (z. B. eine Erbanlage) und von denen hochstens noch Spezialisten wissen, nur ge19 20 21

22

Auf das Problem der biographischen Wahrheit komme ich noch einmal zuriick. Onkel, Tanten und Klassenkameraden scheiden bei diesem Kampf um das helle Bild der aktuellen Identitat von vornherein aus! Goffman zitiert aus einem Bericht der „Sisters of the Night", die sich auf Parties immer erst umsehen, wen sie kennen, um dann ggf mit raschem Blickkontakt die Situation als Nichtbeachtung zu definieren, und sich und die anderen so vor einer Diskreditierung schUtzen. (Vgl. Goffman 1963, S. 99; vgl. auch S. 124.) Seit einiger Zeit gibt es in Frankreich eine offentliche Diskussion Uber Kinder, die aus einer Beziehung zu einem deutschen Soldaten stammen. In den meisten Fallen haben diese Kinder bei der ersten Gelegenheit die Chance genutzt, ihren Heimatort zu verlassen. Da sie dem Druck der sozialen Definition ihrer Identitat, sprich in diesem Fall „der Sippenhaft", nicht gewachsen waren, bauten sie sich an einem Ort, wo niemand sie kannte, eine neue Identitat auf Konsequenterweise gingen sie an den alten Ort ihrer sozialen Identitat auch nie mehr zuriick. Gleichwohl litten sie unter der standigen Angst, dass irgendjemand aus der alten Zeit auftauchte, der sie identifizierte.

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legentlich auftauchen (z. B. Alkoholismus) oder nur unter besonderen Umstanden zum Problem werden konnen (z. B. ein fehlender Schulabschluss).23 Auch in diesen Fallen kommt es darauf an, die Informationen zu kontrollieren, die die Identitat beschadigen konnten, Erklarungen abzugeben, die das Individuum in der Nahe sozial akzeptierter Normalitat halten, und ein Verhalten zu zeigen, das normalen Erwartungen entspricht. Erklarungen und Verhalten der Diskreditierbaren geraten dabei leicht in einen „Zyklus des Tauschens" (Goffman 1963, S. 79). Die Strategien sind vielfaltig. Sie reichen von der Notluge bis zum totalen Vergessen, vom entschiedenen Abstreiten bis zur Konstruktion einer immer komplexeren Scheinidentitat. Manche wahlen auch die soziale Fassade der Normalitat, um einen Verdacht erst gar nicht aufkommen zu lassen. So heiBt es, dass Englands erster hauptberuflicher Henker grundsatzlich mit Frau und Kind zu seinem grausigen Geschaft anreiste. (vgl. S. 93) Und nicht nur von groBen Dichtem wissen wir, dass sie die Gesellschaft uber ihre homoerotischen Vorlieben mit einer „normalen" Ehe und Frau und Kind zu tauschen versuchten. Die Strategien des Tauschens konnen so massiv werden, dass sich die Diskreditierbaren letztlich selbst verachten. Goffman zitiert dazu einen heimlichen Schwulen, der uber abfallige Schwulenwitze laut mitlachte. (S. 87) Wir kennen aber auch den umgekehrten Fall, dass die Diskreditierbaren die Angst des Tauschens abstreifen und die Flucht nach vome antreten, indem sie offen dartiber sprechen, was ihr Makel in den Augen der anderen ist. Zwei Strategien der Gegendefinition kommen dabei vor. Bei der einen offenbart man sich als jemand, der unter einem Makel leidet, und sucht um Verstandnis, oft auch Schutz nach.24 Bei 23

24

Das Buch ,JDer menschliche Makel" von Philip Roth (2000) lasst sich auch als Buch der Angst eines Menschen, dass sein latentes Stigma sichtbar wird, lesen. Bernhard Schlink beschreibt in seinem Buch „Der Vorleser" (1995) den langen Kampf einer Frau, zu verbergen, wer sie war und welchen Makel - naturlich nach den unterstellten Vorstellungen der Normalen! - sie hat. Zu dieser Strategie passt auch die, zu tun, als ob man einen Makel hat. Gunther Anders, der aus eigener leidvoller Erfahrung wusste, wie es den sozial Diskreditierten ergehen kann, halt in seinem Roman „Die molussische Katakombe" (1992) folgenden Rat bereit: „Simuliere, der Du bist." Und er gibt auch ein Beispiel: „Zwar zitterte er bei seiner Rede nicht weniger als gewohnlich, aber da er tat, als spiele er sein Zittern, glaubte es ihm niemand. Jeder war Uberzeugt, er halte irgend etwas in Reserve: etwas Nichtschiichternes, Mannliches und Stol-

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der zweiten Strategic definiert man einen sozialen Makel in etwas Normales um, bekennt sich also nicht, sondem hebt sich ausdriicklich in seiner personlichen Identitat hervor. Auf diese Weise zwingt man den Anderen, tiber den Vorurteilen der Kleingeister zu stehen. (vgl. Goffman 1963, S. 101)25 Die Definitionsmacht beginnt zu kippen. Versucht man die Grundaussage des Buches iiber den Umgang mit beschadigter Identitat zusammenzufassen, dann kann man sagen: Goffman zeigt an scheinbaren Ausnahmefallen, dass das Individuum immer mit der Definitionsmacht der anderen konfrontiert ist. Seine Identitat kann es nicht dadurch gewinnen, dass es sich dieser Macht unterwirft. Es muss im Gegenteil, in den Fallen, wo es seine Identitat beschadigt sieht, sei es durch abtragliche Diskreditierung oder ungerechte Forderungen, sei es durch sozialen Ausschluss oder nur halbherzige Inklusion, eine Gegendefinition seiner Identitat aus eigenem Recht entwickeln. Das Beispiel der &/fo?hilfegruppen verdeutlicht, was ich meine. Sie versuchen zunachst und vor allem die imperiale Fremdbestimmung auszuloschen. Die Individuen sollen sich deshalb auch nicht etwas eingestehen, das sie in den Augen der Anderen zu AuBenseitem macht, sondem sie sollen die Bedeutung eines subjektiven oder objektiven Makels als Identitatsaufhanger so weit reduzieren, dass er als selbstverstandlicher Bestandteil ihres eigenen Lebens fungiert. Zu einer erfolgreichen Identitatspolitik der Diskreditierten gehort zuallererst, dass sie Bewertungen26 durch andere zurtickweisen. Ftir die Diskreditierbaren ware es die Voraussetzung, aus sozialer Angst herauszutreten. Wen ich zu dieser Gruppe auch zahle, steht im Zitat des Spotters Lichtenberg vor diesem Unterkapitel.

25 26

zes. Und sein Prestige stieg von Stund an." (Anders 1992, S. 195) Ich will nicht ausschlieBen, dass eine solche Strategie manchmal und bei in dieser Hinsicht ganz starken Personlichkeiten erfolgreich ist, und mancher Rat der Verhaltenstherapie mag wohl auch so begriindet sein. Ftir den normalen Fall des Leidens an der Definitionsmacht der anderen scheint mir allerdings eine andere Identitatsarbeit auf Dauer unausweichlich zu sein: Man muss nicht alles sagen, was man iiber sich weiB, aber was man sagt, das muss man vor sich selbst begrtinden nicht fur die anderen! Hinter manchem provozierenden Bekenntnis, schwul oder lesbisch oder bi zu sein, kann man diese Strategie vermuten, die anderen zu einer Definition neuer Normalitat zu zwingen. Damit es nicht vergessen wird: Lesen Sie den letzten Satz der vorletzten Anmerkung noch einmal nach!

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Anspriiche

26.1 26.2 26.3 26.4

Anerkennung Anspruch auf Nichtaufmerksamkeit Anspruch auf Diskretion und das Recht auf Indiskretion Symbolischer Abstand

Im Zusammenhang mit der Frage, wie individuelle Leistungen Teil der sozialen Identitat werden, habe ich gerade gesagti, dass sie der sozialen Anerkennung bediirfen. Und ich will auch noch einmal an den Gedanken von GEORG SIMMEL erinnem^, dass der Kampf in der Stadt ein Kampf um den Menschen, d. h. um seine Aufmerksamkeit, geworden ist. Um bemerkt zu werden, griffen manche zu „qualitativen Besonderungen" und zu den „tendenziosesten Wunderlichkeiten". Das sei fur viele „das einzige Mittel, auf dem Umweg iiber das Bewusstsein der anderen irgendeine Selbstschatzung und das Bewusstsein, einen Platz auszufullen, fur sich zu retten." (Simmel 1903, S. 128f.) Im Zuge einer gro6 angelegten Feldstudie, in der WILLIAM ISAAK THOMAS und FLORIAN ZNANIECKI Familiengeschichten, Briefe und andere biographische Dokumente von Polen, die hauptsachlich aus dem landlichen Raum stammten und in die USA eingewandert waren und dort vor allem in der Autoindustrie arbeiteten, auswerteten, war Thomas zu dem Schluss gekommen, dass es vier grundlegende Wunsche gibt, die der Mensch an sein Leben hat. Einer ist der nach Anerkennung. (Thomas 1917, S. 152)3 Anerkennung kann man ganz grundsatzlich so verstehen, den anderen in seiner Individualitat zu achten; der Wunsch nach Anerkennung ist der Wunsch, in seiner Identitat so akzeptiert zu werden, wie man ist.

1 2 3

Vgl. Kap. 25.1,2^uschreibung eines sozialen Status". Vgl. Kap. 11.5 „Innere Reserve, Kampf um Aufmerksamkeit, Ubertreibung der Eigenart*'. Die drei anderen sind die Wunsche nach neuen Erfahrungen, nach Meisterung (»mastery«) und nach Sicherheit. Thomas hat die Theorie der vier Wunsche mehrmals umformuliert.

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26 Anspriiche Alle unsere Bemiihungen laufen aufzwei Endzwecke hinaus, ndmlich aufdie Bequemlichkeiten des Lebensfiir uns selbst und aufdas Ansehen bei den anderen. Jean-Jacques Rousseau (1754) 4

26.1

Anerkennung

Erinnem wir uns an die These von HERBERT BLUMER, wonach Interaktionspartner die Situation des Handelns und sich wechselseitig definieren und dass am Ende eine gemeinsame Definition stehen muss, damit die Interaktion fortgehen kann. Das heiBt doch nichts anderes, als dass die Interaktionspartner sich wechselseitig in ihrer Identitat anerkennen miissen. Das Bild, das ein anderer von mir hat und das sich in expUziten Oder vermuteten Erwartungen an mich niederschlagt, muss in Ubereinstimmung mit dem Bild gebracht werden, das ich von mir und in Bezug auf den anderen in dieser konkreten Situation habe. Alter ego vice versa. Diesen „Handel um Identitat" kann man sich so vorstellen, dass beide Seiten zunachst einmal uber die groben Konturen ihrer sozialen Identitat und dann iiber die Rollen, die in dieser Situation zu spielen sind, Ubereinstimmung erzielen. (vgl. McCall u. Simmons 1966, S. 156) Im Fortgang der Interaktion wird dann durch die wechselseitigen Reaktionen auf das Handeln geregelt, wie es weitergehen soil und wie man sich wechselseitig als dieses besondere Individuum identifiziert. Das heiBt: Die Identitat, die A durch sein Handeln zum Ausdruck bringen mochte, kann er nur in dem Ma6e auch prasentieren, wie B sie ihm zuzugestehen bereit ist. (vgl. Krappmann 1969, S. 34) Identitat bedarf der Anerkennung durch einen anderen - und sie ist unter diesem interaktionistischen Ansatz auch nicht anders zu bekommen. An das dialogische Prinzip der Anerkennung von Identitat kniipfte Ende des 20. Jahrhunderts eine politische Diskussion an, die die Dynamik sozialer und nationalistischer Bewegungen unter anderem mit dem Kampf um Anerkennung erklarte. Eine prominente Stimme in dieser Diskussion kommt von dem kanadischen Sozialphilosophen CHARLES TAYLOR, der sich schon friiher mit der Frage befasst hatte, was die moralischen Quellen des Selbst sind und wie die Identitat in Jean-Jacques Rousseau (1754): Abhandlung iiber den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit, S. 298

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Anspriiche

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der Modeme entsteht. (Taylor 1989a) In einem Essay, mit dem sich renommierte Wissenschaftler auseinandergesetzt haben und dessen deutsche Ausgabe (Taylor 1997) JURGEN HABERMAS mit einem langen Beitrag begleitet hat, behandelt Taylor „Die Politik der Anerkennung"5 und stellt gleich zu Anfang fest, dass „das Verlangen nach Anerkennung (...) ein menschliches Grundbediirfnis" ist. (Taylor 1992, S. 15) Die Frage, was Identitdt ist, beantwortet Taylor mit einfachen Worten: „Indem wir unsere Identitat bestimmen, versuchen wir zu bestimmen, wer wir sind, »woher wir kommen«. Sie bildet den Rahmen, in dem unsere Vorlieben, Wunsche, Meinungen und Strebungen Sinn bekommen." (S. 23) Diese Selbst-Bestimmung bedarf d^r Anerkennung durch andere, und sie entsteht aus dem Dialog mit anderen. Das ist die zentrale These Taylors. Er fragt nun, wie es dazu gekommen ist, das Interesse an Anerkennung in den Vordergrund einer Diskussion um die modeme Identitat zu riicken. Dazu fuhrt Taylor unter anderem eine Erklarung an, die schon bei GEORG SIMMEL^ anklang: Ende des 18. Jahrhunderts trat der Gedanke einer Jndividualisierten Identitat", hervor, einer Identitat, „die allein mir gehort und die ich in mir selbst entdecke" (Taylor 1992, S. 17). Diese Vorstellung einer individualisierten Identitat verband sich mit der Idee, ihr auch treu zu bleiben. Es war die modeme Forderung nach „Authentizitat", fiir die seinerzeit der Gmnd gelegt wurde. Diese Fordemng, seiner Vorstellung von sich selbst auch zu folgen, hatte sich fiir Taylor ganz konsequent aus der damals allgemeinen Uberzeugung, z. B. JEAN-JACQUES ROUSSEAUS, ergeben, dass das Gefiihl fiir richtig oder falsch in unseren Empfindungen wurzelt. (vgl. Taylor 1992, S. 18; 1991, S. 34) Aus diesem individuellen morahschen Gefiihl entwickelte sich allmahlich auch der Anspmch, dass man diese Moral auch als Individuum, vergleichbar mit keinem anderen, zum Ausdmck bringen muss. Aus JOHANN GOTTFRIED HERDERS Gedanken, dass jeder Mensch zuletzt eine eigene Welt ist, „zwar eine ahnliche Erscheinung von auBen, im Innem aber ein eignes Wesen, mit jedem andem unausmessbar" (Herder 1784/91, 7. Buch, Kap. 1, S. 177), zieht Taylor die Botschaft: „Es gibt eine bestimmte Art, Person zu sein, die 5 6

Wesentliche Passagen decken sich mit Taylors Buch „The Malaise of Modernity" (1991; deutsch „Das Unbehagen an der Moderne", 1995). Vgl. oben Kap. 10.2 „Simmel: Individualismus der Differenten" und Kap. 10.4 „Individualitat: frei, selbstbestimmt und einzigartig".

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meine Art ist. Ich bin aufgerufen, mein Leben in dieser Art zu leben und nicht das Leben eines anderen nachzuahmen. Diese Vorstellung verstarkt den Grundsatz, sich selbst treu zu sein. Bin ich mir selbst nicht treu, so verfehle ich die Aufgabe meines Lebens." (Taylor 1992, S. 19) Identitat ist danach das Bewusstsein des Individuums von seiner Eigenart und das Gefiihl, nach dieser Gestalt auch konsequent zu leben. Doch seine Eigenart zu finden und ihr treu zu bleiben, das gelingt nicht in einem inneren Monolog des Individuums, sondem ereignet sich im Dialog des Individuums mit seinen „signifikanten Anderen". (Taylor 1992, S. 22) Mit dieser Erklarung bezieht sich Taylor ausdriicklich auf GEORGE HERBERT MEAD^, der das Bewusstsein von der eigenen Identitat zum einen damit erklart hatte, dass wir uns mit den Augen der anderen sehen, und zum anderen damit, dass wir in den symbolischen Dialogen des play und des game lemen, die Rollen anderer zu ubernehmen und deren Prinzip zu unserem Handlungsprinzip^ zu machen. Mit den signifikanten Anderen, und das heiBt konkret: mit dem, was sie „in uns sehen woUen", fahrt Taylor fort, stehen wir in einem inneren Gesprach, „sogar im Kampf, auch wenn wir ihnen langst iiber den Kopf gewachsen sind oder sie aus unserem Leben verschwinden; „der Beitrag der signifikanten Anderen" bleibt „immer wirksam"! (vgl. ebd.) Und nun schlagt Taylor den Bogen zur Anerkennung: „Von der Entdeckung meiner Identitat zu sprechen, bedeutet also nicht, dass ich Identitat in der Isolation entwickele. Es bedeutet vielmehr, dass ich sie durch einen teils offenen, teils inneren Dialog mit anderen aushandele. Deshalb gewinnt das Problem der Anerkennung mit dem Aufkommen der Idee einer innerlich erzeugten Identitat neue Bedeutung. Meine eigene Identitat hangt wesentlich von meinen dialogischen Beziehungen^ zu anderen ab." (Taylor 1992, S. 24) Damit will Taylor nun keineswegs behaupten, die Abhangigkeit der Identitat vom Dialog mit den anderen sei erst im Zeitalter der Authentizitat aufgekommen. Und wenn in vormodemer Zeit von »Identitat« und »Anerkennung« keine Rede war. Vgl. oben Kap. 19 „Identitat - sich selbst zum Objekt machen". Axel Honneth zeichnet diesen Prozess als moralische Identitatsbildung nach. (Honneth 1992, S. 114-147, besonders S. 123ff.) Kaspar Hauser, wenn es denn stinmit, was man Uber ihn erzahlt hat, hatte kein Bewusstsein von sich als Individuum, solange er keinem anderen begegnet war. Er konnte sich nicht als solches definieren, da ihm keine Merkmale der differenzierenden Bestimmung zur Verfiigung standen.

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dann nicht, „weil die Menschen keine Identitat (bzw. das, was wir so nennen) besessen batten oder auf Anerkennung nicht angewiesen gewesen waren, sondem weil diese Begriffe damals selbstverstdndlich waren, so dass sie keiner besonderen Aufmerksamkeit bedurften." (Taylor 1992, S. 24f., Hervorhebung H. A.) Genau auf dieses „selbstverstandlich" kommt es an, denn in dieser Hinsicht hat sich in der Modeme etwas Entscheidendes geandert. Taylor schreibt: „In friiheren Zeiten (...) wurde die Anerkennung nie zum Problem. Allgemeine Anerkennung war schon deshalb ein fester Bestandteil der gesellschaftlich abgeleiteten Identitat, weil diese Identitat auf gesellschaftlichen Kategorien beruhte, die niemand anzweifelte." (Taylor 1992, S. 24) Das muss man wohl so interpretieren, dass die Menschen in vormodemer Zeit sich einer Besonderung nicht bewusst zu werden brauchten, weil sie sich in einem gleichen Rahmen von Werten und Normen bewegten und ihr Denken und Handeln so fortfUhrten, wie sie es alle und seit je getan batten. Was sie anerkannten, war denn auch das Typische und Normale und von alien Erwartete.io Will man fur diese Aufmerksamkeit fur- bzw. Reaktion aufeinander das Wort „Anerkennung" verwenden, dann muss man es sich wohl als stumme Registrierung des Nicht-aus-dem-Rahmen-Fallens vorstellen! Das ist in der Modeme vollig anders. „Die aus dem Inneren begriindete, unverwechselbar personliche Identitat genieBt diese selbstverstandliche Anerkennung nicht. Sie muss Anerkennung erst im Austausch gewinnen, und dabei kann sie scheitem. Neu ist daher nicht das Bediirfnis nach Anerkennung, neu ist vielmehr, dass wir in Verhaltnissen leben, in denen das Streben nach Anerkennung scheitem kann. Deshalb wird dieses Bediirfnis heute zum erstenmal tatsachlich wahrgenommen." (ebd.) Diesen Gedanken des Scheitems hat HEINER KEUPP aufgegriffen. Er vertritt die These, „dass gesellschaftliche Prozesse der Enttraditionalisiemng, der Entgrenzung und Entrahmung, die vor allem mit Begriffen wie »Risikogesellschaft« oder »Postmodeme« angesprochen sind, die bislang vertrauten Rahmenbedingungen ftir Anerkennung und Zugehorigkeit (...) gmndlegend in Frage stellen. Die Folge davon ist, dass (...) »Identitaten in einem Dialog ohne gesellschaftlich vorab festgelegtes Drehbuch geformt« (Taylor 1992, S. 26) werden mtissen." (Keupp 10

Das habe ich oben unter der Uberschrift „Typische Individualitat und traditionelles Verhalten" (Kap. 2) behandelt.

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1997, S. 13f.) Deshalb kommt Keupp im Kapitel „Identitat und Anerkennung" zu folgendem Fazit: „Der Auszug aus dem »Gehause der Horigkeit« ist offensichtlich sehr viel riskanter, als es in manchen postmodemen Animationen klingt. Es fehlt sowohl ein schiitzendes Dach als auch ein tragendes Fundament. Fiir das Leben als Landstreicheri 1 sind offenbar die meisten Menschen nicht besonders gut vorbereitet und gerustet. Zunehmend wird auch erkennbar, was neben der Zwangsgestalt von diesem Gehause gleichzeitig auch geboten wurde: Zugehorigkeit und Anerkennung." (Keupp 1997, S. 26) Und umgekehrt muss in einer Gesellschaft, die alien Individuen eigene Wurde und unbedingte Gleichheit verbrieft, jede Nicht-Anerkennung gerade auf dieser Ebene als Verweigerung der Identitat verstanden werden. Auf der Ebene intemationaler Politik zielt der Kampf um Anerkennung auf nationale Identitat, auf der Ebene sozialer Ungleichheiten auf gleiche Wurde und auf der Ebene der sozialen Interaktion auf Chancengleichheit im Aushandeln der eigenen Identitat. Das war das Thema im Definitionsansatz bei ANSELM STRAUSS und auch bei ERVING GOFFMAN. JURGEN RiTSERT interpretiert Anerkennung im Sinne Kants als „ethische Norm" und bezieht sie damit ganz grundsatzlich auf jede Kommunikation zwischen Individuen. Danach gebietet die Norm der Anerkennung, „anderen Personen nicht nur strategisch zu begegnen, sie also nicht bloB als Mittel fur die eigenen Ziele, Zwecke und Interessen zu behandeln. Als Trager eines freien Willens sind sie vielmehr als »Zwecke an sich selbst« zu achten; ihre Wurde als Subjekt ist anzuerkennen." (Ritsert 2001, S. 138f.) Wo Anerkennung fehlt, kann sich kein Selbstbewusstsein ausbilden, wo sie nicht gewahrt wird, kommt es nicht zur Solidaritat. Im Gegenteil: Es gibt kaum eine empfindlichere Verletzung als die soziale Missachtung oder gar Demiitigung. Aus dieser Frustration der Wiirde der Identitat folgt unausweichlich Aggression bis zum zerstorerischen Hass.i2 11

Keupp spielt hier auf die These von Zygmunt Bauman (1993) an, dass wir in einer Zeit der Ambivalenz und Beliebigkeit geistige Landstreicher sind. Ich komme in Kap. 28.5 ,3auman: Das Ende der Eindeutigkeit" darauf zuriick. 12 Das fanatische Verhalten der Selbstmordattentater, die seit einiger Zeit auch im Herzen des Feindes Terror entfachen, kann man mit dieser Verweigerung der Anerkennung erklaren. Als Ende 2005 Jugendliche, deren Eltern schon aus ehemals franzosischen Kolonien eingewandert waren, in den Vorstadten im Mutterland Nacht fur Nacht Autos anzUndeten, erklarten sie selbst es auch damit, dass sie sich in ihrer kulturellen Identitat missachtet fuhlten.

26 Ansprliche

371 Dafangt ihr nun schon an, euch gegenseitig zu beobachten, Gesichter zu studieren, geheime Gedanken zu lesen. FjodorM. Dostojewski (1861) 13

26.2

Anspruch auf Nichtaufmerksamkeit

„Identitat" wird in der Regel mit „Individualitat" und „Einzigartigkeit" assoziiert, und so haben wir auch den Anspruch, dass wir von den anderen in unserer Einzigartigkeit bemerkt und anerkannt werden. Das setzt den Mut voraus, aufzufallen, und das ist erstens nicht jedermanns Sache, zweitens merkt man schnell, dass die Aufmerksamkeit, die man erzielt, nicht nur wohlwoUend ist, und drittens ist es anstrengend, immer und uberall aufzufallen. Kurz: das Individuum lebt weniger anstrengend, wenn ihm - wie Goffman es genannt hat - ein „Mindestma6 an Nichtaufmerksamkeit" zuteil wird! Das klingt zunachst paradox, doch Goffman zeigt, dass nicht bemerkt zu werden die Chancen von Identitat keineswegs schmalert. Er erklart es aus der ICritik GEORGE HERBERT MEADS: richtig sei dessen Annahme, dass das, was ein Individuum fur sich ist, beileibe nicht allein von ihm entschieden wird, sondem das Ergebnis der Erfahmngen ist, die es mit den Reaktionen der anderen gemacht hat. Falsch sei aber zu glauben, „die einzigen relevanten Anderen waren diejenigen, die dem Individuum anhaltende und besondere Aufmerksamkeit zu schenken bereit seien." (Goffman 1971, S. 367) Mead ubersehe, dass das Individuum auch von Leuten umgeben ist, die daran interessiert sind, ihm keine Aufmerksamkeit schenken zu mtissen. Sie haken sein Verhalten unter „gewohnte Normalitat" ab, zur Not sehen sie sogar liber Nicht-Normalitat hinweg! Das Spektrum der Konstruktionen entsprechender Wirklichkeit ist breit: Manches deuten wir so um, dass es in unsere Normalitatserwartungen passt; manches nehmen wir von vomherein auch gar nicht zur Kenntnis, um unser Bild vom anderen zu erhalten. Es ist ahnlich wie beim Problem der Normverletzung: wiirde man jede Unnormalitat aufmerksam registrieren, wiirde man seines Handelns nicht mehr sicher sein. Etwas platter und naher an einer Theorie der Identitat: Eine Mutter, die ihren pubertierenden Sohn von morgens bis abends beobachtet, wird wahnsinnig (und macht wahnsinnig); eine pubertierende Tochter, 13 Fjodor M. Dostojewski (1861): Die Erniedrigten und Beleidigten, S. 669

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Anspriiche

die grundsatzlich alles anders machen will, setzt sich so sehr unter Beobachtung, dass sie Identitat/wr sich nicht mehr findet.i^ Und was tut das Individuum, um der Aufmerksamkeit zu entgehen? Nun, es tut in den meisten Bereichen des Lebens so, als ob es so normal wie die anderen ist. Diese Fahigkeit, „als jemand zu erscheinen, der ohne Gefahr unbeachtet gelassen werden kann, ist tief verwurzelt. Es gibt nichts, was tiefer, nur einiges, was genauso tief verankert ist." (Goffman 1971, S. 367) Deshalb muss das Individuum so tun, als ob es so normal wie alle anderen ist. Indem es sich so ahnlich wie die anderen prasentiert, also seine Identitat gerade nicht an eine auffallige Besonderheit bindet, vermeidet es Aufmerksamkeit und unliebsame Anspriiche und schiitzt seinen individuellen Freiraum. Hinter der Strategic gespielter Normalitat („phantom normalcy") scheint die Angst vor der Gefahrdung der Identitat auf. Das hat Goffman fiir den Stigmatisierten eindrucksvoll beschrieben. Ich meine aber, dass diese Strategic langst nicht mehr nur vom sozialen AuBenseiter verfolgt wird, der auf diese Weise versucht, doch noch „dazuzugehoren", sondem von alien, denen die soziale Beachtung in ihren Bezugsgruppen wichtig ist. Riesmans These von der AuBenleitung sollte zu denken geben! Es ist immer eine SUnde, wenn wir uns nicht mit dem begniigen, was uns die Welt von sich aus gibt, oder mit dem, was ein Mensch uns freiwillig bietet, es ist immer eine SUnde, wenn wir mit gieriger Hand nach dem Geheimnis eines anderen Menschen greifen. SdndorMdrai(1941)^^

26.3

Anspruch auf Diskretion und das Recht auf Indiskretion

„Dass alle Beziehungen zwischen Menschen auf dem Wissen ruhen, das der eine von dem anderen hat", das halt Simmel fiir eine banale Selbstverstandlichkeit. (Simmel 1906a, S. 108) Und auch die nachste These ist eigentlich nicht iiberraschend, gleichwohl deutet sie schon ein Problem der Interaktion an: „Der ganze Verkehr der Menschen beruht 14 15

Manche totale Institutionen, wie z. B. Umerziehungslager oder fanatische Heilsgruppen, zielen mit dem Mittel der Dauerbeobachtung auf den Verlust der alten Identitat und den Aufbau einer neuen! Ich komme darauf zuriick. Sandor Marai (1941): Wandlungen einer Ehe, S. 67

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darauf, dass jeder vom andem etwas mehr weiB, wie (sic! H. A.) ihm der andre offenbaren will. (...) Der Mensch nimmt (namlich, Erganzung H. A.) nicht nur das wahr, was ihm der andere mitteilt, sondem auch, was er selbst beobachtet und kombiniert." (Simmel 1906b, S. 82) Das Problem bestiinde also darin, dass jemand unbeabsichtigt einen bestiromten Eindruck vermittelt, was ein anderer als Indiz fur seine innerste Personlichkeit halt. Warum halten wir es in aller Regel nicht fiir ein wirkliches Problem? Simmel gibt drei Antworten. Erstens unterstellt jeder Mensch beim anderen ein natiirliches GespUr fiir Grenzen, die man nicht iiberschreiten darf. Simmel nennt es „Diskretion". Zweitens erkennt jeder in bestimmten Situationen ein legitimes Recht auf Indiskretion durchaus an. Drittens werden Grenzen oft ungewollt iiberschreiten, denn auch dem anstandigsten Menschen gelingt es beim besten Willen nicht, Fehler und Peinlichkeiten beim anderen immer zu ubersehen. Diese Tatsache hat auch etwas Beruhigendes, konnen wir doch davon ausgehen, dass sich bei jedem die Dinge hinter der Grenze anders darstellen als vor ihr. Zur ersten Antwort. Simmel schreibt: „Fiir unser Bewusstsein liegt um jeden Menschen herum eine ideelle Sphare, in die einzudringen den Personlichkeitswert dieses Individuums zerstort. Der Radius jener Sphare bedeutet die Distanz, in der man sich zu den Menschen halten muss." (1906b, S. 82)16 Simmel nennt das Gefuhl fiir die notwendige Distanz zur inneren Personlichkeit wie gesagt „Diskretion". Diskretion bedeutet nicht, „dass man vor den Geheimnissen des andem Respekt hat, sondem, dass man sich der Kenntnis alles dessen enthalt, was der andere positiv nicht offenbaren will." (Simmel 1906b, S. 82) Der andere hat einen Anspruch auf Diskretion, und wir haben zu respektieren, dass es in unserer gemeinsamen Beziehung etwas gibt, das wir nicht wissen. Bestimmte Facetten der Identitat bleiben also im Dunkeln. Jede Interaktion beinhaltet einen Rest Ungewissheit. Beides blenden wir im Alltag aus, indem wir so tun, als ob es nicht der Fall oder in der konkreten Situation nicht relevant ware.

16

Ahnlich klingt es bei Emile Durkheim: ,J)ie Personlichkeit des Menschen ist etwas Heiliges; man wagt nicht, sie zu verletzen, man halt sich fern von ihrem Umkreis (...)•" (1906, S. 86) Gleich werde ich zeigen, wie Goffman diese These und die von Simmel aufgreift, um eine Strategie des Individuums zu beschreiben, Besonderheit durch symbolischen Abstand zu suggerieren.

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Ansprtiche

Kommen wir zur zweiten Antwort, wo Simmel noch einmal betont, dass es „ein seelisches Privateigentum" gibt, „in das einzudringen eine Ladierung des Ich in seinem Zentrum" bedeutet. (Simmel 1906a, S. 109) Aber, wendet Simmel ein, „das Recht jenes seelischen Privateigentums kann so wenig ganz unumschrankt bejaht werden wie das des materiellen." (ebd.) Ftir letzteres gibt es „im Interesse des sozialen Ganzen" zu Recht gesellschaftliche Vorschriften, wie man es erwirbt und wie man damit umgeht. Analoges gelte auch fur das erstere Recht: „Im Interesse des Verkehrs und des sozialen Zusammenhaltes muss der eine vom andem gewisse Dinge wissen, und dieser andere hat nicht das Recht, sich vom moralischen Standpunkt dagegen zu wehren und die Diskretion des anderen, d. h. den ungestort eigenen Besitz seines Seins und Bewusstseins auch da zu verlangen, wo die Diskretion die gesellschaftlichen Interessen schadigen wUrde." (S. 109f.) Wer einen Kredit beantragt, muss sich die Frage nach seinen Vermogensverhaltnissen gefallen lassen, wer oberster Richter werden will, muss einem strengen Ausschuss Rede und Antwort stehen, und wer Gretchen die Ehe verspricht, muss mit der Frage rechnen, wie er es mit der Religion halt. Im Sinne einer verlasslichen und vertrauensvollen Zusammenarbeit sind solche Grenzuberschreitungen sozusagen geboten. Es gibt also ein gewisses Recht auf Indiskretion. Die dritte Antwort handelt von der unwillentlichen Uberschreitung der Grenze der Schicht der Personlichkeit, die der Welt zugewandt ist. (vgl. Simmel 1906a, S. 108) Das gerade angesprochene „gewisse Recht auf Indiskretion" ruht fur Simmel - wie uberhaupt „der ganze Verkehr der Menschen"! - namlich darauf, „dass jeder vom andem etwas mehr weiB, als dieser ihm willentlich offenbart, und vielfach solches, dessen Erkanntwerden ihm, wenn er es wusste, hochst unerwunscht ware." (S. 110) Diese einigermaBen uberraschende These kann man nur so verstehen, dass wir uns wechselseitig unter Generalverdacht stellen und deshalb auf der Hut sein miissen. Aus dieser Einstellung leitet Simmel nun „das gewisse Recht auf Indiskretion" ein zweites Mai ab, wobei er einraumt, dass der Umfang dieses Rechts sehr schwer zu bestimmen sei. Die Menschen meinen namlich, wenn sie keine Gewalt anwenden, an Turen horchen oder fremde Briefe offnen, dass sie das Recht haben, „alles das zu wissen", was sie „rein durch psychologische Beobachtung und Nachdenken ergrunden" konnen. (ebd.)

