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Zitiervorschau

Katharina Grätz, Sebastian Kaufmann (Hrsg.) Nietzsche als Dichter

Nietzsche-Lektüren

Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften und der Friedrich-Nietzsche-Stiftung

Herausgegeben von Andreas Urs Sommer, Sebastian Kaufmann, Katharina Grätz, Ralf Eichberg und Christian Benne Wissenschaftlicher Beirat: Francisco Arenas-Dolz (Valencia), Paul Bishop (Glasgow), James Conant (Leipzig), Jakob Dellinger (Wien), Paolo D’Iorio (Paris), Maria Cristina Fornari (Salento), Friederike F. Günther (Würzburg), Helmut Heit (Freiburg im Breisgau), Shanghai Beatrix Himmelmann (Tromsø), Soichiro Itoda (Tokio), Anthony Jensen (Providence), Enrico Müller (Bonn), Axel Pichler (Stuttgart), Carlotta Santini (Paris), Philipp Schwab (Freiburg im Breisgau), Freiburg i. Br. Hubert Thüring (Basel), Vivetta Vivarelli (Florenz), David Wellbery (Chicago), Patrick Wotling (Reims), Claus Zittel (Stuttgart)

Band 1

Nietzsche als Dichter Lyrik – Poetologie – Rezeption Herausgegeben von Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann Unter redaktioneller Mitarbeit von Armin Thomas Müller und Milan Wenner

Die Drucklegung dieses Bandes wurde im Rahmen der gemeinsamen Forschungsförderung von Bund und Ländern im Akademienprogramm mit Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung und des Ministeriums für Wissenschaft, Forschung und Kultur des Landes BadenWürttemberg ermöglicht.

ISBN 978-3-11-047280-6 e-ISBN (PDF) 978-3-11-047437-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-047412-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliographic information published by the Deutsche Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2017 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: jürgen ullrich typosatz, Nördlingen Druck: ■■■ (((Blockaden ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier auflösen))) Printed in Germany www.degruyter.com

Inhalt Siglenverzeichnis

IX

Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann Nietzsche als Dichter: Zur Einführung 1 Sebastian Kaufmann Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches

7

Armin Thomas Müller Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne

25

Armin Thomas Müller Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871 Katharina Grätz „doch sehen wir sein Sprechen nur“: Nietzsches Gedicht Um Mittag / Am Gletscher und die Lesbarkeit der Natur 79 Sebastian Kaufmann Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität: Nietzsches Idyllen aus Messina und sein poetologisches Konzept der Idylle 95 Milan Wenner „Nach neuen Meeren“: Nietzsches Abenteurerlyrik vor dem Hintergrund der Fröhlichen Wissenschaft 121 Thomas Forrer Philologische Dichtung: Friedrich Nietzsches Lied eines theokritischen Ziegenhirten 153 Stavros Patoussis Philosophie als Tanz: Eine philosophische Lektüre von An den Mistral. Ein Tanzlied 179

47

VI

Inhalt

Mike Rottmann „Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“: Nietzsches inszenierte Melancholie als poetische Begründung des zukünftigen Philosophen. Mit zwei Exkursen zum Problem der Interpretation Nietzschescher Gedichte 207 Jan Kerkmann Die Einkreisung der schwarzen Schlange: Zur Figur des Wahrsagers im Zarathustra 245 Natalie Schulte Nur Narr, nur Dichter? Das Lied der Schwermuth in Nietzsches Zarathustra 273 Michael Buhl Textstrategie und Performativität: Dialogizität, Literarizität und Polyperspektivität im Kontext von Nietzsches Kommunikationstheorie Patrick Wagner Schein und Wahrheit: Nietzsches Philosophie der Poesie

297

315

Julius Thelen Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie: Zum ersten Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaft 339 Christina Kast „Nur Narr! Nur Dichter!“ Nietzsches Versuch einer Neubegründung der Philosophie in der Dichtung 377 Robert Krause Dandysme: Zu einem Motiv aus Nietzsches Baudelaire-Exzerpten

401

Sarah Scheibenberger „Ich trinke die Flammen in mich zurück, die aus mir brechen“: Nietzsche, Carlo Michelstaedter und Rhetorik als (auto-)poietisches Verfahren 421 Ann-Christin Bolay „eine durch und durch poetische, künstlerische Natur“: Zu Ernst Bertrams und Theobald Zieglers Rezeption des Dichters Nietzsche 445

Inhalt

Katharina Grätz Nietzsches Rezeption als Dichter in der literarischen Moderne Namenregister

481

465

VII

Siglenverzeichnis AC BAW

DD DW EH FW GD GM GSA GT IM JGB KGB KGW KSA

KSB

MA I–II M Mp …

Nietzsche, Friedrich, Der Antichrist. Fluch auf das Christenthum [1888], in: KSA 6, 165–254. Nietzsche, Friedrich, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe: Werke, 5 Bde. [Jugendschriften 1854–1869], München 1933– 1940. Nietzsche, Friedrich, Dionysos-Dithyramben [1888], in: KSA 6, 375–411. Nietzsche, Friedrich, Die dionysische Weltanschauung, in: KSA 1, 551– 577. Nietzsche, Friedrich, Ecce homo. Wie man wird, was man ist [1888], in: KSA 6, 255–374. Nietzsche, Friedrich, Die fröhliche Wissenschaft („la gaya scienza“) [1882/87], in: KSA 3, 343–651. Nietzsche, Friedrich, Götzen-Dämmerung oder Wie man mit dem Hammer philosophirt [1888], in: KSA 6, 55–161. Nietzsche, Friedrich, Zur Genealogie der Moral. Eine Streitschrift [1887], in: KSA 5, 245–412. Goethe- und Schiller-Archiv, Weimar. Nietzsche, Friedrich, Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik [1872], in: KSA 1, 9–156. Nietzsche, Friedrich, Idyllen aus Messina [1882], in: KSA 3, 333–342. Nietzsche, Friedrich, Jenseits von Gut und Böse. Vorspiel einer Philosophie der Zukunft [1886], in: KSA 5, 9–243. Nietzsche, Friedrich, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Berlin / New York 1975 ff. Nietzsche, Friedrich, Werke. Kritische Gesamtausgabe, hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, Berlin / New York 1967 ff. Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Werke. Kritische Studienausgabe in 15 Einzelbänden, hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, 3. Auflage, München / Berlin / New York 1999. Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hrsg. von Giorgio Colli / Mazzino Montinari, 2. Auflage, München / Berlin / New York 2003. Nietzsche, Friedrich, Menschliches, Allzumenschliches. Ein Buch für freie Geister [1878/86] = KSA 2. Nietzsche, Friedrich, Morgenröthe. Gedanken über die moralischen Vorurtheile [1881], in: KSA 3, 9–331. Mappensignaturen in Nietzsches Nachlass (Goethe-Schiller-Archiv, Weimar).

DOI 10.1515/9783110474374-203

X

NK

Siglenverzeichnis

Historischer und kritischer Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken, hrsg. von der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Berlin / Boston 2012 ff. NL Nietzsche, Friedrich, Nachlass, zitiert nach KSA oder KGW. NPB Campioni, Giuliano / D’Iorio, Paolo / Fornari, Maria Cristina / Fronterotta, Francesco / Orsucci, Andrea (Hrsg.), unter Mitarbeit von MüllerBuck, Renate: Nietzsches persönliche Bibliothek, Berlin / New York 2003. PHG Nietzsche, Friedrich, Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen [1873], in: KSA 1, 799–872. SGT Nietzsche, Friedrich, Sokrates und die griechische Tragoedie, in: KSA 1, 601–640. ST Nietzsche, Friedrich, Socrates und die Tragoedie, in: KSA 1, 533–549. UB I DS Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemäße Betrachtungen. Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und der Schriftsteller [1873], in: KSA 1, 157–242. UB II HL Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben [1874], in: KSA 1, 243– 334. UB III SE Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemäße Betrachtungen. Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher [1874], in: KSA 1, 335–427. UB IV WB Nietzsche, Friedrich, Unzeitgemäße Betrachtungen. Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth [1876], in: KSA 1, 429–510. VMS Nietzsche, Friedrich, Menschliches, Allzumenschliches. Anhang: Vermischte Meinungen und Sprüche [1879], in: MA II. W… Heftsignaturen in Nietzsches Nachlass (Goethe-Schiller-Archiv, Weimar). WA Nietzsche, Friedrich, Der Fall Wagner. Ein Musikanten-Problem [1888], in: KSA 6, 9–53. WL Nietzsche, Friedrich, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne [1873], in: KSA 1, 873–890. WS Nietzsche, Friedrich, Der Wanderer und sein Schatten [1880], in: MA II. Za Nietzsche, Friedrich, Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen [1883/85] = KSA 4.

Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann

Nietzsche als Dichter: Zur Einführung Nietzsche war beides, Philosoph und Dichter. Diese Doppelrolle wurde ihm nicht nur von anderen zugeschrieben,1 sondern sie entspricht seinem Selbstverständnis: Schon 1872 bekannte er sich zum ‚gemischten‘ Ideal des „P h i l o s o p h e n - K ü n s t l e r s “, dessen Philosophie „ein K u n s t we r k […] mit ästhetischem Werthe“ sein soll.2 Und noch 1886 sympathisiert er in einem Nachlass-Notat mit der Rolle eines „verwegene[n] Dichter-Philosoph[en]“.3 Freilich verdankt er seine exzeptionelle Stellung weniger der bloßen Tatsache, dass er die Grenze zur Literatur überschritt (damit wäre er in der Geschichte der Philosophie kein so seltener Fall), sondern vielmehr der Nachdrücklichkeit, mit der er das getan hat. Nietzsche realisierte in seinem Schaffen die Verbindung von Literatur und Philosophie in seltener Konsequenz: Er bediente sich in forcierter Weise literarischer Darstellungsmittel; seine Texte umkreisen reflektierend immer wieder die Frage, wie sich Philosophie und Poesie zueinander verhalten, und er wechselte als Lyriker sowie als Autor von Also sprach Zarathustra scheinbar vollständig auf die Seite der Dichtung. Als ‚Dichterphilosoph‘ hat Nietzsche mit den zeitgenössischen Konventionen des Philosophierens gebrochen und das Register der philosophischen Ausdrucksformen und Schreibweisen erheblich erweitert. Der Kosmos seines Gesamtwerks konstituiert sich aus einer Vielfalt literarischer Genres und Textformen wie Gedicht, Aphorismus, Kurzessay, Dialog und Parabel. Nietzsche bildete keinen einheitlichen Schreibstil aus, sondern beanspruchte, wie er in Ecce Homo selbstbewusst verkündet, für sich „die vielfachste Kunst des Stils überhaupt, über die je ein Mensch verfügt hat.“4 Tatsächlich charakterisiert ihn das Vermögen, souverän zwischen unterschiedlichen Stilen zu wechseln. Dabei dürfte er erheblich von seiner philologischen Ausbildung profitiert haben, vom intensiven Studium der antiken Literatur, aber auch allgemein von seiner großen Belesenheit auf den verschiedensten Gebieten. Nicht zuletzt zeugen davon auch die vielen intertextuellen Referenzen, die eine weitere Besonderheit seiner Texte ausmachen, und die ebenso auf wissenschaftliche wie auf literarische Werke verweisen. Zitate und

1 Die Einordnung als ‚Dichterphilosoph‘ bildet von früh an bis heute eine – wenngleich noch nicht zureichend reflektierte – Konstante in der Nietzsche-Rezeption. Vgl. beispielsweise Diner, Joseph, Friedrich Nietzsche. Ein Dichterphilosoph, in: Freie Bühne für modernes Leben, Jg. 1, Heft 13, Berlin 1890, S. 368–371. 2 NL 1872, 19[39], KSA 7, 431, 12–14. 3 NL 1886, 6[22], KSA 12, 240, 13 f. 4 EH Warum ich so gute Bücher schreibe 4, KSA 6, 304, 11 f.  



DOI 10.1515/9783110474374-001

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Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann

Allusionen sind nicht selten auf sehr kunstvolle Weise in seine Texte eingefügt; häufig verweisen sie nicht unmittelbar auf eine Quelle, sondern stehen, spielerisch verwendet, im Dienst des Andeutens und der Verrätselung. Alle Texte Nietzsches weisen in großer Dichte sprachlich-stilistische Merkmale auf, die gemeinhin als Ausweis von Literarizität gelten. Sie strotzen vor rhetorischen Tropen und Figuren, setzen in extensiver Weise Metaphern, Ausrufe und rhetorische Fragen, Anaphern, Parallelismen und Antithesen ein und folgen, bis in das Satztempo hinein, musikalischen Prinzipien. Dabei ist zu sehen, wie Nietzsche einerseits an konventionelle Formen anknüpft, ihnen dann aber doch eine eigene, originelle Prägung gibt; so greift er traditionelle Metaphern und Symbole auf und weist ihnen neue Bedeutung zu. Auffällig ist zudem eine ausgeprägte Neigung zum Sprachspiel; immer wieder scheint die Wortwahl nicht durch den semantischen Gehalt, sondern durch klangliche und rhythmische Qualitäten gesteuert zu werden. Nicht nur gemessen an traditionellen philosophischen Schreibweisen, auch im Vergleich zur zeitgenössischen ‚schönen Literatur‘ zeichnet sich damit eine deutliche Differenz ab: Während die Literatur des poetischen Realismus dazu tendiert, ihren Kunstcharakter zu verschleiern, rückt Nietzsche die kunstvolle rhetorische Sprachgestalt seiner Texte immer wieder selbstreflexiv in den Vordergrund. Das lässt seine Schreibweise seltsam unzeitgemäß erscheinen. Indem sie den Eigenwert der sprachlichen Form, der Bilder und des Klangs betont, unterscheidet sie sich markant sowohl von den literarischen als auch von den philosophischen Schreibstilen der Zeit; sie zielt auf Konnotation und Assoziation statt auf Klarheit und Präzision. So gründet der Ausnahmestatus, der Nietzsche unter den Philosophen zukommt, nicht zuletzt in seinem besonderen, genuin künstlerischen Verhältnis zur Sprache: „weit mehr als die Ideen selbst […] sicherte die Wucht, Kraft und Schönheit seiner Sprache, die unwiderstehlich Freund und Feind fortriß, den Erfolg Nietzsches. Wie edle Gemmen formte er die Ideen. Er ist ein Künstler der Sprache“,5 schrieb 1911 der Literaturhistoriker Alfred Biese. Der Grenzen sprengende Denker Nietzsche war zugleich ein Grenzen sprengender Sprachkünstler und Sprachartist, der traditionelle Gattungsdifferenzen und, grundsätzlicher noch, den Unterschied zwischen Philosophie und Dichtung zum Verschwimmen brachte. Gerade darauf beruht die große Wirkmächtigkeit, die bis heute weit über die disziplinären Grenzen der Philosophie hinaus von seinen Schriften ausgeht. Deren eigene poetische Qualität wurde schon früh wahrgenommen,6 und so 5 Biese, Alfred, Deutsche Literaturgeschichte, Bd. 3: Von Hebbel bis zur Gegenwart, München 1911, S. 486. 6 So schreibt etwa bereits Theobald Ziegler in seiner im Todesjahr Nietzsches erschienenen Werkbiographie Friedrich Nietzsche: „Nietzsche ist Dichter – nicht nur weil und wo er Verse macht

Nietzsche als Dichter: Zur Einführung

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erstaunt es nur wenig, dass nicht Philosophen, sondern Schriftsteller die ersten begeisterten Rezipienten Nietzsches waren. Ganze Dichtergenerationen standen im Sog des Zarathustra und des späten Dithyrambenstils, die als stilprägende Vorbilder wirkten und der modernen Literatur und insbesondere der Lyrik im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert wichtige Impulse gaben. Weil die Rezeption von Nietzsches dichterischem Werk vom Eindruck des Zarathustra und der Dionysos-Dithyramben dominiert wurde, geriet bis heute nahezu in Vergessenheit, dass er ein umfangreiches lyrisches Werk hinterlassen hat, das bislang weder intensiv erforscht7 noch editorisch befriedigend erschlossen ist8 – was bisweilen zu der irrigen Annahme veranlasste, Nietzsche habe überhaupt nur wenige Gedichte geschrieben.9 Tatsächlich tritt seine Vorliebe für lyrische Formen in allen Werkphasen markant hervor; Gedichte stehen am Beginn und am Ende seines Schaffens, insgesamt stammen aus seiner Feder rund 700 erhaltene lyrische Texte, von denen freilich die meisten im Nachlass versteckt blieben.10 Zwar hat Nietzsche nur wenige Gedichte eigenständig publiziert (ein Ausnahmestatus kommt insofern dem 1882 in Ernst Schmeitzners Internationaler Monatsschrift veröffentlichten Gedichtzyklus Idyllen aus Messina zu),11 doch enthalten zahlreiche seiner ‚philosophischen Werke‘ lyrische Texte. Deutlich vom und Dramen entwirft, sondern mitten in seiner Prosa und mitten in seinem Philosophieren; er ist der Dichter unter den Philosophen, wie vor Sokrates Empedokles ein solcher gewesen ist. Denn schon von Haus aus ist er eine durch und durch poetische, künstlerische Natur, das giebt seinen Gedanken den Glanz und den Schimmer, das Ansehen und den Reiz von Kunstwerken“ (Ziegler, Theobald, Friedrich Nietzsche, Berlin 1900, S. 3). Zu Zieglers Nietzsche-Rezeption vgl. den Beitrag von Ann-Christin Bolay im vorliegenden Band. Zur Rezeption von Nietzsches Lyrik um 1900 allgemein vgl. den Beitrag von Katharina Grätz im vorliegenden Band. 7 Einen gewissen Überblick über die vorhandene Forschungsliteratur zum Thema „Nietzsche als Dichter“ vom Ende des 19. Jahrhunderts bis heute liefert die Bibliographie in NK 3/1, 578–582. Es handelt sich zwar um eine Spezialbibliographie zu den Idyllen aus Messina, erfasst werden darüber hinaus aber auch wichtige Schriften zu Nietzsches Lyrik. – Erfreulicherweise wendet sich die gegenwärtige Nietzsche-Forschung dem Thema wieder verstärkt zu. So fand vom 15. bis 18. Oktober 2015 in Naumburg die von Christian Benne und Claus Zittel organisierte Tagung „‚Ja, mein Herr! Sie sind ein Dichter!‘ Nietzsche und die Lyrik“ statt, auf die eine umfängliche Sammelpublikation zu Nietzsches Lyrik folgen soll. 8 Zu entsprechenden editionsphilologischen Überlegungen vgl. Groddeck, Wolfram, „Gedichte und Sprüche“. Überlegungen zur Problematik einer vollständigen, textkritischen Ausgabe von Nietzsches Gedichten, in: Martens, Gunter / Woesler, Winfried (Hrsg.), Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller, Tübingen 1991, S. 169–180. 9 Vgl. Reich-Ranicki, Marcel (Hrsg.), 1400 deutsche Gedichte und ihre Interpretationen, Bd. 12: Von Rolf Dieter Brinkmann bis Durs Grünbein, Frankfurt/Main 2002, S. 108. 10 Nähere Details in NK 3/1, 472 f.; sowie in Sebastian Kaufmanns Beitrag zu Nietzsches Lyrik und Lyriktheorie im vorliegenden Band. 11 Vgl. hierzu den entsprechenden Beitrag von Sebastian Kaufmann im vorliegenden Band.  

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Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann

Kontext abgesetzt erfüllen sie spezifische kompositorische und rezeptionsleitende Funktionen als „Motto“, „Vorspiel“ und „Anhang“. Es handelt sich also um lyrische ‚Paratexte‘, deren Verhältnis zum aphoristischen ‚Haupttext‘ eigene Perspektiven eröffnet und besondere Interpretationsanstrengungen herausfordert. Das mit ihnen etablierte Wechselspiel von Lyrik und Prosa führt zu Brechungen, die ein neues Licht auch auf Motive und Bilder des ‚Haupttexts‘ fallen lassen. Nietzsches Texte reflektieren selbst wiederholt den unterschiedlichen Aussagemodus von lyrisch-poetischem und prosaisch-philosophischem Sprechen. Berühmt sind die bedauernden Worte anlässlich der Neuausgabe der Geburt der Tragödie 1886: „Sie hätte s i n g e n sollen, diese ‚neue Seele‘ – und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!“12 Ungeachtet dieses klaren Bekenntnisses zum poetischen Sprechen sind die poetologischen Selbstreflexionen im Werk Nietzsches durch Ambivalenzen und Widersprüche gekennzeichnet. Immer wieder kommen seine Texte auf das Verhältnis von Ästhetik und Erkenntnis, von Kunst und Wissenschaft zu sprechen und formulieren unterschiedliche, ja gegensätzliche Urteile. Kunst und Poesie gelten dabei wechselweise als überlegene, wahrhaftere Ausdrucksmöglichkeiten; sie werden aber ebenso auch als notwendige und lebenserhaltende Illusionen13 eingestuft oder gar als irreführende Täuschungen zurückgewiesen. Nietzsche bildete also keine klar konturierte Ästhetik oder Kunsttheorie aus, vielmehr spielen seine Texte unterschiedliche Einstellungen zur Kunst durch und beziehen wechselnde Blickpunkte.14 Derart zeugen gerade auch die Überlegungen zu Kunst und Dichtung von der für Nietzsche typischen (multi)perspektivischen Betrachtungsweise, die gekennzeichnet ist durch die dauernde Verschiebung des Betrachter-Standpunkts. Damit erfasst sie ihren Gegenstand immer wieder neu und nimmt ihn immer wieder anders in den

12 GT Versuch einer Selbstkritik 3, KSA 1, 15, 9–12. 13 Als bezeichnend hierfür sei folgende Textstelle aus der Fröhlichen Wissenschaft angeführt: „Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten“ (FW 107, KSA 3, 464, 10–15). 14 Bereits Peter Pütz betonte das Unsystematische von Nietzsches kunsttheoretischen Überlegungen: „Er kann sich niemals mit einer Phänomenologie der Kunst begnügen, weil ihm das System, in welches sie einzuordnen wäre und in dem sie Funktionen zu erfüllen hätte, fehlt. Seine Frage nach der Seinsweise der Kunst stößt daher ins Leere, wird immer wieder zurückgenommen, neu gestellt und anders beantwortet“ (Pütz, Peter, Kunst und Künstlerexistenz bei Nietzsche und Thomas Mann. Zum Problem des ästhetischen Perspektivismus in der Moderne, 3. Auflage, Bonn 1987, S. 12).

Nietzsche als Dichter: Zur Einführung

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Blick, gewinnt ihm unterschiedliche Facetten ab, produziert aber auch unvereinbare Widersprüche und Aporien. Wie sein gesamtes Schreiben und Denken sind auch die ästhetischen und poetologischen Überlegungen aus Nietzsches Feder von grundsätzlicher Sprachund Erkenntnisskepsis geprägt. Es präsentiert sich ein Autor, der im Bewusstsein der Unzulänglichkeit des Mediums Sprache („D i e W o r t e l i e g e n u n s i m W e g e !“)15 schreibt und dessen Erkenntnisstreben sich im Bewusstsein der Uneinholbarkeit von absoluter Erkenntnis oder Wahrheit vollzieht. Die Texte setzen diese prinzipiellen Erkenntniszweifel performativ um, indem sie wechselnde Sprecherinstanzen und Perspektiven zur Geltung bringen und mit Relativierungen, Paradoxien und Ironie arbeiten – mit Darstellungsmitteln, die die Verbindlichkeit von Aussagen unterminieren und dadurch das unterbinden, was viele Rezipienten von Philosophie erwarten: den Entwurf eines systematischen Gedankengebäudes oder wenigstens definitive, logisch sauber hergeleitete Aussagen, die sich als ‚Wahrheiten‘ präsentieren. Stattdessen sind Nietzsches Texte durchzogen von unterschiedlichen Formen des uneigentlichen Sprechens und von vielfältigen Strategien der Distanzierung vom Aussagegehalt. Höchst ungewöhnlich für philosophische Texte sind etwa die häufigen Fiktionalitätssignale, insbesondere die Vorliebe für den Konjunktiv und das hypothetische ‚Als ob‘, die das Dargelegte unter Vorbehalt stellen. Doch auch wenn die große Bandbreite unterschiedlicher Ausdrucksformen und Darstellungsmodi in Nietzsches Werk derart als Äußerungsweise einer Philosophie erscheint, die unter dem Zeichen der Erkenntnisskepsis steht, sollte man nicht übersehen, dass die literarische Gestaltung gerade hierbei ein eigenes Gewicht erhält. Der Wechsel in den Modus des dichterischen Sprechens lässt sich als Ausfluss einer erkenntnisskeptischen Haltung verstehen, die im poetischen Ausdruck eine Alternative sucht und die Erkenntnisleistung der Dichtung auf die Probe stellt. In diesem Sinn nimmt der hier vorgelegte Band den Dichter Nietzsche ernst; er nähert sich ihm aus dreifacher Perspektive an: Ein besonderes Augenmerk gilt erstens Nietzsches lyrischer Produktion, die in textnahen Gedichtinterpretationen beispielhaft erschlossen und vorgestellt wird. Ein zweiter Schwerpunkt liegt bei den sprachtheoretischen, ästhetischen und poetologischen Reflexionen, die insbesondere in ihren Aussagen zur Erkenntnis- und Wahrheitsfähigkeit der Dichtung untersucht werden. Schließlich kommt drittens die zeitnahe Rezeption des Dichters Nietzsche zur Sprache, und zwar sowohl in übergreifend-horizontbildender Hinsicht wie auch in der exemplarischen Aneignung durch einzelne Autoren.

15 M 47, KSA 3, 53, 12.

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Katharina Grätz und Sebastian Kaufmann

Der Band beruht im Wesentlichen auf den Ergebnissen des 2. Forums Junger Nietzscheforschung, das als Kooperationsveranstaltung zwischen dem Kolleg Friedrich Nietzsche der Klassik Stiftung Weimar und der Forschungsstelle Nietzsche-Kommentar der Heidelberger Akademie der Wissenschaften unter dem Titel Nietzsche als Dichter vom 23. bis zum 28. März 2015 auf dem Wielandgut Oßmannstedt stattfand. Für ihre große Hilfe bei der Redaktion des Bandes danken wir Armin Thomas Müller und Milan Wenner.

Sebastian Kaufmann

Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches Abstract: Lyric and lyric theory in Nietzsche’s works. The article provides a general overview of Nietzsche’s lyrical work and his reflections on lyric theory. Aspects of the history of editions and the history of receptions are taken into account as well as main issues such as the relation between Nietzsche’s poetry and his philosophical writings, his lyric’s different phases (from the adolescent poetry to the late creative period), forms (song, sentence, dithyramb) and models (e. g. Archilochus, Heine).

1 Nietzsches lyrisches Schaffen: Umfang und Rezeption Im Laufe seines bewussten Lebens brachte Nietzsche nur ein einziges rein lyrisches Werk selbst zur Veröffentlichung: den Gedichtzyklus Idyllen aus Messina, der 1882 im Maiheft von Schmeitzners Internationaler Monatsschrift erschien.1 Die Publikation eines weiteren Gedichtzyklus, der Dionysos-Dithyramben, wurde von Nietzsche zwar seit Herbst 1888 vorbereitet, aufgrund des geistigen Zusammenbruchs im Januar 1889 jedoch nicht mehr selbst zu Ende geführt.2 Das heißt jedoch keinesfalls, dass die lyrische Produktion für Nietzsches Werk insgesamt von zu vernachlässigender Bedeutung wäre. Das Gegenteil ist der Fall: Von frühester Jugend an und bis zuletzt hat Nietzsche – in Phasen unterschiedlicher Intensität – Gedichte und Gedichtentwürfe verfasst, von denen so viele erhalten sind, dass sie einen eigenen Band beträchtlichen Umfangs füllen können.3 Hinzu kommt der bemerkenswerte und auch schon des Öfteren bemerkte Umstand, dass lyrische Werke buchstäblich am Anfang und am Ende von Nietzsches Schaffen stehen:4 Die ersten

1 Internationale Monatsschrift. Zeitschrift für allgemeine und nationale Kultur und deren Literatur, Jg. 1, Heft 5, Chemnitz 1882, S. 269–275. 2 Vgl. den Überblickskommentar zu DD in NK 6/2, 641–660. 3 Zu den Jugendgedichten von 1854–1869 vgl. die Verzeichnisse der Gedichtanfänge und -überschriften in BAW 1, 488–495; BAW 2, 481–485; BAW 3, 485–488; ein Verzeichnis der Gedichte seit 1869 findet sich in KSA 15, 263–271. 4 Vgl. z. B. Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), NietzscheHandbuch. Leben – Werk ‒ Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156, hier S. 150.

DOI 10.1515/9783110474374-002

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Sebastian Kaufmann

erhaltenen Texte sind Gedichte des Schülers, zu den letzten von Nietzsche für den Druck vorbereiteten Werken gehören die Dionysos-Dithyramben. Von Nietzsches beachtlicher lyrischer Produktivität zeugen denn auch zahlreiche (Auswahl-)Ausgaben seiner Gedichte. Die erste wurde unter dem Titel Gedichte und Sprüche von Friedrich Nietzsche bereits zwei Jahre vor dem Tod des umnachteten Philosophen veröffentlicht und erlebte mehrere Auflagen; 1898 erschien sie zuerst mit einem umfänglichen Vorwort der Herausgeberin, seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche, die darin die „dichterische[ ] Entwicklung meines Bruders während eines Zeitraums von dreißig Jahren“ als eine solche beschreibt, die vom „erste[n] Stammeln des poetischen Ausdrucks“ bis zur „höchsten Erhebung des dichterischen Geistes [reicht], die nur noch in Dithyramben redet“.5 Weitere Ausgaben erschienen 19236 und 1944; bei letzterer handelt es sich um eine von Kläre Buchmann herausgegebene „Feldauswahl“, die demonstriert, wie man im NS-Staat versuchte, Nietzsche – zumal als Lyriker – weltanschaulich zu vereinnahmen. Mehrere Neuausgaben folgten,7 so 1977 die Ausgabe von Jost Hermand,8 1994 die von Ralph Kray und Karl Riha,9 1999 eine von Ralph-Rainer Wuthenow10 und 2010 die Reclam-Ausgabe von Mathias Mayer.11 Auch gibt es etliche in verschiedene Sprachen übersetzte Gedichtausgaben. Darüber hinaus ist Nietzsche in zahlreichen Anthologien deutschsprachiger Lyrik vertreten, oft schon im Titel nach dem Muster ‚Gedichte von/bis Nietzsche‘.12 Eine historisch-kritische Gesamtausgabe von Nietzsches Gedichten ist freilich nach wie vor ein Desiderat.13

5 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Vorwort, in: Nietzsche, Friedrich, Gedichte und Sprüche [hrsg. von Elisabeth Förster-Nietzsche], Leipzig 1898, S. IX–XVIII, hier S. IX. 6 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, Leipzig 1923 (Insel-Bücherei Nr. 361, mehrere Auflagen bis 1964). 7 Zur editionsphilologischen Kritik an den Ausgaben von Förster-Nietzsche bis Hermand vgl. Groddeck, Wolfram, „Gedichte und Sprüche“. Überlegungen zur Problematik einer vollständigen, textkritischen Ausgabe von Nietzsches Gedichten, in: Martens, Gunter / Woesler, Winfried (Hrsg.), Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller, Tübingen 1991, S. 169–180, hier S. 169 f. 8 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Jost Hermand, Stuttgart 1977. 9 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Ralph Kray / Karl Riha, Frankfurt/Main / Leipzig 1994. 10 Nietzsche, Friedrich, Sämtliche Gedichte, hrsg. von Ralph-Rainer Wuthenow, Zürich 1999. 11 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Mathias Mayer, Stuttgart 2010. 12 Vgl. etwa Muschg, Walter (Hrsg.), An die Schweiz. Gedichte von Haller bis Nietzsche, Basel 1945; Schickele, René (Hrsg.), Das Vermächtnis. Deutsche Gedichte von Walther von der Vogelweide bis Nietzsche, Freiburg 1948; Stöcker, Julius (Hrsg.), Zuweilen ruft mich eine Stille. Deutsche Gedichte seit Nietzsche, Bonn 1960; Kirsten, Wulf (Hrsg.), „Beständig ist das leicht Verletzliche“. Gedichte in deutscher Sprache von Nietzsche bis Celan, Zürich 2010. 13 Vgl. hierzu Groddeck, „Gedichte und Sprüche“.  

Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches

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Der Vielzahl von (Lese-)Ausgaben von Nietzsches Gedichten und ihrer Aufnahme – mit hervorgehobener Position von Nietzsches Namen als Epochenmarker – in Anthologien bis in die jüngste Vergangenheit korrespondiert schon früh eine teils außerordentliche Wertschätzung seiner lyrischen Produktionen. So schwärmt nicht nur Elisabeth Förster-Nietzsche von der „höchsten Erhebung des dichterischen Geistes“ in den ‚reifen‘ Gedichten ihres Bruders, sondern ganz ähnlich meint ebenfalls Kläre Buchmann im Nachwort zu der von ihr besorgten „Feldauswahl“, Nietzsche sei „einer der größten Lyriker deutscher Sprache“.14 An dieser Ansicht wird auch in der neueren Forschung festgehalten. Breuer etwa attestiert Nietzsche, mit seinen Gedichten „strenge Maßstäbe“ für die moderne Lyrik aufgestellt zu haben, an denen sich lyrische Texte „im 20. Jahrhundert […] messen lassen“15 müssen. Ähnlich enthusiastisch äußern sich Manfred Riedel, nach dessen Einschätzung, Nietzsche der „moderne[n] Lyrik […] den Weg bereitet“16 hat, sowie Theo Meyer, der betont: „Nietzsche ist ein bedeutender Lyriker, ja, er hat eine Reihe von Gedichten geschrieben, die zu den Marksteinen der deutschen Lyrikgeschichte gehören.“17 Selbst dort, wo in neueren Publikationen zu Nietzsches Lyrik mitunter skeptische Töne laut werden, bleibt diese Wertung im Prinzip bestehen. So urteilt beispielsweise zwar Schirnding, dass die „Größe Nietzsches […] nicht in seinem Gesang, sondern in seiner Rede“ liege, und schränkt die Zahl „der vollkommenen Gedichte[ ], die von seiner Hand stammen“ auf „zwölf oder fünfzehn“ ein (ohne dies allerdings weiter zu präzisieren), spricht mit Blick auf diese aber von einem „Hauch von Unsterblichkeit“.18 Und Mathias Mayer räumt zwar ebenfalls in diesem Sinne, wenngleich rhetorisch abgeschwächt durch eine Litotes ein, dass Nietzsche „nicht in allen Fällen […], ungeachtet des stilistischen Glanzes, geschmacklich ganz sicher gewesen wäre“, weist Nietzsche jedoch trotzdem „seinen dauerhaften Platz in der Geschichte der Lyrik“ zu.19

14 Buchmann, Kläre, Nachwort, in: Nietzsche, Friedrich, Gedichte. Feldauswahl, hrsg. von Kläre Buchmann, Stuttgart 1944, S. 90–92, hier S. 90. 15 Breuer, Dieter, Deutsche Metrik und Versgeschichte, München 1981, S. 242. 16 Riedel, Manfred, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, Stuttgart 1998, S. 64. 17 Meyer, Theo, Nietzsche und die Kunst, Tübingen / Basel 1993, S. 118. – Zur Wirkung Nietzsches auf die Lyrik der klassischen Moderne vgl. auch Kray, Ralph / Riha, Karl, Nachwort, in: Nietzsche, Gedichte (1994), S. 141–159, hier S. 146–150. 18 Schirnding, Albert von, „… sie hätte singen / Nicht reden sollen diese neue seele!“ Nietzsche als Lyriker, in: Friedrich, Heinz (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Philosophie als Kunst. Eine Hommage, München 1999, S. 217–223, hier S. 223. 19 Mayer, Mathias, Nachwort, in: Nietzsche, Gedichte (2010), S. 173–186, hier S. 174 u. 186.

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Gleichwohl fällt an solchen einschränkenden Aussagen ein gewisser Vorbehalt zumindest gegenüber einem Teil, wenn nicht gar gegenüber dem Großteil von Nietzsches lyrischem Schaffen auf, der von den erwähnten Versuchen Abstand nimmt, Nietzsche vorbehaltlos zu den bedeutendsten Lyrikern deutscher Sprache zu zählen. Als früher prominenter Vertreter jener kritischeren Wertung kann Thomas Mann gelten, der in seinem Essay Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung von 1947 Nietzsches dichterische bzw. lyrische Begabung bereits ein Stück weit in Abrede stellte. Mann weist dort den von Nietzsche in Ecce Homo für sich erhobenen Anspruch auf eine singuläre ‚dichterische Inspiration‘ mit den Worten zurück: Nietzsche war vor allem ein großer Kritiker und Kultur-Philosoph, ein aus der Schule Schopenhauers kommender Prosaist und Essayist obersten Ranges […]. Ein Dichter mag weniger sein als solch ein Kritiker, aber zu diesem Weniger reichte es nicht, oder doch nur in einzelnen lyrischen Augenblicken, nicht für ein ausgedehntes Werk von kreativer Ursprünglichkeit.20

Mann wendet hier die implizite Einschränkung der philosophischen Bedeutung Nietzsches, die sich oft mit dem Hinweis auf seine literarische Begabung verband,21 ins Gegenteil, indem er sie nur ironisch aufgreift („Ein Dichter mag weniger sein …“) und umgekehrt behauptet, Nietzsche sei kein ‚echter‘ Dichter gewesen, weil er dafür zu sehr Denker war.

2 Ein „verwegener Dichter-Philosoph“ Nietzsche selbst bekennt sich hingegen schon früh zum ‚gemischten‘ Ideal des „P h i l o s o p h e n - K ü n s t l e r s“, dessen Philosophie gleichfalls „ein K u n s t w e r k […] mit ästhetischem Werthe“ sein soll,22 und versteht sich auch später noch als „ein verwegener Dichter-Philosoph“.23 Als ein solcher ist er auch gleich zu Beginn seiner intensiven Rezeption um 1900 wahrgenommen worden. So versieht bereits Joseph Diner seinen 1890 in der ersten Nummer von Otto Brahms Freier Bühne für modernes Leben veröffentlichten Essay zu Nietzsche mit dem programmatischen

20 Mann, Thomas, Nietzsches Philosophie im Lichte unserer Erfahrung, in: Ders., Essays, Frankfurt/Main 1997, Bd. 6, S. 56–92, hier S. 63 f. 21 Vgl. kritisch dazu Heidegger, Martin, Nietzsche. Erster Band, 6., aktualisierte Auflage, Stuttgart 1998, S. 3. 22 NL 1872, 19[39], KSA 7, 431, 12–14. 23 NL 1886, 6[22], KSA 12, 240, 13 f.  



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Titel Friedrich Nietzsche. Ein Dichterphilosoph.24 Dass Nietzsche als Philosoph zugleich auch Lyriker war, begünstigte zweifellos eine derartige Rezeption; Nietzsches Ruhm oder – je nachdem – Ruch als „Dichterphilosoph“ geht aber darüber hinaus und betrifft allgemein die literarische Qualität seiner oft rhetorisch durchkomponierten ‚Aphorismen‘, die zudem häufig ästhetisch-poetologische Themen behandeln, sowie insbesondere die lyrische Prosa der im biblischen Verkündigungston verfassten ‚Erzählung‘ Also sprach Zarathustra. Dabei sind diese Aspekte im Werk Nietzsches keineswegs klar getrennt. Er ist nicht Philosoph und nebenbei auch noch Dichter, sondern beides zugleich. Dieses Ineins von Philosophie und Dichtung zeigt sich nicht zuletzt daran, dass Nietzsche – abgesehen von den Idyllen aus Messina und den projektierten Dionysos-Dithyramben – Gedichte ausschließlich im Kontext seiner ‚philosophischen‘ Werke veröffentlicht oder für die Veröffentlichung vorgesehen hat. Zu nennen sind hier das Epigramm Freunde, es giebt keine Freunde! … aus Menschliches, Allzumenschliches,25 der Zweizeiler Schicksal, ich fo l g e dir! … aus der Morgenröthe,26 das „Vorspiel in deutschen Reimen“, welches unter dem Goethe entlehnten Titel „Scherz, List und Rache.“ die erste Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 einleitet,27 das ‚Motto-Gedicht‘ Der du mit dem Flammenspeere …, das dem Vierten Buch der Fröhlichen Wissenschaft vorangestellt ist28, sowie die Motto-Verse Ich wohne in meinem eigenen Haus … der Neuausgabe von 188729 und die – zum Teil aus den Idyllen aus Messina hervorgegangenen – Lieder des Prinzen Vogelfrei,30 die die zweite Fassung der Fröhlichen Wissenschaft als „Anhang“ abschließen (und ihr damit insgesamt einen lyrischen Rahmen verleihen). Hinzu kommen die in der 1886 veröffentlichten Schrift Jenseits von Gut und Böse enthaltenen Gedichte Ist das noch deutsch? …31 und Aus hohen Bergen, welches den „Nachgesang“ zu Jenseits bildet,32 ferner das aus zwei Gedichten bestehende „Nachspiel“ Unter Freunden zur 1886 erschienenen Neuausgabe von Mensch-

24 Diner, Joseph, Friedrich Nietzsche. Ein Dichterphilosoph, in: Freie Bühne für ein modernes Leben, Jg. 1, Heft 13, Berlin 1890, S. 368–371. – Vgl. auch Oppeln-Bronikowski, Friedrich von, Friedrich Nietzsche als Dichter-Philosoph und Künstler, in: Die Umschau, Jg. 3, Frankfurt/Main 1899, S. 519–523, 541–545 u. 567–571; und Knodt, Karl Ernst, Friedrich Nietzsche – nur Dichter. Eine Studie, in: Deutsche Heimat, Jg. 6, Leipzig 1903, S. 993–1007 u. 1041–1051. 25 MA I 376, KSA 2, 263, 31–34. 26 M 195, KSA 3, 168, 10 f. 27 FW Vorspiel, KSA 3, 353–367. 28 FW [Motto des Vierten Buches], KSA 3, 521, 3–10. 29 FW [Motto der Ausgabe 1887], KSA 3, 343. 30 FW Anhang, KSA 3, 639–651. 31 JGB 256, KSA 5, 204, 17–29. 32 JGB Aus hohen Bergen. Nachgesang, KSA 5, 241–243.  

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liches, Allzumenschliches I33 sowie das bekannte ‚Venedig-Gedicht‘ An der Brücke stand …, das Nietzsche in Ecce homo platziert hat.34 Einen Sonderfall bilden die ‚lyrischen Einlagen‘ des Zarathustra, darunter die Gedichte des „Zauberers“35 und des „Wanderers“,36 die allerdings nur im Privatdruck von Zarathustra IV erschienen und später in die Dionysos-Dithyramben eingegangen sind, und das besonders prominente ‚Mitternachts-Lied‘ Oh Mensch! Gieb Acht! aus Zarathustra III.37 Um einen Sonderfall handelt es sich bei den Zarathustra-Gedichten deshalb, weil im Zarathustra die Grenzen zwischen lyrischer Dichtung und ‚philosophischer‘ Prosa vollends zerfließen und Nietzsche selbst ganze Kapitel als dithyrambische ‚Gesänge‘ („Lieder“) Zarathustras verstanden wissen wollte, mithin als „Poesie“, wie er in Ecce Homo schreibt.38 Groddeck argumentiert vor diesem Hintergrund dafür, den ganzen Zarathustra „als ‚Gedicht‘ in Langversen“ zu verstehen.39 Sieht man einmal von der Sonderfrage nach dem poetischen Status des Zarathustra ab, der in unterschiedlichste Gattungstraditionen eingereiht wird, unter anderem auch in diejenige philosophischer „Lehrgedichte“,40 so wird jedenfalls deutlich, dass die von Nietzsche selbst publizierte Lyrik zum Großteil eingebunden ist in Werkkontexte, in denen sie je spezifische kompositorische Funktionen erfüllt, sei es als ,Motto‘, als „Vorspiel“, „Anhang“, „Nachgesang“ oder ‚Einlage‘ bzw. ‚Zwischenspiel‘. Nimmt man diese Gattungsmischung von Lyrik und (philosophischer) Prosa als konzeptionelle Strategie ernst, erscheint die Veröffentlichung der aus dem Kontext herausgelösten lyrischen Texte in separaten Ausgaben von Nietzsches Gedichten problematisch, wie schon verschiedentlich hervorgehoben wurde.41 Dies gilt nicht nur für den ohnehin schon im Ganzen zwischen den Gattungen changierenden Zarathustra, vielmehr ebenso für die Prosaschriften. Aber worin genau besteht die kompositorische Funktion der darin enthaltenen Gedichte? Im editorischen Nachwort zu den Dionysos-Dithyramben bestimmt Giorgio Colli den „,architektonischen‘ Grund“ der Integration von Lyrik als die Absicht Nietzsches, „innerhalb ausgefeilter Prosaschriften das Spielerische und 33 MA I Unter Freunden. Ein Nachspiel, KSA 2, 365 f. 34 EH Warum ich so klug bin 7, KSA 6, 291, 15–26. Vgl. hierzu auch NK 6/2, 434 f. 35 Za IV Der Zauberer 1, KSA 4, 313, 18–317, 5 u. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 8– 374, 20. 36 Za IV Unter Töchtern der Wüste 2, KSA 4, 380, 26–385, 12. 37 Za III Das andere Tanzlied 3, KSA 4, 285, 20–286, 17. 38 EH Warum ich so gute Bücher schreibe 4, KSA 6, 305, 5. 39 Groddeck, „Gedichte und Sprüche“, S. 171. 40 Wuthenow, Ralph-Rainer, Nachwort: Narr und Dichter – ist das alles?, in: Nietzsche, Sämtliche Gedichte, S. 225–244, hier S. 225. 41 Z. B. von Ziemann, Die Gedichte, S. 150; und Mayer, Nachwort, S. 175.  



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Leichte hervorzuheben oder […] auf gefällige Weise eine gewisse Spannung zu lockern“.42 Zumindest für jenes Prosawerk, das die meisten lyrischen Texte enthält, nämlich für die Fröhliche Wissenschaft, trifft diese Beschreibung durchaus etwas Richtiges. In Bezug auf den Titel der ganzen Schrift erläutert Nietzsche selbst in der Vorrede, die der Neuausgabe von 1887 beigegeben wurde, die Funktion der „Handvoll Lieder, welche dem Buche dies Mal beigegeben sind“ – gemeint sind die Lieder des Prinzen Vogelfrei –, „als etwas Thorheit, Ausgelassenheit, ‚fröhliche Wissenschaft‘“.43 Und schon in der Erstausgabe heißt es im letzten Abschnitt des Zweiten Buchs, das zu einem wesentlichen Teil der Problematik der Kunst gewidmet ist, unter der Überschrift „U n s e r e l e t z t e D a n k b a r k e i t g e g e n d i e K u n s t “: wir müssen unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen […] sind, so thut uns Nichts so gut als die S c h e l m e n k a p p e : wir brauchen sie vor uns selber – wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst,44

womit Nietzsche hier vor allem seine eigene lyrische Dichtung vor Augen hat. Indes geht das Gemeinte weit über eine bloß stilistische Auflockerung oder Entspannung hinaus, bekennt Nietzsche sich hiermit doch zur Notwendigkeit des ästhetischen Scheins als Gegenwicht einer auf schonungslose Desillusionierung ausgerichteten ‚strengen Wissenschaft‘, die ohne jenes Korrektiv selbstzerstörerische Konsequenzen nach sich zöge. Zugleich handelt es sich bei dem Verhältnis von lyrischer Poesie und philosophischer Prosa für Nietzsche gleichwohl auch um eine Stilfrage. So formuliert Nietzsche in Abschnitt 92 der Fröhlichen Wissenschaft unter der Überschrift „P r o s a u n d P o e s i e “ folgende Beobachtung, die – obzwar vordergründig auf andere Autoren wie Goethe, Leopardi, Mérimée, Emerson und Landor gemünzt – letztlich selbstreflexiv gemeint ist: „Man beachte doch, dass die grossen Meister der Prosa fast immer auch Dichter gewesen sind, sei es öffentlich, oder auch nur im Geheimen und für das ‚Kämmerlein‘; und fürwahr, man schreibt nur i m A n g e s i c h t e d e r P o e s i e gute Prosa!“45 Schon durch die Gegenüberstellung von Prosa und Poesie bzw. Dichtung wird deutlich, dass Nietzsche hier im bis zum 19. Jahrhundert geläufigen Sinn unter Poesie/Dichtung nicht, wie erst später üblich, die ‚schöne Literatur‘ in allen drei Gattungen (Epik, Dramatik, Lyrik), sondern noch 42 43 44 45

KSA 6, 455. FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 20–22. FW 107, KSA 3, 464,32–465, 6. FW 92, KSA 3, 447, 19–23.

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ausschließlich die – lange als die höchste geltende – poetische Gattung der Lyrik versteht.46 Die These lautet also, dass nur Autoren, die sich auch als Lyriker betätigen, eine ‚geschliffene‘ Prosa zu schreiben verstehen. Ein solches an der Lyrik orientiertes Stilideal, das Nietzsche hier für seine wie für alle Prosa aufstellt, impliziert mithin ebenfalls auf der Ebene der sprachlichen Gestaltung – neben derjenigen der inhaltlichen Komplementarität von literarischem Scherz und philosophischem Ernst – eine notwendige Zusammengehörigkeit, ja wechselseitige Durchdringung von Dichten und Denken, auch wenn diese andererseits in einem spezifischen Spannungsverhältnis stehen: Nietzsche spricht von einem „ununterbrochene[n] artige[n] Krieg“ zwischen beiden.47

3 ‚Kammer-Poesie‘. Die Bedeutung des lyrischen Nachlasses Dass in Abschnitt 92 der Fröhlichen Wissenschaft die „Meister der Prosa“ in solche eingeteilt werden, die ihre habituelle Neigung zu lyrischer Produktion entweder „öffentlich“ oder aber „im Geheimen“ kultivieren, ist ebenfalls mit Blick auf Nietzsches eigene Lyrik bemerkenswert, gehört er selbst doch in beide Gruppen – allerdings noch etwas mehr in die der ‚Kammer-Poeten‘. Denn neben den zwei selbständigen Gedichtzyklen (Idyllen aus Messina und Dionysos-Dithyramben) sowie den zahlreichen im Kontext der philosophischen Hauptwerke veröffentlichten Gedichten gibt es noch eine dritte Gruppe von lyrischen Texten Nietzsches, die zahlenmäßig sogar den deutlich größeren Anteil seiner Lyrik ausmacht: die in Briefen, vor allem aber im sonstigen Nachlass enthaltenen Gedichte, Gedichtentwürfe und verschiedenen Gedichtfassungen, die bis ins Jahr 1854 zurückreichen. Bereits 1858, mit 14 Jahren also, stellt Nietzsche in der autobiographischen Skizze Aus meinem Leben, wo er nicht weniger als drei „Perioden“ seiner bisherigen Lyrik unterscheidet, ein 46 Titel umfassendes „Verzeichniß meiner Gedichte“ seit 1855 zusammen,48 fügt jedoch gleich hinzu, dass es sich dabei „nicht [um] die einzigen“ handle, sondern bloß um eine „Auswahl“, die neuere Produktionen enthalte, „aber auch von den älteren mehrere, deren ich mich wohl noch erinnere, sie jedoch nicht mehr besitze“.49 Möglicherweise hatte

46 Zu dieser poetologischen Tradition vgl. Kaufmann, Sebastian, „Schöpft des Dichters reine Hand …“ Studien zu Goethes poetologischer Lyrik, Heidelberg 2011, S. 476–478. 47 FW 92, KSA 3, 447, 23 f. 48 NL 1858, 4[77], KGW I/1, 307, 31. 49 NL 1858, 4[77], KGW I/1, 309, 18–20.  

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der jugendliche Dichter bereits einige seiner früheren Werke selbst vernichtet. Einen ausdrücklichen Hinweis auf ein (weiteres?) Autodafé gibt es später (1867), als der 23-Jährige, der im Oktober 1865 zum Studium nach Leipzig gekommen war, berichtet: „ich pflegte die Zeit der Selbsterkenntnis von da an bei einem Jünglinge zu datieren, wo er seine Dichtungen in den Ofen steckt, und habe es selbst dieser meiner Anschauung gemäß in Leipzig gemacht. Friede auch dieser Asche!“50 Viele von Nietzsches Jugendgedichten sind demnach verloren, gleichwohl liegen aus der Zeit bis 1869 noch zahlreiche Gedichte vor: Anhand der Verzeichnisse der Gedichtanfänge in BAW 1–3 ergibt sich eine Zahl von 263 „Dichtungen“, allerdings sind darunter auch Übersetzungen und versdramatische Entwürfe. In KGW I/1–4, wo es keine separaten Verzeichnisse der Gedichte gibt, lassen sich insgesamt 293 zählen; die Differenz resultiert hauptsächlich aus anders gezogenen Textgrenzen. Bei aller Vorsicht, mit der diese Zahlen also zu genießen sind, wird aus ihnen doch in jedem Fall die erstaunliche Produktivität des jugendlichen Lyrikers Nietzsche ersichtlich. Diese lyrische Produktivität brach auch später nicht ab, obzwar in den 1870er Jahren, die dafür mehr der lyriktheoretischen Reflexion gewidmet waren, deutlich weniger Gedichte entstanden als in der Jugendzeit und dann später wieder in den 80er Jahren. Was Nietzsche – selbständig oder im Kontext seiner Prosaschriften – publizierte, bildet jedenfalls lediglich die Spitze des Eisbergs. Um einen ungefähren Eindruck vom Größenverhältnis zwischen der Zahl der veröffentlichten und der nachgelassenen Gedichte Nietzsches zu vermitteln, sei nur darauf verwiesen, dass das schon erwähnte Verzeichnis seiner lyrischen Texte seit 1869 in KSA 15, 263–271 insgesamt 427 verschiedene Gedichte bzw. Gedichtentwürfe auflistet. Zwar befinden sich unter den zahlreichen Nachlassgedichten auch solche, die als Varianten oder Vorstufen zu einigen der veröffentlichten Gedichte zu bezeichnen sind, wobei in manchen Fällen gleich eine ganze Reihe von (Vor-)Fassungen vorliegt: beispielsweise bei dem bekannten Kolumbus-Gedichts Nach neuen Meeren aus den Liedern des Prinzen Vogelfrei,51 das ursprünglich Columbus novus betitelt war52 und noch in weiteren Zwischen-Versionen erhalten ist, oder bei dem ebenfalls im „Anhang“ zur Zweitausgabe der Fröhlichen Wissenschaft erschienenen ‚Zarathustra-Gedicht‘ Sils-Maria,53 das zuerst Portofino hieß.54 Obwohl Nietzsche also in seinem lyrischen Schaffen – ebenso wie mit seinen philosophischen

50 NL 1867/68, 60[1], KGW I/4, 516, 28–31. 51 Vgl. FW Anhang, KSA 3, 649, 1–9. Vgl. hierzu den Beitrag von Milan Wenner im vorliegenden Band. 52 Vgl. NL 1882, 1[101], KSA 10, 34, 3–11. 53 Vgl. FW Anhang, KSA 3, 649, 10–16. 54 Vgl. NL 1882, 3[3], KSA 10, 107, 18–108, 2.

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Schriften – nicht selten dem Prinzip des work in progress bzw. des patchwork folgte und mithin etliche Gedichte permanent um- und neugestaltete, enthält das Gedichtverzeichnis in KSA 15 doch einen Großteil eigenständiger lyrischer Texte bzw. Textentwürfe. Besonders reichhaltig sind solche in den Jahren 1882 (dem Entstehungsjahr der Idyllen und der Erstausgabe der Fröhlichen Wissenschaft), 1884 (nach der Veröffentlichung von Zarathustra III; im Herbst dieses Jahres schreibt Nietzsche sein bis heute prominentestes Gedicht Der Freigeist / Die Krähen schrei’n …55) und 1888 (der Zeit der Druckvorbereitung der Dionysos-Dithyramben) verfasst worden. Darunter finden sich auch Entwürfe zu weiteren umfänglichen Gedichtzyklen wie etwa einem „Lieder und Sinnsprüche“ enthaltenden „NARREN-BUCH“,56 dessen Titel auf die für den mittleren und späten Nietzsche – auf je verschiedene Weise – charakteristische Verbindung von Narr und Dichter verweist.

4 „Nur Narr! Nur Dichter!“ Spannungsverhältnisse zwischen Poesie und Philosophie Dass Nietzsche den deutlich überwiegenden Teil seiner Gedichte zurückhielt bzw. über die Projektierung von lyrischen Großzyklen kaum hinausgelangte, mag auch mit der recht ambivalenten Selbsteinschätzung seines lyrischen Talents zusammenhängen. Diese Ambivalenz zieht sich durch seine gesamte Schaffenszeit hindurch. Anfang der 1870er Jahre sah Nietzsche für sich noch eine Alternative zwischen der begonnenen Philosophen- und einer möglichen Dichterexistenz, wobei er sich noch keineswegs sicher war, was von beidem aus ihm werden würde. Entsprechend schreibt er etwa am 29. März 1871 an den Freund Erwin Rohde: „So lebe ich mich allmählich in mein Philosophenthum hinein und glaube bereits an mich; ja wenn ich noch zum Dichter werden sollte, so bin ich selbst hierauf gefaßt. Einen Kompaß der Erkenntniß, wozu ich bestimmt sei, besitze ich ganz und gar nicht“.57 Bereits anderthalb Jahre später scheint Nietzsche jedoch gemeint zu haben, einen solchen „Kompaß“ endlich zu besitzen. So erklärt er in einem Brief vom November 1872 an Hugo von Senger, „daß ich weder Musiker noch Dichter bin“ und verweist stattdessen entschieden auf „meine Eigenschaft als Philosoph“.58 Tatsächlich wendet sich Nietzsche im folgenden Jahrzehnt – mit Ausnahme etwa des lyrisch ertragreichen Sommers 1877, in dem die (noch titello55 56 57 58

Vgl. NL 1884, 28[64], KSA 11, 329, 1–330, 9. NL 1882, 20[1], KSA 9, 680, 1 f. Vgl. hierzu Groddeck, „Gedichte und Sprüche“, S. 175 f. KSB 3, Nr. 130, S. 190, Z. 45–49. KSB 4, Nr. 273, S. 87, Z. 7–11.  



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sen) Erstfassungen der bekannten Rosenlauibad-Gedichte Im deutschen November59 und Am Gletscher60 entstehen – verstärkt der philosophischen Schriftstellerei zu und beschränkt seine poetische Produktion auf einige Widmungsgedichte und Gelegenheitsverse. Nahezu schlagartig ändert sich dies indes wieder ab Ende 1881/Anfang 1882; im unmittelbaren Vorfeld bzw. Umkreis der Arbeit an den Idyllen aus Messina und der Fröhlichen Wissenschaft entstehen in relativ kurzer Zeitspanne (bis Sommer 1882) außerordentlich viele Gedichte und Gedichtentwürfe, die nur zum Teil in jene beiden Werke einfließen. Schon in dieser Zeit bezeichnet sich Nietzsche in Briefen an seine Familie und Freunde erneut explizit, wenn auch bisweilen nicht ohne Selbstironie als „Dichter“. Dasselbe gilt für sein Selbstverständnis als Autor des Zarathustra, dessen erste Konzeption ja ebenfalls in jene Schaffensphase zurückreicht. Nietzsche selbst betrachtete den Zarathustra – keineswegs nur im Blick auf die lyrischen ‚Einlagen‘ – als ein großes ‚Gedicht‘, wie beispielsweise aus dem Brief an Erwin Rohde vom 22. Februar 1884 hervorgeht, in dem im Zuge einer Charakterisierung des poetischen Zarathustra-Stils uneingeschränkter Anspruch auf den Titel „Dichter“ erhoben wird: Mein Stil ist ein T a n z ; ein Spiel der Symmetrien aller Art und ein Überspringen und Verspotten dieser Symmetrien. Das geht bis in die Wahl der Vokale. […] Übrigens bin ich D i c h t e r bis zu jeder Grenze dieses Begriffs geblieben, ob ich mich schon tüchtig mit dem Gegentheil aller Dichterei t y r a n n i s i r t habe.61

Kommt in dieser Äußerung, welche die Philosophie zur Gegenspielerin der Dichtung erklärt und die Beschäftigung mit jener geradezu als masochistische Selbstquälerei erscheinen lässt, die bereits in Abschnitt 92 der Fröhlichen Wissenschaft zur Sprache gebrachte fruchtbare Feindschaft zwischen philosophischer Prosa und lyrischer Poesie in einer neuen Variante abermals zum Ausdruck, so neigt Nietzsche wenig später gar dazu, im Rückblick die Lyrik als das bessere, ihm angemessenere Ausdrucksmedium zu bevorzugen. Bekannt sind die Worte, mit denen er gegen Ende seines Versuchs einer Selbstkritik in der Neuausgabe der Geburt der Tragödie 1886 bedauert, in seiner Erstlingsschrift nicht als ‚Sänger‘ aufgetreten zu sein: „Sie hätte s i n g e n sollen, diese ‚neue Seele‘ – und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt!“62

59 60 61 62

NL 1877, 22 [93], KSA 8, 395, 16–396, 10. NL 1877, 22[94], KSA 8, 396, 11–397, 21. KSB 6, Nr. 490, S. 479 f. GT Versuch einer Selbstkritik 3, KSA 1, 15, 9–12.  

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Diese Formulierung, die Stefan George nicht von ungefähr am Schluss seines Nietzsche-Gedichts aus dem Jahr 1900 (Erstdruck 1901) in leicht abgewandelter Form zitiert, scheint zu zeigen, dass für Nietzsche schließlich die Poesie als Siegerin aus dem „Krieg“ mit der Prosa hervorgegangen ist, er sich in der letzten Phase seines Schaffens mehr zur Lyrik und weniger zur Philosophie hingezogen fühlte. Doch dies griffe zu kurz. Vielmehr bleibt die Ambivalenz in Nietzsches Selbsteinschätzung als Lyriker bis zum Schluss bestehen. Dass eines der letzten von ihm selbst für den Druck vorbereiteten Werke die Dionysos-Dithyramben waren, spricht nicht etwa dagegen, sondern durchaus dafür. Denn paradoxerweise enthält die poetologische Selbstreflexion, die gleich für das erste Gedicht mit dem programmatischen Titel Nur Narr! Nur Dichter! konstitutiv ist, eine merkliche Abwertung der Dichtung. Anders als noch in der Fröhlichen Wissenschaft und im Umkreis dieser Schrift erscheint das dichterische Narrentum hier nicht mehr positiv als nötiges Gegengewicht der philosophischen ‚Wissenschaft‘; stattdessen versperrt es den Zugang zu einer „Wahrheit“, als deren „Freier“ sich das lyrische Ich doch verstehen will.63 Dagegen baue der Dichter lediglich „lügnerische[ ] Wortbrücken“64 und sei bestenfalls zu der Einsicht fähig, dass er „v e r b a n n t s e i / v o n a l l e r W a h r h e i t !“65 Dass bereits im Gedichttitel – und dann auch mehrfach im Gedicht selbst – epanaleptisch exponierte „Nur“ hat demnach eine degradierende Funktion: Der dem bunten Schein verhaftete Dichter bzw. Lyriker wird nunmehr, wie ähnlich schon im Zarathustra-Kapitel „Von den Dichtern“, unter den wahrheitssuchenden Denker herabgesetzt. Zu einer gewissen Spannung zwischen Gehalt und Form kommt es dabei freilich, insofern diese – den alten platonischen Vorwurf variierende – Dichtungskritik ihrerseits im Medium der Lyrik vorgetragen wird. Doch beschränkt sich Nietzsches Dichtungs- bzw. Lyriktheorie keineswegs auf selbstbezügliche Aussagen bzw. auf die immanente Poetologie seiner Gedichte, sondern greift innerhalb seines Werks von früh an viel genereller Raum. Gerade auch zu seiner Philosophie gehört wesentlich die ästhetisch-poetologische Reflexion, insbesondere auf die lyrische Gattung. Dabei zeichnet sich, neben manchen konzeptionellen Verschiebungen, eine bemerkenswerte Kontinuität ab, die das Frühwerk mit dem Spätwerk verbindet: die (traditionsreiche) Assoziation von Lyrik und Musik,66 die wahrscheinlich auch damit zusammenhängt, dass der junge Nietzsche viele lyrische Dichtungen zuerst über Vertonungen von Komponisten wie Franz Schubert oder Robert Schumann kennenlernte. Den Leit63 64 65 66

DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 378, 12. DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 378, 7. DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 380, 19 f. Vgl. dazu u. a. Riedel, Freilichtgedanken, S. 16–20.  



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gedanken von der engen Verbindung zwischen beiden Künsten entwickelte Nietzsche theoretisch jedenfalls bereits im Rahmen seiner philologischen Arbeit während der Zeit der Basler Professur. In seiner zum ersten Mal im Sommer 1869 und bis zum Winter 1874/75 mehrfach gehaltenen Vorlesung Die griechischen Lyriker hebt Nietzsche in diesem Sinne die ursprüngliche Einheit von Lyrik und Musik in der Antike hervor und spricht von der Tonkunst als der „natürlichen Stütze“67 der griechischen Lieddichtung, was in der modernen Lyrik leider nicht mehr der Fall sei. In den Kapiteln 5 und 6 der Geburt der Tragödie führt er diese These anhand des hier zum ‚Urbild‘ des Lyrikers stilisierten Archilochos (7. Jh. v. Chr.), der auch schon in der Vorlesung behandelt wurde, weiter aus. Archilochos tritt dabei als der erste „dionysisch-apollinische[ ] Genius“68 auf, der somit die von Nietzsche behauptete Synthese des Dionysischen und Apollinischen in der attischen Tragödie auf dem Gebiet der Lyrik antizipiert. Zugleich soll Archilochos, der primär rauschhaft-musikalischer, also dionysischer Genius – und erst an zweiter Stelle auch traumhaft-bildnerischer, also apollinischer Genius – sei, „das wichtigste Phänomen der ganzen antiken Lyrik“ repräsentieren, nämlich die „als natürlich geltende Vereinigung, ja Identität d e s L y r i k e r s mit d e m M u s i k e r “ – und damit ebenfalls „den Lyriker“ schlechthin.69 Über „den Lyriker“, wie ihn Archilochos idealtypisch verkörpere, hält Nietzsche fest: Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik […]; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem gleichnissartigen Traumbilde, unter der apollinischen Traumeinwirkung sichtbar. […] Die dionysisch-musikalische Verzauberung […] sprüht jetzt gleichsam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heissen.70

Aufgrund dieser primären Einheit des Lyrikers mit dem Ur-Einen weist Nietzsche die auf Hegel zurückgehende Auffassung, in der Lyrik äußere sich die Subjektivität des Dichters, scharf zurück. Das ‚lyrische Ich‘ sei kein konkretes Subjekt, sondern vielmehr die „ewige, im Grunde der Dinge ruhende Ichheit“,71 der „Weltgenius“,72 den Nietzsche im Anschluss an Schopenhauers Ästhetik auch als

67 68 69 70 71 72

KGW II/2, 107. GT 5, KSA 1, 42, 15 f. GT 5, KSA 1, 43, 27–33. GT 5, KSA 1, 43, 33–44, 26. GT 5, KSA 1, 45, 12. GT 5, KSA 1, 45, 26.  

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„reines ungetrübtes Sonnenauge“ bezeichnet, das „völlig losgelöst von der Gier des Willens“ ist.73 Im Zusammenhang mit dem Theorem von der Geburt der Lyrik aus dem Geist der Musik setzt der frühe Nietzsche die Lyrik überhaupt mit dem Volkslied gleich, da die „Melodie“ gegenüber dem Text als „das bei weitem wichtigere und nothwendigere in der naiven Schätzung des Volkes“74 erscheine. Die Texte seien dagegen, wie bezeichnenderweise am romantischen Beispiel von Achim von Arnims und Clemens Brentanos Sammlung Des Knaben Wunderhorn (1805–1808) dargelegt wird, nur die „Bilderfunken“, welche die Melodie um sich „sprüht“.75 Insofern gilt Archilochos für Nietzsche nicht nur als Begründer der Lyrik, sondern in eins damit als Begründer des Volkslieds: In der Dichtung des Volksliedes sehen wir also die Sprache auf das Stärkste angespannt, d i e M u s i k n a c h z u a h m e n : deshalb beginnt mit Archilochus eine neue Welt der Poesie, die der homerischen in ihrem tiefsten Grunde widerspricht. Hiermit haben wir das einzig möglich Verhältniss zwischen Poesie und Musik, Wort und Ton bezeichnet: das Wort, das Bild, der Begriff sucht einen der Musik analogen Ausdruck und erleidet jetzt die Gewalt der Musik an sich.76

Diese auf der Assoziation, ja Identifikation von Lyrik und Musik basierende Fokussierung auf das – vermeintliche – Volkslied, zeigt sich auch in Nietzsches eigener früher Lyrik, die zu einem großen Teil den sogenannten Volkston ungebrochen imitiert (parodistische Adaptionen finden sich erst später, so auch in den Idyllen aus Messina). Obgleich Nietzsche seine willensmetaphysisch grundierte Poetologie des Volkslieds recht bald aufgab, hielt er doch fortan an seiner Grundthese einer engen Verbindung von Lyrik und Musik fest; noch die späte Hinwendung zur Praxis dithyrambischen Dichtens in den Dionysos-Dithyramben ist in diesem Kontext zu sehen, auch wenn es sicherlich zu weit geht wie Alexander Nebrig zu sagen, Nietzsche ziehe damit die dichtungspraktische „Konsequenz aus der in Die Geburt der Tragödie formulierten Dichtungstheorie“.77 Jedenfalls bleibt für Nietzsche weit über Die Geburt der Tragödie hinaus die Ansicht leitend, dass die poetische Gattung der Musik engverwandt ist. Zwar formuliert er nirgends mehr

73 GT 6, KSA 1, 51, 16 f. 74 GT 6, KSA 1, 48, 30 f. 75 GT 6, KSA 1, 49, 6 f. 76 GT 6, KSA 1, 49, 14–21. 77 Nebrig, Alexander, Nietzsches Dichterbild und die Wiederbelebung des Dithyrambus durch die Philologie, in: Dehrmann, Mark-Georg / Nebrig, Alexander (Hrsg.), Poeta philologus. Eine Schwellenfigur im 19. Jahrhundert, Bern 2010, S. 219–242, hier S. 238.  





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eine zusammenhängende, ausführlichere Lyriktheorie, sondern äußert sich nur sporadisch zu lyriktheoretischen Fragen. Gleichwohl kommt er immer wieder, allerdings unter veränderten Vorzeichen, auf den Aspekt der Musikalität zurück, etwa in Abschnitt 84 der Fröhlichen Wissenschaft, der unter der Überschrift „V o m U r s p r u n g e d e r P o e s i e “ auf die bezwingende Wirkung von „Rhythmus“78, „Tact[ ]“79 und „Melos“80 abhebt, oder in der Götzen-Dämmerung, wo es heißt: „Der Lyriker blieb am längsten mit dem Musiker geeint“.81 Selbst im Hinblick auf die Lyrik Heines, der beim späten Nietzsche die (freilich gewandelte) VorbildRolle einnimmt, die beim frühen der ‚Urlyriker‘ Archilochos innehatte, lobt er in Ecce Homo nicht nur und nicht zuerst „jene göttliche Bosheit, ohne die ich mir das Vollkommne nicht zu denken vermag“, sondern zuvörderst die unvergleichliche Musikalität: „Den höchsten Begriff vom Lyriker hat mir H e i n r i c h H e i n e gegeben. Ich suche umsonst in allen Reichen der Jahrtausende nach einer gleich süssen und leidenschaftlichen Musik.“82 Wie weit dabei die Identifikation Nietzsches mit dem musikalischen Lyriker Heine reicht, verrät die anschließende Prophezeiung: „Man wird einmal sagen, dass Heine und ich bei weitem die ersten [d. h. erstrangigen] Artisten der deutschen Sprache gewesen sind“.83  

5 Lieder, Sprüche, Dithyramben. Zum Formenspektrum von Nietzsches Lyrik Musikalität, Boshaftigkeit, Sprachartistik – mit dieser kategorialen Trias charakterisiert Nietzsche mithin nicht nur Heine, sondern genauso sehr sich selbst, auch und gerade als Lyriker. In gewisser Weise entspricht dieses dreidimensionale Lyrik- bzw. Selbstverständnis den drei Gedichtformen, in denen sich der Lyriker Nietzsche vor allem hervorgetan hat: „Lied, Spruch und Hymnus“.84 Dabei kann man mit aller gebotenen Vorsicht gegenüber vorschnellen Generalisierungen von einer Entwicklung seiner Lyrik sprechen, die mit einem entsprechenden Wandel dieser drei Formen einhergeht:85 Während die Jugendlyrik Ende der 1850er, An-

78 79 80 81 82 83 84 85

FW 84, KSA 3, 440, 22. FW 84, KSA 3, 440, 25. FW 84, KSA 3, 441, 13. GD Streifzüge eines Unzeitgemäßen 11, KSA 6, 118, 23 f. EH Warum ich so klug bin 4, KSA 6, 286, 14–16. EH Warum ich so klug bin 4, KSA 6, 286, 21–23. Meyer, Theo, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991, S. 386. Vgl. hierzu bereits Peter Pütz, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1967, 51–56.  

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fang der 60er Jahre zum großen Teil noch recht konventionell, ja epigonal – abgesehen von wenigen originelleren Texten wie dem 1864 entstandenen Gedicht Dem unbekannten Gott / Noch einmal eh ich weiter ziehe …86 – den ‚volkstümlichen‘ Ton früher Goethe’scher und vor allem romantischer Lieddichtung à la Eichendorff oder Lenau nachahmt, wendet sich der ‚mittlere‘ Nietzsche verstärkt der spöttischzugespitzten Spruchdichtung zu, allerdings ohne die Lieddichtung aufzugeben. Doch letztere entfernt sich merklich von der Imitation romantischer Stimmungslyrik und weist nunmehr auch (selbst)ironische, satirische und parodistische Merkmale auf. Parallel zu den oftmals bissigen Sinnsprüchen des „Vorspiels“ zur Fröhlichen Wissenschaft, die Nietzsche bald als „weise Reime in altdeutscher Manier“,87 bald als „Epigramme[ ] in V e r s e n “88 bezeichnet, entstehen zahlreiche Texte, die Nietzsche selbst als „Lieder“ klassifizierte, darunter im Frühjahr 1882 der weitgehend liedhafte Zyklus Idyllen aus Messina. Das Nebeneinander von ‚musikalischen‘ Liedern und witzig-‚boshaften‘ Sinnsprüchen reflektiert ein viel-, meist aber unvollständig zitiertes poetologisches Gedicht aus dieser Zeit auf ironische Weise unter dem programmatischen Titel Lieder und Sinnsprüche:89 Takt als Anfang, Reim als Endung und als Seele stets Musik: solch ein göttliches Gequiek nennt man Lied. Mit kürzrer Wendung, Lied heißt: „Worte als Musik“. Sinnspruch hat ein neu Gebiet: er kann spotten, schwärmen, springen, niemals kann der Sinnspruch singen; Sinnspruch heißt: „Sinn ohne Lied“. – Darf ich euch von Beidem bringen?

Mit diesem Gedicht, das seinerseits schon lied- und sinnspruchhafte Elemente vereinigt, charakterisiert Nietzsche in der rhetorischen Frageform einer Leseransprache die beiden Hauptgebiete seiner damaligen Lyrik und bringt deren Zusammenhang gemäß seinem dichterischen Selbstverständnis pointiert zum Ausdruck. Zeigt sich hieran bereits, dass trotz der ausgestellten Gegensätzlichkeit beider Dichtarten, des musikalischen Liedes und des boshaft-spöttischen Sinn-

86 Vgl. NL 1864, 17[14], KGW I/3, 391. Vgl. hierzu den Beitrag zur Jugendlyrik von Armin Thomas Müller im vorliegenden Band. 87 Postkarte an Franziska und Elisabeth Nietzsche, 01. 04. 1882, KSB 6, Nr. 219, S. 188, Z. 3 f. 88 Postkarte an Ernst Schmeitzner, 08. 05. 1882, KSB 6, Nr. 224, S. 191, Z. 13 f. 89 NL 1882,19[13], KSA 9, 679, 1–11.  



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spruchs, sehr wohl Mischformen möglich und von Nietzsche auch durchaus intendiert sind, so gilt dies nicht minder für seine späteren freirhythmischen Hymnen, in denen der Aspekt der Sprachartistik im Vordergrund steht wie in lyrischen Texten aus dem Zarathustra und vollends in den Dionysos-Dithyramben sowie nachgelassenen Versen der späten 1880er Jahre. In Nietzsches Werk sind generell Überschneidungen zwischen liedhafter, spruchhafter und hymnischer Lyrik möglich, so dass etwa auch hymnische bzw. ‚dithyrambische‘ Gedichte, wie sie vermehrt in der letzten Schaffensphase entstehen, als – wenngleich kaum sangbare – „Lieder“ firmieren und bisweilen ebenfalls sentenziös-prägnante Formulierungen nach der Art geschliffener Sinnsprüche enthalten.90 Umgekehrt weist auch Nietzsches liedhafte Lyrik bisweilen nicht nur sinnspruchartige, sondern genauso sehr hymnische Elemente auf. Dies gilt nicht zuletzt für die Idyllen aus Messina, etwa für das Gedicht Vogel Albatross, in dem Nietzsche eine pathosgeladene Erhebungsmetaphorik entfaltet, deren virtuose sprachliche Gestaltung in Ansätzen bereits auf die Dionysos-Dithyramben vorausweist.91 Letztlich beschränkt sich diese Neigung zum Gattungs- oder Formensynkretismus aber keineswegs auf Nietzsches lyrisches Schaffen; vielmehr betrifft sie, wie bereits angedeutet, grundsätzlich das Verhältnis zwischen Literatur bzw. Lyrik und Philosophie, die in seinem Gesamtwerk in enger Wechselwirkung stehen. Letztere reicht über die rahmende oder auflockernde Einlagerung von Gedichten in die philosophischen Schriften weit hinaus; so wie Nietzsches philosophische Prosa auf weiten Strecken literarisch („im Angesicht der Poesie“) verfasst ist, so erweist sich seine ‚reife‘ Lyrik häufig als philosophische Dichtung. Obgleich aufgrund des ästhetischen Eigenwerts der Gedichte nicht einfach von versifizierter Philosophie gesprochen werden kann, ergeben sich doch zahlreiche inhaltliche Verbindungen zwischen lyrischer Rede und philosophischer Reflexion. Insofern ist Theo Meyer grosso modo zuzustimmen, wenn er festhält: „Nietzsches Lyrik ist philosophische Lyrik bzw. lyrische Philosophie.“92 Über die gedichtimmanente, metapoetische Verhandlung der Beziehung zwischen Dichtung und Philosophie unter dem Gesichtspunkt von Lüge/Schein vs. Wahrheit hinaus schließt dies etliche andere, nicht-ästhetische Aspekte von Nietzsches Philosophie mit ein, etwa das Konzept des ‚freien Geistes‘, die Religions- und Kirchenkritik, das Verhältnis der Geschlechter und vieles mehr. Für die Interpretation von Nietzsches Lyrik folgt daraus, dass diese thematischen Korrespondenzen zwischen den Gedichten und der Philosophie Nietzsches jeweils zu berücksichtigen sind. 90 Vgl. hierzu bereits Bertram, Ernst, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, 8., aus dem Nachlaß ergänzte Auflage mit einem Nachwort von Hartmut Buchner, Bonn 1965, S. 232–236. 91 Vgl. den Stellenkommentar zu IM Vogel Albatross, KSA 3, 341, 23 in NK 3/1, 536. 92 Meyer, Nietzsche, S. 402.

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Nietzsches Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne Abstract: Nietzsche’s adolescent poetry based on his cycle of poems In der Ferne. Although his adolescent poetry forms a main part of Nietzsche’s literary remains from the period between 1852 and 1864, it has been given little attention in research so far. The article first provides general information about the publication history and the style and themes of the poems, which mostly confine to canonical German lyric around 1850 (mainly Classicism and Romanticism). Pointing to the later work as well, emphasis is then laid on the thematic focus of Nietzsche’s adolescent poetry being constituted by the motifs of loneliness and homelessness. Finally, the general observations are specified by analysing the cycle of poems In der Ferne from 1860 which is discussed for the first time in detail here.

1 Hinführung Nietzsches lyrische Juvenilia sind nicht nur kulturgeschichtlich von Interesse, weil sie einen Großteil des umfangreichen frühen Nachlasses einer bedeutenden Persönlichkeit des 19. Jahrhunderts darstellen, sondern auch, weil sie – ungeachtet ihrer wiederholt bemängelten künstlerischen Qualität1 – Einblicke in Nietz-

1 Für Johannes Klein verrät „unter den Jugendgedichten […] nur e i n e s und gerade das letzte eine besondere Begabung“ (Klein, Johannes, Die Dichtung Nietzsches, München 1936, S. 38; gemeint ist das Gedicht Noch einmal eh ich weiter ziehe …, NL 1864, 17[14], KGW I/3, 391). Theo Meyer sieht sie „angefüllt mit sprachlichen Klischees, stereotypen Bildern und floskelhaften Wendungen“; ihnen fehle „künstlerische Originalität und Qualität“, kurz: sie seien „schablonierte Gefühlspoesie“ (Meyer, Theo, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991, S. 404). Der junge Nietzsche hegt selbst Zweifel an seinen poetischen Fähigkeiten und reflektiert diese in Gedichten; vgl. hierzu die erste Strophe eines Neujahrsgedichts: „Wollt auch hohe / Lieder dir bringen / Voll von Begeistrung / S’will nicht gelingen“ (NL 1858/59, 5[34], KGW I/2, 27, 2–5). Auch sein poetologisch-satirisches Sonnet (NL 1862/63, 14[34], KGW I/3, 75 f.) ist in diesem Zusammenhang ein lesenswertes Zeugnis. Hermann Josef Schmidt hingegen äußert sich wiederholt positiv über die Qualität der Lyrik. Schon die frühesten erhaltenen Gedichte lobt er als „z.T. recht originelle[ ] und pfiffige[ ] Knittelverse“ (Schmidt, Hermann Josef, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. I. Kindheit, 2 Bde., 2. Aufl., Berlin / Aschaffenburg 1991, Bd. 1, S. 175). – Es sei darauf hingewiesen, dass die Manuskripte des jungen Nietzsche signifikante  

DOI 10.1515/9783110474374-003

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sches frühe Gedanken- und Gefühlswelt gewähren und gewissermaßen die Keimzelle seines späteren Werks bilden.2 Tatsächlich finden sich viele Grundzüge, die das Werk des Erwachsenen charakterisieren, schon in den Versen des Heranwachsenden angelegt. Wesentlich sind dabei die Motive Einsamkeit und Heimatlosigkeit, die von den frühesten Versuchen an3 über die ‚Freigeist‘-Metaphorik der ‚mittleren Phase‘ bis hin zu den Dionysos-Dithyramben präsent sind.4 Dieser Leitthematik gilt in dem folgenden Überblick über die Jugendlyrik Nietzsches daher ein besonderes Augenmerk. Darüber hinaus sollen die editorische Situation, der Stil sowie zentrale Themen vorgestellt werden. Daran schließen sich exemplarisch detaillierte Textbeobachtungen zu dem fünf Gedichte umfassenden Zyklus In der Ferne aus dem Jahr 1860 an. In dem Fünfzeiler Jugendschriften, der Nummer 36 aus dem Vorspiel zur Fröhlichen Wissenschaft, distanziert sich das lyrische Ich, das hier auf den empirischen Autor Nietzsche verweist, von seinen „ersten fünf Büchlein“,5 wie es im Titel einer früheren Fassung des Textes aus einem Brief an Paul Rée vom September 1879 heißt. Angespielt wird auf das unter dem geistigen Einfluss Wagners und Schopenhauers entstandene Frühwerk, das die Geburt der Tragödie sowie die vier Unzeitgemäßen Betrachtungen umfasst: Meiner Weisheit A und O Klang mir hier: was hört’ ich doch! Jetzo klingt mir’s nicht mehr so, Nur das ew’ge Ah! und Oh! Meiner Jugend hör ich noch.6

Das mit der Werk-Biografie des Autors kokettierende Ich bemängelt ‚selbstironisch‘ das einseitige Pathos seiner frühen Schriften. Entsprechend vermisst es auch im „Versuch einer Selbstkritik“ zur Geburt der Tragödie aus dem Jahr 1886 das Lachen als „die Kunst des d i e s s e i t i g e n Trostes“.7

Rechtschreib- und Ausdrucksfehler aufweisen, die KGW I aus Gründen philologischer Genauigkeit übernimmt. Damit halte ich es genauso. 2 Vgl. Figl, Johann, Edition des Frühen Nachlasses Friedrich Nietzsches – grundsätzliche Perspektiven, in: Nietzscheforschung, Jg. 1, Berlin 1994, S. 161–168, hier S. 167. 3 Der ungefähr Zehnjährige dichtet schon: „Dort auf jener Felsenspitze / Dort da ist mein Lieblingssitz. –“ (NL 1854–56, 1[4], KGW I/1, 6, 2 f.). 4 Vgl. auch Grundlehner, Philip, The Poetry of Friedrich Nietzsche, New York / Oxford 1986, S. 6. 5 KSB 5, Nr. 879, S. 440, Z. 19. 6 FW Vorspiel 36, KSA 3, 361, 19–15. 7 GT Versuch einer Selbstkritik 7, KSA 1, 22, 7.  

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Diese Selbstriktik ließe sich auch auf Nietzsches lyrische Juvenilia aus den 15 Jahren zwischen 1854 und 1869 beziehen.8 Vor allem die reiche Menge an Gedichten, die aus der Zeit bis 1864 erhalten ist, präsentiert einen frühreifen und melancholischen Heranwachsenden, der versucht, familiäre Trauerfälle und mehrfache Ortswechsel sowie damit in Verbindung stehende Fremdheits- und Andersartigkeitsgefühle dichterisch zu verarbeiten.9 Dementsprechend konstatierte schon Johannes Klein „einen gewissen Hang zur Traurigkeit […] sowie eine auffallende Weichheit“ in Nietzsches Jugendlyrik.10 Diese orientiert sich an den damals kanonischen Dichtern: Karl Pestalozzi nennt „Brentano, Eichendorff, Heine, Goethe, Platen, Lenau, Rückert“ und weitere als Vorbilder.11 Namentlich die spätromantisch-epigonale Lyrik Eichendorffs, die Nietzsche wahrscheinlich über die zahlreichen Vertonungen Mendelssohn Bartholdys und Schumanns zunächst aus zweiter Hand kannte,12 ist in seinen naturlyrischen Versuchen präsent. Damit eng verbunden ist die problematische Religiosität des jungen Nietzsche, die sowohl erbaulich als auch zweifelnd in seine Dichtung einfließt.13 Diesem ‚sentimentalen‘ Bereich steht eine selbstbewusste Rezeption der Weimarer Klassiker gegenüber, die wiederum eine Beschäftigung mit der antiken Literatur einschließt.14 Nietzsches Dichtung trägt damit schon in Jugendjahren dichotomische Züge. Gegen die

8 Vgl. auch Meyer, Nietzsche, S. 403. 9 Eine „Liste“ der prägenden Zumutungen und Schicksalsschläge aus Nietzsches Röckener Kindheit bringt Schmidt, Nietzsche absconditus I, Bd. 2, S. 855–858. 10 Klein, Die Dichtung Nietzsches, S. 31. 11 Pestalozzi, Karl, Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe …“ auf dem Hintergrund seiner Jugendlyrik, in: Nietzsche-Studien, Jg. 13, Berlin / New York 1984, S. 101–110, hier S. 102. 12 Vgl. Ziemann, Rüdiger, Abschiede – Zu zwei Jugendgedichten Nietzsches, in: Nietzscheforschung, Bd. 1, Berlin 1994, S. 181–189, hier S. 185 f. Zum möglichen Einfluss Clemens Brentanos auf den jungen Nietzsche vgl. ebenfalls Ziemann, Rüdiger, Das liebe ewge Leben – Zur BrentanoLektüre des jungen Nietzsche, in: Nietzscheforschung, Jg. 1, Berlin 1994, S. 335–350. 13 Vgl. die Gedichte Abendläuten (NL 1859, 6[18], KGW I/2, 53 f.) und Vor dem Crucifix (NL 1863, 15[1], KGW I/3, 109–112). 14 Ziemann, Abschiede, S. 184, zeigt mit Blick auf Nietzsches gleichbetitelte Nachformung des Schiller-Gedichts Hektors Abschied (vgl. Hecktors Abschied (nach Homer), NL 1858, 4[53], KGW I/1, 261 f.), wie der junge Poet es „unternimmt, Schillers Gedicht gleichsam von seinen Unvollkommenheiten zu befreien.“ Zur Übernahme „der Hymnik Goethes“ siehe ebenfalls Ziemann, Rüdiger, Der Halb-Unsinn und das Ewig-Närrische. Goethes Gegenwart in Gedichten Nietzsches, in: Kjaer, Jørgen (Hrsg.), Nietzsche im Netze. Nietzsches Lyrik, Ästhetik und Kindheit im deutsch-dänischen Dialog, Aarhus 1997, S. 39–59, hier S. 39. – Auf diverse Dramenfragmente, die der junge Nietzsche hinterlassen hat, kann aus räumlichen Gründen nicht weiter eingegangen werden. Generell lässt sich aber konstatieren, dass sie eng mit dem ‚klassisch-griechischen‘ Einflussbereich zusammenhängen. Nietzsches Entwürfe zu einem Prometheus-Drama seien als prägnantes Beispiel genannt (vgl. NL 1859, 6[2]–6[7], KGW I/2, 36–51).  





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Annahme einer reinen „imitatio-Poetik“, wie Pestalozzi sie dem jungen Nietzsche attestiert,15 sprechen indes sowohl poetologische Selbstaussagen16 als auch die enge Verbindung von Leben und Werk, die Hermann Josef Schmidt umfassend dargestellt hat.17 Die Übernahme von formelhaften Elementen dient eigenen Ausdruckszwecken des jugendlichen Dichters.18

2 Editorische Situation Ausgewählte Jugendgedichte wurden bereits zu Nietzsches Lebzeiten veröffentlicht: Die Literaturzeitschrift Pan druckte 1897 fünf Gedichte,19 in der 1898 erschienenen Sammlung der Schwester Elisabeth nehmen die Juvenilia stolze 44 Seiten ein.20 Auch die jüngste, von Mathias Mayer herausgegebene Ausgabe enthält immerhin 14 Jugendgedichte,21 während die sogenannte ‚Feldauswahl‘

15 Pestalozzi, Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe …“ auf dem Hintergrund seiner Jugendlyrik, S. 103. 16 In Aus meinem Leben, dem ‚Lebensrückblick‘ des 13-Jährigen, formuliert der junge Nietzsche einen Vorrang der „Gedanken“ gegenüber der Form: „Man muß überhaupt bei den Schreiben eines Werks vorzüglich die Gedanken berücksichtigen; eine Nachlässigkeit im Styl verzeiht man eher, als eine verwirrten Idee. Ein Muster hiervon sind die göthischen Gedichte in ihren goldklaren, tiefen Gedanken. – Die Jugend, der noch e i g n e Gedanken fehlen, sucht ihre Ideenleere [!] hinter ein schillernden glänzenden Styl zu verbergen.“ (NL 1858, 4[77], KGW I/1, 307, 18–24). 17 Vgl. Schmidt, Nietzsche absconditus I; und Schmidt, Hermann Josef, Nietzsche absconditus oder Spurenlesen bei Nietzsche. II. Jugend, 2 Bde., Berlin / Aschaffenburg 1993–1994. 18 So auch Meyer, Nietzsche, S. 404 f., der in diesem Sinne einen Brief Nietzsches an Wilhelm Pinder von Mitte Februar 1859 zitiert (vgl. KSB 1, Nr. 55, S. 47–50). 19 Unter dem Titel „Jugendgedichte von Friedrich Nietzsche“, in: Pan, Jg. 3, Heft 2, Berlin 1897/ 98, S. 103 f. Es handelt sich um zum Teil verkürzte und sprachlich normalisierte Wiedergaben folgender lyrischer Texte: Aus der Sammlung „Neue Gedichte. // Der Germania. // Für September 1862“ (NL 1862, 13[21], KGW I/2, 454–463) das zweite (456, 20–457, 3) und dritte „Lied[ ]“ (457, 5– 15) sowie den siebten Titel Schweifen, O Schweifen! (461, 27–462, 20). Dazu kommen das Gedicht Zweiter Abschied (NL 1863/64, 16[15], KGW I/3, 289, 3–20) und die zweite Strophe des Gedichts Erinnerung (NL 1863/64, 16[16], KGW I/3, 290, 10–19). Vorangestellt ist ein Faksimile der Handschrift des Gedichts Noch einmal eh ich weiter ziehe … (ebd., S. 102a; NL 1864, 17[14], KGWI/3, 391). – Zur Rezeption von Nietzsches Lyrik in der Moderne vgl. den entsprechenden Beitrag von Katharina Grätz in diesem Band. 20 Nietzsche, Friedrich, Gedichte und Sprüche [mit einem Vorwort von Elisabeth Förster-Nietzsche und einem Nachbericht von Peter Gast], 17./20. Tausend, Leipzig 1908, S. 1–44. – Zur Editionsgeschichte von Nietzsches Lyrik vgl. auch Kaufmann, Sebastian, Kommentar zu Nietzsches ‚Idyllen aus Messina‘, in: NK 3/1, 457–543, hier 467 f.; sowie Sebastian Kaufmanns Beitrag zur Lyrik und Lyriktheorie im Werk Nietzsches in diesem Band. 21 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Mathias Mayer, Stuttgart 2010, S. 91–104.  





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von 1944 – ein Dokument der nationalsozialistischen Vereinnahmung des Lyrikers Nietzsche – zwölf von ihnen an den Anfang setzt.22 Viele Anthologien verzichten jedoch auf die Berücksichtigung der Jugendgedichte, zum Beispiel diejenige von Ralph Kray und Karl Riha23 oder Kurt Hildebrandts Ausgabe aus dem Jahr 1931.24 Eine Sonderstellung kommt Nietzsches bekanntestem Jugendgedicht zu: Noch einmal eh ich weiter ziehe ... (wohl 1864 als letztes Gedicht in Pforta entstanden). Es wurde an den Anfang von Sammlungen gestellt, obwohl – oder gerade weil – es „schon den unverwechselbaren Nietzsche-Ton“ zeige.25 Das Gedicht wurde auf diese Weise zum ‚Durchbruch‘ und Auftakt des Hauptwerkes stilisiert und in der Folge eher diesem als dem Jugendwerk zugerechnet. Unter dem irreführenden Titel „Dem unbekannten Gott“, den es schon in Elisabeth Förster-Nietzsches Gedichten und Sprüchen trägt,26 bildet es etwa den Auftakt der erfolgreichen, bis 1964 mit wenigen Veränderungen in neuen Auflagen herausgegebenen Edition des Insel-Verlags.27 Abseits der zahlreichen Gedichtanthologien liegen Nietzsches Jugendschriften dem Anspruch nach vollständig innerhalb zweier Werkeditionen vor:28 Zwischen 1933 und 1940 erschien bei C. H. Beck in München mit den ersten (und einzigen) fünf Bänden der von Hans Joachim Mette, Karl Schlechta und anderen herausgegebenen Historisch-Kritischen Gesamtausgabe der Werke (BAW) die bis Mitte der 1990er Jahre gültige Standardedition. Johann Figl, Herausgeber der Neuedition von Nietzsches Juvenilia im Rahmen der ersten Abteilung von Collis und Montinaris Gesamtausgabe, lobt die dort präsentierten Texte als „in hohem Ausmaß philologisch exakt entziffert“, was die Ausgabe als „wertvolle und beachtenswerte Leistung innerhalb der wechselvollen Geschichte der NietzscheEditionen“ ausweise.29 Diesem Vorzug stehen allerdings wesentliche Versäum-

22 Nietzsche, Friedrich, Gedichte. Feldauswahl, Auswahl und Nachwort von Kläre Buchmann, Stuttgart 1944, S. 7–16. 23 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Ralph Kray und Karl Riha, Frankfurt/Main / Leipzig 1994. 24 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, mit einem Nachwort von Kurt Hildebrandt, Leipzig [1931]. 25 Meyer, Nietzsche, S. 407. 26 Nietzsche, Gedichte und Sprüche, S. 44. 27 Nietzsche, Friedrich, Gedichte, Leipzig [1923] (Insel-Bücherei Nr. 361). 28 Eine kritische Ausgabe der Gedichte Nietzsches, zumal seiner Jugendlyrik, existiert nicht. Vgl. zu diesem Punkt Groddeck, Wolfram, „Gedichte und Sprüche“. Überlegungen zur Problematik einer vollständigen, textkritischen Ausgabe von Nietzsches Gedichten, in: Martens, Gunter / Woesler, Winfried (Hrsg.), Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller, Tübingen 1991, S. 169–180. 29 KGW I/1, VI.

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nisse gegenüber:30 Erstens fehlen wichtige Textgruppen, wie beispielsweise Schulabschriften und -notizen, alle Kollegnachschriften aus der Studentenzeit sowie Gedichtabschriften und Handschriftenteile. Zweitens verstößt die – überdies inkonsequent umgesetzte – Aussonderung der Schriften aus der Zeit vor dem Eintritt in die Landesschule Pforta am 5. Oktober 1858 gegen das selbstauferlegte Gebot einer chronologischen Wiedergabe des Materials.31 Schließlich sind die systematischen Kriterien intransparent, zum Beispiel fehlt eine adäquate Erläuterung der wiederholt angewandten Ausschlusskriterien. Figl hat diese Mängel in der von ihm verantworteten neuen Ausgabe behoben: „Die Edition der Jugendschriften folgt im generellen den Prinzipien, die für die KGW insgesamt maßgebend waren und die Mazzino Montinari mit den Begriffen Manuskripttreue, strikte chronologische Anordnung und Vollständigkeit gekennzeichnet hat“.32 Der Bestand von Nietzsches Jugendgedichten ist durch die neu hinzugezogenen Manuskripte, die der Herausgeber mit den Signaturen A bzw. K versehen hat,33 allerdings nicht qualitativ erweitert worden.34 Es handelt sich vorrangig um Diktiertes (A-Signaturen) aus frühester Zeit und um Gedichtabschriften (K-Signaturen) anlässlich verschiedener Feier- oder Geburtstage im nächsten Angehörigenkreis. Dementsprechend hebt Figl mit Blick auf den erweiterten Textbestand in erster Linie dessen „kulturgeschichtlichen Wert, auch in interdisziplinärer Hinsicht“ hervor.35

30 In seinem Beitrag zur Edition des Frühen Nachlasses Friedrich Nietzsches, S. 161–168, formuliert Figl die Kritik ausführlicher als im Vorwort zu KGW I. 31 Die Tendenz der ‚Beck’schen Ausgabe‘, bekanntere Texte des jungen Nietzsche durch ihre widersystematische Platzierung innerhalb der Edition „in Aufmerksamkeit erregender Weise“ hervorzuheben, moniert auch Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 2, S. 618 f., mit Blick auf die ‚finale‘ Stellung von Noch einmal eh ich weiter ziehe ... in BAW 2, 428. 32 KGW I/1, XI. 33 Vgl. KGW I/1, IX bzw. XII. 34 Bei der grundsätzlichen Orientierung innerhalb der großen Menge von Nietzsches Jugendgedichten leisten also die Gedichtverzeichnisse in BAW 1, 488–495; BAW 2, 481–485 und BAW 3, 488 noch gute Dienste. KGW I/1–4 weist zwar mit 293 ‚lyrischen Produktionen‘ eine größere Zahl auf als die in BAW 1–3 angezeigte (263), doch ist dieser Unterschied hauptsächlich durch die in BAW und KGW I verschieden konstituierten Texteinheiten zu erklären: BAW fasst zum Teil Fragmente und Gedichte als Sammlungen und Zyklen zusammen, die KGW I isoliert bringt (vgl. NK 3/1, 472; sowie Sebastian Kaufmanns Beitrag zu Nietzsches Lyrik und Lyriktheorie in diesem Band). 35 KGW I/1, X.  

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3 Stil und Motive Viele Jugendgedichte Nietzsches sind als Casualcarmina oder im Rahmen von Schulaufgaben entstanden.36 Auch hatte laut Elisabeth Förster-Nietzsche ihr Bruder „zu allen Lebenszeiten eine große Neigung […], seine früheren Produktionen zu verbrennen“.37 Von den erhaltenen Gedichten auf Nietzsches dichterisches Selbstverständnis zu schließen, erscheint daher auf den ersten Blick nicht unproblematisch: Offenbar hat er den Großteil seiner Werke vernichtet, das Übriggebliebene besteht aus Geschenktexten für die Mutter und einer von der Schwester ‚geretteten‘ Auswahl. Im Einzelnen zeigt sich aber, dass Nietzsches Jugendgedichte, selbst wo sie verschiedenen thematischen Bereichen zuzuordnen sind, im Prinzip eine einheitliche Grundstimmung erkennen lassen: die Melancholie. In späteren Gedichten wie An die Melancholie oder in den eingangs zitierten kritischen Versen zum jugendlichen „Ah und Oh!“ bezieht sich das von Nietzsche instanziierte lyrische Ich denn auch oft auf das weltschmerzliche Pathos der Jugendschriften, wo die Einsamkeit noch „in tiefer Wüstenei / Unschön gekrümmt“ und im Gestus eines „Büßer[s], ob in jugendlichen Jahren“, beklagt wird.38 Die lyrische Dichtung des erwachsenen Nietzsche rekurriert damit gewissermaßen ex negativo auf seine Juvenilia.39 Allein das macht sie selbst in solchen Fällen interessant, in denen der junge Nietzsche nur konventionelle

36 Vgl. Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156, hier S. 150. 37 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Vorwort zur 1. Auflage, in: Nietzsche, Gedichte und Sprüche, S. IX–XVIII, hier S. XI. Im Rückblick auf meine zwei Leipziger Jahre schreibt Nietzsche selbst: „[I]ch pflegte die Zeit der Selbsterkenntnis von da an bei einem Jünglinge zu datieren, wo er seine Dichtungen in den Ofen steckt, und habe es selbst dieser meiner Anschauung gemäß in Leipzig gemacht“ (NL 1867/68, 60[1], KGW I/4, 516, 28–30). Dem korrespondiert die Tatsache, dass aus Nietzsches Studentenzeit so gut wie keine Gedichte erhalten sind. Glaubt man Elisabeth, verdankt sich auch der Erhalt eines Großteils früherer Produktionen ihrem Rettungseifer (vgl. FörsterNietzsche, Vorwort zur 1. Auflage, S. XI). 38 An die Melancholie, NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 18 f. u. 21. Vgl. auch Mayer, Mathias, Nachwort, in: Nietzsche, Gedichte (2010), S. 173–186, hier S. 181. Die topische Überwindung der Schwermut, wie sie beispielsweise auch die Texte des Zarathustra leitmotivisch durchwirkt (etwa in Za III Vom Gesicht und Räthsel, KSA 4, 197–202), blitzt in den Aufzeichnungen des jungen Nietzsche nur vereinzelt auf. Eine dieser wenigen Ausnahmen stellt das Gedicht Ohne Heimath dar (NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 223 f.), in dem die titelgebende Heimatlosigkeit des lyrischen Ichs insbesondere durch den liedhaft-fröhlichen Refrain heiter gebrochen wird. 39 Rückblickende Auseinandersetzungen mit dem eigenen Werk sind charakteristisch für Nietzsches Texte – vgl. etwa die 1886 verfassten, nachträglichen Vorreden zu GT (Versuch einer Selbstkritik, KSA 1, 11–22), MA I (KSA 2, 13–22) und II (KSA 2, 369–377), M (KSA 3, 11–17) und FW (KSA 3, 346–352). Schon mit 13 Jahren unterscheidet er im ‚Lebensrückblick‘ drei Perioden seiner Lyrik;  



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Formen aus der kanonischen Lyrik des 19. Jahrhunderts oder zeitgenössischen Kirchenliedern übernimmt, ohne dabei einen ‚originellen‘ Gestaltungsanspruch an den Tag zu legen. Beim Heranwachsenden fällt bereits jene polare Disposition auf, die das Werk des Erwachsenen maßgeblich prägt: einerseits ein ausgeprägtes Interesse für die Antike, das wahrscheinlich Nietzsches Großvater David Ernst Oehler angeregt und bis zu seinem Tod gefördert hatte,40 sowie eine damit verbundene ‚Lust am Süden‘; andererseits eine defizitäre körperlich-seelische Konstitution, die sich in Erfahrungen von Krankheit und Weltschmerz äußert und nach Linderung und Trost verlangt.41 Der junge Nietzsche sucht für beides Ausdrucksmöglichkeiten und findet sie in den Dichtungssprachen der Klassik und Romantik. Selbstbewusst bearbeitet er antike Stoffe42 oder widmet sich punktuell verwandten Motiven wie dem Topos der ‚Italiensehnsucht‘,43 um seiner partiellen Bewunderung für das ‚schöne, starke Leben‘ nachzugehen. Die Komplementärgedichte Strahlenentsendente und Wolkenaufthürmende Blitzeentsendtende (sic) aus dem Jahr 1859 belegen überdies pantheistische Gedanken (die – wie schon die forcierten Komposita – an die Sturm-und-Drang-Lyrik Goethes erinnern):44 Die apostrophierte Sonne wird sowohl als monistischer Urgrund des Lebens wie auch als dessen allmächtige Zerstörerin gepriesen.

die ersten zwei schilt er nachdrücklich (vgl. NL 1858, 4[77], KGW I/1, 292, 2–4; 295, 23–34; und 306, 33–307, 24). 40 Zur Rolle des Großvaters im Hinblick auf Nietzsches ‚Graecophilie‘ vgl. Schmidt, Nietzsche absconditus I, Bd. 2, S. 961–972. 41 Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 509, geht in Bezug auf Nietzsches Kränklichkeit von psychosomatischen Zusammenhängen aus. 42 Vgl. Hecktors Abschied (nach Homer), NL 1858, 4[53], KGW I/1, 261 f.; Jason und Medea, NL 1858, 4[33], KGW I/1, 246–248; oder Leonidas und Telakeus, NL 1856/57, 2[10], KGW I/1, 139– 142. Zur Bedeutung der Antike für den jungen Nietzsche vgl. ausführlicher Müller, Renate G., „Wandrer, wenn du in Griechenland wanderst…“ – Reflexionen zur Bedeutsamkeit von „Antike“ für den jungen Friedrich Nietzsche, in: Nietzscheforschung, Jg. 1, Berlin 1994, S. 169–180. 43 So im Gedicht Italia, das Nietzsche aus etwas holprigen Hexametern erstellt und das nicht formal, aber motivisch auf Mignons Lied Kennst du das Land, wo die Zitronen blühn ... rekurriert (vgl. Goethe, Johann Wolfgang von, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, Bd. 7, hrsg., textkritisch durchgesehen und kommentiert von Erich Trunz, 8., neubearbeitete Auflage, München 1973, S. 145): „Seht die Orange, sie reifet in rötliche Lichte erglühend / Durch die Zweige so grün, blicket hochgelb die Citron’“ (NL 1858, 4[21], KGW I/1, 240, 2 f.). Auch an Goethes Maifest (Goethe, Werke, Bd. 1, S. 30 f.; später Mailied) schließt Nietzsche an, wobei sein Maigesang noch eine pessimistische Schlusspointe enthält (NL 1856/57, 2[14], KGW I/1, 147, 28 f.) und sein Maienlied (NL 1858/59, 5[18], KGW I/2, 19 f.) durch „eine eher reflexive, die Naturstimmung gewissermaßen kommentierende Diktion gekennzeichnet“ ist (Meyer, Nietzsche, S. 405). 44 NL 1859, 6[34], KGW I/2, 61–63; und NL 1859, 6[37], KGW I/2, 63 f.  











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Ein Gedicht des Zwölfjährigen, Wandrer, wenn du in Griechenland wanderst ...,45 erinnert in seinem Gestus an Nietzsches späteren „Lieblingsdichter“ Hölderlin,46 dessen Roman Hyperion oder Der Eremit in Griechenland von der Begeisterung für die Antike zeugt.47 Obwohl Nietzsche selbst es als Beispiel seiner ersten, ‚unpoetischen‘ Dichtungsperiode anführt,48 bezeugt das Gedicht doch den Willen zur sentimentalischen Reflexion: „Weine Wandrer um die tapferen Helden / Weine auch daß du nicht bist dabei gewesen“.49 Nietzsche verbindet hier die Bewunderung des ‚heroischen Lebens‘ mit der Wehmut des ‚Spätgeborenen‘, nicht an diesem Leben teilhaben zu können. Die lakonische Schlusspointe des Gedichts – der Wanderer stirbt klagend nach langer Reise und fällt „in die Grube die ehr / da gegraben hat“50 – weist wohl nicht nur auf Nietzsches früh entwickelten Sinn für Humor hin, sondern auch auf sein schon vorhandenes Reflexionsvermögen: In der Verherrlichung antiken Lebens und Sterbens ignoriert der lyrische Sprecher nicht die prinzipielle Vergänglichkeit des Irdischen. Daher auch des Wanderers Resümee: „Wie vergänglich ist das Glück / Das hab ich nun angeschaut. / Ewig mans im Himmel findet“.51 Das Gedicht bemüht eine transzendente Seligkeitsvorstellung, um die Glückssuche zu einem befriedigenden Ende zu bringen. Die antike Vorstellungswelt bietet noch keine ausreichende Möglichkeit zur Rechtfertigung des Lebens im Sinne einer an ihr orientierten ästhetischen Kosmodizee, wie sie später in der Geburt der Tragödie vertreten wird.52 Als Wiegenstadium einer noch glücklichen Menschheit – obwohl unwiederbringlich verloren wie die eigene Kindheit – bildet die Antike in der dichterischen Vorstellungswelt des Elf- oder Zwölfjährigen jedoch einen wichtigen Gegenentwurf zu der als mangelhaft erfahrenen Wirklichkeit. Im Hinblick auf die Menge der erhaltenen Gedichte dominiert ihr Einfluss zwar nicht; aber Nietzsches späte-

45 NL 1856/57, 2[2], KGW I/1, 125–129. 46 NL 1861/62, 12[2], KGW I/2, 338, 3. 47 Hölderlin, Friedrich, Sämtliche Werke und Briefe, 3 Bde., Bd. 2, hrsg. und kommentiert von Jochen Schmidt, Frankfurt/Main 1994 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 108). Nietzsches Hölderlin-Begeisterung weist neben der sonstigen Beschäftigung mit kanonischen Dichtern auf einen selbstständigen Geschmack hin. Zudem klingen zu Beginn zwei Verse aus Schillers Der Spaziergang an: „Wanderer, kommst du nach Sparta, verkündige dorten, du habest / Uns hier liegen gesehn, wie das Gesetz es befahl.“ (Schiller, Friedrich, Werke und Briefe in zwölf Bänden, Bd. 1, hrsg. von Georg Kurscheidt, Frankfurt/Main 1992 (Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 74), S. 38). 48 vgl. NL 1858, 4[77], KGW I/1, 291, 31–292, 2. 49 NL 1856/57, 2[2], KGW I/1, 126, 1 f. 50 NL 1856/57, 2[3], KGW I/1, 129, 19 f. 51 NL 1856/57, 2[3], KGW I/1, 129, 15–17. 52 Vgl. GT 5, KSA 1, 47, 26 f.  





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rer Werdegang zeigt bekanntlich, dass das Gewicht der Antike die religiösen und sentimentalen Elemente letztlich aus seiner Gedankenwelt hinausdrängen wird. Eben jene Elemente stellen indes den anderen Hauptaspekt von Nietzsches Jugendlyrik dar: In idyllischen Naturbildern mit religiöser Konnotation artikuliert der lyrische Sprecher seine melancholisch-elegische Grundstimmung offener aus einer Position der Schwäche und Trostbedürftigkeit heraus, als es in Nietzsches zeitgleich entstandener antikisierender, an der Klassik orientierten Dichtung der Fall ist.53 Diese Naturlyrik lässt vergleichsweise wenig pantheistische Ansätze erkennen; die Erscheinungen der Natur sind vorrangig sakral konnotiert und ersetzen nicht, sondern vertreten den transzendenten personalen Gott. Sie bilden eine poetische Gegenwelt, in welcher der Weltflüchtling Schutz und Geborgenheit vor den Unbilden des Lebens sucht. In einem Fragment aus dem Jahr 1858 erscheint die Natur als „ein Buch zu Gottes Ehre“, aus dem „[i]m Blühen und verblühn er vieles lehret“.54 Diese auf Augustinus zurückgehende Metapher des liber naturae verweist ebenso wie die Verherrlichung des „Waldesfrieden[s]“ an anderer Stelle auf die Bilder- und Ideenwelt der Romantik,55 in der Nietzsche sich

53 Ich widerspreche Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 387, der von einer prinzipiellen Ablösung der religiösen durch die naturfromme Lyrik ausgeht. Es existieren zwar Gedichte pantheistischen Gehalts, auch tauchen pantheistische Elemente verseweise in anders gelagerten Gedichten auf, aber in der Mehrzahl der ‚Wald-und-Flur-Gedichte‘ stehen die Naturlyrismen offen in einem metaphysischen Bezug. Im Grunde übernimmt Nietzsche Eichendorffs Handhabe der Natur als irdischen Offenbarungsraum göttlichen Heils. Ein Beispiel für Nietzsches religiösnaturlyrischen Synkretismus ist das Gedicht Im Freien, auf das Hödl in diesem Zusammenhang verweist (vgl. Hödl, Hans Gerald, Jugendschriften (1852–1869). IV. Schriften der Schulzeit (1854– 1864) [Artikel], in: Ottmann (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch, S. 67–73, hier S. 68): „Geh ins Freie, lerne kennen / Jede Schönheit der Natur / Denn willst du das ganze nennen / Suche es im einzeln nur. // Sieh, ein Buch ist aufgeschlagen / Selig, wer nur darin ließt / Schwinden da nicht Leiden, Klagen / Wo der Herr des Lebens ißt. // Singe zu des Herren Ruhme / Steige meine Gebet empor! – / Denn in seinen Heiligthume / Tönt der Schöpfung hoher Chor. –“ (NL 1858, 4[51], KGW I/1, 260, 14–26). In der ersten Strophe klingt deutlich Goethes weltanschauliche Lyrik an, dann kippt das Gedicht über die romantische Motivik ins Christliche. 54 NL 1858, 4[19], KGW I/1, 239, 4–7. Ziemann, Abschiede, S. 188, interpretiert die Metapher ebenfalls christlich als das „fromme Bild, das die Natur als das zweite Buch der göttlichen Offenbarung liest“, und vermutet überdies die Einwirkung von Emanuel Geibels Morgenwanderung. 55 NL 1859, 6[70], KGW I/2, 92, 10. Die Gedichte Nach Pforta (NL 1858, 4[9], KGW I/1, 221 f.) und Saaleck (NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 222) stellen weitere Beispiele dar: Nietzsche rückt hier das Geheimnisvolle und Unheimliche in den Blick, wählt verlassene Burgen oder die „nebelumwallt[en]“ Gebäude der Landesschule Pforta als Kulissen (KGW I/1, 222, 6) und lässt im Abendzwielicht Gespenster ein Rittergelage mit „viel Lieder[n] / Von Jagdlust, von Kampf und Wein“ abhalten (KGW I/2, 222, 15 f.). Auch Eichendorffs Werk bevölkern Ritter und geisterhafte Gestalten, vielfach tummeln sie sich in verzauberten Burg- und Schlossruinen, die nachts zu Feststätten werden (vgl. exemplarisch Das Marmorbild in: Eichendorff, Joseph Freiherr von, Neue Gesamt 



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sinnfällig bewegt. Im Fragment gebliebenen Ich habe viel geweinet ...56 beschwört er, ganz im Stil von Eichendorffs Gedicht Abschied,57 den Wald als topische Sehnsuchtslandschaft: Ein lyrisches Ich schildert rückblickend, wie es aus Trauer und innerer Leere über den Tod des Vaters oft „[z]um düstren Wald hinaus“ flüchtete und dort „[d]er Jugend Blüthenwonne […] / Im Schatten der Eichen“ wiederfand. Es folgen Apostrophe und Lobpreis des Waldes: O süßer Waldesfrieden Du stilltest meinen Schmerz Und gabest Ruh hinieden Den schmerzerfüllten Herz Was mir die Welt versagte Fand ich so bald, so bald In deinen weiten Hallen Du deutscher, heilger Wald!58

Nietzsches lyrisches Ich stellt, hier recht eindimensional, der vom Tod des Vaters überschatteten „Welt“ den entrückten Ruheort „Wald“ gegenüber, dessen „weite[ ] Hallen“ den Jenseitsbezug anzeigen. Im „freien Tempel der Natur“,59 in Gottes unberührter Schöpfung, findet der Mensch träumend zur kindlichen Unbekümmertheit zurück und kann dem weltlichen ‚Jammertal‘ zeitweise entfliehen. Das Präteritum markiert freilich, in Analogie zum Konjunktiv in Eichendorffs Mondnacht,60 die eigentliche Distanz zwischen Glücksort und lyrischem Ich. Hier wird das epigonale Element spätromantischer Lyrik deutlich, zu der sich der junge Nietzsche wiederum selbst als Epigone verhält. Die ‚Nachtseite‘ von Nietzsches Jugendlyrik zeigt in seltenen Ausbrüchen auch ein extremes Gepräge, wenn sich das Einsamkeitsmotiv ins Lebensbedrohliche steigert. Im Regelfall schmälert der Autor ihren Sog durch den ‚metaphysi-

ausgabe der Werke und Schriften, 4 Bde., Bd. 2, hrsg. von Gerhart Baumann in Verbindung mit Siegfried Grosse, Stuttgart 1957, S. 307–346). Die Verwendung der populären Volksliedstrophe, die insbesondere von der romantischen Lyrik – namentlich durch Brentanos und von Arnims Sammlung Des Knaben Wunderhorn – weitverbreitetet wurde, legt ebenso die Vorbilder offen wie der Einsatz von Naturlyrismen als Indikatoren seelischer Befindlichkeit (vgl. hierzu beispielhaft Eichendorffs Bei einer Linde in: Ders., Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, Bd. 1, S. 219). Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 219, weist nach, dass Nach Pforta sogar explizit als Zweit- oder „Gegenstimme“ zu Heinrich Heines Lied von der Loreley konzipiert ist. 56 NL 1859, 6[70], KGW I/2, 91 f. 57 Eichendorff, Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, Bd. 1, S. 35 f. 58 NL 1859, 6[70], KGW I/2, 92, 10–17. 59 NL 1858, 4[9], KGW I/1, 217, 8. 60 Eichendorff, Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, Bd. 1, S. 306.  



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schen Trost‘ des Glaubens (noch nicht der Kunst) und durch romantisch-naturfrommen Eskapismus. Das Gedicht Verzweiflung bildet indes einen Grenzfall, der die leitmotivische Einsamkeit exponiert und zur absoluten Isolation radikalisiert: Von ferne tönt der Glockenschlag; Die Nacht sie rauscht so dumpf daher. Ich weiß nicht, was ich thuen mag. Mein Freud ist aus, mein Herz ist schwer. Die Stunden fliehn gespenstisch still, Fern toßt der Welt Gewühl, Gebraus. Ich weiß nicht, was ich thuen will. Mein Herz ist schwer, mein Freud ist aus. So dumpf die Nacht, so schauervoll Des Mondes bleiches Leichenlicht! Ich weiß nicht, was ich thuen soll. Wild rast der Sturm, ich hör ihn nicht. Ich hab nicht Rast, ich hab nicht Ruh. Ich wandle stumm zum Strand hinaus Den Wogen zu, dem Grabe zu! Mein Herz ist schwer, mein Freud ist aus!61

Das Gedicht beginnt noch in der Manier romantischer Schauerpoesie: Ein solitäres lyrisches Ich hört „[v]on ferne“ den „Glockenschlag“ in stürmischer Nacht und beklagt seine melancholische Antriebslosigkeit. Die unheimliche Stimmung verstärkt sich durch den „gespenstisch[en]“ Verlust des Zeitgefühls; die Diskrepanz zwischen Ich und Welt wächst zunehmend, denn gegenüber der subjektiv empfundenen Stille „toßt [fern] der Welt Gewühl, Gebraus“. Im zweiten Teil des Gedichts steigert sich diese Konstellation ins Extrem: Der Mond wird zum Todessymbol, die Apathie hat sich zur Verzweiflung potenziert (erst wusste das Ich nicht, was es tun „mag“, dann, was es tun „will“, zuletzt, was es tun „soll“), und der Bruch zwischen Mensch und Welt ist vollständig und unheilbar. Am Schluss steht der suizidale Gang ins Wasser. Nietzsche geht damit über das Formen- und Motivrepertoire romantischer Gefühlspoesie hinaus, seine unerbittliche Zuspitzung der (Seelen-)Bilder („Wild rast der Sturm, ich hör ihn nicht“) hebt sich vom Großteil seiner verklärenden Jugendlyrik ab. Der Verzicht auf tröstliche Gegenwelten und der angedeutete Suizid des lyrischen Ichs weisen überdies auf die

61 NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 219 f.  

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prinzipielle Verfemung des Trostes im Werk des Erwachsenen voraus.62 Vor diesem Hintergrund erscheint die von Peter Pütz aufgezeigte Reminiszenz63 an Gretchens Lied Meine Ruh’ ist hin ...64 als Euphemismus des Todeswunsches.

4 Der Zyklus In der Ferne Hermann Josef Schmidt hat plausibel dargelegt, dass es sich bei Nietzsches Gedichtzyklus In der Ferne65 höchstwahrscheinlich um ein Geschenk an die Mutter zu deren Geburtstag am 2. Februar 1860 handelt.66 Die Gedichte II und V scheinen auch direkt an Franziska Nietzsche gerichtet zu sein, die zu dieser Zeit noch um ihren am 17. Dezember 1859 verstorbenen Vater David Ernst Oehler trauert. Die anderen drei Gedichte stammen aus den vergangenen zwei Jahren, reihen sich thematisch aber nahtlos in die offenbar als Trostgabe intendierte Sammlung ein. Nicht zuletzt aus diesem Grund können alle fünf Gedichte auch über ihren Geschenkstatus hinaus interpretiert werden. Selbst die als Casualcarmina konzipierten Gedichte II und V unterscheiden sich nicht tiefgreifend von der sonstigen melancholisch getönten Lyrik des jungen Nietzsche. Nur das Abschlussgedicht ist

62 Es gibt weitere Jugendgedichte Nietzsches, die Charakteristika des Hauptwerks vorwegnehmen. Colombo (NL 1858, 4[67], KGW I/1, 273 f.) ist das erste Zeugnis der Kolumbus-Identifikation Nietzsches, die im Umkreis der Fröhlichen Wissenschaft wiederholt zum Vorschein kommt – beispielsweise in dem Gedicht Nach neuen Meeren (FW Anhang, KSA 3, 649, 1–9), in den dazugehörigen Fragmenten (vgl. zur Übersicht KSA 14, 277) oder in M 575, KSA 3, 331, 27–30. Vgl. zu diesem Komplex den Beitrag von Milan Wenner in diesem Band. In dem Jugendgedicht projiziert der Heranwachsende seine Isolationsgefühle auf das Bild des Entdeckers und Seefahrers Christoph Kolumbus, der den sicheren Heimathafen verlassen hat und auf hoher See mit der Einsamkeit, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit des vom Land Abgeschnittenen konfrontiert wird. – Das Gedicht Ohne Heimath (NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 223 f.) aus dem Jahr 1859 weist bereits auf die Trobador-Motivik der Fröhlichen Wissenschaft voraus; der junge Nietzsche deutet seine Leitmotive Einsamkeit und Heimatlosigkeit zur Ungebundenheit eines ‚vogelfreien‘ Sängers um. – Hermann Josef Schmidt hat ferner in dem Gedicht Zwei Lerchen (NL 1858, 4[50], KGW I/1, 259 f.) die „zwei für Nietzsche zentrale[n] Modi menschlicher Existenz“ vorgeprägt gefunden: „das seinem Drang folgende Genie“ und „das zwischen seinem Drang und seinen Reflektionsmöglichkeiten eingespannte Wesen“, in dessen „Spannungsfeld […] sich Nietzsche lebenslang bewegen“ werde (Schmidt, Hermann Josef, „Auf nie noch betretener Bahn“. Poetische Selbstfindungsversuche des Kindes Nietzsche, in: Kjaer, Nietzsche im Netze, S. 10–38, hier S. 35). 63 Vgl. Pütz, Peter, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1967, S. 51. 64 Goethe, Werke, Bd. 3, S. 107–109. 65 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180–183. 66 Vgl. Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 486 f.  







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etwas offensiver als Erbauungsgedicht entworfen, als man es selbst von seinen religiösen Gedichten gewohnt ist. Im Ganzen aber ist der spätromantische Duktus des Zyklus für Nietzsches Jugendlyrik beispielhaft.67 Auch deren Heterogenität spiegeln die fünf Gedichte, indem sie zwischen Naturlyrismen, religiösem Erbauungspathos und einem mythologischen Zwischenspiel mäandern. Das Auftaktgedicht findet sich schon in einem Brief an Wilhelm Pinder aus dem Frühsommer 1859;68 dort unterscheidet es sich nicht wesentlich vom späteren Text der Geburtstagssammlung. Es weist, wie die Gedichte II, III und V, keine strophische Gliederung auf und mischt frei Paarreime, umarmende Reime und Assonanzen. Dem kontrastiert die strenge Umsetzung des trochäischen Vierhebers in der gesamten Versgruppe. Ungeachtet dieser formalen Spannung lässt sich das Gedicht syntaktisch und inhaltlich in drei Segmente aufteilen: Es besteht aus genau drei Sätzen, denen je verschieden perspektivierte Reflexionsstufen des lyrischen Ichs korrespondieren. Zunächst formuliert dieses den melancholischen Rückblick auf sein „einstig Glück“, um es in den darauffolgenden zehn Versen mittels einer paradiesischen Natur-Metaphorik als „ewge[ ] Freuden“ aus der Sicht von Wanderern zu idealisieren:69 Die Natur wird zur Chiffre eines ideal gedachten Lebens- und Zeitalters.70 Dem steht die Gegenwart des Ichs gegenüber, die der Text als Welt der „Schranken / Kahler, nichtiger Gedanken“ mit den glücklichen Erinnerungen kontrastiert: hier die beschränkende, farblose und leere Welt des Denkens, dort ewige, bunte, volle Sinnlichkeit, der sich die Wanderer allerdings mit „geheimnißvollem Grauen“ ergeben.71 Dieses „Grauen“

67 Ziemann, Das liebe ewge Leben, S. 346 f. zieht das Eröffnungsgedicht sogar als Beispiel für den Einfluss der Verssprache Brentanos auf Nietzsches Jugendlyrik heran. 68 Vgl. KSB 1, Nr. 76, S. 65 f. Hinweis bei Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 496. 69 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180, 17 u. 30. 70 In verwandten Bildern drückt sich später MA II WS 168, KSA 2, 622, 7–12 mit Blick auf italienische Opernmusik aus: „Als wir noch Kinder waren, haben wir den Honigseim vieler Dinge zum ersten Mal gekostet, niemals wieder war der Honig so gut wie damals, er verführte zum Leben, zum längsten Leben, in der Gestalt des ersten Frühlings, der ersten Blumen, der ersten Schmetterlinge, der ersten Freundschaft“. Kurz darauf heißt es: „[D]ie Kindes-Seligkeit und der Verlust der Kindheit, das Gefühl des Unwiederbringlichsten als des köstlichsten Besitzes, – das rührt dabei die Saiten unsrer Seele an, so stark wie es die reichste und ernsteste Gegenwart der Kunst allein nicht vermag“ (622, 23–26). – Die Kindheitsbilder sind so stark idealisiert, dass sie als Metaphern über die Abbildung der persönlichen Kindheit hinausreichen. Sie evozieren eine vitalistisch geprägte Vorstellungswelt ursprünglicher Menschlichkeit mitsamt ihrer Kunst und daran anschließend den antiken Topos des Goldenen Zeitalters. Die Struktur der Naturbilder bleibt im Vergleich zum Jugendgedicht konstant, allerdings wechselt die Konnotation von christlichem Erlösungspathos ins Vitalistische. 71 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180, 28 f. u. 25. Ähnlich empfindet auch das lyrische Ich in Saaleck: „Die Saaleck liegt so traurig / Dort oben im oeden Gestein. / Wenn ich sie sehe, so schauert’s / Mir  





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drückt die Faszination eines Isolierten aus, der den Verlust einer geheimnisumwitterten, „blüthenreichen […] himmlisch süßen“ Sphäre ahnt.72 Die Konstellation des sehnsuchtsvoll in ein fernes Glück Blickenden intensiviert der dritte Teil auf Kosten der zuvor etablierten Bilderwelt: Er rekurriert auf den Orpheus-Mythos, um den Verlust der poetisch beschworenen glücklichen Erinnerungen so schmerzvoll zu inszenieren, wie es die Klagelieder des mythischen Sängers um seine verlorene Frau Eurydike tun. Nietzsche gesteht seinem lyrischen Ich leidvolle Verlusterfahrung von mythischem Ausmaß zu; entsprechend schmerzlich fällt der resümierende Schlussvers aus: „Meine Hoffnung ist zu nichte!“73 Der Sprung von der idealisierten Natur- bzw. Erinnerungsschau hinein in die mythische Unterwelt ist graphisch durch zwei Gedankenstriche und semantisch durch den unvermittelten Auftritt von „Charons Nachen“ markiert. Das lyrische Ich schlüpft in die Rolle des Orpheus und versucht mithilfe „der goldnen Leier Saiten“ nicht weiter bestimmte ‚Versunkene‘ hervorzurufen.74 In der traditionellen Überlieferung des Mythos, in Vergils Georgica (IV 453–527)75 und Ovids Metamorphosen (X 1–85),76 schafft es Orpheus durch seinen Gesang, alle unterweltlichen Hindernisse zu überwinden und Hades die Rückgabe seiner verstorbenen Frau Eurydike unter der Bedingung des Blickverbots – Eurydike folgt Orpheus in die Oberwelt, doch dieser darf sich nicht nach ihr umblicken – abzudingen. Kurz vor dem Ziel schaut Orpheus aber zurück und verliert sie damit für immer. In Nietzsches Gedicht stellt der Gang in die Unterwelt den Versuch dar, die zu Beginn eingeführten „seelge[n] Zeiten“ wiederzugewinnen,77 und zwar in einem betont poetologischen Sinne: Nietzsche rekurriert auf die traditionelle Zusammengehörigkeit von ‚Lyra‘ (λύρα, griechisch für ‚Leier‘) und ‚Lyrik‘ (ursprünglich der Gesang zur Leier) und inszeniert damit performativ Dichtung als Möglichkeit, Vergangenes zu aktualisieren. Das Ich beschwört durch das Leier-

tief in die Seele hinein“ (NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 222, 23–26). Die Ahnung des ‚Wunderbaren‘ in der Landschaft wirkt auf das lyrische Ich im Auftaktgedicht faszinierend und erschreckend zugleich. Auch in Nach Pforta verwendet Nietzsche dieses Motiv: „Ich kann ihn nun nie vergessen / Den Eindruck so wunderbar / Es zieht mich an selbige Stätte / Warum? Das wird mir nicht klar“ (NL 1858, 4[9], KGW I/1, 222, 9–12). 72 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180, 22 f. 73 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 6. 74 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180, 31 f. 75 Vergil, Georgica, 2 Bde., hrsg., übersetzt und kommentiert von Manfred Erren, Heidelberg 1985, Bd. 1, S. 147–151. 76 Ovid, Metamorphosen. Das Buch der Mythen und Verwandlungen, nach der ersten Prosaübersetzung durch August von Rode neu übersetzt und hrsg. von Gerhard Fink, 4. Auflage, Zürich / München 1994, S. 236–238. 77 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 180, 26.  



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spiel seine versunkenen Erinnerungen, die sich tatsächlich im „Zauberlichte“ zeigen. Aber so, wie Eurydike wieder entschwindet, als Orpheus den Blick wendet, verblassen die Erinnerungen, als ihr Beschwörer sie „fassen“ will.78 In seinem Versuch, die ‚Versunkenen‘ nach mythischem Muster zu vergegenwärtigen, scheitert das lyrische Ich also. Der Dichtung als Bewahrungsort vergangenen Glücks wird damit eine Absage erteilt. Das erklärt, innerhalb der Logik des Zyklus, die Wendung von der antiken Mythologie ins Christliche, von ‚unten‘ (Hades) nach ‚oben‘ (Himmelreich).79 Das freirhythmische Gedicht II ist für das Verständnis des Zyklus zentral: Das „herrliche Gefühl der Heimathsliebe“, das in der Mitte des Textes als Bindemittel des „edlen Geist[es]“ an die irdische Lebenswelt vorgestellt wird, ist die bestimmende Kraft hinter allen den Zyklus durchziehenden Reflexionen des lyrischen Ichs über Verlust, Sehnsucht und Trost.80 Nach einer einführenden Fantasie über die kosmische Flucht der empfindsamen, weltabgewandten Seele in die „seelge[n], bessre[n] Höhen“ des Göttlichen, ändert das Gedicht die Perspektive und präsentiert den mit Heimatliebe gesegneten Menschen zunächst als Glücklichen, dem „das Leben blüthen reich und voll / Von Liebe und Erquikung“ erscheint.81 Es folgt eine längere idyllische Rückschau, in der Kindheit und frühe Jugend in der paradiesischen Bilderwelt, die schon aus dem ersten Gedicht bekannt ist, evoziert werden. Das Erinnern selbst wird dabei – im Gegensatz zum ersten Gedicht, wo es nur ungreifbare Visionen hervorbringen konnte – in die beseligende Schau des Schönen miteinbezogen („Des Lebens Blüthenmai jüngt sich noch einmal“).82 Allerdings knüpft das Gedicht das Erinnerungsvermögen an die Existenz einer realen Umgebung, in der das Erinnerte konserviert wurde: „O glücklich, wer in dieses Lebens Sturm / Ein Haus weiß, wo er ruhen kann“.83 Mit dem Verlust desselben geht das Unvermögen erfüllter Erinnerung einher, sodass nur die Beschwörung schnell erblassender Bilder bleibt. Ebendiesen Verlust beklagt der Sprecher am Ende des zweiten Gedichts für das lyrische Du mit der Konsequenz, 78 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 3 f. 79 Dieselbe Bewegung vollzieht sich auch am Ende von Eichendorffs Marmorbild, konzentriert in Fortunatos letztem Lied: „Sie selbst [Frau Venus] muss sinnend stehen / So bleich im Frühlingsschein, / Die Augen untergehen, / Der schöne Leib wird Stein. – // Denn über Land und Wogen / Erscheint, so still und mild, / Hoch auf dem Regenbogen / Ein andres Frauenbild.“ (Eichendorff, Neue Gesamtausgabe der Werke und Schriften, Bd. 2, S. 343). Gemeint ist am Ende die Jungfrau Maria, die den Bann der das Heidnische verkörpernden Frau Venus bricht. 80 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 19 u. 8. 81 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 11 u. 17 f. 82 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 28. 83 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 20 f.  