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Ansprilche

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Dem aufmerksamen Beobachter fallt einiges auf, der noch mehr Interessierte spioniert es womoglich auch aus, dem anstandigen Menschen fallt nolens volens einiges nur zu, aber auch er vergisst es nicht so leicht. Das Spektrum der Beobachter und Konstrukteure der Bilder vom anderen ist breit. Da sind die „psychologisch Feinhorigen", denen die anderen „unzahlige Male ihre geheimsten Gedanken und Beschaffenheiten" verraten, „nicht nur, obgleich, sondem oft gerade, well sie angstlich bemtiht sind, sie zu huten." (Simmel 1906a, S. 110) Und naturlich gibt es auch die gescharfte Aufmerksamkeit, „das gierige, spionierende Auffangen jedes unbedachten Wortes; die bohrende Reflexion: was dieser Tonfall wohl zu bedeuten habe, wozu jene AuBerungen sich kombinieren lieBen, was das Erroten bei der Nennung eines bestimmten Namens wohl verrate". All das uberschreitet fUr Simmel „die Grenze der aufierlichen Diskretion nicht." (ebd.) Solange jemand keine indiskreten Fragen stellt, kann man ihm sein Denken nicht verbieten. Dass das allerdings in die Richtung laufen kann, die ANSELM STRAUSS beschrieben hat, sollten wir nicht aus dem Auge verlieren: Die „Kombinationen" konnen zu Spiegeln werden, in denen sich der andere spater nicht mehr wieder erkennt! Und schlieBlich die Indiskretion, die der anstandige Mensch begeht: „So sehr der anstandige Mensch aber sich solches Nachgrtibeln tiber die Verborgenheiten eines anderen, solche Ausnutzung seiner Unvorsichtigkeiten und Hilflosigkeiten verbieten wird, so besteht hier doch eine besondere Schwierigkeit: Erkenntnisse dieses Gebietes stellen sich oft so automatisch und ohne absichtliches Nachdenken ein, sie stehen oft so unlibersehbar vor uns, dass es selbst dem besten Willen zur Diskretion nicht gelingt, sich des geistigen Antastens »alles dessen, was sein ist«, zu enthalten." (Simmel 1906a, S. llOf.) Die Grenze zwischen dem offenen Interesse an der Identitat des anderen und dem „automatisch unbewussten (...) Nachgrtibeln liber die Verborgenheiten eines andem" (Simmel 1906b, S. 82) ist schwer einzuhalten. Wiirden wir das erstere nicht signalisieren, konnte der andere das so interpretieren, dass wir ihn eines solchen Interesses nicht fiir wert erachten. Wiirde das zweite zu offensichtlich, miisste er das als penetrante Neugier empfinden. Kurz: In den Beziehungen des AUtags beanspruchen die Individuen ein MindestmaB an Aufmerksamkeit und zugleich an Nichtaufmerksamkeit!

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Ansprliche

Man durfte sich nicht zu nahe kommen. (...) Manchmal wusste man nicht, mit wem man gesprochen hatte. Das waren sozusagen Idealfdlle derNichtberiihrungsfeste. (...) Es gehorte dazu, dass viele Leute beisammen waren, aufeher engem Raum, sie sollten sich beinahe drdngen und doch so ausweichen konnen, dass sie einander nicht einmal streifen. Die Kunst besteht darin, einander so nahe zu sein und doch nichts Wichtiges von sich zu verraten. Elias Canetti (2003) 17

26.4

Symbolischer Abstand

Ich habe eben an Simmels These, dass wir durch unser Verhalten unbeabsichtigt etwas zum Ausdruck bringen, das andere zum Indiz fur unsere wahre Personlichkeit hochrechnen, die Frage angeschlossen, wie wir das Risiko umgehen oder wenigstens mindem konnen, dass etwas von uns gedacht wird, das wir nicht sein woUen. Neben Simmels Antworten mochte ich nun die stellen, die ERVING GOFFMAN gegeben hat. Sie hangt mit dem anstrengenden Geschaft der Darstellungen und Eindruckskontrollen zusammen. Goffman hat diese Strategien so eindringHch beschrieben, dass hochst beeindruckte Kollegen ihn, wie gesagt, als „Autoritat fur impression management" (Scott u. Lyman 1968, S. 86) bezeichnet haben. Ich will auch noch einmal in Erinnerung rufen, wie ALVIN W . GOULDNER Goffmans „bUrgerliche Welt des impression management" beschrieben hat: Sie werde „von angstlichen, auBengeleiteten Menschen mit feuchten Handen bewohnt, die in der permanenten Angst leben, von anderen bloBgestellt zu werden oder sich unabsichtlich selbst zu verraten." (Gouldner 1970, S. 457) Einige Strategien habe ich an anderer Stelleis schon beschrieben, jetzt mochte ich eine Strategic vorstellen, die auf einen symbolischen Abstand abzielt. Goffman bezeichnet sie als „Mystifikation". Mystifikation, wie schon das Wort sagt, wird dadurch erzeugt, dass sich die Darsteller mit Geheimnissen umgeben. Das kann sich z. B. auf Herkunft, Kontakte oder Informationen, tiber die man verfugt, beziehen. Die Darsteller ergehen sich in Andeutungen, die aber im Dunkeln bleiben, und vermitteln dadurch den Eindruck, etwas Besonderes zu sein. Andere haben den Anspruch, etwas Besonderes zu sein, haben 17 18

Elias Canetti (2003): Party im Blitz, S. 68 Vgl. oben Kap. 23 „Goffman: Wir alle spielen Theater".

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Ansprliche

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aber nichts Besonderes vorzuweisen und folglich auch kein Geheimnis, in dem das verborgen lage. Ftir sie besteht das Problem darin, „das Publikum daran zu hindem, dies ebenfalls zu bemerken". (Goffman 1959, S. 65) Darsteller mit solchen falschen Anspriichen schweigen gem demonstrativ liber sich oder lacheln tiefsinnig distanziert vor sich bin. Auf die Anerkennung der Besonderheit zielt eine andere Strategie, die Wahrung einer sozialen Distanz. Es ist eine Methode, „beim Publikum Ehrfurcht zu erzeugen." (Goffman 1959, S. 62) Eine abweisende Miene, ein bewachtes Vorzimmer oder verdunkelte Scheiben im Auto haben diese Funktion und erzielen auch den entsprechenden Effekt. Man kann den Anspruch auf Distanz aber auch ganz anders interpretieren, so wie es bei Simmel und Durkheim anklang: Es ist keine Provokation, sondem der Versuch, die Integritat der Personlichkeit vor einem indiskreten Zunahetreten zu schlitzen. Interessanterweise lasst sich soziale Distanz aber auch aus der Sicht der Zuschauer positiv begriinden. Goffman zitiert dazu den Berater des Konigs von Norwegen, der sich mit dem Gedanken trug, seine Popularitat zu steigem, indem er statt des Autos die StraBenbahn beniitzte: „Ich sagte ihm, er miisse sich auf ein Podest stellen und dort bleiben; dann erst konne er auch gelegentlich gefahrlos heruntersteigen. Das Volk wolle keinen Konig, mit dem es auf ein Picknick gehen kann, sondem etwas Ungreifbares wie das delphische Orakel. Die Monarchic sei in Wirklichkeit die Schopfung jedes einzelnen Gehims. Jedermann uberlege sich geme, was er tun wurde, wenn er Konig ware. Das Volk schreibe dem Monarchen jede nur erdenkbare Tugend und Fahigkeit zu. Es miisse deshalb enttauscht sein, wenn es ihn wie einen gewohnlichen Menschen auf der StraBe umhergehen sehe." (zit. nach Goffman 1959, S. 63f.)i9 19

Dass der Wunsch nach Abstand sogar bei Unterdriickten bestehen kann, hat Dostojewski aus der eigenen Erfahrung in einem Straflager beschrieben: Den Straflingen gefallt eine zu vertrauliche Art ihres Vorgesetzten nicht, weil sie ihn dann „unwillkurlich nicht mehr achten". Er soli sich mit Orden schmiicken, moglichst auch bei noch Hoheren in Gunst stehen und seine Wurde wahren. Der Strafling, beschreibt Dostojewski die damit verbundene Haltung auf gegenseitigen Respekt, liebt solche Vorgesetzte am meisten, „die da wissen, was sie sich schuldig sind, und wenn der Vorgesetzte auch ihn, den Strafling, nicht verletzt, so ist alles gut und schon." (Dostojewski 1860, S. 172) Erklaren kann man diesen Wunsch mit einer stellvertretenden Aufwertung der eigenen Person.

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Anspriiche

Goffman zieht aus diesem Ratschlag aus den 1950er Jahren den Schluss, dass auch das Publikum Distanz wahren will. (vgl. Goffman 1959, S. 64) Fiir diese Interpretation wurde sprechen, dass sich das Publikum durch die symbolische Partizipation an der Einzigartigkeit der entriickten Idealgestalten selbst aufwertet.20 Moglicherweise hatte der Berater des Konigs aber noch etwas anderes im Hinterkopf: Aus Vertraulichkeit kann leicht Verachtung werden. Das hat schon der weltkluge spanische Philosoph und Pessimist BALTASAR GRACIAN so gesehen: „Den vertraulichen Fu6 im Umgang ablehnen. Weder sich noch anderen darf man ihn erlauben. (...) Jede Leutseligkeit bahnt den Weg zur Geringschatzung. (...) Mit niemandem ist es rathch, sich auf einen vertrauten Fu6 zu setzen, (...) am wenigsten aber mit gemeinen Leuten, weil sie aus Dummheit verwegen sind und, die Gunst verkennend, welche man ihnen zeigt, solche fur Schuldigkeit halten." (Gracian 1647, Handorakel 177) Zweihundert Jahre spater hat HANS CHRISTIAN ANDERSEN in der bedriickenden Parabel „Der Schatten" (1846) beschrieben, wie es einem hoflichen Mann, der seinem Schatten gegeniiber nicht mehr auf Distanz bestehen und ihm sogar das Du anbieten wollte, ergangen ist: Der Schatten fuhlte sich durch dieses Angebot „gleichsam zu Boden gedriickt" und wollte es nicht dulden. Generos wolle er sich aber herablassen, ihn, seinen friiheren Herm, nun zu duzen. Wie es weitergegangen ist, konnen Sie selbst nachlesen.21

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Ich bin mir allerdings nicht sicher, ob dieses feine Gefuhl fiir Abstande heute, in einer Zeit, in der uns die Regenbogenpresse die allerletzten Intimitaten der Royals brlihwarm erzahlt und das Fernsehen jeden Pickel ausleuchtet, uberhaupt noch vorhanden ist. Es konnte namhch auch ganz umgekehrt sein, dass man namlich Distanz bestreitet und den anderen, „der im Grunde auch die Pommes mit den Fingern isst", erst symbolisch herabzieht, um sich so symbolisch aufzuwerten. Sie sollten aber auch das soziologische Zitat vor Kap. 21.1 nicht vergessen!

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Behauptungen, Revisionen, Verwandlungen

27.1

Uber Identitatsbehauptung, negative Identitat und Strategien gegen Entindividualisierungserfahrungen IJber „die" Wahrheit der Biographie und unmerkliche Glattungen tJber Konversion, Umwandlungen und Therapie

27.2 27.3

In ihren Uberlegungen iiber eine „aktuelle Dimension des Anerkennungskonfliktes" hat SiGRUN ANSELM bei dem kritischen Philosophen ERNST BLOCH „eine schone Formulierung zur Identitat" gefunden, die mir auch gefallt: Danach ist Identitat „das im Erscheinenden noch nicht Erschopfte" (Bloch 1962, S. 510; Anselm 1997, S. 138), und weil das so ist, sei fiir Bloch „Identitat an eine Fahigkeit, an ein Vermogen der Subjekte gebunden, (...) sich in der sozialen, sich wandelnden Welt zu behaupten, ohne die innere Kontinuitat und den Kontakt zu den Ursprlingen des eigenen Selbst (...) zu verlieren". (Anselm 1997, S. 138; Hervorhebung H. A.) Und deshalb entscheidet sich flir Anselm die Frage nach „den Moglichkeiten von Identitat vor dem Hintergrund der Individualisierung" an der Fahigkeit, die Identifizierung des Individuums durch andere und seine Selbstbehauptung gegenliber ihren Erwartungen und Einschatzungen in Einklang zu bringen. (S. 139) Selbstbehauptung als Fahigkeit und Anspruch tritt an die Stelle des „gro6en Pathoswortes" der siebziger Jahre „Selbstverwirklichung" (Anselm 1997, S. 139), das auf alles passte und alles guthieB, wenn es nur irgendwie mit Identitat und der Opposition zu irgendeinem normalen Leben zusammengebracht werden konnte. In einer Zeit der Pluralisierung und Beliebigkeit, in der alles moglich ist, fehlt dieser Stachel der Opposition. Was allerdings nicht weggefallen ist, ist die immer wieder neue Frage, wer man ist und wie man von anderen identifiziert wird. Und dabei kommt auch regelmaBig das ungute Gefiihl hoch, dass zwischen dem Bild, das wir von uns haben und das wir auch anderen geme vermitteln wollen, und dem, das andere von uns haben, manchmal eine erhebliche Lucke klafft. Das mag der Weise, der sich selbst genug ist, mit mildem Lacheln hinnehmen, und der Narr, der weiB, was

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Behauptungen, Revisionen, Verwandlungen

wirklich Sache ist, wiirde sich darob vergniigt die Hande reiben, doch wir, die beides (leider, gottlob?) nicht sind, stecken das nicht so leicht weg. Wir haben bin und wieder durchaus das Gefuhl, nicht so anerkannt zu werden, wie wir das fur angemessen halten, und manchmal haben wir sogar Angst, dass unsere Identitat bedroht ist. Dann wunschen wir uns die Kraft, uns gegen die Zumutungen der anderen zu behaupten. Wir kennen aber auch den Fall, dass jemand sich allmahlich oder von heute auf morgen verandert. Oft dauert es lange, bis man merkt, dass da „plotzlich" ein ganz anderer Mensch vor uns steht. Kurz: Identitat steht nicht fest, und wenn wir ganz genau hinsehen, dann ist das kein Problem nur der anderen, sondem eines jeden von uns. Meine These ist, dass wir standig dabei sind, unsere Identitat auf Vordermann zu bringen. Dazu bedarf es einiger Glattungen und Korrekturen. Das gestehen wir uns zwar nicht geme ein, aber Tatsache ist, dass wir stets nur eine Identitat behaupten, deren Vergangenheit ebenso offen ist wie ihre Zukunft. Ich benutze das Wort „Behauptung" also in einem zweiten Sinne: Wir vermitteln einen Eindruck, den wir auch fur wahr halten. SchlieBlich wissen wir, dass Menschen sich total wandeln oder unter Druck sogar umgewandelt werden konnen. Beispiele sind Konversionen, die eine neue soziale Identitat nach sich Ziehen, Gehimwasche und andere Indoktrinationen, die sie unweigerlich erzwingen, und Therapien, die im Grunde an die Stelle einer kranken Identitat eine neue, gesunde Identitat setzen woUen. Allen drei Verwandlungen ist gemein, dass sie zwischen einer alten und einer neuen Identitat trennen und dass die neue Identitat durch die wiederholte Behauptung, von nun an anders zu sein, stabiUsiert wird resp. bekannt werden soil. Ich benutze den Begriff Behauptung deshalb in dem Sinne, ein Urteil liber ein Phanomen, hier die neue Identitat, zu bekrdftigen. Diejenigen, die an einer solchen Verwandlung beteiligt waren, erwarten diese Behauptung als Bekenntnis und Beweis der Wahrheit der Verwandlung, und die Verwandelten selbst wehreni damit den Zweifel der anderen an ihrer neuen Identitat ab. Wenden wir uns zunachst dem Alltagsgeschaft zu, unsere Identitat gegentiber Zumutungen zu wahren. 1

Damit riickt der Begriff der Behauptung wieder etwas in die Nahe der ersten Konnotation!

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Behauptungen, Revisionen, Verwandlungen

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Wennjemand den Schauspielem aufder Buhne die Maske herunterzureijien versuchte, um den Zuschauern das wahre, naturliche Gesicht zu zeigen, wUrde er dann nicht die ganze Illusion zerstoren und wert sein, dass alle ihn wie einen Wahnsinnigen aus dem Theater jagten? Erasmus von Rotterdam (1508) 2

27.1

Uber Identitatsbehauptung, negative Identitat und Strategien gegen Entindividualisierungserfahrungen

Welche Anstrengungen Individuen untemehmen, um die Lucke zwischen dem Anspruch auf eine eigene Identitat und den Zumutungen und Gefahrdungen durch andere zu schlieBen, dtirfte bei Goffmans Schilderung der Strategien der Diskreditierten und Diskreditierbaren^ deutlich geworden sein. Ihre Anspriiche auf Anerkennung bzw. Nichtaufmerksamkeit sind letztlich nichts anderes als Anspriiche auf Unversehrtheit der Identitat. Doch wer sich in die Interaktion mit anderen begibt, muss damit rechnen, dass er im Handel um Identitat den Kiirzeren zieht, und es gibt auch Situationen, wo jemandem von vomherein das Recht auf eine personliche Identitat bestritten wird. Und schlieBlich kann sich das Individuum auch existentiellen Gefahrdungen ausgesetzt sehen, die das Bild von der eigenen, unversehrten Identitat in Frage stellen. Solche belastenden Situationen hat UWE SCHIMANK im Sinn, der die Versuche, mit Bedrohungen und Gefahrdungen der Identitat als „Identitatsbehauptung" (2000, Kap. 5.2) charakterisiert. Er versteht den Begriff in dem Sinne, dass sich jemand gegen etwas, in diesem Fall gegen eine falsche Definition der eigenen Identitat oder die Nichtanerkennung der einzigartigen Individualitat behauptet. Auch Schimank geht davon aus, dass die Identitat eines Akteurs sozialer Bestatigungen bedarf, was impliziert, dass sie „in dessen Selbstdarstellung auch sozial prasentiert werden" muss. (Schimank 2000, S. 128) Prasentation und Anerkennung sind ein zirkularer Prozess, in dem sich die sozial anerkannten Bestandteile der Identitat verfestigen. (vgl. S. 129) Andererseits ware es aber fatal, wiirde das Individuum ausbleibende oder zu schwache Bestatigungen oder gar Zweifel an seiner sozi2 3

Erasmus von Rotterdam (1508): Lob der Torheit, S. 47f. Vgl. oben Kap. 25.4 „Diskreditierte: Korrekturen und doppelte Konstruktion von Normalitat*'.

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alen Identitat gleich als existentielle Krankung werten. Das ist naturlich leicht gesagt, und - wie Erikson die Jugend als Phase des „Selbstzweifels" Oder Berger, Berger und Kellner den Hang zum „angstvollen Forschen" (Berger u. a. 1973, S. 72) bei der modemen Identitat ausgemacht haben - in bestimmten Lebensphasen oder auch schon strukturell unter den gesellschaftlichen Bedingungen des modemen Selbstbewusstseins nicht so leicht zu vermeiden. Dennoch: „Ein gewisses MaB an Starrsinn und Beharrungsvermogen, an Selbstgewissheit gegeniiber Nichtbestatigung" (Schimank 2000, S. 129f.) ist fur den Glauben an sich selbst unverzichtbar! Die Selbstsicherheit hangt naturlich davon ab, welches Selbstvertrauen man im Laufe der Sozialisation aufgebaut hat - und das reicht weit zurtick in die friihe Kindheit! - und welche sozialen Bestatigungen man von wichtigen Bezugspersonen erhalten hat. Auch das ist eine lange Geschichte, und auch hier wird man nur vermuten konnen, wer wie und in welchen Situationen was bestarkt Oder beschadigt hat. Jedenfalls steht am Ende dieser Geschichte immer ein bestimmtes Bild, das das Individuum von sich selbst hat. Zu diesem Bild gehort aber nicht nur der Report der Erfahrungen und Ruckmeldungen, sondem in dieses Bild gehen auch Zukunftsvorstellungen, wer man sein wilH, ein. Sie sind ein wichtiger Antrieb unseres Handelns, auch wenn sie selten explizit gemacht werden. Die Identitat, wie wir sie aktuell flir uns annehmen und in der wir von den anderen aktuell identifiziert werden, ist das Ergebnis einer individuellen Vergangenheit und Startpunkt einer individuellen Zukunft. Wenn unser aktuelles Bild von uns nun in irgendeiner Weise in Frage gestellt wird, dann reagieren wir nicht deshalb so empfindlich, weil wir als vorlaufiges Endprodukt unserer eigenen Geschichte in Frage gestellt werden, sondem weil wir unbewusst um die Moglichkeiten unseres nachsten Handelns furchten. Seine Identitat gegen Gefahrdungen zu behaupten heiBt, sich die Zukunft nicht verbauen zu lassen. Goffmans Analysen haben gezeigt, dass Personen mit einem sichtbaren korperlichen oder sozialen Stigma genau damm ringen, sich eine halbwegs normale Zukunft offenzuhalten. Wer die Degradiemng seiner Identitat nicht von vomherein oder kampfesmtide hinnimmt, muss sie in irgendeiner Form Das klang auch in dem einleitenden Zitat von Ernst Bloch an. Schimank fiihrt dessen Gedanken des „im Erscheinenden noch nicht Erschopften'* welter und stellt fest, dass „fur jedes Selbstbild (...) eine Selbstuberschreitung, ein »Nochnicht« (Bloch 1959) konstitutiv ist." (Schimank 2000, S. 124)

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behaupten. Einige der wichtigsten Strategien habe ich oben beschrieben. Schimank fuhrt noch einige andere Praktiken der Identitatsbehauptung auf, mit denen ein Akteur das Feld der Anerkennungen und Bestatigungen zu strukturieren sucht. Eine besteht darin, soziale Nichtbestatigungen umzudefinieren. (vgl. Schimank 2000, S. 139) Wem es z. B. nicht gelingt, seine Nachbam davon zu iiberzeugen, dass ein stabiles Mannertrio eine schone Form der Beziehung sein kann, der pfeift auf ihre Anerkennung und schickt sie in den Orkus der verklemmten Spie6er, Oder er zieht weg. Neben dem Wechsel der Bezugsgruppe erwahnt Schimank noch die „PluraHsierung der sozialen Umgebung" (ebd.), was bedeutet, sich fur die einzelnen Facetten der Identitat verschiedene Resonanzen zu verschaffen oder auch die vielen Facetten ganz oder in ausgewahlten Kombinationen vor moglichst vielen Spiegeln zu zeigen. Je mehr Spiegel bestatigen, was man zu sein vorgibt, umso leichter ist ein „falscher" Spiegel zu verkraften. Eine andere Praxis der Identitatsbehauptung sieht Schimank in der Inszenierung in einer Rolle, eine weitere in der Distanzierung von ihr. Flir beide Strategien hat Goffman anschauliche Beispiele geliefert.5 Im Grunde genommen versucht das Individuum die Normativitat der Rollen dadurch auBer Kraft zu setzen, dass es entweder jeden Spielraum nutzt, um in seiner Rolle Kompetenz und Brillanz zu demonstrieren, oder dass es neben der Rolle zeigt, wer es auBerdem und „wirklich" ist. Im ersten Fall behauptet es seine Identitat, indem es die soziale Unterschatzung, nur ein Radchen im Getriebe zu sein, widerlegt; im zweiten Fall behauptet es seine Identitat, indem es seinen Relevanzraum ins Spiel bringt. In dem Zusammenhang muss eine Identitatsbehauptung angesprochen werden, die ERIK H . ERIKSON als Wahl einer „negativen Identitat" bezeichnet hat. Er hatte festgestellt, dass manche seiner Patienten eine Identitat wahlten, die sich „beharrlich auf alle jene Identifizierungen und Rollen stlitzte, die ihnen in kritischen Entwicklungsstadien als die unerfreulichsten und gefahrlichsten und doch auch als die wirklichsten" vorgekommen waren. (Erikson 1968, S. 180) So wahlte ein Junge, dessen Mutter seinem verstorbenen Bruder alle Zuneigung widmete, schlieBlich die Identitat des Kranken, um so Zuneigung zu erzwingen. Ein Madchen, das mit den liberzogenen Wiinschen seiner Eltem nicht 5

Vgl. oben Kap. 23.3 „Dramatische Auftritte" und 23.4 ,J^ollendistanz".

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mehr fertig wurde, lief davon und wahlte die RoUe als Prostituierte. Erikson sieht in solchen „rachsuchtigen Entscheidungen zu einer negativen Identitat" den „verzweifelten Versuch (...), in einer Situation wieder einigermaBen die Herrschaft zu gewinnen, in der die zur Verfugung stehenden positiven Identitatselemente einander ausschlieBen." (Erikson 1968, S. 181) Die Worte einer jungen Frau, dass sie »wenigstens in der Gosse ein Genie ist«, umreiBen fiir Erikson „die Erleichterung, die der totalen Wahl einer negativen Identitat folgt". (ebd.) Erikson spricht nicht zufallig von einer „totalen" Wahl, denn wo jemand nicht als ganzer in seiner Identitat anerkannt wird, mag seine Reaktion der Identitatsbehauptung in eine totale Gegenidentitat, eben eine negative, umschlagen. Sie hatte den Vorteil, alle Seiten des Selbstbildes zusammenzuhalten. Wenden wir uns nun noch einer Art von Identitatsbedrohungen zu, die Schimank „Entindividualisierungserfahrung" (Schimank 2000, S. 137) nennt. Eine Extremform der Entindividualisierung haben wir in Goffmans Beschreibungen „totaler Institutionen" schon kurz kennengelemt.6 In solchen Institutionen, in die Menschen meist nicht freiwillig hineinkommen - psychiatrische Kliniken, Gefangnisse u. a. - wird der Tagesablauf genau reglementiert und kontrolliert, die Bewegungsfreiheit wird eingeschrankt, vertrauliche Gesprache mit bestimmten Bezugspersonen werden nicht zugelassen oder mitgehort, die Insassen werden in eine Anstaltskleidung gesteckt, die alle gleich aussehen lasst, und an die Stelle des Namens tritt oft eine Nummer oder „der Fall x, y". Totale Institutionen entindividualisieren. Schimank spricht eine zweite Form der Entindividualisierung an, die erst in der modemen Gesellschaft und zwar insofem aufgekommen ist, als „die Person zum Individuum" wurde und „ihre Identitat die Form der Individualitat"7 annahm. (Schimank 2000, S. 137) Warum sollte genau das zu einer spezifischen Identitatsbedrohung fuhren? Schimank schreibt: „Individualitat als Identitatsform bedeutet zum einen, dass eine Person in ihrem Auftreten unverwechselbar und dadurch einzigartig wirkt. Zum anderen zeigt sich die Individualitat einer Person darin, dass diese in ihrem Handeln trotz aller sozialen Einflusse selbstbestimmt erscheint. Individualitat ist also, auf eine Kurzformel gebracht. 6 7

Siehe oben Kap. 25.3 „Definitionsmacht". Vgl. dazu auch oben Kap. 10.2 „Simmel: Qualitativer Individualismus der Differenten" und 10.4 „Individualitat: frei, selbstbestimmt und einzigartig".

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selbstbestimmte Einzigartigkeit. Dies kann graduell erheblich zwischen Personen variieren und beruht zudem in starkem MaBe auch auf Fiktionen. Aber dennoch ftihlt jeder modeme Mensch sich zutiefst in seiner Identitat bedroht, wenn ihm diese Individualitat nicht sozial bestatigt wird, sondem er - so das gelaufige Gegenbild - als »Massenmensch« behandelt wird. Denn der »Massenmensch« ist nicht einzigartig, sondem einer unter vielen, denen er zum Verwechseln ahnlich ist; und der »Massenmensch« handelt nicht selbstbestimmt, sondem von der Masse getrieben so wie alle anderen um ihn hemm." (Schimank 2000, S. 137) Gegen diese Entindividuahsiemng behaupten viele in Zeiten der AuBenleitung ihre Identitat, indem sie sich vormachen, sie machten nicht alles mit oder, wenn sie etwas „mitmachen", sie allein taten es aus irgendwelchen vemlinftigen Griinden und hochst eigenem Interesse. GEORG SIMMEL hat die Kapricen und Wunderiichkeiten geschildert, die die Menschen in der anonymen (eigenthch eine ganz interessante Bezeichnung fiir das Ergebnis von EntindividuaUsiemngsprozessen!) GroBstadt untemehmen, um so zu tun, als ob sie doch eine besondere IndividuaHtat hatten.8 Vielleicht ist das Gefiihl der Identitatsbedrohung aber auch gar nicht so verbreitet, wie besorgte Soziologen es vermuten. Ich erinnere dazu an die Beschreibung der modemen Personhchkeit, die CLYDE KLUCKHOHN und HENRY A. MURRAY gehefert haben. Sie schreiben: „Every man is in certain respects Hke all other men, like some other men, like no other men." (1948, S. 35) Und wenn nun die allermeisten sich damit auch in dem, was sie konnen und beanspruchen, richtig beschrieben sahen?! Ich gebe es zu bedenken.9 Jedenfalls ist unsere Vorstellung von unserer Identitat durchaus beweglich. Wie flexibel wir sind, wird deutlich, wenn man sich die Behauptungen, wer wir friiher waren und wer wir „deshalb" heute sind, etwas genauer ansieht. Damm geht es im folgenden Kapitel, dessen tjberschrift nicht als Verdacht, schon gar nicht als Verdikt gelesen werden darf. Vgl. oben Kap. 1L5 „Innere Reserve, Kampf um Aufmerksamkeit, Ubertreibung der Eigenart". Lesen Sie dazu auch noch einmal nach, was ich gerade im Kap. 23.5 „So tun, als ob: normal wie alle und ganz einzigartig" referiert habe. Ich erinnere aber auch noch einmal an Griinde, warum wir uns moglicherweise gar nicht so oft um Einzigartigkeit reiBen. Ich habe sie in Kap. 10.4 „Individualitat: frei, selbstbestimmt und einzigartig'* angesprochen.

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27 Behauptungen, Revisionen, Verwandlungen Wer ist heutigen Tages noch so harmlos, dass er Weltgeschichten undBiographienfur richtig halt? Wilhelm Busch (1886) 10 „ »Das habe ich getan«, sagt mein Geddchtnis. »Das kann ich nicht getan haben« - sagt mein Stolz und bleibt unerbittlich. Endlich - gibt das Geddchtnis nach. Friedrich Nietzsche (1886) H

27.2

Uber „die" Wahrheit der Biographie und unmerkliche Glattungen

Dass sich unsere Identitat im Laufe des Lebens andert, diirfte nach den vielen Perspektiven, die die Soziologie auf sie eingenommen hat, klar sein. Dass wir selbst zwar geme annehmen, das sei nicht der Fall, spricht ftir unsere gute Meinung von uns, trifft aber nicht die Fakten. Um eine Desillusionierung des naiven Glaubens an unsere Identitat, wenn wir denn uberhaupt uber sie nachdenken, kommen wir selbst da nicht herum, wenn wir rekapitulieren, wie wir zu dem geworden sind, wie wir heute sind. Es geht also um die Wahrheit der biographischen Identitat. Fiir ANSELM STRAUSS ist auch sie ein Prozess, in dem unter dem Eindruck immer neuer Erfahrungen und sozialer Erwartungen Identitat permanent konstruiert wird. Um es gleich vorweg in eine griffige Form zu bringen: Wir erinnem uns, wie wir friiher waren und wie eines in das andere griff, so wie es zu dem Bild, wie wir heute sein wollen, passt. Nach der Theorie von Mead wird sich der Mensch seiner selbst bewusst, indem er denkt, und dieses Denken ist ein inneres Gesprach, das ego mit alter flihrt und in dem es seine und ihre (gemeint die von ego und alter) Rollen durchspielt und Reaktionen reflektiert. Ego tut es in der Sprache, also in dem symbolischen Universum seiner Gesellschaft Oder Gruppe. Sprache ist nicht nur Bezeichnung, sondem auch Bewertung. Obwohl es in jeder Gesellschaft einen vagen sozialen Konsens uber Werte und Normen gibt, sind die sozialen Bewertungen weder in alien Gruppen gleich noch stehen sie im Wandel der sozialen Organi10 Wilhelm Busch (1886): Von mir uber mich, S. 9. 11 Friedrich Nietzsche (1886): Jenseits von Gut und Bose, IV, 68. Spruch.

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sation unseres Lebens fest. Das hat Konsequenzen fur die soziale Identitat, die uns in einer konkreten Situation zugewiesen wird, wie fiir die biographische Identitat. Wir reflektieren auf sie in der bewertenden Sprache, die aktuell fiir uns relevant ist. Konkret heiBt das, dass wir die Frage, wer wir waren, unbewusst in die Frage kleiden, was dazu gefiihrt hat, dass wir heute so sind, wie wir sind. Wir versuchen also eine Kontinuitat zwischen damals und heute herzustellen. Das Problem besteht aber darin, dass sich die Relevanzstrukturen, unter denen wir das tun, im Laufe unseres Lebens und unter dem Einfluss der konkreten oder gedachten Anderen, mit denen wir es zu tun haben, andem. Fur uns ist heute etwas relevant, das wir vielleicht gestem noch gar nicht kannten und das wir morgen moglicherweise schon wieder vergessen haben. Wir haben uns vielleicht in einer bestimmten Situation in einer Weise verhalten, die uns heute peinlich ware, oder Dingen keine Bedeutung beigemessen, die uns jetzt hochst wichtig sind. Diese Veranderungen der Definitionen unserer selbst und der Dinge hangen damit zusammen, wie relevante Bezugspersonen die Dinge und uns definieren. Wir werden durch die Erwartungen und Spiegelungen der Anderen beeinflusst, ob wir das wollen oder nicht. Manchen Erwartungen kommen wir auch gem entgegen und manchen sozialen Bildem von uns wollen wir auch gem gerecht werden, anderen entschieden nicht. In jedem neuen Fall, wo diese Frage ansteht, muss das Bild, das wir von uns zeigen wollen, mit dem abgeglichen werden, das wir friiher abgegeben haben. Wieder muss ich betonen, dass das selten bewusst geschieht. In einer Welt, die sich rasant wandelt, und angesichts der Pluralisiemng von Werten und Erklamngen der Wirklichkeit bleibt es gar nicht aus, dass sich auch das, was man tiber sich selbst sicher glaubt, andert. Das kann mit eigenen widerspruchlichen Erfahmngen zusammenhangen, die man irgendwie erklaren muss, aber auch mit den unterschiedlichen Bildem, die die Spiegel der vielen anderen zuriickwerfen. Und da viele Bilder, auch wenn sie einander widersprechen mogen, viel fiir sich haben, und da niemand vor der AuBenleitung gefeit ist, ergeben sich, ohne dass wir das intendieren, auch neue Perspektiven der Biographie. Und so schmerzlich es klingen mag: „Das Selbst ist gegen eine tjberpriifung unter neuen Perspektiven nicht immuner als jedes andere Objekt." (Strauss 1959b, S. 32) Wer z. B. in eine Gmppe „von ganzen

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Kerlen" gerat, wird die Tatsache, dass er sich nie getraut hat zu rauchen, als Bestandteil seiner biographischen Identitat neu bewerten mtissen. Am einfachsten ist es, diese Facette gar nicht erst bekannt werden zu lassen. Identitat, als Erinnerung, wer man gewesen sein mochtei2, und als Bild, wie man vor anderen erscheinen mochte, ist Identitat im Spiegel der anderen! In dieser permanenten Wechselwirkung zwischen den Erwartungen der anderen und unseren Reaktionen in Form von Presentation eines bestimmten Bildes von uns bleiben auch die Bewertungen unseres eigenen Lebens nicht starr. Konkret: Auch die Erinnerung, wer wir gewesen sind, gerat unter den wechselnden Erwartungen der anderen unter Druck, und andererseits nutzen wir stillschweigend Optionen, sie zu revidieren. Die biographische Erinnerung ist keineswegs eine feste und genaue Abbildung irgendeines Ereignisses. Selbst ausgefiihrte Handlungen sind „in gewisser Hinsicht niemals voUendet, (...) allein die Moglichkeit der Erinnerung erlaubt eine Neubewertung. Das kann ganz unbewusst vor sich gehen, denn der Prozess des Erinnems impliziert Selektion und Rekonstruktion des realen Geschehens; gewisse Aspekte der erinnerten Handlung entfallen oder bleiben im Hintergrund, andere dagegen rticken in den Vordergrund. Wir andem unsere Einstellung zu vergangenen Akten nicht unbedingt, aber moglicherweise; einige fur wichtig gehaltene Akte werden unter Umstanden so viele Male reinterpretiert, wie neue Orientierungen oder Fakten zuganglich werden." (Strauss 1959b, S. 31) Manche Akte werden auch einfach aus der Biographic gestrichen, wie schon FREEDRICH NIETZSCHE wusste. Seine Meinung von der schopferischen Leistung unseres Gedachtnisses haben Sie vor diesem Unterkapitel gelesen. Erinnerung ist nachtragliche Bewertung einer biographischen Identitat damals zum Zwecke einer Identitat, wie wir sie heute brauchen. Die biographische Identitat ist eine Ordnung vom Ende her. Es ist, als ob man jeder Epoche seines Lebens „im Zeichen des Endprodukts einen Sinn gabe." (Strauss 1959b, S. 158) „Die Vergangenheit", heiBt es bei GEORGE HERBERT MEAD, „ist ein UberflieUen der Gegenwart." (Mead 1929, S. 341) Und das Gedachtnis ist wohltatig: Es vergisst im Laufe 12

Wegen dieses Hangs zum WUnschen unter wechselnden sozialen Organisationen habe ich den Begriff „concept" in Kap. 24.2, Anm. 3 auch als „Konzept" und „Vorstellung" ubersetzt.