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dass das eskapistische Anfangsszenario gültig bleibt. Der empfindsamen Seele wird jedes Recht eingeräumt, die „Nichtigkeit des Lebens“ zu fliehen, um sich kosmischer Gottesnähe hinzugeben.84 Erscheint der Auftakt des zweiten Gedichts also zunächst widerrufen, wird schließlich gerade der Widerruf aufgehoben. Die fast im Stile einer unio mystica präsentierte Fantasie etabliert der Text als völlig gerechtfertigten Eskapismus, als einzigen Trost in einer mangelhaften Welt: Das Subjekt erhebt sich von der Erde und stellt sich dort, wo „Sterne neben ihm um Sonnen wandeln“, in Gottes unmittelbare Nähe.85 Grundlehner spricht mit Blick auf die Transzendenzbewegung auch von „a Wertherian escape into the cosmos“.86 Im Zentrum steht aber auch hier der Heimatverlust, der die Flucht in eine höhere Sphäre motiviert. Die pessimistische Grundstimmung, die schon den Schluss des Auftaktgedichts bestimmt, findet folglich im zweiten Gedicht Bestätigung. Hier wie dort setzt in gleicher Manier ein fatal-hoffnungsloser Ausruf den Schlusspunkt.87 Das motivische Zentrum indes, das aus Gedicht I nur spekulativ herausgelesen werden kann, gestaltet Gedicht II explizit aus, sodass die Naturmetaphorik beider Gedichte transparent wird und die assoziative Projektionsfläche des ‚Heimat‘Begriffs als thematisches Fundament offenbart. Die folgenden Gedichte bauen auf diesem Grundgerüst auf. Zitate spätromantischer Naturmetaphorik dienen dem Ausdruck eines epigonalen Selbstverständnisses, das nur durch die Flucht in die transzendente Sphäre des Ewigen, die als Ersatzheimat fungiert, überwunden werden kann. Das in der Sammlung zentral platzierte Gedicht, das ausweislich der Abschrift für eine Sammlung im Dezember 1860 aus dem Jahr 1858 stammt88 und außerdem im Nachlass der Sommermonate 1859 auftaucht,89 zeichnet sich besonders durch die Intensivierung der pessimistischen Weltabkehr aus, die Gedicht II am Ende wieder offen hervorkehrt.90 Es klingen sogar Stilfiguren barocker

84 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 10. 85 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 12. 86 Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 5. 87 Vgl. NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 6 u. 33. Der solitäre umarmende Reim („geboren“ – „verloren“; 181, 31 u. 33) betont die pessimistische Schlusspointe besonders. 88 Vgl. NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 218; dort Heimweh betitelt. 89 Vgl. NL 1859, 6[18], KGW I/2, 53 f. 90 Schmidt, Nietzsche absconditus II, Bd. 1, S. 387–389, argumentiert anhand einer vermeintlichen reservatio mentalis Nietzsches dafür, das Gedicht nur als fadenscheiniges religiöses ‚Bekenntnis‘ zu lesen, das der Mutter zuliebe in christlichen Formeln gehalten ist. De facto sei sogar die „Seligpreisung am Ende […] Parodie oder purer Hohn“ (ebd., S. 389). Dem ist entgegenzuhalten, dass Nietzsches Naturfrömmigkeit, die Schmidt als Gegenentwurf zu seiner religiösen Lyrik versteht, vielmehr eine Spielart seiner problematischen Religiosität darstellt: Nietzsches  

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Lyrik an.91 Das zweimal vorkommende Glockenläuten92 verbindet als Leitmotiv den Heimatverlust direkt mit dem metaphysischen Trost und erweitert die individuelle Erfahrung dieser Bewegung auf die allgemeinmenschliche Ebene. Formal handelt es sich um eine Zusammensetzung von vier Vierzeilern aus (freieren, mit zusätzlichen Senkungen versehenen) jambischen Dreihebern93 mit umarmendem Reim- bzw. Kreuzreimschema zu einer 16-zeiligen Versgruppe. Die Verse eins bis vier sowie neun bis zwölf orientieren sich an der beliebten Volksliedstrophe, die in vielen verschiedenen Kontexten gebraucht wurde – schon früh etwa „als Form geistlicher Lieder mit besonders innigem Klang“,94 wie er auch Nietzsches Gedicht kennzeichnet. Die anderen acht Verse erzielen mit der „leichten inneren Spannung“ des umarmenden Reimschemas den Eindruck „einer beiläufigen Nachdenklichkeit“,95 die sich hier in den Reflexionen des lyrischen Ichs wiederfindet. Das lyrische Ich, dessen Gedanken und Gefühle in Gedicht III wieder im Mittelpunkt stehen, nimmt das abendliche Glockenläuten zum Anlass, „Heimath und Heimathsglück“ zu irdisch unerreichbaren Sehnsuchtsvorstellungen zu deklarieren.96 Das bedeutet eine Intensivierung der zuvor im Zyklus herausgestellten persönlichen Heimatlosigkeit. Die individuelle Klage darüber weicht der in ihrer Nüchternheit neuen Feststellung, dass es sich um ein universelles Phänomen handelt. Nicht nur der „edle[ ] Geist“97 leidet am Verlust kindlichen Glücks und sucht dessen irdische Wiedererlangung vergebens, sondern jeder Mensch trägt diese Bürde. In dieser neuen Perspektive ersetzt Nietzsche das lyrische Ich durch ein Wir und verwendet das insbesondere die barocke Lyrik prägende vanitas-Motiv des memento mori („Der Erde kaum entwunden / Kehrn wir zur Erde zurück“),98 das die Diesseitsbezogenheit des Menschen negiert. Nicht nur Heimatglück bleibt ihm verwehrt, auch das Leben ist höchst vergänglich. Mit dem

romantische Naturbilder sind, wie oben gezeigt, offen für eine Transzendenz, die als Gegengewicht zum Weltschmerz fungieren soll. 91 Ziemann, Die Gedichte, S. 150, geht davon aus, dass die Choralliteratur Nietzsche „eine solide – obgleich kaum als solche reflektierte – Verbindung zur Barocklyrik“ vermittelte. Mehr als eine „solide“ Kenntnis ist für den Einsatz einzelner rhetorischer Mittel, wie Nietzsche ihn hier praktiziert, sicherlich nicht notwendig. 92 Vgl. NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 2 u. 10. 93 Ausnahmen bilden die trochäischen Dreiheber in der zweiten und fünften Zeile. 94 Frank, Horst Joachim, Handbuch der deutschen Strophenformen, 2., durchgesehene Auflage, Tübingen / Basel 1993, S. 107. 95 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 104. 96 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 6. 97 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 8. 98 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 8 f.  

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Einsatz dieses Vergänglichkeitsthemas ist jedoch nicht ausschließlich demoralisierende Ernüchterung beabsichtigt. In der zweiten Hälfte des Gedichts wird die kurze Lebensdauer des Menschen geradezu als Vorteil angepriesen, denn der Weg „[z]ur ewgen Heimath hin“ sei entsprechend kurz. Das Glockengeläut – und dazu die auf den ersten Blick negative Assoziation der Sterblichkeit und weltlichen Heimatlosigkeit – erhält nun eine positive Konnotation: Wer aufhört, seine Heimat auf Erden zu suchen, der findet sie im jenseitsbezogenen Glauben und lebt „[g]lücklich“,99 da er ohnehin nur kurze Zeit im ‚Jammertal‘ des Diesseits ausharren muss. Auch der Kunst, die im ersten Gedicht als Beschwörungszauber letztlich versagte, wird vor diesem Hintergrund eine positive Funktion zugewiesen: Glück verheißt nicht nur die Absage an den irdischen Trug, sondern auch das Singen der „Heimathslieder […] / von jener Seligkeit“.100 Der dichterische Gesang manifestiert das Erlösungsversprechen noch zu Lebzeiten; er muss sich nur auf die zukünftig zu gewinnende Ewigkeit richten, um sein Potenzial zu entfalten, denn Vergangenes könne auch die Kunst nicht wiederbeleben. In Analogie dazu erhält der Heimatbegriff eine neue Färbung: Das unwiederbringliche Kindesalter bietet genauso wenig wie das Zuhause, das ein lebhaftes Erinnern ermöglicht, eine beständige Aussicht auf Glück. Einsamkeit und Heimatlosigkeit stellt der junge Nietzsche als für das irdische Leben notwendige Zustände dar, die folglich erst in der Negation desselben überwunden werden können: Der „edle[ ] Geist“ „schwingt […] sich empor“, der Glückliche „entschwinget“ sich der Erde.101 Als lebenswerten Kompromiss bietet der Text somit das Leben im steten Gedanken an Gott an, das im dichterischen Lobpreis veredelt werden kann. Das vierte Gedicht hatte Nietzsche seiner Mutter schon einmal geschenkt, und zwar als Abschlussgedicht der Geburtstagssammlung des Jahres 1858 unter dem Titel Wohin?102 Bestehend aus drei gleichmäßigen Volksliedstrophen, ist es das formal am stärksten geschlossene Gedicht des Zyklus und auch thematisch musterhaft für die prinzipielle Neigung der vielfältig verwendeten Form „zum verhaltenen Ausdruck inniger, ja wehmütiger Empfindungen“.103 Bestimmendes Strukturmerkmal ist die Apostrophe von „Vöglein“, „Lerchen“ und „Nachtigall“,104 auf die jeweils Aufforderungen des lyrischen Ichs an die Vögel folgen,

99 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 13 f. 100 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 16 f. 101 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 181, 8 f., u. 182, 15. 102 Vgl. NL 1858, 4[9], KGW I/1, 226. 103 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 111. 104 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 18, 22 u. 26. Die genannten Singvögel kommen in Nietzsches Gedichten um 1858 zuhauf vor. Schmidt, Nietzsche absconditus I, Bd. 2, S. 1043, vermutet, „daß  





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durch Grüße und Trostgaben einen symbolischen Konnex von Dies- und Jenseits zu schaffen. Die Singvögel symbolisieren – in einer bis in die Antike zurückreichenden Tradition, auf die auch der spätere Nietzsche als Lyriker immer wieder rekurriert – den Dichter, im konkreten Fall denjenigen, der Heimatlieder singt, und sie ermöglichen die Kommunikation zwischen Himmel und Erde. Auf diese Weise versinnbildlichen sie das himmlische Trostversprechen in der Welt. „Vaters Grab“ ist auf der symbolischen Ebene eine sinnfällige Metapher für Einsamkeit und Heimatlosigkeit.105 In der inneren Logik des Zyklus ging mit dem Vater auch die Kindheit verloren – ein frühes ‚Erwachsenwerden‘ ist die Folge. Doch besteht aufgrund des christlichen Heilsversprechens die Hoffnung auf ein Wiedersehen im Paradies. Wie der Heimatlieder singende Dichter aus Gedicht III fordert das lyrische Ich die „Vöglein in den Lüften“ auf, singend „den theuren / Den lieben Heimathsort“ zu grüßen.106 Mit Blick auf die bisherige Konnotation des Heimatbegriffs ist davon auszugehen, dass es sich dabei um die ewige Heimat des Menschen im Paradies handelt, das sich nach traditionellen Glaubensvorstellungen im transzendenten Himmel befindet. Dichter und Singvogel erscheinen hier – nicht zuletzt über das tertium comparationis des ‚himmlischen Gesangs‘ – bildlich verbunden und fungieren als ‚Mittler‘ zwischen Himmel und Erde. Aus der Aufforderung des lyrischen Ichs spricht eine neu gefundene Sicherheit angesichts seiner Einsamkeit und Heimatlosigkeit. Beides ist für den Sprecher zwar untrennbar mit dem menschlichen Leben verbunden, doch könne man sich schadlos halten, indem man sich durch irdische Dienste stets auf den Himmel bezieht. Das

sowohl Nachtigall als auch Lerche Selbstbilder Nietzsches sind“, und sieht in jener den „Leidensaspekt […] recht gut getroffen“, in dieser den „Sonnenbezug des Apollon, Höhe, Lebensfreude der Götter“ symbolisiert (ebd., S. 1047). Nachtigall und Lerche sind aber zugleich die Vogelarten, die in Eichendorffs Lyrik nicht nur eine exponierte Stellung einnehmen, sondern geradezu zum Inventar seiner Naturbilder gehören. Da Nietzsche beständig aus Eichendorffs Werk schöpft, ist es auch als Quelle der Vogelbilder wahrscheinlich (vgl. auch Ziemann, Abschiede, S. 187). Mayer erachtet „Lerchen, Schwalben und Adler“ ebenfalls als „Requisiten dieser Texte“, sieht sie aber im Kontext „des Aufbruchs zu neuen Ufern“ (Mayer, Nachwort, S. 181), was auf das „Vögelpaar“ in Colombo (NL 1858, 4[67], KGW I/1, 274, 5) sicherlich zutrifft. 105 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 29. Vgl. auch Mayer, Nachwort, S. 181. „Vaters Grab“ verweist durchaus auf Nietzsches persönliche Erfahrung. Das wiederholte Vorkommen in Nietzsches Gedichten zeugt aber von einer über die autobiographische Referenz weit hinausreichenden metaphorischen Bedeutung (vgl. hierzu auch das Gedicht Ich habe viel geweinet ..., NL 1859, 6[70], KGW I/2, 91 f.). Die motivische Ausweitung auf die „ganze Welt“ als „Grab“ in Verbindung mit „Nachtigall und Lerchenschlag“ (NL 1858, 4[66], KGW I/1, 272, 14 u. 273, 7) im Gedicht O weh! Daß ich verlassen hab ... ist ein weiteres Beispiel für den Einsatz des Bildes im Kontext beklagten Heimatverlustes. 106 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 18 u. 20 f.  



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Schmücken des Vaterhauses und die Bitte um ein Weitertragen der Trostgaben stellen ebenso wie die Mitnahme der „Rosenknospe“ vom Vatergrab symbolische Handlungen dar,107 in denen sich der Mensch, den das lyrische Ich hier als Individuum repräsentiert, mittels Kunst (Gesang, Haus- und Grabschmuck) in Beziehung zur ‚Heimat‘ setzt und seinen Glauben praktiziert. Im Abschlussgedicht (V) tritt der kasualpoetische Status deutlicher als bei den anderen Gedichten des Zyklus hervor. Die Konstellation von lyrischem Ich und Du entspricht exakt dem Trostgestus, der oben angenommen wurde: Anlässlich ihres Geburtstags („wenn du heut durch dir Pforte / Des neuen Jahres trittst“)108 will der Sohn die um den gestorbenen Vater trauernde Mutter trösten und ihr eine ideelle Ersatzheimat bieten. Gleichwohl zeigt sich bei diesem Gedicht klar, wie sehr der junge Nietzsche – namentlich wenn es sich um religiöse Gelegenheitsgedichte für seine Mutter handelt – konventionelle Vorstellungen nach dem Muster kirchlicher Gesangbücher übernimmt, auch wenn es sich in diesem Fall nicht um eine Formübernahme handelt, da er das Gedicht (mit Ausnahme der zweiten Zeile) in Blankversen verfasste.109 Das persönlichere Eingangsgedicht, das er auch seinem Freund Wilhelm Pinder schickte, stellt hierzu einen merklichen Kontrast dar. Das lyrische Ich attestiert einem nicht näher bestimmten Du „Angst“ und „Schmerz“, um davon ausgehend ein Trostgebet „empor zu Gottes Throne“ zu senden: „Frieden und Ruhe“ sollen wieder in das „schmerzzerissne Herz“ einkehren.110 Das lyrische Ich verwendet seine Erfahrung des Heimatverlustes und seine religiöse Selbsterbauung, um einem Du, das ebenso am Verlust leidet, die eigene Troststrategie zu empfehlen. Im Gebet, dem Kontaktversuch von Mensch zu Gott, öffnet sich eine Perspektive auf Erlösung, die auf das menschliche Leben zurückstrahlt und ihm „Frieden und Ruhe“ ermöglicht. Das lyrische Ich hat diese Erfahrung gemacht und ist sich daher sicher: „diese Bitte [um Trost] wird der Herr gewähren“.111 Im zweiten Teil des Gedichts ist aus dem lyrischen Ich ein Wir geworden, das einen Ersatz für die verlorene Heimat anbietet. Analog zur Universalisierung des trostlosen Menschenschicksals im dritten Gedicht wird hier die Verallgemeinerung der zuvor entwickelten Erlösungsstrategie postuliert. Die in Liebe vereinte Gemeinschaft ist gefestigt genug, um auf Erden einen Heimatersatz zu suchen. Die christliche Trias Glaube, „Liebe“, „Hoffnung“ gibt diesem Wir Halt und lässt

107 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 182, 23 u. 28. 108 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 183, 2 f. 109 Die überwiegend im Drama eingesetzten Blankverse betonen hier, dass es sich um eine Anrede des lyrischen Du durch das Ich handelt. 110 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 183, 2–8. 111 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 183, 9.  

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es bereits im Diesseits am ewigen ‚Heimatglück‘ des Jenseits teilhaben,112 da das Irdische so zum Vorhof des himmlischen Reiches verklärt wird. Die finale Metapher bringt dies zum Ausdruck: „Hast du noch nie gesehn, wie grüne Hügel / Von ferne blau erscheinen? Also ist / Auch unsre Hoffnung unser Himmelreich!“113 Grün, die Farbe der Hoffnung und der lebendigen Natur, erscheint himmelblau. So exponiert das Gedicht noch einmal den irdischen Zugang zum ‚metaphysischen Trost‘ über die Natur: Sie lässt das Jenseits im Diesseits, die Ewigkeit in der Zeit erahnen. Damit wird die im ersten Gedicht vernichtete Hoffnung abschließend wieder geweckt. Der Zyklus betont zuletzt also einen Lebenswert, statt bloß auf den Tod als das Ende des Leidens zu vertrösten. Der harmonische Schluss des Zyklus In der Ferne veranschaulicht ein wesentliches Charakteristikum der Jugendgedichte: Wo Nietzsches frühe Lyrik romantisch, erbaulich oder antikisierend idealisiert, handelt es sich in aller Regel um poetische Gegenentwürfe, deren Harmonie ex negativo auf die Insuffizienz der wahrgenommenen Realität verweist.114 Ihnen eignet ein entschieden postulatorischer Charakter. Sie sind Ausdruck eines fundamentalen Zweifels an sich und der Welt, der eines Ausgleichs bedarf, den in den Texten des reifen Nietzsche bekanntlich oftmals die Kunst leistet. Der Glaube erscheint beim jungen Nietzsche nicht als daseinsfundierende Gewissheit, sondern als Zuflucht verlorener Seelen – und selbst dies nur als Wunschvorstellung.

112 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 183, 12, 10 u. 15. 113 NL 1859/60, 7[6], KGW I/2, 183, 13–15. 114 Das späte Jugendgedicht Jetzt und ehedem (1863), das auch sprachlich die reife Lyrik Nietzsches antizipiert (vgl. Ziemann, Die Gedichte, S. 151), reflektiert diesen Umstand stellenweise: „O daß ich könnte weltenmüd / Wegfliehen. / Und wie die Schwalbe nach dem Süd / Zu meinem Grabe ziehen: / Rings warme Sommerabendluft / Und goldne Fäden. / Um Kirchhofskreuze Rosenduft / Und Kinderlust und Reden.“ (NL 1863, 15[2], KGW I/3, 114, 9–16)

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Nietzsches Gimmelwalder MelancholieGedichte aus dem Sommer 1871 Abstract: Nietzsche’s Gimmelwald poems on melancholy from the summer of 1871. The affinity of Nietzsche’s poems on melancholy written in July 1871 in Gimmelwald (Switzerland) has not been shown in detail yet. In a close reading of the two poems, this essay investigates both the functioning of the individual texts and their interplay. In addition, the poems are read in their literary and philosophical contexts: from the long tradition of melancholy into which Nietzsche inscribes himself to Die Geburt der Tragödie, which he was working on at exactly the same time.

1 Einleitendes Nietzsches Gedichte An die Melancholie und Nach einem nächtlichen Gewitter1 entstanden während eines Ferienaufenthalts in der zweiten Julihälfte 1871 in Gimmelwald (Berner Oberland). Neben der räumlichen und zeitlichen ist die thematische Zusammengehörigkeit evident, denn beide Texte stellen allegorische Melancholie-Figuren ins Zentrum, die sich aufgrund der zugeschriebenen Attribute ähneln. Elisabeth Förster-Nietzsche spricht in ihrer Biographie des Bruders zudem davon, dass er in der betreffenden Zeit „zwei Gedichte an die ‚Melancholie‘ verfaßte“.2 Unter den erhaltenen Gedichten Nietzsches aus den frühen 1870er Jahren trifft diese thematische Bestimmung nur auf die hier zu erörternden Texte zu.3 Bei den zwei anderen Gedichten Nietzsches, die Buschendorf zufolge als ‚Melancholie-Gedichte‘ bezeichnet werden können,4 handelt es sich um den

1 NL 1871, 15[1]–[2], KSA 7, 389–391. 2 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Das Leben Friedrich Nietzsche’s, 2 Bde., Leipzig 1895, Bd. 2, Abt. 1, S. 61. 3 Dass im Gewitter-Gedicht nicht explizit von der Melancholie die Rede ist, während sie im ersten Text wiederholt angerufen und als Adressatin im Titel genannt wird, ist dem Tropus der Antonomasie geschuldet, den Nietzsche in Nach einem nächtlichen Gewitter konsequenter als im Melancholie-Gedicht einsetzt. 4 Vgl. Buschendorf, Bernhard, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie. Friedrich Nietzsches Gedicht ‚An die Melancholie‘, in: Riedel, Manfred (Hrsg.), „Jedes Wort ist ein Vorurteil“. Philologie und Philosophie in Nietzsches Denken, Köln 1999 = Riedel, Manfred u. a. (Hrsg.), Collegi 

DOI 10.1515/9783110474374-004

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ersten Teil der Jugenddichtung Alfonso5 aus dem Jahr 1857 sowie um den Gesang des Zauberers im Kapitel „Das Lied der Schwermuth“ aus dem Zarathustra (bzw. den ‚Dionysos-Dithyrambus‘ Nur Narr! Nur Dichter!).6 An die Melancholie ist bereits Gegenstand mehrerer Untersuchungen gewesen, die sich dem Gedicht auf unterschiedlichen Wegen genähert haben. Buschendorf analysiert es im Lichte der parodistischen Verfahrensweisen Nietzsches umfassend und moniert, dass das Gedicht „in der Forschung unter verschiedenen Aspekten behandelt, in seiner Form und seinem gedanklichen Gehalt bislang aber nicht auch nur annähernd erfaßt wurde“.7 Kritik an der künstlerischen Qualität des Gedichts üben Meyer, der An die Melancholie zwischen „Pathos und Farce“ verortet,8 und Ziemann, der vor allem „die Überhöhung des Schlusses“ unstimmig findet.9 Im Vergleich zum Melancholie-Gedicht, das die Forschung also durchaus zur Kenntnis genommen hat, ist Nach einem nächtlichen Gewitter bislang weitgehend unbeachtet geblieben. Meyer betitelt es als „abstruse[s] Schauer-Gedicht“,10 Grundlehner erwähnt es nur einmal in einer Anmerkung kurz vor dem Ende seiner Untersuchung zum Melancholie-Gedicht11 und Volz, die dem Gedicht noch die meiste Aufmerksamkeit widmet, identifiziert die militaristisch auftretende Melancholie-Figur kurzerhand mit Kleists Penthesilea und verwischt die enge Zusammengehörigkeit beider Gedichte.12 Mittel- und Ausgangspunkt einer literaturwissenschaftlichen Betrachtung waren beide Gedichte zusammen also noch nicht,13 obwohl sie ein gemeinsames, thematisch und motivisch eigenständiges Gepräge aufweisen: Nietzsche bewegt

um Hermeneuticum. Deutsch-italienische Studien zur Kulturwissenschaft und Philosophie, Bd. 1, S. 105–130, hier S. 115 f. 5 NL 1857, 3[1], KGW I/1, 175, 3–176, 16. 6 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371–374; bzw. DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 377– 380. 7 Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 113. Ein entsprechender Kommentar der älteren (aber noch immer aktuellen) Forschungssituation findet sich ebd., S. 113 f. 8 Meyer, Theo, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991, S. 407. 9 Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156, hier S. 152. 10 Meyer, Nietzsche, S. 407. 11 Vgl. Grundlehner, Philip, The Poetry of Friedrich Nietzsche, New York / Oxford 1986, S. 318 f. 12 Vgl. Volz, Pia Daniela, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, in: Jahresschrift der Förder- und Forschungsgemeinschaft Friedrich Nietzsche e. V., Bd. 3, Halle/Saale 1994, S. 23–45, hier S. 36 f. Diese Behandlung des Verhältnisses der beiden Gimmelwalder Gedichte zueinander ist beispielhaft für ihre bisherige Rezeption: Das Gewitter-Gedicht steht klar im Schatten des MelancholieGedichts, selbst auf die naheliegende Zusammengehörigkeit wurde nur vereinzelt hingewiesen. 13 Zur frühen Rezeption von Nietzsches Lyrik insgesamt vgl. den entsprechenden Beitrag von Katharina Grätz in diesem Band.  







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sich zwar als Dichter im Rahmen einer umfassenden Melancholie-Tradition,14 die nicht zuletzt die europäische Lyrik stark beeinflusst hat, versteht es aber, durch die ironische Behandlung der Thematik und die eigenwillige Wahl der Bilder eigene Akzente zu setzen. Interesse verdienen die beiden Texte auch deshalb, weil vom Lyriker Nietzsche aus den 1870er Jahren nur wenige vollständige Gedichte erhalten sind: Im Nachlass dieser Zeit finden sich zwar insgesamt 39 im weitesten Sinne lyrische Texte, es handelt sich bei ihnen aber größtenteils um fragmentierte Strophen, verstreute Einzelverse und Nonsens-Konstruktionen.15 Zusammen mit den Erstfassungen der sogenannten Rosenlauibad-Gedichte Im deutschen November und Am Gletscher aus dem Sommer 187716 sowie der ein Jahr zuvor entstandenen ersten Fassung von Der Wanderer17 sind die Gimmelwalder Gedichte die einzigen lyrischen Produktionen aus der frühen Werkphase Nietzsches, die sich als weitgehend abgeschlossene und zusammenhängende Sprachgebilde literaturwissenschaftlich erschließen lassen. Das liegt allerdings weniger an Nietzsches zurückhaltender Produktion in den 1870er Jahren, als vielmehr – glaubt man Elisabeth Förster-Nietzsche – an seinen Autodafés: „Liegen nun aus einer solchen Zeit […] keine ernsten dichterischen Produktionen vor, so bin ich viel mehr geneigt zu glauben, daß sie vernichtet sind, als daß überhaupt nichts vorhanden gewesen sein sollte“.18

14 Zu den Ursprüngen dieser Tradition und ihrer Entwicklung bis ins Mittelalter hinein vgl. das Standardwerk von Klibansky, Raymond / Panofsky, Erwin / Saxl, Fritz, Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, übersetzt von Christa Buschendorf, Frankfurt/Main 1990. Eine Auswahl maßgeblicher Gedichte aus der spezifisch literarischen Melancholie-Tradition bietet samt Einleitung die Anthologie von: Völker, Ludwig (Hrsg.), „Komm, heilige Melancholie“. Eine Anthologie deutscher Melancholie-Gedichte. Mit Ausblicken auf die europäische Melancholie-Tradition in Literatur- und Kunstgeschichte, Stuttgart 1983. Die in der Folge zu illustrativen Zwecken angesprochenen Gedichte aus der Tradition zitiere ich der Einheitlichkeit wegen aus dieser Ausgabe. 15 Vgl. beispielsweise die nachgelassenen Notizen im Oktavheft N I 2 aus dem Frühherbst 1871, 17[1]–[10], KSA 7, 409 f.; oder die letzten Aufschriebe im Notizbuch N II 2 vom Sommer 1877, 22[119]–22[135], KSA 8, 401–403. Die sentimentalen Strophen NL 1877, 22[45], KSA 8, 386 f.; und NL 1877, 22[61], KSA 8, 389, machen zusammen mit den rein scherzhaften Gedichtfragmenten NL 1877, 22[80], KSA 8, 392 f.; und NL 1877, 22[92], KSA 8, 394 f., noch den vollständigsten Eindruck. 16 NL 1877, 22[93]–[94], KSA 8, 395–397. Nietzsche überarbeitet die Gedichte 1884 und gibt ihnen ihre heute bekannten Titel (vgl. NL 1884, 28[59]–[60], KSA 11, 323–326). Vgl. zu dem Gedicht Um Mittag / Am Gletscher den entsprechenden Beitrag von Katharina Grätz im vorliegenden Band. 17 NL 1876, 17[31], KSA 8, 302 f. Dieses Gedicht schickt Nietzsche zeitnah an Erwin Rohde (Brief vom 18. 07. 1876, KSB 5, Nr. 542, S. 176 f., Z. 19–43) und überarbeitet es ebenfalls im Zuge der Neugestaltung der Rosenlauibad-Gedichte (vgl. NL 1884, 28[58], KSA 11, 322 f.). 18 Vgl. Förster-Nietzsche, Elisabeth, Vorwort zur 1. Auflage, in: Nietzsche, Friedrich, Gedichte und Sprüche [mit einem Vorwort von Elisabeth Förster-Nietzsche und einem Nachbericht von Peter Gast], 17./20. Tausend, Leipzig 1908, S. XII.  













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Ob die Gimmelwalder Gedichte zufällig oder absichtlich erhalten geblieben sind, lässt sich nicht sicher sagen. Als einzige bekannte lyrische Werke der frühen 1870er Jahre können sie bei der Annäherung an den Dichter Nietzsche aber nicht umgangen werden, zumal sie Auskunft über den Werdegang Nietzsches als Lyriker gewähren (indem sie, so Mathias Mayer, auf die Abkehr von seiner melancholischen Jugendlyrik hinweisen und den ironisch-heiteren Stil der frühen 1880er Jahre antizipieren).19 Nicht zuletzt enthält An die Melancholie deutliche Verbindungen zur zeitgleich entstehenden Tragödienschrift und bewegt sich damit auch im Bereich philosophischer Lyrik. Obwohl sie also mancherorts als bloße „epigonale Stilübungen“ bezeichnet wurden,20 gehören An die Melancholie und Nach einem nächtlichen Gewitter zu den interessantesten Gedichten Nietzsches.

2 Zur Melancholie-Tradition und ihrer Aufnahme in Nietzsches Gimmelwalder Gedichten Innerhalb der Tradition lassen sich zwei verschiedene Wertungen der Melancholie erkennen: die pathologisch-negative und die genialisch-positive.21 Erstere ist von Anfang an mit dem Begriff μελαγ-χολία (melancholia, ‚Schwarzgalligkeit‘) verbunden, der in den ältesten Teilen des Corpus Hippocraticum noch die krankhafte schwarze Verfärbung des Gallensaftes meint, während die spezifisch ‚schwarze‘ Galle erst in der Vier-Säfte-Lehre terminologisch fixiert wird. In jüngeren Texten des Corpus Hippocraticum finden sich dann spezifische ‚melancholische‘ Leiden, die auf die schwarze Galle zurückgeführt werden und sowohl manische als auch depressive Phasen einschließen. Positiv wird die Melancholie erstmals im pseudoaristotelischen Problem XXX, 1 gedeutet, wo sie als Natur-

19 Vgl. Mayer, Mathias, Nachwort, in: Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Mathias Mayer, Stuttgart 2010, S. 173–186, hier S. 181. 20 Meyer, Nietzsche, S. 407. 21 Der folgende Überblick basiert größtenteils auf Hellmut Flashars Kommentar seiner Übersetzung des Problems XXX, 1 in: Aristoteles, Problemata Physica, übersetzt von Hellmut Flashar, Berlin 1962 (= Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, hrsg. von Ernst Grumach, Bd. 19), S. 711–722; sowie auf den Ausführungen von Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie; Völker, Ludwig, Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie. Studien zum Melancholie-Problem in der deutschen Lyrik von Hölty bis Benn, München 1978, S. 11–29; und Völker (Hrsg.), „Komm, heilige Melancholie“, S. 15–43.

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anlage bestimmt wird, die den Melancholiker zu außergewöhnlichen Leistungen befähige. Der Anfang des Textes lautet: Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker; und zwar ein Teil von ihnen so stark, daß sie sogar von krankhaften Erscheinungen, die von der schwarzen Galle ausgehen, ergriffen werden, wie man z. B. berichtet, was unter den Heroen dem Herakles widerfuhr?22

Das pathologische Verständnis der Melancholie besteht also hier noch neben dem genialischen fort. Verliert die Wärme der schwarzen Galle ihr Mittelmaß, schlägt die außerordentliche Befähigung in Wahnsinn oder Niedergeschlagenheit um. In der Antike wird die genialische Melancholie-Vorstellung der Problemata wiederholt aufgegriffen, etwa von Cicero, Seneca und Plutarch. Im Mittelalter beziehen sich mehrere Scholastiker ebenfalls darauf. Doch bleibt das medizinische Verständnis der Melancholie als Krankheit insgesamt dominant; im Laufe des Mittelalters setzt es sich in der allgemeinen Meinung sogar gänzlich durch. Erst im italienischen Humanismus, namentlich im Gelehrtenkreis um Marsilio Ficino, erfährt die Melancholie eine Umwertung, die sie im Rückgriff auf die Problemata und auf Platons Lehre vom ‚göttlichen Wahnsinn‘ nachhaltig als natürliches Temperament der vita contemplativa vorstellt.23 Für das neuzeitliche Melancholie-Verständnis, wie es sich im Anschluss an Ficino entwickelt, ist die Dialektik von Trauer und Heiterkeit wesentlich, die schon Michelangelos berühmter Satz ausdrückt: „Meine Freude ist die Melancholie“ („La mia allegrezz’ è la maninconia“).24 Von Italien hält es – nicht zuletzt im Medium der Literatur – über England25 schließlich Einzug in ganz Europa. Dabei ist auch die Tendenz einer auf Selbstnobilitierung zielenden Stilisierung zum Melancholiker kennzeichnend; es entsteht ein „poetische[r] Kult der Melancholie“.26 In Deutschland kommt es erst spät zur positiven literarischen Rezeption des neuen Melancholie-Bildes: Im Barock dominiert, bis auf wenige Ausnahmen in 22 Aristoteles, Problemata Physica, S. 250. 23 Vgl. Völker (Hrsg.), „Komm, heilige Melancholie“, S. 24. So bereits Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie, S. 361 f., die in der humanistischen „Gleichsetzung von ‚Aristotelischer‘ Melancholie und Platonischem ‚furor divinus‘, die die Antike selbst nie klar formuliert hatte“, die Schöpfung des modernen Genie-Begriffs sehen. 24 Zitiert nach: Jochen Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750–1945, Bd. 1: Von der Aufklärung bis zum Idealismus, dritte verbesserte Auflage, Heidelberg 2004, S. 107 f. 25 John Miltons Il Penseroso (vgl. Völker [Hrsg.], „Komm, heilige Melancholie“, S. 337–346) und Shakespeares Hamlet sind maßgebend für diese frühe englische Rezeption. 26 Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 108.  



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der Lyrik, „die volkstümlich-abwertende Melancholie-Vorstellung“ des Mittelalters,27 die erst Mitte des 18. Jahrhunderts von der empfindsam-verklärten Auffassung der ‚Dichterfreundin‘ Melancholie abgelöst wird. Die Empfindsamkeitsliteratur des 18. Jahrhunderts, die in der englischen ‚Gräber- und Kirchhofspoesie‘ gipfelt, kultiviert die fruchtbare Verbindung von Kunst und Melancholie so sehr, dass die ‚süße Schwermut‘ als Schutzgöttin und Muse des Dichters allen Schrecken verliert und in zahlreichen Werken als liebliche Allegorie auftritt, die das Dichten befördern soll (melancholia generosa). Die Bewertung in der Literatur nimmt durch die aufkommende Genieästhetik zwar wieder düstere Züge an, doch die inspirierende Wirkung bleibt davon unberührt.28 Das Leiden an der Melancholie artikuliert besonders die ‚Weltschmerz‘-Dichtung von der Romantik bis hin zu Heine und Büchner, welche die existenziellen Nöte des Subjekts in den Mittelpunkt rückt.29 Insgesamt bewegt sich die Melancholie-Dichtung des 18. und 19. Jahrhunderts aber innerhalb des Bedeutungsspektrums von empfindsamer Verklärung und romantischem Pessimismus, wie ihn Schopenhauer am stärksten zum Ausdruck bringt.30 Im Anschluss an Schopenhauer und etwa auch Giacomo Leopardi greift Nietzsche an der Schwelle zur Jahrhundertwende die pathologische Semantik nachdrücklich wieder auf.

27 Völker, Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie, S. 12. 28 Eine prägende Gestalt des Geniekults der Stürmer und Dränger war Johann Georg Hamann, der eine genaue Kenntnis der Melancholie-Tradition über Marsilio Ficino bis hin zu den pseudoaristotelischen Problemata besaß. Hamann war zwar „unverkennbar selbst ein schwerer Melancholiker und ‚Hypochondrist‘“, doch verlief die Grenze zum „gelehrten Rollenspiel“ fließend. Er verkörpert musterhaft die ambivalente Melancholie-Vorstellung der Genieästhetik (vgl. hierzu: Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, zur „Aktualisierung der traditionellen Verbindung von Genie und Melancholie“ im Sturm und Drang am Beispiel Hamanns S. 105–110, hier S. 109). – Eine umfassende Studie zum Thema der Melancholie im 18. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung des religiösen und mystischen Kontextes bietet Schings, Hans-Jürgen, Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1977. – Einen soziologischen Blick auf die Melancholie-Thematik in der betreffenden Zeit wirft das Kapitel „Zum Ursprung bürgerlicher Melancholie: Deutschland im 18. Jahrhundert“ in: Lepenies, Wolf, Melancholie und Gesellschaft, Frankfurt/Main 1969, S. 79– 117. 29 Einen Textüberblick mit Gedichten von Tieck, Droste-Hülshoff, Heine u. a. enthält das Kapitel über „Romantik und Biedermeier“ in Völker (Hrsg.), „Komm, heilige Melancholie“, S. 107–156. 30 Schopenhauer bietet im 31. Kapitel der Welt als Wille und Vorstellung („Vom Genie“) gewissermaßen ein kleines Resümee des neuzeitlichen Melancholie-Verständnisses (samt den wichtigsten Zitaten aus der Tradition), das er auf der Folie seines Voluntarismus erläutert (vgl. Schopenhauer, Arthur, Die Welt als Wille und Vorstellung I und II, nach den Ausgaben letzter Hand hrsg. von Ludger Lütkehaus, 5. Auflage, München 2011, S. 446 f.).  



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Nietzsche verbindet beide Traditionszweige – die empfindsam-verklärende und die pathologisierende – in ironisch-parodistischer Weise.31 Dieser Ansatz ermöglicht ihm auf der einen Seite, sein Wissen über die tradierten Motive in die Gedichte einfließen zu lassen; auf der anderen Seite gelingt ihm ein innovativer Umgang mit ihnen. Zugleich kommt den Gimmelwalder Gedichten eine autobiographische Dimension zu. Sie lassen sich als Versuch Nietzsches verstehen, sich von der bedrückenden Melancholie zu befreien. Diese beschäftigt ihn persönlich und theoretisch immer wieder (auch über den Sommer 1871 hinaus); er strebt danach, sie zu überwinden und zu einer stilisierten Heiterkeit durchzubrechen. Ein Notat aus dem Winter 1880/81 lautet dementsprechend: „immer melancholisch – aber ein Princip der Tapferkeit von Kindheit an macht, daß ich viele kleine Siege habe und in Folge dessen heiterer bin als es meiner Mel〈ancholie〉 geziemt“.32 Und im vierten Teil seiner Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft fordert das sprechende Ich als Gegenstück zum „romantische[n] Aufruhr und Sinnen-Wirrwarr“ „eine Kunst für Künstler“, die es – wohl mit Blick auf das Gestaltungsprinzip der Parodie – als „eine spöttische, leichte, flüchtige, göttlich unbehelligte, göttlich künstliche Kunst“ charakterisiert.33 Die melancholische Gefährdung bei Nietzsche, der zugleich die Möglichkeit zur Überwindung eingeschrieben ist, bringt ein Fragment aus dem Nachlass pointiert zum Ausdruck: „Die höchsten Menschen leiden am meisten am Dasein – aber sie haben auch die größten G e g e n - K r ä f t e .“34

3 An die Melancholie Bereits die Adressierung der Melancholie im Titel des Gedichts eröffnet zwei große Bedeutungskomplexe: Einerseits kann das Gedicht aufgrund des Titels als biographisch geprägte Auseinandersetzung mit Nietzsches eigenen melancholischen Stimmungen gelesen werden, die ihn in regelmäßigen Abständen überfielen. Zahlreiche Briefe enthalten Klagen über melancholische Zustände, so schreibt Nietzsche am 14. Mai 1874 an Erwin Rohde: „ich gerathe mitunter in eine

31 Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 105–113 erarbeitet vor dem Hintergrund des Melancholie-Gedichts sogar einen eigenen Parodiebegriff Nietzsches, dem zufolge Nietzsche „die Parodie als ein – zuweilen komisches, zuweilen aber auch durchaus ernstes – Verfahren der spielerischen Anverwandlung von Traditionen“ verstehe (ebd., S. 113). 32 NL 1880/81, KSA 9, 8[42], 391, 19–21. 33 FW Vorrede 4, KSA 3, 351, 21 f. u. 25–29. 34 NL 1884, 25[157], KSA 11, 54, 26 f.  



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schreckliche Klagerei und bin i m m e r mir einer tiefen Melancholie meines Daseins bewusst, bei aller Heiterkeit“.35 Knapp zwei Wochen später rät er seinem Freund Rohde brieflich zum metaphorischen „Aderlass“ (dabei auf Goethes Tasso36 anspielend): Sage einmal, liebster Freund, willst Du nicht auch das Mittelchen gebrauchen, das ich selbst, ebenso Overbeck, gebrauchen? Man ritzt sich die Adern und lässt etwas Blut fliessen – unzeitgemäss wie die Andern schreien, die den Aderlass als ein überwundenes und antiquiertes Heilmittel betrachten. Ich meine: willst Du nicht auch einmal Dein und unser Elend etwas ausschütten und sagen, was Du leidest? Es liegt ganz gewiss etwas Befreiendes darin, den Leuten grob zu sagen, wie unser einer sich eigentlich unter ihnen befindet. Beseitigen wir den Bandwurm der Melancholie schriftlich – indem wir die Andern zwingen, unsre Schriften zu verschlucken.37

In den 1880er Jahren verschlimmern sich die melancholischen Attacken noch; in Briefen an Köselitz und Overbeck ist die Rede von „der schwärzesten Melancholie“ beziehungsweise von einer „unbewegliche[n] schwarze[n] Melancholie“.38 Und noch am Ende der 80er Jahre beklagt Nietzsche derartige Zustände, etwa in einem Briefentwurf an Overbeck oder zum Schluss eines Briefs an die Mutter.39 Zudem lässt bereits die große Zahl melancholischer Jugendgedichte auf schwermütige Gefühlszustände in jungen Jahren schließen.40

35 KSB 4, Nr. 364, S. 226, Z. 8–10. 36 Goethes poetologische Verse am Schluss seines Dramas sind auch ein berühmtes Zeugnis der neuzeitlichen Melancholie-Tradition: „Und wenn der Mensch in seiner Qual verstummt, / Gab mir ein Gott, zu sagen, wie ich leide.“ (Goethe, Johann Wolfgang von, Werke. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden, hrsg. von Erich Trunz, Bd. 5, textkritisch durchgesehen und kommentiert von Josef Kunz, unveränderter Nachdruck der 7. Auflage, München 1974, S. 166). 37 KSB 4, Nr. 368, S. 233, Z. 18–28. Im Brief vom 20. Oktober 1871 zitiert Nietzsche sein Melancholie-Gedicht gegenüber Rohde, als er die eigene Haltung auf einer Gruppenphotographie zusammen mit Rohde und Carl von Gersdorff selbstironisch in Anführungszeichen als eine „unschön gekrümmt[e]“ beschreibt (KSB 3, Nr. 162, S. 233, Z. 8 f.). Im Gegensatz zu einem Gruppenbild der Burschenschaft Franconia aus dem Jahr 1864 und Gustav Adolf Schultzes Fotografie von 1882 zeigt das betreffende Bild Nietzsche allerdings gar nicht in der ikonischen Pose, sondern stehend mit angewinkeltem Arm. 38 KSB 6, Nr. 390, S. 343, Z. 9 f.; und KSB 6, Nr. 393, S. 348, Z. 6. 39 Vgl. KSB 8, Nr. 1067, S. 364, Z. 43 f.: „Ich bin mitunter auf eine unbeschreibliche 〈Weise〉 melancholisch“; und KSB 8, Nr. 1069, S. 367, Z. 72 f.: „ich war bisher außerordentlich bedrückt und melancholisch“. – Weitere Ausführungen zum Thema der „Depressivität in Nietzsches Biographie“ bietet Volz, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, S. 23–25. 40 Vgl. bezüglich Nietzsches Jugendgedichten meinen Beitrag zu seiner Jugendlyrik am Beispiel des Gedichtzyklus In der Ferne in diesem Band.  







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Neben der biographischen Lesart, der zufolge das Gedicht als Beispiel der Rohde brieflich beschriebenen poetischen ‚Wurmkur‘ verstanden werden kann, lässt sich eine kontextualisierende unternehmen, welche die explizite Anknüpfung des Gedichts an die geistesgeschichtliche Tradition sowie die offensichtlichen intertextuellen Bezüge zur Geburt der Tragödie berücksichtigt. Da An die Melancholie, wie schon Buschendorf darlegt,41 in wesentlichem Maß auch eine Parodie der Melancholie-Tradition darstellt und zugleich Philosopheme des zeitgleich entstandenen Erstlingswerkes dichterisch verarbeitet, kann es nicht völlig unabhängig von diesen intertextuellen Bezügen betrachtet werden. Die Widmung im Titel und die direkte Anrede der Melancholie als Allegorie sind beispielweise typische Merkmale der empfindsamen Melancholie-Dichtung, die sich noch in Melancholie-Gedichten des 20. Jahrhunderts finden.42 Die achtzeilige Kreuzreimstrophe aus jambischen Fünfhebern mit männlichweiblich alternierenden Kadenzen, die Nietzsche für sein Gedicht benutzt, wird erst im 19. Jahrhundert geläufig und dort besonders für „umfänglichere Anreden, Betrachtungen und Bilder“ eingesetzt.43 Nietzsche gebrauchte die Form also gemäß ihrer allgemeinen Verwendungspraxis, vermengen sich im Gedicht doch wiederholte Anreden mit betrachtenden Passagen und zum Teil grotesken Bildern zu einem vielschichtigen Konglomerat mit ambivalenten Konnotationen. Im Mittelpunkt steht die Melancholie in verschiedenen Rollen als inspirierende und bedrohliche Gottheit. Die erste und die letzte Strophe bilden einen poetologischen Rahmen, der die heterogenen reflektierenden Binnenstrophen einfasst und das lyrische Ich als Dichter vorstellt. Die fast identische Anrede am jeweiligen Strophenanfang44 markiert den Rahmen deutlich. Ebenfalls strukturbildend wirkt die Trennung der Strophen in jeweils vier Verse umfassende Satz- und Sinneinheiten, die nur in der vorletzten Strophe bewusst aufgehoben wird. Nietzsches Gedicht beginnt mit der Bitte des lyrischen Ichs an die apostrophierte (und dadurch anthropomorphisierte) Melancholie, ihm und seiner Haltung Nachsicht entgegenzubringen. Der folgende Vers ist zweideutig, denn einer-

41 Vgl. Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 113 f. 42 Die literaturgeschichtliche Konstanz der Kombination aus Widmung und Anrede im Gedicht bezeugen die Gedichte Guoths (Völker [Hrsg.], „Komm, heilige Melancholie“, S. 73 f.), Stäudlins (ebd., S. 86–88), Brinckmanns (ebd., S. 96 f.), Seumes (ebd., S. 102–105), Arndts (ebd., S. 126 f.), Neuffers (ebd., S. 136 f.), Raimunds (ebd., S. 138–140), Lenaus (ebd., S. 143), Mengers (ebd., S. 171 f.), Trakls (ebd., S. 203), und Hesses (ebd., S. 224 f.). 43 Frank, Horst Joachim, Handbuch der deutschen Strophenformen, 2., durchgesehene Auflage, Tübingen / Basel 1993, S. 664. Frank führt Nietzsches Gedicht sogar als Beispiel für die Verwendung der Strophe zum Zweck der ‚Meditation‘ an. 44 Vgl. NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 2; und 390, 21.  













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seits kann er dem durch die ‚spitze Feder‘ paraphrasierten Schreibakt selber gelten. Andererseits verweist Nietzsche mit der ‚spitzen Feder‘ auf den ironischen, ‚überspitzten‘ Ton des Gedichts, das die traditionelle Musenpreisung parodiert. In die Bitte um Nachsicht schließt das Ich seine Verweigerung des traditionellen Melancholie-Pose ein, die unmittelbar im Anschluss evoziert wird: Offenbar wider Erwarten sitzt das Ich nicht mit dem „Kopf gebeugt zum Knie, / Einsiedlerisch auf einem Baumstumpf“.45 Es handelt sich um die Haltung versunken-schwermütigen Grübelns, die schon lange ikonographisch fixiert ist.46 Pars pro toto vertritt sie in Nietzsches Gedicht die gesamte Tradition melancholischer Symbolik, sowohl in Hinsicht auf die pathologische Lebensentfremdung als auch auf die künstlerische Inspiration und die philosophische Nachdenklichkeit. Der zum Knie gebeugte Kopf veranschaulicht die melancholische ‚Innerlichkeit‘ sowie Nachdenklichkeit des Kontemplativen und geht einher mit der einsamen Zurückgezogenheit vom Leben als Gegenentwurf zur vita activa. Im engeren Kontext des Gedichts ist die Opposition von Schreibakt und passivem Sitzen auf dem „Baumstumpf“ entscheidend. Nietzsche spannt hier bereits den Bogen zur letzten Strophe, in der eine Emanzipation von der lähmenden Melancholie kraft des Schreibens angedeutet wird. Indem das lyrische Ich nicht unbeweglich in seiner Schwermut verharrt, sondern sie produktiv umzusetzen versucht, entzieht es sich ihrer bedrückenden Macht – ganz so wie Nietzsche es seinem Freund Rohde wenige Jahre später empfiehlt: „Beseitigen wir den Bandwurm der Melancholie schriftlich“.47 Diese emanzipatorische Intention verstärkt Nietzsche mit der hyperbolischen Beschreibung der Melancholie-Pose durch das lyrische Ich, welches die so ‚einsiedlerische‘ Haltung – und damit die Melancholie samt ihrer Ausdrucksformen – entschieden von sich weist. Es folgt ein Tempuswechsel ins Präteritum, der eine mehrere Strophen umfassende Retrospektive des lyrischen Ichs einleitet: Noch bis in die jüngste Vergangenheit hinein (bis „gestern noch“)48 verhält sich das Ich der MelancholieTradition entsprechend.49 Auffällig ist das den melancholischen Zustand kontras45 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 4 f. 46 Zu den berühmtesten Beispielen dieser ikonographischen Tradition gehört Albrecht Dürers Meisterstich Melencolia I, den Nietzsche ausweislich eines Briefs an Erwin Rohde vom 11. November 1869 kannte (vgl. KSB 3, Nr. 40, S. 73, Z. 46–48). 47 KSB 4, Nr. 368, S. 233, Z. 26 f. 48 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 6. 49 Möglicherweise spielt das lyrische Ich hier auch auf die melancholische Jugendlyrik des empirischen Autors Nietzsche an, deren Produktion sich bis in die 1860er Jahre erstreckt. Die Selbstbezeichnung als „Büßer, ob in jugendlichen Jahren“ (NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 21) verweist auf Gedichte wie das programmatisch betitelte Bußlied (NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 220) oder das bekanntere Noch einmal eh ich weiter ziehe ... (NL 1864, 17[14], KGWI/3, 391), in dem ein lyrisches  



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tierende, vitalistisch konnotierte Bild der ‚heißen Morgensonne‘, die das Ich bestrahlt. Die Melancholie ist in der antiken Vier-Säfte-Systematik mit dem Herbst, dem Kalt-Trockenen und entweder dem Greisenalter oder dem späten Mannesalter, in beiden Fällen also tendenziell dem ‚Lebensabend‘ belegt.50 Hier steht der Melancholiker dagegen – das legen zumindest die unten für sich in Anspruch genommenen „jugendlichen Jahre[ ]“ nahe51 – am ‚Lebensmorgen‘. Obwohl der (Lebens-)Tag voller Energie erst hereinbricht, übt sich das junge lyrische Ich in widernatürlichen, lebens-müden Gesten. Diese Zuschreibung passt ins Bild vom heranwachsenden Nietzsche, der oft einen frühreifen Ernst an den Tag legte, sich einsam und heimatlos fühlte und dessen Jugendgedichte in großen Teilen von einer epigonalen Grundhaltung und einem christlichen Büßerpathos bestimmt sind. Der Doppelpunkt markiert die Fortsetzung des Rückblicks.52 Unvermittelt wird die Vorstellung von Aasvögeln („Geyer“) evoziert,53 die über ihrer Beute kreisen. Mit gleicher Bedeutung tritt der Geier in Nietzsches Texten stets anstelle des Adlers Ethon als Quälgeist des Prometheus in Erscheinung.54 Das entspricht einer Variante des Prometheus-Mythos, der in der Antike nur einmal bezeugt ist, in der Neuzeit – etwa bei Karl Philipp Moritz – dagegen häufiger vorkommt.55 Kruse interpretiert den Geier ferner als „groteske Umkehrung der singenden Nachtigall, welche seit Milton das Symboltier der ‚süßen Melancholie‘ abgibt“.56

Ich einem „unbekannte〈n〉 Gotte“ (391, 11) seine Dienstbereitschaft erklärt (vgl. auch Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 55 f.). 50 Vgl. Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie, S. 48 f. 51 NL 1871, 15[1], KSA 7,389, 21. 52 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 7. 53 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 8. 54 Vgl. NL 1870/71, 7[20], KSA 7, 141, 4 f.; GT 4, KSA 1, 40, 15 f.; GT 10, KSA 1, 73, 31–33; Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern 3: Der griechische Staat, KSA 1, 767, 29 f.; NL 1874, 38[1], KSA 7, 835, 1, u. 836, 11 f.; NL 1874, 38[2], KSA 7, 836, 22–26; M 83, KSA 3, 79, 5; FW 300, KSA 3, 539, 24–26. 55 Vgl. Brandt, Reinhard, Die Titelvignette von Nietzsches ‚Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik‘, in: Nietzsche-Studien, Jg. 20, Berlin / New York 1991, S. 314–328, hier S. 317. Hinweis bei Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 125. 56 Kruse, Bernhard-Arnold, Apollinisch – Dionysisch. Moderne Melancholie und Unio Mystica, Frankfurt/Main 1987 (= Hochschulschriften Literaturwissenschaft, Bd. 79), S. 231. – Die biographistische Lesart Landerers und Schusters, vom „Geyer“ auf Nietzsches Verhältnis zu Richard Wagner zu schließen und das Melancholie-Gedicht folglich als „bisher unbeachtete[n] Mosaikstein für ein Verständnis von allgemeiner Chronologie und spezifischen Ursachen der beginnenden Entfremdung Nietzsches von Wagner“ zu interpretieren (Landerer, Christoph / Schuster, Marc-Oliver, „Begehrlich schrie der Geyer in das Thal“. Zu einem Motiv früher Wagner-Entfremdung  











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Im Rückblick der zweiten Strophe schildert das Ich die Konsequenzen melancholischer Zustände und belegt sie mit positiven Vorstellungen, insofern sie eine erkenntnisfördernde Funktion erfüllen. Vor dem Hintergrund der ersten Strophe schreibt Nietzsche der Melancholie folglich einen ambivalenten Charakter zu: Einerseits macht sie den Melancholiker zur scheinbar ‚leichten Beute‘ einer mitleidlosen Umwelt, andererseits ermöglicht sie die lustvolle Anschauung des Wesens dieser Welt. Sie befähigt und gefährdet zugleich. Mit der Anrede des Geiers setzt Nietzsche den Rückblick des lyrischen Ichs zu Beginn der zweiten Strophe fort, indem er auf die augenscheinliche Identität von Ich und „Aas“ anspielt, um diese sogleich als Sinnestäuschung des „wüste[n] Vogel[s]“ zu entlarven: Obwohl das Ich als ‚leichte Beute‘ erscheint, ist es noch lange keine solche. Mit der selbstironischen Paraphrase der melancholischen Geste57 distanziert sich das Ich weiter von der früheren Gebärde. Es folgt in der restlichen Strophe eine Erklärung für den ‚Irrtum‘ des Geiers: Das Ich schien ‚tot‘, weil es sich infolge seines melancholischen Zustandes weit vom ‚äußeren Leben‘ entfremdet hatte. Währenddessen intensivierte sich aber das ‚innere Leben‘ umso stärker, was das rollende „Auge“ samt Zuschreibungen bezeugte („wonnenreich“, „stolz und hochgemuthe“).58 In der Tragödienschrift ist das Fundament des ‚schönen Scheins‘ der Kunst die intuitive (nicht rationale) Erkenntnis des dionysischen „Ur-Eine[n], als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle“.59 Dem entspricht im Gedicht des „Daseins Abgrund“, den das Ich in seiner tiefen Versenkung „blitzend aufzuhellen“ versucht.60 Die melancholische Abwendung von der Welt ermöglicht den Blick ins Innere bis hin zu den ‚Quellen des Lebens‘, die der apollinisch-individualisierten Welt gegenüberstehen. Diese Form der Kontemplation geht mit einer Abwendung von der äußeren Lebenswelt einher, die sogar die Gefahr durch den Geier in Kauf nimmt. Der Blick geht notwendigerweise in die Tiefe, nicht in die „Höhen“ des Vogels, für dessen Bedrohlichkeit wie auch erhabenen Lebensraum das Ich in seiner Konstitution keinen Sinn hat (das „Auge“ ist „[e]rstorben“ für den Blick in die Ferne).61 Dafür stellt das Gedicht eine zunächst unbestimmt bleibende temporäre („blitzend[e]“) Erkenntnis des wiederum als bedrohlich konnotierten ‚Daseinsgrundes‘ in Aussicht. Die spezifische Kombination von Versunkenheit, Erkenntnis

in Nietzsches Nachlass, in: Nietzsche-Studien, Jg. 34, Berlin / New York, S. 246–255, hier S. 254), lässt den wichtigen Bezug zur Melancholie-Tradition außen vor und bleibt daher einseitig. 57 Vgl. NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 11. 58 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 12 f. 59 GT 4, KSA 1, 38, 30 f. 60 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 17. 61 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 12–15.  



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und Melancholie steht schon am Beginn der neuzeitlich-literarischen MelancholieTradition, so bei Miltons Il Penseroso (der Titel ist bezeichnend), wo der „zu Boden gerichtete[ ] ‚bleierne[ ]‘ Blick […] nur das Zeichen völliger Versunkenheit [ist], die nichts ist als die andere Seite eines seherisch-ekstatischen Zustands“.62 Auch in der romantischen Dichtung ist der betont innerlich verlaufende Weg zur Erkenntnis von zentraler Bedeutung; er wird bevorzugt im Rahmen einer Bergwerksmotivik verbildlicht, die den Weg ins Innere der Erde mit der sukzessiven Selbst- und Welterkenntnis des Menschen parallelisiert.63 Allerdings dient die metaphysische Versenkung in Nietzsches Gedicht keinem transzendenten Ideal, vielmehr veranlasst sie das lyrische Ich schließlich zur Überwindung der Melancholie. Die dritte Strophe schließt an die erste an, indem das Ich sein ‚Bekenntnis‘ wiederholt und die Distanz zu der in den vorangegangenen Versen detailliert aufgeschlüsselten Einsiedlerhaltung nochmals vergegenwärtigt. Die anfängliche, negative Bewertung der Melancholie kehrt wieder, denn das Ich bezeichnet die „wonnenreich[e]“ Versenkung unter Rückgriff auf das verwendete Adjektiv als „tiefe[ ] Wüstenei“, die dazugehörige Haltung als eine „[u]nschön gekrümmt[e], gleich opfernden Barbaren“.64 Mit Beginn der zweiten Strophenhälfte ändert das lyrische Ich wieder die Perspektive und rückt die Wirkung der Melancholie in den Mittelpunkt, womit es die ironisierte Außendarstellung aufgibt. In der Büßerpose sitzend erfreut es sich an den Manifestationen der bedrohlichen Natur, am Flug des Aasgeiers und den erstmals genannten „rollenden Lawinen“, die sich mit Donnergrollen ankündigen.65 Im Zustand kontemplativer Distanz zum Leben sieht das Ich mit seinem „Sonnenauge“ über die Bedrohung hinweg und genießt das bloße Naturphänomen. Die folgende Anrede der Melancholie-Figur klärt diese paradox anmutende Bekundung auf: Sie sei „unfähig Menschentrugs“ und „[w]ahrhaftig“, zeige dem unterworfenen Ich also stets die Wahrheit, so „schrecklich“ sie auch sein möge.66 Die ‚schreckliche Wahrheit‘ besteht vor dem Hintergrund dieser Strophe in der omnipräsenten Bedrohung des Ichs durch die Natur: Geier und Lawine sind Chiffren der existenziellen Gefährdung des Subjekts durch das Lebensprinzip selbst, das den (individuellen) Tod als Mittel des (ganzen) Lebens einschließt. Die Melancholie gewährt demnach Einsicht in das gefährdete principium individuationis, das – wie Nietzsche in seiner ‚Erstlingsschrift‘ mit Schopenhauers Worten

62 Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie, S. 337. 63 Musterhaft verwenden diese Motivik Novalis im Heinrich von Ofterdingen und E. T. A. Hoffmann in den Bergwerken zu Falun. 64 NL 1871, 15[1], KSA 7, 389, 18 f. 65 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 2. 66 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 3 f.  



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feststellt – den Menschen folgendermaßen umfangen hält: „Wie auf dem tobenden Meere […] auf einem Kahn ein Schiffer sitzt, dem schwachen Fahrzeug vertrauend; so sitzt, mitten in einer Welt von Qualen, ruhig der einzelne Mensch, vertrauend auf das principium individuationis“.67 Die zwei aufeinanderfolgenden Apostrophen der Melancholie in der vierten Strophe bestätigen die ambivalente Konnotation: Als „herbe Göttin wilder Felsnatur“68 malt das lyrische Ich sie streng, ehrfurchtsgebietend und macht sie zur Elementarkraft einer archaischen (gefährlichen, nicht im Stile Rousseaus verklärten) Natur, wie sie als ‚germanische‘ Naturvorstellung schon vom Geier in Strophe eins assoziiert wird.69 In der Geburt der Tragödie wird diese Naturvorstellung in ähnlicher Weise mit einer „Göttin“ verknüpft, die jedoch direkt die „Philosophie der wilden und nackten Natur“ meint. Dort wird aber auch ihr die „unverhüllte[ ] Miene der Wahrheit“ und das „blitzartige[ ] Auge“ zugeschrieben, vor dem die Träger der hellenischen Kultur (gleichzusetzen mit der ‚Zivilisation‘) „erbleichen“ und „zittern“.70 Der Anrede als „herbe Göttin“ steht im Gedicht diejenige als „Freundin“ gegenüber,71 die liebende Verbundenheit, Nähe, Gleichberechtigung sowie eine längere gemeinsame Vergangenheit suggeriert. Diese Rolle der langjährigen Begleiterin nimmt die Melancholie auch in Nikolaus Lenaus gleichnamigem Gedicht ein.72 Nietzsche kannte Lenaus Texte seit frühester Jugend; unter anderem seine Gedichte benutzte er als Vorlagen für erste eigene dichterische Versuche.73 Lenaus „Felsenklüfte“ und sein donnernder „Waldstrom“74 erinnern an die „wilde[ ] Felsnatur“ und den „Donnerlauf[ ] der rollenden Lawinen“ bei Nietzsche, nur kommt anstelle des Adlers bei diesem der Geier vor. In der Forschung herrscht dementsprechend Einigkeit darüber, dass Nietzsches Darstellung der Hoch-

67 GT 1, KSA 1, 28, 12–17. 68 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 5. 69 Die Vorstellung einer solchen „germanisch-begriffenen Natur“ ist aus Nietzsches Notizen zu Schillers Ästhetik ersichtlich, die ebenfalls aus dem Jahr 1871 stammen (NL 1871, 9[76], KSA 7, 302, 12). Vgl. hierzu den Überblick zu Nietzsches Konzept des Idyllischen aus den frühen 1870er Jahren in Kaufmann, Sebastian, Kommentar zu Nietzsches ‚Idyllen aus Messina‘, in: NK 3/1, 457–543, hier 487 f.; oder Sebastian Kaufmanns Beitrag zu Nietzsches ‚Idyllen aus Messina‘ und seinem poetologischen Konzept der Idylle in diesem Band. 70 GT 10, KSA 1, 73, 21–25. 71 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 6. 72 Vgl. Völker (Hrsg.), „Komm, heilige Melancholie“, S. 143. 73 Vgl. Pestalozzi, Karl, Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe …“ auf dem Hintergrund seiner Jugendlyrik, in: Nietzsche-Studien, Jg. 13, Berlin / New York 1984, S. 101–110, hier S. 102. 74 Völker (Hrsg.), „Komm, heilige Melancholie“, S. 143.  

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gebirgslandschaft als locus terribilis der Tendenz romantischer Dichtung nach 1800 entspreche, die Melancholie-Figur wieder zu ambiguisieren und ihr etwas von der gefährdenden Kraft der ursprünglich pathologischen atra bilis zuzusprechen.75 In der vierten Strophe findet ein Wechsel zurück ins Präsens statt, das bis zum Ende nicht mehr verlassen wird. Gleichwohl setzt das Ich seinen Rückblick in beständiger Anrede der Melancholie fort – freilich in intensivierter und vergegenwärtigender Weise.76 Das Ich teilt in den Strophen vier und fünf unmittelbar und anschaulich mit, was es beim versuchten Blick in „[d]es Daseins Abgrund“ erkannt hat. Das Präsens signalisiert die Unmittelbarkeit der melancholischen Erfahrung und lässt die vierte und fünfte Strophe zeitlich mit der ersten und letzten zusammenfallen, in denen das lyrische Ich ‚tatsächlich‘ gegenwärtig spricht. Konkret zeigt die Melancholie dem Ich „des Geyers Spur“ und „der Lawine Lust, mich zu verneinen“.77 Explizit weist der Text so auf die tödliche Bedrohung des Ichs durch die Natur hin, deren vernichtende Gewalt in den zwei folgenden Versen ebenfalls zum Ausdruck kommt: „Rings athmet zähnefletschend Mordgelüst: / Qualvolle Gier, sich Leben zu erzwingen!“78 Die in diesem Bild aufgerufene Lust-Leid-Dialektik samt ihrer dezidiert schöpferischen Potenz79 schließt konzeptionell an die Rede vom ‚Daseinsabgrund‘ an und verweist auf das Dionysische als universelles, ursprüngliches Lebensprinzip, wie Nietzsche es in der Geburt der Tragödie nach dem Schema von Schopenhauers Willens-Begriff entwickelt. Schopenhauer selbst versteht den Willen unmissverständlich als „blinde [n], unaufhaltsame[n] Drang“ und „Willen zum Leben“,80 woraus sich die Quintessenz seiner pessimistischen Philosophie ergibt, der zufolge „wesentlich alles

75 Vgl. Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 119 f.; Kruse, Dionysisch – Apollinisch, S. 235; Völker, Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie, S. 50; und Volz, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, S. 34. – Ferner gleicht die Landschaft wohl der „erhabensten Gebirgseinöde“ in Gimmelwald (Brief an Rohde vom 19. 07. 1871, KSB 3, Nr. 147, S. 211, Z. 3), die Nietzsche nach Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 116, mutmaßlich ebenfalls „zu der im Gedicht gewählten Topographie und Stimmung anregte“. 76 Diese Intensivierung verstärkt Nietzsche noch durch die anaphorische Wiederholung des „Du“ in NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 5–7. 77 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 7 f. 78 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 9 f. 79 Deutlicher an die traditionelle literarische Melancholie-Motivik angelehnt, drückt Nietzsche das Phänomen melancholischer Lust-Leid-Dialektik in GT 9, KSA 1, 68, 31–34 aus: Die „Werdelust des Künstlers, die jedem Unheil trotzende Heiterkeit des künstlerischen Schaffens“, so heißt es dort, sei „nur ein lichtes Wolken- und Himmelsbild, das sich auf einem schwarzen See der Traurigkeit spiegelt“. 80 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 361 f.  







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Leben Leiden ist“.81 In der Tragödienschrift bezeichnet Nietzsche sein anverwandeltes ontologisches Prinzip zwar analog „als das ewig Leidende und Widerspruchsvolle“,82 das aber bei allem Vernichtungstriebe auch stets „eine höchste künstlerische Urfreude im Schoosse des Ur-Einen ahnen“ lasse.83 Während das künstlerische Genie bei Schopenhauer eine Art Vorstufe des Asketen ist, der den Lebenswillen vollständig verneint, belegt Nietzsche es bereits in seiner Erstlingsschrift mit vitalistischen Vorstellungen. In diesem Kontext stehen auch die letzten Verse der vierten Strophe, die Nietzsche der lebenserzeugenden anstelle der ‚mordlüsternen‘ Seite des ‚Ur-Prinzips‘ widmet, indem er anthropomorphisierend auf das Bestäubungsprinzip lepidopterophiler Pflanzen hinweist. Die vorletzte Strophe schließt direkt an das Ende der vorangegangenen an. Das Ich gesteht: „Diess Alles bin ich“ und wiederholt, um dem versöhnlich gefärbten Bekenntnis pathetisch Nachdruck zu verleihen, nochmals die im Laufe des Gedichts benannten Naturphänomene, wobei es „[d]es Sturmes Stöhnen“ zusätzlich in die Reihe mitaufnimmt.84 Der Einschub („schaudernd fühl’ ich’s nach“) verstärkt den epiphanischen Charakter dieser ersten Strophenhälfte: Das Ich erkennt – offenbar im Augenblick des „blitzend“ aufgehellten ‚Daseinsabgrundes‘ – die wesentliche Identität von Subjekt und Objekt als „[w]ahrhaftig“ und begreift diese Einheit sukzessive, indem es sie ganzheitlich, das heißt körperlich, seelisch und geistig nachvollzieht. Die in Nietzsches Gedicht verwendete Bekenntnisformel entspricht, wie schon Buschendorf feststellt,85 der von Schopenhauer für die Erkenntnis des ‚Willens‘ adaptierten hinduistischen Grundeinsicht Tat twam asi (‚Das bist du‘), die sich auf die erkannte metaphysische Einheit aller Dinge bezieht. Im vierten seiner Vorträge Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten aus dem Jahr 1872 kontrastiert Nietzsche ein naturwissenschaftlich-positivistisches Verhältnis zur Natur, das lehre, „wie man die Natur sich unterjocht“, mit einem romantisch-metaphysischen, das erlaube, „ohne jeden Bruch den beschaulichen Instinkten seiner Kindheit treu bleiben zu können und dadurch zu einer Ruhe, Einheit, zu einem Zusammenhang und Einklang zu kommen, die von einem zum Lebenskampfe Herangezogenen nicht einmal geahnt werden können“.86 Den

81 Schopenhauer, Die Welt als Wille und Vorstellung I, S. 405. 82 GT 4, KSA 1, 38, 30 f. 83 GT 22, KSA 1, 141, 31 f. 84 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 13 u. 16. Der Sturm stellt eine direkte Verbindung zum anderen Gimmelwalder Melancholie-Gedicht her, in dem Nietzsche den titelgebenden nächtlichen Gewittersturm mit der allegorischen Melancholie überblendet. 85 Vgl. Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 121. 86 Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten IV, KSA 1, 716, 13 u. 22–26.  



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Ideal-Zustand charakterisiert er wie folgt in auffallender Analogie zur fünften Strophe des Gedichts: Zum jungen Menschen müssen der Wald und der Fels, der Sturm, der Geier, die einzelne Blume, der Schmetterling, die Wiese, die Bergeshalde in ihren eignen Zungen reden, in ihnen muß er gleichsam sich wie in zahllosen auseinandergeworfenen Reflexen und Spiegelungen, in einem bunten Strudel wechselnder Erscheinungen wiedererkennen; so wird er unbewusst das metaphysische Einssein aller Dinge in dem großen Gleichniß der Natur nachempfinden und zugleich an ihrer ewigen Beharrlichkeit und Nothwendigkeit sich selbst beruhigen.87

Nietzsche wiederholt Gemeinplätze der literarischen Anthropologie aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts und vermengt sie mit Schopenhauers Willens-Metaphysik. Während das Produkt dieses Verfahrens im Vortrag allerdings nicht über einen epigonalen Status hinauskommt, veranschaulicht die naturphänomenale Bilderreihe im Gedicht die vom Ich reklamierte unmittelbare Erfahrung selbst und präludiert auf diese Weise den rhetorisch hervorgehobenen Ausruf des Lebensdranges. Da Nietzsche Schopenhauers ontologischen Voluntarismus in der Tragödienschrift in ein betont ästhetisches Verständnis übersetzt, ermöglicht die Gedichtstelle auf der Grundlage des philosophischen Kontextes auch folgende poetologische Deutung: Das lyrische Ich übernimmt als Dichter gleichsam die Rolle des dionysischen ‚Ur-Grundes‘, der die verschiedenen Naturphänomene als Objektivationen seiner selbst aus sich heraus gestaltet. An dieser Stelle des Gedichts bezieht das Ich seine Eigenschaft als Dichter rückblickend auf die Einheitserfahrung. Diese Selbsterkenntnis veranlasst es zu dichten – womöglich ist das vorliegende Gedicht bereits Produkt dieses Erkenntnisprozesses, es erhielte so eine weitere Verständnisebene. In der genannten Weise charakterisiert Nietzsche ‚den Lyriker‘ in der Tragödienschrift: Es seien „die Bilder des Lyrikers nichts als e r selbst und gleichsam nur verschiedene Objectivationen von ihm, weshalb er als bewegender Mittelpunkt jener Welt ‚ich‘ sagen darf“. Diese „Abbilder“ ermöglichen es ihm wiederum, „bis auf jenen Grund der Dinge“ hindurchzusehen,88 der im Gedicht in „[d]es Daseins Abgrund“ seine Entsprechung findet. Indem das Ich sein ‚Geständnis‘ der Melancholie direkt „zum Ruhme“ zueignet,89 erscheint es zunächst als die zu Gedichtbeginn angekündigte Gabe, als das „schaurig Loblied“ zu Ehren der „grimme[n] Göttin“. Doch die Haltung, „tief gebückt, / Den Kopf am Knie“,90 klärt darüber auf, dass Nietzsche sein Ich noch 87 88 89 90

Ueber die Zukunft unserer Bildungsanstalten IV, KSA 1, 716, 2–10. GT 5, KSA 1, 45, 7–14. NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 16. NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 17 f.  

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immer rückblickend über die Versenkungserfahrung im Zustand melancholischer Inspiration reflektieren lässt. Dass es sich sogar um den Höhe- beziehungsweise ‚Tief‘-Punkt der Versenkung handelt, zeigt die überspitzte Ausführung der Pose, die hier Züge einer Verzweiflungsgebärde annimmt: Der Kopf ist nicht nur zum Knie „gebeugt“, sondern unmittelbar „am Knie“. Die wiederholte Widmungsformel („dir zum Ruhme“)91 am Ende der fünften Strophe leitet das Finale des Rückblicks pointierend ein: Nietzsche parallelisiert die Diärese der Naturphänomene über die Wendung mit der Epizeuxis von „Leben“ und weist diese so als betont unmittelbaren Ausdruck des Lebensdranges aus.92 Ohnehin ist dieser Vers als jambischer Vierheber metrisch isoliert; für Buschendorf „‚lechzt‘ [er] damit gewissermaßen nach einem weiteren Versfuß“.93 Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang das Adjektiv „unverrückt“,94 das Nietzsche markant am durch das Enjambement besonders hervorgehobenen Übergang zum folgenden Vers platziert. Es meint nicht nur den beständigen Drang zu leben, sondern weist auch auf die starre, unbewegte Versenkungshaltung des Ichs hin. Auf diese Weise gerät der anfängliche Vorwurf gegen die Melancholie wieder in den Fokus, dem zufolge sie ihr ‚Opfer‘ vom Leben entfremde und – der Tradition entsprechend – den Lebenstrieb erlahmen lasse. Doch offenbar erkennt das inspirierte Ich gerade beim Blick in das schreckliche Wesen der Welt, dass es nichts anderes als das ‚Leben‘ will, obwohl es sich ihm schon fern fühlt. So entsteht die extreme Spannung zwischen melancholischer Entfremdung und drängendem Leben-Wollen, aus der heraus das lyrische Ich das Lebenspostulat artikuliert. Der Vorwurf gegen die „herbe Göttin“ erneuert sich sogar an Ort und Stelle, wenn man die Widmung ironisch oder spöttisch liest: Die Melancholie labe sich am Elend des Schwermütigen, es gereiche ihr „zum Ruhme“, dass der „Büßer“ nach „Leben lechze“. Die Schlussstrophe beginnt, wie die Anfangsstrophe des Gedichts, mit der Bitte um Nachsicht, nur dass die Melancholie hier als „böse Gottheit“ angesprochen wird.95 Der Rückblick, der den Binnenteil des Gedichts ausmacht und schließlich in der unmittelbaren Vergegenwärtigung des Lebensdranges kulminiert, ist beendet. Der Übergang vom Präteritum ins Präsens ist damit auch

91 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 16 u. 19. 92 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 20. 93 Buschendorf, Die Geburt der Lyrik aus dem Geiste der Parodie, S. 124. 94 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 19. 95 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 21. Es handelt sich um die dritte Zuschreibung, die der Melancholie in Kombination mit ihrer Apotheose zukommt. Erst nennt sie das Ich eine „herbe“, dann eine „grimme Göttin“ (390, 5 u. 17). Die Attribute werden demnach immer stärker und weisen eine zunehmend negative Valenz auf, die das Emanzipationspostulat motiviert.

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zeitlich abgeschlossen: Das Ende der fünften Strophe greift inhaltlich den Beginn der ersten wieder auf, bevor sich die letzte Strophe anschließt. Der Rahmenstatus der Strophen eins und sechs wird auf diese Weise, ebenso wie durch den Rückgriff auf „die spitze Feder“, nochmals betont.96 Als Grund für den möglichen Argwohn der apostrophierten Melancholie nennt das Ich erneut den dichterischen Schreibakt, der durch das verwendete Vokabular eine ironische Kontur erhält. Wie zu Beginn kann es also sowohl die Dichtung selbst als auch der dezidiert parodistische Charakter derselben sein, wofür das Ich (auch hier ins Ironische überspitzt) um Nachsicht bittet. Über die ironisierende Funktion hinaus legt Nietzsches Wortwahl aber noch eine weitere Deutungsmöglichkeit nahe: Die Melancholie „mit Reimen zierlich“ zu „umflechte[n]“ kann bedeuten,97 sie qua künstlerischer Sublimation in ein Geflecht aus ‚schönen Worten‘ zu bannen. Neben der leitmotivisch hervorgehobenen Bedrohlichkeit der „grimme[n] Göttin“ weisen die apologetischen Wendungen, die das Gedicht rahmen, bei (oder mit) aller Ironie auf ein emanzipatorisches Motiv des lyrischen Dichter-Ichs hin. Diese Bedrohlichkeit evozieren auch die folgenden zwei anaphorisch verbundenen und parallelisierten Verse explizit: Das „Schreckgesicht“ der Melancholie mache zittern, ihre „böse Rechte“ zucken.98 Nietzsche schreibt ihr eine ‚hässliche Fratze‘ und eine bösartige Gewaltbereitschaft zu.99 Diese Beobachtungen bezieht das Ich jedoch nicht direkt auf sich, sondern es gibt sie in der dritten Person an, um sich von der schreckenerregenden Wirkung der Melancholie zu distanzieren, ohne diese Wirkung in Abrede zu stellen. Im nächsten Verspaar, das wieder anaphorisch verbunden und durch die wiederholten Verben noch dazu an das vorangegangene Verspaar gekoppelt ist, greift das Ich zwar auf die bedrohliche Wirkung zurück; doch indem es sie an die eigene produktive Tätigkeit rückbindet, instrumentalisiert es ihre Macht für die eigenen Zwecke und stellt diese Instrumentalisierung sogar noch zur Schau. Das angsterfüllte Zittern und Zucken des gebeugten Melancholikers überführt das Ich in den Dichtungsakt, der als Widerstandsmanifest und Freiheitsdeklaration wirkt: Es zittert nicht vor dem 96 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 27. 97 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 22. 98 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 23 f. 99 Ersteres findet man schon in der literarischen Melancholie-Tradition des Mittelalters unter dem Namen der „Dame Mérencolye“ bei Alain Chartier, der die Melancholie-Figur in seiner Espérance ou Consolation des Trois Vertus (1428) mit „schreckenerregendem Aussehen, bleich, mager, in ärmliche oder gar zerlumpte Gewänder gehüllt“, darstellt (Klibansky / Panofsky / Saxl, Saturn und Melancholie, S. 325). Die bei Nietzsche hervorgehobene Gewalttätigkeit der Melancholie fehlt bei Chartier allerdings; sie findet sich aber noch deutlicher in Nietzsches GewitterGedicht, in dem sich die Melancholie als „große ewge Amazone“ (NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 18) vorstellt.  

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„Schreckgesicht“, sondern beim lyrischen Sprechen, und es zuckt nicht vor der „böse[n] Rechten“, sondern im Zuge des „rhythmische[n] Gestalten[s]“.100 Bei der ‚passiven‘ Inspiration der Melancholie, die dem Ich zum Preis der Knechtschaft einen Blick in das ‚Wesen der Welt‘ ermöglicht, bleibt es also nicht. Das Ich nutzt vielmehr die melancholische Erkenntnis als Stimulans, um selbst aktiv zu werden. Es verlässt die „mumienhaft[e]“, „unverrückt[e]“ Stellung, weist die „herbe Göttin“ in die Schranken und produziert aus ihrer ‚schwarzen Galle‘ „Lied auf Lied“.101 Die Vorstellung vom reinigenden Schreibakt ist ein gängiger Topos der neuzeitlichen Melancholie-Tradition, auf den Nietzsches Gedicht hier rekurriert.102 Doch seine eigenwillige Bilderwahl („Die Tinte fleußt, die spitze Feder sprüht“)103 verdeutlicht noch am Ende die ironische Distanz des lyrischen Ichs, die auch den emanzipatorischen Schreibakt umfasst und durch den Rückgriff auf „die spitze Feder“ explizit thematisiert wird. Diese Distanz gewährleistet eine geistige Unbefangenheit, wie sie der spätere Nietzsche typischerweise durch eine Vielzahl (potenziell humoristischer) sprachlicher Widerspruchsfiguren proklamiert.104 Darüber hinaus ist die ‚sprühende‘ Feder für den frühen Nietzsche ein geläufiger poetologischer Terminus, verweist sie doch ebenfalls auf seine ästhetischen Überlegungen zur Lyriktheorie, wie er sie in der Geburt der Tragödie auf der Folie des Dualismus von Dionysischem und Apollinischem metaphorisch formuliert:

100 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 25 f. 101 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 25. 102 Vgl. zur topischen Vorstellung der ‚therapeutischen‘ Wirkung von Literatur und Kunst allgemein das einschlägige Kapitel bei Völker, Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie, S. 11–30. Nietzsches Werk durchzieht die Antithese eines pathologischen Erkenntnisdrangs und der palliativen (z. T. gleichzeitig stimulierenden) Wirkung von Kunst wie ein roter Faden. Exemplarisch sei auf den Abschnitt 107 der Fröhlichen Wissenschaft hingewiesen, in dem das sprechende Ich – auf die Tragödienschrift anspielend (FW 107, KSA 3, 464, 23–27 rekurriert auf GT 5, KSA 1, 47, 26 f.) – der Kunst als dem „g u t e n Willen zum Scheine“ (FW 107, KSA 3, 464, 18 f.) eine immerhin temporär lindernde Wirkung attestiert: „Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als die S c h e l m e n k a p p e : wir brauchen sie vor uns selber – wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener F r e i h e i t ü b e r d e n D i n g e n nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert“ (465, 1–8). Zur Erkenntnismotivik bei Nietzsche vgl. auch den Beitrag von Milan Wenner in diesem Band. 103 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 27. 104 So auch von Smitmans-Vajda angedeutet: Nietzsche werte „den ‚morbiden Weltschmerz‘ einer möglichen todes-erotischen Ode an die Melancholie um in feindselig-ironische Herausforderung […]: Die Tinte fließt nicht, die gespitzte Feder sprüht nicht zum Loblied, sondern zum Aufbruch in ein neues Schreiben“ (Smitmans-Vajda, Barbara, Melancholie, Eros, Muße. Das Frauenbild in Nietzsches Philosophie, Würzburg 1999, S. 17).  





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Der griechische ‚Ur-Lyriker‘ Archilochos schlafe berauscht „auf hoher Alpentrift, in der Mittagssonne“ (eine verwandte Szenerie wählt Nietzsche für den Rückblick des Ichs im Gedicht), bis Apoll ihn mit Lorbeer berühre. Das Ergebnis des Kontakts: „Die dionysisch-musikalische Verzauberung des Schläfers sprüht jetzt gleichsam Bilderfunken um sich, lyrische Gedichte, die in ihrer höchsten Entfaltung Tragödien und dramatische Dithyramben heissen“.105 Die ‚stotternde‘ Syntax des letzten Verses spricht dafür, dass das Gedicht An die Melancholie auf einer hermeneutischen Metaebene bereits als Produkt der vom Text in Szene gesetzten Emanzipationsbewegung zu verstehen ist. Durch die Anadiplose von „Göttin“ und „laß mich“,106 wird das ‚Zittern‘ und ‚Zucken‘ des dichtenden Ichs sprachlich veranschaulicht. Inhaltlich zieht dieses durch die Forderung „laß mich schalten“ die Konsequenz aus dem in Strophe fünf zugespitzt ausgedrückten Lebensdrang. Das einleitende Adverb „Nun“ betont den resümierenden Charakter des Verses, in dem die „Göttin“ noch einmal angesprochen wird, allerdings um eine Forderung vorzubringen: Das zu Beginn gegebene Versprechen, die Melancholie zu preisen, betrachtet das Ich als gehalten; jetzt fordert es die Freiheit, „schalten“ und walten zu können, das heißt sich zur künstlerischen Produktivität und einer unabhängigen Existenz hin emanzipieren zu können. Inwieweit dieses Postulat frei(er)en Lebens realisiert werden kann, bleibt offen. Der bewusst eingesetzte (und auch innerhalb des Textes reflektierte) parodistische Ton des Gedichts bezeugt in jedem Fall eine neue Form der Distanz, die den Umgang mit der bei aller inspirierenden Kraft zuletzt doch „böse[n] Gottheit“ Melancholie nachhaltig verändert und die Position des lyrischen Ichs souveräner gestaltet. Die noch deutlich furchteinflößendere Darstellung der MelancholieFigur in Nietzsches zweitem Gimmelwalder Gedicht Nach einem nächtlichen Gewitter zeigt ex negativo den gewonnenen Abstand an, obgleich auch dort ironische bis parodistische Elemente bereits auf eine Distanzierung von der Melancholie und ihrer geistesgeschichtlichen Tradition hinweisen.

4 Nach einem nächtlichen Gewitter Im Gegensatz zu An die Melancholie rekurriert das Gewitter-Gedicht nicht direkt auf den umfangreichen Traditionskomplex der Melancholie. Ohne die Kenntnis des viele parallele Wendungen enthaltenden Melancholie-Gedichts fiele es

105 GT 5, KSA 1, 44, 21–26. 106 NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 28.

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schwer, nur anhand der Indizien überhaupt auf die Melancholie als angesprochene und sprechende Gewalt zu verfallen, da Nietzsche diese Bezeichnung konsequent durch Antonomasien ersetzt. Den schon für das Melancholie-Gedicht charakteristischen überzeichnenden Stil spitzt das Gewitter-Gedicht zwar sukzessive zu, aber Nietzsche inszeniert spezifische Motive der Tradition hier nicht derart sinnfällig wie dort: Parodistische Elemente im weiteren Sinne blitzen nur indirekt auf, etwa mit Blick auf literarische Vorgänger innerhalb der MelancholieTradition in den Strophen eins und fünf. Nietzsche skizziert seine MelancholieFigur im Gewitter-Gedicht außerdem weniger vielschichtig und verzichtet auf die Ambivalenz, die sie in dem Gedicht An die Melancholie auszeichnet. Zu Beginn bereits erscheint sie als „[t]rübe Göttin“ und am Ende nennt sie sich sogar eine „Tigerin“,107 ohne Hinweise auf eine inspirierende Wirkung zu liefern. So vertritt sie nur die schreckenerregend-bedrohliche Seite der Melancholie. Abgesehen von der Entstehungsgeschichte verweist sowohl die stilistischformale als auch die inhaltliche Konstellation auf die enge Zusammengehörigkeit der beiden hier erörterten Gedichte. Die überspitzte Sprache und die zahlreichen Figuren der Wortwiederholung prägen den Stil beider Texte. Auch die Anrede der „Göttin“ und die Rückblenden sind ihnen als wiederkehrende Strukturmerkmale gemeinsam. Zudem kann das Personal beider Gedichte als identisch betrachtet werden: Die Apotheose der dominanten Melancholie-Figur durch das lyrische Ich stellt jeweils die Grundkonstellation dar, nur dass die Melancholie im GewitterGedicht ihren Herrschaftsanspruch erst geltend macht, während das lyrische Ich sich in An die Melancholie von diesem zu emanzipieren versucht. Es liegt daher nahe, den Inhalt der Texte auch in einem chronologischen Zusammenhang zu begreifen: Erstens kann das von Colli und Montinari in der Kritischen Gesamtausgabe unmittelbar nach An die Melancholie platzierte Gewitter-Gedicht in der internen Chronologie vor diesem angesiedelt sein.108 Das Gewitter-Gedicht kann zweitens aber auch den Rückfall des lyrischen Ichs unter das melancholische Joch schildern, der Emanzipationsversuch wäre dann gescheitert oder doch nur von zeitlich begrenzter Gültigkeit. Drittens kann es sich zudem um repräsentative Momentaufnahmen handeln, deren Zustände beständig einander abwechseln, sodass heitere und bedrückte Phasen in der Psyche des Ichs jeweils aufeinander folgen. Biographisch betrachtet ist letzteres wahrscheinlich, da Nietzsche selbst unter immer wiederkehrenden depressiven Schüben litt, sich aber stets um einen heiteren Stimmungskontrast bemühte. Aus den Gedich107 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 3 u. 21. 108 Diese Annahme berührt nicht die entstehungsgeschichtliche Verortung; als Prequel kann das Gewitter-Gedicht genauso gut nach An die Melancholie geschrieben worden sein, wie umgekehrt.

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ten selbst lässt sich indes nicht erkennen, welcher der genannten Zugänge zu bevorzugen ist. Nietzsche verwendet für sein Gedicht eine vierzeilige Kreuzreimstrophe aus jambischen Fünfhebern mit weiblich-männlich wechselnder Kadenz. In der deutschen Lyrik ist diese Strophenform seit der Empfindsamkeit gebräuchlich, wo sie „zum Ausdruck elegischer Stimmungen, der Meditation und Klage“ verwendet wurde. Ihr Vorbild war die „englische Mond- und Gräberpoesie“, besonders „Thomas Grays beispielgebende[ ] ‚Elegy written in a Country Church-Yard‘ […] in dem sogenannten Maß der ‚elegischen Stanze‘“.109 Die von Nietzsche gewählte Strophenform rekurriert in ihren Ursprüngen also noch mehr als die des Melancholie-Gedichts direkt auf die literaturhistorische Melancholie-Tradition, die Inhalt und Stil des Gedichts freilich unterhöhlen. In der ersten Strophe zitiert Nietzsche die romantische Ausprägung der Melancholie-Lyrik sogar an, wenn er die schwermütige Stimmung des lyrischen Ichs in „schaurig[e]“ Naturlyrismen übersetzt.110 Die Interpretation der Melancholie-Figur selbst als männerverachtende ‚Domina‘ (‚Herrin‘) ist eine groteske Hyperbel des pathologischen MelancholieVerständnisses, wie es die romantische Lyrik ansatzweise wieder aufnahm, um sich von den zärtlichen Melancholie-Allegorien der Empfindsamkeit abzusetzen. Noch der paradigmatische Klagelaut „Ach!“,111 der die zweite Verseinheit einläutet, hat seinen Ursprung in der melancholischen Empfindsamkeitslyrik, wenngleich er hier nicht zum Ausdruck einer sehnsuchtsvoll-elegischen Stimmung, sondern vielmehr im Sinne einer Anklage genutzt wird. Diese Umdeutung ist musterhaft: Im Laufe des Gedichts weicht der anfänglich resignative Tonfall zunehmend einer aggressiven, ja martialischen Sprache. Die letzten zwei Strophen konterkarieren den sanften Beginn geradezu: Die Melancholie-Figur verneint explizit empfindsame Zuschreibungen wie „weiblich, taubenhaft und weich“ und stellt ihnen das Selbstverständnis als „Kämpferin mit Manneshaß und -Hohne“ gegenüber.112 Mit dieser gegenläufigen Struktur wendet sich das

109 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 291. 110 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 4 f. Weist Nietzsches An die Melancholie noch bemerkenswerte Ähnlichkeiten zu Lenaus titelgleichem Gedicht auf, scheint insbesondere die erste Strophe von Nach einem nächtlichen Gewitter Lenaus anderem Melancholie-Gedicht mit dem Titel Himmelstrauer nachempfunden zu sein. Dort versinnbildlicht ein leichtes Gewitter, dem „kühle Schauer“ und „Nebel“ folgen, ebenfalls eine melancholische Gestimmtheit (vgl. Völker [Hrsg.], „Komm, heilige Melancholie“, S. 144). 111 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 6. 112 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 19 u. 20. Dieser Gegenüberstellung korrespondiert die zeitliche Struktur des Textes: Bietet Strophe eins den schauerpoetischen Gedichteingang im Präsens, entfaltet Nietzsche in den darauffolgenden drei Strophen die aggressiver werdende Stimmung als Rückblick im Perfekt und Präteritum. Die zwei Abschlussstrophen geben die martialischen Droh 

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Gedicht gegen die Tendenz der Empfindsamkeitslyrik (und ihre meist männlichen Vertreter), die Melancholie als ‚süße Schwermut‘ zu beschönigen.113 Doch auch vom romantischen Gegenentwurf setzt der Text sich ab. Isoliert betrachtet, kündigt der Titel des Gedichts im weitesten Sinne ein im Text dargelegtes Geschehen an, ohne über den Passus „[n]ach einem nächtlichen Gewitter“ hinaus nähere Hinweise darauf zu geben.114 Doch der Kontext bietet ebenfalls Ansatzpunkte: Einerseits verweist das ‚nächtliche Gewitter‘ auf die Reihe der Naturphänomene im Mittelteil des anderen Gimmelwalder Gedichts und schafft so eine (weitere) Verbindung zwischen beiden Texten. Andererseits weist der Titel des Gedichts auf die Eigenart als ‚Gelegenheitsgedicht‘ hin, wie der späte Goethe es verstand und als Bezeichnung für seine eigene Lyrik beanspruchte.115 Demnach gestaltet Nietzsche im Gedicht – vielleicht auch als Reaktion auf persönlich Erlebtes – einen melancholischen Anfall am Morgen „[n]ach einem nächtlichen Gewitter“ als Heimsuchung durch die topische „[t]rübe Göttin“. Deren Bedrohlichkeit nimmt im Laufe des Gedichts (in der internen Chronologie aber vorgeschaltet) rapide zu, indem sie das lyrische Ich schließlich in ihren Dienst zwingen will. Im Kontrast zu den meditativen und reflexiven Passagen in

gebärden der Melancholie-Figur erneut im Präsens (weil in direkter Rede) wieder, obgleich sie Teil des Rückblicks sind. 113 Als Beispiel sei auf Ludwig Christoph Heinrich Höltys Elegie auf einen Dorfkirchhof verwiesen (vgl. Völker [Hrsg.], „Komm, heilige Melancholie“, S. 75–78). In einem Brief (mutmaßlich an Johann Heinrich Voß) vom April 1774 bezeichnet Hölty sein Schaffen explizit als Ausdruck einer „süssen melancholischen Schwärmerei in Gedichten“ (Hölty, Ludwig Christoph Heinrich, Gesammelte Werke und Briefe. Kritische Studienausgabe, hrsg. von Walter Hettche, Göttingen 1998, S. 346). 114 Im Gegensatz dazu steht der Titel „An die Melancholie“, der sowohl auf das zu erwartende Thema des Gedichts als auch auf die Gattungstradition des Melancholie-Gedichts verweist. 115 Vgl. hierzu Goethes Erläuterung gegenüber Eckermann: „Die Welt ist so groß und reich und das Leben so mannigfaltig, daß es an Anlässen zu Gedichten nie fehlen wird. Aber es müssen alles Gelegenheitsgedichte sein, das heißt, die Wirklichkeit muß die Veranlassung und den Stoff dazu hergeben. Allgemein und poetisch wird ein spezieller Fall eben dadurch, daß ihn der Dichter behandelt. Alle meine Gedichte sind Gelegenheitsgedichte, sie sind durch die Wirklichkeit angeregt und haben darin Grund und Boden. Von Gedichten aus der Luft gegriffen halte ich nichts.“ (Goethe, Johann Wolfgang, Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., 2 Abtn., Abt. 2, Band 12 [39], hrsg. von Christoph Michel unter Mitwirkung von Hans Grüters, Frankfurt/ Main 1999 = Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 167, S. 50). – Goethe versteht ‚Gelegenheitsdichtung‘ (oder Kasualpoesie) hier nicht nach herkömmlicher Definition als ausschließlich auf einen Anlass (z. B. Feste, Geburtstage usw.) hin konzipierte Zweckdichtung im Gegensatz zur ‚autonomen‘ Dichtung. Vielmehr beansprucht er für alle seine Gedichte ein Fundament an (Welt-) Erfahrung, das persönlicher Natur (im Sinne eines persönlichen Erlebnisses) sein kann, aber nicht muss. Im weitesten Sinne geht es ihm um die Orientierung an der Wirklichkeit, die er dem rein Fantastischen vorzieht.  

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An die Melancholie vollzieht sich hier ein Geschehen, das bei aller grotesken Verfremdung anhand der narrativen Elemente konkret fassbar ist. Während das Melancholie-Gedicht ein langes und bedeutsames Verhältnis zur Melancholie abstrakt rekapituliert, zeigt das Gewitter-Gedicht eine konkrete Episode dieses Verhältnisses. Nicht zuletzt mit Blick auf das Nebengedicht, welches das Geschehen in den größeren Zusammenhang einbindet, hat das Dargestellte gleichwohl den Charakter einer exemplarischen Handlung. Nach einem nächtlichen Gewitter gibt nur im Einzelnen als Vorgang wieder, was An die Melancholie im Ganzen reflektiert. Die Gedichte weisen eine weitgehend analoge Redestruktur auf: Das lyrische Ich spricht zu einem Du, das hier wie dort die Melancholie personifiziert. Ihrem Duktus nach lassen sie sich daher als eine einzige, lange Apostrophe verstehen. Obwohl die Melancholie am Ende des Gewitter-Gedichts einen beträchtlichen Redeanteil erhält, handelt es sich streng genommen nicht um einen Dialog. Die wörtliche Rede der Melancholie-Figur platziert Nietzsche innerhalb der Rückblende des lyrischen Ichs als Zitat, sodass sie letztlich in diese integriert bleibt. Auch hier findet daher kein Gespräch im engeren Sinne statt, vielmehr hält das Ich – wie schon im Melancholie-Gedicht – einen Monolog, der sich durch eine durchgängige Anrede der Melancholie-Gestalt auszeichnet und deren direkte Rede lediglich zitiert. Nietzsches Nach einem nächtlichen Gewitter beginnt, wie sein MelancholieGedicht auch, mit der Anrede der Melancholie, die das lyrische Ich hier als „[t] rübe Göttin“ personifiziert. Im Vergleich zu den weiteren Zuschreibungen des Gedichts sowie denjenigen aus An die Melancholie („herbe“, „grimme“, „böse Gottheit“)116 fällt die Bezeichnung milde aus, was der ruhigen Anfangssequenz des Gedichts geschuldet ist. In dieser projiziert das lyrische Ich die Melancholie „als Nebelhülle“ in die Natur, welche – anaphorisch verdeutlicht – betont „[s] chaurig“ anmutet und eine trostlose Grundstimmung verbreitet.117 Die „bleichen Flocken“ evozieren das Bild eines Schneetreibens; zugleich stehen die wehende „Fülle“ derselben und die zugeschriebene Farblosigkeit in Analogie zur „Nebelhülle“, die dafür verantwortlich ist, dass „der volle Bach“ nur zu hören, nicht zu sehen ist.118 Mit dieser tristen Szenerie gestaltet Nietzsche in der ersten Strophe einen traditionellen locus melancholicus, der auch das lyrische Ich affiziert, dessen „Fenster“ vollständig vom Nebel eingehüllt scheint.119 Die Nebelmetapher veranschaulicht die unmittelbare Nähe und Omnipräsenz der Melancholie, die 116 117 118 119

NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 5, 17 u. 21. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 2 u. 4 f. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 4 u. 5. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 3.  

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nicht greifbar ist und trotzdem einen trüben (oder vielmehr trübsinnigen) Schleier über die Welt legt. Textimmanent ist der Nebel das Resultat des titelgebenden „nächtlichen Gewitter[s]“, das im Mittelteil des Gedichts ebenfalls zur Metapher der melancholischen Heimsuchung wird. In beiden Erscheinungsformen, als depressiver Anfall von Verzweiflung und als bleierne, lähmende Schwermut, malträtiert sie das lyrische Ich. Das Temporaladverb „[h]eute“ kann vor diesem Hintergrund einerseits als Markierung gelesen werden,120 welche die Nacht (des Gewitters) in der internen Gedichtchronologie vom (nebligen) Morgen trennt, um so auf die Wandlungsfähigkeit der in beiden Fällen präsenten Melancholie hinzuweisen. Andererseits kommt so die Regelmäßigkeit zum Ausdruck, in der die Melancholie das Ich als ungebetener Gast heimsucht: Dem „Heute“ geht ein ‚Gestern‘ voraus und folgt ein ‚Morgen‘. Auch das Melancholie-Gedicht setzt, zumindest für die Vergangenheit, eine beständige Melancholie voraus, auf die sich das Ich im Rückblick bezieht. Mit Beginn der zweiten Strophe bricht das gerade entworfene Stimmungsbild jäh ab, das Gedicht wechselt vom Modus ruhiger Beschreibung unvermittelt in den wilder Anklage. Der Klagelaut „Ach!“ läutet in diesem Fall keine Elegie, sondern den Vorwurf des Ichs ein, der sich gegen die als „Zauberin“ betitelte Melancholie richtet: Sie habe während des „[n]ächtlichen Gewitters“ „den giftefeuchten / Todestrank […] gebraut“,121 der dem Ich nun offenbar zusetzt. Stilistisch vergegenwärtigt das Ich die verhängnisvolle Nacht, indem es die Gewittererscheinungen Blitz und Donner hyperbolisch aufruft. Durch Anapher und Parallelismus verknüpft es anschließend die meteorologischen Phänomene der Gewitternacht und des Nebelmorgens („des Thales Dampf“),122 um den zeitlichen Übergang zu markieren und damit die beständig wandelbare Melancholie ab-

120 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 2. 121 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 8 f. Volz, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, S. 37 sieht in dieser Stelle eine „Anspielung auf den Liebestrank Isoldens“. Isolde verlangt in Wagners Musikdrama von ihrer Magd Brangäne für Tristan und sich den „Todestrank“ ihrer Mutter, einer „Zauberin“ (Wagner, Richard, Dichtungen und Schriften. Jubiläumsausgabe in 10 Bänden, hrsg. von Dieter Borchmeyer, Frankfurt/Main 1983, Bd. 4, S. 22 u. S. 10). Brangäne gibt ihr jedoch den Liebestrank. 122 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 8. Die meteorologische Motivik erinnert an Werthers Schilderung seiner Ossian-Lektüre im Brief vom 12. Oktober 1772: „Ossian hat in meinem Herzen den Homer verdrängt. Welch eine Welt, in die der Herrliche mich führt! Zu wandern über die Heide, umsaust vom Sturmwinde, der in dampfenden Nebeln die Geister der Väter im dämmernden Lichte des Mondes hinführt. Zu hören vom Gebirge her, im Gebrülle des Waldstroms, halb verwehtes Ächzen der Geister aus ihren Höhlen“ (Goethe, Werke, Bd. 6, S. 82). In Goethes Roman zeigt Werthers Beschäftigung mit Homer, Klopstock und Ossian seine jeweilige Stimmung an (vgl. Schmidt, Die Geschichte des Genie-Gedankens, Bd. 1, S. 331).  

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zubilden. Mit dem Vorwurf geht der Tempuswechsel vom Präsens ins Perfekt (zweite Strophe) oder ins Präteritum (dritte und vierte Strophe) einher; das in den Strophen zwei bis sechs Geschilderte spielt sich vollständig in der Gewitternacht ab, auf welche der trist gemalte Morgen in der Eingangsstrophe folgt. Der „Todestrank“ steht hier metaphorisch für die ‚schwarze Galle‘, deren Übergewicht gemäß hippokratischer Humoralpathologie sowohl Niedergeschlagenheit als auch manisches Verhalten verursachen kann.123 Beide melancholischen Verhaltensweisen legt das lyrische Ich im Gedicht an den Tag, sie spiegeln sich in den meteorologischen Metaphern des Gewitters und Nebels wider. Allerdings kommen der atra bilis traditionell weder ‚Feuchtigkeit‘ noch ‚Giftigkeit‘ zu. Den Begriff des „giftefeuchten / Todestrank[s]“, der in der Reihe der zahlreichen Hyperbeln beider Melancholie-Gedichte steht, wählt Nietzsche, um dem Vorwurf des lyrischen Ichs eine schärfere Kontur zu verleihen: Es beschuldigt die MelancholieFigur, weil sie den in der ersten Strophe veranschaulichten, lebens-müden Trübsinn auslöse. In der dritten Strophe taucht das lyrische Ich tiefer in die Erinnerung an die vergangene Nacht ein und identifiziert die angesprochene Melancholie-Figur direkt mit dem stattfindenden Gewitter. Während das ‚Schaudern‘ im Melancholie-Gedicht dem Nachvollzug des Tat twam asi gilt und eher in Form einer ambivalenten Ergriffenheit zu verstehen ist, bezeugt die „[s]chaudernd[e]“ Wahrnehmung der Geräuschkulisse das Grausen des Ichs im drohenden Angesicht der Melancholie-Figur.124 Diese tritt gerade „um Mitternächten“ auf,125 das heißt zur ‚Geisterstunde‘, in der dem Volksglauben nach allerlei Übernatürliches sein Unwesen treibe. Die Heimsuchung des Ichs wird so im Stile einer Schauergeschichte vorbereitet, in der Folge verschmelzen das Unwetter und die Melancholie-Figur und erzeugen eine entsprechend angsteinflößende Stimmung. Den Donner und das Heulen des Windes nimmt das Ich als „[d]einer Stimme Lust- und Wehgeheul“ wahr. Die Blitze erscheinen ihm einerseits als „Blinken“ der „Augen“, andererseits als „der Rechten / Schneidig hingezückten Donnerkeil“.126 Die Metaphorik ist derjenigen verwandt, die Nietzsche in An die Melancholie verwendet: Dort gibt er der Melancholie-Figur ein „Schreckgesicht“ (mit blinkenden oder ‚blitzenden‘ Augen?) und eine (ebenfalls ‚donnernde‘?) „böse Rechte“ (gemeint ist die Faust).127 Das Wort „Donnerkeil“ selbst bezeichnet nach Grimms Wörterbuch einen „zugespitzte[n] keilförmige[n] stein, wie man ihn zuweilen auf 123 124 125 126 127

Vgl. Volz, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, S. 26. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 10; vgl. NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 13. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 10. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 11–13. NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 23 f.  

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äckern findet; das volk glaubt sie seien vom blitz herabgeschleudert, zumal wenn blitz und donner auf einen schlag kommt. meist sind es belemniten [fossile Kopffüßer].“ Donnerkeile werden im Volksmund auch „teufels- oder hexenfinger“ genannt, „weil man zauberei damit treibt“. Der Begriff kann aber auch schlicht den „herabfahrende[n] blitzstrahl“ meinen.128 Das sprachliche Bild vereint demnach mehrere Bedeutungen in sich, die zum bedrohlichen Gebaren der meteorologisch verbildlichten Gestalt beitragen: Den Arm kann die personifizierte Melancholie nicht nur direkt wie einen Blitz verwenden, sondern sie, die „Amazone“, kann mit ihm auch einen ‚Donner-Keil‘ als (besonders mächtige, potenziell magische) Waffe führen. Die Konjunktion zu Beginn der vierten Strophe schließt unmittelbar an die vorangehende Texteinheit an und präzisiert das Geschehen weiter. Nachdem Melancholie-Figur und Gewitter überblendet wurden, schildert das lyrische Ich, wie ihm jene in personaler Erscheinung, mit den Attributen des verheerenden Wetterphänomens versehen, entgegengetreten sei („so tratst du“).129 Das Bedeutungsspektrum der zuvor angeführten Bilder verengt sich zugunsten einer bellizistischen Konnotation, die zudem rhetorisch überspitzt wird: „Vollgerüstet, waffengleißend“ erscheint die Melancholie am „oede[n] Bette“ des Ichs, also in dessen nächster Nähe.130 Der unheilvolle Charakter des Geschehens speist sich gerade aus dem Kontrast zwischen angsterfülltem Ich und sinisterer Melancholie-Figur; indem diese in voller Kriegsmontur in den vermeintlichen Zufluchtsort des Ichs hineinbricht, verstärkt ein weiteres Bild die konstitutive Antithese des Gedichts.131 Das Fensterschlagen ruft abermals den schauerpoetischen Gehalt des Gedichts auf, die Verwendung der „erz’ne[n] Kette“ erinnert in diesem Zusammenhang an das ‚Kettenklirren‘ der zur ‚Geisterstunde‘ spukenden Gespenster.132 Gleichzeitig wirkt es als höhnische Begrüßungsgeste, der die Drohung eingeschrieben ist, das Ich nun ‚in Ketten zu legen‘. Der Hinweis auf die „erz’ne[ ]“ Beschaffenheit der „Kette“ – hier werden Metonymie (Erz für Metall) und Pleonasmus (Kette aus Metall) kombiniert – untermalt die ‚eiserne‘ und unbarmherzige Haltung der Melancholie-Figur, die gekommen ist, um das lyrische Ich in ihren (Sklaven-)Dienst zu nehmen. Mit dem Fensterschlagen fordert sie darüber hinaus

128 Grimm, Jacob und Wilhelm, Deutsches Wörterbuch, Bd. 2, München 1984 (= Fotomechanischer Nachdruck der Erstausgabe 1860), Sp. 1244 f. 129 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 14 (Hervorhebung ATM). 130 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 14 f. 131 In An die Melancholie erfährt dieses Schema eine Erweiterung, wenn das Ich sich zur Wehr setzt und seine „Feder“ gegen das ‚Schwert‘ der Melancholie erhebt. 132 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 16.  



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die Aufmerksamkeit des Ichs und leitet ihre folgende, zwei Strophen umfassende Figurenrede ein, in der sie sich und ihre Ansprüche vorstellt.133 Durch die Strophentrennung wird der Einleitungssatz der Rede („Nun höre, was ich bin!“)134 als solcher formal hervorgehoben und zugleich vom spezifischen Redeinhalt abgegrenzt. Das einleitende Adverb, das in derselben Funktion auch im vorletzten Vers sowie in An die Melancholie vorkommt,135 markiert einen Schnitt, den die sprechende Melancholie setzt und dem zufolge der Zweck ihres ‚Besuchs‘ erst jetzt von ihr preisgegeben werde. Bei dem bisherigen Geschehen hat es sich also nur um ein Vorspiel gehandelt; der wahre Schrecken (nämlich die Knechtschaft) kommt erst noch. Gleichwohl beabsichtigt die Figur auf diesem Weg, vermeintlichen Illusionen des Ichs vorzubeugen: Aus der übertrieben martialisch gehaltenen Rede geht hervor, dass sie nicht mit einem herkömmlichen Alptraum oder anderen nächtlichen Schrecknissen ‚zweiter Klasse‘ verwechselt werden will, sondern Anspruch auf den Status als Nemesis des ganzen Männergeschlechts erhebt. Auf einer Metaebene des Textes kongruiert diese Vorstellung mit Nietzsches Traditionskorrektur: Seine Melancholie-Figur will insbesondere nicht für die ‚süße Schwermut‘, die idealisierte Melancholie-Figur der Empfindsamkeitslyrik, gehalten werden; vielmehr gibt sie sich als eine hochgerüstete, pathologische Melancholie zu erkennen, die nach heutigem Sprachgebrauch eher als manische Depression zu bezeichnen wäre. Nietzsches Figur verkörpert im Gewitter-Gedicht den ‚Schmerz‘, keinen ‚Weltschmerz‘. Die Melancholie stilisiert sich als „große ewge Amazone“ gegenüber dem Ich zur archetypischen Kriegerin.136 Daher weist sie feminine Zuschreibungen von sich, um ihr Profil als „Kämpferin“ zu schärfen.137 So kontrastiert Nietzsches Melancholie-Figur mit derjenigen der Empfindsamkeit. Die Rolle als melancholia generosa, die das Melancholie-Gedicht noch thematisiert, entfällt hier gänzlich. Das lyrische Ich spricht der Melancholie zwar auch dort den einseitig verklärten Status als freundliche und anziehende Muse der Dichter ab. Doch im GewitterGedicht fehlt nicht nur jeder inspirierende Charakterzug, die Melancholie reklamiert für sich selbst unverblümt „Manneshaß und -Hohne“.138 Der traditionelle Zusammenhang von Dichtung und Melancholie erscheint in diesem Licht als

133 Durch die Vorstellung in direkter Rede betont das lyrische Ich, dass es sich um das ‚SelbstBild‘ der Figur handelt, also nicht um eine (falsche) Zuschreibung aus fremder Perspektive, die es damit indirekt seinen dichtenden Vorgängern unterstellt. 134 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 17. 135 Vgl. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 24; und NL 1871, 15[1], KSA 7, 390, 28. 136 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 18. 137 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 20. 138 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 20.

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großes Verhängnis der Dichter: Die Melancholie gebärdet sich im übertragenen Sinne als ewige Geißel der Männer, welche die Talentiertesten schon in jungen Jahren heimsucht und dem Leben entwendet, indem sie den taedium vitae über sie bringt.139 Nietzsches Text akkumuliert die verschiedenen Namen, mit denen sich die Melancholie-Figur brüstet, innerhalb eines Satzes, der sich über die ganze fünfte Strophe erstreckt.140 Die letzten in der Reihe der Selbsttitulierungen – die als „Siegerin und Tigerin zugleich“ – erweitert die Menge der Attribute noch um einen triumphierenden Gestus und einen animalischen Habitus.141 Die Melancholie geriert sich als unbesiegbare Macht, als beständige „Siegerin“ über ihre Gegner (oder vielmehr Opfer) und beansprucht den Nimbus der Unbesiegbarkeit. Die Verwendung der weiblichen Form hebt die ‚amazonenhafte‘ Selbstbehauptung der Melancholie-Figur als Männerfeindin hervor. Sie verleiht ihr darüber hinaus eine erotische Färbung, die auch den Typus der femme fatale anklingen lässt. In der letzten Strophe setzt sich die Selbstvorstellung der Melancholie-Figur fort, die in der Todesdrohung gegenüber dem lyrischen Ich gipfelt. Um das lyrische Ich weiter einzuschüchtern, erläutert die Melancholie zuvor jedoch die ihrem Selbstverständnis als „Amazone“, Gewittermacht und „Zauberin“ gemäßen Fähigkeiten im Stil der schon bekannten grotesken Übertreibung: Ihre Tritte seien stets tödlich, ihr ‚böser Blick‘ vermöge Flammen zu werfen (oder ‚flammendes Unheil‘ zu stiften) und schon einer ihrer Gedanken könne vergiften.142 Die im Laufe des Gedichts genannten Attribute werden so noch einmal resümiert: der Trübsal erweckende „Todestrank“ der giftmischenden ‚Hexe‘, das Blitze (dadurch indirekt Feuer) schleudernde Gewitter, das jeweils mit den ‚blinkenden‘ oder ‚grimmen‘ „Augen“ assoziiert wird,143 und die Kampfkraft der „Amazone“, die

139 Hiermit könnte der empirische Autor Nietzsche auch auf die eigenen Depressionsschübe in seiner Jugend rekurrieren. Das Gedicht Verzweiflung (NL 1860/61, 9[2], KGW I/2, 219 f.), in dem ein lyrisches Ich vor der Kulisse eines Sturms (!) zunehmend resigniert und schließlich Suizid begeht, scheint im Geiste einer solchen entstanden zu sein. 140 Vgl. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 18–21. 141 In diesem Zusammenhang weist Volz, Nietzsche – Der lyrische Melancholiker, S. 37, auf Heinrich von Kleists Drama Penthesilea hin. Die titelgebende Amazonenkönigin, von Achill „[h]alb Furie, halb Grazie“ genannt, zerfleischt ihren Geliebten nach seiner absichtlichen Zweikampfniederlage zusammen mit ihren Hunden im Rausch (Kleist, Heinrich von, Sämtliche Werke und Briefe in 4 Bänden, Bd. 2, unter Mitwirkung von Hans Rudolf Barth hrsg. von Ilse-Marie Barth und Hinrich C. Seeba, Frankfurt/Main 1987 = Bibliothek deutscher Klassiker, Bd. 26, S. 233 u. 239). 142 Vgl. NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 22–24. 143 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 12 u. 23.  

Nietzsches Gimmelwalder Melancholie-Gedichte aus dem Sommer 1871

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keine Gefangenen macht. Auf dem Höhepunkt dieser überzeichneten Selbstbeschreibung platziert die Melancholie-Figur unvermittelt ihre Forderung nach Unterwerfung und quasi religiöser Verehrung. Hierzu fordert sie die Demutsgeste par excellence ein: das Niederknien. In diesem Stil formuliert sie auch die finale Drohung: „Oder modre Wurm! Irrlicht, verglimm!“144 Von einer übergeordneten Ebene aus betrachtet, zeichnet Nietzsches Gewitter-Gedicht den Weg melancholischer ‚Inspiration‘ nach – allerdings nicht im verklärenden Licht der Tradition, sondern in übertriebener Schonungslosigkeit: Die ‚Muse Melancholie‘ ist eigentlich ein Anfall von Depression, den der befallene Dichter aus Furcht literarisch abschwächt. Diese Verklärung der Umstände entlarvt der Text als ‚Liebedienerei‘, als devotes Akzeptieren der Unterwerfungsansprüche der Melancholie durch das lyrische Ich. Auch das lyrische Ich des Melancholie-Gedichts erklärt zwar die „herbe Göttin“ zu seiner „Freundin“. Doch gibt es damit zugleich den Weg in die Freiheit vor: Es verlässt die lähmende Fixierung und greift zur „spitze[n] Feder“ – nicht um die Melancholie in süßen Worten poetisch zu preisen, sondern um sie in ihrer Schreckensgestalt zu parodieren und so in einer apotropäischen Handlung ihrer Macht zu berauben.

144 NL 1871, 15[2], KSA 7, 391, 25.

Katharina Grätz

„doch sehen wir sein Sprechen nur“: Nietzsches Gedicht Um Mittag / Am Gletscher und die Lesbarkeit der Natur Abstract: „doch sehen wir sein Sprechen nur“: Nietzsche’s poem Um Mittag / Am Gletscher and the readability of nature. This in-depth reading of the poem Um Mittag, which was first composed in 1877 in Rosenlauibad (Switzerland), then revised and re-titled Am Gletscher in 1884, focuses on the question of the interpretation of nature. Giving artistic form to the summer’s advance into the icy landscape of high mountains, the poem reveals nature as a sphere distinct from man, whose significance can only be caught by means of analogy, embodiment and anthropomorphism. So, Um Mittag / Am Gletscher relates in many different ways to the possibilities of perception, construal and lyrical intermediation of natural processes.

1 In der zweiten Junihälfte 1877 schreibt Nietzsche an Paul Rée in Jena: An diesen Ort, den das Bildchen zeigt, habe ich 3 Bücher mitgenommen: etwas Neues von Mark Twain dem Amerikaner (ich liebe dessen Albernheiten mehr als die deutschen Gescheutheiten), dann Plato’s Gesetze – und Sie, lieber Freund. So bin ich wohl der Erste, der Sie in der Nähe der Gletscher liest; und ich kann Ihnen sagen, das ist der rechte Ort, wo man überschaut das menschliche Wesen mit einer Art von Geringschätzung und Verachtung (sich selbst s e h r einbegriffen) gemischt mit Mitleiden über die vielfältige Qual des Lebens; und mit dieser doppelten Resonanz gelesen, wirkt Ihr Buch sehr stark.1

Die Postkarte zeigt den Ort Rosenlauibad in den Berner Alpen, wo Nietzsche am 11. Juni 1877 Quartier bezogen hatte. In der Hoffnung auf die heilsamen Kräfte des Gebirgsklimas und der „Bergeinsamkeit“2 sollte er bis zum 1. September 1877 bleiben. Zeit seines Lebens übte das Hochgebirge starke Anziehung auf ihn aus. Die schroffe Gebirgswelt wurde ihm zur Chiffre für die eigene sozial isolierte

1 Brief an Paul Rée aus der zweiten Junihälfte 1877, KSB 5, Nr. 627, S. 245 f., Z. 1–11. 2 Brief an Louise Ott vom 29. 08. 1877, KSB 5, Nr. 660, S. 281, Z. 4.  

DOI 10.1515/9783110474374-005

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Existenzweise und sie bot ihm die geeignete Kulisse für Einsamkeitsorgien und Größenphantasien: „In den Alpen bin ich unbesiegbar, namentlich wenn ich allein bin und ich keinen andern Feind als mich selber habe.“3 Auch in Nietzsches poetischer Topographie spielen unwirtliche Klimazonen eine wichtige Rolle. Kälte, Eis und Schnee stellen zentrale Bildfelder dar, auf die er immer wieder zurückgreift. Seine philosophische Erkenntnissuche vollzieht sich metaphorisch nicht selten als räumlich-geographische Erkundung, die in extreme Räume vordringt.4 Bevorzugt aufgerufene Orte der einsamen Existenz und des einsamen Denkens sind das Hochgebirge, die Schneeberge und Gletscher. So vergleicht Menschliches, Allzumenschliches die Freigeisterei „einer höchst gefährlichen Gletscher- und Eismeer-Wanderung“5 und die Fröhliche Wissenschaft führt das unmittelbare Naturerleben als Inspirations- und Schaffensquell an: „Wir gehören nicht zu Denen, die erst zwischen Büchern, auf den Anstoss von Büchern zu Gedanken kommen – unsre Gewohnheit ist, im Freien zu denken, gehend, springend, steigend, tanzend, am liebsten auf einsamen Bergen oder dicht am Meere, da wo selbst die Wege nachdenklich werden.“6 Freilich muss man sich fragen, ob hier nicht Ironie im Spiel ist. Denn wenn Natur zum unmittelbaren Gedanken- und Ideengeber des ‚tanzenden‘, nicht auf Bücher und schriftliche Quellen angewiesenen Philosophen erklärt wird, so steht das im Widerspruch zu Nietzsches tatsächlich am Tropf der Quellen und der schriftlichen Überlieferung hängenden Schaffensweise. Und schließlich: Ist die beschworene (Natur-)Unmittelbarkeit nicht vielleicht selbst schon eine aus Lektüre gewonnene Referenz, eine Anspielung auf Jean-Jacques Rousseaus Les rêveries du promeneur solitaire (1776/78)? Bezeichnend für Nietzsche jedenfalls scheint viel eher die Konstellation, die er im Juni 1877 in der Postkarte an Paul Rée skizziert, wo er sich als jemanden präsentiert, der im Angesicht des Gletschers Bücher liest, der also das schriftlich Überlieferte vor der Folie der Natur und die Natur vor der Folie des schriftlich Überlieferten betrachtet, derart Natur und Kultur miteinander verschränkend. Um das Verhältnis von Natur und Kultur geht es auch in dem Gedicht, das nachfolgend einer eingehenden Interpretation unterzogen werden soll. Um Mittag oder Am Gletscher, wie das ursprünglich in Rosenlauibad entstandene Gedicht in der zweiten Fassung betitelt ist, thematisiert das Verhältnis des Menschen zur Landschaft des Hochgebirges und verweist dabei ebenfalls auf eine Art von Lektüre. Gelesen werden allerdings nicht Mark Twain,

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Brief an Malwida von Meysenbug vom 03. 09. 1877, KSB 5, Nr. 662, S. 284, Z. 29 f. Hierzu der Beitrag von Milan Wenner, der die Motive der Seefahrt und des Meeres untersucht. MA II VMS 21, KSA 2, 387, 22 f. FW 366, KSA 3, 614, 5–10.  



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Abb. 1: Rosenlauibad. Stahlstich 1839

Plato oder Paul Rée, sondern die Entzifferungsversuche richten sich auf das ‚Buch der Natur‘, das der Lektüre Widerstände entgegensetzt und seine Bedeutung nicht ohne Weiteres preisgibt. Bereits Jahre früher hatte ein Aufenthalt in den Berner Alpen Nietzsche zu lyrischer Produktion inspiriert; 1871 schrieb er in Gimmelwald die Gedichte An die Melancholie und Nach einem nächtlichen Gewitter.7 Wie die Rosenlauibader Gedichte stehen auch sie unter dem Eindruck der Gebirgslandschaft.8 Die beiden Gedichte, die aus Rosenlauibad überliefert sind, blieben zwar zunächst ohne Titel und werden entsprechend nach dem jeweils ersten Vers Um Mittag9 und Dies ist der Herbst10 zitiert, machen aber keineswegs den Eindruck des Fragmentarischen,

7 Siehe hierzu den Beitrag von Armin Thomas Müller im vorliegenden Band. 8 Auf Analogien zwischen Um Mittag und den Gimmelwalder Gedichten weist Grundlehner nachdrücklich hin: „The animation of the natural scene, the invocation of a mythic presence, the importance of the eye’s introspective role, and the symbolism of light are all elements which combine to create the moods of both poems“ (Grundlehner, Philip, The Poetry of Friedrich Nietzsche, New York / Oxford 1986, S. 75). 9 NL 1877, 22[94], KSA 8, 396 f. 10 NL 1877, 22[93], KSA 8, 395 f.  



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da sie sich durchgreifend strukturiert und kompositorisch gerundet darbieten. Innerhalb der formalen Entwicklung von Nietzsches Lyrik kommt ihnen ein Sonderstatus zu, denn es sind die ersten in freien Rhythmen verfassten Gedichte. Dass er sie wertschätzte, lässt sich daraus schließen, dass er sie sich Jahre später wieder vornahm, als er im Herbst 1884 für eine kurze Zeit die Idee einer eigenständigen Gedichtausgabe verfolgte.11 Dafür legte er ein umfangreiches Gedichtkonvolut an (in KGW und KSA ediert als Fragmentgruppe 28),12 das sich sowohl aus neu entstandenen als auch aus überarbeiteten Gedichten zusammensetzt. Von den beiden Rosenlauibad-Gedichten erstellte er im Zuge dieser Arbeiten neue Fassungen, denen er nun auch Titel gab: Im deutschen November13 und Am Gletscher.14 Zur Veröffentlichung ist es freilich nicht gekommen; beide Gedichte erschienen erst postum. Die Forschung hat sich kaum eingehender mit den Rosenlauibader Gedichten beschäftigt, doch wer überhaupt auf sie zu sprechen kommt, erkennt ihnen einen besondere Stellung innerhalb von Nietzsches lyrischer Entwicklung zu, und zwar nicht nur in formaler Hinsicht, sondern vor allem hinsichtlich der Naturdarstellung.15 Die vorgenommenen Gewichtungen zeugen freilich von sehr verschiedenen Zugangsweisen. Ziemann versteht die beiden Gedichte als Belege für die Distanzierung von der romantischen Tradition, in deren Zeichen Nietzsches Lyrik

11 Vgl. hierzu den Briefentwurf an Julius Rodenberg vom November/Dezember 1884: „Zuletzt weiß ich nicht einmal, ob Ihre ‚Rundschau‘ jemals schon Gedichte veröffentlicht hat. Der gegenwärtige Fall aber – daß Friedrich Nietzsche selber einer Zeitschrift das Anerbieten mache, Etwas von mir zu drucken – geht so sehr wider alle meine Regel, daß auch Sie hier einmal eine Ausnahme machen können – eine Ausnahme wie ich unbedingt voraussetze, zu Gunsten und zum Vortheile Ihrer Zeitschrift. Geben Sie mir, hochgeehrter Herr, ein gefälliges Ja! zur Antwort auf diese Zeilen, zugleich mit Ihrem Vorschlage in Betreff des Honorars“ (KGB III/1, Nr. 563, S. 567, Z. 1–11). 12 Groddeck bezeichnet die Fragmentgruppe 28 „als das eigentliche Zentrum in Hinblick auf den gesamten lyrischen Nachlaß Nietzsches“ (Groddeck, Wolfram, „Gedichte und Sprüche“. Überlegungen zur Problematik einer vollständigen, textkritischen Ausgabe von Nietzsches Gedichten, in: Martens, Gunter / Woesler, Winfried (Hrsg.), Edition als Wissenschaft. Festschrift für Hans Zeller, Tübingen 1991, S. 169–180, hier S. 177). Ediert ist sie in KGW VII/3, 5–40 und KSA 11, 297–332. 13 NL 1884, 28[59], KSA 11, 323 f. 14 NL 1884, 28[60], KSA 11, 325 f. 15 Am ausführlichsten geht Grundlehner auf die Rosenlauibad-Gedichte ein, wobei er sich allerdings ganz auf die späteren Fassungen konzentriert. Das ist insofern nicht ganz nachzuvollziehen, als er die Gedichte aus dem ursprünglichen autobiographischen Entstehungskontext heraus versteht und in Nietzsches Ausscheren aus der wissenschaftlichen Laufbahn die Voraussetzung dafür sieht, dass er sich von starren rhetorischen Formen frei machen und mit Am Gletscher ein „poem of sustained lyric mood“ schaffen konnte (Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 75).  



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bis dahin gestanden habe, und er macht dies am Wandel der Naturauffassung fest. Während Natur in Nietzsches frühen Gedichten noch lesbar und verstehbar sei und dem Menschen eine Botschaft zu vermitteln habe, verliert sie nach Ziemann in den Rosenlauibad-Gedichten diese Orientierungsfunktion; dort begegne „der Leser einer Natur, die so von Leid und Schmerz zerrissen ist, daß sich eine Landschaft gar nicht mehr herstellen kann; die Bilder sind nicht mehr im klassischen Sinne ‚symbolisch‘, in ihnen fallen nicht mehr Bild der Natur und Bild der Seele zusammen, sondern die Elemente des Landschaftsbildes sind nur noch Material für Bilder einer nervösen, versehrten, modernen Seele“.16 Ziemann rückt die Rosenlauibad-Gedichte damit dezidiert in den Horizont der literarischen Moderne, er versteht sie als Vorklang der Décadence-Dichtung und einer modernen Nervenkunst. Konträr dazu fällt die Einschätzung von Klein aus, der zwar ebenfalls den Bruch mit der romantischen Tradition konstatiert, aber eine andere literaturgeschichtliche Zuordnung vornimmt, wenn er bemerkt: „[H]ier kommt etwas zur Geltung, was sich bereits im poetischen Realismus regte: die Objektivierung des Menschen, die Hingabe an die Welt im Sinnbilde der Landschaft“.17 Ziemann wie Klein sehen also beide die Einheit von Mensch und Natur in den RosenlauibadGedichten zerbrochen. Ausgehend von dieser Annahme gelangen sie aber jeweils zu einem ganz unterschiedlichen Verständnis der Naturdarstellung in Nietzsches Gedichten: Dient die Natur nach Ziemann als Bildspender für die Selbstinszenierung des überreizten modernen Individuums, so tritt der Auffassung Kleins zufolge das Subjektive vollständig hinter der Darstellung der Natur zurück. Mit Blick auf die wenigen Interpretationsansätze, die zu den RosenlauibadGedichten vorliegen, kann man festhalten: Es herrscht weitgehend Konsens darüber, dass diesen Gedichten eine Schwellenfunktion in Nietzsches lyrischem Werk zukommt; sie werden aufgefasst als Durchbruch zu einer neuen lyrischen Form und zu einer neuen Art der Naturdarstellung. Darüber hinaus fallen die Einschätzungen jedoch kontrovers aus und schon das den Gedichten zugeschriebene Innovationspotential wird sehr unterschiedlich bestimmt.

16 Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben –Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156, hier S. 152. 17 Klein, Johannes, Die Dichtung Nietzsches, München 1936, S. 65.

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2 Um Mittag oder Am Gletscher, wie der Titel der späteren Fassung lautet, fügt sich einem Strang der Naturlyrik ein, der die Landschaft des Hochgebirges ins Zentrum rückt. Bekannte Beispiele hierfür sind Albrecht von Hallers Langgedicht Die Alpen (1729), Nikolaus Lenaus Zyklus Wanderung im Gebirge (1830), Anastasius Grüns Lieder aus dem Gebirge (1830/31) und die Abteilung In den Bergen in Conrad Ferdinand Meyers Gedichtsammlung Sämtliche Gedichte von 1882. Nietzsche greift also auf eine Landschaft zurück, die längst dem Repertoire der literarischen Tradition eingespeist ist und die vor allem als Landschaft des Erhabenen topische Bedeutung erhalten hatte.18 Mit „Eisgebirg“, „Schneegebirg“, „Fels“ und „Sturzbach“ greift auch Nietzsches Gedicht die charakteristischen Elemente des NaturErhabenen auf. Im Mittelpunkt freilich steht nicht die Entfaltung der erhabenen Landschaft, sondern die Gestaltung eines dynamischen Naturgeschehens, das durch eine spezifische, jahreszeitlich wiederkehrende meteorologische Konstellation ausgelöst wird, nämlich durch das Vordringen des Sommers in die Eislandschaft des Hochgebirges. Nietzsche, und das ist durchaus typisch für ihn, knüpft an die ästhetische und literarische Tradition der Landschaftsdarstellung nur an, um sie umzudeuten.19 Ich konzentriere mich in meiner Analyse des Gedichts wesentlich auf die erste Fassung von 1877, da sie in Struktur und Thematik bereits alle zentralen Aspekte enthält. Sie lautet: Um Mittag, wenn Der junge Sommer in’s Gebirge steigt, Da spricht er auch, Doch sehen wir sein Sprechen nur:

18 In folgender Weise besingt etwa Barthold Heinrich Brockes in dem Gedicht Die Berge die unverwüstliche Größe der Berge: „Ihre grauen Häupter decken / Unvergänglichs Eis und Schnee, / Ihre Felsen-Füsse stecken / In dem Grund der tiefsten See, / Und die starre Brust erträget / Unverändert, unbeweget / Alle Wetter, Frost und Hitz’, / Donner, Hagel, Sturm und Blitz.“ (Brockes, Barthold Heinrich, Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Vergnügen in Gott, Faksimile-Druck der Ausgabe Hamburg 1738, Stuttgart 1965, S. 124). Nietzsches Vertrautheit mit den traditionellen ästhetischen Kategorien der Landschaftsauffassung zeigt sich etwa in Menschliches, Allzumenschliches II in dem Entwurf einer arkadischen Landschaft: „Links Felsenhänge und Schneefelder über breiten Waldgürteln, rechts zwei ungeheure beeiste Zacken, hoch über mir, im Schleier des Sonnenduftes schwimmend, – Alles gross, still und hell. Die gesammte Schönheit wirkte zum Schaudern“ (MA II WS 295, KSA 2, 686, 24–28). 19 Günzel spricht in diesem Zusammenhang von einer „Ent-Transzendierung der Bilderwelt bzw. der landschaftlichen Motive“ (Günzel, Stephan, Geophilosophie. Nietzsches philosophische Geographie, Berlin 2001, S. 242).

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Sein Athem quillt wie eines Wandersmanns In Winterfrost: Es geben Eisgebirg und Tann und Quell Ihm Antwort auch, Doch sehen wir die Antwort nur. Denn schneller springt vom Fels herab Der Sturzbach wie zum Gruss Und steht als weisse Säule horchend da. Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne Als sonst sie blickt. Und zwischen Eis und todtem Graugestein Blickt plötzlich Leuchten auf: Wer deutet dir’s? In todten Mannes Auge Wird wohl noch einmal Licht: Sein Kind umschlang ihn harmvoll Küsst’ ihn. Da sagt des Auges Leuchten: „Ich liebe dich“ Und Schneegebirg und Bach und Tann Sie sagen auch Zum Sommerknaben nur Dies Eine Wort: Wir lieben dich! Wir lieben dich! Und er – er küsst sie harmvoll, Inbrünstiger stets Und will nicht gehn: Er bläst sein Wort wie Schleier nur Von seinem Mund – ein schlimmes Wort. – Da horcht es rings Und athmet kaum: Da überläuft es schaudernd wie Ein Glitzern am Gebirg Rings die Natur: Sie denkt und schweigt. – Um Mittag war’s Mein Gruss ist Abschied Ich sterbe jung. –20

20 NL 1877, 22[94], KSA 8, 397 f.  

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Für Lyrik – und schon gar für Naturlyrik – eher untypisch ist der gleich zu Beginn markant hervortretende narrative Charakter des Gedichts.21 Er unterstreicht, dass hier nicht subjektives Naturerleben, sondern ein dynamisches Naturgeschehen vorgestellt wird. Entsprechend gibt es kein lyrisches Ich, das als Zentrum von Erfahrungen oder Stimmungen fungieren würde. Als Sprecher dient vielmehr ein beobachtendes „wir“, das der Natur in unaufhebbarer Distanz gegenübersteht. In seiner Funktion als wahrnehmende Instanz wird es zweimal genannt („sehen wir“, V. 4, V. 9), sonst tritt es vollständig hinter dem wiedergegebenen Geschehen zurück. Zu den narrativen Elementen kommen dramatische hinzu: Eine wichtige Rolle spielt die wörtliche Rede, die insgesamt dreimal begegnet und unterschiedlichen Sprecherinstanzen zugeordnet ist. Die grammatisch vollständigen Sätze sind in reimlosen Versen angeordnet, die jeweils Sinneinheiten vorstellen und mit einer schwankenden Länge von zwischen 4 und 10 Silben schon äußerlich Unregelmäßigkeit demonstrieren. Als in freien Rhythmen verfasstes Gedicht weist Um Mittag22 kein Metrum und keinen Reim auf, auch gibt es (abgesehen von den beiden räumlich abgesetzten Schlussversen) keine strophische Gliederung. So stellt sich die Frage, was überhaupt den lyrischen Charakter des Gedichts ausmacht. Neben der Rhythmisierung, die insbesondere durch die zahlreichen viersilbigen Verse erfolgt, sind hier vor allem die vielen Inversionen von Satzgliedern zu nennen. Besonders auffällig sind die Umstellungen in den Versen 7–16, deren Syntax durch das Zurückstellen des Subjekts von der normalsprachlichen abweicht. Dies hat einen semantischen Effekt; denn weil es zu einer stärkeren Betonung des Verbs führt, tritt das Dynamische der Natur dadurch deutlicher hervor, z. B. wenn es heißt: „Denn schneller springt vom Fels herab / Der Sturzbach wie zum Gruss“ (V. 11 f.). Weitere kunstvoll eingesetzte gestalterische Mittel sind Wiederholungen. Sie zeigen sich auf Wortebene (so leistet das wiederaufgenommene „harmvoll“ – es findet sich sonst nicht in Nietzsches Wortschatz – auf lexikalischer Ebene eine Verknüpfung von menschlicher Sphäre und Natur) wie auch auf Satzebene: Das  

21 Freilich haben neuere Forschungen vorgeführt, dass sich narratologische Analysekategorien durchaus auf Gedichte übertragen lassen und sich die gattungsstrukturellen Möglichkeiten von Lyrik und Prosa weniger stark voneinander unterscheiden als bislang angenommen (vgl. hierzu Schönert, Jörg / Hühn, Peter / Stein, Malte, Lyrik und Narratologie. Text-Analysen zu deutschsprachigen Gedichten vom 16. bis zum 20. Jahrhundert, Berlin / New York 2007). 22 In formaler Hinsicht weist Klein Um Mittag eine Übergangsfunktion zu den Dionysos-Dithyramben zu: „In der rhythmischen Fügung erinnern sie noch an die freien Rhythmen Goethes. Die Loslösung hat noch nicht einen äußersten Grad erreicht, sondern ist bei einer freien Verwendung wohlklingender Takteinheiten stehengeblieben. Von der dynamischen Wucht der späteren freien Rhythmen kann noch keine Rede sein“ (Klein, Die Dichtung Nietzsches, S. 63).