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der Zeit vieles, was nicht mehr zu uns passt.i3 Wer auf sein Leben zuriickblickt und feststellt, wie sich die Dingen verandert und Prioritaten aus Lust Oder Not verandert haben, muss diese Erfahrung irgendwie auf die Reihe kriegen. Das erfolgt in einer kontinuierlichen Glattung der Aufs und Abs zu einer schonen aufsteigenden Linie, die auf wundersame Weise just da endet, wo man gerade ist. Strauss sieht es so: „Das Bewusstsein einer Konstanz der Identitat ist also eher auf seiten des Beobachters als »im« Verhalten selbst." (Strauss 1959b, S. 159) Wir unterziehen die Erinnerung an unsere Identitat kontinuierlich einem update. 14 Solche unmerklichen oder ausdriicklichen Revisionen erfolgen laufend und unbewusst. Wir sollten sie auch nicht moralisch werten - weder bei uns, noch bei den anderen! - , sondem einfach sehen, was sie fur das Individuum sind: Sie sind der Versuch, eine Kontinuitat in das schweifende Leben zu bringen und das Bild von sich selbst vor den wechselnden Spiegeln zusammenzuhalten. Diese permanente Korrekturarbeit sieht Strauss eindrucksvoll in einem Satz von ERIK H . ERIKSON zum Ausdruck gebracht, wonach das Gefiihl von Identitat „niemals ein fur allemal gewonnen noch behauptet wird. Wie ein gutes Gewissen wird es standig verloren und wiedergewonnen." (Erikson 1954; zit. nach Strauss 1959b, S. 116f.) Wenn ULRICH BECK davon spricht, IndividuaHtat mache alles aus, was man gewesen ist und gleichzeitig ist, denkt und tut (Beck 1993, S. 152), dann muss man sagen, dass in der ersten Hinsicht manches im Nachhinein noch in die richtige Form gebracht werden kann. Virtuosen der Identitat schreiben ihre Biographic immer wieder zu einer Erfolgsgeschichte um. In der Tendenz gehen wir alle so mit den Bildem von uns in der Vergangenheit und den Ereignissen, die wir damit assoziieren, um. Nicht jeder wird sich dabei freihch am Ende einer individuellen Erfolgsgeschichte sehen, aber unter dem Strich werden die allermeisten in ihrer Biographic das Passende finden, um plausibel fur sich und die anderen zu erklaren, dass sie heute so sind, wie sie sind.

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Jakob Wassermann sah es so: „Ruckblicke sind immer tendenzios, meist in der Form der Verneinung. Es gibt eine spezifische Eitelkeit des Resumees." (1931: Etzel Andergast, S. 344) Wie riskant das Problem der Informationskontrolle ist, das damit oft impliziert ist, dlirfte bei Erving Goffmans Beschreibung der Strategien von „Diskreditierbaren" deutlich geworden sein. (Vgl. oben Kap. 25.5)

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Die Umgestaltung der Vergangenheit ist so alt wie die Geschichte der Menschheit, „ausgesprochen modem bei diesem Spiel mit der Neuschopfung der Welt sind nur die Haufigkeit und Hast der Uminterpretationen im Leben des einzelnen und die zunehmende Selbstverstandlichkeit, mit der heute zwischen verschiedenen Weltverstandnissen gewahlt wird." (Berger 1963, S. 68) Die Griinde liegen in der AuBenleitung des modemen Menschen, der sich vielen und wechselnden Bezugsgruppen gegeniibersieht und denen er naturlich auch eine Identitat prasentieren muss, die ihn fur die Beziehung zu ihnen qualifiziert. Sie liegen dariiber hinaus in der Pluralisierung der Welterklarungen und Sinnorientierungen, mit denen sich das Individuum der Modeme Ansichten von sich selbst verschaffen kann. Plausibilitatsstrukturen verflUssigen sich, und Verpflichtungen und Optionen stehen nicht mehr in einem festen Verhaltnis zueinander. Der Mensch in der Modeme steht vor vielen Wirklichkeiten zugleich, und jede verlangt eine bestimmte Einstellung. Das Problem durchzieht alle Theorien der gesellschaftlichen Rahmung von Individualitat, namentlich die Rollentheorie. Fur eine Identitatstheorie heiBt das Problem, die individuelle Biographie auf die Bedingungen und Moglichkeiten dieser pluralen Wirklichkeit abzustimmen. Das Bild, wer man „wirklich" gewesen ist, gerat unmerklich unter Dmck. Erikson hat dafiir eine Begriindung abgegeben. Er spricht von einem „unbewussten Streben nach einer Kontinuitat des personlichen Charakters" und behauptet, dass Identitat zum „Kriterium der stillschweigenden Akte der Ich-Synthese" wird. (Erikson 1956, S. 124f.) Die Erinnemng an die eigene Biographic gerat unter die Behauptung einer Identitat, die man angesichts der Pluralitat der Wirklichkeit fiir moglich halt. Und auch diese Moglichkeit, Identitat neu zu konstmieren, hat ihre soziale Funktion: Sie offnet neue Wege zu neuen Bezugsgmppen, von denen man als Individuum anerkannt oder in einer bestimmten Funktion gebraucht wird. Vorausgesetzt, dass die priifende Wiederdurchsicht, denn so lautet die wortliche Ubersetzung von „Revision", schonungslos, rational und konstmktiv erfolgt, ist eine neue Sicht auf die individuelle Identitat keine Schande und kein Unfall (und auch kein „Umfallen"), sondem ein doppeltes Angebot: an das Individuum selbst, das sich damit auf einen neuen Weg in sein weiteres Leben begeben kann.

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und an die Bezugspersonen, ihm reflektierte Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Dass beides naturlich auch eine emste Herausforderung darstellt, will ich nicht leugnen. Man braucht einigen Mut dazu. Saulus wutete immer noch (...) gegen die Junger des Herrn. (...) Unterwegs aber, ah er sich bereits Damaskus ndherte, geschah es, dass ihn plotzUch ein Licht vom Himmel umstrahlte. (...) Sofortfiel es wie Schuppen von seinen Augen. (...) Er stand auf und lieji sich taufen. (...) Paulus Apostelgeschichte 9 Wer glaubt,filrden Anbruch einer neuen Zeit sorgen zu miissen, der kann es nicht bei den alten Namen belassen, der muss umtaufen, umschildern, neue Flaggen setzen. Siegfried Lenz (1978)^^ 27.3

Uber Konversion, Umwandlungen und Therapie

Besonders intensiv sind Revisionen der Identitat an „Wendepunkten" der Biographie. Solche Wendepunkte konnen freiwillige tJbergange zu einem neuen Status sein, z. B. beim beruflichen Aufstieg oder beim Abschied von der Identitat als unbektimmerter Junggeselle, sie konnen aber auch durch das Schicksal, z. B. Krieg oder Krankheit, oder andere Menschen, z. B. Herrscher liber unser Denken, erzwungen werden. Und naturlich kann sich das Bild, das wir von uns haben, auch durch allmahliche oder auch schlagartige neue Erkenntnisse uber den „eigentlichen" Sinn unseres Lebens und unsere Aufgabe darin andem. Ich nenne drei Beispiele fUr einen Wandel der Identitat: Konversion, totale Umerziehung bzw. Gehimwasche und Therapie. Es sind Wendepunkte, an denen Individuen ihre Identitat fUr sich und vor anderen neu definieren. Eine der wichtigsten Erkenntnisse der Wissenssoziologie ist, dass „die" Wirklichkeit, in der wir leben, eine Konstruktion ist. An dieser Konstruktion ist die Gesellschaft beteiligt, die uns im unaufhorlichen Prozess der Sozialisation nahebringt, wie wir die Dinge um uns herum 15 Siegfried Lenz (1978): Heimatmuseum, S. 417f.

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zu sehen haben. An dieser Konstruktion sind wir nattirlich auch selbst beteiligt, denn bei allem vemtinftigen Druck, uns und die Gesellschaft im „richtigen" Licht des „man" zu sehen - einen Rest von Andersheit und Widerspruch behalten wir uns doch vor - zumindest an dem Punkt, wo wir uns als Individuum ansehen und meinen, anders als manche anderen zu sein. Soziologisch lebt das Individuum in einer doppelten Welt: in der objektiven Welt, deren Wirklichkeit von der Gesellschaft konstruiert ist, und in seiner subjektiven Welt, die es sich im Laufe des Lebens selbst zurechtbastelt. Wie es die erste bis zum Beweis des Gegenteils fur wirklich und richtig halt, so halt es die zweite fiir wirklich und wahr. Beide Wirklichkeiten, das hat die Wissenssoziologie ebenfalls betont, wandeln sich und lassen sich verandem. War friiher wirklich, dass die einen von Geburt an zum Herrschen und die anderen zum Dienen bestimmt waren, ist heute die Botschaft von der Gleichheit langst in alien Kopfen angekommen. An diesem Beispiel wird auch deutlich, dass sich in dieser Hinsicht die Wirklichkeit nicht allmahlich nur gewandelt hat, sondem dass sie kraftig verdndert worden ist. Gleiches ist auch flir die subjektive Wirklichkeit zu konstatieren. Auch sie kann sich allmahlich wandeln, indem wir z. B. nach und nach unseren naiven Kinderglauben an das Gute im Menschen mit der schlauen Erkenntnis uberwinden, dass alle anderen uns nur ubers Ohr hauen wollen. Solche Definitionen der Wirklichkeit haben nattirlich Konsequenzen in unserem Handeln, und deshalb scheint sich die subjektive Wirklichkeit auch immer wieder zu bestatigen. Die subjektive Wirklichkeit kann aber auch durch ein Ereignis oder dadurch, dass jemand - ein anderer oder das Individuum selbst - in ihre Sinnstruktur eingreift, verdndert werden. Dann verandem sich auch die Vorstellungen des Individuums von seiner eigenen Welt, und es andert sich auch seine personliche Identitat. Ein besonders dramatisches Ereignis, an dem das Individuum kraftig mitarbeitet, ist die Konversion. Darunter verstehe ich eine grundlegende religiose Neuorientierung. Die Konversion ist ein Wendepunkt der Identitat. Berger und Luckmann sehen in der Konversion „den Extremfall der nahezu totalen Transformation" der subjektiven Welt, in dem „der Mensch »umschaltet« von einer Welt zur anderen, beziehungsweise eine Welt gegen eine andere austauscht." (Berger u. Luckmann 1966, S. 167) Solche Transformationen nennen Berger und Luckmann »Ver-

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wandlungen«. Es sind Prozesse, in denen die Relevanzstrukturen der Identitat neu geordnet werden. Das impliziert, auch die Biographie neu zu ordnen. Manche verwerfen sie total, doch da Vergessen nicht so leicht ist, hilft sich das Unbewusste auf andere Weise: Es stellt im Nachhinein Zusammenhange her, die zeigen soUen, dass einiges schon immer unbewusst auf die neue Identitat hingedrangt hat oder umgekehrt das totale Gegenbild war. Beide Rekonstruktionen dienen dem Ziel, den uberragenden Wert der neuen, wahren Erkenntnis herauszustreichen. Zur Not bauscht man einiges auch auf, entwirft Legenden oder bedient sich in aller Unschuld frommer Liigen: „Da man leichter etwas erfindet, was sich nie ereignet hat, als etwas vergisst, das sich ereignet hat, fabriziert man Ereignisse und fugt sie ein, wo immer sie gebraucht werden, um Erinnerung und neue WirkUchkeit aufeinander abzustimmen. Weil dem Einzelnen die neue WirkUchkeit nun absolut plausibel erscheint, kann er absolut »aufrichtig« sein. Subjektiv erzahlt er keine Liigen uber die Vergangenheit, er bringt sie vielmehr »auf Vordermann« jener einen »Wahrheit«, die Vergangenheit und Gegenwart umgreifen muss." (Berger u. Luckmann 1966, S. 171)16 Konversionserzahlungen sind denn auch keine „unvoreingenommenen, »objektiven« Schilderungen", sondem interessierte, subjektive „Rekonstruktionen, bei denen biographische Ereignisse so selektiert, geordnet und gedeutet werden, dass ein konsistenter Lebenszusammenhang sichtbar wird, der in Einklang mit der durch die Konversion erworbenen Identitat des Darstellers steht." (Ulmer 1988, S. 19, Hervorhebung H. A.) Das kann man zum einen damit erklaren, dass dem anderen, dem man in einer neuen sozialen Identitat gegeniibersteht, eine plausible Geschichte erzahlt werden muss, damit er die Verwandlung nachvollziehen kann. Zum anderen spielt aber auch das BedUrfnis des Konvertiten eine Rolle, sich die Dramatik der Verwandlung und ihre Konsequenzen klar zu machen. Die Bausteine, die man fiir die Errichtung des neuen Identitatsgebaudes letztlich verwendet oder verwor-

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So stellte sich Thomas Mann auch vor, wie Israels Hirten ihren Anteil an der Geschichte des Stammes spater zum Gegenstand „schoner" Gesprache machten: „Guten Gewissens stellten sie manches um und verschwiegen anderes um der Geschichte Reinheit willen." (Thomas Mann (1933): Die Geschichten Jaakobs, S. 163f.)

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fen hat, werden genau bezeichnet, um sich klar zu machen, dass nur dieses Gebaude errichtet werden konnte! Deshalb weisen autobiographische Konversionserzahlungen auch durchgangig eine „dreigliedrige Zeitstruktur" mit den Phasen „davor", „Wendepunkt" und „danach" auf. (vgl. Ulmer 1988, S. 22) Die Vorphase wird durchaus nicht total verworfen, sondem nur soweit negativ gedeutet, dass die Korrektur der Identitat durch das Konversionsereignis umso leuchtender erscheint. Die Vorphase endet in der Regel in einer Krise, wo sich das Individuum alleingelassen sieht und wo es verschiedene Anstrengungen untemimmt, seinem Leben eine neue Richtung zu geben. Die Schilderung des Scheitems dient ebenfalls dazu, den Wert des Konversionserlebnisses herauszustreichen. Der neuen Identitat wird sozusagen im Nachhinein die Feuertaufe attestiert. Das Konversionsereignis selbst wird als hochst dramatisch und totale Erschlitterung der Identitat erinnert. Geradezu schlagartig kommt es zu einer „transfomiativen Metamorphose" (Zurcher u. Snow 1981, S. 462), nach der im Grunde nichts mehr so ist, wie es friiher war. Das Leben bekommt einen neuen Sinn. Mancher nimmt sogar einen neuen Namen an und nennt sich fortan Paulus oder Muhammad Ah. Die Phase „danach" wird dann als Beweis erzahlt, dass das Konversionsereignis die einzig richtige Losung der biographischen Krise war und dass es die neue Identitat zuverlassig auf Kurs halt. Mit der Darlegung der Grunde fur die neue Identitat und der emphatischen Schilderung, was sich seitdem alles geandert hat, stellen sich die Bekehrten gewissermaBen unter offentliche Beobachtung und setzen sich damit unter Zugzwang. Wenden wir uns dem zweiten Fall der Umwandlung der Identitat zu, der totalen Umerziehung bzw. der Gehimwdsche, Als Beispiele fiir diese Strategien der Ausloschung einer alten und Erzwingung einer neuen Identitat werden in der soziologischen Literatur die korperlichen und geistigen Torturen, mit denen im kommunistischen China Studenten umerzogen oder amerikanische Gefangene total „umgedreht" werden sollten, oder die stalinistischen Schauprozessei7 der 1930er Jahre angefuhrt. In jungerer Zeit liefem Berichte aus fanatischen Sekten, de-

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Diese Demontage der Identitat hat Arthur Koestler eindringlich in seinem beklemmenden Roman „Sonnenfinsternis" (1941) beschrieben.

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nen sich vor allem Jugendliche anschlieBen, Beispiele ftir die Umwandlung der Identitat. Ich will nur wenige Anmerkungen zu dieser extremen Form der erzwungenen Identitatsarbeit machen. Auffallig ist an der „kalkulierten Destruktion" der alten Identitat durch totale Umerziehung die Methode der „Entidentifizierung" (Strauss 1959, S. 127ff.). So wurden chinesische Studenten nach der kommunistischen Revolution in Schulen auf dem Lande zusammengefuhrt, wo sie tagelang in politische und moralische Diskussionen verwickelt wurden. Sie wurden zur harten Arbeit auf den Feldem verpflichtet und mussten mitansehen, wie die Bauem die ehemaligen Gutseigentumer brutal demiitigten. Wer dabei Mitleid zeigte, wurde offentlich geziehen, seine Freunde nicht von seinen Feinden unterscheiden zu konnen. Zur systematischen Umdrehung gehorte auch, dass die Studenten regelmaBig Berichte liber ihre Eltem, ihr Leben und ihre Ansichten von der Gesellschaft schreiben mussten. Diese Berichte wurden offentlich verlesen und diskutiert. Der tiefere Sinn war, das „falsche Denken" zu entlarven und mit der Indoktrination des „richtigen Denkens" allmahlich auch eine neue Sicht auf die alten Bindungen zu erzwingen. Das trat dann auch tatsachlich ein. Erklaren kann man diese Verwandlung so: Wo eine bestimmte Erklarung des Lebens nicht mehr zugelassen wird, passt sich das Denken schlieBlich an! Bezogen auf eine soziologische Theorie der Identitat kann man sich der Tatsache nicht verschlieBen, dass die Konstruktion der Identitat nach den Mustem erfolgt, die in einer sozialen Bezugsgruppe gelten. Exklusive Bezugsgruppen mit hoher Definitionsmacht und totaler Kontrolle lassen keine Varianten zu. Mit jeder Neufassung der Berichte losten sich die alten Loyalitaten etwas mehr; die Identifikationen mit Ideen und Personen wurden immer schwacher. (vgl. Strauss 1959, S. 130) Die Betroffenen erlebten ihre Losung als Loyalitdtsbruch. Deshalb stellten sich Scham, Selbstvorwurfe und Angst ein. Das ist der Punkt, wo ich die soziale Gruppe der Leidensgenossen ins Spiel kommen sehe. Unter dem Druck kollektiver Angst spiegelt sie die Angste des Einzelnen, indem sie sie als naturliche, aber notwendige Reaktion bestatigt. Obwohl jeder Einzelne vielleicht genau so tief in seine Selbstvorwurfe verstrickt sein mag, unter den Augen der Macht wird sich die Gruppe prasentieren, als ob sie schon viel weiter auf dem richtigen Weg ware! Was bedeutet das fur die Identitat des Einzelnen? Es ist wie mit dem

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geteilten Leid: Der Verlust der eigenen Identitat wird leichter ertragen, wenn man sieht, dass auch die anderen das hinter sich haben - und dennoch weiterzuleben scheinen.is In manchen Prozessen der totalen Umwandlung der Identitat kommt es zu einer direkten Zuordnung von Opfem und Vertretem der Definitionsmacht. In Umerziehungslagem haben letztere eine doppelte Funktion: Sie weisen nach, dass nichts, was das Individuum uber sich oder die gesellschaftlichen Verhaltnisse denken konnte, anders als nach dem richtigen Denken gedacht werden kann. Und zweitens kontrollieren sie laufend den Stand der neuen Identitat, indem sie Bekenntnisse einfordem und das tatsachUche Verhalten beobachten. Sie sind Fiihrer, mit denen sich das Opfer identifizieren muss, um uberleben zu konnen. In totahtaren religiosen Gemeinschaften hat der Fiihrer eine andere Funktion. Er ist die Person, mit der man sich identifizieren will. Fiir diesen Rang gibt es mehrere Griinde. Man hat sich ihm genahert, weil einem etwas fehlt. Ob er das wirkHch hat, was man tatsachhch gesucht hat, spielt bei dem Leidensdruck letztHch keine Rolle mehr. Jedenfalls bietet er ein vollstandiges Bild seiner selbst, bei dem keine Erklarungen offen bleiben. Seine Identitat scheint volhg im Gleichgewicht zu sein. Deshalb gilt er auch iiber kurz oder lang als Inbegriff des richtigen Lebens. Er ist der Guru, auf den die JUnger alle ihre Wunsche projizieren. Er tritt auch als jemand auf, der aus der FuUe der eigenen Erfahrungen die Angste der Novizen beim tJbergang in eine neue Identitat gut nachvollziehen kann. Er umarmt den Zauderer mit seiner Sympathie und leitet ihn mit der Sicherheit des „richtigen" und „einzigen" Urteils, wer er zu sein und welchen Weg er zu gehen hat. Eine Bedingung, diesen Weg zu gehen, ist, dass das Individuum die Brticken hinter sich abbricht und Personen aus seinem friiheren Leben konsequent meidet. Es ist eine hermetische Identitat, die in diesen totalitaren Gemeinschaften erzeugt wird. Da sie von einer festen Gruppe Gleichdenker gespiegelt wird, wird sie auch nicht in Zweifel gezogen. Im Gegenteil: Die Mitglieder der Gruppe verfestigen durch ihr Denken und Handeln wechselseitig die sozialen Bedingungen, unter denen Identitat auch gar nicht anders gedacht werden kann.

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Diese Selbstsuggestion unter den Augen der Gruppe ist m. E. eine Erklarung fur den Erfolg von Gruppentherapien.

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Ich komme zu einem dritten Prozess der Umwandlung oder zumindest: Veranderung der Identitat, der Therapie, genauer der psychologischen oder psychoanalytischen Therapie. Auf den ersten Blick soil Therapie etwas heilen, was krank ist. Was ihre eigentliche Funktion aber ist, erschlieBt sich, wenn man die griechische Herkunft des Wortes bedenkt. Es hat namlich mit „dienen" zu tun, und deshalb verstehe ich Therapie unter dem Aspekt der Arbeit an der Identitat als Unterstutzung dessen, was ein anderer tut - und was er selbst will. Eine notwendige Zwischenbemerkung: Obwohl ich sonst der Wissenssoziologie und der These von der „gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit" (Berger u. Luckmann 1966) geme folge, verstehe ich hier Therapie anders als Berger und Luckmann. Sie sehen in ihr eine Form der sozialen Kontrolle, durch die eine abweichende Sicht auf die eingelebten gesellschaftlichen Verhaltnisse korrigiert werden soil. (vgl. S. 121) Therapie ist danach eine gesellschaftlich notwendige Form der Korrektur der Identitat. Die Theorien, die dazu herangezogen werden, sind deshalb auch zunachst und ausschlieBlich Legitimationstheorien der Gesellschaft. Ihr soziales Ziel ist, den Abweichler wieder einzufangen und ihn mit der Gesellschaft zu versohnen. Jede Therapie stellt nach diesem soziologischen Verstandnis ein theoretisches Wissen liber eine ganz bestimmte Gesellschaft zur Verfugung, erklart sie also, und bringt den anders Denkenden dazu, es zu intemalisieren. „Eine erfolgreiche Therapie (...) resozialisiert den Abweichler in die objektive Wirklichkeit der symbolischen Sinnwelt seiner Gesellschaft." (S. 122) Naturlich tangiert diese Therapie im Dienst der Gesellschaft auch die Identitat. Aber die Perspektive, unter der Berger und Luckmann sie problematisieren, ist eine andere: Die Gesellschaft sozialisiert ihre Mitglieder so, wie sie sie braucht. Und folglich therapiert sie sie auch so, wie sie sein sollen. Therapien operieren mit „gesellschaftlichen Identitatszuschreibungen". (vgl. S. 188, Hervorhebung H. A.) Im Gegensatz zu dieser Einordnung der Therapie in immerwahrende gesellschaftliche Legitimation betrachte ich sie hier als Hilfe, dem Individuum beizustehen, wenn es seine Identitat aus sich heraus begriindet oder neu entwirft! Wenige Satze mogen geniigen, um anzudeuten, wie die Therapie dem Individuum hilft, eine neue Identitat zu finden oder Telle einer alten zu korrigieren. Einige Therapien beginnen mit ausfUhrlichen Lebensberichten, andere ermuntem die Patienten, ihre Traume zu deuten oder zu tatsachlichen Erlebnissen oder gedachten

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Bildem zu assoziieren. Auf diese Weise sollen sie den Rahmen finden, in dem ihre Identitat Kontur gewonnen oder Schaden gelitten hat. Bei dieser Rekonstruktion spielen immer wieder die Erfahrungen mit hinein, die das Individuum aktuell mit sich und seiner sozialen Situation macht. Und auch sie sollen nach und nach erklart werden. SchlieBlich soil das Individuum im Vergleich der beiden Erklarungsprozesse auch entdecken, dass die Erklamngen durch bestimmte Bilder, die es von sich hat, beeinflusst sind. Sie konnen lange unbewusst sein oder von Anfang an und ganz entschieden ins Spiel gebracht worden sein, sie konnen mit Angsten besetzt sein oder Wunsche beinhalten, wer man sein mochte. In dem MaBe, wie das Individuum die Differenz zwischen dieser gedachten Zukunft und jenem Rahmen begreift, beginnt die Revision der Identitat. Der erste und entscheidende Schritt ist, dass das Individuum sich zutraut, das Bild einer neuen Identitat in neuen Begriffen zu denken. Bestimmte Therapien halten den Patienten auch an, nach den neuen Erklamngen des Sinns seines Lebens konkret zu handeln. Es werden kleine Szenen des Alltags unter der Vorgabe einer neuen Identitat durchgespielt. Wichtig ist, dass es Szenen des normalen Lebens sind, denn dort - und nicht in einer wohligen Scheinwelt, in die sich Patienten lange zu fllichten suchen - hat sich das Individuum zu bewahren. Deshalb wird es auch aufgefordert, die Entwurfe der neuen Identitat sukzessive vor den bekannten Bezugspersonen zu behaupten. Wer sich mit Therapeuten oder Patienten unterhalt, weiB, wie schwer das ist. Wer selbst eine solche Krise der Identitat durchgemacht hat, weiB, dass die Erfahrung einer „falschen" oder gebrochenen Identitat nur die eine Seite des Leidens ist. Die andere ist die Erfahrung, dass der gesellschaftliche Rahmen, in dem eine „richtige" oder stabile Identitat gefunden werden soil, selbst diffus geworden ist. Die Lebenswelt als der engste Raum der individuellen Sinnorientierung ist in der Modeme strukturell in eine Krise geraten. Um diese Krise und einige Theorien, die sie zu erklaren suchen, geht es im folgenden Kapitel.

1st man ilber das „ Warum?'' seines Lebens mit sich im Reinen, so gibt man dessen „ Wie?'' leichten Kaufs dahin. Friedrich Nietzsche (1887) 1

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Die Krise der Lebenswelt: Entzauberung, Kolonialisierung, Ambivalenz

28.1

Weber: Entzauberung und das Zurticktreten letzter Werte aus der Offentlichkeit Habermas: Die Kolonialisierung der Lebenswelt Giddens: Entbettung Lyotard: Das Ende der groBen Erzahlungen Bauman: Das Ende der Eindeutigkeit Ratios in einer ungewissen Gesellschaft

28.2 28.3 28.4 28.5 28.6

Die Frage, wer wir sind, ist so alt wie die Menschheit. Und vermutlich hat der Mensch sie von Anfang mit der Frage verbunden „Woran kann ich mich halten, um die erste Frage zu beantworten?", also mit der Frage nach einem Sinn, der die Phanomene um ihn herum, die Menschen, vor denen er sich wahmimmt, und seine eigenen Erfahrungen zusammenhalt. Die Antworten auf beide Fragen waren zu keiner Zeit leicht, aber es mehren sich die Stimmen, dass sie heute, in der Modeme, besonders schwierig sind. Das legen zumindest die Diagnosen^ der Gesellschaft nahe, die alle die Gesellschaft in einer mehr oder weniger heftigen Krise sehen. In jeder wird auch mehr oder weniger offen die Frage gestellt, welche Konsequenzen die problematische Modeme fur das Individuum hat. Aus dem vielstimmigen Gesprach liber die Krise 1 2

Friedrich Nietzsche (1887): Der Wille zur Macht, 790 Die Fiille der einschlagigen Diagnosen der modernen Gesellschaft ist inzwischen uniiberschaubar. Annahernd zwanzig der wichtigsten, was heiBt: am haufigsten diskutierten, ganz aktuellen werden in dem von Uwe Schimank und Ute Volkmann (2000) herausgegebenen Sammelband „Soziologische Gegenwartsdiagnosen F' vorgestellt.

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28 Die Krise der Lebenswelt: Entzauberung, Kolonialisierung, Ambivalenz

der Modeme greife ich einige Stimmen heraus, von denen ich meine, dass sie reprasentativ fiir das soziologische Grundrauschen sind. Alle diese exemplarischen Diagnosen zeigen, dass feste Orientierungen nicht mehr vorhanden sind und dass das Individuum bei der Frage nach dem Sinn seines Lebens kaum auf uberzeugende gesellschaftliche Ideen rechnen kann. Im Gegenteil. Seine Lebenswelt gerat von dieser Seite her sogar in Gefahr.

28.1

Weber: Entzauberung und das Zuriicktreten letzter Werte aus der Offentlichkeit

Die klassische Analyse der Modeme stammt von MAX WEBER. Ich will sie kurz in Erinnerung^ rufen. Kennzeichen der Modeme ist die Rationalisierung des Lebens. Weber erklart sie mit dem Aufschwung der analytischen Wissenschaft und mit der Forciemng von Technik und Wirtschaft. Vor allem in diesen beiden Bereichen sind zweckrationales Handeln, Berechenbarkeit und Standardisiemng das Geheimnis des Erfolgs. In der „Protestantischen Ethik" hat Weber die Konsequenz des zweckrationalen Handlungsprinzips beschrieben: „Die heutige kapitalistische Wirtschaftsordnung ist ein ungeheurer Kosmos, in den der Einzelne hineingeboren wird und der fur ihn, wenigstens als Einzelnen, als faktisch unabanderliches Gehause gegeben ist, in dem er zu leben hat. Er zwingt dem Einzelnen, soweit er in den Zusammenhang des Marktes verflochten ist, die Normen seines wirtschaftlichen Handelns auf." (Weber 1904/05a, S. 165f.)4 Zweckrationalitat ist das Prinzip des Handelns in der Wirtschaft, auf dem Markt, im Bemf. Inzwischen durchdringt es allerdings auch das Handeln auBerhalb dieser Bereiche. An die Stelle einer subjektiv geflihlten Verbundenheit tritt in der Modeme ein rationales Handeln, das auf sachlichen Interessen basiert. (vgl. Weber 1920b, S. 695) Ohne RUcksicht auf individuelle Geftihle, Wunsche und Fahigkeiten beuge die Gesellschaft das Individuum rein unter den Sachzwang. Fiir die Vgl. oben Kap. 15.1 „Weber: Zweckrationalitat und innere Vereinsamung der Individuen". Was seinerzeit grundsatzlich fUr die Identitat des Menschen in der Moderne in Gang gekommen ist, habe ich in Kap. 7.5 ,J*uritanismus: innerweldiche Askese und der Zwang zum Erfolg" und Kap. 7.6 „Ausblick: Fellachen im Gehause der Horigkeit" beschrieben.

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Frage nach einem ubergreifenden Sinn seines Handelns halt die Gesellschaft keine verbindlichen Antworten mehr bereit. Deshalb sei, ich wiederhole Webers dustere Diagnose ein Jahr vor seinem Tod, auch das Schicksal seiner Zeit „niit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zuriickgetreten sind aus der Offentlichkeit." (Weber 1919,8.510) An dieser Entzauberung waren viele beteiligt, nicht zuletzt die Wissenschaften, die die Frage nach dem Sinn des Lebens auf ihre Fahne geschrieben haben. In Philosophie und Theologie wurden letzte Wahrheiten relativiert und letztlich pluralisiert. In Wirtschaft, Technik und Gesellschaft ermachtigte sich der Mensch, die Verhaltnisse selbst zu steuem. Die Erfolge, die er dabei zweifellos erzielte, lieBen die Frage nach letzten Wahrheiten gar nicht mehr aufkommen. Auf dem Markt brauchte man sie nicht, und im Beruf und in der gesellschaftlichen Offentlichkeit auch nicht. Sie wurden zur Privatsache erklart, aber da das Individuum permanent in einer bestimmten Weise sozialisiert wird, kommt die Frage nach letzten Wahrheiten auch dort kaum hoch. Das verhindem auch die Medien, indem sie fortlaufend eine scheinbar sinnvolle Normalitat des Denkens und Handelns verdoppeln oder plausible Antworten auf Fragen geben, die sie selbst vorher als wichtig deklariert haben. Nicht nur selbst, das heiBt anders zu denken wird so im Keim erstickt, sondem schon das Bedurfnis zu fragen. Um den gerade zitierten Spruch von FRIEDRICH NIETZSCHE ZU variieren, mochte ich sagen: Wir nehmen das „Wie" einfach hin und vergessen (oder verdrangen?), dass man nach einem „Warum" fragen konnte. Die entzauberte Modeme gibt dem Individuum nicht das, was es braucht - einen Sinn des Lebens, den es mit anderen teilt. Fur Weber liegt die Konsequenz auf der Hand: die „ innere Vereinsamung des einzelnen Individuums'' (Weber 1904/05b, S. 93). Und erinnem^ wir uns auch, was Simmel iiber das Individuum unter der Last der versachlichten, objektiven Kultur gesagt hat: Es ist „zu einer quantite neghgeable herabgedriickt, zu einem Staubkom gegeniiber einer ungeheuren Organisation von Dingen und Machten, die ihm alle Fortschritte, Geistigkeiten, Werte allmahlich aus der Hand spielen". (Simmel 1903, S. 129f.) Vgl. oben Kap. 11.5 „Innere Reserve, Kampf um Aufmerksamkeit, Ubertreibung der Eigenart".

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28.2

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Habermas: Die Kolonialisierung der Lebenswelt

An Webers These, dass das Prinzip der Zweckrationalitdt heute alle Bereiche des Lebens durchdringt, schlieBt die kritische Diagnose von JURGEN HABERMAS direkt an. Habermas sieht die Gesellschaft in Subsysteme aufgespalten, die sich mehr und mehr verselbstandigen und alle ihrer eigenen zweckrationalen Logik folgen. Wo wir mit ihnen in Bertihrung kommen, beanspruchen sie uns nach MaBgabe ihrer Logik und nur unter spezifischen Rollenerwartungen. Sie erzwingen jeweils eigene Formen des Denkens und Handelns. Parallel und gegeneinander dringen sie in das Bewusstsein ein und spalten es in abgetrennte Bereiche auf. Nicht das falsche Bewusstsein, das sich nach der These von Marx der Widersprtiche einer antagonistischen Gesellschaft nicht innewird, sondem das fragmentierte Bewusstsein ist nach Habermas das Problem der Modeme. (Habermas 1981b, Bd. 2, S. 522) Die nur an Zwecken ausgerichtete Rationalitat zerstort die Lebenswelt. Darunter versteht Habermas mit der phanomenologischen Soziologie von ALFRED SCHUTZ und THOMAS LUCKMANN die Welt, die uns fraglos gegeben, selbstverstandlich und vertraut ist.6 Wir nehmen an, dass wir sie mit anderen teilen, die sie in der gleichen Weise sehen wie wir. Sie bildet so etwas wie den Horizont fiir unser Erleben und Wissen, in dem alles, was wir uns vorstellen konnen, beschlossen ist. In dieser Lebenswelt fiihlen wir uns zu Hause, und bis zum Beweis des Gegenteils meinen wir auch, dass wir sie im Griff haben. Genau das aber ist das Problem: Andere haben sie in den Griff genommen. Die anderen, das sind die Funktionssysteme der Gesellschaft. Sie dominieren oder ersetzen gar das Prinzip der Integration unseres Handelns in einer mit anderen geteilten, gemeinsamen Lebenswelt, die Sprache. Sprache ist das Medium, das uns mit den anderen verbindet, weil es uns die gemeinsame Welt erklart. Ihm wohnt als Telos Verstdndigung inne. (Habermas 1981b, Bd. 1, S. 387) Diese These kUngt uberraschend, ist aber leicht nachzuvollziehen, wenn man den theoretischen Hintergrund betrachtet, den Habermas im Auge hat. Er versteht namlich Interaktion als wechselseitige Interpretation der Situation des Handelns. (vgl. S. 128) Wie auch HERBERT BLUMER betrachtet Habermas Interaktion als den fortlaufenden Versuch, eine gemeinsame Definition Auf den Gedanken komme ich im nachsten Kapitel unter dem Stichwort ,X)ie Pluralisierung der sozialen Lebenswelten" noch einmal zuriick.

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der Situation auszuhandeln. Die Individuen tun es mit den Mitteln der Sprache, die sie gemeinsam verstehen. Der Dialog erfolgt stumm, solange keine Storungen auftreten, er wird vemehmbar, wenn es zu einem Dissens der Interpretationen gekommen ist. Dann werden Fragen gestellt und Erklarungen abgegeben, und auch hier erweist sich das der Sprache innewohnende Telos: Im Prinzip reden wir, um uns zu verstandigen, wie es weitergehen soil, und wir reden solange, wie wir darauf hoffen, dass wir zu einer gemeinsamen Definition kommen. Die Koordinierung der Handlungen erfolgt in einem „kooperativen Deutungsprozess". (vgl. Habermas 1981b, Bd. 1, S. 151) Sprache dient der sozialen Integration. Der kulturelle Prozess, in dem die Integration vorbereitet und in Gang gehalten wird, ist die Sozialisation, Sie reproduziert kulturelle Werte und definiert soziale Zugehorigkeiten. (vgl. Bd. 2, S. 217) Da die Sprache aber grundsatzlich auch die Chance beinhaltet, dass das Individuum sich in ihr uber sich selbst verstandigt, schafft die Sozialisation auch die Voraussetzungen fur seine Identitdt, In der fortgeschrittenen Modeme tritt in weiten Bereichen des Lebens an die Stelle der auf wechselseitige Verstandigung angelegten Sprache die Exekution von Sachgesetzlichkeiten. Die Systeme folgen ihrer eigenen Logik und verfolgen ihre Integration. Es interessiert nicht, was die Individuen von ihnen halten und was sie von sich selbst denken. System und Lebenswelt haben sich nicht nur „entkoppelt" (vgl. Habermas 1981b, Bd. 2, S. 229ff.), sondem mehr noch: Die Lebenswelt, in der sich das Individuum fraglos zu Hause wahnt, wird rationalisiert und von unauffalligen systemischen Zwangen instrumentalisiert. (vgl. S. 278) Monetarisierung, BUrokratisierung und Verrechtlichung durchdringen die Beziehungen der Individuen zueinander und diktieren die Bewertungsmuster, wie sie sich selbst zu sehen haben. Die Lebenswelt gerat mehr und mehr unter die Imperative der Zweckrationalitat, die sich von alien Seiten fordemd bemerkbar machen. Es ist, als wenn Kolonialherren in die naturliche Ordnung einer Stammesgesellschaft eindringen und dort bestimmen, wie die Menschen von nun an zu denken und zu handeln haben. So spricht Habermas auch von einer „Kolonialisierung der Lebenswelt". (Habermas 1981b, Bd. 2, S. 522) Von dieser Seite lasst sich nichts finden, worliber das Individuum eine eigene, das heiBt von ihm selbst entschiedene, Identitat definieren konnte. Wie die Kolonialherren bestimmten, wer und was welchen Wert hatte, und dabei nicht im Traum daran dachten.

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ihre Sicht der Welt zu rechtfertigen, sind es heute die Funktionssysteme, die das definieren. Die Individuen, die die Logik der Systeme nicht mehr durchschauen, sondem nur noch hinnehmen, sehen sich der Gesellschaft und ihrer eigenen Lebenswelt mehr und mehr entfremdet. Sie verlieren die Orientierung und rechnen sich ihr Handeln in immer weniger Bereichen noch selbst zu. Die Bedingungen der Identitat stunden schlecht, wenn Habermas der dlisteren Prognose Max Webers iiber die „innere Vereinsamung des einzelnen Individuums" in der unaufhaltsamen Rationalisierung der Modeme nur bis hierhin folgen wurde. Aber das tut er nicht, sondem er will gewissermafien das von Weber beschworene „Gehause der Horigkeit", in das die vollkommene Biirokratisierung der Welt uns „Fellachen" spent (vgl. Weber 1918, S. 332; 1904/05a, S. 224), sprengen. Womit? Mit der Kraft der Sprache, die das ihr innewohnende Telos der Verstandigung zur Geltung bringt. Wir sollten, so umschreibt RICHARD MUNCH treffend Habermas' kritischen Anspruch, „nicht einzig und allein das Entstehen differenzierter und unabhangig funktionierender Systeme konstatieren, sondem auch die Frage nach ihrer Legitimitat durch die Ruckbeziehung auf die moralische Argumentation (...) stellen." (Munch 2004, S. 298) Eine Gesellschaft, die sich der Partizipation mlindiger Burger verweigert und Antworten auf die Frage nach ihrer Legitimation verweigert, kann auf Dauer nicht bestehen. Individuen, die die Gesellschaft nur aushalten sollen, werden ihr auf Dauer ihre Zustimmung verweigem. Individuen, denen ihre Welt fremd wird, entwickeln eine pathologische Personlichkeit. 28.3

Giddens: Entbettung

Das Auseinanderdriften von sozialen Systemen und Lebenswelt steht auch in der Diagnose des englischen Soziologen ANTHONY GIDDENS im Vordergrund. Er fuhrt die „Dynamik der Modeme" unter anderem darauf zuriick, dass die sozialen Systeme „aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhangen" herausgehoben (»disembedded«) wurden. Was damit gemeint ist, wird klar, wenn man sich die zwei „Entbettungs"Mechanismen, die er bei der Entwicklung von modemen Institutionen am Werk sieht, genauer ansieht. Den ersten nennt Giddens die „Schaf-

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fling symbolischer Zeichert\ den zweiten die „Installierung von Expertensystemen". (Giddens 1990, S. 34) Unter symbolischen Zeichen versteht Giddens „Medien des Austauschs, die sich »umherreichen« lassen, ohne dass die spezifischen Merkmale der Individuen oder Gruppen, die zu einem bestimmten Zeitpunkt mit ihnen umgehen, beriicksichtigt werden miissten." (Giddens 1990, S. 34) Eines der machtigsten symbolischen Zeichen ist das Geld.7 Es funktioniert iiberall, bei jedem und zu jeder Zeit. Es ist in der Tat aus dem Bett jeder personlichen Beziehung herausgehoben. Das Vertrauen, das beim urspriinglichen face-to-face-Austausch durch die Hingabe und Annahme von Geld zum Ausdruck kam, ist von den handelnden Personen iibergegangen auf das Medium selbst. (vgl. S. 39) Ja, das Medium steht inzwischen fiir den Wert einer Leistung, und nur in diesem Medium wird die Leistung verrechnet. Ftir die Betrachtung der Identitat in der Modeme kann man sagen: tfber das symboHsche Zeichen Geld werden individuelle Besonderheiten standardisiert und ausgeschaltet oder hochstens verrechnet. Identitat muss fiir den anderen nicht mehr prasentiert und sie kann auch nicht mehr von anderen verlangt werden, weil sie das Geschaft abstrakter Verrechnung von Leistungen und Forderungen nur storen wiirde. An die Stelle der Frage „Wer bin ich und wie werde ich von den anderen gesehen?" tritt die unbewusste Erwartung, dass funktionale Beziehungen fortlaufen. Es ist weder von den 15 € des braven Studienrats Schmidt die Rede, die er fiir sein kleines Menii hinblattert, noch von 3 € Wechselgeld, die ich, der nette Wirt, zuriickgebe. Etwas von unser beider Identitat kame hochstens zum Vorschein, wenn ich mich freundhch erkundige, wie es ihm geschmeckt hat, und er sich hoflich bedankt. Aber im Prinzip ginge die Beziehung auch ohne das liber die Biihne. Den zweiten Entbettungsmechanismus der Modeme sieht Giddens in der immer komplexeren InstalHerung von Expertensystemen. Heutzutage gibt es fiir alles und jedes Speziahsten. Sie verstehen ihr Handwerk und bieten in der Regel auch gute, spezielle Dienste an. Speziell sind diese Dienste allerdings nicht in Bezug auf eine konkrete Person, sondem nur in Bezug auf einen allgemeinen Kunden, der diese spezielGiddens nennt das Geld als Beispiel. Fiir die anderen Medien verweist er auf die einschlagigen Arbeiten von Talcott Parsons oder Niklas Luhmann. Fiir den Zusammenhang von Geld und Modeme erinnert er ausdriicklich an die Arbeiten von Georg Simmel.

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le Leistung in Anspmch nimmt. In letzter Konsequenz kummert sich der Experte nicht um individuelle Besonderheiten des Kunden, und dem Kunden ist es auch egal, welche Person der Experte ist. „Expertensysteme fungieren deshalb als Entbettungsmechanismen, well sie ebenso wie die symbolischen Zeichen dazu dienen, soziale Beziehungen von den unmittelbaren Gegebenheiten ihres Kontextes zu losen." (Giddens 1990, S. 42) Das Problem besteht darin, dass sich das Leben immer mehr differenziert und undurchschaubarer wird. Deshalb gibt es immer mehr Spezialisten fiir immer mehr Bereiche unseres Lebens. Darin liegt m. E. ein doppeltes Risiko: Die Experten scheinen in der Summe alles zu wissen, was heutzutage zu tun ist und was man wissen muss, aber jeder weiB eben nur in einem Ausschnitt Bescheid und verlasst sich auf die Kompetenz der anderen Experten in dem allergroBten Rest. Das erste Risiko besteht nicht in der Unwissenheit eines Experten, sondem in dem naiven Oder besser: noch nicht einmal bewussten Vertrauen, dass das Wissen der anderen schon irgendwie mit dem eigenen zusammenpassen wird. Das zweite Risiko besteht darin, dass wir als Laien iiberhaupt nicht mehr in der Lage sind, die Triftigkeit des Expertenwissens zu Uberprufen. Das Vertrauen, das wir in das Wissen hochspezialisierter Experten setzen (miissen!), ist zu einem groBen Teil „unweigerlich ein »Glaubensartikel«". (Giddens 1990, S. 42) Was heiBt das fur die Identitat in der Modeme? Nun, wir uberlassen immer mehr Wissen Experten, die es fiir uns von Fall zu Fall schon richten werden, und wenn der Fall da ist, dann miissen wir hinnehmen, dass sie uns sagen, was wir nach den Gesetzen ihrer Sachlogik zu tun haben. Fiir die Frage, wie das dann mit anderen Bereichen unseres Lebens zusammenhangen konnte, fiihlen sich die Experten nicht zustandig, und wir selbst wissen dann auch nicht mehr, wo uns iiberhaupt der Kopf steht.

28.4

Lyotard: Das Ende der groBen Erzahlungen

Eine andere Diagnose der Modeme konzentriert sich auf die Auflosung der Leitideen, unter denen sie angetreten ist. Sie stammt von dem franzosischen Philosophen JEAN-FRANCOIS LYOTARD. In seinem Bericht „Das postmodeme Wissen" (1979) stellt er fest, dass drei „gro6e Erzahlungen" an ihr Ende gekommen sind, die das gesellschaftliche Wissen

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legitimiert und den Menschen in der Modeme Orientierung geboten haben. Da war einmal die Idee der Emanzipation vom Glauben der Kirche und anderen dogmatischen Denkformen. Zweitens gab es die groBe Erzahlung von der Teleologie des Denkens und der Geschichte. Und die dritte Erzahlung war getragen von der Idee der Sinnhaftigkeit alien Geschehens. Mit dem Ende dieser drei groBen Erzahlungen beginnt fiir Lyotard die Postmodeme. Die erste Erzahlung handelte von der Freisetzung des Menschen, selbst zu denken, und der Ermutigung, den Sinn des Lebens selbst zu bestimmen. Es war das Programm der Aufklarung. Die Erzahlung endete in der Pluralisierung von Sinnorientierungen und in dem Gefuhl, dass es keinen festen Halt mehr gibt. Bezogen auf die Identitat in der Postmodeme heiBt das, dass das Individuum sich von im Prinzip unendlich vielen Moglichkeiten umstellt sieht. Keine Situation ist mehr so eindeutig, dass es nicht auch ein anderer sein konnte und anders handeln konnte, und keine Zukunft ist so klar, dass es nicht auch andere Wege gehen konnte. Im Gegenteil, die anderen und die Medien versorgen uns fortlaufend mit neuen Konzepten, was unsere Identitat auf der Hohe der Zeit sein konnte. Es gibt keine letzten, viele verbindenden Werte, nach denen man entschieden „ja" oder „nein" sagen konnte. Die zweite Erzahlung war getragen von dem Gedanken, dass sich das Denken immer weiter aufklart und letztlich zu einer alle Menschen verbindenden Rationalitat vervollkommnet. Und folgerichtig wlirde auch die Geschichte auf ein gutes Ende zusteuem. Und das Ergebnis? Von einer Vervollkommnung einer Rationalitat, die alien Menschen die gleichen Chancen und die gleiche Wurde bote, kann nach den ScheuBlichkeiten der zahllosen Kriege, der immer wiederkehrenden Ausrottung von Menschen und angesichts der riicksichtslosen Ausbeutung von Mensch und Natur keine Rede mehr sein. Die Rationalitat hat sich mehr und mehr von der Verantwortung der Menschen fiireinander gelost. Sie wird mehr und mehr instrumentalisiert fiir bestimmte Zwecke und gegen so fundamental Interessen wie Gleichheit, Briiderlichkeit und Wiirde. Und was die Geschichte angeht, konnen wir iiber den Fortschrittsglauben des 19. Jahrhunderts wie die soziologischen Erwartungen einer verbindlichen und deshalb linearen Modemisierung nur noch den Kopf schlitteln. Was Philosophen wie KARL MARX und RRIEDRICH ENGELS in Aussicht gestellt haben, entlockt uns ein mlides Lacheln; was Politiker uns heute versprechen, quittieren die meisten mit Zynis-

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mus. Und bezogen auf die Identitat in dieser emuchterten (oder gar enttauschten?) Postmodeme? In die Antwort auf die Frage, wer wir sind, spielt mehr und mehr das ungute Gefuhl hinein, dass wir alle in ein Netz von Interessen geraten sind, die wir gar nicht mehr steuem. Das Bild von dem kleinen Radchen im groBen Getriebe muss vielleicht noch etwas scharfer konturiert werden: Das Individuum hat das Gefuhl, dass die Maschine auch ohne es funktionieren wiirde. Der Ruckzug ins Private, Kleine und Uberschaubare ist eine Konsequenz. Die Antwort auf die Frage, wer wir sind, wird nicht im HinbHck auf eine geplante Zukunft gemacht, denn sie konrnit in der Tat anders als man denkt, sondem fiir eine Gegenwart, wie sie jetzt moglich ist. Die dritte groBe Erzahlung handelte fUr Lyotard von der Sinnhaftigkeit alien Geschehens. Sie hatte ihren Ursprung in der Romantik, fiir die jedes Ding, jedes Individuum, jedes Ereignis einen aus sich selbst begriindeten Sinn hatte^, und im Historismus^, der diesen Gedanken weiter ausformulierte und jedes Phanomen in seinen individuellen historischen Kontext stellte. Der Historismus attestierte jeder Entwicklung eine eigene Sinnhaftigkeit. Jedes Geschehen steht unter einer ihm eigenen Kausalitat und nimmt deshalb auch einen konsequenten Verlauf. Auch in dieser Hinsicht kann man heute zweifeln. Gerade soziale Prozesse zeichnen sich durch nicht intendierte Nebenfolgen aus. Prozesse laufen auch nicht isoliert ab, sondem bedingen einander, storen oder verstarken sich und ihr ursprlinglicher Sinn wird diffus. Institutionen erstarren und arbeiten nach einer Routine, fiir die keine funktionale Begriindung mehr geliefert werden kann. SchlieBlich sind es die uniibersehbaren widerspriichlichen Interessen, die soziale Prozesse bestimmen und Institutionen legitimieren, die den Glauben an die Sinnhaftigkeit alien Geschehens - im einzelnen wie in der Summe Vgl. oben Kap. 10.3 ,JExkurs: Romantik -jeder Gegenstand ist eine in sich vollkommene Welt". Der Historismus, eine aus der Romantik (vgl. Gouldner 1973, S. 206 und das in der vorigen Anmerkung genannte Kapitel) entsprungene wissenschaftliche Orientierung, betonte die Besonderheit und Relativitat der historischen Prozesse; deshalb lehnte er auch ein wertendes Urteil iiber den Stand einer Kultur ab, sondem betonte ihre innere Logik und eigene Wiirde. Die Geschichte voUzieht sich nicht zwangslaufig, sondern die Zukunft ist offen. Die historische Forschung, gibt Karl Mannheim das Anliegen des Historismus wieder, will nicht nur wissen, „wie es gewesen ist" und „warum", sondern „was es bedeutet". (vgl. Mannheim 1924, S. 250)

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zumindest fragwurdig machen. An anderer Stelleio werde ich NIKLAS LUHMANN zitieren, der unter der Postmodeme „das Fehlen einer einheitlichen Weltbeschreibung" (Luhmann 1990, S. 42) versteht. Mit dem Ende der groBen Erzahlungen sind nicht nur soziale Bindungen schwacher geworden, sondem auch der soziale Sinnhorizont verblasst, vor dem die Identitat des Einzelnen soziale Kontur gewinnen konnte. 28.5

Bauman: Das Ende der Eindeutigkeit

Betrachten wir nun, was der polnische Soziologe ZYGMUNT BAUMAN liber die Modeme sagt und welchen Zusammenhang er mit der Frage nach der Identitat herstellt. Flir Bauman ist das Signet der Modeme ihre Ambivalenz. So lautet auch der Titel seines Buches: „Modeme und Ambivalenz" (1991). Der Untertitel sagt, was das Problem der Moderne ist: „Das Ende der Eindeutigkeit". Heute konnen Phanomene nicht mehr eindeutig, das heiBt nur einer Kategorie zugeordnet werden. Wir sind auBerstande, „die Situation richtig zu lesen und zwischen altemativen Handlungen zu wahlen." (Bauman 1991, S. 13) Das bereitet uns Unbehagen. Ich lese aus Baumans Analyse drei Ratlosigkeiten heraus: Wir wissen nicht mehr wo wir sind, weil sich Grenzen zwischen Ereignissen, Prozessen und Interaktionen verwischen; wir wissen nicht mehr, wie wir sind, weil sich die Konturen der Ordnung auflosen und die wechselseitigen Perspektiven beliebig werden; und wir wissen nicht mehr, wer wir sind, weil wir im Grunde immer nur auf dem Weg zu etwas sind, was wir morgen sein konnten. Bauman hat den Bogen von der Ambivalenz zur Beliebigkeit und zur Identitat in der Postmodemen in einem Zeitungsartikel, der die sprechende Uberschrift „Wir sind wie Landstreicher" tragt, so geschlagen: „Die Postmodeme ist der Punkt, wo das modeme Freisetzen aller gebundenen Identitat zum Abschluss kommt. Es ist jetzt nicht nur leicht, Identitat zu wahlen, aber nicht mehr moglich, sie festzuhalten. Im Augenblick des hochsten Triumphs muss Befreiung erleben, dass sie den Gegenstand der Befreiung vemichtet hat. Je freier die Entscheidung ist, desto weniger wird sie als Entscheidung empfunden. Jederzeit widerrufbar, mangelt es ihr an Gewicht und Festigkeit - sie bindet nie10 Vgl. unten Kap. 29.1 „Die Pluralisierung der sozialen Lebenswelten". 11 Auf diese Kennzeichnung der Moderne komme ich gleich zurtick.

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manden, auch nicht den Entscheider selbst; sie hinterlasst keine bleibende Spur, da sie weder Rechte verleiht noch Verantwortung fordert und ihre Folgen, als unangenehm empfunden und unbefriedigend geworden, nach Belieben kiindbar sind. Freiheit gerat zu Beliebigkeit; das beruhmte Zu-allem-Befahigen, fur das sie hochgelobt wird, hat den postmodemen Identitatssuchem alle Gewalt eines Sisyphos verliehen. Die Postmodeme ist jener Zustand der Beliebigkeit, von dem sich nun zeigt, dass er unheilbar ist. Nichts ist unmoglich, geschweige denn unvorstellbar. Alles, was ist, ist bis auf weiteres. Nichts, was war, ist fiir die Gegenwart verbindhch, wahrend die Gegenwart nur wenig liber die Zukunft vermag. Heutzutage scheint alles sich gegen feme Ziele, lebenslange Entwiirfe, dauerhafte Bindungen, ewige Bundnisse, unwandelbare Identitaten zu verschworen." (Bauman 1993, zit. nach Keupp 1997, S. 24f.) Hinzu kommt das ungute Gefuhl, dass alles mit allem irgendwie zusammenhangt, dass sich Entwicklungen durchdringen und beeinflussen und dass Richtungen eingeschlagen werden, die niemand intendiert hat. Selbst Entwicklungen, bei denen man sich bisher einigermaBen auszukennen schien, erweisen sich als ambivalent. Kurz: Es gibt keinen festen Platz, auf dem sich das Individuum fest verorten konnte - weder in der Gegenwart, denn die ist plural und widerspriichlich, noch in der Vergangenheit, denn auch sie ist nicht vor nachtraglichen neuen Erklarungen gefeiti^, und schon gar nicht in der Zukunft, da sie strukturell kontingent ist. Die Identitat in der Postmodeme lebt von der Hand in den Mund. 12

Hier meine ich nicht die Umschreibungen der Geschichte, die in der fernen Zukunft von ,,1984*' von den Herrschenden veranlasst werden und die Individuen zwingen, ihre Identitat - als das Wissen Uber sich selbst von gestern auf heute immer wieder auf Vordermann zu bringen, sondern die Nachgiebigkeit unseres Denkens iiber uns selbst gegentiber den unbewussten Wunschen, wer wir hatten sein mogen. Dass dies im Einzelfall durchaus forderlich sein kann, habe ich gerade in Kap. 27.2 „Uber ,die' Wahrheit der Biographie und unmerkliche Glattungen" zu zeigen versucht. Dort sollte aber auch deutlich geworden sein, dass noch die feinsten Retuschen gepflegt werden miissen. Wer seine Identitat a jour halten will, also fiir das, was er unter gegebenen Bedingungen sein will, Entscheidungen trifft (Phantasien haben naturlich keinen Platz), der muss wohl oder libel auch seine Vergangenheit auf dem Laufenden halten. Da die koUektiven Bilder von ,a"ichtigen" Vergangenheiten zahlreich sind, sich pro Rolle u. U. auch widersprechen, ist das Individuum letztlich auch hier auf sich gestellt.

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28.6

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Ratios in einer ungewissen Gesellschaft

Soweit zu einigen kritischen Analysen der Modeme. Sie stimmen darin uberein, dass der Hintergrundkonsens brlichig geworden ist. ROBERT HETTLAGE driickt es so aus: „Alle Institutionen, von der Religion iiber die Moral, das Recht, die Erziehung, Kunst und Wissenschaft, sind sukzessive entzaubert und unter »Kontingenzvorbehalt« gestellt worden." (Hettlage 2003, S. 29) Das heiBt, sie konnten auch anders moglich sein. Das hat Konsequenzen fur die Orientierung des Individuums. Weil man in einer pluralen Welt die Institutionen fur kontingent halt, kann sich keine Institution mehr auf eine einzige Legitimation berufen, sondem muss sich vielen, oft sogar widersprlichlichen Rechtfertigungsforderungen stellen. Umgekehrt kann keine Institution mehr auf einem eindeutigen Handeln der Individuen bestehen. Die Individuen schlieBlich begreifen gesellschaftliche Regelungen mehr oder weniger als Optionen, die man beliebig nutzen kann, solange man nicht gegen unabdingbare Pflichten verstoBt. Unter dem Strich fiihrt die Kontingenz zu Ungewissheit und Unsicherheit. Das Individuum sieht sich wieder einmal auf sich selbst gestellt. Die Frage, wer es ist, muss von ihm allein entschieden werden. „Die radikale Subjektivierung kennt einen tibergreifenden gesellschaftlichen »nomos« tendenziell nicht mehr." (ebd.) Fur Hettlage liegt die Konsequenz auf der Hand: Das Subjekt sieht sich der Beliebigkeit von Bewertungen, die andere vomehmen, und der Verflussigung von „Wahrheitskontexten" ausgesetzt; „es kann sich an keine »gro6en Erzahlungen« mehr halten." (Hettlage 2003, S. 30) „Exemplarische Vergangenheiten", heiBt es bei JURGEN HABERMAS, „an denen sich die Gegenwart unbedenklich orientieren konnte, sind verblasst", und es sieht auch so aus, „als seien die utopischen Energien aufgezehrt"; angesichts des „Schreckenspanoramas der weltweiten Gefahrdung allgemeiner Lebensinteressen" ist die Zukunft „negativ besetzt". (Habermas 1985, S. 143) Die Gesellschaft ist uniibersichtlich, und „an die Stelle von zukunftsgerichteten Orientierungsversuchen" tritt mehr und mehr eine neue „Ratlosigkeit", die auch noch von alien akzeptiert zu werden scheint! Ob sie „forsch" akzeptiert wird, wie Habermas meint, sei dahingestellt. Jedenfalls kommen die, die tiberhaupt noch liber die Verantwortung des Individuums fiir seine Gesellschaft nachdenken, leicht zu der zynischen Haltung, dass selbst die Experten - inklusive der Poll-

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tiker - die Dinge nicht mehr in den Griff kriegen, oder zu der nicht minder gefahrlichen resignativen Einstellung, dass Risiken, die so groB sind und so viele betreffen, auch hingenommen werden miissen. Auch hier scheint mir die Frage nach der Identitat des Einzelnen doppelt problematisch zu sein: Sie ist es, weil der gesellschaftliche Kontext, in dem sie beantwortet werden miisste, unubersichtlich geworden ist, und sie ist es, weil angesichts der Komplexitat und Interdependenz der Systeme die „Wahrscheinlichkeit dysfunktionaler Nebenfolgen" (Habermas 1985, S. 144) groB ist. Die Bereitschaft des Individuums, sich uber sein Handeln zu definieren, sinkt. Die Tendenz, „von all dem nichts mehr horen und sehen" zu wollen, steigt. Das Individuum, werden wir gleich horen, beginnt, Wirklichkeit vor allem in sich zu suchen. Zur Verselbstandigung der Systeme und zum tendenziellen Ausschluss der Individuen „scheint es keine Alternative mehr zu geben, denn infolge der typisch modemen, »funktionalen Differenzierung« der Gesellschaft in lauter »autonome« Teilsysteme wird jede Integration (Inklusion) der Individuen problematisch. Die Systeme sind auseinander getreten und agieren nach ihrer je eigenen Logik gegen- und nebeneinander. Jedes Teilsystem operiert nach seinem Code und nur nach diesem. Er muss immer wieder bedient werden. Andere Gesetze als die eigenen kommen nicht mehr vor. Die Indifferenz gegentiber der jeweiligen Umwelt ist legitim geworden. Andemfalls", referiert Hettlage NiKLAS LUHMANN, „wurden sich die Teilsysteme liberfordem. Gegensteuerung ist aussichtslos." (Hettlage 2003, S. 30) Die Individuen kommen nicht mehr in die Systeme hinein, und sie versuchen es auch nicht mehr. Auch aus dieser Sicht einer autonomen Selbststeuerung der Systeme gibt es fUr das Individuum wenig Anreiz, sich Uber sein Handeln in der Gesellschaft zu definieren. Die Krise der Identitat in der Modeme, die im nachsten Kapitel beschrieben wird, resultiert aus der gerade beschriebenen ICrise der Lebenswelt und aus der Abkoppelung des Individuums von sich verselbstandigenden Systemen.

The Homelesse Mind Peter L. Berger, Brigitte Berger, Hansfried Kellner (1973)

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Die Krise der Identitat in der Moderne

29.1 29.2 29.3 29.4 29.5 29.6 29.7

Die Pluralisierung der sozialen Lebenswelten Identitat - besonders offen und immer auf der Hohe der Zeit Besonders differenziert - und uberall etwas fremd Besonders reflexiv - und metaphysisch heimatlos Besonders individuiert - der enge Rahmen der Autonomie Sennett: Die Korrosion des Charakters Noch einmal: Was ist die wahre Identitat?

Im Jahre 1973 kam in den USA ein Buch mit dem Titel „The Homeless Mind" heraus. Es stammte aus der Feder von PETER L . Berger, BRIGITTE BERGER und HANSFRIED KELLNER und tmg im Deutschen den eher allgemeinen Titel „Das Unbehagen in der Modemitat", was zur Folge hatte, dass es in der Soziologie der Identitat nur gelegentlich rezipiert und noch seltener explizit zitiert wurde. Dabei wurde vieles, was seit den 1980er Jahren liber Individualisierung und das Risiko der Identitat in der Moderne geschrieben wurde, dort schon gesagt. Berger, Berger und Kellner verstehen unter Identitat „die tatsachliche Erfahrung des Ich in einer bestimmten sozialen Situation" und „die Art und Weise, in der der Einzelne sich selber definiert." (Berger u. a. 1973, S. 69) Die Uberschrift, unter der diese Sicht der Identitat behandelt wird, lautet „Pluralisierung der sozialen Lebenswelten". Ein Vierteljahrhundert spater berichtet RICHARD SENNETT (1998) von der „Korrosion des Charakters" in einer „ungeduldigen Gesellschaft". In Zeiten eines „flexiblen Kapitalismus" bricht eine entscheidende Basis der modemen Identitat weg: die Selbstachtung aus dem Beruf. Es ist vor allem das Schicksal der Mittelschichten, dass sie sich in ihrem Beruf permanent umstellen mlissen. Dadurch werden ihre Qualifikationen immer wieder entwertet. Das Motto des Kapitalismus

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»Nichts Langfristiges« bedroht die Identitat des Menschen: Er kann seine Erfahrungen nicht mehr als konsequente Geschichte eines individuellen Charakters lesen, und er kann keine langfristige Perspektive ausbilden, wie diese Geschichte sinnvollerweise weitergehen sollte. (Die moderne Gesellschaft) kennt keine Positionen, von denen aus die Gesellschaft in der Gesellschaft ftir andere verbindlich beschrieben werden konnte. Niklas Luhmann (1990) 1 29.1

Die Pluralisierung der sozialen Lebenswelten

Ftir Berger, Berger und Kellner ist ein „fundamentales Merkmal der menschhchen Existenz", in einer Welt zu leben, die „geordnet" erscheint und die „der Aufgabe des Lebens einen Sinn verleiht". (Berger u. a. 1973, S. 59) Diese geordnete WirkHchkeit nennen sie mit dem Philosophen ALFRED SCHUTZ „Lebenswelt". Der verstand darunter jenen „WirkUchkeitsbereich (...), den der wache und normale Erwachsene in der Einstellung des gesunden Menschenverstandes als schlicht gegeben vorfindet" und „als fraglos" erlebt. (SchUtz u. Luckmann 1975, S. 23) In ihr haben alle Dinge ihren festen Platz, die Menschen, mit denen man es zu tun hat, teilen im Prinzip die gleichen Erfahrungen, und aus den Erfahrungen der Vergangenheit lasst sich die Zukunft mit einiger Sicherheit vorhersagen. Es ist eine Welt, die einem vertraut ist und wo man sich mit den anderen in einem gemeinsamen Sinn verbunden fuhlt. Es ist die Welt des Alltags, wie wir ihn normalerweise und dauerhaft erleben. Wahrend die Menschen in frtiheren Gesellschaften alle in der gleichen »Welt« lebten, solange sie nicht in feme Lander reisten, ist „die typische Situation der Menschen in einer modemen Gesellschaft" vollig anders: „Die verschiedenen Bereiche ihres AUtagslebens bringen sie in Beziehung zu auBerordentlich verschiedenenartigen und oft sehr gegensatzlichen Bedeutungs- und Erfahrungswelten. Das moderne Leben ist typischerweise in sehr hohem Grade segmentiert." (Berger u. a. 1973, S. 60) 1

Niklas Luhmann (1990): Die Moderne der modernen Gesellschaft, S. 42

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Doch die Tatsache der Aufteilung des offentlichen Lebens in verschiedene Bereiche ist es nicht allein, die Spuren im Bewusstsein des Individuums hinterlasst, daran hat es sich in einer differenzierten Gesellschaft so leidlich gewohnt, sondem besonders die Vervielfdltigung der Segmente und der Verpflichtungen und Optionen. Das Individuum sieht sich mit einer Fiille von Erwartungen, Rollen und Institutionen gleichzeitig konfrontiert. Da alle Segmente ihre eigene RationaUtat haben und da Weltanschauungen und andere Logiken des Lebens ihre Kraft eingebtiBt haben, fur alle verbindlich zwischen richtig und falsch, wichtig und weniger wichtig zu unterscheiden, sind auch die Moglichkeiten des Handelns vervielfaltigt worden. Deshalb halten die Autoren auch den Begriff der Pluralisierung fiir die treffende Kennzeichnung der modemen Gesellschaft. PETER L . BERGER hat an anderer Stelle beschrieben, wie sich dadurch die Programme fiir menschliches Handeln verandert haben: „Modemitat fiihrt zu einer ungeheuren Komplizierung des institutionellen Netzwerks einer Gesellschaft. Die Grundursache liegt in der ungeheuren Komplizierung der Arbeitsteilung, doch die Konsequenzen reichen weit liber die davon bertihrten technologischen und okonomischen Lebensbereiche hinaus. Modemitdt pluralisiert. Wo fur gewohnlich eine oder zwei Institutionen bestanden, gibt es nun funfzig. Institutionen lassen sich jedoch am besten als Programme fiir menschliches Handeln verstehen." (Berger 1980, S. 28) Noch einmal: Die Logiken des Handelns haben sich vervielfaltigt. NiKLAS LUHMANN hat das, was da auf uns zugekommen ist, in einige Fragen und eine Zustandsbeschreibung gekleidet. Die Fragen lauten so: „Tritt an die Stelle des Einen nun einfach das Viele? Lost sich die Einheit der Welt und die Einheit der Gesellschaft unwiderruflich auf in eine Vielheit der Systeme und Diskurse? Sind Relativismus, Historismus2, Pluralismus die letzten Antworten, die immer schon gemeint waren, als man noch von Freiheit gesprochen hatte?" (Luhmann 1990, S. 43) Und die Zustandsbeschreibung einer fortgeschrittenen Moderne lautet so: „Wenn man unter Postmodeme das Fehlen einer einheitlichen Weltbeschreibung, einer fiir alle verbindlichen Vemunft oder auch nur einer gemeinsam-richtigen Einstellung zur Welt und zur Gesellschaft versteht, dann ist genau dies das Resultat der strukturellen Bedingun2

Vgl. oben Kap. 28.4 ,J.yotard: Das Ende der groBen Erzahlungen", Anm. 9.