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wörtlich vorgebrachte „Ich liebe dich“ (V. 23) wird variiert in dem identisch wiederholten und dadurch intensivierten „Wir lieben dich!“ (V. 28 f.). Für die Gesamtstruktur des Gedichts sind vor allem die anaphorisch mit „Da“ eröffneten Versanfänge wichtig: „Da spricht er auch“ (V. 3), „Da horcht es rings“ (V. 35), „Da überläuft es schaudernd“ (V. 37). Sie sind syntaktisch den beiden ersten Versen zugeordnet („Um Mittag, wenn / Der junge Sommer in’s Gebirge steigt“) und bilden ein konditionales Satzgefüge, das kausale Folgebeziehungen indizierend die übergreifende syntaktische und argumentative Klammer des Gedichts abgibt. Auch wenn Um Mittag keine Stropheneinteilung aufweist, ist das Gedicht klar gegliedert. Fünf Teile lassen sich unterscheiden, die man in folgender Weise grob charakterisieren kann: 1. Die Verse 1–16 halten in anthropomorphisierender Weise Vorgänge der Natur fest, die als dialogische Interaktion vorgestellt werden. 2. Die Verse 17–23 verlassen den Bereich der Natur und leisten eine Übertragung auf eine existenzielle Grundsituation: die Begegnung eines Kindes mit seinem toten Vater. 3. In den Versen 24–32 erfolgt eine Rückübertragung vom menschlichen Bereich auf den der Natur. Analog zur Begegnung von Vater und Kind wird – in durchgängiger Personifikation – die Relation der Hochgebirgslandschaft zum Sommer gefasst. 4. Die Verse 33–41 knüpfen an den Gedichtbeginn an; der „junge Sommer“ spricht zur Natur und löst einen epiphanisch-herausgehobenen Moment des Innehaltens aus. 5. Die beiden räumlich abgesetzten Schlussverse 42 und 43 geben wörtlich die zuvor unverständliche Rede des „jungen Sommers“ wieder. Eine Besonderheit von Um Mittag liegt darin, dass es das (meteorologische) Naturgeschehen durchgehend anthropomorphisiert und auf Grunddimensionen der menschlichen Existenz bezieht. Das Gedicht ordnet dem Gegensatz von Sommer und Winter die Oppositionen von Jugend und Alter, Leben und Tod zu. Damit schließt es an die Tradition allegorischer Naturdichtung an. Bemerkenswert ist allerdings die Richtung, die die allegorische Auslegung nimmt. Denn das Naturgeschehen dient nicht lediglich als Bildspender zur Erschließung menschlicher Begebenheiten, sondern rückt selbst ins Zentrum. Die Natur und ihre Sprache bilden den eigentlichen Mittelpunkt des Gedichts. Damit reiht sich Um Mittag nicht selbstverständlich in die Tradition der Naturlyrik ein, sondern problematisiert selbstreflexiv zentrale Aspekte dieses Genres, indem es die Wahrnehmung und Deutung von Naturvorgängen als Problem vorstellt. Explizit thematisiert das Gedicht den Zeichencharakter der Natur und seine Bedeutung („Wer deutet dir’s“, V. 17). Entsprechend rückt die folgende Interpretation die Relation von Mensch und Natur und die Sprache der Natur in den Mittelpunkt.  

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3 Ein junger Jäger saß im innersten Gebürge nachdenkend bei einem Vogelherde, indem das Rauschen der Gewässer und des Waldes in der Einsamkeit tönte. […] Große Wolken zogen durch den Himmel und verloren sich hinter den Bergen, Vögel sangen aus den Gebüschen und ein Widerschall antwortete ihnen. Er stieg langsam den Berg hinunter, und setzte sich an den Rand eines Baches nieder, der über vorragendes Gestein schäumend murmelte. Er hörte auf die wechselnde Melodie des Wassers, und es schien, als wenn ihm die Wogen in unverständlichen Worten tausend Dinge sagten, die ihm so wichtig waren, und er mußte sich innig betrüben, daß er ihre Reden nicht verstehen konnte.23

In der Literatur der Romantik ist die Metapher von der Lesbarkeit der Natur nahezu allgegenwärtig.24 Wie im voranstehenden Zitat aus Ludwig Tiecks Der Runenberg (1804) bleibt dem von der Natur entfremdeten Menschen die Sprache der Natur jedoch häufig unverständlich. Nietzsche entwirft in seinem Gedicht Um Mittag eine entsprechende Konstellation, in der sich die Bedeutung der Chiffrensprache der Natur nicht erschließt und sich Mensch und Natur als Subjekt und Objekt fremd gegenüberstehen. Dabei erscheint die Entzweiung mit der Natur radikal und irreversibel. Das menschliche Subjekt tritt in Nietzsches Gedicht (anders als in dem Auszug aus Tiecks Runenberg) überhaupt nicht mehr als Teil des natürlichen Kosmos in Erscheinung, sondern ist zurückgedrängt auf die Rolle eines außenstehenden Beobachters, dem die Rede der Natur unzugänglich ist, ja, der sie nicht einmal zu hören vermag, da er kein Sensorium für sie besitzt. Das, was in Nietzsches Gedicht metaphorisch als Rede, als ein „Sprechen“ (V. 4) aufgerufen wird, ist das als zeichenhaft aufgefasste meteorologische Naturgeschehen, genauer: die Auswirkungen des Sommers auf die Natur und Landschaft des Hochgebirges. Diese Naturvorgänge sind jedoch nicht empirischer Erfahrung entsprechend wiedergegeben, sondern durchgängig metaphorisiert und anthropomorphisiert. So wird das meteorologische Geschehen im Bild des „junge[n] Sommer[s]“ personifiziert, der seinerseits mit einem ins Gebirge steigenden Wandersmann verglichen wird. Und seine Wirkung auf die umgebende

23 Tieck, Ludwig, Der Runenberg, in: Ders., Schriften, Bd. 6: Phantasus, hrsg. von Manfred Frank, Frankfurt/Main 1985, S. 184–209, hier S. 184. 24 So spricht etwa Novalis in den Lehrlingen zu Sais von der „Wunderschrift“ der Natur (Novalis, Werke, Tagebücher und Briefe Friedrich von Hardenbergs, Bd. 1: Das dichterische Werk, Tagebücher und Briefe, hrsg. von Richard Samuel, München / Wien 1978, S. 201) und Schelling resümiert am Ende seines Systems des transzendentalen Idealismus: „Was wir Natur nennen, ist ein Gedicht, das in geheimer wunderbarer Schrift verschlossen liegt“ (Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph, Ausgewählte Schriften, hrsg. von Manfred Frank, Bd. 1: Schriften 1794–1800, Frankfurt/Main 1985, S. 696).

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Natur wird als eine dialogische Beziehung gefasst; er „spricht“ (V. 3) zu ihr und erhält vielfache Resonanz („Antwort“, V. 9): Denn schneller springt vom Fels herab Der Sturzbach wie zum Gruss Und steht als weisse Säule horchend da. Und dunkler noch und treuer blickt die Tanne Als sonst sie blickt. Und zwischen Eis und todtem Graugestein Blickt plötzlich Leuchten auf (V. 10–16)

Es kommt also zu einer Dynamisierung der Natur, die gleichsam zum Leben erwacht. Die dafür verantwortlichen physikalischen Prozesse (Erwärmung und Schmelzen des Eises) werden als Handlungen personifizierter Akteure dargestellt. Die beobachtende Instanz ist auf den visuellen Eindruck reduziert, und so erkennt sie lediglich, dass gesprochen wird, kann aber nicht hören, was gesprochen wird, und bleibt folglich auch von der Bedeutung des Gesprochenen ausgeschlossen:25 „Doch sehen wir sein Sprechen nur“, heißt es in Vers 4 und korrespondierend in Vers 9: „Doch sehen wir die Antwort nur“. Durch die Beschränkung der Wahrnehmung auf das Sichtbare können zwar die ‚Gesten‘ erkannt werden, die die Rede begleiten, diese selbst aber ist nicht zu vernehmen. Vergleichbar einer Kamera ohne Tonspur zeichnet das beobachtende Wir das als Dialog verstandene Geschehen auf, dem derart ein Eindruck des Unzugänglichen und Rätselhaften anhaftet. Die Narratologie bezeichnet eine solche Einstellung zum Geschehen als externe Fokalisierung; ist dies schon in narrativen Texten eine eher selten angewandte Technik,26 so ist sie in der Lyrik gänzlich ungewöhnlich. Aufgrund der ‚externen Fokalisierung‘ wird die Natur, obwohl sie von Beginn an einer anthropomorphisierenden Sicht unterworfen ist, dennoch als Deutungs-

25 In dieser Einschätzung unterscheidet sich die vorliegende Interpretation grundlegend von den Überlegungen, die Grundlehner zu dem Gedicht anstellt. Nicht als eine problematisierende Auseinandersetzung mit dem Zeichencharakter der Natur liest er Um Mittag / Am Gletscher, sondern als eine Inszenierung der Überlegenheit der visuellen Wahrnehmung (als der eigentlich poetischen) über die akustische (vgl. Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 76). 26 In der zeitgenössischen erzählenden Prosa findet sich eine vergleichbare Außensicht auf ein Gespräch in Theodor Fontanes wenige Jahre nach Nietzsches Gedicht entstandener Erzählung Unterm Birnbaum (1885). Die Absprache zu einem Mord wird hier von außen beobachtet, wobei lediglich unzusammenhängende Bruchstücke des Dialogs vermittelt werden. Auf diese Weise werden dem Leser wichtige Informationen vorenthalten (vgl. hierzu Grätz, Katharina, Alles kommt auf die Beleuchtung an. Theodor Fontane – Leben und Werk, Stuttgart 2015, S. 109 f.).  

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problem wahrgenommen. Die Frage „Wer deutet dir’s?“ (V. 17), welche die Sprechinstanz selbstbezüglich an sich richtet, betont das nicht lediglich, sondern markiert zugleich den Wechsel der Darstellungsebene von der beobachtenden Außenperspektive zur Deutung. Es folgt eine analogisierende Übertragung des Naturgeschehens auf den Bereich des Menschlichen. Sie setzt bei der visuellen Wahrnehmung an, indem sie als Entsprechung zu dem plötzlichen „Leuchten“ der erwachenden Fels- und Schneelandschaft, ein anderes „Leuchten“ aufruft: das in der letzten Umarmung seines liebenden Kindes aufleuchtende Auge des/ seines toten Vaters. Mit einem kühnen Bild- bzw. Gedanken-Sprung wird damit die Ebene des meteorologischen Naturgeschehens verlassen und zu einer menschlich-existenziellen Situation übergewechselt. Auffällig ist freilich, dass diese Analogie nicht nur recht willkürlich erscheint, sondern dass sich überdies das angeführte menschliche Geschehen selbst als höchst rätselhaft und erklärungsbedürftig erweist. Denn zwar lässt sich das Eintreten des Todes bekanntlich an den Augen ablesen (schon seit der Antike wird ja vom ‚Brechen‘ der Augen gesprochen), dass aber die Augen eines Toten unter dem Eindruck der Liebe ein letztes Mal aufzuleuchten vermögen, bildet ein numinoses Geschehen und keineswegs eine allgemein akzeptierte Annahme. Das lässt die vorgestellte Deutung der Natur, die dann auch noch verbalisiert und in eine ‚Liebesrede‘ übersetzt wird („Ich liebe dich“, V. 23), als eigensinnig-assoziativen Analogisierungsversuch erscheinen. Dies gilt dann auch für die anschließende Rückübertragung in den Bereich der Natur (V. 24–32), die nun entsprechend dem vorgegebenen Muster der VaterSohn-Beziehung als eine letzte Begegnung unter dem Zeichen von Abschied und Tod aufgefasst wird. Analog wird nun die Sprache der Natur als Liebesrede verstanden, welche die Gebirgslandschaft an den „jungen Sommer“ richtet: „Wir lieben dich!“ (V. 28 u. 29). Die Fragwürdigkeit der Analogisierung tritt vollends dadurch zutage, dass sie sich als schief erweist. Bezieht man sie auf das Naturgeschehen, dann ist der Sohn als der Sterbende zu betrachten – und gerade nicht der Vater: Denn die unwirtliche Fels- und Eislandschaft des Hochgebirges existiert ja fort, während dem Sommer lediglich ein kurzes Zwischenspiel zukommt. Ab Vers 33 knüpft das Gedicht wieder an den Darstellungsmodus des Anfangs an. Verbunden damit ist die Rückkehr zur Beobachterhaltung und zur neuerlichen Schilderung der Naturvorgänge aus einer distanzierten Außenperspektive. Erneut wird der ‚Sprechakt‘ der Natur als optisches Ereignis wiedergegeben: „Er bläst sein Wort wie Schleier nur / von seinem Mund“ (V. 33 f.). Das Befremdliche dieser Wahrnehmung lässt sich im Rekurs auf die Verse 5 und 6 auflösen, wo bereits auf die Spuren des Atems in kalter Luft hingewiesen wurde. Noch immer scheint die Rede des Sommerknaben nur sichtbar, nicht aber hörbar zu sein. Auffällig ist allerdings, dass sie nun als „schlimmes Wort“ (V. 34) bezeichnet wird, denn die  

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Abb. 2: Rosenlauigletscher 1869

darin enthaltene Wertung zeugt von einem Wissen um die Bedeutung dieser Rede. Noch eine weitere Differenz zum Gedichtbeginn ist festzuhalten: Die Gebirgsnatur stellt für die Rede des ‚Sommerknaben‘ nun keinen Resonanzraum mehr dar, sondern hält inne wie in höchster Anspannung und Konzentration: Sie „horcht“ (V. 35), „athmet kaum“ (V. 36), „denkt und schweigt“ (V. 40). Das bündelt die Aufmerksamkeit auf die beiden Schlussverse, die auch dadurch besonderes Gewicht erhalten, dass sie räumlich vom Rest des Gedichts abgehoben sind. In ihnen als End- und Höhepunkt offenbart sich die Rede des Sommerknaben nun verbal im wörtlichen Zitat: „Mein Gruss ist Abschied / Ich sterbe jung. –“ (V. 42 f.). Der zweiten Fassung (Am Gletscher) hat Nietzsche einen anderen Abschluss gegeben, der einen abweichenden Akzent setzt. Dort nämlich zieht er die wörtliche Rede nach vorne und lässt das (jetzt in Versgruppen gegliederte) Gedicht mit folgender Versgruppe enden:  

Um Mittag war’s‚ Um Mittag‚ wenn zuerst

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Katharina Grätz

Der Sommer ins Gebirge steigt‚ Der Knabe mit den müden heißen Augen.27

Auf der Strukturebene stellt Am Gletscher derart die Bedeutung der Mittagszeit noch stärker heraus als dies schon in der Erstfassung des Gedichts der Fall ist.28 Freilich ist daran zu erinnern, dass diese den Mittag dafür an besonders exponierter Stelle anführt, nämlich in der ersten Zeile, nach der sie zitiert wird. Das wirft die Frage auf, weshalb gerade der Mittag im thematischen Zusammenhang des Gedichts solch eine herausgehobene Bedeutung erhält. Hier lässt sich zunächst auf die Sachebene, auf das thematisierte meteorologische Geschehen hinweisen. Als Tageszeit, zu der die Sonne ihren höchsten Stand erreicht, ist der Mittag physikalisch die strahlungsintensivste, hellste und wärmste Zeit des Tages, zu der sich folglich der Sommer im Gebirge besonders stark bemerkbar macht. Für das Verständnis des Gedichts freilich ist es wichtiger zu sehen, dass Nietzsche den Mittag in produktiver Anknüpfung an überlieferte Vorstellungen (der Mittag als Stunde des Pan und Zeit der vollkommenen Stille) als eine Zeit inszeniert, die Teil eines zyklischen Naturgeschehens ist und sich zugleich auf paradoxe Weise aus dem zyklischen Geschehen heraushebt. Damit ist in der frühen Fassung des Gedichts etwas angelegt, was sich erst in der Entstehungszeit des Zarathustra voll entfaltet: Nietzsches ideosynkratische MittagsSymbolik. Sie ist eng an die Figur des Zarathustra gebunden, der in Aus hohen Bergen, dem Nachgesang von Jenseits von Gut und Böse29, auch als „MittagsFreund“30 figuriert und dessen Name in Nietzsches Schriften von Beginn an in Verbindung mit einem projektierten Werk unter dem Titel „Mittag und Ewigkeit“31 27 NL 1884, 28[60], KSA 11, 326, 25–28. 28 Schon in Um Mittag erfährt das meteorologische Geschehen eine doppelte zeitliche Verortung, indem es nicht nur jahreszeitlich bestimmt, sondern auf die konkrete Tageszeit des Mittags bezogen wird. In auffälliger Weise geschieht dies gleich am Gedichtbeginn in der Zeitangabe „[u]m Mittag“ (V. 1), die dann bestätigend wieder aufgenommen wird im drittletzten Vers, der damit rahmende Funktion erhält: „Um Mittag war’s“ (V. 41). Die beiden Schlussverse allerdings brechen diese Geschlossenheit auf. 29 Dieses späte Gedicht, das auch die Hochgebirgs- und Gletschermetaphorik wieder aufgreift, ist in seiner Motivik überhaupt sehr eng mit Um Mittag / Am Gletscher verbunden. Vgl. zur Interpretation des Gedichts und zu seinem Zusammenhang mit dem Zarathustra: Zittel, Claus, „In öden Eisbär-Zonen“. Die Schlussverse „Aus hohen Bergen. Nachgesang“, in: Born, Marcus Andreas (Hrsg.): Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse, Berlin / Boston 2014 (Klassiker Auslegen, Bd. 48), S. 207–236. 30 JGB Nachgesang, KSA 5, 243, 14. 31 NL 1881, 11[195], KSA 9, 519, 12. Im vierten Teil des Zarathustra wird in dem Kapitel Mittags „die Stunde des vollkommenen Mittags“ (KSA 4, 342, 13 f.) heraufbeschworen: „Still! Ward nicht die Welt eben vollkommen? Oh des goldnen runden Balls!“ (KSA 4, 344, 26 f.).  



„doch sehen wir sein Sprechen nur“

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auftaucht. Doch schon für die 1877 geschriebene Erstfassung des Gedichts Um Mittag gilt, was Marco Brusotti für die Mittagserfahrung des Zarathustra konstatierte: Sie ist eine Erfahrung der Zeitlosigkeit und Ewigkeit und zugleich ist sie eine „Erfahrung des absolut Vergänglichen“.32 Bereits hier zeigt sich, was Karl Jaspers „die Tilgung der Zeit als die Offenbarung des Seins in dem Augenblick“33 nannte – die Verdichtung der Zeit in dem einen Moment der Präsenz zwischen Kommen und Gehen, auf den die Erstfassung des Gedichts zuläuft: „Mein Gruss ist Abschied / Ich sterbe jung“.34

4 Nietzsches Gedicht Um Mittag nimmt in vielfacher Weise Muster literarischer Naturdarstellung und -deutung auf und versteht es, ihnen eine eigene Prägung zu geben. Es referiert auf die Tradition des Erhabenen, auf allegorische Verfahren der Naturauslegung, auf die Vorstellung vom Zeichencharakter der Natur. Auf diese Traditionen nimmt es nicht bloß Bezug, sondern es deutet sie um: So tritt die Zeichenhaftigkeit der Natur in Gestalt einer nur visuell erfahrbaren Rede der Natur zutage, so verkehrt sich die Richtung der allegorischen Auslegung, indem sie auf die Natur selbst perspektiviert wird, und so erscheint die unzugängliche Größe der ‚erhabenen‘ Gebirgslandschaft auf menschliches Maß zurückgenommen durch ihre Spiegelung in einer Vater-Kind-Beziehung. Durch unterschiedliche Formen der Übertragung setzt das Gedicht Natur und menschliche Sphäre auf schwer zu durchschauende Weise zueinander in Bezug. Daraus resultieren eine poetische Verfremdung gewohnter (Natur-)Vorgänge und der nicht auflösbare Eindruck des Rätselhaften. Die drängenden Interpretationsfragen ergeben sich

32 Brusotti, Marco, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von ‚Morgenröthe‘ bis ‚Also sprach Zarathustra‘, Berlin / New York 1997, S. 620. 33 Jaspers, Karl, Nietzsche. Einführung in das Verständnis seines Philosophierens, 4. Auflage, Berlin / New York 1981, S. 355. 34 Die Zweitfassung Am Gletscher fügt hier verdeutlichend noch einen weiteren Vers ein: „[M]ein Gruß ist Abschied, / mein Kommen Gehen, / ich sterbe jung“ (NL 1884, 28[60], KSA 11, 326, 14–16). Die Verbindung von Mittag, Sommer und frühem Tod kehrt in späteren Aufzeichnungen Nietzsches wieder. Im Nachlass findet sich unter der Überschrift „Der kürzeste Sommer“ zwischen mehreren Vorstufen zum Nachtlied des Zarathustra auch das folgende Notat: „Dies Alles ist noch April und Mai und Juni: und wie ich bin, nahe dem Schnee, nahe den Adlern, nahe dem Tode werde ich einen Sommer haben, kurz, heiß, schwermüthig und überselig. / Ach über die zögernde Trübsal meines Frühlings! Ach über die Bosheit meiner Schneeflocken im Juni!“ (NL 1883, 13[9], KSA 10, 458, 20–25). Vgl. auch das Bild vom „Sommer-Mittag“ in Za II Vom Gesindel, KSA 4, 126, 10.

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nicht zuletzt daraus, dass der Text einerseits Natur und menschliche Sphäre in ein Verhältnis der Analogie setzt und so den Eindruck erweckt, als könnten diese sich wechselseitig erhellen, dass er aber andererseits das Verständnis der Zeichensprache der Natur als zentrales Problem vorführt. Damit handelt Um Mittag auf vielschichtige Weise von den Möglichkeiten der Wahrnehmung, Deutung und lyrischen Vermittlung von Naturvorgängen. Das Gedicht zeigt Natur als eine vom Menschen getrennte Sphäre. Nur durch Analogisierung, durch Personifikation und Anthropomorphisierung lässt sich ihr eine Bedeutung abgewinnen. Freilich ist das dadurch eingeleitete Verstehen ambivalent, denn die der Natur zugeschriebene Bedeutung bezieht das deutende Subjekt, oder genauer: das beobachtende Wir, aus der eigenen Sphäre. Naturauslegung ist also eigentlich Selbstauslegung, nur als zugeschriebene Sprache ist die Sprache der Natur verständlich. Damit macht das Gedicht bewusst, dass der Mensch immer nur Menschliches im Bereich der Natur wiederzufinden vermag, ihm das Andere der Natur also notwendig unzugänglich bleiben muss. Um Mittag entfaltet ein Zeichenspiel vor der Folie der Erkenntnis, dass die Natur dem Menschen unzugänglich und fremd gegenübersteht. Auf ein anschauliches Bild für die erschreckende „Unbefangenheit“ des Naturgeschehens konnte Nietzsche in einer Erzählung von einem seiner Lieblingsschriftsteller treffen, in Adalbert Stifters Abdias (1843/47): „Dort, zum Beispiele, wallt ein Strom in schönem Silberspiegel, es fällt ein Knabe hinein, das Wasser kräuselt sich lieblich um seine Locken, er versinkt – und wieder nach einem Weilchen wallt der Silberspiegel, wie vorher.“35 Was bei Stifter als erschreckende Erkenntnis vorgebracht wird, kann freilich auch beruhigende Wirkung entfalten: „Weshalb fühlt man sich so wohl in der freien Natur? Weil diese keine Meinung über uns hat. –“,36 schreibt Nietzsche aus Rosenlauibad an Paul Rée.

35 Stifter, Adalbert, Studien, hrsg. von Max Stefl, Bd. 2: Abdias u. a., Frankfurt/Main 1989, S. 7. 36 Brief an Paul Rée aus der zweiten Junihälfte 1877, KSB 5, Nr. 627, S. 246, Z. 16 f.  



Sebastian Kaufmann

Heiterkeit, Heroismus, Sentimentalität: Nietzsches Idyllen aus Messina und sein poetologisches Konzept der Idylle Abstract: Gaiety, heroism, sentimentality: Nietzsche’s Idyllen aus Messina and his poetological conception of the idyll. Based on a short explanation of the lyric cycle’s genesis, the article examines Nietzsche’s aesthetical conception(s) of the idyll in the light of the genre’s tradition. Then, after a brief consideration of the relation between the Idyllen aus Messina and German folk song (as Nietzsche recognized it), the eight poems are finally interpreted within their cyclical coherence. Thus, the speaker’s heterogeneous attitudes (gaiety, heroism, sentimentality), which, in his ‘middle’ period, Nietzsche links to the idyll’s notion in other ways as well, prove to be basic elements of the cycle’s setting.

1 ‚Heitere Lieder‘. Entstehung und Erstveröffentlichung der Idyllen aus Messina Obwohl Nietzsche von frühester Jugend an und bis zu seinem geistigen Zusammenbruch – in Phasen unterschiedlicher Intensität – Gedichte und Gedichtentwürfe verfasst sowie mehrere lyrische Zyklen projektiert hat, handelt es sich bei den Idyllen aus Messina (1882) um das einzige rein lyrische Werk, das Nietzsche selbst zur Veröffentlichung brachte. Die Publikation eines weiteren Gedichtzyklus, der Dionysos-Dithyramben, wurde von ihm zwar seit Herbst 1888 vorbereitet, aufgrund des Zusammenbruchs im Januar 1889 jedoch nicht mehr selbst zu Ende geführt. Abgesehen davon hat Nietzsche Gedichte ausschließlich im Kontext seiner ‚philosophischen‘ Werke veröffentlicht oder für die Veröffentlichung vorgesehen, in denen sie als Paratexte je spezifische kompositorische Funktionen erfüllen, sei es als ‚Motto‘, als „Vorspiel“, „Anhang“, „Nachgesang“ oder ‚Einlage‘ bzw. ‚Zwischenspiel‘. Insofern kommt den separat publizierten Idyllen durchaus eine Sonderstellung innerhalb von Nietzsches Gesamtwerk zu, die allerdings merkwürdig mit ihrer weitgehenden rezeptionsgeschichtlichen Vernachlässigung kontrastiert. Die Idyllen aus Messina entstanden als lyrisches ‚Nebenwerk‘ während Nietzsches Arbeit an der Fröhlichen Wissenschaft, mit der er nach eigenem Bekunden

DOI 10.1515/9783110474374-006

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seine mittlere, ‚freigeistige‘ Schaffensphase zum Abschluss brachte. Nachdem sich Nietzsche von Anfang Oktober 1881 bis Ende März 1882 in Genua aufgehalten hatte, wo er mit der Vorbereitung des Manuskripts für Die fröhliche Wissenschaft beschäftigt war, reiste er weiter nach Messina und verbrachte dort einige Wochen, um sich anschließend über Luzern und Basel zur Herstellung der Druckvorlage seines Buchs nach Naumburg zu begeben. Ungeachtet des Titels der kleinen Gedichtsammlung sind die acht lyrischen Texte, die sie umfasst, nicht durchweg in der Hafenstadt Messina auf Sizilien, das Nietzsche im Anschluss an Homers Schilderung der Insel der Phäaken1 den glücklichen „Rand der Erde“ nannte,2 sondern zumindest teilweise bereits zuvor in Genua niedergeschrieben worden. Dafür spricht nicht nur, dass Nietzsche das Lied von der kleinen Brigg genannt „Das Engelchen“ (in der Druckfassung dann einfach Die kleine Brigg, genannt „das Engelchen“) bereits am 15. März 1882 aus Genua an Köselitz schickt,3 sondern auch der Anfang des Briefs an seine Mutter und seine Schwester vom 1. April, in dem er sich kurz nach der Ankunft in Messina darüber freut, dass seine „Verse“ bei den Verwandten in Naumburg Anklang fanden – er muss sie ihnen also schon aus Genua zugeschickt haben (die entsprechenden Briefe Nietzsches und seiner Familie sind nicht erhalten): „Euer Vergnügen über meine Verse hat mir großes Vergnügen gemacht; Ihr wißt, Dichter sind unbändig eitel.“4 Die Schwester will sich später zwar daran erinnern, dass Nietzsche ihnen zuvor sämtliche Idyllen („diese reizenden scherzhaften Lieder“) zugeschickt habe, behauptet aber zugleich, diese seien „[u]nter dem glücklichen sicilianischen Himmel entstanden“,5 was ihre Aussagen insgesamt unzuverlässig erscheinen lässt. Auch wenn also unklar bleibt, um welche „Verse“ es sich handelt, ist doch zu vermuten, dass sie zu den Idyllen aus Messina gehören. Ob bzw. welche Gedichte aus dieser Sammlung eventuell tatsächlich auf Sizilien verfasst worden sind, lässt sich nicht mit Gewissheit sagen. Fest steht allerdings, dass Nietzsche die Idyllen Mitte Mai 1882, nachdem er in Naumburg angekommen war, seinem damaligen Verleger Ernst Schmeitzner in Chemnitz, dem er wenige Tage zuvor auch das Manuskript der Fröhlichen Wissenschaft offerierte, zum Druck anbot, und zwar für die von diesem herausgegebene Internationale Monatsschrift […] für allgemeine und nationale Kultur und deren Litteratur. Nietzsche schreibt an Schmeitzner: „Auch der ernstesten Zeitschrift thut

1 2 3 4 5

Vgl. Odyssee, Sechster Gesang, V. 205. Postkarte an Heinrich Köselitz, 08. 04. 1882, KSB 6, Nr. 220, S. 189, Z. 5. Vgl. KSB 6, Nr. 209, S. 178 f., Z. 25–66. KSB 6, Nr. 219, S. 188, Z. 2 f. Förster-Nietzsche, Elisabeth, Der einsame Nietzsche, Leipzig 1913, S. 162.  



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hier und da etwas H e i t e r e s noth. Hier sind 8 Lieder für Ihre Zeitschrift.“ Zu den „Bedingungen“, die Nietzsche für den Druck dieser so angepriesenen ‚heiteren Lieder‘ stellte, gehörte, „daß sie alle 8 auf Ein Mal“ und „mit zierlichen und eleganten Lettern gedruckt werden, n i c h t mit denen der Prosa-Aufsätze.“6 Das handschriftliche Manuskript, das als Druckvorlage diente, ist noch erhalten und wird im Goethe- und Schiller-Archiv Weimar aufbewahrt (GSA 71/22); als Faksimile wird es in Band 3/1 des Nietzsche-Kommentars erstmals vollständig präsentiert.7 Wie aus Nietzsches Druck-„Bedingungen“ hervorgeht, kam es ihm darauf an, den Charakter als Gedicht-Zyklus hervorzuheben: Die Sonderstellung der Gedichte gegenüber den Prosaschriften galt es durch eine besondere Drucktype zu markieren; der zyklische Zusammenhang sollte durch den Druck aller Gedichte „auf Ein Mal“ gewahrt bleiben. In seinen sonstigen brieflichen Äußerungen maß Nietzsche indes den Idyllen aus Messina keine allzu große Bedeutung bei. Eher beiläufig macht er seine engsten Freunde darauf aufmerksam; so schreibt er etwa am 24. Mai 1882 an Paul Rée: „Sehen Sie doch das Maiheft der Schmeitznerschen Zeitschrift an: darin sind ‚Idyllen aus Messina‘.“8 Da Nietzsche anderthalb Monate nach der Veröffentlichung der Gedichte noch keine Reaktion seines Freundes und Zuarbeiters Köselitz erhalten hatte, fragte er diesen im Brief vom 13. Juli 1882 aus Tautenburg bei Dornburg in Thüringen, wohin er sich inzwischen zur Korrektur der Druckfahnen der Fröhlichen Wissenschaft zurückgezogen hatte: „Kennen Sie meine Harmlosigkeiten aus Messina? Oder schwiegen Sie darüber, aus Artigkeit gegen ihren Urheber?“9 In den folgenden Sätzen konzediert Nietzsche selbst in Anspielung auf das die Idyllen beschließende Gedicht Vogel-Urtheil, er sei tatsächlich kein besonders guter Dichter; allerdings stehe seine dichterische ‚Torheit‘ in einem komplementären Bedingungsverhältnis zu seiner denkerischen ‚Weisheit‘: „Nein, trotz dem, was der Vogel Specht in dem letzten Gedichtchen sagt – es steht mit meiner Dichterei nicht zum Besten. Aber was liegt daran! Man soll sich seiner Thorheiten nicht s c h ä m e n , sonst hat unsre Weisheit wenig Werth.“10 Da Köselitz in seinem Antwortschreiben vom 16. Juli durchblicken lässt, er vermute einen Zusammenhang zwischen Nietzsches Beziehung zu Lou von Salomé, über die ihn dieser im zitierten Brief erstmals informierte, und den Idyllen,11

6 KSB 6, Nr. 227, S. 193, Z. 3–12. 7 NK 3/1, 461–466. 8 KSB 6, Nr. 230, S. 194, Z. 4 f. 9 KSB 6, Nr. 263, S. 221, Z. 7 f. 10 KSB 6, Nr. 263, S. 221 f., Z. 9–12. 11 Vgl. KGB III/2, 267, 10–12.  





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sieht sich Nietzsche dazu veranlasst, die ‚Lou-Affäre‘ als Hintergrund für die ‚Liebesgedichte‘, die immerhin die Hälfte der Texte ausmachen (Die kleine Brigg; Lied des Ziegenhirten; Die kleine Hexe; „Pia, caritatevole, amorosissima“), zu bestreiten: „Eine Bemerkung Ihres Briefes giebt mir Anlaß, festzustellen, daß alles, was Sie jetzt von meinen Reimereien kennen, vo r meiner Bekanntschaft mit L〈ou〉 entstanden ist“.12 Nietzsche hatte Lou von Salomé durch Vermittlung seines Freundes Paul Rée in der Tat erst im April 1882 kennengelernt; es kam bekanntlich zu einer spannungsvollen Dreiecksbeziehung und einem gescheiterten Heiratsantrag Nietzsches. Dass Nietzsche trotz der herabspielenden Bezeichnung seiner Idyllen aus Messina als „Harmlosigkeiten“ und „Reimereien“ von der Qualität der Gedichte überzeugt war, legt der Umstand nahe, dass er sie – freilich in teils veränderter, erweiterter Form und mit Ausnahme der beiden Gedichte Die kleine Brigg und „Pia, caritatevole, amorosissima“ – in die Lieder des Prinzen Vogelfrei integrierte, die er der 1887 erschienenen Neuausgabe der Fröhlichen Wissenschaft als „Anhang“ beifügte. Auch aus diesem Grund wurden die Idyllen in frühere NietzscheEditionen nicht eigens aufgenommen; erst die von Colli und Montinari besorgten Kritischen Ausgaben bieten den Text (in KGW V/2 und KSA 3). Nach der Erstveröffentlichung wurde der Text erstmals 1963 durch Erich Podach wiederabgedruckt.13 In der Nietzsche-Forschung gilt die Gedichtsammlung weitgehend bloß als ein „Intermezzo“14 zwischen Morgenröthe und Fröhlicher Wissenschaft. Die Einschätzung von Podach, es handle sich um „das Unbekannteste von dem, was Nietzsche veröffentlicht hat“, trifft nach wie vor zu: Untersuchungen zu den Idyllen oder einzelnen Gedichten aus der Sammlung liegen bis heute nur wenige vor; am ehesten erfahren sie noch in der Gestalt Beachtung, in der sie später in die Lieder des Prinzen Vogelfrei eingegangen sind. Selbst Theo Meyer, der 1991 bereits fordert, „Nietzsches Idyllen […] auf jeden Fall […] als lyrische Gebilde ernst zu nehmen“,15 schränkt dies letztlich doch wieder „auf Gedichte wie Prinz Vogelfrei und Das nächtliche Geheimniss“ ein. Die insgesamt eher stiefmütterliche Behandlung der Idyllen aus Messina durch die Forschung korrespondiert freilich in gewisser Weise Nietzsches eigenem Umgang mit der Druckfassung seiner Gedichtsammlung, hatte er selbst doch kein Exemplar des Erstdrucks mehr zur Hand, als er an die Umarbeitung der Idyllen für den „Anhang“ zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft gehen 12 Brief vom 25. 07. 1882, KSB 6, Nr. 272, S. 231 f., Z. 44–46. 13 Podach, Erich F., Ein Blick in Notizbücher Nietzsches. Ewige Wiederkunft. Wille zur Macht. Ariadne. Eine schaffensanalytische Studie, Heidelberg 1963, S. 176–182. 14 Janz, Curt Paul, Friedrich Nietzsche. Biographie, 3 Bde., München / Wien 1978, Bd. 2, S. 107. 15 Meyer, Theo, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen / Basel 1991, S. 420.  

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wollte. Entsprechend musste er Franz Overbeck im Brief vom 27. Oktober 1886 „um ein Exemplar der ‚Idyllen aus Messina‘“ bitten: „Ich brauche sie u m g e h e n d (wegen der Herstellung einer kleinen lyrischen Sammlung ‚Lieder des Prinzen Vogelfrei‘) aber besitze sie nicht.“16 Dieselbe Bitte richtet Nietzsche dann auch wenige Tage später brieflich an Köselitz: „Wissen Sie mir ein Exemplar der ‚Idyllen aus Messina‘ aufzutreiben? Ich brauche sie umgehend, weil sie mit einigen Liederchen zusammen den Schluß der ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ abgeben sollen: nämlich in der neuen Ausgabe.“17 Hierin wird Nietzsches ambivalentes Verhältnis zu seinem Gedichtzyklus greifbar: Einerseits hat er nicht einmal ein gedrucktes Exemplar aufbewahrt, andererseits möchte er die Gedichte nun unbedingt in die Neu-Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft aufnehmen.

2 Heroische Sentimentalität. Die Tradition der Idylle und Nietzsches Konzepte des Idyllischen Mit den Idyllen aus Messina knüpft Nietzsche an die ihm schon von seiner altphilologischen Ausbildung her vertraute abendländische Literaturtradition der Idylle an, die bis in die griechische Antike zurückreicht. Als ihr Gründervater gilt der altgriechische Dichter Theokrit, der im 3. Jahrhundert v. Chr. in Alexandrien lebte und wahrscheinlich in Syrakus, also auf Sizilien, geboren wurde. Nicht nur durch ihren Titel stellen Nietzsches Idyllen insofern einen doppelten – gattungsmäßigen und lokalen – programmatischen Bezug zu der von Theokrit ausgehenden literarischen Tradition her, sondern dieser wird auch explizit im Untertitel von Lied des Ziegenhirten genannt: (An meinen Nachbar Theokrit von Syrakusă.) Im „Anhang“ zur Neuausgabe der Fröhlichen Wissenschaft wurde die TheokritReferenz dann sogar in den Haupttitel des Gedichts hineingenommen; der Text hieß nun Lied eines theokritischen Ziegenhirten. Im „Corpus Theocriteum“ sind 30 sog. Eidyllia überliefert (von denen indes ca. ein Drittel als nicht authentisch gilt). Das griechische Wort eidyllion, auf das die Gattungsbezeichnung ‚Idylle‘ zurückgeht, ist um 1800 noch mit ‚kleines Bild‘ ins Deutsche übersetzt worden;18 der Altphilologe Wilhelm von Christ argumentierte aber 1869, also zu Nietzsches (Studien-)Zeit, dafür, dass eidyllion richtiger mit ‚kleines Gedicht‘ zu übersetzen sei, und zwar sowohl im formalen/stilisti16 KSB 7, Nr. 769, S. 272, Z. 12–15. 17 Brief vom 31. 10. 1886, KSB 7, Nr. 770, S. 274, Z. 28–32. 18 Vgl. Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart, 4 Bde., Wien 1811, Bd. 2, S. 1352.

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schen wie im inhaltlichen/thematischen Sinn.19 Eine Gemeinsamkeit von Bild und Gedicht, entsprechend der horazischen Formel „ut pictura poesis“, ergibt sich im Fall der lyrischen Gattung ‚Idylle‘ allerdings, insofern für sie die statische ‚Momentaufnahme‘ heiterer Landschaft, der topische locus amoenus, konstitutiv ist: Schattige Haine, rieselnde Quellen und flötende Hirten gehören zur typischen Staffage solch ‚idyllischer‘ Landschaften, wie sie etwa noch Kants Beschreibung des „Schönen“ in seinen Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen von 1764 aufruft: „die Aussicht auf blumenreiche Wiesen, Thäler mit schlängelnden Bächen, bedeckt von weidenden Heerden, die Beschreibung des Elysium“.20 Mit den „Heerden“ ist der eng angrenzende Bereich der Bukolik benannt, der Hirten-Dichtung (βουκόλος = Rinder-Hirte), die aus den sizilischen Hirtengesängen hervorgegangen ist und oftmals fiktive Dialoge zwischen Hirten in Hexameterform gestaltet. Während die Hirten-Gedichte Theokrits noch in den ‚realen‘ altgriechischen Kolonien Süditalien und Sizilien spielen und das einfache Landleben aus der Perspektive des gebildeten Städters durchaus ironisch-distanziert darstellen, verlagern die römischen Autoren, die diese Dichtungsart adaptieren, den Schauplatz in die utopisch-idealisierte Gegenwelt Arkadiens, die den – bis auf Hesiod (8./7. Jh. v. Chr.) zurückgehenden – Mythos des Goldenen Zeitalters aufnimmt. Unter den römischen Idyllikern bzw. Bukolikern ragt vor allem Vergil (70–19 v. Chr.) mit seinen zehn Eklogen (Bucolica) heraus. In der Neuzeit ist es dann die von der Renaissance über das Barock bis hin zum Rokoko weitverbreitete Schäferdichtung, die diese Tradition fortsetzt. An sie schließt Nietzsche ebenfalls mit seinem Lied des Ziegenhirten an, allerdings gerade im Rückgriff auf den ‚authentischen‘ Ursprung idyllischer Hirten-Dichtung bei Theokrit selbst. Während die um 1740 sich formierende Strömung der Anakreontik, wie der Name schon zeigt, sich primär auf den altgriechischen Lyriker Anakreon (6. Jh. v. Chr.) berief und in scherzhaft-galanter Manier vor stilisierten Schäferkulissen die Themen Liebe, Wein und Geselligkeit behandelte, setzt die deutsche Tradition der Idylle im gattungsmäßig engeren Sinn erst mit Salomon Gessners Idyllen (1756) ein, mit denen sich auch Goethe und Schiller kritisch beschäftigten. Für Gessner, der selbst von der Landschaftszeichnung herkam, war die Nähe zwischen malerischer und dichterischer Darstellung wesentlich für die Idylle, die für ihn in erster Linie pittoreske Naturszenerien zu evozieren hatte. Im Hinblick auf

19 Vgl. Christ, Wilhelm von, Verhandlungen der sechsundzwanzigsten Versammlung deutscher Philologen und Schulmänner in Würzburg vom 30. September bis 3. October 1868, Leipzig 1869, S. 49–58. 20 Kant, Immanuel, Gesammelte Schriften, hrsg. von der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften, 1. Abt., Bd. 2: Vorkritische Schriften II (1757–1777), Berlin 1905, S. 208.

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Nietzsches Verständnis der Idylle und des Idyllischen ist insbesondere Schillers geschichtsphilosophisch aufgeladene Poetik der Idylle zu berücksichtigen, wie sie in dessen großer poetologischer Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) entfaltet wird. Da Nietzsche sich mit Schillers Idyllen-Theorie intensiver auseinandergesetzt hat, sei sie wenigstens kurz skizziert. Schiller versteht die Idylle nicht so sehr im gattungspoetologischen Sinn, sondern generell als eine dichterische „Empfindungsweise“, die neben derjenigen der Satire und der Elegie eine Form der sentimentalischen Dichtung ausmachen kann. Im Gegensatz zum naiven Dichter, der selbst unreflektierte Natur ist, sucht der komplementäre Gegentypus des sentimentalischen Dichters nur mittels der Reflexion die verlorene Natur. Der kruden Wirklichkeit stellt er (auf je verschiedene Weise) das schöne Ideal entgegen. Dem idyllisch-sentimentalischen Dichter weist Schiller dabei die Aufgabe zu, das Ideal des in sich ruhenden Lebens, der harmonischen Einheit mit sich selbst nicht – wie andere Idylliker des 18. Jahrhunderts – durch die imaginative Regression in vorzivilisatorische Schäferwelten, sondern durch einen verklärenden Entwurf der eigenen Zukunft zu gestalten. So bezeichnet Schiller zwar das literarische „Gemälde […], welches die Hirten-Idylle behandelt“, als eine schöne, eine erhebende Fiction […]. Aber ein Umstand findet sich dabei, der den ästhetischen Werth solcher Dichtungen um sehr viel vermindert. V o r d e m A n f a n g d e r C u l t u r gepflanzt schließen sie mit den Nachtheilen zugleich alle Vortheile derselben aus, und befinden sich ihrem Wesen nach in einem nothwendigen Streit mit derselben. […] Sie stellen unglücklicher Weise das Ziel h i n t e r uns, dem sie uns doch e n t g e g e n f ü h r e n sollten, und können uns daher bloß das traurige Gefühl eines Verlustes, nicht das fröhliche der Hoffnung, einflößen.21

Daher formuliert Schiller stattdessen die Arbeitsanweisung für den Idylliker: Er mache sich die Aufgabe einer Idylle, welche jene Hirtenunschuld auch in Subjecten der Cultur und unter allen Bedingungen des rüstigsten, feurigsten Lebens, des ausgebreitetsten Denkens, der raffinirtesten Kunst, der höchsten gesellschaftlichen Verfeinerung ausführt, welche, mit e i n e m Wort, den Menschen, der nun einmal nicht mehr nach A r k a d i e n zurück kann, bis nach E l y s i u m führt.22

Dieser Forderung entsprechen in gewisser Weise jene ‚bürgerlichen‘ Idyllen um 1800, die im Stil der homerischen Epen, also im Versmaß des Hexameters, 21 Schiller, Friedrich, Ueber naive und sentimentalische Dichtung [1795], in: Ders., Sämmtliche Werke in zwölf Bänden, [hrsg. von C. G. Körner,] Stuttgart / Tübingen 1838, Bd. 12, S. 167–281, hier S. 237 f. 22 Schiller, Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 242.  

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moderne idyllische Lebensverhältnisse im kleinstädtischen Bereich darstellen, wie etwa Johann Heinrich Voß mit seiner – von Schiller hochgelobten – Luise. Ein ländliches Gedicht in drei Idyllen (1795) oder Goethe mit seinem Versepos Hermann und Dorothea (1797). Nietzsches eigene poetologische Reflexionen auf die Idylle, die wie gesagt an Schiller anknüpfen, reichen bis ins Frühwerk Anfang der 1870er Jahre zurück und stehen dort in Verbindung mit seinen Überlegungen zur Musikdramatik Richard Wagners, auf den hin er auch seine Erstlingsschrift Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (1872) konzipierte. Bis ins Spätwerk Ende der 1880er Jahre kommt Nietzsche aber, wenn auch unter veränderten Vorzeichen, immer wieder auf den Begriff der Idylle zu sprechen. In der Geburt der Tragödie stellt er das Idyllische als negativen Grundzug des modernen Menschen und der modernen Oper dar, gegen die Wagner profiliert wird. In Kapitel 8 setzt Nietzsche den dionysischen Satyr der Antike dem „idyllische[n] Schäfer“ der Moderne entgegen (ohne die Entstehung der Gattungstradition der Idylle in der griechischen Antike zu reflektieren); beide Gestalten seien „zwar Ausgeburten einer auf das Ursprüngliche und Natürliche gerichteten Sehnsucht“, aber der Satyr wird positiv als ‚echte‘, der Schäfer hingegen negativ als ‚falsche‘ Inkarnation dieser Natur- und Ursprungssehnsucht gewertet: „mit welchem festen unerschrocknen Griffe fasste der Grieche nach seinem Waldmenschen, wie verschämt und weichlich tändelte der moderne Mensch mit dem Schmeichelbild eines zärtlichen flötenden weichgearteten Hirten!“23 Nietzsche führt dies auf die der rationalen Kultur geschuldete Unkenntnis des modernen Menschen über die ‚wahre Natur‘ zurück: „Jener idyllische Schäfer des modernen Menschen ist nur ein Konterfei der ihm als Natur geltenden Summe von Bildungsillusionen“.24 In Kapitel 19 der Geburt der Tragödie, wo sich Nietzsche auch explizit auf Schillers Idyllen-Theorie bezieht, überträgt er dann seine Abwertung des modernen idyllischen Schäfers auf die perhorreszierte vor-wagnersche Oper, als deren Grundprinzip er das Rezitativ herausstellt. Der Rezitativstil habe zur Zeit seiner Erfindung – zu Unrecht – als Wiederbelebung der altgriechischen Musik gegolten; man habe vermeint, „jetzt wieder in die paradiesischen Anfänge der Menschheit hinabgestiegen zu sein, in der nothwendig auch die Musik jene unübertroffne Reinheit, Macht und Unschuld gehabt haben müsste, von der die Dichter in ihren Schäferspielen so rührend zu erzählen wussten.“25 Den Hauptfehler in dieser Auffassung sieht Nietzsche in dem sich darin manifestierenden „Bedürfniss un-

23 GT 8, KSA 1, 57, 31–58, 4. 24 GT 8, KSA 1, 59, 7–9. 25 GT 19, KSA 1, 122, 5–9.

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aesthetischer Art: [der] Sehnsucht zum Idyll“, die – ganz rousseauistisch – von der ursprünglichen Existenz eines „guten Menschen“26 ausging: und damit von einer „optimistischen Verherrlichung des Menschen an sich“,27 die nicht nur der von Nietzsche behaupteten tragisch-pessimistischen Grundeinstellung der alten Griechen diametral widerspricht, sondern überhaupt völlig unkünstlerisch sei. Indem er Schiller mit den Worten paraphrasiert, die „Idylle in weitester Bedeutung“ komme dadurch zustande, dass „die Natur und das Ideal […] ein Gegenstand der Freude [sind], indem sie als wirklich vorgestellt werden“,28 fasst Nietzsche seine Überlegungen unter der Formel „einer i d y l l i s c h e n T e n d e n z d e r O p e r“29 zusammen. Und diese idyllische Tendenz gilt ihm schließlich als „die Frucht jenes Optimismus, der aus der Tiefe der sokratischen Weltbetrachtung hier wie eine süsslich verführerische Duftsäule emporsteigt.“30 Die Gefahr solcher Verführung zum idyllischen Optimismus sei allerdings durch die ‚Wiedergeburt der griechischen Tragödie‘ in der Musikdramatik Wagners gebannt, dem damit – als dem mächtigen Überwinder der herkömmlichen Oper – eine anti-idyllische Tendenz attestiert wird. Bemerkenswert erscheint indes, dass Nietzsche, ebenfalls im Ausgang von Schiller, in der Entstehungszeit seiner Tragödienschrift noch eine andere, positiv konnotierte Idyllen-Konzeption erprobt, die gerade Wagner als sentimentalischen Idylliker erscheinen lässt. So heißt es in einem Nachlass-Notat aus dem Jahr 1871: Richard Wagner das Idyll der Gegenwart: die unvolksthümliche Sage, der unvolksthümliche Vers, und doch deutsch Beides. Wir erreichen nur noch das Idyll. Wagner hat die Urtendenz der Oper, die i d y l l i s c h e , bis zu ihren Consequenzen geführt: die Musik als idyllische (mit Zerbrechung der Formen), das Recitativ, der Vers, der Mythus. Dabei haben wir die höchste sentimentalische Lust: nie ist er naiv. – Ich denke an den Schillerschen Gedanken über eine neue Idylle.31

Wagner wird hier weniger als Überwinder denn als Vollender und Radikalisierer der idyllischen Tendenz der Oper begriffen; seine künstlich nachgeahmte ‚Volkstümlichkeit‘, was die Sage/den Mythos und die Sprache seiner Musikdramen betrifft, erscheint als Ausweis der sentimentalischen Idylle im Sinne Schillers. Allerdings treibe die bei Wagner konstatierte Radikalisierung der Idylle zugleich deren optimistische Komponente aus und ersetze sie durch eine pessimistische.

26 27 28 29 30 31

GT 19, KSA 1, 122, 12–14. GT 19, KSA 1, 122, 31 f. GT 19, KSA 1, 124, 13–16. GT 19, KSA 1, 124, 10 f. GT 19, KSA 1, 125, 11–13. NL 1871, 9[149], KSA 7, 329, 17–24.  



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Zwar gehe es auch Wagner um die ‚Rückkehr zur Natur‘, aber die Natur selbst werde dabei nicht als heiter-harmonische verstanden, sondern gemäß Schopenhauers Fundamentaltheorem vom metaphysischen Leidensgrund der Welt als ‚schreckliche‘ Natur. So gelangt Nietzsche zum Konzept einer „t r a g i s c h e [n] I d y l l e “32. Wohl auch mit Blick auf Wagners Siegfried-Idyll, bei dessen Uraufführung 1870 in Tribschen Nietzsche anwesend war und das er noch im Spätwerk von aller Kritik ausnimmt,33 notiert er: „Der ‚Siegfried‘ z. B. gehört zur Idylle, Natur und Ideal ist wirklich, darüber freut man sich. Dabei ist nun der Wagnersche Begriff der N a t u r ein t r a g i s c h e r […]. Wir freuen uns an Tristan, selbst an seinem Tode, weil diese Natur und dieses Ideal wirklich ist.“34 Dieser Konzeption entsprechend, notiert sich Nietzsche in einem weiteren Fragment aus derselben Zeit auch den Plan, den „Schillersche[n] S p a z i e r g a n g zu benutzen, um das Idyllische darzulegen, mit seiner Umarmung der N a t u r nach dem höchsten Schrecken.“35 Den Natur-Kult, der nach der damaligen Auffassung Nietzsches den Grundzug der neueren Kunst ausmacht, wertet er also durchaus positiv, sofern die Natur ‚richtig‘ begriffen werde, nämlich nicht ‚romanisch‘ als schöne, sondern ‚germanisch‘ als schreckliche Natur (im Hintergrund steht hier die von Wagner übernommene Kategorie des „Erhabenen“, die schon von Kant mit dem ‚Germanischen‘ assoziiert wird). So heißt es in dem zuletzt zitierten Fragment weiter: „Die F l u c h t zur N a t u r i s t u n s r e K u n s t m u s e : aber zu der germanisch-begriffenen Natur.“36 Vor diesem Hintergrund ist es mithin auch zu verstehen, wenn Nietzsche wiederum in einer anderen gleichzeitigen Notiz aus diesem Umkreis Wagner als „r a d i k a l e [n] I d y l l i k e r “37 beschreibt, der eine genuin deutsche, von allen romanischen Einflüssen bereinigte Musik anstrebt. Während Nietzsches affirmativer Begriff der ‚tragischen‘ oder ‚radikalen Idylle‘ jedoch in den zu Lebzeiten unveröffentlichten Aufzeichnungen versteckt blieb und in der frühen Werkphase nur seine Idyllen-Kritik ans Licht der Öffentlichkeit gelangte, kommt in der ‚mittleren‘ Phase ein gewandeltes Verständnis der Idylle zum Vorschein, in dessen Kontext auch die Idyllen aus Messina gehören. So evoziert Nietzsche 1879 in Menschliches, Allzumenschliches, dem ersten Werk jener ‚mittleren‘ Phase, in der er die an Wagner und Schopenhauer orientierte romantisch-metaphysische Weltanschauung seines Frühwerks hinter sich lässt,

32 33 34 35 36 37

NL 1871, 9[149], KSA 7, 330, 34–331, 1. EH Warum ich so klug bin 7, KSA 6, 291, 3 f. NL 1871, 9[142], KSA 7, 327, 7–11. NL 1871, 9[76], KSA 7, 302, 5–7. NL 1871, 9[76], KSA 7, 302, 11 f. NL 1871, 9[135], KSA 7, 324, 10.  



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unter der programmatischen Überschrift „E t i n A r c a d i a e g o “ eine idyllische Hirtenlandschaft, in die er „griechische Heroen“ hineinprojiziert.38 Der Kurztext beginnt im Stil eines ‚sprachlichen Gemäldes‘ mit den Worten: „Ich sah hinunter, über Hügel-Wellen, gegen einen milchgrünen See hin, durch Tannen und altersernste Fichten hindurch: Felsbrocken aller Art um mich, der Boden bunt von Blumen und Gräsern. Eine Heerde bewegte, streckte und dehnte sich vor mir“; dann lässt Nietzsche die obligatorischen Hirten auftreten: „Zwei dunkelbraune Geschöpfe, bergamasker Herkunft, waren die Hirten“, um schließlich die antiken Helden zu assoziieren: „unwillkürlich […] stellte man sich in diese reine scharfe Lichtwelt […] griechische Heroen hinein; man musste wie Poussin und seine Schüler empfinden: heroisch zugleich und idyllisch.“ Nietzsche denkt hier, vielleicht vermittelt über eine Stelle aus Goethes Campagne in Frankreich 1792,39 an Nicolas Poussins (1594–1665) Gemälde Les Bergers d’Arcadie, von dem es zwei Fassungen gibt.40

Abb. 1 und 2: Nicolas Poussin: Die Hirten von Arkadien / Et in Arcadia ego 2. Fassung (1637/38) 1. Fassung (1628–1630) Musée du Louvre, Paris Chatsworth House, Derbyshire

38 Vgl. hierzu auch Riedel, Manfred, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, Stuttgart 1998, S. 173 f. 39 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang, Sämmtliche Werke in vierzig Bänden. Vollständige, neugeordnete Ausgabe, Stuttgart / Tübingen 1857, Bd. 25: Campagne in Frankreich [1792]. Belagerung von Mainz [1793], S. 118. 40 Ca. 1630 und 1638; die erste befindet sich in der Devonshire Collection, Chatsworth, die zweite im Louvre; Nietzsche hat keine der beiden Fassungen im Original gesehen.  

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Da beide Bilder antikisch idealisierte Hirten vor einer Grabplatte mit der Inschrift „ET IN ARCADIA EGO“ zeigen, werden sie gelegentlich auch mit diesem Titel bezeichnet, worauf Nietzsche mit seiner Überschrift rekurriert – allerdings ohne die traditionelle Memento-mori-Assoziation des Ausspruchs, die bei Poussin intendiert ist. Zuallerletzt folgt in Nietzsches Text noch ein Bekenntnis zu dem griechischen ‚Gartenphilosophen‘ Epikur, der in der hier evozierten Weise gelebt habe – als „einer der grössten Menschen, der Erfinder einer heroisch-idyllischen Art zu philosophiren“.41 Die beiden grundlegenden Verschiebungen gegenüber dem Frühwerk sind signifikant: Das Idyllische erscheint nicht mehr als Grundzug der ‚sentimentalischen‘ Moderne, sondern der ‚naiven‘ griechischen Antike, und an die Stelle der tragischen bzw. radikalen Idylle einer pessimistisch grundierten schrecklichen Natur tritt nunmehr die heroische Idylle einer landschaftlichen „Schönheit“, die zwar auch hier noch „zum Schaudern“ ist, aber doch als Schönheit „zur stummen Anbetung des Augenblicks ihrer Offenbarung“42 auffordert. In einem Nachlass-Notat aus dem Sommer 1879 formuliert Nietzsche das entsprechende Erlebnis, auf dem dieser Kurztext beruht, hier allerdings noch nicht mit Blick auf die klassizistischen Landschaftsgemälde Poussins, sondern auf diejenigen seines Zeitgenossen Claude Lorrain (1600–1682). Nietzsche berichtet in dem Notat sogar davon, angesichts des ihm neu aufgegangenen HeroischIdyllischen der Natur (um St. Moritz) vor Rührung geweint zu haben: Vorgestern gegen Abend war ich ganz in Claude Lorrain’sche Entzückungen untergetaucht und brach endlich in langes heftiges Weinen aus. Daß ich dies noch erleben durfte! […] Das Heroisch-Idyllische ist jetzt die Entdeckung meiner Seele: und alles Bukolische der Alten ist mit einem Schlage jetzt vor mir entschleiert und offenbar geworden – bis jetzt begriff ich nichts davon.43

Entscheidend ist auch hier, dass es sich, zumindest dem Anspruch nach, nicht um eine Erfahrung angesichts schöner Kunst, sondern angesichts schöner Natur handelt. Das Heroisch-Idyllische wird nicht etwa aus einem Gemälde Claude Lorrains abgelesen; vielmehr bestätigt die Natur-Erfahrung so, dass die Kunst, wie es ein Basiskonzept der traditionellen Ästhetik besagt, tatsächlich die Nachahmerin der Natur ist: „Ich hatte nicht gewußt, daß die Erde dies zeige und meinte, die guten Maler hätten es erfunden.“44 Die eigentümliche Verbindung des Heroischen und Idyllischen findet sich auch ansonsten in Nietzsches mittlerer Periode, beispielsweise in einem Brief an Köselitz vom 8. Juli 1881, wo er seinen gegenwärti41 42 43 44

MA II WS 295, KSA 2, 686 f. MA II WS 295, KSA 2, 686, 27–29. NL 1879, 43[3], KSA 8, 610, 8–15. NL 1879, 43[3], KSA 8, 610, 10–12.  

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gen Aufenthaltsort Sils-Maria im Oberengadin eine „ewige[ ] heroische[ ] Idylle“45 nennt, oder in einem nachgelassenen Notat aus dem Frühsommer 1883, in dem nicht nur der „He r o i s m als Zeichen der Freiheit“ verstanden, sondern auch festgestellt wird, dass zu solchem „Heroism […] auch der herzliche Antheil am Kleinen, Idyllischen“46 gehöre.

Abb. 3: Claude Lorrain: Landschaft mit David und den drei Heroen (1658), National Gallery, London

Bei allem freigeistigen Heroismus nahm der ‚mittlere‘ Nietzsche in der Tat Anteil am Idyllischen, das er früher als das Romanisch-Moderne ablehnte. So betont er im Brief an Franz Overbeck vom 20. Dezember 1882 mit Blick auf Bizet, den er nach seiner Loslösung von Wagner immer wieder als dessen Antipoden darstellte: „Ich habe die I d y l l e nöthig – zur Gesundheit.“47 Die Idylle wird damit auch zum Remedium, zum Therapeutikum angesichts einer Krankheit, die Nietzsche stets auf den ‚ganzen Menschen‘ bezieht, also auf Körper, Seele und Geist zugleich. Wenngleich die Idylle derart nicht im engeren Sinn als literarische Gattung gemeint ist, sondern Natur und Kunst allgemein umgreift, ist dieses Verständnis

45 KSB 6, Nr. 122, S. 100, Z. 16 f. 46 NL 1883, 7[38], KSA 10, 255, 5–8. 47 KSB 6, Nr. 359, S. 306, Z. 33 f.  



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des Idyllischen doch für die Konzeption der Idyllen aus Messina wichtig. Auch die Tränen als körpersprachlicher Ausdruck der sentimentalen Empfindung des Idyllischen tauchen wieder auf, wenn Nietzsche über das Kompositionsprinzip dieser kleinen Gedichtsammlung am 16. September 1882 an Köselitz (mit Bezugnahme auf dessen Musik) schreibt: Auch ich, beiläufig gesagt, wurde beim Anhören Ihrer Musik, etwas begehrlich nach der italiänischen „Sentimentalität“. In Messina, wo ich die Luft Bellini’s athmete (Catania ist sein Geburtsort) verstand ich, daß ohne jene 3, 4 Thränen man die Heiterkeit nicht lange aushält (Meine Idyllen aus Messina sind nach diesem Recepte componirt.)48

Dieser Selbstaussage zufolge liegt den Idyllen also jenes skizzierte heroischsentimentale Verständnis des Idyllischen zugrunde, das Nietzsche in der Abwendung von seinem früheren Konzept der (negativ gewerteten romanisch-optimistischen bzw. positiv gewerteten germanisch-tragischen) Idylle um 1880 entwickelt hat. In der Tat verknüpfen die Idyllen aus Messina ‚heitere‘, ‚heroische‘ und ‚sentimentale‘ Elemente. Allerdings verwirft Nietzsche diesen heroisch-sentimentalen Begriff der Idylle wieder und kehrt schließlich in die Nähe seiner einstigen negativen Auffassung des Idyllischen zurück. Den Hintergrund für diese erneute Kehrtwende bildet seine im Spätwerk sich radikalisierende Décadence-Diagnose, die nun auch die Idylle unter den Generalverdacht der ‚Schwäche‘ stellt. Entsprechend heißt es in einem Notat aus dem Herbst 1887, hinter dem „w e i c h l i c h e [n] und f e i g e [n] Begriff ‚Natur‘ […], wie als ob ‚Natur‘ […] I d y l l sei“, stecke im Grunde immer der „C u l t u s d e r c h r i s t l i c h e n M o r a l “.49 In einem anderen Notat aus derselben Zeit stellt Nietzsche hingegen die These auf, das „Idyll“ als der „wollüstige Klang“ einer „Hirtenweise“ biete eine Art Entlastung angesichts der „furchtbare[n] Härte, Gefahr und Unberechenbarkeit, die ein Leben der männlichen Tugenden mit sich bringt“, und er behauptet – gegen das historische Faktum des griechischen Ursprungs der Idylle –, erst „der Römer hat das idyllische Hirtenstück erfunden – d. h. n ö t h i g g e h a b t “.50 Obwohl sich diese Auffassung gleichsam als spätere Selbstdiagnose auf Nietzsches eigene Sehnsucht nach der heroisch-sentimentalen Idylle in den Jahren um 1880 zurückbeziehen ließe, nimmt er hier eine entgegengesetzte Werthaltung ein: Die Idylle erscheint damit nicht mehr als Therapeutikum, das der „Gesundheit“ dient, sondern als der „V e r f ü h r u n g s r e i z eines […] entmannten Menschheits-Ideals“.51 Mit dem Heroismus gilt sie nunmehr  

48 49 50 51

KSB 6, Nr. 307, S. 262, Z. 40–45. NL 1887, 10[170], KSA 12, 558, 4–13. NL 1887, 10[157], KSA 12, 546, 25–547, 2. NL 1887, 10[157], KSA 12, 546, 15 f.  

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als unvereinbar: Das Idyllische bildet in dieser veränderten Betrachtungsweise geradezu das Gegenteil des Heroischen.

3 Die Idyllen aus Messina zwischen Idylle und Volkslied In stilistisch-formaler Hinsicht fallen die Anknüpfungen der Idyllen aus Messina an die Gattungstradition der lyrischen Idylle vergleichsweise gering aus. Zeichnet sich die Idylle schon bei ihrem Begründer Theokrit in formaler Hinsicht durch ihr Verfahren der Gattungsmischung aus, indem sie das dramatische Element des Mimus (Szenen aus dem Alltagsleben, wie sie sich bereits im 5. Jh. v. Chr. bei Sophron finden) mit dem lyrischen Element der volkstümlichen Hirtengesänge verbindet und beides in das epische Versmaß des Hexameters überträgt, verbleiben Nietzsches Gedichte in den engeren Grenzen der lyrischen Gattung, die nach Hegel die ‚subjektivste‘ poetische Gattung ist. Dialogische Partien gibt es dementsprechend in den Idyllen aus Messina nicht, stattdessen dominiert die ‚unmittelbare Gefühlsaussprache‘ unterschiedlicher lyrischer (Rollen-)Subjekte oder die pathetische Apostrophierung eines lyrischen ‚Du‘, das allerdings nicht antwortet. Nietzsche wählte für seinen kleinen Gedichtzyklus auch nicht antike Strophenformen und Versmaße, sondern im Wesentlichen „volkstümlich“52 anmutende, sangbare Strophenformen aus drei- und vierhebigen jambischen bzw. trochäischen Versen mit alternierenden Kadenzen, wobei die Strophenlänge zwischen vier-, fünf-, sechs- und achtzeiligen Strophen variiert. Hierzu passt auch das vorherrschende (in einigen Gedichten durch eingeschobene Paarreime aufgelockerte) Kreuzreim-Schema. Auf diese formale Orientierung an einer volkstümlich inspirierten Lyrik, wie sie in den Epochen des Sturm und Drang und der Romantik modisch war, spielt Nietzsche an, wenn er die Gedichte selbst als „Lieder“ bezeichnet, etwa im Brief an Schmeitzner Mitte Mai 1882, als er sie ihm zum Druck anbietet, oder wenn er später den „Anhang“ der Fröhlichen Wissenschaft, in den er die meisten der Idyllen integriert, mit dem Titel Lieder des Prinzen Vogelfrei versieht. Nietzsches Vorliebe für das Volkstümliche und Volksliedhafte reicht bis ins Frühwerk zurück. In etlichen nachgelassenen Aufzeichnungen aus den früheren

52 Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156, hier S. 153.

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1870er Jahren beschäftigt er sich mit dem „Volkslied“, das er für den Ursprung der gesamten (antiken) Dichtung und Musik hält, und in der Geburt der Tragödie feiert er den altgriechischen Lyriker Archilochos (7. Jh. v. Chr.), bei dem sich zum ersten Mal die Synthese des Apollinischen und Dionysischen zeige, als denjenigen, der „das V o l k s l i e d in die Litteratur eingeführt“53 habe. Insbesondere bringt der frühe Nietzsche das Volkslied auch mit Richard Wagner in Verbindung, wodurch es bereits in die Nähe der Idylle rückt – hier noch der tragischen Idylle, wie sie in Wagners ‚Rückkehr zur Natur‘ zum Vorschein komme. In einem Notat aus dem Jahr 1871 fragt sich Nietzsche sogar, ob „das Volkslied“ die „einzige ächte Form der Kunst“ sei, und er fügt hinzu: „E s w i r k t a u f u n s d u r c h d a s M e d i u m d e s I d y l l i s c h - E l e g i s c h e n .“54 Im Rahmen seiner Überlegungen zum Volkslied reflektiert Nietzsche auch auf das entsprechende Verhältnis zwischen Goethe und Wagner. Noch in einer Aufzeichnung von 1875 erhebt er Wagner über Goethe, indem er ihm (im Widerspruch zu den vorhin zitierten früheren Aussagen)55 Volkstümlichkeit attestiert: „Man muß dem Volksliede nicht nachsingen, sondern v o r singen können, um ein volksthümlicher Sänger zu sein. Und das versteht Wagner, er ist volksthümlich in jeder Faser.“56 In seiner vierten ‚Unzeitgemäßen Betrachtung‘ Richard Wagner in Bayreuth schreibt er umgekehrt über Goethe: „selbst das Goethische Lied ist dem Volksliede nachgesungen, nicht vorgesungen“.57 Mit den Idyllen aus Messina kommt Nietzsche implizit wieder auf seine alte, eigenwillige Gleichsetzung von Volkslied und Idylle zurück, doch unter merklich veränderten Vorzeichen; die Orientierung am „Volkslied wird zum poetischen Vehikel einer neuen Anschauung des Idyllischen“,58 die das Tragische zwar nicht ganz ausschließt, aber wesentlich auch das Komische, ‚Heitere‘ integriert. Denn nicht nur sind auch Nietzsches „Lieder“ dem Volkslied allenfalls „nachgesungen“, insofern es sich um kunstvoll komponierte Gebilde handelt, die ‚volkstümliche‘ Schlichtheit bloß inszenieren; vielmehr stellen sie diesen Inszenierungscharakter überdies auch oft mit komisierender Wirkungsabsicht aus. Zu der so inszenierten Volkstümlichkeit gehört auf formaler Ebene schon die ‚einfache‘ syntaktische Struktur der „Lieder“: Dominant ist ein parataktischer Satzbau, bei dem die syntaktischen Grenzen oft mit den Versgrenzen zusammenfallen. Hiermit

53 GT 5, KSA 1, 48, 9 f. 54 NL 1871, 9[85], KSA 7, 304, 25–27. 55 Vgl. etwa NL 1871, 9[149], KSA 7, 329, 17–24. 56 NL 1875, 11[25], KSA 8, 213, 15–18. 57 UB IV WB 10, KSA 1, 503, 22 f. 58 Crescenzi, Luca, IM: Idyllen aus Messina [Artikel], in: Niemeyer, Christian (Hrsg.), NietzscheLexikon, Darmstadt 2009, S. 160 f., hier S. 161.  





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folgt Nietzsche Heines Buch der Lieder – wie bereits mit der Mischung von sentimentalem Ernst und subversiver Ironie. Eine Ausnahme bildet in dieser Hinsicht freilich Das nächtliche Geheimniss, dessen rätselhaft-tiefgründigem Gehalt seine komplexere sprachliche Gestalt mit Hypotaxen, Enjambements und Parenthesen entspricht. Es griffe aber auch ansonsten zu kurz, die Idyllen aus Messina pauschal dem Strophenformtyp des Volkslieds zuzuschlagen. Bei genauerem Hinsehen verrät Nietzsche ein erstaunlich präzises, literarhistorisch versiertes Formbewusstsein; er adaptiert mit Kalkül eine Vielzahl von traditionsreichen Strophenformen, deren Wahl in Bezug auf den Gehalt der Texte mittels Korrespondenz- oder Kontrasteffekten einen semantischen Mehrwert erzeugt, den es bei der Interpretation zu berücksichtigen gilt.

4 Heiterkeit und Tränen. Die Idyllen aus Messina zwischen Satire und Sentimentalität Gemäß der lockeren Anknüpfung an die Gattungstradition idyllisch-bukolischer Dichtung, deren vorwiegende Themen Liebe, Gesang und heitere Geselligkeit, aber bisweilen auch – so bereits in den antiken Anfängen bei Theokrit und Vergil – düstere Leidenschaft, Trauer und Tod sind, ziehen sich verwandte Motive durch die Idyllen aus Messina hindurch. Dies gilt auch für den ironischen Tonfall der meisten Gedichte, den Nietzsche ebenfalls von Theokrit adaptiert. Nicht selten kommen in den Idyllen aus Messina parodistisch-satirische Verfahren zur Anwendung. Schiller, dessen Idyllen-Theorie Nietzsche, wie dargelegt, genauer zur Kenntnis nahm, hob in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung eigens die Komplementarität von Idylle und Satire hervor. Gerade auch das distanzierende Element der Satire erlaubt Nietzsche die ‚idyllische‘ Behandlung ernster, ja tragischer Themen wie Liebesunglück und Tod, die in seinen Gedichten besonders dominant hervortreten. Folglich bewahren die Texte trotzdem den Gesamtcharakter der ‚Heiterkeit‘, auf den Nietzsche seinen Verleger Schmeitzner hinwies, als er ihm die Idyllen zum Druck anbot.59 Wenngleich es auf den ersten Blick so scheinen mag, als gäbe es keinen Zusammenhang zwischen den acht Gedichten: Aufgrund der bei näherem Hinsehen sehr wohl erkennbaren Wiederholung und Variation spezifischer Motive (und Formen), durch die eine übergreifende konzeptionelle Kohärenz entsteht, lässt sich die Gedichtsammlung

59 Vgl. KSB 6, Nr. 227, S. 193, Z. 3 f.  

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mit Recht als lyrischer Zyklus bezeichnen. Er offenbart gerade erst in der – von Nietzsche als notwendig erachteten – Gesamtheit der acht Texte sein idyllisches ‚Kompositionsrezept‘, wonach „ohne jene 3, 4 Thränen man die Heiterkeit nicht lange aushält“. Die von Nietzsche intendierte Einheit der Idyllen besteht gerade in jener (nur) auf den ersten Blick widersprüchlich oder diskontinuierlich erscheinenden Mischung. Der ‚Titelheld‘ des Eingangsgedichts Prinz Vogelfrei fungiert als doppeldeutige Rollenbezeichnung des lyrischen Dichter-Ichs, das sich einer entgrenzenden Flugphantasie und der Vorstellung eines vogelgleichen Lebens in luftigen Höhen hingibt – wie auch im letzten Abschnitt (Nr. 575) der Morgenröthe „W i r Lu f t S c h i f f f a h r e r d e s G e i s t e s ! “ und in zahlreichen anderen Flugphantasien Nietzsches. Der vogelfreie Dichter erscheint dabei zugleich als aus allen Bindungen sich lösender Freigeist. Da Nietzsche den „H e r o i s m als Zeichen der Freiheit“ verstand,60 entspricht das Eingangsgedicht in besonderem Maß seinem Konzept der „heroischen Idylle“.61 Möglicherweise bezieht sich hierauf auch jene Passage aus dem Briefentwurf an Lou von Salomé (?) von Ende November 1882, wo es heißt: „Idyl〈len〉 aus Messina Psychol〈ogisches〉 Problem 2 Zeiten. Ich fürchtete mich und überwand mich.“62 Die ‚heroische Freiheit‘ des vogelgleich Fliegenden fungiert überdies als Metapher für eine Befreiung vom rationalen Denken („Vernunft“)63 zugunsten eines ungebundenen Dichtens, das mit „Scherz“64 und ‚Spiel‘ assoziiert wird. Diese Ziel- und Zweckfreiheit bedeutet auch Ort- und Heimatlosigkeit, die indes nicht zu sozialer Isolation führt, geht mit ihr doch in der letzten Strophe die programmatische Abkehr von der notwendigen – sonst oft affirmativ von Nietzsche betonten – Einsamkeit des Denkers einher, an deren Stelle hier die Idee einer ‚geselligen Poesie‘ tritt. Als tertium comparationis zwischen Vogel- und Dichterexistenz gilt das ‚Singen‘, das solche Geselligkeit fordere. Das Motiv des lyrischen Singens, das eng mit der Flug- und Vogelmetaphorik verknüpft und kontrastiv auf das Motiv des „Kopf[es]“,65 der (philosophischen) „Vernunft“, bezogen ist, verleiht der Gedichtsammlung gleich eingangs eine poetologisch-selbstreflexive Dimension, die gegen Ende ganz ähnlich wieder aufgegriffen wird. Insbesondere im Schlussgedicht Vogel-Urtheil tauchen diese motivischen Verflechtungen bzw. Kontrastbildungen erneut auf, was dem Zyklus insgesamt einen poetologischen

60 61 62 63 64 65

NL 1883, 7[38], KSA 10, 255, 5. KSB 6, Nr. 122, S. 100, Z. 16 f. KSB 6, Nr. 336, S. 283, Z. 28 f. IM Prinz Vogelfrei, KSA 3, 335, 17. IM Prinz Vogelfrei, KSA 3, 335, 21. IM Vogel-Urtheil, KSA 3, 342, 23.  



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Rahmen verleiht, der nicht zuletzt das für Nietzsche wichtige Verhältnis zwischen Poesie und Philosophie tangiert. Wichtig ist dabei freilich auch der Hinweis auf die Selbstironie, die bereits im Eröffnungsgedicht deutlich zu vernehmen ist und das heroische Pathos des poetischen Höhenflugs spöttisch bricht, wenn schon in der ersten Strophe vom unbeholfen wirkenden Hängen „auf krummem Aste“66 oder vom aufgeregten Schlagen „mit den Flügelchen“67 die Rede ist. Vollends in ironischer Brechung erscheint das heroische Pathos des vogelfreien Freigeists schließlich in der veränderten Fassung dieses Gedichts, die 1887 im „Anhang“ der Fröhlichen Wissenschaft erschien: Dort wird das dumpfe „Geblök von Schafen“ zum primären Erkennungszeichen einer südlich-unschuldigen „Idylle“, nach welcher sich der „Prinz Vogelfrei“ sehnt.68 Bei dem zweiten Gedicht: Die kleine Brigg, genannt „das Engelchen“ handelt es sich ebenfalls um ein Rollen-Gedicht mit stark ironischen Zügen. Dessen – an Rimbauds Le bateau ivre von 1871 erinnernde – spezifische Sprechsituation besteht darin, dass das lyrische Ich ein Schiff ist. Dieses gibt sich zugleich als „ein Mädchen“69 zu erkennen, genauer gesagt: als ein Schiff, das in der Fiktion des Textes einstmals ein Mädchen gewesen ist und noch immer ‚weibliche‘ Züge aufweist. Das sprechende Schiff-Ich charakterisiert sich in den ersten drei Strophen als weibliches Wesen, da sich sein „feines Steuerrädchen“ stets „um Liebe“70 drehe, und es erzählt anschließend, in den Strophen 5 bis 7, seine Vorgeschichte: Einst sei es ein ‚wirkliches‘ Mädchen gewesen, das durch „ein bitterböses Wörtchen“71 seinen Geliebten getötet hat, woraufhin es sich selbst das Leben nahm. Anschließend habe eine ‚Seelenwanderung‘ stattgefunden, seine „Seele“ sei „in dies Schiffchen“72 übergegangen. Die von Nietzsche für dieses Gedicht gewählte fünfzeilige Strophenform ergibt sich – durch eine Verdopplung der zweiten Verszeile – aus der vergleichsweise selten vorkommenden vierzeiligen Form mit auftaktlosen Vierhebern und männlich/weiblich alternierenden Kadenzen, die bereits in der geistlichen Lieddichtung des 17. Jahrhunderts bezeugt ist, aber erst in der galanten Poesie und der Anakreontik bekannter wurde, bevor sie dann seit der Romantik volkstümlich-stimmungshafte Ausdrucksmöglichkeiten vor allem in der Naturlyrik gewann. Mit der für diese Form typischen „Gestaltung wehmütiger, sehnender oder

66 67 68 69 70 71 72

IM Prinz Vogelfrei, KSA 3, 335, 2. IM Prinz Vogelfrei, KSA 3, 335, 6. FW Anhang, KSA 3, 641, 18. IM Die kleine Brigg, KSA 3, 336, 8. IM Die kleine Brigg, KSA 3, 336, 10 f. IM Die kleine Brigg, KSA 3, 337, 2. IM Die kleine Brigg, KSA 3, 337, 12–14.  

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resignierender Empfindungen“73 kontrastiert allerdings merklich der ironischdistanzierte Duktus von Nietzsches Text, der letztlich ein stereotypes Frauenbild mit misogynen Tendenzen transportiert. Im Brief an Köselitz, dem er das Gedicht beifügte, betont Nietzsche selbst ausdrücklich den ‚heiteren‘ Charakter des Gedichts: „Mein lieber armer Freund, hier ein Liedchen zu unsrer Erheiterung: wir haben sie Beide so nöthig.“74 Die Behandlung des tragischen Liebestod-Motivs in einem ‚erheiternden Liedchen‘ macht den – gemäß Nietzsches Konzeption – ‚idyllischen‘ Grundzug des Textes aus. Die Idyllen aus Messina erweisen sich mithin nicht nur auf der Ebene des gesamten Zyklus als ‚Mischkomposition‘ aus „Heiterkeit“ und „3, 4 Thränen“, sondern auch schon auf der Ebene einzelner Gedichte. Dies gilt ebenfalls für den dritten Text: das Lied des Ziegenhirten. (An meinen Nachbar Theokrit von Syrakusă.), das, wie bereits der Titel anzeigt, thematisch besonders eng an die (antike) Tradition der bukolischen Idyllik anknüpft. Das lyrische Ich in der Rolle eines Ziegenhirten wartet nachts verabredungsgemäß auf seine Geliebte, die jedoch nicht erscheint. Der unglückliche Ziegenhirte befürchtet ihre Untreue und wünscht sich schließlich den Tod, als sie bei Tagesanbruch noch immer nicht erschienen ist. Mit der Freiheit doppelter Senkungen greift Nietzsche in diesem „weltschmerzliche[n] Liebesgedicht“75 auf eine kleine Vierzeiler-Form zurück, bei der auf einen jambischen Dreiheber mit männlicher Kadenz ein weiblich endender Zweiheber folgt, was einfach wiederholt und durch Kreuzreim verbunden wird. Zur Gestaltung „bedauernde[r]“ oder „[s]ehnsuchtsvoll[er]“ Empfindungen kommt sie unter anderem bei Goethe und Geibel vor.76 Allerdings dominiert, wie schon im vorigen Gedicht Die kleine Brigg, auch im Lied des Ziegenhirten der ironische, heitere Tonfall: Das zum Ausdruck gebrachte Liebesleid wird fortwährend humoristisch konterkariert, so etwa wenn der Ziegenhirt über seine Appetitlosigkeit klagt: „Nichts mag ich essen schier / Lebt wohl ihr Zwiebeln!“77 – oder wenn er die Treue seiner Geliebten mit den Worten bezweifelt: „Es wohnt noch mancher Bock / An diesem Holze?“78 Gerade mit solchen Komisierungen lehnt sich Nietzsche aber besonders nah an die antiken Idyllen Theokrits an. Als Prätext kommt vor allem Theokrits 3. Idylle in Betracht. Ein Ziegenhirte klagt hier singend seinen Schmerz darüber, dass ihn seine Gelieb-

73 Frank, Horst Joachim, Handbuch der deutschen Strophenformen, München / Wien 1980, S. 174. 74 Brief vom 15. 03. 1882, KSB 6, Nr. 209, S. 177, Z. 2 f. 75 Meyer, Nietzsche, S. 419. 76 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 88. 77 IM Lied des Ziegenhirten, KSA 3, 338, 19 f. Die Verse spielen damit, dass Zwiebeln in der Antike als Aphrodisiakum galten. 78 IM Lied des Ziegenhirten, KSA 3, 338, 11 f.  





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te verschmäht, und beschließt – genau wie Nietzsches Ziegenhirte – sein Lied mit dem floskelhaften Wunsch zu sterben. Das Gedicht Die kleine Hexe, das später in geringfügig veränderter Form unter dem Titel Die fromme Beppa in die Lieder des Prinzen Vogelfrei integriert wurde, nimmt satirisch die Heuchelei der (katholischen) Kirche in eroticis aufs Korn. Aus der Rollenperspektive eines hübschen Mädchens, das sich auf Liebeshändel mit einem jungen Geistlichen einlässt, werden insbesondere die Frömmigkeit der Gläubigen und die kirchliche Praxis der Sündenvergebung als verlogene Konventionen vorgeführt. Von Nietzsches späterem „Fluch auf das Christentum“79 zeigt sich dabei allerdings noch kaum eine Spur. Entfernt davon, eine radikale Religions- und Kirchenkritik zu entfalten, macht sich das Gedicht lediglich auf spielerische Weise über den Kontrast zwischen Anspruch und Realität, Schein und Sein der christlichen bzw. katholischen (Sexual-)Moral lustig. Damit entspricht der Text Schillers Definition der Satire in seiner Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung, wonach diese „den Widerspruch der Wirklichkeit mit dem Ideale“80 gestaltet – bei Nietzsche geschieht dies freilich so, dass er das zugrunde liegende Ideal (nämlich das der Frömmigkeit) selbst verspottet. Nietzsche wählt hierfür nicht von ungefähr die Form der doppelten Kreuzreimstrophe aus jambischen Dreihebern mit weiblich/männlich wechselnden Kadenzen: den „[h]äufigsten Achtzeiler der deutschen Dichtung“, der nicht nur „durch Volkslieder“ geläufig, sondern davon ausgehend auch „eine altvertraute Kirchenliedstrophe“81 war. Es handelt sich mithin um eine Formparodie, die im Medium des metrischstrophischen Baus den satirischen Gehalt des Gedichts reflektiert. Das nächtliche Geheimniss, das später – mit kleineren Änderungen in der Interpunktion – unter dem neuen Titel Der geheimnissvolle Nachen ebenfalls in die Lieder des Prinzen Vogelfrei aufgenommen wurde, schlägt nach den vorangehenden ironischen bzw. parodistisch-satirischen Gedichten nunmehr einen pathetisch-melancholischen Ton an, der auch die folgenden beiden Texte des Zyklus bestimmt, bevor erst das abschließende Gedicht wieder den Duktus der ‚scherzhaften Lieder‘ aufnimmt. Zu Recht wurde daher in der Forschung von einer „Anti-Idylle“ bzw. „Gegen-Idylle“ gesprochen.82 Der „H e r o i s m als Zeichen der Freiheit“,83 wie ihn der ‚mittlere‘ Nietzsche als konstitutiv für die „heroische[ ] Idylle“ versteht,84 lässt nun auch seine spezifische Gefährdung erkennen: Das

79 80 81 82 83 84

AC, KSA 6, 165. Schiller, Ueber naive und sentimentalische Dichtung, S. 204. Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 573. Meyer, Nietzsche, S. 420. NL 1883, 7[38], KSA 10, 255, 5. KSB 6, Nr. 122, S. 100, Z. 16 f.  

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Gefühl der Freiheit und Grenzenlosigkeit kann jäh umschlagen in die depressiv gestimmte Erfahrung abgründiger Leere, wie das Gedicht auf symbolisch-enigmatische Weise zu verstehen gibt. Im Zentrum der Darstellung steht das (titelgebende) nächtliche, durch die Einnahme von Opium bewirkte wachtraumartige Entgleiten des lyrischen Ichs in eine leere Unendlichkeit, bevor es endlich in einen tiefen Schlaf versinkt, der am Morgen darauf in geheimnisvoller Anspielung als „ach, so gut“85 bezeichnet wird. Mit der sechszeiligen Strophenform dieses Gedichts variiert Nietzsche eine „alte Hymnenstrophe“: Die „monotone Eindringlichkeit, die über die Strophe hinausdringt“,86 ergibt sich durch die gleichförmige Wiederholung von nur zwei Reimen pro Strophe und entspricht genau dem Gehalt des Textes. Die von Nietzsche leicht abgewandelte Strophenform geht auf Kreuzeshymnen des Venantius Fortunatus aus dem 6. Jahrhundert zurück und wurde in dieser Tradition noch im 18. und 19. Jahrhundert verwendet (z. B. von Voß und Mörike). In der Romantik findet sie sich ebenfalls, so etwa in Eichendorffs melancholisch-düsterem Gedicht Zweifel, dessen Stimmungslage durchaus mit der von Nietzsches rätselhaftem Text vergleichbar ist. Auch das Gedicht „Pia, caritatevole, amorosissima“. (Auf dem campo santo.), das die Strophenform von Die kleine Hexe wieder aufgreift, lässt den ironischen und parodistisch-satirischen Ton der vorigen Gedichte hinter sich und geht stattdessen ins Pathetisch-Melancholische, ja ins Sentimentale über. Wenn Nietzsche, „begehrlich nach der italiänischen ‚Sentimentalität‘“, am 16. September 1882 an Köselitz schreibt: „In Messina […] verstand ich, daß ohne jene 3, 4 Thränen man die Heiterkeit nicht lange aushält“, so zeigt sich gerade mit Blick auf das vorliegende Gedicht, dass die Idyllen aus Messina in der Tat „nach diesem Recepte componirt“87 wurden. In der Logik der Gedicht-Fiktion befindet sich der lyrische Sprecher vor dem Grab einer jungen Frau, deren bildhauerische Darstellung als Grabskulptur ihn zutiefst ergreift. Er apostrophiert die Frühverstorbene und spürt imaginativ ihrem traurigen Schicksal nach. Die lyrische Reflexion auf die Ursache ihres frühen Todes führt zu dem Ergebnis, dass sie vor verschwiegener Liebessehnsucht starb. Implizit wird die Frömmigkeit des Mädchens für dieses Verschweigen und damit auch für ihr Sterben verantwortlich gemacht. Wie bereits in Die kleine Hexe klingt hier Religions- bzw. Kirchenkritik an, aber auf ganz andere, sentimental-empathische Weise. Am Ende des Gedichts scheint es dann, als stünden dem Grabbildnis Tränen in den Augen; der Akt einfühlender Zuwendung

85 IM Das nächtliche Geheimniss, KSA 3, 340, 28. 86 Frank, Handbuch der deutschen Strophenformen, S. 471. 87 KSB 6, Nr. 307, S. 262, Z. 41–44.

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des sprechenden Ichs führt so gleichsam zu einer Beseelung des Denkmals, ähnlich wie im Pygmalion-Mythos. Im vorletzten Gedicht Vogel Albatross nimmt Nietzsche erneut das poetologisch grundierte Vogel-Motiv auf, das bereits im Eingangsgedicht zentral war. Auch wenn nun – anders als dann wieder im Schlussgedicht – die Dichtungsthematik nicht explizit formuliert wird, sind die poetologischen Implikationen doch deutlich zu erkennen: Der geschilderte Höhenflug des Vogels Albatros, den das lyrische Ich pathetisch apostrophiert, fungiert nicht zuletzt als Reflexionsbild für die ersehnte Inspiration, den dichterischen Aufschwung des Sprechers. Diese dichtungstheoretische Valenz, die auch der Albatros in Baudelaires gleichnamigem Gedicht aus den Fleurs du mal aufweist, auf das sich Nietzsche möglicherweise bezieht, markiert er ausdrücklich erst in der späteren Fassung des Textes, in der er sich 1887 in den „Liedern des Prinzen Vogelfrei“ wieder findet. Dieser – um die zweite Strophe gekürzten Fassung – gab Nietzsche den neuen Titel Liebeserklärung und den poetologisch-selbstironischen Untertitel (bei der aber der Dichter in eine Grube fiel –). Mit dieser Anspielung auf die in Platons Dialog Theaitetos überlieferte Anekdote über den Philosophen Thales, der beim Beobachten der Sterne in einen Brunnen gefallen und daraufhin von einer thrakischen Magd ausgelacht worden sei, erfolgt eine sarkastische Distanzierung von der impliziten Poetologie des Gedichts, das in der früheren Idyllen-Fassung noch ohne jedes Ironiesignal auskommt und so die Dreierreihe der mit Das nächtliche Geheimniss beginnenden pathetisch-melancholischen Texte zum Abschluss bringt: Wenn dem lyrischen Ich angesichts seines Abstands zu dem in höchster Höhe frei schwebenden Albatros am Ende des Gedichts „Thränʼ um Thräne“88 fließt, so erweist sich hier abermals die ‚Sentimentalität‘ als Ingrediens der ‚heroischen Idylle‘, deren Kompositionsprinzip in der Verbindung von „Heiterkeit“ und „Thränen“ besteht.89 Auch Vogel-Urtheil, das vermutlich in intertextuellem Bezug zu Edgar Allan Poes The Raven stehende Schlussgedicht des Zyklus, nimmt – was ja bereits der Titel erkennen lässt – das Vogel-Motiv auf und verbindet es, wie schon das Eingangsgedicht, explizit mit einer poetologischen Selbstreflexion des lyrischen Ichs. Dementsprechend änderte Nietzsche den Titel des in erheblich erweiterter Gestalt in die Lieder des Prinzen Vogelfrei übernommenen Gedichts später zu Dichters Berufung. Als Schlussgedicht der Idyllen sorgt der Text – nach den vorangehenden drei ‚ernsten‘ Gedichten – für einen ‚heiteren‘ Ausklang. Auch insofern kann man von einem Wiederaufgreifen des Anfangs am Ende des Zyklus spre-

88 IM Vogel Albatross, KSA 3, 342, 8. 89 KSB 6, Nr. 307, S. 262, Z. 43 f.  

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chen. Der ironische Ton gilt nun (wieder) dem lyrischen Dichter-Ich selbst, womit ein gewisser Vorbehalt gegenüber der Dichtung insgesamt zum Ausdruck kommt. Wenn Nietzsche in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1887 über „die Handvoll Lieder, welche dem Buche dies Mal beigegeben sind“, schreibt, es handle sich dabei um „Lieder, in denen sich ein Dichter auf eine schwer verzeihliche Weise über alle Dichter lustig macht“,90 dann trifft dies vor allem auf Dichters Berufung und mithin bereits auf dessen Erstfassung, auf das Schlussgedicht der Idyllen zu. Wie schon im Eingangsgedicht wird das Dichten hier ironisch auf ‚Kopflosigkeit‘ zurückgeführt, wenn sich im Schlussgedicht Vogel-Urtheil das lyrische Ich gegen Ende in der zweiten Person selbst anredet und fragt, ob es seinen Verstand verloren habe, was der „Vogel Specht“91 durch den Hinweis auf das mit ihm geteilte Dichtertum bejaht. Damit spricht er – wie der Rabe bei Poe sein „Nevermore“ – sein „Urtheil“ über das lyrische Ich. Dessen an sich selbst adressierte Frage: „Du ein Dichter? / Stehts mit deinem Kopf so schlecht?“92 ist – bei aller heiter gestimmten Ironie – als Ausdruck einer dichtungskritischen Skepsis zu lesen, wie Nietzsche sie später noch schärfer artikuliert, wenn das sprechende Dichter-Ich im ersten ‚Dionysos-Dithyrambus‘ mit dem vielsagenden Titel Nur Narr! Nur Dichter! desillusioniert feststellt, „dass ich verbannt sei / von aller Wahrheit! / Nur Narr! Nur Dichter! …“93 Selbst die Heiterkeit des Schlussgedichts der Idyllen aus Messina erweist sich in dieser Perspektive mithin als nur scheinbar ungetrübt. Nietzsches Selbstaussage über das Kompositionsrezept seiner Idyllen, wonach diese heitere, aber auch sentimentale Elemente enthalten, wird durch die Interpretation der Texte bestätigt und präzisiert. Die Mischung von „Heiterkeit“ und „Thränen“ lässt sich einerseits auf der Ebene des Gesamtzyklus beobachten: Auf vier heitere Gedichte, die mit ironischen, parodistischen und satirischen Textstrategien aufwarten, folgen drei sentimentale bzw. pathetisch-melancholische Gedichte, bevor das Schlussgedicht dann einen wieder heiteren Ausklang bildet. Andererseits gilt jenes Kompositionsrezept auch auf der Ebene einzelner Gedichte, insofern die ‚heiteren‘ Texte ihrerseits düstere Themen wie Tod, Leid und Verzweiflung behandeln können. Diese konzeptionelle Doppeldeutigkeit reflektiert Nietzsche noch im Abstand einiger Monate, als er sich angesichts einer erneuten Lektüre seiner Idyllen aus Messina selbst zu Tränen gerührt fühlt. So heißt es im Entwurf eines Briefes von Ende November 1882, der wohl an Lou von Salomé gerichtet sein sollte, über den Gedicht-Zyklus: „So etwas Junges Anmuthi90 91 92 93

FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 21–24. IM Vogel-Urtheil, KSA 3, 342, 25. IM Vogel-Urtheil, KSA 3, 342, 22 f. DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 380, 19–21.  

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ges Leichtsinniges Tiefes Unbeständiges – macht mich weinen.“94 Durch eine derartige Vereinigung von Gegensätzlichem erscheinen die Gedichte als zutiefst doppel- bzw. mehrdeutige Gebilde. Hinzu kommt nämlich noch das von Nietzsche zwar nicht explizit in Bezug auf die Idyllen aus Messina, aber doch im Rahmen seiner philosophisch-poetologischen Idyllen-Theorie erörterte Element des Freiheitlich-Heroischen; auch dieses spielt eine zentrale Rolle in dem Gedichtzyklus, der sich dadurch ebenfalls Nietzsches Konzept der „heroischen Idylle“ zuordnen lässt.

94 KSB 6, Nr. 336, S. 283, Z. 30 f.  

Milan Wenner

„Nach neuen Meeren“: Nietzsches Abenteurerlyrik vor dem Hintergrund der Fröhlichen Wissenschaft Abstract: “Nach neuen Meeren”: Nietzsche’s seafaring poetry in the context of Die fröhliche Wissenschaft. Even though the metaphor of seafaring can be traced back to the times of the early Greeks, it was not until the 19th century that one of its variations, the endless journey without arrival, found its place in literature. Nietzsche picks it up and uses it in his writings to illustrate major themes of his philosophy: for instance, the impossible journey of the philosopher towards truth and certainty. The poem Nach neuen Meeren, on which Nietzsche worked repeatedly over the years, alludes to his different uses of the seafaring metaphor in his prose. The paper aims to both put Nietzsche’s poem into the context of his philosophical prose writings and to analyse the philosophical ideas that are connected to Nietzsche’s various uses of the metaphor in his prose.

1 Das lyrische Ich und die „Unendlichkeit“ in Nach neuen Meeren Der Achtzeiler Nach neuen Meeren, den Nietzsche als Teil der Lieder des Prinzen Vogelfrei der zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft 1887 beigibt, ist wohl eines der bekanntesten Zeugnisse der Seefahrtsmetaphorik in Nietzsches Schriften. Besonders in der Fröhlichen Wissenschaft finden sich zahlreiche Abschnitte, in denen die Bilder des riskanten Aufbruchs und der wagemutigen Fahrt ins Ungewisse eine wichtige Rolle spielen.1 Gerade aufgrund dieser Vielzahl an Paralleltexten, von denen her sich das Motiv der Seefahrt in Nach neuen Meeren in den Blick nehmen lässt, ist das Gedicht ein Paradebeispiel für die Problematik, Nietzsches Lyrik mithilfe seiner Prosatexte zu deuten. Je nach Textselektion lässt sich für ganz unterschiedliche Interpretationen des Gedichts einleuchtend argu1 Henning Hufnagel spricht sogar davon, dass die Fröhliche Wissenschaft „von einer Metaphorik der Seefahrt strukturiert wird“ (Hufnagel, Henning, „Nun, Schifflein! sieh’ dich vor!“ – Meerfahrt mit Nietzsche. Zu einem Motiv der Fröhlichen Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien, Jg. 37, Berlin / New York 2008, S. 143–159, hier S. 143).

DOI 10.1515/9783110474374-007

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mentieren, die allerdings häufig stärker von den philosophischen Vorlieben der jeweiligen Interpreten bestimmt werden, als von dem Versuch, der Vielfältigkeit der Deutungsoptionen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. In diesem Beitrag wird Nach neuen Meeren nicht als bloße Lyrisierung bestimmter Prosatexte und Gedankenfiguren Nietzsches verstanden;2 stattdessen soll ein Überblick über die verschiedenen Interpretationsansätze gegeben werden, wobei ein besonderer Fokus auf einem Schlüsselbegriff des Gedichts liegt – der „Unendlichkeit“.3 Da eine Identifikation der Sprecher der jeweiligen Abschnitte mit dem empirischen Autor Nietzsche problematisch ist, wird in diesem Beitrag bei der Analyse von Nietzsches Prosatexten, dem ‚lyrischen Ich‘ in Gedichten analog, von einem ‚sprechenden Ich‘ die Rede sein. Natürlich lassen sich gedankliche Tendenzen in

2 So bezeichnet etwa Hufnagel, dessen Arbeit ansonsten viele interessante Beobachtungen enthält, Nach neuen Meeren als „die gereimte Variante des Prosaaphorismus“ FW 124 (Hufnagel, „Nun, Schifflein! sieh’ dich vor!“, S. 150). Wenngleich sich in der Tat frappierende Parallelen zwischen FW 124 und Nach neuen Meeren ausmachen lassen, geht eine derartige Identifikation von Gedicht und Prosatext zu weit. Sie nivelliert die Eigentümlichkeiten des Gedichts, die u. a. in seinen Chiffren und Personifizierungen bestehen, die gegenüber FW 124 nicht nur einen sprachlich-ästhetischen, sondern auch einen semantischen Mehrwert generieren. – Manfred Riedel interpretiert Nach neuen Meeren in seiner Schrift Freichlichtgedanken ganz vom Gedanken der Ewigen Wiederkunft her; diese Festlegung auf eine Gedankenfigur als vermeintlichem Schlüssel zur Gedichtinterpretation ist ein wesentlicher Grund dafür, dass Riedel den Wiederkunftsgedanken wiederholt auf unplausible Weise in Texte hineininterpretiert, mit denen er seine Interpretation von Nach neuen Meeren zu begründen versucht (vgl. Anm. 45 u. 98). – Für grundsätzliche Überlegungen hinsichtlich des Verhältnisses von Lyrik und Philosophie in Nietzsches Werk siehe Kaufmann, Sebastian, Kommentar zu Nietzsches ‚Idyllen aus Messina‘, in: NK 3/1, 457–543, hier 467–479. Kaufmann hält die Auffassung für problematisch, man könne Gedichte Nietzsches, die dieser in philosophischen Werken veröffentlicht hat, kurzerhand aus ihrem Werkkontext lösen. Nietzsche verfolge durch die Integration von Gedichten in philosophische Werke vielmehr eine konzeptionelle Strategie, deren wesentliche Bestandteile über bloß stilistische Überlegungen, die allerdings auch von Bedeutung seien, weit hinausgehen: So spiele der ästhetische Schein der Dichtung für Nietzsche eine wesentliche Rolle als „Gegengewicht einer auf schonungslose Desillusionierung ausgerichteten ‚strengen Wissenschaft‘, die ohne jenes Korrektiv selbstzerstörerische Konsequenzen nach sich zöge.“ (Ebd., 471). 3 Die in der Nietzsche-Rezeption so häufig konstatierte Widersprüchlichkeit seiner Texte kann man, sofern man die sprechenden Ichs seiner Texte mit ihm selbst identifiziert, Nietzsche freilich zum Vorwurf machen; man muss sich dann aber selbst die Frage gefallen lassen, ob man damit nicht Nietzsches Reflexionsvermögen hinsichtlich des eigenen Schreibens unterschätzt und ob es nicht interpretatorisch fruchtbarer wäre, werkimmanent nach Gründen für eine solche ,perspektivische‘ bzw. Widersprüche produzierende Schreibweise zu suchen, als mit logischen Forderungen nach Widerspruchsfreiheit und Stringenz an einen Schriftsteller heranzutreten, der eine solche Forderung vielleicht als Ausdruck des durchaus verständlichen, doch naiven Verlangens nach etwas ,Festem‘ nur müde belächelt hätte (vgl. dazu FW 347, KSA 3, 581–583, in dem das sprechende Ich eine derartige Haltung einnimmt).  

„Nach neuen Meeren“

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Nietzsches Schriften ausmachen, die, wenngleich sie nicht die Position Nietzsches wiedergeben, von einer starken Affinität zu bestimmten Thesen und Positionierungen zeugen. Inwiefern Nietzsche sich in seiner skeptischen, häufig hypothetischen Schreibweise jedoch kaum auf eine eindeutige Position festlegen lässt, gilt es in diesem Beitrag konkret zu zeigen. Das lyrische Ich in Nach neuen Meeren ist nicht nur Seefahrer, sondern als solcher auch Abenteurer und Entdecker. In der ersten Fassung des Gedichts ging dies bereits unmittelbar aus dem Titel hervor: Statt Nach neuen Meeren wählte Nietzsche im Sommer 1882 in einer Vorversion des Gedichts zunächst den Titel Columbus novus,4 wodurch der Bezug zum berühmten Genueser Entdecker unmissverständlich hergestellt wird. In Nach neuen Meeren ist die Kolumbus-Allusion zwar verdeckter, aber trotzdem noch vorhanden: Indem das lyrische Ich sein Schiff als „Genueser Schiff“5 bezeichnet, verweist Nietzsche deutlich auf den berühmten Genueser Christoph Kolumbus.6 Allerdings handelt es sich bei Nach neuen Meeren nicht einfach um ein Rollengedicht, wie es die mit „An – – –“ betitelte Vorversion von Nach neuen Meeren aus dem Jahr 1882 noch gewesen war.7 An die Stelle konventioneller, der Reise des historischen Kolumbus entlehnter Bilder, wie sie in Colombo zu finden sind – Vögel als Vorauskünder nahenden Festlands, die drohende Meuterei der Mannschaft, das unbedingte Erreichen-Wollen des Festlands etc. – treten in Nach neuen Meeren kryptisch anmutende Personifikationen („Mittag schläft auf Raum und Zeit“; „Nur dein Auge – ungeheuer / Blickt mich’s an, Unendlichkeit“),8 die zum historischen Kolumbus in keinerlei Beziehung stehen. Der Titel des Vorentwurfs, Columbus novus, suggeriert zwar, dass zwischen dem lyrischen Ich und dem historischen Kolumbus entscheidende Parallelen bestehen; ein offenkundiger Unterschied zwischen altem und neuen bzw. realem und lyrischen Kolumbus besteht allerdings im Ziel, das beide ansteuern. Während der historische Kolumbus ein Festland als Ziel anvisierte, als er Indien auf dem kürzeren Seeweg gen Westen zu erreichen hoffte, scheint das lyrische Ich in Nach neuen Meeren gerade dies nicht mehr zu tun. Das Gedicht setzt zwar mit den Worten „Dorthin – w i l l ich“9 ein, wodurch zunächst der Eindruck eines klar

4 NL 1882, 1[101], KSA 10, 34, 3. 5 FW Anhang, KSA 3, 649, 5. 6 Nach KSA 14, 277 zog Nietzsche noch kurz vor der Publikation der zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft neben „Nach neuen Meeren“ auch den Titel „Columbus“ in Betracht. 7 Für die Vorversion siehe NL 1882, 1[15], KSA 10, 12. Für eine frühe Bearbeitung des KolumbusMotivs vgl. das Jugendgedicht Colombo (NL 1858, 4[67], KGW I/1, 273 f.). Zu Nietzsches Jugendlyrik vgl. den Beitrag von Armin Thomas Müller in diesem Band. 8 FW Anhang, KSA 3, 649, 7–9. 9 FW Anhang, KSA 3, 649, 2.  

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bestimmten Ziels erweckt wird, doch die Leseerwartung einer näheren Bestimmung dieses „Dorthin“ wird jäh unterlaufen: Der dritte Vers („In’s Blaue / Treibt mein Genueser Schiff“)10 konterkariert die dezisionistisch anmutenden Worte „Dorthin – w i l l ich“,11 deren Entschlossenheit die typographische Hervorhebung des „w i l l “ noch unterstreicht: Das Ins-Blaue-Treiben evoziert – entsprechend der alltagssprachlichen Redewendung des Etwas-ins-Blaue-hinein-Tuns – neben dem Ins-blaue-Meer-Treiben den Eindruck der Plan- und Ziellosigkeit.12 Erst der Schluss des Gedichts legt es nahe, das erste Wort „Dorthin“ auf das letzte Wort „Unendlichkeit“13 zu beziehen. Für einen derartigen Bezug spricht nicht nur die Komposition des Gedichts (das erste Wort verwiese so auf das letzte Wort) sowie der Umstand, dass das „Dorthin“ ansonsten unbestimmt bliebe (freilich: ein solcher Widerspruch könnte auch parodistisch intendiert sein); insbesondere der Titel des Gedichts deutet auf die „Unendlichkeit“ als ‚Ziel‘ der Reise hin: Statt nach neuen Ländern fährt das lyrische Ich ‚nach neuen Meeren‘ – es visiert also keinen Ort jenseits des Meeres an. Dass das ,Meer‘ als Sinnbild der Unendlichkeit hier im Plural steht, widerspricht indes einer reibungslosen Identifikation des Meeres mit der Unendlichkeit, da es – zumindest in einem nicht-mathematischen, alltagssprachlichen Sinne – abwegig ist, von mehr als einer Unendlichkeit zu sprechen, weil die Unendlichkeit ihrem Begriff nach alles in sich fasst. Allerdings setzt die Bezeichnung des Schiffs als „Genueser Schiff“14 bereits voraus, dass es ein Festland gibt, von dem aus das lyrische Ich aufgebrochen ist. Deshalb scheint die Unendlichkeit des Meeres eher ein durch den Anblick des Meeres evozierter subjektiver Eindruck des lyrischen Ichs zu sein als eine faktisch gegebene Unbegrenztheit. In jedem Fall fällt auf, dass der ‚neue Kolumbus‘ offenbar nicht auf die Entdeckung neuer Länder oder Kontinente aus ist, sondern das unendliche Meer bzw. die unendlichen Meere zum Ziel seiner Entdeckerfahrt macht.

10 FW Anhang, KSA 3, 649, 4 f. 11 FW Anhang, KSA 3, 649, 2. 12 Überdies wurde der Farbe Blau u. a. von Wassily Kandinsky die Wirkung zugeschrieben, Unendlichkeits-Empfindungen im Betrachter auszulösen: „Je tiefer das Blau wird, desto tiefer ruft es den Menschen in das Unendliche, weckt in ihm die Sehnsucht nach Reinem und schließlich Übersinnlichem. Es ist die Farbe des Himmels.“ (Kandinsky, Wassily, Über das Geistige in der Kunst, München 2002, S. 93). Diese Behauptung erscheint plausibel, wenn man bedenkt, dass der Mensch die Farbe Blau in der Natur gerade beim Blick auf das unbegrenzt erscheinende Meer und den Himmel wahrnimmt, so dass der Anblick des Blauen Assoziationen zu derartigen Naturerscheinungen auslösen kann. Vgl. ferner auch das Motiv der ‚blauen Blume‘, das Novalis in seinem Roman Heinrich von Ofterdingen im weitesten Sinne als Unendlichkeitssymbol einführt. 13 FW Anhang, KSA 3, 649, 2 u. 9. 14 FW Anhang, KSA 3, 649, 5.  



„Nach neuen Meeren“

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Bevor die Frage in den Blick genommen wird, wie sich das ,UnendlichkeitsStreben‘ in Nach neuen Meeren vor dem Hintergrund der philosophischen Prosatexte Nietzsches deuten lässt, soll zunächst noch der Topos der ‚Fahrt ins Unendliche‘ motivgeschichtlich knapp umrissen werden, um nachvollziehbar zu machen, auf welche Verwendungsweisen der Seefahrtsmetaphorik Nietzsche zu seiner Zeit zurückgreifen konnte und inwiefern sich sein eigener Gebrauch von diesen unterscheidet.

2 Motivgeschichtlicher Überblick: Der Topos der ‚unendlichen Fahrt‘ in der Literatur vor Nietzsche Die Geschichte der literarischen Seefahrtsmetaphorik ist allzu umfangreich, um sie hier auch nur in groben Zügen nachzuzeichnen. Darum soll sie lediglich in der spezifischen Verwendung untersucht werden, in der Nietzsche sie in Nach neuen Meeren gebraucht: Als eine Fahrt in die Unendlichkeit bzw. als unendliche Fahrt. Manfred Frank stellt in seiner Arbeit zur Unendlichen Fahrt die These auf, dass der titelgebende Topos in engem Zusammenhang mit der „neuzeitlichen Epochenwende“15 steht. Als Marksteine dieser Epochenwende nennt er zwei zentrale Vorgänge, die er zeitlich allerdings nicht genauer bestimmt: Zum einen die „kopernikanische Revolution“,16 also den Umbruch vom geo- zum heliozentrischen Weltbild. Kopernikus hatte zwar bereits kurz vor seinem Tod 1543 sein Werk De revolutionibus orbium coelestium veröffentlicht, in dem er die Theorie des heliozentrischen Weltbilds mathematisch ausarbeitete; empirisch fundiert wurde die Theorie allerdings erst zu Beginn des 17. Jahrhunderts, als Galilei mittels der Konstruktion des Fernrohrs Beobachtungen anstellen konnte, die das kopernikanische Weltbild stützten. Mit dem heliozentrischen Weltbild, das „den Fixstern Erde de-zentriert und mit ihm auch den Menschen aus dem Schöpfungsmittelpunkt entfernt“,17 erreicht nach Frank der Prozess der theoretischen Neugierde

15 Frank, Manfred, Die unendliche Fahrt. Ein Motiv und sein Text, Frankfurt/Main 1979, S. 10. 16 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 10. 17 Franks historische Rekonstruktion des astronomischen Weltbilds ist in puncto zeitlicher Datierung ein wenig ungenau. Überdies scheint Frank zu glauben, es sei eine Konsequenz des heliozentrischen Weltbildes, dass sich „von keinem Punkt im leeren All […] mit größerem Recht als von irgendeinem anderen sagen [ließe], er sei das Zentrum.“ Die Auffassung, dass unser Sonnensystem nur einen kleinen Teil des Universums ausmacht, hat sich allerdings erst im 18. Jahrhundert allgemein durchgesetzt und war keineswegs eine direkte Folge des heliozentrischen Weltbildes, weswegen zwischen der Dezentrierung der Erde und der Dezentrierung

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einen vorläufigen Höhepunkt, der zu einer „Zersetzung der Struktur der hierarchischen, aus letzten Werten beglaubigten und zusammengehaltenen Ordnung des christlichen Europa“18 geführt habe. Der andere zentrale Vorgang, der für Frank zu einem Bedeutungsanstieg der Seefahrtsmetapher in der Literatur geführt hat, ist die Welterschließung durch die großen Entdeckungs- und Eroberungsreisen, als deren bekannteste sicherlich die Amerika-Reise von Kolumbus im Jahr 1492 zu nennen ist. Frank nennt überdies zwar folgende „Strukturelemente“, die „die ‚unendliche‘ Fahrt mit der antik-christlichen ‚Lebensreise‘ gemein hat“: „[D]as unberechenbare Meer, der Kahn, der Reisende, der Ausgangspunkt, das aufgeschobene, womöglich problematisch gewordene Ziel […]. Zum Reisenden hinzuzudenken ist das Steuer, das Teilsymbol des Willens und der Vernunft“.19 Allerdings unterscheide sich die antike bzw. christliche Lebensreise von der ‚unendlichen Fahrt‘ dadurch, dass sie beschrieben werde als ein „zeitlich befristeter (‚endlicher‘) Leidensweg, dem Kreuzgang Christi vergleichbar, dessen Ziel und Bewegung die Erlösung von diesem Leiden ist“.20 Dem antiken bzw. christlichen Reisenden ist sein Ziel demnach bekannt. Für den mythologischen Seefahrer Odysseus ist es seine Heimatinsel Ithaka, für den christlichen Menschen ist es das Paradies und das ewige Leben als Erlösung vom irdischen Jammertal. Die Antithese zum traditionellen Motiv der zielgerichteten navigatio vitae besteht für Frank im modernen Topos der ‚unendlichen Fahrt‘, die kein Ziel mehr kennt. Eine „schlimme Vereinfachung“ wagend, stellt Frank schließlich die These auf, dass sich zwischen diesen beiden Möglichkeiten „die ganze Differenz der antik-mittelalterlichen und der modernen Metaphorik der Lebensreise“21 auftue. Wer kein Ziel habe, dem fehlt nach Lukács das „transzendentale Obdach“.22 ‚Transzendentale Obdachlosigkeit‘ als die unveränderliche Bestimmung des Menschen, keine metaphysische Heimat zu besitzen, ist für Frank nicht nur ein entscheidender Schlüssel zum Verständnis der Moderne, sondern auch zur Metaphorik der ‚unendlichen Fahrt‘, die als Daseinsmetapher die metaphysische Orientierungslosigkeit des modernen Menschen widerspiegelt.

unseres Sonnensystems als zwei unterschiedlichen Vorgängen klar unterschieden werden muss (vgl. Frank, Die unendliche Fahrt, S. 10 f.). 18 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 11. 19 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 39. 20 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 42. 21 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 44. 22 Lukács, Georg, Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen der großen Epik, Neuwied / Berlin 1963, S. 35.  

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Ihren ersten vollkommenen Ausdruck findet die „steuerlose und ziellose Fahrt“23 in der Sage vom Fliegenden Holländer, in der ein holländischer Schiffskapitän als Strafe für seine Hybris, die sich in unterschiedlichen Versionen der Sage je verschieden äußert, zu einer unendlichen Fahrt auf dem Meer verdammt wird. Die Sage vom Fliegenden Holländer wird Anfang des 19. Jahrhunderts zum ersten Mal schriftlich gefasst und gewinnt, wie Frank am Beispiel von Coleridge, Byron, Heine und anderen zeigt, in der Literatur der (Spät-)Romantik bald große Beliebtheit. Nietzsche kannte die 1843 uraufgeführte Vertonung dieser Sage durch Richard Wagner. In Wagners Oper ist es dem verfluchten Kapitän erlaubt, in bestimmten zeitlichen Abständen an Land zu gehen, um sich eine treue Frau zu suchen, die ihn so sehr liebt, dass sie bereit ist, sich für ihn zu opfern, um schließlich gemeinsam mit ihm zu sterben und ins Paradies einzukehren.24 In Der Fall Wagner argumentiert Nietzsche unter Rekurs auf Wagners Fliegenden Holländer, diese Erlösung durch die Liebe komme einem schöpferischen Bankrott des Erlösten gleich: Die Anbetung und Bewunderung durch das Weib korrumpiere den Künstler bzw. das Genie, mit dem Nietzsche den rastlosen Kapitän implizit identifiziert. Das An-Land-Gehen und Sesshaft-Werden kommt demnach nicht nur einer Erlösung vom Leid gleich, sondern auch einer ‚Erlösung‘ von der kreativen Schaffenskraft, die in Nietzsches Werken zumeist weitaus höher einschätzt wird als das „allgemeine grüne Weide-Glück der Heerde“, das auf „Sicherheit, Ungefährlichkeit, Behagen, Leichtigkeit des Lebens“25 beruhe. Ob Nietzsche beim Abfassen von Nach neuen Meeren auch Wagners Fliegenden Holländer vor Augen gehabt hat, lässt sich schwer sagen; fest steht jedenfalls, dass ihm das Motiv der ‚unendlichen‘ Fahrt von Wagner her vertraut gewesen ist. Aus dem Gesagten wird ersichtlich, dass Nietzsche mit dem Bild der ‚unendlichen Fahrt‘ nicht auf eine seit langem bestehende literarische Tradition, sondern auf ein für seine Zeit typisches Motiv zurückgreift, das zu Beginn des 19. Jahrhunderts immer mehr an Popularität gewann.

23 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 44. 24 Frank, Die unendliche Fahrt, S. 82–87. 25 JGB 44, KSA 5, 61, 16–18.

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3 Nach neuen Meeren vor dem Hintergrund von Nietzsches Prosatexten 3.1 Das Unendlichkeits-Streben: Wir Luft-Schifffahrer des Geistes (M 575) und Die neue Leidenschaft (M 429) Sucht man in Nietzsches Texten nach motivischen Parallelen zu Nach neuen Meeren, um Aufschluss darüber zu gewinnen, was es heißen könnte, dass sich ein Entdecker nicht mehr Festland, sondern das Meer bzw. „neue[ ] Meere[ ]“26 selbst zum Ziel der Fahrt setzt, sticht besonders die Schlussnummer der Morgenröthe, Wir Luft-Schifffahrer des Geistes, ins Auge. In diesem Abschnitt ist die Rede von Schifffahrern, allerdings Luft-Schifffahrern,27 die ins unendlich weite (Luft-)Meer aufbrechen, ohne ein dahinter liegendes Ziel anzuvisieren. Der Abschnitt endet mit einer Reihe von Fragen über Ziel, Richtung und Aussichten der Reise, die das sprechende Ich an seine „Brüder“28 richtet, zu denen sich der Leser allerdings wohl höchstens dann zählen darf, sofern auch er zur illustren Kaste der geistigen Luftschifffahrer gehört: Und wohin wollen wir denn? Wollen wir denn ü b e r das Meer? Wohin reißt uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust? Warum doch gerade in dieser Richtung, dorthin, wo bisher alle Sonnen der Menschheit u n t e r g e g a n g e n sind? Wird man vielleicht uns einstmals nachsagen, daß auch wir, n a c h W e s t e n s t e u e r n d , e i n I n d i e n z u e r r e i c h e n h o f f t e n , – dass aber unser Loos war, an der Unendlichkeit zu scheitern? Oder, meine Brüder? Oder? –29

Liest man diese Fragen im Kontext des gesamten Abschnitts, so liegt es nahe, sie zumindest teilweise als rhetorisch zu verstehen. So lässt sich die Frage „Wollen

26 FW Anhang, KSA 3, 649, 1. 27 Für die Interpretation des letzten Abschnitts der Morgenröthe ist interessant, dass es sich bei der Luftschifffahrt zu Nietzsches Zeiten um eine ingenieurswissenschaftliche Pionierleistung handelte, die allerdings noch vor großen technischen Schwierigkeiten stand. Das erste lenkbare Luftschiff, das in der Lage war, an seinen Ausgangspunkt zurückzukehren, wurde erst im August 1884 entwickelt. Zur Zeit der Publikation der Morgenröthe (1881) konnten Luftschifffahrer demnach niemals umkehren, sondern nur möglichst weit geradeaus fliegen und darauf hoffen, irgendwo einen geeigneten Landeplatz zu finden. Eine Luftschifffahrt aufs offene Meer wäre demnach zur Zeiten der Morgenröthe fast mit Sicherheit einem Selbstmordkommando gleichgekommen. Zum Entwicklungsstand der Luftschifffahrt in den 1880er Jahren vgl. Eichler, Jürgen, Luftschiffe und Luftschiffahrt, Berlin 1993, S. 22. 28 M 575, KSA 3, 331, 31. 29 M 575, KSA 3, 331, 23–31.

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wir denn ü b e r das Meer“ – d. h.: Steuern wir denn überhaupt etwas jenseits des Meeres an – vor dem Hintergrund des dem Zitat vorangehenden Satzes verneinen, in dem die Rede davon ist, dass das ,Wir‘ des Abschnitts dorthin strebt, wo „Alles noch Meer, Meer, Meer ist“.30 Wer einen Ort anstrebt, wo alles (nur) noch Meer ist, der will offenkundig nicht über das Meer, sondern das Meer selbst wird ihm zum Reiseziel. Nun drängt sich angesichts der Unmöglichkeit einer dauerhaften Existenz auf hoher See freilich die ebenfalls für Nach neuen Meeren relevante Frage auf, wie ein derartiges Reiseziel überhaupt in Betracht kommen kann und was es für geistig Reisende heißt, eine ‚Unendlichkeit‘ anzustreben. Die drohende Gefahr des Scheiterns der Fahrt wird vom sprechenden Ich/Wir des Abschnitts jedenfalls durchaus deutlich gesehen, da es das Scheitern an der „Unendlichkeit“31 – in der Metaphorik der Seefahrt: am endlos weiten Meer – als Möglichkeit einer postumen Legendenbildung bereits ahnungsvoll vorwegnimmt. Diese kann angesichts des offenen Meeres, das die ‚Luft-Schifffahrer des Geistes‘ stattdessen anstreben, allerdings nicht als zuverlässige Beschreibung der tatsächlichen Intention der Luftschifffahrer gelten. Selbst die herausfordernden Fragen am Schluss des Abschnitts („Oder, meine Brüder? Oder?“),32 die zunächst gegen die Alternativlosigkeit des Scheiterns an der Unendlichkeit zu sprechen scheinen, sind nicht als Infragestellung des Scheiterns zu lesen, sondern werfen lediglich die Frage auf, ob die Nachwelt den Luft-Schifffahrern des Geistes tatsächlich einmal in verfälschender Weise „nachsagen“33 werde, sie hätten darauf gehofft, ein Indien zu erreichen. Das sprechende Ich/Wir in M 575 scheint daher weniger die Gefahr des eigenen Scheiterns zu bekümmern, als vielmehr die Möglichkeit einer unverständigen Nachwelt, die ihm und seinen Brüdern die Naivität unterstellen könnte, ein Ziel gesucht zu haben, um dessen Unerreichbarkeit es selbst nur zu gut weiß.34 Wer tatsächlich ein Indien im Westen zu erreichen hoffte, war Kolumbus. Die ‚Luftschifffahrer des Geistes‘ dagegen streben – ebenso wie das lyrische Ich in Nach neuen Meeren – dorthin, „wo alles nur Meer, Meer, Meer“35 ist. Wenngleich  

30 M 575, KSA 3, 331, 22 f. 31 M 575, KSA 3, 331, 30. 32 M 575, KSA 3, 331, 31. 33 M 575, KSA 3, 331, 28. 34 In der Sekundärliteratur wird dies allerdings häufig übersehen und stattdessen nicht nur dem sprechenden Ich des Abschnitts fälschlicherweise das Bedürfnis zugeschrieben, ein Indien erreichen zu wollen, sondern Nietzsche selbst (vgl. Hufnagel, „Nun, Schifflein! sieh’ dich vor!“, S. 151; sowie Löwith, Karl, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Hamburg 2014, S. 118). 35 M 575, KSA 3, 331, 22 f.  



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sich das metaphorische Szenario in M 575 keineswegs in eindeutiger Weise in philosophische Begriffe übersetzen lässt, bietet es doch mehr Anhaltspunkte für eine Aufschlüsselung des Aufbruchs-Motivs ins ‚unendliche Meer‘ als das hermetische Gedicht Nach neuen Meeren. Während aus diesem nicht ersichtlich wird, was das lyrische Ich zu seinem Aufbruch bewegt hat, findet sich in M 575 ein Hinweis, der im Kontext eines anderen Abschnitts der Morgenröthe durchaus aufschlussreich ist: Das sprechende Wir in M 575 stellt die Frage: „Wohin reisst uns dieses mächtige Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust?“36 Dass ein „mächtiges Gelüste“ die ‚Luft-Schifffahrer des Geistes‘ aufs offene Meer „reißt“, legt nahe, dass von rationalen Beweggründen oder Motiven zum Aufbruch kaum die Rede sein kann; vielmehr scheint das „mächtige Gelüste“ die Luftschifffahrer geradezu gewaltsam aufs Meer zu treiben. Dass es sich um ‚Luft-Schifffahrer des Geistes‘ handelt, spricht dafür, das „mächtige Gelüste“37 als einen geistigen Trieb zu verstehen, dem diese sich nicht entziehen können. Sucht man in der Morgenröthe nach Anhaltspunkten dafür, auf welchen Trieb das „mächtigen Gelüste“ aus M 575 verweisen könnte, stößt man auf die „Leidenschaft der Erkenntniss“.38 In M 429 (Die neue Leidenschaft) wird sie als ein ungemein starker Trieb beschrieben, der – analog zum „mächtige[n] Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust“ – jedes andere Glücksstreben des Menschen zurückdrängt: Warum fürchten und hassen wir eine mögliche Rückkehr zur Barbarei? Weil sie die Menschen unglücklicher machen würde, als sie es sind? Ach nein! Die Barbaren aller Zeiten hatten mehr Glück: täuschen wir uns nicht! – Sondern unser T r i e b z u r E r k e n n t n i s s ist zu stark, als dass wir noch das Glück ohne Erkenntniss oder das Glück eines starken festen Wahnes zu schätzen vermöchten; es macht Pein, uns solche Zustände auch nur vorzustellen! Die Unruhe des Entdeckens und Errathens ist uns so reizvoll und unentbehrlich geworden, wie die unglückliche Liebe dem Liebenden wird: welche er um keinen Preis gegen den Zustand der Gleichgültigkeit hergeben würde.39

36 M 575, KSA 3, 331, 24 f. 37 M 575, KSA 3, 331, 24 f. 38 M 429, KSA 3, 265, 2. 39 M 429, KSA 3, 264, 14–25. Vgl. auch den „Don Juan der Erkenntniss“ in Eine Fabel (M 327): „Der Don Juan der Erkenntniss: er ist noch von keinem Philosophen und Dichter entdeckt worden. Ihm fehlt die Liebe zu den Dingen, welche er erkennt, aber er hat Geist, Kitzel und Genuss an Jagd und Intriguen der Erkenntniss – bis an die höchsten und fernsten Sterne der Erkenntniss hinauf! – bis ihm zuletzt Nichts mehr zu erjagen übrig bleibt, als das absolut W e h e t h u e n d e der Erkenntniss, gleich dem Trinker, der am Ende Absinth und Scheidewasser trinkt. So gelüstet es ihn am Ende nach der Hölle, – es ist die letzte Erkenntniss, die ihn v e r f ü h r t . Vielleicht, dass auch sie ihn enttäuscht, wie alles Erkannte! Und dann müsste er in alle Ewigkeit stehen bleiben, an die Enttäuschung festgenagelt und selber zum steinernen Gast geworden, mit einem Verlangen nach  



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Das Verhältnis zur ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ ist ambivalent: Zwar wäre der Mensch ohne diese Leidenschaft glücklicher als mit ihr, doch sobald sie erst einmal von ihm Besitz ergreift, verliert das erkenntnislose Glück für ihn seinen Reiz. Da den ‚Leidenschaftlichen der Erkenntnis‘ nichts dazu bewegen kann, seine unglückliche Liebe aufzugeben, kommt eine Rückkehr zum alten Zustand nicht mehr infrage. Wenngleich wahnhaft-glückliche „Barbaren“ mit Paradiesbewohnern auf den ersten Blick wenig gemein haben mögen, ist die Parallele zum biblischen Sündenfall offenkundig: Wer wie Adam und Eva einmal vom Baum der Erkenntnis gekostet hat, dem bleiben die Tore des Paradieses für immer verschlossen – und wen einmal die ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ ergriffen hat, der kann zu einem illusionären Blick auf die Welt – zum „Glück“ der „Barbaren“ – nicht mehr zurückkehren. Doch die von der ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ Getriebenen verschmähen das „Glück“ der Illusion ohnehin. In einem Vorentwurf zu M 429 wird das Gefühl ihrer ambivalenten Liebe zur Erkenntnis in einem Oxymoron als die „Seligkeit des Unglücks der Erkenntniß“40 bezeichnet. Auf diese ambivalente, anscheinend gar masochistische Züge tragende „Seligkeit“ wollen und können die Erkennenden nicht mehr verzichten. Ebenso wie das „Gelüste, was uns [den ‚Luftschifffahrern des Geistes‘] mehr gilt als irgendeine Lust“ wird der „T r i e b z u r E r k e n n t n i s s “41 in M 429 also als eine Leidenschaft bestimmt, gegen die jedes „Glück ohne Erkenntniss“42 unattraktiv erscheint. Dass sich diese Leidenschaft als „Unruhe des Entdeckens und Errathens“ äußert, ist ein zusätzliches Argument dafür, sie mit dem „mächtigen Gelüste“43 als Antrieb der ‚Luftschifffahrer des Geistes‘ zu identifizieren, denn wie die Kolumbus-Anspielung nahelegt, handelt es sich bei den Luftschifffahrern um geistige Entdecker.

einer Abendmahlzeit der Erkenntniss, die ihm nie mehr zu Theil wird! – denn die ganze Welt der Dinge hat diesem Hungrigen keinen Bissen mehr zu reichen.“ 40 NL 1880, 7[165], KSA 9, 351, 2. Überlegungen zum Begriff der ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ in der Morgenröthe, die auch einen erhellenden Vergleich von M 429 mit einer Vorstufe enthalten, bietet Montinari, Mazzino, Nietzsche lesen, Berlin / New York 1982, S. 64–78. Für eine äußerst detaillierte Darstellung, die dem Begriff der ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ in der Werkphase von Morgenröthe bis Zarathustra nachgeht und versucht, auf Fragen des Verhältnisses der Leidenschaft der Erkenntnis zu anderen wesentlichen Denkfiguren Nietzsches (etwa zum Wiederkunftsgedanken) eine Antwort zu finden, vgl. Brusotti, Marco, Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophie und ästhetisches Lebensgestaltung bei Nietzsche von „Morgenröthe“ bis „Also sprach Zarathustra“, Berlin / New York 1997. 41 M 429, KSA 3, 264, 18 f. 42 M 429, KSA 3, 264, 19 f. 43 M 429, KSA 3, 331, 22 u. 24 f.  





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Ein markanter Unterschied zwischen M 575 und Nach neuen Meeren springt allerdings ins Auge: Im Vergleich mit dem sprechenden Ich in M 575 macht das lyrische Ich in Nach neuen Meeren einen weitaus entschlosseneren, selbstgewisseren Eindruck, wenn es proklamiert: „Dorthin – w i l l ich und ich traue / Mir fortan und meinen Griff“.44 Der Ausdruck des Selbstvertrauens wird durch das im Enjambement akzentuierte selbstreflexive Pronomen „Mir“ mit formalen Mitteln verstärkt, überdies evoziert die Betonung des Vertrauens auf den eigenen Griff den Eindruck der Selbstständigkeit.45 Dass das lyrische Ich seinem Griff „fortan“ traut, heißt im Umkehrschluss, dass es dem eigenen Griff zuvor nicht getraut hat. Die typographische Hervorhebung des „w i l l “46 scheint eine zusätzliche Bekräftigung der Eigenmächtigkeit des lyrischen Ichs zu sein. Allerdings ließe sich diese Bekräftigung auch anders verstehen, nämlich als Hinweis darauf, dass es sich um einen zunächst unverständlich und unglaubwürdig erscheinenden Willen handeln könnte, den es daher eigens als selbstgewählt zu akzentuieren gilt. In FW 360 findet sich eine aufschlussreiche Passage, in der die Umdichtung eines Müssens zum Wollen mithilfe der Seefahrtsmetaphorik illustriert wird: Ist das „Ziel“, der „Zweck“ nicht oft genug nur ein beschönigender Vorwand, eine nachträgliche Selbstverblendung der Eitelkeit, die es nicht Wort haben will, dass das Schiff der Strömung f o l g t , in die es zufällig gerathen ist? Dass es dorthin „will“, w e i l es dorthin – m u s s ? Dass es wohl eine Richtung hat, aber ganz und gar – keinen Steuermann? – Man bedarf noch einer Kritik des Begriffs „Zweck“.47

Liest man Nach neuen Meeren vor dem Hintergrund dieser Passage und M 575, scheint es, als würde das lyrische Ich lediglich die Notwendigkeit und Fremdbestimmtheit seiner Fahrt zu einer selbstbestimmten Entscheidung umdichten. In

44 FW Anhang, KSA 3, 649, 2 f. 45 Manfred Riedel identifiziert den „Griff“ in Nach neuen Meeren mit dem „neuzeitlich-mystische[n] Motiv[ ] des goldenen Griffs ‚alle Dinge ohne Irrtum zu erkennen‘ [kein Nietzsche-Zitat]; jener uns aus Hegels Begriffs-Logik geläufige Gestus umfassenden ,Greifens‘, dem offensichtlich noch Nietzsches Wiederkunftslehre alles und jedes zutraut“ (Riedel, Manfred, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, Stuttgart 1998, S. 240). Riedel gibt keine Gründe für eine derartige Identifikation an. Der Glaube an die Unfehlbarkeit der Erkenntnis ist von den überaus skeptischen Äußerungen zu den menschlichen Erkenntnisfähigkeiten in der Fröhlichen Wissenschaft denkbar weit entfernt, sodass Riedels Rekurs auf das neuzeitlich-mystische Motiv des goldenen Griffs wenig plausibel erscheint. Der Verweis auf Hegel scheint ebenfalls lediglich auf einer vagen Assoziation Riedels zu beruhen – jedenfalls kann keine Rede davon sein, dass die Verbindung zwischen Nietzsches „Wiederkunftslehre“ und Hegels „Gestus umfassenden ‚Greifens‘“ „offensichtlich“ sei. 46 FW Anhang, KSA 3, 649, 2. 47 FW 360, KSA 3, 607 f., 30–5.  