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gen, denen die moderne Gesellschaft sich selbst ausliefert. Sie ertragt keinen Abschlussgedanken, sie ertragt deshalb auch keine Autoritat. Sie kennt keine Positionen, von denen aus die Gesellschaft in der Gesellschaft ftir andere verbindlich beschrieben werden konnte." (Luhmann 1990, S. 42) Alles ist denkbar, alles ist moglich. Deshalb bedeutet Pluralisierung der Optionen des Handelns naturlich nicht nur groBere Freiheit, sondem auch groBere Last, die richtigen Entscheidungen zu treffen. Da kann es einem gehen wie Buridans Esel: Zwischen zwei Heubiischeln stehend, konnte er sich nicht entscheiden, welches er zuerst fressen sollte, - und verhungerte. Doch diese „Freiheit" gesteht die Gesellschaft dem Menschen in der Regel nicht zu.^ Er muss sich entscheiden. Das Problem in der Moderne besteht darin, dass ihm rationale Entscheidungen „unter Bedingungen hoher Komplexitat" zugemutet werden. (Schimank 2005, S. 5) Die Pluralisierung des offentlichen Lebens beinhaltet das Risiko, dass es neben einer Entscheidung noch manche bessere gibt und dass manche Entscheidungen Folgen zeitigt, die man wahrlich nicht intendiert hat. Und wo immer mehr mit immer mehr zusammenzuhangen scheint, kann leicht das Gefuhl aufkommen, nicht mehr mitzukommen. In dieser Situation versucht der moderne Mensch, seine private Welt „im Gegensatz zu seiner verwirrenden Verwicklung in die Welten offentlicher Institutionen" so zu gestalten, dass sie „ihm eine Ordnung integrierender und stutzender Sinngehalte liefert. Mit anderen Worten, der Mensch versucht, eine »Heimatwelt« zu konstruieren und zu bewahren, die ihm als sinnvoller Mittelpunkt seines Lebens in der Gesellschaft dient." (Berger u. a. 1973, S. 61) Doch das ist ein heikles Unterfangen, und es diirfte immer seltener gelingen. Denn auch dieser Mittelpunkt des Lebens wird pluralisiert. Berger, Berger und Kellner fuhren dafur zwei spezifische Griinde an: die Erfahrung des Stadtlebens, was schon GEORG SIMMEL als Erklarung fur das moderne Geisteslebens

Die im literarischen Dokument vor dem nachsten Unterkapitel beschriebene Kunst, dem Schicksal eine Chance zu geben, indem man sich nicht entscheidet, diirften nur ganz besonders Weise oder Abgebriihte beherrschen. Als Beschreibung einer Identitatsstrategie, sich nicht festzulegen und alle Tiiren offenzuhalten, scheint mir das Dokument allerdings zutreffend.

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angefuhrt hatte^, und die Erfahrung der modemen Massenkommunikation. „Seit ihrer Entstehung in alten Zeiten war die Stadt ein Treffpunkt sehr verschiedener Menschen und Gruppen und damit gegensatzlicher Welten." (Berger u. a. 1973, S. 61) Die Offenheit und Beweglichkeit des Denkens war eine wichtige Voraussetzung, um auf dem Markt der Erklarungen und Rationalitaten unterschiedlichster Ausschnitte der gesellschaftlichen Wirklichkeit relissieren zu konnen; die blasierte Distanz zu der gleichgultigen Fiille vielfaltiger und widerspriichlicher Erfahrungen war die Voraussetzung zu uberleben. Dieser Lebensstil und die Art zu denken und zu handeln, die sich zuerst in den Stadten ausbildeten, haben heute alle Teile der Gesellschaft erfasst, weshalb Berger, Berger und Kellner auch von einer „Urbanisierung des Bewusstseins" sprechen. Sie wurde hauptsachlich durch die Massenmedien bewirkt, begann aber wahrscheinlich schon frtiher mit der Verbreitung der Schulbildung. „In diesem Sinn ist der Lehrer schon seit ein paar Jahrhunderten ein Trager der »Urbanitat«. Dieser Prozess wurde jedoch durch die technologischen Kommunikationsmedien ganz erhebhch beschleunigt", die „die in der Stadt erfundenen kognitiven und normativen Definitionen der WirkUchkeit sehr schnell in der gesamten Gesellschaft" verbreiten. (Berger u. a. 1973, S. 62) Richtig ist, „dass dieser Prozess der Information »den Horizont erweitert«. Zugleich jedoch schwacht er die Unversehrtheit und Uberzeugungskraft der »Heimatwelt«." (ebd.) Die Pluralisierung der Lebenswelt auBert sich ganz konkret im Alltagsleben. Das verdeuthchen Berger, Berger und Kellner am Fall der langfristigen Lebensplanung. Lebensplanung heiBt, sich vorzustellen, wie die personliche Zukunft aussieht oder aussehen soil, und sich darauf vorzubereiten. Diese Vorstellungen fallen naturlich nicht vom Himmel, sondem orientieren sich an typischen Lebensablaufen, wie man sie vom Horensagen kennt, wie man es bei Verwandten und Bekannten sieht und wie man es in Sozialisationsagenturen wie Familie und Schule gelemt hat. Bei der Planung muss bedacht werden, dass die Laufbahn, auf die man sich begeben will, nicht klar definiert ist, dass es u. U. sogar mehrere „Fahrplane" gibt und dass man es mit einer ganzen

Vgl. oben Kap. 11.5 „Innere Reserve, Kampf um Aufmerksamkeit, tJbertreibung der Eigenart".

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Reihe von Bezugspersonen zu tun haben wird, mit denen man sich irgendwie arrangieren muss. Wie tangiert das die Identitat? Berger, Berger und Kellner sehen es so, dass bei den EntwUrfen des Lebens nicht nur geplant wird, was man tun wird (will), sondem auch, wer man sein wird (will). „Im Falle von Menschen, die fiireinander von groBer personlicher Wichtigkeit sind, uberlagem sich diese Projekte, sowohl hinsichtlich der geplanten Karrieren, als auch hinsichtlich der geplanten Identitaten. Der eine ist ein Teil der Projekte des anderen und umgekehrt." (Berger u. a. 1973, S. 68) In Zeiten der Gleichberechtigung kann es z. B. gar nicht ausbleiben, dass jeder den anderen in einer gewissen Weise instrumentalisiert. Denn auch ein Kompromiss heiBt ja nicht, dass einer alles fiir einen anderen opfert, sondem dass beide Seiten etwas fiireinander leisten sollen, was sonst ihrer Identitat allein zugehorte. Bedenkt man dann noch, dass sich mit jeder Entscheidung des einen nicht nur fiir ihn, sondem auch fiir den anderen neue soziale Konstellationen ergeben, dann kann man sich die Komplexitat der Interaktionen vorstellen, in denen Identitat gefunden und behauptet werden muss.

Es gehorte auch zu seinen Grundsdtzen, peinliche Entscheidungen immer auf spdter zu verschieben, nicht aus Charakterschwdche, sondem weil er der Moglichkeit eine Chance einrdumen wollte, dass er, bei gewandelten Umstdnden, sich Uberhaupt nicht mehr 5 zu entscheiden brauchte. Henry de Montherland (1937) ^

29.2

Identitat - besonders offen und immer auf der Hohe der Zeit

Vor diesem Hintergmnd bezeichnen Berger, Berger und Kellner die modeme Identitat als besonders offen, wobei Offenheit im Sinne der von DAVID RIESMAN (1950) beschriebenen AuBenleitung^ zu verstehen ist. (vgl. Berger u. a. 1973, S. 70) Identitat impliziert, sich offen zu halten fiir das, was der Zeitgeist bietet und gebietet. Der modeme Mensch ist standig auf Empfang fiir die Signale, von denen es heiBt, dass sie 5 6 7

Lesen Sie unbedingt noch einmal Anm. 3! Henry de Montherland (1937): Der Damon des Guten, S. 38 Vgl. oben Kap. 22.3 , J^iesman: AuBenleitung - offen und immer im Trend".

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wichtig sind. Berger, Berger und Kellner fahren fort: „Wenn es auch zweifellos gewisse Ziige des Individuums gibt, die beim Abschluss der primaren Sozialisation mehr oder weniger dauerhaft stabilisiert sind, ist der moderne Mensch trotzdem »unfertig«, wenn er in das Erwachsenenleben eintritt. Nicht nur ist offenbar eine groBe objektive Fahigkeit zu Transformationen der Identitat im spateren Leben vorhanden, es ist auch eine subjektive Kenntnis und sogar Bereitschaft fur solche Transformationen da. Der moderne Mensch ist nicht nur besonders »bekehrungsanfanig«; er weiB das auch und ist oft darauf stolz." (Berger u. a. 1973, S. 70) Der Rehgionssoziologe FRANZ-XAVER KAUFMANN hat das moderne Bewusstsein als „zukunftsorientiert" bezeichnet, „und diese Zukunft wird als eine offene bestimmt, welche die jeweiUge Gegenwart stets in Frage stellt. Fur das moderne Bewusstsein ist somit nicht die Erfahrung des Bestands, sondem die Veranderhchkeit aller Dinge konstitutiv. Es hat daher keinen Sinn fiir Tradition, sondem entfaltet sich im Spektrum zwischen Fortschrittsglaube und unterschiedsloser Bejahung des Neuen um des Neuen willen." (Kaufmann 1989, S. 19f.) Das moderne Selbst^ ist „offen, weil es aufgrund der Beschleunigung sozialer und kultureller Veranderungen immer wieder subjektiver Neuorientierung bedarf." (Helsper 1997, S. 176) Im Prinzip offnen sich dem Selbst dadurch neue Ziele und individuelle Entwicklungsmoghchkeiten, ja vielleicht sogar die Chance, biographische Vergangenheit zu korrigieren. Aber die Veranderungen konnen auch verunsichem, weil Vertrautes in Frage gestellt wird, die nachste Zukunft nicht mehr klar eingeschatzt werden kann und die Optionen deshalb auch triigen konnen. Wenn man sich fiir eine Sache entscheidet, weiB man nicht, ob die Alternative nicht doch die bessere gewesen ware, und man muss auch damit rechnen, dass die Entscheidung Nebenfolgen zeitigt, die man jetzt noch gar nicht Uberblicken kann. Auch insofem muss die Identitat offen bleiben. Der moderne Mensch halt seine Identitat auf der Hohe der Zeit, und die Bereitschaft zu Transformationen mag das Individuum zwar mit Stolz erfiillen, aber sie ist im Grunde ja nicht freiwillig.

So ubersetzt Werner Helsper in seinem Aufsatz Uber das „postmoderne Selbst" (1997) den Begriff der Identitat.

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Was ist dann angesichts der strukturellen Offenheit der Identitat „wirklich"? Wirklich ist die Identitat, die gerade geboten oder moglich ist; zurtick wird die biographische Wirklichkeit schwacher, nach vome halt man ganz neue Facetten filr moglich. „Der Lebenslauf wird begriffen als eine Wanderung durch verschiedene soziale Welten und als stufenweise Verwirklichung einer Reihe von moglichen Identitaten. Der Einzelne denkt nicht nur »gewitzt« uber die Welten und Identitaten anderer, sondem auch Uber sich selbst. Diese Eigenschaft der Unabgeschlossenheit der modemen Identitat erzeugt psychische Belastungen und macht den Einzelnen besonders verwundbar dafur, dass andere ihn immer wieder anders definieren." (Berger u. a. 1973, S. 70) Fiir die These der immer anderen Definition durch andere verweisen Berger, Berger und Kellner ausdriicklich auf die Identitatstheorie von GEORGE HERBERT MEAD9, die sie so verstehen, „dass in einer sehr grundsatzlichen Weise die Menschen in alien Gesellschaften stets »au6engeleitet« und deshalb »unentschieden« (»open-ended«) gewesen sind." (Berger u. a. 1973, S. 70 FuBnote 34) Ich denke, dass sie hier den Prozess der fortlaufenden Kommunikation, der wechselseitigen Interpretation und Reaktion und der immer neuen gegenseitigen Rollenubemahme, in der erst sich das Individuum seiner selbst gewiss wird, vor Augen haben. Jedenfalls meinen sie, das Besondere an der modernen Identitat sei der Grad, in dem das erfolgt. Gedacht ist hier wohl an die eingangs behauptete Pluralisierung der sozialen Lebenswelt und die Vielfalt der Rollen, die gleichzeitig zu spielen sind.

29.3

Besonders differenziert - und uberall etwas fremd

Die Pluralisierung der Lebenswelt und die Vielfalt der Rollen, mit denen der moderne Mensch konfrontiert ist, haben Folgen fiir seine Identitat. „Wegen der Pluralitat der sozialen Welten in der modemen Gesellschaft werden die Strukturen jeder einzelnen Welt als relativ labil und unverlassHch erlebt." (Berger u. a. 1973, S. 70) Wahrend in der vormodemen Gesellschaft das Individuum in einer einheitlichen Welt lebte, die feste Orientierungen bot, sieht es sich heute mit einer Pluralitat von Welten konfrontiert, die jede fiir sich Sinn haben. Dadurch wird Vgl. oben Kap. 19.2 ,>Iead: Innere Kommunikation - sich selbst zum Objekt machen".

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aber jede einzelne von ihnen relativiert. Die institutionelle Ordnung erfahrt gewissermaBen einen Wirklichkeitsverlust. Die Konsequenz, die Berger, Berger und Kellner fur die Identitat des modemen Menschen sehen, habe ich im Zusammenhang mit der Selbstprlifung der AuBengeieiteten, schon angesprochen: „Der »Wirklichkeitsakzent« verlagert sich von der objektiven Ordnung der Institutionen in das Reich der Subjektivitat. Anders ausgedriickt: Fiir das Individuum wird die Selbsterfahrung realer als seine Erfahrung der objektiven sozialen Welt. Es sucht deshalb seinen »Halt« in der Wirklichkeit mehr in sich selbst als auBerhalb seiner selbst. Das hat unter anderem zur Folge, dass die subjektive Wirklichkeit des Einzelnen (...) fur ihn zunehmend differenzierter, komplexer und »interessanter« wird. Die Subjektivitat erlangt bislang ungeahnte »Tiefen«." (Berger u. a. 1973, S. 71)io WERNER HELSPER gewinnt der These von der Differenziertheit der modemen Identitat noch einen anderen Aspekt ab: „Besonders differenziert ist das moderne Selbst, well es nicht mehr in umfassende, homogene Lebenszusammenhange eingebettet ist, sondem in einer Komponenten-Welt agiert, in der sich soziale und kulturelle Wirklichkeit ausdifferenziert. In den sozialen Teilsystemen mit ihrer je eigenen Handlungsgrammatik werden unterschiedliche Erwartungen an das Subjekt herangetragen, das somit in den zeitlichen und raumlichen Komponenten seines Lebens hochst Unterschiedliches zu erbringen hat. Es ist selbst komponentiell, woraus sich fiir das moderne Selbst die Problematik von Integration und Desintegration ergibt {Integrationskrise). Da das Selbst in keiner der teilsystemspezifischen Komponenten seines Lebens mehr »ganz« involviert ist, werden die Teilsysteme relativiert und »fremd«: Wirklichkeitserfahrung wird somit ein Akt der Selbsterfahrung. Zugleich wird aber Fremdheit auch zu einem konstitutiven Bestandteil der Selbst-Erfahrung: Denn in keinem der Lebenssegmente ist das Selbst mehr ganz zu Hause, in jedem ist es immer auch »ein partieller Fremder«." (Helsper 1997, S. 176f.) Mit dieser letzten These bezieht sich Helsper auf ZYGMUNT BAUMAN, der in seiner kritischen Analyse der AmbivalenzH der Moderne 10

11

Hier liegt eine Erklarung, warum das Wort von der „Betroffenheit" zum Kurzel fiir Befindlichkeit und unliberbietbare Legitimation geworden ist! Vgl. auch oben Kap. 22.4 ,Jlestchancen ftir Identitat oder paradoxe Formen einer neuen Innenleitung?'*. Vgl. oben Kap. 28.5 ,3auman: Das Ende der Eindeutigkeit".

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sagt, dass die Erfahrung, fremd zu sein, zu den Grunderfahrungen des Menschen in einer Welt gehort, die ihre Eindeutigkeit verloren hat. In der „zeitgenossischen Gesellschaft mit ihrer extremen Arbeitsteilung und der Trennung funktional getrennter Spharen" (Bauman 1991, S. 123) ist im Prinzip jeder irgendwo fremd. „Ein Fremder zu sein bedeutet zuerst und vor allem, dass nichts naturlich ist; nichts wird von Rechts wegen gegeben, nichts geschieht gleichsam von selbst." (S. 99) Diese existentielle Herausforderung gilt fur den, der total fremd ist in einer vollig neuen Gesellschaft. In abgeschwachtem MaBe gilt dies auch fur uns in unserer vertrauten Gesellschaft. Sie ist eben aufgrund ihrer Differenzierung langst nicht mehr vertraut. Jeder befindet sich immer irgendwo und irgendwie „in der Position der Ambivalenz (...), die er nicht gewahlt und tiber die er keine Kontrolle hat" (S. 98). Nimmt man die Offenheit und Dijferenziertheit der modemen Identitat zusammen, so ist fiir Berger, Berger und Kellner die „Krise der modemen Identitat offenkundig. Auf der einen Seite ist (sie) unabgeschlossen, transitorisch, fortlaufendem Wandel ausgesetzt. Auf der anderen Seite ist ein subjektives Reich der Identitat der hauptsachliche Halt des Individuums in der Wirklichkeit. Etwas sich fortwahrend Wandelndes soil das ens realissimumi2 sein." (Berger u. a. 1973, S. 71) Von daher sei es nicht uberraschend, „dass der moderne Mensch an einer permanenten Identitdtskrise leidet, ein Zustand, der zu starker Nervositat fiihrt." (Berger u. a. 1973, S. 71) So hat es schon GEORG SiMMEL in seinem Aufsatz tiber die GroBstadte und das Geistesleben gesagt! 29.4

Besonders reflexiv - und metaphysisch heimatlos

Aus der Tatsache, dass die moderne Identitat angesichts der Relativitat der vielen sozialen Welten immer differenzierter wird, folgt ein drittes Kennzeichen der modemen Identitat: Sie ist besonders reflexiv. „Wenn man in einer integrierten und intakten Welt lebt, kann man mit einem Minimum an Reflexionen auskommen. In solchen Fallen werden die Grundvoraussetzungen der sozialen Welt fur selbstverstandlich genommen und bleiben das in der Regel auch innerhalb des Lebenslaufes 12

Lat., wortlich „das allerwirklichste Sein"; in der aristotelischen Lehre von der Vollkommenheit gleichbedeutend mit dem absoluten, dem reinen Sein.

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des einzelnen, jedenfalls der »normalen« Individuen. Dieser Zustand des unreflektierten »Zuhauseseins« in der sozialen Welt ist in EDMUND BURKES 13 beriihrntem Bild vom friedlich weidenden englischen Vieh in klassischer Weise eingefangen - von Burke in geschickter Weise als Gegenbild beniitzt zu der ruhelos fragenden und frenetisch nach Neuerung jagenden Aktivitat der franzosischen Revolutionare. Die moderne Gesellschaft ist solch landlicher Geruhsamkeit besonders feindlich. Sie konfrontiert den einzelnen mit einem fortwahrend wechselnden Kaleidoskop sozialer Erfahrungen und Bedeutungen, sie zwingt ihn, Entscheidungen zu treffen und Plane zu Schmieden." (Berger u. a. 1973, S. 71) Um es platt auszudrucken: Die Zukunft kommt nicht mehr so, wie sie fruher immer gekommen ist, sondem ist in jeder Hinsicht moglich, im giinstigsten Fall nur wahrscheinlich. Deshalb schmiedet man am besten nicht nur einen Plan, sondem mehrere Plane flir den Fall der Falle. Plane mlissen auch nicht zu Ende gedacht sein, da man nicht weiB, wie die Umstande sein werden. Auf keinen Fall diirfen sie starr sein. Manche halten Planen uberhaupt flir vertane Zeit, weil man den Lauf der Dinge ohnehin nicht aufhalten konne; wieder andere wollen nur im Hier und Jetzt leben, das sei uberschaubar. Dadurch verschiebt sich auch das Interesse an der komplexen gesellschaftlichen Welt und der subjektiven Welt. Angesichts der Pluralitat und Relativitat der Wirklichkeit drauBen richtet sich die Reflexion mehr und mehr „auf die Subjektivitat des Individuums, besonders auf seine Identitat, (...) das Ich wird zum Gegenstand bewusster Aufmerksamkeit und manchmal angstvollen Forschens." (Berger u. a. 1973, S. 72) Identitat, so konnte man diesen Gedanken fortfUhren, besteht in der permanenten Beobachtung des Ichs in der permanenten Umstellung auf die AuBenwelt. Die Reflexivitat oder „Selbstbezuglichkeit" des modemen Selbst hangt damit zusammen, dass es angesichts der Pluralitat der Lebensformen, Weltdeutungen, kulturellen Stile und Lebensfuhrungsmoglichkeiten permanent vor Entscheidungen steht. (vgl. Helsper 1997, S. 177) Es gibt kaum etwas, das selbstverstandlich ist oder so weitergeht, wie es immer gegangen ist. So gerat das Individuum in Distanz zu der ob13

Gemeint ist der englische Staatsmann, der seit 1789 in einer besorgten Korrespondenz mit einem „very young gentleman in Paris" stand und seine Befurchtungen und Warnungen schlieBlich in seinen „Reflections on the Revolution in France" (1790) niederlegte.

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jektiven Welt und muss sich fragen, was mit ihm im Augenblick geschieht und welchen Einfluss es auf seine unmittelbare Zukunft hat. In dieser wiederholten Frage ist seine Reflexivitat begrlindet. Das Individuum tritt neben sich, beobachtet sich und stellt umso mehr die Distanz zwischen sich und der Welt fest, Doch es ist nicht allein diese Distanzerfahrung, die den Bezug des Individuums auf sich selbst zum Problem werden lasst. Es ist auch und vor allem die Erfahrung, dass es im Grunde gar kein Individuum, sondem ein Dividuum (Junge 2002, S. 77), d. h. „geteilt" nach unterschiedlichen sozialen Erwartungen und individuellen Moglichkeiten ist: Es ist aufgeteilt in eine Vielzahl von RoUen, Intentionen und Praferenzen, die mit den differenzierten Teilsystemen notwendig verbunden sind. „Das Dilemma der SelbstbezUglichkeit des modemen Selbst", heiBt es bei Helsper, liegt darin, dass das moderne Selbst sich bei zu geringer SelbstbezUglichkeit „angesichts der offenen Optionshorizonte" aus den Augen verlieren und „zum Spielball sozialer Femzwange" wUrde, dass es umgekehrt bei zu starker SelbstbezUglichkeit genau wegen der unUbersehbaren Entscheidungsmoglichkeiten zu einer lebenspraktischen Entscheidung gar nicht mehr in der Lage ist und handlungsunfahig wird. (vgl. Helsper 1997, S. 177) Blicken wir noch einmal auf die Reflexivitat der Identitat im Angesicht der Pluralisiemng der sozialen Lebenswelten und der hochgradigen Differenzierung der Systeme. Wir haben gerade gehort, das Ich wUrde in der unbehaglichen Moderne „zum Gegenstand bewusster Aufmerksamkeit", manchmal auch „angstvollen Forschens" (Berger u. a. 1973, S. 72). Es ist die Angst, in der Vielzahl der Optionen und Anforderungen keinen Ort mehr zu haben, wo das Ich wirklich zu Hause ist. Das paart sich mit dem vagen GefUhl eines Verlustes transzendentaler Sicherheiten. Transzendenz heiBt die vordergrUndige Welt mit ihren Sachzwangen mit Blick auf einen dahinter liegenden Sinn des Lebens Uberschreiten. Die Gewissheit, dem Leben einen Sinn verleihen zu konnen, der aus eigenen Uberzeugungen lebt und eben nicht von fremder, sachzwanghafter Funktionalitat bestimmt ist, gehort zur conditio humana. Angst heiBt, dieser Gewissheit nicht mehr sicher zu sein. Diese Angst ist der Preis fUr die Sakularisierung des Lebens. Wohlgemerkt: Ich meine nicht den Verlust der religiosen Uberzeugungen, sondem die Rationalisierung des Lebens generell, die Bindungen und Freiheiten, Chancen und Verpflichtungen nur nach sachlicher

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Vemunft regelt und insofem koUektive Gerechtigkeit suggeriert. Aber ein Ort, an dem das Ich sich bei sich, sogar gegen die Rationalitaten der vielen Teilsysteme, oder eins mit einer sein Leben transzendierenden, kollektiven Uberzeugung fiihlen konnte, ist strukturell nicht mehr gegeben. Deshalb sprechen Berger, Berger und Kellner auch von einem „Unbehagen in der Moderne" und einer „metaphysischen Heimatlosigkeit", unter der der moderne Mensch leidet. (Berger u. a. 1973, S. 74, S. 159)

29.5

Besonders individuiert - der enge Rahmen der Autonomie

Berger, Berger und Kellner kommen zu einem vierten Merkmal der modemen Identitat: Sie ist ^besonders individuiert'. (Berger u. a. 1973, S. 72) Damit meinen sie, dass das Individuum „einen sehr wichtigen Platz in der Hierarchie der Werte" erlangt. „Individuelle Freiheit, individuelle Autonomie und individuelle Rechte werden als moralische Imperative von fundamentaler Bedeutung fUr selbstverstandlich genommen, und das oberste dieser individuellen Rechte ist das Recht, sein Leben so frei wie moglich zu planen und zu gestalten. Dieses Grundrecht wird von einer Vielzahl modemer Ideologien ausfUhrlich legitimiert." (S. 71) Aber bekanntlich ist die Freiheit nur iiber den Wolken grenzenlos. Hienieden stoBt sich die individuelle Freiheit an den Sachzwangen komplexer Verhaltnisse oder geht unter in attraktiven Handlungsrahmen, die unmoglich ausgeschlagen werden konnen. Und selbst, wo wir meinen, so richtig ins Voile greifen zu konnen, sprich: Optionen en masse zu haben, lauft der Anspruch, ganz Ich und ganz frei zu sein, ins Leere, weil wir den Uberblick verlieren und nicht wissen, woran wir uns orientieren sollen: „Wie im Supermarkt die Fehleinkaufe nicht deshalb stattfinden, weil es zu wenig gibt, sondem zu viel, und damit gleichzeitig das Gefuhl steigt, dass wir zu wenig wissen, um entscheiden zu konnen, steht es in alien Lebensbereichen. Ob Tee oder Zahnseide, ob Sinn oder Theorie - die Orientierungslosigkeit rtihrt daher, dass wir immer weniger in der Lage zu sein scheinen, die einzelnen Varianten zu kennen, geschweige denn auszuprobieren." (Gross 2000, S.65)

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Hinzu kommt, dass das Individuum nicht sicher sein kann, auf lange Sicht die richtige Entscheidung zu treffen, die dann auch noch mit den anstehenden Entscheidungen in anderen Bereichen des Lebens kompatibel ist. ULRICH BECK hat von einem „Zeitalter der Nebenfolgen" (1994) gesprochen.i4 Das ist zwar auf die gesellschaftlichen Entscheidungen und okonomisch-technischen Prozesse gemiinzt, aber es trifft auch jeden Einzelnen: Die Entscheidung, wer wir sind und sein wollen, treffen wir vor Spiegeln, die immer in Bewegung sind. Manche nehmen das gar nicht als ein Problem wahr, andere halten es mit der Weisheit, dass es eben immer anders kommt, als man denkt. Ein dritter will sich aber die Fulle der Optionen nicht entgehen lassen und halt sich alle Turchen offen, legt sich nicht fest und definiert Anspriiche und Ziele fur alle Falle. Und die Folge? Der offene, besonders individuierte Mensch hat „zu viele Balle gleichzeitig in der Luft" (Berger u. a. 1973, S. 158). Da kann einem schon mal einer auf den Kopf fallen, z. B. der Ball mit den unbedingten Anspruchen von gestem oder der mit den festen Absichten fur morgen. Das tut nicht ganz so weh, wenn man ganz viele von der Art in der Luft hat und keinen ganz klar beschrieben hatte. Und schlieBlich kann man Ziele, Anspriiche und auch Bilder von sich stillschweigend unter den Tisch fallen lassen, wenn Hoffnungen zerplatzen oder Plane an den harten Tatsachen der Welt zerschellen. In der pluralen Wirklichkeit wird das „Scheitem gegenliber den Individualitatsanspriichen nicht unwahrscheinlich." (Helsper 1997, S. 178)

Charaktermasken ohne Charakter Joseph von Eichendorff(1815) 15

29.6

Sennett: Die Korrosion des Charakters

Im Jahre 1998 legte der amerikanische Soziologe der Neuen Linken, RICHARD SENNETT ein Buch mit dem Titel „The Corrosion of Character" vor. Es handelt, wie eingangs schon gesagt, von der „ungeduldigen Gesellschaft" (1998, S. 12) des „flexiblen KapitaHsmus", in der eine entscheidende Basis der modemen Identitat weg bricht: die Selbstach14 15

Vgl. oben Kap 17.5 ,^eflexive Modernisierung". Joseph von Eichendorff (1815): Ahnung und Gegenwart, S. 118

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tung aus dem Beruf. Das Motto des Kapitalismus »Nichts Langfristiges« (Sennett 1998, S. 25) bedroht die Identitat des Menschen: Er kann seine Erfahrungen nicht mehr als konsequente Geschichte eines individuellen Charakters lesen, und er kann keine langfristige Perspektive ausbilden, wie diese Geschichte sinnvollerweise weitergehen sollte. Bei dieser diisteren Diagnose greift Sennett auf eine Studie des amerikanischen Joumalisten WALTER LDPPMANN aus dem Jahre 1914 mit dem Titel „Drift and Mastery" zuriick. Lippmann hatte sich gefragt, wie die Hunderttausenden von Immigranten, die von den Sicherheiten ihrer Vergangenheit abgeschnitten waren, im hektischen Kapitalismus zurecht kamen. Bei den Erfolgreichen stellte er fest, dass sie ihr Leben dadurch »meisterten«, dass sie ihre Arbeit, so bescheiden sie auch sein mochte, als »Karriere« verstanden, wahrend andere, die scheiterten, ihr Leben als zielloses »Dahintreiben« ansahen. »Karriere« bedeutete fiir Lippmann, den Lebenslauf als einen Prozess zu begreifen, an dem man aktiv mitgestaltet, und sein Leben methodisch zu fiihren. Die Arbeit wurde als Teil einer „lebenslangen Erzahlung" (Sennett 1998, S. 163) verstanden, die alle Erfahrungen in einen sinnvollen Zusammenhang brachte und daraus wiederum Zuversicht fur die Meisterung der Zukunft forderte. „Der Mensch, der eine Karriere verfolgt, definiert fur sich langfristige Ziele, VerhaltensmaBregeln im Berufs- und Privatleben und ein VerantwortungsgefUhl ftir sich und sein Verhalten." (ebd.) Doch die wirtschaftlichen und sozialen Verhaltnisse, sie sind nicht mehr so. Alles ist auf kurze Fristen ausgelegt, immer auf dem Sprung, flexibel auf irgendetwas zu reagieren, weitraumig vemetzt und deshalb auch in kurzer Dauer kaum zu uberschauen. Die Bedingungen fiir die Ausbildung eines Charakters stehen schlecht, da sich keine dauerhaften, emotionalen und gemeinsamen sozialen Erfahrungen ausbilden konnen und keine langfristigen Ziele finden lassen: „Charakter driickt sich durch Treue und gegenseitige Verpflichtung aus oder durch die Verfolgung langfristiger Ziele und den Aufschub von Befriedigung um zukunftiger Zwecke willen. Aus der wirren Vielfalt von Empfindungen, mit der wir alle uns jederzeit herumzuschlagen haben, wahlen wir einige aus und versuchen, sie aufrechtzuerhalten. Diese nachhaltigen ZUge werden zum Charakter, es sind die Merkmale, die wir an uns selbst schatzen und fiir die wir den Beifall und die Zuwendung der anderen suchen. Wie aber konnen langfristige Ziele verfolgt werden, wenn man

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im Rahmen einer ganz auf das Kurzfristige ausgerichteten Okonomie lebt? Wie konnen Loyalitaten und Verpflichtungen in Institutionen aufrechterhalten werden, die standig zerbrechen oder immer wieder umstrukturiert werden? Wie bestimmen wir, was in uns von bleibendem Wert ist, wenn wir in einer ungeduldigen Gesellschaft leben, die sich nur auf den unmittelbaren Moment konzentriert?" (Sennett 1998, S. llf.) Fiir Sennett ist es diese „Zeitdimension des neuen Kapitalismus, mehr als die High-Tech-Daten oder der globale Markt, die das Gefuhlsleben der Menschen" im Beruf und dann auch „au6erhalb des Arbeitsplatzes am tiefsten beruhren." (Sennett 1998, S. 29) Der flexible Kapitalismus lasst keine Karriere im Sinne einer zusammenhangenden, sinnvoUen Lebenserzahlung mehr zu. Er zwingt das Individuum, selbst flexibel zu sein und auf Zufalliges und Beliebiges so gut wie auf Zwangslaufiges und Entschiedenes richtig zu reagieren. Sennett wendet die Diagnose in die Frage nach der Identitat des Menschen: „Wie lassen sich langfristige Ziele in einer auf Kurzfristigkeit angelegten Gesellschaft anstreben? Wie sind dauerhafte soziale Beziehungen aufrechtzuerhalten? Wie kann ein Mensch in einer Gesellschaft, die aus Episoden und Fragmenten besteht, seine Identitat und Lebensgeschichte zu einer Erzahlung blindeln? Die Bedingungen der neuen Wirtschaftsordnung befordem vielmehr eine Erfahrung, die in der Zeit, von Ort zu Ort und von Tatigkeit zu Tatigkeit driftet." (S. 31) „Die Psyche", schreibt Sennett an anderer Stelle, „befindet sich in einem Zustand endlosen Werdens - ein Selbst, das sich nie voUendet. Unter diesen Umstanden kann es keine zusammenhangende Lebensgeschichte geben, keinen klarenden Moment, der das Ganze erleuchtet. Solche narrativen Formen, die manchmal als »postmodem« bezeichnet werden, spiegeln in der Tat die Erfahrung der Zeit in der modemen Politokonomie. Ein nachgiebiges Ich, eine Collage aus Fragmenten, die sich standig wandelt, sich immer neuen Erfahrungen offnet - das sind die psychologischen Bedingungen, die der kurzfristigen, ungesicherten Arbeitserfahrung, flexiblen Institutionen, standigen Risiken entsprechen." (Sennett 1998, S. 181f.) Die Parole „Nichts Langfristiges", unter der der flexible Kapitalismus antritt, „desorientiert auf lange Sicht jedes Handeln, lost die Bindung von Vertrauen und Verpflichtung und untergrabt die wichtigsten Elemente der Selbstachtung." (Sennett 1998, S. 38) Und gerade der

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erfolgreiche Mensch ist oft „verwirrt": „Er hat Angst, dass jenes flexible Verhalten, das ihm seinen Erfolg gebracht hat, den eigenen Charakter in einer Weise schwacht, fur die es kein Gegenmittel gibt. Wenn er ein Jedermann unserer Zeit ist, dann aufgrund dieser Angst." (Sennett 1998, S. 38) Und was ist mit den Erfolgreichen, die in der temporeichen Moderne keine Angst zu kennen scheinen? Sennett meint sie bei den Spitzenvertretem aus Wirtschaft und Politik ausgemacht zu haben, die sich jahrlich in Davos treffen. Sie zeichnen sich durch eine besondere, flexible Charakterstruktur aus. Ihr personliches Merkmal besteht erstens darin, dass sie in der Lage sind, Dinge loszulassen, das heiBt, sie binden sich nicht langfristig an Personen, Ziele oder Strukturen, sondem bewegen sich „in einem Netz von Moglichkeiten". (Sennett 1998, S. 78) Sie sind in jeder Hinsicht flexibel und anschlussfahig, vor allem aber grundsatzlich offen - auch fur Revisionen sozialer Obligationen. „Dieses Fehlen langfristiger Bindungen ist mit einem zweiten personlichen Merkmal der Flexibilitat verbunden, der Hinnahme von Fragmentierung." (Sennett 1998, S. 79) In der festen Uberzeugung, dass wirtschaftliches Wachstum nicht auf die ordentliche, biirokratische Art stattfindet, verfolgen sie viele Moglichkeiten gleichzeitig. Das erfordert „jedoch eine besondere Charakterstarke - das Selbstbewusstsein eines Menschen, der ohne feste Ordnung auskommt, jemand, der mitten im Chaos aufbluht. (...) Die wahren Sieger leiden nicht unter der Fragmentierung, sie regt sie vielmehr an, an vielen Fronten gleichzeitig zu arbeiten. (...) Die Fahigkeit, sich von der eigenen Vergangenheit zu losen und Fragmentierung zu akzeptieren, ist der herausragende Charakterzug der flexiblen Personlichkeit." (S. 79f.) Wenn man eine gewisse Konstanz des Selbstbildes tiber die Lebensgeschichte und die Nahe zu einer einigermaBen sinnvoUen Integration der Erfahrungen in die Erklarung des eigenen Lebens als Bedingungen flir Identitat ansieht, dann kann man ob der Identitat dieser strahlenden Meister - im Sinne des von Lippmann so bezeichneten »mastery«! der Moderne rasch ins Grlibeln geraten, ob die Uberschrift, unter die THOMAS BRUSEMEISTER Sennetts Diagnose der modemen Gesellschaft gestellt hat, vielleicht wirklich zutrifft: „Das uberflussige Selbst"! (2000, S. 307). Ich mochte es nicht bei dieser pessimistischen Sicht auf die Identitat in der Moderne bewenden lassen, sondem im letzten Kapitel skizzieren,

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wie sich das Individuum vor den anderen aus eigenem Denken wieder ins Spiel bringen konnte und was es tun miisste, um die Aufgabe der Identitat fUr sich zu losen. Bevor ich das tue, muss aber noch einmal die Frage angesprochen werden, die mitten ins Zentrum der Diskussion Uber die Krise in der Moderne zielt, die Frage, was an der Identitat, wie wir sie von uns denken, eigentlich wahr ist. Die Frage habe ich oben schon unter der Uberschrift „Uber »die« Wahrheit der Biographie und unmerkliche Glattungen" angesprochen. Ich greife sie hier noch einmal auf, um die Basis vorzubereiten, auf der ich dann Kompetenzen vorstellen werde, die man heutzutage braucht - vorausgesetzt, man will sich wirklich aus eigenem Denken ins Spiel der Gesellschaft bringen! Wie der Soldat, der von der Parade zurUckkehrt, ging Julien aufmerksam jede Einzelheit seines Verhaltens durch: »Habe ich nichts unterlassen, was ich mir selbst schuldig war? Habe ich meine Rolle gut gespielt?« (...) Die Aufmerksamkeit, mit der er unaufhorlich noch seine geringste Handlung studierte (...). " Stendhal (1830)^^

29.7

Noch einmal: Was ist die wahre Identitat?

Ich habe obeni7 von dem Bedurfnis nach Nichtaufmerksamkeit und der entsprechenden Strategic gesprochen, sie durch gespielte Normalitat zu sichem. Es liegt auf der Hand, dass um dieses Bedurfnis alle wissen und dass deshalb auch alle den leisen Verdacht haben, die anderen machten ihnen etwas vor. Dem skeptischen Soziologen drangt sich ein weiterer Verdacht auf, dass diese Anstrengung aus latenter Angst entspringt. Einen ganz ahnlichen Verdacht muss man auch bei der Strategic gespielter Einzigartigkeit haben. Auch dahinter scheint Angst vor der Gefahrdung der Identitat auf. Die Strategic wird namlich langst nicht mehr nur von denen verfolgt, die sich mitten im Zentrum der Gesellschaft wahnen, sondem von vielen, die wenigstens fur einen Moment glauben machen wollen, sie unterschieden sich von der Masse. 16 17

Stendhal (1830): Rot und Schwarz, S. 106f. Vgl. Kap. 26.2 „Anspruch auf Nichtaufmerksamkeit".

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Die einen glauben alien Emstes, die letzten gewesen zu sein, die das urspriingliche Mallorca noch erlebt haben, die anderen tun so, als ob sie als einzige keine Probleme mit ihren Kindem haben. Man kann vermuten, dass die unbewussten Phantasien liber die einzigartige Wirklichkeit, wie sie sein soil, mit latenten Angsten korrespondieren, dass Illusionen sich als solche erweisen und als solche auch von den anderen bemerkt werden. Die Balance von Nicht-Wirklichem, um die es bei der Strategie gespielter Normalitat wie der gespielter Einzigartigkeit geht, ist anstrengend genug. Denken wir dariiber nach, dass wir bei unserer Vorstellung von „unserer" Identitat eigentlich auch das Scheitem des Spiels einkalkulieren mtissten, dann kann Identitat tatsachlich als „Krisenbegriff" (Reck 1981, S. 154) verstehen. Erbezeichnet eine Vorstellung vom eigenen Selbst, die von jetzt auf gleich umschlagen kann. Wenn das Individuum dariiber nachdenken wiirde, wer und was es ist und wie es sich darstellt, konnte es leicht das bange Geflihl beschleichen, dass nichts so fest und so wahr ist, wie es das geme sich und andere glauben mochte! Damit liegt wieder einmal die Frage nach der Wahrheit der Identitat auf dem Tisch. Vor meiner Antwort will ich das variieren, was ERVING GOFFMAN (1959)18 liber die Wahrheit der Darstellung gesagt hat: Alles, was getan wird, setzt Fakten.19 Insofem ist ein Betrug nichts anderes als ein StoBgebet. Nur das kann der Soziologe feststellen. Eine moralische Bewertung steht ihm nicht zu. Meine Antwort auf die Frage nach der Wahrheit der Identitat, wie sie das Individuum von sich annimmt, lautet deshalb so: Fiir das Individuum ist seine Identitat das, was es gerade von sich annimmt. Diese Relativierung mag manchen betruben, aber wiirde man anderes von sich verlangen, wiirde man sich liberfordem. Die wohltatigen Strategien, die wir in diesem Prozess der Selbstdefinition anwenden, habe ich oben unter der tJberschrift „Uber »die« Wahrheit der Biographic und unmerkliche Glattungen" beschrieben. Dort sollten auch die Chancen der Freiheit deutlich geworden sein, die sich aus diesen unmerklichen oder auch ganz bewussten Strategien ergeben! In Bezug auf die Frage nach der Wahrheit der Identitat, wie sie andere vom anderen 18 19

Vgl. zum Thema Wahrheit der Darstellung oben Kap. 23.3 ,JDramatische Auftritte" und 23.4 ,JRollendistanz". Nach dem nun schon mehrfach bemiihten Thomas-Theorem ist naturlich auch das Denken einer Situation Handeln. Es setzt Fakten.

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Individuum annehmen, lautet meine Antwort: Fur die anderen ist die Wahrheit der Identitat ebenfalls die, die sie in der konkreten Situation annehmen. Dass dies mit ihren typischen Erfahrungen und spezifischen Erwartungen zu tun hat, diirfte in der Diskussion iiber soziale Identitat deutlich geworden sein! Nattirlich miisste man auch fragen, wer eigentUch noch an die Wahrheit der eigenen Identitat glaubt, doch das habe ich Ihnen im Kapitel „Uber »die« Wahrheit der Biographie" schon zugemutet, und ich hoffe, dass Sie meine Antworten und Erklarungen nicht als unmoralischen Rat eines zynischen, kalten Analytikers verstanden haben. Lesen Sie fiir alle Falle noch einmal, wie ich gerade bestimmte biographische Strategien bezeichnet habe! Der wiederholte Hinweis auf den Umgang mit der eigenen Biographie ist so gedacht, dass wir uns standig mit einem passenden Bild von uns auf den Stand bringen, Chancen der Moderne zu nutzen und Zumutungen abzuwehren. Deshalb habe ich das Kapitel „Kompetenzen" auch ganz an das Ende dieses Buches gestellt. Es soil den soziologischen Blick auf die Identitat in der Moderne wieder etwas weiten und sowohl Bedingungen nennen, unter denen sie gewonnen und behauptet werden kann, als auch Kompetenzen aufzeigen, die daftir vonnoten sind.

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Kompetenzen

30.1

Die Fahigkeit, Gleichheit und Kontinuitat zu konstruieren, und ein Katalog von Grundstarken Identitatsfordemde Fahigkeiten: Balancen und Uberschreitungen Dem Leben einen Sinn geben und sich in seinem Zentrum wissen Bewegliches Denken Mut

30.2 30.3 30.4 30.5

Der kanadische Sozialphilosoph CHARLES TAYLOR hat seinem Buch „Sources of the Self (1989) den Untertitel „The Making of Modem Identity" gegeben. Auf dieses aktive Moment der Identitat mochte ich besonders abheben. Identitat ist nichts, was uns von Natur gegeben ware Oder zugestoBen ist, sondem was wir in Auseinandersetzung mit anderen Individuen und in Reflexion auf uns selbst „gemacht" haben und weiter machen. Das soUte uns erstens aufmerksam auf uns selbst machen und zweitens Hoffnung wecken, dass wir es auch einigermaBen gut machen. Dass ein Kapitel „Kompetenzen" ausgerechnet am Ende einer langen und manchmal skeptischen Diskussion uber Identitat heute steht, hat deshalb einen guten Grund: Wer wir friiher waren und als wen wir uns erkannt haben, das konnen wir nicht mehr andem; wer wir ab jetzt sein wollen und was wir von uns halten werden, das liegt in unserer Hand. Allerdings muss man dazu auch einiges konnen. Fur Taylor wird das Selbst (»identity«) durch das Wissen des Individuums um sich selbst (»self awareness«) geschaffen und dadurch, dass es fiir die Dinge um sich herum Bedeutungen setzt: „Ein Selbst ist jemand nur dadurch, dass bestimmte Probleme fur ihn von Belang sind. Was ich als Selbst bin - meine Identitat - , ist wesentlich durch die Art und Weise definiert, in der mir die Dinge bedeutsam erscheinen" und wie ich sie selbst interpretiere. (Taylor 1989a, S. 67f.) Auch daran ist das Individuum aktiv beteiligt, denn die Dinge haben nicht Sinn an sich, sondem nur insofem, als es sie in einen sinnvollen Zusammenhang bringt, sozusagen ihre Relevanz fur sein eigenes Leben definiert.

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30 Kompetenzen

Diese Definition erfolgt nicht allein aus der Bilanz der biographischen Vergangenheit, sondem auch aus der oft nicht bewussten Vorstellung von einer Zukunft, wie wir sie uns zutrauen und wie wir sie erhoffen. In das Bild von uns spielt die Selbstdefinition eines Handelnden „weir' und eines Handelnden „um zu" hinein. Die Arbeit an der eigenen Identitat verlangt im ersten Fall, sich von zwanghaften Verdoppelungen der Definitionen von Relevanz freizumachen, im zweiten Fall, sich der Motive und Konsequenzen klar zu werden. In beiden Hinsichten mussen wir uns der Stiftung der Identitat durch uns selbst bewusst bleiben. Deshalb gefallt mir auch der Schluss, den JURGEN RITSERT aus Taylors Uberlegungen gezogen hat: „Das Selbst ist kein Ding, keine Substanz, sondem eine Kompetenz! Es bezeichnet im Kern die Fahigkeit des Individuums, um sich und sein Tun zu wissen (Selbstbewusstsein) sowie sich selbst zu Handlungen bestimmen zu konnen (...)•" (Ritsert 2001, S. 78f.) Die Anlasse, um sich selbst zu wissen, sind eher selten. Wer fragt schon im Alltag „Wer bin ich?" und wer halt sich im Laufen schon an, um sich zu fragen, was er da gerade tut?! SchlieBlich: Wenn wir tiberhaupt innehalten, um tiber uns nachzudenken, dann begniigen wir uns mit einer fluchtigen Bilanz, was wohl dazu gefUhrt hat, dass wir so sind, wie wir sind, Geme fuhren wir dann auch die anderen oder die Verhaltnisse oder was auch immer an, um diese tuckische Bremse im Kopf wieder zu losen. Dennoch: Identitat hat etwas mit dem zu tun, was vor uns liegt und wie wir uns auf diese Zukunft einstellen wollen. 30.1

Die Fahigkeit, Gleichheit und Kontinuitat zu konstruieren, und ein Katalog von Grundstarken

Zur Erinnerung: Fur Erikson besteht das „Kemproblem der Identitat (...) in der Fahigkeit des Ichs, angesichts des wechselnden Schicksals Gleichheit und Kontinuitat aufrechtzuerhalten." (Erikson 1959b, S. 82) Er nennt diese Seite der Identitat personate Identitat. Das Bewusstsein der Gleichheit und Kontinuitat zusammen mit dem, dass auch andere einen so erkennen, nennt Erikson Ich-Identitdt. (vgl. Erikson 1946, S. 18) Mit dieser apodiktischen Forderung nach Gleichheit und Kontinuitat uberfordert Eriksons Identitatskonzept jeden, der nicht schon von Geburt an ein Weiser ist oder sein zwanghaft-konsequentes Verhalten

30 Kompetenzen

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uberlebt. Dennoch: Als Aufforderung, zwischen der eigenen Biographic und dem Zeitpunkt des Nachdenkens uber sie, das aktuelle Tun und die Zukunft eine sinnvoUe Verbindung herzustellen, ist „Gleichheit und Kontinuitat" ein lohnendes und unverzichtbares Ziel der Identitatsarbeit. Identitat wird immer wieder neu konstruiert. Solange wir dabei fiir moglich halten, dass wir unsere eigene Zukunft selbst in die Hand nehmen konnen, sollte die Fahigkeit, „Gleichheit" anzunehmen, als Fahigkeit verstanden werden, aus dem Fundus der Biographie die nutzlichen Erfahrungen zu einem individuellen Muster zu verallgemeinem. Dass der „Kontinuitat" dabei manchmal etwas nachgeholfen werden muss, sollte man nicht als unmoralisch verwerfen. Die Uberlegungen zur Wahrheit der Biographie und zur Not der Diskreditierten waren gedacht, die Wohltatigkeit und Notwendigkeit solcher Glattungen herauszustellen! Unbeschadet des kritischen Einwandes gegeniiber Eriksons idealistischer Vorstellung von Identitat als „Gleichheit und Kontinuitat" sind die Tugenden, die er am Ende einer jeden Entwicklungsphase benennt, als Kompetenzen hochst bedenkenswert. Ich will sie noch einmal aufzahlen: Hoffnung, Wille, Zielstrebigkeit, Tuchtigkeit, Treue (zu sich, seinen Idealen und zu anderen Menschen), Liebe, Flirsorge und schlieBlich Weisheit. Es sind „Grundstarken", mit denen das Individuum sich durchs Leben steuert. (vgl. Erikson 1982, S. 36 und 1961, S. 98) Und ich will auch noch einmal daran erinnem, dass Erikson in der Treue den „Eckstein der Identitat" (1961, S. 108) sieht. SchUeBlich die letzte Tugend: Weisheit heifit, zu akzeptieren, wie man geworden ist. Weisheit heiBt aber auch, sich neue Ziele zuzutrauen. 30.2

Identitatsfordernde Fahigkeiten: Balancen und Uberschreitungen

LOTHAR KRAPPMANN stcllt an der von Erikson so bezeichneten IchIdentitat das Problem der Balance zwischen Individuum und Gesellschaft heraus. Da Identitat fur Krappmann eine strukturelle Bedingung fiir die Teilnahme an Interaktionsprozessen ist, fragt er, welche Kompetenzen man eigentlich braucht, um Identitat zu gewinnen und zu demonstrieren. Hier lehnt sich Krappmann an die Arbeiten von ERVING GOFFMAN (1959, 1961b) an.

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30 Kompetenzen

Krappmann hat, so habe ich es referierti, mehrere kritische Fragen an Eriksons Identitatstheorie gestellt. Eine war, ob die postmodemen Lebensverhaltnisse die Bemuhungen um Identitat - im Sinne von Gleichheit und Kontinuitat - nicht aussichtslos machten. (vgl. Krappmann 1997, S. 66) Eine zweite war, ob Eriksons Rede von den gesellschaftlichen Laufbahnen, auf denen Jugendliche in eine kollektive Zukunft gelangen, in deren Rahmen wiederum sie auf Einheit und Kontinuitat vertrauen konnten, angesichts der Auflosung traditionaler Rollen, des Wertewandels und der Pluralisierung und Individualisierung nicht nostalgisch sei. (vgl. S. 80) Diese kritischen Fragen andem aber nichts an Krappmanns Wiirdigung des von Erikson konsequent entwickelten Grundgedankens, dass das Individuum Identitat in tatiger Auseinandersetzung mit seiner Umwelt gewinnt und sie ihr gegeniiber auch handelnd vertreten muss. Dazu bedarf es der Ausbildung bestimmter identitatsfordemder Fahigkeiten. Krappmann lenkt den BHck dazu auf die Phase, in der sich nach der Theorie von Erikson Identitat entscheidet, die Jugend. In ihr verlasst der Jugendliche die Bilder von sich selbst, die ihm primare Bezugspersonen kontinuierlich gespiegelt haben. Es war nicht so, dass er zu diesen Bildem nichts beigetragen hatte, aber jedes Bild war gefarbt durch den Grundton, Kind zu sein. Dieser Status war im Prinzip ganzheitlich und nicht differenziert. In der Jugend tritt das Kind hinaus in die Gesellschaft und wird mit Erwartungen konfrontiert, wie sie fur viele gelten. Niemand raumt ihm einen Bonus ein, dass es dieses eine, unverwechselbare Kind ist. Vor allem aber muss es etwas tun, um einen bestimmten Status zu erreichen, und es muss viele Rollen gleichzeitig spielen lemen. Das Bild, das es in diesem Prozess von sich erhalt, ist differenziert und muss erst synthetisiert werden, ehe es Orientierungsfunktion fiir das weitere Handeln bekommt. Dabei muss sich der Jugendliche auch der Zumutungen der anderen erwehren, die sich ein ganz bestimmtes Bild von ihm machen und erwarten, dass er sich nach diesem Bild verhalt und selbst erkennt. Das ist der Hintergrund, vor dem Krappmann Eriksons These aufgreift, „dass weder der einzelne seine Identitat allein, sozusagen privat, definieren, noch dass die Umwelt sie ihm zudiktieren kann." (Krappmann 1997, S. 67) Deshalb referiert Krappmann auch so weiter: „Jedes 1

Vgl. oben Kap. 20.6 ,J^ostalgische Vorstellungen oder eine inkonsistente Zeit?".

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Kompetenzen

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Individuum entwirft seine Identitat, indem es auf Erwartungen der anderen, der Menschen in engeren und weiteren Bezugskreisen, antwortet. Diese Bezugskreise mlissen den Identitatsentwurf akzeptieren, in dem aufgebaute Identifikationen und Bedurfnisse des Heranwachsenden mit den Mustem der Lebensfuhrung, die in einer Gesellschaft angeboten werden, zusammengefugt werden." (Krappmann 1997, S. 67) Diese Muster, das hatte auch Erikson schon gesehen, sind unklar und widerspriichlich geworden. Es gibt keinen sicheren Rahmen mehr, in dem die Individuen richtige Entscheidungen treffen konnten, und die Bezugsgruppen, aus denen heraus sie Legitimationen fur eigene Entscheidungen erhalten konnten und auf die hin sie sie legitimieren miissten, sind diffus und widerspriichlich geworden. Krappmann hatte „das Resultat der Anstrengungen, Unklarheiten, Unstimmigkeiten und Widerspriiche zu bearbeiten" (Kjrappmann 1997, S. 81), in seinem Buch von 1969 als „balancierende Identitat" bezeichnet. Und so definiert er sie auch 30 Jahre spater wieder: Es ist eine Identitat, „die aus standiger Anstrengung um neue Vermittlung entsteht" (1997, S, 81). Krappmann fahrt fort: „Der Identitatssuchende versucht, zusatzliche Informationen und Erfahrungen, aber auch Enttauschungen und Verletzungen zu integrieren und sich gegen Stigmatisierungen und Stereotypisierungen zu wehren. Nicht Inhalte machen diese Identitat aus, sondem bestimmt wird sie durch die Art, das Verschiedenartige, Widersprtichhche und Sich-Verandemde wahrzunehmen, es mit Sinn zu fiillen und zusammenzuhalten." (ebd.) Krappmann erinnert an Goffman, der „farbig geschildert" habe, „wie Menschen daran arbeiten, ihre Identitat zu entwerfen, sie anderen verstandHch zu machen, sie zu verteidigen und immer wieder umzukonstruieren." (Krappmann 1997, S. 81 unter Bezug auf Goffman 1963) Warum tun sie das? Sie tun es, „um aus sozialen Erwartungen nicht herauszufallen und doch eigenen WUnschen Anerkennung zu verschaffen. Dieses miihevolle Balancieren zwischen Erwartungen, Zuschreibungen und eigenen Interessen und Sehnsuchten ist kein Jonglieren aus tibermut, sondem entspringt der Not, seinen Platz in einer widerspriichUchen, sich wandelnden Gesellschaft zu bestimmen. Erreichbar ist trotz dieses Aufwands keine ein fiir allemal gesicherte Identitat, sondem lediglich, sich trotz einer immer problematischen Identitat die weitere Beteiligung an Interaktionen zu sichem." (Krappmann 1997, S. 81)

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30 Kompetenzen

Eine strukturelle Voraussetzung fur die Balancierung ist, dass die Situationen des Handelns nicht rigide definiert, sondem ojfen sind und individuelle Interpretationen zulassen. Damit die Offenheit sowohl ausgehalten als auch genutzt werden kann und Identitat tatsachlich erfahren und dargestellt wird, sind bestimmte „identitatsfordemde Fahigkeiten" (Krappmann 1969, S. 132) vonnoten. Krappmann nennt vier: •



Da ist zunachst die Fahigkeit, Rollenerwartungen bis zu einem gewissen MaBe in Frage zu stellen. Krappmann nennt diese Fahigkeit mit ERVING GOFFMAN Rollendistanz. Die zweite Fahigkeit besteht darin, sich in die Situation des Partners hineifizuversetzen, ihn von seinem Standpunkt aus zu verstehen. Das wird als Empathie bezeichnet. Das war das Thema bei GEORGE HERBERT MEAD.





Drittens muss man auch aushalten konnen, dass Rollen zweideutig (lat. ambiguus) sind und die Motivationsstrukturen einander widerstreben, weshalb auch nicht alle Bedtirfnisse in einer Situation befriedigt werden konnen. Krappmann bezeichnet diese Fahigkeit als Ambiguitdtstoleranz^ SchlieBlich muss man auch zeigen, wer man ist, was impliziert, dass man ein personliches Profil sowohl gegenliber den Normalitatserwartungen der anderen als auch in der Kontinuitat der eigenen Biographic zeigt. Diese Fahigkeit wird als Identitdtsdarstellung bezeichnet.

Die Identitat, die aus der reflektierten Balance zwischen personlicher Identitat^ der biographischen Einzigartigkeit des Individuums, und sozialer Identitat, des Musters der Reaktionen auf tatsachliche oder unterstellte Erwartungen, erfahren wird, nennt Krappmann mit Erikson IchIdentitdt. (vgl. Krappmann 1969, S. 79) Ich-Identitat ist die Fahigkeit, zu zeigen, wer man ist, was impliziert, dass man ein personliches Profil sowohl gegeniiber den Normalitatserwartungen der anderen zeigt als auch in der Kontinuitat der eigenen Biographic rekonstruiert. In das Konzept von Krappmann spielen Meads These - ich wiederhole es -, dass das Individuum in der Interaktion Objekt flir die Anderen wird, das auch weiB, und dass es Objekt ftir sich selbst wird, und Goffmans These, dass es sich deshalb vor anderen darstellt, hinein. In seine Definition von Ich-Identitat gehen aber noch zwei weitere Momente ein: die Selbstanforderung, sie immer neu zu schaffen, und ein

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Moment des Widerstandes. Er schreibt: „Ich-Identitat erreicht das Individuum in dem AusmaB, als es, die Erwartungen der anderen zugleich akzeptierend und sich von ihnen abstoBend, seine besondere Individualitat festhalten und im Medium gemeinsamer Sprache darstellen kann. Diese Ich-Identitat ist kein fester Besitz des Individuums. Da sie ein Bestandteil des Interaktionsprozesses selber ist, muss sie in jedem Interaktionsprozess angesichts anderer Erwartungen und einer standig sich verandemden Lebensgeschichte des Individuums neu formuliert werden." (Krappmann 1969, S. 208) Das zweite Moment, der Widerstand, kommt in das Konzept der Ich-Identitat dadurch hinein, dass Krappmann kritischer auf die gesellschafthchen Verhaltnisse bUckt, als Erikson und Goffman das taten. Diese Kritik hat er seinerzeit eher vorsichtig angedeutet, doch sollte man sie genau lesen, um auch von dieser Seite die soziologische Diskussion (iber Identitat offen zu halten. Krappmann schreibt zum Ende seines Buches: „Dieses Identitatskonzept will das Individuum nicht an vorgegebene Verhaltnisse anpassen, obwohl in die Identitatsbalance Normen und Bedurfnisse der anderen eingehen. Dem Individuum wird nicht die falsche Sicherheit einer festen Position - sei es im Versuch vollstandiger Ubemahme angesonnener Erwartungen, sei es durch die Bemiihung um voUigen Ruckzug aus Handlungssystemen, in denen divergierende Erwartungen auftreten - empfohlen. Vor den widersprtichlichen Anforderungen einer in sich zerstrittenen Gesellschaft kann es sich nicht schiitzen. Der hier entwickelte Identitatsbegriff versucht vielmehr dem Erfordemis Raum zu geben, kreativ die Normen, unter denen Interaktionen stattfinden, zu verandem. Dieses kritische Potential des Individuums zieht seine Kraft aus der strukturellen Notwendigkeit, nicht ubereinstimmende Normen negierend zu uberschreiten." (Krappmann 1969, S. 208f.) Der Optimismus Krappmanns, dass das Individuum gesellschaftliche Widerspriiche auflost und - zur Sicherung seiner Identitat - auch Normen der Interaktion kreativ verandert, stoBt allerdings an Grenzen: „Tatsachlich kann das Individuum nicht jede ihm erwunschte Neuinterpretation vorgegebener Normen bei seinen Interaktionspartnem durchsetzen, denn es stoBt auf widerstrebende Interessen der anderen. Auch sind die Chancen, einer Identitatsbehauptung Anerkennung zu sichem, ungleich, well von den verschiedenen Positionen eines sozialen Systems aus unterschiedliche Einflussmoglichkeiten bestehen. Nur eine

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Analyse der jeweiligen sozialen Verhaltnisse kann zeigen, welche Interpretationsmoglichkeiten dem Individuum offenstehen und welche Grenzen seiner Bemiihung um Identitat in einem gegebenen System sozialer Ungleichheit gesetzt sind." (Krappmann 1969, S. 209) Bei dieser, sicher auch dem damaligen Zeitgeist geschuldeten, Rahmung der Suche nach Identitat mochte ich es nicht bewenden lassen und wenigstens zwei Bedingungen fur ein „dennoch" nennen: die kontinuierliche Suche, dem Leben einen Sinn zu verleihen, und die unbeirrte Bereitschaft, selbst zu denken. Blofi nicht immer daran denken, was die anderen Uber einen denken. Das ist Kapitulation! Ruin ist das! Man versetzt sich in andere hinein, Uberldsst denen das Urteil Uber sich selbst, ist also verloren. Andere urteilen Uber dich immer, wie du nie mochtest, dass Uber dich geurteilt werde. Es interessiere dich nicht, wie andere Uber dich denken. Tritt aufals der, als der du angesehen sein willst. Martin Walser (1991) 2 30.3

Dem Leben einen Sinn geben und sich in seinem Zentrum wissen

Identitat heiBt nicht nur, sich der Differenz zwischen Individuum und Gesellschaft bewusst zu bleiben, sondem die Form dieses Verhaltnisses grundsatzlich unter der Perspektive des Moglichen zu bedenken! Identitat impliziert die Anstrengung der wiederholten Definition, wer man sein konnte, wenn man wollte.^ Identitat ist das Bild, das wir von uns im Angesicht unserer Zukunft haben. Der amerikanisch-israelische Medizinsoziologe AARON ANTONOVSKY (1987) hatte bei seinen Untersuchungen zum Thema Stress festgestellt, dass tJberlebende von Konzentrationslagem oft erstaunlich gesund waren und sich auch so fuhlten. Aus diesem Befund leitete er die grundsatzliche Frage ab, warum Menschen gesund bleiben, warum 2 3

Martin Walser (1991): Die Verteidigung der Kindheit, S. 347 Lesen Sie doch noch einmal, was Pico della Mirandola (1486) uber die Kraft des eigenen Entschlusses geschrieben und welches Vorrecht Friedrich Schiller (1793) dem Menschen attestiert hat. (vgl. Kap. 6.2 „Der Mensch als Schopfer seiner selbst".)

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sie sich nach Krankheit wieder erholen und warum Menschen selbst bei extremen Belastungen nicht krank werden. Seine Antwort war: Sie hatten das Gefuhl, dass ihr Leben alles in allem Sinn machte und dass sie ihr Leben auch im Grunde im Griff hatten. Dieses Gefuhl eines inneren Zusammenhangs von gesellschaftlichen Bedingungen und individuellen Handlungen nannte Antonovsky das „GefUhl der Koharenz" (»sense of coherence«). Es setzt sich aus drei Komponenten zusammen: 1. Gefuhl von Verstehbarkeit: Der Mensch erwartet und ist in der Lage, die Ftille der Informationen so zu ordnen, zu strukturieren und in einen vemiinftigen Zusammenhang zu bringen, dass ihm die Welt nicht mehr unerklarlich, chaotisch oder zufallig erscheint. 2. Gefuhl von Handhabbarkeit: Der Mensch ist iiberzeugt, dass die anstehenden Probleme handhabbar und losbar sind. Die dazu notwendigen Ressourcen miissen nicht bei ihm selbst vorhanden sein, sondem er kann sie auch einer anderen Person oder einer hoheren Macht zuschreiben. 3. Gefuhl von Bedeutsamkeit: Diese Komponente ist die wichtigste. Es ist das Gefuhl, dass die an das Leben gestellten Aufgaben es wert sind, gelost zu werden. Es macht kognitiv und emotional Sinn, sich zu engagieren. Die Starke des Gefuhls der Koharenz hangt also davon ab, welchen Sinn der Mensch seiner Lage beimisst und welche positiven Erwartungen er an das Leben hat. Identitat heiBt, dem eigenen Leben einen Sinn zu geben und sich in seinem Zentrum zu wissen. Identitat heiBt weiter, sich die Ziele und Mittel des Handelns selbst zuzurechnen und sie mit Blick auf eine selbstgewdhlte Zukunft zu begrtinden. Eigentlich versteht es sich von selbst, dass „sich im Zentrum seines Lebens befinden" heiBt, dass das Individuum selbst bestimmt, wer es sein will. Statt vieler Worte, die sich z. B. wieder auf Riesmans Charaktertypen des AuBengeleiteten beziehen wurden, verweise ich auf die Worte des Schriftstellers vor diesem Unterkapitel. Im Ubrigen schadet es sicher nicht, mutig und selbstbewusst zu sein, wenn wir unsere Identitat unter der Perspektive des Moglichen denken. Als letzte Fahigkeit, sich der eigenen Identitat bewusst zu werden und sie als Aufgabe immer wieder angehen zu konnen, nenne ich deshalb das „bewegliche Denken".

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30 Kompetenzen Ich kann mich nicht mehr mit dem begnilgen, was die meisten Menschen sagen und was in den BUchern steht. Ich muss selbst fiber die Dinge nachdenken und mir dariiber klar zu werden suchen. Henrik Ibsen (1879)^

30.4

Bewegliches Denken

Ich habe vor die ersten Antworten auf die Frage nach der Identitat^ ein Zitat des groBen Aufklarers CHRISTIAN WOLFF gestellt, wonach die Menschen deshalb Personen sind, weil sie „eben diejenigen sind, die vorher in diesem oder jenem Zustand gewesen" sind (Wolff 1720, § 924). Dort habe ich auch schon eine erste Interpretation seiner Definition vorgenommen, die ich hier noch einmal aufgreifen will. Je nachdem wie man die Worte betont, kann man diese Definition so interpretieren, dass sich der Mensch seiner vergangenen Zustdnde innewerden und sie im Lichte der Gegenwart reflektieren kann. Man kann es aber auch so lesen, dass sie sich als diejenigen, das heiBt als bestimmte, denen man etwas uber alle Zustande hinweg zurechnen kann, erkennen. Das wurde nahe legen, die Person so zu definieren, wie Erikson personale Identitat bestimmt hat: uber Gleichheit und Kontinuitat. Und in der Tat hat diese Vorstellung, dass Identitat etwas Festes ist, etwas, das sich konsequent durch das ganze Leben zieht und in jedem Handeln wiedererkannt werden sollte, unsere umgangssprachlichen Vorstellungen von Identitat bis heute bestimmt. Man konnte diese Vorstellungen hinnehmen, wenn man nicht wiisste, dass sie fiir viele ausgerechnet dann zur Belastung werden, wenn sie im Laufe des Lebens anhalten und sich fragen, wer sie sind und wer sie morgen sein wollen. Deshalb will ich zum Schluss der langen soziologischen Diskussion uber Identitat zwei rhetorische Fragen^ stellen und etwas zu bedenken geben. Die Fragen lauten, 4 5 6

Henrik Ibsen (1879): Nora, S. 76 Vgl. oben Kap. 18.1 „Antworten" und dort in Anm. 7 die Begrtindung fur eine bestimmte Interpretation des Zitates. Ich habe diese Fragen vor vielen Jahren schon einmal gestellt und unter der Uberschrift „Abschied von der Identitat" (1993a) eine Antwort gegeben, die ausgerechnet denjenigen, dem mein Beitrag in Freundschaft gewidmet war, betriibte. Mein Fehler war, dass ich das Wort „der" nicht in Anfuhrungszeichen ge-

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Kompetenzen





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ob es angesichts der Pluralitat von Lebensstilen und Sinnorientierungen Identitat in dem emphatischen Sinne von Authentizitat, Konstanz und Einzigartigkeit uberhaupt noch geben kann und ob eine so bestimmte Identitat heute noch Ziel sein sollte.

Ich mochte beide Fragen vemeinen, weil niemand eine Insel ist, sondem als Individuum in der Gesellschaft durch deren Wandel bertihrt wird. Wie sich die Strukturen der Gesellschaft andem, so ergeben sich auch neue Herausforderungen und Chancen. Jenen wtirde eine rigide Identitat nicht gerecht, diese wurden von einer solchen nicht wahrgenommen. Ich denke deshalb mehr an die beweglichen Typen, die sich und die Bedingungen ihres Handelns reflektieren und so ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen. KARL MANNHEIM war vor langer Zeit iiberzeugt, dass diese „Entfaltung der Verstandeskrafte (...) keineswegs zufallig und auch nicht in erster Linie eine Frage der einzelnen Individuen und ihrer zufalligen Begabungen ist, sondem von den durch die jeweilige Gesellschaftsstruktur gestellten Aufgaben abhangt". (Mannheim 1935, S. 50) Wodurch ist die modeme Gesellschaftsstruktur gekennzeichnet? Nun, durch „funktionelle Durchrationalisierung", und die wiederum fiihrt fUr Mannheim letzten Endes auch zur „Selbstrationahsierung". (S. 66) Mannheim setzt die Begriffe Selbstrationalisierung und Selbstbeobachtung gleich und verbindet sie in der optimistischen These, dass es „der Selbstbeobachtung (...) primar um eine innere Umgestaltung" gehe: „Wir reflektieren auf uns und unsere Handlungen meist, um uns besser umgestalten und umformen zu konnen." (Mannheim 1935, S. 66) Allerdings, raumt Mannheim ein, bedarf es eines AnstoBes, damit die Selbstbeobachtung uberhaupt in Gang konrnit: „Normalerweise sind wir mit unseren Gedanken nicht bei uns selbst, sondem bei den Dingen, die wir handhaben, andem und gestalten wollen. Gewohnlich beobachten wir nicht, wie wir selber dabei »funktionieren«. Wir leben unmitsetzt hatte. Das ist mir allerdings erst spater eingefallen. Um anzudeuten, was ich wirklich gemeint habe, habe ich spater in meiner Einftihrung in die Soziologie (Abels 2004) das entsprechende Kapitel 8.9 „Identitat - ein relativer Standpunkt" uberschrieben. Meine Sicht auf die „Aufgabe" der Identitat, denn das ist sie, hat sich dabei natUrlich nicht geandert. Und was ich dort unter dem Titel „Unversohnlich" sozusagen als „trotzdem" geschrieben habe, mochte ich auch am Ende dieses Buches nicht missen!