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diesem Fall wäre das lyrische Ich des Gedichts ebenso wie das sprechende Ich des Prosatextes von einer ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ getrieben, der es nachträglich den Anschein geben will, nicht Leidenschaft, sondern Ethos zu sein. Diese Selbstverblendung stünde zweifellos in einer gewissen Nähe zur berühmten Formel des „Amor fati“,48 mit der eine fatalistische Schicksalsbejahung zum Ideal erhoben wird. In der Eröffnungsnummer des vierten Buchs der Fröhlichen Wissenschaft, Zum neuen Jahre (FW 276), in dem das sprechende Ich kundtut, welcher Gedanke ihm „Grund, Bürgschaft und Süssigkeit alles weiteren Lebens sein soll“,49 wird dieses ethische Ideal wie folgt formuliert: „Ich will immer mehr lernen, das Nothwendige an den Dingen als das Schöne sehen: – so werde ich Einer von Denen sein, welche die Dinge schön machen. Amor fati: das sei von nun an meine Liebe! [… I]ch will irgendwann einmal nur noch ein Ja-sagender sein!“50 Bis hierhin bleibt festzuhalten: Im Rekurs auf M 429 wurde dafür argumentiert, dass in M 575 eine „neue Leidenschaft“ vom Menschen Besitz ergriffen hat – eine Leidenschaft, die offenbar keinen Zielpunkt hat, d. h. in der Metaphorik der Schifffahrt gesprochen, kein Festland kennt und „im Grunde Nichts fürchtet, als ihr eigenes Erlöschen“.51 Auch das lyrische Ich in Nach neuen Meeren, für dessen Identifikation mit einem geistigen Entdecker weiter oben argumentiert wurde, kennt kein Ziel jenseits des Meeres mehr. Vor dem Hintergrund von M 575 liegt es daher nahe, die „Unendlichkeit“52 in Nach neuen Meeren als Chiffre für das unendliche Fortschreiten des Erkenntnisdrangs geistiger Entdecker zu verstehen. Im Rahmen des motivgeschichtlichen Überblicks wurde bereits festgestellt, dass das Motiv der ‚unendlichen Fahrt‘ in engem Zusammenhang mit dem Prozess der Säkularisierung steht. In den folgenden zwei Kapiteln soll dieser Zusammenhang, der auch für Nietzsches Metaphorik der ‚unendlichen Fahrt‘ von zentraler Bedeutung ist, genauer untersucht werden.  

3.2 Der Aufbruch ins Ungewisse vor dem Hintergrund der „Nachricht, daß Gott todt ist“ Mit dem 343. Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaft (Was es mit unserer Heiterkeit auf sich hat) eröffnet Nietzsche das fünfte Buch, das den programmatischen Titel Wir Furchtlosen trägt. Schon die Eröffnungsnummer gibt einen Hinweis darauf,

48 49 50 51 52

FW 276, KSA 3, 521, 22. FW 276, KSA 3, 521, 19 f. FW 276, KSA 3, 521, 20–27. M 429, KSA 3, 264, 14 u. 28. FW Anhang, KSA 3, 649, 9.  

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dass es sich bei diesen titelgebenden Furchtlosen um „Philosophen und ‚freie Geister‘“ handeln könnte, denn diese sind es, denen das „Wagnis des Erkennenden wieder erlaubt“ ist und die sich – wie schon das lyrische Ich in Nach neuen Meeren („Offen liegt das Meer“)53 – trauen, mit ihren Schiffen in ein „‚offnes Meer‘“ auszulaufen. In der That, wir Philosophen und „freien Geister“ fühlen uns bei der Nachricht, dass der „alte Gott todt“ ist, wie von einer neuen Morgenröthe angestrahlt; unser Herz strömt dabei über von Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung – endlich erscheint uns der Horizont wieder frei, gesetzt selbst, dass er nicht hell ist, endlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, auf jede Gefahr hin auslaufen, jedes Wagnis des Erkennenden ist wieder erlaubt, das Meer, u n s e r Meer liegt wieder offen da, vielleicht gab es noch niemals ein so „offnes Meer“.54

Der Fokus in FW 343 liegt, anders als noch in M 575, nicht auf der treibenden Kraft des Aufbruchs – in M 575 war es das „Gelüste, das uns mehr gilt als irgend eine Lust“55 –, sondern auf einem Ereignis, das den Aufbruch notwendig zu machen scheint und in dessen Folge die „Schiffe wieder auslaufen“56 dürfen: der Nachricht vom ‚Tod Gottes‘. Ebenso wie in FW 125, in dem ein „tolle[r] Mensch“57 den Tod Gottes verkündet, wird auch in FW 343 dieser Tod Gottes nicht einfach festgestellt, sondern als „Nachricht“58 eingeführt. Im Fokus des Abschnitts steht daher nicht die philosophische bzw. theologische Frage nach dem Existenzstatus Gottes, sondern vielmehr der ‚soziologische‘ Befund, dass sich unter den Menschen langsam die Überzeugung verbreitet, Gott existiere nicht. Das größte neuere Ereignis bestehe darin, „‚dass ‚Gott todt ist‘, dass der Glaube an den christlichen Gott unglaubwürdig geworden ist“.59 Da die Behauptung, dass „Gott todt ist“ in Anführungszeichen gesetzt wird, handelt es sich um indirekte Rede, d. h. um eine zitierte Aussage, nicht etwa um eine apodiktische Feststellung des sprechenden Ichs.60  

53 FW Anhang, KSA 3, 649, 4 u. 9. 54 FW 343, KSA 3, 574, 16–24. 55 M 575, KSA 3, 331, 25. 56 FW 344, KSA 3, 574, 21. 57 FW 125, KSA 3, 480, 31. 58 FW 344, KSA 3, 574, 17. 59 FW 344, KSA 3, 573, 9 f. 60 Anders gestaltet Nietzsche dies in der Eröffnungsnummer des dritten Buchs, Neue Kämpfe (FW 108), in der das sprechende Ich den Tod Gottes (hier identifiziert mit Buddha) selbst feststellt: „Nachdem Buddha todt war, zeigte man noch Jahrhunderte lang seinen Schatten in einer Höhle, – einen ungeheuren schauerlichen Schatten. Gott ist todt: aber so wie die Art der Menschen  

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Der Glaubwürdigkeitsverlust des christlichen Gottes steht in enger Beziehung zur ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘. Er tritt nicht mit einem Schlag ein, sondern ist das Ergebnis des immer weiter voranschreitenden und sich beschleunigenden Akkumulationsprozesses wissenschaftlicher Erkenntnisse. In FW 37 versucht Nietzsche, die psychologischen Motive auszuleuchten, die dem Betreiben von Wissenschaft zugrunde liegen. Das sprechende Ich stellt die These auf, die Wissenschaft sei aus „drei Irrthümern“61 gefördert worden: Teils aus Frömmigkeit, „weil man mit ihr und durch sie Gottes Güte und Weisheit am besten zu verstehen hoffte“, teils aus dem Glauben an die „absolute Nützlichkeit der Erkenntniss […], namentlich an den innersten Verband von Moral, Wissen und Glück“, teils aus der Überzeugung, die Wissenschaft sei „etwas Selbstloses, Harmloses, Sich-selber-Genügendes, wahrhaft Unschuldiges“.62 Warum es sich bei diesen Einschätzungen um Irrtümer handeln soll, wird in FW 37 nicht begründet. Verkürzt ließe sich das Irrige dieser Einschätzungen so darstellen: Erstens hat die Wissenschaft nicht das Verständnis Gottes, sondern seine Unglaubwürdigkeit gefördert – und in diesem Sinne das Gegenteil dessen bewirkt, was ursprünglich bezweckt wurde; zweitens hat sich die Wissenschaft zwar in vielen Lebensbereichen als nützlich erwiesen, allerdings droht sie, das Leben selbst in Gefahr zu bringen, indem sie durch ihre Erkenntnisse „Wahn und Irrthum“ aufhebt, die in Texten der Fröhlichen Wissenschaft wiederholt als eine „Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins“63 dargestellt werden. Drittens liegt es dann auf der Hand, dass die Wissenschaft nicht etwas „Harmloses“ und „wahrhaft Unschuldiges“64 sein kann, wenn sie maßgeblich zur Zerstörung des Glaubens an Gott beiträgt und jene Illusionen und Täuschungen aufhebt, die an anderer Stelle als „Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins“,65 d. h. als Lebensnotwendigkeit bestimmt werden.  

ist, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. – Und wir – wir müssen auch noch seinen Schatten besiegen!“ (FW 108, KSA, 3, 467). 61 FW 37, KSA 3, 405, 29–406, 2. 62 FW 37, KSA 3, 406, 3–5 u. 7 f. 63 FW 107, KSA 3, 464, 13–5. Vgl. neben FW 107, KSA 3, 464 f. exemplarisch FW 344, KSA 3, 574– 577. Bereits die Vorrede aus dem Jahr 1886, die Nietzsche der Zweitausgabe der Fröhlichen Wissenschaft voranstellt, stimmt den Leser auf die Infragestellung des Werts der Erkenntnis ein: „Nein, dieser schlechte Geschmack, dieser Wille zur Wahrheit, zur ,Wahrheit um jeden Preis‘, dieser Jünglings-Wahnsinn in der Liebe zur Wahrheit – ist uns verleidet: dazu sind wir zu erfahren, zu ernst, zu lustig, zu gebrannt, zu tief… Wir glauben nicht mehr daran, dass Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr die Schleier abzieht; wir haben genug gelebt, um dies zu glauben“ (FW Vorrede 4, KSA 3, 352, 5–11). 64 FW 37, KSA 3, 406, 7 f. 65 FW 107, KSA 3, 464, 14 f. So konstatiert das sprechende Ich in FW 344, es habe „den Anschein […], als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung,  







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In der destruktiven Geschichte wissenschaftlicher Erkenntnis markiert die kopernikanische Revolution einen besonders drastischen Einschnitt, da mit ihr ein ganzes Welt- und Selbstbild zusammenbricht, womit der epistemischen Autorität des Christentums ein schwerer Schlag versetzt wird. Einen vorläufigen Höhepunkt erreicht die wissenschaftliche Selbst-Degradierung des Menschen in Nietzsches Zeit schließlich mit der darwinistischen Evolutionstheorie. Aus dem Menschen als Mittelpunkt des Universums und Krone der Schöpfung wird ein „kluge[s] Thier[ ]“, das sich „[i]n irgend einem abgelegenen Winkel des in zahllosen Sonnensystemen flimmernd ausgegossenen Weltalls“66 seinen eitlen Selbstverblendungen hingibt. Dass der Mensch infolge seines Erkenntnisstrebens die eigene, in Nietzsches Schriften immer wieder als lebensrettend dargestellte ,Konstruktion‘ Gottes eigenhändig destruiert, ist ein im buchstäblichen Sinne unerhörtes Ereignis: „Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert, – es ist noch nicht bis zu den Ohren der Menschen gedrungen“, so der ebenso hellsichtig wie verrückt erscheinende „tolle Mensch“,67 der einer ihn zunächst verhöhnenden Menschenmenge die Nachricht vom Tod Gottes überbringt. Nietzsche ist dieses ‚unerhörte‘ Ereignis allerdings zu Ohren gekommen und so lässt er die sprechenden Ichs der Fröhlichen Wissenschaft zum einen prospektiv die Frage stellen, wie der Mensch zukünftig mit der Leerstelle umgehen wird, die der Tod Gottes hinterlässt; zum anderen wird retrospektiv die Frage gestellt, wie es dazu kommen konnte, dass die ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘ im Menschen derart überhandnimmt, dass er für die Erkenntnis der Wahrheit auch die tröstende Vorstellung par excellence – Gott – zu opfern bereit ist. FW 343 gehört zu denjenigen Abschnitten, die sich mit der Zukunft nach dem Tod Gottes beschäftigen. Infolge der Nachricht vom Tod Gottes zeigt sich den „Philosophen und ‚freien Geister[n]‘“ eine „neue Morgenröthe“, von der sie sich verheißungsvoll angestrahlt fühlen und die ihnen offenkundig Mut zu einem Aufbruch in ein „offnes Meer“68 macht. Dabei werden die Folgen des fortschreitenden Glaubwürdigkeitsverlusts des christlichen Gottes in zwei Phasen unterSelbstverblendung angelegt wäre“ (FW 344, KSA 3, 576, 22–25). In FW 107 heißt es: „Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. Die R e d l i c h k e i t würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben“ (FW 107, KSA 3, 464, 10–16). 66 WL 1, KSA 1, 875, 2–4. 67 FW 125, KSA 3, 481, 30 f. u. 26. Zum Topos des wahnsinnigen Sehers vgl. auch unter dem Stichwort „Orakel“: Lamer, Hans / Kroh, Paul (Hrsg.), Wörterbuch der Antike: mit Berücksichtigung ihres Fortwirkens, Stuttgart 1976, S. 514 f. 68 FW 343, KSA 3, 574, 16–18 u. 24.  



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teilt: Von den „nächsten Folgen“ zeugt der Aufbruchs-Enthusiasmus der „Philosophen und ‚freien Geister“, die im Tod Gottes eine geistige Befreiung sehen, infolge derer das „Wagniss des Erkennenden“69 wieder erlaubt sei. Die Öffnung des Meeres lässt sich dementsprechend als Öffnung eines Denkens verstehen, das nicht mehr von dogmatisch-religiösen Fesseln eingeschränkt wird. Dabei mag man freilich weniger an Denkbeschränkungen auf wissenschaftlichem Gebiet denken – hier hat die Religion bzw. die Kirche schließlich bereits zu Zeiten Nietzsches ihre Macht längst eingebüßt –, sondern eher an moralische Denkbeschränkungen. Auf den moralischen Folgen der Nachricht, „dass der ‚alte Gott todt‘ ist“,70 liegt denn auch der Fokus des sprechenden Ichs in FW 343. Weil mit der Glaubwürdigkeit Gottes auch die Legitimation und Verbindlichkeit der christlichen Moral steht und fällt, sieht das sprechende Ich eine „lange Fülle und Folge von Abbruch, Zerstörung, Untergang, Umsturz“, eine „ungeheure[ ] Logik von Schrecken“71 bevorstehen. Doch hierbei handelt es sich um ein langfristiges und zugleich dystopisches Szenario. Zum beinahe ungläubigen Erstaunen des sprechenden Ichs strömt den Philosophen gegenwärtig das Herz noch vor „Dankbarkeit, Erstaunen, Ahnung, Erwartung“72 über. Diese zwei Phasen – kurzfristig: Heiterkeit, langfristig: Schrecken – entsprechen gewissermaßen den unterschiedlichen Fassungsvermögen von Philosophen einerseits und ‚gewöhnlichen Menschen‘ andererseits. Während die Philosophen sich von einer „Morgenröthe“ angestrahlt fühlen, haben die gewöhnlichen Menschen noch nicht einmal den Untergang der alten Sonne, den ‚Tod Gottes‘, registriert. Die lebensweltlichen Auswirkungen dieser Nachricht würden bei den meisten Menschen erst verzögert ankommen, dann aber werde die „ungeheure[ ] Logik von Schrecken“ infolge des horror vacui ihren Lauf nehmen. Die „Philosophen und ‚freien Geister‘“ sind den ‚schrecklichen Konsequenzen‘ des Gottesverlusts als Menschen in der Welt zwar ebenso ausgesetzt, doch begrüßen sie gerade die grenzenlose Ungewissheit des Ordnungs- und Machtvakuums und stoßen mitten hinein ins „offne[ ] Meer“ absolut freien Denkens. Der Kontrast zwischen FW 125, in dem der ‚tolle Mensch‘ vor allem die negativen Folgen des Gottestods in drastischen Bildern schildert, und FW 343, in dem der Tod Gottes zwar auch als (langfristig höchst gefährlicher) Verlust, aber doch auch und gerade als Befreiung dargestellt wird, zeigt sich deutlich bei einem Vergleich der verwendeten Metaphern: Angesichts des Gottesmordes – der menschengemachten Zerstörung der Glaubwürdigkeit Gottes – fragt der ‚tolle Mensch‘ 69 70 71 72

FW 343, KSA 3, 574, 10 f. u. 22. FW 343, KSA 3, 574, 17. FW 343, KSA 3, 573, 25–28. FW 343, KSA 3, 574, 19.  

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in FW 125 auf dem Marktplatz die ihn umgebenden Menschen: „Wie vermochten wir das Meer auszutrinken? Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont wegzuwischen?“73 Während der ‚tolle Mensch‘ sich vor ein Nichts gestellt sieht, Meer und Horizont ihm als Weltkonstituenten verloren scheinen, preist das sprechende Ich in FW 343 dagegen das „offne[ ] Meer“ und begrüßt es, dass ihm der „Horizont wieder frei [erscheint], gesetzt selbst, dass er nicht hell ist“.74 Da die „freien Geister“ in FW 343 durch die Nachricht vom ‚Tod Gottes‘ moralisch ,befreite Geister‘ sind, liegt es nahe, dass ihre Entdeckerfahrt auf die Erkundung bislang unbekannter Denk- und Lebensformen abzielt, die zuvor durch christliche Moralbeschränkungen gar nicht erst in den Blick kommen konnten. Die Folgen jener Nachricht gehen über die früher oder später notwendig einsetzende Infragestellung moralischer Werte allerdings weit hinaus. Das ‚leergetrunkene Meer‘ und der ‚weggewischte Horizont‘ in FW 125 sind nicht bloß Metaphern für verloren gegangene moralische Werte, sondern, viel fundamentaler, für ein Verschwinden dessen, was – um eine treffende Formulierung von Ludger Lütkehaus aufzugreifen – „das zum philosophischen Kitsch heruntergekommene Wort ,Sinn‘“ meint.75 Nicht nur die Antwort auf die Frage, wie man handeln solle, verschwindet mit dem ‚Tod Gottes‘, sondern auch die Antwort auf die Frage, zu welchem Zweck der Mensch überhaupt etwas tun solle. Solange das irdische Leben als ein Vorspiel zum ewigen Leben bei Gott betrachtet wird, hat es einen Zweck und erscheint sinnvoll. Das eigene und fremde Leiden wird erträglich, solange der Gläubige es als Teil eines göttlichen Plans begreifen kann, dessen Sinn dem menschlichen Geist zwar unergründlich bleibt, der aber dennoch unzweifelhaft vorhanden ist. Wenn nun aber die Überzeugung siegt, dass 73 FW 125, KSA 3, 481, 3 f. 74 FW 343, KSA 3, 574, 24 und 20 f. Dass der „Horizont wieder frei“ erscheint, die Schiffe „wieder auslaufen“ dürfen, das Wagnis des Erkennenden „wieder erlaubt“ ist und das „Meer […] wieder offen da[liegt]“ (FW 343, KSA 3, 574, 20–24), zeigt, dass es für das sprechende Ich eine Zeit gegeben haben muss, in der das ,Abenteuer‘ des Erkennens schon einmal erlaubt war. Wenngleich diese vorchristliche Zeit, in der dem menschlichen Erkenntnisstreben keine Fesseln angelegt wurden, in FW 343 unbestimmt bleibt, spricht vieles dafür, dass Nietzsche hier die griechische Antike im Auge hat, da gerade den alten Griechen in Nietzsches Darstellungen häufig ein besonderer geistiger Wagemut zugeschrieben wird. In der Vorrede der Fröhlichen Wissenschaft erfolgt explizit die Parallelisierung der „Wagehalse des Geistes, die […] die höchste und gefährlichste Spitze des gegenwärtigen Gedankens erklettert“ haben (FW Vorrede 4, KSA 3, 352, 26–28), mit den Griechen, die geistig so erfahren und daher taktvoll gewesen seien, dass sie aus Scham die Wahrheit mit dem Schleier der Kunst bedeckten – ihre Oberflächlichkeit resultierte aus ihrer Tiefgründigkeit (vgl. ebd., 352, 20–25). 75 Lütkehaus, Ludger, „Die indische Circe, das Nichts“. Nietzsches Kampf gegen den Nihilismus, in: Neymeyr, Barbara / Sommer, Andreas Urs (Hrsg.), Nietzsche als Philosoph der Moderne, Heidelberg 2012, S. 301–317, hier S. 304.  



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das Leben keinerlei Zweck hat und überdies auch noch in weiten Teilen leidvoll ist, droht diese Überzeugung den Lebenswillen zu vernichten. Der Gedanke, dass die Erkenntnis der Sinnlosigkeit des Daseins potentiell selbstmörderische Konsequenzen nach sich zieht, wird in dem auf FW 343 unmittelbar folgenden Abschnitts (Inwiefern auch wir noch fromm sind) thematisiert: Es habe, so das sprechende Ich, den Anschein, „als wenn das Leben auf Anschein, ich meine auf Irrthum, Betrug, Verstellung, Blendung, Selbstverblendung angelegt wäre“; der „Wille zur Wahrheit“ könne, so der Verdacht des sprechenden Ichs, daher „ein versteckter Wille zum Tode sein“.76 Als institutionalisiertem Willen zur Selbsttäuschung kommt der Religion dementsprechend eine existenzerhaltende Funktion zu, die allerdings mit der Nachricht vom ‚Tod Gottes‘ hinfällig wird. Angesichts dieser fundamentalen Bedeutung der Religion ließe sich zunächst vermuten, die aufbrechenden Schifffahrer in FW 343 seien auf dem Weg zu neuen erbaulichen Rechtfertigungen des Daseins und suchten nun, nachdem sie das alte Festland, auf dem die christliche Religion ruhte, verlassen haben, auf dem offenen Meer nach neuen (sinnstiftenden) Ländern religiöser oder metaphysischer Art. Für FW 343 scheint diese Option wenig plausibel, denn die dort aufbrechenden Schifffahrer sind „Philosophen und ‚freie[ ] Geister‘“ – wobei die Konjunktion naturgemäß nicht zwei unterschiedliche Gruppen verbindet, sondern diejenigen zusammenführt, die sowohl Philosophen als auch ‚freie Geister‘ sind. Der Terminus ‚freier Geist‘ legt nahe, dass es sich bei den aufbrechenden Philosophen nicht um Metaphysiker handelt, sondern um Denker, die sich vom menschlichen Grundbedürfnis nach festem Halt befreit haben und keiner Religion oder Metaphysik mehr bedürfen.77 In Nach neuen Meeren ist die Interpretationslage etwas

76 FW 344, KSA 3, 576, 23–32. 77 Der Begriff ‚freier Geist‘ kommt in der Fröhlichen Wissenschaft lediglich einmal vor. In Jenseits von Gut und Böse, dessen Entstehungszeit mit derjenigen des fünften Buchs der Fröhlichen Wissenschaft teilweise zusammenfällt, werden die „Philosophen der Zukunft“ (JGB 44, KSA 5, 60, 22 f.) als „s e h r freie Geister“ (ebd., 60, 22) bezeichnet. Sie sind allerdings „nicht bloss freie Geister […], sondern etwas Mehreres, Höheres, Grösseres und Gründlich-Anderes, das nicht verkannt und verwechselt werden will“ (ebd., 60, 23–25). Während Menschliches, Allzumenschliches I, das den Untertitel „Ein Buch für freie Geister“ trägt, noch dem französischen Aufklärer Voltaire gewidmet ist (vgl. Nietzsches Hinweis zur Erstausgabe von 1878, MA I, KSA 2, 10), sodass der Terminus ‚freier Geist‘ in Menschliches, Allzumenschliches I durchaus mit dem aufklärerischen Freidenkertum zu assoziieren ist, distanziert sich das sprechende Ich in JGB 44 von einem primär aufklärerischen Begriff des ,freien Geistes‘. Es strebt eine (höhere) Freiheit an, die sich auch der Moral und der „modernen Ideen“ (JGB 44, KSA 5, 61, 8 f.) zu entledigen hat und die, wie die Hervorhebung der Einsamkeit der ‚freien Geister‘ nahelegt, eine Freiheit radikaler, kompromissloser Selbstbestimmtheit ist: „Und was es mit der gefährlichen Formel ‚jenseits von Gut und Böse‘ auf sich  



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komplizierter. Zwar steuert das aufbrechende lyrische Ich „[n]ach neuen Meeren“, was dem Erreichen-Wollen eines religiösen oder metaphysischen ‚Festlands‘ prinzipiell zu widersprechen scheint. Doch die „Unendlichkeit“ lässt sich nicht nur als Unendlichkeit des Meeres verstehen, sondern auch als Chiffre des Gedankens der Ewigen Wiederkunft, den das sprechende Ich in FW 341 als Gedankenexperiment und metaphysische Hypothese präsentiert. Vor diesem Hintergrund ließe sich der Wille des lyrischen Ich, die Unendlichkeit zu erreichen („Dorthin – w i l l ich“) auch als Affirmation der Ewigen Wiederkunft lesen. Bevor detaillierter auf die Ewige Wiederkunft eingegangen wird, gilt es im Folgenden zunächst, einen Aspekt der Seefahrtsmetaphorik zu beleuchten, der mit der Nachricht vom ‚Tod Gottes‘ in engem Zusammenhang steht und für das Verständnis des Topos der ‚unendlichen Fahrt‘ zentral ist: die Unmöglichkeit einer Rückkehr zum alten Festland.

3.3 Die ‚unendliche Fahrt‘ und die Unmöglichkeit der Rückkehr Wie gezeigt wurde, haben die „Luft-Schifffahrer des Geistes“, die von einem „mächtige[n] Gelüste“,78 der ‚Leidenschaft der Erkenntnis‘, aufs Meer gezogen werden, weder die Fähigkeit noch den Willen zur Umkehr. Gott, der infolge des immer weiter fortschreitenden wissenschaftlichen Erkenntnisprozesses unglaubwürdig geworden ist, lässt sich nicht wieder zum Leben erwecken. Dies jedenfalls proklamiert der ‚tolle Mensch‘ in FW 125: „Hören wir noch Nichts von dem Lärm der Todtengräber, welche Gott begraben? Riechen wir noch Nichts von der göttlichen Verwesung? – auch Götter verwesen! Gott ist todt! Gott bleibt todt! Und wir haben ihn getödtet!“79 Die Unmöglichkeit der Rückkehr zu „alten Weltbetrachtungen“ und „alten Culturen“ wird in Menschliches, Allzumenschliches I bereits in einem eindeutig pessimistischen Ton konstatiert.80 Schon der Titel des Abschnitts (Trostrede eines

hat, mit der wir uns zum Mindesten vor Verwechslung behüten: wir s i n d etwas Anderes als ‚libres-penseurs‘, ‚liberi pensatori‘, ‚Freidenker‘ und wie alle diese braven Fürsprecher der ‚modernen Ideen‘ sich zu benennen lieben“ (JGB 44, KSA 5, 62, 10–14). 78 M 575, KSA 3, 331, 5 u. 24 f. 79 FW 125, KSA 3, 481, 12–16. 80 MA I 248, KSA 2, 206, 14. Da hier von „alten Weltbetrachtungen“ und „alten Culturen“ die Rede ist (Hervorhebungen MW), lässt sich die melancholisch ersehnte Vergangenheit nicht einfach mit einer spezifischen Weltbetrachtung und Kultur gleichsetzen. Wenn man allerdings nach einer Kultur und Lebensform sucht, die Nietzsche selbst attraktiv scheint und deren Verschwinden er bedauert, so ist dies sicherlich nicht die des dogmatischen Christentums, sondern die der antiken Griechen.  

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desperaten Fortschritts) impliziert, dass es sich bei der Abkehr von alten Weltbetrachtungen und Kulturen um einen verfehlten, da „desperaten Fortschritt“ handelt, demgegenüber eine Rückkehr zum Alten erstrebenswert, aber unmöglich scheint: „Ueberdiess k ö n n e n wir in’s Alte nicht zurück, wir h a b e n die Schiffe verbrannt“.81 In FW 124 hatten das sprechende Ich und seine Gefährten dagegen nicht die „Schiffe verbrannt“, sondern „die Brücke […] mehr noch – […] das Land“ hinter sich „abgebrochen“: Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh’ dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da, wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stösst! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr F r e i h e i t gewesen wäre, – und es giebt kein „Land“ mehr!82

Sowohl in MA I 248 wie auch in FW 124 sind es das sprechende Ich und seine Gefährten, die sich selbst die Rückkehr unmöglich gemacht haben. Ein zentraler Unterschied zwischen der Metaphorik beider Abschnitte besteht darin, dass das sprechende Ich und seine Gefährten sich in FW 124 zu einer ‚unendlichen Fahrt‘ auf dem Meer eingeschifft haben, sodass nicht nur die Rückkehr, sondern das Erreichen von Festland überhaupt unmöglich geworden zu sein scheint. Das personifizierte „Schifflein“ scheint dabei angesichts der bislang ruhigen Fahrt nicht die Stunden vorauszusehen, „wo du [Schifflein] erkennen wirst, dass er [der Ozean] unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit“.83 Diese Unendlichkeit wird durch den Folgesatz mit der Freiheit assoziiert, die offenkundig nicht das ist, was sie zunächst zu sein schien, da der Vogel „nun an die Wände dieses Käfigs“ „Unendlichkeit“ stößt, wenn er die Unendlichkeit des Ozeans und die Furchtbarkeit dieser Unendlichkeit erkennt.84 Das Bild ist freilich paradox, da die Unendlichkeit ihrem Begriff nach gerade das sein müsste, was keine Grenzen kennt und an dessen Wände man demnach auch nicht stoßen kann. Jedenfalls scheint das Freiheitsgefühl desjenigen, der sich auf dem unendlichen Meer befindet und in jede beliebige Richtung steuern kann, ohne auf eine Grenze zu stoßen, ein trügerisches Gefühl zu sein. Es ist allerdings nicht deswegen trügerisch, weil der Vogel in Wahrheit nicht frei wäre, sondern weil diese 81 82 83 84

MA I 248, KSA 2, 206, 12 u. 24 f. FW 124, KSA 3, 480. FW 124, KSA 3, 480, 12 u. 15 f. FW 124, KSA 3, 480, 16–18.  



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Bewertung der neu gewonnenen Freiheit umzuschlagen droht, sobald ihn das „Land-Heimweh […] befällt“, weil „es […] kein ‚Land‘ mehr“ gibt. Um zu verstehen, was in FW 124 mit „Freiheit“ und „Unendlichkeit“ gemeint ist, lässt sich aufgrund der Überleitungsrolle von FW 124 zum Motiv des Gottestodes in FW 125 sowie der metaphorischen Nähe zu FW 343, in dem das Motiv ebenfalls eine zentrale Rolle spielt, die Frage stellen, wie die Freiheit und der ‚Tod Gottes‘ zusammenhängen. Mögliche Antworten auf diese Frage wurden im vorangegangenen Kapitel bereits skizziert. Die Befreiung, die, je nach Perspektive, gleichzeitig auch eine Beraubung darstellt, besteht primär in einer Auflösung moralischer Werte und Normen sowie religiöser Sinnstiftung und Zwecksetzungen. Der postreligiöse Mensch, der keiner göttlichen Moral mehr Folge zu leisten hat, besitzt unendlich viele Möglichkeiten, auf die hin er sein Leben ausrichten kann. Das bedeutet gleichzeitig aber auch, dass er in fundamentalen lebensweltlichen Entscheidungen auf sich selbst zurückgeworfen ist und es keine absolut legitimierte Instanz mehr gibt, der er seinen Willen unterordnen kann. In FW 347, Die Gläubigen und ihr Bedürfnis nach Glauben, reflektiert das sprechende Ich die existenzielle Funktion des Glaubens an Gott: Der ‚gewöhnliche Mensch‘ habe ein starkes „Verlangen nach Halt, Stütze“,85 nach etwas „,Feste[m]‘, an dem er nicht gerüttelt haben will, weil er sich daran h ä l t “.86 Daher kommt der Verlust des Glaubens an Gott, der bisher einen solchen Halt geboten hatte, der ungeheuren Herausforderung des Menschen gleich, sein eigener Herr zu sein und selbst über Gut und Böse, Richtig und Falsch zu entscheiden. Die rhetorischen Fragen des ‚tollen Menschen‘ in FW 125, was angesichts der ‚Tötung Gottes‘ zu geschehen habe, um den Verlust dieses Sinngaranten zu kompensieren, machen dies unmissverständlich deutlich: „Welche Sühnfeiern, welche heiligen Spiele werden wir erfinden müssen? Ist nicht die Grösse dieser That zu gross für uns? Müssen wir nicht selber zu Göttern werden, um nur ihrer würdig zu erscheinen?“87 In Nach neuen Meeren ist von der Unmöglichkeit einer Rückkehr zwar nicht die Rede, wohl aber in der Erstfassung des Gedichts aus dem Sommer/Herbst 1882, die noch eine dritte Strophe besitzt. Sie lautet wie folgt: Stehen fest wir auf den Füßen! Nimmer können wir zurück. Schau hinaus: von fernher grüßen Uns Ein Tod, Ein Ruhm, Ein Glück!88

85 86 87 88

FW 347, KSA 3, 582, 3 f. FW 347, KSA 3, 581, 21 f. FW 125, KSA 3, 481, 20–23. NL 1882 1[15], KSA 10, 12, 21–24.  



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Dass das Motiv der ‚unmöglichen Rückkehr‘ in Nach neuen Meeren nicht mehr vorkommt, mag damit zusammenhängen, dass ein derartiges Zurückblicken der nachdrücklich betonten Zuversicht des lyrischen Ichs widersprochen hätte. Schließlich will das lyrische Ich gerade nicht mehr zurück zum alten Festland, sondern fährt in der Endfassung „[n]ach neuen Meeren“.

3.4 „Unendlichkeit“ als Chiffre der Ewigen Wiederkunft In den Jahren 1882 und 1884 entstehen insgesamt fünf Vorversionen von Nach neuen Meeren. Augenscheinlich erst im letzten Moment entschließt sich Nietzsche, in der Reinschrift des Textes „Unsterblichkeit“ durch „Unendlichkeit“ zu ersetzen.89 In den ersten beiden Entwürfen, An – – – sowie Columbus novus (beide entstehen in der Zeit von Juli bis August 1882),90 ähneln die Schlussverse der Gedichte noch nicht denjenigen aus Nach neuen Meeren, wo die personifizierte Unendlichkeit eine zentrale Rolle spielt und es heißt: „Nur d e i n Auge – ungeheuer / Blickt mich’s an, Unendlichkeit“. Mit der dritten Version des Gedichts, die zwischen Sommer und Herbst 1882 entsteht und als Widmungs-Epigramm für ein geplantes Sentenzen-Buch mit dem Titel Auf hoher See fungieren sollte, entschließt sich Nietzsche dann erstmalig, die „Ewigkeit“91 im Gedicht auftreten zu lassen. Ebenso heißt es in der vierten Version aus dem Sommer/Herbst 1882 (Auf hohem Meere): „Um uns braust die Ewigkeit“.92 Erst in der fünften und letzten Vorversion aus dem Herbst 1884, Yorick-Columbus, wird die „Ewigkeit“ personifiziert und erscheint als „schönste[s] Ungeheuer“,93 das dem lyrischen Ich zulacht. In Nach neuen Meeren wird das „Ungeheuer“ schließlich zum Adjektiv („ungeheuer / Blickt mich’s an“), das die Stimmung des lyrischen Ichs angesichts des Anblicks der „Unendlichkeit“ charakterisiert, zu der die „Ewigkeit“ jetzt geworden ist. Vor dem Hintergrund des Seefahrtmotivs in FW 343 – ins Ungewisse aufbrechende Philosophen, die Gott und Religion offenkundig hinter sich lassen – irritiert es freilich, dass Nietzsche in den Vorfassungen von Nach neuen Meeren sein lyrisches Ich ausgerechnet nach der „Unsterblichkeit“ bzw. „Ewigkeit“ trachten lässt.94 Da es als ,neuer Kolumbus‘ ebenso wie die Philosophen in FW 343 zu

89 Vgl. KSA 14, 277. 90 NL 1882, 1[101], KSA 10, 34; NL 1882, 1[15], KSA 10, 12. 91 NL 1882, 3[1], KSA 10, 53, 12. 92 NL 1882, 3[4], KSA 10, 108, 11. 93 NL 1884, 28[63], KSA 11, 328, 24 f. 94 Vgl. KSA 14, 277; sowie NL 1882 3[1], KSA 10, 53, 12; NL 1882 3[4], KSA 10, 108, 11; und NL 1884, 28[63], KSA 11, 328, 25.  

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den wagemutigen Erkennenden gehört, scheint die Zielvorstellung eines religiösen oder metaphysischen Jenseits, an das „Unsterblichkeit“, „Unendlichkeit“ und „Ewigkeit“ denken lassen, rückwärtsgewandt und keineswegs wagemutig, ja dem Impetus der Abenteurertums geradezu entgegengesetzt zu sein. Die Irritation lässt sich ein Stück weit auflösen, wenn man die „Unendlichkeit“ bzw. „Ewigkeit“ nicht mit religiösen Jenseitsvorstellungen assoziiert, sondern mit Nietzsches Gedanken der Ewigen Wiederkunft. Für eine derartige Lesart spräche auch Nietzsches Verwendung der Chiffre des „Mittag[s]“,95 die, wie u. a. ein Werktitelentwurf aus dem Jahr 1884 zeigt, Nietzsche im Verbund mit der ‚Ewigkeit‘ als Signum der Ewigen Wiederkunft dient: „Mittag und Ewigkeit. Eine Philosophie der ewigen Wiederkunft“.96 Zum anderen spricht für die Identifikation von ‚Ewigkeit‘ mit ‚Ewiger Wiederkunft‘ auch der simple Umstand, dass sich die Rede von einer zeitlichen Unendlichkeit – sofern man sie nicht religiös verstehen will – vor dem Hintergrund von Nietzsches Philosophie anders kaum sinnvoll dechiffrieren lässt. Versteht man den Gedanken der Ewigen Wiederkunft als Gedankenexperiment und nicht als metaphysische Existenzbehauptung, so lässt sich auch einer zeitlich verstandenen Unendlichkeit in Nach neuen Meeren ein plausibler Sinn abgewinnen. Tatsächlich tritt der Gedanke der Ewigen Wiederkunft in der Fröhlichen Wissenschaft nicht als metaphysische Behauptung, sondern in der konditionalen Form einer Hypothese auf. Im vorletzten Abschnitt des vierten Buchs, das in der Erstausgabe von 1882 den Schluss des Werks markierte, leitet der Gedanke der Ewigen Wiederkunft in Kombination mit dem letzten Text (FW 342), der dem Beginn des Zarathustra beinahe aufs Wort gleicht, zum ersten Band des Zarathustra über:  

Wie, wenn dir eines Tages oder Nachts, ein Dämon in deine einsamste Einsamkeit nachschliche und dir sagte: „Dieses Leben, wie du es jetzt lebst und gelebt hast, wirst du noch einmal und noch unzählige Male leben müssen; […] Die ewige Sanduhr des Daseins wird immer wieder umgedreht – und du mit ihr, Stäubchen vom Staube!“97

Riedel versteht den Wiederkunftsgedanken, den er in FW 374 (Unser neues Unendliches) auf fragwürdige Weise hineinliest, als das „Versprechen einer ‚neuen Unendlichkeit‘“.98 Diese Lesart, die den Wiederkunftsgedanken zu einem trösten-

95 FW Anhang, KSA 3, 649, 7. 96 NL 1884, 26[465], KSA 11, 274, 7. 97 FW 341, KSA 3, 570, 8–19. 98 Es folgt ein Kommentar zu Riedels Interpretation von FW 374: Ich zitiere zunächst die Aussage des sprechenden Ichs in FW 374, das denke, wir seien heute zumindest „ferne von der lächerlichen Unbescheidenheit, von unsrer [der menschlichen] Ecke aus zu dekretieren, dass man nur von dieser Ecke aus Perspektiven haben d ü r f e . Die Welt ist uns vielmehr noch einmal ‚unend-

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den Ersatz für unglaubwürdig gewordene Jenseitshoffnungen des Christentums macht, trägt allerdings nicht der metaphysischen Zurückhaltung Rechnung, mit der der Wiederkunftsgedanke als ein Gedankenexperiment eingeführt wird, in dessen Fokus die lebensweltlichen Konsequenzen des Gedankens stehen und nicht die Wahrscheinlichkeit seiner Wahrheit. Eine andere Interpretationsmöglichkeit, die den Entdeckertopos und den Gedanken der Ewigen Wiederkunft zusammenführt, bestünde darin, das lyrische Ich als geistigen Entdecker und Abenteurer zu verstehen, der den gefährlichsten aller Gedanken (wieder)entdeckt99 und zu denken wagt: den Gedanken der Ewigen Wiederkunft, den das

lich‘ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t “ (FW 374, KSA 3, 627, 4–9). Im Folgenden zitiere ich Riedels Interpretation dieser Passage, die an deren Zitation anschließt, und kommentiere sie (in eckigen Klammern): „Auch der Wiederkunftsgedanke, das will Nietzsche sagen, bleibt ‚unsere‘ Perspektive, an ‚unseren‘ irdischen Standort gebunden und ist doch zugleich eine Fernsicht der Zeit. [Ob Nietzsche das tatsächlich mit einem Text sagen will, in dem vom Wiederkunftsgedanken gar nicht (auch nicht indirekt) die Rede ist, mag dahingestellt bleiben.] Und diese Sicht [die Ewige Wiederkunft als ‚Fernsicht‘] engt ‚unseren‘ Blick nicht ein, sondern berichtigt und erweitert ihn durch immer andere Gesichtspunkte menschlicher Welterfahrung, die einmal geschichtlich wirken und folglich auch möglich gewesen sind und für die Zukunft weitere Interpretationen erlauben. [Das mag sein – darum geht es in FW 343 aber nicht, da nicht eine menschliche Interpretation der Welt mit anderen (vergangenen und daher wieder möglichen) menschlichen Interpretationen kontrastiert, sondern viel allgemeiner die menschliche Interpretation der Welt mit nicht-menschlichen Interpretationen theoretisch existenter „Wesen“ verglichen wird.] Darum ‚dürfen‘ wir den Wiederkunftsgedanken als Versprechen einer ‚neuen Unendlichkeit‘ auffassen“. Diese Schlussfolgerung, die auf einer verfehlten Lektüre und damit auf falschen Voraussetzungen beruht, ist nicht nur falsch, sondern fußt überdies auch auf einer irreführenden Zitation: Als Grund dafür, dass „[d]ie Welt […] uns vielmehr noch einmal ,unendlich‘ geworden“ ist, wird vom sprechenden Ich in FW 343 explizit angegeben, dass „wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass sie u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t “ (FW 343, KSA 3, 627, 6–9). Aus dieser Unendlichkeit an Interpretationen ein „Versprechen einer neuen ,Unendlichkeit‘“ (Riedel, Freilichtgedanken, S. 244) als zeitlicher Unendlichkeit herauszulesen, ist nicht nur unplausibel; durch die falsche Zitation bzw. kollagenhaft verfahrende Neu-Zusammensetzung des „dürfe“ und der „,neuen Unendlichkeit‘“ (das Wort ,Unendlichkeit‘ kommt in FW 343 gar nicht vor, das ‚dürfen‘ wird, wie oben ersichtlich, in gänzlich anderer Weise verwendet) verfälscht Riedel den Originaltext in fragwürdiger Weise. 99 Nietzsche selbst meinte, den Wiederkunftsgedanken bereits in der griechischen Antike wiederzufinden: „I c h h a b e d a s G r i e c h e n t h u m e n t d e c k t : sie glaubten an die e w i g e W i e d e r k u n f t ! D a s i s t d e r M y s t e r i e n - G l a u b e !“ (NL 1883, 8[15], KSA 10, 340, 3–5). Die NietzscheForschung verweist überdies auf verschiedene gedankliche Vorläufer des Wiederkunftsgedankens. Daher muss, sofern man angesichts des Wiederkunftsgedankens überhaupt von einer ‚Entdeckung‘ Nietzsches sprechen will, wenn überhaupt von eine Wieder-Entdeckung die Rede sein. Vgl. dazu Lütkehaus, „Die indische Circe, das Nichts“.

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sprechende Ich in FW 341 als das „g r ö s s t e S c h w e r g e w i c h t “100 bezeichnet und der im Zarathustra zum konzeptionellen Dreh- und Angelpunkt werden wird.

3.5 Die Unendlichkeit möglicher Welt-Interpretationen (FW 374) Ein weiterer Abschnitt neben M 575 und FW 124, in dem die Unendlichkeit eine wesentliche Rolle spielt, ist FW 374: Unser neues „Unendliches“. Das sprechende Ich argumentiert in FW 374 dafür, dass die Verabsolutierung einer Perspektive auf die Welt – im Fall des Menschen wäre das die Verabsolutierung der eigenen, menschlichen Perspektive,101 die auf der spezifischen Beschaffenheit des menschlichen Wahrnehmungsapparats und Intellekts beruht – einer „lächerlichen Unbescheidenheit“ gleichkomme: Wir können nicht um unsre Ecke sehn: es ist eine hoffnungslose Neugierde, wissen zu wollen, was es noch für andre Arten Intellekt und Perspektive geben k ö n n t e : zum Beispiel, ob irgend welche Wesen die Zeit zurück oder abwechselnd vorwärts und rückwärts empfinden können (womit eine andre Richtung des Lebens und ein andrer Begriff von Ursache und Wirkung gegeben wäre).102

„Wir können nicht um unsre Ecke sehn“ heißt so viel wie: Wir können unsere Ecke, von der aus wir die Welt in den Blick nehmen, nicht verlassen, um zu sehen, wie die Welt von einer anderen Ecke aussieht – zum Beispiel aus der Ecke von Wesen, die eine gänzlich andere Zeiterfahrung als wir besitzen. Gäbe es Wesen, deren Zeiterfahrung sich von der des Menschen derart fundamental unterscheidet, wie es das sprechende Ich gedankenexperimentell beschreibt, hätte dies für jene Wesen auch eine ganz andere Begriffsbildung zur Folge. Ihre Begriffe von Ursache und Wirkung, mithin das gesamte Kausalitätsverständnis wäre somit ein ganz anderes als das des Menschen. Da das sprechende Ich die Zeit nicht als eine objektive Größe versteht, fällt auch der Maßstab weg, anhand dessen sich entscheiden ließe, ob der Mensch oder andere möglicherweise existierende Wesen die als zeitlich erfahrenen Vorgänge in der Welt so wahrnehmen, wie sie ,wirk-

100 FW 341, KSA 3, 570, 8. 101 Damit ist freilich nicht gesagt, dass der Mensch nur eine Perspektive auf ein bestimmtes Phänomen einnehmen könne. Er kann Phänomene auf unterschiedliche Weise beschreiben – bspw. auf literarische, naturwissenschaftliche, soziologische etc. –, aber bei all diesen Beschreibungen ist er doch an seinen spezifisch menschlichen Erkenntnisapparat gebunden, der eine bestimmte Raum- und Zeiterfahrung bedingt. 102 FW 374, KSA 3, 626, 28–627, 4.

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lich‘ sind. Ein Wesen, das die Zeit vor- und zurückempfinden könnte, würde die Welt nicht ‚richtiger‘ wahrnehmen als der Mensch, sondern lediglich anders. Derartige, von der menschlichen Perspektive differierende Perspektiven lassen sich vielleicht bis zu einem gewissen Grad in Worte fassen, aber ob es sie tatsächlich gibt und wie die Welt aussähe, wenn man ein solches Wesen wäre, bleibt dem Menschen notwendigerweise unbekannt. Das sprechende Ich schlussfolgert aus dieser Überlegung, dass es sein könne, dass die Welt „u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t “ – jedenfalls lasse sich diese Möglichkeit „nicht abweisen“:103 Die Welt ist uns vielmehr noch einmal „unendlich“ geworden: insofern wir die Möglichkeit nicht abweisen können, dass s i e u n e n d l i c h e I n t e r p r e t a t i o n e n i n s i c h s c h l i e s s t . Noch einmal fasst uns der grosse Schauder – aber wer hätte wohl Lust, d i e s e s Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen? Und etwa d a s Unbekannte fürderhin als‚ „d e n Unbekannten“ anzubeten?104

Die Alternative zu einer solchen Weltsicht wäre offenkundig, dass die Welt endlich viele Interpretationen in sich schließt, die Anzahl der möglichen Arten, die Welt zu interpretieren also grundsätzlich begrenzt ist. Damit wird gegen die Unendlichkeits-Hypothese nicht nur die These ausgespielt, dass es eine privilegierte Weltinterpretation gäbe, sondern auch die These, dass sich zwischen den unterschiedlichen Weltinterpretationen eine abschließende (Rang-)Ordnung herstellen lasse. Sind unendlich viele Interpretationen möglich, wäre jeder Versuch, eine abschließende Ordnung bzw. Hierarchie zwischen den unterschiedlichen Weltinterpretationen herzustellen, immer nur vorläufig und überhaupt nur durch einen Ausschluss potentieller anderer Interpretationen möglich. Der Begriff „Interpretation“ verdeutlicht dabei die Abhängigkeit der Erkenntnis vom Erkennenden, mit anderen Worten: den „perspektivische[n] Charakter des Daseins“,105 d. h. die Standortabhängigkeit jeder Erkenntnis. Die Position des sprechenden Ichs steht damit bis zu einem gewissen Grad in der Tradition Kants, der sich in der Kritik der reinen Vernunft darzulegen bemüht, dass die Welt dem Subjekt nicht objektiv bzw. „an sich“ gegeben ist, sondern durch dessen Erkenntnisapparat (mit)konstituiert wird. Allerdings unterscheidet sich die Position des sprechenden Ichs von derjenigen Kants schon durch den Verzicht auf metaphysikverdächtige Begriffe wie ‚Subjekt‘ oder ‚Vernunft‘ stark.106 Derartig abstrakte 103 FW 374, KSA 3, 627, 7–9. 104 FW 374, KSA 3, 627, 6–13. 105 FW 374, KSA 3, 627, 14 u. 626, 20. 106 Vgl. dazu Stegmaier, Werner, Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des. V. Buchs der „Fröhlichen Wissenschaft“, Berlin / Boston 2012, S. 413.

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Begriffe setzen eine Statik voraus, die Nietzsches Denken generell fremd ist. Nicht ein transzendentales Subjekt interpretiert die Welt mittels unveränderlicher Erkenntniskategorien, sondern ein konkreter Mensch, der mit seinem Erkenntnisapparat als Produkt einer evolutionären und kulturellen Entwicklung alles andere als statisch ist. Die potentielle Unendlichkeit möglicher Weltinterpretationen setzt daher nicht einmal die mögliche Existenz fremder „Wesen“107 voraus; es reicht schon, sich vorzustellen, das sich auf lange Sicht gesehen der menschliche Erkenntnisapparat auf Grund kontingenter Umwelteinflüsse in ganz verschiedene Richtungen entwickeln könnte und jede dieser Entwicklungen potentiell andere Weltinterpretationen zur Folge hätte. Die Position des sprechenden Ichs unterscheidet sich neben dem Verzicht auf metaphysikverdächte Begriffe noch in einer zweiten Hinsicht von der Kants: Während Kant den Versuch unternimmt, mithilfe des Erkenntnisapparats die Funktionsweise und die Grenzen eben dieses Erkenntnisapparats zu erkennen, lehnt dass sprechende Ich ein derartiges Unternehmen als hoffnungslos ab: Wie weit der perspektivische Charakter des Daseins reicht oder gar ob es irgend einen andren Charakter noch hat, […] das kann, wie billig, auch durch die fleissigste und peinlichgewissenhafteste Analysis und Selbstprüfung des Intellekts nicht ausgemacht werden: da der menschliche Intellekt bei dieser Analysis nicht umhin kann, sich selbst unter seinen perspektivischen Formen zu sehn und n u r in ihnen zu sehn.108

Worin eine Alternative zum perspektivischen Charakter des Daseins und zur perspektivischen Welterkenntnis des Menschen bestehen könnte, wird nicht gesagt. Als kontrastierenden Begriff könnte man dem der ‚Interpretation‘ hypothetisch den Begriff des ‚Urtextes‘ gegenüberstellen. Die Welt als Urtext wäre dann die Welt, wie sie vor aller Interpretation ‚an sich‘ bzw. objektiv gegeben ist. Das Problem einer derartigen Unterscheidung scheint für das sprechende Ich jedoch zu sein, dass sich zwischen ‚Urtext‘ und ‚Interpretation‘ nicht unterscheiden lässt, da die Grenzziehung zwischen beiden aus einer bestimmten Perspektive erfolgen muss und daher selbst bereits eine Interpretation aus einer bestimmten Perspektive ist. Es lässt sich daher mithilfe des Intellekts nicht feststellen, ob eine Eigenschaft einem Gegenstand nur deswegen zukommt, weil der menschliche Erkenntnisapparat auf eine spezifische Weise funktioniert – bspw. Farbwahrnehmungen, die bei unterschiedlichen Lebewesen verschieden sind, ohne dass eine dieser Wahrnehmung richtiger als die andere wäre – oder ob diese Eigenschaft dem

107 FW 374, KSA 3, 626, 32. 108 FW 374, KSA 3, 626, 19–28.

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Gegenstand unabhängig von jeder Interpretation zukommt.109 Anders gesagt: Es lässt sich nicht feststellen, ob eine Weltinterpretation ‚mehr‘ ist, als nur eine Interpretation, weil wir diesem ‚mehr‘ keine sinnvolle Bedeutung geben können. Wir haben keinen Begriff davon, was es hieße, wenn eine Weltwahrnehmung nicht Interpretation wäre. Mit dieser so lapidar vorgetragenen These kratzt das sprechende Ich freilich nur an der Oberfläche erkenntnistheoretischer Diskussionen. Auf derartige Diskussionen will es sich offenkundig gar nicht erst einlassen – eine Abneigung, von der auch eine Notiz Nietzsches aus der Zeit zwischen Herbst 1885 und Frühjahr 1886 zeugt, in der die (behauptete) logische Unmöglichkeit derartiger Vorhaben persifliert wird: Die Prüfung des Erkenntnisvermögens mittels des Erkenntnisvermögens sei „schlimmer noch als ein Streichholz prüfen wollen, bevor man es brauchen will. Es ist das Streichholz, das sich selber prüfen will, ob es brennen wird“.110 Der Gedanke, dass die menschliche Perspektive lediglich eine neben unendlich vielen anderen möglichen Perspektiven sei, hat für das sprechende Ich in FW 374 die Konsequenz, dass sich ein „Ungeheure[s] von unbekannter Welt“111 auftut. Diese „unbekannte[ ] Welt“ ist allerdings keine Welt, die sich der Mensch als Entdecker gänzlich vertraut machen könnte. Die Unbekanntheit der Welt liegt darin, dass diese unendlich viele nicht-einnehmbare Perspektiven beinhalten könnte – das sprechende Ich äußert sich hier wohlgemerkt hypothetisch. Angesichts der Einsicht in die Relativität und Beschränktheit der eigenen Perspektive und des „Ungeheure[n] von unbekannter Welt“, schaudert das sprechende Ich. Die Wortwahl und die unheimliche Stimmung erinnern an das Gedicht Nach neuen Meeren, in dem das lyrische Ich die Unendlichkeit selbst personifiziert: „Nur d e i n Auge, ungeheuer / Blickt mich’s an – Unendlichkeit“. Dass dem in FW 374 sprechenden Ich und seinen Adressaten die Welt „noch einmal unendlich“ geworden ist und „der grosse Schauder“ es „[n]och einmal“112 fasst, suggeriert – wie schon in FW 343, wo dem sprechenden Ich und seinen Brüdern der Horizont endlich „wieder frei“ erscheint und ihre Schiffe „wieder auslaufen“113 dürfen –,

109 Man mag hier geneigt sein, zu widersprechen und darauf pochen, dass sich bspw. das spezifische Gewicht eines Wasserstoffatoms exakt angeben lasse, und dass derart quantifizierbare Daten Objektivität besitzen. Die Frage, worin Objektivität besteht und inwiefern es dem Menschen möglich ist, objektive Erkenntnis zu erlangen, kann hier naturgemäß nicht einmal ansatzweise diskutiert werden. 110 NL 1885/86, 1[113], KSA 12, 37, 13–15. 111 FW 374, KSA 3, 627, 10 f. 112 FW 374, KSA 3, 627, 7–10. 113 FW 343, KSA 3, 574, 20 f.  



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dass es zuvor bereits einmal einen ähnlichen Zustand gegeben haben muss. Die rhetorische Frage, „aber wer hätte wohl Lust, d i e s e s Ungeheure von unbekannter Welt nach alter Weise sofort wieder zu vergöttlichen […] und als ‚d e n Unbekannten‘ anzubeten“,114 gibt einen Hinweis darauf, um was für einen Vorzustand es sich handeln könnte. Die Personifizierung des „Ungeheure[n] von unbekannter Welt“ als „d e n Unbekannten“ legt nahe, dass frühere Menschen die Ungeheuerlichkeit der Unbekanntheit der Welt nicht ausgehalten und das Unbekannte stattdessen personifiziert haben, um es „an[ ]beten“ und damit verfügbar machen zu können. Das ‚neue Unendliche‘, das sich stattdessen dem sprechenden Ich in FW 374 zeigt, bleibt fremd und unverfügbar. Man erinnere sich an die in FW 343 angesprochene veränderte Wahrnehmung derjenigen, die von der Nachricht des Gottestodes bereits gehört haben: Ihnen müsse „unsre alte Welt täglich abendlicher, misstrauischer, fremder, ‚älter‘ scheinen“.115 Vor dem Hintergrund von FW 374 liest sich Nach neuen Meeren als Illustration einer postreligiösen, unheimlichen Unendlichkeitserfahrung, die in engem Zusammenhang mit der zunehmenden Weltentfremdung infolge eines Unglaubwürdig-Werdens der christlichen Religion steht, deren zweifelhaftes Verdienst es war, dem Menschen die unbekannte, ,unmenschliche‘ Welt vertraut und verständlich erscheinen zu lassen. ‚Unendlich‘ ist für das sprechende Ich in FW 374 nicht mehr Gott, sondern nur noch die unverfügbare Fremdheit der Welt. Der Rückblick auf die ganz anderen Deutungen der ‚Unendlichkeit‘, die weiter oben entwickelt wurden, zeigt freilich, dass der Rekurs auf FW 374 nur eine Deutungsmöglichkeit von vielen offenlegt.

4 Fazit Wie der motivgeschichtliche Überblick gezeigt hat, greift Nietzsche mit der ‚unendlichen Fahrt‘ ein Motiv auf, das für die geistige Stimmung des 19. Jahrhunderts symptomatisch ist: Es spiegelt das Gefühl der ,transzendentalen Obdachlosigkeit‘ des modernen Menschen wider, für den die Welterklärungs- und Sinnstiftungsangebote der Religion und Metaphysik keine Glaubwürdigkeit mehr besitzen. Zwar erscheint dem Menschen angesichts der Zerstörung des alten Glaubens die „alte Welt täglich abendlicher, misstrauischer, fremder“,116 doch wird sie ihm damit zugleich auch neuer. Der Mensch, der die Fremdheit der Welt

114 FW 374, KSA 3, 627, 10–13. 115 FW 343, KSA 3, 573, 16 f. 116 FW 343, KSA 3, 573, 16.  

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akzeptiert, ohne ihr den falschen Anschein der Vertrautheit zu geben und sich das Fremde zurecht zu dichten, wird somit wieder zum Entdecker – zu einem Entdecker freilich, der sich durch die radikale Infragestellung der alten Weltbetrachtungen jede Rückkehr unmöglich gemacht hat. Das Abbrechen der Brücken zum alten Festland117 bedeutet demnach nicht nur einen Verlust; neben warnenden und resignativen Tönen finden sich in der Fröhlichen Wissenschaft auch wiederholt Passagen, in denen der gefährliche Aufbruch in’s offene Meer bejaht wird: „[E]ndlich dürfen unsre Schiffe wieder auslaufen, […] u n s e r Meer liegt wieder offen da“, heißt es etwa in FW 343.118 Liest man Nach neuen Meeren vor dem Hintergrund der in diesem Beitrag besprochenen Prosatexte, eröffnet sich eine Vielzahl an semantischen Bezügen, die, wie gezeigt wurde, ganz unterschiedliche Deutungen nahelegen: Ob es sich bei der „Unendlichkeit“ in Nach neuen Meeren um eine zeitliche Unendlichkeit im Sinne der Ewigen Wiederkehr, eine individualisierte Unendlichkeit im Sinne eines unbegrenzten schöpferischen Freiraums des säkularisierten Menschen119 oder um eine Unendlichkeit möglicher Erkenntnisperspektiven auf die Welt handelt, lässt sich nicht zugunsten einer dieser Deutungsoptionen entscheiden. Diese Offenheit mag als Resultat einer Gedichtinterpretation zunächst enttäuschen; doch der Reiz der Gedichte Nietzsches besteht nicht zuletzt gerade darin, dass sie sich nicht in einer bloßen Lyrisierung bestimmter Philosopheme erschöpfen, sondern, wie auch viele seiner Prosatexte, durch eine detailgenaue Lektüre eher noch rätselhafter werden, als sie auf den ersten, oberflächlichen Blick zu sein scheinen. Ein Grund für die Widersprüchlichkeit der unterschiedlichen Haltungen, mit denen die sprechenden Ichs der Texte der ‚unendlichen Fahrt‘ gegenüberstehen, könnte darin liegen, dass die Widersprüchlichkeit der Wechselhaftigkeit der Stimmungen Rechnung trägt, die das neu gewonnene Freiheitsgefühl des Menschen angesichts seines Aufbruchs „[n]ach neuen Meeren“ begleitet. Ich schließe mit FW 124 (Im Horizont des Unendlichen), der diesen schmalen Grat zwischen Freiheitsemphase und Haltlosigkeit auf exemplarische Weise verdeutlicht: Wir haben das Land verlassen und sind zu Schiff gegangen! Wir haben die Brücke hinter uns, – mehr noch, wir haben das Land hinter uns abgebrochen! Nun, Schifflein! sieh’ dich vor! Neben dir liegt der Ocean, es ist wahr, er brüllt nicht immer, und mitunter liegt er da,

117 Vgl. FW 124, KSA 3, 480, 10–12. 118 FW 343, KSA 3, 574, 21–24. 119 Peter Gasser versteht die „Unendlichkeit“ in Nach neuen Meeren als eine „individualisierte Unendlichkeit“, die „im Menschen selber zu entdecken [ist] als schöpferischer Freiraum, in dem das Individuum seine Sinnsetzung in jede Richtung neu erproben kann.“ (Gasser, Peter, „Columbus novus“. Zum rhetorischen Impetus von Nietzsches Philosophie, in: Nietzsche-Studien, Jg. 24, Berlin / New York 1995, S. 137–161, hier S. 144).

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wie Seide und Gold und Träumerei der Güte. Aber es kommen Stunden, wo du erkennen wirst, dass er unendlich ist und dass es nichts Furchtbareres giebt, als Unendlichkeit. Oh des armen Vogels, der sich frei gefühlt hat und nun an die Wände dieses Käfigs stösst! Wehe, wenn das Land-Heimweh dich befällt, als ob dort mehr F r e i h e i t gewesen wäre, – und es giebt kein „Land“ mehr!120

120 FW 124, KSA 3, 480, 9–20.

Thomas Forrer

Philologische Dichtung: Friedrich Nietzsches Lied eines theokritischen Ziegenhirten Abstract: Philological poetry: Friedrich Nietzsche’s Lied eines theokritischen Ziegenhirten. More recently, classical philology’s impact on Nietzsche’s philosophical writing has been frequently explored and emphasized. This does not apply to philology’s impact on Nietzsche’s poetry. Starting from posthumous notes called “Wir Philologen” (according to which philologists are merely able to perpetuate antiquity “als nachschaffende Künstler”), the essay traces relations between philology and lyric in Nietzsche. For instance, Nietzsche’s demand for the study of classics, which is a matter of fondly reviving antiquity while likewise perceiving historical discrepancy, recurs particularly in terms of lyric parodies. Using the example of Lied eines theokritischen Ziegenhirten, the author shows Nietzsche’s references to ancient models (in this case to Theocritus’ third idyll Kōmos) and his lyric adaptation of contents. The poem turns out to be variedly ‘philological’ by creating a montage of literary allusions, subverting the modern notion of perfect antiquity, accentuating the literary nature of idyll genre as opposed to pseudo-native pastoral verse and discussing Christianity’s transmission of ancient texts.

1 Das Begehren nach einer verwobenen Praxis von Wissenschaft und Poesie wird in Nietzsches Schriften verschiedentlich geweckt, am auffälligsten vielleicht anhand von vielversprechenden Chiffren1. Namen wie Petrarca und Boccaccio, vor allem aber Goethe und Leopardi gelangen im Zusammenhang einer vergangenen, für die Moderne ab 1850 kaum mehr nachvollziehbaren philologischen Beschäftigung zur Sprache, die – so Nietzsches wiederholte Andeutung – in ausnehmender Weise mit einer poetischen Tätigkeit einhergeht.2 Wie Karl Pestalozzi an Nietz-

1 Von „Chiffren“ spricht in ähnlichem Zusammenhang: Campioni, Giuliano, „Gaya scienza“ und „gai saber“ in Nietzsches Philosophie, in: Piazzesi, Chiara / Campioni, Giuliano / Wotling, Patrick (Hrsg.), Letture della ‚Gaia scienza‘. Lectures du ‚Gai savoir‘, Pisa 2010, S. 15–37, hier S. 26. 2 Zu Francesco Petrarca und Giovanni Boccaccio siehe: KGW II/3, 347 f.; zu Johann Wolfgang Goethe unter anderem.: UB IV WB 10, KSA 1, 503, 9–26; MA II WS 118, KSA 2, 603, 7–14; NL 1875, 3[70], KSA 8, 34, 26–31; NL 1875, 5[17], KSA 8, 44, 19–24; NL 1875, 5[54], KSA 8, 55, 4–8; NL 1875,  

DOI 10.1515/9783110474374-008

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sches Äußerungen zu Goethe und im Besonderen zum Faust exemplarisch vorgeführt hat, tauchen Namen bei Nietzsche vor allem auch als gedankliche „Orientierungspunkte“, gewissermaßen als „Leuchttürme“, auf.3 Sie legen eine Spur zu vorangegangenen Auseinandersetzungen, die Nietzsche mit den Vorgängern zur „allmählichen Verfertigung der Gedanken“ geführt hat, wobei er die betreffenden Werke oder die Eigenschaften seiner „Gesprächspartner“, mit denen er seine eigenen Überlegungen angestellt hat, oft mit kaum einem Wort erwähnt.4 Ähnlich verhält es sich mit einer zweiten Gruppe von Chiffren, die Nietzsche für eine historisch entlegene Verbindung von Wissenschaft und Poesie anführt. Die Rede ist zum einen von den Renaissance- und „Poeten-Philologen“,5 zum anderen von den provenzalischen Trobadors und der sogenannten gaya scienza, die Anlass für den Buchtitel „Die fröhliche Wissenschaft“ gegeben haben.6 In den Notizen Nietzsches mögen solche Namen und Stichworte der Gedankenstütze dienen, in den ausgeführten Schriften hat die Geräumigkeit dieser Nennungen jedoch durchaus Methode. So bezeichnet Nietzsche Die fröhliche Wissenschaft einmal als seine eigene „geheime Weisheit und gaya scienza“ und erläutert die Esoterik dabei wie folgt: „Wir ‚conserviren‘ Nichts, wir wollen auch in keine Vergangenheit zurück“.7 Solche Distanz gegenüber dem historisch Mo-

5[109], KSA 8, 69, 3–18; NL 1875/76, 14[3], KSA 8, 274, 7–13; KGW II/3, 368 (vgl. auch KGW II/4, 433); zu Giacomo Leopardi: UB IV WB 10, KSA 1, 503, 9–26; NL 1875, 3[23], KSA 8, 22, 1–3; NL 1875, 5[17], KSA 8, 44, 19–24; NL 1875, 5[56], KSA 8, 56, 9–11. – Vgl. Campioni, Giuliano, Der französische Nietzsche, Berlin 2009, S. 174–177. 3 Pestalozzi, Karl, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“. Nietzsche liest Goethe, in: Nietzsche-Studien, Jg. 41, Berlin / Boston 2012, S. 17–42, hier S. 21. 4 Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 22, 24, 29, 38. 5 UB IV WB 10, KSA 1, 503, 19; NL 1875, 3[15], KSA 8, 19, 4; NL 1875, 5[17], KSA 8, 44, 19; NL 1875, 5[107], KSA 8, 68, 29 f.; NL 1875, 5[109], KSA 8, 69, 12; NL 1875/76, 14[3], 274, 11. 6 Vgl. JGB 254, KSA 5, 199, 33–200, 8; JGB 260, KSA 5, 212, 17–23; KGB 293, KSA 5, 236, 14–17; EH FW, KSA 6, 333 f.; NL 1883, 7[44], KSA 10, 257, 15–17; NL 1885, 34[181], KSA 11, 482, 12–14; Brief an Erwin Rohde, Anfang Dezember 1882, KSB 6, Nr. 345, S. 292, Z. 34–36. – Campioni, „Gaya scienza“ und „gai saber“ in Nietzsches Philosophie, macht auf mehrere Quellen aufmerksam, aus denen Nietzsche Kenntnisse über die Troubadour-Tradition, die Gaya scienza und die Kultur des „Provenzalischen“ gewonnen hat, und er weist auf einige Parallelen zwischen den Quellen und Äußerungen Nietzsches hin, welche den Bedeutungsspielraum des „Provenzalischen“ bei Nietzsche jedoch weiterhin offenlassen. – Babich, Babette E., Musik und Wort in der antiken Tragödie und ‚La gaya scienza‘. Nietzsches „Fröhliche“ Wissenschaft, in: Nietzsche-Studien, Jg. 36, Berlin / New York 2007, S. 230–257, hier S. 244, bemerkt: „Wir brauchen mehr als nur eine Wiedererinnerung des provençalischen Charakters und der provençalischen Atmosphäre der Troubadour-Kunst, um Nietzsches Entwurf einer fröhlichen Wissenschaft zu verstehen, auch wenn der Geist von Okzitanien, in Anbetracht eines Elements einer komplexen und ,unfreiwillige[n] Parodie‘ (FW 382), gewiss dabei hilft.“ 7 FW 377, KSA 3, 628, 26 (Hervorhebung TF) u. 629, 6 f.  





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numentalen korrespondiert mit Pestalozzis Befund zu Nietzsches Goethe-Lektüren: Wenn „lesen“ heißt, sich auf einen Autor einlassen, ihn in seiner Eigenart ernst nehmen, ihn aus sich selbst verstehen, sich von ihm verwandeln lassen, gar von ihm lernen, so finden wir davon nichts in Nietzsches Umgang mit Goethe. Er benutzt Goethe vielmehr stets dazu, seine Ideen seinem Lesepublikum wirkungsvoll zu präsentieren […]. Am produktivsten ist sein Verhältnis zu Goethe dann, wenn er mithilfe der Parodie zu neuen eigenen Einsichten und Formulierungen gelangt.8

Allerdings kann Nietzsches Umgang mit den Schriften der anderen auch ein Modell für den Umgang mit Nietzsches eigenen Schriften abgeben. Denn wie die vagen Bezugnahmen und vielsagenden Andeutungen weite Deutungs- und Gedankenspielräume eröffnen, so begünstigen sie wiederum Lektüren, die selbst für den Verfasser dieser Andeutungen kaum absehbar sind. Im „Vorspiel“ der Fröhlichen Wissenschaft hat Nietzsche diese Lektüre-Haltung mit folgenden Reimen bedacht: Vademecum – Vadetecum. Es lockt dich meine Art und Sprach, Du folgest mir, du gehst mir nach? Geh nur dir selber treulich nach: – So folgst du mir – gemach! gemach!9

Das Gedicht problematisiert die Instruktion durch Texte gegenüber der individuellen und einmaligen Lektüre und umschreibt über den Doublebind – ‚geh dir selber nach, so folgst du mir‘ – eine unmögliche Möglichkeit, in deren Zusammenhang auch Nietzsches Rede von seiner eigenen „geheime[n] gaya scienza“ verstanden werden kann. Die historischen Quellen, wie immer man sie angeht, lassen das Geheimnis nicht lüften, und dass Nietzsches Schriften dafür kaum einen Schlüssel an die Hand geben, gehört zu ihrer Anlage: „die Schuld“, schreibt Nietzsche in der Vorrede der Streitschrift Zur Genealogie der Moral, liegt „nicht nothwendig an mir“, die Schrift „ist deutlich genug“. Es mangle hingegen an der „K u n s t “ des Lesens und der Auslegung,10 d. h. nicht nur am Handwerk, sondern auch an einem produktiven Vermögen dazu. ‚Geheim‘ erscheint Nietzsches eigene gaya scienza vor allem unter konventionellen Lektüre-Erwartungen. Das berühmte „W i e d e r k ä u e n …“, das Nietzsche als Mittel zur „Lesbarkeit“ seiner Schriften  

8 Pestalozzi, „Hier ist die Aussicht frei, der Geist erhoben“, S. 41 f. 9 FW Vorspiel 7, KSA 3, 354, 20–24. 10 GM Vorrede 8, KSA 5, 255, 14 f. u. 256, 3.  



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empfiehlt,11 das wiederholte Auslegen und Erwägen, richtet sich demnach weniger gegen den Widerstand der Schriften selbst als gegen die Widerstände der Leserin oder des Lesers. Fern davon, die Lesenden einfach einzuweihen, gewähren die Schriften den Raum zu einer Auseinandersetzung, die sich im Sinne des Vadetecum sowohl an als auch gegenüber der Schrift zu vollziehen hat. Wenn es in der Struktur des Geheimnisses der „gaya scienza“ liegt, ein Lektüre-Begehren zu wecken, das einer Verbindung von Poesie und Wissenschaft in den Schriften nachgehen soll, so ist es dieselbe Struktur, die den Zufall, und das heißt besonders den Einfall (sowie dessen wiederholte Erwägung), begünstigt, da sie verhindert, dass die Distanz zwischen Schrift und Lektüre jemals zur Auflösung gelangt. Auf diese Distanz deuten auch die drei Halbgeviertstriche in dem oben zitierten Vierzeiler hin. Wenn die Aufmerksamkeit im Folgenden dem problematischen Verhältnis von Poesie und Wissenschaft gilt, so soll es daher nicht allein darum gehen, die Rolle der Kunsttätigkeit im Rahmen der Wissenschaft und vor allem im Rahmen der klassischen Philologie anhand von wissenschaftskritischen Überlegungen Nietzsches auseinanderzusetzen – sondern zugleich einem Lektüre-Einfall zu folgen, der Nietzsches eigene Lyrik betrifft. Ähnlich wie die sogenannten „Poeten-Philologen“, die Nietzsche erwähnt, hat er von seiner Jugend an eine große Zahl von Gedichten verfasst,12 und ab 1877 erfolgt Nietzsches lyrisches Schreiben immer wieder parallel zur Arbeit an seinen kulturkritischen und philosophischen Werken.13 Schon in der Geburt der Tragödie fragt Nietzsche, ob die Kunst nicht auch „ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft“ sei.14 Ein solches Verhältnis kann sich einstellen, wenn Kunstwerke den Gegenstand und das „Reflexionsmedium“ zu einer kritischen Beschäftigung abgeben,15 wobei die Kunst auch selbst ein Austragungsmedium entsprechend kritischer Unternehmen bilden kann. Deshalb soll hier Nietzsches Lyrik zu Rate gezogen werden: Wenn Nietzsche mitunter die „Poeten-Philologen“ aufruft, finden wir in seiner lyrischen Produktion auch eine philologische Poesie?

11 GM Vorrede 8, KSA 5, 256, 7 u. 5. 12 Von den gut 740 Gedichten und Versentwürfen Nietzsches, die uns erhalten sind (Zählung des Verfassers), hat er 105 zu Lebzeiten veröffentlicht oder 1889 für die Veröffentlichung noch vorbereitet. Knapp 300 stammen aus der Jugendzeit (1852–67). 13 Vgl. NL 1877, 22[61]–22[135], KSA 8, 389–403. 14 GT 14, KSA 1, 96, 31 f. 15 Vgl. Benjamin, Walter, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, in: Ders., Werke und Nachlaß. Kritische Gesamtausgabe, Bd. 3, hrsg. v. Uwe Steiner, Frankfurt/Main 2008, S. 70.  

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2 In der Fröhlichen Wissenschaft gelangt das Zusammenspiel bzw. das wechselseitige Umspielen von Kunst und Wissenschaft nicht nur am Untertitel („la gaya scienza“) zur Sprache, sondern es wird vor allem an der Anlage des Buches vorgeführt. Nietzsche hat den Untertitel in der zweiten Ausgabe von 1887 hinzugefügt, und dies in Klammern und in Anführungszeichen, was wiederum einen deutlichen Abstand gegenüber der gaya scienza der provenzalischen Trobadors markiert. Diese Umkehr bei gleichzeitiger Distanzierung weist das, was „fröhliche Wissenschaft“ heißen soll, zugleich für unzeitgemäß aus, und entsprechend verhält sich diese Wissenschaft auch zur Zukunft. Die „fröhliche Wissenschaft“, erläutert Nietzsche in der Vorrede zur zweiten Ausgabe knapp, stehe im Zeichen der Genesung, es handle sich um die Wissenschaft eines „neu erwachten Glaubens an ein Morgen und Uebermorgen“, eines „plötzlichen Gefühls und Vorgefühls von Zukunft“.16 Die Rede vom „Vorgefühl“ gibt zu verstehen, dass diese „Wissenschaft“ keine Vision formuliert und keine Instruktionen gibt, vielmehr bereitet sie den Schauplatz einer unerwartbaren Ankunft, im Sinne des griechischen Wortes parousía, das Martin Luther noch mit „Zukunfft“ übersetzte.17 Viele der Darstellungen in der Fröhlichen Wissenschaft folgen dieser Zeitstruktur. Im Aphorismus 125 ruft die Formel „Gott ist todt!“ ein Heer von rhetorischen Fragen auf, die alle zu verstehen geben: „Diess ungeheure Ereigniss ist noch unterwegs und wandert“, seine Ankunft steht aus.18 Ähnliches bei der ‚ewigen Wiederkunft‘; sie gelangt zur Sprache im Rahmen eines Gedankenexperiments („Wie, wenn dir […] ein Dämon […] sagte“), das in die Frage mündet: „hast du einmal einen ungeheuren Augenblick erlebt“, in dem du die Vorstellung, dass „alles unsäglich Kleine und Grosse deines Lebens […] dir wiederkommen“ müsse,

16 FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 3–5. 17 Biblia: Das ist: Die gantze Heilige Schrift / Deudsch / Auffs new zugericht [v.] Martin Luther [1545], Faksimile-Ausgabe, Stuttgart 1967 (s. p.), Mt 24, 27: „Denn gleich wie der Blitz ausgehet vom auffgang / und scheinet bis zum nidergang / Also wird auch sein die Zukunfft [griech. παρουσία] des menschen Sons.“ – Vgl. Wettstein, Jacobus (Hrsg.), Novum Testamentum Graecum [1752], 2 Bde., Graz 1962, Bd. 2, S. 502. 18 FW 125, KSA 3, 481, 15 u. 30 f. – Eine eingehende Lektüre des Aphorismus unternimmt: Thüring, Hubert, Nietzsches Messianismus. Eine Interpretation des ‚Tollen Menschen‘ unter Einbezug von Giorgio Agamben, Pierre Legendre und René Girard, in: Mein, Georg (Hrsg.), Die Zivilisation des Interpreten. Studien zum Werk Pierre Legendres, Wien 2011, S. 315–346. Thüring legt den Abschnitt aus als Umschreibung eines „Ausnahmezustand[s] der Schwebe oder Spannung zwischen dem Moment der Erlösung vom Gewesenen und der Bindung an das Kommende“ (S. 338).  

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bejahen konntest?19 Es gehört zur Anlage von Nietzsches Buch, die Schwelle des Vorgefühls nicht zu übertreten, stattdessen wird ein antinomisches Feld aufgespannt: am einen Pol das „intellectuale Gewissen“, das als „Gewissen hinter [dem] ,Gewissen‘“ kritisch und unnachgiebig nach der Herkunft der letzten Gründe fragt,20 am anderen Pol das Bewusstsein von der unentrinnbaren Welt des Scheins, in welcher die Menschen leben und träumen. Dieses Bewusstsein wiederum gipfelt nach Nietzsche in den schönen Künsten, in der menschlichen Freiheit nämlich, „sich vor sich selber ‚in Scene zu setzen‘“,21 indem man ein Bild von sich und der scheinhaften Welt macht.22 „Fröhliche Wissenschaft“ heißt demnach eine kritische und aufklärerische Wissenschaft, welche die Verhaftung im Schein und die damit einhergehende poetische Freiheit stets mitberücksichtigt. Dafür sprechen die aphoristische Schreibweise sowie Nietzsches nachdrücklicher Gebrauch des rhetorischen Ornatus – und schließlich der Umstand, dass das Buch Gedichte enthält. Bekanntlich beginnt die erste Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1882 mit der Gedicht- und Spruchsammlung „Scherz, List und Rache.“, während in der Ausgabe von 1887 die Lieder des Prinzen Vogelfrei als „Anhang“ hinzukommen. Viele dieser Lieder sind in einem ‚närrischen‘ Ton gehalten, in ihnen macht sich „ein Dichter“, wie es in der Vorrede heißt, „auf eine schwer verzeihliche Weise über alle Dichter lustig“.23 Was also kann es bedeuten, dass Nietzsche die Gedichte unter den Titel einer Wissenschaft, einer „fröhlichen Wissenschaft“ stellt? Hinweise dazu finden sich auch in Nietzsches Auseinandersetzungen mit der Philologie: Zum einen korrespondiert das „intellectuale Gewissen“ – das kritische Prinzip der Fröhlichen Wissenschaft, das auch die „letzten und sichersten Gründe“ angeht24 – mit der historisch-kritischen Methode der klassische Philologie, der einzigen Disziplin, in der Nietzsche „gründliche und methodische Kenntnisse“ besaß.25 Zum andern lassen sich in Nietzsches philologischen Aufzeichnungen Spuren eines „Vorgefühls von Zukunft“ ausmachen. In den Notizen zur geplanten ‚Unzeitgemässen Betrachtung‘ mit dem Titel „Wir Philologen“26 heißt es: „Man glaubt es sei zu Ende mit der Philologie – und ich glaube, sie hat noch nicht

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FW 341, KSA 3, 570, 8–15 u. 21 f. FW 2, KSA 3, 373, 2; und FW 335, KSA 3, 561, 13. FW 78, KSA 3, 434, 6. Vgl. FW 54, KSA 3, 416 f.; und FW 107, KSA 3, 464 f. FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 23 f. FW 2, KSA 3, 373, 15 f. Benne, Christian, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Berlin 2005, S. 1. NL 1875, KSA 8, 14, 1–3.  









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angefangen.“27 Nietzsche notiert diesen Gedanken in seiner Basler Zeit, ein Jahr nachdem er die Vorlesung Encyklopaedie der klass[ischen] Philologie28 zum zweiten Mal gehalten hat. In ihr führt er in die Methode der historischen Textkritik ein, wie er sie sich in seinem Studium bei Friedrich Ritschl angeeignet hatte. Im Zentrum der Vorlesung stehen die Überlieferungskritik und die kritische Auslegung antiker Textzeugnisse. Inwiefern, so ist zu fragen, hat für Nietzsche die Philologie „noch nicht angefangen“? In seiner Monographie Nietzsche und die historisch-kritische Philologie hat Christian Benne nachhaltig dargelegt, dass sich Nietzsche – auch nach der Basler Professur – von der historisch-kritischen Methode nicht abgewandt habe. Die Philologie kehrt unter dem Stichwort der „Genealogie“ als historische Kulturkritik in seinen Schriften wieder. „In der Studenten- und frühen Professorenzeit“, schreibt Benne, widmet Nietzsche „seine Kraft [den] Texten (und Kunstwerken) aller Art. Die dabei erworbenen methodischen Grundsätze überträgt er im Anschluss daran auf das Gebiet, das ihn für die nächsten Jahre am meisten beschäftigen soll, auf historische und kulturphilosophische sowie moralische Phänomene.“29 Nietzsches Notizen zu „Wir Philologen“ enthalten indes auch deutliche Invektiven gegen die Philologie seiner Zeit, was die Nietzsche-Rezeption lange dazu veranlasst hat, Nietzsches philologische Arbeiten gegenüber dem philosophischen und kulturkritischen Werk zu vernachlässigen, wie Benne bemerkt.30 Dass Nietzsche dabei die Verbeamtung der Philologen und ihre pädagogisch motivierte Idealisierung der Antike angreift, lege vielmehr ein „Residuum“ frei, das „die Philologie überhaupt erst als Wissenschaft legitimiert“.31 Im Nachlass zu „Wir Philologen“ geht es also um mehr als um die Wiederherstellung einer inzwischen verkommenen Disziplin. Wiederholt kreisen die Notate um den grundlegenden Widerspruch zwischen kritischer Tätigkeit und künstlerischem Schaffen. Wenn Nietzsche dazu ansetzt, das Bildungsideal der klassischen Philologie niederzureißen, so konfrontiert er dabei das Humanisti-

27 NL 1875, 3[70], KSA 8, 34, 26 f. 28 KGW II/3, 339–437. 29 Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, Kap. 3, hier S. 129 f. – siehe auch: Ders., Methodische Aspekte der Philologie im Denken Nietzsches, in: Knoche, Michael / Ulbricht, Justus H. / Weber, Jürgen (Hrsg.), Zur unterirdischen Wirkung von Dynamit. Vom Umgang Nietzsches mit Büchern zum Umgang mit Nietzsches Büchern, Wiesbaden 2006, S. 15–33. 30 Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, S. 22. 31 Benne, Nietzsche und die historisch-kritische Philologie, S. 23. – Vgl. Nebrig, Alexander, Nietzsches Dichterbild und die Wiederbelebung des Dithyrambus durch die Philologie, in: Ders. / Dehrmann, Mark Georg (Hrsg.), Poeta philologus. Ein Schwellenfigur im 19. Jahrhundert, Bern 2010, S. 219–242, hier S. 225 f.  





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sche mit dem Menschlichen,32 und dieses assoziiert er wiederum mit der unabwendbaren Freiheit zu schöpfen und zu schaffen.33 Und so notiert er: „[N]ur als Schaffende [werden wir] etwas von den Griechen haben können. Worin aber wären die Philologen Schaffende!“34 Daher weist er in der Basler Vorlesung die angehenden Philologen dazu an, nicht nur „Stellen“ zu exzerpieren, sondern vor allem auch „E i n f ä l l e “ zu notieren,35 und er warnt die Studenten vor allzu viel Lektüre. Es sei „das sicherste Mittel, um keine eigenen Gedanken zu haben, in jeder freien Minute ein Buch in die Hand zu nehmen“.36 Es gehöre zwar zur Philologie, „sich in’s Alterthum liebevoll hineinzuleben“, doch ebenso gelte es, die „Differenz“ zu empfinden, und es sei das „Wichtigste […] (u. das Schwerste)“ des philologischen Geschäfts, genau diese Spannung aufrechtzuerhalten. Nietzsche verlangt von den Studenten nicht weniger, als dass sie ‚moderne Menschen‘ werden,37 welche die „Antinomie der Philologie“ – wie er die Spannung in „Wir Philologen“ auch nennt38 – produktiv zu machen vermögen. Entsprechend ist Philologie nicht allein als textkritische, sondern explizit als historisch-kritische Wissenschaft zu betreiben. Dahin deutet das philosophische Propädeutikum, das Nietzsche vorschlägt, damit der Philologe „nicht einmal dem Fabrikarbeiter gleicht“ und stattdessen die „Klassicität des Alterthums gegenüber der modernen Welt“ je neu zu beurteilen vermag.39 Die historische Kritik betrifft aber genauso die eigene Zeit,40 wenn Nietzsche in „Wir Philologen“ notiert: „aus dem Erlebten hat man sich das Alterthum erklärt, und aus dem so gewonnenen Alterthum hat man sich das Erlebte t a x i e r t , abgeschätzt. So ist freilich das E r l e b n i s s die unbedingte Voraussetzung für einen Philologen“.41 An anderer Stelle setzt Nietzsche überhaupt die „Einsicht in die moderne Verkehrtheit“ in den Ausgang zur Philologie: „vieles sehr Anstössige im Alterthum erscheint dann als tiefsinnige Nothwendigkeit.“42 Erfolgt die moderne philologische Beschäftigung anlässlich eines zeitgenössischen Erlebnisses, geht sie je schon aus histori-

32 Vgl. NL 1875, 3[12], KSA 8, 17, 19–18, 10; und NL 1875, 5[60], KSA 8, 58, 1–9. 33 Besonders eingehend in dem nachgelassenen Essay von 1873, Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, KSA 1, 873–890. 34 NL 1875, 7[1], KSA 121, 22 f. 35 KWG II/3, 404. 36 KWG II/3, 406. 37 KWG II/3, 368. 38 NL 1875, 3[62], 31, 6 f. 39 KGW II/3, 369 f. 40 Vgl. NL 1875, 7[7], KSA 8, 127, 6–8: „D r e i D i n g e m u ß d e r P h i l o l o g e […] v e r s t e h e n , d a s A l t e r t h u m , d i e G e g e n w a r t , s i c h s e l b s t “. 41 NL 1875, 3[62], KSA 8, 31, 10–13. 42 NL 1875, 3[52], KSA 8, 28, 18–21.  





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scher Differenz hervor, während die Distanz gegenüber der eigenen Zeit im ‚Hineinleben‘ und in der kritischen Auseinandersetzung mit überlieferten Zeugnissen gefördert wird.43 In diesem Sinne wirkt der moderne Philologe als „Selbstdenker“,44 d. h. unzeitgemäß. Es ist vielleicht überraschend, aber vor dem Hintergrund der Geburt der Tragödie durchaus nachvollziehbar, dass Nietzsche den Studierenden auch die „p r a k t i s c h e K u n s t t h ä t i g k e i t “ als Mittel empfiehlt, um ein Empfinden für jene Differenzen zu gewinnen.45 Denn die Kunsttätigkeit, auch die dionysische, um die es in der Tragödienschrift geht, vollzieht sich je schon in der Sphäre des Apollinischen;46 sie übersetzt, analog zum Traum, die Welt des Scheins in eine weitere, scheinhafte Welt und schafft damit eine Distanz zur ersteren. In der Erzeugung von Differenz, wie sie Nietzsche im Polyptoton vom „S c h e i n d e s S c h e i n s “ formuliert, vollzieht sich das schaffende Moment des Künstlers.47 Doch erst mit Einwirkung der bejahenden und ikonoklastischen Gewalt des Dionysischen entspringe der griechischen Kunst ein ‚zeitloses‘ Moment „ausserhalb aller Gesellschaftssphären“,48 das Nietzsche – damals noch metaphysisch – in einer Aufzeichnung auch als künstlerischen „Schein des Seins“ oder als „Wiederspiegelung des ewigen Ur-Einen“ umschreibt und mit der Lyrik des Archilochos und mit der attischen Tragödie verbindet.49 Aber auch der Philologie wohnt eine zersetzende Kraft inne, die nicht für dionysisch, sondern im Gegenteil für aufklärerisch und analytisch gelten kann, wie Nietzsche in seiner Vorlesung an der historisch-kritischen Methodik vorführt. Kunsttätigkeit in der Sphäre der klassischen Philologie hätte dann die intensive Auseinandersetzung mit den Textzeugnissen und dem je vorherrschenden Antike-Verständnis zur Voraussetzung, wobei es der Kunst zukommt, bei aller Hin 

43 Vgl. die „H a u p t g e s i c h t s p u n c t e in Bezug auf spätere Geltung des Alterthums“ (NL 1875, 3 [74], KSA 8, 35, 11 f.), insbesondere Abs. 4 (35, 21–23). 44 KGW II/3, 344. 45 KGW II/3, 368. 46 Siehe GT 5, KSA 1, 43, 33–44, 6, wo es vom dionysisch-musikalischen Lyriker heißt: „Er ist zuerst, als dionysischer Künstler, gänzlich mit dem Ur-Einen, seinem Schmerz und Widerspruch, eins geworden und producirt das Abbild dieses Ur-Einen als Musik […]; jetzt aber wird diese Musik ihm wieder wie in einem g l e i c h n i s s a r t i g e n T r a u m b i l d e , unter der apollinischen Traumeinwirkung sichtbar.“ – Vgl. Die dionysische Weltanschauung 2, KSA 1, 564, 12–16: „die eigentliche Kunst ist das Erschaffenkönnen von Bildern, gleichgültig, ob dies das Vor-schaffen oder Nach-schaffen ist. Auf dieser Eigenschaft – einer allgemein menschlichen – beruht die K u l t u r b e d e u t u n g der Kunst.“ 47 GT 4, KSA 1, 39, 8. 48 GT 8, KSA 1, 61, 27. 49 NL 1870/71, 7[126], KSA 1, 184, 17 f.  



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wendung zur Antike immer auch eine Distanz ihr gegenüber zu erzeugen. In Nietzsches Notizen zu „Wir Philologen“ heißt es: „die Philologen [wollen] die Wirkung des Alterthums verewigen: das können sie nur als n a c h s c h a f f e n d e K ü n s t l e r . Nicht als nachlebende Men〈schen?〉“.50 Die Unterscheidung zwischen ‚nachschaffen‘ und ‚nachleben‘ gibt einen wichtigen Hinweis auf die Rolle der Kunsttätigkeit in der Sphäre klassischer Philologie. Nietzsches Rede vom ‚Nachleben‘ ist im Zusammenhang der pädagogischen Orientierung an einer moralisch verklärten Antike zu verstehen, wie er sie in „Wir Philologen“ kritisiert. Wenn die pädagogisch motivierte Philologie die „Wirkung“ der Antike „verewigen“ will, so hebt sie vereinzelte, klassische Werte über die Zeit und arbeitet an deren Wiederverwirklichung, was Nietzsche bisweilen auch als Versuch zur „Nachahmung“ bezeichnet und mit der „Flucht aus der Wirklichkeit“ verbindet.51 Dagegen bezeichnet ‚nachschaffen‘ eine Praxis, die den entsprechenden Restitutionsbemühungen zuwiderläuft, und gerade sie soll die Wirkung der Antike verlängern. Auch in diesem Zusammenhang verwendet Nietzsche das Wort „Nachahmung“,52 verbindet es jedoch mit jener antinomischen Haltung, die er in der Vorlesung als das „Wichtigste […] (u. das Schwerste)“ bezeichnet, nämlich „sich in’s Alterthum liebevoll hineinzuleben u. die Differenz zu empfinden“. In den Notizen zur Philologie kehrt sie als „M a a ß des Studiums“ wieder, wobei auch hier der Aspekt der Differenz an die Produktion übertragen wird, wenn es heißt: „n u r wa s z u r N a c h a h m u n g r e i z t , w a s mit Liebe ergriffen wird und fortzuzeugen verlangt, soll studirt werden.“53 So wie das Verb ‚nachschaffen‘ eine historische Umkehr mit schöpferischer Tätigkeit verbindet, umschreibt das erotische Vokabular von „Liebe“ und ‚fortzeugen‘ ein produktives Verhältnis, das als Wiederholung bei Wahrung von Differenz begriffen werden kann; das Präfix „fort-“ bedeutet Fortsetzung und Distanzierung im Akt des Erzeugens gleichermaßen. Der Gedanke findet in Platons Symposion einen Vorläufer, in der Rede der Diotima, wo es heißt: Denn die Liebe, o Sokrates, geht gar nicht auf das Schöne, wie du meinst. – Sondern worauf denn? – Auf Erzeugung und Geburt im Schönen. […]

50 NL 1875, 7[2], KSA 1, 122, 3–5. 51 NL 1875, 3[16], KSA 8, 19, 6 u. 8; vgl. NL 1875, 3[40], 25, 22; und NL 1875, 5[15], 43, 23 f. – Zu beachten ist, dass der Gebrauch einzelner Termini in den Notizen zu „Wir Philologen“ je nach Gedankenzusammenhang stark variiert: So wird das ,Nachleben‘ im Notat 5[167] auch als Mittel gegen die disziplinierte Philologie empfohlen: „Man versuche alterthümlich zu leben – man kommt sofort hundert Meilen den Alten näher als mit aller Gelehrsamkeit.“ (NL 1875, 5[167], KSA 8, 89, 8–10). 52 NL 1875, 6[1], KSA 8, 97, 1. 53 NL 1875, 5[171], KSA 8, 89, 26–90, 2.  

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[A]uf diese Weise wird alles Sterbliche erhalten, nicht so, daß es durchaus immer dasselbe wäre, wie das Göttliche, sondern indem das Abgehende und Veraltende ein anderes Neues solches zurückläßt, wie es selbst war. Durch diese Veranstaltung, o Sokrates, sagte sie, hat alles Sterbliche teil an der Unsterblichkeit, der Leib sowohl als alles übrige; das Unsterbliche aber durch eine andere.54

Keine Kontinuität oder göttliche Konstanz, sondern die Wiederholung durch ein „anderes Neues solches“ gewährt den Erhalt des Sterblichen. Das gilt im Symposion auch für die einzelne Erkenntnis. Auch sie ist vergänglich und lebt durch erneutes „Nachsinnen“ (meléte) nur mehr als „Erinnerung“ (mnéme) fort.55 Wenn Platon damit der Serialität das Wort reden lässt, geschieht dies indes vor dem Horizont des Identischen – gleich Scheinendes hat Anteil am gleich Seienden –; Nietzsche hingegen geht es um die Differenz in der Wiederholung des Vergänglichen. Voraussetzung dafür ist die historische Immanenz, wie er sie bekräftigt, wenn er in den Notizen etwa die Idee der „Vorsehung“ verwirft56 oder zur Idee der „n a t u r g e m ä s s e n Entwicklung“ aufschreibt: „Die Kette von einem Genius zum andern ist selten eine gerade Linie“.57 Keine Fortsetzung, sondern ein ‚fruchtbares Ringen‘ zeichnet das Verhältnis des Genies zu den Früheren aus, aber auch das zur eigenen Gegenwart.58 Für diesen Begriff des Genies als eines unzeitgemäßen und in gewissem Sinne auch historisch-kritischen Menschen ruft Nietzsche immer wieder den Namen Goethes auf. Das verleiht der philologisch-künstlerischen Praxis des ‚Nachschaffens‘ oder ‚Fortzeugens‘ ein gewisses Profil. Während bei Platon die zeugende Wiederholung bei aller Differenz im Scheinenden schließlich doch im Zeichen der Versöhnung – das heißt in Analogie zum Unsterblichen – steht, hebt Nietzsche einen agonalen Zug am künstlerischen ‚Fortzeugen‘ hervor: „In d e r Art hat Goethe das Alterthum ergriffen: immer mit wetteifernder Seele.“59 Wenn Goethe

54 Platon, Symposion, in: Ders., Sämtliche Werke, 4 Bde., übersetzt von Friedrich Schleiermacher, auf der Grundlage der Bearbeitung von Walter F. Otto, Ernesto Grassi und Gert Plamböck neu hrsg. von Ursula Wolf, Reinbek bei Hamburg 2000, Bd. 2, S. 37–102, hier S. 81 u. 83 (206e, 208a–b). 55 Platon, Symposion, S. 82 f. (207e–208a). 56 NL 1875, 5[16], KSA 1, 44, 6 f. 57 NL 1875, 5[146], KSA 8, 77, 24 u. 77, 30–78, 1. 58 Vgl. NL 1875, 5[167], KSA 8, 89, 4 f.; außerdem: NL 1875, 5[99], 66, 15 f.: „Es giebt für das Genie keine Vorsehung“. 59 NL 1875, 5[172], KSA 8, 90, 6 f. – Nietzsche adaptiert ein Goethe-Zitat aus dem Notat NL 1875, 3[48], KSA 8, 27, 10 f.: Die Alten seien „die Verzweiflung der Nacheifernden“. Montinari weist darauf hin, dass das Zitat aus Goethes Essay-Beitrag in Winckelmann und sein Jahrhundert (hrsg. von J. W. Goethe, 1805), Abschnitt „Antike“, stammt (vgl. KSA 14, 558).  











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daher als letzter „Philologen-Poet[ ]“ gehandelt wird,60 so zeichnet sich ab, worin die Wirkung des Altertums erhalten werden kann: Gegenüber der disziplinierten Philologie liefern die ‚nachschaffenden‘ Künstler-Philologen eine vage Vorstellung davon, dass in der „Liebe“ bzw. in der agonalen Hinwendung zur Antike ein zeugender Gehalt gefördert werden kann, der ein – im emphatischen Sinne – „anderes Neues solches“ hervorbringen lässt, worin die Antike auch gegenüber der eigenen Zeit je neu und anders wiederkehrt. In der Vorlesung zur Philologie spricht Nietzsche auch von Nachahmung „im großen Stile“.61 Mit der „Differenz“, deren Empfindung Nietzsche in der Vorlesung zum „Wichtigsten“ der Philologie rechnet, ist jedoch nicht nur die historische gemeint. Wenn es von Goethe in „Wir Philologen“ heißt, dass er vom Altertum „gewiß nicht soviel als ein Philologe“ verstand,62 dann bildet die ästhetische Idealisierung der Antike den Hintergrund dafür, während Nietzsche an der zeitgenössischen Philologie die moralische Idealisierung aussetzt.63 Die „kritische Betrachtung“, wie er sie in seinen Notizen umreißt, richtet sich daher besonders auch auf die inhärenten Differenzen des Altertums (die dem zeitgenössischen Verständnis als Widersprüche erscheinen). Dabei dehnt er den Begriff der Philologie weit über die „Conjectural- und litterarhistorische Kritik“ bis hin auf die Kulturkritik aus.64 Ziel sei es, die „U n v e r n u n f t i n d e n m e n s c h l i c h e n D i n g e n a n s L i c h t z u b r i n g e n “,65 bzw. das „S c h l i m m e u n d F a l s c h e “,66 nicht zuletzt um aufzuweisen, „was das Alterthum eigentlich für ein unzeitgemässes Ding“ sei.67 In einer ganzen Reihe von Notaten trägt Nietzsche Einwände gegen die humanisierten Hellenen zusammen: Bei aller Größe und „genial-frohem Temperament“ seien „Eifersucht“, „Neid“68 und „Zwietracht“69 genauso Teil ihrer Kultur wie die „Lust zu fabuliren“,70 die „Lust am R a u s c h e “, an der „U n z ü c h t i g k e i t “71 und

60 NL 1875, 5[17], KSA 8, 44, 19; vgl. auch NL 1875, 5[109], KSA 8, 69, 12. 61 KGW II/3, 369. 62 NL 1875, 5[167], KSA 8, 89, 3 f. 63 Vgl. NL 1875, 3[39], KSA 8, 14, 10–14; NL 1875, 5[31], KSA 8, 48, 16–49, 7; und NL 1875, 5[45], KSA 8, 52, 24–53, 5. 64 NL 1875, 5[19], KSA 8, 45, 6–8. 65 NL 1875, 5[20], KSA 8, 45, 9 f. 66 NL 1875, 5[30], KSA 8, 48, 9 f. 67 NL 1875, 5[55], KSA 8, 55, 26 f. 68 NL 1875, 5[70], KSA 8, 60, 8 u. 14. 69 NL 1875, 5[101], KSA 8, 66, 23. 70 NL 1875, 5[115], KSA 8, 70, 22. 71 NL 1875, 5[146], KSA 8, 78, 32 u. 34.  







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schließlich auch die „Todes- und Höllenangst“.72 Kurzum: „Consequenz“ sei „das Letzte, wozu sich die Griechen verstehen würden“.73 Wenn solch einer historischen Kulturkritik die philologische Textkritik Pate steht, dann wäre der philologische Künstler ein Künstler der Differenz im doppelten Sinne. Indem er die Antike ‚nachschafft‘, lässt er sie nicht nur unter Wahrung von historischer Distanz wiederkehren, er macht dabei auch die Differenzen, welche er als kritischer Philologie anhand der überlieferten Zeugnisse freilegt, für die eigene Zeit fruchtbar: ,Nachgeschaffen‘ wird eine für die Moderne problematische Antike, deren Übersetzung in der Kunst wiederum zu unzeitgemäßen Erzeugnissen führt. In diesem Sinne handelte es sich bei der philologischen um eine hineinlebende, zersetzende und zugleich schaffende Kunst.

3 Tatsächlich kehren die Momente des kritischen Zersetzens und Nachschaffens in Nietzsches eigener Poesie wieder, besonders in den Liedern des Prinzen Vogelfrei. Bei vielen dieser Lieder handelt es sich um Parodien, deren lyrische Vorlagen vor allem Sander L. Gilman und Philip Grundlehner nachgewiesen haben.74 Nietzsches Parodien machen sich jedoch nicht lustig über die Vorlagen, sie vergrößern gewisse Aspekte aus ihnen, erzeugen ein Übermaß, und so geben sie Zeugnis vom analytischen und zersetzenden Hineinleben, wobei sie als eigenständige Erzeugnisse gleichsam Distanz schaffen, aus der sie in Bezug auf die poetischen Vorlagen das Dichten reflektieren.75 Doch inwiefern können sie darin nicht allein als poetologisch,76 sondern auch als philologisch gelten? Da Philologie bei Nietzsche immer auch die klassische Philologie meint, soll hier ein Lied besprochen werden, das mit der Bukolik ein antikes und zugleich neuzeitliches Genre aufgreift. Das Gedicht wurde 1882 in den Idyllen aus Messina gedruckt und erschien 1887 in den Liedern des Prinzen Vogelfrei mit variierter Interpunktion und neuem Titel: 72 NL 1875, 5[126], KSA 8, 73, 16 f. 73 NL 1875, 5[112], KSA 8, 70, 6 f. 74 Gilman, Sander L., Incipit parodia. The function of parody in the lyrical poetry of Friedrich Nietzsche, in: Nietzsche-Studien, Jg. 4, Berlin / New York 1975, S. 52–74. – Ders., Nietzschean Parody. An Introduction to Reading Nietzsche, Bonn 1976. – Grundlehner, Philip, The Poetry of Friedrich Nietzsche, New York / Oxford 1986, S. 147–165. 75 Hierzu: Forrer, Thomas, Rhythmische Parodie. Friedrich Nietzsches Gedicht „Dichters Berufung“, in: Christen, Felix / Forrer, Thomas u. a. (Hrsg.), Der Witz der Philologie. Rhetorik – Poetik – Edition, Frankfurt/Main / Basel 2014, S. 108–122. 76 Vgl. Gilman, Incipit parodia, S. 63, der Nietzsches Parodien aus den Liedern des Prinzen Vogelfrei als „analytic and self-reflexive“ bezeichnet.  





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Lied des Ziegenhirten (An meinen Nachbar Theokrit von Syrakusă.)

Lied eines theokritischen Ziegenhirten.

Da lieg ich, krank im Gedärm – Mich fressen die Wanzen. Und drüben noch Licht und Lärm: Ich hör’s, sie tanzen.

Da lieg’ ich, krank im Gedärm, – Mich fressen die Wanzen. Und drüben noch Licht und Lärm! Ich hör’s, sie tanzen …

Sie wollte um diese Stund’ Zu mir sich schleichen: Ich warte wie ein Hund – Es kommt kein Zeichen!

Sie wollte um diese Stund’ Zu mir sich schleichen. Ich warte wie ein Hund, – Es kommt kein Zeichen.

Das Kreuz, als sie’s versprach! Wie konnte sie lügen? Oder läuft sie Jedem nach, Wie meine Ziegen?

Das Kreuz, als sie’s versprach? Wie konnte sie lügen? – Oder läuft sie Jedem nach, Wie meine Ziegen?

Woher ihr seidner Rock? – Ah, meine Stolze? Es wohnt noch mancher Bock An diesem Holze?

Woher ihr seid’ner Rock? – Ah, meine Stolze? Es wohnt noch mancher Bock An diesem Holze?

Wie kraus und giftig macht Verliebtes Warten! So wächst bei schwüler Nacht Giftpilz im Garten.

– Wie kraus und giftig macht Verliebtes Warten! So wächst bei schwüler Nacht Giftpilz im Garten.

Die Liebe zehrt an mir Gleich sieben Uebeln – Nichts mag ich essen schier, Lebt wohl, ihr Zwiebeln!

Die Liebe zehrt an mir Gleich sieben Uebeln, – Nichts mag ich essen schier. Lebt wohl, ihr Zwiebeln!

Der Mond ging schon in’s Meer, Müd sind alle Sterne, Grau kommt der Tag daher – Ich stürbe gerne.77

Der Mond gieng schon in’s Meer, Müd sind alle Sterne, Grau kommt der Tag daher, – Ich stürbe gerne.78

Das wenig besprochene Lied79 gibt einen Kommentar zur antiken und neuzeitlichen Idyllik. Das lyrische Ich, ein Ziegenhirte, wartet klagend auf seine Geliebte, 77 IM Lied eines Ziegenhirten, KSA 3, 337, 21–338, 24. 78 FW Anhang, KSA 3, 645, 1–29. 79 Die beiden einschlägigen Beiträge stammen aus der amerikanischen Nietzsche-Rezeption: Gilman, Sander L., Nietzsche and the Pastoral Metaphor, in: Comparitive Literature, Jg. 26,

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die ihren nächtlichen Besuch versprochen hat, den Hirten jedoch sitzen lässt, wobei die bukolische Situation durch verschiedene Elemente gestört wird. Der Hirt scheint an einer Darmkrankheit zu leiden; die Rede ist vom „Kreuz“, dem christlichen Symbol schlechthin, und es wächst der „Giftpilz im Garten“. Dabei referiert Nietzsche explizit auf Theokrit, der in der Neuzeit als Vater der idyllischen Literatur verehrt wird. Noch Salomon Gessner schreibt im Prolog zu seinen Idyllen von 1756: „Ich habe den Theocrit immer fyr das beste Muster in dieser Art Gedichte gehalten. Bey ihm findet man die Einfalt der Sitten und der Empfindungen am besten ausgedryckt, und das Lændliche und die schœnste Einfalt der Natur“.80 Nietzsche wiederum bezeichnet Theokrit in der Widmung zur ersten Liedfassung als „Nachbar“, denn er schrieb das Gedicht vermutlich auf Sizilien,81 wo Theokrit nach gewissen Quellen geboren sein soll.82 Aber die Rede vom „Nachbar“ deutet auch auf eine Verwandtschaft. Nietzsche hält den IdyllenDichter für unzeitgemäß, in den Notizen zu „Wir Philologen“ notiert er: „Wer würde […] Theocrit noch zu seiner Zeit für möglich halten, wenn er nicht da wäre?“83 Kann also Nietzsches Gedicht als ‚theokritisch‘ nicht nur im Wortsinn der Gotteskritik gelten,84 sondern als ebenso kritisch und unzeitgemäß, wie Nietzsche die Dichtung Theokrits beurteilt? Nimmt man sich Theokrits 3. Idylle mit dem Titel Kōmos vor, auf die Nietzsches Lied anspielt, so vermisst man zunächst vor allem die schöne Einfalt von Natur und Sitten, die Gessner an seinem antiken Vorbild hervorhebt.85 Im Folgenden ein Auszug der 54 Hexameter in der wortnahen Übersetzung von Emil Staiger:

Durham, NC, 1974, S. 289–298, und: Grimm, Reinhold, Antiquity as Echo and Disguise. Nietzsche’s „Lied eines theokritischen Ziegenhirten“, Heinrich Heine, and the Crucified Dionysos, in: NietzscheStudien, Jg. 14, Berlin / New York 1985, S. 201–249. – Ferner: Müller, Renate G., „Idyllen aus Messina“. Versuch einer Annäherung, in: Nietzscheforschung, Jg. 3, Berlin 1996, S. 77–86, hier S. 80 f. – Einen Zeilenkommentar gibt: Kaufmann, Sebastian, Kommentar zu Nietzsches ‚Idyllen aus Messina‘, in: NK 3/1, 457–543, hier: 517–521. 80 Gessner, Solomon, Idyllen, in: Sämtliche Schriften in drei Bänden [Zürich 1762], hrsg. von Martin Bircher, Zürich 1972, Bd. 2, S. Xf. 81 Zu Entstehungsort und -zeit der acht Gedichte der Idyllen aus Messina vgl. NK 3/1, 480. 82 Gow, Andrew S. F. (Ed.), Theocritus, with a translation and a commentary, 2 Bde., Cambrigde 1950, Bd. 1, Kap. 1: „The Life of Theocritus“, S. XV–XXIX. 83 NL 1875, 5[146], 78, 22 f. 84 Vgl. Liddell, Henry George / Scott, Robert / Jones, Henry Stuart (Hrsg.), A Greek-English Lexicon. With a revised supplement, Oxford 1996, S. 790, wo das Kompositum theókritos unter Verweis auf das Urteil des Paris mit „judge of gods“ übersetzt wird. 85 Zwar bemerkt auch Gessner einmal, dass „einige wenige Ausdryke und Bilder im Theocrit bey so sehr abgeænderten Sitten uns veræchtlich sind“. Gleichwohl gibt er zu verstehen: „dergleichen Umstændgen hab ich zu vermeiden getrachtet.“ – Gessner, Idyllen, S. XV.  



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Thomas Forrer

Das Ständchen [Kōmos] 6 7 8 9 10 11 12 15 16 17 52 53 54

Liebliche Amaryllis! Warum doch guckst du aus deiner Grotte nicht mehr und rufst dein Schätzchen? Bin ich dir widrig? Scheine ich dir stülpnasig, mein Kind, von nahem betrachtet, Mit vorstehendem Kinn? Du schaffst es noch, daß ich mich hänge. Schau, ich bringe dir hier zehn Äpfel. Wo du sie mich pflücken Hießest, pflückte ich sie; und morgen bring ich dir andre. Sieh, wie der Gram das Herz mir verzehrt. […] Eros kenne ich nun. Ein harter Gott! An der Löwin Zitze hat er gesaugt, die Mutter im Wald ihn erzogen, Der mich verbrennt und hinein bis ins Mark der Knochen verwundet. […] Kopfweh hab ich. Dich kümmert es nicht. Ich singe nicht weiter. Lasse mich fallen und liege. Hier werden die Wölfe mich fressen. Werde dir dies so süß wie Honig die Gurgel hinunter!86

Anders als in der Idyllendichtung des 18. Jahrhunderts erzeugt die Natur bei Theokrit Kopfschmerzen, es gibt gefräßige Wölfe, und Eros wird als barùs theós87 aufgerufen, als belastender, schmerzender Gott. Keine harmonische oder moralisch-verklärte Natur wird hier geschildert,88 bei aller Anmut ist sie mit Gewalt durchsetzt. Wenn Nietzsches Hirtengedicht eine ebenso durchwirkte Schäferwelt darstellt,89 bildet dies einen poetischen Kommentar gegen die Idealisierung der antiken Bukolik, wobei bedeutend ist, dass Nietzsches Gedicht der ersten philologischen Tugend folgt; es rekurriert auf die überlieferte Schrift. Und diese antike Schrift (Theokrits Eidýllia, die für die spätere Gattung namensgebend sind), macht zugleich deutlich, dass es sich dabei – um das Begriffspaar aus Friedrich Schillers gleichnamiger Abhandlung aufzugreifen – weder um „naive“ noch um „sentimentalische Dichtung“ handelt. Während naive

86 Theokrit, Die echten Gedichte, deutsch von Emil Staiger, Zürich 1970, S. 74–77. 87 Vgl. Gow, Theocritus, Bd. 1, S. 30. 88 Vgl. Müller, „Idyllen aus Messina“, S. 80. – Siehe z. B.: Gottsched, Johann Christoph, Versuch einer Critischen Dichtkunst für die Deutschen, 2. verbesserte Aufl., Leipzig 1737, S. 439: „Will man nun wissen, worinn das rechte Wesen eines guten Schäfergedichtes besteht: So kann ich kürzlich sagen; in der Nachahmung des unschuldigen, ruhigen und ungekünstelten Schäferlebens, welches vorzeiten in der Welt geführet worden. Poetisch würde ich sagen, es sey eine Abschilderung des güldenen Weltalters; auf christliche Art zu reden, eine Vorstellung des Standes der Unschuld, oder doch wenigstens der patriarchalischen Zeiten vor und nach der Sündfluth. Aus dieser Beschreibung kann ein jeder leicht wahrnehmen, was für ein herrliches Feld zu schönen Beschreibungen eines tugendhaften und glücklichen Lebens sich hier einem Poeten zeiget.“ 89 Vgl. NK 3/1, 517.

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Dichtung nach Schiller aus einem ‚natürlichen‘ Empfinden hervorgeht, handelt die spätere sentimentalische Dichtung vom Verlust ebendieses ‚Natürlichen‘, wie er als Differenz zwischen frühem Leben und der eigenen Kultur empfunden wird.90 Nietzsche hat die Projektion im sentimentalischen Gefühl erkannt, wenn er in der Geburt der Tragödie zur „i d yl l i s c h e n T e n d e n z d e r O p e r “ formuliert: Man „träumt sich in eine Zeit hinein, in der Leidenschaft ausreicht, um Gesänge und Dichtungen zu erzeugen: als ob je der Affect im Stande gewesen sei, etwas Künstlerisches zu schaffen“.91 Naiv in Bezug auf die Kultur- und Kunstgeschichte ist daher gerade das Sentimentalische, mit seinen ideellen, rein apollinischen Projektionen, wie sie Nietzsche auch mit Gessner einmal in Verbindung bringt92 – während Theokrits 3. Idylle verschiedene Differenzen exponiert, nicht zuletzt diejenige zwischen Stadt- und Hirtenleben, ohne Ansatz jedoch zu deren Überwindung. Nietzsches Hirten-Lied ‚schafft‘ solche Differenzen ‚nach‘, unter anderem, indem es den Titel der 3. Idylle auseinandersetzt. Der Titel Kōmos wird gemeinhin mit „Ständchen“ übersetzt und bezeichnet einen Anlass des Gesangs. In seinem Theokrit-Kommentar bemerkt Andrew Gow, dass es sich beim kōmos um einen Umzug handelt, der nach den Symposien abgehalten worden sei. Die Angetrunkenen zogen mit Fackeln und Girlanden durch die Gassen, suchten Freunde auf, oder sie sangen vor verschlossener Tür ihrer Angebeteten das paraklausíthyron, ein Ständchen, um nächtlichen Einlass zu erhalten. Wenn bei Theokrit also ein Hirte das paraklausíthyron singt, wird ein städtischer Brauch ins Bukolische übertragen.93 Derart erzeugt das Gedicht eine komische Situation und artikuliert zugleich eine Differenz in der Dichtung. Denn lächerlich kann der bukolische kōmos nur dem Städter vorkommen, womit deutlich wird, dass Theokrits Idylle die bukolische Welt aus der Außenperspektive beschreibt. Der Titel Kōmos ist demnach poetologisch zu verstehen, er weist darauf hin, dass die vorliegende Dichtung und der bukolische Schauplatz, von dem sie handelt, je schon gegeneinander verschoben sind. Entsprechend präfiguriert Theokrits Idylle die von Schiller so genannte sentimentalische Dichtung, insofern sie sich genau jene Differenz zu eigen macht, die im 18. Jahrhundert noch Gessner, Johann Christoph Gottsched oder Johann Georg Sulzer umtreibt, wenn letzterer in der Allgemeinen Theorie der schönen Künste etwa festhält: „Was wir [heute] Idyllen heißen, sind bloß Nachahmungen jener ursprünglichen Wald-

90 Vgl. Schiller, Friedrich, Über naive und sentimentalische Dichtung, in: Ders., Werke. Nationalausgabe, 42 Bde., Bd. 20, hrsg. v. Benno von Wiese, Weimar 1962, S. 413–503, hier S. 429–432. 91 GT 19, KSA 1, 124, 11 u. 123, 33–124, 2. 92 Vgl. NL 1870/71, 7[126], KSA 7, 183 f.; und NL 1870/71–72, 8[29], KSA 7, 232 f. (Gessner-Verweis 233, 10). 93 Vgl. Gow, Theocritus, Bd. 2, S. 64 (Hinweis bei Grimm, Antiquity as Echo and Disguise, S. 208).  



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gesänge, welche die Natur selbst ihren Kindern eingab. Theokrit hat unter den Griechen diese nachgeahmten Idyllen zu einer großen Vollkommenheit gebracht.“94 Bedenkt man, dass Theokrits Idyllen für die spätere Gattung namensgebend sind, so kann die inhärente Differenz des Kōmos-Gedichts als gattungsprägend gelten. Nietzsches Hirten-Lied reflektiert diese idyllische Differenz sehr genau, vergrößert sie und verpasst ihr eine mediologische Wendung. Die ersten Verse – „Da lieg’ ich, krank im Gedärm, – / Mich fressen die Wanzen.“ – spielen auf die berühmte Katachrese der „Matrazengruft“ an, mit welcher der sterbenskranke Heinrich Heine im Nachwort zum Romanzero das abgedunkelte Lager seines langsamen Dahinscheidens umschrieb.95 Nietzsche verehrte Heine und fühlte sich ihm in Vielem verbunden.96 Für das Hirten-Lied ist vor allem bedeutend, dass das bukolische Ich vom Bild eines modernen, schreibenden Dichters überblendet wird.97 Entsprechend bleibt das Ich bei Nietzsche ans Zimmer gebunden und kann die Geliebte vor Ort nicht besingen; es wird nicht zuletzt durch das Medium der Schrift von ihr fern gehalten. Wenn Nietzsches Gedicht die bukolische kōmos-

94 Sulzer, Johann Georg, Allgemeine Theorie der schönen Künste, Neue vermehrte zweite Aufl., 4 Bde., Leipzig 1792–94, Bd. 2, S. 583. – Ebenso: Gottsched, Versuch einer Critischen Dichtkunst für die Deutschen, S. 438: „Ich will […] nicht behaupten, daß die ältesten Gedichte, die wir haben, Schäfergedichte wären. Nein, was wir vom Theokritus, Bion und Moschus in dieser Art haben, das ist sehr neu. Die allerersten Poesien sind nicht bis auf unsre Zeiten gekommen: Ja sie haben nicht können so lange erhalten werden; weil sie niemals aufgeschrieben worden. […] Daß aber vor Theokrits Zeiten wirklich Schäfergedichte müssen gemacht worden seyn, das kann aus seinen eigenen Idyllen erwiesen werden.“ 95 Heine, Heinrich, Sämtliche Gedichte, Kommentierte Ausgabe, hrsg. v. Bernd Kortländer, Stuttgart 1990, S. 676. 96 Vgl. z. B. EH Warum ich so klug bin 4, KSA 6, 286, 14–24. – Zu Nietzsches Heine-Rezeption u. a.: Reschke, Renate, Wie und warum Friedrich Nietzsche sich Heinrich Heine als Franzosen oder wie er sich Heine als Heine sah, in: Pornschlegel, Clemens / Stingelin, Martin (Hrsg.), Nietzsche und Frankreich, Berlin 2009, S. 63–90; und: Spencer, Hanna, Heine und Nietzsche, in: Heine Jahrbuch, Jg. 11, Hamburg 1972, S. 126–161. 97 Grimm, Antiquity as Echo and Disguise, S. 217–223, liest Nietzsches Hirten-Lied als „un hommage à Heine à la mode de Heine“ und führt zahlreiche Heine-Verse an, in denen entweder die Situation des in der Nacht wartenden Verliebten zur Sprache kommt oder einzelne Wörter ähnlich wie später in Nietzsches Gedicht verwendet werden. Bedeutend ist vor allem Grimms Hinweis auf Heines Gedicht Nr. 60 aus dem Zyklus Die Heimkehr, in dem die kōmos-Situation ebenfalls verkehrt zur Sprache kommt. – Heine, Sämtliche Gedichte, S. 147 f. – Bei Heine wartet das Ich vor dem Haus der feiernden Geliebten: „Du schaust mich nicht, im Dunkeln / Steh ich hier unten allein“ (V. 5 f.), während bei Nietzsche die Rückübersetzung der kōmos-Situation in den urbanen Zusammenhang mit einer topologischen Distanz gegenüber der Geliebten einhergeht, die – wie im Folgenden vorgeschlagen wird – auch mediologisch und gattungshistorisch ausgelegt werden kann.  





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Situation in den städtischen Kontext rücküberträgt und verkehrt, legt es die idyllische Differenz zwischen Stadt und Land zugleich als eine mediale aus. Das schreibende Hirten-Ich befindet sich nun in der stummen Rolle der antiken Geliebten, die die fröhliche Stimmung des Trinkgelages aus der Ferne vernimmt: „drüben noch Licht und Lärm! / Ich hör’s, sie tanzen …“ Die Differenz zwischen Literatur und Gesang hebt auch die fünfte Strophe hervor, die Nietzsche in der Bleistiftaufzeichnung im Quartheft M III 3 (S. 22) von 1882 mit brauner Tinte nachträglich eingesetzt hat.98 Das Gedicht heißt da „Idylle. Vom Ziegenhirten“; die ergänzte Strophe lautet: Wie kraus und giftig macht Verliebtes Warten! So wächst bei schwüler Nacht Giftpilz im Garten.

Auch die Rede vom Garten gibt das Ich als schreibenden Dichter aus, da der Garten einen Topos für die Literatur bildet, wie man ihn etwa in Gessners Idylle Lycas, oder Die Erfindung der Gærten findet. Darin besingt Lycas die Blumen der Hügel, die er nicht nur in seinem Garten versammelt, sondern während des Winters – im Sinne des Ornatus – in seinem „Zimmer“ zu ‚Gedichten ordnet‘.99 In der Idyllen-Literatur des 18. Jahrhunderts ist ein Bewusstsein von der medialen und kulturhistorischen Differenz zwischen verdichteter Schrift und Hirtengesängen durchaus vorhanden.100 Wenn Nietzsches Hirten-Lied diese Differenz verstärkt, so geht es jedoch nicht wie bei Idyllikern des 18. Jahrhunderts darum, an die Uneinholbarkeit der prähistorischen Lautgesänge zu erinnern, vielmehr gibt das Gedicht zu verstehen, dass sich die bukolische Dichtung je schon im Medium der Schrift vollzogen hat. Die Rückübersetzung von Theokrits Kōmos in den städtischen Kontext, die Überblendung des lyrischen Ich mit einem modernen Literaten-Hirten und auch die Rede von dessen „Garten“ akzentuieren – und das gehört zum philologischen Gehalt des Gedichts – die Literarizität dieser Gattung.

98 URL: http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/M-III-3,22. (Stand: 16.07.2017) 99 Gessner, Idyllen, S. 53–56. 100 So auch an den „Zürcher“-Drucken idyllischer Literatur, in denen um 1750, ganz unüblich für die Zeit, deutsche Sprache in lateinischer Type gesetzt worden ist. Der Zürcher Philologe Johann Jacob Bodmer, der sich für deutschsprachige Antiqua-Drucke einsetzte, argumentierte für die historische Unabhängigkeit zwischen Schriftart und Lautsprache. Die Verwendung der Antiqua hebt gerade die mediale Differenz zwischen Idyllen-Druck und der geschilderten, schriftlosen Hirtenwelt hervor. – siehe: Forrer, Thomas, Schauplatz/Landschaft. Orte der Genese von Wissenschaften und Künsten um 1750, Göttingen 2013, S. 421–425.

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Wenn also der „Giftpilz im Garten“ wächst, so kann nicht die Schriftlichkeit Grund dafür sein, sondern die Art, wie in der Schrift gedichtet wird. Anders nämlich als die prähistorischen Hirtengesänge, die nach Gottsched und Sulzer für immer verklungen sind, sind Tanz und Lärm für das dichtende Ich bei Nietzsche hörbar, womit das Gedicht die Ahnung einer anderen – man darf einsetzen: dionysischen – Sphäre gibt. Doch von der Geliebten „kommt kein Zeichen“, wie es in der zweiten Strophe heißt, und so bleibt auch das Dionysische der Dichtung fern, es gelangt zu keiner Übersetzung in ihr. Die Situation des verkehrten und verhinderten kōmos, bzw. paraklausíthyron, überlagert also nicht nur antike und moderne Dichtung, sondern setzt diese gleichsam auseinander, und sie ersetzt die verloren geglaubten Hirtengesänge durch den Verlust des Dionysos. Darin deutet sich zugleich eine problematische Traditionsgeschichte an, die das Gedicht als christliche zu verstehen gibt. An die Fragen in der dritten Strophe: „Das Kreuz, als sie’s versprach? / Wie konnte sie lügen?“, knüpfen die Verse der vierten Strophe an: „Es wohnt noch mancher Bock / An diesem Holze?“ In seiner sexuellen Konnotation spielt das Wort „Bock“ unter anderem auf die dionysische Figur des Satyrs an101 und ferner auf das griechische Wort „Tragödie“, das ursprünglich „Bocksgesang“ bedeutete. Reinhold Grimm hat ausgiebig dafür argumentiert, dass die Verbindung von Bock und Kreuz in dem Gedicht auf das kulturhistorische und philosophische Problem des „gekreuzigten Dionysos“ bei Nietzsche deute.102 Dieser für Nietzsche grundlegenden Antinomie entspreche die Parodie – Grimm referiert dabei auf die Wortbedeutung „Gegen-Gesang“103 – als

101 Kaufmann weist darauf hin, dass mit dem „Bock an diesem Holze“ auch auf den „Holzbock“, eine Zeckenart, angespielt wird (NK 3/1, 519 f.). Die vermuteten Nebenbuhler würden im Gedicht dann nicht nur als „Böcke“, sondern auch als Ungeziefer umschrieben. 102 Grimm, Antiquity as Echo and Disguise, S. 229–249. 103 Das griechische Wort parodía bedeutet auch ,Neben-‘ oder ,Nachgesang‘, was Nietzsche auf die Komposition seiner Bücher wendet, erstmals in Jenseits von Gut und Böse von 1886, das mit dem lyrischen „Nachgesang“ „Aus hohen Bergen“ endet (KSA 5, 241–243). Ebenfalls 1886 fügt Nietzsche der zweiten Ausgabe von Menschliches, Allzumenschliches I das Gedicht „Unter Freunden“ als neuen Schluss hinzu und nennt es „Ein Nachspiel“ (KSA 2, 365 f.). Das „incipit p a r o d i a “ aus dem ersten Teil der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1887 (KSA 3, 346, 31) wiederum deutet auf die als „Anhang“ beigefügten Lieder des Prinzen Vogelfrei. – Die Struktur eines Nach- und auch Gegengesangs gelangt in Nietzsches Werk wohl erstmals in der Geburt der Tragödie zur Sprache, am Traum des verurteilten Sokrates, in dem dieser aufgefordert wird: „Sokrates, treibe Musik!“ (GT 14, KSA 1, 96, 13 f.). Nietzsche kommentiert darauf: „Jenes Wort der sokratischen Traumerscheinung ist das einzige Zeichen einer Bedenklichkeit über die Grenzen der logischen Natur: vielleicht – so musste er sich fragen – ist das mir Nichtverständliche doch nicht auch sofort das Unverständige? Vielleicht giebt es ein Reich der Weisheit, aus dem der Logiker verbannt ist? Vielleicht ist die Kunst sogar ein nothwendiges Correlativum und Supplement der Wissenschaft?“ (GT 14, KSA 1, 96, 26–32).  





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Darstellungsform. „Bock“ und „Kreuz“ lassen aber auch eine Auslegung zu, welche die Philologie betrifft. In den Notizen zu „Wir Philologen“ heißt es: „Freilich ragte im Christenthum gerade auch das Alterthum in unsere Zeit hinein; und wenn es schwindet, schwindet das Verständniss des Alterthums noch mehr.“104 Nietzsche erinnert daran, dass allein das Christentum „das Alterthum conservirt“ habe, und zwar mit einer „ungemeinen Unreinlichkeit und Unklarheit“, wie er an anderer Stelle schreibt.105 Deshalb sei im Untergang der christlichen Religion „die beste Zeit“ gekommen, das Altertum zu erkennen: „uns leitet kein Vorurtheil zu Gunsten des Christenthums mehr, aber wir verstehen es noch und in ihm auch noch das Alterthum“.106 Wenn im Gedicht also vermutet wird, dass „noch mancher Bock / An diesem Holze“ wohne, so gibt sich das hölzerne Kreuz als Symbol für eine Tradition zu verstehen, die den „Bock“ nur insofern überbracht hat, als sie ihn verstellt und kaum mehr als eine Ahnung von ihm vermittelt. Diese Krux äußert sich im Gedicht auch am Fernbleiben der Angebeteten. Das Kreuz, über dem sie ihren nächtlichen Besuch versprochen hat, verbietet das frivole Unternehmen ja gerade. In seiner Kritik der christlichen Tradierung spielt Nietzsches „Idylle“ auch auf ein nachgelassenes Gedicht Goethes an, das dieser 1819 verfasst hatte, unter dem Lektüre-Eindruck eines für die damalige Zeit provokanten religionsgeschichtlichen Werkes mit dem Titel Die Agape oder der geheime Weltbund der Christen. August Kestner, der Verfasser, führt darin die These aus, dass im frühen Christentum Agape nicht nur die christliche Liebe bedeutete und einen frühen Brauch des Liebesmahls, der sich mit dem Abendmahl teilweise berührte,107 sondern dass Agape auch der Name eines „berechneten […] Geheimbundes“ war, der die frühen Christen organisierte, um das Christentum politisch durchzusetzen.108 Goethe dichtet auf Kestners Schrift: Von deinem Liebesmahl Will man nichts wissen; Für einen Christen ist’s Ein böser Bissen.

104 NL 1875, 5[16], KSA 8, 44, 13–15. 105 NL 1875, 3[13], KSA 8, 18, 13 u. 17 f.; vgl. auch NL 1875, 5[29], KSA 8, 48, 1–4. 106 NL 1875, 5[16], KSA 8, 44, 15–18. 107 Vgl. Kasper, Walter (Hrsg.), Lexikon für Theologie und Kirche, 11 Bde., Bd. 1, 3. Aufl., Freiburg/Breisgau 1993, Sp. 220–222. 108 Kestner, Christian August, Die Agape oder der geheime Weltbund der Christen, von Klemens in Rom unter Domitians Regierung gestiftet, Jena 1819, S. 8–12.  

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Denn kaum verläßt der Herr Die Grabestücher, Gleich schreibt ein Schelmenvolk Absurde Bücher. Gewinnen gegen dich Die Philologen, Das hilft uns alles nichts, Wir sind betrogen.109

Die Korrespondenz zwischen den Gedichten Goethes und Nietzsches deutet sich darin an, dass beide dieselbe Strophe aus dreihebigen und zweihebigen Jamben verwenden, wobei Nietzsche die Füße vereinzelt auch mit zwei Senkungen ausgestaltet.110 Und auch Goethes Strophen handeln von der Überlieferung der Antike. Mit dem „Liebesmahl“, der Agape, ist von einem antiken Fest die Rede. Die „absurden Bücher“ deuten auf die Verstellung durch die Tradition, während die Philologen wiederum, sollten sie Kestners Thesen widerlegen, dem tradierten Christentum verpflichtet bleiben. „Wir sind betrogen“, heißt es bei Goethe, und doch nicht ganz: Das Gedicht hinterlässt immerhin die Ahnung einer anderen christlichen Antike – und eine solche Ahnung macht nicht zuletzt auch bei Nietzsche den Wert der philologischen Dichtung gegenüber der Philologie aus. Nietzsches Lied eines theokritischen Ziegenhirten bildet einen Schauplatz der philologischen Auseinandersetzung. Indem es die bukolische Welt mit störenden Elementen durchsetzt, zersetzt es – im Rekurs auf Theokrit – die neuzeitliche Vorstellung einer harmonisch-sittlichen Hirtenwelt. Zweitens hebt das Gedicht durch die Verquickung des Hirten mit dem modernen Dichter Heine und durch die Rückübersetzung der Theokrit’schen kōmos-Situation die Literarizität der bukolischen Dichtung hervor. Nietzsches Gedicht erinnert daran, dass das spätere idyllische Bedauern über den Verlust der vorgeschichtlichen Hirtengesänge schriftgemacht ist und zur Gattung der Idylle gehört. Drittens gibt es die christliche Überlieferung der Antike als eine Geschichte der Verstellung aus, einer Verstellung etwa der vom jüngeren Nietzsche favorisierten Dionysos-Kultur. Die Ahnung von ihr tritt im Gedicht an die Stelle der neuzeitlich-idyllischen Projektionen einer intakten antiken Schäferwelt. Wenn das Gedicht in diesem Sinne als historisch-kritisch gelten kann, worin zeichnet es sich gegenüber der philologischen Kritik aus?

109 Goethe, Johann Wolfgang, Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, 24 Bde., Bd. 2, hrsg. v. Ernst Beutler, Zürich 1953, S. 279. 110 Frank, Horst Joachim, Handbuch der deutschen Strophenformen, München 1980, S. 88.

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Beim Lied eines theokritischen Ziegenhirten handelt sich um ein philologisches Traumgebilde. Statt Tagesresten und Erinnerungsbildern zitiert, entstellt und überlagert es literarische Versatzstücke. Und so ging es hier – analog zu Sigmund Freuds Methode der Traumdeutung111 – nicht darum, das Gedicht als Ganzes zu deuten, sondern es wurden einige Details auseinandergesetzt, mit Blick auf ihre literarische Vorgeschichte. Das Gedicht selbst weist auf seinen Traumcharakter, in der letzten Strophe, welche die einzige Abweichung vom Strophenschema enthält. Der drittletzte Vers ist drei- statt zweihebig. Nietzsche hat die Abweichung im Entwurf von 1882 korrigiert und die Korrektur für den Erstdruck wieder rückgängig gemacht:

Müd? sind alledie Sterne.

Abb. 1: Letzte Strophe des Lieds eines theokritischen Ziegenhirten in M III 3, 23112

Die drei Hebungen korrespondieren mit den enhoplischen Versen eines bekannten, anonymen Vierzeilers, der Sappho zugeschrieben wird.113 Hier eine rhythmische Übertragung der Achtsilber: [Sappho] Der Mond ist hinabgesunken, hinab die Plejaden. Mitte

Nietzsche (7. Strophe) Der Mond gieng schon in’s Meer, Müd sind alle Sterne,

111 Vgl. Freud, Sigmund, Die Traumdeutung, in: Ders., Gesammelte Werke, 19 Bde., Bd. 2/3, hrsg. v. Anna Freud, Frankfurt/Main 1999, S. 100–126. 112 URL: http://www.nietzschesource.org/facsimiles/DFGA/M-III-3,23. (Stand: 16.07.2017) – Vgl. auch das Druckmanuskript zu den Idyllen aus Messina, erstmals faksimiliert wiedergegeben in: NK 3/1, 463. 113 Treu, Max (Hrsg.), Sappho, griechisch und deutsch, 8. Aufl., Zürich 1991, S. 211 f. – Für die Auskunft zur Versstruktur im Griechischen danke ich Michael Pfister.  

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Thomas Forrer

der Nacht und vorbei die Stunde. Ich liege allein im Dunkel.114

Grau kommt der Tag daher, – Ich stürbe gerne.

Während bei Sappho das Ich um die gestirnlose Mitternacht noch wacht, verlegt Nietzsche die Situation in den Tagesanbruch, in den Moment des Erwachens, wo man sich seiner Träume am besten erinnert. Von einem Traum handelt auch Eduard Mörikes Gedicht Das verlassene Mägdlein, das in derselben Strophenform wie Nietzsches Lied gehalten ist. Das titelgebende Mägdlein, welches frühmorgens den Herd entzünden muss, erinnert sich traurig an einen „[t]reulose[n] Knabe[n]“, der ihm im Traum erschien. Das Gedicht endet ebenfalls in den Morgenstunden: „So kommt der Tag heran – / O ging’ er wieder!“115 Dass auch bei Nietzsche das ‚theokritische‘ Ich alles geträumt hat, deutet der Wunsch zu sterben an: Das wie immer geartete Ich soll aus dem Lied verschwinden, und damit bieten sich, analog zum Traum, allein die verdichteten Versatzstücke zur Lektüre an. Mit seinen Verfahren der Anspielung und Überlagerung beschreibt Nietzsches Lied einen gebrochenen, kritischen Zeit-Raum, der insofern für unzeitgemäß gelten kann, als die Elemente sich untereinander bestreiten und keine affirmative Lesart gestatten. Die Antike ist verstellt, die Moderne krankt. Und so erzeugt das Gedicht – in dem Sinne, in dem Nietzsche seinen Studenten die „Kunstthätigkeit“ empfiehlt – in erster Linie Differenz. An die Stelle der lebensbejahenden und zersetzenden Kraft des Dionysos tritt als modernes Pendant die kritische Auseinandersetzung in und mit Literatur. Und darin ist Nietzsches theokritische Idylle ‚fortzeugend‘, indem sie einen kritischen Reflexionsraum schafft, dessen inhärente Spannung nicht nur zu unverhofften Lektüren Anlass gibt, sondern eventuell auch zu anderen Auseinandersetzungen mit dem Altertum. Über die Differenz, die das Gedicht erzeugt, übt es jenen „R e i z d e r U n v o l l k o m m e n h e i t“ aus, den Nietzsche im Aphorismus 79 der Fröhlichen Wissenschaft anhand der Vision eines nicht-visionären Dichters umschreibt, von dem es heißt: Sein Werk spricht niemals ganz aus, was er eigentlich aussprechen möchte, was er g e s e h e n h a b e n m ö c h t e : es scheint, dass er den Vorgeschmack einer Vision gehabt hat, und

114 Hausmann, Manfred (Hrsg.), Das Erwachen. Lieder und Bruchstücke aus der griechischen Frühzeit, Berlin 1949, S. 103 (zit. nach: Grimm, Antiquity as Echo and Disguise, S. 228). – Nietzsche hatte den Vierzeiler 1863 ebenfalls übersetzt: „U m M i t t e r n a c h t // Untergieng die Sonne / Und die Pleiaden; / Mitternacht! / Vorüber gieng die Stunde; / Ich aber schlaf’ allein.“ (NL 1863, 15[7], KGW I/3, 132, 9–14). 115 Mörike, Eduard, Werke und Briefe. Historisch-kritische Gesamtausgabe, 19 Bde., Bd. 1, hrsg. v. Hans-Henrik Krummacher, Stuttgart 2003, S. 72. – Vgl. Grimm, Antiquity as Echo and Disguise, S. 225 f.  

Philologische Dichtung

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niemals sie selber: – aber eine ungeheure Lüsternheit nach dieser Vision ist in seiner Seele zurückgeblieben, und aus ihr nimmt er seine ebenso ungeheure Beredtsamkeit des Verlangens und Heisshungers.116

So gibt das Lied eines theokritischen Ziegenhirten nicht nur einen kritisch-poetischen Kommentar auf die Tradition der Idyllen-Dichtung. Indem es unvollkommen ‚nach-schafft‘, gibt es den „Vorgeschmack einer Vision“ – einer anderen Dichtung und eventuell einer anderen Philologie –, und darin handelt es sich um „fröhliche Wissenschaft“.

116 FW 79, KSA 3, 434, 25–31.

Stavros Patoussis

Philosophie als Tanz: Eine philosophische Lektüre von An den Mistral. Ein Tanzlied Abstract: Philosophy as dance: A philosophical reading of An den Mistral. Ein Tanzlied. Considering the relation between philosophy and poetry, this construal of Nietzsche’s An den Mistral addresses the poem’s references to the philosophical issues of Die Fröhliche Wissenschaft. Nietzsche’s grasp of sciences is pondered based on its connection with arts and, in doing so, the major role of poetic shape is discussed. In particular, the function of rhythm and the motif of dance are central as lyric forms become more important in Nietzsche’s late work. It is shown that An den Mistral constitutes a lyrical self-commentary on Nietzsche as philosopher.

1 Nietzsches „Tanzlied“ An den Mistral1 beschließt die zweite, unter anderem um die Lieder des Prinzen Vogelfrei erweiterte Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft von 1887 und nimmt explizit auf die philosophischen Aspekte des Werkes Bezug. Ziel dieses Beitrags ist es zu zeigen, wie Nietzsche diese Aspekte im Gedicht aufgreift und gleichzeitig weiter entwickelt. Dazu möchte ich Nietzsches auffällig kurzen Rekurs auf die Fröhliche Wissenschaft in Ecce Homo voranstellen, da diese späte Selbstinterpretation den Gehalt des Gedichts exemplarisch zu resümieren beansprucht.2 Die L i e d e r d e s P r i n z e n V o g e l f r e i […] erinnern ganz ausdrücklich an den provenҫalischen Begriff der „gaya scienza“, an jene Einheit von S ä n g e r , R i t t e r und F r e i g e i s t , mit der sich jene wunderbare Frühkultur der Provenҫalen gegen alle zweideutigen Culturen abhebt; das allerletzte Gedicht zumal, „a n d e n M i s t r a l “, ein ausgelassenes Tanzlied, in dem, mit Verlaub! über die Moral hinweggetanzt wird, ist ein vollkommener Provenҫalismus.3

1 FW Anhang, KSA 3, 649–651. 2 Ironischerweise wird dieser Passus aus Ecce homo in den bisherigen Deutungen des Gedichts besonders gern zitiert. Allerdings richtet sich jegliche weitere Arbeit mit dem Gedicht nahezu immer nur an Nietzsches eigener Interpretation aus; detaillierter interpretiert wird es in den seltensten Fällen. 3 EH FW, KSA 6, 333, 24–334, 6.

DOI 10.1515/9783110474374-009

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Es ist erstaunlich, dass Nietzsche in seinem Rückblick ausgerechnet auf dieses Gedicht zu sprechen kommt, wo er doch der ganzen Fröhlichen Wissenschaft nur ungefähr eine Seite widmet. Entscheidend ist für mich die im Nachhinein geleistete Selbstdeutung des Gedichts als Überwindung von Moral und dichotomischer Weltbeschreibung. Freilich hat nicht nur Nietzsche sein eigenes Gedicht gedeutet. Philip Grundlehner ist der erste, der An den Mistral in seiner breit angelegten und sicherlich reduktiven, doch gleichzeitig paradigmatischen Studie The Poetry of Friedrich Nietzsche ein eigenes Kapitel widmet. Grundlehner zählt An den Mistral zu den Gedichten der „Morning Philosophy“.4 Für die „Musik“ dieser Poesie gelte: Whereas the Venetian poem [Mein Glück, SP] expresses happiness found on a venerable city square and stresses the need for control, „An den Mistral“ is constrained by no such limitations. Thus, its music is not the music of the evening, which must be avoided, but rather a morning music that excites and inspires by its dancelike cadence.5

Grundlehner arbeitet treffend heraus, dass die Sturm-Metaphorik des Gedichts und die Entgrenzung des lyrischen Ichs zur Proklamation einer neuen Schaffenskraft führen.6 In Bezug auf die Metapher des Blütenkranzes aus der siebten und letzten Strophe des Gedichts schreibt er: The floral wreath that is carried aloft is a symbol of this will [to power, SP]. It represents a new aesthetic that does not dissolve in emotion but is sustained by continued momentum and further achievement.7

Den Inhalt des Gedichts fasst Grundlehner folgendermaßen zusammen: „An den Mistral“ penetrates beyond this earthly existence to the realm of the stars. Its dynamic of the will, however, is conveyed not so much through its imagery as though through its use of language. […] In its ability to resist the stagnancy of rhetoric and restore the „tempo“ […] that he knew to be inherent in the language it illustrates Zarathustra’s radical redefinition of „Gleichnis“, or „parable“, as itself a dance movement: „Only in the dance do I know how to tell the parable of the highest things“.8

Grundlehner hebt die Bedeutung der Sprache als künstlerisches Mittel und die damit verbundene neue Ästhetik hervor, die in An den Mistral symbolische Darstellung erfährt. Ebenfalls kommen in seiner Interpretation bereits poeseologi-

4 5 6 7 8

Grundlehner, Philip, The Poetry of Friedrich Nietzsche, New York / Oxford 1986, S. 175. Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 175. Vgl. Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 183. Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 183. Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 183.

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sche Aspekte des Gedichts zur Sprache, auch wenn diese nur auf Zarathustras Aussagen über sein Schaffen bezogen werden.9 Rüdiger Ziemann erwähnt An den Mistral in seinem Artikel zu Nietzsches Gedichten im Nietzsche-Handbuch.10 Er stellt vor allem die Bedeutung der Goethe-Referenzen für das Gedicht heraus,11 mit denen die Lieder des Prinzen Vogelfrei beginnen und enden. Ziemanns betont neutral und kurz gehaltener Kommentar lautet: Es sei nun eigentlich alles Gleichnis, und nichts will schwer sein. Die Attacke auf eine christliche Weltsicht kann niemand übersehen. Von da aus erscheint es seltsam, mit wie vielen alten Bildern aus jener Welt das Gedicht arbeitet. Da wird der tradierte Bildzusammenhang zwischen der bewegten Luft und dem spiritus sanctus für den neuen Geist in Anspruch genommen. […] Im Wirbel der Gleichnisse werden die grausamen Unschärfen einiger Textstellen leicht; was da zu Kranken und Krüppeln gesagt wird, dürfen wir dann getrost uneigentlich verstehen, wobei nach Erfahrungen mit einigen Deutungen unseres Zeitalters wenigstens Verunsicherungen bleiben. Daß sich der Sprecher immer wieder selbst überstimmt, wird auch dem weniger achtsamen Leser nicht entgehen.12

Ziemanns Deutung interessiert mich vor allem im Hinblick auf die Wind-Metaphorik. Überdies verdanke ich insbesondere seinem Kommentar zum letzten Gedichtdrittel vieles. Weitere Deutungen des Gedichts stammen von Günter Schulte und Theo Meyer.13 Schultes ,Interpretation‘ besteht neben drei rekapitulierenden Sätzen zum Gehalt des Gedichts aus der zitierten Stelle in Ecce homo und den Ausführungen zu Nietzsches Formel „gai saber“. In dieser Formel sieht Schulte, seiner 9 Grundlehners Studie ist, wie ich bereits angedeutete hatte, in jeder Hinsicht äußerst reduktiv. Sie krankt neben der Gleichsetzung des lyrischen Ichs mit Nietzsche, dem durchgängigen Vergleich mit Mein Glück und der fehlenden Orientierung an den Themen der Fröhlichen Wissenschaft, an stark hervorgehobenen möglichen (!) Parallelen zu Also sprach Zarathustra, die aber nicht auf direkte intertextuelle Verweise bezogen bleiben, sondern spekulativ auf die ‚Lehren Zarathustras‘ verweisen. Vgl. Grundlehner, The Poetry of Friedrich Nietzsche, S. 179 f., 18 f. Vgl. zum paradigmatischen Problem der Identifizierung von Nietzsches Philosophie und den Lehren in Zarathustra: Stegmaier, Werner, Anti-Lehren. Szene und Lehre in Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, in: Gerhardt, Volker (Hrsg.), Friedrich Nietzsche. Also sprach Zarathustra, Berlin 2000, S. 143–167; sowie Zittel, Claus, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, Würzburg 2000. 10 Ziemann, Rüdiger, Die Gedichte [Artikel], in: Ottman, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2000, S. 150–156. 11 Vgl. Ziemann, Die Gedichte, S. 154. 12 Ziemann, Die Gedichte, S. 154. 13 Schulte, Günter, Nietzsches ,Morgenröthe‘ und ,Fröhliche Wissenschaft‘. Text und Interpretation von 50 ausgewählten Aphorismen, Würzburg 2002; und Meyer, Theo, Nietzsche. Kunstauffassung und Lebensbegriff, Tübingen 1991.  



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Grundthese entsprechend, einen vermeintlichen Verweis auf Nietzsches versteckte Homosexualität. Das Gedicht wird stellenweise paraphrasiert, aber nicht analysiert.14 Meyer hingegen geht von einer Analyse des Nietzsche’schen Lebensbegriffs aus und versteht An den Mistral als „hymnische[ ] Lobpreisung des dynamischen Lebens“.15 Dabei stellt Meyer richtig heraus, dass der Tanz das „Schlüsselmotiv“ des Textes sei.16 Jedoch steht bei ihm der Tanz ausschließlich für die „neue zweckfreie Selbstentfaltung des Lebens“.17 Meyer hebt die dynamischen Motive und den Rhythmus des Gedichts hervor und spricht davon, dass sich in ihm Nietzsches „Philosophie der Umwertung des Tanzes und der Heiterkeit“ artikuliere.18 Als Basis für mein Verständnis des Textes möchte ich eine – zugegebenermaßen unvollständige – Poeseologie Nietzsches zugrunde legen, die ich aus mehreren Perspektiven skizziere.19 Einerseits rekurriere ich bezüglich der schöpferischen Potenz von poetischer Sprache und Lyrik auf den Aphorismus 58 der Fröhlichen Wissenschaft. Da Nietzsche die Lieder des Prinzen Vogelfrei an dieses Werk ‚angehängt‘ hat, besteht eine Verbindung auch zu dem genannten Aphorismus, der überdies das zweite Buch eröffnet. In diesem Buch beschäftigt sich Nietzsche besonders mit dem Thema der Kunst. Der betreffende Text bildet eine unentbehrliche Grundlage für die Auseinandersetzung mit Nietzsches ästhetischen Reflexionen:

14 Schultes gesamte Nietzsche-Interpretation ist unzureichend: Er setzt die Sprecher-Ichs mit Nietzsche gleich und ersetzt dabei „den Erkennenden“ bei Nietzsche durch „den Homosexuellen“ – in der Annahme, jener sei eine Maske für diesen. Offenbar versucht er, den Biographismus seines argumentativen Partners Joachim Köhler zu vermeiden, aber trotzdem die These aufrechtzuerhalten, Nietzsche artikuliere in seinen Schriften seine Homosexualität (vgl. Schulte, Nietzsches ‚Morgenröthe‘ und ‚Fröhliche Wissenschaft‘, S. 15–19). 15 Meyer, Nietzsche, S. 424 f. Auch Meyer setzt das lyrische Ich mit Nietzsche gleich. Mit seiner Interpretation geht das aber insofern konform, als er Nietzsche immer schon als dynamisches Textsubjekt interpretiert. Meine im Haupttext noch folgende Kritik an Meyer bezieht sich indes auf ebendiese hermeneutische Einseitigkeit. 16 Meyer, Nietzsche, S. 425. 17 Meyer, Nietzsche, S. 425. 18 Meyer, Nietzsche, S. 425. 19 Zum Poeseologiebegriff, der, mit Bezug auf den altgriechischen Begriff ‚poiesis‘ (‚machen‘/ ‚schaffen‘) , den schöpferischen Aspekt von Kunst selbst gegenüber dem Künstler (und der diesen ins Zentrum rückenden Poetologie) hervorhebt, vgl. Barner, Wilfried, Poetologie? Ein Zwischenruf, in: Scientia Poetica, Jg. 9, Berlin u. a. 2005, S. 389–399, insb. S. 398. Ich nutze den Begriff in der Folge, um mich von Theorien zu distanzieren, die ein starkes Autorsubjekt annehmen, um so die Analyse stärker auf den Text und seine Strategien zu beziehen.  



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N u r a l s S c h a f f e n d e ! – Diess hat mir die grösste Mühe gemacht und macht mir noch immerfort die grösste Mühe: einzusehen, dass unsäglich mehr daran liegt, w i e d i e D i n g e h e i s s e n , als was sie sind. Der Ruf, Name und Anschein, die Geltung, das übliche Maass und Gewicht eines Dinges – im Ursprunge zuallermeist ein Irrthum und eine Willkürlichkeit, den Dingen übergeworfen wie ein Kleid und seinem Wesen und selbst seiner Haut ganz fremd – ist durch den Glauben daran und sein Fortwachsen von Geschlecht zu Geschlecht dem Dinge allmählich gleichsam an- und eingewachsen und zu seinem Leibe selber geworden: der Schein von Anbeginn wird zuletzt fast immer zum Wesen und w i r k t als Wesen! Was wäre das für ein Narr, der da meinte, es genüge, auf diesen Ursprung und diese Nebelhülle des Wahnes hinzuweisen, um die als wesenhaft geltende Welt, die sogenannte „W i r k l i c h k e i t “ , z u v e r n i c h t e n ! Nur als Schaffende können wir vernichten! – Aber vergessen wir auch diess nicht: es genügt, neue Namen und Schätzungen und Wahrscheinlichkeiten zu schaffen, um auf die Länge hin neue „Dinge“ zu schaffen.20

Sprache dient der Erschaffung von Welt. Wichtig ist bei diesem Schaffensprozess, dass er notwendig in Abgrenzung von einer tradierten Sprache stattfindet: Es gibt immer schon Sprache, mit der sich das schaffende Individuum auseinandersetzen muss. Daraus resultiert die Ambivalenz sprachlicher Mitteilung: Einerseits rekurriert sie immer auf eine Konvention des Sprechens – und ist damit von der Tradition abhängig –, andererseits besitzt sie mit jedem Sprachgebrauch aber auch die Möglichkeit, etwas Neues an die Stelle des Alten zu setzen und es damit zu zerstören. Das ist für den Sprech-Vorgang des Gedichts zentral. In Aphorismus 84 „Vom Ursprunge der Poesie“21 erarbeitet Nietzsche zentrale Aspekte, welche die Dichtung gegenüber der prosaischen Rede auszeichnen. Poetische Rede, so der Aphorismus, verunklart das Gesprochene auf eine Weise, die der Mitteilung nicht förderlich ist.22 Der Rhythmus wird verstanden als eine gewalttätige Neuordnung der Syntax, die den Gedanken „färbt“ und ihn „dunkler, fremder, ferner macht“.23 Sofort fällt ins Auge, dass der Aphorismus sich einer Metaphorik aus dem Bereich der Malerei bedient, obwohl er eigentlich eine klare und nüchterne Darstellung der Funktion von Dichtung zu intendieren scheint. Damit zeigt sich ein Phänomen, das Nietzsche auch im Aphorismus 92 der Fröhlichen Wissenschaft thematisiert: Prosaische Rede gewinnt erst im Konfliktfall ästhetisches Potential, nämlich in Abgrenzung von poetischer bzw. lyrischer Rede.24 Wie stark der Einfluss des Poetischen auf die Prosa ist, geht ebenfalls aus Aphorismus 84 hervor: Es kann demnach keinen ‚guten‘ prosaischen Text geben,

20 21 22 23 24

FW 58, KSA 3, 422. FW 84, KSA 3, 439–442. FW 84 KSA 3, 439 f. FW 84, KSA 3, 440, 12. Vgl. FW 92, KSA 3, 447 f.  



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der gänzlich von poetischen Elementen frei, nicht irgendwie von Poesie durchsetzt wäre. Allgemein ist die ‚vertiefende‘ Funktion der Poesie für das Schreiben äußerst relevant. Sie entfernt vom common sense und nuanciert. Hierfür ist insbesondere die nachträglich hinzugefügte Vorrede zur Fröhlichen Wissenschaft von Belang, in der Nietzsche die alten Griechen als „oberflächlich – a u s T i e f e !“ bezeichnet und eine „Kunst für Künstler“ als Palliativ gegen die ‚romantische Krankheit‘ seines Text-Ichs vorstellt.25 Außerdem stellt er die disziplinierende und damit implizit mnemotechnische Funktion der Poesie im Aphorismus 84 heraus. Die Relevanz der Poesie für die Griechen zeigt sich Nietzsche zufolge darin, wie der Rhythmus sowohl den Kultus als auch die Vorstellung bestimmt, die Götter seien durch ihn zu beeinflussen. Im Aphorismus 188 von Jenseits von Gut und Böse setzt Nietzsche – ein Jahr vor der erweiterten Neuausgabe der Fröhlichen Wissenschaft – Rhythmus und Reim ins Verhältnis zu den disziplinierenden Mitteln der Moral.26 Mit diesen Reflexionen schließt er an seine Überlegungen aus dem Aphorismus 84 der Fröhlichen Wissenschaft an, denen zufolge der Rhythmus, physisch als Tanz ausgedrückt, Affekte entlädt und zugleich formiert.27 Der Rhythmus besitzt folglich, vor allem im Tanz, eine psychosomatische Funktion. Diese äußert sich primär affektiv (oder affektpolitisch, wenn der Rhythmus bewusst verwendet wird, um bestimmte Affekte zu evozieren). Die Affizierbarkeit des Menschen durch den Rhythmus ist phylogenetisch veranlagt. Und Nietzsche hebt hervor, dass selbst die „ernstesten Philosophen“ sich „auf Dichtersprüche berufen“.28 Selbst dort also, wo es allgemeine Wahrheiten auszusprechen gilt, werden ästhetische Mittel genutzt, die nicht der Wahrheit, sondern der Überzeugung dienen. Zuletzt greife ich das Tanz-Motiv bei Nietzsche heraus, das für An den Mistral besonders wichtig ist – worauf ja bereits der Untertitel verweist: Ein Tanzlied.29

25 FW Vorrede 4, KSA 3, 352, 25 u. 351, 28 f. 26 Eine umfassendere Analyse des Rhythmusgedankens und der damit zusammenhängenden Theoreme hat Christian Benne, in seinem Aufsatz von Jenseits von Gut und Böse ausgehend, bereits unternommen. Vgl. Benne, Christian, Good Cop, Bad Cop: Von der Wissenschaft des Rhythmus zum Rhythmus der Wissenschaft, in: Abel, Günter / Brusotti, Marco / Heit, Helmut (Hrsg.), Nietzsches Wissenschaftsphilosophie. Hintergründe, Wirkungen und Aktualität, Berlin / Boston 2012, S. 189–212. Vgl. auch JGB, 188, KSA 5, 108–110. 27 Vgl. FW 84, KSA 3, 440, 32–441, 4. 28 FW 84, KSA 3, 442, 19 f. 29 Vgl. hierzu u. a. Pichler, Axel, Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken, Wien 2010, insb. S. 193–196; und Reschke, Renate, Die andere Perspektive: Ein Gott, der zu tanzen verstünde, Eine Skizze zur Ästhetik des Dionysischen im ‚Zarathustra‘, in: Gerhardt, Volker (Hrsg.), Friedrich Nietzsche, ‚Also sprach Zarathustra‘, Berlin 2000, S. 257–284. Auch Udo Tietz hebt die  





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Der Tanz wird im Aphorismus 84 nicht nur als leibliche Umsetzung des Rhythmus verstanden, sondern auch als Disziplinartechnik, die den Leib formt. Sie ist aber nicht nur darauf aus, den Leib zu binden, ihn ‚festzulegen‘, sondern sie bewegt sich immer schon zwischen Affirmation des Tradierten und dessen Subversion, wie Renate Reschke in einem Aufsatz zum Zarathustra herausstellt.30 Zudem ist mit dem ‚Leib‘ – das wird einer der Kernpunkte meiner Lektüre sein – nicht nur der faktische menschliche Körper gemeint, sondern potentiell auch das Textkorpus. Im Folgenden wird deshalb auch danach gefragt, was es heißt, den Text ‚tanzen‘ zu lassen. Dabei steht die Deutung des Tanzes als ambivalente Disziplinartechnik im Vordergrund. Auch der Aphorismus 107, der das von ästhetischen Reflexionen bestimmte zweite Buch der Fröhlichen Wissenschaft abschließt und damit gleichermaßen als Endprodukt eines Begriffsentwicklungs- und -verschiebungsprozesses angesehen werden kann, interessiert mich unter dem Aspekt der Kunst, und zwar im Hinblick auf die „F r e i h e i t ü b e r d e n D i n g e n “, die Nietzsche hier als Wirkung der Kunst herausstellt: Er definiert ,Kunst‘ als „g u t e n Willen zum Scheine“ und als komplementäre Gegenkraft zur wissenschaftlich-desillusionierenden Redlichkeit.31 Sie wird – verbunden mit der herausgestellten Rolle der Sprache als Tradierungs- und Subversionsorgan – zu etwas Schöpferischem, das im Zusammenspiel mit der wissenschaftlichen Kritik das menschliche Leben auf redliche Weise zu erhalten vermag. Diese durch die Kunst bedingte Freiheit ist aber auch für die Überwindung der moralischen Perspektive von zentraler Bedeutung, die mit der neugewonnenen Redlichkeit nicht vereinbar ist.

2 Damit komme ich zum Gedicht.32 Der Titel, die Widmung an den Nordwestwind in der Provence, lässt eine Ode oder Hymne vermuten – und tatsächlich ist das Bedeutung dieses Motivs heraus, kommt aber durch sein der Hermeneutik verpflichtetes Vokabular nicht zu einer philosophischen Deutung des Tanzes, die Nietzsches Vokabular angemessen einbezieht. Vgl. Tietz, Udo, Musik und Tanz als symbolische Formen: Nietzsches ästhetische Intersubjektivität des Performativen, in: Nietzsche-Studien, Jg. 31, Berlin / New York 2002, S. 75–90. 30 Vgl. Reschke, Die andere Perspektive: Ein Gott der zu tanzen verstünde, S. 264–267 u. 276 f. 31 FW 107, KSA 3, 465, 6 f. u. 464, 18 f. 32 Bei der Interpretation werde ich, entsprechend traditioneller Nietzsche-Interpretationen, das lyrische Ich und Nietzsche gleichsetzen. Ich begehe damit bewusst den Fehler, den Zittel in seiner Studie zum Zarathustra für die Zarathustra-Forschung konstatiert: „Das Ergebnis war, daß […] die vollzogene Trennung zwischen dem sogenannten ,kritischen Philosophen‘ Nietzsche und dem ‚naiven Dichter‘ [sich] auch in die neuere Sekundärliteratur einbürgern konnte, mit der Kon 





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Gedicht im feierlichen Pathos dieser traditionellen Form gehalten. Der Untertitel („Ein Tanzlied“) zeigt dagegen eine ironische Brechung an, die den erhabenen Duktus durch die Wiederholung konterkariert. Auch die formalen Eigenheiten weisen eher auf ein Lied hin: Das Gedicht besteht aus elf sechszeiligen Strophen, deren trochäische Vierheber jeweils Schweifreime bilden, wobei die vier paarreimenden Verse weiblich, die umarmenden Reime männlich kadenziert sind. Diese Regelmäßigkeit macht das Gedicht äußert melodisch und sangbar. Zudem betont das Reimschema jeweils den letzten Vers, der so den Status einer Pointe erhält; vergleichbare pointierende Techniken verwendet Nietzsche auch in anderen Texten häufig. Inhaltlich kann folglich zwar von einem ‚hymnischen‘ Lobgesang „an den Mistral“ gesprochen werden, doch kleidet Nietzsche diesen in die ‚unbeschwerte‘ Form eines Liedes, um den von ihm gerade gepriesenen, heiteren und ‚tänzerischen‘ Charakter des Mistral-Windes zu veranschaulichen. Für den besungenen Mistral-Wind ist sein Bezug zur Provence charakteristisch (womit eine Verbindung zwischen dem Mistral und der gaya scienza der Trobadors besteht, die Nietzsche in Ecce homo selbst hervorhebt).33 Der Wind bringt klaren Himmel, gute Fernsicht und vor allem kalte Luft. Otto Derschs zeitgenössischer meteorologischer Aufsatz über den Mistral (1881) beschreibt ihn als „heftigen Wind“, der von „Depressionen“, also von Tiefdruckgebieten hervorgerufen wird: „Der Mistral weht mit der größten Heftigkeit über der Provence“.34 Diese Tiefdruckgebiete erzeugen im Zusammenspiel mit verschieden ge-

sequenz, dass der Zarathustra als Ort für Weltanschauliches, pseudo-religiöse Neo-Mythen, verfemt blieb, während man sich den ,Philosophen‘ Nietzsche vordringlich aus den Nachlaßfragmenten systematisch zurechtkonstruierte. Dies ist einigermaßen befremdlich, da als ein unumstrittenes Ergebnis dieser Interpretationen vielfach die Untrennbarkeit von ästhetischer Gestalt und philosophischem Gedanken bei Nietzsche ausgesprochen wurde. Die Unhintergehbarkeit des Ästhetischen wurde stets nur konstatiert; es wurde über Nietzsches ästhetisches Auslegungskonzept räsoniert, nicht aber wurde mit ihm operiert.“ (Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, S. 13). – Von der durch Zittel kritisierten Interpretationspraxis werde ich mich am Ende meiner Ausführungen ebenfalls absetzen. Vorläufig dient sie mir allerdings als heuristisches Mittel, um meine zentralen Beobachtungen zu demonstrieren. Es sei auch angemerkt, dass ich mir der Problematik bewusst bin, die darin liegt, Aussagen aus anderen Werkkontexten zum Aufzeigen von Verweisungszusammenhängen und Leitthemen anzuführen. Ich erlaube mir den unsensiblen Umgang mit kontextuell bedingten semantischen Verschiebungen und Entwicklungen, weil ihr heuristischer Gewinn angesichts des begrenzten Umfangs dieser Arbeit meine methodischen Zweifel überwiegt. 33 Mike Rottmann verdanke ich den Hinweis auf einen Artikel, den Nietzsche wohl vor der Konzeption des Gedichts gelesen hat. Vgl. Rottmanns Aufsatz in diesem Band; sowie Dersch, Otto, Ueber den Ursprung des Mistrals, in: Zeitschrift der Österreichischen Gesellschaft für Meteorologie, Band 16, Wien 1881, S. 52–57. 34 Dersch, Ueber den Ursprung des Mistrals, S. 52 u. 55.

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ladenen, aufeinandertreffenden Wolkenmassen „Regen und Gewitter“, die der Mistral wiederum auflöst: In den hohen Regionen weisse Cumuli ziehend, und mit positiver Elektricität und darunter Wolken mit negativer Elektricität. Aus dem Kampfe dieser beiden Wolkenschichten entstehen plötzlich Regen und Gewitter. Ist der Mistral vollständig zur Herrschaft gekommen, so hört der Regen auf und es folgt klares Wetter.35

Derschs Ausführungen über den Mistral plausibilisieren dessen Bezeichnung als „Wolken-Jäger“ in der ersten Strophe von Nietzsches Gedicht.36 Der Wind wird hier nicht nur beschrieben, sondern auch über mehrere Bezeichnungen personalisiert, etwa als „Trübsal-Mörder“.37 Der ihm ferner verliehene Beiname „Himmels-Feger“38 gibt ihm eine kämpferische Konnotation. Indem das lyrische Ich ihn als „Brausende[n]“39 betitelt, wird zudem das ‚heftige Wehen‘ des Mistrals verdeutlicht. Darauf folgt eine Liebesbekundung des lyrischen Ichs. Im Verweis auf die meteorologische Funktion des Mistrals personifiziert Nietzsche Qualitäten einer physikalischen Erscheinung. Es folgt eine rhetorische Frage des lyrischen Ichs, welche die schicksalshafte Verwandtschaft von Ich und Mistral-Wind suggeriert.40 Wollte man die erste Strophe im Sinne von Nietzsches Philosophemen deuten, wäre die aufklärende Wirkung des Mistrals mit Nietzsches ‚Freigeisterei‘ gleichzusetzen, die – in Analogie zur vom Wind ermöglichten Fernsicht – die freie Sicht auf die Vielfalt der Perspektiven und die ihr zugrunde liegende denkerische Redlichkeit bedingt.41 Verfolgt man diesen Ansatz weiter, erscheint der Mistral-Wind vor dem Hintergrund des bereits erwähnten Aphorismus 84 als kathartisch wirkendes, (anti-) moralisches Phänomen, das – im Anschluss an die antike Vorstellung einer therapeutischen Wirkung des Rhythmus – von den Affekten reinigt.42 Die Wasserund Eis-Metaphorik steht im Kontext einer von Nietzsche favorisierten Bildlichkeit, die beispielsweise auch im Text Nummer 35 aus dem Vorspiel zur Fröhlichen Wissenschaft, im ersten Abschnitt von Ecce homo: „Warum ich so klug bin“ sowie in der Ecce-homo-Besprechung von Menschliches, Allzumenschliches evoziert

35 Dersch, Ueber den Ursprung des Mistrals, S. 56. 36 FW Anhang, KSA 3, 649, 19. 37 FW Anhang, KSA 3, 649, 20. Der Begriff des Mörders hat eine kriminelle Konnotation und greift auf die Themen der achten bis zehnten Strophe vor. 38 FW Anhang, KSA 3, 649, 20. 39 FW Anhang, KSA 3, 649, 21. 40 Vgl. FW Anhang, KSA 3, 649, 22–24. 41 Vgl. hierzu bspw. FW 2, KSA 3, 373 f.; FW 124, KSA 3, 480; sowie FW 374, KSA 3, 626 f. 42 Vgl. FW 84, KSA 3, 440, 32–441, 4.  



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wird.43 Diese Metaphorik verbildlicht die kritische Attitüde des ‚freien Geistes‘ und den kathartischen sowie auch desillusionierenden Charakter seiner Erkenntnisse. Die Rede von der ‚ewigen Vorbestimmtheit‘ verweist auf das Schlagwort „Amor fati“ und den Gedanken der ‚ewigen Wiederkunft‘, wobei der Zusammenhang durch die Reimstruktur noch untermauert wird („Brausender, wie lieb’ ich dich! / […] / Vorbestimmte ewiglich?“).44 Auch wenn man über den Status dieser (Anti-)Lehren prinzipiell debattieren kann, liegen hier recht eindeutige Verweise auf die Aphorismen 276 und 341 der Fröhlichen Wissenschaft vor.45 Das lyrische Ich fühlt sich dem Mistral-Wind verwandt und ‚liebt‘ dessen reinigenden Charakter, den es sich im Umkehrschluss selbst zuschreibt. Das Stilmittel der rhetorischen Frage belässt die tatsächliche Beschaffenheit einer solchen Verwandtschaft jedoch in der Schwebe: Die Frage würde nicht gestellt, wäre sie nicht positiv zu beantworten; andererseits impliziert die Frage aber auch, dass die Verwandtschaft nicht gesichert ist und vom Mistral-Wind erst anerkannt werden muss. Spannend an dieser Strophe ist, dass sie gewissermaßen das Projekt und Ziel der Fröhlichen Wissenschaft umreißt, indem sie auf das vierte Buch zurückgreift, das von der Möglichkeit eines redlichen und bejahbaren Lebens im Angesicht des Nihilismus handelt.46 In der zweiten Strophe ‚läuft‘ das lyrische Ich „auf glatten Felsenwegen“ dem besungenen Wind entgegen.47 In diesem auffälligen Bild ist der Tanz, d. h. der körperlich umgesetzte Rhythmus des Windes, der ‚pfeift und singt‘, mit dem Bergsteigen verbunden. Hierauf wird der Mistral als Seefahrer ohne „Schiff und Ruder“ und als „der Freiheit freister Bruder“ charakterisiert.48 Besonders hervorzuheben sind hier zum einen wieder die dritte und sechste Verszeile, welche die klangliche Wirkung des Mistrals mit seinem Vermögen zur Fortbewegung über das Meer ohne Seefahrzeuge zusammen führen. Zum anderen stellt das ‚Singen‘  

43 Zur Illustration seien die genannten Textstellen hier vollständig zitiert: „E i s . / Ja! Mitunter mach’ ich Eis: / Nützlich ist Eis zum Verdauen! / Hättet ihr viel zu verdauen, / Oh wie liebtet ihr mein Eis!“ (FW Vorspiel 35, KSA 3, 361, 4–8.); „In vino v e r i t a s : es scheint, dass ich auch hier wieder über den Begriff ‚Wahrheit‘ mit aller Welt uneins bin: – bei mir schwebt der Geist über dem W a s s e r …“ (EH Warum ich so klug bin 1, KSA 6, 281, 8–10); „Ein Irrthum nach dem andern wird gelassen aufs Eis gelegt, das Ideal wird nicht widerlegt – e s e r f r i e r t …“ (EH MA 1, KSA 6, 323, 6– 8). Die Verbindungen zwischen Eis-, Tanz- und Verdauungsmetaphorik sowie dem Thema der Wahrheitskritik zeigen beispielhaft, wie sehr Nietzsches Schriften intertextuell verknüpft sind. 44 FW Anhang, KSA 3, 649, 21 u. 24. 45 FW 276, KSA 3, 521; FW 341, KSA 3, 570. 46 Vgl. Ries, Wiebrecht / Kiesow, Karl-Friedrich, Von ‚Menschliches, Allzumenschliches‘ bis zur ‚Fröhlichen Wissenschaft‘ [Artikel], in: Ottman (Hrsg.), Nietzsche Handbuch, S. 91–119, hier S. 115. 47 FW Anhang, KSA 3, 650, 1. 48 FW Anhang, KSA 3, 650, 4 f.  

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des Mistrals eine Verbindung zum lyrischen Ich dar, ist doch der Gesang eine der herausragenden Metaphern für das lyrische Wirken selbst. Der beseelte MistralWind ist damit selbst, wie das lyrische Ich auch, ein Dichter. In welchen Zusammenhängen steht nun die Bildlichkeit dieser Strophe? Nietzsches Bergmetaphorik steht, vereinfachend gesprochen, für einen von den common sense-Meinungen entfernten Standpunkt ‚über den Dingen‘ – für ein ‚unzeitgemäßes‘ Denken jenseits üblicher Wertungen und Vorurteile.49 Das Motiv des Tanzens auf glatter Oberfläche enthält auch der Sinnspruch Für Tänzer aus dem Vorspiel zur Fröhlichen Wissenschaft. Dort handelt es sich um ein Bild für die stilistisch sichere Handhabe von Sprache und für den nuancierten und tiefgehenden Zugang zu Erkenntnisproblemen.50 Die Seefahrer-Metaphorik steht in vielerlei Hinsicht für die Generierung neuer Erkenntnisse, für das Erkunden neuer Wissensgebiete, aber auch für den Mut zu diesen Erkenntnissen und die größtmögliche Verunsicherung durch die Erkenntnis des Perspektivismus und des Nihilismus.51 Infolge der Metamorphose des Mistral-Windes zum Dichter und Seefahrer wie auch durch die behauptete Verwandtschaft zwischen Wind und Ich verschmelzen die Eigenschaften des Bergwanderers, des Seefahrers und des Dichters. Letztlich demonstriert diese Strophe Nietzsches künstlerisch-rhetorische Ausdrucksfertigkeiten im Sinne seiner „vielfachste[n] Kunst des Stils“.52

49 Vgl. u. a. JGB Aus hohen Bergen, KSA 5, 241–243; FW 377, KSA 3, 628–631, insb. 630, 21 f.: „wir ziehen es bei Weitem vor, auf Bergen zu leben, abseits, ‚unzeitgemäss‘“; EH Za 1, KSA 6, 335, 4–9: „Die Grundconception des Werks, der E w i g e - W i e d e r k u n f t s - G e d a n k e , diese höchste Form der Bejahung, die überhaupt erreicht werden kann –, gehört in den August des Jahres 1881: er ist auf ein Blatt hingeworfen, mit der Unterschrift: ,6000 Fuss jenseits von Mensch und Zeit‘.“ – Diese Belege sind keineswegs gleichwertig, dienen mir aber gleichermaßen dazu, die vielschichtigen und mehrdeutigen Zusammenhänge zwischen der Bergmetaphorik und dem Motiv der zwischenmenschlichen (JGB), moralischen, politischen, wissenschaftlichen (FW) und philosophischen Sonderstellung (EH) des Einzelnen bei Nietzsche zu demonstrieren. 50 FW Vorspiel 13, KSA 3, 356. Vgl. in diesem Zusammenhang auch MA II WS 131, KSA 2, 610: „D e n G e d a n k e n v e r b e s s e r n . – Den Stil verbessern – das heißt den Gedanken verbessern, und gar Nichts weiter! – Wer diess nicht sofort zugiebt, ist auch nie davon zu überzeugen.“; NL 1882, 1[109], KSA 10, 38, 8: „Das Erste, was noth thut, ist Leben: der Stil soll l e b e n .“; sowie FW 290, KSA 3, 530, 8–13: „Seinem Charakter ‚Stil geben‘ – eine grosse und seltene Kunst! Sie übt Der, welcher Alles übersieht, was seine Natur an Kräften und Schwächen bietet, und es dann einem künstlerischen Plane einfügt, bis ein Jedes als Kunst und Vernunft erscheint auch die Schwäche noch das Auge entzückt“. – In Bezug auf das letzte Zitat sei angemerkt, dass der Tanz eine ähnliche affektpolitische Funktion erfüllt. Vgl. hierzu Reschke, Die andere Perspektive: Ein Gott, der zu tanzen verstünde. 51 Vgl. M 432, KSA 3, 266; M 575, KSA 3, 331; FW 124, KSA 3, 480 sowie FW 318, KSA 3, 550. 52 EH Warum ich so gute Bücher schreibe 4, KSA 6, 304, 11.  



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Die folgenden drei Strophen bespreche ich weniger ausführlich, da für meine Deutung in erster Linie die Metamorphosen des Mistrals relevant sind, die hier nicht im Zentrum stehen. Das lyrische Ich geht dem Mistral in der dritten Strophe entgegen und sieht ihn mit zum Horizont (zur „gelben Wand am Meer“) gerichteten Blick heraufziehen.53 In dieser Strophe wird die Verbindung von Meer und Berg durch die Schweifreimstruktur weiter untermauert. Dabei steht der offene Horizont sinnbildlich für das Erkenntnisstreben.54 Neben dem Bild des aufhellenden Horizontes enthält die vierte Strophe ein Jagdbild: Der Mistral verwandelt sich in eine Apoll- bzw. Helios-Figuration samt Sonnenwagen. In der fünften Strophe erscheint der Mistral als Pfeil, wobei dieses Bild durch den Schweifreim mit den „[e]rste[n] Morgenröthen“ in Verbindung gebracht wird.55 Dass hier gleichermaßen die Kälte des Mistrals mit der Wärme der Sonnengottheit verschmilzt und in der Gestalt Apolls die Gottheit der Künste auftritt, stellt einen Kontrast zu der bisherigen Berglandschaft dar. Die vierte und fünfte Strophe lassen sich als Kommentar auf die Morgenröthe lesen, allgemeiner: auf das ‚freigeistige‘ Schaffen und auf die Methode der Morgenröthe, indem sie sich auf die Form der Sentenz und die pointierte Stilistik der frühen Aphorismen zurückbeziehen. Durch die Akustik der Worte selbst, die viele S-Laute enthalten, ist der „Pfeil“ – Nietzsche bezeichnet seine Sentenzen mitunter als „Pfeile“56 – und das ‚Pfeifen des Windes‘ auch onomatopoetisch vergegenwärtigt („Stürmte“, „Stromesschnellen“, „Sieghaft“ „Rosse“, „Geissel“, „springen“, „hinab[ ]schwingen“, „stossen“, „Goldstrahl“, „stürzt“).57 Die Verbindung der Götter Apoll und Helios ist hervorzuheben, werden hier doch tradierte Bilder der Erkenntnis übereinander gelegt, so etwa die Sonne als Wahrheit, Apoll als der Gott des delphischen Orakels und der Jagd. Die oymorale Verschmelzung von Wärme und Kälte verbindet das Bild des Eises, d. h. der desillusionierenden Erkenntnisse, und des Feuers bei Nietzsche, welches sich beispielsweise im Pathos der Erkenntnis, in Heraklits archē oder auch in der Anknüpfung an die Sonnenmetaphorik niederschlägt. Die Überlagerung der Bilder zeugt jedoch von  

53 FW Anhang, KSA 3, 650, 9. 54 Das Bild der „gelben Wand am Meer“ wirkt, als sei es einem Gemälde entnommen worden. Dieser Umstand weist unter sprachkritischen Gesichtspunkten darauf hin, dass selbst die Rede vom ‚offenen Horizont‘ immer schon eine metaphorische Formulierung darstellt und keineswegs unmittelbar ein ‚reales‘ Phänomen in der Welt bezeichnet. Vgl. zum hieran anschließenden Thema der Fiktionalisierung bei Nietzsche Pichler, Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken; sowie Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, insb. S. 35–53. 55 FW Anhang, KSA 3, 650, 24. 56 GD Sprüche und Pfeile, KSA 6, 59–66. 57 FW Anhang, KSA 3, 650, 8–24.

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einer ambivalenten Stellung zur Erkenntnis selbst. Sie ist ‚verformt‘ und verschiebt sich mit der jeweils wechselnden Ästhetik. Auf die sechste Strophe möchte ich, aufgrund ihrer exponierten Stellung in der Mitte des Gedichts, detaillierter eingehen: Zu Anfang ergeht an den Mistral die Aufforderung, auf den Wellen zu tanzen. Das „t“, welches durch den Reim in den zweiten Vers verlängert wird („Tanze“, „tausend“ und „Tücken“),58 ruft als Plosivlaut durch seine Akustik bereits einen Schrittton hervor, der an den Tanz erinnert. Dieser Tanz findet auf dem Meer statt und ist mit der Seefahrt-Motivik verbunden. Im zweiten Vers der Strophe bildet das Wort „Welle“ zusammen mit zwei weiteren Nomen Komposita. Der Binnenreim der beiden Komposita, die auch den Reim der ersten Zeile wiederholen, veranschaulicht innerhalb der Wörter bereits eine Wellenbewegung („Wellen-Rücken“, „Wellen-Tücken“).59 Die „Rücken“ werden zu „Tücken“: Aus dem deskriptiven wird ein perspektivisch wertender Standpunkt, denn Tücken werden nur von den Leidtragenden als solche empfunden. Die Wellen-Rhythmik der ersten beiden Verse wird vom dritten Vers, der das Paarreimschema durchbricht, durch einen Geviertstrich getrennt. Die Wellenmetaphorik erscheint so durchgängig, dass selbst die Trochäen als ‚Wellen-Metrum‘ verstanden werden können. Auf das gesamte Gedicht bezogen heißt das: Die weiblich kadenzierten Verse bilden einen kontinuierlichen Fluss, den die männlichen Kadenzen durchbrechen, sodass diese Verse stets betont werden.60 Der dritte Vers der sechsten Strophe ist ein Ausruf, ein Gruß und Segenswunsch an den Erschaffer neuer Tänze. Grammatisch müsste es eigentlich „Heil dem, der …“ heißen, nicht „Heil, wer n e u e Tänze schafft!“61 Die Verkürzung könnte sich dadurch erklären, dass hier eine männliche Kadenz angestrebt wird. Auffällig an dieser Formulierung ist, dass der Ausruf sich an alle Schaffenden richtet und nicht mehr nur, wie in den Strophen zuvor, an den Mistral-Wind. Aus dem einzelnen Adressaten wird eine Adressatengruppe: Das „wir“62 kann sich einerseits auf den Mistral und das Ich beziehen, andererseits kann es aber auch allgemeiner verstanden werden. Meines Erachtens wird eine größere Gruppe angesprochen, da das lyrische Wir fordert, „in tausend Weisen“ zu tanzen.63 Das

58 FW Anhang, KSA 3, 650, 25 f. 59 FW Anhang, KSA 3, 650, 26. 60 Auf dieser Beobachtung fußt auch meine Fokussierung auf die dritte und sechste Zeile jeder Strophe. 61 FW Anhang, KSA 3, 650, 27. 62 FW Anhang, KSA 3, 650, 28. 63 FW Anhang, KSA 3, 650, 28. Selbstverständlich kann sich das lyrische Wir auch aus dem lyrischen Ich und dem angesprochenen Mistral-Wind konstituieren. Die Sprecherinstanz aber auf diese Lesart festzulegen, wird meines Erachtens der Vieldeutigkeit der Stelle nicht gerecht.  

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„wir“ schwebt in der Folge zwischen der Bezeichnung der Gemeinschaft von Ich und Mistral sowie der Ansprache an eine größere Gruppe.64 In diesem Vers findet sich außerdem eine der drei Hervorhebungen innerhalb der Strophe (das gesamte Gedicht weist fünf auf), nämlich das Adjektiv „neue“. Damit wird die Neuartigkeit der Tänze betont. Dies leitet zu einer Aufforderung zum Tanz in „tausend Weisen“ über, die sich an ebenjene Wir-Gruppe richtet, die auch das lyrische Ich einschließt.65 Auf der Basis dieses Imperativs werden die Charakteristika von Kunst und Wissenschaft gegenüber der Gruppe von Tanzenden herausgestellt: Die Kunst sei frei „geheissen“, die Wissenschaft „fröhlich“.66 In den beiden letzten Versen ist jeweils das Wort „unsre“ hervorgehoben, wobei die Synkope kolloquial wirkt: Es handelt sich um eine Gruppe von Eingeweihten, die sich einem kollektiven Unternehmen verschrieben hat, das gleichwohl der schöpferischen Individualität des Einzelnen bedarf, vor allem aber seine eigene Exklusivität hervorhebt. Ein solches Unternehmen des vielfachen ‚neuen Tanzes‘ besitzt damit keinen allgemeingültigen Anspruch. Die Gruppe der Adressaten ist zwar ein „wir“, die exkludierende Funktion wird jedoch stets mitgedacht. Auch das Wort „geheissen“ ist auffällig.67 Wären Kunst und Wissenschaft bereits ‚frei‘ und ‚fröhlich‘, müsste man diese Bezeichnungen nicht mehr postulieren. Der Aphorismus 58 der Fröhlichen Wissenschaft gibt über die hier in Aktion tretende Funktion von Sprache Auskunft: Dinge zu benennen und den Dingen Attribute zuzuschreiben, schaffe die Möglichkeit und damit die „Wahrscheinlichkeit[ ]“,68 dass sie irgendwann entsprechend ihrer Zuschreibungen wahrgenommen werden. Der dritte und sechste Vers der sechsten Strophe entfalten durch ihre reimbedingte Verbindung eine Synergie, deren Bedeutung kaum hoch genug eingeschätzt werden kann: „Heil, wer n e u e Tänze schafft! / […] / Fröhlich – u n s r e Wissenschaft“.69 Damit stehen die ‚Fröhlichkeit‘ der Wissenschaft und die ästhetische Schaffenskraft in einer engen Verbindung. Welches sind nun diejenigen Themenkomplexe der Fröhlichen Wissenschaft, die diese neue ‚Wissenschafts‘-

64 Ich hebe diesen Schwebezustand deshalb hervor, weil Nietzsche in der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches seine oft beschworene Gemeinschaft von gleichgesinnten ‚freien Geistern‘ nachträglich als Imagination entlarvt. Der dort beschriebene Schaffensprozess erinnert an die ‚schwebende‘ Konstitution des lyrischen Wir in der zweiten Hälfte des Mistral-Gedichts. Vgl. MA Vorrede 2, KSA 2, 15. Vgl. auch meine Ausführungen zur zehnten Strophe. 65 FW Anhang, KSA 3, 650, 28. 66 FW Anhang, KSA 3, 650, 29 f. 67 FW Anhang, KSA 3, 650, 29. 68 FW 58, KSA 3, 422, 26. 69 FW Anhang, KSA 3, 650, 27 u. 30.  

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Auffassung ausmachen? Ich fasse kurz zusammen: Nietzsche inszeniert Wissenschaft als Praxis, die nicht zuletzt leiblich stattfindet und einen eigenen Rhythmus hat – folglich reflektiert das Gedicht Erkenntnisse aus dem dritten und fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft, darüber hinaus auch aus der dritten Abhandlung der Genealogie der Moral. Das Gedicht steht vor allem im Kontext der Wissenschaftskritik aus dem dritten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, denn nur das Konzept der ‚fröhlichen Wissenschaft‘ fördere und fordere plurales Denken, das den herkömmlichen Naturwissenschaften überlegen sei.70 An den Mistral entfaltet eine neue Perspektive auf das, was ‚fröhliche Wissenschaft‘ heißt, und ist selber Ausdruck dieser Wissenschafts- und Kunstform. Damit ist diese Strophe auch in poeseologischer Hinsicht relevant: Das Gedicht ist nicht nur der Text, der auf ‚neue Weise‘ tanzt, sondern reflektiert diesen Prozess selbst auf eine ‚neue Weise‘. Die folgende Strophe hat ebenfalls eine poeseologische Funktion, zielt aber auf einen anderen Aspekt ab. In ihr ergeht an die Wir-Gruppe die Aufforderung, von jeder Blume eine Blüte zu ‚raffen‘ und daraus einen „Kranz“ zu flechten.71 Die metaphorische Bezeichnung der Dichtung als Garten sowie die sinnbildliche Gleichsetzung von Blumen und Metaphern sind traditionelle Topoi der Poetologie. Der „Kranz“ verweist als Lorbeerkranz auf die Dichterwettbewerbe der Antike, des Mittelalters und der Renaissance, deren Sieger jeweils zum poeta laureatus ‚gekrönt‘ wurde. Der „Kranz“ rekurriert aber auch auf den Efeukranz, den Dionysos als Attribut trägt und der in der Antike generell Symbol von Heiterkeit und Geselligkeit war. An dieser Textstelle überblendet Nietzsche beide Bedeutungsaspekte zu einem betont heiteren Bild der Krönung des lyrischen Wir durch und zur Dichtung. Auf der poeseologischen Ebene des Gedichts erscheint es sogar selbst als „Kranz“, da es das Ziel und den Zweck der ‚Dichtungs-Bewegung‘ darstellt. Der als ‚trobadorgleich‘ bezeichnete Tanz „zwischen Heiligen und Huren“, „[z]wischen Gott und Welt“,72 der in der zweiten Strophenhälfte thematisiert wird, bezieht sich auf das Konzept der gaya scienza, auf den Immoralismus und auf die Stellung zwischen dem unausgesetztem Werden der phänomenalen Welt und der Metaphysik (den ‚Hinterwelten‘ oder dem ‚wahren Sein‘). Von diesen großen

70 Vgl. FW 108–112, KSA 3, 467–473. In diesen Aphorismen zu Beginn des dritten Buches der Fröhlichen Wissenschaft beginnt Nietzsches Kritik der Naturwissenschaften, die sich von der Kritik des Naturgesetzes über eine Kritik des Logischen bis hin zu einer Kritik des Kausalitätsbegriffes erstreckt. 71 FW Anhang, KSA 3, 651, 3. 72 FW Anhang, KSA 3, 651, 5 f.  

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Themenkomplexen ausgehend,73 kann das poeseologische Verständnis der Strophe begründet werden: So wird in der ersten Hälfte die Dichtung als appropriatives Verfahren aufgezeigt, wohingegen die zweite Hälfte sie stärker als körperliche Praxis – auch und vor allem als ‚textkörperliche‘ Praxis, d. h. das, was tanzt, ist das Textkorpus – einer ‚ritterlichen‘ Dichter-Elite auszeichnet, die immoralistisch und antimetaphysisch eingestellt ist. Der dritte und der sechste Vers der Strophe lassen sich produktiv miteinander verbinden, wenn man voraussetzt, dass die Dichtung das Spiel zwischen Sein und Werden widerspiegelt, dass der „Kranz“, also das Gedicht, immer auch den Tanz des Textkörpers darstellt („Und zwei Blätter noch zum Kranz! / […] / Zwischen Gott und Welt den Tanz!“).74 Die siebte Strophe ist folglich besonders wichtig, weil in ihr die Intertextualitätsstrategie des Textes artikuliert wird. Dies findet aber in einer Sprache statt, die zum einen immer schon intertextuell mit Texten der Tradition verflochten ist (antike Dichtung: Pindar, Anakreon; mittelalterliche Trobadordichtung und vor allem Goethe: Heidenröslein, Gott und Welt sowie Faust), andererseits aber auch die Bilder dieser Tradition vereinnahmt.75 Die ambivalente Position des (sprachlich) Schaffenden wird hier durch die Adaption und Umgestaltung der Metaphern realisiert. Nietzsche gliedert die überlieferten Elemente ein und schafft sie gleichzeitig um. Gleichwohl bricht das lyrische Wir in der siebten Strophe auch mit der ‚ernsten‘ Reflexion.76 Die Kolloquialität und die ironische Brechung der klassischen Dichtungsmetaphern sind Teil einer Darstellungsstrategie, die in der zweiten Strophenhälfte charakterisiert wird. Dichtung wird der menschlichen Erkenntnisfähigkeit, die Ungleiches angleicht, entgegengesetzt. Damit erscheint aber Dichtung selbst als etwas, das zwischen ‚Heiterkeit‘ und ‚großem Ernst‘ schwebt.77 Sie ist selbst immer schon verschiebend, gleichzeitig aber auch selbst Verschobenes, das von der Tradition her Motive gewinnt und dabei stets von ihr abhängig ist. Aus dieser Perspektive gestaltet sich der Blick auf die achte Strophe etwas weniger befangen, als er es mit Blick auf die moralische Brisanz derselben sein müsste.78 Wie bereits hervorgehoben, ist der Tanz „in tausend Weisen“ etwas, das  

73 Vgl. hierzu bspw. Abel, Günter, Nietzsche: Die Dynamik der Willen zur Macht und die ewige Wiederkehr, 2., um ein Vorwort erweiterte Auflage, Berlin / New York 1998; Müller-Lauter, Wolfgang, Nietzsche-Interpretationen I: Über Werden und Wille zur Macht, Berlin / New York 1999; sowie Müller-Lauter, Wolfgang, Nietzsche. Seine Philosophie der Gegensätze und die Gegensätze seiner Philosophie, Berlin / New York 1971. 74 FW Anhang, KSA 3, 651, 3 u. 6. 75 Dem Deflorationsmotiv aus Goethes Heidenröslein wird durch das „Raffen“ eine gewaltsamere Nuance verliehen. 76 Vgl. meine Ausführungen zu FW 84, KSA 3, 439–442 in der Einleitung. 77 Vgl. FW Vorrede 4, KSA 3, 351, 28 f. u. 352, 25. 78 Vgl. Ziemann, Die Gedichte, S. 154.  

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keine universelle Gültigkeit beanspruchen kann. Es gibt Gruppen, die gezielt ausgegrenzt werden. Hierzu zählen die „Krüppel-Greis[e]“, die sich „mit Binden“ wickeln müssen und dadurch „[a]ngebunden“ sind.79 Die folgenden Komposita bezeichnen vor allem Menschen, die aus moralischen Gründen aus dem ‚Projekt‘ auszuschließen sind (so ist die Rede von „Heuchel-Hänsen“, „Ehren-Tölpeln“ und „Tugend-Gänsen“).80 Hervorzuheben sind die Alliterationen innerhalb des Kompositums der vierten Zeile und zwischen „Tölpeln“ und „Tugend“ in der fünften Zeile der achten Strophe. Außerdem fällt auf, dass das lyrische Wir die ausgeschlossene Gruppe nachdrücklich als geistig unterlegen beschreibt. Es werden Menschen parodiert, die sich selbst und die von ihnen vertretene Moral so ernst nehmen, dass sich dahinter eine Unfähigkeit zur Freiheit und Pluralität offenbart. Die Verbindung von dritter und sechster Verszeile („Angebunden, Krüppel-Greis, / […] / Fort aus unsrem Paradeis!“)81 lässt sich nicht nur als Ausschluss Derjenigen lesen, die aufgrund ihrer restriktiven Weltanschauungen keine plurale Schaffenskraft besitzen; dieser Zusammenhang besteht mit Rückblick auf die siebte Strophe vielmehr auch in Bezug auf intertextuelle Verweise und besonders produktive Metaphern. Wie bereits angedeutet wurde, genießen bestimmte Traditionslinien besondere Aufmerksamkeit. Allerdings wird in An den Mistral nicht versucht, einen kantischen Blick auf die Moral fruchtbar zu machen, wie es Schiller versucht. Das Beispiel ist nicht zufällig gewählt, ist doch gerade der Ausschluss kantischer – und damit nach Nietzsche immer schon implizit christlicher – Moralvorstellungen in dieser Strophe hervorzuheben. Aus dieser Perspektive lässt sich der Paradiesbegriff, der im bereits genannten Gedicht Für Tänzer auch schon als „Paradeis“ auftaucht, neu lesen: Zum einen besteht er als partikularer Ort („unsrem Paradeis“) und ist folglich nicht im Sinne einer universellen Erlösung christlich konnotiert. Nietzsche operiert hier zwar mit einem Terminus aus der christlichen Glaubenslehre, doch er deutet ihn sofort in seinem Sinne um. Der metaphorische Gehalt des Begriffs macht diesen zudem, wie den Großteil der von Nietzsche im Gedicht verwendeten Begriffe, ambivalent: Wie kann ‚Erlösung‘ stattfinden, wenn dieser Begriff selbst immer schon künstlich erschaffen wird? Die permanente Metaphernschichtung und Relativierung, die sich in Formen des Tanzes „in tausend Weisen“ ausdrückt und auf der Metaebene durch diese Metapher selbst beschrieben wird, ist potentiell endlos. Die neunte Strophe ist die mit Abstand brisanteste des Gedichts. Das lyrische Wir fordert, den „Kranken“ den „Staub der Strassen“ in „die Nasen“ zu wirbeln

79 FW Anhang, KSA 3, 651, 8 f. 80 FW Anhang, KSA 3, 651, 10 f. 81 FW Anhang, KSA 3, 651, 9 u. 12.  



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und die „Kranken-Brut“ zu „[s]cheuchen“.82 Zudem soll „die ganze Küste“ vom „Odem dürrer Brüste“ und von „den Augen ohne Muth“ ‚erlöst‘ werden.83 Die ersten drei Verszeilen verbleiben in der Bildlichkeit des Windes und des Tanzes. Der vom Wind herumgewehte Staub zeugt von der Minderwertigkeit der Ausgeschlossenen, die – sind sie doch unfähig, mitzutanzen – von dem sonst reinigenden Mistral-Wind nur verschmutzt werden. Der „Krüppel-Greis“ ist jetzt zum „Kranken“, sogar zur „Brut“ potenziert: Der Begriff des „Scheuchen[s]“ wertet diese „Kranken-Brut“ weiter bis zur Entpersonalisierung, gar Enthumanisierung, ab. Diese Ausgrenzung und vor allem Abwertung hat eine klare Funktion für das ‚Projekt‘: Sie dient dazu, den Ausgangspunkt desselben zu optimieren („Lösen wir die ganze Küste“) und die Polyperspektivität und Polyphonie aufrechtzuerhalten – dies jedenfalls lassen die Aktualisierung des Odem-Konzeptes als beseelter Atem und das Bild der „Augen ohne Muth“ vermuten. Neben der Synästhesie von Atem, Ton und Sehkraft, die für das Rhythmusgefühl und damit auch für das Tanzen zentrale unbewusste, leibliche Prozesse anzeigt, ist eine weitere poeseologische Nuance zu erkennen, die für das Schaffen bestimmte Voraussetzungen markiert: Nicht nur muss ein solches ‚Projekt‘ seinen Ausschließungsprozess konsequent umsetzen, um sich selbst aufrecht zu erhalten; es muss ihn auch reflektieren und diese Reflexion als Basis allen Schaffens ansehen. Um diese Deutung zu unterstreichen, sei auf die Synergie zwischen der dritten und sechsten Zeile dieser Strophe verwiesen: „Scheuchen wir die Kranken-Brut! / […] / Von den Augen ohne Muth!“84 Die Krankheit und die Unfähigkeit zur Vielfalt der Erkenntnisweisen hängen notwendig zusammen. Diese Gedanken verbinden sich mit Nietzsches konsequenter Kritik der Mitleidsmoral, insofern diese als Restriktion der Pluralität des Phänomens Leben zugunsten der Sklaven fungiert.85 Mit der Mitleidsmoral werden auch die Begriffe des ‚asketischen Ideals‘ und des ‚Priesters‘ aufgerufen, die Nietzsche in der Genealogie der Moral mit der jüdisch-christlichen Moral in Verbindung bringt.86 Durch die Forderungen im Text werden sie implizit als untauglich für das Projekt einer ‚fröhlichen Wissenschaft‘ dargestellt. Die zehnte Strophe stellt den Höhepunkt der Ausgrenzung dar und leitet wieder zur positiven Bestimmung des ‚Projektes‘ über. Das „Scheuchen“ aus der vorherigen Strophe wird zum „Jagen“ gesteigert:87 Ist das „Scheuchen“ noch eine Praxis, bei der das Opfer überlebt, ist die Jagd bereits mit einer Tötungsabsicht

82 83 84 85 86 87

FW Anhang, KSA 3, 651, 13–15. FW Anhang, KSA 3, 651, 16–18. FW Anhang, KSA 3, 651, 15 u. 18. Vgl. GM III 13, KSA 5, 367–372. Vgl. GM III 15–19, KSA 5, 372–387. FW Anhang, KSA 3, 651, 15 u. 19.

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verbunden.88 Die Komposita, welche die Gruppe der Ausgegrenzten bezeichnen, stehen jetzt wieder explizit in Verbindung mit den meteorologischen Metaphern zur Bezeichnung des Mistrals („Himmels-Trüber“, „Welten-Schwärzer“, „WolkenSchieber“).89 Die ‚Depression‘, die dem Heraufziehen des Mistrals vorausgeht und die dieser beseitigt, wird jetzt explizit den Ausgegrenzten zugeschrieben – von einem meteorologischen Phänomen wird sie zu einem moralischen. Die Vertreibung des ‚schlechten Wetters‘ schließt allerdings deren ‚Verursacher‘ ein: Der Mistral-Wind ‚fegt‘ auch die „Himmels-Trüber“ hinweg. Das Ziel besteht nämlich im „Hellen“ des „Himmelreich[es]“.90 Die Alliteration lässt darauf schließen, dass das „Himmelreich“ an und für sich ‚hell‘ ist und von den „Welten-Schwärzer[n]“ künstlich verdunkelt wurde. Auffällig ist diese Metaphorik insofern, als sie offensichtlich auf die Gruppe der Pessimisten und Nihilisten gemünzt ist.91 Die Begriffe „Himmelreich“ und „Paradeis“ verweisen auf einen christlich konnotierten, utopischen Ort. Die dem Mistral-Wind zugeschriebenen Eigenschaften lassen diesen Ort jedoch – im Gegensatz zur christlichen Deutung – als Reich potentieller Erkenntnisse und der Pluralität „virtueller Ontologien“ erscheinen.92 Die zweite Strophenhälfte beginnt mit dem Ansatz einer Aufforderung („Brausen wir“93), der unvermittelt von einer Pause unterbrochen und anschließend durch eine Apostrophe des Mistral-Windes abgelöst wird, die ihn wiederum als den „Geist“ „aller freien Geister“ bezeichnet.94 In der Gemeinschaft mit dem Mistral findet das lyrische Ich sein „Glück“, das „dem Sturme gleich“ brause.95 Hier manifestiert sich nochmals der Schwebezustand des lyrischen Wir, der bereits festgestellt wurde: Der Mistral ist zwar subjektiviert, aber immer auch schon ein plurales Subjekt. Indem er das Wort ‚Brausen‘ hervorhebt, betont Nietzsche den akustischen, optischen und leiblichen Aspekt des Wetterphänomens, das er am Ende der zehnten Strophe mit dem ‚tanzenden‘ „Glück“ des Ichs gleichsetzt.96 Über den umarmenden Reim wird die Utopie der Erkenntnisvielfalt und des überwundenen Pessimismus mit diesem ‚tanzenden Glück‘ verbunden. 88 Vgl. hierzu auch die Formulierung „Trübsal-Mörder“ (FW Anhang, KSA 3, 649, 2). 89 FW Anhang, KSA 3, 651, 19 f. 90 FW Anhang, KSA 3, 651, 21. 91 Vgl. zu Nietzsches Kritik des (romantischen) Pessimismus allgemein die dritte Abhandlung der Genealogie der Moral (KSA 5, 339–412) sowie das fünfte Buch der Fröhlichen Wissenschaft (KSA 3, 573–638). 92 Zum Begriff der ‚virtuellen Ontologien‘ und seinem Wert für die Beschreibung von Nietzsches Denken vgl. Pichler, Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken, S. 179–190. 93 FW Anhang, KSA 3, 651, 22. 94 FW Anhang, KSA 3, 651, 22 f. 95 FW Anhang, KSA 3, 651, 24. 96 FW Anhang, KSA 3, 651, 24.  



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Besonders die als Steigerung arrangierte Stellung der negativ konnotierten Komposita deutet darauf hin, dass dieses Glück nur im Angesicht der ‚Ausgegrenzten‘ existiert, die einerseits Entstehungsbedingung des Mistrals, aber andererseits auch seine ‚Gegner‘ sind. Die Alliteration zwischen den Komposita-Teilen („Welten“ und „Wolken“, „Schwärzer“ und „Schieber“) aktualisiert die Wellenfigur des Gedichts.97 Darüber hinaus verbindet sie die „Welten“ und die „Wolken“, virtuelle Ontologie und Kunst, und pejorisiert die dem „Hellen“ und „Brausen“ entgegengesetzten Tätigkeiten des ‚Schwärzens‘ und ‚Schiebens‘.98 Übersetzte man dieses Glücksverständnis in Philosopheme Nietzsches, ließe sich darin seine Kritik des utilitaristischen bzw. nihilistischen Glücksbegriffs wiederfinden, die er zugunsten eines Begriffes von Glück formuliert, der Leid nicht ausschließt.99 Das Prinzip „Glück“ offenbart sich in diesem philosophischen Sinne nur als eine Metapher, die innerhalb der Moral dazu genutzt wird, um Menschen zu disziplinieren. Innerhalb des poetischen Zusammenhanges von Nietzsches Gedicht ist es dagegen auch möglich, die Glücksmetapher generell mit utopischen Vorstellungen in Verbindung zu bringen. Gleichwohl relativiert der poetische Zusammenhang den begrifflichen Geltungsbereich: Die poetische Verarbeitung des Nihilismus ist gleichbedeutend mit seiner Überwindung. Aus der Reflexion der Tatsache, dass der Nihilismus überhaupt der Grundstein dieser utopischen Vorstellungen und ihrer poetischen Mittel ist, entspringt eine selbstaufhebende Bewegung der dichterischen Reflexion. Da die Lieder des Prinzen Vogelfrei erst in der zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft veröffentlicht wurden, kann an dieser Stelle sogar von einem Selbstzitat Nietzsches gesprochen werden. Er zitiert hier nämlich Zarathustras Rede „Von den Dichtern“: Das aber glauben alle Dichter: dass wer im Grase oder an einsamen Gehängen liegend die Ohren spitze, Etwas von den Dingen erfahre, die zwischen Himmel und Erde sind. […] Ach, es giebt so viel Dinge zwischen Himmel und Erden, von denen sich nur die Dichter Etwas haben träumen lassen! Und zumal ü b e r dem Himmel: denn alle Götter sind Dichter-Gleichniss, DichterErschleichniss!100

Neben der Parallele zu dem Gedicht An Goethe findet sich in diesem Passus auch die Himmelsmetapher, die in Verbindung mit den Göttern explizit als „Dichter97 FW Anhang, KSA 3, 651, 20. 98 FW Anhang, KSA 3, 651, 20. 99 Vgl. bspw. Gloy, Karen, Zwischen Glück und Tragik. Philosophische Daseinsdeutungen, München 2014, S. 174–185. 100 Za II, KSA 4, 164, 18–29.

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Gleichniss, Dichter-Erschleichniss“ charakterisiert wird. Nietzsche erhöht den Komplexitätsgrad der inter- bzw. intratextuellen Verweise, insofern er die zehnte Strophe von An den Mistral über die Zarathustra-Textstelle mit dem Gedicht An Goethe verknüpft. Dieser Verweisungszusammenhang zeigt auch, dass Nietzsche nicht nur Personen und Figuren der geistesgeschichtlichen Tradition zum Ziel des dichterischen Aneignungsprozesses macht, sondern auch die eigenen Metaphern reappropriiert, reaktualisiert und refiguriert. Wie schon die sechste Strophe als formaler Mittelpunkt des Gedichts, ist auch die letzte Strophe durch ihre Stellung von besonderer Bedeutung für die Interpretation. Auch die Wiederaufnahme des die vorherige Strophe beschließenden Gedankenstrichs in der ersten Verszeile fällt auf.101 Ewig soll die Erinnerung an ein ‚solches Glück‘ währen, voller Ekstase fordert das lyrische Ich den MistralWind auf, den geflochtenen „K r a n z hier mit hinauf“ zu nehmen.102 Die steigernde Aufzählung („höher, ferner, weiter“) leitet schließlich das Bild der „Himmelsleiter“ ein, an deren Ende – unterbrochen durch einen Gedankenstrich – das Aufhängen des Kranzes „an den Sternen“ steht.103 Versteht man den „Kranz“ – der als letzte Hervorhebung des Gedichts innerhalb der Strophe im Vordergrund steht – weiterhin als Metapher für die Dichtung und gleichzeitig für dieses Gedicht selbst, so ist diese Stelle folgerichtig als eine ewige Bejahung der Dichtung und dieses Gedichts zu lesen. Dies steht mit dem Gedanken der ‚ewigen Wiederkunft‘ und der Vorstellung des amor fati aus der ersten Strophe in Verbindung. Gleichwohl wird reflektiert, inwiefern dieses Gedicht selbst zur Bejahung dieses Gedankens notwendig ist, da hierfür ein permanenter Aktualisierungsprozess vorausgesetzt werden muss. Schließlich kann die unausgesetzte Bejahung poetisch immer nur durch punktuelle Refigurationen der betreffenden Motive, Gedanken und Topoi stattfinden. Diese Refigurationen sind aber immer nur in Differenz zu den ausgeschlossenen Phänomenen, in diesem Fall zum Nihilismus, zu denken. Zwischen diesen Polen, zwischen dem philosophisch konstatierten Nihilismus und dessen poetischer Überwindung, schwebt aber auch die Interpretation und Reaktualisierung der Metaphern innerhalb des Gedichts selbst. Die ambivalente Erhebungsbewegung zu den „Sternen“ ist hierbei höchst relevant:104 Stehen die „Sterne[ ]“ zum einen symbolisch für das Höchste, dem Menschen Unerreichbare, sind sie zum anderen wissenschaftlich gut erforscht und folglich mythischen Vorstellungen weitgehend entkleidet. Das macht sie zum 101 102 103 104

Vgl. FW Anhang, KSA 3, 651, 24 f. FW Anhang, KSA 3, 651, 27. FW Anhang, KSA 3, 651, 28–30. FW Anhang, KSA 3, 651, 30.  

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Sinnbild für den Illusionismus der menschlichen Erkenntnisfähigkeit.105 In Nietzsches Texten stehen sie darüber hinaus noch häufig für ein Prinzip der individuell konzipierten, höchsten Autonomie. So etwa im „Vorspiel“-Gedicht Sternen-Moral106 und innerhalb des ersten Teils von Also sprach Zarathustra. An den Mistral reflektiert darüber hinaus in der Bezugnahme auf die Ewigkeit in der ersten und letzten Strophe die Gedanken der ‚Provenienz‘ und des ‚Gedächtnisses‘, die zentrale Aspekte der konstatierten Ambivalenz des Schaffenden implizit darstellen: Zum einen versteht der Schaffende sich aus der Vergangenheit heraus und entwirft sich auf die Zukunft hin. Gleichzeitig betont Nietzsche aber das Gedächtnis als Organ der produktiven Aufnahme und des Ursprungs der selbstkonstituierenden Fähigkeit des Schaffenden.107 Die von mir konstatierte Ambivalenz ergibt sich selbst immer erst aus einem unbewusst wirkenden Gedächtnis, welches das (Sich-)Vergessen als schöpferischen Akt seinerseits erst ermöglicht. Die Mnemotechnik als Produkt des Rhythmus und der Tanz als leibliches Ausüben des Rhythmus erscheinen vor diesem Hintergrund als Funktionen des Gedichts. Damit schreibt sich das Gedicht selbst in das Gedächtnis ein und spiegelt ebendiesen Prozess reflexiv wider.

3 Abschließend werde ich versuchen, die zentralen Deutungsaspekte, die ich durch die Analyse der einzelnen Strophen erarbeitet habe, anhand mehrerer Kernthesen zusammenzuführen: Erstens wird mich interessieren, wofür der besungene Mistral ‚steht‘. Mit Blick auf die philosophische Konzeptualisierung des MistralWindes erörtere ich zweitens, inwiefern durch die dichterische Form das Verfahren der philosophischen Konzeptualisierung notwendigerweise unzureichend bleibt. Schließlich werde ich erläutern, was die Dichtung Nietzsches für sein Philosophieren bedeutet. Was ‚bedeutet‘ der Mistral? Er erscheint als die personifizierte Philosophie Nietzsches. Er ist vor allem ein Movens, ein Dialogpartner, zu dem sich das lyrische Ich verhält und der von ihm bejubelt wird. Dieser Interpretation zufolge

105 Vgl. Treccani, Irene, Nietzsche und die Astronomie, in: Heit, Helmut / Heller, Lisa (Hrsg.), Handbuch: Nietzsche und die Wissenschaften. Natur-, geistes- und sozialwissenschaftliche Kontexte, Berlin / Boston 2014, S. 155–172; sowie zur poetologischen Funktion: Groddeck, Wolfram, „OH HIMMEL ÜBER MIR“. Zur kosmischen Wendung in Nietzsches Poetologie, in: Nietzsche-Studien, Jg. 18, Berlin / New York 1989, S. 490–508, insb. S. 495 f. u. S. 505–507. 106 FW Vorspiel 63, KSA 3, 367. 107 Vgl. FW 84, KSA 3, 440 u. GM II, 1 u. 3, 291–297.  

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findet von Seiten Nietzsches ein Dialog mit der eigenen Philosophie statt, die sich anhand des Gedichts auch genauer als ‚fröhliche Wissenschaft‘ charakterisieren lässt. Das metaphysische Bild des ‚beseelten Windes‘ wird Mittel der Überwindung ebendieses metaphysischen Erbes. Im Rückgriff auf die Poeseologie, die ich skizziert habe, wird hier Philosophie ‚neu geschaffen‘; sie kulminiert in der ‚Form‘ des Mistrals. ‚Fröhliche Wissenschaft‘ bedeutet sodann – sowohl in ihrer künstlerischen als auch in ihrer kritischen Umsetzung – ein neues Verständnis von Philosophie. Dabei handelt es sich um ein Konzept, das innerhalb des Diskurses und des (inter)textuellen Zusammenhanges immer wieder Thema ist, das aber auf der Metaebene diese Schaffensweise von Wissen selbst bezeichnet – und damit immer schon iteriert, erweitert und auch unterhöhlt. Hier wird eine Reflexionsschleife in die Philosophie eingearbeitet, die nie zum Abschluss finden kann, insofern sie immer wieder zwischen Fiktionalisierung als Produktion und der Kritik der Fiktion als Fundament der Neuproduktion schwebt. Beispielhaft stehen die Ausdrücke „der Freiheit freister Bruder“ und „aller freien / Geister Geist“ für diese Denkschleife und die paradoxale Beziehung zwischen Abhängigkeit und Unabhängigkeit („frei[ ]“ als Zu- und Festschreibung sowie Superlativierung des Freiseins). Sie reproduzieren sich zugleich, insofern beide in ihrem Potential zur Neubeschreibung selbst wieder in den Kreislauf integriert werden. Die Intertextualitätsstrategien dienen dazu, den Komplexitätsgrad des Prozesses zu erhöhen, in dem auch die Abhängigkeit von der literarischen und philosophischen Tradition reflektiert und diese gleichzeitig umgewertet wird. Der Begriff der Metapher, der in Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne noch als Zugang des Menschen zur Welt fungiert, wird im Verlauf der sprachphilosophischen Reflexionen von Nietzsche aufgegeben. Im Anschluss wird der Begriff des Zeichens zentral, der ein endloses Verweisungssystem stiftet, sodass nur noch die Rede von einer „Zeichen-Kette“ ist.108 Der Begriff der Metapher wird somit durch dieses Dichtungsverständnis ad absurdum geführt, steht doch alles, was durch Sprache produziert wird, fürderhin unter

108 GM II 12, KSA 5, 314, 21 f. Zu dieser Entwicklung vgl. Tietz, Udo, Phänomenologie des Scheins. Nietzsches sprachkritischer Perspektivismus, in: Nietzscheforschung, Jg. 7, Berlin 1999; zu meiner Kritik an der Verallgemeinerung der in Ueber Wahrheit und Lüge geäußerten Problematik auf die gesamte Sprachphilosophie Nietzsches vgl. Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, S. 83–91; sowie Patoussis, Stavros, Die Rolle und Wichtigkeit der Sprache in Nietzsches Konzept der Lebenskunst, in: Nietzscheforschung, Jg. 21, Berlin 2014; zur Erarbeitung des späten Zeichenbegriffes bei Nietzsche vgl. Stegmaier, Werner, Nietzsches Zeichen, in: Nietzsche-Studien, Jg. 29, Berlin / New York 2000, S. 41–69.  

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einem ,Fiktionalismusverdacht‘. Vor diesem Hintergrund korrelieren das Philosophieren und die Dichtung Nietzsches miteinander.109 Damit wird auch die Rede von einer ‚Übersetzung‘ der ‚dichterischen Metaphern‘ in ‚kritische Philosopheme‘ unsinnig, insofern hier kein Ursprünglichkeitsverhältnis besteht, sondern, wie das Gedicht selbst reflektiert, ein Prozess, der wiederaufnimmt, wiederverwendet und neu zusammensetzt. Die aufgenommenen Zeichen werden nicht einfach wiederholt, sondern sind Kommentare – also immer schon kritische Repliken auf das vorherige Schaffen. In ihrem schöpferischen Potential zerstören sie die vermeintliche ‚Wirklichkeit‘ der bisherigen Zeichen und zeigen ihre Fiktionalität auf. Die Themen des Tanzes und des Rhythmus beispielsweise, die in den Aphorismen der Fröhlichen Wissenschaft prosaisch durchdacht und erörtert werden, hebt Nietzsche damit auf eine Metaebene. Lyrik und Prosa stehen in einem ambivalenten Verhältnis zueinander: Die prosaische Reflexion ist nicht notwendig weniger nuanciert (vor allem mit Blick auf den Aphorismus 84 ließe sich das überzeugend zeigen), sie besitzt aber nicht dieselbe Nuance, die das Gedicht aufweist. Damit stehen sich die beiden Texte nicht inkommensurabel gegenüber, sondern kommentierend und verschiebend. Dichtung hat folglich eine zentrale Rolle innerhalb des Projektes der ‚fröhlichen Wissenschaft‘ und letzten Endes auch innerhalb der Philosophie inne. Aber erst durch die Ausreizung aller reflexiven Nuancen und die Umsetzung vieler (vor allem neuer) Perspektiven lässt sich ein derart radikales und kritisches Projekt realisieren. Der regelmäßige Rhythmus, in den diese Verweise eingebettet werden, fällt mit Blick auf die späte freirhythmische Lyrik Nietzsches besonders auf; dasselbe gilt für die durch männliche Kadenzen hervorgehobenen dritten und sechsten Verszeilen jeder Strophe. Der Tanz, den der ‚Textleib‘ aufführt, fällt weniger komplex und weniger frei strukturiert aus, als es beispielsweise bei den DionysosDithyramben der Fall ist. Aber bereits in diesem Gedicht werden Satzzeichen als Subtext zur Nuancierung des Rhythmus herangezogen (so zum Beispiel beim Übergang von der vorletzten zur letzten Strophe). Die detaillierte Interpretation hat gezeigt, dass An den Mistral eine Vielzahl von Verweisen aufweist. Aus der Menge an Verweisen habe ich solche herausgegriffen, die sich auf Nietzsches philosophische ‚Haupttexte‘ beziehen. Das Gedicht enthält aber auch textuelle Referenzen zu Goethe, zu meteorologischem und astronomischem Fachwissen sowie zum eigenen Werk, etwa zu Also sprach

109 Vgl. zu diesen Aspekten Pichler, Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken, S. 290–297; sowie Zittel, Das ästhetische Kalkül von Friedrich Nietzsches ‚Also sprach Zarathustra‘, S. 35–45.

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Zarathustra. Somit wird das Gedicht immer schon als Fiktion entlarvt. Gleichwohl entlarvt es selbst wiederum durch die Reaktualisierung der Verweise die Fiktionalität der vermeintlichen ‚Wirklichkeit‘ von Erkenntnissen und ihrer Veränderlichkeit.110 So steht das Mistral-Gedicht in einem ambivalenten Verhältnis zwischen Affirmation und Parodie der gewählten textuellen Bezüge.111 Es greift ihren ‚Rhythmus‘ auf und formt ihn im ‚Tanz‘ neu. Dieser Schwebezustand ist auch in der Konstitution des Mistral-Windes immer schon widergespiegelt: Seine paradoxe Struktur wird durch das Plurale und Fließende bestimmt. In gleicher Weise verleihen seine notwendig zeichenhafte Struktur und die Redeweise des lyrischen Ichs dem Mistral einen subjekthaften Charakter, der aber durch seine anderen Eigenschaften unterhöhlt wird: Er ist zugleich Heiterkeit und Ernst, Tradition und Subversion, Philosophie und Dichtung. Selbst die zuvor genannten Eigenschaften erweisen sich angesichts der gewonnenen Erkenntnisse als einschränkende, dem subversiven Potential des Mistrals nicht beikommende Zeichen. Der Mistral ‚ist‘ gleichzeitig konkretes Zeichen und „Zeichen-Kette“. Das Gleiche gilt für das Sprecher-Ich: Es entpuppt sich als Maske. Dabei ist nicht klar, wie weit die Ironie geht, kann diese doch auch nur bestehen, wenn präsumtiv eine Identifikation mit Nietzsche gegeben ist. Weder der Sprecher noch der Mistral haben feste Identitäten: Sie tanzen und transformieren sich – ihre Rollen sind dabei stets instabil. Der philosophische Zusammenhang besteht aus diesem Grund in einem sich selbst parodierenden Verhältnis. Das lyrische Ich kann als eine von Nietzsches Masken produktiv als ein In-der-Schwebe-Gehaltenes zwischen ‚Heiterkeit‘ und ‚grossem Ernst‘ verstanden werden.112 Es handelt 110 Dieses Verweisungsgeflecht lässt sich besonders anschaulich anhand der zweiten Ausgabe der Fröhlichen Wissenschaft zeigen. Die Veränderungen haben Groddeck dazu veranlasst, von „zwei Fröhliche[n] Wissenschaften“ zu sprechen, und das, was ich in diesem Beitrag versucht habe, als ‚Tanz‘ oder ‚Choreographie‘ zu beschreiben, hat er bereits anhand des Werkkompositionsprozesses der Fröhlichen Wissenschaft gezeigt. Vgl. Groddeck, Wolfram, Die „Neue Ausgabe“ der „Fröhlichen Wissenschaft“. Überlegungen zu Paratextualität und Werkkomposition in Nietzsches Schriften nach „Zarathustra“, in: Nietzsche-Studien, Jg. 26, Berlin / New York 1997, S. 184–198. 111 Zu der parodistischen Funktion der Lieder des Prinzen Vogelfrei vgl. prinzipiell FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 18–32: „oh wer mir das Alles nachfühlen könnte! Wer es aber könnte, würde mit sicher noch mehr zu Gute halten als etwas Thorheit, Ausgelassenheit, ,fröhliche Wissenschaft‘, – zum Beispiel die Handvoll Lieder, welche dem Buche dies Mal beigegeben sind – Lieder, in denen sich ein Dichter auf eine schwer verzeihliche Weise über alle Dichter lustig macht. – […] ‚Incipit t r a g o e d i a ‘ – heisst es am Schlusse dieses bedenklich-unbedenklichen Buchs: man sei auf seiner Hut! Irgend etwas ausbündig Schlimmes und Boshaftes kündigt sich an: incipit p a r o d i a , es ist kein Zweifel …“. Die Überblendung verschiedener Dichotomien in dieser Textstelle zeigt ebenfalls, inwiefern Dichtung und ‚fröhliche Wissenschaft‘ immer schon zusammenhängen. 112 Vgl. FW 343, KSA 3, 573–574; FW 107, KSA 3, 464 f.; sowie FW 382, KSA 3, 635–637.  

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sich um ein Zusammenspiel von ‚Selbst-Verständnissen‘, die auf traditionellen und subversiven Ich-Konzeptionen beruhen. Dieses Zusammenspiel nimmt Theo Meyer trotz seiner ansonsten treffenden Beobachtungen überhaupt nicht zur Kenntnis. Folglich übersieht er das subversive Element, das der Affirmation und Appropriation inhärent ist. Alle vermeintlichen Ewigkeitsvorstellungen Nietzsches werden durch diese inhärente Fiktionalisierung ad absurdum geführt und als etwas Scheinhaftes offengelegt.113 Auch das, was ich zu Beginn dieses Textes als Poeseologie bezeichnet habe, wird durch das Gedicht kommentiert: Wir kommen an den für die Wissenschaft entscheidenden Punkt, an dem selbst ihre Form ‚verflüssigt‘ wird. Was wir als Text innerhalb der metaphysischen Tradition vorfinden, bedarf des kritischen Blicks aus anderen und neuen Perspektiven. Der Text selbst ‚verflüssigt‘ die ‚klare‘, ‚feste‘, ‚starre‘ Poeseologie, die sich daher unaufhörlich wandelt. Damit steht das Gedicht aber nicht am Ende, sondern gleichzeitig am Anfang von Nietzsches Philosophie, und zwar als eine Schleife zwischen Ursprung und Supplement. Wie zu Beginn schon gesagt, ist die Heraushebung dieses Gedichts in Ecce homo auffällig: Der ‚Tanz über die Moral hinweg‘, den Nietzsche rückblickend in diesem Gedicht zu finden vermag, bezeichnet ein Tanzen, das sich selbst reflektiert. Die Philosophie Nietzsches wird darin selbstreflexiv. Im Anschluss an Groddeck lässt sich Nietzsches Vokabularpraxis deshalb als eine „Choreographie“114 bezeichnen. Damit leite ich zu meiner abschließenden These über. Wenn man das lyrische Schaffen Nietzsches aus dieser poeseologischen Perspektive betrachtet, erhalten die Dionysos-Dithyramben, die weit unzugänglicher sind als An den Mistral, eine neuartige Relevanz für die späte Philosophie Nietzsches. Groddecks monumentale Monographie zu den Dithyramben zeigt, in welcher Dichte dort Nietzsche’sche Denk- und Subversionsschleifen vorkommen und wie viele Ebenen der Rhythmik (bis hin zur Textzeichenrhythmik) darin zu finden sind.115 Das philosophische Anliegen Nietzsches ist auch in seinen späten Texten ein dichterisches. Dies hat

113 Vgl. Meyer, Nietzsche, S. 425 f. 114 Damit sei auch schon ausgesprochen, was mich mit Pichler und seinem Begriff der „Orchestikologie“ verbindet und was mich von ihm trennt. Neben der zentralen Stellung des Tanz- Motivs ist doch gerade die „-logie“ nicht das, was den Nuancenreichtum bedingt, sondern vielmehr das Graphische, die Schrift. Vgl. Pichler, Nietzsche, die Orchestikologie und das dissipative Denken, S. 190 f. Pichler entwickelt seinen Ansatz entsprechend weiter, ohne aber den Begriff weiter zu nutzen oder zu entwickeln. Vgl. Pichler, Axel, Philosophie als Text. Zur Darstellungsform der „Götzen-Dämmerung“, Berlin / Boston 2014. 115 Vgl. Groddeck, Wolfram (Ed.), Friedrich Nietzsche: „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2: Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk, Berlin / New York 1991.  



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beispielsweise weitreichende Konsequenzen für die Beurteilung des komplexen Zusammenhangs zwischen der zeitgleichen Arbeit am Antichristen und den Dionysos-Dithyramben. Die Differenz zwischen Textgattung, Intertextualitässtrategie und Vokabularentwicklung könnte wohl kaum frappanter sein. Vielleicht ist aber eine ‚Umwertung aller Werte‘ ohne das Dichterische gar keine? Wie sonst könnte Nietzsche die Fröhliche Wissenschaft als Geschenk des Monats Januar bezeichnen und in einem „Vers“ (!) besingen: Ein Vers, welcher die Dankbarkeit für den wunderbarsten Monat Januar ausdrückt, den ich erlebt habe – das ganze Buch ist sein Geschenk – verräth zur Genüge, aus welcher Tiefe heraus hier die ‚Wissenschaft‘ f r ö h l i c h geworden ist.116

116 EH FW, KSA 6, 333, 6–10. Und so eröffnet sich bereits ein weiterer Verweisungstext: das Gedicht, das ein dankbarer Nietzsche in Ecce homo dem Monat Januar widmet: „Der du mit dem Flammenspeere / Meiner Seele Eis zertheilst, / Dass sie brausend nun zum Meere / Ihrer höchsten Hoffnung eilt: / Heller stets und stets gesunder, / Frei im liebevollsten Muss – / Also preist sie deine Wunder, / Schönster Januarius!“ (EH FW, KSA 6, 333, 11–18).

Mike Rottmann

„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“: Nietzsches inszenierte Melancholie als poetische Begründung des zukünftigen Philosophen Mit zwei Exkursen zum Problem der Interpretation Nietzschescher Gedichte Abstract: „Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“: Nietzsche’s affected melancholy as the future philosopher’s poetic foundation. Containing two digressions on the reading of Nietzsche’s poems, this article attends to an incomplete poem of Nietzsche that was composed in the summer or autumn of 1885 and has been edited as NL 1885 45[5] in KSA 11, 709 f. It is central to the study to be aware of the draft’s material state which is presented in the diplomatic transcript of workbook W I 6 in volume 4 of KGW IX. Initially, the article provides several preliminary considerations on theoretical issues that define the hermeneutic premise. Then, a critical evaluation of the previous research on Nietzsche’s poetry is given. Finally, it is argued that Nietzsche’s draft becomes accessible as a ‘poetic antecedent’, if it is read in the context of a subsequent prose text that assumes the future philosopher to be a ‘free spirit’ having arisen from a poet’s way of life.  

Nicht die Ideen machen den eigentlichen Reiz der Poesie aus; der Philosoph hat deren vielleicht höhere: aber daß die kalte Denkbarkeit dieser Ideen in der Poesie eine Wirklichkeit erhält, das setzt uns in Entzücken. Franz Grillparzer, Tagebuch, 1822 Der Lyriker dagegen bemüht sich nicht, in seinem Gedicht die Sätze aus dem Gedicht eines anderen Lyrikers zu widerlegen; denn er weiß, daß er sich im Gebiet der Kunst und nicht in dem der Theorien befindet. Rudolf Carnap, Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache, 1932 alles Fertige hört auf, Behausung unsres Geistes zu sein; aber das Werden ist köstlich, was es auch sei – man sieht jetzt den warmen Atem der Arbeitenden als silbernen Hauch, der sich immerfort verliert… Max Frisch, Tagebuch, 1948

DOI 10.1515/9783110474374-010

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Mike Rottmann

1 Heuristische Kurven Es versteht sich keinesfalls von selbst, dass Nietzsches Gedichte als literarische Texte primär literaturwissenschaftlichen Analyseverfahren unterzogen werden können. Mehr noch: Die besondere Begründungspflicht scheint gar auf Seiten desjenigen zu liegen, der seine Interpretation eines Gedichtes Nietzsches nicht mit einer philosophischen Lektüre des Textes beginnen möchte oder dazu neigt, ein um 1880 entstandenes Gedicht als ein Beispiel für ‚Lyrik im 19. Jahrhundert‘ zu verstehen und es dementsprechend – wenn auch nur Probeweise – wie ein Gedicht des späten Goethe oder auch Heines, Mörikes oder Eichendorffs zu behandeln, indem er sich folgender Position anschließt: „‚Dichter‘ ist ein Schriftsteller als ‚Lyriker‘ – das gilt für Nietzsche ebenso wie für Storm.“1 Um den Erweis der Sinnhaftigkeit dieser Perspektive soll es im Folgenden ebenso gehen wie um die grundsätzliche Problematisierung jener Annahme, die von ‚philosophischen Inhalten‘ in den Gedichten Nietzsches per se ausgeht. Denn der Nachweis von Philosophie in der Form eines Gedichts setzt eine Vielzahl von Bedingungen voraus, die zunächst theoretisch durchdrungen und im Einzelfall dann stets aufs Neue erwiesen werden müssen. Dabei bleibt als fortdauernde Herausforderung bestehen, wie Heinrich Anz trefflich formuliert, „dieses Zwitterwesen Poesie als ein eigenständiges Phänomen logisch-ontologisch positiv aufzuklären.“2 Eine weitere Einsicht mag zunächst trivial erscheinen, bei genauerem Hinsehen sollte ihre Tragweite aber schwer von der Hand zu weisen sein: Der Zugriff auf Nietzsches Werk durch Forscher verschiedener Fachkulturen und das Problem der Diskutier- und Mitteilbarkeit, welches sich insbesondere an divergierenden Interpretationsbegriffen festmachen lässt.3 In der Tat ist es so, dass Nietzsches Werk Philosophen, Theologen, Literaturwissenschaftler, Editionsphilologen, Altphilologen und Kulturwissenschaftler beschäftigt. Das gemeinsame Interesse wird aber nur dann in ein produktives Gespräch überführt, wenn jeder Beitrag, der der weit-

1 Stockinger, Claudia, Paradigma Goethe? Die Lyrik des 19. Jahrhunderts und Goethe, in: Martus, Steffen u. a. (Hrsg.), Lyrik im 19. Jahrhundert. Gattungspoetik als Reflexionsmedium der Kultur, Bern u. a. 2005, S. 93–125, hier S. 98. 2 Anz, Heinrich, Poetische Sprache. Überlegungen zu ihrer ontologischen Bestimmung, in: Euphorion, Jg. 70, Heidelberg 1976, S. 340–358, hier S. 343. 3 Eine Übersicht bietet: Hermerén, Göran, Interpretation: Types and Criteria, in: Grazer philosophische Studien, Jg. 19, Amsterdam u. a. 1983, S. 131–161. Zur fortbestehenden Notwendigkeit, über das Interpretieren speziell in den Literaturwissenschaften nachzudenken, vgl. die Einleitung zu: Albrecht, Andrea u. a. (Hrsg.), Theorien, Methoden und Praktiken des Interpretierens, Berlin u. a. 2015, S. 1–20. Vgl. ferner Descher, Stefan u. a., Probleme der Interpretation von Literatur. Ein Überblick, in: dies. (Hrsg.), Literatur interpretieren. Interdisziplinäre Beiträge zur Theorie und Praxis, Münster 2015, S. 11–70.  











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läufigen scientific community vorgelegt wird, zumindest kurz, unter Zuhilfenahme etwa der Verkürzungsoptionen Fußnote, seine Prämissen wenigstens benennt.4 Festmachen lässt sich dieses Problem auch an dem Umstand, dass viele Interpreten so tun, als habe sich ihre Interpretationshaltung rein logisch aus der Eigenart des zu verhandelnden Textes ergeben, während es tatsächlich ihr Erkenntnisinteresse5 ist, das die Interpretation leitet,6 andererseits eine Reflexion über die Textart (hier: lyrische Poesie) nicht vorgenommen wird. Das führt im Allgemeinen dazu, dass die angewandten Interpretationsschritte nicht hinreichend dargelegt und begründet werden, infolgedessen weder umfassend nachvollziehbar noch kritisierbar sind. Die Richtigkeit der Gesamtinterpretation zeige sich demnach im sachlichen Gehalt (oder gerne auch: in der philosophischen Tiefe) der Ergebnisse, deren Darstellung losgelöst von ihrer textuellen Darstellungsweise ausschließlich die Mitteilung bestimmen. In den Geisteswissenschaften sind Forschungsresultate aber nur dann mehr als oberflächlich diskutierbar und kritisierbar, wenn man den Argumentationsgang als belehrungswilliger Rezipient durchschauen kann. Und es versteht sich nun einmal nicht von selbst, dass Gedichte ohne Rücksicht auf ihre Form, ohne Augenmerk auf ihren spezifischen Umgang mit Sprache diskutiert werden können; wer Strophen wie komplexe Argumente, Verse wie Aussagen oder Beispiele behandelt oder in zeitlich weit auseinanderliegenden Gedichten eine zusammenhängende, komplexe Argumentations- oder Denkstruktur zu erkennen glaubt, kann bei sorgfältiger Begründung und nachvollziehbarer Darstellung viel Anerkennung ernten – im weniger günstigen Fall leistet er lediglich einer subjektivistischen Verfärbung wissenschaftlicher Standards Vorschub.

4 Ein Bewusstsein über diesen Mangel kommt auch in der Zielsetzung der Nietzsche-Werkstatt 2011 zum Ausdruck: „Dazu sollten nach der langen Reihe methodisch meist unorientierter und darum auch wenig aufeinander bezogener, denkbar vielfältiger und miteinander kaum verträglicher, im Ganzen inzwischen unübersehbar gewordener Großinterpretationen mögliche Kriterien einer methodischen und stärker kooperativen Nietzsche-Interpretation erarbeitet werden.“ (Bertino, Andrea Christian / Stegmaier, Werner, Einleitung, in: Nietzscheforschung, Jg. 19, Berlin 2012, S. 265–267, hier S. 265). 5 Vgl. dazu die Beispiele bei Schober, Angelika, Man findet bei Nietzsche, was man sucht, in: Pornschlegel, Clemens / Stingelin, Martin (Hrsg.), Nietzsche und Frankreich, Berlin / New York 2009, S. 117–133. 6 Das formuliert prägnant: Demmerling, Christoph, Philosophie als literarische Kultur? Bemerkungen zum Verhältnis von Philosophie, Philosophiekritik und Literatur im Anschluss an Richard Rorty, in: Schäfer, Thomas u. a. (Hrsg.), Hinter den Spiegeln. Beiträge zur Philosophie Richard Rortys mit Erwiderungen von Richard Rorty, Frankfurt/Main 2001, S. 325–352, hier S. 345 f.: „Philosophische und literarische Texte werden als solche nicht einfach vorgefunden, sondern was ein Text ist, hängt immer auch davon ab, wie und als was er gelesen wird. Nicht Texten, sondern Lesern […] kommt ein entscheidender Anteil bei der Produktion philosophischen bzw. literarischen Sinns zu.“  



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Aber zurück zu Nietzsche: Wenn Eugen Biser noch 1980 die „Wieder-und Neuentdeckung“ Nietzsches ab den 1950er Jahren zu Recht als „Prioritätsstreit zwischen seiner psychologischen und seiner philosophischen Interpretation“ charakterisieren und im Hinblick auf die Gesamtausgabe von Colli und Montinari von einem „ungeahnten Auftrieb“ der Nietzsche-Philologie sprechen konnte,7 so plädierte Ekkehart Schaffer schon 1997 für „einen Dialog zwischen Philosophie und Philologie […], der eine Annäherung an die Wurzeln des Nietzscheschen Denkens ermöglicht.“8 Das für die Gegenwart festzustellende konfrontationsarme Nebeneinander philosophischer und literaturwissenschaftlicher Interpretationsansätze einschließlich eines – soweit ich sehen kann – Fehlens von Deutungskontroversen wird indes erst dann in einen produktiven Austausch in gegenseitiger Achtung überführt werden, wenn der umsichtigen Forderung Schaffers Rechnung getragen wird: Die Verknüpfung von Philologie und Philosophie ist nach ihrem Fundament kritisch zu hinterfragen, die Grenzüberschreitung der Wissenschaften ist wissenschaftstheoretisch zu begründen. Erst wenn diese Begründung geleistet ist, kann sich das Gespräch zwischen Philologie und Philosophie auf methodisch sicherem Boden bewegen.9

Weil es hierzu an Ansätzen fehlt, bleibt eine wahrnehmbare Vermittlung zwischen den disziplinären Diskursen ein Desiderat.10 Wirft man einen Blick zurück in das 19. Jahrhundert, so fällt ein Rückschritt in der Wahrnehmung wechselseitiger Abhängigkeit auf: Philologie und Philosophie bedingen sich wechselseitig; denn man kann das Erkannte nicht erkennen ohne überhaupt zu erkennen, und man kann auch nicht zu einer Erkenntnis schlechthin gelangen ohne, was Andere erkannt haben, zu kennen. Die Philosophie geht vom

7 Vgl. Biser, Eugen, Das Desiderat einer Nietzsche-Hermeneutik. Der Gang der Wirkungsgeschichte, in: Nietzsche-Studien, Jg. 9, Berlin / New York 1980, S. 1–37, hier S. 6. 8 Schaffer, Ekkehart, Philosophie und Philologie bei Nietzsche. Neuere Tendenzen der NietzscheForschung, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 71, Heft 4, Stuttgart / Weimar 1997, S. 635–646, S. 641. 9 Schaffer, Philosophie und Philologie bei Nietzsche, S. 644. 10 Instruktive Anhaltspunkte zur Rekonstruktion einer historisch überspülten Solidarität von Philologie und Philosophie und zur „Philologie als Anwendung der Urteilskraft auf textuelle Daten“ bietet: Thouard, Denis, Die Ausübung der Vernunft an der Sprache. Philologische Begriffe und Wirkungen in der Philosophie, in: Geschichte der Germanistik, Jg. 31/32, Göttingen 2007, S. 78– 86. Vgl. ferner Scholtz, Gunter, Gibt es eine innere Einheit von Philologie und Philosophie?, in: Senger, Hans Gerhard (Hrsg.), Philologie und Philosophie, Tübingen 1998, S. 58–70; sowie das Geleitwort und die Beiträge des dem Thema „Philosophie & Philologie“ gewidmeten Heft 14 der TEXTkritischen Beiträge, Frankfurt/Main / Basel 2013.

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Begriff aus, die Philologie in der Behandlung ihres Stoffes, welcher die Hälfte des philosophischen Gegenstandes ist (die andere Hälfte ist die Natur), vom zufällig Vorhandenen.11

Im 20. Jahrhundert hat die akademisch institutionalisierte Philosophie demgegenüber ihre Differenz zur philologischen Methode unterstrichen, indem sie den Gegenstand ihrer Auslegungsbemühungen so definierte, dass die Philologie wohl hilfswissenschaftlich dienen, sonst aber nichts beitragen könne. Besonders deutlich hat dies Martin Heidegger12 vorausgesetzt, aber auch in späterer Generation bleibt diese Auffassung bestehen. Dieser Beitrag versucht nicht, die zweifelsohne wichtige wissenschaftstheoretische Fundierung zu leisten, sondern nur im Vollzug der eigenen Arbeit philologische und philosophische Methoden in einer am Gegenstand orientierten und ihm angemessenen Weise zu verwenden. Um hier einem potentiellen Einwand vorbeugend zu begegnen: Weder ist ein methodischer Purismus die verdeckte Triebfeder meiner Argumentation, noch ist es das Bedürfnis, eine fiktionale disziplinäre Rangstreitigkeit mit dem Interesse zu inszenieren, die Zuständigkeit für Nietzsches Gedichte einzig der unter Prestigeverlust leidenden Literaturwissenschaft zuzuschlagen. Vielmehr geht es darum, unter Berufung auf die Eigenart der Texte für eine Priorisierung der Interpretationsschritte plädieren zu können, für die gilt, dass Erwägungen über philosophische Gehalte von poetischen Texten eben nicht am Anfang, sondern vielmehr am Ende, jedenfalls nach einer ganzen Reihe vorgelagerter Analysen, anzustellen sind. Ferner geht es um eine Verständigung über den Kernbereich originär literaturwissenschaftlicher Kompetenz und eine Besinnung auf jene Fähigkeiten, die bei aller notwendigen interdisziplinären Ausschweifung die Spezialität des Philologen ist. Setzt man voraus, dass Nietzsche seine poetischen Texte gleich seinen philosophischen Texten ernst gemeint hat, dann sollte ein Verstehen der ästhetischen Wirkung das vorrangige Interesse des Literaturwissenschaftlers sein, will er seine fachliche Zuständigkeit überzeugend behaupten. Nietzsches Gedichte, so also die Überzeugung, sollen als ästhetisch-poetische Texte verstanden werden, woraus zunächst einmal folgt, dass das darin Gesagte nie das bedeuten kann, was wir ‚einfach so‘ zu lesen vermögen (beispielsweise: Sonne = Himmelskörper). Entspre-

11 Boeckh, August, Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hrsg. v. Ernst Bratuschek, Leipzig 1877, S. 17. 12 Vgl. Heidegger, Martin, Kant und das Problem der Metaphysik, 2. Auflage, Frankfurt/Main 1951, S. 7: „Unablässig stößt man sich an der Gewaltsamkeit meiner Auslegungen. […] Die philosophiehistorische Forschung ist mit diesem Vorwurf sogar jedesmal im Recht, wenn er sich gegen Versuche richtet, die ein denkendes Gespräch zwischen Denkenden in Gang bringen möchten. Im Unterschied zu den Methoden der historischen Philologie, die ihre eigenen Aufgaben hat, steht ein denkendes Zwiegespräch unter anderen Gesetzen.“

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chend banal wäre die Ermittlung eines propositionalen Gehalts. Es geht also nicht darum, einen philosophischen Gedanken zu fixieren, sondern vielmehr um die Beschreibung sprachlicher Komplexität und Bezüglichkeit, schließlich um die Dokumentation sinnlicher Wahrnehmung und Erkenntnis. Nach Peter Szondi ist es entscheidend, „den ästhetischen Charakter der auszulegenden Texte nicht erst in seiner Würdigung [zu berücksichtigen], die auf die Auslegung folgt, sondern zur Prämisse der Auslegung selbst“13 zu machen. Dass damit kein Allgemeinplatz verteidigt, sondern Neuland gewonnen werden soll, macht eine unlängst erhobene, dabei zu Recht von Unverständnis getragene Frage Claus Zittels deutlich: „Warum also nur diese beständige Flucht vor der Kunst seitens der Nietzsche-Interpreten?“14

2 Historischer Exkurs: Hans Leisegangs Gedichtinterpretationen Wenn im Folgenden das Schlaglicht auf ein Stück Forschungsgeschichte geworfen wird, dann dient dieses Unternehmen primär dem Zweck, die Genese von Prämissen vor dem Hintergrund des eigenen Auslegungsinteresses historischkritisch zu rekonstruieren. Die Notwendigkeit eines Blicks in die Forschungsgeschichte erscheint mir schon deshalb gegeben, weil einmal etablierte Grundlagen oft ohne kritische Prüfung stillschweigend übernommen werden und den Fortgang der Forschung als untergründige Traditionslinien bestimmen, auch wenn nicht mehr explizit auf ältere Literatur Bezug genommen wird. Für dieses Interesse ergibt sich ein geeigneter Ausgangspunkt, wenn wir einer Huldigung Manfred Riedels auch ihrem sachlichen Gehalt nach folgen: „Hans Leisegang [hat] als erster Denker in diesem Jahrhundert Nietzsches Lyrik in einer bedeutenden Studie gewürdigt […]. Leisegangs Achtung vor der Wahrheit des dichterischen Wortes entsprach seiner Wahrhaftigkeit und einem unter Philosophen seltenen Mut“.15 Anhand der von Riedel hochgelobten Studie Hans Leisegangs,16

13 Szondi, Peter, Einführung in die literarische Hermeneutik, hrsg. v. Jean Bollack und Helen Stierlin, Frankfurt/Main 1975, S. 13. 14 Zittel, Claus, „In öden Eisbär-Zonen“. Die Schlussverse „Aus hohen Bergen. Nachgesang“, in: Born, Marcus Andreas (Hrsg.), Jenseits von Gut und Böse, Berlin 2014, S. 207–236, hier S. 209. 15 Riedel, Manfred, Freilichtgedanken. Nietzsches dichterische Welterfahrung, Stuttgart 1998, S. 337. 16 Hans Leisegang (1890–1951) studierte in Straßburg und Paris und wurde 1911 von Clemens Baeumker promoviert. Er habilitierte sich 1920 an der Universität Leipzig und wurde 1930 als

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die 1929 in dem von Ludwig Stein herausgegeben Archiv für systematische Philosophie und Soziologie erschien und tatsächlich die erste, in einer Fachzeitschrift erschienene Abhandlung zu den Gedichten Nietzsches darstellt,17 lässt sich aufgrund der erkenntnistheoretischen Anlage und methodischen Durchführung ein spezifisches Problem studieren. Seine Grundannahme, um die es mir hier geht, legt Leisegang im ersten Absatz seiner Arbeit deutlich dar: Philosophie und Dichtung sind irgendwie miteinander wesensverwandt und können ineinander übergehen. Philosophie in Form des Gedichtes ist […] keine literarische Seltenheit. Umgekehrt kann man sagen, daß es keine große Dichtung gibt ohne weltanschaulichen, ohne philosophischen Hintergrund. Nicht nur durch das Morgentor des Schönen dringt der Dichter in der Erkenntnis Land, sondern die Erkenntnis, der tiefere Blick in die Zusammenhänge des Lebens, der metaphysische Blick, läßt ihn das Schöne erst erfassen in seinem tieferen Sinn und in seiner ewigen Bedeutung, durch die allein es zum Kunstwerk werden kann. Wie aber Philosophie und Dichtung zusammenhängen, wo ihre Berührungspunkte liegen, läßt sich im allgemeinen nicht sagen; denn die Verbindung des Dichterischen mit dem Philosophischen ist bei jedem Denker, der zum Dichter, und jedem Dichter, der zum Denker wurde, immer wieder ganz anders gewesen, und sie muß für jeden neu aufgefunden und erforscht werden.18

Während dem letztgenannten Gesichtspunkt, verstanden als Plädoyer für die individualisierte Betrachtung poetischer und philosophischer Texte, unbedingt zuzustimmen ist, so sollte der frühzeitigen, noch vor den ersten Kontakt mit einem einzelnen poetischen Text gesetzten Behauptung von einer konstitutionellen Verwandtschaft mit (oder Abhängigkeit von) der Philosophie unbedingt und aus prinzipiellen Gründen widersprochen werden. Dabei geht es nicht darum, den Zusammenhang von Dichtung und Philosophie grundsätzlich zu bestreiten; die

Nachfolger Max Wundts an die Universität Jena berufen. Als ‚Wunschkandidat‘ Elisabeth FörsterNietzsches intensivierte Leisegang den Austausch zwischen Universität und Nietzsche-Archiv und führte als designierter Herausgeber der Historisch-kritischen Gesamtausgabe Verhandlungen mit dem Verlag Felix Meiner, bis seine Forderung nach wissenschaftlicher Autonomie und einem unbegrenzten Zugriff auf den Nachlass zum Zerwürfnis mit Förster-Nietzsche führte. 17 Bis 1929 verzeichnet die Weimarer Nietzsche-Bibliographie (Bd. 3: Sekundärliteratur 1867– 1998. Nietzsches geistige und geschichtlich-kulturelle Lebensbeziehungen, sein Denken und Schaffen, bearbeitet von Susanne Jung u. a., Stuttgart / Weimar 2002, S. 874–885) 22 Einträge in der Rubrik „Nietzsche als Dichter“; dabei handelt es sich zumeist um kürzere Feuilletons und populäre Abhandlungen mit Überschriften wie „Nietzsche als Dichter“ oder „Nietzsche als Lyriker“ (11) sowie um Rezensionen der von Elisabeth Förster-Nietzsche herausgegeben Gedichtsammlung Gedichte und Sprüche (2). Ferner findet Nietzsche in literaturhistorischen Überblicksdarstellungen, etwa bei Philipp Witkop und Oskar Walzel, Erwähnung (4). 18 Leisegang, Hans, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, in: Archiv für systematische Philosophie und Soziologie, Jg. 33, Berlin 1929 (= Festgabe für Ludwig Stein zum siebzigsten Geburtstag), S. 281–307, hier S. 281.  

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Forderung besteht vielmehr darin, den möglichen philosophischen Horizont eines poetischen Textes an angemessener Stelle zu erwägen, nicht aber, Philosophie als wesenskonstitutiv für die Begründung, Herstellung und Wirkung eines Gedichtes a priori zu behaupten. Denn die „Achtung vor dem dichterischen Wort“ steht gerade dann in Frage, wenn im Vollzug der sich regelmäßig aus genau dieser Grundannahme entwickelnden Methode der Gedichtauslegung eine einseitige Wahrnehmung begründet wird oder, in der Konsequenz noch gravierender, externe Beweisinteressen über den Text gestülpt werden. Die kritisierte Methode besteht im ‚analytischen Extrahieren‘ der als grundlegend vermuteten (philosophischen) Überlegung und in der daran anschließenden, zwangsläufig mehr konstruierenden als rekonstruierenden Rückführung des ‚poetisch verfremdeten Gedankens‘ in die Gestalt einer propositionalen und mithin diskursfähigen Aussage und einer Einordnung in den persönlichen und geistesgeschichtlichen Kontext.19 Es sind drei zusammenhängende Denkfiguren, die Leisegangs methodische Orientierung und seine Nähe zur Dilthey’schen Parole des „Hineinversetzen, Nachbilden, Verstehen“20 anzeigen. So führt er „die gröbsten Fehler“ von Interpreten darauf zurück, dass „es ihnen meist nicht möglich ist, die geistige Situation nachzuerleben, aus der heraus sie [die Werke der Künstler] geschrieben wurden.“21 Eine daran anschließende Kritik an dem Dichtungskapitel „Scherz, List und Rache“ in Ernst Bertrams Nietzschebuch22 unterstreicht diesen Punkt noch einmal deutlicher. Bertram verfahre nicht tiefgehend genug, indem er es unversucht lasse, sich auf „die philosophische Deutung des Inhalts und die Wiedererweckung der geistigen Verfassung Nietzsches einzulassen, aus der sich ein miterlebendes Verstehen von selbst ergibt.“23 Unter der Leitmethode des „miterlebende[n] Verstehen[s]“ soll der Exeget also erstens versuchen, die geistige Situation des Dich-

19 Vgl. auch die Kritik Christoph Demmerlings an der Methode Richard Rortys: „Rorty übersetzt, was die fraglichen Autoren sagen wollen, in einen propositionalen (!) Diskurs. In Frage steht allein, was die Texte sagen. […] Was literarische Texte über dasjenige, was sie sagen, hinaus enthalten, dasjenige also, was sie uns zeigen, wird von Rorty nicht mehr eigens thematisiert. Es ist die Sinnlichkeit unserer Sprache, die in der Literatur in ganz anderer Weise im Zentrum steht als in der Philosophie. […] Wer die Literatur lediglich als eine Quelle von Neubeschreibungen betrachtet, missachtet mit ihrer Sinnlichkeit ihren Kunstcharakter. Er reduziert den literarischen Text auf einen Sinn ohne Sinnlichkeit – und gerade das ist der literarische Text nicht.“ (Demmerling, Philosophie als literarische Kultur?, S. 350 f.). 20 Dilthey, Wilhelm, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften, Frankfurt/Main 1981, S. 263. 21 Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 282. 22 Vgl. Bertram, Ernst, Nietzsche. Versuch einer Mythologie, Berlin 1918, S. 237–248. Vgl. dazu den Beitrag von Ann-Christin Bolay in diesem Band. 23 Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 282.  

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ters „nachzuerleben“, und zweitens die „Wiedererweckung“ der – im Text zum Ausdruck kommenden – geistigen Verfassung des Dichters leisten. Leisegangs methodischer Standpunkt, seine philosophisch-exegetische Methode schlechthin, die er, wie wir noch sehen werden, auf Nietzsches Gedichte anwendet, muss aber zum volleren Verständnis an anderer Stelle aufgesucht werden, nämlich in seinem 1928 erschienen Hauptwerk Denkformen. Dort heißt es: Jede Methode hat sich nach dem Material zu richten, das durch sie bearbeitet werden soll. Sollen die Denkformen nicht konstruiert, sondern aus gedachten Gedanken empirisch durch Induktion gewonnen werden, so bilden in einzelnen Texten schriftlich ausgedrückte Gedanken das Material, das auf sein logisches Gefüge zu untersuchen ist.24

Nach dieser Grundlegung unterscheidet Leisegang zwischen Inhalten erster und zweiter Ordnung; unter einem Inhalt erster Ordnung versteht er „irgendein nicht von Menschen geschaffenes Gebilde“, z. B. eine Pflanze; diese besitze eine „immanente Logik“, die jedoch nicht mit den Mitteln „mathematisch-mechanischen Denkens“, mit Zirkel und Lineal, erfassbar sei.25 Unter Inhalten zweiter Ordnung versteht Leisegang „von Menschen erdachte und geschaffene sinnvolle Werke, die in sich die ‚Logik‘ menschlichen Denkens tragen“.26 Entscheidend ist, dass „[s]ämtliche Schriftwerke, in denen Menschen ihre Gedanken ausdrücken“,27 als Inhalte zweiter Ordnung definiert werden. Weil Schriftwerke aber nicht zwangsläufig in einer mathematisch erfassbaren logischen Struktur geschaffen sind, sondern in einer „ihrem Gegenstand möglichst angepaßt[en]“ Denkform, kommt Leisegang zu folgendem Auslegungsverfahren: Darum wird auch die Analyse eines in einer uns ungewohnten Denkform geschriebenen Textes dann am besten gelingen, wenn wir die Inhalte wieder auffinden können, zu dessen Erfassung sie geschaffen wurde und deren logische Struktur sich irgendwie auch in der entsprechenden Denkform wiederfinden lassen muß.28

Genau diesen Maßstab muss Leisegang auch an die Gedichte Nietzsches anlegen, denn: Die Gedichte sind zunächst aus der Sphäre des rein Menschlichen heraus schwer zu verstehen; denn sie wurzeln nur in einer Schicht menschlichen Lebens und Erlebens. Alles Triebkraft-Instinktive, das sich darüber aufbauende Seelische tritt weit zurück. Wir atmen

24 25 26 27 28

Leisegang, Hans, Denkformen, Berlin / Leipzig 1928, S. 49. Leisegang, Denkformen, S. 50. Leisegang, Denkformen, S. 50. Leisegang, Denkformen, S. 51. Leisegang, Denkformen, S. 51.

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fast immer nur die kalte Höhenluft des rein Geistigen, das aber mit einer ungeheuren Leidenschaft erfaßt und durchlebt wird. Die Landschaft, die Nietzsche sieht und deren Wirkung auf sich selbst er darstellt, wird nicht erfaßt in ihrem ganzen Gefühlswert; was an ihr wichtig ist, das ist ihre Wirkung auf den Denkprozeß, das ist der Gedanke und das Denken selbst, das in ihr lebt.29

Nietzsche, so Leisegangs These, erlebt seine eigenen Denkbewegungen, seinen „Denkprozeß“ (das „rein Geistige[ ]“), leidenschaftlich und dokumentiert die Leidenschaft bei der Erzeugung philosophischer Gedanken in den Gedichten, indem er sie sprachlich abbildet. Unter dem „Geistigen“ versteht Leisegang, wie er an späterer Stelle erläutert, „die Gedankenwelt, in der ein Mensch lebt, die er über sich errichtet und nach der er sein Leben und das seiner Mitmenschen formen und gestalten möchte, weil diese Gedankenwelt für ihn die vom Individuum lösbare Wahrheit an sich ist, die allgemeine Anerkennung fordert.“30 Reduziert man diesen Vortrag auf seinen ‚sachlichen Gehalt‘, so erscheint die Deutung durchaus attraktiv: Im Mittelpunkt steht eine komplexe Schriftstellerpersönlichkeit, die nicht nur Gedanken in Prosa zu Papier bringt, sondern darüber hinaus auch die Erzeugung dieser Gedanken in lyrischer Sprache festhält. Die Vagheit dieser Annahme (oder: ihre spekulative Höhe) wird deutlich, sobald man versucht, die These anhand von Leisegangs Beispielen zu verifizieren. Als Beleg für die zu konstatierende „Beschränkung auf die Region des Geistigen“ und die vollständige Abwesenheit von „Liebe zum anderen Geschlecht“ in Form von „erotische[m] Getändel, Lüsternheit und seelenlose[m] Spiel mit dem Feuer der Sinnlichkeit“31 dienen Leisegang eineinhalb Strophen aus dem dritten Abschnitt des zweiten ‚Dionysos-Dithyrambus‘ Unter Töchtern der Wüste.32 Der zitierte Teil des Gedichtes wird aber nicht ausgelegt, sondern gleichsam als Ergebnis der Lektüre festgestellt: „An die Stelle der Liebe tritt die Sehnsucht nach Freundschaft und der endlose Schmerz über verlorene Freunde. Was aber versteht Nietzsche unter Freundschaft?“33 An dieser Stelle wird bereits der Mangel im Umgang mit den zitierten Gedichten deutlich: Es geht überhaupt nicht darum, die Texte als literarische Texte zu verstehen und auf ihre Funktionsweise hin zu befragen. Ohne dem Leser auch nur den geringsten Hinweis an die Hand zu geben, woran er zu sehen glaubt, dass es in den eineinhalb Strophen des zweiten ‚Dithyrambus‘ um „Freundschaft“ geht, erläutert Leisegang die völlig selbstständige Frage, was Nietzsche unter Freundschaft verstehe. Von einer Auslegung des Gedichts kann hier nicht die

29 30 31 32 33

Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 282. Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 285. Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 283. Vgl. DD Unter Töchtern der Wüste, KSA 6, 384, 1–21. Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 283.

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Rede sein, zugleich sind die sich anschließenden Ausführungen von Nietzsches Freundschaftsbegriff einschließlich der Nennung eines Zarathustra-Kapitels, sodann Goethes und Schillers, schließlich Richard Wagners, argumentativ die Voraussetzung für die Einführung von zwei weiteren Strophen des Gedichts Aus hohen Bergen,34 das als Teil von Jenseits von Gut und Böse veröffentlich wurde. Der „Schmerz“ nämlich, verursacht durch den Kampf „gegen sich selbst und gegen die Freunde“, sei „der Drang“, der dem Gedicht zugrunde liege. Der Abdruck der beiden Strophen führt abermals nicht zu einer Textauslegung, vielmehr veranlasst er Leisegang dazu, die „Unterscheidung des rein Geistigen, in dem sich Nietzsche bewegt, von den seelischen Regungen, die er zugunsten des Geistigen unterdrückt“,35 noch einmal näher zu erklären. An dieser Stelle beende ich den historischen Exkurs, denn es steht bereits fest, dass es in Leisegangs Beitrag nicht um Gedichte als poetische Texte geht, sondern um den Versuch, die Ursache für das Verfassen von Gedichten durch Entschlüsselung von biographisch-weltanschaulichen Zusammenhängen zu entwickeln.

3 Systematischer Exkurs: Dichtung und Philosophie – Wahlverwandtschaft oder Zwangsehe? Im vorangehenden Kapitel habe ich anhand eines forschungsgeschichtlich relevanten Ansatzes zu zeigen versucht, weshalb es unzulänglich ist, Gedichte als literarische Texte lediglich auf philosophische Gedanken hin zu untersuchen, ohne dabei mit textuellen Phänomenen zu arbeiten oder ästhetische Wirkungsformen zu dokumentieren. Was sich für literarische Texte als unangemessenes Verfahren erweist, gilt freilich nicht für philosophische Texte, die als solche vom Autor gekennzeichnet sind. So konstatiert Gottfried Gabriel mit Blick auf eine Differenzierung bei der Interpretation literarischer und philosophischer Texte: „Die Einwände gegen die Möglichkeit, so etwas wie den vom Autor intendierten Sinn interpretierend reproduzieren zu können, haben bei philosophischen Texten von vornherein aus semantischen Gründen weit weniger Plausibilität als bei literarischen.“36 Denn: „In literarischen Texten sagt der Autor nicht, was er meint, 34 Vgl. JGB Nachgesang, KSA 5, 242, 6–15. 35 Leisegang, Zu Friedrich Nietzsches Gedichten, S. 285. 36 Gabriel, Gottfried, Zur Interpretation literarischer und philosophischer Texte, in: Danneberg, Lutz / Vollhardt, Friedrich (Hrsg.), Vom Umgang mit Literatur und Literaturgeschichte. Positionen und Perspektiven nach der Theoriedebatte, Stuttgart 1992, S. 239–250, hier S. 246.

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er zeigt es vielmehr. Für philosophische Texte gilt dagegen das Umgekehrte.“37 Mit dem Namen Gottfried Gabriel ist darüber hinaus ein wichtiger Forschungszusammenhang angesprochen, der seit den 1980er Jahren auch in Deutschland ein verstärktes Interesse auf sich gezogen hat: Die methodische Funktion literarischer Darstellungsformen in der Philosophie und das Verhältnis von logischwissenschaftlichem und analogisch-ästhetischem Denken. Für meinen Beitrag ist die Art des Umgangs mit den dort verhandelten Fragen deshalb von Bedeutung, weil sie sich dem Phänomen grundsätzlich aus einer theoretischen Perspektive nähern, indem prinzipielle Aussagen abseits eigener Textauslegungen getroffen werden und damit nicht Gefahr laufen, den systematischen Anspruch im Angesicht einer konkreten Interpretation aufzugeben. In einem aktuellen Beitrag, der sich dieser Verfahrensweise verpflichtet weiß, hat Christiane Schildknecht die Perspektiven einer Überschneidung von Literatur und Philosophie systematisch zusammengefasst. Im Folgenden erläutere ich eine der von Schildknecht entwickelten Perspektiven, die für mein Thema fruchtbar ist und darüber hinaus am ehesten geeignet ist, dem Phänomen begrifflich gerecht zu werden: „Philosophie in Literatur“. Daraus lassen sich vier Aspekte bzw. Fragefunktionen entwickeln, die ich knapp umreißen möchte: 1. Der „Dichterphilosoph“ oder die Nivellierung von Gattungsgrenzen; 2. Wissen oder Erkenntnis; 3. Wie kommt Philosophie in die Dichtung? Das Kontext-Problem; 4. Kann man poetisch philosophieren? Unter „Philosophie in Literatur“ versteht Christiane Schildknecht „die Behandlung philosophischer Inhalte in Form von Literatur“,38 also z. B. in Form von Gedichten. Wichtig für eine Annäherung an dieses Phänomen ist die Feststellung, dass „ Philosophie in Literatur nicht nur eine literaturwissenschaftliche Fragestellung, sondern wesentlich ein philosophieinternes Thema in den Blick“ nehme, weil „die literarische Verarbeitung philosophischer Gedanken […] eine adäquate Bestimmung der zentralen philosophischen Begriffe Erkenntnis und Wissen“ erfordere. „Wissen“ wird hier als „auf Aussagenwahrheit und Begrifflichkeit bezogenes Satzwissen“ definiert, während „Erkenntnis“ demgegenüber auch „nicht-propositionale Aspekte wie Adäquatheit und Nicht-Begrifflichkeit“ umfasse.39 Schildknecht formuliert außerdem drei grundlegende Fragen, die Beachtung verdienen: Welche Erkenntnis- und Wissensformen werden außerhalb philosophischer Texte im engeren Sinne durch Literatur vermittelt und reflektiert? Wie werden philosophische Inhalte in

37 Gabriel, Zur Interpretation literarischer und philosophischer Texte, S. 245. 38 Schildknecht, Christiane, Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung, in: Demmerling, Christoph / Vendrell Ferran, Íngrid (Hrsg.), Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur. Philosophische Beiträge, Berlin 2014, S. 41–56, hier S. 42. 39 Schildknecht, Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung, S. 41 f.  

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Literatur transformiert? Wie sehen die Verfahren aus, durch die literarische Texte philosophische Überlegungen vermitteln?40

Neben dieser sachlichen Grundierung ist den Ausführungen zu entnehmen, dass die Auseinandersetzung mit „Philosophie in Literatur“ grundsätzlich an eine literaturwissenschaftliche Fragestellung gekoppelt ist, nämlich an die Frage nach dem Wie: Wie werden philosophische Inhalte in Literatur transformiert? Einen Überblick dieser und weiterer Grundfragen sollen die vier genannten Funktionen geben. 1. Der „Dichterphilosoph“ oder die Nivellierung von Gattungsgrenzen: Seit Nietzsches Texte ausgelegt werden, haben sich Exegeten verschiedenster Couleur darum bemüht, die offensichtliche Verschränkung einer im modernen philosophischen Kontext zumindest nicht herkömmlichen Darstellungsweise (literarische oder literarisierende Form) mit Inhalten von hohem sachlichem Gewicht zumindest deskriptiv zu würdigen; bezeichnend dafür ist die Bezeichnung Nietzsches als „Dichterphilosoph“.41 Die ersten rein philosophisch orientierten Interpreten haben sich entschieden gegen diese Zuschreibung verwahrt; exemplarisch hierfür ist die Stellungnahme Karl Löwiths in der Einleitung zu seiner Dissertation von 1922: „Er ist unter der Rubrik der ‚Dichterphilosophen‘ unschädlich untergebracht.“42 Und: Dadurch soll aufgewiesen werden, daß hinter der impressionistischen Aphorismenfülle des sog. „Dichterphilosophen“ – ein Ausdruck, welcher nur eine bequeme Rechtfertigung der Flucht von einer ernstlichen Auseinandersetzung ist – die verborgene Systematik und unerbittliche Konsequenz einer in bestimmter Weise ansetzenden strengen Denkerpersönlichkeit herrscht.43

Ungeachtet dieser grundsätzlichen Kritik hat das Etikett ‚Dichterphilosoph‘ ein Erbe, das sich anhand von drei gegenwärtigen Positionen darstellen lässt: 1. Im Nachwort zur aktuellen Reclam-Ausgabe der Gedichte Nietzsches von Mathias Mayer heißt es: „Als erste Frage bei der Auseinandersetzung mit Nietzsches Lyrik stellt sich daher die Aufgabe, zu klären, in welchem Verhältnis Philosophie und

40 Schildknecht, Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung, S. 41 f. 41 Nietzsches eigene Stellung zu den Begriffen „Dichter-Philosoph“ und „Künstler-Philosoph“ ist nicht eindeutig. Vgl. dagegen Ulrichs, Lars-Thade, Zum Verhältnis von Philosophie und Literatur bei Nietzsche [Artikel], in: Feger, Hans (Hrsg.), Handbuch Literatur und Philosophie, Stuttgart / Weimar 2012, S. 135–137, hier S. 136. Ulrichs spricht von „uneingeschränkte[r] Sympathie“. 42 Löwith, Karl, Auslegung von Nietzsches Selbstinterpretation und von Nietzsches Interpretationen [Diss. phil. Universität München, 1922/23], zitiert nach einem Exemplar im DLA Marbach (NL Löwith 07.119.1), S. 2. 43 Löwith, Auslegung von Nietzsches Selbstinterpretation und von Nietzsches Interpretationen, S. 3.  

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Dichtung zueinander stehen.“ 2. In einem Referenzwerk zur Geschichte der deutschsprachigen Lyrik lesen wir: „Die herausragende, die lyrische Produktion um und nach 1900 prägende Lyrik stammt nicht von einem Poeten im engeren Sinn dieses Wortes, sondern von einem Philosophen.“ 3. Im einleitenden Teil des historisch-kritischen Kommentars zu den Idyllen aus Messina wird konstatiert: „Er ist nicht Philosoph und nebenbei auch noch Dichter, sondern beides zugleich.“44 Obschon sich etwa mit Blick auf Nietzsches Zarathustra kaum Schwierigkeiten ergeben, dieser Einschätzung zu folgen, so wird man einsehen, dass Nietzsches Werk nicht allein ausgehend von dem besonderen literarischen Status eines Textes charakterisiert werden kann. Dennoch die Annahme von einer, das ganze Werk durchwaltenden Verschränkung von Literatur und Philosophie zur allgemeinen Prämisse expandiert. Aus dem Umstand, dass ein Autor mit seinen Texten die Gattungsgrenzen überschreitet, lässt sich aber keine hinreichende Begründung dafür ableiten, literaturwissenschaftliche und philosophische Interpretations- und Argumentationsweisen zu vermischen, denn: Wer den Texten keine Etiketten mehr anheften möchte, der sollte trotzdem seine Lektüren nicht miteinander konfundieren. Eine philosophische und eine literarische Lektüre unterscheiden sich auch dort, wo sie den gleichen Text betreffen. Wer der Überzeugung ist, dass die transzendentale Deduktion Kants richtig sei, der kann nicht die Anmut dieser Ableitung als Grund dafür anführen.45

Die grundsätzliche Annahme einer Unterscheidbarkeit von Dichtung und Philosophie sollte auch im Angesicht von Gattungsmischungen aufrechterhalten werden. Mehr noch: Idealisierte, oder besser: Normative Gattungsbegriffe können hilfreich sein, um bei der Analyse der Texte Grenzüberschreitungen überhaupt fassen zu können. Nachdem Gottfried Gabriel beide Gattungen als „disjunkte Klassen“ definiert und in einen „polar-konträren“, aber nicht übergangsfreien „Gegensatz“ gestellt hat, formuliert er unter besonderer Berücksichtigung der Konsequenzen für die Interpretation folgendes: „Die Anerkennung eines solchen Kontinuums darf aber nicht dazu führen, in stetiger Nivellierung der Unterschiede schließlich auch die Pole zusammenfallen zu lassen, sondern fordert ganz im Gegenteil dazu heraus, die Unterschiede um so sorgfältiger herauszuarbeiten.“46

44 Der Reihe nach: Mayer, Mathias, Nachwort, in: Nietzsche, Friedrich, Gedichte, hrsg. von Mathias Mayer, Stuttgart 2010, S. 173–186, hier S. S. 173 f.; Schnell, Ralf, Von der Jahrhundertwende bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs, in: Holznagel, Franz-Josef u. a., Geschichte der deutschen Lyrik, Stuttgart 2004, S. 471–580, hier S. 474; Kaufmann, Sebastian, Kommentar zu Nietzsches ‚Idyllen aus Messina‘, in: NK 3/1, 457–543, hier 469. 45 Demmerling, Philosophie als literarische Kultur?, S. 346 f. 46 Gabriel, Zur Interpretation literarischer und philosophischer Texte, S. 245.  