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30 Kompetenzen

telbar in unseren Handlungen und Erfahrungen, in denen wir aufgehen, ohne dass wir normalerweise dabei auf sie reflektieren. Zur Reflexion und zum Blick auf uns selbst kommt es erst dann, wenn uns irgendeine vorgenommen Handlung nicht gelingt und wir dadurch sozusagen auf uns selbst zuruckgeworfen werden. Die Reflektion, die Selbstbeobachtung und das Bewusstwerden der eigenen Situation haben in solchen Augenblicken gewohnlich die Aufgabe, uns bei der notigen Umstellung zu helfen. Wer haufiger in Situationen kommt, in denen er sich nicht einfach gehen lassen kann, sondem sich immer wieder bewusst umstellen muss, hat naturlich mehr Veranlassung zur Selbstreflektion als Menschen, die sich endgtiltig angepasst haben. Diese haben ihre Impulse und Triebe auf ein paar fiir sie entscheidende Situationen eingerichtet und konnen nun sozusagen reibungslos funktionieren." (Mannheim 1935, S. 66f.) Wurde man sie zu der Frage aufstoren, wer sie sind und wer sie sein wollen, wlirden sie wahrscheinlich ihre Fahigkeit riihmen, die Dinge zu nehmen, wie sie sind. Der Anspruch auf eine unverwechselbare Identitat tritt hinter eine komfortable Durchschnittlichkeit zuriick! Mannheim hat die anderen im Sinn, die geistig mobilen, die sich durch das Tempo der funktionellen Durchrationalisierung herausgefordert fUhlen und sich umstellen wollen. Sie sind „abstrakter und reflektierter als die sogenannten »bodenstandigen« und festverwurzelten Menschen", und sie werden notwendig von einer Gesellschaft, „die kompliziertere zweckgerichtete Denk- und Handlungsreihen zu vollZiehen hat", hervorgebracht. (Mannheim 1935, S. 67) Das lasst hoffen und auch das, was Mannheim liber den Wert der Reflexion dem Individuum in Aussicht stellt: „In den meisten Fallen ist die Reflexion gerade eine Dienerin des Lebens, indem sie uns zur Anpassung an neue Situationen verhilft, an deren Kompliziertheit der naive, unreflektierte Mensch zugrunde gehen wurde." (ebd.) Wir diirfen diese Einschatzung getrost auch auf die standige Reflexion unserer Identitat beziehen: Sie ist eine Aufgabe, in der wir kontinuierlich gefordert sind! Identitat, das sollte klargeworden sein, kann und braucht und darf im wortlichen Sinne des Wortes nicht „festgestellt" werden. Das bedeutet umgekehrt, dass wir sie permanent neu entwerfen mlissen - fiir uns und vor den anderen. Das ist ein anstrengendes Geschaft. Aber ohne das ginge das Individuum in der Gesellschaft auf. Dazu bedarf es allerdings einigen Mutes.

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Kompetenzen

30.5

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Mut

Identitat muss man selbst denken!^ Das diirfte nach all den kritischen Kommentaren iiber die Anpassung in der Modeme klar sein. Selbst denken mtissen wir das Bild von uns, wie wir gewesen sind, und da gibt es nur einen, vor dem wir diesen Blick zuriick rechtfertigen miissen: wir selbst. Selbst denken miissen wir vor allem das Bild von uns, wer wir sein woUen. Und auch hier hat als erster nur einer Anspruch auf Erklarung: wir selbst. In dieser zweiten Hinsicht bedarf es allerdings des Mutes, sich gegen Erwartungen der anderen und gegebenenfalls auch gegen eigene Denkzensuren zu behaupten. Ich sage „gegebenenfalls", meine aber den Normalfall, dass wir die Routine zu denken und zu handeln mit der einzig richtigen Form zu denken und zu handeln verwechseln. Und ich meine den gar nicht so seltenen Fall, dass wir die Vorstellungen, wer wir auch sein konnten, vergessen oder verdrangen. Wem es wirklich darauf ankommt, sich als Individuum im Spiel des eigenen Lebens zu halten, der muss auch den Mut haben, iiber untergegangene Wiinsche und enttauschte Hoffnungen nachzudenken. Da ich hier die Grenze einer „wertfreien" Soziologie ganz bewusst iiberschreite, erlaube ich mir, meine Griinde zur Ermutigung in den Worten eines philosophischen Schriftstellers zum Ausdruck zu bringen, der in seinem Roman „Nachtzug nach Lissabon" einen Mann, dariiber sinnieren lasst, woher eigentlich die Angst vor dem Tod kommt: „Oder geht es um das Bediirfnis, geniigend Dinge erlebt zu haben, um ein Leben als ganzes erzahlen zu konnen? 1st es am Ende eine Frage des Selbstbilds, der bestimmenden Vorstellung, die man sich vor langer Zeit davon gemacht hat, was man geleistet und erlebt haben miisste, damit es das Leben wiirde, dem man zustimmen konnte? Die Angst vor dem Tod als die Angst vor dem Unerfiillten lage dann - so scheint es - ganz in meiner Hand, denn ich bin es ja, der das Bild vom eigenen Leben, wie es sich erfiillen sollte, entwirft. Was lage naher als der Gedanke: Dann andere ich das Bild, so dass mein Leben ihm schon jetzt gemaB ist - und sofort miisste die Angst vor dem Tod verschwinden. Wenn sie trotzdem an mir haften bleibt, dann deshalb: Das Bild, obgleich von mir gemacht Lesen Sie auch noch einmal, was unmittelbar vor und nach der Uberschrift von Kap. 30.3 ,J)em Leben einen Sinn geben und sich in seinem Zentrum wissen" steht.

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30 Kompetenzen

und von niemand anderem, entspringt nicht launenhafter Willkiir und ist nicht verfugbar fur beliebige Abanderung, sondem ist verankert in mir und wachst heraus aus dem Kraftespiel meines Fuhlens und Denkens, das ich bin. Und so konnte man die Angst vor dem Tod beschreiben als die Angst, nicht der werden zu konnen, auf den hin man sich angelegt hat." (Mercier 2004, S. 242f.) Fiir viele Erwachsene endet diese selbstkritische Bilanz in der letzten Phase ihres Lebens tatsacWich in der Verzweiflung, die Erikson beschrieben hat. 8 Sie haben das Gefuhl, dass die Zeit nicht mehr ausreicht, das eigene Leben noch einmal in die Hand zu nehmen und zu einem neuen Ganzen zu fiigen, wie es friiher einmal ertraumt worden ist. Doch die Gefahr der Resignation besteht schon viel friiher: Sie lauert in jedem AugenbUck, wo wir uns die Wunsche, wer wir sein wollen, nicht mehr zutrauen. Deshalb meine ich, dass es sich lohnt, in jeder Lebensbilanz an die erste Tugend in Eriksons Modell der Entwicklung von Identitat zu denken: an das Vertrauen. Es ist nicht so, dass man es hat oder nicht, sondem man kann es auch nachtraghch aufbauen. Und es darf nicht vergessen werden, dass Vertrauen zwar aus der VerlassHchkeit der Beziehungen zu anderen entspringt, dass es im Ergebnis und in der Form aber vor allem Vertrauen in sich selbst ist! Noch einmal in den Worten des Schriftstellers: „Was konnte aufregender sein, als ein unterbrochenes Leben mit all seinen Versprechungen wiederaufzunehmen?" (Mercier 2004, S. 286) Was den Geist angeht, in dem man das tun sollte, erinnere ich noch einmal an den letzten Absatz in Kapitel 17.

Vgl. oben Kap. 20.4 ,JDie drei Phasen des Erwachsenenalters" und den letzten Abschnitt von Kap. 20.5 „Ich-Identitat: Konstanz und Hoffnung auf Erneuerung".

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Personenregister Alberti, Leon Battista 83 Allen, Woody 324 Anders, Gunther 363f., 447 Andersen, Hans Christian 305, 378, 447 Angelus Silesius 283, 447 Anselm, Sigmn 379,447 Antonovsky, Aaron 254, Kap. 30.3, 447 Aristoteles 70,422 Assmann, Jan 245,247,447 Bach, Johann Sebastian 214 Bacon, Francis 77, 121f., 128, 133,448 Balzac, Honore de 219,448 Bauman, Zygmunt 23f., 253, 370, 399, Kap. 28.5,421,448 Bayer, Hans 49, 56, 57,448 Baxter, Richard 109f., 113 Beck, Ulrich 13, 183-186, 222, Kap. 17, 389, 426, 447f., 454f., 457,469 Beck-Gemsheim, Elisabeth 457 Becker, Howard S. 356, 448 Berger, Brigitte 237,241,253, 318, 413, Kap. 29.1-29.5,449 Berger, Peter L. 87, 183, 225, 237,241,249,253,318,382, 390, 392f., 397, 413, Kap. 29.129.5, 448f. Bierce, Ambrose G. 239 Bilden, Helga 13, 241, 248, 449 Blankenburg, Erhard 356, 453 Bloch, Ernst 379,382,449 Blumer, Herbert Kap. 24.1, 339, 343, 347f., 366, 402, 449 Boccaccio, Giovanni di 93, 449

Bourdieu, Pierre 30, 168, 178, 186, 204, 206, Kap. 16, 226, 449f., 465, 469 Brecht, Bertolt 231,450 Breu, Jorg, d. A. 79 Brockmeier, Frank 239, 351 Brodersen, Ingke 200,450 Briisemeister, Thomas 429, 450 Brumlik, Micha 260,450 Burckhardt, Jacob 21, 37, 39, 82, 83, 84, 450 Burke, Edmund 423 Busch, Wilhelm 386,450 Busche, Hubertus 57,61,87,94, 450 Calvin, Johannes 95, Kap. 7.3, 105, 107 Canetti, Elias 376,450 Chaucer, Geoffrey 78ff., 450 Christian, Petra 157, 451 Cicero 82, 92f. Clausberg, Klaus 77,451 Coles, Robert 271,451 Comte, Auguste 32, 13Iff., 451 Cooley, Charles H. 266, 451 Dahrendorf, Ralf 290-293, 302, 318,321,451 Dammann, Rudiger 200, 450 Dante 90,93 Degenhardt, Franz-Josef 215 Descartes, Rene 133 Dilthey, Wilhelm 25,451 Dostojewski, Fjodor M. 200, 371, 377,451 Dreitzel, Hans Peter 28, 318, 451 Duffel, John von 323,451

472

Durkheim, Emile 50ff., 140f., 158, 184, Kap. 14, 225, 263, 289,352,373,377,451 Eichendorff, Joseph von 426, 452 Elias, Norbert 26,29-32, 35f., 39, 44f., 47-50, 65ff., 225, 356, 376, 452 Emerson, Ralph Waldo 264, 340f., 452 Engels, Friedrich 293,407,460 Enzensberger, Hans Magnus 219, 452 Epiktet 92f.,289,452 Erasmus von Rotterdam 81,87f., 98,381,452 Erikson, Erik H. 241, 243, 250, 254, Kap. 20, 334, 339, 382f., 389f., Kap. 30.1, 436-439, 442, 446,453 Esch, Arnold 77,453 Feest, Johannes 356,453 Ferguson, Adam 127, 128, 453 Feuchtwanger, Lion 53,453 Fichte, Johann Gottlieb 137, 146f., 149, 152, 255, 341, 453 Fontane, Theodor 212, 227,453 Fourier, Charles 200 Franklin, Benjamin 107, 112, 119 Freidank 60,454 Freud, Anna 271 Freud, Sigmund 176, 265, 267, 271,275-278,298,316,324, 454 Friedell, Egon 53ff., 70f., 74f., 454 Frisch,Max 241,343,454 Fromm, Erich 181,454 Fuchs-Heinritz, Werner 45, 454

Personenregister

Galilei, Galileo 22,76, 133 Gehlen, Arnold 85,260,454 Giddens, Anthony 23, 33, 253, 399, Kap. 28.3, 454 Goethe, Johann Wolfgang von 80, 124, 130f., 135, 148f., 152f., 278, 283, 340f., 348f., 454 Goffman, Erving 13, 168, 220, 248, 251-252, 318, Kap. 23, 337, 342, Kap. 25, 370-373, 376ff., 381-384, 389,431, 435439,455 Gouldner, Alvin W. 151, 270, 322, 376,408,455 Gracian, Baltasar 378,455 Gross, Peter 425,455 Gukenbiehl, Hermann L. 133, 455 Gutenberg, Johannes 99 Habermas, JUrgen 26, 140, 239, 253, 263, 333, 367, 399, Kap. 28.2,411,456 Hagoel,Lea 345f.,467 Hauser, Kaspar 368 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 26-29, Kap. 6.3, Kap. 7.1, 102, 107, 116-120, 155ff., 176,456 Helsper, Werner 419-424, 426, 456 Herder, Johann Gottfried 85, 367, 456 Hermans, Wilhelm Frederik 120, 456 Hettlage, Robert 411 f., 456 Hinrek van Alckmer 58,457 Hitzler, Ronald 457 Hobbes, Thomas 125,457 Hofstatter, Peter R. 355, 457 Honer, Anne 457 Honneth, Axel 368,457

Personenregister Huizinga, Johan 38, 42, 457 Hume, David 124 Hurrelmann, Klaus 457 Hus, Johann 75 Ibsen, Henrik 442,457 Jacobson, Lenore 349 Jahoda, Marie 271, 273,457 James, William 138 Joas,Hans 256, 267f., 457 Johnson, Uwe 329,457 Junge, Matthias 196, 279, 330, 383,424, 458 Kant, Inunanuel 87, 120, Kap. 9.3, 143-147, 152, 165, 370, 458 Kaufmann, Franz-Xaver 61, 168, 419,458 Kellner, Hansfried 225,237,241, 249,253,318, 382, 413, Kap. 29.1-29.5,449 Kepler, Johannes 133 Keupp, Heiner 288, 369f., 410, 447ff., 458 Kippele, Havia 223,458 Kluckhohn, Clyde 156,331,385, 458 Kob, Janpeter 340,458 Koestler, Arthur 394,458 Kolumbus, Christoph 76 Kopemikus, Nikolaus 22, 69, 76 Krappmann, Lothar 254, 286f., 366, Kap. 30.2, 458 Kreckel, Reinhard 202,205, 448f., 459 Kroetz, Franz Xaver 246, 459 Kron, Thomas 459 Langosch, Karl 80,459 Lenk,Hans 138,459

473

Lenz, Siegfried 391,459 Leonardo da Vinci 83 Lessing, Gotthold Ephraim 139 Levita, David J. de 459 Lichtenberg, Georg Christoph 13, 174,361,364,459 Linton, Ralph Kap. 25.1, 360, 459 Lippmann, Walter 427, 429, 459 Liszt, Franz 214Locke, John 122-125,128,165,313,459 Luckmann, Thomas 392f., 397, 402,414,449,464 Luhmann, Niklas 300, 405, 409, 412,414f.,459 Luther, Martin 26, 79f., 87, 93, 95ff.,Kap.7.2, 107, 109, 114, 120, 199, 273 Lyman, Stanford M. 320, 346, 376, 465 Lyotard, Jean-Francois 253, 399, Kap. 28.4, 415, 460 Mann, Thomas 308, 320, 393, 460 Mannheim, Karl 30, 254, 321, 408, Kap. 30.4, 460 Marai, Sandor 215, 372, 460 Marcuse, Herbert 296, 318, 460 Marx, Karl 104, 119, 170, 201f., 207f., 226, 255, 293, 341, 402, 407, 460 McCall, Georges J. 366, 460 Mead, George Herbert 126, 168, 250, 252, Kap. 19, 276, 285, 297,320f.,331,335f.,342,368, 371,386,388,420,438,460 Mead, Margret 273 Melanchthon, Philipp 93f. Mercier, Pascal 325, 446, 460 Mirandola (s. Pico)

474

Mitscherlich, Alexander 133, 138,461 Montaigne, Michel de 255, 340, 461 Montherland, Henry de 418, 461 Moralphilosophen, schottische 121, 125, 127 Miiller, Hans-Peter 189-193, 215, 219,461 Munch, Richard lOOf., 404, 461 Murray, Henry A. 156, 331, 385, 458 Nietzsche, Friedrich 148, 152f., 155, 182,324,386,388,399, 401,461 Ockham, Wilhelm von 70f. Oswald, Hans 320f.,461 Panofsky, Erwin 26, 461 Park, Robert Ezra 323, 346, 462 Parsons, Talcott 67, 205, 251, 288, Kap. 21,348,405,462 Paulus 100, 102, 109, 391, 394 Peez, Georg 77,462 Petrarca 93 Pico della Mirandola 83-86, 91, 440, 462 Platon 70,82 Plenzdorf, Ulrich 278,462 Ploetz,Karl 76,462 Reck, Siegfried 352,431,462 Rehberger, Robert 131,463 Reineke Fuchs 58, 79f., 463 Riesman, David Kap. 2.2, 108, 114,Kap. 8, 124, 135, 174, 182, 204,225,248,251,287,296, 304, Kap. 22, 322, 333f., 372, 418,441,463

Personenregister Ritsert, Jiirgen 164, 370, 434, 463 Rockefeller, John D. 107 Rottgers, Kurt 122,463 Rosenthal, Robert 349 Roth, Philip 363 Rousseau, Jean-Jacques Kap. 9.2, 145, 150, 191f., 305, 324, 366f., 463 Salinger, J. D. 278,463 Saulus 391 Schelsky, Helmut 306 Schiller, Friedrich 85f., 349, 440, 463 Schimank, Uwe 153-156, 252, 353, Kap. 27.1, 399,416,450, 463f. Schlegel, Friedrich 150f., 464 Schleiermacher, Friedrich 148f., 157 Schlink, Bemhard 363 Schmoller, Gustav 50, 63,464 Schopenhauer, Arthur 176, 464 Schroer, Markus 45, 161f., 177182,464 Schutz, Alfred 351, 402, 414, 464 Schlitzeichel, Rainer 28, 464 Schulze, Gerhard 464 Schumpeter, Joseph Alois 77, 465 Schwingel, Markus 208, 211, 221f., 465 Scotson, John L. 356, 452 Scott, Marvin B. 320, 346, 376, 465 Seneca 92 Sennett, Richard 198, 225, 253, 316f., 413, Kap. 29.6,465 Shakespeare, William 319,465 Shaw, Bernard 239

Personenregister Shils, Edward A. 13,153,465 Silesius (s. Angelus Silesius) Simmel, Georg 29f., 55, 59, 67, 142, Kap. 10.1, Kap. 10.2,152, 155f.,Kap. 11, Kap. 12, 184, 186, 222, 249, 268, 297, 304, 315,323,365,367,372-377, 384f., 401, 405, 416, 422, 465 Simmons, J. L. 366, 460 Smith, Adam 125-128,466 Snow, David A. 394,469 Soeffner, Hans-Georg 39, 466 Sombart, Werner 49, 59f., 64, 66, 73, 94, 466 Spiel, Hilde 212,466 Steinert, Heinz 321,467 Stendhal, 430,467 Stone, Gregory P. 345f., 467 Strauss, Anselm 168, 214, 25If., 264-267, 329, 334, Kap. 24, 347f., 355, Kap. 26.1, 375, Kap. 27.2, 395, 467 Strauss, Johann 214 Taylor, Charles 124, 233, 252, 366-369, 433, 467 Tenbruck, Friedrich 286, 467 Ter-Nedden, Gisbert 139f., 467 Thiel,Udo 123,468 Thomas, Dorothy 336, 347, 468

475 Thomas, William I. 336, 347, 351f.,365,431,468 Thomson, S. Harrison 105, 468 Tolstoi, Leo N. 171,312,468 Toynbee, Arnold J. 25,468 Ulmer,Bemd 63, 393f., 468 Veblen, Thorstein 62, 212, 468 Volkmann 399,464 Walser, Martin 440,468 Wassermann, Jakob 389, 468 Watson, John B. 256 Weber, Alfred 30 Weber, Max 23, 27f., 30, 55, 59, 63, 100, Kap. 7.5, Kap. 7.6, 115, 118f., 168, 182, 186, Kap. 15, 207f., 213, 215, 226, 231-235, 238, 253, 307, 320f., 399, Kap. 28.1,402,404,468 Wehler, Hans-Ulrich 54, 135f., 469 Wesley, John 11 If. WilUams, Simon J. 322, 469 Wolff, Christian 134, 243f., 442, 469 Wyclif,John 75 Zimmermann, Hans Dieter 469 Znaniecki, Florian 365 Zurcher, Louis A. 394, 469

Sachregister Abgrenzung in der Masse Kap. 16.4 - zur Ichfindung 281 Abhangigkeit durch Arbeitsteilung 52, 187, 191 - und Autonomic 187,192 Ablass 79f.,99 Abstand, sozialer 219, Kap. 26.4 - s. auch Distanz Abweichung und Traditionslenkung 41 asthetische Haltung 212 AGIL-Schema 300ff. akzeptieren - sein Leben a. 285f. - Wunsch, akzeptiert zu werden 365 alsob 319 - Einzigartigkeit Kap. 23.5 - Identitat 251,321 - Normalitat 321, Kap. 23.5 Ambiguitatstoleranz 438 Ambivalenz 253, 370, 409, 421f. Anerkennung 48, 52, 124f., 242, 287,310,316,339,365,370 - Anspruch auf A. Kap. 26.1 - Menschen erkennen sich ihre Freiheitan 91 - Suche nach A. 176, 216, 252, 279, 281, 309f., 314, 322, 328 Angst 423f. - diffuse A. der AuBengeleiteten 314,317 - der Erfolgreichen 428f. - vor dem Tod (s. d.) Anlehnung Kap. 12, 178 Anomie Kap. 14.4 Anpassung 40, 42, 182, 310f., 353

- an Definitionsmacht 357 Anspruch Kap. 26 - auf eigenes Denken 45,183 - auf Distanz 252,373,377 - auf Eigenheiten 230 - auf Identitat 16,252 - auflndividualitat 18,155,171 - auf Nicht-Aufmerksamkeit Kap. 26.2 Arbeit (s. auch Beruf) 17, 55, 104 - Differenzierung 17, Kap. 4.1 - DisquaHfizierung der A. 205f. - als Gottesdienst 110 - als lebenslange Erzahlung 427f. - Organisation 56, 65 - rastlose Kap. 7.3, 109 - Selbstzweck des Lebens 109 Arbeitsteilung 50ff., 55f., 65, 149,174,187, 309 - Bewusstsein der Abhangigkeit und der Individualitat 193 Armut 72 Askese - innerweltliche Kap. 7.5, 182 attitudes 258 Aufklarung 18, 23f., 87, Kap. 9, 150 - soziologische 239 - Verbleichen der A. 113 Aufmerksamkeit 18, 125, 156, 328,331 - Anspruch auf A. Kap. 26.1, 371 - KampfumA. Kap. 11.5, 180 - Kampf um den Menschen 172 - Nichtaufmerksamkeit 252, 332, Kap. 26.2 Aufsteiger 206,213

Sachregister AuBenleitung 19, 41, 115, 124, 174, 204, 251, 287, Kap. 22.3, 322, 334 Auszeichnung, sich durch A. geltend machen 176, 180 authentisch 316, 333, 367f., 443 - s. auch sich treu bleiben Autodidakten, alte und neue 216f. Autonomie 20, 52, 57, 141, 184, 187, 237, 253, 276, Kap. 29.5 - und Abhangigkeit 187,192 - voUig farblos 148 Autopsie, mit eigenen Augen sehen 77 Bastelbiographie 182 Bedeutungen, Handeln auf Grundlage von B. 336f. Bediirfnis - Differenzierung 173 - nach Einzigartigkeit Kap. 3.1 - Entfesselung der Begierden (s. d.) - nach IndividuaHtat (s. d.) - Konsum 309 - kunstlich 170 - Ordnung der Bediirfnisse gerat durcheinander 197f. - Weckung 170 Begierden, Entfesselung 198 Behauptungen der Identitat 16, 19, 252, 333, Kap. 27.1 Behaviorismus 256 Beichte 102,104,108,119 Beobachtung - der anderen Kap. 9.1,313 - Selbstbeobachtung Kap. 9.1, 313,317 Berechnung 49, 52 Beruf (s. auch Arbeit) 102, 197

477

- Askese 110 - Bestimmung des Menschen durch den B. 191 - Zwang zum Erfolg 107 - Rahmen der Individualitat 197 - Pflicht 113 - Basis der Selbstachtung 426f. Berufsarbeit - rastlose 103 - rationale 103, 107, 110 Berufsgruppen, gemeinschaftliche Beziehungen 196 Berufsmensch 113 Berufsmoral 193 Berufung 100 - im Puritanismus 107, 109f. Beschadigung der Identitat 168, 252, 321, 332, 346, Kap. 25 Besonderheit (s. auch Einzigartigkeit) Kap. 3.1, 167, 171, 173f., 180 - Bedurfnis 155, 173, 176, 333 - phantom uniqueness 332f. Betroffenheit, uniiberbietbare Legitimation 421 Bevolkerungsentwicklung 47-50, 54f.,67, 115f., 191,306ff. beweglich - Denken (s. d.) - s. auch flexibel - bewegliche Umstellung in Zeiten der AuBenleitung 315 Bewusstsein - aufgeklartes 141 - der Besonderheit Kap. 3.1 - derDifferenz 43 - fragmentiertes 402 - derPreiheit 91 - der Individualitat 21,27,43ff., 54ff., 60, 83, 194, 368 - kollektives 38

478

- im Mittelalter 38,41 - modemes 21,311,87,419 - des eigenen Selbst 27,134, 279, 368 - Urbansierung 417 Beziehungen - gemeinschaftliche 18, 184, 196, 201, 228, 274, 278, 282 - gesellschaftliche 199ff., 228f., 274, 278, 282 - soziale 17f., 47, 52, 59f., 67, 125 - Versachlichung durch die Arbeitsteilung 191 - zweckrationale 200 Bezugsgruppe 299, 310, 315, 372,384,391,396,438 Bibel, selbst lesen und auslegen 101 Bild - Identitat abhangig von wechselseitigen Bildem 285, Kap. 24.3 - von uns 14, 16, 19, 52, 156, 173,268,310,322,339 Bildung 81ff.,93f.,217ff. - formale und sozialer Status 216 Bindungen - Herauslosung 184,228,428 - kulturelle 42 - soziale 42,46,51,160,201, 409 Biographie - annehmen 286 - Erfolgsgeschichte 389 - Erinnerungen (s. d.) - Geschichten, die wir iiber uns erzahlen konnen 245 - Mut zur Revision (s. d.) - Ordnung vom Ende her 388 - Revisionen Kap. 27.2, 393, 419

Sachregister - selbst herstellen und inszenieren 186, 224 - Verbindung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft 286, 387f. - s. auch vergessen - auf Vordermannbringen 245, 393 - Wahrheit? Kap. 27.2, Kap. 29.7 Blasiertheit 172,315 Buchdruck 34,98 Burger, Burgertum - Aufstieg 53f., 58, 105f. - Lebensstil 113 BUrokratie, Biirokratisierung 114, 199f. Calvinismus 17, 55, Kap. 7.3, 105ff., 117ff.,317, 322 Charakter - angepasst 42 - innengeleitet 115 - Korrosion Kap. 29.6 - nervoser 55 Collage, das Ich als C. aus Fragmenten 428 commitment 290,296 Darstellung vor anderen Kap. 23.1, Kap. 23.3 Dauerreflexion, 98 deduktives Denken 90, 121 Definition der Situation 336 - Thomas-Theorem (s. d.) Definitionsmacht 334, 352, Kap. 25.3, 356, 364, 384 Denken 25, 32, 34, 55, Kap. 19.1 - bewegliches 20, Kap. 30.4 - dogmatisches (s. d.)

Sachregister - Kulturgeschichte 17, 27, Kap. 1.3, 132 - selbst denken 80f., 86, Kap. 6.3,96,134, 138,141,153,401, 440, 442 - im soziologischen Sinne 32 - Vorurteile neu arrangieren 138 Dialektik (s. Ursache) Dialog - das Selbst entsteht nur im Dialog 367ff. - Aushandeln der Identitat im Dialog mit den signifkanten Anderen 368 Dichte, soziale 58, 188, 191 Differenz 43 - Bewusstsein der D. 43 - Identitat ist ein Differenzbegriff 14 - Individualitat als D. 142, 145, Kap. 10.2, 158, 162 Differenzierung Kap. 11, Kap. 14 - Arbeit Kap. 4.1, 50, 65ff., 149 - aus D. erwachst Freiheit 166 - der Funktionen 50,51,54,188, 191,412 - der Gesellschaft Kap. 14.3 - soziale 48,52,54,216 - strukturelle Kap. 21.2 Diskreditierbare Kap. 25.5 Diskreditierte Kap. 25.4 Diskretion Kap. 26.3 - Indiskretion ist nicht immer zu vermeiden 374f. Distanz (s. auch Diskretion) - Voraussetzung fur Identitat 152 - KampfumD. 177 - soziale 52, Kap. 12.1, 175f., 206, 221, Kap. 26.4 - zur Notwendigkeit Kap. 16.3

479 distinguo 214 Distinktion Kap. 16.3, 219, 221 Dividuum 424 dogmatisches Denken 139 doxa Kap. 16.5 Dreistadiengesetz 32, 132 driften 253,427f. duality of structure 33 Dummheit, Verwegenheit 378 Durchschnittlichkeit, komfortable 444 Egalisierung Kap. 12.2 - Individualisierung Kap. 12.2, 180 Egoismus 133, 193, 237 Ehre 168, Kap. 15.3,205 Eigenheiten (s. Individualisierung) Eigenschaften, widerwartige 176 Eigentum und Ungleichheit 129 Eigenwirtschaft 17, Kap. 4.1, 54, 59,65 Eindeutigkeit, Ende der Kap. 28.5 Eindruckskontrolle 319, Kap. 23.1,325,347,373 Einsamkeit 309f. Einzigartigkeit 18, 30, 37, 43f., 153ff., 177, 242, 316, 384f., 443 - jedes Ding ist einzigartig 151 - nicht immer zu leisten 155f. - und Normalitat 249, Kap. 23.5 - phantom uniqueness 332f., 430f. Eitelkeit, Aufmerksamkeit 125 Empathie 438 Empfindungen 130, 150 - als Weg zur Erkenntnis 150 Empirismus 77, 121f., 128 Entbettung Kap. 28.3 Entfremdung 292-295,404

480

- Gedanken nicht zulassen 333f. Entscheidungen 224,242,416 - offenhalten 288,418 - Rationalisiemng bedeutet Steigerung der E. 235 - Zwang zu fortlaufenden E. 224ff., 232f., 235 Entschuldigung 330 - s. praktische Erklarungen Entsolidarisierung 317 Entwicklung - der Gesellschaft 28f., 31, 188 - okonomische Kap. 4, 57 - psychosexuelle und psychosoziale 271,275 - ungeplant, ohne Ziel 29, 31 Entzauberung 19, 32, 76, 103, 141, 184f., 200, 227, 231, Kap. 17.3, 253, Kap. 28.1 epigenetisches Prinzip 272 Erfahrung 18, 32f., Kap. 9.1 ~ eigene 86, 93f., 128 - nur empirische E. gilt 77 - Handler vermitteln fremde E. 62 - innere 93f. - Kodifizierung mittels generalisierter Medien 298 - Verdoppelung typischer kollektiverE. 39 - Lemen aus E. 124, 128 - Sprache als Symbolisierung von E. 257f. Erfahrungswissenschaften, Losung von Metaphysik und Theologie 25 Erfolg - und Angst 429 - Zwang zumE. 55, Kap. 7.5, 199

Sachregister - Hinweis auf Gnadenstand 104, 110 - Individualitat definiert sich uber Leistung und E. 106 - Dinge loslassen, anschlussfahig, Fragmentierung hinnehmen 429 Erinnerungen (s. auch Biographie) - Eitelkeit des ResUmees 389 - Konstruktionen 245f. - stehen nicht fest 245f. - Bilder von heute aus 270, 388 erkennen, sich selbst 340 - nur iiber den anderen moglich 340f. - unerreichbare Forderung 340 Erklarung 32, 33 - aus Erfahrungen E. und Strategien des Handels entv^ickeln 32f. - der sozialen Identitat 363 - praktische Erklarungen 346 - einer Situation 330, Kap. 24.3 - groBerer Relevanz Kap. 1.4 Erwachsene - Beginn des E.nalters 283 - Entwicklung der Identitat Kap. 20.4 Erwartungen 291 - Generalisierung 258 - Individualitat gegen kulturelle 44 - werden normativ 351 - typische Kap. 2.1, 41, 351 Erzahlungen, das Ende der groBen E. Kap. 28.4,411 Exklusion 65, 178f., 203f., 206, 215,281 Expertensysteme losen soziale Beziehungen aus ihren Kontexten 405f.

Sachregister Familie - zahlreiche Formen 237 - Freisetzung von der F. 227, 229f. - Verhandlungsfamilie auf Zeit 229f. - Verlust der gemeinschaftlichen Bindung 184 Fassade, Ausdrucksrepertoire 326 Femhandel 64 Femsehen 231,233 Figuration 29, 30, 35f., 40, 158, 162 flexibel (s. auch beweglich) - Personlichkeit 253,419,429 - Rollenspieler 248, 251, 314f. Folgen des Handelns 224 - Nebenfolgen 235,238,408, 412, 426 - nichtintendierte 235, 416 - Steigerung und gegenseitige Blockade 235 Form 30, 39, 158, 162, 170 Fragment - fragmentarische Daseinsinhalte 180 - Fragmentierung hinnehmen 429 - Gesellschaft besteht aus Episoden und Fragmenten 429 - das Ich als Collage aus Fragmenten 428 franzosische Revolution 24 Frau - Freisetzung aus Versorgungszusammenhangen 227, 229 - halt Schritt zur Miindigkeit fUr gefahrlich 136 - hort auf, ein Individuum zu sein 137

481 - von Natur nicht auf der Hdhe des Mannes 137 - Wiirde: sich an den Mann verlieren 137 Freiheit - abstrakte 144ff., 148 - Menschen erkennen sich ihre F. an 91,96 - Aufklarung zur Freiheit, Zwang zur Individualitat 18f. - Bewusstsein 91, 169 - frei, gleich, unabhangig 122 - F., Gleichheit, Gluck 130 - GefUhl unabhangigen Ftirsichseins 169 - des Geistes 96 - Illusion 222 - individuelle 43, 89, 166, 222 - offentlich gebrauchen 140 - gleich Pflicht 148 - Wurzel des Rechts 89 - der Subjektivitat 27 - Ring der Notwendigkeit durch den Willen greifen 86 Freisetzung 19, 184, 224, 227, Kap. 17.2, 236, 407 Fremdbestimmung 154, 42If. Fremder, Betriiger beim Tausch 59f. Freunde, Bedeutung fur die Ichfindung 281 fromm wegen der Bibel, nicht wegen der Kirche 98 Frustrationsvermeidung als Handlungsantrieb 297 game Kap. 19.3 Gebildete rasonieren 139 Gedachtnis, wohltatig, indem es vergisst 388f.