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Denn jeder literarische oder philosophische Text, der sich ihm gewöhnlich zugeschriebenen Gattungsspezifika entzieht, verfolge damit bestimmte Absichten.47 2. Wissen und Erkenntnis: Auf die Diskussion der Valenz von Gattungsunterschieden würde folgerichtig die bereits angesprochene Differenzierung von Wissen und Erkenntnis als Kriterium zur Unterscheidung von literarischen und philosophischen Texten anschließen, zumal sich die „Diskussion darüber, inwiefern Philosophie in literarischen Texten thematisiert wird“, „vornehmlich an der Grenzziehung zwischen propositionalem Wissens- bzw. nicht-propositionalem Erkenntnisbegriff [orientiert] und […] insofern epistemisch geprägt [ist].“48 Zunächst möchte ich mich vorbehaltlos jener Auffassung anschließen, die erstens besagt, dass „nicht jede Erkenntnis propositional ist“, dass es somit auch „nicht propositionale Erkenntnisse gibt“,49 welche – zweitens – durch die Rezeption literarischer Texte erworben werden können. Damit sei gesagt, dass es fiktionale Literatur gibt, die einen „relevanten Erkenntniswert besitzt.“50 Ungeklärt ist hingegen, auf welche Weise die aus dem Umgang mit einem literarischen Text gewonnene Erkenntnis mitteilbar ist und welchen epistemischen Status das möglicherweise Mitteilbare besitzt. Die Lektüre eines philosophischen Textes sollte es ermöglichen, ein in diesem Text enthaltenes Argument einer weiteren Person, die diesen Text nicht selbständig gelesen hat, so mitzuteilen, dass diese das Argument ebenfalls versteht. Nach der Lektüre eines literarischen Textes kann ich einer weiteren Person nicht nur mitteilen, auf welche Weise mich die Schilderung eines fiktionalen Ereignisses in der Literatur (z. B. das Schicksal der Physiker in Friedrich Dürrenmatts gleichnamiger Komödie) berührt hat, sondern auch, welche Erkenntnisse (hier: über Verantwortlichkeit in den Naturwissenschaften) ich aufgrund der fiktiven Ereignisse gewonnen habe. Die Solidität und Plausibilität meiner Erkenntnisse basiert auf dem Text-Erlebnis. 3. Wie kommt Philosophie in die Dichtung? Das Kontext-Problem: Unabhängig von der Überzeugungskraft der vorgetragenen Begründung für eine prinzipielle Beibehaltung des Gattungsunterschieds wird auch der stärkste Befürworter der

47 Vgl. zu möglichen Interessen der Vermittlung, der Heuristik, des Ausdrucks und der Kritik: Fulda, Daniel / Matuschek, Stefan, Literarische Formen in anderen Diskursformationen: Philosophie und Geschichtsschreibung, in: Winko, Simone u. a. (Hrsg.), Grenzen der Literatur. Zu Begriff und Phänomen des Literarischen, Berlin / New York 2009, S. 188–199. 48 Schildknecht, Literatur und Philosophie: Perspektiven einer Überschneidung, S. 47. 49 Gabriel, Gottfried, Zwischen Wissenschaft und Dichtung. Nicht-propositionale Vergegenwärtigung in der Philosophie, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie, Jg. 51, Berlin 2003, S. 415–425, hier S. 416. 50 Gabriel, Gottfried, Fiktion, Wahrheit und Erkenntnis in der Literatur, in: Demmerling / Vendrell Ferran (Hrsg.), Wahrheit, Wissen und Erkenntnis in der Literatur, S. 163–180, hier S. 163.  

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Gattungsdifferenz nicht leugnen wollen, dass literarische Texte im Allgemeinen und Gedichte im Besonderen existieren, die Philosophie enthalten. Die sich daran anschließende Frage, wie eigentlich Philosophie in die Dichtung kommt, hat Lutz Danneberg nicht nur aufgeworfen, sondern mit Blick auf die sich daraus ergebenden interpretatorischen Probleme auch beantwortet. Seine mit vielen Beispielen angereicherten Ausführungen münden in zwei Thesen: Die erste These lautet: „Ohne die Einschränkung von Kontextbezügen läßt sich so viel Philosophie in einem literarischen Text entdecken, wie es einem gefällt.“51 Diese These geht auf die vorgelagerte Frage zurück, wie der Interpret sich selbst (und seinen Lesern) versichern kann, „daß der für die Ausdeutung gebildete Kontext, über den Philosophie in den Text fließt, auch gerechtfertigt ist“.52 Wie es Danneberg an mehreren Beispielen aufzuzeigen gelingt, besteht das „Problem bei der Zuweisung von Philosophie an einem literarischen Text über die Bildung eines Kontextes“ „in der Frage, welche Kontexte zulässig sind und wie sie sich begrenzen lassen.“53 Umgekehrt bedeutet dies, dass ein für die Beschreibung von Philosophie (z. B. in einem Gedicht) herangezogener Kontext nie ohne Begründung auskommt. Die zweite These lautet: „Ohne zusätzliche Anforderungen an die Fähigkeit eines Textes zur Exemplifikation läßt sich in einem Text so viel Philosophie entdecken, wie es einem gefällt.“54 Danneberg führt aus, dass philosophische Gehalte in Texten regelmäßig über Exemplifikation bestimmt oder ermittelt werden. Zu Recht bemerkt er, dass „[j]ede Eigenschaft eines (literarischen) Textereignisses und jede Eigenschaft der von ihm beschriebenen (fiktionalen) Textwelt […] als exemplifizierend aufgefaßt werden [kann].“55 Da aber „ein Text jede ihm zugesprochene Eigenschaft exemplifizieren kann“,56 besteht wie im Fall der Kontextbildung die Pflicht, Exemplifikationsketten zu bilden, d. h. eine Begründung für ebendiese Argumentation zu liefern. Solche Begründungen – hier liegt die Pointe – sind nur dann erfolgreich, wenn sie am Text selbst begründet werden:  

Eigenschaften eines Textes exemplifizieren und demonstrieren nur im Textzusammenhang; mithin gibt es keine Demonstrationen, die mit Eigenschaften textunabhängig verknüpft sind. Jede Eigenschaft kann grenzenlos zur Demonstration herangezogen werden, aber nur

51 Danneberg, Lutz, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, in: Schildknecht, Christiane / Teichert, Dieter (Hrsg.), Philosophie in Literatur, Frankfurt/Main 1996, S. 19–54, S. 38. 52 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 38. 53 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 49. 54 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 53. 55 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 50. 56 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 52.

„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“

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diejenigen sind einem Werk zuzuschreiben, die sich mit seinen anderen Eigenschaften verknüpfen lassen.57

4. Kann man poetisch philosophieren? Ist es grundsätzlich möglich, einen philosophischen Gedanken in einen literarischen Text mittels „spezifisch ästhetischer, also traditionell poetischer Ausdrucksmittel“58 einzuweben, der sodann vom Leser erkannt wird? Harald Fricke hat diese zugespitzte Frage dergestalt beantwortet, dass es zwar keine „‚nicht-propositionale Erkenntnis‘“ gebe, wohl aber „nicht-propositionales ‚Lernen‘“, sodass die „literarische Form […] den Leser stärker ins Philosophieren hineinziehen [kann] als jeder argumentierende philosophische Text.“59 Die Ausführungen in diesem Kapitel sind stets von einem Spezialfall ausgegangen: von einem lyrischen Gedicht, das einen philosophischen Gedanken enthält, der verständlich, mitteilbar und zuletzt diskutierbar ist. Damit wurde den Bedürfnissen der philosophisch interessierten Nietzscheforschung ein großes Zugeständnis gemacht. Dieser Ansatz, der externen Evidenz viel Raum gibt, läuft nämlich Gefahr, letztlich die Sinnkonstitution moderner Lyrik zu konterkarieren. Denn noch heute, bald 60 Jahre nach ihrer Formulierung, gilt jene grundlegende Überzeugung Hugo Friedrichs: Überall beobachten wir ihre [der Lyrik] Neigung, so weit wie möglich von der Vermittlung eindeutiger Gehalte fernzubleiben. Das Gedicht will vielmehr ein sich selbst genügendes, in der Bedeutung vielstrahliges Gebilde sein, bestehend aus einem Spannungsgeflecht von absoluten Kräften, die suggestiv auf vorrationale Schichten einwirken, aber auch die Geheimniszonen der Begriffe in Schwingung versetzen.60

Und weiter: Wenn das moderne Gedicht Wirklichkeiten berührt – der Dinge wie des Menschen – so behandelt es sie nicht beschreibend und nicht mit der Wärme eines vertrauten Sehens und Fühlens. Es führt sie ins Unvertraute, verfremdet sie, deformiert sie.61

57 Danneberg, Wie kommt die Philosophie in die Literatur?, S. 54. 58 Fricke, Harald, Kann man poetisch philosophieren? Literaturtheoretische Thesen zum Verhältnis von Dichtung und Reflexion am Beispiel philosophischer Aphoristiker, in: Gabriel, Gottfried / Schildknecht, Christiane (Hrsg.), Literarische Formen der Philosophie, Stuttgart 1990, S. 26–39, hier S. 27. 59 Fricke, Kann man poetisch philosophieren?, S. 26. 60 Friedrich, Hugo, Die Struktur der modernen Lyrik. Von der Mitte des neunzehnten bis zur Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts, Neuausgabe mit einem Nachwort von Jürgen von Stackelberg, Hamburg 2006, S. 16. 61 Friedrich, Die Struktur der modernen Lyrik, S. 16.

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Bei der Gedichtanalyse kann es folglich nicht darum gehen, die ‚Deformierung‘ eines Gedankens aufzuheben; und doch sind auffällig viele Analysen von Gedichten Nietzsches von der (mal mehr, mal weniger offen eingestandenen) Überzeugung getragen, nur ein in den philosophischen Diskurs einzuspeisendes, aus der Dichtung entwickelbares Wissen sei das sinnvolle Ergebnis eines wissenschaftlichen Umgangs mit Nietzsches Lyrik. Für Literaturwissenschaftler ergibt sich im Grunde eine gänzlich andere Aufgabenstellung, die Carsten Dutt unter Einbeziehung des weiteren epistemologischen Zusammenhangs präzise formuliert: Selbst dort, wo ein Werk […] nicht viel mehr als die Versifikation eines theologisch oder philosophisch vorgedachten Gedankens ist, selbst dort also, wo Literatur Wissens- und Ideenordnungen lediglich in die komplexe Prägnanz verssprachlicher Verdichtung hebt, ist es der werkhaft generierte Mehrwert dieser Verdichtung, der Literaturwissenschaftler spezifisch beschäftigen sollte. In keinem Fall geht die Produktivität literarischer Werke nämlich im bloßen Transport, in der restlos transparenten, sich selbst zum Verschwinden bringenden Repräsentation oder Exemplifikation jener Kontexte auf, die ihnen, den Werken, geschichtlich vorausliegen und in dieser oder jener Weise auch eingeschrieben sind.62

Das dem Gegenstand angemessene Interesse sei, so Dutt weiter, das Interesse an individualisierender, nicht lediglich typisierender Erkenntnis im Umgang mit Werken der Literatur. Das theoretische Fundament dieses Individualisierungsinteresses besteht in der Einsicht in die Bedeutung der Form, d. h. der Anerkennung der semantischen, pragmatischen und ästhetischen Produktivität der in keinem ihrer Details substituierbaren (weil in keinem ihrer Details insignifikanten) Gestalt eines Werkes.63  

Für die Philosophie besitzt die Einsicht, dass die Darstellungsformen ihren jeweiligen Inhalten nicht äußerlich sind, ein revolutionäres Potenzial – und es ist erfreulich, dass dieser Ansatz inzwischen auch auf Nietzsches Werk angewendet wird.64 Für die Literaturwissenschaft bildet der konstitutive Zusammenhang von Form und Inhalt seit jeher die Geschäftsgrundlage – und das wusste der Dichter Franz Grillparzer bereits, als die deutsche Philologie als Fach noch gar nicht existierte: „Nicht der Gedanke macht das Kunstwerk sondern die Darstellung des Gedankens.“65

62 Dutt, Carsten, Werkzentrierte Interpretation: Zur Kritik kontextualistischer Orientierungen in der Literaturwissenschaft, in: The German Quarterly, Jg. 86, Cherry Hill / Hoboken (New Jersey) 2013, S. 240. 63 Dutt, Werkzentrierte Interpretation, S. 240. 64 Vgl. die Pilotstudie von: Pichler, Axel, Philosophie als Text. Zur Darstellungsform der „GötzenDämmerung“, Berlin / Boston 2014. 65 Grillparzer, Franz, Sämtliche Werke. Ausgewählte Briefe, Gespräche, Berichte, hrsg. von Peter Frank / Karl Pörnbacher, Bd. 3, München 1964, S. 285.

„Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“

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4 „Das Unglück holt den Flüchtigen ein – und sei’s“. Ein lyrisches Fragment von 1885 Der Gegenstand, um den es nun gehen soll, begegnet uns hier in Vermittlung durch eine Abbildung, die seiner tatsächlichen Gestalt (einzusehen im Goetheund Schiller-Archiv in Weimar) sehr nahe kommt. Das Faksimile konfrontiert uns mit einer Doppelseite aus Nietzsches Arbeitsheft W I 6.66 Es ist besonders wichtig, dem Gegenstand auf diese Weise erstmalig zu begegnen; alternativ (aber hermeneutisch ungünstig) wäre es möglich gewesen, den editorisch hergestellten Text der KGW bzw. KSA zu zitieren oder bereits die Transkription aus KGW IX/467 zu bemühen. Die Unzulänglichkeit der herkömmlichen Edition68 wird sich in diesem Kapitel deutlich erweisen, denn es ist nahezu unmöglich, eine Hypothese über die gedankliche Reichweite des Gedichtentwurfs auf der linken Heftseite69 zu entwickeln, wenn er unabhängig von seinem materiellen Zusammenhang analysiert wird. Darüber hinaus veranschaulicht die Abbildung die begrifflich schwer zu fassende Individualität des Autors.70 Die Einzigartigkeit von Gedankenführung und Sprachfindung zeigt sich in der Anschauung des Materials, sie findet ihre Entsprechung schon in der hochgradig individualisierten Handschrift. Mehr noch: Sie ermöglicht es, „die Ereignishaftigkeit dieser Notizen als Laboratorium und Medium von Selbstaufzeichnungsexperimenten zugleich vor Augen zu führen.“71 Die Schwierigkeit, die dem ungeübten ‚Leser‘ eine Entzifferung der Handschrift auf der Manuskriptseite 58 bereitet, sollte folglich die Interpretationshaltung bestimmen. Die Verstehensbemühung, herausfinden zu wollen, was der

66 Für umfänglichere Beschreibungen des Heftes vgl. den Nachbericht zu KGW IX/4, 22–24, sowie die grundlegende Studie von: Röllin, Beat, Nietzsches Werkpläne vom Sommer 1885: eine Nachlass-Lektüre. Philologisch-chronologische Erschließung der Manuskripte, München 2012, insb. S. 41–44. 67 Vgl. KGW VII/3, 449–452; bzw. NL 1885, 45[5], KSA 11, 709 f. 68 Für einen Überblick siehe: Röllin, Beat / Stockmar, René, „Aber ich notire mich, für mich.“ – Die IX. Abteilung der Kritischen Gesamtausgabe von Nietzsches Werken, in: Nietzsche-Studien, Jg. 36, Berlin / New York 2007, S. 22–40. 69 W I 6, 58. 70 Zu Orientierung vgl. Wohlfart, Günter, Dichten der Individualität, in: Hoffmann, Thomas Sören / Majetschak, Stefan (Hrsg.), Denken der Individualität. Festschrift für Josef Simon zum 65. Geburtstag, Berlin / New York 1995, S. 55–65. 71 Stingelin, Martin, Die Sudelbücher von Georg Christoph Lichtenberg in der Begegnung mit den Notizheften von Friedrich Nietzsche als Ort(e), wo Experiment und Normalismus sich (nicht unabhängig voneinander) begegnen, in: Bartz, Christina / Krause, Marcus (Hrsg.), Spektakel der Normalisierung, München 2007, S. 209–220, hier S. 211.  

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Abb. 1: W I 6, 58 u. 59 (GSA-Signatur 71/154)

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Autor mit dem Niedergeschrieben sagen wollte, stünde dann im Verhältnis zu der Herausforderung, die Wörter und Striche, Punkte und Kommas zu entziffern und führt zu der viel grundlegenderen, zugleich aber verwandten Frage: Was steht da eigentlich? Das sich-Einlassen auf die Handschrift hat mit philosophischer Betätigung zunächst wenig zu tun – aber, und auch das macht die Abbildung auf einfache Weise deutlich: Niemand würde bestreiten, dass sich die beiden abgebildeten Seiten ‚optisch‘ sehr voneinander unterscheiden, zugleich aber (durch die Grundlage!) miteinander verbunden sind und eine Trennung nur künstlich, durch einen Akt der Gewalt (etwa durch das Herausreißen einer Seite) möglich wäre. Anderseits lässt sich eine Seite schwerlich ohne weiteres durch das Verständnis der jeweils anderen erklären. Angenommen also, die einfach(er) zu entziffernde Handschrift auf Seite 59 enthielte nicht nur einen gut verständlichen philosophischen Gedankengang, und es wäre zudem auch noch plausibel, die rechte Seite als Kontext des Entwurfs auf der linken Seite zu begreifen – wie sollte, so verstanden, ein Verständnis der Philosophie (rechterhand) die Dichtung (linkerhand) begünstigen? Müssten nicht zunächst beide Seiten einzeln, isoliert, ja autonom gemäß ihres Seins behandelt werden und erst danach der Zusammenhang diskutiert werden respektive überhaupt erwogen werden, ob ein Zusammenhang vorhanden ist? Die folgende Darstellung erprobt, wie weit die Interpretation eines solchen Gedichtentwurfs überhaupt kommen kann, und richtet die Konzentration zunächst auf die Seiten 59 und 58 des Quartheftes W I 6. Dieses Heft wurde im Sommer 188572 von Anfang bis Mitte Juni73 zunächst von Louise Röder-Wiederhold in Sils-Maria verwendet; es enthält ihre Niederschrift der Diktate Nietzsches. Die rechten Seiten74 sind durchgängig von der Hand Louise Röder-Wiederholds beschrieben und bilden die Grundschicht (G). Von der Hand Nietzsches stammen zwei Bearbeitungsschichten: Eine erste Bearbeitungsschicht (B1) in violetter Tinte umfasst Überarbeitungen, Zusätze und Zweitbeschriftungen und wird von Beat Röllin auf Ende Juni/Anfang Juli und Mitte August/Mitte September, im Zusammenhang mit den W I 5-Reinschriften, datiert. Eine zweite Bearbeitungsschicht (B2) in schwarzer und anthrazitfarbener Tinte umfasst weitere Überarbeitungen und Ergänzungen der Diktatniederschrift. Mit Blick auf Seite 59 lassen sich diese allgemeinen Beobachtungen bestätigen: Die Heftseite enthält eine in schwarzer Tinte niedergeschriebene Grundschicht, der Schreibfluss ist insgesamt gleichmäßig und verläuft von oben nach unten. Die Seite ist außerdem nahezu voll-

72 Der gesamte, für Nietzsches Werkpläne so bedeutsame Zeitraum von November 1884 bis August 1886 lässt sich studieren anhand von: Janz, Curt Paul, Friedrich Nietzsche. Biographie, Bd. 2, München / Wien 1978, S. 358–478. 73 Zu diesem Befund kommt Röllin, Nietzsches Werkpläne vom Sommer 1885, S. 42. 74 W I 6, 3–77.

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ständig beschrieben, wobei der Absatz im oberen Seitendrittel eine Unterbrechung markiert. Deutlich zu erkennen sind mehrere Überarbeitungen auf der Seite, gehäuft in den ersten beiden Sätzen nach dem Absatz; es handelt sich neben einer Durchstreichung wesentlich um Einfügungen (z. T. ganzer Satzteile) in violetter Tinte von der Hand Nietzsches (B1). Was bei oberflächlicher Sichtung nur schwer zu erkennen ist, zeigt die Transkription von Seite 59 in KGW IX/4:

Abb. 2: Transkription W I 6, 59 (KGW IX/4)

Es ist von Bedeutung, dass Nietzsche den aus seinem Diktat entstandenen Text offenbar mehrfach gelesen hat. Diese Annahme ergibt sich aus der Verwendung

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violetter,75 schwarzer76 und anthrazitfarbener77 Tinte, die er für seine Überarbeitung verwendet hat. Dabei kam es ihm freilich nicht nur auf die Korrektur von Rechtschreibfehlern an; vielmehr bildete das von Röder-Wiederhold Niedergeschriebene eine Art ‚Behelfstext‘ als Grundlage für sein Weiterdenken und -arbeiten. Vergleicht man die übrigen rechten Seiten dieses Heftes mit der hier abgebildeten, so fällt auf, dass nur zwei rechte Seiten78 noch weniger Bearbeitungsspuren enthalten, drei weitere Seiten79 weisen etwa ähnlich viele Spuren auf. Auf allen anderen Seiten, deren Grundschicht aus der Niederschrift RöderWiederholds besteht, sind z. T. umfangreiche Bearbeitungen zu erkennen,80 die nicht selten auf die linken Heftseiten, die ja zu diesem Zweck freigelassen worden waren,81 geradezu ‚ausbrechen‘. Pauschal lässt sich über das, was wir von der Hand Nietzsches auf den linken Seiten sehen, wenig Substanzielles aussagen. Wie auch immer man die Aufzeichnungen der linken Heftseiten beschreiben würde (als Notate, Kommentare, Glossen, Ergänzungen), sie haben keine lyrische Form.

75 76 77 78 79 80 81

Vgl. W I 6, 59, 9–13, 16 u. 23. Vgl. W I 6, 59, 18 u. 36[?]. Vgl. W I 6, 59, 43 f. Vgl. W I 6, 63 u. 71. Vgl. W I 6, 3, 57 u. 73. Vgl. z. B. W I 6, 17. Vgl. KGW VII/4.2, 61.  

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Abb. 3: Transkription W I 6, 58 (KGW IX/4)

Zu dem Entwurf auf Seite 58 zählen drei Versgruppen, wobei die ersten beiden82 zugleich Versuche einer ersten Strophe sind. Die Kontextualisierung bestimmter Schlüsselwörter lässt erkennen, dass der Text das Verhältnis des Künstlers zu seiner Umwelt, insbesondere zu seiner Leserschaft behandelt. Dabei fällt die große Nähe zu Nietzsches eigener Lebenssituation im Sommer 1885 auf, die im

82 Vgl. W I 6, 58, 2–6 u. 8–12.

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Folgenden nicht unerwähnt bleiben soll. Der Versuch der Zeilen 8–12 folgt auf den Versuch der Zeilen 2–6. Anhand des Materials lässt sich nachvollziehen, dass die oberste Versgruppe zuerst entstand:

Abb. 4: Transkription W I 6, 58, 2–6 (KGW IX/4)

Die Editoren haben zwei Überschreibungen identifiziert: Die Präpositionen „Zum“ und „Zur“ am Beginn der vierten und sechsten Zeile werden durch die Konjunktion „Als“ ersetzt. Die Bedeutungsverschiebung, die durch die Ersetzung einer sprachlichen Brücke durch das Scharnierwort ‚als‘ eintritt, ist eminent: Zunächst hat das ‚Einholen des Flüchtigen‘ den konkreten Zweck, zweierlei auszulösen: den „goldenen Kummer der verarmten Hand“ und die „Traurigkeit des ewig-Schenkenden“. „Das Unglück“ ist agens, es vollzieht eine Handlung und kalkuliert dahinter eine gleichsam konkrete Reaktion. Durch das „Als“ verändert sich die Bedeutung: Das „Unglück“ ist nicht mehr ein abstraktes, gleichwohl handelndes Etwas, sondern wird erst durch sein Tun identifiziert: „Als“ bedeutet hier ‚in Form von‘. Es werden Formen von Unglück genannt, das Unglück (als Fatum oder Schicksal) ist nicht selbst Subjekt. In Gestalt des „goldenen Kummer[s] der verarmten Hand“ holt das „Unglück […] den Flüchtigen ein“, das Unglück wird in einer Erscheinungsform manifest und begreifbar. Ebenso verhält es sich mit der „Traurigkeit des ewig-Schenkenden“. Hatte man in Zeile 2 mit „dem Flüchtigen“ noch eine ganzheitliche Person vor Augen, so betrifft das in Zeile 6 angesprochene Unglück nur noch ein Körperteil: „die Hand“. Die Hand, oder auch: die Hände, sind von ausgezeichneter Bedeutung: Durch die Hand wird die schöpferische Kraft des Schriftstellers Wirklichkeit. In der abendländischen Geistesgeschichte haben die verschiedensten Autoren über die Bedeutung der Hand reflektiert, angefangen bei Aristoteles über Hegel zu Heidegger83 und Derrida. Aber auch für Nietzsche 83 „Der Mensch selbst ‚handelt‘ durch die Hand; denn die Hand ist in einem mit dem Wort die Wesensauszeichnung des Menschen. […] Durch die Hand geschieht zumal das Gebet und der Mord, der Gruß und der Dank, der Schwur und der Wink, aber auch das ‚Werk‘ der Hand, das ‚Handwerk‘ und das Gerät. […] Der Mensch ‚hat‘ nicht Hände, sondern die Hand hat das Wesen

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haben die Hände einen besonderen Wert.84 Versucht man nun festzustellen, ob Nietzsche im Sommer 1885 etwas Einschlägiges niedergeschrieben hat, so stößt man auf ein Notat, das als Nachlassfragment 36 [36]85 ediert ist. Das gesamte Notat umfasst genau eine rechte Seite (Seite 23) im Quartheft W I 4. Dort heißt es: Noch jetzt ist, namentlich unter Künstlern, eine Art Verwunderung und ehrerbietiges Aushängen der Entscheidung reichlich vorzufinden, wenn sich ihnen die Frage vorlegt, wodurch ihnen der beste Wurf gelungen und aus welcher Welt ihnen der schöpferische Gedanke gekommen ist: sie haben, wenn sie dergestalt fragen, etwas wie Unschuld und kindliche Scham dabei, sie wagen es kaum zu sagen ‚das kam von mir, das war meine Hand, die die Würfel warf‘.86

Nietzsche wehrt sich hier gegen den Glauben, ein gelungenes Werk sei das Resultat einer ‚Eingebung‘, einer gleichsam unbewussten, denkerisch mithin nicht voll kontrollierten Handlung. Einen Ansatzpunkt zur Aufhellung seiner Schreibintention erhält, wer den Blick auf die linke Seite (Seite 22) schweifen lässt: Dort nämlich befindet sich der Entwurf eines Briefes an die seinerzeit 29jährige, promovierte österreichische Philosophin und Literaturkritikerin Helene Druskowitz, die sich ein Exemplar des Zarathustra erbeten und daraufhin offenbar ankündigt hatte, eine literarkritische Abhandlung schreiben zu wollen. Nietzsche ringt um eine angemessene Reaktion. Seine persönlichen Eingeständnisse gehen in diesem Entwurf sehr weit und bezeugen die tiefe Kränkung, die durch das Ansinnen Helene Druskowitz’ nur noch einmal bestärkt wurde:

des Menschen inne, weil das Wort als der Wesensbereich der Hand der Wesensgrund des Menschen ist. Das Wort als das eingezeichnete und so dem Blick sich zeigende ist das geschriebene Wort, d.. h. die Schrift. Das Wort als die Schrift aber ist die Handschrift.“ (Heidegger, Martin, Gesamtausgabe, Abt. II: Vorlesungen 1923–1944, Bd. 54: Parmenides, hrsg. von Manfred S. Frings, Frankfurt/Main 1982, S. 118 f.). 84 Vgl. NL 1885, 36[36], KSA 11, 565, 23–566, 1. Vgl. zu Nietzsches ‚Lob der Hände‘ außerdem: Braun, Stephan, Topographien der Leere. Friedrich Nietzsche, Schreiben und Schrift, Würzburg 2007, S. 33–60. 85 KSA 11, 565 f. 86 W I 4, 23 (KGW IX/4).  





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Abb. 5: Transkription W I 4, 22, 12–24 (KGW IX/4)

Aber zurück zu dem Gedichtentwurf: In Zeile 4 wird die ernste Realität durch eine ironische Spiegelung gebrochen. Das Paradoxon in der vierten Zeile spielt an auf wirtschaftliche Zwänge, die hier im Hintergrund stehen: Der „Kummer“ ist ‚golden‘, d. h. in Anspielung auf ein kostbares Metall veredelt, gleichwohl ist die Hand „verarmt[ ]“. Die ökonomische Basis aller freier Schriftsteller, der ‚freien Geister‘, ist prekär; das wirtschaftliche Auskommen ist nicht gesichert, materielle Sorgen gehören zum Alltag und bestimmen bis zu einem gewissen Grad auch das Handeln des unabhängigsten Schreibers:  

Seit der Erfindung des freien Schriftstellers in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts schieben sich Lesen und Schreiben zum einen aufgrund der Emanzipation des Bürgertums, zum anderen aufgrund der gesteigerten Technisierung und Ökonomisierung des Schreibakts und der Publikationsmöglichkeiten immer mehr ineinander. Schreiben wird zur existenziellen Ausdrucksform und soll zugleich der ökonomischen Sicherung der Existenz dienen.87

Andererseits beruht die Wahl dieser Existenz auf einer freien Entscheidung und stellt eine bewusst gewählte, radikale Existenzform dar: Die Ungleichzeitigkeit des unternehmerischen Schriftstellers, der sich mit seiner phantasiebeflügelten Produktionsweise vor der mühseligen und widerspenstigen Emanzipation der bürgerlichen Arbeitswelt bald einen entscheidenden Vorsprung verschaffte und darum auch dem Bürger unerbittlich sich entfremdete, hat Nietzsche so radikal wie keiner vor ihm zum Prinzip seines Denkens und auch zu seiner äußeren Existenzform erhoben.88

87 Thüring, Hubert, Der alte Text und das moderne Schreiben. Zur Genealogie von Nietzsches Lektüreweisen, Schreibprozessen und Denkmethoden, in: Balke, Friedrich u. a. (Hrsg.), Für Alle und Keinen. Lektüre, Schrift und Leben bei Nietzsche und Kafka, Zürich / Berlin 2008, S. 121–148, hier S. 124 f. 88 Lämmert, Eberhard, Nietzsches Apotheose der Einsamkeit, in: Nietzsche-Studien, Jg. 16, Berlin / New York 1987, S. 47–69, hier S. 58.  



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Entsprechend meint der in der vierten Zeile genannte „Kummer“ hier keine milde, sondern eine existenzielle Form der Traurigkeit: die „Traurigkeit des ewig-Schenkenden“, der keine Anerkennung erhält. Wie Zarathustra, der „den Menschen ein Geschenk“ bringen will,89 macht der Schriftsteller das Ergebnis seiner Arbeit den Menschen zum Geschenk. Das individuelle Erzeugnis des Schriftstellers enthält einen Abzug seiner persönlichen Weltsicht, als Gabe wird sie allen Menschen zuteil. In dem Zarathustra-Kapitel Von der schenkenden Tugend spiegelt sich genau dieses Ereignis. Die Jünger reichen Zarathustra einen Stab, „an dessen goldenem Griffe sich eine Schlange um die Sonne ringelte.“90 Zarathustra freut sich über diese Gabe, ist aber nicht frei von Traurigkeit: Denn Gold sei deshalb „zum höchsten Werthe“ gekommen, weil es „ungemein“, „unnützlich“, „mild im Glanze“ und damit das ideale, einfachste Geschenk sei.91 Geistige Gaben seien höher einzuschätzen. Das goldene Geschenk ist „Abbild der höchsten Tugend“, welche das Besitzen-wollen ist.92 Der erste Strophenentwurf scheint Nietzsche nicht überzeugt zu haben, sodass er neu ansetzte:

Abb. 6: Transkription W I 6, 58, 8–12 (KGW IX/4)

Der erste Vers bleibt in seiner Struktur erhalten, allerdings verändert Nietzsche ein entscheidendes Detail: „Das Unglück“ als Akteur, zunächst mit dem Prädikat als gegenwärtig handelndes Subjekt eingeführt, wird wesentlich neu bestimmt: Seine Tätigkeit wird nicht nur in die Vergangenheit verlegt, sondern auch verstärkt und konkretisiert. Es heißt nun: „Das Unglück fieng den Flüchtigen ein“. Weder das „Unglück“ noch der „Flüchtige[ ]“ verhalten sich passiv, denn das ‚Einfangen‘ setzt voraus, dass derjenige, der eingefangen werden soll, sich grund-

89 Za I Zarathustra’s Vorrede 2, KSA 4, 13, 7 f. 90 Za I Von der schenkenden Tugend 1, KSA 4, 97, 9 f. 91 Za I Von der schenkenden Tugend 1, KSA 4, 97, 13–15. 92 Unter ausdrücklichem Bezug auf Nietzsches Konzept einer „schenkenden Tugend“ hat Nicolai Hartmann in seiner Ethik die notwendige Differenzierung zwischen materiellen und geistigen Gütern und die Verbundenheit zwischen Schenkendem und Beschenktem entwickelt. Vgl. Hartmann, Nicolai, Ethik, 3. Auflage, Berlin 1949, S. 503 f.  





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sätzlich zur Wehr setzt. In den Zeilen 10 und 12 wird jener Gedanke erneut aufgegriffen, der im ersten Strophenentwurf zum Ausdruck gebracht werden sollte. „Sorglos u selber uneingedenk“ blicke der ‚schenkende‘ Schriftsteller auf die eigenen Bedürfnisse. Die Sorglosigkeit ist hier im alltäglichen Sinne zu verstehen,93 nicht im philosophischen.94 Von der allgemeinen Betrachtung über die komplexen Beziehungen zwischen Schriftsteller und Leser ausgehend, verengt das Fragment den Blick sodann zur spezifischen Abrechnung mit den Zeitgenossen, die den Zarathustra ignorierten, worauf die dritte Zeile des zweiten Strophenentwurfs („Warf er die Perlen weg“) verweist: Im späten Nachlass ist die Metapher der ‚Perle‘ konsequent für den Zarathustra reserviert: „Ich lese Zarathustra: aber wie konnte ich dergestalt meine Perlen vor die Deutschen werfen!“,95 und: „Ich habe den Deutschen das tiefste Buch gegeben, das sie besitzen, meinen Z a r a t h u s t r a , – ich gebe ihnen hiermit das unabhängigste. Wie? Sagt mir dazu mein schlechtes Gewissen, du willst deine Perlen – vor die Deutschen werfen? …“96 „[M]eine Perlen vor die Deutschen werfen!“ – Diese humorvoll-sarkastische Umformung der in der deutschen, französischen und englischen Sprache seit dem Mittelalter belegten, durch Martin Luthers Übersetzung von Mt. 7, 6 im deutschsprachigen Bibeltext ratifizierten Wendung („Ihr sollt das Heiligthum nicht den Hunden geben, und eure Perlen sollt ihr nicht vor die Säue werfen, auf daß sie dieselbigen nicht zertreten mit ihren Füßen, und sich wenden und euch zerreißen.“) ist die zugespitzte Formel jenes bewussten Haderns des Dichters mit seiner Lebensform, seiner Umwelt und seinen Lesern. Im September 1888 notiert Nietzsche diese Umwidmung letztmals als Pointe eines inszenierten Zwiegesprächs mit einem „kleine[n] Buch“:

93 Vgl. den Artikel „sorglos“, in: Adelung, Johann Christoph, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen, Bd. 4, Leipzig 1801, Sp. 152: „[… E]rnstlichen Richtung des Gemüthes auf einen Gegenstand beraubt, und darin gegründet. Ich legte mich sorglos nieder. Spencers Poesie ist die sorglose Ergießung einer warmen Einbildungskraft und lebhaften Empfindung. In engerer Bedeutung bezeichnet es die Unterlassung dieser pflichtmäßigen Richtung des Gemüthes. Ein sorgloser Mensch. Sorglos seyn. / Anm. Dieses Wort ist von dem Zeitworte sorgen, besonders in dessen weitern Bedeutung, zusammen gesetzt, und unterscheidet sich dadurch hinlänglich von sorgenlos, welches die Abwesenheit ängstlicher Sorgen bezeichnet.“ 94 Vgl. Kranz, Margarita, Sorge [Artikel], in: Ritter, Joachim u. a.(Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 9, Darmstadt / Basel 1995, Sp. 1086–1090. Kranz weist darauf hin, dass bis zum 20. Jahrhundert „S. weniger ein philosophischer Begriff als ein Thema der christlichen Homiletik und […] ein Thema der Literatur“ war (Kranz, Sorge, Sp. 1087). 95 NL 1887, 9[190], KSA 12, 451. 96 NL 1888, 18[5], KSA 13, 533.  

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Ich gestatte mir noch eine Erheiterung. Ich erzä〈hle,〉 was ein kleines Buch mir erzählt hat, als es von seiner ersten Reise nach Deutschland zu mir zurückkam. Dasselbe heißt: J e n s e i t s v o n G u t u n d B ö s e , – es war unter uns gesagt, das Vorspiel zu eben dem Werke, das man hier in den Händen hat. Das kleine Buch sagte zu mir: „ich weiß ganz gut, was mein Fehler ist, ich bin zu neu, zu reich, zu leidenschaftlich, – ich störe die Nachtruhe. Es giebt Worte in mir, die einem Gott noch das Herz zerreißen, ich bin ein Rendez-vous von Erfahrungen, die man nur 6000 Fuß über jedem menschlichen Dunstkreis macht. – Grund genug, daß die Deutschen m i c h v e r s t a n d e n …“ Aber, antwortete ich, mein armes Buch, wie konntest du auch deine Perlen – vor die Deutschen werfen? Es war eine Dummheit! – Und nun erzählte mir das Buch, was ihm begegnet sei.97

Das persönliche Unglück des Schriftstellers steht in der dritten Versgruppe des Gedichtentwurfs ganz ausdrücklich im Mittelpunkt:

Abb. 7: Transkription W I 6, 58, 14–24 (KGW IX/4)

Die Einbettung dieses Gedichtentwurfs in ein Arbeitsheft und seine Rahmung durch Diktatniederschriften, die vom Autor mehrfach gelesen und bearbeitet worden sind, erlauben es, den Zusammenhang zwischen Nietzsches Gedichtentwurf und seiner Arbeitsweise probehalber zu rekonstruieren. Einen ersten Anhaltspunkt bietet der Umstand, dass der Gedichtentwurf in Blei in das Heft eingetragen wurde. Durchsucht man das Heft nach weiteren Eintragungen in Blei, stößt man einzig auf einen Titelentwurf auf der ersten Seite des Heftes:

97 NL 1888, 19[1], KSA 13, 540, 21–541, 2.

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Abb. 8: W I 6, 1 (GSA-Signatur 71/154)

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Auf dem Vorsatz recto (‚fliegendes Blatt‘, zugleich Seite 1) befindet sich ein Rahmen, der den Satzspiegel umfasst; ein kleinerer Rahmen darin ist als Titelfenster eingerichtet. In das kleinere Ornament hat Nietzsche den Titelentwurf „Zucht des Herzens.“ mit Bleistift eingetragen. Unterhalb dieses Ornaments hat er einen weiteren Titelentwurf in anthrazitfarbener Tinte notiert: „Des Prinzen Vogelfrei / Lieder und Gedanken. / Von / Friedrich Nietzsche.“ Den zweiten Titelentwurf hat Nietzsche eigenhändig mit einem wellenförmig gezeichneten Kasten umrahmt, ebenfalls in anthrazitfarbener Tinte. Der Gedichtentwurf auf Seite 58 steht somit rein materialiter aufgrund des gemeinsamen Schreibgerätes (Bleistift) mit dem oberen der beiden Titelentwürfe auf Seite 1 („Zucht des Herzens“) in Verbindung. Es ist möglich, dass Nietzsche nach der Niederschrift des Entwurfs auf Seite 58 den Titelentwurf auf Seite 1 eingetragen hat, um auf den in diesem Heft enthaltenen Entwurf hinzuweisen, oder um schlicht einen Titel für das Gedicht festzuhalten. Ein wichtiger Hinweis zum Verständnis des Titelentwurfs („Zucht des Herzens“) ergibt sich aus der Lektüre des vierten Teils der Vorrede zu Menschliches, Allzumenschliches. In diesem „Denkmal einer rigorösen Selbstzucht“98 taucht die Wendung „Zucht des Herzens“ nämlich ebenfalls auf: Von dieser krankhaften Vereinsamung, von der Wüste solcher Versuchs-Jahre ist der Weg noch weit bis zu jener ungeheuren überströmenden Sicherheit und Gesundheit, welche der Krankheit selbst nicht entrathen mag, als eines Mittels und Angelhakens der Erkenntniss, bis zu jener r e i f e n Freiheit des Geistes, welche ebensosehr Selbstbeherrschung und Zucht des Herzens ist und die Wege zu vielen und entgegengesetzten Denkweisen erlaubt –, bis zu jener inneren Umfänglichkeit und Verwöhnung des Ueberreichthums, welche die Gefahr ausschliesst, dass der Geist sich etwa selbst in die eignen Wege verlöre und verliebte und in irgend einem Winkel berauscht sitzen bliebe, bis zu jenem Ueberschuss an plastischen, ausheilenden, nachbildenden und wiederherstellenden Kräften, welcher eben das Zeichen der g r o s s e n Gesundheit ist, jener Ueberschuss, der dem freien Geiste das gefährliche Vorrecht giebt, a u f d e n V e r s u c h hin leben und sich dem Abenteuer anbieten zu dürfen: das Meisterschafts-Vorrecht des freien Geistes! Dazwischen mögen lange Jahre der Genesung liegen, Jahre voll vielfarbiger schmerzlich-zauberhafter Wandlungen, beherrscht und am Zügel geführt durch einen zähen W i l l e n z u r G e s u n d h e i t , der sich oft schon als Gesundheit zu kleiden und zu verkleiden wagt. Es giebt einen mittleren Zustand darin, dessen ein Mensch solchen Schicksals später nicht ohne Rührung eingedenk ist: ein blasses feines Licht und Sonnenglück ist ihm zu eigen, ein Gefühl von Vogel-Freiheit, VogelUmblick, Vogel-Uebermuth, etwas Drittes, in dem sich Neugierde und zarte Verachtung gebunden haben. Ein „freier Geist“ – dies kühle Wort thut in jenem Zustande wohl, es wärmt beinahe. Man lebt, nicht mehr in den Fesseln von Liebe und Hass, ohne Ja, ohne Nein, freiwillig nahe, freiwillig ferne, am liebsten entschlüpfend, ausweichend, fortflatternd, wieder weg, wieder empor fliegend; man ist verwöhnt, wie Jeder, der einmal ein ungeheures Vielerlei unter sich gesehn hat, – und man ward zum Gegenstück Derer, welche sich um

98 EH MA 5, KSA 6, 327, 2 f.  

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Dinge bekümmern, die sie nichts angehn. In der That, den freien Geist gehen nunmehr lauter Dinge an – und wie viele Dinge! – welche ihn nicht mehr b e k ü m m e r n …99

Wie William H. Schaberg im Anschluss an Montinari dargelegt hat, war Nietzsche „besonders interessiert an einer neuen, überarbeiteten Ausgabe von Menschliches, Allzumenschliches“, sodass er „im Juni 1885 begann, Menschliches, Allzumenschliches in Sils-Maria zu überarbeiten.100 Demgegenüber geht Röllin davon aus, dass die Umarbeitungen nicht vor Anfang/Mitte September 1885 aufgenommen worden sind.101 Im Herbst 1885 kam Nietzsche mit dem Verleger Credner überein, eine Neuauflage des Werks drucken zu lassen.102 Im vierten Teil der Vorrede bringt er das zum Ausdruck, was er im Gedichtentwurf lyrisch darstellen wollte. Ein Resümee liefert die Äußerung in Ecce homo: „‚Menschliches, Allzumenschliches‘ ist das Denkmal einer Krisis. Es heisst sich ein Buch für f r e i e Geister: fast jeder Satz darin drückt einen Sieg aus – ich habe mich mit demselben vom U n z u g e h ö r i g e n in meiner Natur freigemacht.“103 Es ist besonders interessant, dass Nietzsche für Menschliches, Allzumenschliches ursprünglich den Titel „Die Pflugschar“ vorgesehen hatte.104 Das Wort ‚Pflugschar‘ bezeichnet genau genommen nur die Schneide des Pfluges,105 nicht aber, wie in der Umgangssprache, pars pro toto den Pflug insgesamt. In dieses semantische Feld gehört auch der Begriff ‚Zucht‘: „In der eigentlichen Bedeutung, ein Werkzeug oder Ding zum Ziehen, in welcher doch nur in der Landwirthschaft einiger Gegenden die Kette am Pfluge, welche den Pflug und die Räder zusammen hält, die Zucht genannt wird.“106 Hier besteht eine Analogie zum lyrischen Sprechen, denn

99 MA I Vorrede 4, KSA 2, 17 f. 100 Schaberg, William H., Nietzsches Werke. Eine Publikationsgeschichte und kommentierte Bibliographie, aus dem Amerikanischen von Michael Leuenberger, Basel 2002, S. 171. 101 Röllin, Nietzsches Werkpläne vom Sommer 1885, S. 135–140. 102 Vgl. Röllin, Beat, Ein Fädchen um’s Druckmanuskript und fertig? Zur Werkgenese von ‚Jenseits von Gut und Böse‘, in: Born, Marcus Andreas / Pichler, Axel (Hrsg.), Texturen des Denkens. Nietzsches Inszenierung der Philosophie in „Jenseits von Gut und Böse“, Berlin / Boston 2013, S. 47– 68, hier S. 48. 103 EH MA 1, KSA 6, 322, 4–7. 104 Vgl. EH MA 2, KSA 6, 324, 22–25; dazu auch Schaberg, Nietzsches Werke, passim. 105 Vgl. den Artikel „Pflug“, in: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 2, Leipzig 1796, Sp. 747: „[D]ie Pflüge, ein bekanntes Werkzeug des Ackerbaues, damit Furchen in den Erdboden zu ziehen und ihn zur Aufnahme des Samens locker und geschickt zu machen. Es ist mit Rädern versehen und unterscheidet sich unter andern auch dadurch von dem Haken.“ 106 „Zucht“ [Artikel], in: Adelung, Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart, Bd. 4, Sp. 1741.  

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dieses sei „instrumentelles Handeln, vergleichbar dem Pflügen, Kämpfen, Heilen, verschieden nur in den Instrumenten. An die Stelle von Pflug, Waffe, Arznei treten treten sorgfältig ausgesuchte, rhythmisch organisierte, auf feierliche Weise gesprochene oder gesungene Verse.“107 Nimmt man nun weiter den engeren Kontext im Anschluss an die HeftDoppelseite 58/59 in den Blick, so stößt man auf folgenden Doppelseite 60/61 auf eine Sequenz, in der verdichtet genau das artikuliert wird, was in dem Gedichtentwurf in poetischer Sprache zum Ausdruck gebracht werden sollte:

Abb. 9: Transkription W I 6, 61, 32–39 (KGW IX/4)

Die Bearbeitungsspuren dokumentieren ein Umdenken Nietzsches im Sommer und Herbst 1885. Auf der vorherigen Manuskriptseite (gegenüber dem Gedichtentwurf) beschäftigte er sich noch mit folgender Frage:

Abb. 10: Transkription W I 6, 59, 10–16 (KGW IX/4)

Nietzsche hatte die Einsicht gewonnen, dass er seine Philosophie nicht mehr kommunizieren könne: „Ich habe fast jeden Tag 2–3 Stunden diktirt, aber meine ‚Philosophie‘, wenn ich das Recht habe, das, was mich bis in die Wurzeln meines Wesens hinein malträtirt, so zu nennen, ist n i c h t m e h r mittheilbar, zum Mindesten nicht durch Druck.“108 Hatte er Röder-Wiederhold zunächst noch mit dem Begriff des „Philosophen“ beim Denken operiert und diesen auch diktiert, relati-

107 Schlaffer, Heinz, Geistersprache. Zweck und Mittel der Lyrik, München 2012, S. 16 f. 108 Brief an Franz Overbeck vom 02. 07. 1885, KSB 7, Nr. 609, S. 62, Z. 42–46.  

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viert er den Ausdruck bei der eigenen Korrekturlektüre. So zieht er Konsequenzen aus seiner eigenen Lebenserfahrung. Nietzsches Philosophie des freien Geistes stellt mithin nicht nur eine neue begriffliche Fülle des Wortes dar.109 Der Gedichtentwurf aus W I 6 dokumentiert vor dem Hintergrund der angeführten Parallelstellen Nietzsches Versuch, die seit über hundert Jahren bestehende Existenz des freien Schriftstellers auf den Philosophen anzuwenden, um diesen neuen Typus schon begrifflich von den akademischen Philosophen seiner Zeit, den Kathederfürsten, abzugrenzen. Im späten 19. Jahrhundert hatte sich denkgeschichtlich bereits vollzogen, was um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert seinen Anfang nahm: [D]ie scharfe Verurteilung der Melancholie durch die Aufklärung [wird] von den Romantikern in eine Auszeichnung des Künstlers umgewertet […] und zum anderen [werden] Merkmale der Melancholie in eine Wahrnehmungsstruktur überführt […], die nicht nur in Literatur und Poesie sondern auch in der Philosophie neue Formen des Wissens zu generieren beginnt.110

Melancholie zeitigt Einsicht, doch im Gedichtentwurf dominiert ab dem zweiten Strophenentwurf nicht mehr der sprachlich gefilterte Ausdruck des Dichters, sondern der persönliche Schmerz des empirischen Autors. Die Versuche für eine erste Strophe gelingen noch, ja es gelingt Nietzsche, seine Gedanken und das leitende Gefühl, die waltende Idee schließlich poetisch auszudrücken. Wir sehen noch Nadel und Faden, lose Enden, allerhand Flickwerkzeug. Er experimentiert. Seine Ideen sind noch nicht an ihren sprachlichen Ausdruck gebunden, sie schweben noch in der Sphäre des Unausgesprochenen. Die Entscheidung für die Form steht noch aus. Grundlage für diese Entscheidung aber ist, dass der Akt sprachlicher Realisierung gelingt. Dies festzustellen erfordert eine Erprobung. Die persönliche Verletzung ist jedoch zu groß und überwältigt letztlich den Dichter, der eigentlich nicht nur von sich selbst reden möchte, sondern von dichterischer und denkerischer Existenz im Allgemeinen. Nietzsche macht sich ein Thema zu Eigen, dass seine unmittelbare Lebenswelt betrifft: Sein Ringen um eine angemessene Darstellung seines Werks und nicht zuletzt die Hoffnung auf Anerkennung unter den (wenigen) Lesern des Zarathustra. Zu diesem Ergebnis kommt auch

109 Vgl. hierzu Ottmann, Henning, Philosophie und Politik bei Nietzsche, 2., verbesserte und erweiterte Auflage, Berlin / New York 1999, S. 121–123; außerdem Campioni, Giuliano, Freigeist [Artikel], in: Ottmann, Henning (Hrsg.), Nietzsche-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Sonderausgabe, Stuttgart / Weimar 2011, S. 235–237. 110 Breuer, Ulrich, Dolche reden. Die Wahrheit der Melancholie bei Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche, in: Vieweg, Klaus (Hrsg.), Friedrich Schlegel und Friedrich Nietzsche. Transzendentalpoesie oder Dichtkunst mit Begriffen, Paderborn u. a. 2009, S. 41–56, hier S. 43.  

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Eberhard Lämmert in seiner grundlegenden Studie zu Nietzsches Apotheose der Einsamkeit: Der bemerkenswerte Einklang, der in diesem Punkte zwischen der persönlichen und der literarischen Erscheinung Nietzsches besteht, legt die Hypothese nahe, daß Nietzsche den neuzeitlichen Phänotyp des einzelgängerischen Erkenntnissuchers und Visionärs in seinen Möglichkeiten extrem ausschreitet und daß er damit nicht so sehr einer philosophischen, als vielmehr einer schriftstellerischen Tradition zuzuordnen ist.111

Rekurrierten die ersten beiden Strophenversuche noch auf die allgemeine Mühsal des freien Schriftstellers, so kommt in der dritten Versgruppe nur Nietzsches eigener Gemütszustand zum Ausdruck. Das Besondere ist, dass Nietzsches Einsamkeit und der fortwährende Zwang zum kritischen Denken nicht nur im Gedicht thematisiert werden, sondern auch mit seinem schöpferischen Denken in Verbindung stehen. Damit lässt sich der Gedichtentwurf in die Tradition des Dichtergedichtes einordnen, für das Heinz Schlaffer zufolge „Beschwernis und Reflexion“ konstitutiv sind.112 Nietzsches Idee ist es, die Ideale und Bedingungen des dichterischen Lebens als Vorbild künftiger philosophischer Existenz zu begründen. ‚Seine‘ Philosophen der Zukunft wirken nicht auf dem Katheder, sie sind nicht Teil der staatlich sanktionierten Ausbildungsstätten, deren Rahmenbedingungen ‚freies Denken‘ kaum oder eben nur in definierten Grenzen zulassen. Die Konzessionen, die der ‚freie Philosoph‘ zu machen hat, sind nicht zu unterschätzen. Die Stellung, die Nietzsche dadurch zukommt, hat Lämmert beschrieben: Nietzsche hat als erster die neuzeitliche Genieästhetik voll auf das Philosophieren angewandt, denn auch als Philosoph, dessen Rede nicht der Imagination der Wahrheit, sondern ihrer Darstellung gelten soll, behält er sich strikt diejenige Uneingegrenztheit der Bedeutungsfülle vor, die zuvor nur Gott und hernach niemandem zukommt außer eben dem zu sich selber redenden Genie. In der Praxis des menschlichen Lebens jedoch kann und darf der Gehalt seiner Lehre nur je partikular verstanden werden, um kommunikabel zu bleiben. Der Umgang anderer Menschen mit seiner Lehre beruht deshalb nach Nietzsches eigener Vorgabe, wie die zwischenmenschliche Liebe, notwendig auf Mißverständnissen. Auch Nietzsche ist leidend zu dieser Erkenntnis gelangt. Aber der späte Nietzsche zeigt keine Spur des Leidens an diesem Hiatus zwischen der uneingegrenzten Bedeutungsfülle seiner Lehre und ihrer notwendig nur bruchstückhaften Auffassung durch andere. Da derselbe Hiatus seit dem 18. Jahrhundert von Schriftstellern hundertfach melancholisch bedacht worden ist, stellt sich die Frage, warum der Autor Nietzsche in seinen Texten von solcher Klage nichts hören läßt.113

111 Lämmert, Nietzsches Apotheose der Einsamkeit, S. 48. 112 Schlaffer, Heinz, Das Dichtergedicht im 19. Jahrhundert. Topos und Ideologie, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft, Jg. 10, Marbach 1967, S. 297–335, hier S. 300. 113 Lämmert, Nietzsches Apotheose der Einsamkeit, S. 65.

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Ein abgeschlossenes Gedicht hätte dem Leser die Existenzbedingungen des ‚freien Geistes‘ womöglich erfahrbar gemacht. Eine begriffliche Darstellung der genauen Bedeutung dieser Existenzform in Abgrenzung zur philosophischen Produktionsweise in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wäre damit nicht erreicht.

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Die Einkreisung der schwarzen Schlange: Zur Figur des Wahrsagers im Zarathustra Abstract: The black snake’s encirclement: On the fortune-teller character in Nietzsche’s Zarathustra. The essay contributes to the question of philosophicoliterary interaction in Nietzsche’s Zarathustra by defining the fortune-teller’s role as Zarathustra’s peer and looking-glass adversary. Focussing on the chapters Der Wahrsager, Der Nothschrei and Das Abendmahl, dialectics between both characters are revealed to demonstrate the fortune-teller’s disparate traits and manifestations as analogies to nihilism’s developmental stages: The fortune-teller propounds nihilism’s history and genealogy, representing its cornerstones himself, as distant observer, embodiment of Schopenhauer’s pessimism and mouthpiece of Nietzsche’s proper affirmative philosophy.

1 Allgemeines zur Figurenzeichnung in Nietzsches Frühwerk und im Zarathustra Bereits im Frühwerk Nietzsches lässt sich ein Faible für die Kreation von Figuren feststellen. Es gelingt ihm dabei schon zu Beginn seines Denkens, über konventionelle Personifizierungen hinauszugehen. Die entworfenen Gestalten sind allerdings der Gefahr ausgesetzt, im Statisch-Weltentzogenen eines Ideals gefangen zu bleiben. In der Schrift Schopenhauer als Erzieher (1874) repräsentieren der Heilige, der Künstler und der Philosoph die seltenen Ausnahmegestalten, deren Hervorbringung laut Nietzsche das Ziel der Kultur sein sollte.1 Sie sind die erlösenden Aufklärer der drängenden Natur und besetzen als gestaltgewordene

1 Vgl. UB III SE 5, KSA I, 380, 15–26: „Das sind jene wahrhaften M e n s c h e n , j e n e N i c h t m e h r - T h i e r e , d i e P h i l o s o p h e n , K ü n s t l e r u n d H e i l i g e n ; bei ihrem Erscheinen und durch ihr Erscheinen macht die Natur, die nie springt, ihren einzigen Sprung und zwar einen Freudensprung, denn sie fühlt sich zum ersten Male am Ziele, dort nämlich, wo sie begreift, dass sie verlernen müsse, Ziele zu haben und dass sie das Spiel des Lebens und Werdens zu hoch gespielt habe. Sie verklärt sich bei dieser Erkenntniss, und eine milde Abendmüdigkeit, das, was die Menschen ‚die Schönheit‘ nennen, ruht auf ihrem Gesichte. Was sie jetzt, mit diesen verklärten Mienen ausspricht, das ist die grosse A u f k l ä r u n g über das Dasein“.

DOI 10.1515/9783110474374-011

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Vollendungen der „aeternisirenden Mächte“2 (in der Trias der Moral, der Kunst und der Erkenntnis) die Gipfelhöhen des Ewigen. Der Heilige fühlt sich mit allem Lebendigen aufs innigste verbunden und befreit die Natur von der Selbstsucht. Der Künstler artikuliert und verherrlicht das, was in der naturhaften Rastlosigkeit des Werdens nur unvollständig angelegt war. Im Philosophen erkennt die Natur sich selbst. Er hebt ihren Schleier und führt sie aus dem Zustand blinder Unbewusstheit heraus. Das Wesen dieser Figuren wirkt allerdings derart übermächtig, dass der Vielfalt möglicher Erscheinungsformen kaum Raum gelassen wird. Diese Form der Idealbildung konkurriert mit der Konzeption des Typus, der als verdichtete, durch die Herausschälung der Hauptzüge gewonnene Gestalt eine Einheit stiftende Mittelposition zwischen der Einzigartigkeit der realen Anschauung und der Allgemeinheit des Begriffs einnimmt. In der Historienschrift lässt sich dies anhand des Gerechten als „e h r w ü r d i g s t e [m] Exemplar der Gattung Mensch“3 exemplifizieren. Der Gerechte macht in seiner unbarmherzig-altruistischen Aufdeckung von Irrtümern und Verfehlungen auch vor der eigenen Existenz nicht Halt. Die Ausblendung jeglicher eigennütziger Perspektiven schlägt jedoch nicht in eine eisige Mechanik um, da der jeweilige Mensch als Entscheidungsträger kenntlich bleibt. Diese mühsam zu erkämpfende Gerechtigkeit, die sich nicht erst am konventionellen oder kodifizierten Recht orientiert, um dieses auf den Einzelfall anzuwenden, sondern in ihrem Richten die Grenzsteine und Maßstäbe selbst verrückt, dient Nietzsche als Kontrastfolie für alle unvollkommenen Nachahmungen. Der Gerechte lässt sich allerdings noch nicht als lebhafter und schillernder Charakter ansprechen. Als normativer Idealtypus vermag er den phantasiegetragenen und erfindungsreichen Schaffensdrang der künstlerischen Objektivität mit der unbestechlichen Wahrheitsliebe zu versöhnen.4 Einen höheren Grad an Plastizität gewinnt Nietzsches Figurengestaltung, wenn er von ihm geschätzte Denker als mustergültige Vorbilder profiliert. Diesbezüglich sind in der frühen Werkphase besonders Heraklit und Schopenhauer zu erwähnen: Sie verkörpern ein überzeitliches Ethos, eine stolze Unbeugsamkeit und vornehme Würde.5 Konträr dazu fungiert Sokrates in der Geburt der Tragödie als

2 UB II HL 10, KSA 1, 330, 18. 3 UB II HL 6, KSA 1, 286, 30. 4 Vgl. UB II HL 6, 292, 25–295,23. Vgl. hierzu auch: Geijsen, Jacobus A. L. J. J., Geschichte und Gerechtigkeit. Grundzüge einer Philosophie der Mitte im Frühwerk Nietzsches, Berlin / New York 1997, S. 45 f. Zu berücksichtigen ist ebenfalls: Sommer, Andreas Urs, Der Geist der Historie und das Ende des Christentums. Zur „Waffengenossenschaft“ von Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck. Mit einem Anhang unveröffentlichter Texte aus Overbecks „Kirchenlexicon“, Berlin 1997, S. 53. 5 Vgl. zu Heraklit besonders PHG 8, KSA 1, 833–835. Vgl. zu Schopenhauer UB III SE 8, KSA 1, 414, 8–415, 19.  

Die Einkreisung der schwarzen Schlange

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Chiffre einer heiter-erkenntnisoptimistischen Kehrtwende zur Dialektik und zur Oberfläche des begrifflich Fassbaren, die das „tragische[ ] Zeitalter der Griechen“ beendet.6 Die poetische Ausgestaltung, die das spätere Werk Also sprach Zarathustra prägt, verleiht seinen Figuren in der Synergie und im Auseinandertreten von Sprechen und Handeln eine facettenreiche Individualität. Hinsichtlich der Konzeption sticht hervor, dass Nietzsche im Zarathustra die dichterischen Konsequenzen aus seiner (Selbst-)Kritik an der „Artisten-Metaphysik“7 des Frühwerks zieht: Die Figuren verlieren ihre statische Substanzhaftigkeit, ohne dass dadurch das Beliebige und Ungebundene dominieren würde. Im Gegenteil: Auf diese Weise werden dynamische Elemente integriert, die es erlauben, die Antagonisten und Mitstreiter Zarathustras als Wankelmütige, Schauspieler und Doppeldeutige zu inszenieren, sie als Teilhaber an einem weitgespannten Stimmungsgeflecht entweder resignierend oder triumphierend, klagend oder aufbegehrend, verzweifelnd oder ehrbezeugend auftreten zu lassen. Die Figuren im Zarathustra veranschaulichen den Übergang, den Zarathustra verkündigt und herbeizuführen sucht. Daher gruppieren sie sich um die Motive des Gottes-Tods, der Gefahr und Chance des Nihilismus sowie der Heraufkunft des Übermenschen: Sie sind abtrünnige Repräsentanten der überkommenen geistlichen und weltlichen Macht, Anhänger einer paradigmatischen, moralischen Einstellung und Zugangsweise zur Welt, personifizierte Umbrüche und Entscheidungen des Zeitalters.8 Sie versinnbildlichen die inneren Konflikte, Verführungen und

6 Vgl. PHG, KSA 1, 799; sowie GT, 116, 11–15: „Unsere ganze moderne Welt ist in dem Netz der alexandrinischen Cultur befangen und kennt als Ideal den mit höchsten Erkenntnisskräften ausgerüsteten, im Dienste der Wissenschaft arbeitenden t h e o r e t i s c h e n M e n s c h e n , dessen Urbild und Stammvater Sokrates ist.“ 7 GT Versuch einer Selbstkritik 5, KSA 1, 17, 23 f. 8 Es folgt eine ausgewählte Aufstellung der Figuren, die im vierten Teil des Zarathustra auftreten: Der Papst hat abgedankt, nachdem Gott an „seinem allzugrossen Mitleiden“ erstickt ist (Za IV Ausser Dienst, KSA 4, 324, 13). Eine andere Version liefert der hässlichste, sich selbst verachtende Mensch, der Gott tötete, weil er das grenzenlose Mitleid, welches ihm von Gott dargebracht wurde, nicht ertragen konnte. Während die Religion ihre sinnstiftende Deutungshoheit verloren hat, befinden sich die positiven Wissenschaften auf dem Vormarsch. Ihr Vertreter ist der ‚Gewissenhafte des Geistes‘: Er beansprucht ein klar abgestecktes Gebiet für sich (den Sumpf), auf welches er sich spezialisiert hat. Dort erforscht er das Gehirn der Blutegel – seine Erkenntnisse machen ihn äußerst stolz. Sein spezialisierter Wissensdrang geht so weit, dass er den Blutegeln den eigenen Arm anbietet. Seine Maxime lautet: „Lieber Nichts wissen, als Vieles halb wissen! […] Eine Hand breit Grund ist mir genung: wenn er nur wirklich Grund und Boden ist!“ (Za IV Der Blutegel, KSA 4, 311, 12 u. 16 f.). Er behauptet, die geistige Akribie und Ernsthaftigkeit von Zarathustra gelernt zu haben. Er ist der einzige unter den ‚höheren Menschen‘, der das „Lied der Schwermuth“, welches der Zauberer in Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371–374 anstimmt, ausdrücklich ablehnt und  



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Irrwege Zarathustras und dienen der Schärfung seines eigenen Profils als Figur, weil er sich von ihren Positionen abgrenzen muss, die oft erstaunliche Ähnlichkeiten zu seiner eigenen Haltung aufweisen. Dabei gelingt es Nietzsche, seine Figuren nicht in instrumentelle Rollen als Widerpart, Spielball oder Stichwortgeber Zarathustras abgleiten zu lassen, an denen dieser seine Überlegenheit ausagiert. Dies verdankt sich besonders dem Überraschungsmoment ihres jeweiligen Auftretens: Aus dem Titel des sie einführenden Kapitels geht nicht hervor, ob sie erzürnt oder unterwürfig auf Zarathustra reagieren werden, ob mit ehrenvoller Gunstbezeugung, unverhohlener Streitlust oder herausfordernder Verstellung. Nietzsche spielt raffiniert mit den Erwartungen des Lesers, wenn sich die Könige vor Zarathustra verneigen, der Papst die Gottlosigkeit Zarathustras bewundert, der friedfertige Bettler verachtungsvolle und wütende Reden schwingt und der ‚Gewissenhafte des Geistes‘ die Scheinheiligkeit der positiven Wissenschaften vor Augen führt. Die Figuren tauchen an bezeichnenden Orten auf oder erscheinen in Szenen, die einen ersten Einblick in ihre Wesenszüge zulassen, ohne diese komplett festzulegen. Topographie und Befindlichkeit durchdringen einander. Dies lässt sich besonders im Hinblick auf den „hässlichste[n] Mensch[en]“9 veranschaulichen:

diesen der Lüge bezichtigt. Aufgrund seines Sicherheitsbedürfnisses ist der ‚Gewissenhafte des Geistes‘ der Feind aller ‚freien Geister‘. Ausdruck dieses anderen Extrems ist der „Schatten“ (vgl. Za IV Der Schatten, KSA 4, 338–341). Sein Merkmal ist die unablässige Freigeisterei, die schließlich die eigene Bindungslosigkeit nicht mehr erträgt. Die beiden Könige führen einen Esel mit sich, den sie für denjenigen reservieren, der ihnen überlegen ist (vgl. Za IV Gespräch mit den Königen 1–2, KSA 4, 304–308). Sie sind die ersten der ‚höheren Menschen‘, denen Zarathustra begegnet, nachdem er den „Nothschrei“ vernommen hat (vgl. Za IV, Der Nothschrei, KSA 4, 300–303). Ihr weltliches Amt haben sie niedergelegt, weil sie ihrer eigenen Untertanen überdrüssig geworden sind. Obwohl sie sich voller Eifer in einer bellizistischen Rhetorik ergehen, sind sie im Kern friedliebend und höflich-distinguiert. Der „freiwillige Bettler“ wiederum, ein gütiger BergPrediger – die Anspielung auf Jesus von Nazareth ist offenkundig –, verzichtete einst auf seinen Reichtum, wurde aber auch von den Armen nicht angenommen (vgl. Za IV Der freiwillige Bettler, KSA 4, 333–337). Zarathustra trifft ihn inmitten von Kühen an, die für den Bettler aufgrund ihrer Genügsamkeit das Richtmaß irdischen Glückes darstellen. Der „Zauberer“ inszeniert sich als einsamen, innerlich zerrissenen Gottsucher (vgl. Za IV Der Zauberer 1–2, KSA 4, 313–320). Er glaubt, Zarathustra auf diese Weise zum Mitleiden mit ihm motivieren zu können. Doch nachdem Zarathustra ihn enttarnt hat, räumt er ein, dass es nur ein Spiel gewesen sei. Aufgrund seiner verführerischen Maskenkunst beansprucht er, der Größte des Zeitalters zu sein. Doch auch diese Prätention ist nur ein Schein; er ist in den Netzen seiner eigenen Magie gefangen. Dies sind sieben der ‚höheren Menschen‘. Sie alle haben markante Eigenschaften und lassen sich entweder dem Feld des Glaubens, der Wissenschaft, der Kunst oder der weltlichen Macht zuordnen. Doch wer ist der Wahrsager? 9 Za IV Der hässlichste Mensch, KSA 4, 327, 1.

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Dieser begegnet Zarathustra in einem unwegsamen, felsigen Tal, in dem sich sterbende Schlangen winden. Der jähe Bruch in der landschaftlichen Physiognomie korrespondiert mit einem Stimmungsumschwung Zarathustras. Bevor dieser um einen Felsen biegt, der den Blick in die lebensarme Ödnis des Tals verstellt, frohlockt er über seine bisher angetroffenen Gesprächspartner und blickt zufrieden auf den Tag zurück, der unter düsteren Vorzeichen – nämlich mit der Ankunft des Wahrsagers – begann. Obgleich Zarathustra nach jeder Begegnung rasch weitereilt, stellen die einzelnen Charaktere nicht nur Durchgangsstationen dar. Die ‚höheren Menschen‘ durchbrechen die Eindimensionalität der Stimmung immer wieder, sie treiben die Dramaturgie wahlweise voran oder halten sie auf. Dabei bilden sie keine Indikatoren, an denen sich der mutmaßliche Grad des Aufstiegs ablesen ließe. Vielmehr nutzt Nietzsche die in ihnen gebündelten, radikalen Positionen, um Versuchungen, denen er selbst erlag, abzubilden und sich auf diese Weise von ihnen zu distanzieren: Anhand des Zauberers problematisiert er beispielsweise die Gefahr der dichterischen Maskenbildung und zeigt ihre Grenzen auf: Die Anhäufung von wandelbaren Verkleidungen, gedacht als entlarvend-provokante Geste gegen die verbissene Ernsthaftigkeit der Mitmenschen einerseits und als verflüssigend-experimentelle Verschiebung des Standpunktes andererseits, schlägt auf den Akteur zurück, dem es schließlich verwehrt ist, einen Urheber der Charade zu fixieren. Als Ariadnefaden, der die ‚höheren Menschen‘ verbindet, setzt Nietzsche im vierten Teil des Zarathustra den Nothschrei ein, der von Seiten der jeweiligen Figuren ergeht und Zarathustra dazu drängt, sie aufzusuchen und ihnen Hilfe zu leisten.10 Die abschließende Versammlung dieser Figuren zeigt einerseits die Interaktion der so unterschiedlichen Charaktere und weist anderseits auf den Reichtum und die im ‚Übermenschen‘ zur Vereinigung kommenden Höhen, Tiefen und Winkelzüge voraus. Die Zusammenkunft ist also zugleich ein Versprechen, insofern sie Charakteristika des ‚Übermenschen‘ antizipiert. Besonders im vierten Teil des Zarathustra entwickeln die Figuren eine aussagekräftige und nuancenreiche Singularität; in den ersten drei Teilen hingegen überwiegt die Auseinandersetzung mit abstrakten Themen. Diese werden stärker konturiert, indem ihnen Personengruppen und soziale Klassen beigeordnet werden, deren entscheidende Merkmale zugespitzt und manchmal pejorativ gekennzeichnet sind. Oftmals kommen diese Gruppen bzw. Klassen nicht selbst zu Wort, sondern stellen lediglich Objekte für Zarathustras brüske Zurechtweisungen und Widerlegungen dar.11 10 Vgl. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 300–303. 11 Um Nietzsches Vorgehensweise zu exemplifizieren, können in Bezug auf den ersten Teil die Kapitel Von den Hinterweltlern, Von den Predigern des Todes und Von den Verächtern des Leibes (Kritik an dualistischen metaphysischen Positionen und ihren einflussreichen Anhängern), sowie

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Diese Verfahrensweise ist für Nietzsches Kritik und Polemik in allen Phasen seines Denkens charakteristisch.12

2 Einleitende Bemerkungen zur Gestalt des Wahrsagers Anhand des Wahrsagers soll im Folgenden entgegen der konventionellen Abgrenzung der ersten drei Teile voneinander13 gezeigt werden, dass die gesamte Handlung des Zarathustra eine unterschwellige Auseinandersetzung durchzieht, die im vierten Teil schließlich aufgelöst wird. Die These, dass der letzte, lyrischere und erst 1886 hinzugefügte Teil sich allein der unverfänglichen Darstellung der bis dahin entwickelten Gedanken widme und nur die bestimmte Negation dessen darstelle, was der künftige ‚höhere Mensch‘ (noch) nicht sei, soll relativiert werden.14 Auf diese Weise lässt sich auch die Dichotomie zwischen den ersten drei Büchern und dem abschließenden vierten auflösen. Es muss dann nicht mehr

Vom neuen Götzen (Destruktion der Staatsvergottung) und Von der Nächstenliebe (Privilegierung einer Philosophie der Freundschaft anstelle des christlichen Moralparadigmas) angeführt werden. Im Hinblick auf den zweiten Teil sind die Kapitel Von den Mitleidigen und Von den Gelehrten erwähnenswert. Im dritten Teil lässt sich eine zunehmende Konkretion feststellen, das persönliche Schicksal Zarathustras, seine leibhaftigen Begegnungen, seine Vorstellungen und Hoffnungen treten in den Vordergrund (z. B. in Vom Vorübergehen, Vom Geist der Schwere, Der Genesende, Die sieben Siegel). Im vierten Teil erreicht Nietzsches Gestaltungskraft ihren Zenit. Er wahrt die Balance zwischen den Extremen einer idiosynkratischen Individualisierung, die auf keinen gemeinsamen Erfahrungsschatz mehr rekurrieren könnte, und Figur gewordenen Philosophemen, durch welche die Akteure zu bloßen Sprachrohren herabgesetzt würden. 12 Vgl. zum stilistischen Aspekt der Polemik: Schlaffer, Heinz, Das entfesselte Wort. Nietzsches Stil und seine Folgen, München 2007; und Sloterdijk, Peter, Der Denker auf der Bühne. Nietzsches Materialismus, Frankfurt/Main 1986, S. 46–48. Zu Nietzsches Abgrenzungen, Kontroversen und Forderungen vgl. Simmel, Georg, Schopenhauer und Nietzsche. Ein Vortragszyklus [1907], VII. Vortrag, Bremen 2012, S. 220–233. 13 Die Grundmotive der ersten drei Teile lassen sich wie folgt skizzieren: I. Der große Einzelne wird mit der Menge konfrontiert; II. Der wegweisende Stifter ist mit seinen Jüngern auf Reisen; III. Der Denker des abgründigsten Gedankens befindet sich im ringenden Selbstgespräch (vgl. Himmelmann, Beatrix, Zarathustras Weg, in: Gerhardt, Volker (Hrsg.), Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra, Berlin 2000 (= Höffe, Otfried (Hrsg.), Klassiker auslegen, Bd. 14), S. 17–47). 14 Vgl. dazu das drastische Urteil von Eugen Fink: „Der ‚Zarathustra‘ hat seinen Höhepunkt im dritten Teil erreicht. Hier wäre auch das natürliche Ende des Werkes […]; der ganze vierte Teil ist ein Absturz. Irgendwie scheint die dichterisch-denkerische Vision erschöpft. Wie ein böses, boshaftes Satyrspiel hängt dieser vierte Teil dem Werk an, das eine neue tragische Sicht der Welt auftat“ (Fink, Eugen, Nietzsches Philosophie, Stuttgart 1960, S. 114).

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an der Lesart festgehalten werden, dass die ersten drei Teile eine ambitionierte Philosophie im Gewand der Dichtung vortragen – wobei sie ihre Spannung und ihren Kulminationspunkt in der von Zarathustra lange zurückgehaltenen Äußerung des Wiederkunftsgedankens finden –, während der letzte Teil lediglich ein Ausklang sei, die Entfaltung eines unverbindlichen Zeremoniells. Allein dem Wahrsager kommt das Privileg zu, der einzige der insgesamt acht ‚höheren Menschen‘ zu sein, der bereits im zweiten Teil eingeführt wird. Während die Schlagworte, die seine Lehre zusammenfassen („Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war“),15 mit geringen Abwandlungen in verschiedenen Kapiteln Erwähnung finden, zeichnet ihn die Spannbreite seiner Wandlungen vor allen anderen Figuren aus. Daher folgt die Struktur des Aufsatzes der Chronologie seiner Auftritte. Anhand der Einordnung und Interpretation soll zugleich illustriert werden, dass ihm eine steuernde Rolle innerhalb der Werkkomposition zukommt. Auch wenn es zunächst so scheint, dass sich der Zeitpunkt seines ersten Auftritts zu dem Moment seines erneuten Auftretens willkürlich verhält, folgen diese Auftritte doch einer inneren Logik. Bereits bei seinem ersten Auftritt konfrontiert der Wahrsager Zarathustra mit einer problematischen Zeitvorstellung und einer gewichtigen Herausforderung, mit der dieser in den folgenden Büchern ringt: Im unmittelbar sich anschließenden Kapitel Von der Erlösung rekapituliert Zarathustra die Schilderungen des Wahrsagers und setzt seine eigene Idee des schaffenden Willens gegen die Vorstellung einer immanenten Gerechtigkeit und gegen die Schlussfolgerung von dem Faktum des Leidens auf eine abzubüßende Daseinsschuld. Doch der Wille ist noch von dem Widerwillen gegen das ihm Entgleitende geleitet; er hat seinen Grimm gegen das „Es war“16 nicht abgelegt. Zarathustra wagt es noch nicht, die einzige Möglichkeit zur Sprache zu bringen, wie der Wille in der prospektiven Zielverfolgung das eigene Zurückwollen zu vollziehen vermag.17 Auch nachdem Zarathustra bereit ist, nach quälenden Entbehrungen den schwersten aller Ge-

15 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 4 f. 16 Za II, Von der Erlösung, KSA 4, 179, 26. 17 Nicht nur im Kapitel Von der Erlösung vermag es Zarathustra noch nicht, den Gedanken auszusprechen; auch später sind es seine Tiere, die ihn in ihrem „Leier-Lied“ zum „L e h r e r d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t “ (Za III Der Genesende 2, KSA 4, 275, 19 u. 29 f.) ausrufen und diese als den Gehalt seiner Lehre markieren. Dass Zarathustra den kaum zu ertragenden Gedanken niemals selbst vorbringt, führt Werner Stegmaier darauf zurück, dass es sich bei der ‚ewigen Wiederkunft‘ um eine „Anti-Lehre“ handle, welche die Begriffe der Metaphysik gebraucht, um sie in Paradoxien münden zu lassen (vgl. Stegmaier, Werner, Friedrich Nietzsche zur Einführung, 2., korrigierte Auflage, Hamburg 2013 (Reihe zur Einführung, Bd. 395), S. 165 f.).  





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danken auszusprechen, kann er den Wahrsager bei der nächsten Begegnung im vierten Teil nicht überbieten – er vermag aber zumindest, ihm zu entkommen. Zarathustra kann nur zum Fürsprecher des Lebens und des (Lebens-)Kreises werden, wenn er diese ungetrübte Sicht auf das Leiden noch radikalisiert und zum „ernsthafte[n] F o r t s e t z e r des Schopenhauerschen Pessimismus“18 wird. Die Intention dieses Aufsatzes ist es, eine Lesart vorzulegen, welche die Ähnlichkeit zwischen dem Wahrsager und Zarathustra hervorhebt: Der Wahrsager ist Zarathustra im Zustand der Umklammerung des Nihilismus; Zarathustra ist der überwundene Wahrsager, der an der pessimistischen Weisheit festhält, diese aber zum Ausgangspunkt einer schillernden Neuschöpfung macht. Zarathustra prophezeit ein neues Zeitalter, gerade weil er bereit ist, die Wiederholung der Angst, des Unliebsamen, Verfehlten und Furchtbaren zu denken und zu bejahen. Ein besonderes Augenmerk soll auf die subtil inszenierte Dialektik einer wechselseitigen Befreiung gelegt werden: Nachdem Zarathustra, selbstbewusst und lichterfüllt, die Beschreibungen des Wahrsagers im zweiten Teil vernommen hat, erhellt sich ihm die herannahende Dämmerung, er verfällt sprachlos in ein unglückliches Bewusstsein. Im Zuge der zweiten Begegnung kann er die Lehre wieder ins Äußerliche, Angreifbare setzen, gerade weil der vormals unparteiische Wahrsager ostentativ für sie votiert und Zarathustra allein die Flucht in das am meisten Verachtete bleibt. Der Wahrsager lockt ihn mit einem Ausweg, der Zarathustra als Selbstverleugnung erscheinen muss, in Wirklichkeit aber das einzige Mittel ist, um die Existenz „glückselige[r] Inseln“19 tatkräftig unter Beweis zu stellen. In der dritten Begegnung vollzieht sich eine Versöhnung, in welcher der genesende Wahrsager im Kreise einer Gemeinschaft, an deren Zusammenkunft er entscheidend beteiligt ist, aus freien Stücken auf Zarathustras Weg einschwenkt und diesem einen Vorsprung einräumt.20 Zweimal stürzt er Zarathustra in eine Krise; er vernimmt gemeinsam mit ihm den „Nothschrei“ und ist neben ihm der einzige, der von der Existenz des ‚höheren Menschen‘ weiß.21 Es lassen sich darüber hinaus noch einige weitere aussagekräftige Analogien benennen: Zarathustra haust in einer hochgelegenen Höhle, während diejenigen, die den Lehren des Wahrsagers verfallen sind, in einer dunklen, unbesteigbaren Berg-Burg leben. Zarathustra sind die sich ringelnde Schlange, der emporfliegende Adler und der lachende Löwe zugeordnet, der Wahrsager ist dagegen

18 19 20 21

NL 1884, 27[78], KSA 11, 295, 11 f. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 29; bzw. 303, 1. Vgl. Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 353–355. Vgl. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302.  

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mit der schwarzen, würgenden Schlange22 und dem heulenden Hund assoziiert.23 Diese treten zwar nicht unmittelbar in seinem Gefolge auf, aber sie verankern in der Gegnerschaft zu Zarathustra seine Auffassungen. Diese Feindschaft darf jedoch nicht als disjunktives Konkurrenzverhältnis aufgefasst werden, sondern stellt eher eine ungewollte Kooperation dar.24 Der Wahrsager erweist sich als ‚Geburtshelfer‘: Er drängt Zarathustra, der in seiner Höhe verweilen wollte, zu einem neuerlichen Abstieg und initiiert somit dessen Begegnung mit verschiedenen personifizierten Existenzentwürfen, Spiegelungen seiner selbst, die in ihrer Selbstverachtung auf seine Sehnsucht nach Höherem hinweisen, aber noch nicht spottend über sich hinauszugelangen vermögen.

3 Die Metaphorik im Kapitel Der Wahrsager und ihre philosophischen Implikationen Zum ersten Mal tritt der Wahrsager im zweiten Teil von Also sprach Zarathustra in Erscheinung. Anders als andere Figuren begegnet er Zarathustra nicht an einem klar umrissenen Ort oder auf einer Wanderung, er sucht oder verfolgt ihn nicht. Der Wahrsager führt keine ihn charakterisierende Handlung aus. Weder geht seiner Rede eine Schilderung unverwechselbarer Eigenschaften voraus noch kommt das

22 Vgl. Za III Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4, 201 f. Vgl. zur Deutung der schwarzen Schlange: Heidegger, Martin, Nietzsche I, 7. Auflage, Stuttgart 2008, S. 396: „Die schwarze Schlange ist das Immergleiche und im Grunde Ziel-und Sinnlose des Nihilismus, ist dieser selbst.“ 23 Vgl. Za III Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4, 201 f.; sowie Za III Der Genesende 2, KSA 4, 274. Als Zarathustra im Kapitel Vom Gesicht und Räthsel das Heulen eines Hundes vernimmt, erinnert er sich an einen Traum, den er in seiner Jugend hatte. In diesem sah er einen jungen Hirten am Boden liegen, der im Schlaf von einer würgenden, schwarzen Schlange überwältigt wurde, die sich in seinem Hals festbiss. Im Traum versucht er, die Schlange mit Gewalt wegzuziehen, aber es gelingt ihm nicht, sich von ihr zu befreien. Von außen ist sie nicht zu bezwingen. Der heulende Hund begleitet die Szene, indem er auf Zarathustra zuläuft und winselnd um Hilfe fleht. Erst als Zarathustra dem jungen Hirten zuruft, er solle der Schlange den Kopf abbeißen, kann der Hirt sich befreien und triumphierend lachen. Im Kapitel Der Genesende stellt sich heraus, dass der Hirte Zarathustra selbst in jungen Jahren war. Erst als er im Stande war, die ewige Sinnlosigkeit des Nihilismus und den Überdruss am Menschen komplett in sich aufzunehmen, konnte er ihn verwinden. Diese Verinnerlichung stellt auch ein Leitmotiv in der Auseinandersetzung mit dem Wahrsager dar. Vgl. zur Interpretation dieser Stellen: Heidegger, Nietzsche I, S. 256–264; 268–283; sowie 387–401. 24 Vgl. Heidegger, Nietzsche I, S. 399: „[E]r denkt aber diesen Gedanken so lange nicht in seinem wesentlichen Bereich, solange ihm nicht die schwarze Schlange in den Schlund gekrochen ist und er zugebissen hat. Der Gedanke ist nur als jener Biß.“  



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besonders im vierten Teil angewandte Verfahren, die Geschichte der Wandlungen zu erzählen, d. h. Wendepunkte der Entwicklung ins Spiel zu bringen, in seinem Fall zum Tragen; vielmehr scheinen zwei rätselhafte Gedankenstriche einander zu antworten: Das vorhergehende Kapitel schließt damit, dass Zarathustra über die Bedeutung des Schreis eines Gespenstes – seines Schattens – nachdenkt. Dieses hatte wiederholt skandiert: „Es ist die höchste Zeit“.25 Zarathustra scheint auf die sich selbst vorgelegte Frage: „W o z u ist es denn – höchste Zeit?“,26 keine passende Antwort zu finden. Bedenkenswert ist bereits die erste Aussparung in der Mitte der Frage. Obwohl die letzten Worte des Kapitels Von grossen Ereignissen die übliche Schlusswendung wiederholen („Also sprach Zarathustra“),27 sollte diese formelhafte Routine nicht darüber hinwegtäuschen, dass eine außergewöhnliche Bedeutungsprivilegierung stattfindet. Die Rede des Wahrsagers beginnt unvermittelt und ohne Angabe eines Sprechers; nur der Gedankenstrich geht ihr voran. Auf diese Weise scheint der Wahrsager das Geschehnis, welches für die höchste Zeit reserviert ist, freizulegen. Die Strategie der Entpersonalisierung und Delokalisierung wird von Nietzsche forciert, indem er den Wahrsager orakelartig Folgendes sagen lässt:  

„– und ich sahe eine grosse Traurigkeit über die Menschen kommen. Die Besten wurden ihrer Werke müde. Eine Lehre ergieng, ein Glaube lief neben ihr: ‚Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!‘ Und von allen Hügeln klang es wieder: ‚Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war!‘ Wohl haben wir geerntet: aber warum wurden alle Früchte uns faul und braun? Was fiel vom bösen Monde bei der letzten Nacht hernieder? Umsonst war alle Arbeit, Gift ist unser Wein geworden, böser Blick sengte unsre Felder und Herzen gelb. Trocken wurden wir Alle; und fällt Feuer auf uns, so stäuben wir der Asche gleich: – ja das Feuer selber machten wir müde. Alle Brunnen versiegten uns, auch das Meer wich zurück. Aller Grund will reissen, aber die Tiefe will nicht schlingen! ‚Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken könnte‘: so klingt unsere Klage – hinweg über flache Sümpfe. Wahrlich, zum Sterben wurden wir schon zu müde; nun wachen wir noch und leben fort – in Grabkammern!‘ –“28

Potenziert wird die Unfasslichkeit der Figur, weil der Wahrsager keine eindeutige Position bezieht: Er beschreibt die Ausbreitung einer lähmenden Müdigkeit, zeigt den damit korrespondierenden Niedergang der Natur auf und bindet diese Phänomene zurück an die Negativitätsdiagnose, welche in der Lehre: „Alles ist leer, 25 26 27 28

Za II Von grossen Ereignissen, KSA 4, 171, 9 f. Za II Von grossen Ereignissen, KSA 4, 171, 11. Za II Von grossen Ereignissen, KSA 4, 171, 12. Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 2–21.  

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Alles ist gleich, Alles war!“,29 erklingt. Diese hallt echoartig wider. Berücksichtigt man die in der Rede des Wahrsagers verwendete Bildersprache, so zeigt sich, dass Nietzsche die weltumspannende Lähmung und Stagnation der Natur mit der Stilllegung und Erkrankung des Vitalen im Menschen parallelisiert. Die große Traurigkeit, welche sich über die Erde legt, sie unfruchtbar macht und ihre Erzeugnisse verdirbt, kann als Allusion auf den Persephone-Mythos verstanden werden: Weil sich die Erde verschließt, blüht nichts mehr dem Himmel entgegen. Der bisherige Kreislauf wird unterbrochen,30 die Verbindung zum Himmel reißt ab. In dem stets aufs Neue zum Erlöschen gebrachten Feuer manifestiert sich nicht nur die Verarmung des Geistigen und die Abwesenheit des Wagemuts; in diesem Bild äußert sich auch der Abbruch des heraklitischen Wechselspiels von Aufflammen und Erlöschen, Erzeugung und Sättigung, Freigeben und An-sich-Halten, Maß und Verschwendung. Die taktgebende Kraft ist abhandengekommen; das in seiner Leuchtkraft gehemmte Feuer wird zum destruktiven Element und ordnet sich als sengende Begleiterscheinung dem bösen Blick unter. Zudem korrespondiert das Feuer des Himmels, das begeisternde, schöpferische Pathos nicht mehr mit einer Geistesgegenwart, einer Nüchternheit der klaren Darstellung, welche es bewahren könnte. Die Erwähnung des – nunmehr vergifteten – Weins sollte nicht allein als Allegorie des dionysischen Rausches, der beschwingten Lebensfreude und der Möglichkeit, das Ich auszublenden, es zu vergessen, aufgefasst werden; vielmehr werden im Produkt des Weins die Elemente zusammengeführt. Der Wein veranschaulicht einen Reifeprozess, der die ganze Natur in eine interagierende Harmonie versetzt: Die Sonne trug dazu bei, dass die Erde die Rebe aufgehen ließ, die sie stets in der Verwurzelung hielt. Die nie versiegenden Quellen und Brunnen spendeten das Wasser, welches die Trauben gedeihen ließ. Die Sonne findet jedoch in der ganzen Passage keine Erwähnung. Dies scheint allerdings nicht dem Sachverhalt geschuldet zu sein, dass sich dem Licht der Sonne nichts mehr darbietet, worin es seine Strahlkraft entfalten könnte. Auffallend ist nämlich, dass bereits der „tolle Mensch“ im Abschnitt 125 der Fröhlichen Wissenschaft die Loskettung der Sonne von der Erde konstatiert hatte.31 Der Horizont wird nicht mehr von der Idee des Guten erleuchtet. Eine letzte Ernte wurde noch gewährt, aber die Verderbnis überkommt die Früchte früher als gewohnt. Das zurückweichende Meer verwehrt Seefahrten zu unentdeckten Inseln. Der Mensch kann ihm nacheilen, doch kurz bevor er es erreicht, wird es ihm eine

29 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 4 f. 30 Ein Vorläufer für diese Idee könnte neben Hesiod der Mythos der zwei entgegengesetzten Weltumläufe sein, den Platon im Politikos erzählt (vgl. Platon, Politikos, 37. Auflage, übers. von Friedrich Schleiermacher, hrsg. von Ursula Wolf, Hamburg 2013, 269c–274e, S. 363–366). 31 FW 125, KSA 3, 480, 22 u. 481, 5.  

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Wüste hinterlassen haben.32 Bislang gab das Meer dem befestigten Land das Maß, die Weite und Unterscheidbarkeit. Die Mannigfaltigkeit des Gestalteten und Stofflichen, die Hügelketten und die fruchtbaren Täler grenzen an die unüberschaubare Unendlichkeit der ewiggleichen Oberfläche des Meeres, welches sich erst in der Nähe des Landes aufbäumt und sich schäumend ergießt. Das Meer wird in jedem Moment ein anderes, um doch stets dasselbe zu bleiben. Wenn man die Polarität von Unendlichkeit und Endlichkeit nicht nur auf die Zeit bezieht, sondern auch als Gegenüberstellung von Jenseits und Diesseits versteht, so kündigt sich in dem deprimierenden Geschehen eine wegweisende Entscheidung an, die durch den Entzug des Meeres beschleunigt wird: Der Sinn der endlichen Erde muss ohne den Kontrast zur Unerschöpflichkeit des Meeres gedacht werden; dies kann nur gelingen, wenn die Erde den bislang undurchdringlichen Reichtum des sie Überschreitenden in sich aufnimmt. Die Ausweglosigkeit, die keine andere Wahl lässt, als sich der zunehmenden Verwüstung zu stellen, wird von der Erdgewalt selbst forciert, die von keinem Widerpart mehr eingeschränkt wird: Die Hügel, die emporragenden Aufwallungen der Erde, tragen das Echo weiter und werfen es sich gegenseitig zu. Die Höhenzüge sind es, die eine Flucht verwehren, ein Bekenntnis fordern. Das Echo kann nicht entweichen oder abklingen, in ununterbrochener Monotonie waltet es innerhalb der Gegend, die von den Hügeln begrenzt wird. Es ist allerdings zu berücksichtigen, dass Nietzsche das Meer an anderer Stelle als naturhaftes Spiel „in sich selber stürmender und fluthender Kräfte“33 bezeichnet, was ähnliche Assoziationen evoziert, wie sie auch im Fall des Feuers geweckt werden. Auf das Gleichnis des Wahrsagers bezogen, wäre somit ein Zwischenzustand, aber keineswegs ein Endpunkt erreicht: Das wogende, überquellende Leben, bislang dirigiert und in festen Bahnen gehalten durch die Kraft der Sonne, entzieht sich und lässt seine bisherigen Strände zurück. Das Zurückweichen des Meeres muss ertragen werden, um ein neues Meer hervorzubringen, das aus der Bezogenheit zur Erde und im Ausgang von ihr gedacht wird, nicht etwa umgekehrt. Es könnte eine unerforschliche Tiefe besitzen, in der es sich wieder zu ertrinken lohnt. In seiner Fülle und assimilierenden Kraft wird es von Zarathustra mit dem Übermenschen gleichgesetzt: „[D]er ist diess Meer, in ihm kann eure grosse Verachtung untergehn.“34

32 Vgl. zum Motiv der wachsenden Wüste: DD Unter Töchtern der Wüste, KSA 6, 381–387. Das beinahe gleiche, an einigen Stellen allerdings modifizierte Gedicht trägt der Wanderer in Za IV Unter Töchtern der Wüste 2, KSA 4, 380–385, vor. 33 NL 1885, 38[12], KSA 11, 610, 30 f. 34 Za I Vorrede 3, KSA 4, 15, 22 f.  



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Es erscheint sinnvoll, die Ausführungen des Wahrsagers auf das Diktum: „[B]l e i b t d e r E r d e t r e u “,35 zu beziehen. Der Wahrsager demonstriert in einer weit ausgreifenden geographischen Schilderung, dass die Konzentration auf die Erde und die Treue zu ihr schwer zu ertragen sind und Entbehrungen nach sich ziehen werden. Weder ein seichter, selbstbezüglicher Hedonismus, der sich aus der Verwässerung von autoritären Dogmen, geoffenbarten Geboten und kategorischen Imperativen speist, noch die verwegene Ironie des ‚Freigeistes‘ werden dieser Aufgabe gewachsen sein.36 Da sich die Bilder, die der ‚tolle Mensch‘ und der Wahrsager wählen, frappierend ähneln, eignet sich der Vergleich zwischen ihnen sehr gut, um eine genauere Standortbestimmung vorzunehmen. Der ‚tolle Mensch‘ betont den Aspekt menschlicher Aktivität viel stärker als der Wahrsager: Er beschuldigt die Menschen wütend, Gott getötet und damit die Stützpfeiler der moralischen, im Übersinnlichen verankerten Ordnung eingerissen zu haben: Sie tranken das Meer aus und wischten den Horizont weg.37 Er kann sich nicht erklären, wie eine solche Tat möglich war, da sie alle bisherigen Annahmen über die Fähigkeiten des Menschen übersteige. Ebenfalls nicht abzuschätzen ist für ihn die volle Tragweite der Tat, die ihm allerdings gewaltig scheint: Der Mensch droht in ein Zeitalter völliger Orientierungslosigkeit zu geraten; das Ereignis des Gottestods eröffnet einen neuen Geschichtsabschnitt. In den eindringlichen Fragen des ‚tollen Menschen‘ kristallisiert sich die einzige Möglichkeit einer Zukunft heraus: Der Mensch muss über sich hinauswachsen, darf dabei aber nicht die durch den Tod Gottes entstandene Leerstelle einfach neu besetzen. Die Umherstehenden reagieren auf die zornigen Fragen des ‚tollen Menschen‘ mit einer aufgeklärten Gleichgültigkeit, die sich aus der Überzeugung speist, der Tod Gottes sei ein Ereignis ohne einschneidende Konsequenzen. Der ‚tolle Mensch‘ versucht die Ausbreitung einer Nacht ins Bewusstsein zu rufen, die keiner der Ungläubigen wahrnimmt. Der Wahrsager hingegen weigert sich, die Schuldfrage aufzuwerfen. Stattdessen macht er häufig Gebrauch von Abstrakta („Umsonst war alle Arbeit“), in ihren Ursachen nicht ableitbaren Zäsuren („Trocken wurden wir alle“) und beschwört Naturvorgänge herauf, die dem geläufigen Zyklus widersprechen („[W]arum wurden alle Früchte uns faul und braun?“).38 In seiner Perspektive tritt daher die Erfahrung des Gottestods viel deutlicher hervor. Der aktive und bewusste Beitrag des Menschen zu dieser Entwicklung scheint ausgesprochen gering zu sein, weswegen der Wahrsager nur den Aspekt der sehnsüchtigen Klage hervor35 36 37 38

Za I Vorrede 3, KSA 4, 15, 1 f. Vgl. Za IV Der Schatten, KSA 4, 338–341. Vgl. FW 125, KSA 3, 481, 3 f. Vgl. Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 8–13.  



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hebt: „‚Ach, wo ist noch ein Meer, in dem man ertrinken könnte‘: – so klingt unsre Klage – hinweg über flache Sümpfe.“39 Das Konsternierende besteht darin, dass nicht zu ermitteln ist, ob der Zug ins Unendliche, der Wunsch, die Grenzen des Individuationsprinzips zu sprengen, überhaupt noch authentisch ist. Es scheint ebenso möglich, dass es sich bei diesem Verlangen lediglich um eine unverbindlich-kraftlose Schwärmerei handelt, welche die eigentliche Dynamik des Strebens ins Unendliche nur noch in die sicheren Bahnen des Flachen, Berechenbaren und Verlässlichen lenkt, wo statt tiefer Meere bloß die täuschenden Fallen „flache[r] Sümpfe“ warten. Verglichen mit der Rede des ‚tollen Menschen‘ spricht der Wahrsager aus dem Geiste eines späteren Stadiums: Das Faktum der anhaltenden Nacht, der Übermacht des „bösen Monde[s]“40 ist nicht mehr zu leugnen. Der Mensch scheint einem Fatum ausgeliefert zu sein – von einer unerklärlichen Notwendigkeit gelenkt, weicht das Meer zurück. Dies korrespondiert mit der eigenartigen Unergründlichkeit der Ursachen: Es gibt keinen Täter, kein handelndes Subjekt.41 Allerdings ist die Klage gegenüber der Indifferenz der Ungläubigen auf einer höheren Ebene der Ehrlichkeit und ernsthaften Sorge angesiedelt. Sie legt nahe, dass jeder überlegende, sich nicht nur an den Oberflächenphänomenen orientierende Mensch in die Klage einstimmt. Die Pluralisierung der Klagenden birgt indes die Gefahr, dass die Konturen verwischen: Niemand sucht eigenwillig einen Ausweg, die Menschen bestehen nur noch als Masse. Daher muss die Klage in eine Anklage verwandelt werden; auf die passive Hinnahme des Gottestods muss eine Erklärung des Wegfalls der obersten Werte folgen.

4 Zarathustras Traum Zarathustra ist von den Ausführungen des Wahrsagers, die er für zutreffend hält, erschüttert und wird von Trauer erfasst. Unverkennbar hat die Erzählung von der unbelohnten Mühsal, der Vertrocknung des Belebenden und dem Rückgang des Meeres für ihn eine existenzielle Dimension. Zarathustra erkennt das Ringen um Orientierung, die Ernsthaftigkeit und Not, die in den Gedankengängen des Wahrsagers zur Sprache kommen; es ist ihm unmöglich, sarkastisch oder verachtend an den Klagenden und Zweifelnden vorüberzugehen. Er selbst verinnerlicht ihre Schwermut und unterscheidet sich schließlich kaum noch von ihnen. Er sieht sein

39 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 18 f. 40 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 9 f. 41 Vgl. zum Topos der Schuld M 563, KSA 3, 328; sowie GM II 6, KSA 5, 300–302.  



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Licht gefährdet, das die sich ausbreitende Dämmerung zu ersticken droht.42 Nachdem er drei Tage lang der Nahrung entsagt hat, überfällt ihn ein tiefer Schlaf, in welchem er einen Traum hat. Da er dessen Sinn nicht zu erschließen vermag, rekapituliert er ihn gegenüber seinen Jüngern, von denen er sich Rat erhofft. Zarathustras Stimmung zu Beginn des geheimnisvollen Traumes gleicht derjenigen, die ihn nach der Rede des Wahrsagers ergriff: „Allem Leben hatte ich abgesagt“.43 Während das Motiv des Berges sonst mit den Bedeutungsbereichen der ‚freigeistigen‘ Einsamkeit, der überlegenen Erhabenheit oder der mit schweren Strapazen einhergehenden Besteigung ungeahnter Höhen44 verknüpft ist, steht es hier für die Herrschaft des Todes, die jeden Bezug zur fruchtbar-beseligenden Vitalität unterbindet. Die Berg-Burg scheint von keinerlei Fluktuation betroffen zu sein und lässt keine Endlichkeit zu:45 Die Ewigkeit präsentiert sich weder als nunc stans noch als Koinzidenz von Vergangenheit und Zukunft im Augenblick, sondern als ins Unendliche erstreckte Zeit, die sich als bloßes Abbild des stehenden Jetzt konstituiert. Innerhalb der Burg gibt es verschiedene Tore, die Gradstufen der Zerrüttung darstellen. Das einzige nennenswerte Wissen besteht darin, die Zusammengehörigkeit der Schlüssel und Tore zu begreifen. Mit dem „rostigsten aller Schlüssel“ öffnet Zarathustra das „knarrendste aller Thore“,46 welches nur mühsam nachgibt. Die Verlorenheit in der unheilvollen Stille ist kaum auszuhalten, doch die einzige Möglichkeit, das Schweigen zu brechen, besteht in der Erzeugung des entsetzlichen Lautes, den das Aufschwingen der Torflügel hervorruft. Aus der Beklemmung dieser Ausweglosigkeit vermögen ihn erst drei donnernde Schlägel an das Tor zu reißen. Zarathustra, für den unerklärlich bleibt, wer sich auf den Weg begeben hat, um Asche zu diesem Berg zu tragen,47 versucht, das Tor zu öffnen, doch kaum hat er dessen Flügel nur ein wenig auseinandergebracht, verschafft sich ein brausender Wind rigoros Zugang. Sein Sog wirbelt einen schwarzen Sarg in die Richtung Zarathustras. Der Sarg zerbricht und gibt eine unkontrollierbare Vielfalt von lärmenden, lachenden und flatternden Gestalten frei, die sich einer eindeutigen Kategorisierung entziehen: Unter ihnen befinden sich Menschen (Kinder und

42 Vgl. Za II Der Wahrsager, KSA 4, 173, 3–5.: „Wahrlich, so sagte er zu seinen Jüngern, es ist um ein Kleines, so kommt diese lange Dämmerung. Ach, wie soll ich mein Licht hinüber retten!“ 43 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 173, 22. 44 DD Von der Armut des Reichsten, KSA 6, 406, 19–24: „Fort, fort, ihr Wahrheiten, / die ihr düster blickt! / Nicht will ich auf meinen Bergen / herbe ungeduldige Wahrheiten sehn. / Vom Lächeln vergüldet / nahe mir heut die Wahrheit“. 45 Vgl. Za II Der Wahrsager, KSA 4, 173, 28: „Den Geruch verstaubter Ewigkeiten athmete ich“. 46 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 174, 1 f. 47 Vgl. Za II Der Wahrsager, KSA 4, 174, 14 f.  



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Narren), Engel und „kindergrosse[ ] Schmetterlinge[ ]“.48 Zarathustra erfüllt ein Grausen, das ihn zu Boden gehen lässt und in einem markerschütternden Schrei mündet. Dieser Schrei weckt ihn zugleich wieder auf. Nachdem Zarathustra die Erzählung seines Traums beendet hat, deutet sein Lieblingsjünger diesen so, dass Zarathustra sich im Sinne der Selbstüberwindung in die Gestalt seiner Feinde hineinversetzt habe. Die Herausforderung habe zum einen darin bestanden, die eigenen Ansichten nicht nur auszuklammern, sondern zu negieren; zum anderen darin, dass die lebensüberdrüssigen Feinde die größte Wesensdissonanz zu Zarathustra aufzuweisen scheinen. Durch die Vertauschung unterwirft sich Zarathustra im Traum seinen Feinden, wobei seine eigenen Positionen, Erkenntnisse und Absichten der Vergessenheit anheimfallen müssen.49 Nur auf diese Weise gelingt es ihm, sie zu verstehen, ein Wissen darüber zu erlangen, welches das am schwersten zu öffnende Tor ist, und hellhörig zu

48 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 174, 24. 49 Den Träumen kommt im Zarathustra eine eminente Bedeutung zu. Sie stellen einerseits Zarathustras Ringen mit existenziellen Herausforderungen dar, andererseits demonstrieren sie die Wendung zu den Nacht-Seiten der Existenz: Im ersten Traum vertauscht Zarathustra die Rollen. Er sieht sich in der Lage des Trübseligen, dem die verschlossene Burg die einzige Heimstatt zu sein scheint. Zwar antizipiert er seinen Auftritt in der Rolle des vielgesichtigen, lärmenden und virtuos mit Masken spielenden Eindringlings, erkennt sich aber selbst nicht, weswegen er eines Traumdeuters bedarf. Berücksichtigt man die Bedeutsamkeit autobiographischer Selbstdeutungen im Werk Nietzsches, so erscheint es nicht abwegig, dass der in der Finsternis gefangene Zarathustra eine Chiffre der frühen Phase seines Denkweges ist und diejenige Zeit widerspiegelt, in der sich Nietzsche als Schüler Schopenhauers begriff und dessen Philosophie als Auslegungsinstrument verwendete. Die Geschlossenheit der Burg und Zarathustras wehrlose, nicht aufbegehrende Hinnahme dieses Zustandes versinnbildlicht die rückhaltlose Einheit. Diese weist zunehmend Risse auf; die Unvereinbarkeiten nehmen zu und rütteln an der Festung. Eine solche Destabilisierung kann Zarathustra aber noch nicht als Wirkung seiner eigenen Kritikpunkte begreifen. Während der erste Traum Zarathustra in zwei disjunktive, zerrissene Gegenkräfte aufspaltete, zeigt sich der Progress des zweiten Traums darin (vgl. Za III Vom Gesicht und Räthsel 1–2, KSA 4, 197–202), dass die Diskrepanz sich nunmehr allein auf der zeitlichen Ebene manifestiert: Der junge Zarathustra tritt dem älteren gegenüber. Er sieht sich in der Rolle des Hirten, welcher der schwarzen Schlange ausgeliefert ist, die sich in ihm festgebissen hat. Abermals tritt er selbst in Erscheinung, diesmal jedoch nicht als dunkel zwingende, feindliche Macht, sondern als Rettung bringender Befehlender: Sein Zuruf, der Schlange den Kopf abzubeißen, reicht über den akuten Handlungsimperativ hinaus und präsentiert sich im Rückblick als Wahrsagung, in welcher die Herausforderung einer lebenslangen Verpflichtung manifest wird. Erst in diesem Traum hat Zarathustra seine Bestimmung gewonnen, weil er seine Forderung, das kontingente ‚Es war‘ in ein ‚So wollte ich es‘ umzuformen – das Zufällige in das Ermöglichende kehrend –, an sich selbst exemplifiziert. Indikator eines größeren Reflexionsvermögens ist außerdem, dass Zarathustra den Traum gegenüber seinen Jüngern und Tieren nicht nur rekapituliert, sondern auch entschlüsselt. Er bedarf keiner äußeren Instanz mehr, um sich selbst zu erkennen.

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werden für ihre Bereitschaft, ihm entgegenzukommen, die Scharniere zu lockern. Er findet Eingang in ihr Gedankengebäude und erlebt von innen, was er ansonsten allein von außen zu bekämpfen gezwungen wäre. Es ist davon auszugehen, dass es viele solcher Burgen gibt, denn der Traumdeuter spricht im Plural von „Todtenkammern“50. Keine der Burgen hat eine Verbindung zur anderen, monadisch abgeschlossen thront eine jede auf ihrem dunkelumrandeten Berg. Die Unterwerfung seiner selbst durch den ‚fremden Zarathustra‘ der Traumwelt entpuppt sich als Möglichkeit, auch seine Feinde befreien zu können. Auffällig ist auch, dass der traumdeutende Jünger Zarathustra als „Wahrsager“ bezeichnet, woraufhin er seine Deutung mit folgenden Worten abschließt: „Wahrlich, s i e s e l b e r t r ä u m t e s t d u , deine Feinde: das war dein schwerster Traum! / Aber wie du von ihnen aufwachtest und zu dir kamst, also sollen sie selber von sich aufwachen – und zu dir kommen!“51 Nachdem der Jünger seine Deutung beendet hat, sammeln sich die übrigen Jünger um Zarathustra und versuchen, ihn davon zu überzeugen, von seiner Traurigkeit abzulassen und zu ihnen zurückzukehren. Zarathustra vermag sie zunächst nicht zu erkennen, zu sehr nimmt ihn sein Traum noch ein. Als er schließlich wieder zu sich kommt und die Wirklichkeit überblickt, fordert er seine Jünger auf, ihm eine Mahlzeit zuzubereiten, zu der er auch den Wahrsager einlädt. Gegenüber seinen Jüngern verspricht er, diesem ein Meer zu zeigen, in dem es sich zu ertrinken lohne. Folgende Aspekte gilt es besonders zu beachten: Dass Zarathustra den Wahrsager einlädt, ist sehr verwunderlich. Es setzt voraus, dass Zarathustra weiß, an welchem Ort der Wahrsager anzutreffen ist. Es geht aus dem Text jedoch nicht hervor, ob sich der Wahrsager überhaupt in der Nähe der Höhle Zarathustras befindet. Durch die Einladung wird der Anschein erweckt, als würde die orakelhaft-unbestimmte Situation jetzt ins Konkrete überführt, indem Zarathustra den Wahrsager aktiv an seine Seite rückt. Dennoch wird der Wahrsager seines geheimnisvollen Status keineswegs beraubt, da der Leser nichts über eine zwischen den beiden stattfindende Unterhaltung erfährt. Nachdem er sein Bewusstsein wiedergewonnen hat, lauten die ersten Worte Zarathustras: „Wohlan! Diess nun hat seine Zeit“.52 Versteht man dies als Kommentar zum Inhalt des Traumes, so könnte gemeint sein, dass das Bewohnen der Berg-Burgen, die Dominanz des Geistes der hoffnungslosen Schwere, nach wie vor andauert. Ebenfalls wäre denkbar, dass der sich entfaltenden Resignation eine klar umgrenzte, ihr notwendig gebührende Zeitspanne zugemessen wird,

50 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 175, 6. 51 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 175, 19–23. 52 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 175, 34.

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deren Ende Zarathustra bereits antizipiert. Wenn man für eine vereinfachende, textgebundene Lesart plädiert, könnte man argumentieren, dass Zarathustra sich erst stärken will, bevor er sich der Auseinandersetzung mit voller Hingabe widmen kann. In diesem Fall wird aber der immanente Kompositionszusammenhang des Zarathustra unterschätzt: Im letzten Kapitel des vierten Teils (Das Zeichen) setzt Zarathustra die Formel ins Präteritum: „D a s – hatte seine Zeit“,53 womit er den Schlussstrich unter das Mitleiden mit dem ‚höheren Menschen‘ zieht. Wenn der Traumdeuter prophezeit, dass die Feinde Zarathustras zu diesem kommen werden, wenn sie – aufgeweckt durch seine „Nachtherrlichkeiten“54 und sein „Kindes-Lachen“55 – zu sich gekommen sind, wirkt dies wie eine Prolepse des Kapitels Der Nothschrei, in dem der Wahrsager tatsächlich Zarathustra aufsucht. Dort kann, wie weiter unten ausführlich erläutert wird, nicht die Rede davon sein, dass der Wahrsager sich affirmativ auf die Seite Zarathustras schlüge. Um diese herausfordernde Klippe zu umschiffen, ist es hilfreich, die Ambiguität zu beleuchten, die im Zu-sich-Kommen liegt: Es bedeutet nicht nur die Aufhellung des Bewusstseins nach einer Ohnmacht, sondern auch, etwas als Eigenes zu begreifen, in das Zugehörige hineinzuwachsen und für es streitend Stellung zu beziehen. Der Wahrsager muss ein einzelnes, sich seiner selbst bewusstes Individuum werden, um die Möglichkeit der Opposition zu gewährleisten, die wiederum die Bedingung der Widerlegung und Versöhnung darstellt.

5 Die Rolle des Wahrsagers als (un-)freiwillige Triebfeder im Kapitel Der Nothschrei Der Wahrsager verdunkelt das Helle und tritt als Person in der Nähe von Schatten auf. Zu Beginn des vierten Teils erscheint er in einem stillen Moment, in welchem Zarathustra sinnierend vor seiner Höhle sitzt, mit einem Stock seinen Schatten im Boden nachzeichnend. Zarathustras Honig ist aufgebraucht und es scheint, als hätte der Wahrsager diese Situation herbeigesehnt: Zarathustra kann keinen Gebrauch mehr von seiner ‚schenkenden Tugend‘ machen. Während Zarathustra mit Hilfe des in der Gegend verstreuten Honigs versucht, Gleichgesinnte auf seine Höhen zu locken, ist es allein der Wahrsager, der den steilen Weg zur Höhle

53 Za IV Das Zeichen, KSA 4, 408, 14. 54 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 175, 14 f. 55 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 175, 17.  

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erklimmt. Dies ist ein sehr aufschlussreicher Sachverhalt: In der Folge wird Zarathustra selbst zu den ‚höheren Menschen‘ noch herabsteigen müssen. Darüber hinaus manifestiert sich die Ebenbürtigkeit beider darin, dass der Wahrsager neben Zarathustra ruhend zu verweilen imstande ist, anders als der ‚Geist der Schwere‘ oder der Wanderer. Zarathustra erschreckt sich zweimal: Als er des zweiten Schattens gewahr wird und als er dem Wahrsager direkt in die Augen sieht. Die Gesichtslosigkeit des Wahrsagers, die in der ersten Begegnung noch für eine auktoriale und neutrale Übersicht stand, ist nicht etwa markanten Zügen gewichen, sondern der Düsternis „aschgraue[r] Blitze“.56 Das Gesicht ist zum Austragungsort einer Verschmelzung des Wahrsagers mit Gefahr und Leid geworden. Der Vorrang des Wahrsagers vor den anderen Charakteren im Zarathustra bekundet sich darin, dass er Zarathustras Gedanken, wie z. B. dessen Entsetzen über sein Aussehen, nahezu intuitiv zu erfassen vermag.57 Nietzsches Begriffswahl weist auf eine seelische Verwandtschaft zwischen den beiden hin: Der Wahrsager kann wahrnehmen, was „sich in Zarathustra’s Seele zutrug“.58 Beide wischen sich mit der Hand über das Gesicht, als ob sie „dasselbe wegwischen wollte[n]“.59 Dies ist nicht nur als empathische Geste zu verstehen: Beide erhalten in der Konfrontation mit dem jeweils anderen ein neues Gesicht. Sie reichen einander die Hand, „zum Zeichen, dass sie sich wiedererkennen wollten.“60 Zunächst erkennen sie sich jedoch als Kontrahenten wieder: Zarathustra hat im Wahrsager noch nicht das Überwundene seiner selbst erblickt; der Wahrsager hingegen sieht in Zarathustra nicht den, der seine Lehre hinter sich gelassen hat, sondern den, der von ihr noch nicht eingeholt wurde. Obgleich er der ‚WahrSager‘ ist, bleibt ihm die Tragweite von Zarathustras Plan, das Sein-Wollen verschlossen. Dies zeigt sich, nachdem Zarathustra ihn jovial ein zweites Mal einlädt, sich aber dafür entschuldigt, dass er als „vergnügter alter Mann“61 die Übereinstimmung mit der dunklen Endstimmung nicht bewahren könne. Der Wahrsager hat ein untrügliches Gespür für die Gegenwart, aber die Zukunft existiert für ihn allein als Ermöglichungsgrund des Zerfalls, als Richtschwert, welches jede gestalterische Lust als illusorisch entlarvt, sie unvollendet lässt; als Band, das den Menschen zu sich hin zieht und die Pluralität von Möglichkeiten sukzessive einengt. Daher konfrontiert er Zarathustra mit der unheilvollen War-

56 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 300, 19. 57 So errät er z. B., was sich hinter Zarathustras letzter Sünde verbirgt (vgl. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 24–29). 58 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 300, 20 f. 59 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 300, 22. 60 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 1 f. 61 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 7.  



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nung, er möge sich auf einen noch so hohen Berg begeben haben, er werde der unaustilgbaren Not dennoch nicht entrinnen.62 Dabei ruft er das Motiv der steigenden Welle auf. Während Schopenhauer das Wesen der Zeit wellenförmig begriff, eine in jedem Augenblick und in jedem menschlichen Leben wiederkehrende Verlaufskurve von Sammeln, Steigen, Anbranden und Auslaufen, versteht der Wahrsager die Wellen als eine anwachsende, zerstörerische Flut, die jeden Gipfel erobern werde. Auf diese Rede hin schweigt Zarathustra, er weiß nichts zu entgegnen. Aus der Ratlosigkeit befreit ihn der Wahrsager, indem er Zarathustra auf den aus der Tiefe erschallenden, gedehnten Schrei aufmerksam macht. Nachdem der Klang übermächtig wird und widerhallt, besinnt sich Zarathustra. Zunächst tut er die Bemühung, den Ursprung des Schreis zu lokalisieren, als aussichtslos ab – der Schrei könne aus dem konturlosen, schwarzen Meer erklingen; auch die Möglichkeit, dass es sich um einen in Bedrängnis geratenen, der Rettung bedürftigen Menschen handeln könnte, will er mit dem lapidaren Hinweis beiseiteschieben, er habe jegliche sorgetragende Empathie abgelegt.63 Im Anschluss daran fragt er den Wahrsager, wie seine „letzte Sünde“ heiße.64 Die Antwort des Wahrsagers inszeniert Nietzsche als aufblitzende Erkenntnis des Sinnstiftenden und als unbeeinflussbares Hervortreten unverstellter Freude. Leidenschaftlich und mit Nachdruck entgegnet der Wahrsager, bei der Sünde handle es sich um das „M i t l e i d e n “.65 Seine Gestik wandelt sich, er hebt beide Hände und seine Rede nimmt einen priesterlichen Duktus an: Offenherzig gesteht er, dass er Zarathustra zum Mitleiden verführen wolle, damit dieser in den Leidensweg eingreife. Dramaturgisch wird das Ansinnen des Wahrsagers flankiert von dem erneut zu vernehmenden und näher gerückten Schrei. Der Wahrsager insistiert darauf, dass Zarathustra sich nun nicht mehr verbergen könne, er sei eindeutig der Adressat des Schreis. Es scheint, als gewänne der Wahrsager endgültig die Oberhand. Zarathustra weiß sich abermals nicht zu helfen und schweigt, diesmal nicht nur verwundert, sondern erschüttert und mutlos. Sofort durchschaut der Wahrsager, dass Zarathustras Frage, wer der Schreiende sei, allein rhetorische Bedeutung besitzt und den Versuch darstellt, sich in Unkenntnis zu flüchten. Er spielt seinen nächsten Trumpf aus, hat sich ihm doch längst gezeigt, dass Zarathustra um die Identität des Notleidenden weiß. Energisch enthüllt er, dass es der ‚höhere Mensch‘ sei. Damit treibt er den furchterfüllten Zarathustra an den Rand der Verzweiflung. Derart im Aufwind, motiviert der Wahrsager Zarathustra zu einem Tanz, der nicht leichtfüßig, 62 63 64 65

Vgl. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 7–15. Vgl. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 23 f.: „Aber was geht mich Menschen-Noth an!“ Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 24. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 26.  

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frivol und festlich wirkt, sondern nur dem Zweck dient, nicht aus dem Stand umzufallen.66 Der Wahrsager meint nun, Zarathustra vollkommen durchschaut zu haben. Unter dieser Annahme deutet er die Attribute der Heimstätte Zarathustras um: Die Höhe wird in seiner Rede zur verborgenen Höhle, zum blickgeschützten Versteck des Eremiten; in den Adern und Wegen, die in den Berg gehauen sind, warte kein Goldschatz auf den Suchenden, sondern ein undurchsichtiges Labyrinth. Sollte er recht haben, müssten alle Stationen auf Zarathustras Reise, die Reden auf dem Marktplatz, der Aufbruch zu ungeahnten Meeren, die Umwertung der Selbstsucht, die Erlösung von der Ranküne des Willens, die Abschüttelung des ‚Geistes der Schwere‘, die Lebens- und Leidensbejahung und schließlich auch die schwierigste Überwindung, die des Ekels, als verzweifelte Ausflüchte begriffen werden. Der anfänglich verhalten agierende Wahrsager, der sein von Zweifeln überzogenes Gesicht am liebsten verborgen hätte und sich mit seinen Ansichten keineswegs brüstete, gewinnt durch die rhetorische Profilierung der jeglichen Sinn verneinenden Lehre ein beeindruckendes Selbstvertrauen. Er wagt es, das unerbittliche Fazit zu ziehen: Zarathustra, der beanspruchte, der wachsenden Verschattung entgegenzutreten, hat sich selbst eingegraben. An diesem Ort nach dem Glück zu suchen, stellt sich dem Wahrsager als vergebens, ja utopisch dar. Überraschenderweise fragt sich der Wahrsager unmittelbar darauf, wo das Glück zu suchen sei und erwägt zwei mögliche Orte: die „glückseligen Inseln“ und zwischen den „vergessenen Meeren“.67 Es zeigt sich allerdings, dass die Anführung dieser Möglichkeiten nur dazu dient, die Fallhöhe der Enttäuschung zu maximieren: Es ist für ihn unbestreitbar gewiss, dass die „glückseligen Inseln“ nicht mehr existieren; jegliche Suche nach einem Gegengift zur Trostlosigkeit müsste diese noch vergrößern. Zum ersten Mal spricht der Wahrsager seufzend seine pessimistische Weltformel gegenüber Zarathustra aus: „Aber Alles ist gleich, es lohnt sich Nichts, es hilft kein Suchen, es giebt auch keine glückseligen Inseln mehr!“68 Doch diese Worte üben eine kathartische Wirkung auf Zarathustra aus und geben ihm seine alte Widerstandskraft zurück. Er lässt seine Apathie hinter sich und wirft dem Wahrsager ein dreifaches „Nein!“ entgegen.69 An diesen Widerspruch schließt sich keineswegs eine inhaltliche Argumentation an, Zarathustras Vorgehen wirkt vielmehr ungeplant, abrupt und situativ. Zarathustra nutzt den Kairos, um sich loszureißen, da er erkennt, dass der Wahrsager auf theoretischem Gebiet nicht besiegt werden kann. Der einzige Weg, sich ihm zu widersetzen, besteht darin, die Begegnung mit dem ‚höheren Menschen‘ willentlich zu suchen und das als Ziel anzustre66 67 68 69

Vgl. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 14–16. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 26 f. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 28 f. Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 32 f.  





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ben, was der Wahrsager als Lockmittel instrumentalisierte. Diese Aneignung wird ersichtlich, wenn Zarathustra scheinbar beiläufig den „höheren Menschen“70 des Wahrsagers erwähnt, der aber in seinen Verfügungsbereich falle, halte er sich doch in den ihm zugehörenden Wäldern auf. Das Grauen und die Abneigung, die er gegenüber dem ‚höheren Menschen‘ empfand, schlägt nun in einen ostentativ verkündigten Willen zur Unterstützung um. Wieder ist es dem Wahrsager ein Leichtes, die Fluchtabsicht Zarathustras zu durchschauen. Der Wahrsager kündigt ihm allerdings an, er werde ihn in seiner Höhle erwarten – ungeachtet dessen, welche entlegenen Wälder Zarathustra auch durchstreifen möge. Die symbolische Tragweite dieser Aussage ist kaum zu überschätzen: Der heimische Ort, an den Zarathustra zurückzukehren beabsichtigt, wird stets den Geist des Negativismus enthalten; er kann nicht besiegt, sondern nur besänftigt werden – und zwar durch den Rausch. Dieser Topos wird im Kapitel Das Abendmahl eine zentrale Rolle spielen. Zarathustra behandelt den Wahrsager nun mit unverhohlener Ironie, der ein Gefühl souveräner Überlegenheit zugrunde liegt. Kühn unterstellt er dem Wahrsager, dieser werde am Abend als sein „Tanzbär“71 zu von ihm vorgetragenen Liedern tanzen, nachdem er Zarathustras Honig gekostet habe. Da der Wahrsager diese Vorhersage nicht glaubt, tituliert sich Zarathustra selbst spöttisch als „Wahrsager“ und schreibt damit seiner Behauptung den Charakter einer Prophezeiung zu.72Auch wenn Zarathustra am Ende des Kapitels zu triumphieren scheint, muss berücksichtigt werden, dass er aufbricht, um den ‚höheren Menschen‘ zu retten. Dieser Aufbruch bezeugt die Wirkung des Mitleides, dessen Existenz er gegenüber dem Wahrsager verleugnete. Dem Wahrsager gelang es nicht, Zarathustra zum Mitleid zu verführen, dennoch stellt sich seinetwegen Mitleid bei Zarathustra ein. Letztlich besitzt Zarathustra trotz seines gebieterischen Habitus die distanzaufhebende, uneigennützige Achtung vor der Verletzlichkeit des Anderen in weit größerem Ausmaß, als er es vorgibt. Er vollführt im Dienste des ‚höheren Menschen‘ die präventiven und affektiven Hilfeleistungen, die Schopenhauer mit dem Mitleiden verknüpfte.73 Es handelt sich um eine Aufhebungsfigur, durch welche das Mit-

70 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 303, 9. 71 Za IV, Der Nothschrei, KSA 4, 303, 28 f. 72 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 303, 31. 73 Vgl. Schopenhauer, Arthur, Sämtliche Werke, hrsg. von Julius Frauenstädt, Bd. 4: Schriften zur Naturphilosophie und zur Ethik. I. Ueber den Willen in der Natur. II. Die beiden Grundprobleme der Ethik, Leipzig 1874, S. 236: „Denn gränzenloses Mitleid mit allen lebenden Wesen ist der festeste und sicherste Bürge für das sittliche Wohlverhalten und bedarf keiner Kasuistik. Wer davon erfüllt ist, wird zuverlässig Keinen verletzen, Keinen beeinträchtigen, Keinem wehe thun, vielmehr mit Jedem Nachsicht haben, Jedem verzeihen, Jedem helfen, so viel er vermag, und alle seine Hand 

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leiden zur Grundlage der ‚schenkenden Tugend‘ wird: Das Mitleid Zarathustras basiert nicht auf der Durchbrechung des principii individuationis, sondern ermöglicht und koordiniert indirekt die Zusammenführung der auserwählten Seltenen, die als Stufen zum ‚höheren Menschen‘ fungieren. Darüber hinaus zeigt sich, dass Zarathustra im Mitleiden seine Zugehörigkeit zu den ‚höheren Menschen‘ nicht abstreifen kann. Wie Zarathustra trotz seiner Flucht Erfolg haben wird, so befindet sich der Wahrsager trotz seines Triumphes in einer Abwärtsspirale: Seine unbestechliche Redlichkeit ist es, die ihm eine Rückkehr in einen unvollständigen Nihilismus unmöglich macht. Auch Zarathustra müsste in diesem Stadium verharren, hätte er nicht einen Ausweg gefunden. Der Wahrsager ist zum Siegen verdammt, aber seine Siege vergrößern nur seine Düsternis. Er benötigt die Niederlage, die ihm nur Zarathustra bereiten kann. Indem Zarathustra das bejaht, was der Wahrsager verneint, kann der Wahrsager verneinen, was er zuvor bejaht hatte. Damit der Wahrsager von Zarathustras Ansinnen überzeugt werden konnte, durfte dessen Bejahung indes keine rein innerliche bleiben. Die Entäußerung wiederum konnte nur durch den Wahrsager angestoßen werden. Zarathustra zahlt folglich seinen Tribut an den Wahrsager zurück.

6 Bekehrung und Emphase: Das Abendmahl Das Kapitel Das Abendmahl schildert die Zusammenkunft der ‚höheren Menschen‘.74 Offen gesteht Zarathustra seinen Gästen, dass ihre Eigenschaften nicht genügen, sie nicht kraftvoll und unbefangen genug seien, da sie durch zahlreiche Erinnerungen belastet würden. Der „König[ ] zur Rechten“75 hatte sich bei Zarathustra dafür bedankt, dass dieser die Verzweifelnden aufgenommen habe. Auch er versteht sich als Brücke, allerdings für diejenigen, welche die große Sehnsucht, den großen Ekel, den großen Überdruss kultivieren. Dies kann Zarathustra nicht akzeptieren, ist es doch gerade der große Ekel, der maßgeblich zur Tat des ‚hässlichsten Menschen‘ beitrug, Rache am Zeugen zu nehmen und dergestalt zum Mörder Gottes zu werden.76 Über den großen Überdruss an der Flüchtigkeit und

lungen werden das Gepräge der Gerechtigkeit und Menschenliebe tragen. Hingegen versuche man ein Mal zu sagen: ‚Dieser Mensch ist tugendhaft, aber er kennt kein Mitleid.‘ Oder: ‚Er ist ein ungerechter und boshafter Mensch; jedoch ist er sehr mitleidig‘; so wird der Widerspruch fühlbar.“ 74 Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 353–355. 75 Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 354, 4. 76 Vgl. Za IV Der hässlichste Mensch, KSA 4, 328, 25–29. Vgl. dazu überdies Löwith, Karl, Nietzsches Philosophie der ewigen Wiederkehr des Gleichen, Stuttgart 1956, S. 50 f.  

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Mittelmäßigkeit des Daseins siegte Zarathustra, als er einen Weg fand, im amor fati die anfangs- und endlose Unschuld des Werdens, das „Von Ohngefähr“77 mit dem „Schild der Notwendigkeit“78 zu vereinigen. Die große Sehnsucht indes ist zwiespältig: Einerseits hatte Zarathustra in Vom Wege des Schaffenden die Aufrichtung des eigenen Wollens als Ablösung der bisherigen Ideale hervorgehoben; andererseits erfordert der Untergang der metaphysischen Weltordnung den von Zarathustra ersehnten ‚höheren Menschen‘ im Singular. Dies zeigt sich am Ende des Kapitels Die Begrüßung, als Zarathustra von der Sehnsucht nach einem Zeichen, einem lachenden Löwen, übermannt wird. Signifikant ist, dass alle in das Schweigen Zarathustras einstimmen; lediglich eine Person sticht gestikulierend heraus und hält sich nur mit größter Mühe zurück: der Wahrsager, der zu seiner letzten Rede ansetzt. In deren Verlauf tritt hervor, dass er sich erneut verwandelt hat: Er übernimmt eine ermahnende Rolle, fordert die Verköstigung und spricht den Notständen der anderen Gäste ab, dass sie ebenso drängend seien wie seine Befürchtung, verhungern zu müssen.79 Er, der Zarathustra am Stein dazu überreden wollte, sich dem Mitleid hinzugeben, und ihn mit unbezwingbarer Rhetorik von der Eitelkeit allen Tuns bzw. dessen zukünftiger Aufhebung zu überzeugen trachtete, insistiert nun darauf, sich statt Gesprächen den sinnlichen Genüssen zuzuwenden. Diese Kehre bekundet nicht die Verherrlichung eines unbeschwerten Hedonismus, sondern unterstreicht die Einbindung des Leibes und die Anerkennung einer Realität der Triebe, die sowohl ‚jenseits von Gut und Böse‘ als auch von Lust und Unlust angesiedelt ist.80 Die Tiere, welche die Unersättlichkeit des Wahrsagers vorhersehen, flüchten, da sie sich schämen, nicht genügend Nahrung beschafft zu haben. Der Wahrsager schwört der scharfsinnigen Weisheit ab, welche er mit dem gleichmütigen, unerschöpflichen, differenzlosen Fluss des Wassers gleichsetzt und macht stattdessen seinen Wunsch nach Wein geltend. Zarathustra, dem bereits Genesenden,

77 Vgl. Za III Vor Sonnen-Aufgang, KSA 4, 209, 12–17: „Wahrlich, ein Segnen ist es und kein Lästern, wenn ich lehre: ‚über allen Dingen steht der Himmel Zufall, der Himmel Unschuld, der Himmel Ohngefähr, der Himmel Übermuth.‘ / ‚Von Ohngefähr‘ – das ist der älteste Adel der Welt, den gab ich allen Dingen zurück, ich erlöste sie von der Knechtschaft unter dem Zwecke.“ 78 Vgl. DD Ruhm und Ewigkeit 4, KSA 6, 405, 4–12: „Schild der Nothwendigkeit! / Ewiger Bildwerke Tafel! / – aber du weisst es ja: / was Alle hassen, / was allein ich liebe, / dass du ewig bist! / dass du n o t h w e n d i g bist! / Meine Liebe entzündet / sich ewig nur an der Nothwendigkeit.“ 79 Vgl. Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 353, 11–13. 80 Vgl. hierzu M 38, KSA 3, 45 f.; und JGB 36, KSA 5, 54 f. Zur Rolle der Affekte und Gefühle in Bezug auf den ‚Willen zur Macht‘ siehe auch: Heidegger, Nietzsche I, S. 40–51.  



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gebühre es dagegen, Wasser zu trinken. Entscheidend ist, dass er sich selbst unter die „Müde[n] und Verwelkte[n]“81 zählt. Folgerichtig lehnt er nun Mitleid, isolierende Askese und Kontemplation als Heilmittel ab, er sehnt sich stattdessen nach einer Genesung, die ihn notwendigerweise mit der dionysischen Begeisterung, der Ekstase, der Ursprungsahnung in Berührung bringt. „Gift ist unser Wein geworden“,82 resümiert der Wahrsager im zweiten Teil des Zarathustra. Während des Abendmahls wird das Gift wieder zu Wein.83 Für den Wahrsager verwandelt sich der Wein zudem zum Lebenselixier, zum spendenden Trank. In der Aussage Zarathustras, dass „Mitternacht […] auch Mittag“ sei,84 reichen höchster Schmerz und höchste Lust einander die Hand: „zum Zeichen, dass sie sich wiedererkennen wollten.“85

7 Die endgültige Überwindung: Das Zeichen Die kaum zu überschätzende Bedeutsamkeit des Wahrsagers lässt sich im Hinblick auf den Schluss von Also sprach Zarathustra nochmals untermauern: Im letzten Kapitel erhält Zarathustra das erhoffte Zeichen. Während die ‚höheren Menschen‘ noch schlafen, wird Zarathustra vor seiner Höhle von einem großen Taubenschwarm überwältigt und ertastet in ihrer Mitte den lachenden Löwen. Dies ereignet sich an ebenjenem Stein, an dem ihm tags zuvor der Wahrsager begegnete. Als die ‚höheren Menschen‘ erwachen und auf der Suche nach Zarathustra vor die Höhle treten, wendet sich der gegenüber Zarathustra sanftmütige, devote Löwe um und vertreibt sie mit lautem Gebrüll. Inmitten der daraufhin herrschenden Stille gelingt es Zarathustra nicht – ähnlich wie schon nach dem ersten Traum –, das soeben Geschehene einzuordnen. Den großen Stein vor seiner Höhle betrachtend, fügen sich die disparat erscheinenden Erfahrungen „zwischen Gestern und Heute“86 plötzlich in einen erhellenden Zusammenhang ein. Der Stein bildet das Erinnerungen auslösende und abrundende Dingsymbol; an seinem Ort vernahm Zarathustra gemeinsam mit dem Wahrsager den „Nothschrei“. Somit ist der Stein auch Ausgangspunkt der Begegnung mit den ‚höheren Menschen‘. Wie Zarathustra nach dem ersten Traum die Notwendigkeit begriff, das Schattenreich zu erkunden,

81 Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 353, 22. 82 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 11. 83 In diesem Kontext ist natürlich nicht zu verkennen, dass es sich um eine Parodie auf das christliche Abendmahl handelt. 84 Za IV Das Nachtwandler-Lied 10, KSA 4, 402, 15. 85 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 301, 1 f. 86 Za Das Zeichen, KSA 4, 407, 29.  

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so erschließt sich ihm nun das Geschick, welches ihm den Wahrsager zuführte. Daher ist es unvermeidlich, dass das Gespräch mit dem Wahrsager und dessen Überzeugungsversuche in seiner erinnernden Rekapitulation besonders herausragen: Oh ihr höheren Menschen, vor e u r e r Noth war’s ja, dass gestern am Morgen jener alte Wahrsager mir wahrsagte, – – zu eurer Noth wollte er mich verführen und versuchen: oh Zarathustra, sprach er zu mir, ich komme, dass ich dich zu deiner letzten Sünde verführe.87

Er hat die kleinste, am schwierigsten zu überbrückende Kluft88 hervortreten lassen und zusammen mit ihr auch die kaum zu unterscheidende Gegenposition überwunden: Aus dem „Alles ist gleich“ ist ein „Alles ist gleich“ geworden:89 Der nächste Augenblick, das „hohe[ ] Joche zwischen zwei Meeren“,90 versammelt in sich die gesamte Vergangenheit. Es steht dem Einzelnen offen, jede Tat, jeden Gedanken im nächsten Jetztpunkt mit einer ungeahnten Intensität und Fülle zu versehen, begleitet von der Aussicht, dass dieser Augenblick (als Ekstase aus der linearen Zeit) ewig durchlebt werden muss. Der Lebenslauf wird nicht mehr aus dem charakterlichen Sein abgeleitet; der Übermütige und Tanzende wird selbst zur Bedingung seines künftigen Seins. In dem Moment, in dem Zarathustra das Mitleid verabschiedet, verwandelt sich sein Gesicht in Erz. An diesem werden „aschgraue Blitze“91 abperlen. Doch die glühende Entschlossenheit konnte nur im Angesicht mächtiger Gewitter gewonnen werden: Wenn ich ein Wahrsager bin und voll jenes wahrsagerischen Geistes, der auf hohem Joche zwischen zwei Meeren wandelt, – zwischen Vergangenem und Zukünftigem als schwere Wolke wandelt, – schwülen Niederungen feind und Allem, was müde ist und nicht sterben, noch leben kann: zum Blitze bereit im dunklen Busen und zum erlösenden Lichtstrahle, schwanger von Blitzen, die Ja! sagen, Ja! lachen, zu wahrsagerischen Blitzstrahlen: – – selig aber ist der also Schwangere! Und wahrlich, lange muss als schweres Wetter am Berge hängen, wer einst das Licht der Zukunft zünden soll! –92

87 Za Das Zeichen, KSA 4, 408, 1–5. 88 Vgl. hierzu besonders den sechsten Abschnitt des Lenzer-Heide-Fragments (verfasst am 10. Juni 1887): „Denken wir diesen Gedanken in seiner furchtbarsten Form: das Dasein, so wie es ist, ohne Sinn und Ziel, aber unvermeidlich wiederkehrend, ohne ein Finale ins Nichts: ‚die ewige Wiederkehr‘. / Das ist die extremste Form des Nihilismus: das Nichts (das ‚Sinnlose‘) ewig!“ (NL 1886/87, 5[71], KSA 12, 213, 12–17). 89 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 5 (Hervorhebungen JK). 90 Za III Die sieben Siegel 1, KSA 4, 287, 5. 91 Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 300, 19. 92 Za III Die sieben Siegel 1, 287, 4–14.

Die Einkreisung der schwarzen Schlange

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8 Wer ist Nietzsches Wahrsager? Der Wahrsager liefert in seinen Reden eine Anamnese und Genealogie des Nihilismus, dessen jeweilige Stadien in seinen divergierenden Verkörperungen Kontur gewinnen. Die einzelnen Merkmale lassen sich deshalb nicht widerspruchsfrei auf einen statischen, von Anfang an vorausgesetzten Charakter beziehen. Daher erscheint es plausibel, seine Entwicklung mit Hilfe der folgenden, sukzessiven Trias zu analogisieren: Beobachter – Inkarnation Schopenhauers – vollkommener Nihilist. Im Rahmen der Verwandlungen verändern sich die Bedeutung und der zeitliche Geltungsbereich des Ausspruchs „Alles ist leer, Alles ist gleich, Alles war“.93 Zuerst beschreibt der Wahrsager nüchtern die Erwartungen, die Enttäuschungen und die damit einhergehenden Erfahrungen des sensiblen Menschen. Er sympathisiert nicht mit einer Lehre, sondern vermerkt nur, dass eine heraussteche, die immensen Erfolg habe. Er ist der diagnostizierende Verkündiger des Nihilismus im „psychologische[n] Zustand“.94 Im Kapitel Der Nothschrei enthüllt sich der Wahrsager als Inkarnation Schopenhauers. Er wirbt demonstrativ für das Mitleid und prophezeit Zarathustra, auch er werde dem Kerngehalt der von ihm nun aktiv vertretenen Lehre eines metaphysischen Pessimismus nicht entrinnen. Er nimmt nun eine holistischüberzeitliche Deutung der Wirklichkeit für sich in Anspruch. Deswegen wird er für Zarathustra zur mächtigen Herausforderung, zur letzten Hürde, die vor der Versammlung der ‚höheren Menschen‘ zu überwinden ist. Wenn man den Wahrsager als Verkörperung Schopenhauers deutet, so ist der Bezug zum „Alles ist leer“ entscheidend: Die Vergangenheit ist unwiederbringlich, die Zukunft ein nichtiger Traum, während sich die Gegenwart durch das fortwährende Umschlagen der Augenblicke konstituiert. Das „Alles ist gleich“ kann neben dem zeitlichen Verständnis auch als ethische Aussage über die Wesensidentität alles Lebendigen verstanden werden, welche durch das principium individuationis verhüllt ist.95 Darüber hinaus verhindert die unumstößliche Wirksamkeit des „Alles war“ innerhalb der sinnlichen Welt das Postulat einer „Unschuld des Werdens“.96

93 Za II Der Wahrsager, KSA 4, 172, 4 f. 94 Vgl. hierzu die „Kritik des Nihilism“ in NL 1887/88, 11[99], KSA 13, 46–49. 95 Vgl. Schopenhauer, Arthur, Handschriftlicher Nachlaß, Bd. 3, hrsg. von Arthur Hübscher, Frankfurt/Main 1970, S. 22: „Ich lehre, daß alle Güte der Gesinnung hervorgeht aus der Erkenntniß, nämlich aus der Durchschauung des pricipium individuationis, und demnach Wiederfinden seines Selbst in allen Wesen.“ 96 GD Die vier grossen Irrthümer 7, KSA 6, 96, 8.  

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Jan Kerkmann

Im Kapitel Das Abendmahl wird gezeigt, wie der Wahrsager auf den negierenden Teil der Philosophie Nietzsches reduziert wird und fortan als Grundlage einer radikalen Lebensbejahung fungiert. Er agiert nur noch insofern, als er das Neinsagen negiert. Er richtet sich gegen die „Müde[n] und Verwelkte[n]“,97 also gegen all das, was er einst selbst verkörperte. Aus dem umgreifenden Pessimismus schält sich rettend der vollkommene Nihilist heraus. Für diesen dritten Deutungsschritt gibt Nietzsche den entscheidenden Hinweis, wenn er in einem Nachlass-Fragment festhält, dass er als „Wahrsagevogel-Geist“ derjenige sei, „der z u r ü c k b l i c k t , wenn er erzählt, was kommen wird; als der erste vollkommene Nihilist Europas, der aber den Nihilismus selbst schon in sich zu Ende gelebt hat, – der ihn hinter sich, unter sich, außer sich hat…“98

97 Za IV Das Abendmahl, KSA 4, 353, 22. 98 NL 1887/88, 11[411], KSA 13, 190, 8–11.

Natalie Schulte

Nur Narr, nur Dichter? Das Lied der Schwermuth in Nietzsches Zarathustra Abstract: Only a fool, only a poet? Nietzsche’s Lied der Schwermuth in Also sprach Zarathustra. Nietzsche’s Lied der Schwermuth, included in the fourth part of Also sprach Zarathustra, seems at first sight to pronounce a scathing judgement about the poet, in so far he is presented as someone who is excluded from the truth. However, recalling that the Lied der Schwermuth aims at identifying Zarathustra with the poet – as the figure of the sorcerer does in Also sprach Zarathustra –, new perspectives emerge. Based on this premise, the Lied der Schwermuth will be analysed as a model for showing how, in this poem, nuances become visible that provide a sharper image of Nietzsche’s connection to poetry. The form of the text is also important for the interpretation: the self-contradiction of a poem, which denies the truth of poems in general – and thus the truth of the Lied der Schwermuth as well –, resembles the structure of the classical liar paradox and forces the reader to rely on his own interpretation and evaluation.

1 Ein Künstler-Philosoph1 – so ließe sich Nietzsche wohl porträtieren. Aber mit dieser Beschreibung hätte man es sich wohl allzu leicht gemacht, denn der einfache Bindestrich kaschiert womöglich ein Widerspruchs- und Konkurrenzverhältnis zwischen Kunst und Philosophie, das in der Frage nach deren jeweiliger Beziehung zur Wahrheit gipfelt. Seit Platon steht die Kunst unter dem Verdacht, nicht der Wahrheit zu dienen, sondern dem bloßen Schein, welcher sich als Wahrheit ausgibt.2 Auch Nietzsche übt schwerwiegende Kritik an der Kunst: In Menschliches, Allzumenschliches steht sie unter dem Generalverdacht, veraltete

1 Nietzsche, der in seinen Aufzeichnungen in positiver Konnotation vom Philosophen-Künstler und Dichter-Philosophen spricht, hätte an dieser Charakterisierung möglicherweise nichts auszusetzen gehabt. Vgl. NL 1886, 6[22], KSA 12, 240. 2 Auch Andreas Urs Sommer betont die Ähnlichkeit zwischen der hier formulierten Kritik am Dichter zu derjenigen Platons: „Obwohl N. vor allem in den späten Schriften vehement gegen den Platonismus zu Felde zieht, gegen die metaphysische ‚Hinterwelt‘ der platonischen Ideen, nimmt er im ersten Dithyrambus die Dichterkritik, die Platon am schärfsten in der Politeia formuliert hat, substantiell und bis in einzelne Vorstellungen hinein auf“ (NK 6/2, 650).

DOI 10.1515/9783110474374-012

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Natalie Schulte

Glaubensvorstellungen zu konservieren, und in der Genealogie der Moral gilt der Künstler als jemand, der nicht alleine stehen kann, der abhängig von den Dingen bleibt, die er glorifizieren kann.3 Andererseits vermag die Kunst nach Nietzsches Auffassung auch, Leiden und Leben zu verherrlichen, und wenn sie schon nicht, wie in der Geburt der Tragödie noch behauptet, „das Dasein und die Welt [als] ewig g e r e ch t f e r t i g t “4 erscheinen lassen kann, so macht sie das Leben zumindest „e r t r ä g l i c h “.5 Im Zarathustra-Kapitel Das Lied der Schwermuth lässt Nietzsche die Figur des Zauberers ein Lied singen, welches selbstreflexiv das Verhältnis des Dichters zur Wahrheit thematisiert.6 In diesem Gedicht werden schwerwiegende Zweifel formuliert, ob der Dichter ein „Freier“ der Wahrheit sein könne.7 Er scheint sogar „[v]on aller Wahrheit“ „verbannt“ zu sein.8 Wenn aber dem Dichter und seiner Dichtung die Möglichkeit abgesprochen wird, eine philosophische Wahrheit mitteilen zu können, Zarathustra jedoch, wie er von sich in der Rede Von den Dichtern behauptet, selbst ein Dichter ist und seine Reden Dichtungen sind, dann ist auch der gesamte Wahrheitsgehalt dieser Reden in Zweifel zu ziehen oder zumindest zu relativieren. Um einer Antwort auf die Frage näherzukommen, wie Nietzsche das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit in seinem Werk Also sprach Zarathustra problematisiert, soll das Lied der Schwermuth im vorliegenden Beitrag exemplarisch analysiert werden. Nach einer kurzen Einordnung des Gedichts in den Gesamtzusammenhang des Zarathustra interpretiere ich es in einem Close Reading, um seinen komplexen Gehalt zu erschließen.9 Abschließend stelle ich einige Überlegungen zur Reaktion der Zuhörer des Lieds der Schwermuth und zum Verhältnis zwischen Zarathustra und dem Zauberer an.

3 Vgl. GM III 5, KSA 5, 344–346. 4 GT 5, KSA 1, 47, 26 f. 5 FW 107, KSA 3, 464, 24 f. 6 Vgl. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371–374. 7 Za IV, Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 22. 8 Za IV, Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 374, 19 u. 18. 9 Auf die Form des Gedichts gehe ich hier nicht ein. Eine Untersuchung derselben bietet z. B. Groddeck, Wolfram, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2: Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk, Berlin / New York 1991, S. 4–8. Groddeck behandelt auch die Fassungsunterschiede des Textes (vgl. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371–374; und DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 377–380).  



Nur Narr, nur Dichter?

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2 Das Lied des Zauberers steht im vierten Teil des Zarathustra, der von Nietzsche nicht zur Veröffentlichung vorgesehen war, sondern nur einem kleinen Kreis von Freunden zugedacht war. Dass Nietzsche das Lied der Schwermuth in einer leicht veränderten Fassung schließlich in die Dionysos-Dithyramben integrierte, bezeugt indes seinen Wunsch, es doch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im vierten Teil des Zarathustra ist die Titelfigur ein alter Mann geworden, der einsam im Gebirge lebt, jedoch sporadisch von allerlei Gestalten, wie beispielsweise einem Wahrsager, besucht wird. Dieser kündigt Zarathustra an, dass ihm eine letzte Versuchung, das Mitleiden, bevorstehe und dass „d e r h ö h e r e M e n s c h “10 komme, um seine Hilfe zu erbitten. Schon ertönt ein Hilfe-Schrei, der Zarathustra zunächst erschreckt, aber dann dazu veranlasst, nach dem Schreienden zu suchen, um ihm zu helfen. Auf dieser Suche begegnet er nacheinander zahlreichen Gestalten: den „zwei Könige[n]“,11 dem „G e w i s s e n h a f t e [n] d e s G e i s t e s “,12 dem „Zauberer“,13 dem „letzte[n] Papst“,14 dem „hässlichste[n] Menschen“,15 dem „freiwillige[n] Bettler“16 und seinem eigenen „Schatten“.17 Wenngleich er in keinem von ihnen den ‚höheren Menschen‘ erkennt, der ihn gerufen hat, lädt er sie alle in seine Höhle ein. Nachdem er niemanden mehr findet und glaubt, seine Suche nach dem ‚höheren Menschen‘ erfolglos abbrechen zu müssen, kehrt er zu ihnen zurück. Da ertönt der „Nothschrei“ aus seiner eigenen Höhle,18 sodass Zarathustra erkennt, dass alle seine Gäste zusammen die ‚höheren Menschen‘ sind. Er diskutiert mit ihnen eine Nacht lang über den Typus des ‚höheren Menschen‘, bis er schließlich für einen Moment seine Gäste verlässt, um mit seinen Tieren, die er den Menschen vorzieht, allein zu sein. Diesen Moment nutzt der Zauberer, um den ‚höheren Menschen‘ sein Lied der Schwermuth vorzusingen. Der Zauberer hält eine kurze Rede, in der er die Gemeinsamkeit der Höhlenbesucher herausstellt: Ihnen allen sei der „alte Gott“ gestorben, ohne dass ihnen ein neuer gekommen wäre; sie alle litten am „g r o ß e n E k e l “, ob sie sich nun

10 11 12 13 14 15 16 17 18

Za IV Der Nothschrei, KSA 4, 302, 5. Za IV Gespräch mit den Königen 1, KSA 4, 304, 5 f. Za IV Der Blutegel, KSA 4, 311, 8. Za IV Der Zauberer 2, KSA 4, 317, 12 f. Za IV Ausser Dienst, KSA 4, 322, 18. Za IV Der hässlichste Mensch, KSA 4, 328, 28. Za IV Der freiwillige Bettler, KSA 4, 335, 5. Za IV Der Schatten, KSA 4, 338, 5. Za IV Die Begrüssung, KSA 4, 347, 10.  



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„freie[ ] Geister“, „Wahrhaftige[ ]“, „Büsser des Geistes“, „Entfesselte[ ]“ oder „Sehnsüchtige[ ]“ nennen mögen.19 Er, der Zauberer, kenne sie alle und auch Zarathustra kenne er, in dem eine „Heiligen-Larve“20 schlummere. Aber nun, am Abend, falle ihn der „Geist der Schwermuth“ an.21 Unter dem Eindruck der „Abend-Schwermuth“22 greift der Zauberer nach seiner Harfe und singt sein Lied. In diesem erinnert sich ein lyrisches Ich an seine einstige verzweifelte Erfahrung, von aller Wahrheit verbannt zu sein. Die Frage, ob ein Dichter an der Wahrheit scheitern muss, wird durch das Leitmotiv, ein „Freier der Wahrheit“ sein oder eben nicht sein zu können, in den Mittelpunkt des Lieds gerückt. Die Sprache des Gedichts ist bildgewaltig, voller Metaphern, vieler elliptischer Satzkonstruktionen und zahlreichen Akkumulationen von Adjektiven und Partizipien. Dadurch wirkt das Gedicht teils überladen und schwer zugänglich. Während das Grundurteil „Nur Narr! Nur Dichter!“ durch seine Plakativität hervorsticht, bleiben insbesondere die Strophen zwei, drei, vier und sechs, in denen Tiermetaphern dominieren, undurchsichtig und mehrdeutig. In der ersten Strophe wird ein direkt angesprochenes Du gefragt, ob bestimmte Naturvorgänge wie aufklarendes Licht oder am Abend niedergehender Tau es an seine einstige Verzweiflung und seinen Wunsch nach himmlischem Trost erinnern – zu einer Zeit, in der der Angesprochene unter der sengenden Sonne litt. Die Frage, die an das lyrische Du gestellt wird, ist damit von zwei Bildern eingerahmt, wobei das erste Bild das Szenario einer möglichen Gegenwart evoziert, während das zweite Bild an die Vergangenheit erinnern soll, sodass die beiden Bilder sich antithetisch überlagern. Der erste Vers („Bei abgehellter Luft“)23 verweist auf den Barockdichter Paul Fleming24 und gibt einen sprachlichen Vorgeschmack auf den weiteren Verlauf des metaphernreichen und pathosgeladenen Gedichts.25 ‚Abhellen‘, ein zu Nietzsches Zeit schon ungebräuchliches Wort, bezeichnet ein Aufklaren und Aufhellen, das den Leser an die Zeit des Morgengrauens denken lässt.26 Der zweite Vers,

19 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 370, 14–18. 20 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 370, 24. 21 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 370, 30. 22 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 371, 4. 23 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 8. 24 Vgl. KSA 14, 342. 25 Indem Nietzsche den Zauberer ein Gedicht vortragen lässt, das in direktem Bezug zur Barockdichtung steht, wird deutlich, dass bereits eine immanente Kritik des Gedichts und eine Distanzierung von der Figur dieses Zauberers angedeutet wird, denn Nietzsche kritisiert in seinen Werken die Barockdichtung, selbst wenn er sie augenscheinlich lobt (vgl. exemplarisch MA II VMS 144, KSA 2, 437–439). 26 Vgl. Groddeck, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2, S. 9; und NK 6/2. 661.

Nur Narr, nur Dichter?

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in dem vom schon niedergehenden Tau gesprochen wird, der also eher den Abend andeutet, ambiguisiert das Bild, das auch im Fortgang des Gedichts stets zwischen Abend und Morgen zu changieren scheint. Der Tau, der Tröstung bringen soll, verweist symbolhaft auf einen biblischen Kontext. So gilt das (nach Taw, dem letzten Buchstaben des hebräischen Alphabets, benannte) Taukreuz in der christlichen Lehre als Bußzeichen; Franz von Assisi benutzte es als Segenszeichen der Demut und Erlösung. In den hebräisch-aramäischen Schriften ist der Prophet Ezechiel erwähnt, der den Gläubigen ein Taukreuz auf die Stirn malen sollte. Die so Gezeichneten sollten vor Gottes Strafe verschont werden.27 Der Tau wird in den folgenden Versen genauer bestimmt: Er ist unsichtbar, er wird nicht gehört, er trägt zartes Schuhwerk wie alle „Trost-Milden“.28 Die alliterierenden Formeln „Tröster-Thau“, „Thau’s Tröstung“29 und „Thränen und ThauGeträufel“30 werden mit den „Trost-Milden“ enggeführt. Der Tau wird somit zum beherrschenden Motiv der ersten Strophe. Inhaltlich ist es gerade der Tau, der das Du an das Vergangene erinnert, das als der vergebliche Wunsch nach „himmlischen Thränen und Thau-Geträufel“ erscheint. Die Frage „Gedenkst du da, gedenkst du, heisses Herz, / Wie einst du durstetest“31 schließt ebenfalls an die Taumetapher an. Das durstige, heiße Herz steht in einem Gegensatzverhältnis zum kühlenden, durstlöschenden Tau, den es begehrt. Das lyrische Du scheint mit der trockenen Umgebung zu verschmelzen, denn nicht nur die „Gras-Pfade[ ]“32 werden als gelb beschrieben, sondern auch das Du als versengt und müde durstend. So passt zwar die Bestimmung ‚müde durstend‘ zu einem Menschen, das ‚versengt‘ aber eher zu einer Pflanze. Die „Sonnen-Gluthblicke“,33 die auf den feurigen Charakter als Ursache des Versengt-Seins schließen lassen, stellen Personifikationen dar. Es sind „[b]oshaft abendliche Sonnenblicke“, die durch „schwarze Bäume um dich liefen, / Blendende Sonnen-Gluthblicke, schadenfrohe“.34 Das lyrische Du scheint in die Abendsonne zu blicken, sodass es geblendet

27 Vgl. Ez. 9, 3–11. Ebenso gilt der Tau als Geschenk des Himmels: Er kündigt im Alten Testament das heiß ersehnte „Manna“ an, welches die Israeliten auf ihrer Reise durch die Wüste vor dem Tod bewahrt (vgl. Ex. 16, 13–14). In der Alchemie wurde der Tau als das „merkurische Wasser der Weisheit“ verstanden, welches die Fähigkeit der Psyche umfasst, die „ausgetrocknete Persönlichkeit zu erfrischen und wiederzubeleben“ (Tau [Artikel], in: Ronnberg, Ami / Martin, Kathleen (Hrsg.), Das Buch der Symbole. Betrachtungen zu Archetypischen Bildern, Köln 2011, S. 74). 28 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 13. 29 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 13 u. 9. 30 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 16. 31 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 14 f. 32 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 18. 33 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 21. 34 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 19–21.  

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wird und alle Gegenstände vor der Sonne schwarz erscheinen. Schwarz als Symbolfarbe verweist auf den Tod, die Sonne erscheint als zerstörerisches Feuer. Sie wird traditionell mit der Wahrheit assoziiert; bei Platon repräsentiert sie die Idee des Guten, die alle anderen reinen Ideen erst sichtbar macht, selbst aber nie vollkommen erkannt werden kann. Und der frühe Nietzsche beschreibt passenderweise den Sonnengott Apollo als Gott des ‚schönen Scheins‘: Er ist der „Scheinende“ durch und durch: in tiefster Wurzel Sonnen- und Lichtgott, der sich im Glanze offenbart. Die „Schönheit“ ist sein Element: ewige Jugend ihm zugesellt. Aber auch der schöne Schein der Traumwelt ist sein Reich: die höhere Wahrheit, die Vollkommenheit dieser Zustände im Gegensatz zu der lückenhaft verständlichen Tageswirklichkeit erheben ihn zum wahrsagenden Gotte, aber eben so gewiß zum künstlerischen Gotte. Der Gott des schönen Scheines muß zugleich der Gott der wahren Erkenntniß sein.35

Im Lied der Schwermuth macht die Sonne die Gegenstände allerdings gerade nicht sichtbar, sondern sie blendet das lyrische Du und verdunkelt die Gegenstände, sodass sie bedrohlich werden. Weder erweisen sich die Sonnenstrahlen im Sinne Platons als Inbegriff einer Wahrheit, die anderes sichtbar macht, noch verklären sie im Sinne von Nietzsches früher Apollo-Deutung die Dinge zu einer höheren Wahrheit. Das Du erscheint stattdessen von einer Erkenntnis verbrannt, die es von den einfachen Dingen trennt, die nun verdorrt, damit leblos und bedrohlich erscheinen, während es sich nach göttlichem Trost, nach Vergebung und Erlösung sehnt. In der zweiten Strophe sprechen nun die Sonnenstrahlen direkt zum lyrischen Du. Zweimal stellen sie die Frage, ob das Du ein ‚Freier der Wahrheit‘ sei, nur um diese Frage sogleich zu verneinen. In zwei Bildern beschreiben die sprechenden Sonnenstrahlen, was das Du stattdessen sei: Im ersten Bild wird es als Dichter enttarnt, der nichts anderes sei als ein lügendes und raubendes Tier, das sich schließlich selbst zur Beute wird; im zweiten Bild wird der Dichter mit dem Narren gleichgesetzt, der mit seinen verlogenen „lügnerischen Wort-Brücken“ nur „[z]wischen falschen Himmeln / Und falschen Erden“36 herumschweife. Die Sonnenstrahlen verspotten das lyrische Du mit einer rhetorischen Frage: „Der W a h r h e i t Freier? Du? – so höhnten sie – / Nein! Nur ein Dichter!“37 „Der W a h r h e i t Freier“ erscheint im Gedicht als vieldeutige Metapher. Diese spielt zum einen auf die Bedeutung des Wortes ‚Philosoph‘ an. Der Philosoph wirbt als

35 DW 1, KSA 1, 554, 13–21. 36 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 7 u. 9 f. 37 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 22 f.  



Nur Narr, nur Dichter?

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‚Liebhaber der Weisheit‘ um die Wahrheit, die zuvor schon von Zarathustra explizit als weiblich gekennzeichnet wurde. Andererseits kann mit „[d]er W a h r h e i t Freier“ auch Derjenige bezeichnet werden, der frei von Wahrheit ist und der ihrer eventuell gerade nicht mehr bedarf. Schließlich kann mit ‚Freier‘ auch Derjenige gemeint sein, der sich frei zur Wahrheit bzw. zu seiner Wahrheit bekennen kann. Ohne dass hier einer Interpretation der alleinige Vorzug gegeben werden könnte, scheint doch eines klar zu sein: Der Dichter steht gemäß der Verhöhnung der Sonnenstrahlen in einem Gegensatzverhältnis zu diesem ‚Freier der Wahrheit‘. Es scheint allerdings, dass er gerne ein solcher ‚Freier‘ wäre, andernfalls würde der Hohn der Sonnenstrahlen darüber, dass er dies gerade nicht ist, ins Leere laufen. Er ist eben „[n]ur ein Dichter“,38 wobei das Adverb hier nicht nur eine ausschließende, sondern auch eine abwertende Funktion hat. Sodann folgt die Beschreibung des Dichters als Raubtier: „Ein Thier, ein listiges, raubendes, schleichendes, / Das lügen muss, / Das wissentlich, willentlich lügen muss“.39 Der Rhythmus dieser drei Verse, der durch die gehäufte Verwendung von Adjektiven, die ohne Konjunktion aufeinander folgen, drängend und beschleunigt wirkt, veranschaulicht die Metapher des herumschweifenden Raubtiers. Während die Adjektive im dritten Vers der zweiten Strophe sich noch zur Beschreibung eines Tiers eignen (listig, raubend, schleichend), können sich die beiden folgenden Bestimmungen nur auf den Menschen beziehen, da dieser das einzige Lebewesen ist, das zu lügen vermag. Wenn aber der Mensch generell das „Thier“ ist, das lügen kann, so ist der Dichter, den Sonnenstrahlen zufolge, das „Thier“, das lügen muss. Die Epipher (die Wiederholung von „lügen muss“ am Versende) unterstreicht das behauptete zwanghafte Verhältnis des Dichters zur Lüge. Andererseits scheint die Zuschreibung der „wissentlich[en], willentlich[en]“ Lüge im Gegensatz zu diesem Zwangsverhältnis zu stehen, sofern ein willentliches Tun Freiheit voraussetzt. Ganz im Sinne der schopenhauerischen Willenstheorie scheinen die Sonnenstrahlen zu behaupten, dass der Dichter als Mensch zwar fähig ist, zu tun, was er will, aber seine Unfreiheit darin besteht, dass er nicht wollen kann, was er will. Sein Wille ist daher letztlich unfrei. Vor dem Hintergrund dieser Willenstheorie bestünde die Unfreiheit des Dichters darin, nicht die Wahrheit, sondern nur die Lüge wollen zu können. Das Bild des Dichters als Raubtier wird auch in den folgenden Versen weiter ausgemalt: „Nach Beute lüstern, / Bunt verlarvt, / Sich selber Larve / sich selbst zur Beute –“.40 Der sechste Vers der zweiten Strophe geht noch ganz von der

38 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 23. 39 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 24–26. 40 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 27–372, 2.

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Beschreibung des Raubtiers aus; das Wort „lüstern“ betont die leidenschaftliche, nahezu sexuell besetzte Seite des Beutehungers. Der siebte Vers nennt das ‚Dichtertier‘ dann „[b]unt verlarvt“. Die Larve erscheint hier als Verkleidung, wodurch eine semantische Kontinuität mit den vorherigen Versen über die Lüge erzeugt wird. Das Wort ‚bunt‘, das assoziativ auf eine Vieldeutigkeit oder Vielseitigkeit hinweist, ist im Zarathustra häufig negativ konnotiert. In der Rede Vom Lande der Bildung beschreibt Zarathustra die Gelehrten als bunt und lächerlich, weil sie sich durch ihre historische Bildung selbst verloren und ihre eigenen Gesichter zu Masken gemacht haben.41 Durch seine Verkleidung täuscht sich der Dichter ganz ähnlich, er wird sich selbst zur „Larve“. Es scheint also, als würde er sich mit seiner Verkleidung verwechseln – die „Larve“ ist schließlich seine naturgemäße Beute. Deshalb wird sich der Dichter selbst zur Beute. Er jagt sich selbst. Gleichzeitig evoziert das Bild der „Larve“ noch andere Assoziationen als diejenige der Verkleidung und des Beutetiers. So bezeichnet die Larve in der Zoologie die Zwischenform in der Entwicklung vom Ei zum adulten Stadium; die Raupe ist beispielsweise die Larve des Schmetterlings, bevor er sich verpuppt. Wenn die Sonnenstrahlen den Dichter als „Larve“ bezeichnen, so besitzt diese Bestimmung demnach auch die positiv konnotierte Bedeutung der Transformation. Schon in der Antike war der Schmetterling wegen seiner Metamorphose ein Sinnbild der Wiedergeburt und Unsterblichkeit. Wenn die Sonnenstrahlen nun erneut auf die rhetorische Frage („D a s – der Wahrheit Freier?“) antworten: „Nein! Nur Narr! Nur Dichter!“,42 so könnte sich das Adverb („[n]ur“) folglich auch auf den aktuellen, noch unerfüllten Larvenzustand beziehen, wobei ein darüber hinausgehendes Stadium durch die im Begriff der ‚Larve‘ liegende Möglichkeit zur Metamorphose in Aussicht gestellt wird. Das durch Sperrdruck hervorgehobene Demonstrativpronomen („D a s “), welches der darauf folgende Gedankenstrich noch verstärkt, bezieht sich auf das eben beschriebene Raubtier-LarvenBeute-Motiv und betont den rhetorisch zugespitzten Kontrast von Dichter und Philosoph zusätzlich.

41 „Nie sah mein Auge etwas so Buntgesprenkeltes! […] Mit fünfzig Klexen bemalt an Gesicht und Gliedern: so sasset ihr da zu meinem Staunen ihr Gegenwärtigen! / Und mit fünfzig Spiegeln um euch, die eurem Farbenspiele schmeichelten und nachredeten! / Wahrlich, ihr könntet gar keine bessere Maske tragen, ihr Gegenwärtigen, als euer eignes Gesicht ist! Wer könnte euch – e r k e n n e n ! / Vollgeschrieben mit den Zeichen der Vergangenheit, und auch diese Zeichen überpinselt mit neuen Zeichen: also habt ihr euch gut versteckt vor allen Zeichendeutern! / Und wenn man auch Nierenprüfer ist: wer glaubt wohl noch, dass ihr Nieren habt! Aus Farben scheint ihr gebacken und aus geleimten Zetteln.“ (Za II Vom Lande der Bildung, KSA 4, 153, 11–27). 42 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 3 f.  

Nur Narr, nur Dichter?

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Im zweiten Bild der Strophe wird die Verbindung des Dichters mit dem „Thier“ von der Gleichsetzung von Dichter und Narr abgelöst. Der Narr kommt als Symbolfigur im Zarathustra zweimal vor.43 So tritt in der Vorrede ein „bunter Gesell“44 auf, den Zarathustra als einen „Possenreisser“ identifiziert. Er ist für den tödlichen Sturz des Seiltänzers auf dem Marktplatz verantwortlich, auf dem Zarathustra seine erste Rede hält. Dieser „bunte[ ] Gesell“ warnt Zarathustra vor der Volksmenge und droht, am nächsten Tag ihn in den Tod zu stürzen, sollte Zarathustra nicht die Stadt verlassen.45 Zum zweiten Mal kommt die Symbolfigur des Narren im dritten Teil vor: Als Zarathustra zum Gebirge zurückkehren will, begegnet ihm „ein schäumender Narr“, den die Menge „den Affen Zarathustra’s“ nennt,46 weil er dessen Reden imitiert. Er warnt Zarathustra vor „der g r o s s e n S t a d t “,47 in der alle Menschen kleinlich seien, an Tugenden wie an Lastern. Zarathustra aber unterbricht seinen „Affen“, nennt ihn sein „Grunze-Schwein“ und beklagt, dass das „Grunzen“ ihm sein „Lob der Narrheit“ verderbe.48 Darauf-

43 Während der Narr im Lied der Schwermuth durch das abwertende „Nur“ (Za IV, KSA 4, 372, 4) negativ konnotiert ist und die im Zarathustra auftauchenden Narren mindestens in der Kritik zu stehen scheinen, fällt dem gegenüber die häufig positive Wertung des Narren in Nietzsches Philosophie auf, gerade wenn es um den Zusammenhang zwischen Dichtung und Narrentum geht. So heißt es in der Fröhlichen Wissenschaft: „Als ästhetisches Phänomen ist uns das Dasein immer noch e r t r ä g l i c h , und durch die Kunst ist uns Auge und Hand und vor Allem das gute Gewissen dazu gegeben, aus uns selber ein solches Phänomen machen zu k ö n n e n . Wir müssen zeitweilig von uns ausruhen, dadurch, dass wir auf uns hin und hinab sehen und, aus einer künstlerischen Ferne her, ü b e r uns lachen oder ü b e r uns weinen; wir müssen den H e l d e n und ebenso den N a r r e n entdecken, der in unsrer Leidenschaft der Erkenntniss steckt, wir müssen unsrer Thorheit ab und zu froh werden, um unsrer Weisheit froh bleiben zu können! Und gerade weil wir im letzten Grunde schwere und ernsthafte Menschen und mehr Gewichte als Menschen sind, so thut uns Nichts so gut als die S c h e l m e n k a p p e : wir brauchen sie vor uns selber – wir brauchen alle übermüthige, schwebende, tanzende, spottende, kindische und selige Kunst, um jener F r e i h e i t ü b e r d e n D i n g e n nicht verlustig zu gehen, welche unser Ideal von uns fordert.“ (FW 107, KSA 3, 464, 23–465, 8). Groddeck, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2, S. 3, verweist auf die lexikalische Polysemie des Narrenbegriffs: „Die ‚nachweislich älteste bedeutung‘ ist: ‚eine verrückte, irrsinnige und überhaupt geisteskranke, an einer fixen idee leidende person‘. Moralisch gewendet konnte ‚Narr‘ aber auch der ‚gottlose‘ bedeuten; jedoch auch ‚spötter‘, ‚lustige person, spaszmacher‘ und ‚schalk‘ (der oft ‚sehr witzig und klug‘ ist), oder dann wieder ‚Narr‘ als ‚gegensatz zu einer weisen, witzigen, vernünftigen person‘. Schließlich ist für das Verständnis von ‚Narr‘ in diesem Gedicht, wo expressis verbis von der ‚Wahrheit‘ die Rede ist, ein bekanntes Stichwort erinnernswert: ‚Kinder und Narren sagen die Wahrheit‘.“ 44 Za Vorrede 6, KSA 4, 21, 13. 45 Vgl. Za Vorrede 8, KSA 4, 23, 14–30. 46 Za III Vom Vorübergehen, KSA 4, 222, 6 u. 8. 47 Za III Vom Vorübergehen, KSA 4, 222, 5. 48 Za III Vom Vorübergehen, KSA 4, 224, 26 f.  

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hin lässt er Stadt und Narren hinter sich, ohne jedoch darauf zu verzichten, der Narrengestalt noch einen Ratschlag mit auf den Weg zu geben: „[W]o man nicht mehr lieben kann, da soll man – v o r ü b e r g e h n ! –“49 Beide Narrenfiguren leben als Außenseiter in der Menge. Zwar sprechen beide von der Menge als würden sie nicht dazugehören, dennoch sind sie ihr zu Diensten; der „Possenreisser“ durch sein gewagtes, rücksichtsloses Schauspiel, der „Affe[ ] Zarathustra’s“, indem er die Menge durch seine Persiflagen unterhält. Gekennzeichnet ist der Narr üblicherweise durch seine bunte, schrille Verkleidung, die auch in der zweiten Strophe des Gedichts thematisiert wird: „Nur Buntes redend, / Aus Narren-Larven bunt herausschreiend“.50 Bunt zu sein erscheint als Gegenteil von Authentizität und korrespondiert der Verkleidung, aus welcher der Narr herausschreit. Das Schreien bzw. die exaltierte Rede kennzeichnen auch den „Affen Zarathustra’s“. Die Fähigkeit zur Besinnung scheint dem Narren abzugehen, das Bedürfnis zu schreien entspringt dem Wunsch, gehört zu werden, bzw. der Angst, nicht gehört zu werden. Auch die folgenden Verse der zweiten Strophe charakterisieren den Dichter-Narren: Herumsteigend auf lügnerischen Wort-Brücken, Auf bunten Regenbogen, Zwischen falschen Himmeln Und falschen Erden, Herumschweifend, herumschwebend, –51

In diesen Versen reiht der Zauberer verschiedene Symbole aneinander: Die Brücke als Symbol der Verbindung von Gegensätzen und der Überwindung von Abgründen wird freilich abgewertet und als „lügnerisch[ ]“ enttarnt. Der Regenbogen52 als Symbol des Bundes zwischen Gott und Mensch ist hier nur eine Verbindung zwischen „falschen Himmeln […] [u]nd Erden“. Der alte Topos vom Dichter als Mittler zwischen Gott und Mensch wird ad absurdum geführt, denn der Dichter bewege sich grundsätzlich in den falschen Sphären, jenseits wie diesseits. So kann er keine Verbindung zum Himmlischen, zum Göttlichen schaffen und auch keine Verbindung zum Irdischen: Vom Menschlichen wie vom Göttlichem ist er gleichermaßen ausgeschlossen, obwohl seine Worte das Gegenteil vorspie-

49 Za III Vom Vorübergehen, KSA 4, 225, 13–15. 50 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 5 f. 51 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 7–11. 52 Zum Symbolgehalt des Regenbogens heißt es in NK 6/2, 664: „Der Regenbogen ist in der Bibel das Zeichen des Bundes, den Gott mit den Menschen geschlossen hat und insofern ein Zeichen des Heils, siehe Genesis 9, 13–15: ‚Meinen Bogen habe ich gesetzt in die Wolken, der soll das Zeichen seyn des Bundes zwischen mir und der Erde.‘“  

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geln. Der vorletzte Vers der Strophe („Herumschweifend, herumschwebend, –“) verbindet den Dichter-Narren mit dem Dichter-Tier, wobei dieses nicht mehr nur als „schleichendes“,53 sondern auch als „herumschwebend[es]“, folglich als fliegendes Raubtier erscheint. Der letzte Vers der Strophe wiederholt das Urteil der Sonnenstrahlen, dem zufolge das lyrische Du „[n]u r N a r r ! [n]u r D i c h t e r !“54 sei. Die dritte Strophe beginnt abermals mit der rhetorischen Frage, ob das lyrische Du ein ‚Freier der Wahrheit‘ sei. Es folgt allerdings keine direkte Antwort, vielmehr wird die Vorstellung einer ‚göttlichen Wahrheit‘ mit Bildern archaischurwäldlicher Grausamkeit kontrastiert. Das lyrische Du sei als Dichter kein göttliches Sprachrohr und werde folglich nicht wie ein Prophet verehrt. Man verewige es nicht als Tempelstatue, als eines „Gottes Thürwart“.55 Der Dichter sei gerade in der Gegensphäre solchen Götterkults beheimatet, nämlich in der Wildnis. Er bejahe seine Raubtierhaftigkeit, sei gesund, schön und selig. Dass der Dichter den Gegensatz einer solchen ‚Wahrheit‘ darstellt, die als „still, starr, glatt, kalt“ bezeichnet wird,56 ist folglich seinem Wesen geschuldet: Nein! Feindselig solchen Wahrheits-Standbildern, In jeder Wildniss heimischer als vor Tempeln, Voll Katzen-Muthwillens, Durch jedes Fenster springend Husch! In jeden Zufall.57

Die beiden Komposita „Wahrheits-Standbilder[ ]“ und „Katzen-Muthwillen[ ]“ stehen einander antithetisch gegenüber. Der Dichter, der schon in der zweiten Strophe als Tier bezeichnet wurde, wird hier zur Katze, zu der auch die vorherigen Beschreibungen passen („listig[ ]“, „raubend[ ]“, „schleichend[ ]“). Die Katze gilt im Volksglauben als ambivalentes Tier: Sie wird mit der Zauberei in Verbindung gebracht, ihr werden neun Leben zugesprochen und sie fungiert (etwa als ‚schwarze Katze von links‘) als Bote drohenden Unglücks. Die Katze ist zwar ein domestiziertes Tier, gilt aber gleichzeitig als nicht dressierbar, als eigenwillig und neugierig. Das Springen durch „jedes Fenster“58 scheint eine Bewegungsrichtung anzudeuten, die weg von der Zivilisation und hin zur Natur führt. Diese Ausrichtung bringt auch das folgende Verspaar zum Ausdruck: „Jedem Urwald zu-

53 54 55 56 57 58

Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 24. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 12. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 18. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 14. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 19–23. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 22.

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schnüffelnd, / Süchtig-sehnsüchtig zuschnüffelnd“.59 Die Katze zieht es zurück in die Wildnis. Dort angelangt verwandelt sich die Hauskatze in eine Raubkatze, und sie passt sich ihren Artgenossen an: „Dass du in Urwäldern / Unter buntgefleckten Raubthieren / Sündlich-gesund und bunt und schön liefest“.60 Erst im letzten Drittel der dritten Strophe wird das lyrische Du wieder direkt angesprochen, sodass erst hier das Dichter-Du und die Katze, die in die Wildnis zurückkehrt, ausdrücklich gleichgesetzt werden. Zwar verläuft die Verwandlung der Katze bzw. des lyrischen Du zum Raubtier implizit, aber das Signalwort ‚bunt‘ weist deutlich auf die Identität von dichterischem Du und (Raub-)Katze hin. Die Rückkehr zur Wildnis erscheint aus zivilisatorischer Sicht als Rückfall, für die Katze selbst jedoch bedeutet sie Gesundung. Sie wird wieder ganz Tier und gibt sich genussvoll ihren Raubtierinstinkten hin: „Mit lüsternen Lefzen, / Selig-höhnisch, selig-höllisch, selig-blutgierig, / Raubend, schleichend, lügend liefest“.61 Die Seligkeit, welche das lyrische Du in der Wildnis findet, ist nicht nur jeder himmlischen entgegengesetzt, sondern explizit als „höllisch“ gekennzeichnet. Die vitalistisch besetzte Dschungellandschaft wird so auch unter Beibehaltung des theologischen Vokabulars von den monotheistisch gezeichneten „WahrheitsStandbildern“ abgegrenzt. Der letzte Vers („Raubend, schleichend, lügend“) verknüpft die dritte Strophe motivisch eng mit der zweiten („listig[ ]“, „raubend[ ]“, „schleichend[ ]“), wobei die Ersetzung von ‚listig‘ durch ‚lügend‘ sowie die Finalstellung von ‚lügend‘ ebendiese Zuschreibung besonders betonen. Die Rede der Sonnenstrahlen, die in der zweiten Strophe noch höhnisch ausfällt, gewinnt in der dritten Strophe an Ambivalenz. Die Vorstellung einer ‚göttlichen Wahrheit‘, die nur „still, starr, glatt, kalt“ wirkt, erscheint vor dem Hintergrund der „selig“-machenden, archaischen Wildnis wenig erstrebenswert. Und wenn „der Wahrheit Freier“ letztlich nur eines „Gottes Thürwart“ wäre, so wirkt der Entschluss des lyrischen Du, in den Dschungel zurückzukehren, wo es sofort zu genesen und schön zu werden beginnt, sicher gerechtfertigt. Der Spott, den das Dichter-Du mit der Zuschreibung tierischer Attribute zunächst erntet, unterbleibt in der dritten Strophe; stattdessen mutet die Raubtier-Existenz hier wie eine Befreiung an. Andererseits stellen die letzten Verse der Strophe diesen Eindruck gleich wieder infrage: Die Beibehaltung des theologischen Vokabulars bindet das lyrische Du – wenn auch ex negativo – an den monotheistischen Kosmos, was eine vollständige Emanzipation von diesem Bereich unmöglich macht. Möglicherweise nehmen die sprechenden Sonnenstrahlen eine Verteidi-

59 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 24 f. 60 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 26–28. 61 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 29–31.  

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gung, die das lyrische Du gegen ihre Vorwürfe vorbringen könnte, aber auch nur vorweg, um schließlich die Haltlosigkeit dieser möglichen Verteidigung am Ende der Strophe zu enttarnen; denn das lyrische Du bleibt ein ‚lügendes Tier‘ und damit vielleicht ein Mensch, der sich nur vorzumachen versucht, ein Raubtier zu sein, um in eine ursprüngliche, tierische Existenz zurückzukehren, die längst unwiederbringlich verloren ist. Die alternative Charakterisierung des Dichter-Du als „Adler“62 bestimmt die vierte Strophe des Gedichts. In Analogie zum Jagdverhalten des Greifvogels wird die scharfsinnige Beobachtungsgabe des Dichters herausgestellt, der plötzlich aus großer (geistiger) Höhe herabschießt und seine Beute, die am Boden lebenden „Lamms-Seelen“,63 packt und erlegt. Die Beziehung zwischen ‚Adler‘ und ‚Beute‘ wird dabei als ambivalent beschrieben: Einerseits hasse das Dichter-Du die „Lämmer“,64 die Schwachen, Wehrlosen und Mitleidigen der Gesellschaft; andererseits sei es „lüstern“65 nach ihnen, sie stellen seine ‚Nahrungsquelle‘, mithin den Gegenstand seiner Dichtung dar. Die ersten zwei Verse der vierten Strophe dienen der Abgrenzung von der Raubkatzen-Metaphorik: „Oder, dem Adler gleich, der lange, / Lange starr in Abgründe blickt, / In s e i n e Abgründe: – –“.66 Der Eindruck der Bewegungslosigkeit wird durch die Wiederholung des Endwortes des ersten Verses am Anfang des zweiten evoziert, durch das Adjektiv ‚starr‘ verstärkt und schließlich noch durch den Nachklang, der durch die zwei Gedankenstriche erzeugt wird, gesteigert. Der Adler ist nicht zuletzt ein Symboltier Zarathustras und wird von diesem als das „stolzeste Thier unter der Sonne“ bezeichnet.67 Er steht somit für Erhabenheit und, seinem Status als Greifvogel entsprechend, für den überlegenen (und räuberischen) Geist. Während die Charakterisierung des Dichters als Raubkatze womöglich der leiblich-naturhaften Seite des Menschen zugeordnet werden kann, gilt der Vergleich mit dem Adler dem geistigen Bereich. Sinnfällig ist, dass das Dichter-Du jeweils mit Raubtieren verglichen wird, die keine natürlichen Feinde besitzen und an der Spitze der Nahrungspyramide stehen. Der „[l]ange starr[e]“68 Blick des Adlers ist doppeldeutig: Auf der Bildebene scheint der Adler auf einem Felsen zu sitzen und auf der Suche nach Beute in die Tiefe zu spähen. Auf der Sinnebene erscheint der Blick nach unten allerdings

62 63 64 65 66 67 68

Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 32. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 12. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 9. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 11. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 32–373, 2. Za I Vorrede 10, KSA 4, 27, 16; vgl. auch Za IV Der hässlichste Mensch, KSA 4, 332, 1 f. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 1.  

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nicht als Blick in einen physischen Abgrund, sondern als Introspektion. Der Adler-Dichter blickt in „s e i n e Abgründe“, die sich immer weiter „[h]inunter, hinein / In immer tiefere Tiefen ringeln! –“69 Implizit präsent wird dadurch das Bild der Schlange, dem zweiten Begleittier Zarathustras, das mit Weisheit konnotiert ist.70 Der Adler steht zunächst metaphorisch für den introspektiven Teil des Dichters. Der nur scheinbar äußere Blick, der eigentlich ins eigene Innere geht, ist auch bedeutend für die zweite Hälfte des Gedichts. Von einem Moment auf den anderen ändert sich das Bild des beobachtenden Adlers. Es wird dynamisch und zeigt den Jagdflug des Raubvogels, der seinerseits graphisch durch das Schriftbild der zweiten Strophenhälfte veranschaulicht wird, das einen aufwärts gerichteten Pfeil zeigt:71 Dann, Plötzlich, geraden Zugs, Gezückten Flugs, Auf Lämmer stossen, Jach hinab, heisshungrig, Nach Lämmern lüstern, Gram allen Lamms-Seelen.72

Auf der Bildebene bewegt sich also der Adler in einem Sturzflug nach unten, um Beute zu machen. Lämmer gehören zu den natürlichen Beutetieren beispielsweise von Steinadlern. Dem lyrischen Du wird aber kein Jagdinstinkt unterstellt, vielmehr wird ihm ein doppeldeutiges Verhältnis zu den „Lämmern“ attestiert, das zwischen Begierde und Ablehnung schwankt und spezifisch menschlich, nicht tierisch ist. Im religiösen Kontext steht das Lamm für das Opfertier und speziell im Christentum symbolisch für Jesus Christus, der sich für die Menschen geopfert

69 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 2–5. 70 Die immer tiefer sich ringelnden Abgründe, welche die Vorstellung der Unendlichkeit und einer kreisförmigen Wiederholung aufrufen, assoziieren zugleich Zarathustras „abgründliche[n] Gedanken“ (Za III Von der Seligkeit wider Willen, KSA 4, 205, 21) – den Gedanken der ‚ewigen Wiederkunft‘. 71 Die graphische Gestaltung der Zeilen als Pfeil bzw. Dreieck wird in den Dionysos-Dithyramben gegenüber dem Zarathustra-Gedicht noch hervorgehoben, indem der achte Vers („Plötzlich, geraden Zugs“) zweigeteilt wird, sodass nun der achte Vers länger ist als der siebte, der neunte länger ist als der zehnte usw. (vgl. DD Nur Narr! Nur Dichter!, KSA 6, 379, 8–17). Diese graphische Veranschaulichung erinnert, wie bereits Groddeck erkennt, „an die manieristische Tradition“. Die Veränderung zwischen den beiden Texten lasse eine „stilistische Absicht erkennen, die auf die graphische Verdeutlichung des Gedichts zielt“ (Groddeck, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2, S. 5). 72 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 6–12.

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hat (agnus dei). Nicht zuletzt ist Gott in der Bibel der Hirte, der seiner Schafherde vorangeht. Die Lämmer können so im Gedicht als Symbol für die Gemeinschaft der Gläubigen verstanden werden, auf die sich das lyrische Du wie der Adler auf seine wehrlose Beute stürzt. Andererseits wird der Abgrund, in den der Adler vor seinem Sturzflug blickt, als der eigene beschrieben. Da der Greifvogel folglich in ‚seinen eigenen‘ Abgrund zu stoßen scheint, repräsentieren die Lämmer offenbar auf einer weiteren Verständnisebene auch Eigenschaften des lyrischen Du, die es an sich hasst und vernichten will. Das geschieht mit einer gewissen Lüsternheit, die als Genuss an der eigenen Selbstzerstörung, als Masochismus verstanden werden kann. Diese Doppelung von Raub- und Beutetier würde wiederum der zweiten Strophe entsprechen, in der das Raubtier, das in sich die Larve sieht, sich „selbst zur Beute“ wird.73 Berücksichtigt man gleichzeitig die Bedeutung des Lamms als Teilhaber an der Gemeinschaft der Gläubigen, offenbart sich ebendiese Teilhabe als Motiv des Selbsthasses. Der Adler vertritt demnach die starke und räuberische Seite des Dichter-Du, welche die andere, die schwache, gläubige und mitleidende Seite zu erlegen strebt. Diese Deutung korreliert mit den vorhergehenden Strophen: Beschreibt ein nicht näher bestimmbarer Sprecher zunächst die Sehnsucht eines lyrischen Du nach himmlischem Trost, treten schon bald die „Sonnen-Gluthblicke“74 einer abstrakten Erkenntnis auf und verhöhnen das Du, das niemals Hüter einer absoluten Wahrheit sein könne, weil es nur ein Dichter ist. Der Dichter aber sei ein „Thier, [… d]as lügen muss“,75 und nur unter der Voraussetzung des Selbstbetrugs gesunden und schön werden kann. Sieht der Dichter in sich selbst hinein, erkennt er indes die nach wie vor bestehende Zugehörigkeit zur Gemeinschaft. Die starke Seite seiner selbst macht daher Jagd auf die schwache, um sich ein für alle Mal emanzipieren zu können. Die letzten drei Verse der vierten Strophe charakterisieren die als Lämmerherde vorgestellte Gemeinschaft aus der Sicht ihres ‚Jägers‘: „Grimmig-gram Allem, was blickt / Schafmässig, lammäugig, krauswollig, / Grau, mit Lamms-SchafsWohlwollen!“76 Der adlergleiche Blick des lyrischen Du, unbeweglich in sich selbst hinein gerichtet, ist dem naiv-dummen, gutmütigen Schafsblick gegenübergestellt. Je nach Perspektive können die Schafe einerseits als Gruppe bezeichnet werden, aus welcher der Adler ausgeschlossen ist und zu der er nur in einem Raubtier-Beute-Verhältnis stehen kann; andererseits lässt sich das Verhältnis

73 74 75 76

Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 2. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 21. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 371, 24 f. Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 13–15.  

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zwischen Adler und Lämmern als ein solches vorstellen, in dem die Lämmer den vom Adler selbst verachteten Teil seines Innenlebens repräsentieren. Die aus nur fünf Versen bestehende fünfte Strophe ist die bislang kürzeste des Gedichts und stellt ein Resümee der vier vorangegangenen Strophen dar. Erneut wird das lyrische Du direkt angesprochen; explizit werden die „unter tausend Larven“ versteckten, animalischen „Sehnsüchte“ ihm zugeschrieben.77 Das lyrische Du wirkt als Dichter entlarvt; wie eine Beschimpfung nimmt sich der die Strophe abschließende Ausruf aus: „Du Narr! Du Dichter!“78 Den resümierenden Charakter der Strophe zeigt das einleitende Adverb „Also“79 direkt an. Es ist aber auch Bestandteil der obligatorischen Schlussformel jedes Zarathustra-Kapitels; die Verwendung im Lied des Zauberers wirkt daher auch imitatorisch – zumal die Formel unmittelbar vor dem Einsetzen des Liedes für den Zauberer verwendet wird.80 Die enttarnende Bezeichnung als „[a]dlerhaft, pantherhaft“81 impliziert, dass der Dichter ein grundverschiedenes Selbstbild besitzt. Im vierten Vers der fünften Strophe werden folglich die Sehnsüchte des Dichters mit denen des Du gleichgesetzt. Das hervorgehobene Possessivpronomen, das sich auf die Sehnsüchte des lyrischen Du bezieht, betont die direkte Anrede, die in der Strophe zuvor gefehlt hat. Das Wort „Sehnsüchte“82 macht auch den Zwang deutlich, unter dem der Dichter steht. Es zieht ihn unwiderstehlich zurück in die ‚Wildnis‘, ins ursprüngliche Leben. Das Urteil („Du Narr! Du Dichter!“)83 enthält aber nicht die Schlussfolgerung, dass das lyrische Du bereits Raubtier sei. Was es zum „Narren“ und „Dichter“ zu machen scheint, ist möglicherweise nichts anderes als seine Unfähigkeit, das eigene Wesen und die eigenen Wünsche anzuerkennen. In der sechsten Strophe wird das lyrische Du wieder direkt angesprochen: Es habe „den Menschen“ verstanden, indem es seine Doppelnatur als „Gott“ und „Schaf“ erkannte.84 „Den Gott z e r r e i s s e n im Menschen“ kann Wunsch, Potenzial oder Pflicht des Du sein. Erst in der ersten Zeile der folgenden Strophe wird dieses Zerreißen als die eigentliche „Seligkeit“ des lyrischen Du bestimmt: „D a s ,

77 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 19 u. 18. 78 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 20. 79 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 16. 80 Vgl. Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 371, 5 f.: „Also sprach der alte Zauberer, sah listig umher und griff dann zu seiner Harfe.“ 81 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 17. 82 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 19. 83 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 20. 84 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 21 f.  



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D a s ist deine Seligkeit!“85 Ebenso bestehe die Seligkeit des lyrischen Du darin, das „Schaf im Menschen“86 zu zerreißen. Die ersten zwei Verse („Der du den Menschen schautest / So Gott als Schaf –:“)87 weisen nicht nur auf ein dualistisches Menschenbild hin, das der Dichter erkannt hat, sondern üben auch Religionskritik: Wer den Menschen schaut, schaut Gott und erkennt, so wird implizit angedeutet, was Gott ist, nämlich eine Projektion des Menschen. Dass Gott im Symbol des Schafes auftritt, impliziert einen Angriff auf die christliche Religion. Wenn der Sohn Gottes das Lamm ist, das sich selbst opfern lässt, so ist Gott als sein Vater eben ein erwachsenes Schaf bzw. ein Schafsbock. Der christliche Gott erscheint so dumm wie die Gemeinschaft der Gläubigen, die der Dichter eigentlich jagen möchte. Die Erkenntnis, dass Gott ein Schaf im Menschen ist, führt zum Wunsch, diesen Gott als Ausgeburt der eigenen Einfalt zu zerreißen. Und da die Projektion nirgendwo anders existiert als in den Köpfen der Menschen, muss sie ebendort zerrissen werden. Beim Zerreißen der Gottesvorstellung wird notwendigerweise das „Schafmässig[e]“88 im Menschen, sein Wunsch nach Führung, nach Jenseits, nach bequemer Rettung ebenfalls mitzerrissen. Das Zerreißen als Metapher führt zurück zur Raubtierexistenz, die zuvor thematisiert wurde. Die schon in der vierten Strophe zum Ausdruck gebrachte Möglichkeit, den anderen wie sich selbst die Gottesvorstellungen auszutreiben, ist hier ebenfalls präsent. Zuletzt soll das Zerreißen auf eine bestimmte Weise geschehen: Es soll dabei gelacht werden. Auf dem durch Sperrdruck hervorgehobenen „[L]achen“89 liegt eine besondere Betonung.90 Dabei bleibt ungeklärt, ob es sich bei diesem Lachen um ein höhnisches Lachen angesichts einer unerträglichen Erkenntnis handelt oder um ein befreiendes Lachen, das selbst dem schlimmsten Gedanken noch seinen Stachel zu nehmen vermag. Die siebte Strophe bestimmt die „Seligkeit“ des lyrischen Du als die eines „Panthers und Adlers“, eines „Dichters und Narren“.91 Damit endet schließlich 85 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 26. 86 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 24. 87 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 21 f. 88 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 14. 89 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 25. 90 In der Geburt der Tragödie ist es der weise Silen, der – von König Midas gezwungen, dem Menschen jene Wahrheit zu sagen, die zu hören ihm unerträglich ist – in ein gellendes Lachen ausbricht (vgl. GT 3, KSA 1, 35, 18). Im Zarathustra ist es ein Hirte, der schließlich in Lachen ausbricht, nachdem er der schwarzen Schlange (als Symbol der ‚ewigen Wiederkunft‘), die ihm in den Schlund gekrochen ist, den Kopf abgebissen hat (vgl. Za III Vom Gesicht und Räthsel 2, KSA 4, 202, 18 f.). 91 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 27 f.  





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die Rede der Sonnenstrahlen. Die beiden letzten Strophen umrahmen wie die erste Strophe die direkte Rede der Sonnenstrahlen. Erneut wird in der achten Strophe auf die vermeintliche Abenddämmerung angespielt, wenn der Mond als Sichel unbemerkt während des Sonnenuntergangs aufgeht. Dieser Mond, „[a]n Rosen-Hängematten / Hinsichelnd“,92 bis diese abwärts und zur Nacht hinsinken, sei „dem Tage feind“.93 Diese düstere, unheimliche Abendstimmung erinnert das lyrische Du an seine einstigen Sehnsüchte und Verzweiflungszustände. In der letzten Strophe schließlich gibt sich das lyrische Du als lyrisches Ich zu erkennen und vergleicht sein eigenes Absinken mit dem der „Rosen-Hängematten“: So sank ich selber einstmals Aus meinem Wahrheits-Wahnsinne, Aus meinen Tages-Sehnsüchten, Des Tages müde, krank vom Lichte, – sank abwärts, abendwärts, schattenwärts.94

Die „Tages-Sehnsüchte[ ]“ des lyrischen Ichs erscheinen hier als pathologischer Wunsch nach Wahrheit, der schließlich als „Wahrheits-Wahnsinne“ gedeutet wird. Schließlich scheint sich das Ich vom Tag und von der Wahrheit abzukehren und der Nacht, dem Mond, der Lüge zuzufallen, weil die erfahrene Wahrheit sich als unerträglich erweist: Von Einer Wahrheit Verbrannt und durstig: – gedenkst du noch, gedenkst du, heisses Herz, Wie du da durstetest? – Dass ich verbannt sei Von a l l e r Wahrheit, Nur Narr! Nur Dichter!95

92 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 5 f. Das Bild der kommenden Nacht und des Mondes ist ein typisches Sinnbild der romantischen Dichtung und wird von Nietzsche ironisch durchkreuzt, indem, wie Groddeck feststellt, des „Monds Sichel“ „paronomastisch beim Wort genommen“ werde (Groddeck, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2, S. 36). 93 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 374, 3. 94 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 374, 8–12. 95 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 374, 13–20.  

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Die unerträgliche Wahrheit, an der sich das lyrische Ich verbrennt, ist die Erkenntnis, dass es von aller Wahrheit verbannt sei. Lüge und nächtlicher Traum erscheinen damit als Notwendigkeit der Dichtexistenz.

3 Das Lied der Schwermuth erweist sich als Selbstanklage eines Dichters, der erkennt, dass er nicht sein kann, was er immer sein wollte. Im Versuch, „der Wahrheit Freier“96 zu werden, hat er andere wie sich selbst betrogen; so führt seine Suche nach Wahrheit schließlich dazu, dass die Sonne, ein traditionelles Symbol der Wahrheit, ihn verbrennt. Sie offenbart ihm sein eigentliches Wesen und entlarvt ihn gerade als Gegenspieler jedes Wahrheitssuchenden. Als Dichter ist er jemand, der zur Mitteilung notwendig des Wortes bedarf. Aber vielleicht sind Wörter der Wahrheit nicht angemessen, denn die Wörter verkürzen die Wahrheit auf das, was an ihr mitteilbar ist. Die „lügnerischen WortBrücken“ und „bunten Regenbogen“ zeigen die Unmöglichkeit an, irgendetwas unmittelbar mitteilen zu können.97 Zudem ist Dichtung per se einem statischen Wahrheitsbegriff entgegengesetzt. Sie verändert sich als dynamisches Sprachspiel unausgesetzt; damit ändern sich zugleich ihre Inhalte und ‚Wahrheiten‘. Die dichterische Verherrlichung kann schön sein, sie kann gesund sein, sie kann verführen, aber damit ist sie über die bloße Darstellung einer Wahrheit immer schon hinaus. Sowenig der Dichter ein Mittler der Wahrheit sein kann, kann er der Herde als Hirt, der Gemeinschaft als Führer vorangehen. Er ist nicht Teil einer Herde, sondern ihr Feind. Seine Veränderlichkeit, seine Scharfsicht (auch im Hinblick auf das Abgründige) und sein Suchen nach immer neuen Wahrheiten widersprechen dem Bedürfnis der ‚Herdenmenschen‘ nach Gewissheit und Bequemlichkeit. Letztlich vermag sich der Dichter allerdings nicht dauerhaft zu betrügen. Selbst wenn er versucht, Gott zu verherrlichen, weiß er doch stets, woher das Motiv der Verherrlichung stammt – nämlich aus ihm selbst. Damit wird Gott als menschliche Projektion enttarnt. Der Widerstreit zwischen der Suche des Dichters nach einer göttlichen Wahrheit und seiner Erkenntnis, dass es sich bei dieser lediglich um eine Projektion handelt, erreicht schließlich seinen Höhepunkt in dem Wunsch des Dichters, Gott zu zerreißen, seinen eigenen Glauben wie den der anderen zu vernichten.

96 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 3. 97 Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 7 f.  

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An diesem Widerspruch geht der Dichter zugrunde. Er kann die Wahrheit, die nicht mehr göttlich ist und die von ihm selbst allein gerechtfertigt werden müsste, nicht ertragen, weil sie nicht das Kriterium zu erfüllen vermag, das er von der Wahrheit verlangt: das Kriterium der Ewigkeit bzw. Unveränderlichkeit. Wie es der Dichter auch dreht und wendet, er ist von der ‚ewigen Wahrheit‘ ausgeschlossen, weil aus ihm immer nur eine persönliche Wahrheit sprechen kann. Die Wahrheitssuche scheint der Dichter angesichts ihrer Aussichtslosigkeit demnach aufzugeben, sie erscheint ihm selbst als Wahnsinn. Sinkt der Dichter also der Nacht und damit seinen Träumen, seinen Visionen und Lügen zu, die nun nicht mehr vom Drang zur Wahrheit bestimmt sind? Am Ende heißt es wieder: „Nur Narr! / Nur Dichter!“ Die Sonnenstrahlen hatten den Dichter so genannt, weil er nicht fähig ist, sich selbst zu erkennen. Dass der Dichter am Ende des Gedichts die Wahrheit aufgibt, scheint mehr als zweifelhaft zu sein, ist er doch gerade „Narr“, weil er sein will, was er nicht sein kann.98 Würde er aber seine eigenen Schöpfungen anerkennen, so wären Schwermut und Verzweiflung möglicherweise keine notwendigen Folgen mehr, und der Dichter könnte sich selbst akzeptieren.

4 Dass das Ende des Gedichts nicht eine wirkliche Abkehr des lyrischen Ichs von der Wahrheit und Wahrheitssuche bedeutet, scheint auch durch die Reaktion des „Gewissenhafte[n] des Geistes“ bestätigt zu werden, der sich als einziger Zuhörer des Zauberers dem „Netz seiner listigen und schwermüthigen Wollust“99 entzieht. Während alle anderen von der Stimmung des Gedichts eingefangen sind und ihre eigene Existenz möglicherweise darin gespiegelt sehen, erwidert der „Gewissenhafte des Geistes“:

98 Im Lied der Schwermuth wird das lyrische Du als Narr vorgestellt, der sich in einer unerträglichen Situation befindet, in der er sich glauben machte möchte, was er nicht glauben kann. Demgegenüber ist ein Narrentum denkbar, das, wie in der Fröhlichen Wissenschaft vorgestellt (vgl. FW 106, KSA 3, 464 f.), befreiend wäre. Der erfüllte Dichter-Narr bejaht seine schöpferischen Erfindungen, die ihn über den Ernst des Daseins und das Leiden am Dasein hinweg zu heben vermögen. Er bejaht seine Täuschungen, Erfindungen, seine Leidenschaft und seine Leichtfertigkeiten. Narr-Sein könnte so zur Bedingung werden, um ein Suchender von Wahrheiten zu werden, ohne sich von diesen Wahrheiten erdrücken zu lassen. Indem das lyrische Ich sich in der fiktiven Rede der Sonnenstrahlen aber nur als unerfüllter Narr wiederfindet, spricht er das vernichtende Urteil über sich selbst aus und verkennt sein eigenes Potenzial, das ihn von seinem unerfüllten Narren-Larven-Zustand zu dem befreiten Narren verwandeln könnte. 99 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 375, 3–5.  

Nur Narr, nur Dichter?

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Luft! Lasst gute Luft herein! Lass Zarathustra herein! Du machst diese Höhle schwül und giftig, du schlimmer alter Zauberer! Du verführst, du Falscher, Feiner, zu unbekannten Begierden und Wildnissen. Und wehe, wenn Solche, wie du, von der W a h r h e i t Redens und Wesens machen! Wehe allen freien Geistern, welche nicht vor s o l c h e n Zauberern auf der Hut sind! Dahin ist es mit ihrer Freiheit: du lehrst und lockst zurück in Gefängnisse, – – du alter schwermüthiger Teufel, aus deiner Klage klingt eine Lockpfeife, du gleichst Solchen, welche mit ihrem Lobe der Keuschheit heimlich zu Wollüsten laden!100

Das Lied des Zauberers, so der „Gewissenhafte des Geistes“, verführe zum alten Glauben an die ‚ewige Wahrheit‘. Zwar scheint der Dichter vom Auffinden dieser Wahrheit ausgeschlossen zu sein, doch bleibt die Sehnsucht nach ihr seine einzige Begierde. Wer diese Begierde aufgibt, so die Implikation der letzten Strophe, fällt in die finstere Nacht. Tragischer und edler erscheint es dagegen, weiterhin vergebens die Wahrheit zu suchen und ein „Narr“ zu bleiben. Andererseits bleibt die Gegenrede des „Gewissenhafte[n] des Geistes“ unverständlicher als sie auf den ersten Blick erscheinen mag, kreidet er doch dem Zauberer an, dass dieser „zu unbekannten Begierden und Wildnissen“101 verführe. Die Wildnis ist die Hauptmetapher der dritten Strophe, in der der Dichter erkennt, dass sein Wesen einem unveränderlichen Wahrheitsbegriff entgegengesetzt ist, weshalb er zurück zur Natur und zur Lebensform des Raubtiers strebt. Das Problem des Dichters scheint nicht darin zu bestehen, dass er notwendigerweise lügen muss, sondern darin, dass er dies nicht anerkennen kann. Der „Gewissenhafte des Geistes“ erkennt aber in dem Aufruf, in die Wildnis zurückzukehren, nicht einen Ausweg aus Melancholie und Verzweiflung; vielmehr erscheint ihm dieser Aufruf ebenfalls als Lockruf zurück ins Gefängnis. Dies wäre nur dann nachvollziehbar, wenn die Wildnis selbst zu einem starren Bild, zur letztgültigen Definition des Dichters würde, der sich eben nicht mehr unablässig verändern kann. Möglicherweise kann aber der „Gewissenhafte des Geistes“ auch deshalb die Wildnis nicht als Lösung anerkennen, weil sie seinem eigenen Streben entgegengesetzt ist. In seiner anschließenden Rede versucht er zu zeigen, dass er sich von den anderen ‚höheren Menschen‘ unterscheidet. Diese suchen in Zarathustra „m e h r U n s i c h e r h e i t , / – mehr Schauder, mehr Gefahr, mehr Erdbeben“, es gelüstet sie „nach dem schlimmsten gefährlichsten Leben, das m i r [dem ‚Gewissenhaften des Geistes‘] am meisten Furcht macht, nach dem Leben wilder Thie-

100 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 375, 6–17. 101 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 375, 9 f.  

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re“.102 Was ihnen am Lied des Zauberers gefallen habe, sei die gefährliche, weil verführerische Botschaft, dass derjenige, der sich von der ‚göttlichen Wahrheit‘ abkehre, zur Hölle fahre. Zarathustra suche dagegen mehr Sicherheit – so wie bisher die Menschheit immer aus Furcht vor der Unsicherheit Gewissheit gesucht habe, weswegen der Mensch schließlich die Wissenschaft erfunden habe. In dem Moment, als der „Gewissenhafte des Geistes“ seine letzten Worte spricht, betritt Zarathustra wieder die Höhle. Er wirft „dem Gewissenhaften eine Hand voll Rosen zu und lacht[ ] ob seiner ‚Wahrheiten‘“,103 denen er sofort widerspricht, indem er nicht die Furcht, sondern den Mut zur treibenden Kraft des Menschen erklärt. Er spricht: „D i e s e r Muth, endlich fein geworden, geistlich, geistig, dieser Menschen-Muth mit Adler-Flügeln und Schlangen-Klugheit: d e r , dünkt mich, heisst heute –“.104 Und die ‚höheren Menschen‘ antworten „wie aus Einem Munde“: „Z a r a t h u s t r a “.105 Mit der Rede von „Adler-Flügeln und Schlangen-Klugheit“ nimmt Zarathustra, auf seine Tiere anspielend, Metaphern aus dem Lied des Zauberers auf, das er selbst nicht gehört hat. So stellt sich die Frage nach dem Bezug zwischen dem lyrischen Ich des Gedichts und Zarathustra. Zwar scheint der Zauberer vornehmlich von sich selbst und seinen eigenen Erfahrungen zu sprechen, allerdings enthalten die Rede des lyrischen Ichs und insbesondere die Rede der Sonnenstrahlen Anspielungen auf Zarathustra.106 Nicht zuletzt hatte der Zauberer, bevor er zu seiner Harfe griff, erklärt, er kenne Zarathustra, in dem eine „Heiligen-Larve“107 schlummere. Somit wird Zarathustra in direkten Bezug zum folgenden Gedicht gesetzt; er erscheint als der Dichter, der einst Gottes Wahrheit erfahren wollte108 und stattdessen Gottes Tod erfuhr. Die Rede des Zauberers würde also Zarathustra als lügnerischen, verzweifelten Dichter enttarnen wollen, und doch gibt der Zauberer zu, dass ein gewisser Geist aus ihm spreche, den auch Zarathustra kenne: der „Geist

102 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 376, 21 f. u. 25–27. 103 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 377, 11 f. 104 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 377, 21–23. 105 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 377, 24 f. 106 Die Tiere Zarathustras kommen beide im Lied der Schwermuth vor: der Adler ausdrücklich, die Schlange implizit. Auch kann man Zarathustra als Feind aller „Wahrheits-Standbilder[ ]“ bezeichnen (Za IV, Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 372, 19). Er wohnt in einer Höhle und zieht die Gesellschaft der Tiere der menschlichen vor. Er ist demnach, wie der Adler, ein Außenseiter und schaut gleich diesem in „s e i n e Abgründe“ (Za IV Das Lied der Schwermuth 3, KSA 4, 373, 2). Er greift die Moral und die Glaubensvorstellungen seiner Mitmenschen an und wird ihnen damit zum Feind. 107 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 370, 24. 108 Vgl. Za I Von den Hinterweltlern, KSA 4, 35–38.  





Nur Narr, nur Dichter?

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der Schwermut“,109 dessen eigentlicher Feind. Zarathustra, der als Befreiter und Befreier von allen gesellschaftlichen und metaphysischen Werten auftritt, stellt sich der Erkenntnis, dass es keine göttliche Rechtfertigung, keine ‚göttliche Wahrheit‘ mehr gibt. Mehr noch: Er vermag sogar den Gegensatz der ‚göttlichen Wahrheit‘ zu bejahen – den Gedanken der ‚ewigen Wiederkunft‘. Die Sonnenstrahlen stellen den Dichter dagegen als Verzweifelten vor. Von der Erkenntnis, dass der Dichter ein Lügner oder, positiv gewendet, ein Erfinder von Werten sei, führt kein Weg zurück zu der einen, absoluten Wahrheit. Der Dichter muss verzweifeln, er muss in die Nacht zurückfallen und sich in seinen Traum flüchten, weil er diese Wahrheit, ein von der Wahrheit Verbannter zu sein, nicht erkennen darf. Nun spricht Zarathustra wiederholt zur Sonne; er will gleich ihr, dem „grosse[n] Gestirn“,110 den Menschen seine Geschenke darbringen. Der Mittag als der Zeitpunkt, an dem der Tag am weitesten von der Nacht entfernt ist, an dem die Sonne im Zenit steht und die Dinge den geringsten Schatten werfen, ist für Zarathustra die Metapher für den vollkommen Augenblick, der alles rechtfertigt. Dieser Vorstellung sind die versengenden Sonnenstrahlen im Lied des Zauberers diametral entgegengesetzt. Während Zarathustra im Werk selbst als bedingungslos Bejahender auftritt, der nicht auf metaphysische und gesellschaftliche Sicherheiten angewiesen ist, versucht der Zauberer in seinem Gedicht, Zarathustra als Scheiternden vorzustellen: als einen Dichter, dem die Überwindung der Wahrheit nicht gelingen kann. Diese subtile Feindschaft wurde anhand der Einleitungsworte in der Rede des Zauberers bereits angedeutet. Doch der Zauberer vermeidet eine direkte Auseinandersetzung mit Zarathustra; bereits im nächsten Kapitel inszeniert er sich als Unterlegenen: Sein Gedicht sei gar nicht von ihm selbst gesprochen, sondern von seinem „böse[n] Geist“,111 vor dem er seine Zuhörer gewarnt habe. Die Prämisse des Gedichts, der zufolge der Dichter nicht die Wahrheit sagen könne, ähnelt somit stark dem berühmten Paradoxon vom Kreter, der behauptet, dass alle Kreter lügen. Indem die Frage nach dem Stellenwert von Wahrheit im Medium der für fragwürdig befundenen Dichtung artikuliert wird, wird sie letztlich – wie so häufig im Zarathustra – wieder auf den Leser zurückgeworfen.

109 Za IV Das Lied der Schwermuth 2, KSA 4, 370, 30. 110 Za IV Das Zeichen, KSA 4, 405, 6. 111 Za IV Von der Wissenschaft, KSA 4, 377, 28.

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Textstrategie und Performativität: Dialogizität, Literarizität und Polyperspektivität im Kontext von Nietzsches Kommunikationstheorie Abstract: Text strategy and performativity: Dialogicity, literariness and polyperspectivity in the context of Nietzsche’s theory of communication. The main thesis of this paper is that Nietzsche’s writings are based on a specific textual strategy. This will be shown by comparing published works with posthumous fragments. Although similar and even partially identical issues are addressed in these texts, the way they are presented formally varies significantly. Whereas consistent argumentation can often be found in the posthumous fragments, the published texts also usually contain performative aspects, due to their composition. Thus, clear statements and positions are called into question, so that the reader is forced to develop an individual perspective. Examples that illustrate this are multi-perspectivism, namely the use of different competing viewpoints, as well as the use of contradictions. These textual strategies correspond to Nietzsche’s reflections on the theory of communication.

1 Nietzsches Widersprüchlichkeit Nietzsches Schriften wird nicht selten Widersprüchlichkeit attestiert. Trotz stringenter Argumentation im Einzelnen lasse sich häufig kein schlüssiger Zusammenhang erkennen. Diese Feststellung ist auf einer gewissen Ebene sicherlich zutreffend. Selbst innerhalb eines Werkes, zum Teil sogar innerhalb eines einzelnen Textabschnitts lassen sich zweifelsohne widersprüchliche Positionen ausmachen, die auch nicht aufgelöst werden. Behauptungen werden aufgestellt und später wieder verworfen; abweichende Positionen werden diskutiert, ohne eine klar als zutreffend zu markieren; am Ende einer schlüssigen Darlegung folgt nicht selten eine Frage, ein Gedankenstrich, ein offener Schluss, der das Vorige wieder in Zweifel zieht. Zugleich scheint es in Anbetracht der Sprachfertigkeit und des kompositorischen Geschicks Nietzsches unwahrscheinlich, dass er sich dieser Widersprüchlichkeit nicht bewusst ist. Sicherlich ist es denkbar, dass ein Autor eine Formulierung wählt, weil er sich nicht anders ausdrücken konnte. Im Falle Nietzsches

DOI 10.1515/9783110474374-013

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scheint dies allerdings kaum glaubhaft. Zumindest soll im Folgenden davon ausgegangen werden, dass hinter der Komposition eine klare Intention steckt und dass Nietzsche mit Absicht genau so schreibt, wie er es tut. Nietzsches Schreibweise lässt sich, im Anschluss an Wolfgang Iser, auf ihre Textstrategie hin untersuchen. Den folgenden Ausführungen liegt also die Annahme zugrunde, dass seine Textkompositionen einen bestimmten Zweck erfüllen und dass er geeignete Mittel wählt, um diesen Zweck zu erreichen. Besondere Beachtung verdient hier die Funktion der ‚literarischen‘ Schreibweise, die Nietzsches Werke von denjenigen vieler anderer philosophischer Autoren unterscheidet. Auffällig ist ferner, dass sich – gerade in den mittleren und späteren Werken – argumentative Passagen mit Dialogen, Kurzdramen und Gedichten abwechseln. Besonders dieser Wechsel soll unter dem Gesichtspunkt der Textstrategie untersucht werden. Die literarischen Abschnitte lassen sich von den argumentativen Abschnitten mit Jurij Lotmans Konzept semantischer Räume unterscheiden. Die Bezeichnung ‚literarisch‘ ist insgesamt problematisch, weil sich keine klare, scharfumrissene Definition formulieren lässt.1 Nach Lotman lassen sich jedoch solche Texte, die er ‚wissenschaftlich‘ nennt, von künstlerischen und literarischen Texten auf folgende Weise unterscheiden: In wissenschaftlichen Texten wird ein semantisches Feld durch ein anderes ersetzt, während sich künstlerische Texte durch eine Parallelität mehrerer semantischer Felder auszeichnen. Während also im wissenschaftlichen Text eine konkurrierende Position als falsch erkannt und durch eine andere ersetzt wird, kann in künstlerischen Texten der Opponent niemals vollständig ‚besiegt‘ werden: Der böse Wolf kann nicht als ‚falsch‘ widerlegt werden, sondern gehört wesentlich zum Rotkäppchen, während das heliozentrische Weltbild das geozentrische vollständig ersetzt. „Wissenschaftliche Wahrheit existiert in jeweils einem semantischen Feld, künstlerische gleichzeitig in mehreren“, so Lotman.2 Diese Unterscheidung in ‚wissenschaftlich‘ und ‚künstlerisch‘ ist sicherlich nicht unproblematisch. Spätestens seit Hayden White dürfte klar sein, dass faktuale und fiktionale, ‚wissenschaftliche‘ und ‚literarische‘ Textgattungen nicht

1 Meines Wissens gibt es bis heute keine gültige Definition davon, was literarisches Schreiben konkret ausmacht. Versuche, dies anhand kompositorischer Prinzipien festzumachen, scheitern sämtlich. In der Werbung werden beispielsweise komplexe Narrative in eigens geschaffenen Welten präsentiert, obwohl wir Werbung nicht der Literatur zurechnen. Die Verwendung von Reimen ist dort ebenfalls durchaus üblich, wogegen viele Erzählungen auf eine klare Formalisierung verzichten. Eine Kollage von Zeitungsartikeln oder Telefonbuchseiten kann dagegen durchaus als Literatur gelten. Entsprechend soll der Begriff ‚literarisch‘ an dieser Stelle gezielt unterbestimmt gelassen werden. 2 Lotman, Jurij, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 353.

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trennscharf voneinander unterschieden werden können. Trotzdem möchte ich diese Unterscheidung bewusst verwenden, weil sie zumindest eine grobe Bestimmung der verschiedenen Schreibweisen Nietzsches erlaubt. Die verschiedenen Gattungen lassen sich zueinander in Beziehung setzen und so zumindest als ‚literarisch‘ und ‚weniger literarisch‘ zueinander positionieren. So ist Schillers Wilhelm Tell in diesem Sinne literarischer als ein Telefonbucheintrag, während ein Rezept für Schweinebraten irgendwo dazwischen liegt.3 Entsprechend lassen sich auch bei Nietzsche verschiedene Stile miteinander vergleichen: Die Lieder des Prinzen Vogelfrei aus der Fröhlichen Wissenschaft sind in diesem Sinne ‚literarischer‘ als der Prosa-Text Nummer 146 aus Menschliches, Allzumenschliches I.4 Nach Lotman führt die Gleichzeitigkeit semantischer Felder, wie sie für künstlerische Texte typisch ist, zu einer Zunahme an Komplexität und zu einer erhöhten Menge bedeutungsrelevanter Merkmale. Als These lässt sich formulieren, dass Nietzsches Textstrategie auf eine Erhöhung der Komplexität und ein Erschweren der Disambiguierung abzielt. Die (vermeintliche oder tatsächliche) Widersprüchlichkeit in Nietzsches Schreiben ist Teil dieser Strategie. Gezielt wird der Grad an Ambiguität gesteigert und damit eine Pluralität semantischer Felder evoziert. Zu fragen ist nun, wie die Verwendung dieser Techniken vor der Folie von Nietzsches Sprach- und Kommunikationstheorie zu verstehen ist. Im Folgenden sollen exemplarisch drei Punkte in Nietzsches Schreiben untersucht werden: (1) Das Verhältnis der nachgelassenen Fragmente zu den veröffentlichten Schriften, (2) der gezielte Einsatz von Dialogizität und Polyperspektivität sowie (3) das Phänomen des performativen Widerspruchs. Die Beispiele und Textabschnitte sind dabei so gewählt, dass darin zugleich Nietzsches Kommunikations- und Sprachtheorie untersucht werden kann. Eine Annäherung an Nietzsches Textstrategie erfolgt somit von zwei Seiten her: einerseits über die Schreibpraxis, also die konkrete Anwendung strategischer Maßnahmen, andererseits über die Argumente, mit denen er ein solches Vorgehen legitimiert.

2 Nachlass und veröffentlichtes Werk Es ist eine grundsätzliche Frage, wie mit nachgelassenen Fragmenten eines Autors umzugehen ist. Bei Nietzsche im Besonderen finden sich im Nachlass zahlreiche Fragestellungen, die auch im publizierten Werk zu finden sind, oft

3 Schließlich gibt es auch bei einem Kochrezept Anfangs- und Endzustand sowie eine narrative Verknüpfung der einzelnen Handlungsschritte. 4 MA I 146, KSA 2, 142.

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jedoch mit gänzlich anderer Gewichtung und in unterschiedlicher Formulierung. Dies trifft vor allem auch auf seine Zeichentheorie zu. Gerade im Hinblick auf die Problemstellung der Textstrategie handelt es sich in jedem Fall um eine relevante Information, ob sich ein Autor für oder gegen eine Publikation entscheidet. An dem Verhältnis von nachgelassenen zu veröffentlichten Schriften Nietzsches lässt sich exemplarisch der Einsatz von strategischen Maßnahmen beschreiben; darüber hinaus lässt sich ein erster Einblick in seine Sprach-, Kommunikations- und Zeichentheorie geben. Eine der bekanntesten und meistzitierten nachgelassenen Schriften Nietzsches ist Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne (1873). An ihr lässt sich einerseits Nietzsches frühe Sprachkonzeption aufzeigen, andererseits kann sie als Beispiel für eine vergleichsweise stringente Argumentation dienen. Nietzsche argumentiert folgendermaßen: Der Intellekt ist ein Mittel zur Erhaltung des Menschen und nicht, wie nach der Auffassung, gegen die sich Nietzsche (bzw. die Sprechinstanz des Textes)5 positioniert, ein Mittel zum Auffinden der Wahrheit. Die Wahrheit wird vielmehr durch die Gesetze der Sprache determiniert, welche, so Nietzsche, rein auf Konvention beruhen. Die Lüge lässt sich folglich als eine ‚falsche‘ Verwendung von Begriffen definieren und entspricht also einem Bruch mit der Konvention. Ferner widerspricht Nietzsche entschieden einer Abbildtheorie von Sprache: Sie bezeichne lediglich die Relationen des Menschen zu den Dingen, ohne über die Dinge selbst etwas auszusagen. Sprache ist demnach also konventionell und dient lediglich der Bezeichnung von Relationen. In dieser frühen Schrift geht Nietzsche allerdings noch von einer Art Urerlebnis aus, einer erstmaligen Verwendung eines Begriffs in Bezug auf ein Ding. Diese Bezeichnung führe dann jedoch zwingend zu einer Kette von aufeinander verweisenden Metaphern, sodass letztlich kein Bezug zum Urerlebnis mehr hergestellt werden könne. „Was ist also Wahrheit?“, fragt Nietzsche schließlich und antwortet mit dem vielzitierten Passus: „Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen […]: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind […]“.6 Diese Argumentation ist nicht zuletzt die Grundlage für die Abschaffung der ‚wahren Welt‘ zugunsten der ‚scheinbaren Welt‘, wie sie bis in Nietzsches Spätwerk hinein immer wieder zu

5 Strenggenommen muss selbstverständlich zwischen Autor und Sprechinstanz unterschieden werden. Wenn ein Text jedoch nur über eine Sprechinstanz verfügt, werde ich der Einfachheit halber von Nietzsche sprechen. In den nachgelassenen Fragmenten kann man in vielen Fällen sicherlich von einer Deckungsgleichheit ausgehen, was meines Erachtens für das publizierte Werk in keinem Fall gilt. 6 WL 1, KSA 1, 880, 30–881, 3.

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finden ist.7 All dies formuliert er in einer vergleichsweise stringenten Argumentation. Im Lotman’schen Sinne handelt es sich demnach um eine ‚wissenschaftliche‘ Abhandlung: Das semantische Feld der ‚moralischen‘ Auffassung von Wahrheit wird durch eine ‚außermoralische‘ ersetzt.8 Im mittleren und späten Werk lässt sich eine Weiterentwicklung hin zu einer Semiotik erkennen, wie vor allem Werner Stegmaier ausführt.9 Vergleichsweise unscharfe und dunkle Begriffe wie ‚Bild‘, ‚Metapher‘ und ‚Symbol‘ werden zunehmend durch eine neutralere Zeichenkonzeption ersetzt. Die Entwicklung von Nietzsches Semiotik findet zum größten Teil in den nachgelassenen Schriften statt. So heißt es beispielsweise in einem Fragment von 1885: Unsere Logik, unser Zeitsinn, Raumsinn sind ungeheure Abbreviatur-Fähigkeiten, zum Zwecke des Befehlens. Ein Begriff ist eine Erfindung, der nichts ganz entspricht; aber Vieles ein wenig: ein solcher Satz „2 Dinge, einem dritten gleich, sind sich selber gleich“ setzt 1) Dinge 2) Gleichheiten voraus: beides giebt es nicht. Aber mit dieser erfundenen starren Begriffs- und Zahlenwelt gewinnt der Mensch ein Mittel, sich ungeheurer Mengen von

7 Vgl. beispielsweise JGB 34, KSA 5, 53, 22–54, 11, wo die ‚Sprachkrise‘ bereits ins Positive gewendet ist: „Es ist nicht mehr als ein moralisches Vorurtheil, dass Wahrheit mehr werth ist als Schein; es ist sogar die schlechtest bewiesene Annahme, die es in der Welt giebt. Man gestehe sich doch so viel ein: es bestünde gar kein Leben, wenn nicht auf dem Grunde perspektivischer Schätzungen und Scheinbarkeiten; und wollte man, mit der tugendhaften Begeisterung und Tölpelei mancher Philosophen, die ‚scheinbare Welt‘ ganz abschaffen, nun, gesetzt, ihr könntet das, – so bliebe mindestens dabei auch von eurer ‚Wahrheit‘ nichts mehr übrig! Ja, was zwingt uns überhaupt zur Annahme, dass es einen wesenhaften Gegensatz von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ giebt? Genügt es nicht, Stufen der Scheinbarkeit anzunehmen und gleichsam hellere und dunklere Schatten und Gesammttöne des Scheins, – verschiedene valeurs, um die Sprache der Maler zu reden? Warum dürfte die Welt, d i e u n s e t w a s a n g e h t –, nicht eine Fiktion sein? Und wer da fragt: ‚aber zur Fiktion gehört ein Urheber?‘ – dürfte dem nicht rund geantwortet werden: W a r u m ? Gehört dieses ‚Gehört‘ nicht vielleicht mit zur Fiktion? Ist es denn nicht erlaubt, gegen Subjekt, wie gegen Prädikat und Objekt, nachgerade ein Wenig ironisch zu sein? Dürfte sich der Philosoph nicht über die Gläubigkeit an die Grammatik erheben? Alle Achtung vor den Gouvernanten: aber wäre es nicht an der Zeit, dass die Philosophie dem Gouvernanten-Glauben absagte? –“ 8 Selbstverständlich ist das weder eindeutig noch trennscharf, sondern muss in Rücksicht auf oben genannte Einschränkungen verstanden werden. Allein terminologisch bleibt ‚außermoralisch‘ immer auf ‚moralisch‘ bezogen, schafft also niemals ein klares Ersetzen des einen durch das andere. Die terminologische Unschärfe ist ja ein Phänomen, das sich durch beinahe alle Schriften Nietzsches zieht – und ein Grund mehr, weswegen ihm Widersprüchlichkeit vorgeworfen wird. Dies alleine wäre eine Untersuchung im Hinblick der Textstrategie wert. Nichtsdestotrotz lässt sich die hier angeführte Argumentation aus Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne von anderen Texten Nietzsches, beispielsweise den Dionysos-Dithyramben, abgrenzen. 9 Stegmaier, Werner, Nietzsches Zeichen, in: Nietzsche-Studien, Jg. 29, Berlin / New York 2000, S. 41–69.

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Thatsachen wie mit Zeichen zu bemächtigen und seinem Gedächtnisse einzuschreiben. Dieser Zeichen-Apparat ist seine Überlegenheit, gerade dadurch, daß er sich von der EinzelThatsache möglichst weit entfernt. Die Reduktion der Erfahrungen auf Z e i c h e n , und die immer größere Menge von Dingen, welche also gefaßt werden kann: ist seine h ö c h s t e K r a f t . „Geistigkeit“ als Vermögen, über eine ungeheure Menge von Thatsachen in Zeichen Herr zu sein.10

Hier findet sich eine positive Wendung der vormaligen Sprachkritik: Nicht nur ist es für Nietzsche eine Tatsache, dass der Mensch immer schon in einer Zeichenwelt lebt; genau dies ist es, was ihm einen evolutionären Vorteil schafft. Die – immer schon interpretierte – „Begriffs- und Zahlenwelt“, in der der Mensch lebt,11 erlaube es ihm, „sich ungeheurer Mengen von Thatsachen wie mit Zeichen zu bemächtigen“, was seine „Überlegenheit“ ausmache. Damit wird, so Stegmaier, sowohl die alltägliche Orientierung als auch alle Wissenschaft zu einer „ZeichenKunst“.12 Innerhalb der denkerischen Entwicklung Nietzsches, so Stegmaier weiter, wird dabei die Relation von Zeichen zu Zeichen immer wichtiger, die Bedeutung der Relation von Zeichen zu Dingen tritt immer stärker in den Hintergrund. Zeichen sind für Nietzsche also keine Mittel der Repräsentation, sondern solche der Kommunikation. Neben der Frage nach der Funktion von Zeichen spielt in Nietzsches Kommunikationstheorie auch das Problem der Interpretation eine zentrale Rolle. Dies lässt sich anhand einer Textstelle demonstrieren, die gleichzeitig ein erstes Beispiel für Nietzsches Anwendung einer Textstrategie darstellt. Zugleich kann damit das Verhältnis von nachgelassenem Text zu veröffentlichtem Werk zumindest tendenziell aufgezeigt werden. In einem Fragment, das zwischen dem Herbst 1885 und dem Frühjahr 1886 entstand, findet sich folgende Ausführung zum Problem des Verstandenwerdens: Es ist schwer verstanden zu werden. Schon für den guten Willen zu einiger F e i n h e i t der Interpretation soll man von Herzen dankbar sein: an guten Tagen verlangt man gar nicht mehr. Man soll seinen Freunden einen reichlichen Spielraum zum Mißverständniß zugestehen. Es dünkt mich besser mißverstanden als unverstanden zu werden: es ist etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden.13

Dieses Fragment liegt dem Textabschnitt 27 aus Jenseits von Gut und Böse zugrunde:

10 NL 1885, 34[131], KSA 11, 464, 8–22. 11 In FW 301, KSA 3, 540, 28 f. ist die Rede von der „Welt, d i e d e n M e n s c h e n E t w a s a n g e h t “. 12 Stegmaier, Nietzsches Zeichen, S. 63. 13 NL 1885/86, I[182], KSA 12, 50, 22–51, 6.  

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Es ist schwer, verstanden zu werden: besonders wenn man gangasrotogati denkt und lebt, unter lauter Menschen, welche anders denken und leben, nämlich kurmagati oder besten Falles „nach der Gangart des Frosches“ mandeikagati – ich thue eben Alles, um selbst schwer verstanden zu werden? – und man soll schon für den guten Willen zu einiger Feinheit der Interpretation von Herzen erkenntlich sein. Was aber „die guten Freunde“ anbetrifft, welche immer zu bequem sind und gerade als Freunde ein Recht auf Bequemlichkeit zu haben glauben: so thut man gut, ihnen von vornherein einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses zuzugestehn: – so hat man noch zu lachen; – oder sie ganz abzuschaffen, diese guten Freunde, – und auch zu lachen!14

An diesen beiden Textstellen lassen sich einerseits die Konsequenzen aus Nietzsches Zeichentheorie für das Verstehen aufzeigen, also, allgemeiner gefasst, für den Vorgang der Interpretation. Andererseits wird deutlich, was mit dem eingangs genannten ,literarischen‘ Schreiben gemeint ist, da sich im veröffentlichten Text der Grad an Literarizität nochmals deutlich erhöht, was zu einer Zunahme bedeutungstragender Elemente und einer Erschwerung der Disambiguierung führt.15 Im nachgelassenen Text wird zwischen dem Verstandenwerden, dem Unverstandenbleiben und dem Missverstandenwerden unterschieden. Unverstanden zu bleiben kommt einem völligen Scheitern der Kommunikation gleich, weshalb Nietzsche das Missverstehen vorzieht. Erklärungsbedürftig ist jedoch zunächst die Empfindung, es liege „etwas Beleidigendes darin, verstanden zu werden.“ Mit Blick auf die zuvor zitierte Textstelle, die die Zeichenbeherrschung als evolutionären Vorteil darstellt, wird dies jedoch plausibel: Die „Überlegenheit“ des „Zeichen-Apparat[s]“ beruht gerade darauf, „daß er sich von der Einzel-Thatsache möglichst weit entfernt.“ Auch wenn sich verschiedene „Einzel-Thatsache[n]“ ähneln, auf die immer das gleiche Zeichen angewendet wird, sind sie niemals gleich, sondern, streng genommen, verschieden. Dies trifft nun auch auf die individuellen Gedanken, Gefühle, Erlebnisse und Handlungen zu, die jeder einzelne Mensch hat. Wenn nun jemand glaubt, jemand anderen verstanden zu haben, macht er diesen mit sich selbst gleich. Die Zeichenvermittlung wird mit einem eigenen Erlebnis, einer eigenen Erfahrung oder Vorstellung in Verbindung gebracht und damit in den eigenen Erfahrungshorizont eingepasst. Hierin liegt für Nietzsche das Beleidigende des Verstandenwerdens: Er wird auf die Position des Interpreten reduziert, obwohl er sich für sehr viel reichhaltiger, für anders und einzigartig hält.

14 JGB 27, KSA 5, 45, 25–46, 5. 15 Vgl. zu den beiden zitierten Textstellen auch Stegmaier, Nietzsches Zeichen, S. 42 f.  

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Der Normalfall in der Kommunikation ist es also, missverstanden zu werden, was auch die Abänderung der Textstelle im veröffentlichten Werk erklärt. Verstandenwerden unterscheidet sich vom Missverstandenwerden nur dadurch, dass es von einer als beleidigend empfundenen Einstellung auf Seiten des Interpreten begleitet wird. An dieser Stelle wird Nietzsches radikaler Individualismus deutlich, mit dem die Wahl seiner Textstrategie in engem Zusammenhang steht. Es ist nicht möglich, einen konkreten Sachverhalt, eine „Einzel-Thatsache“ zu vermitteln. Trotzdem gelingt es der Kommunikation, etwas im Rezipienten auszulösen. Nietzsches Schreibweise lässt sich ausgehend von dieser Auffassung plausibilisieren. Die Widersprüchlichkeit der Argumentation, das permanente Aufstellen und Zurücknehmen von Behauptungen und die Polemik erscheinen im Lichte seiner Semiotik absolut konsequent. Ziel ist es, den Glauben des Interpreten, er habe Nietzsches Position ‚verstanden‘, permanent zu erschüttern. Das entspricht dem Bemühen darum, der Beleidigung zu entgehen, die im Verstandenwerden liege. Es geht darum, „einen reichlichen Spielraum zum Mißverständnisse“ zu schaffen und ihn dem Interpreten bewusst werden zu lassen. Letztlich wird im veröffentlichten Textabschnitt aus Jenseits von Gut und Böse der Grad der Ambiguität im Vergleich zum nachgelassenen Fragment, das seinerseits schon keineswegs eindeutig und klar ist, nochmals erhöht. Begriffe wie „gangasrotogati“ oder „kurmagati“ werden den wenigsten Lesern bekannt sein; entsprechend wird durch ihre Verwendung ein Verstehen erschwert. Die „Freunde“ werden hier, anders als im Nachlassfragment, in Anführungszeichen gesetzt, so dass nicht klar ist, ob es sich überhaupt um wirkliche Freunde handelt. Vor allem der Schluss, das Lachen sowohl über das Missverständnis der Freunde als auch über das Abschaffen derselben, ist kaum zu verstehen. Der Textabschnitt selbst führt also performativ vor, was er auch inhaltlich behandelt: „einen Spielraum und Tummelplatz des Missverständnisses zuzugestehn.“ In diesem Sinne handelt es sich um die gezielte Anwendung strategischer Maßnahmen, die den veröffentlichten Abschnitt vom Nachlass unterscheidet, dem der performative Aspekt abgeht. Darüber hinaus wird ein weiterer Aspekt von Nietzsches Semiotik deutlich: Auch der Akt der Interpretation selbst fungiert als Zeichen. Die interpretatorische Leistung ist ein Gradmesser für die „Feinheit der Interpretation.“ Die erhöhte Literarizität, im oben genannten Sinne einer Pluralisierung bedeutungsrelevanter Merkmale, erzwingt eine gewisse interpretatorische Arbeit, die einerseits dazu dient, die Beleidung durch das Verstandenwerden abzuwehren, andererseits die Chance eröffnet, sich durch den Akt der Interpretation zu profilieren. Insgesamt lässt sich festhalten, dass die Semiotik, die Nietzsches Sprach- und Kommunikationstheorie zugrunde liegt, im Nachlass eine vergleichsweise elaborierte Ausarbeitung erfährt, während sie in den veröffentlichten Schriften eher am

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Rande Erwähnung findet.16 Die Ausarbeitung im Nachlass lässt sich tendenziell der ‚wissenschaftlichen‘ Schreibweise zuordnen, während die veröffentlichten Werke die Grundeinsichten anwenden und durch den Zwang zur Disambiguierung performativ vorführen. Um dies zu erreichen, setzt Nietzsche verschiedene Techniken ein, die man analog zum Begriff der Textstrategie als Texttaktiken bezeichnen könnte. Exemplarisch sollen im Folgenden zwei davon näher untersucht werden: zum einen die Polyperspektivität mit dem Sonderfall der Dialogizität, zum anderen der Einsatz performativer Widersprüche.

3 Polyperspektivität und Dialogizität Die Verwendung von Dialogen als philosophische Textgattung ist sicherlich nicht Nietzsches Erfindung. Dialoge stellen bei ihm eines von zahlreichen Mitteln dar, verschiedene Perspektiven miteinander zu kontrastieren. In Textabschnitten, die in Dialogform gehalten sind, wird die Polyperspektivität lediglich deutlicher – was schon für sich genommen als signifikant zu werten ist. Insgesamt werden bei Nietzsche verschiedene Positionen häufig miteinander konfrontiert, ohne dass eine davon klar bevorzugt wird. Wenn dies auch nicht immer innerhalb eines einzelnen Textabschnittes geschieht, so doch im größeren Werkzusammenhang. Besonders in den mittleren und späteren Werken wird es zunehmend schwerer, eine klare Position Nietzsches auszumachen. Drastisch zeigt sich dies in der Götzen-Dämmerung, wo die radikale Verknappung eine zusätzliche interpretatorische Hürde darstellt. Eben diese Verknappung ist es auch, die viele Textstellen auszeichnet, die explizit als Dialog angelegt sind. Exemplarisch sollen einige kurze Dialoge aus der Fröhlichen Wissenschaft angeführt werden. Das Zwiegespräch, der Text Nummer vier aus dem Vorspiel „Scherz, List und Rache.“, ist beispielhaft für die Verwendung der Dialogform in der Fröhlichen Wissenschaft: „A. War ich krank? Bin ich genesen? / Und wer ist mein Arzt gewesen? / Wie vergass ich alles Das! / B. Jetzt erst glaub ich dich genesen: / Denn gesund ist, wer vergass.“17 Die beiden Sprecher, A und B, führen ein Gespräch, das aus Rede und Gegenrede besteht. Dabei wird von A sowohl ein Konzept, Gesundheit, als auch eine Handlung, das Vergessen, vorgeführt. Anschließend werden von B das Konzept und die Handlung miteinander in Verbindung gebracht: Das Vergessen ist aus seiner Perspektive die notwendige Voraussetzung

16 Für eine detaillierte Gegenüberstellung siehe Stegmaier, Nietzsches Zeichen, S. 52–64. 17 FW Vorspiel 4, KSA 3, 354.

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und damit ein Indikator für die Gesundheit. Letztlich handelt es sich um eine Explikation des vorher Gesagten, um einen Akt der Interpretation. Während im Zwiegespräch ein Akt der Disambiguierung vorgeführt wird, kann ein Dialog auch das genaue Gegenteil, nämlich eine Komplexitätssteigerung bewirken. In beiden Fällen finden sich als häufigste Formen, zumindest in der Fröhlichen Wissenschaft, der Frage-Antwort-Wechsel und die Bekräftigung einer Behauptung durch Verdoppelung. So wird die Frage, die der Titel von FW 93 stellt: „A b e r w a r u m s c h r e i b s t d e n n d u ?“ explizit von A beantwortet: „Warum ich will? Will ich denn? Ich muss.“18 Darüber hinaus wird dort der Akt des Schreibens reflektiert und zwischen „[d]enen, welche mit der nassen Feder in der Hand d e n k e n “19, „[j]enen, die sich gar vor dem Tintenfasse ihren Leidenschaften überlassen“,20 und denjenigen, für die, wie für den Sprecher A, das Schreiben einer „Nothdurft“21 gleichkommt, unterschieden. Hier ist man leicht geneigt, Nietzsche mit A zu identifizieren. Fraglich bleibt, ob das zu Recht geschieht. Eine Bekräftigung durch Verdoppelung und zugleich einen weiteren Aspekt im Themenbereich der Beleidigung gibt der kurze Abschnitt FW 190: „G e g e n d i e L o b e n d e n . – A.: ‚Man wird nur von Seinesgleichen gelobt!‘ B.: ‚Ja! Und wer dich lobt, sagt zu dir: du bist Meinesgleichen!‘“22 Hier wird auf den ersten Blick lediglich bestätigt, dass a = b gleichzeitig b = a bedeute (‚wird von mir gelobt‘ = ‚ist meinesgleichen‘). Aber es wird, wie so häufig bei Nietzsche, auch auf den performativen Aspekt der Rede abgezielt. Völlig unabhängig vom Inhalt des Lobes stellt der Akt des Lobens eine Beziehung zwischen Lobendem und Gelobten her, die beide als gleichwertig ausweist. Das kann durchaus, wie das Verstandenwerden, als beleidigend empfunden werden. Im Gegensatz dazu lässt einen FW 255, „N a c h a h m e r “, zunächst ratlos zurück: „A.: ‚Wie? Du willst keine Nachahmer?‘ B.: ‚Ich will nicht, dass man mir Etwas nachmache, ich will, dass Jeder sich etwas vormache: Das Selbe, was i c h tue.‘ A.: ‚Also –?‘“23 Auch hier ist man wieder geneigt, einen der Sprecher, diesmal B, mit Nietzsche zu identifizieren. Der Textabschnitt gewinnt seinen Witz und seine Problematik durch die Gegenüberstellung von ‚nachmachen‘, das im Sinne von ‚nachahmen‘ gebraucht wird, und ‚sich etwas vormachen‘, welches im allgemeinen Sprachgebrauch im Sinne von ‚sich belügen‘ oder ‚sich etwas einbilden‘ verwendet wird. Dies könnte aber, z. B. im Rückgriff auf das Gedicht V a d e m e c u m – V a d e t e c u m aus „Scherz, List und

18 19 20 21 22 23

FW 93, KSA 3, 448, 31 f. FW 93, KSA 3, 448, 22 f. FW 93, KSA 3, 448, 23 f. FW 93, KSA 3, 448, 26 f. FW 190, KSA 3, 504, 5–7. FW 255, KSA 3, 516, 23–26.  







Textstrategie und Performativität

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Rache.“,24 auch einfach als Negation des ‚Nachmachens‘ gemeint sein. Aufgelöst wird die Bedeutung der Rede von A nicht, sondern sie endet mit dem offenen „Also –?“ des zweiten Sprechers. Darüber hinaus entsteht durch die Aufforderung von B eine paradoxe Situation: Wenn jemand der Aufforderung folgt und sich etwas vormacht, macht er es zugleich auch dem Sprecher B nach. In jedem Fall ist dieser Abschnitt ambig. Die einfache Übernahme irgendeiner Position ist nicht möglich. Ein anderes Beispiel für Polyperspektivität sind die vier Gewissensfragen aus den Sprüchen und Pfeilen der Götzen-Dämmerung. Während auch in den kurzen Dialogen die Sprecher nicht genau bezeichnet sind, sondern lediglich mit A und B verdeutlicht wird, dass es sich um verschiedene Sprecher handelt, bleibt bei den Gewissensfragen unklar, wer Sprecher und wer Adressat ist. Letztlich könnte es sich auch um eine Selbstbefragung nach Art des Katechismus handeln. 37. Du läufst v o r a n ? – Thust du das als Hirt? oder als Ausnahme? Ein dritter Fall wäre der Entlaufene… E r s t e Gewissensfrage. 38. Bist du echt? oder nur ein Schauspieler? Ein Vertreter? oder das Vertretene selbst? – Zuletzt bist du gar bloss ein nachgemachter Schauspieler… Z w e i t e Gewissensfrage. 40. Bist du Einer, der zusieht? oder der Hand anlegt? – oder der wegsieht, bei Seite geht?… D r i t t e Gewissensfrage. 41. Willst du mitgehn? oder vorangehn? oder für dich gehn?… Man muss wissen, w a s man will und d a s s man will. V i e r t e Gewissensfrage.25

Die Gewissensfragen eröffnen ein ganzes Panorama an möglichen Positionen, die der Befragte einnehmen könnte: „Hirt“, „Ausnahme“, „Entlaufene[r]“; ‚Echter‘, „Schauspieler“, „Vertreter“ oder das „Vertretene“; ‚Zusehender‘, ‚Handelnder‘ oder ‚Wegsehender‘; ‚Mitläufer‘, ‚Führer‘ oder ‚Einzelgänger‘. Zumindest in der unmittelbaren Textumgebung finden sich keine klaren Hinweise darauf, wie die Fragen richtig beantwortet werden können – oder ob dies überhaupt möglich ist.

24 FW Vorspiel 7, KSA 3, 354: „Es lockt dich meine Art und Sprach, / Du folgest mir, du gehst mir nach? / Geh nur dir selber treulich nach: – / So folgst du mir – gemach! gemach!“ Dieser Abschnitt kann insgesamt als Lektüreanleitung Nietzsches aufgefasst werden. Die Schriften sollen zum Selberdenken ermuntern bzw. dies erzwingen, was (auch) eine direkte Konsequenz aus der Problematik des Verstandenwerdens darstellt. 25 GD Sprüche und Pfeile 37–41, KSA 6, 65, 8–66, 2.

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Beschränkt man sich auf das veröffentlichte Werk, müssen die Antworten aus den Schriften Nietzsches erschlossen werden. Es wird auch hier also keine Position Nietzsches angeboten, die man übernehmen könnte, sondern es erfolgt die implizite Aufforderung zur Selbstpositionierung. Die Gewissensfragen sind ein weiteres Beispiel für das Verhältnis zwischen veröffentlichtem Werk und nachgelassenen Schriften. Letztere werfen zwar die gleichen Fragen auf, geben aber zugleich viel deutlichere Antwortmöglichkeiten vor: Gesichtspunkte für m e i n e Werthe: ob aus der Fülle oder aus dem Verlangen… ob man zusieht oder Hand anlegt… oder wegsieht, bei Seite geht… ob auch die aufgestaute Kraft „spontan“ oder bloß r e a k t i v angeregt, angereizt, ob e i n f a c h aus Wenigkeit der Elemente o d e r aus überwältigender Herrschaft über viele, so daß sie dieselben in Dienste nimmt, wenn sie sie braucht… ob man P r o b l e m oder Lösung ist… ob v o l l k o m m e n bei der Kleinheit der Aufgabe oder u n v o l l k o m m e n bei dem Außerordentlichen eines Ziels… ob man ä c h t oder nur S c h a u s p i e l e r , ob man als Schauspieler ächt oder nur ein nachgemachter Schauspieler, ob man „Vertreter“ oder das Vertretene selbst ist – ob „Person“ oder bloß ein Rendezvous von Personen… ob k r a n k aus Krankheit oder aus ü b e r s c h ü s s i g e r G e s u n d h e i t … ob man vorangeht als Hirt oder als „Ausnahme“ (dritte Species: als Entlaufener)… ob man W ü r d e nöthig hat – oder „den Hanswurst“? – ob man den Widerstand sucht oder ihm aus dem Wege geht? ob man unvollkommen ist als „zu früh“ oder als „zu spät“… ob man von Natur Ja sagt oder Nein sagt oder ein Pfauenwedel von bunten Dingen ist? ob man stolz genug ist, um sich auch seiner Eitelkeit nicht zu schämen? ob man eines Gewissensbisses noch fähig ist (die species wird seltener: früher hatte das Gewissen zu viel zu beißen: es scheint, jetzt hat es nicht mehr Zähne genug dazu)? ob man einer „Pflicht“ noch fähig ist? (– es giebt solche, die sich den Rest Lebenslust rauben würden, wenn sie sich „die Pflicht“ r a u b e n ließen… sonderlich die Weiberchen, die Unterthänig-Geborenen…)26

Auffällig beim Nachlassfragment ist zunächst die Länge im Vergleich zur extrem verknappten Form der Gewissensfragen. Wenn auch dieser Text sicherlich nicht einfach und eindeutig ausgelegt werden kann, erleichtert die Form das Verständnis deutlich. Darüber hinaus macht Nietzsche klar, dass es sich um „Gesichtspunkte für [s]e i n e Werthe“ handelt, die Zuordnung der Wertigkeit wird also klar, was ebenfalls in der veröffentlichten Version nicht der Fall ist. Schließlich scheint es durch die Reduktion auf Zweiergruppen (Fülle vs. Verlangen; Zusehen oder Hand anlegen vs. Wegsehen; Krankheit vs. überschüssige Gesundheit; zu früh vs. zu spät) leichter zu sein, diejenige Variante zu finden, die Nietzsche positiv bewertet. Fast alle Themenpunkte werden wiederholt in seinem Werk angesprochen. Die Gewissensfragen erschweren eine Deutung gegenüber dem nachgelassenen Text

26 NL 1887, 10[145], KSA 12, 537 f.  

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deutlich, was als textstrategisch bedingte Umformulierung verstanden werden kann. Die exemplarisch angeführten Textstellen sind lediglich besonders markante Beispiele für polyperspektivisches Schreiben. Die verschiedenen Positionen laden bei der Interpretation mindestens dazu ein, sich mit verschiedenen Ansichten auseinanderzusetzen; teilweise erzwingen sie dies sogar. Was auf der Mikroebene sofort deutlich wird, gilt jedoch – im publizierten Werk – auch für die Makrostruktur. Betrachtet man die publizierten Werke je als kompositorisches Ganzes, dann werden auch solche Abschnitte, die stringent und in sich schlüssig scheinen, durch ihren Kontext wieder relativiert: So ziemlich jeder thematisierte Aspekt wird an späterer Stelle wieder aufgegriffen und in ein neues Licht gestellt. Diese Analogie von Mikro- zu Makrostruktur lässt sich auch bei der gezielten Verwendung von Widersprüchen aufzeigen.

4 Performativer Selbstwiderspruch Der Einsatz des performativen Selbstwiderspruches innerhalb eines Textabschnittes lässt sich sehr gut am Beispiel von FW 84 (Vom Ursprunge der Poesie) aus der Fröhlichen Wissenschaft darstellen.27 In diesem Textabschnitt findet sich eine klare, auf den ersten Blick völlig stringente Argumentation, die sich auf stichhaltige Annahmen zu stützen scheint. Gegen Ende hin wird diese Argumentation jedoch vollständig unterminiert. Das Besondere ist hier, dass die Unterminierung direkt im gleichen Textabschnitt erfolgt, was sonst oft erst im größeren Werkzusammenhang geschieht. Darüber hinaus werden auch hier verschiedene Perspektiven aufgeboten. In einem ersten Schritt wird die Position einer Gruppe von Personen geschildert, die als „Liebhaber des Phantastischen am Menschen“ bzw. als Vertreter der „Lehre von der instinctiven Moralität“28 bezeichnet wird. Anschließend wird auf diese Position Bezug genommen. Die Poesie sei nichts Nützliches oder Zweckmäßiges, behaupteten die „Liebhaber“, da vor allem die Rhythmisierung der Verständlichkeit entgegenwirke. Ihre Existenz wird als Argument gegen eine zweite Position in Stellung gebracht, die grundsätzlich vom Nutzen als Entstehungsgrund ausgeht: „Die wildschöne Unvernünftigkeit der Poesie widerlegt euch, ihr Utilitarier! Gerade vom Nutzen einmal l o s k o m m e n wollen – das hat

27 FW 84, KSA 3, 439–442. 28 FW 84, KSA 3, 439, 25–27.

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den Menschen erhoben, das hat ihn zur Moralität und Kunst inspiriert!“29 Das Sprecher-Ich stellt sich nun aber auf die Seite der „Utilitarier“, obwohl deren Position grundsätzlich auch in Zweifel gezogen wird (die Utilitarier „haben ja so selten Recht, dass es zum Erbarmen ist!“).30 Um die utilitaristische Position zu bekräftigen, wird nun auf die Position einer dritten Gruppe, ein nicht näher bestimmtes „man“, rekurriert („Man hatte in jenen alten Zeiten, welche die Poesie in’s Dasein riefen […]“31). Es wird also die Nützlichkeit bei der Entstehung der Poesie zugegeben. In einem nächsten Schritt wird diese aber sogleich wieder eingeschränkt: Es handelt sich nämlich, dem Sprecher-Ich zufolge, um eine „a b e r g l ä u b i s c h e N ü t z l i c h k e i t .“32 Es sollte vermöge des Rhythmus den Göttern ein menschliches Anliegen tiefer eingeprägt werden, nachdem man bemerkt hatte, dass der Mensch einen Vers besser im Gedächtniss behält, als eine ungebundene Rede; ebenfalls meinte man durch das rhythmische Tiktak über grössere Fernen hin sich hörbar zu machen; das rhythmisirte Gebet schien den Göttern näher an’s Ohr zu kommen. Vor Allem aber wollte man den Nutzen von jener elementaren Ueberwältigung haben, welche der Mensch an sich beim Hören der Musik erfährt: der Rhythmus ist ein Zwang; er erzeugt eine unüberwindliche Lust, nachzugeben, mit einzustimmen; nicht nur der Schritt der Füsse, auch die Seele selber geht dem Tacte nach, – wahrscheinlich, so schloss man, auch die Seele der Götter! Man versuchte sie also durch den Rhythmus zu z w i n g e n und eine Gewalt über sie auszuüben: man warf ihnen die Poesie wie eine magische Schlinge um.33

Im Grunde wird an dieser Textstelle nicht lediglich die „a b e r g l ä u b i s c h e “ Nützlichkeit behauptet, sondern zugleich auch die tatsächliche Nützlichkeit. Lediglich der Schluss vom Menschen auf die Götter fällt in den Bereich des Aberglaubens. Der Mensch könne sich rhythmisierte Reden besser merken als ungebundene, und sie seien über größere Entfernungen hin hörbar; also habe man geglaubt, auf diesem Wege die Götter besser und wirksamer zu erreichen. Der Rhythmus, als Eigenheit des Musikalischen, erzeuge eine Lust einzustimmen und nachzugeben; daher rührte der Glaube, auf diesem Wege Zwang auf die Götter ausüben zu können. Als letzter und vermeintlich wichtigster Punkt in Bezug auf die Nützlichkeit wird noch der Glaube der Pythagoreer angeführt, Poesie lasse sich als Mittel der Erziehung einsetzen, insbesondere als Mittel zur Affektentladung. Dies sei aber ein Wissen, das man schon lange vor den Philosophen besessen habe; exem-

29 30 31 32 33

FW 84, KSA 3, 440, 1–5. FW 84, KSA 3, 440, 6 f. FW 84, KSA 3, 440, 7 f. FW 84, KSA 3, 440, 13. FW 84, KSA 3, 440, 13–29.  



Textstrategie und Performativität

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plarisch angeführt werden Terpander, Empedokles und Damon, deren Namen damit das bisher unbestimmt gebliebene „man“ konkretisieren. Folgerichtig wird die Entstehung orgiastischer Kulte durch die Übertragung der Affektentladung auf die Götter erklärt: Sie sollten ihren Rachedurst gezielt ausleben und sich damit zugleich seiner entledigen. Der Glaube an den Zwang, den die rhythmisierte Rede ausübe, wird schließlich noch herangezogen, um die Bedeutung von Orakelsprüchen und das Singen beim Verrichten von Arbeiten zu erklären. Dann wird das Verständnis der „a b e r g l ä u b i s c h e [n] N ü t z l i c h k e i t “ abschließend noch einmal zusammengefasst: Im Ganzen gesehen und gefragt: gab es für die alte abergläubische Art des Menschen überhaupt etwas N ü t z l i c h e r e s , als den Rhythmus? Mit ihm konnte man Alles: eine Arbeit magisch fördern; einen Gott nöthigen, zu erscheinen, nahe zu sein, zuzuhören; die Zukunft sich nach seinem Willen zurecht machen; die eigene Seele von irgend einem Uebermaasse (der Angst, der Manie, des Mitleids, der Rachsucht) entladen, und nicht nur die eigene Seele, sondern die des bösesten Dämons, – ohne den Vers war man Nichts, durch den Vers wurde man beinahe ein Gott.34

Freilich bleibt hier völlig unerwähnt, was vorher eigentlich sehr stringent gezeigt wurde: nämlich dass der Aberglaube auf völlig richtigen, in Bezug auf den Menschen tatsächlich nützlichen Eigenschaften der Poesie beruhe. Der abschließende Teil des Textes vollzieht den Brückenschlag zu Nietzsches Zeit und stellt wiederum die Gültigkeit der eigenen Argumentation in Frage. Der Aberglaube, d. h. der Glaube daran, ein Gedanke würde wahrer empfunden, „wenn er eine metrische Form hat und mit einem göttlichen Hopsasa daher kommt“,35 habe sich trotz systematischer Bekämpfung bis ins späte 19. Jahrhundert erhalten. Als Beleg dafür wird die „sehr lustige Sache“36 angeführt, dass auch in dieser Zeit noch Philosophen Dichtersprüche heranziehen, um ihren Aussagen Glaubwürdigkeit zu verleihen. Der Text endet wie folgt: „[U]nd doch ist es für eine Wahrheit gefährlicher, wenn der Dichter ihr zustimmt, als wenn er ihr widerspricht! Denn wie Homer sagt: ‚Viel ja lügen die Sänger!‘ –“37 Der Textabschnitt schließt also mit einem bedeutungsschweren Gedankenstrich. Unmittelbar zuvor wird die „sehr lustige Sache“, die Philosophen-Gewohnheit, Dichtersprüche zu zitieren, mit dem Hinweis diskreditiert, dass Dichter sich recht wenig um die Wahrheit scheren, es also einer Argumentation eher schadet als nützt, wenn man einen Dichterspruch heranzieht. Dies geschieht dann natürlich in  

34 35 36 37

FW 84, KSA 3, 442, 2–11. FW 84, KSA 3, 442, 17 f. FW 84, KSA 3, 442, 18. FW 84, KSA 3, 442, 22–24.  

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Form eines – auch noch falschen! – Homer-Zitates, wodurch der Text schließlich in einen performativen Widerspruch mündet.38 Durch dieses Beispiel wird nochmals deutlich, wie wichtig bei (Nietzsche-) Texten die Unterscheidung ist zwischen dem, was ein Text sagt und dem, was er zugleich tut. Bei genauerem Hinsehen ist nämlich nicht nur der Schluss von FW 84 ein gezieltes Mittel, die Stringenz der Argumentation zu unterminieren. Auch der Utilitarismus, auf dessen Seite das Sprecher-Ich scheinbar steht, wird letztlich diskreditiert. Durch die Einführung verschiedener Formen des Nutzens wird das Nützlichkeitsdenken als solches angegriffen. Es handelt sich um eine „a b e r g l ä u b i s c h e N ü t z l i c h k e i t“, mit der in diesem Text die utilitaristische Position verteidigt wird. Letztlich ist es nur der Glaube an eine Nützlichkeit, der das Verhalten der Menschen früher wie heute bestimmt. Hier wird gewissermaßen das Prinzip von FW 191 in die Tat umgesetzt: „Die perfideste Art, einer Sache zu schaden, ist, sie absichtlich mit fehlerhaften Gründen zu vertheidigen.“39 Zugleich bleibt der Angriff auf die zuerst genannte Gruppe, die „Liebhaber des Phantastischen am Menschen“, bestehen. Durch das Zitat über die lügenden Dichter positioniert sich das Sprecher-Ich letztlich zwischen „ernstestem Philosophen“ und „Dichter“: Es wird die Praxis ernsthafter Philosophen übernommen, die eigenen Behauptungen durch Dichtersprüche zu bekräftigen. Zugleich macht sich der Sprecher über diese Praxis der ernsthaften Philosophen lustig. Er vollzieht aber darüber hinaus auch die Praxis der Dichter: nämlich zu lügen und der Wahrheit dadurch zu schaden. Dass dies aber tatsächlich die Praxis der Dichter ist, wird wiederum nur durch die Praxis der ernsthaften Philosophen belegt, nämlich durch das Zitat eines Dichterspruches. Dieses Zitieren, die Praxis der Philosophen, ist durch das Falschzitat eine Lüge, somit also zugleich Praxis der Dichter. Die Position des Sprechers changiert also permanent zwischen Dichter und Philosoph, ohne dass sie eindeutig bestimmt werden könnte.

5 Widersprüchlichkeit als Textstrategie und die Relevanz der Zeichen Friedrich Nietzsche ist nicht nur ein scharfsinniger Denker, sondern er zählt in Bezug auf seinen Stil und das Geschick seiner Textkomposition zu den herausragenden Schriftstellern deutscher Sprache. Wie hier skizziert wurde, setzt er sein

38 Der Spruch wird von Aristoteles in der Metaphysik (983a, 3) angeführt. 39 FW 191, KSA 3, 504.

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kompositorisches Können gezielt ein, um beim Leser bestimmte Wirkungen zu erzielen. Auch wenn man sich primär für den philosophischen Gehalt von Nietzsches Schriften interessiert, darf die Art und Weise der Textkomposition nicht außer Acht gelassen werden. Spätestens ab der Morgenröthe transportieren Nietzsches Werke nicht lediglich einen semantischen Gehalt in Form von Argumenten; sie evozieren darüber hinaus durch ihre Komposition beim Rezipienten Irritationen, die diesen nötigen, die im Text vertretenen Thesen zu hinterfragen. Die Beispiele, die an dieser Stelle ausgewählt wurden, Polyperspektivität und performative Selbstwidersprüchlichkeit, sind Ausdruck einer Textstrategie, die in unterschiedlicher Ausgestaltung sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene dem gesamten mittleren und späteren Werk zugrunde liegt. Deutlich wird dies, wie gezeigt, vor allem beim Vergleich der nachgelassenen Schriften mit dem veröffentlichten Werk. Hier lässt sich, wie an einigen Beispielen ausgeführt, eine Umarbeitung nachweisen, die Interpretation und Disambiguierung gezielt erschwert. Ebenfalls vornehmlich im Nachlass findet in den Texten der 1880er Jahre die Ausarbeitung einer Semiotik statt, die ein Erklärungsangebot für die Umsetzung der Textstrategie liefert. Insbesondere dem Problem des Verstandenwerdens, das eng mit Nietzsches Individualismus zusammenhängt, kommt in diesem Zusammenhang eine entscheidende Rolle zu. Hier besteht trotz der wertvollen Vorarbeit durch Werner Stegmaier, dem auch dieser Aufsatz entscheidende Impulse verdankt, noch einiges an Forschungsbedarf. Mir scheint Nietzsches Zeichentheorie, anders als dies Stegmaier darstellt, nicht völlig schlüssig zu sein, sodass zu überlegen wäre, ob nicht von mehreren, inkongruenten Semiotiken gesprochen werden müsste. Dies verlangt jedoch eine detailliertere Ausarbeitung, die hier nicht mehr geleistet werden kann. In jedem Fall plausibilisiert Nietzsches Zeichentheorie die Anwendung kompositorischer Techniken, die ein einfaches Übernehmen von ‚Nietzsches Position‘ erschweren und damit den ‚beleidigenden‘ Glauben daran unmöglich machen, man hätte Nietzsche verstanden. Sie kann damit als Erklärungsangebot und Fundament für seine Textstrategie dienen. Die Unterscheidung in ‚literarische‘ und ‚wissenschaftliche‘ Texte, wie sie eingangs unter Rückgriff auf Lotman vorgestellt wurde, kann zwar als grobe Richtlinie dienen, sie wird aber der Komplexität von Nietzsches Schriften nicht gerecht. Insbesondere wenn man noch stärker die syntagmatische Verknüpfung der einzelnen Textabschnitte auf der Makroebene berücksichtigt, was hier aus Platzgründen vernachlässigt wurde, wäre eine weitere Ausdifferenzierung nötig. Dies ließe sich mit einer gezielten, auf Nietzsches Schreibweise zugeschnittenen Ausarbeitung einer Theorie zu Textstrategie und Texttaktik verknüpfen. Nichtsdestoweniger konnte, wie ich hoffe, gezeigt werden, dass Nietzsches teilweise argumentativ widersprüchliche Schreibweise vor der Folie seiner Semiotik völlig

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plausibel ist. Eine Ausprägung hiervon ist die Position, die „Nietzsche als Dichter“ einnimmt, um den Titel des Forums aufzugreifen, in dessen Rahmen dieser Aufsatz entstanden ist. Spätestens ab dem mittleren Werk sind die ‚literarischen‘ Passagen sicherlich kein Selbstzweck mehr, sondern gezielter Ausdruck einer durchgehaltenen Textstrategie. Sie führt – und hierin ist Lotman sicherlich recht zu geben – zur Zunahme von Komplexität und einer erhöhten Menge bedeutungsrelevanter Merkmale und macht damit nicht zuletzt den Reiz von Nietzsches Schriften aus.

Patrick Wagner

Schein und Wahrheit: Nietzsches Philosophie der Poesie Abstract: Appearance and truth: Nietzsche’s philosophy of poetry. Starting with a passage from an early letter of Nietzsche’s, this paper addresses Nietzsche’s interest in the relation between art, poetry and metaphysics. It will be shown how this relation is closely connected to both Plato’s philosophy and the idea that metaphysics is essentially a disguised form of poetry. Furthermore, it will be demonstrated that Nietzsche’s quarrel with Plato revolves around the issues of metaphysics, truth and poetry. Since Nietzsche understands his philosophy as a kind of inverted Platonism, the essay shows the importance of Plato for Nietzsche’s own poetological position by examining the critique of the poets in Plato’s Politeia. Nietzsche’s inversion of the platonic hierarchy between truth and appearance is accompanied by a reconsideration of dialectics, which Plato saw as a method for seeking the truth.

In einer frühen Notiz aus der Zeit des Jahreswechsels 1869/70 erwähnt Nietzsche Platons Skepsis gegenüber der Kunst. Dass ihr schöner Schein Wahrheit mehr verberge als enthülle, sei für Platon der entscheidende Anlass gewesen, die Kunst in Gänze zu verdammen und zu bekämpfen: „Plato’s Feindseligkeit gegen die Kunst ist etwas sehr Bedeutendes. Seine Lehrtendenz, der Weg zum Wahren durch das Wissen, hat keinen größeren Feind als den schönen Schein.“1 Sofern man sich der Untersuchung des Verhältnisses von Dichtung und Wahrheit zuwendet, wie es von Nietzsche in theoria gedacht und zugleich poetisch realisiert wird, scheint es ratsam, diesen Hinweis ernst zu nehmen. Die Bedeutsamkeit jener Feindschaft ist gerade in Hinsicht seines eigenen Verständnisses von Kunst und Wahrheit nie nebensächlich gewesen. Vielmehr, so werde ich versuchen aufzuzeigen, gibt es hier eine wesentliche Bezugnahme, von der her sich Nietzsches Werturteil über die Dichtung überhaupt erst verstehen lässt. So geht dieser Beitrag der Frage nach, inwiefern Nietzsches Philosophie der Poesie ihre Entstehung dem Geist der platonischen Dichter-Feindschaft verdankt.

1 NL 1869/70, 3[47], KSA 3, 74, 1–3.

DOI 10.1515/9783110474374-014

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Patrick Wagner

1 S T R E P S I A D E S : Ich beschwöre dich bei dem allmächtigen Zeus, wer sind die denn, Sokrates, die da, Die so prächtig singen, so furchtbar schön? Halbgöttinnen, sollte man glauben! S O K R A T E S : Bewahre, die himmlischen Wolken sind’s, der Müßigen göttliche Mächte, Die Gedanken, Ideen, Begriffe, die uns Dialektik verleihen, und Logik, Und den Zauber des Worts, und den blauen Dunst, Übertölplung, Floskeln und Blendwerk. S T R E P S I A D E S : Drum ist mir doch auch, da ihr Lied ich vernahm, meine Seel’ in den Äther entflogen Und versucht jetzt schon dialektisch den Rauch zu zerlegen in seine Atome, Jeden Satz zu zersetzen mit Sätzchen und fein auf die Silben mit Silben zu stechen; Drum verlangt es mich sehr, wenn es irgend erlaubt, sie von Antlitz zu Antlitz zu schauen.2

Ende April, Anfang Mai des Jahres 1868 schreibt Nietzsche, seit Oktober 1867 „Soldat und zwar Artillerist“, aus Naumburg an seinen Internatsfreund Paul Deussen nach Berlin: Das Reich der Metaphysik, somit die Provinz der „absoluten“ Wahrheit ist unweigerlich in eine Reihe mit Poesie und Religion gerückt worden. Wer etwas wissen will, begnügt sich jetzt mit einer bewußten Relativität des Wissens – wie z. B. alle namhaften Naturforscher. Metaphysik gehört also bei einigen Menschen ins Gebiet der Gemüthsbedürfnisse, ist wesentlich Erbauung: andernseits ist sie Kunst, nämlich die der Begriffsdichtung; festzuhalten aber ist, daß Metaphysik weder als Religion noch als Kunst etwas mit dem sogenannten „An sich Wahren oder Seienden“ zu thun hat.3

Obschon diese Ausführungen auf eine Herleitung verzichten, lässt sich in ihnen die Genese eines originären Interesses beobachten. Nietzsche formuliert, noch mit zurückhaltender Geste, eine Herabsetzung der Metaphysik und, hiermit einhergehend, die Relativierung desjenigen, was mit dem Begriff der „‚absoluten‘ Wahrheit“ sowie „dem sogenannten ‚An sich Wahren oder Seienden‘“ angespro2 Aristophanes, Sämtliche Komödien, Bd. 1, übertragen von Ludwig Seeger, Einleitung zur Geschichte und zum Nachleben der griechischen Komödie nebst Übertragung von Fragmenten der alten und mittleren Komödie von Otto Weinreich, Zürich 1952 (= Hoenn, Karl (Hrsg.): Bibliothek der Alten Welt. Griechische Reihe), S. 134 f. 3 KSB 2, Nr. 568, S. 268 f., Z. 11 f. u. 50–59.  