482

Gefuhl - Empfindsamkeit 150 - ethische Gefiihle 125 - gemeinschaftliches Kap. 15.3 - Ausdruck der wahren Identitat 130 - fuhrt zum Bewusstsein der Individualitat 94, Kap. 9.2 - individueller Zugang zu Gott 88,94 - naturliche Entwicklung gegen die Kunstlichkeit der Kultur Kap. 9.2 - Unterdriickung 317 - Wir-Gefuhl 204 Gehause der Horigkeit Kap. 7.6, 199f., 400, 404 - Auszug ist auch riskant 370 - stahlhartes G. 113 Geheimnis 372f., 376f. Gehimwasche 391, 394ff. Geist - Fahigkeit der Reflexion 257 - objektiver 169f., 174 - Situation in einen ideellen Rahmen bringen 257f. - subjektiver 174 Gelassenheit 213,217 Geld 49, 50, 53, 60, 65ff., 104, 106, 107 Geldwirtschaft 17, Kap. 4.5, 105 Gemeinschaft 38, 42, 50, 59, 67, 203 - Beziehungen (s. d.) - und Gesellschaft 46, 59 - Mensch in seiner G. 42, 46, 62, 67 - SuchenachG. 200f. generalisierter Anderer 261, 263, 267 Geschmack 207f., Kap. 16.2

Sachregister - barbarischer, legitimer, pratentioser 211 - Sozialisierung des G. 31 Of. Gesellschaft - Episoden und Fragmente 428 - und Gemeinschaft 46 - und Individuum 30, 31, Kap. 1.3,42,55,59,224,236 - der Listitutionen 236 Gesicht - Leben besteht darin, sein G. zu zeigen 324 - verantwortlich fiir das G. der anderen 343 - Maske herunterreifien? 381 Gestalt, Figuration, Form 30, 158 Gesten 257 Gesundheit, geistige 273 Gewissen, Hausrecht des religiosen Geistes 97, 102 Glaube, statt glauben selbst sehen 76,86 gleich machen, sich dem Kollektivtypus 190 - s. auch Egalisierung Gleichgiiltigkeit der Dinge 172 Gleichheit 92, 122, 129f. - abstrakter Individualismus der Gleichen Kap. 10.1, 177 - Bedurfnis nach 155, Kap. 12.2, 176 - Fortfall des Gleichheitsideals als Voraussetzung der Individualitat 148 - Gleichheit und Kontinuitat 285f. Gluck - Recht auf Freiheit, Gleichheit undG. 130 - als Streben nach Individualitat 127

Sachregister Gnadenstand 104, 108f. Gnadenwahl 102f., 110 Gott - eigener Zugang 88, 94, 96 - StellungzuG. 97, 101, 103 - Weg zu Gott selbst suchen Kap. 7.2 Gratifikation als Handlungsantrieb 297 Grenze ziehen, Option der Individualitat 42,46 Grundhaltungen, psychosoziale Kap. 20 Gruppe, Berufsgruppen (s. d.) Habitus 30, 168, 208, Kap. 16.2, 213, 220ff. Handler, Prototyp des erwachenden Bewusstseins der Individualitat 60ff. halo-Effekt 355 Handel 17, 54, Kap. 4.4, 66, 105 - Femhandel 64f. - subjektives Vermogen und Freiheit 90 Handeln - kontinuierliche Form 165f. - rastloses 109 - rationales 108 - soziales 320f. - zweckrationales 112 Handlungsketten 63, 66f. Handwerk 49, 50, 54f., 63, 66 Hauswirtschaft 54 Heimat - metaphysisch heimatlos Kap. 29.4 - Heimatwelt 416f. historische Soziologie 28, 36 Historismus 408

483

Hoffnung - enttauschte Hoffnungen 445 - als Ich-Starke 275 homo sociologicus 290, Kap. 21.1 Hugenotten 105 Humanismus 25, 80, Kap. 6, 98, 100 I, impulsives Ich 265, 267f. Ich 94, 274ff., 423 - allgemeines 146 - autonomes Ich vollig farblos 148 - Bewusstsein vom eigenen Ich .282 - Collage aus Fragmenten 428 - personlich-subjektives 146 - reflektiertes 266ff. - vemlinftig-moralisches 146 - zwei Seiten: I und me Kap. 19.4 Ich-Identitat 251, 268ff., Kap. 20.5, 434, 438f. - Balance und Uberschreitungen Kap. 30.2, 438f. - reflexives Bewusstsein 270 - Selbstanforderung: immer neu schaffen 438f. - Widerstand 439 Ich-Integritat, psychosoziale Grundhaltung 285 Ich-Qualitaten Kap. 20.1 Idealtypus 115 Ideen, nur Namen fiir Dinge 70f. Ideenlehre, Kritik an Platons I. 70 Identifizierung durch andere 279, 282 Identitat - in der Alltagssprache 243f.

484

- Antwort auf vier einfache Fragen 16 - nur iiber den anderen zu erfahren 260, 340f. - aushandeln im inneren Dialog 368 - Beschadigung (s. d.) - konstituiert durch das Bewusstsein 123,126,134 - Bewusstsein des Bildes, das andere von uns haben 248 - Bewusstsein der Eigenart 368 - Bild von unserer Individualitat 156 - wissen um die eigene Biographie 247,253,286,338 - Codestruktur Kap. 21.4, 301, 303 - Definition 254 - im Dialog erfahren (s. Dialog) - Differenzbegriff 14 - besonders differenziert 253, Kap. 29.3 - Diffusion 281 - Distanz zu Rollen 152,438 - Entwurf 337,343 - immer neuer Entwurf 246f., 250,269,316,386,389,444 - festhalten und emeuem 286 - forderliche Fahigkeiten 438 - Funktionsbegriff 299f., 304 - Gefahrdung 168 - undGefuhl 130 - Gegendefinition 354,360, 363f., 384 - Geschichten, die wir iiber uns erzahlen konnen 245, 386ff., 393, 414 - im inneren Gesprach mit den signifikanten Anderen 368 - Gleichheit? 244,246,252

Sachregister Gleichheit und Kontinuitat 285, 315, 389, Kap. 30.1 Ich-Identitat (s. d.) individuelle 298, 303f., 384 besonders individuiert 237, 253, Kap. 425 Integration von Grundhaltungen Kap. 20 Jugendphase ist eine Weichenstellung Kap. 20.3 kollektive 210,338 Konstrukt 16,55,247,253 Krise 67, 242, 249, 253, 395f., 422 kulturelle 370 im Lebenszyklus Kap. 20.1 mehrere Identitaten gleichzeitig 346 in der reflexiven Modeme? 19 neue I. vor bekannten Bezugspersonen behaupten 398 normale 210 offen 20, 241, 249, 253, 316ff., Kap. 29.2 personale 285 zwei Phasen der Entwicklung: play und game Kap. 19.3 Postmodeme (s. d.) Presentation (s. d.) 438 Projekte Uberlagem sich 418 I. ist ein Prozess 338 besonders reflexiv 253, Kap. 29.4 selbst herstellen und inszenieren 186,438 schutzen (s. Beschadigungen) fur jede Situation eine andere 315 soziale 168, 210, 221, 251f., 266, 282, 311, 334, Kap. 24.3, Kap. 25.2

Sachregister -

Strukturbegriff 299,304 Umwandlungen (s. d.) 419 unabgeschlossen 420 virtuelle 352 auf Vordermann bringen 380, 410 - Wahrheitderl. Kap. 29.7 - aufZeit 344f. - Bild einer moglichen Zukunft 247, 286 Identitatsarbeit 19,242 Identitatsaufhanger 356, 364 Identitatsbehauptung Kap. 27.1 Identitatsdarstellung 43 8 Identitatssucher 410 Individualisierung 13, 18f., 26, 42, 52, 56f., 73, 222ff. - Abgrenzung 180 - alleinsein 184,242 - Eigenheiten: Recht, Anspruch und Zwang 230 - Definition 18, Kap. 3.2, Kap. 13, 186, 230 - Produkt der Differenzierung 298 - doppelte Bedeutung 18 - dreifache: Freisetzung, Entzauberung, soziale Einbindung 227 - Egalisierung Kap 12.2, 180 - Anspruch auf Eigenheiten 230 - Entindividualisierung Kap. 27.1,384f. - geistige I. seelischer Eigenschaften 173 - der Institutionen 187,195 - SpeziaUsierung 159, 161, 192 - Vergesellschaftung 160, 224, Kap. 17.1 - Zerfall der SelbstverstandUchkeiten 186

485 - Zwang der Besonderheit 184 - Zwang der Entscheidung 185, 224f., 237 - zweifache L: selbst denken und allein gelassen 242 Individualisierungsschub 45 IndividuaHsmus - abstrakter Kap. 10.1, 158, 177 - alsDifferenz Kap. 10.2, 171 - moralischer 193 - padagogischer 131 - qualitativer Kap. 10.2, 158, 171, 177 - rationahstischer 77 - romantischer 150 - Synthese qualitativer und quantitativerl. 177 - zwei Formen Kap. 10 Individualitat 13, 16f., 24, 32, 155, 200 - abstrakte 142 - Anerkennung der I. durch die Arbeitsteilung 52 - gleicher Anspruch auf I. 18 - Bediirfnis 42, 155f., 180, 311 - betonen und anpassen? 20 - Bewusstsein 28,42-45,51-55, 61, 83, 94, 100, 134, 192 - Definition 19, 21, 25, Kap. 3.1, 106, 123, Kap. 10.4 - Differenz Gebursthelferin der I. 162 - Dilemma: kiinstliche Bedtirftiisse und Hilflosigkeit gegeniiber derKultur 170,218 - in kulturellen Formen finden mtissen 170 - Geschichte beginnt mit der bewussten Zurechnung des Handelns 17 - derGleichen 146f.

486 -

als Identitatsform 384f. konservative 38,42 soziale Kontrolle 204,206 gleich Null bei kompletter Ubereinstimmung mit dem Kollektivbewusstsein 190 - phantom uniqueness 332f. - als latentes Potential 156 - objektive I. durch Schneidung sozialer Kreise 162 - private 164f. - Rahmung 123, 126, 139, 170, 204, 206, 209f., 218, 220f., 233, 311 - undRolle Kap. 21.1 - und Solidaritat 193 - soziale L: Sinn ftir die eigene Stellung 220 - im Trend bleiben 316 - typische Kap. 2, 167, 170, 190, 220 - Verlust bringt Gewinn an sozialer Identitat 311 - Verpflichtung 18,24 individuelles Gesetz Kap. 11.3, 249 Individuum - allgemeines 147 - Anspruch 19,237 - Beanspruchung nur in seiner Funktion, nicht als ganze Personlichkeit 184 - Bewusstsein 31,38,87 - Definition 25 - ist nicht an sein Ende gekommen 239 - doppelte Freiheit 241 - Geburtsstunde 21, 37 - und Gesellschaft 30f., Kap. 1.3,42,46,117,128,401

Sachregister - naturliche Entwicklung Kap. 9.2 - alsProjekt 239 - quantite negligeable 401 - Vorstellung vom I. 15,17 induktives Denken 86, 121, 127 Industrialisierung 18, 24 Initiative, psychosoziale Grundhaltung 277 Inklusion 65, 178ff., 203, 206, 214,281 - wird problematisch 412 Innenleitung 41, 108, 114, Kap. 8, 135, 182, 204, Kap. 22.2 - neue Innenleitung? Kap. 22.4 Inneres - Blick des Menschen richtet sich aufseinl. 130 - als Ausdruck der Individualitat 150 - zerrissen 181 Innerlichkeit 101 Inquisition 78 Institutionalisierung ist Kontrolle 226, 233, 238 Institutionen - Individualisierung der I. 187, 195, 237 - werden individuumabhangig 237,411 - kontingent, nur noch Option 411 - Wirklichkeitsverlust 421 Intellektualisierung 200, 23If. Intellektuelle 76,81,139,141, 211,294f. Interaktion 259, 291, 320, 325, Kap. 24.1 - I. ist Interpretation 336 Interaktionsmedium 67, 68 Interdependenz 29f., 44, 67

Sachregister Intimitat, psychosoziale Grundhaltung 283f. Isolierung, psychosoziale Grundhaltung 284 Jugendphase - Ende 283 - Entscheidung der Identitat Kap. 20.3, 436 Kapital - Bildungskapital 209 - kulturelles Kap. 16.1, 213ff., 222 - okonomisches 104f., 116, Kap. 16.1 - soziales Kap. 16.1 Kapitalismus 55, 113 - schafft sich seine Wirtschaftssubjekte 114 kategorischer Imperativ 139, 146 katholisch 104, 118f. Kemkonflikte Kap. 20.1 Kindheit, Entwicklung der Identitat Kap. 20.2 Kirche, Verlust der gemeinschaftlichen B indung 184 Klassen 202,205,208 - definiert tiber Lebensstil 226 - fliissige Schranken 178 - Herauslosung 228 - herrschende 211 - Klassengesellschaft 207 - Klassenkampf uberfliissig 228 - Klassenlage Kap. 15.2 - Kleinbiirger 211 - Mittelklasse 211,215ff. klassische Soziologie (s. d.) Kleinbiirger 211,217ff. Korperfeindlichkeit im Puritanismus 108f.

487 Koharenz, GefUhl der 441 Kollektivbewusstsein Kap. 14.1, 190, 193, 263 - moralischer Individualismus 193 Kolonialisierung der Lebenswelt 253, Kap. 28.2 Kommunikation 255, Kap. 19.1 Kompetenz 16, 20, 272, 432, Kap. 30 Konformitat, Sicherung 40f. Konkurrenz 17, 18, 56, 63-66, 129, Kap. 11.1, 191 - Beschrankung durch Arbeitsteilung 191 Konsum - demonstrativer 62 - Diktat desK. 198,311 - ostentativer 219 Kontrolle - des Eindrucks (s. d.) - Individualisierung und Reintegration Kap. 17.4, 238 - der Informationen Kap. 25.5 - Selbstkontrolle (s. d.) - soziale 172, 190, 204, 227, 267 - Triade der Grundkontrollen 31 Konversion Kap. 27.3 kopemikanische Wende Kap. 5.4 Korrektur der sozialen Identitat 353, Kap. 25.4 Kreise, soziale 30, Kap. 11.2, 222, 249, 297, 304 Kultur - Fetischcharakter der Kulturinhalte 170 - Humanismus: Bildung, individuelle Lebensfiihrung und politisches Handeln 82 - legitime 217ff. - Mode als objektive K. 179

488 - schadlicher Einfluss 130f. - subjektive 179 Kulturbedeutung der Erscheinungen des Lebens verstehen 27 Kulturgeschichte 17, Kap. 1.2 - desDenkens 17,32,46 Kunst - legitime 217 - subjektives Vermogen und Freiheit 90 Lage - Klassenlage Kap. 15.2 - soziale 168 - standische 168, 201, Kap. 15.3 Landwirtschaft, Produktivitat 47 Laufbahn, soziale 209, 222 - diffus 287 law of fashion, law of opinion or reputation 124f., 313 Leben - als Kunstwerk 150 - Planung 417f. - selbstfuhren 86,237 - Sakularisierung und Verlust der Transzendenz 424f. - Sinn des Lebens (s. auch Sinn) 87, 117, 399, 407, 424, 440f. Lebensformen - Individualisierung heiBt AusbildungneuerL. 186 Lebensfuhrung 40,117,177 - asketische 108 - individualistische 106 - methodische 18, 61, 87, 111, 118f., 182 - Rationalisierung 108f., 424 - standische 203-206,208 - systematische 104, 182 Lebenslage - isoliert und standardisiert 226

Sachregister - Diversifizierung und Individualisierung 226 Lebenslauf, institutionelle Muster 232 Lebensstil Kap. 12.3, 207f., Kap. 16.2,310 - biirgerlicher 113 - Distanz zur Notwendigkeit 212 - Formung von Fall zu Fall Kap. 12.3 - Individualisierung und Pluralisierung 226, 229 - Systematisierung Kap. 12.3 Lebenswelt 20 - Entkoppelung von System und L. 403 - Kolonialisierung (s. d.) - Krise 253, Kap. 28 - natiirliche Einstellung 351 - Pluralisierung Kap. 29.1 Leere, innere 176 Leistung - individuelle 17, 106f., 174 - psychosoziale Grundhaltung 277 lesen, statt Mehrfachlesen neue Informationen sammeln 135 Leutseligkeit (s. Vertraulichkeit) Liebe, psychosoziale Grundhaltung 284 literarische Zirkel 136, 139 Loseblattsammlung von Individuen 229f.,236 Luxus, Zurschaustellung der Individualitat 64 Macht - bei der Definition der Situation 347 - Einschrankung der Rollendistanz 330

Sachregister Mangelwesen Mensch 85 marginale Differenzierung 311, 316,318 - Narzissmus der kleinen Differenzen (s. d.) Markt 17, 50, 56ff., 63, 65 - Entstehung Kap. 4.3 - Verflechtung des Individuums in den M. 114 - weiB nichts von Ehre 205 Maske 251, 323f., 334, Kap. 24 - Ehrfurcht vor der M. 324 - der Schein ist alles 324 - unser wahreres Selbst Kap. 23.2, 333 - Symbole unserer Identitat 341 Masse 154f., 311 Massenkultur 219 Massenmensch 154f., 385 me - reflektiertes Ich, soziale Identitat 266, 342 - Verinnerlichung der Bilder, die andere mit uns verbinden 265f. Medien definieren und verdoppeln Normalitat 401 Meinungen der anderen (s. auch law of opinion) 305 Mensch - abstrakter, allgemeiner 144149 - Bestimmung 85f. - Geburt des modemen M. Kap. 4.2 - eigenes Geschopf Gottes 72 - hohereNatur 152, 182 - individuelles GefaB Gottes 101 - idealerM. 82f. - Mangelwesen 85 - Massenmensch 154 - NaturdesM. 124ff., 129, 182

489 - nicht festgelegt 122, 124 - Schopfer seiner selbst 17, 81, Kap. 6.2, 127, 141 - StellunginderWelt 84ff., 100, 117 - Zutrauen zu sich selbst Kap. 6, Kap. 6.3, 117 MentaHtat, Wandel 21, 57, 60, 65,67,98,108,113,232 Methodismus 111 Milieu Kap. 14.1 mind 257 Minderwertigkeitsgefiihl, psychosoziale Grundhaltung 277 Missachtung, kulturelle 370 Misstrauen, psychosoziale Grundhaltung 275 Mittelklasse (s. Klasse) Mittelstand (s. Mode) Mode 37, 124, Kap. 12, 177, Kap. 12.2,311 - Abgrenzung 179 - Ausbreitung von oben nach unten 179 - Egalisierung und Individualisierung Kap. 12.2 - Klassenmode 178 - Diktat des Konsums 181,311 - Mittelstand eigentlicher Trager derM. 178 - Oberschicht, konservativ, kein Motor der Mode 178 - als objektive Kultur 179 - unmodem (s. d.) - Tummelplatz fur Unselbstandige 180 - Unterschicht, unbeweglich, kein Motor der Mode 178 Modeme - ertragt keine Autoritat und keinen Abschlussgedanken 416

490 - Beginn 17,21,Kap. 1.1,88, 94, 130 - Konflikt der zwei Modemen 234ff., 238 - reflexive, zweite 19, 234 - Unbehagen 233 - unvoUendetes Projekt 26 - Widerspruch 236 Modemisierung - einfache 234 -reflexive 185, 233, Kap. 17.5, 238 Moral, Wirtschaftsmorai 94 moralische Einstellung 125, 273 moralische Entgrenzung 57 moralischer Individualismus 193 Moralismus, kantischer 152 Moralphilosophen 121, 125, 127, 146 Mundigkeit 136, 138 Muster - der Individualitat 171 - der Normalitat 171 Mut 16, 20, 156, Kap. 30.5 - Biographie zu revidieren 390 - selbst zu denken 140 - sich des eigenen Verstandes zu bedienen 131, 134, 140, 142 Mystifikation (s. Geheimnis) Nachahmung 176, 178 Nachbarschaft, Verlust gemeinschaftlicher Bindungen 184 Nachstenliebe, Funktionalisierung des Reichtums 57 Nahe, soziale 52, Kap. 12.1, 175f. - SuchenachN. 177,201 - aus Vertraulichkeit kann Verachtung entstehen 378

Sachregister Narr, Ventil fur potentielles Denen 41 Narzissmus - der kleinen Differenzen 316 - protestantische Ethik von heute 316f. naturliche Einstellung zur Welt 351 Nebenfolgen (s. Folgen des Handelns) negative Identitat 332, Kap. 27.1, 383f. Nervositat 55,422 Nominalismus 70, 123 Normalitat 151f., 156, 311, 371f. - neue Definition 358f., 364 - und Einzigartigkeit 249, Kap. 23.5 - doppelte Konstruktion Kap. 25.4 - phantom normalcy 332f., 372, 430f. - Propagierung und Verdoppelung durch die Medien 401 Oberschicht (s. Mode) objektiver Geist (s. Geist) Offentlichkeit 136, 139f. - immer offentlicher 164 - Riickzug aus der O. 101 okologische Frage 236 okonomische Entwicklungen (s. Entwicklung) Offenheit Kap. 29.2 - bereit zu Transformationen 419 Optionen 46, 224f., 229, 242, 288, 407, 416 Ordnung 38f. - konservative Individualitat steigert die O. 38ff.

Sachregister - Radikalisierung der Modeme, reflexive Ordnung 24 Orientierungen - feste O. nicht mehr vorhanden 20, 400, Kap. 28.5 - zahlreich 185,224 Patchworkidentitat 288 pattern variables 205 Personlichkeit 37ff., 142f. - Einheitlichkeit 273 - entwickelt sich mit der Arbeitsteilung 187, 194 - freie Entscheidung 194 - gesunde 27Iff. - individuelle Gestaltung 150, 174 - lebenslange Entwicklung 272 - Prasentation 173 - einzigartiger Stil 165 - sozial-kulturelle 296 - tJbertreibung (s. d.) - die unverwechselbare P. trifft sich in vielen Spiegeln 318 - Unterscheidung 182 - nicht Unterscheidung 147f. - Verkummerung 174 - vomehm 182 Personlichkeitssystem 29If., 296ff., Kap. 21.4 Person 123, 194 - Definition 134,243 Perspektive - auf sich selbst 53 - eines anderen 61 - Verschrankung der P.n 259 Pflicht - von Gott bestimmt lOOf. - positive Philosophie soil Gefiihl fiir die P. anregen 133

491 phantom normalcy 332f., 372 Planung 49,56,66 - offen, liberfltissig 423 play Kap. 19.3, 276 Pluralisierung 19, 185, 224f., 229, 231, 287, Kap. 21.2, Kap. 29.1 Position, soziale 40, 210, 220 positive Philosophie 133 positives Stadium 133 Postmodeme 286, 369f., 408ff., 428 - Zustand der Beliebigkeit 410 - Identitat lebt von der Hand in denMund 410 - Fehlen einer einheitlichen Weltbeschreibung 415 - Wissen 406,460 Predestination 102 Prasentation 173,251 - Identitat 321f., 325 Pratention Kap. 16.4, 217, 221 Pragmatismus 256 Praxisformen 220 Presse 140 Prinzipien - s. Innenleitung - zwanghaft festhalten? 315 Privatheit 101 - immer privater 164 - Ruckzug in die P. 408,416 Probeidentitaten 281,283 Profitlichkeit 110 protestantische Ethik 87, Kap. 7.3,7.5, 118, 307f.,400 Protestantismus 23, 93 Psychogenese 29 Puritanismus 17, 55, Kap. 7.5, 113,120

492 Rahmung der Individualitat 39, 123, 139 Rationalisierung 23, 32, 55f., 76, 200, 205, 232, 235f., 400f. - der Arbeit 223 - der Lebensfuhrung 108f. - der Rationalisierung 234 - der Tradition 234 Rationalismus 128, 144 Rationalitat 19,23 - Kritik am Rationalitatsanspruch 150, 407 - wird instrumentalisiert 407 Ratlosigkeit 409, Kap. 28.6 Raum - der Lebensstile 207 - okonomisch-sozialer 207 - sozialer 208, Kap. 16.2, 220f. Recht, Wurzel in der Freiheit 89 Reflexion - Zusichselbstkommen in der Reformation 98 - Selbstrationalisierung 443f. reflexives Bewusstsein 268, 270 Reflexivitat - Prinzip der modemen Individualitat 23f. - der Nebenfolgen 235 Reformation 17,21,25,31,80, 94, Kap. 7, 116 Reichtum, religiose Begriindung llOf. Renaissance 21-26, 31, 37f., 45, 81,87,91,94,116,307 Reprasentanz typischer Erwartungen Kap. 2.1 Resignation, psychosoziale Grundhaltung 275 Revisionen der Biographie (s. Biographie) Ringparabel 139

Sachregister Risikogesellschaft 223, 234 Rolle 248,Kap. 21.1, 325f., 348 - Distanz als Voraussetzung flir Identitat 152,383 - Pluralisierung 236,287,309 - RoUengefuge zerbricht 185, 309 - totaler RoUenverdacht 321 - zweiteNatur 323 Rollendistanz Kap. 23.4, 383, 438 - nachtragliche Korrektur sozialer Erwartungen 330 - Vorwartsstrategie der Identitatsdarstellung 330 Rolleniibemahme 126, 255, Kap. 19.1,320 - wechselseitige 25 8f. Romantik 18, 130, 148f., Kap. 10.3, 153, 157, 408 romantische Soziologie (s. Soziologie) Sachlichkeit - des Marktes 59 - und Unpersonlichkeit 161 Salon 136, 139f. Scham, psychosoziale Grundhaltung 276 Schande, Furcht vor 307 Schein - was einer scheint, ist alles 324 Scheitem 369,394,426 Schicksal - vomS. zurWahl 183 Schisma 69, Kap. 5.3 Scholastik 17,70 - Kritik 86-94,96 schottische Moralphilosophen (s. Moralphilosophen)

Sachregister Schuldgefiihl - Innenleitung 308 - psychosoziale Grundhaltung 277 Seele, subjektive 169 Sein und Haben 181 Selbst - entsteht im Dialog 367f. - Gefahren des S. 321 - Illusion des S. 322 - postmodemes 456 - Zerfaserung 287 Selbstachtung aus dem Beruf 426f. Selbstabsorption, psychosoziale Grundhaltung 284 Selbstbeobachtung 92, 94, 101, 122,255,259ff.,313,317f., 340, 424, 443f. Selbstbestimmung 153ff. - bedarf der Anerkennung 367 - nicht immer beansprucht 155f. Selbstbewusstsein 27, 32, 48, 57, 71,91-94,128,134, 173,256, 260f., 280f. Selbsterfahrung - Fremdheit 42If. - Individuum sucht Wirklichkeit in sich selbst 421 Selbstgewissheit 103, 134, 181 - gegeniiber Nichtbestatigung 382 Selbsthilfegruppen 364 Selbstkontrolle 26, 32, 98, 108, 109, 119,199,267 Selbstmord, anomischer 197 selbststandig - Mode ist Tummelplatz fur Unselbstandige 180 Selbstsicherheit in der Jugendphase 280f.

493 Selbstverstandlichkeiten, Zerfall 186 Selbstverwirklichung, Pathoswort 379 self Kap. 19.5 signifikanter Anderer 261, 263f. - Dialog mit den s. a. beim Aushandeln der Identitat 368 Sinn 399 - des Handelns anzeigen 336 - Krise in der Risikogesellschaft 223 - Sinn des Lebens 399ff.,441 - Sinn des Lebens selbst defmieren 117,128,141, 181,233, 407, 440, Kap. 30.3 - Verlust in der Modeme 233, 401 Solidaritat 133, Kap. 14.1 - der Ahnlichkeiten Kap. 14.2 - Entsolidarisierung 317 - und Individualitat 193 - mechanische 189 - organische 50ff., 192 - der Individualitat 52, Kap. 14.3 - Sozialpolitik statt Solidaritat 228 Sozialbehaviorismus 256 Sozialgeschichte 16, 28 Sozialisation, Sozialisierung (s. auch Vergesellschaftung) 189, 195, 293 Soziogenese 29 Soziologie - Aufgabe 35, 140, 157, 239, 250 - und Geschichte 35 - historische 36 - klassische, romantische 15 If. Spezialisierung 50, 54, 66, 161, 191f., 194

494 Spiegel 14,126,251,255,264, 334, Kap. 24, 426 Sprache - Teil der Befreiung 97,101 - eigene 90,93,97 - Symbolisierung von Erfahrung 257 - Telos der Verstandigung (s. d.) 404 Stachelschweine 175ff. Stadt 47, 49, 52, Kap. 4.2, 59, 63, 65,90,171,178 - Individualitat, Ubertreibung, Aufmerksamkeit Kap. 11.5 Standegesellschaft Kap. 4.2, 60 standische Lebensfuhrung (s. d.) Stand 38,65,203,205 - Berufung in einen St. 100 Standardisierung 67, 226, 233, 238, 400 Status 348 - erworbener, zugeschriebener 347ff. - Kampf umsozialen S. 216 - Statusarten Kap. 24.3 - Statussymbole 221 - Statuszwang 343 Stigma 252, 321, 352, 354ff. - Stigmamanagement 356f. Stilisierung des Lebens Kap. 15.4,213,215 Stoa 92f. subjektive Welt - wirklich und wahr 392 - Transformation und Umwandlung 392f. Subjektivitat 27, 38, 96f., 151, 318,421 Symbole Kap. 19.1 - gemeinsame 30 - signifikante 257

Sachregister - symbolische Zeichen losen sich von personlichen Beziehungen 405 Sympathie 126 System - kulturelles, soziales 29If. - Entkoppelung von S. und Lebenswelt 403 - Personlichkeitssystem (s. d.) - Verselbstandigung 412 tauschen 319, Kap. 25.5 Tausch, Tauschwirtschaft 49, 59f., 65 Tempo, zu Hause in der Mittelschicht 178f. Therapie Kap. 27.3, 396 - Identitatsarbeit unterstutzen 397f. - soziale Kontrolle und Resozialisation 397 Thomas-Theorem 92, 336, 347, 431 Tod, Angst vor dem Unerfullten 445f. totale Institutionen 321, 353, 372, 384 Totalitat, Haltung in der Jugendphase 281 Traditionslenkung Kap. 2.2, 56, 115-120, Kap. 22.1 Transzendenz 70,81,128 Treue - Eckstein der Identitat 282,435 - psychosoziale Grundhaltung 282, 435 - sich treu bleiben (s. auch authentisch) 367f.,435 Triade der Grundkontrollen 31 Tlichtigkeit, psychosoziale Grundhaltung 277

Sachregister Tugenden Kap. 20.1,435 Tugendlehre - derStoa 92f. - kategorischer Imperativ 139 Typisierung und normative Erwartungen 351 Typus - Typen der Individualitat 38f., 167 - reiner Oder Idealtypus 115 - Situationen definieren den Typus 350 Uberforderung durch Differenzierung und Pluralisierung 295f., 304 Uber-Ich 267 tJbertreibung der Eigenart Kap. 11.5,174 Umwandlungen der Identitat Kap. 27.3 Umwelt, nur eine Hypothese 256f. Ungleichheit 128f., 226 - gerecht 112 Universalienstreit 69, Kap. 5.1, 123 unmodem, Umkehrung der sozialen Nachahmung 180 Unmundigkeit 87, 134, 139 - bequem 135f., 138 - selbstverschuldet 134 unsichtbare Hand 128 Unterscheidung, Bewusstsein und Wunsch 21,37,42,48,60, 129, 148f., 152, 161, Kap. 12, 177f. - nicht konnen oder nicht wollen? 318 - unterscheide dich! 192 Unterschicht (s. Mode)

495 Unterschiede, feine 178 Ursache und Wirkung sind aufeinander bezogen 29 Urvertrauen 274f. utilitaristisch, Prinzip des Handelns 127 utopische Energien sind aufgezehrt 411 Vereinsamung 13, 102f., 199, 231,400f. - Individualisierung nicht V. 186 Vereinzelung und Standardisierung 233 Verflechtung, Arbeitsteilung, Differenzierung 63, 67 Vergangenheit - es gibt keine exemplarische Vergangenheiten mehr 411 - steht nicht fest 245 - Vergangenheit ist UberflieBen der Gegenwart 388 - Umgestaltung ist normal, neu ist die Hast 390 - sich von der Vergangenheit losen konnen 429 Vergemeinschaftung 201 f. Vergesellschaftung 157f., 166, 201f. - neuer Modus Individuahsierung 224, Kap. 17.1 vergessen - s. auch Biographie 388, 394, 446, 36If. - bei der Konstruktion der Identitat 245,247,315,363,446, 363, 388f. Vergleich als Ichfindung 276, 280f. Verhaltenskonformitat 40f.

496 Vemunft - Widersacher des Glaubens und der Tradition 77 - eigenes Denken gegen Scholastik 90f., 96 Verrechtlichung 76, 228, 232f., 238,403 Versachlichung der sozialen Beziehungen 191, 235 Versohnung - mit der Gesellschaft 166 - des Menschen mit sich selbst Kap.7.1 - mit der Welt 91,95,117 Verstandigung, statt wechselseitige V. Exekution der Sachgesetzlichkeit 402ff. Verstand 94,Kap. 9.3 verstehen und erklaren 33 Vertraulichkeit, aus zu groBer V. kann Verachtung entstehen 378 Verzweiflung, psychosoziale Grundhaltung 274, 285, 446 vita communis 73 Vormodeme 40 vomehm 182,212 Vorurteil (s. auch Denken) - dogmatisches Denken 139 Wahl - Pluraiisierung der W.-moglichkeiten 185f. - vom Schicksal zur W. 183 - ZwangderW. 186 Wahrheit 17, 19, 69ff., 75f., 83f., 97f. - der Biographie Kap. 27.2,430 - der Darstellung 325, 33Iff. - durch das Handeln bestatigen 98 - derldentitat Kap. 29.7

Sachregister - keine tiberlegene W. mehr 200, 401,411 - kollektive 210 - Privatsache 401 - Schauspiel fiir die Wahrheit halten 251 Ware 53, Kap. 4.4 Wechselwirkung 29, 157 Weisheit als Tugend 285,435 Welt - diesseitige 85f., 118 - nach vome of fen 150 - Versohnung mit der W. 91, 95 Weltbilder, Auflosung 309 Wendepunkte der Biographie 391f. Werkheiligkeit 119 Wertbindung 290,296 Werte - Zuriicktreten letzter W. aus der Offentlichkeit Kap. 28.1 Wertorientierungen des Handelns 205 Wille - freier 87f. - Mensch wird sich seines Willens und Vollbringens bewusst 117 - psychosoziale Grundhaltung 276 Wirklichkeit - offener Prozess 150 - Universalien sind nicht wirklich 71 Wirklichkeitswissenschaft 27 Wirkung (s. Ursache) Wirtschaften - Prinzip 49 - Moral 94 Wissen - Aneignung 135 - eigenes 96

Sachregister - aus Erfahrung 133 - gemeinsames 30, 135 - Nebeneinander von Nichtwissen 235, 405f., 425 - selbstwissen 92 - unverbundenes W. der Experten 405f. Wissenschaft, Aufgabe 140f. Wunsche - Theorie der vier Wunsche 365 - untergegangene Wunsche wieder denken 445 - sich die W., wer wir sein wollen, zutrauen 446 Wiirde des Menschen, Stellung in der Mitte der Welt 83f. Zeichen 257 Zeit - ungeduldige Gesellschaft konzentriert sich nur auf den unmittelbaren Moment 428 - Zeit ist Geld 107 - Vergeudung ist die schwerste allerSunden 109 Zentralperspektive 26

497 Zerfaserung des Selbst (s. d.) Ziele - keine langfristigen Ziele 427f. - Zielstrebigkeit als psychosoziale Grundhaltung 277 Zivilisation 32 Zukunft - Einfluss auf das Bild von uns 382 - wegen der weltv^eiten Gefahrdung negativ besetzt 411 - Optionen offenhalten 382 - offene Plane 423 - sich zutrauen 286, 434f., 440 Zuschreibung soziale Identitat 341-345, Kap. 25.1 Zutrauen (s. Mensch, Zukunft) - zu sich selbst Kap. 30.3, 446 zwanghaft (s. Prinzipien) zweckrational 57, 67, 108, 112, Kap. 15.1, 231, 400, 402f. Zweifel - methodisch 133f. - psychosoziale Grundhaltung 276