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chen ist. Im Zuge dieser Behauptung verfährt er nur bedingt ikonoklastisch; es wird lediglich bemerkt, wie es sich verhalte: „Das Reich der Metaphysik“ sei „in eine Reihe mit Poesie und Religion gerückt worden“, heißt es vage, ohne den Urheber solcher Reihenbildung näher zu bestimmen. Metaphysik sei demnach, so Nietzsche, für viele seiner Zeitgenossen ‚Erbauung‘ statt strenge Theorie und somit lediglich eine Art privater Lebensbewältigungs-Strategie angesichts der sich ankündigenden Moderne.4 Der Dichtung wird innerhalb dieser Verschiebung eine Schlüsselfunktion beigemessen. Denn selbst wenn Metaphysik als Wahrheitsgarantin des Absoluten angesichts einer voranschreitenden und sich massiv ausbreitenden Relativierung des Wissens nunmehr obsolet zu werden scheint – wovon insbesondere die naturwissenschaftliche Methodik profitiere5 –, so lasse sich dennoch ein Aspekt an ihr ausmachen, der über ihre Privatisierung hinaus in einen neuen Bereich verweist. Sie müsse von nun an ebenso als Kunst jenseits des Erbaulichen angesehen werden, da die ihr zugehörigen und exklusiven Begriffe, allen voran jene der „‚absoluten‘ Wahrheit“ und des „An sich Wahren oder Seienden“, nunmehr ihr wahres Wesen als Kunstprodukte im Sinne erdichteter Worte offen-

4 Adorno thematisiert in der Ästhetischen Theorie die Frage nach dem telos der Kunst, wenn er auf die verwandte Problematik des ‚ästhetischen Wozu’ zu sprechen kommt. Ebendiese Frage gewinnt ab jenem Moment an Dringlichkeit, ab dem sich die Kunst von ihren traditionellen Aufgaben emanzipiert und autonom wird. Dabei problematisiert auch Adorno die Vorstellung von Kunst als privater, erbaulicher Praxis: „Die Clichés von dem versöhnenden Abglanz, der von der Kunst über die Realität sich verbreite, sind widerlich nicht nur, weil sie den emphatischen Begriff von Kunst durch deren bourgeoise Zurüstung parodieren und sie unter die trostspendende Sonntagsveranstaltungen einreihen. Sie rühren an die Wunde der Kunst selber. Durch ihre unvermeidliche Lossage von der Theologie, vom ungeschmälerten Anspruch auf die Wahrheit der Erlösung, eine Säkularisierung, ohne welche Kunst sich nie entfaltet hätte, verdammt sie sich dazu, dem Seienden und Bestehenden einen Zuspruch zu spenden, der, bar der Hoffnung auf ein Anderes, den Bann dessen verstärkt, wovon die Autonomie der Kunst sich befreien möchte.“ (Adorno, Theodor W., Gesammelte Schriften, Bd. 7, hrsg. von Rolf Tiedemann unter Mitwirkung von Gretel Adorno u. a., 5. Auflage, Frankfurt/Main 2014, S. 10). 5 Francis Bacons empiristisches credo, dem zufolge nur derjenige, der sich der Natur unterwerfe, sie zu beherrschen vermöge – Induktion statt Deduktion, so die Methoden-Reform –, bringt dabei die Umwertung auf dem Feld der ‚Wahrheiten‘, um die es hier zu gehen scheint, auf den Punkt. An einer prominenten Stelle der Dialektik der Aufklärung, unmittelbar zu Beginn des ersten Kapitels über den Begriff der Aufklärung, verweisen in diesem Zusammenhang Adorno und Horkheimer in einem längeren Zitat aus dem Text In Praise of Knowledge auf Bacon. Als Aperçu sei hiervon der letzte Satz wiederholt: „Heute beherrschen wir die Natur in unserer bloßen Meinung und sind ihrem Zwange unterworfen; ließen wir uns jedoch von ihr in den Erfindungen leiten, so würden wir ihr in der Praxis gebieten.“ (Adorno, Theodor W. / Horkheimer, Max, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, 18. Auflage, Frankfurt/Main 2009 (= Fischer Wissenschaft, Bd. 7404), S. 10.  

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barten. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, enthüllt die Metaphysik infolge der pejorativen Umwertung ihre ästhetischen Reize. Nietzsches Verständnis der Metaphysik bleibt dergestalt nicht ausschließlich im privat-andächtigen Modus einer „trostspendenden Sonntagsveranstaltung[ ]“6 verhaftet, wie Adorno in seiner Ästhetischen Theorie pointieren wird. Ich möchte im Gegenteil der Hypothese einen gewissen Kredit einräumen, dass Nietzsches Projekt den Versuch einer Inversion darstellt, die, vermittelt durch eine ästhetische Perspektive, die Möglichkeit einer Neukonfiguration der Metaphysik ins Spiel bringt. In Anverwandlung einer Formulierung aus Nietzsches retrospektivem Versuch einer Selbstkritik der Geburt der Tragödie, ließe sich dieses Vorhaben wie folgt auf den Punkt bringen: Die Metaphysik – im Original: die Wissenschaft – „u n t e r d e r O p t i k d e s K ü n s t l e r s z u s e h e n , d i e K u n s t a b e r u n t e r d e r d e s L e b e n s “.7 Wird dieser Kredit gewährt, so eröffnet Nietzsches Briefpassage die Möglichkeit, von zwei verschiedenen Perspektiven auf die Metaphysik zu sprechen, die erst infolge ihrer modernen Relativierung bedeutsam werden. Im Zuge ihrer Suspendierung wird die Metaphysik zum einen jeglicher wahrheitsgarantierenden und -generierenden Aufgabe entbunden und fungiert nur noch als poetischreligiöses Pharmakon, das, weitestgehend folgenlos, bei gegebenem Anlass vom Einzelnen konsumiert werden kann. Komplementär zu dieser Degradierung erweitert sich jedoch der Spielraum. Die herabstufende Neubewertung wirkt befreiend, da sich in der Umdeutung des Metaphysikers ein novum philosophischen Denkens ankündigt. Die terminologische Neujustierung, anhand der Kategorie ‚Dichtung‘ zu beschreiben, was Metaphysik ihrem Wesen nach eigentlich sei, ist demnach nicht als ein Akt individueller Willkür einzustufen; vielmehr changiert sie zwischen einer provokativ-ablehnenden Haltung und traditionsbewusster Innovation. Zielen Nietzsches Worte darauf ab, einerseits die platonische Metaphysik einer fundamentalen Kritik auszusetzen, so sind sie immer auch unter dem Vorzeichen einer Zeit zu lesen, die sich aufgrund des allmählich einsetzenden Siegeszugs positivistischer Wissenschaft mehr und mehr der Metaphysik entledigte. Damit steht Nietzsches metaphysikkritisches Vorhaben sehr wohl in einer metaphysischen Tradition. Indem der Verlust metaphysischer Wahrheiten sowie das Ephemere der ihr eigenen Begriffe zum diskussionswürdigen Gegenstand erhoben wird, wird geradezu die Frage nach Wahrheit, nach Metaphysik und damit nach der Voraussetzung von Philosophie und philosophischem Sprechen virulent. Nietzsches aporetisches Unterfangen, metaphysisches Tun als genuin poetisch zu begreifen, gewinnt so die Form einer philosophisch-kritischen Metho-

6 Adorno, Gesammelte Schriften, Bd. 7, S. 10. 7 GT Versuch einer Selbstkritik 2, KSA 1, 14, 10 f.  

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de. Zu fragen wird sein, inwiefern sich hierin ein aufklärerisches Vermögen ausprägt. Es liegt gewiss nahe, hierin den Kern eben jener Fundamentalkritik an der Metaphysik zu sehen, die sich im Werk Nietzsches kontinuierlich ausdifferenziert. Insbesondere die Haltung des metaphysischen Denkens als Ausdruck eines Anspruchs absoluter Hegemonie über Werte, die das menschliche Selbstverständnis – die Bereiche der Moral, der Ästhetik wie auch des Psychischen mit einbegriffen – nachhaltig prägten, wird aus ebendiesem Grund für Nietzsche zum zentralen Gegenstand seines philosophischen Umwertungsprojekts. Dieses verharrt aber nicht statisch im destruktiven Abbau metaphysischer Vorurteile, sondern erfährt seine Fortführung in etwas Neuem. Das für mein Anliegen Wesentliche dabei ist, dass dieses experimentelle Philosophieren, obwohl es immer auch unter den Schlagwörtern des Irrationalismus, Skeptizismus wie auch Relativismus subsumiert wurde,8 doch mit einer erkenntniskritischen Sensibilität gegenüber der Art und Weise einhergeht, wie ein philosophischer Diskurs sich formiert. Philosopheme, Lexik, Metaphern, Idiomatik und Stil werden für Nietzsche in diesem Zusammenhang zu jenen neuralgischen Punkten, an denen der Charakter und die jeweiligen Motive des zur Disposition stehenden Denkens sich diesem unausweichlich einschreiben. Dies ist keine Nebensächlichkeit, denn war zuvor von der Fraglichkeit der metaphysischen Begriffe die Rede, von ihren (möglicherweise) poetischen Ursprüngen, so muss berücksichtigt werden, dass diese Begriffe, zumindest im Kontext des Platonismus, in einem die Poesie kontrastierenden Modus des Redens entwickelt werden. Vor diesem Hintergrund kann auch eine Notiz Nietzsches über den „Optimismus der Dialektik“ gelesen werden: „Glaube daß der Begriff das Wesen des Dings trifft: platonische Idee. Daher Metaphysik der Logik: Identität von Denken und Sein. Voraussetzung der Ziele des Denkens und der Ziele des Guten und Schönen. Heiterkeit.“9 Ergänzend seien folgende Stichwörter aus dem unmittelbaren Umfeld des vorhergegangenen Fragments zitiert: „Ursache der Heiterkeit – Weltcorrektur.“10 Im 14. Abschnitt der Tragödienschrift wird dies emphatisch wiederholt sowie um den Zusatz erweitert, dass diese optimistische Geste der Dialektik das Ende der Tragödie impliziere:

8 Vgl. beispielsweise Thurnher, Rainer, Sprache und Welt bei Friedrich Nietzsche, in: NietzscheStudien, Jg. 9, Berlin / New York 1980, S. 55 u. 58; Ross, Werner, Der ängstliche Adler. Friedrich Nietzsches Leben, München 1984, S. 534; sowie Djurić, Mihailo, Nietzsche und die Metaphysik, Berlin 1985, S. 41. 9 NL 1870, 6[14], KSA 7, 134, 16–21. 10 NL 1870, 6[11], KSA 7, 132, 16.

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[D]enn wer vermöchte das o p t i m i s t i s c h e Element im Wesen der Dialektik zu verkennen, das in jedem Schlusse sein Jubelfest feiert und allein in kühler Helle und Bewusstheit athmen kann: das optimistische Element, das, einmal in die Tragödie eingedrungen, ihre dionysischen Regionen allmählich überwuchern und sie nothwendig zur Selbstvernichtung treiben muss – bis zum Todessprung in’s bürgerliche Schauspiel. Man vergegenwärtige sich nur die Consequenzen der sokratischen Sätze: „Tugend ist Wissen; es wird nur gesündigt aus Unwissenheit; der Tugendhafte ist der Glückliche“: in diesen drei Grundformen des Optimismus liegt der Tod der Tragödie.11

Jene in der Dialektik zum Vorschein kommende Freude ist affektives Gegenstück der despotischen Herrschaft der Logik; ihr Optimismus ist nach Nietzsche autokratischer Natur, da sie den Helden des Schauspiels nunmehr zur dialektischen Reaktion nötigt, auf dass seine Verwicklungen in die Bereiche der Politik, des Wissens, des Glaubens und der Moral in logisches Wohlgefallen aufgelöst werden können. Der dialektische Schluss wird dergestalt zum Maßstab der Tragödie, was nach Nietzsche den Beginn ihres Niedergangs markiert. Die „antidionysische Tendenz“12 des Sokrates, so Nietzsche, habe Platons Haltung gegenüber der Kunst geprägt: „Hier überwächst der p h i l o s o p h i s c h e G e d a n k e die Kunst und zwingt sie zu einem engen Sich-Anklammern an den Stamm der Dialektik.“13 Optimismus und Heiterkeit werden demnach als enthusiastische Begleitzustände dieses methodischen Vorgehens vorgestellt, das auf die einer „Pseudo-Wirklichkeit zu Grunde liegende Idee“14 gerichtet ist – das also der Chimäre einer metaphysischen Wahrheit tatsächlich habhaft werden zu können meint. Die Dialektik ist das solch einem Erkenntnisprozess angemessene Werkzeug. Sie dient als Vermittlungsinstanz zwischen Sein und Denken bzw. zwischen Idee (als ‚Wesen des Dings‘) und Begriff. Im Folgenden sei ihr Verhältnis zur Heiterkeit etwas schärfer konturiert: Die in den Dialogen zutage tretende Gemütsverfassung des platonischen Sokrates ist durch eirôneia15 gekennzeichnet. Diese Ironie steht nicht exponiert für sich, sondern ist gewissermaßen mit der sokratischen Hebammenkunst, maieutikê, sowie der argumentativen Prüfung, elenktikê, verschränkt. Im Symposion lobt daher Alkibiades den Sokrates dafür, dass seine Ironie immer auch einen Verweis auf die verborgenen „Götterbilder“16 beinhalte,

11 GT 14, KSA 1, 94, 21–32. 12 GT 14, KSA 1, 95, 31. 13 GT 14, KSA 1, 94, 11–13. 14 GT 14, KSA 1, 93, 15 f. 15 Vgl. Platon, Werke in acht Bänden, Bd. 4, griechisch und deutsch, übersetzt von Friedrich Schleiermacher, bearbeitet von Dietrich Kurz u. a., hrsg. von Gunther Eigler, 6. Auflage, Darmstadt 2011, S. 34 f. (Politeia 337a). Vgl. ebenso Platon, Werke, Bd. 3, S. 366–369 (Symposion 216d–217a). 16 Platon, Werke, Bd. 3, S. 368 f. (Symposion 216d–217a).  







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die dieser in seinem Inneren trage und auf die man in seltenen Fällen einen Blick zu werfen vermöge: „Er hält vielmehr alle diese Dinge (körperliche Schönheit, Reichtum und die gewöhnlich gepriesenen Vorzüge) für nichts wert und uns für nichts und verstellt sich nur gegen die Menschen [Εἰρωνευόμενος] und treibt Scherz [παίζων] mit ihnen sein Leben lang.“17 Das in der Verstellung zurückgehaltene Wissen, welches sich in der sokratischen Unwissenheit (amathia) nach außen kehrt, initiiert den dialektischen Erkenntnisprozess, da die Gesprächspartner des Sokrates ihre (vermeintlich) falschen Meinungen infolge seiner Zurückhaltung aussprechen müssen. So fährt Alkibiades fort: „Ob aber jemand, wenn er ernsthaft war und sich auftat, die Götterbilder gesehen hat, die er [Sokrates] in sich trägt, das weiß ich nicht. Ich habe sie aber einmal gesehen“.18 Sokrates ist demnach in zweifacher Hinsicht der ‚heitere Denker‘. Er, der philosophierende Ironiker, lacht nicht nur infolge der syllogistischen Lösung seines Fragens nach dem Wesen dieser oder jener Sache. Dieser Heiterkeit steht noch die Komödie vor, in der Sokrates gegenüber den ‚wahren‘ Unwissenden lediglich den Unwissenden mimt.19 Er ist in diesem Sinne der lachende Philosoph par excellence, der Anti-Tragiker, der – ganz Optimist und von der Richtigkeit seiner Methode überzeugt – die immanente Logik samt ihren Auflösungen in Heiterkeit erfährt. Nietzsche karikiert gewissermaßen diese überhebliche Ironie des heiteren Dialektikers, wenn er in der Briefpassage einem solchen vorhält, dass seine Begriffe nur dem Schein nach absolut, de facto aber dichterische Erzeugnisse seien. So setzt Nietzsche Dialektik und Poesie, die bezüglich ihres Anspruchs auf Wahrheit als konkurrierende und entsprechend entgegengesetzte Modi der Rede inszeniert werden, in ein spielerisch-antithetisches Verhältnis zueinander. Und indem er in der zitierten Briefpassage Metaphysik als Begriffsdichtung mit Kunst gleichstellt und diese dabei gegenüber jener akzentuiert, verwischt er nicht nur die traditionell scharf gezogenen Grenzen zwischen Kunst und Philosophie, sondern verkehrt deren hierarchisches Verhältnis sogar ins Gegenteil. Aus dem Postulat, dass der Mensch, sofern er Metaphysik betreibt, eigentlich in poetischer und nicht in dialektisch-logischer Diktion spreche, ergeben sich daher drei mögliche Fragen: (1) Ist er sich dessen bewusst, oder verhält es sich nicht vielmehr so, dass er im Glauben an die Logik und Metaphysik lebt und dergestalt vom Wahren spricht, obwohl er nur dichtet? (2) Was geschieht mit der Metaphysik, wenn der

17 Platon, Werke, Bd. 3, S. 368 f. (Symposion 216d–217a). 18 Platon, Werke, Bd. 3, S. 368 f. (Symposion 216d–217a). 19 Zur Ironie des platonischen Sokrates vgl. Westermann, Hartmut, Ironie [Artikel], in: Horn, Christoph / Müller, Jörn / Söder, Joachim (Hrsg.), Platon-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart / Weimar 2009, S. 297–300, hier S. 297 f.  





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Metaphysiker sich als Dichter entdeckt? (3) Wenn die ‚Selbsterkenntnis‘ des Metaphysikers die Begriffe des ‚wahrhaft Seienden‘ und der ‚absoluten Wahrheit‘ aufhebt, was geschieht dann mit dem, was gemeinhin mit dem Begriff ‚Wahrheit‘ bezeichnet wird? Bevor ich im dritten Teil des Beitrags die beiden zuletzt genannten Fragen aufgreifen werde, kann hinsichtlich der ersten Frage bereits an dieser Stelle eine gewisse Unentschiedenheit bemerkt werden. Nietzsches Formulierung in der eingangs zitierten Briefpassage deutet an, dass Metaphysik durchaus als eine ‚blinde Wissenschaft‘ begriffen werden kann, deren Mangel in einer Unwissenheit über ihr eigenes Wesen besteht. So aufgefasst, wäre die Geschichte der Metaphysik die Geschichte einer Verdrängung, in welcher die dichterische Phantasie, ihres Zeichens Urheberin des metaphysischen Diskurses, sich selbst zu ernst nimmt und im Zuge eines mehr oder minder unbewussten Selbsterhaltungstriebs ihr eigenes schöpferisches Tun schlichtweg dem Vergessen preisgibt. Dennoch liegt in Nietzsches Formulierung, die Metaphysik sei andererseits Kunst, gleichermaßen die Möglichkeit, dass der Metaphysiker sein eigenes Tun als ein künstlerisch-dichterisches zu erfassen vermag. Sofern man gewillt ist, diese Perspektive auf die Metaphysik ernst zu nehmen, muss Nietzsche zugestanden werden, dass seine kritischen Betrachtungen tendenziell unter dem Vorzeichen der Aufklärung zu verstehen sind. Seine Thematisierung der Metaphysik und ihre Taxierung als Dichtung zielen ja gerade darauf ab, das ursprünglich als angemessen beurteilte Sprechen, in dem die metaphysischen Begrifflichkeiten entwickelt und geäußert werden, als eigentlich unangemessen zu entlarven. Demnach soll gerade derjenige zur Vernunft gebracht werden, der meint, am vernünftigsten zu sein: der Metaphysiker. Dieser denke und spreche gewissermaßen falsch, wenn er im Modus von Dialektik und Logik von der einen und absoluten Wahrheit spricht und davon ausgeht, dass die so geschaffenen Begriffe tatsächlich das Wesen der Dinge erfassen. Sein Trugschluss komme gerade darin zum Vorschein, dass er der Vermutung erliegt, hinter seinen sprachlichen Äußerungen existierten faktische Wesenheiten.20

20 Vgl. Deleuze, Gilles, Nietzsche und die Philosophie, Hamburg 1991, S. 100. Deleuze verweist auf ebendiese aufklärerische Absicht Nietzsches, wenn er dessen Vorhaben mit jenem Kants vergleicht. Beide bemühen sich darum, wenn auch in gegensätzlicher Weise, die Grenzen der Vernunft zu bestimmen. Dahingehend lässt sich auch die Kritik Nietzsches an Kant verstehen; seinem problematischen Verhältnis zwischen kritisierender Instanz und Objekt der Kritik – sie sind nämlich weitestgehend identisch – sei es geschuldet, dass die Kritik letztlich folgenlos bleiben müsse. So schreibt Deleuze über Nietzsches Kant-Kritik: „Kant […] entschied, daß die Kritik der Vernunft eine durch die Vernunft selbst zu sein habe. Gründet aber nicht darin der Kantische Widerspruch: die Vernunft im gleichen Atemzug zum Gericht und zum Angeklagten,

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Um diesen ‚metaphysischen Irrtum‘ zu korrigieren, bedarf es allerdings eines Denkens und einer Sprache, die gerade nicht auf metaphysischen Vorstellungen beruhen. Dies ist die methodische Problematik, der sich Nietzsche mit seinem Vorhaben ausgesetzt sieht. Im Versuch einer Selbstkritik reflektiert er das Problem retrospektiv, indem er die (sprachlich) mangelhafte Umsetzung der Erstlingsschrift beklagt, die viel zu sehr von der „Schwere und dialektische[n] Unlustigkeit des Deutschen“21 geprägt sei: Sie hätte s i n g e n sollen, diese „neue Seele“ – und nicht reden! Wie schade, dass ich, was ich damals zu sagen hatte, es nicht als Dichter zu sagen wagte: ich hätte es vielleicht gekonnt! Oder mindestens als Philologe: – bleibt doch auch heute noch für den Philologen auf diesem Gebiete beinahe Alles zu entdecken und auszugraben! Vor allem das Problem, d a s s hier ein Problem vorliegt, – und dass die Griechen, so lange wir keine Antwort auf die Frage „was ist dionysisch?“ haben, nach wie vor gänzlich unerkannt und unvorstellbar sind…22

Die Überwindung der Metaphysik droht folglich insofern zu scheitern, als die dabei angewandten Mittel selbst dem Bereich der Metaphysik entstammen. Dieses Unvermögen in der Wahl der richtigen Mittel bescheinigt sich Nietzsche rückblickend: Es hätte eher der Poesie und Kunst bedurft, um das Anliegen in die Tat umzusetzen. Wenngleich diese Selbstbezichtigung durchaus unter Vorbehalt zu lesen ist, muss der darin zum Ausdruck kommenden Skepsis im Prinzip beigepflichtet werden. Im Medium philosophischer Begriffe vom Ende der Metaphysik zu sprechen, es mithin logisch herzuleiten, kann den Anschein eines performativen Widerspruchs erwecken, so als würde die Vormachtstellung der traditionellen Philosophie auf diese Weise gerade unfreiwillig bestätigt. Bevor ich mich dieser Problematik im Detail zuwende, soll zunächst aufgezeigt werden, wovon Nietzsche sich abstößt und wie dies geschieht. Den Antipoden zu benennen, erscheint dabei einfach: Platon und insbesondere der platonische Sokrates werden von Nietzsche als die ihm entgegengesetzten Stellvertreter eines Denkens präsentiert, das zentrale Bedeutung für die Etablierung der Metaphysik besitzt. Die bloße Feststellung dieser Absage greift allerdings zu kurz und vermag nicht, das komplexe Verhältnis hinreichend zu beleuchten. Vielmehr gilt es zu berücksichtigen, dass das Negierte in jeder Absage auch Anerkennung findet. Je heftiger dabei der Abgrenzungsversuch ausfällt, desto inniger mag die tatsächliche Verbindung zum Negierten sein. Ähnliches deutet auch Nietzsche selbst an. In einer Notiz konstatiert er: „Meine Philosophie u m zum Richter und zu einer Partei zu erheben – richtend und gerichtet?“ (Deleuze, Nietzsche und die Philosophie, S. 102). 21 GT Versuch einer Selbstkritik 3, KSA 1, 14, 31 f. 22 GT Versuch einer Selbstkritik 3, KSA 1, 15, 9–17.  

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g e d r e h t e r P l a t o n i s m u s : je weiter ab vom wahrhaft Seienden, um so reiner schöner besser ist es. Das Leben im Schein als Ziel.“23 Die Passage indiziert, dass Nietzsches Philosophie sowie die sich in ihr realisierende Kritik der Tradition, gerade weil sie auf eine Überwindung des Platonismus abzielt, zugleich in einer subtilen Verwandtschaft, möglicherweise gar Abhängigkeit zu ihm steht. Dies ist die Pointe, die im metaphorischen Gebrauch des Adjektivs ‚umgedreht‘ zum Ausdruck kommt. Dreht man eine Karte um, bleibt die Karte dieselbe, nur die Ansicht des Betrachters wechselt. Bezieht man die Metapher wieder auf Nietzsche und sein Verhältnis zu Platon, so erscheinen die Denkweisen beider identisch, nur dass Nietzsche die platonische Denkweise aus entgegengesetzter Perspektive anwendet, sie gewissermaßen ‚vom Kopf auf die Füße‘ stellt. Freilich führt er diesen Ansatz in der zitierten Notiz nicht weiter aus. Trotzdem ist es möglich, sich Nietzsches Perspektive vorzustellen: Ihr zufolge ist der „Schein“ erstrebenswerter als das „wahrhaft Seiende“, wobei bezeichnenderweise metaphysische Begrifflichkeiten als Paten für die Apologie bemüht werden: „[R]einer schöner besser“ als das „wahrhaft Seiende“ sei der „Schein“. Die Aufzählung mündet in der Formulierung des „Ziel[s]“ der Philosophie: dem „Leben im Schein“. Es lässt sich nicht ohne Weiteres angeben, was genau hiermit gemeint ist; für die platonische Philosophie ergibt sich allerdings ex negativo, dass sie umso „reiner schöner besser“ sei, je weiter sie sich vom Schein entferne – das Leben im „wahrhaft Seienden“ sei ihr Ziel. Im Rekurs auf seinen platonischen Gegenpol ist nun zu zeigen, wie genau Nietzsche Platons Denken ‚umdreht‘. Dafür soll dieses stärker in den Blickpunkt rücken.

2 Heil, wer n i c h t bei Sokrates sitzen mag und reden mag, nicht die Musenkunst verdammt und das Höchste der Tragödie nicht verächtlich übersieht! Eitel Narrheit ist es doch, auf gespreizte hohle Reden

23 Vgl. NL 1770/71, 7[156], KSA 7, 199. Heidegger zitiert diesen Passus an exponierter Stelle seines Textes Der Wille zur Macht als Kunst (vgl. Heidegger, Martin, Nietzsche I, 7. Auflage, Stuttgart 2008, S. 156).

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und abstraktes Spintisieren einen müßigen Fleiß zu wenden!24

Will man verstehen, inwiefern Nietzsches Position zur Beziehung von Wahrheit und Dichtung auf jener Platons aufbaut, wie also die unterschiedliche Gewichtung der Begriffe sich bei beiden ausnimmt, so kommt man nicht umhin, explizit nach Platons Dichter-Verständnis zu fragen. Im Folgenden wird versucht, die Bedeutung der poiesis für die platonische Philosophie in ihren Grundzügen darzustellen. Dabei gilt es im Blick zu behalten, wie sich diese zur Wahrheit, zur alêtheia, verhält. Ich beginne mit dem Gerichtsprozess, der zur Verurteilung und zum Tod des Sokrates führen wird. In der platonischen Apologie wird jenem ein zutiefst problematisches Verhältnis zur Wahrheit zur Last gelegt. Sokrates, der am Ende juristisch unterliegen und nach dem Urteilsspruch aus dem Schierlingsbecher trinken wird, wiederholt zu Beginn des Textes die Anklage des Meletos: „Sokrates frevelt und treibt Torheit, indem er unterirdische und himmlische Dinge untersucht und Unrecht zu Recht macht [ποιῶν] und dies auch andere lehrt.“25 Zweierlei fällt hier auf. Gemäß der Anklage wird Sokrates’ Wissensdrang, der nicht vor naturwissenschaftlichen Fragestellungen kapituliert, als Blasphemie aufgefasst.26 Allein hierauf beschränkt sich die Anschuldigung allerdings nicht. Er mache nämlich, wie es heißt, Unrecht zu Recht und lehre dies zugleich. Damit wird ihm im Grunde vorgeworfen, ein Wahrheitsverdreher zu sein, der sich in der Kunst der Überredung (πείθω) eben nicht von der von ihm vielgepriesenen Erkenntnis (ἐπιστήμη) leiten lasse, sondern vielmehr in täuschender Absicht seine eigene Vorstellung von Recht rhetorisch geschickt an den Mann bringe. Sokrates lüge demnach wissentlich und erzeuge dergestalt nur den Anschein von

24 ST, KSA 1, 544, 11–19. Es handelt sich um ein Zitat aus Aristophanes’ Komödie Die Frösche (Gesang des Chors, V. 1491–1495). 25 Platon, Werke, Bd. 2, S. 7–9 (Apologie 19 b–c). 26 Dies wurde von Aristophanes, den Sokrates auch für die ihm entgegengebrachte Antipathie mitverantwortlich macht, mit unmissverständlichem Witz in Die Wolken angesprochen. Strepsiades, wortwörtlich: der Rechtsverdreher, sagt bei seiner ersten Begegnung mit Sokrates zu diesem: „S TREPSIADES T REPS IADES : He, Sokrates! – Sokrates’chen – Du dort! S TIMME AUS DER H ÖHE : Was rufst du mich, du Sohn des Staubes? S TREP SIADE S : Nein, aber sag, was machst du denn da oben? S OKRAT ES langsam und feierlich: In Lüften schweb’ und Helios überseh’ ich. S TREPSIADES TRE PSIADES : So? Ü b e r u n s e r e OKRATE S : Wie G ö t t e r s i e h s t d u w e g ? – Warum denn hoch im Korb und nicht am Boden? S OKRATES könnt’ ich wahr das Überird’sche deuten: Wenn schwebend nicht des Geistes zarter Äther mit dem verwandten Element sich mischte? Umsonst vom Boden unten schau’ ich auf nach oben: denn die Erde zieht zu sich unwiderstehlich des Gedankens Tau: – Ein Beispiel hast du an der Brunnenkresse.“ (Aristophanes, Sämtliche Komödien, Bd. 1, S. 130, Hervorhebung PW).

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Rechtschaffenheit. Es handelt sich dabei ironischerweise um denselben Vorwurf, den Sokrates gegenüber dem Rhetor Gorgias sowie den sogenannten Sophisten formuliert.27 In der Schuldzuweisung des Melotes verbirgt sich aber noch ein weiterer Aspekt: Dem Wortlaut nach wird die Verdrehung von Recht und Unrecht mit dem Verb ποιέω ausgedrückt, welches generell ‚etwas tun, machen, herstellen, in Existenz bringen‘ bedeutet, aber in einem sehr speziellen Sinn auf die lyrische Produktion qua Dichten, Schreiben und Singen verweist: auf poiesis. Platon war sich dieser semantischen Ambivalenz durchaus bewusst, lässt er doch Diotima im Symposion über eben diese sprechen. In ihrer Rede über die Liebe, die das Zentrum jenes Dialogs bildet, erklärt Diotima dem damals noch unkundigen Sokrates, dass dem Eros eine ganz ähnliche Doppeldeutigkeit innewohne wie der Dichtung (ποίησις). So bezeichne man nicht jede Art des Liebens tatsächlich mit dem Wort ‚Liebe/eros‘, obwohl doch eine jede in letzter Konsequenz dasselbe erstrebe und daher dem eigentlichen Verständnis nach als Liebe zu gelten habe. Zur Veranschaulichung führt Diotima Sokrates den mehrdeutigen Begriff der Poesie vor Augen, indem sie ihm das im Deutschen nicht nachvollziehbare, doppelsinnige Wortspiel wie folgt verständlich macht: Du weißt doch, daß Dichtung [ποίησίς] etwas gar Vielfältiges ist. Denn was nur für irgend etwas Ursache wird, aus dem Nichtsein in das Sein zu treten, ist insgesamt Dichtung. Daher liegt auch bei den Hervorbringungen aller Künste [τέχναις] Dichtung zugrunde, und die Meister [δημιουργοὶ] darin sind sämtlich Dichter. – Ganz richtig. – Aber doch weißt du schon, daß sie nicht Dichter genannt werden, sondern andere Benennungen haben, und von der gesamten Dichtung wird nur ein Teil ausgesondert, der es mit der Tonkunst [μουσικὴν] und den Silbenmaßen [μέτρα] zu tun hat, und dieser mit dem Namen des Ganzen benannt. Denn dies allein wird Dichtung genannt und, die diesen Teil der Dichtung innehaben, Dichter [ποιηταί].28

Zweierlei ist an diesem kurzen Passus bemerkenswert: Zunächst erscheint interessant, dass Platon den Begriff des Eros mit dem der Poesie erläutert, indem er auf die gleichartige Mehrdeutigkeit beider aufmerksam macht, obwohl diese in der Alltagssprache kaum bis gar nicht zum Tragen kommt. Denn es ist beiden Wörtern gemeinsam, dass sie trotz ihrer ausgedehnten Verwendungsmöglichkeiten doch nur in einem auffallend beschränkten Bereich Anwendung finden. Kann Liebe Diotima zufolge als ein Streben nach dem Schönen – genauer: nach dem 27 Vgl. Platon, Werke, Bd. 2, S. 294–297 (Gorgias 454e–455d). 28 Platon, Werke, Bd. 3, S. 324 f. (Symposion 205b–c). Vgl. ferner Aristoteles, der zu Beginn der Poetik dieselbe Frage erörtert: Aristoteles, Poetik, griechisch/deutsch, übersetzt und hrsg. von Manfred Fuhrmann, Stuttgart 2005, S. 7 (Poetik 1447b).  

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Erzeugen im Schönen – aufgefasst werden, so spricht man gewöhnlich doch nur bei der geschlechtlichen Liebe von Eros. Die Poesie wiederum bezeichnet im konventionellen Sprachgebrauch lediglich, wie Platon schreibt, dasjenige, was mit der Musik und dem Silbenmaß zu tun hat, obwohl jeder Akt des Erschaffens und Hervorbringens streng genommen poiesis ist. Diese terminologische Heterogenität ergänzt Platon noch um eine ambivalente Wertung. Indem er unter Zuhilfenahme des Poesie-Begriffs eine bestimmte Facette des Eros-Begriffs erläutert und Diotima vom Nebeneinander lyrischer und allgemeiner poiesis sprechen lässt,29 nimmt das poetische Tun als lyrisches Dichten eine durchaus prominente und herausragende Position innerhalb der Ordnung menschlichen Tuns ein: Dem Singen wie auch dem Dichten von Versen und Tragödien wird der Sonderstatus zuteil, als eine spezifische Art des Poetischen dem ganzen Bereich menschlicher poiesis semantisch vorzustehen. Poesie könnte daher, vermittelt durch den lyrischen Ausdruck, als Inbegriff des menschlichen Schöpfungsvermögens verstanden werden. Eine strikte Festlegung hierauf wäre allerdings allzu vorschnell; denn mit der Annahme, es gäbe eine Hierarchie menschlichen Tuns, die angeführt wird von der lyrischen Dichtung, wird zumindest im Denken Platons radikal gebrochen. Dies gibt er bereits dem Ansatz nach zu verstehen, wenn er in dem oben angeführten, der Apologie entnommenen Zitat das Verb ‚ποιῶν‘ verwendet, um den Akt der Verkehrung von Recht in Unrecht auszudrücken. Und selbst wenn dies dem zuvor Gesagten nicht zwangsläufig widerspricht, wird dennoch deutlich, dass Platon den Wert der Poesie problematisiert, da er diese in der Apologie in ein unstetes Verhältnis zur Wahrheit rückt. Gerade ihre große schöpferische Kraft prädestiniert die Poesie dazu, immer auch ein Mittel der Lüge, der Täuschung und des Unwahren zu sein. Dies soll im Folgenden breiter ausgeführt werden. Platons Kritik an den Dichtern bzw. der Poesie, die auf ihre Verbannung aus dem idealen Staatsgebilde hinausläuft, entzündet sich an den Aufgaben der Erziehung und Bildung (paideia). In seinem Dialog über den idealen Staat, der Politeia, lässt er Sokrates über die richtig angewandte Pädagogik referieren, die denen zugutekommen soll, welche mit dem Schutz des Staats beauftragt sind, den Wächtern. Die Außergewöhnlichkeit der platonischen Staatstheorie besteht darin, dass Dichtung ihr zufolge in einem engen Zusammenhang mit dem Wohl des Staates steht, was Platon von der Verschränkung des Schicksals von Staat

29 Freilich ist diese nicht zu verwechseln mit jener ‚Schöpfung‘, auf die letztlich der Eros abzielt. Das Erzeugen im Schönen ist nicht poiesis, die eine artifizielle, technisch-künstlerische Konnotation besitzt, sondern genesis, wie Diotima ausführt: „Denn die Liebe, o Sokrates, geht gar nicht auf das Schöne, wie du meinst. – Sondern worauf denn? – Auf die Erzeugung [γεννήσεως] und Ausgeburt [τόκου] im Schönen.“ Platon, Werke, Bd. 3, S. 330 f. (Symposion 206e)  

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und einzelnem Bürger herleitet. Wenn er also in einer ersten Diskussion des Poesie-Problems im zweiten Buch der Politeia (376c–398b) Sokrates sich extensiv den Beispielen widmen lässt, die veranschaulichen sollen, auf welche Art und Weise Poesie einen verderblichen Einfluss auf den einzelnen Staatsbürger ausübt, so geht es ihm immer auch in zweiter Konsequenz um die Frage, inwiefern dies Auswirkungen auf die Stabilität des gesamten Staats haben kann. Gegenstück dieses Interesses an den politischen Folgen der Kunstwirkung auf den rezipierenden Bürger ist, dass Sokrates/Platon, indem er nachdrücklich vor der Wirkmächtigkeit dieser sich zwischen poetischer Sprache und poetischem Gehalt entwickelnden Dynamik warnt, sie gewissermaßen als eine force majeure anerkennt und ihr dahingehend tatsächlich eine besondere Rolle innerhalb des menschlichen Tuns zuspricht – Poesie erscheint als akut staatsgefährdend, da sie moralisch korrumpiert. Platons Grundidee liest sich damit annähernd wie eine staatstheoretische Anverwandlung der kriegsentscheidenden Passage der homerischen Ilias. Denn Platon entwirft die Bedrohung, die von der Poesie und den Dichtern ausgehe, in Anlehnung an die naiven Trojaner, die sich vom schönen Schein des hölzernen Pferdes blenden ließen und hierfür mit dem Untergang ihrer polis bezahlten: Die Metaphern und Verse der Dichter sind dem Unkundigen trojanische Pferde. Gefährdet seien vor allem Kinder und Jugendliche, deren schwache Urteilskraft sie anfällig mache für den poetischen Gehalt, der verführerisch auf sie einwirke und entsprechend nachteilige Auswirkungen für ihre Entwicklung mit sich bringen könne. Dies habe wiederum unkalkulierbare, negative Konsequenzen für den künftigen Staat, da dieser von den aktuell Heranwachsenden zu tragen ist: „Denn der Jüngling ist nicht imstande zu unterscheiden, was dieser verborgene Sinn [ὑπόνοια] [der Dichtung] ist und was nicht; aber was er in diesen Jahren in seine Vorstellung aufnimmt, das pflegt schwer auszuwaschen und umzuändern zu sein.“30 Konkret bedeutet dies, dass nur jene Poesie anerkannt und toleriert werden kann, die sich pädagogisch in den Dienst der Staatserhaltung und -förderung stellen lässt. Der Zweck bestimmt dabei den Gehalt: Die Darstellung eines Gottes dürfe sich nicht in der Nachahmung allzu menschlicher Befindlichkeiten und Affekte ergehen, da das Bild einer lachenden, weinenden, jammernden und eifersüchtigen Gottheit sittlich zersetzend wirke. Analog hierzu solle der antike Heros nicht in erstarrtem Entsetzen und in Furcht vor dem Tod inszeniert werden, da solches ebendiese Furcht in dem Maße reproduziere, wie es zu faszinieren vermöge. Missachtet die Poesie die ihr anvertraute Vorbildfunktion, indem sie

30 Platon, Werke, Bd. 4, S. 160 f. (Politeia 378d–e).  

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nicht Gutes und Wahres mit den ihr zur Verfügung stehenden Mitteln zur Anschauung bringt, kann ihr kein Platz innerhalb der platonischen polis gewährt werden.31 Diese Bemerkungen liefern zwar beredte Beispiele, wie Sokrates/Platon sich die verderbliche Poesie vorstellt und wie eine ‚bereinigte‘ Dichtung möglicherweise ins Staatsgebilde integriert werden könnte; dennoch wird der spezifisch poetische Wirkmechanismus, mit dem sich jene Kritik rechtfertigen ließe, an dieser Stelle nicht erklärt. Das geschieht erst im letzten, dem zehnten Buch der Politeia (595a–608b), das mit dem Hinweis eröffnet wird, dass die Seele des Zuhörers nur dann vor der Dichtung geschützt sei, sofern sie wisse, wie sich die Dinge in Wirklichkeit (ὄντα) verhalten. Dieses Wissen über die tatsächlichen Verhältnisse wird dabei mit der medizinischen Metapher des „Pharmakon“ (φάρμακον) bezeichnet.32 Mit diesem Begriff antizipiert Platon das Ziel seiner Dichterkritik, die sowohl den Poeten als auch den Rezipienten umfasst: Poesie ist für ihn nur zu tolerieren, sofern sie in einem Abstimmungsverhältnis zum „wahrhaft Seienden“, zur Wahrheit bzw. wahren Verfassung der von ihr behandelten Gegenstände steht. Da sie diesen Bereich allerdings nicht selbstständig zu erschließen vermag, hat sie sich, gemäß ihrem sekundären Status, einem vorangehenden Erkenntnisprozess unterzuordnen, der ihr den wahren Gehalt der Dichtung vorgibt. Platons ‚Pharmazie‘33 ist dergestalt als seine eigene philosophische Methode zu begreifen – und er zeigt im zehnten Buch der Politeia, dass die Poesie dieser konträr gegenübersteht. Als Schlüsselwort, das den wahrheitsabgewandten Charakter der Poesie belegen soll, dient dabei die mimesis, welche die nachahmende Darstellungsweise in den Künsten bezeichnet. So beginnt Sokrates/Platon die Herleitung mit einer Frage nach der Tätigkeit des Demiurgen: des handwerklichen Meisters. Indem dieser etwas fertigt, bringt er zwar einen einzelnen Gegenstand zur Existenz, jedoch nicht dessen begrifflich fassbare Idee. Diese ist immer schon gegeben und damit dem handwerklichen Tun übergeordnet, welchem sie im Sinne eines Plans die notwendige Orientierung bietet.34 Die didaktische Pointe des Textes kündigt sich im direkten Anschluss

31 Die relevanten Textstellen finden sich in: Platon, Werke, Bd. 4, S. 162 f. (Politeia 327a–b) u. S. 204–217 (Politeia 394c–398b). 32 Platon, Werke, Bd. 4, S. 792 f. (Politeia 595b). 33 Dieser Terminus ist dem gleichnamigen Text Jacques Derridas entlehnt (vgl. Derrida, Jacques, Dissemination, deutsche Erstausgabe, übersetzt von Hans-Peter Gondek, hrsg. von Peter Engelmann, Wien 1995, S. 69–190). Derrida geht es vor allem um die im Phaidros entwickelte Schriftkritik und den mit der Schrift assoziierten Pharmakon-Begriff. 34 Platon, Werke, Bd. 4, S. 794 f. (Politeia 595b–c).  





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hieran in Form einer rhetorischen Frage an: Wie müsse man jemanden bezeichnen, der augenblicklich einen jeden – künstlichen oder natürlichen – Gegenstand machen kann („Ος πάντα π ο ι ε ῖ “)?35 Stößt diese Vorstellung einer radikal entgrenzten Poesie auf Unglauben seitens Sokrates’ Gesprächspartner, der mit der Antwort vorliebnimmt, es könne sich bei solch einem Menschen nur um einen Sophisten („σοφιστήν“)36 handeln, so beharrt doch Sokrates, zumindest vordergründig, auf der prinzipiellen Durchführbarkeit eben dieser Art des Machens. Unter Zuhilfenahme eines Spiegels („κάτοπτρον“)37 sei es nämlich möglich, bald dieses, bald jenes zu machen. Hier zeigt sich allem Anschein nach eine begriffliche Unschärfe, die es zu klären gilt. Denn die erneute Verwendung des Verbs ‚ποιέω‘ macht an dieser Stelle auf die Verlegenheit aufmerksam, dass poiesis verschiedene Herstellungsweisen miteinschließt, deren Ergebnisse, dieser Vielfältigkeit entsprechend, höchst unterschiedliche Seinsweisen darstellen können. Sokrates spielt mit seiner Frage auf diese Schwierigkeit an, denn gewiss geht auch er nicht davon aus, dass beispielsweise das Spiegelbild eines Betts denselben ontologischen Status innehat wie ein tatsächlich verwendbares Bett, in dem man schlafen kann. Dies wird auch von Glaukon im Dialog unverzüglich erkannt. Das Spiegelbild sei eben nur „scheinbar [φαινόμενα], […] jedoch nicht in Wahrheit [ἀληθεία] seiend.“38 Damit ist die entscheidende Opposition ausgesprochen, derer sich Platon widmen muss: die Verortung der Poesie im Zwiespalt zwischen Schein und Wahrheit. Die Wahl dieser Opposition als Ausgangspunkt der Dichterkritik mündet in einer Beurteilung der verschiedenen Weisen des Hervorbringens. Für das Bett gilt demnach: Sein Wesen („φύσει“)39 ist einmalig, verfertigt von Gott, den Platon an dieser Stelle „φῠτουργός“ nennt, was Schleiermacher mit „Wesenbildner“40 übersetzt, in einem weiteren Sinne aber den Erzeuger, Vater, ebenso aber Pflanzer und Gärtner meint. An eine solche gottgegebene Vorstellung hat sich derjenige zu halten, der tatsächlich ein Bett zu verfertigen beabsichtigt: der Demiurg oder „Werkbildner“,41 wie es bei Schleiermacher heißt. Dieser Werkbildner befindet 35 Platon, Werke, Bd. 4, S. 794 f. (Politeia 595b–c). 36 Platon, Werke, Bd. 4, S. 796 f. (Politeia 596d). 37 Platon, Werke, Bd. 4, S. 796 f. (Politeia 596d). 38 Platon, Werke, Bd. 4, S. 796 f. (Politeia 596d). Vgl. hierzu Heidegger, der in Der Wille zur Macht den altgriechischen Text und damit die Schleiermacher-Übersetzung ‚präzisiert‘: „Hier stehen einander ὂν φαινόμενον und ὂν τῇ ἀληθείᾳ entgegen: das Seiende als sich Zeigendes und das Seiende als Nichtverstelltes; keineswegs φαινόμενον als ,Schein‘ und ,Scheinbares‘ auf der einen und ὂν τῇ ἀληθείᾳ als ,Sein‘ auf der anderen Seite; sondern jedesmal ὂν – ,Anwesendes‘, aber in verschiedener Weise des Anwesens.“ (Heidegger, Nietzsche I, S. 180). 39 Platon, Werke, Bd. 4, S. 801 (Politeia 596e). 40 Platon, Werke, Bd. 4, S. 801 (Politeia 596e). 41 Platon, Werke, Bd. 4, S. 801 (Politeia 596e).  







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sich in einem Verhältnis zum tatsächlichen Wesen des Bettes, das ihm die Form und, durch sie vermittelt, auch den besten Herstellungsprozess vorgibt. An dritter Stelle nennt Platon denjenigen, der am weitesten von diesem Wesen entfernt ist. Es handelt sich dabei um den Nachbildner, den Mimetiker („μῑμητὴς“),42 als welchen Platon den Maler ebenso wie den Tragödiendichter begreift. Im Gegensatz zum Demiurgen gilt für den Mimetiker, dass er in seinem Tun gerade nicht auf das Wesen des Betts bezogen ist, sondern sich der Mannigfaltigkeit des sinnlich Gegebenen annimmt, die dem Kunstwerk seine Gestalt vorgibt. So fragt Sokrates: Auf welches von beiden geht die Malerei [sowie die Dichtung] bei jedem? Das Seiende nachzubilden, wie es sich verhält, oder das Erscheinende, wie es erscheint, als eine Nachbildnerei der Erscheinung [φαντάσματος] oder der Wahrheit? – Der Erscheinung [φαντάσματος], sagte er [Glaukon]. – Gar weit also von der Wahrheit ist die Nachbildnerei; und deshalb, wie es scheint, macht sie auch alles, weil sie von jedem nur ein Weniges trifft und das im Schattenbild [εἴδωλον].43

Phantasmatisch ist nach Platon die Arbeit des Dichters, ihr Maßstab nicht mehr als ein schattenhaftes Idol. Diese abschätzige Verwendung des Phantasma-Begriffs ist jedoch ambivalent. Zwar spricht sich darin eine dem Ansatz nach psychopathologische Bewertung der Poesie aus, da der Begriff des Phantasmas neben der Erscheinung auch das Gespenstische sowie das Traumgesicht bezeichnet. Man könnte ihn auch im weitesten Sinne als eine Form unkontrollierter Projektionsleistung der Einbildungskraft verstehen. Zugleich steht er etymologisch in einem Zusammenhang mit der Phantasie,44 worin zumindest anklingt, dass Platons Einschätzung des von ihm verwendeten Begriffsnetzes möglicherweise nicht den Kern der Sache treffen könnte. Hierauf bezieht sich ein denkbarer Einwand, ist doch die Frage durchaus berechtigt, ob der nachahmende Künstler in seinem Schaffen ausschließlich auf jenen Gegenstand bezogen ist, den er abzubilden beabsichtigt. Wäre dem so, hätte man es mit einem Konkurrenzverhältnis zu tun, in welchem der leichtgläubige Rezipient bzw. Künstler dem Phantasma den Vorzug gibt gegenüber demjenigen Gegenstand, der sich im Grunde genommen näher am wahren Wesen der Sache befindet. Allerdings ist fraglich, ob sich das Wesen der abbildenden Kunst und der Abbildung allgemein anhand

42 Platon, Werke, Bd. 4, S. 801 (Politeia 597e). 43 Platon, Werke, Bd. 4, S. 802 f. (Politeia 598b). 44 Aristoteles verwendet ‚Phantasma‘ in De anima wertneutral im Sinne eines mentalen Vorstellungsbildes (vgl. Aristoteles, Werke in deutscher Übersetzung, begründet von Ernst Grumach, fortgeführt von Hellmut Flashar, hrsg. von Christof Rapp, Bd. 13, übersetzt von Willy Theiler, Berlin 1959, S. 55 (De anima, 3. Buch, 428a).  

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einer solchen Betrachtungsweise erschließen lässt. Denn streng genommen müsste auch eine Idee bzw. ein Wesen der Abbildung existieren, worauf der Künstler sich, nicht unähnlich dem Demiurgen, primär bezieht, sobald er tätig ist. Der konkrete Gehalt, sei es ein Bett oder aber eine Tragödie, müsste sich neben dem tatsächlich gegebenen Vorbild immer auch an dieser Idee der Abbildung orientieren.45 Die platonische Kritik berücksichtigt dies freilich nicht. Platon hält an seiner Prämisse fest, der Kunst einen Mangel an Wahrheitssinn zu attestieren. Entsprechend stellt er das Poetische als Schein eines Scheins vor: Dichterische Nachahmung vollzieht sich nicht nur ohne einen Erkenntnisprozess (epistêmê), welcher der Kunstfertigkeit oder Technik (technê) des Demiurgen obligatorisch vorausgeht; für Platon indiziert das mimetische Verhalten des Künstlers, dass er eben nicht dazu in der Lage ist, ein Bett etc. herzustellen – denn könnte er dies, so würde er es wohl auch tun und seine Zeit nicht mit mimesis vergeuden.46 Noch schwerer wiegt allerdings, dass es ihm ebenso an Einsicht in das Wesen des Guten mangelt. Wendet man den platonischen Poesie-Begriff auf die Sphäre der Ethik und des Schönen an, so gilt in diesem Fall, dass Maler und Dichter beides bloß so zur Darstellung bringen, wie es der breiten Masse erscheint, deren Anerkennung sie begehren. Damit reproduzieren sie weitestgehend jene falschen Vorstellungen und Meinungen vom Guten oder Schönen, die, im Sinne des kleinsten gemeinsamen Nenners, von den Vielen – und dies heißt nach Platon: den Unverständigen – anerkannt werden. Auch in ethischer Hinsicht vermehre der Dichter mit seinem Werk folglich bloß den Schein von Tugend oder Schönheit, nicht sie selbst. Indem er mimetisch tätig ist, offenbart er seinen begrifflichen Unverstand, worin sich zeigt, dass der Dichter allzu leichtfertig ans Werk geht. Daher kann der Dichter die Bürger einer idealen polis nach Platon nur zum schlechten, weil einsichtslosen Handeln anleiten.47

45 Vgl. Bröcker, Walter, Platos Gespräche, 2. Auflage, Frankfurt/Main 1967, S. 316 f. 46 Vgl. Platon, Werke, Bd. 4, S. 804 f. (Politeia 599a–b). 47 Vgl. Platon, Werke, Bd. 4, S. 824–827 (Politeia 605a–c).  



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3 – [S]o wüsste ich nichts, was mich über P l a t o ’ s Verborgenheit und Sphinx-Natur mehr hat träumen lassen als jenes glücklich erhaltene petit fait: dass man unter dem Kopfkissen seines Sterbelagers keine „Bibel“ vorfand, nichts Ägyptisches, Pythagoreisches, Platonisches, – sondern den Aristophanes. Wie hätte auch ein Plato das Leben ausgehalten – ein griechisches Leben, zu dem er Nein sagte, – ohne einen Aristophanes! –48

Platons Absage an Kunst und Dichtung ist radikal und scheint irreversibel, sie kennt jedoch zwei Ausnahmen. So ist die Dichtung tolerierbar, sofern sie sich über ihr eigenes Unvermögen belehren lässt und den Vorgaben der dialektischen Methode bereitwillig Folge leistet. Darin gleicht sie der Rhetorik, auf deren sophistische Wertschätzung Platon mit einer ähnlichen Argumentation reagiert. Auch für sie gilt nach Platon: „Muß nicht, wo gut und schön geredet werden soll, des Redenden Verstand die wahre Beschaffenheit dessen erkennen, worüber er reden will?“49 Noch ein weiterer Aspekt in Platons Denken gesteht der Dichtung einen gewissen Freiraum zu. Dieser Aspekt ist auch insbesondere für Nietzsches Perspektive auf die Poesie von Bedeutung, da sich eine vollständige Abschrift der entsprechenden Passage aus dem Phaidros in einem frühen Notizheft findet. Sie lautet: Wer aber ohne diesen Wahnsinn der Musen in den Vorhallen der Dichtkunst sich einfindet, meinend er könne durch Kunst allein genug ein Dichter werden, ein solcher ist selbst uneingeweiht, und auch seine, des Verständigen, Dichtung wird von der des Wahnsinnigen verdunkelt.50

Nietzsche kommentiert in seiner Schrift über Sokrates und die griechische Tragoedie diesen Passus51 und attestiert Platon eine gewisse Ironie, die ihn dazu verleite, das schöpferische Vermögen der Dichtung in die Sphäre des Wahnsinns zu entrücken und es damit jenem janusköpfigen Sprechvorgang anzunähern, der sich im Deutschen paritätisch mit Wahn- und Wahrsagekunst (μανική-μαντική) übersetzen lässt.52 Obwohl sie sich bis zu einem gewissen Grad apologetisch lesen

48 JGB 28, KSA 5, 47, 20–27. 49 Platon, Werke, Bd. 5, S. 120 f. (Phaidros 259e). Adorno markierte diese Passage in seiner privaten Platon-Ausgabe und setzte den Vermerk hinzu, es handle sich dabei um den „Kern der Theorie der Rhetorik“ (Adorno, Theodor W., Nachgelassene Schriften, Abt. 4, Bd. 2, hrsg. von Christoph Ziermann, Berlin 2010, S. 349). 50 NL 1869, 1[64], KSA 7, 29, 23–30, 3. 51 Vgl. SGT, KSA 1, 626, 4–9. 52 Vgl. Platon, Werke, Bd. 5, S. 62–65 (Phaidros 244a–e).  

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lässt, geht die Aussage nicht über die platonische Kritik hinaus. Dichtung könne gewiss schön sein; ist sie es aber, so nur deshalb, weil sie vom Wahnsinn geführt werde. Darin zeige sich ferner, dass ihr Vernunft und Verstand fehlen, und sofern Dichtung sich vom Verstand herleite, sei sie wirkungsästhetisch geringer einzuschätzen als jene, die ihre Existenz der Dynamik des Wahns verdanke.53 Sokrates spricht dabei ironisch, da er der Dichtung mit der lobenden Geste zugleich ein logisch nachvollziehbares Wahrheitsverhältnis abspricht. Überdies ist gerade der Hinweis, dass Dichtung nur dann wirklich gut sei, sofern Wahnsinn aus ihr spreche, ein weiteres Argument dafür, sie aus der idealen polis zu verbannen. Pointiert man diese Aussagen, wird evident, dass Dichtung für Platon eine ethische und sozialpolitische Gefahr darstellt. Ihre mimetische Funktionsweise verschleiere nicht nur den Zugang zur wahren und richtigen Erkenntnis, sie produziere auch dezidiert falsche Meinungen, die aufgrund ihres schönen Scheins zur Nachahmung verleiten. Man vergegenwärtige sich an dieser Stelle die zentralen Fragen dieses Beitrags: Was geschieht mit dem Metaphysiker und seinem absoluten Wahrheitsanspruch, sobald er erkennt, dass er selbst der ‚lediglich‘ dichterische Schöpfer seiner verabsolutierten Wahrheiten ist? Ferner: Worin liegt die Gemeinsamkeit im Denken Platons und Nietzsches? Angesichts dieser Fragen liegt es nahe, der Spur der platonischen Verurteilung der Poesie zu folgen. Gerade in jenem Wirkmechanismus, den Platon als Grund ihrer Verdammung aus der polis anführt, entdeckt Nietzsche ein originäres und für ihn höchst relevantes Potential. Dies wird verständlich, wenn wir uns die ursprüngliche Hierarchie der für Platon wesentlichen philosophischen Sprechweisen54 nochmals vor Augen führen: Zuoberst steht die Dialektik, das sokratische Gespräch, das exklusiv den Zugang zur Erkenntnis des Wahren gewährleistet. Ihr untergeordnet sind Rhetorik und Poesie, die mittels Form und Effekt Affekte und damit Glauben im Menschen erregen, aber methodisch nicht in der Lage sind, den erkenntniskritischen Schritt der Dialektik eigenständig nachzuvollziehen. Nietzsche kehrt dieses System um. Er entwirft seine Philosophie als „u m g e d r e h t e [n] 53 Vgl. hierzu Platons Ion, in welchem Dichtung als eine Folge des göttlich generierten enthousiasmos begriffen wird. Demnach wird auch hier Poesie, entgegen der technê, als etwas vorgestellt, dem Vernunft (nous) mangelt: „Nämlich dies wohnt dir nicht als Kunst [τέχνη] bei, gut über den Homeros zu reden, wie ich eben sagte, sondern als eine göttliche Kraft [θεία δὲ δύναμις], welche dich bewegt […]. Denn alle rechten Dichter alter Sagen sprechen nicht durch Kunst, sondern als Begeisterte und Besessene alle diese schönen Gedichte […], sowenig die, welche vom tanzenden Wahnsinn befallen sind, in vernünftigem Bewußtsein tanzen, so dichten auch die Liederdichter nicht bei vernünftigem Bewußtsein […].“ (Platon, Werke, Bd. 1, S. 15. = Ion 533d–534a). 54 Ich klammere den Mythos an dieser Stelle aus. Zur Charakteristik des Mythos bei Platon, der Kritik sowie der Erläuterung des narrativen Potentials vgl. Schäfer, Christian, Mythos/Mythenkritik [Artikel], in: Horn / Müller / Söder (Hrsg.), Platon-Handbuch, S. 309–313.

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P l a t o n i s m u s “, was ihm nur dann gelingen kann, wenn er nicht bloß die Axiome der platonischen Metaphysik invertiert, sondern auch die sprachliche Ebene miteinbezieht. Er muss die Poesie gegenüber der Dialektik aufwerten, wenn er die platonische Ideenwelt zugunsten eines am Leben orientierten Philosophierens negieren will. So ist das platonische Poesie-Verständnis für Nietzsches Denken unabdingbar, weil es der Dichtung den Bezug zum Absoluten gerade abspricht. Für Nietzsche ‚lügt‘ die Poesie sogar offenkundig und verweist somit auf die ‚Wahrhaftigkeit‘ ihrer Lüge. Die selbstbezügliche Struktur der poetischen Lüge respektive der lügnerischen Poesie bedingt folglich ihre eigene Aufhebung. Auch wenn die Poesie die Dinge in der Welt ‚nur‘ repräsentiert, thematisiert sie durch ihre stilistischen Mittel stets die eigene Verfasstheit und bringt damit in ästhetischer Weise zur Anschauung, dass sie lügt, dass ihr Anders-Sein zugleich ein Anders-Scheinen ist und dass sie letztlich Sprache bleibt. Nicht das logische Instrumentarium der Dialektik gewährt dabei Einsicht in die lügnerische ‚Wahrheit‘ der Poesie, sondern ein Resonanzraum, der sich zunächst der ästhetischen Reflexion öffnet und in welchem das Motiv des Willens zur Nebensächlichkeit wird: Wie ist nur die Kunst als Lüge möglich! […] Kunst behandelt also den S c h e i n a l s S c h e i n , will also gerade n i c h t täuschen, i s t wahr. Das reine begierdenlose Betrachten ist nur an dem Scheine möglich, der als Schein erkannt wird, der gar nicht zum Glauben verführen will und insofern unsern Willen gar nicht anregt. […] So lange man Wahrheit an der Welt sucht, steht man unter der Herrschaft des Triebes: der aber will L u s t und nicht Wahrheit, er will den Glauben an die Wahrheit, also die Lustwirkungen dieses Glaubens.55

Nietzsche ergänzt diese Verteidigung des Scheins um die psychologische Aufdeckung des vermeintlich wahren Motivs der platonischen Dichterkritik: In dem Bedürfnis, Wahrheit im logos der Rede zu fassen, verberge sich ein Trieb nach der Verewigung des eigenen Willens. Dieser Trieb würde sich beispielsweise im platonischen Dialog über den idealen Staat manifestieren, der die schriftlich festgehaltene Idee vom Staat verewigt, indem er als Richtlinie einer realen polis erscheint. Der Bezug zum Absoluten als Gradmesser von ‚wahr‘ und ‚falsch‘ ist Nietzsche zufolge nur das Sublimat eines individuellen Willens, der die Autorisierung durch vermeintlich höhere Instanzen zur Selbstbefriedigung nutzt. Dementsprechend

55 NL 1873, 29[17], KSA 7, 632, 11–633, 4.

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sei die von Platon für die Dialektik in Anspruch genommene ‚Wahrheit‘ nur ein Scheinbesitz. Für Nietzsches philosophische Validierung der Poesie bedeutet dies, dass er nicht im Geiste Platons ihren Scheincharakter als Wahrheitsferne deutet, sondern eine originäre Nähe der Dichtung zur Wahrheit ausmacht. Darin besteht ihm zufolge ihr erkenntniskritisches Potential. In dem Text Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne gibt es einen vielzitierten Satz, der, selbst wenn er nicht direkt über Dichtung spricht, um eben diese Problematik kreist: „[D]ie Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, dass sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen in Betracht kommen.“56 Die Fragwürdigkeit einer Aussage, die alle Wahrheit zur sprachlichmetaphorischen Illusion erklärt, muss an dieser Stelle nicht erörtert werden. Bereits im Vergleich der hier vollzogenen Denkbewegung mit Nietzsches Aussagen über das Verhältnis von Dichtung und Wahrheit zeigt sich ein analoges aufklärerisches Moment. Das Ziel dieser philosophischen Aufklärung bestünde darin, die vergessene Metapher als vergessene Metapher kenntlich zu machen, um die prinzipielle Scheinhaftigkeit allen Daseins aufzuzeigen und den oberflächlichen Schein als Gegenentwurf einer absoluten Wahrheit zu überwinden. Insbesondere Dichtung und Kunst eignen sich zu diesem Zweck, da sich in ihnen die Differenz zwischen Wort und Sache, zwischen Ding und Idee ästhetisiert. Wie die ästhetische Reflexion die Metapher als Metapher erkennt, so verweist Poesie, da sie ihre Autotelie im Grunde nie zu leugnen vermag, auf sich selbst als Poesie: Sie ist zur Erscheinung gebrachte Affirmation ihres eigenen Scheinens, womit sie sich als Exemplum der prinzipiellen Scheinhaftigkeit des Lebens erweist. Darin ist sie nach Nietzsche gerade ‚wahrer‘ und lebensnäher als jene dialektisch hervorgebrachten metaphysischen ‚Wahrheiten‘ Platons, die von ihrer sprachlichen Vermittelbarkeit ausgehen müssen, um ihren Hegemonialanspruch zu behaupten. Während die platonische Metaphysik demnach das Leben von einer abstrakten Idee her begreift, beansprucht Nietzsches Philosophie der Poesie für sich, das Leben gewissermaßen über sich selbst aufzuklären, indem sie es dem Menschen ermöglicht, seine Kontingenz anzuerkennen und ihr in Form schöpferischer Akte und ästhetischer Reflexion Sinn zu verleihen. Diese philosophische Position kann aber nur ergriffen werden, wenn philosophisches und künstlerisches Sprechen nicht hierarchisch geordnet werden. Nietzsches stilistischer Pluralismus ist daher kein Manierismus, sondern seinem Wesen nach Ausdruck eines erkenntnis-

56 WL 1, KSA 1, 880, 34–801, 4.

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kritischen – und gewissermaßen auch humanistischen – Strebens, in dem alle zur Verfügung stehenden Register gezogen werden. Noch im Mai oder Juni 1888 schreibt Nietzsche: Die Kunst und nichts als die Kunst! Sie ist die große Ermöglicherin des Lebens, die große Verführerin zum Leben, das große Stimulans des Lebens. […] Die Kunst als die E r l ö s u n g d e s E r k e n n e n d e n , – dessen, der den furchtbaren und fragwürdigen Charakter des Daseins sieht, sehn will, des Tragisch-Erkennenden. […] Aber die Wahrheit gilt nicht als oberstes Werthmaaß, noch weniger als oberste Macht. Der Wille zum Schein, zur Illusion, zur Täuschung, zum Werden und Wechseln (zur objektiven Täuschung) gilt hier als tiefer, ursprünglicher, metaphysischer als der Wille zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, zum Sein: – letzteres ist selbst bloß eine Form des Willens zur Illusion.57

Durch ihre Performativität vermittelt die Poesie nicht nur ihre ‚Wahrheit‘ vom prinzipiellen Schein aller Dinge, sondern versöhnt im Zuge ihrer ästhetischen Verklärung des Scheins den Menschen mit der Welt, die sich ihm im Moment tragischer Erkenntnis als ‚bloßer Schein‘ erschließt. Nietzsches Begriff des Poetischen ist insofern nicht rein ästhetisch zu verstehen, sondern in Verbindung mit einer aufklärerischen Tendenz, durch die der Scheincharakter des Daseins in aller Klarheit hervortritt. Ob sich damit ein humanistisches Programm andeutet, dem zufolge etwa der Mensch nur dort ganz Mensch sei, wo er dichtet, mag offen bleiben; doch angesichts der Nietzsche notwendig erscheinenden Spiegelung des Platonismus lässt sich mit einem gewissen Recht die Vermutung äußern, dass für ihn die Poesie zum Trost einer Philosophie wurde, die nicht bereit war, über den Verlust ihrer ewigen Wahrheiten in Trauer zu erstarren.

57 NL 1888, 17[3], KSA 13, 521, 18–522, 9.

Julius Thelen

Das Dasein zwischen Komödie und Tragödie: Zum ersten Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaft Abstract: Existence between comedy and tragedy: On the first paragraph of Die fröhliche Wissenschaft. The paper offers a close reading of the first paragraph of Die fröhliche Wissenschaft, focussing on its intellectual content as well as the aesthetic strategies for conveying this content. By reconstructing Nietzsche’s different textual sources, it will be shown how the various pre-texts of philosophers like Schopenhauer and Hegel, ‘evolutionary biologists’ like Spencer, Schneider and Büchner, or poets like Horace and Aeschylus are merged together into a polyphonic, tension-filled whole. The different semantics of evolutionary biology, philosophy of history and drama are closely interwoven: FW 1 connects the biological perspective of the preservation of the species with an interpretation of human existence both as a tragedy and a comedy while the paragraph’s narrator simulates both perspectives within different historical models. The various ambivalences of the paragraph can be interpreted as the product of textual strategies, which ultimately aim at repealing the logical structure of arguments.

1 Einleitung Wolfram Groddeck hat vor knapp 20 Jahren über Nietzsches Fröhliche Wissenschaft1 geurteilt, es sei sein „heiterstes und zwei-deutigstes Buch, sein eigentliches Poeten- und Künstlerbuch“,2 wobei er unter anderem auf die „unauslotbaren intertextuellen“ Bezüge hinwies, die das 1882 erstmals veröffentlichte Werk auszeichneten. Vielleicht liegt es an diesen Aspekten, dass es lange Zeit keine Forschung gab, die sich mit der Schrift textintensiv und kontextsensitiv befasst

1 Zum Druck und zur Entstehung der Fröhlichen Wissenschaft vgl. Kaufmann, Sebastian, „die letzte Entscheidung über den Text zwingt zum scrupulösesten ‚Hören‘ von Wort und Satz“. Textgenese und Druckgeschichte der Fröhlichen Wissenschaft, in: Benne, Christian / Georg, Jutta (Hrsg.), Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, Berlin / Boston 2015 (Klassiker Auslegen, Bd. 57), S. 7–18. 2 Groddeck, Wolfram, Die „neue Ausgabe“ der „Fröhlichen Wissenschaft“. Überlegungen zu Paratextualität und Werkkomposition in Nietzsches Schriften nach „Zarathustra“, in: Nietzsche-Studien, Jg. 26, Berlin / Boston 1997, S. 184–198, hier S. 198.

DOI 10.1515/9783110474374-015

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hätte. Beiträge wie die Jörg Salaquardas oder Marco Brusottis bieten Interpretationen der Fröhlichen Wissenschaft im Ganzen, ohne jedoch gleichmäßig detailliert auf die einzelnen Textabschnitte einzugehen.3 Erst in jüngerer Zeit erscheinen vermehrt Studien, die einzelne Bücher oder gar Abschnitte untersuchen.4 Bisher wirkt es jedoch so, als seien die meisten Forscher in ihrer Arbeit auf halbem Wege stehengeblieben. Zwar ist durch eine genauere Betrachtung der Einzeltexte ihre Ambivalenz als konstitutives Moment in den Blick geraten und es wurde die Frage nach ihren ästhetischen Strategien aufgeworfen. Vor allem die Einsicht, dass die Sprecherinstanz der Texte nicht mit dem empirischen Autor Nietzsche gleichgesetzt werden kann, ist entscheidend.5 Jedoch fehlt es dieser Vorgehensweise häufig an Konsequenz; immer noch wird, trotz besserer Einsicht, etwa ‚Nietzsches Philosophie‘ als Interpretament für schwierige Textstellen herangezogen. Dies ist insofern fraglich, als die Rede von einer solchen ‚Philosophie‘ eine Arbeit am Text voraussetzt, die derweil im Beginnen ist. Erst durch eine Textlektüre, die das Zusammenspiel von gehaltlicher Vielstimmigkeit, ästhetischer Strategie und intertextueller Verweisungsvielfalt ernst nimmt, könnte so etwas wie eine über den Einzeltext hinausreichende ‚Philosophie‘ überhaupt rekonstruiert werden.

3 Vgl. Salaquarda, Jörg, Die „Fröhliche Wissenschaft“ zwischen Freigeisterei und neuer „Lehre“, in: Nietzsche-Studien, Jg. 26, Berlin / Boston 1997, S. 165–183; sowie Brusotti, Marco, Erkenntnis als Passion. Nietzsches Denkweg zwischen „Morgenröthe“ und der „Fröhlichen Wissenschaft“, in: Nietzsche-Studien, Jg. 26, Berlin / Boston 1997, S. 199–225. Brusotti versteht diese Abhandlung als Komplement zu seiner Dissertation, vgl. ders., Die Leidenschaft der Erkenntnis. Philosophische und ästhetische Lebensgestaltung bei Nietzsche von „Morgenröthe“ bis „Also sprach Zarathustra“, Berlin / New York 1997. 4 Vgl. hierzu den Sammelband von Piazzesi, Chiara / Campioni, Giuliano / Wotling, Patrick (Hrsg.), Letture della ‚Gaia scienza‘. Lectures du ‚Gai savoir‘, Pisa 2010. Siehe ebenfalls den Einführungsband von Benne / Georg, Friedrich Nietzsche: Die fröhliche Wissenschaft, der auch eine Auswahlbibliographie bietet (S. 180–183). Hierin für den Zusammenhang dieser Arbeit wichtig: Zittel, Claus, „eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe“. Das unfröhliche „erste Buch“ der „Fröhlichen Wissenschaft“, S. 52–67. Grundlegend für das Fünfte Buch der Fröhlichen Wissenschaft, aber auch in seiner Methode der kontextuellen Interpretation ist Stegmaier, Werner, Nietzsches Befreiung der Philosophie. Kontextuelle Interpretation des V. Buchs der „Fröhlichen Wissenschaft“, Berlin / Boston 2012, siehe hier auch den Forschungsüberblick S. 47–49. 5 Vgl. jüngst die programmatischen Erwägungen bei Kaufmann, Sebastian, Ob „Wahrheit noch Wahrheit bleibt, wenn man ihr den Schleier abzieht“? Das Verhältnis von Philosophie und Kunst in der Vorrede zur „Fröhlichen Wissenschaft“, in: Grätz, Katharina / Kaufmann, Sebastian (Hrsg.), Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur. Von der „Fröhlichen Wissenschaft“ zu „Also sprach Zarathustra“, Heidelberg 2016, S. 75–106, hier S. 79 f. Vgl. auch Benne, Christian, Was ist der Zweck der Tragödie? Zum ersten Aphorismus der „Fröhlichen Wissenschaft“, in: Grätz / Kaufmann (Hrsg.), Nietzsche zwischen Philosophie und Literatur, S. 107–117, hier S. 108–110.  

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Genau eine solche grundlegende Lektüre möchte ich im Folgenden für den ersten Abschnitt der Fröhlichen Wissenschaft zu leisten versuchen, dessen Bedeutung nicht zuletzt aus seiner exponierenden Stellung hervorgeht. Christian Benne ist der Erste, der diesen Text vor kurzem einer intensiveren Analyse unterzog.6 Er betrachtete den Abschnitt jedoch nicht in seiner Gesamtheit, sondern aspektorientiert im Hinblick auf das Thema der Tragödie. Einige weiterführende Hinweise bietet zudem der auf das Verhältnis von Tragödie und Parodie zielende, die Ergebnisse von Benne zum Teil vorwegnehmende und komplementierende Aufsatz von Griffin.7 Schließlich sei auch das Kapitel aus Higgins’ Monographie zur Fröhlichen Wissenschaft angeführt, das ebenfalls einige wichtige Beobachtungen aufweist.8 Die beiden letztgenannten Titel haben freilich den Nachteil, dass sie, anders als – zum Teil – Benne, die fundamentale Unterscheidung zwischen dem Autor Nietzsche und der von ihm installierten Vermittlungsinstanz(en) nicht vollziehen. Im Folgenden soll also eine minutiöse Lektüre von FW 1 geleistet werden, die sowohl die ästhetischen Vermittlungsstrategien als auch den gedanklichen Gehalt des Textes detailliert betrachtet. Eine notwendige Voraussetzung hierfür (sowie für die Beschäftigung mit den Werken Nietzsches im Ganzen) ist die Rekonstruktion seiner Quellen bzw. Prätexte.9 Nur dadurch kann man der Doppel- bzw. ‚Vielbödigkeit‘ von Nietzsches Schreiben gerecht werden. Wie zu zeigen ist, gibt es im zu untersuchenden Text keine starren Positionen, die nicht durch Relativierungen, Gegenpositionen oder Fortschreibungen unterlaufen würden; eine Interpretation, die eine feine Differenzierung anstrebt, wird versuchen müssen, dies auch analytisch einzuholen.

6 Vgl. Benne, Was ist der Zweck der Tragödie? 7 Griffin, Drew E., Nietzsche on Tragedy and Parody, in: Philosophy and Literature, Jg. 18, Heft 2, Baltimore 1994, S. 339–347. 8 Higgins, Kathleen Marie, Comic Relief. Nietzsche’s Gay Science, New York / Oxford 2000, v. a. S. 45–51. 9 Programmatisch hierzu: Sommer, Andreas Urs, Vom Nutzen und Nachteil kritischer Quellenforschung. Einige Überlegungen zum Fall Nietzsches, in: Nietzsche-Studien, Jg. 29, Berlin / Boston 2000, S. 302–316. Realisiert wird dieses Vorhaben unter der Leitung von Sommer im Historischen und kritischen Kommentar zu Friedrich Nietzsches Werken (NK). Der Band zur Fröhlichen Wissenschaft (NK 3/2) wird derzeit von Sebastian Kaufmann erarbeitet und erscheint voraussichtlich 2019. Der Autor hat mir freundlicherweise sein vorläufiges Manuskript zu FW 1 zur Verfügung gestellt, dem ich einige wichtige Prätexte verdanke. Darüber hinaus bin ich ihm für die unverzichtbaren, meinen Blick auf Nietzsche wesentlich prägenden Diskussionen zu Dank verpflichtet.

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2 Die Arterhaltung als menschliches Telos Der erste Abschnitt10 der Fröhlichen Wissenschaft beginnt mit der Exponierung einer subjektiven Sprechinstanz, die dezidiert als „Ich“ in Erscheinung tritt, obwohl sie einen objektiven Anspruch erhebt.11 Die Subjektivität wird einerseits relativiert, indem der Sprecher behauptet, dass es keine Rolle spiele, ob man eher ein philanthropisches („mit gutem […] Blicke“) oder ein misanthropisches („mit […] bösem Blicke“) Menschenbild habe;12 andererseits, indem er eine strenge Gesetzmäßigkeit des Observierten geltend macht: „ich finde sie [die Menschen] immer bei Einer Aufgabe, Alle und jeden Einzelnen in Sonderheit“.13 Die These, deren Vortrag anfänglich zwischen Subjektivität und Objektivität changiert, verfolgt eine anthropologische Fragestellung. Der Sprecher meint das „[T]hun“ des Menschen auf die „Erhaltung der menschlichen Gattung“ festlegen zu können, wobei auch die Gründe für diese Verhaltensweise nachgeliefert werden.14 Ein konkurrierendes Erklärungsmuster, das einer philanthropischen Einstellung („Liebe für diese Gattung“),15 verwirft er in spöttischem Gestus; vielmehr beschreibt das Ich die Gattungserhaltung16 als „Instinct“, der „älter, stärker, unerbittlicher, unüberwindlicher ist“, ja „d a s W e s e n unserer Art und Heerde“ sei.17 Es handelt sich mithin um ein – angesichts der anthropologischen Tradition seit der Antike – provozierendes Theorem, das hier vorgestellt wird. Die Wesensbestimmung des Menschen leistet der Sprecher nicht etwa über die Vernunft-

10 Zur Diskussion der Form der Fröhlichen Wissenschaft vgl. Zittel, „eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe“, S. 52–54, der mit guten Gründen den in der Forschung lange konventionalisiert gebrauchten Aphorismus-Begriff verwirft. Zum Begriff des Aphorismus bei Nietzsche vgl. Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 9–11. Siehe hier vor allem auch die Hinweise zur Forschungsliteratur, S. 9. 11 FW 1, KSA 3, 369, 3. Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 109 führt aus: „Es sprechen die titelgebenden Lehrer selber. Da es mehrere sind, müssten sich auch mehrere Stimmen unterscheiden lassen.“ In Bezug auf den vorliegenden Abschnitt ist es, wie kenntlich werden wird, jedoch nicht möglich, die verschiedenen Stimmen klar voneinander zu unterscheiden. Higgins, Comic Relief, S. 54 zielt mit ihrer Beobachtung, der Sprecher Nietzsche nehme hier einen ‚gottgleichen‘ Standpunkt ein, um „humanity at a distance“ zu beobachten, über den Textbefund hinaus. 12 FW 1, KSA 3, 369, 4. Zu dieser Eingangssequenz und ihrem Zusammenhang im Ersten Buch der Fröhlichen Wissenschaft vgl. Zittel, „eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe“, S. 56. 13 FW 1, KSA 3, 369, 5 f. 14 FW 1, KSA 3, 369, 6 f. 15 FW 1, KSA 3, 369, 8. 16 Vgl. kontrastiv hierzu Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 110, der – trotz seines Polyphonie-Theorems – Nietzsche als „Kritiker der Metaphysik“ heranzieht, um zu belegen, dass es sich bei der vertretenen These nicht um die wahre Auffassung Nietzsches handeln könne. 17 FW 1, KSA 3, 369, 9–11.  



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fähigkeit, sondern über ein Vermögen, das ihn gemeinhin nicht von Tieren unterscheidet. Über seinen „Instinct“ zur Arterhaltung kann der Mensch keineswegs rational verfügen. Versucht man diese pointierten Ausführungen vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Diskussionen, vor allem aber im Hinblick auf die Lektüren Nietzsches zu verorten, mag man zunächst an Schopenhauer denken. In Die Welt als Wille und Vorstellung findet sich die These, dass es die „Gattung allein“ sei, an deren „Erhaltung“ „der Natur gelegen ist“.18 Vor allem die „große Macht des Befruchtungstriebes“ wird als ein Mittel beschrieben, mit der die als Agens verstandene Natur das Fortleben des menschlichen Geschlechts bewirke. Von dieser Intention weiß der (im Gegensatz zum reflektierenden Philosophen Schopenhauer) im konkreten Lebensvollzug aufgehende Mensch freilich nichts. Für diesen ist vielmehr die „Selbsterhaltung“19 das „erste Streben“ und wenn dafür gesorgt ist, „strebt er“ als natürliches Wesen „nur nach Fortpflanzung des Geschlechts“; ja der „Geschlechtstrieb“ wird ihm zum „letzte[n] Zweck“ des Lebens. Diese Differenzierung zwischen der Perspektive des Individuums und der Intention der Natur, die in ein und derselben Handlung des Individuums unterschiedliche Zwecke verfolgen, findet sich in den Ausführungen des Sprechers bei Nietzsche nicht. Sie wird sogar auf eigentümliche Weise verwischt. Wenn es heißt, dass das sprechende Ich die Menschen immer bei einer Aufgabe finde, entsteht der Eindruck, dass sie die Erhaltung ihrer Gattung durchaus intentional verfolgen – wenngleich dies dem Begriff des ‚Instinkts‘ entgegensteht. Auch wird im Laufe des Abschnitts deutlich, dass der Sprecher bei Nietzsche keineswegs auf den „Geschlechtstrieb“ als „Instinct“ abhebt; anders als bei Schopenhauer, wo die sexuelle Dimension zentral ist, bleibt sie in FW 1 gänzlich ausgespart. Mit diesem Verweis auf Nietzsches frühen ‚Lehrer‘ ist die Frage nach seinen Quellen jedoch noch keineswegs zureichend beantwortet. Man wird darüber hinaus im Kontext der darwinistischen Literatur des angelsächsischen Raumes und ihrer deutschen Vermittler fündig, die Nietzsche spätestens seit seiner Arbeit an der Morgenröthe intensiv rezipierte und annotierte, wie verschiedene Exemplare aus seiner Bibliothek belegen.20 Besonders frappierend sind Übereinstim-

18 Schopenhauer, Arthur, Sämmtliche Werke, hrsg. von Julius Frauenstädt, Bd. 2: Die Welt als Wille und Vorstellung. Erster Band, Leipzig 1873 (NPB, 539), S. 325. Die von Nietzsche in seinen Bücherexemplaren vorgenommenen Unterstreichungen werden in der Folge als Kursivierungen wiedergegeben. Im Fall der hier zitierten Stelle finden sich zusätzlich auch Markierungen am rechten Seitenrand. 19 Schopenhauer, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 389. 20 Zum Verhältnis Nietzsches zu Darwin bzw. zu Nietzsche als „entschiedene[m] Darwinist“ vgl. die Arbeit Werner Stegmaiers, Darwin, Darwinismus, Nietzsche. Zum Problem der Evolution, in:

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mungen mit Georg Heinrich Schneider, der in seinem Ernst Haeckel gewidmeten Buch Der thierische Wille konstatiert: „Der Zweck alles menschlichen Lebens ist die Arterhaltung“21. Bedeutsam sind seine Ausführungen, weil er, ebenso wie Schopenhauer, zwischen den Intentionen der Einzelnen und einer übergeordneten Perspektive differenziert. Im Zuge seiner Ausführungen kommt Schneider auf eine für das Verständnis des Abschnitts wichtige Verwendung des ‚ZweckBegriffs‘ zu sprechen, der ja, gemäß der Überschrift von FW 1, im Zentrum der Überlegungen steht: Das ganze menschliche Tun und Treiben, das, wenn es nicht krankhaft ausartet, immer zweckmäßig ist, beruht vielmehr auf Befriedigung tief in der Natur wurzelnder und ererbter

Nietzsche-Studien, Jg. 16, Berlin / Boston 1987, S. 264–287, hier S. 269, die vor allem das Darwin(ismus)-Bild der modernen Forschung heranzieht. Zur zeitgenössischen Kontextualisierung von Nietzsches Darwin(ismus)-Rezeption vgl. etwa Sommer, Andreas Urs, Nietzsche und Darwin, in: Neymeyr, Barbara / Sommer, Andreas Urs (Hrsg.), Nietzsche als Philosoph der Moderne, Heidelberg 2012, S. 223–240, hier S. 223. Vgl. ebenfalls den Aufsatz Maria Cristina Fornaris, Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“, in: Nietzsche-Studien, Jg. 34, Berlin / New York 2005, S. 310–328 (hier mit Bezug auf das Verhältnis zu Spencer in der Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft). Ihre zugespitzte These lautet so: „Das, was d[en] Neuanfang [in der Morgenröthe und der Fröhlichen Wissenschaft] zumindest teilweise rechtfertigt, der Grund für diesen Wandel, liegt, wie ich zu zeigen versuche, in Nietzsches Auseinandersetzung mit der Evolutionstheorie Spencers und, wenngleich in geringerem Maße, dem Utilitarismus John Stuart Mills, mit dem sich Nietzsche Ende 1879 / Anfang 1880 bewusst auseinandersetzt.“ (S. 310) Sie bietet zudem eine wichtige Zusammenstellung der expliziten Bezugnahmen Nietzsches auf Spencer (vgl. S. 311, Fußnote 6). In Bezug auf Nietzsches Gesamtwerk vgl. dies., Die Entwicklung der Herdenmoral. Nietzsche liest Spencer und Mill, Wiesbaden 2009. Wichtige Hinweise zu den Quellen Nietzsches findet man für den hier relevanten Zeitraum auch bei Jochen Schmidt und Sebastian Kaufmann in NK 3/1. Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 110 tangiert in quellenkundlicher Hinsicht die wichtigsten Eckpfeiler: „Indes sollten uns die ersten Abschnitte des Aphorismus auch inhaltlich misstrauisch machen. Sie sind in sich selbst nicht sonderlich originell, sondern eine Komposition verschiedener Versatzstücke des Darwinismus, der schopenhauerischen Philosophie,[ ] sowie eines christlich inspirierten Humanismus oder Idealismus, der sich die Förderung einer abstrakten ‚Menschheit‘ […] auf die Fahnen geschrieben hat“. Für ein adäquates Verständnis von FW 1 spielt allerdings die Differenzierung der Quellen eine wichtige Rolle, da nur vor ihrem Hintergrund die verdichteten Thesen des Abschnitts adäquat rekonstruiert werden können. Insofern ist auch die These von Higgins, Comic Relief, S. 45, der zufolge mit der Perspektive der Arterhaltung „a Schopenhauerian view“ vertreten werde, ergänzungsbedürftig. 21 Schneider, Georg Heinrich, Der thierische Wille. Systematische Darstellung und Erklärung der thierischen Triebe und deren Entstehung, Entwickelung und Verbreitung im Thierreiche als Grundlage zu einer vergleichenden Willenslehre, Leipzig [1880] (NPB, 533), S. 61. Schneiders Buch Der menschliche Wille kommt als Quelle eher nicht infrage, da Nietzsche dieses erst am 5. Juli 1882 erwarb. Freilich ist allein dadurch noch nicht auszuschließen, dass Nietzsche es eventuell schon vorher kannte.

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Triebe […] als auf zweckmäßigen Vorstellungen von der Sicherung der eigenen Existenz und der Erhaltung der Art. An den eigentlichen, d. h. finalen Zweck alles Daseins, an die Arterhaltung wird in den meisten Fällen gar nicht gedacht.22  

Nach Schneider ist all jenes zweckmäßig, was der Erhaltung der Art dient,23 wobei der gesunde Mensch ‚instinktiv‘ zweckgemäß handelt, wenn er seinen Trieben folgt. Insofern sind seiner Überzeugung nach „äußerlich zweckbewusste Handlungen und instinctive Triebäußerungen oft gar nicht verschieden voneinander“.24 Wie bei Schopenhauer muss der Mensch auch bei Schneider die Erhaltung der Art nicht unbedingt intentional verfolgen, da die Natur so eingerichtet ist, dass der Mensch sich seinen Trieben überlassen kann. Als Quelle für den Text Nietzsches ist Schneider dennoch virulenter als Schopenhauer, da jener die Arterhaltung nicht auf die sexuellen Triebe des Menschen reduziert. Was zu Beginn von FW 1 noch als eine anthropologische Fragestellung eingeführt wurde, transponiert der Sprecher im weiteren Verlauf in eine moralphilosophische. Das Text-Ich übt Kritik an einer durchschnittlichen Betrachtungsweise („man“), die aus fehlender Distanz zu ihrem Gegenstand („mit der üblichen Kurzsichtigkeit“) und zudem noch voreilig („schnell“) die einzelnen Menschen unter utilitaristische („nützliche und schädliche“) oder allgemein-moralische („gute und böse“) Kategorien subsumiert.25 In einer reflektierten, holistischen Betrachtung („einem längeren Nachdenken über das Ganze“)26 werde „man“ gegenüber dieser Methode jedoch skeptisch und verwerfe sie. Der Sprecher wechselt hier von einem bewusst subjektiven Darstellungsmodus, der dennoch Allgemeingültigkeit beansprucht, hin zu einem Sprechen in der dritten Person, dem er allerdings seine eigene Ansicht unterschiebt. Er konstatiert in bemerkenswert plötzlichem Übergang von einem hypothetischen („vielleicht“) zu einem apodiktischen („denn er unterhält bei sich“) Aussagemodus: „Auch der schädlichste Mensch ist vielleicht immer noch der allernützlichste, in Hinsicht auf die Erhaltung der Art; denn er unterhält bei sich oder, durch seine Wirkung, bei Anderen Triebe, ohne welche die Menschheit längst erschlafft oder verfault wäre.“27 Die Arterhaltung wird demnach als ‚Spannungsfeld‘ imaginiert, in dem auch die vermeintlich schlechten Handlungen eines Menschen einen ‚positiven‘ Effekt bei ihm selbst und anderen Individuen zeitigen. Dieser Nutzen oder Vorteil besteht vor allem darin,

22 23 24 25 26 27

Schneider, Der thierische Wille, S. 70, mit Anstreichung Nietzsches am Rand (vgl. NPB, 533). Vgl. Schneider, Der thierische Wille, S. 24. Schneider, Der thierische Wille, S. 21. FW 1, KSA 3, 369, 11–13. FW 1, KSA 3, 369, 15. FW 1, KSA 3, 369, 17–21.

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eine Verkümmerung der Triebe, die aus Sicht des Sprechers als Degeneration zu verstehen ist, zu verhindern. Gemeinhin als „böse“ gebrandmarkte Emotionen wie „Hass“ und „Schadenfreude“ oder Charaktereigenschaften wie „Raub- und Herrschsucht“ will das sprechende Ich als integralen Teil dessen verstanden wissen, was es die „erstaunliche[ ] Oekonomie der Arterhaltung“ nennt.28 Dass es sich hierbei um eine zumindest aparte Verwendung des ‚Ökonomie‘Begriffs handelt, betont auch das Text-Ich, wenn es kritisch von einer „im Ganzen höchst thörichten Oekonomie“ spricht.29 Verwenden seine Zeitgenossen bisher nach Ansicht des Sprechers wenig sinnvolle moralische Kategorien in ihrer Bewertung der Menschen, so stellt er dieser Praxis ein ‚neues‘ Theorem der Arterhaltung gegenüber, von dem er sich jedoch ebenfalls – keineswegs widerspruchsfrei − in einer kritisch-moralischen Bemerkung distanziert. Die Argumentation erweckt dergestalt den Eindruck einer gewissen Unzuverlässigkeit, der sich im Folgenden erhärtet.30 Wird der epistemologische Status der These, dass der schädlichste Mensch der Nützlichste sei, durch das Adverb „vielleicht“31 einerseits zum Gedankenexperiment relativiert, so steht dem andererseits (gleichsam als Verstärkung des noch im selben Satz abrupt erfolgenden Wechsels in den apodiktischen Modus) das gesperrt gedruckte „b e w i e s e n e r M a a s s e n “ entgegen, mit dem anschließend ein Verweis auf die bisherige Erhaltung des menschlichen „Geschlecht[s]“ erfolgt.32 Hierbei muss in Betracht gezogen werden, dass es sich um keine Begründung der These von der Nützlichkeit des Bösen handelt,33 die doch gerade den virulenten Kern der Erwägungen darstellt. Die als ‚töricht‘ beschriebene Ökonomie der Arterhaltung beweist das Text-Ich mit dem Hinweis auf den offensichtlichen Fortbestand der menschlichen Gattung keineswegs. Dennoch kann wieder mit Blick auf die Quellensituation der „Problemhorizont“34 umrissen werden, vor dessen Hintergrund die Rede von der Nützlichkeit

28 FW 1, KSA 3, 369, 21–23. 29 FW 1, KSA 3, 369, 24 f. 30 Higgins, Comic Relief, S. 45 f. stellt ebenfalls fest: „section 1 conveys an impression of instability“. Allerdings verfolgt sie dieses Phänomen nicht weiter, da sie – so steht zu vermuten – methodische Schwierigkeiten hat, den realen Nietzsche und das sprechende Ich auseinander zu halten („[w]e are not really sure who our narrator is“, S. 49). 31 FW 1, KSA 3, 369, 17. 32 FW 1, KSA 3, 369, 25–370, 1. Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche, S. 271 führt diese Stelle als Beleg dafür an, dass Nietzsche die Evolutionstheorie als bewiesen verstanden habe, ohne die Vermittlung durch das nicht mit Nietzsche zu identifizierende ‚Ich‘ zu bedenken. 33 Vgl. Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 110. 34 Vgl. zu diesem Begriff im Kontext der Quellenforschung zu Nietzsche: Sommer, Vom Nutzen und Nachteil kritischer Quellenforschung, S. 306.  



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des Bösen Kontur gewinnt. Es wurde schon angedeutet, dass der Begriff des ‚Nützlichen‘ hier auf utilitaristische Denkschemata verweist. In der Tat wird man mit Blick auf Nietzsches Lektüren in der Entstehungszeit der Fröhlichen Wissenschaft, unter besonderer Berücksichtigung seiner persönlichen Bibliothek, im Umkreis des Utilitarismus erneut fündig. Besonders kommt in diesem Zusammenhang Herbert Spencer in Frage, der zwar selbst kein Vertreter des Utilitarismus war, sich aber an charakteristischen Exponenten wie John Stuart Mill abarbeitete. Intensiv rezipierte Nietzsche Spencers Thatsachen der Ethik35 − was sich nicht zuletzt in nachgelassenen Notaten niederschlägt, die den Autor bisweilen mit durchaus kritischen Bemerkungen bedenken.36 Die „Erfahrungen vom Nützlichen“, so führt Spencer in einem Brief an Mill aus, den er in den Thatsachen zitiert, hätten sich „in allen vergangenen Generationen des Menschengeschlechts organisirt und festgesetzt und entsprechende Abänderungen im Nervensystem hervorgebracht“, welche durch fortwährende Übertragung und Anhäufung in uns endlich zu einem gewissen Vermögen der moralischen Anschauung geworden sind – zu gewissen Emotionen, welche mit gutem und bösem Handeln in Wechselbeziehung stehen und keine irgendwie aufzeigbare Grundlage in den individuellen Beziehungen zum Nützlichen haben.37

Das Nützliche, wie Spencer es versteht, ist keineswegs eine innerhalb der Individualentwicklung immer wieder neu zu machende Erfahrung. Vielmehr seien es die vergangenen Erfahrungen des Menschen, die unser psychophysisches System und, damit einhergehend, auch unser moralisches Empfinden verändert haben. Das evolutionsbiologisch vermittelte Nützliche ist bei Spencer mit demjenigen gleichzusetzen, was zur Arterhaltung beiträgt, wie an anderer Stelle deutlich wird. Seine Ausführungen erhalten jedoch eine ethische Dimension, wenn er konstatiert, dass der „gute[ ] oder böse[ ] Charakter“ des Handelns „in letzter Linie doch nur durch seine Wirkungen bestimmt“ wird, „jenachdem es seinem Wesen nach das Leben des Einzelnen fördert oder nicht.“38 Spencer gehört also zu den zeitgenössischen Vertretern einer moralischen ‚Nützlichkeitslehre‘, die das sprechende Ich in FW 1 kritisiert, da für diese nur das gute Handeln, also der gute

35 Vgl. Spencer, Herbert, Die Thatsachen der Ethik, autorisirte deutsche Ausgabe, nach der zweiten englischen Auflage übersetzt von Prof. Dr. B. Vetter, Stuttgart 1879 (NPB, 565). 36 Vgl. NL 1881, 11[43], KSA 9, 457 f. 37 Spencer, Die Thatsachen der Ethik, S. 136. Teile dieses Zitats sind auch am Seitenrand mit Markierungen versehen (vgl. NPB, 565). 38 Spencer, Die Thatsachen der Ethik, S. 58. Die Unterstreichung ist von Nietzsches Hand (vgl. NPB, 565).  

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Mensch, lebensfördernd wirkt, der schlechte hingegen gerade nicht.39 Verlangt man noch ein weiteres (freilich nicht zwingendes) Indiz dafür, dass hier eine kritische Positionierung gegenüber Spencer erfolgt, hilft ein Blick in Nietzsches Exemplar der Thatsachen, wo neben der zitierten Stelle ein deutlich lesbares „Hornvieh!“ annotiert ist. Der Sprecher in FW 1 führt seine moralphilosophisch-relativistische These jedoch noch weiter aus, wobei er sich ein weiteres Mal in seiner Subjektivität exponiert: „Ich weiss nicht mehr, ob du, mein lieber Mitmensch und Nächster, überhaupt zu Ungunsten der Art, also ‚unvernünftig‘ und ‚schlecht‘ leben k a n n s t “.40 Mit der subjektiven Form konvergiert diesmal – anders als noch im Einstieg − die Artikulation einer epistemischen Unsicherheit; es ist mithin nicht so, dass die Schlussfolgerung des Ichs, der zufolge eine gattungsschädigende Lebensform unmöglich sei, entschieden vertreten würde. Auch wirkt die Ansprache des impliziten Lesers als „lieber Mitmensch und Nächster“ geradezu ironisch,41 handelt es sich bei der vertretenen These doch um einen radikalen ethischen Relativismus, der, zumindest in gattungsspezifischer Perspektive, jede Handlung erlaubt erscheinen lässt und das ‚Böse‘ geradezu als Stimulans des Lebens verharmlost. Ob der Mitmensch vor dem Hintergrund einer solchen Moral noch ein „lieber […] Nächster“ ist, darf wohl bezweifelt werden. Es ist jedoch davon auszugehen, dass Nietzsche in der Abfassung des Abschnitts gezielt das Moment der epistemischen Unsicherheit forciert hat, was wiederum an der Ernsthaftigkeit des beschriebenen Theorems zweifeln lässt. Wo in der Druckfassung die Wendung „Ich weiss nicht mehr“42 zu finden ist, sind in der Reinschrift noch kohärenzstiftende Elemente auszumachen: „Bei einem solchen Blick auf das ungeheure Ganze und dessen Vortheile mußt du einsehen […]“.43 Sowohl der „Blick“ als auch das „Ganze“ verweisen auf Lexeme, die im Text schon verwendet wurden und auch das argumentativ zwingende „mußt“ erzeugt den Anschein einer logischen Schlussfolgerung. Darüber hinaus wird der grundsätzliche moralphilosophische Relativismus der Reinschrift in der Druckfassung auf die Perspektive der Gattungserhaltung eingeschränkt, was die Reich-

39 Vgl. auch die Stelle aus dem Nachlass, wo Nietzsche schreibt: „Es ist nicht wahr, daß gut und schlecht die Ansammlung von Erfahrung über zweckmäßig und unzweckmäßig ist. A l l e b ö s e n Triebe sind i n e b e n s o h o h e m G r a d e z w e c k m ä ß i g und a r t e r h a l t e n d als die guten! NB gegen Spencer“ (NL 1880, 6[456], KSA 9, 316, 3–6). 40 FW 1, KSA 3, 370, 1–4. 41 Vgl. auch Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 110. 42 FW 1, KSA 3, 370, 1. 43 KSA 14, 238.

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weite des Theorems deutlich begrenzt.44 Nietzsche schien den Eindruck vermeiden zu wollen, dass der ‚liebe Mitmensch‘ grundsätzlich nicht schlecht handeln könne; vielmehr empfiehlt das Text-Ich dem angesprochenen Du einen Relativismus nur in beschränktem Ausmaß – wenn man das unter dem Vorzeichen der Unsicherheit Geäußerte überhaupt als seriöse Empfehlung verstehen darf. Denn auch die folgende ‚Erklärung‘, wieso der Mensch nicht zum Nachteil der Gattung handeln könne, wird mit einem relativierenden „vielleicht“ versehen.45 Damit aber markiert das Ich die Behauptung, dass diejenigen Dinge, die der Gattung hätten schaden können, „seit vielen Jahrtausenden schon ausgestorben“ seien,46 als Gedankenexperiment. Diese historisch-evolutionsbiologische Spekulation weitet der Sprecher schließlich noch in die Gegenwart und Zukunft aus, wobei das relativierende Adverb wegfällt: „[S]elbst bei Gott“ sei ein artschädigendes Verhalten nicht mehr möglich.47 Ob man die in einem solchen Kontext vorgetragene Aussage als ernsthaftes philosophisches Theorem lesen darf, zumal in der Fröhlichen Wissenschaft, in der an anderer Stelle vom ‚Tod Gottes‘ die Rede ist,48 muss wiederum bezweifelt werden. Ähnlich steht es mit der imperativischen Aufforderung, die über eine Apostrophe des Text-Du49 erfolgt: „Hänge deinen besten oder deinen schlechtesten Begierden nach und vor Allem: geh’ zu Grunde! – in Beidem bist du wahrscheinlich immer noch irgendwie der Förderer und Wohltäter der Menschheit“.50 War

44 Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 109 spricht von einer allgemeinen Tendenz der „Verknappung“ in den Texten Nietzsches: „Nietzsche, der z. B. durch die Form der Titel die Verwandtschaft seiner sog. Aphorismen mit der Epigrammatik anzeigt, weist darauf hin, dass auch diese längeren Texte so gelesen werden müssen als seien sie ihrerseits wieder radikal verkürzte Darstellungen, die es für kompetente Leser aufzufächern gilt.“ Ich belege diese Tendenz vor allem durch Nietzsches Umgang mit den Quellen (vgl. Sommer, Quellenforschung, S. 313) sowie durch die Textgenese. 45 FW 1, KSA 3, 370, 4. 46 FW 1, KSA 3, 370, 5. 47 FW 1, KSA 3, 370, 6. 48 Vgl. FW 108, KSA 3, 468, 5 sowie FW 125, KSA 3, 481, 15. Auch Higgins, Comic Relief, S. 46 sieht dieses Problem. Zudem meint sie einen Bezug zu „medieval logical conundrums“ ausfindig gemacht zu haben und konstatiert: „Nietzsche suggests here that the very notion of human behavior that could harm the species may be a logical impossibility – or, in other words, that this is a senseless way to put the problem.“ (S. 186) Ihre Unentschiedenheit zwischen der Einsicht in die auf das Werk bezogene Widersprüchlichkeit der These und dem Festhalten an Nietzsche als Sprecher wird an derselben Stelle kenntlich. 49 Genau genommen wird hier nicht der Leser direkt adressiert (wie dies etwa Higgins, Comic Relief, S. 46 feststellt), vielmehr schafft sich das sprechende Ich einen fiktiven Dialogpartner, der nicht mit dem empirischen Leser gleichgesetzt werden darf. 50 FW 1, KSA 3, 370, 7–10.

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zuvor der Aufforderungscharakter des Gesagten noch impliziter Natur, tritt er nun offen zutage – und wird doch wieder konterkariert. Der Sprecher empfiehlt seinem „Mitmensch[en]“51 eine Handlung, von deren Richtigkeit er keineswegs absolut überzeugt ist, die er vielmehr nur für „wahrscheinlich“ hält. Auch tritt der spekulative Charakter der These hervor, wenn man bedenkt, dass nicht konkret formuliert wird, wie man mit ‚schlechten‘ Handlungen zur Förderung der Gattung beiträgt; vielmehr erfolgt dies nach Überzeugung des sprechenden Ichs nur „irgendwie“. Zuletzt darf auch an dieser Stelle die ironische Dimension nicht verkannt werden, wenn der Sprecher mit geradezu aufklärerisch-universalistischem Pathos das Wohl der Menschheit beschwört − freilich nicht, wie im 18. Jahrhundert, über die Gewissheit eines langsamen, aber stetigen Triumphzugs der Vernunft, sondern, indem der Mensch aufgefordert wird zu tun, was er will, seinen „Begierden“52 nachzugehen und schließlich zu sterben – so ist wohl das ‚zu Grunde gehen‘ zu verstehen.53 Allerdings ist diese Formulierung keineswegs willkürlich gewählt, sondern führt ebenfalls wieder in das zeitgenössische Diskussionsgeflecht hinein. Dass sich der Sprecher von FW 1 immer noch in sozialdarwinistischen Argumentationsmustern bewegt, ist mit Blick auf einen Passus aus Ludwig Büchners im 19. Jahrhundert äußerst populärer Abhandlung Kraft und Stoff ersichtlich. Die aus der Popularisierung darwinscher Gedanken gespeiste Argumentation richtet sich dem Anspruch nach gegen jede Form der Teleologie: Auch astronomische Gründe lassen wohl keinen Zweifel darüber, daß unser gesammtes Planeten-System, sowie es zeitlich entstanden ist, auch innerhalb einer bestimmten, wenn auch noch so entfernten Zeit, wieder zu Grunde gehen muss und wird […]. Alles Große, was die Menschen je auf Erden geleistet haben, muß damit nothwendig wieder in den Schooß ewiger Vergessenheit versinken. In welchem Lichte erscheinen nun einer solchen Thatsache gegenüber alle jene hochtrabenden philosophischen Reden-Arten von allgemeinen WeltZwecken, welche sich in der Schöpfung des Menschen verwirklichen sollen, von der Menschwerdung Gottes in der Geschichte, von der Geschichte der Erde und der Menschheit als Selbst-Enthüllung des Absoluten […] u. s. w.!54

Bei Büchner ist das ‚Zugrunde-gehen‘ nicht – wie in FW 1 – etwas, das aktiv verfolgt werden könnte oder sollte, sondern die Konsequenz einer, wie es wenig

51 FW 1, KSA 3, 370, 2. 52 FW 1, KSA 3, 370, 7. 53 Vgl. Higgins, Comic Relief, S. 46, jedoch ohne die Ernsthaftigkeit der These in Frage zu stellen. 54 Büchner, Ludwig, Kraft und Stoff. Natur-philosophische Untersuchungen auf thatsächlicher Grundlage. In allgemein-verständlicher Darstellung, 14., sehr vermehrte und mit Hülfe der neuesten Forschung ergänzte Auflage, Leipzig 1876, S. 152 f. Vgl. hierzu NK 3/1, 109 f.  



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später heißt, „nur von eiserner Nothwendigkeit oder unerbittlicher Gesetzmäßigkeit geleiteten […] Natur“.55 Bezogen auf den Titel des Abschnitts „D i e L e h r e r v o m Z w e c k e d e s D a s e i n s “ ist in diesem Zusammenhang noch anzuführen, dass Büchner nur noch eine „scheinbare Zweckmäßigkeit[ ]“56 im Sinne Kants als Tätigkeit des „Verstand[es]“ und diesen als ihre „einzige Ursache“ gelten lässt. Zweckmäßigkeit ist seiner Definition gemäß bloß „die nothwendige Folge des Begegnens natürlicher Stoffe und Kräfte und ihrer Fortbildung im Laufe der Alles ausgleichenden Zeit.“ Allerdings hält Büchner diesen formalen Begriff der Zweckmäßigkeit keineswegs konsequent durch, vermittle die „Geschichte unsrer Erde“57 doch die Lehre „eines allmäligen Fortschreitens vom Unvollkommenen zum Vollkommneren, vom Niederen zum Höheren“. In einer späteren Auflage seines Buches kann er deswegen von einer „steigende[n] Entwicklung zu immer mehr lebensfähigen, d. h. mehr zweckmäßigen Formen der Bildung“58 ausgehen. Zwar taucht der Mensch als ein den Kategorien der Moral unterworfener Akteur bei Büchner nicht mehr auf – wie dies noch bei Spencer der Fall ist.59 Durch die These der Vervollkommnung wird indes nur eine andere Form teleologischer Vorstellung bemüht. Von einer solchen Idee ist der Sprecher in FW 1 freilich weit entfernt; aber auch er vertritt die These einer notwendigen Erhaltung der Art, weil der Instinkt des Menschen so wirkt, dass die Gattung überhaupt nicht untergehen kann.60  

55 Büchner, Kraft und Stoff, S. 153. 56 Büchner, Kraft und Stoff, S. 132. 57 Büchner, Kraft und Stoff, S. 154. 58 Büchner, Ludwig, Kraft und Stoff oder Grundzüge der natürlichen Weltordnung: nebst einer darauf gebauten Moral oder Sittenlehre. In allgemein verständlicher Darstellung, 16. vermehrte und verbesserte Auflage, Leipzig 1888, S. 216. Diese Auflage kommt als Quelle natürlich nicht in Frage; allerdings erhellt sie die Lesart der diskutierten Passage Büchners. 59 Zu Nietzsches Auseinandersetzung mit Spencer in seinen Notizheften zur Zeit der Entstehung der Morgenröthe und Fröhlichen Wissenschaft und zur Kritik an Spencers These, „dass es eine Richtung gebe, auf die hin sich die Menschheit zu entwickeln habe“, vgl. Fornari, Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“, S. 316 f., hier S. 316. 60 Dass auch dies eine teleologische Vorstellung ist, macht Stegmaier, Darwin, Darwinismus, Nietzsche, S. 281 mit Bezug auf Darwin kenntlich: „So wenig wie die Arten stetig fortschreiten, streben sie, nach Darwin, sich selbst zu erhalten. Selbsterhaltung stünde auch zu einem nicht teleologischen Fortschritt in Widerspruch.“ Stegmaier ist der Auffassung, dass Nietzsche, wenngleich unwissentlich, mit Darwin diesbezüglich einer Meinung war. Vgl. auch NL 1880, 6[145], KSA 9, 234, 3–5: „Es giebt auch keinen Trieb als Gattung fortexistiren zu wollen. Das ist alles Mythologie (noch bei Spencer und Littré).“ Vgl. Fornari, Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“, S. 318 hierzu: „Die Welt der Triebe kennt folglich kein vorherbestimmtes Ziel.  

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Die Diskussion um die Zweckmäßigkeit ist jedoch nicht nur mit Blick auf den Titel des Abschnitts entscheidend; sie gehört in den Zusammenhang der Frage danach, wieso das sprechende Ich die Formel vom ‚Zugrundegehen‘ verwendet. Denn auch der andere schon zitierte Vertreter des Darwinismus, Georg Heinrich Schneider, bemüht dieselben Worte im gleichen Zusammenhang an prominenter Stelle. In Der thierische Wille findet man die typographisch hervorgehobene These: Es liegt in der Natur des Zweckmäßigen sich zu erhalten, während das U n z w e c k m ä ß i g e z u G r u n d e g e h t , diese Wahrheit ist bereits fast 500 Jahre vor Christi Geburt von dem klassischen Philosophen Empedokles klar erkannt worden, obgleich sie erst heute im „Darwinismus“ eine Form erhalten hat, welche ihr die Herrschaft über die Zukunftsphilosophie sichert.61

Auch dieser Gedankengang setzt in logischer Hinsicht eine Entwicklung hin zu immer zweckmäßigeren Lebensformen voraus. Denn woher sollten, über eine längere Zeit betrachtet, die unzweckmäßigen Formen stammen, wenn nur das Zweckmäßige erhalten bleibt? Aus den Prätexten Büchners und Schneiders sowie ihrer Verwendung der Formel vom ‚Zugrundegehen‘ lässt sich eine hintergründige Botschaft an den impliziten Leser des Abschnitts ableiten, die sich erst über die zeitgenössische Diskussionslage erschließt. Die Aufforderung an das Text-Du, „vor Allem“62 zugrunde zu gehen, lässt sich als Affront deuten, da gemäß der darwinistischen Theorie nur die unzweckmäßigen Lebensformen untergehen müssen. Vor diesem Hintergrund gewinnt die Apostrophe eine gesellschaftskritische Kontur, die sich mit der als ironisch verstandenen Anrede „mein lieber Mitmensch und Nächster“63 in Einklang bringen lässt.

3 Das Dasein als Komödie und seine tragische Fehlinterpretation Nachdem der Sprecher die nach ihren Trieben handelnden Zeitgenossen als Menschheitsförderer apostrophiert hat, verfolgt er einen Gedanken, der sich nicht

Im Gegenteil, das Ziel des Individuums ändert und erneuert sich mit seinen Trieben und Stimmungen.“ 61 Schneider, Der thierische Wille, S. 31. 62 FW 1, KSA 3, 370, 8. 63 FW 1, KSA 3, 370, 2.

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mehr recht in die vorige Perspektive der anthropologisch-moralischen Erörterung fügen will. Zunächst führt er die Konsequenzen weiter aus, die sich aus solchen zukünftigen ‚heroischen‘ Taten seiner Leser ergeben könnten: „Daraufhin“, so die Ansprache an das Du, dürfe dieses sich seine „Lobredner halten – und ebenso deine Spötter! Aber du wirst nie den finden, der dich, den Einzelnen, auch in deinem Besten ganz zu verspotten verstünde, der deine grenzenlose Fliegen- und Frosch-Armseligkeit dir so genügend, wie es sich mit der Wahrheit vertrüge, zu Gemüthe führen könnte!“64 Was schon in der Doppelbödigkeit des ‚Zugrundegehens‘ angelegt ist, tritt nun auch offen zutage: Die heroischen Taten, die eines Lobredners bedürften, werden nur angedeutet und durch das Postulat, sich verspotten zu lassen, ironisch überblendet. Dabei löst das Text-Ich diesen vorgeblich nicht einzulösenden Anspruch performativ schon partiell ein. Dies wird vor allem vor dem Hintergrund der herangezogenen Prätexte ersichtlich, denn die Idee eines heroisch handelnden Individuums passt nicht in die Perspektive der Evolutionsbiologie, in der der Einzelne der Naturnotwendigkeit ausgeliefert wird – oder, wie der Sprecher es formuliert, der ‚verschwenderischen Ökonomie der Arterhaltung‘.65 Zwar mag der Einzelne handeln, wie er will; dies hat – wahrscheinlich – keine Konsequenzen für die Arterhaltung. Aber daraus, dies macht die Ironisierung deutlich, entsteht keineswegs die Möglichkeit heldenhaften Handelns. Der einzelne Mensch ist in der Perspektive der Evolutionsbiologie nicht mehr wert als jedes andere Lebewesen. In diesem Sinne ist die Rede von der „grenzenlose[n] Fliegen- und Frosch-Armseligkeit“ zu verstehen,66 die das TextIch dem angesprochenen Du spottend zuschreibt. Schien die Argumentation zunächst in die Richtung zu gehen, dass das Faktum, dem zufolge der Einzelne seinen Bedürfnissen entsprechend handeln kann, eine positive Konsequenz aus der Erkenntnis des Sprechers sei, so wird nun – zumindest implizit – die negative Folge dessen hervorgehoben. In der hyperbolischen Rhetorik, es könne niemandem gelingen, den Einzelnen bzw. das Du so zu verspotten, wie es seine Lächerlichkeit geböte, tritt diese Dimension jedoch deutlich zutage.

64 FW 1, KSA 3, 370, 10–15. 65 Benne, Was ist der Zweck der Tragödie, S. 110 fragt deswegen: „Mit welchem Recht darf sich denn eine Stimme, die sich über die ‚grenzenlose Fliegen- und Frosch-Armseligkeit‘ […] des Einzelnen ergötzt, überhaupt als ‚Ich‘ deklarieren?“, und spricht von einem „schlichten performativen Selbstwiderspruch“. So weit würde ich nicht gehen, denn nur, weil das Individuum im Hinblick auf die Arterhaltung keinen entscheidenden Beitrag zu leisten vermag, heißt dies nicht, dass die Möglichkeit der reflexiven Bezugnahme auf sich selbst, die im ‚Ich‘ zum Ausdruck kommt, ebenfalls geleugnet würde. 66 FW 1, KSA 3, 370, 13 f.  

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Der Gedanke wird allerdings noch weiter ausgeführt. Nicht nur könne man keinen adäquaten Spötter finden; auch habe es bisher niemanden gegeben, selbst unter den „Besten“ und „Begabtesten“, der hinreichenden „Wahrheitssinn“ oder gar annähernd genug „Genie“ gehabt hätte, um „[u]eber sich selber [zu] lachen, wie man lachen müsste, um a u s d e r g a n z e n W a h r h e i t h e r a u s zu lachen“.67 Das Text-Ich empfiehlt über das Bisherige hinausgehend, sich selbst zu verlachen, wenn man die „W a h r h e i t“ erkannt habe. Mit dieser Wahrheit, die hier noch nicht näher beschrieben wird, kann letztlich nur die Erkenntnis der Irrelevanz des Einzelnen aus der evolutionsbiologisch-schopenhauerisch gefärbten Perspektive der Arterhaltung gemeint sein. In der Verbindung von Lachen und Wahrheit hat Nietzsche höchstwahrscheinlich an die Satiren des Horaz gedacht, in denen es heißt: „quanquam ridentem dicere verum / Quid vetat?“68 Bei Horaz wird diese Haltung als die des Possenreißers angeführt, aber auch für den Lehrer geltend gemacht, der seinen Kindern Süßigkeiten gibt, damit sie besser lernen, frei nach der prominent gewordenen Formel aus der Ars poetica: ‚prodesse et delectare‘. Der Sprecher in den Satiren wendet sich hingegen in ironischer Manier von einer solchen Vermittlungsweise ab und will die Wahrheit ernsthaft sagen. Nietzsches Text-Ich gibt wiederum indirekt eine Antwort auf die wörtlich genommene Frage des Horaz, was daran hindere, die Wahrheit lachend auszusprechen. Diese Antwort lautet: die Unfähigkeit des Menschen. Zugleich führt die HorazAllusion erneut eine Ironisierung herbei, da das Ich eine Haltung vom Menschen fordert, die bei dem römischen Satiriker für die clowneske Gestalt des Possenreißers reklamiert wird. Vom Gelobt- zum Verspottet-Werden, über das Sich-selbst-Verspotten hin zum Aus-der-Wahrheit-Lachen – so führt der Sprecher die moralphilosophischdarwinistische Perspektive immer weiter auf ein Territorium, auf dem auch die starke Wirkung der darwinistisch-schopenhauerischen Prätexte schwindet. Einer Vergangenheit und Gegenwart, die noch keinen adäquaten Zugang zum Lachen gefunden hat, wird nun die Möglichkeit („vielleicht“)69 seiner zukünftigen Realisierung entgegengestellt. Das Text-Ich formuliert jedoch eine Bedingung für diese Verwirklichung: Dann, wenn der Satz „die Art ist Alles, Einer ist immer Keiner“ – sich der Menschheit einverleibt hat und Jedem jederzeit der Zugang zu dieser letzten Befreiung und Unverant-

67 FW 1, KSA 3, 370, 15–18. 68 Horatius Flaccus, Quintus, Sämmtliche Werke, Teil 2: Satiren und Episteln, für den Schulgebrauch erklärt von Dr. G. T. A. Krüger, Leipzig 1853 (NPB, 309 f.), S. 8, V. 24 f. Nietzsche hat sein Exemplar mit zahlreichen Markierungen versehen. 69 FW 1, KSA 3, 370, 19.  



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wortlichkeit offen steht. Vielleicht wird sich dann das Lachen mit der Weisheit verbündet haben, vielleicht giebt es dann nur noch „fröhliche Wissenschaft“.70

Es geht also darum, die Perspektive des Darwinismus so ernst zu nehmen, dass sie auch für den lebensweltlichen Zusammenhang des Menschen wirksam wird. Was zuvor in besonderem Maße über die Prätexte erschlossen wurde, formuliert das sprechende Ich nun ausdrücklich: Der Einzelne kann deswegen tun und lassen, was er will, weil es für die Arterhaltung keinen Unterschied macht. Das Individuum spielt aus der distanzierten Perspektive des Ichs keine Rolle – wenngleich die dreifache Verwendung des modalen Satzadverbs ‚vielleicht‘ weiterhin jeden Anspruch auf die Artikulation fixer philosophischer Theoreme aufzugeben scheint. Diese Einsicht in die Bedeutungslosigkeit des Einzelnen ist freilich ein Affront gegen das abendländische bzw. neuzeitliche Denken. Das Ich will sie jedoch als Möglichkeit zur ‚Befreiung‘ und zur ‚Unverantwortlichkeit‘ verstanden wissen, macht also weiterhin die schon verfolgte moralrelativistische Perspektive in ihren ‚positiven‘ Konsequenzen für das Individuum stark. In der Einsicht des Einzelnen in seine eigene Irrelevanz liegt demnach zugleich dessen größte Chance. Allerdings erfolgt in diesem Zusammenhang nicht mehr der Appell an das Text-Du, seinen Begierden nachzugehen, sondern die Artikulation einer Hoffnung, die eine zukünftige Verbindung von „Weisheit“ und „Lachen“, eine Zeit der „fröhlichen Wissenschaft“ betrifft.71 Diese Pointe eines neu artikulierten Wissenschaftskonzepts ist alles andere als zwingend für den Gang der Argumentation, war zuvor doch keineswegs von einer Kritik der Wissenschaften, sondern nur von der Revision falscher moralischer Vorurteile angesichts darwinistischer Erkenntnisse die Rede. Die skizzierte Verbindung heterogener Gedanken wird auch mit Blick auf die Quellenlage ersichtlich. So findet sich die Vorstellung, der Einzelne sei im Verhältnis zur Art irrelevant, etwa bei Schopenhauer, der pointierend konstatiert, dass zwar „jedes, auch das unbedeutendeste Individuum, jedes Ich, von Innen gesehen, Alles in Allem“ sei, „von Außen gesehen hingegen […] nichts, oder doch so viel wie nichts.“72 Für das Text-Ich fällt mit der Erkenntnis einer übergeordneten Gattungsperspektive jedoch nicht eine Einsicht in die Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens überhaupt zusammen; vielmehr will es diese Erkenntnis als Befreiung verstanden wissen.73 Neben Schopenhauer wäre freilich auch der

70 FW 1, KSA 3, 370, 19–25. 71 FW 1, KSA 3, 370, 23–25. 72 Schopenhauer, Sämmtliche Werke, Bd. 3: Die Welt als Wille und Vorstellung. Zweiter Band, S. 690. 73 Vgl. hierzu auch Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 115.

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schon zitierte Schneider anzuführen, der das Primat der Arterhaltung ausbuchstabiert, ohne dabei die Konsequenzen so radikal zu formulieren wie Schopenhauer: „Was die Natur in den lebenden Dingen geschaffen hat, bezweckt die Erhaltung der Species oder hat sie ehemals bezweckt; nichts ist davon immer überflüssig gewesen.“74 Dieser These gemäß versteht Schneider die Funktionalisierung des Einzelnen aus der Gattungsperspektive vor allem positiv; er ist gerade nicht überflüssig. Eine zum Text-Ich des ersten Abschnitts konträre Position vertritt, wie schon an anderen Stellen, wiederum Spencer, dessen Ausführungen gewissermaßen als Kontrastfolie gedient haben mögen: Es wurde der Beweis geliefert, dass, wenn man von den niedrigsten bis zu den höchsten Lebensformen emporsteigt, der Zweck der Arterhaltung erreicht wird unter fortwährender Abnahme der Aufopferung von Leben sowohl junger als ausgewachsener Individuen, sowie auch der Aufopferung älteren Lebens für das Leben der Nachkommen.75

Durch Spencers Differenzierung zwischen niedrigeren und höheren Lebensformen gewinnt der Mensch ‚an sich‘ schon eine höhere Stellung gegenüber der nivellierenden Ansicht des Text-Ichs. Vor allem aber verfolgt er eine entwicklungsteleologische Perspektive, deren Narrativ gerade von der steigenden Bedeutung des Individuums gegenüber der Art getragen wird. Je weiter die Höherentwicklung voranschreitet, desto weniger Individuen müssen geopfert werden. So gewendet ist ‚einer‘ – auf der Zielstufe der „höchsten Lebensformen“ – gerade nicht ‚keiner‘. Wie sich zeigt, stellen die von Schopenhauer oder den Darwinisten angestellten Erwägungen zum Verhältnis von Einzelnem und Gattung von sich aus keinen Zusammenhang mit der Forderung einer künftigen ‚fröhlichen Wissenschaft‘ her. Sofern das Konzept einer ‚fröhlichen Wissenschaft‘, das ja als Werktitel zugleich eine programmatische Dimension aufweist, überhaupt auf eine bestehende Tradition anspielt, führt der Weg über die Formel „gaya scienza“, der sich Nietzsche auf dem Titelblatt der neuen Ausgabe von 1887 bedient76 – und deren Vermittlung wahrscheinlich über einen Südfrankreich-Reiseführer von Theodor Gsell Fels erfolgte.77 Wie intensiv er sich mit der ab dem 14. Jahrhundert durch diese Formel bezeichneten Literatur der okzitanischen Trobadors des 11. und 12. Jahr-

74 Schneider, Der thierische Wille, S. 28. 75 Spencer, Die Thatsachen der Ethik, S. 263. Die Unterstreichungen stammen von Nietzsches Hand. Zudem sind neben dem Zitat drei Ausrufezeichen sowie ein unleserliches Wort notiert (vgl. auch NPB, 565). Zu „Nietzsches Kritik“ an Spencers „Zweckdenken“ vgl. Fornari, Die Spur Spencers in Nietzsches „moralischem Bergwerke“, S. 311. 76 Vgl. FW Titel, KSA 3, 343. 77 Vgl. NK 6/1, 155.

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hunderts beschäftigt hat, lässt sich nur spekulativ beantworten.78 Als wahrscheinlich gilt auch eine Rezeption über Herder, bei dem ein fiktiver Autor den Dichtern der ‚gaya scienzia‘ eine Reflexion auf „die Sitten der Fuͤ rsten, der Damen, der Geistlichkeit, der Paͤ bste selbst“ zuschreibt: alles beruͤ hrte diese Dichtkunst, oft mit einer kuͤ hnen Freiheit. […] Ihre Kunst hatte den Namen der f r ö h l i c h e n W i s s e n s c h a f t (gay saber, gaya ciencia), so wie auch ihr entschiedner Zweck f r oͤ h l i c h a n g e n e h m e U n t e r h a l t u n g war.79

Zudem wird diese Dichtung bei Herder als „erste[r] Stral der neueren poetischen Morgenroͤ the in Europa“80 bezeichnet. Ohne das Konzept einer ‚fröhlichen Wissenschaft‘ in Nietzsches Werk im Ganzen diskutieren zu wollen,81 ist es für das Verständnis von FW 1 entscheidend, dass auch ein fiktiver Verfasser bei Herder die (nachträglich) zur ‚fröhlichen Wissenschaft‘ stilisierte Trobadorlyrik als Beginn von etwas Neuem bezeichnet – zudem noch mit dem Bild der ‚Morgenröte‘, das ja auch als Titel für das 1881 erschienene Werk Nietzsches gedient hatte. Überdies ist es insofern bedeutsam, dass es sich bei der vermeintlichen ‚fröhlichen Wissenschaft‘ der Trobadors um Dichtung handelte, als dies mit einer anderen Thematik konvergiert, die für den weiteren Verlauf des Abschnitts entscheidend ist: der des Theaters. Die Zeit der ‚fröhlichen Wissenschaft‘ ist aber für das Text-Ich noch nicht gekommen. „Einstweilen ist es noch ganz anders, einstweilen ist die Komödie des Daseins sich selber noch nicht ‚bewusst geworden‘, einstweilen ist es immer noch die Zeit der Tragödie, die Zeit der Moralen und Religionen“.82 Die potenzielle Zukunft der ‚Epoche‘ einer ‚fröhlichen Wissenschaft‘ wird parallelisiert mit der Vorstellung einer Komödie des Daseins, das sich seines Komödiencharakters

78 Diese sachliche Differenzierung verdanke ich den Forschungen von Sebastian Kaufmann, der diese Zusammenhänge in seinem Kommentar zur Fröhlichen Wissenschaft (= NK 3/2, in Vorb.) umfassend darstellen wird. Zu diesem historischen Kontext vgl. auch: Mancini, Mario, Die fröhliche Wissenschaft der Trobadors, übersetzt von Leonie Schröder, Würzburg 2009. 79 Herder, Johann Gottfried, Briefe zu Befoͤ rderung der Humanitaͤ t, Siebente Sammlung, Riga 1796, S. 77 f. Vgl. auch Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 36 f. Higgins diskutiert diesen Kontext nicht, vgl. Comic Relief, S. 47. 80 Herder, Briefe zu Befoͤ rderung der Humanitaͤ t, S. 84. 81 Einen Überblick über das Problemfeld gibt Stegmaier, Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 25–49, zusammenfassend S. 46 f. Er vertritt dabei folgende Arbeitshypothese: ‚Fröhliche Wissenschaft‘ „könnte […] eine Formel eben für seine irritierende und faszinierende Kunst philosophischer Schriftstellerei sein, die, als Kunst, nicht definiert werden kann, sondern sich zeigen soll. Unsere weitere Vermutung ist, dass ‚die fröhliche Wissenschaft‘ als Stimmung des Philosophierens im Werk, das Nietzsche so überschrieben hat, auf ihren Höhepunkt kommt“ (ebd., S. 28). 82 FW 1, KSA 3, 370, 25–28.  





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bewusst geworden ist. Wie aber ist die Bezeichnung des Daseins als Komödie in diesem Zusammenhang motiviert? Hier ließe sich an die für den Abschnitt konstitutive Thematik des Spottens und Lachens denken, die als adäquate Reaktion auf die Erkenntnis der Unwichtigkeit des Einzelnen angesichts der Arterhaltung beschrieben wurde. Die ‚Tragödie‘ wird hingegen als Gegenbegriff zur Komödie eingeführt. An einen traditionellen Begriff der Tragödie lässt sich insofern anschließen, als das Text-Ich das Moment des Bewusstwerdens, der Anagnorisis,83 ex negativo nennt. Das Tragische der gegenwärtigen Zeit besteht ihm zufolge nämlich darin, dass die Menschen die Komödie des Daseins gerade nicht als solche erkennen. Dies jedoch enthüllt sich erst dem Ich; insofern ist der Begriff der Tragödie zugleich an seinen Erkenntnisstand gebunden. Wurde zu Beginn des Abschnitts eine Haltung kritisiert, die den Einzelnen unter moralische Kategorien subsumiert, weil sie die wahren Gesetze der Arterhaltung verkennt, so konvergiert dies mit der Ansicht des Sprechers, dass Moralen und Religionen integraler Bestandteil der Tragödie des Daseins sind. Mit ihnen interpretiere der Mensch seine wahren Existenzbedingungen falsch. Als Kontrastfolie für diese Konzeption der Tragödie mögen die Ausführungen Schopenhauers in Die Welt als Wille und Vorstellung gedient haben, die für Nietzsches romantisch-pessimistisches Frühwerk, die Geburt der Tragödie und die vier Unzeitgemäßen Betrachtungen, prägend waren. Schopenhauer bezeichnet die „Darstellung der schrecklichen Seite des Lebens“ als Zweck des „Trauerspiel[s]“.84 Im „Jammer der Menschheit“ oder der „höhnende[n] Herrschaft des Zufalls“ liege „ein bedeutsamer Wink über die Beschaffenheit der Welt und des Daseyns. Es ist der Widerstreit des Willens mit sich selbst, welcher hier, auf der höchsten Stufe seiner Objektität, am vollständigsten entfaltet, furchtbar hervortritt.“ In der Tragödie trete das Leid, das durch das Wirken des blinden Willens für das Leben im Ganzen konstitutiv sei, intensiviert hervor, was schließlich „die vollkommene Erkenntniß des Wesens der Welt, als Q u i e t i v des Willens wirkend, die Resignation herbeiführt, das Aufgeben, nicht bloß des Lebens, sondern des ganzen Willens zum Leben selbst.“85 Für den Sprecher in Nietzsches Text ist das Leben, recht erkannt, gerade nicht tragisch, sondern komisch; insofern vertritt er eine konträre Position zu Schopenhauer. Bei beiden ist allerdings die Einsicht in die Unwichtigkeit des Individuums zentral. Insofern stellt sich wieder die Frage nach der Glaubwürdigkeit des Ichs, wenn es am Anfang des Abschnitts behauptet, für das von ihm

83 Vgl. Aristoteles, Werke [I]. Schriften zur Rhetorik und Poetik, Bd. 3, übersetzt von Leonhard Spengel / Chr. Walz, Stuttgart 1840 (Griechische Prosaiker in neuen Übersetzungen, Bd. 201) (NPB, 115), S. 464–466 (1452a–1452b). 84 Schopenhauer, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 298. 85 Schopenhauer, Sämmtliche Werke, Bd. 2, S. 299.

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Erkannte spiele es keine Rolle, ob man „mit gutem oder bösem Blicke auf die Menschen sehe[ ]“,86 ist es doch ein bezeichnender Unterschied, die Komödie oder die Tragödie als Metapher für das eigentliche, wahre Dasein zu verwenden. Das Text-Ich kommt anschließend auf die Frage zu sprechen, was „das immer neue Erscheinen jener Stifter der Moralen und Religionen, jener Urheber des Kampfes um sittliche Schätzungen, jener Lehrer der Gewissensbisse und der Religionskriege“ zu bedeuten habe.87 Der Fokus der Fragestellung verschiebt sich mithin erneut. Es geht nun erst einmal nicht mehr um die Moralen und Religionen selbst sowie ihre Wirkung auf die Menschen, sondern um diejenigen, die für die Schaffung dieser Moralen verantwortlich sind. Zudem wird an dieser Stelle erstmals die Personengruppe erwähnt, die der Titel des ersten Abschnitts in den Vordergrund rückt: die ‚Lehrer‘. Dass der Sprecher eine kritische Haltung ihnen gegenüber einnimmt, ist ersichtlich, wenn man beachtet, womit er sie assoziiert: sie zeichnen verantwortlich sowohl für die psychische (‚Gewissensbisse‘) als auch die physische Deformation (‚Religionskriege‘) des Menschen. Als ein solcher ‚Lehrer‘ vom Zweck des Daseins konnte in der bisherigen Quellen-Untersuchung etwa Spencer ausgemacht werden, dessen Ausführungen immer wieder konträr zu denen des Text-Ichs verliefen, auch was den Begriff des Zwecks betrifft. Aber auch Schneider und Büchner führten immer wieder neue Zweckbegriffe ein, wenngleich sie sich gegen die damit verbundenen teleologischen Vorstellungen richteten. Das Text-Ich lässt jedoch die Metapher der Tragödie nicht etwa fallen, sondern führt sie in diesem Zusammenhang weiter, wenn es fragt, was „diese Helden auf dieser Bühne“ zu bedeuten hätten.88 Dabei knüpft es in struktureller Hinsicht an die barocke Metapher des theatrum mundi an. Indem der Sprecher sich der Theatermetaphorik bedient, kann er die ‚Lehrer‘ und ‚Stifter‘ als (tragische) Helden beschreiben und vice versa. Gemäß dieser Bildlichkeit dient für ihn „alles Uebrige, zeitweilig allein Sichtbare und Allzunahe“ konsequent und alleinig der „Vorbereitung dieser Helden“.89 Alle anderen Menschen und Dinge verweist er in den Rang der im Hintergrund der Inszenierung wirkenden „Maschinerie“, der als Staffage abgewerteten „Coulisse“ oder der Nebenrolle, wie die „Vertrauten und Kammerdiener[ ]“.90 Auch die „Poeten“ gelten für das Text-Ich keineswegs als Helden, sondern als „Kammerdiener“ der „Moral“.91 Jedoch muss dieses vordergründige Verhältnis eines Narrativs großer, geschichtstreibender ‚Heroen‘, die

86 87 88 89 90 91

FW 1, KSA 3, 369, 4. FW 1, KSA 3, 370, 28–31. FW 1, KSA 3, 370, 31 f. FW 1, KSA 3, 370, 34 f. FW 1, KSA 3, 371, 1 f. FW 1, KSA 3, 371, 3.  





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alle anderen dominieren, genauer betrachtet werden. Zum einen gilt es, die grundlegende These der Unwichtigkeit des Einzelnen angesichts der Arterhaltung miteinzubeziehen, die jede heldenhafte Handlung konsequenterweise unmöglich macht. Zum anderen ist das Bild, welches der Sprecher entwirft, in seiner Logik ernst zu nehmen, da die großen Helden der Staatsaktion keineswegs ohne die Kulisse, die Maschinerie, geschweige denn die Nebenrollen agieren können. In der Metaphorik verbirgt sich bei genauer Betrachtung schon eine kritische Volte. Vollends wird diese ironische Dimension wieder über die konstitutiven Prätexte ersichtlich. Die herabsetzende Bezeichnung der Poesie als Kammerdienerin der Philosophie, die eine Analogie- bzw. Kontrastbildung zum mittelalterlichen Verständnis der Philosophie als ancilla theologiae92 darstellt, verweist auf eine Passage aus Hegels Phänomenologie des Geistes, die das dialektische Moment im Verhältnis von Held und Kammerdiener exponiert: Es gibt keinen Helden für den Kammerdiener; nicht aber weil jener nicht ein Held, sondern weil dieser – der Kammerdiener ist, mit welchem jener nicht als Held, sondern als essender, trinkender, sich kleidender, überhaupt in der Einzelnheit des Bedürfnisses und der Vorstellung zu thun hat. So gibt es für das Beurtheilen keine Handlung, in welcher es nicht die Seite der Einzelnheit der Individualität, der allgemeinen Seite der Handlung entgegensetzen, und gegen den Handelnden den Kammerdiener der Moralität machen könnte.93

92 Diese prominent gewordene Formel geht wohl zurück auf Petrus Damiani, wobei sich der Wortlaut hier nicht genau nachweisen lässt. Vgl. aber ders., Opera Omnia, collecta primum ac argumentis et notationibus illustrata studio ac labore domni Constantini Cajetani, tomus secundus, Paris 1853, Sp. 603, wo es heißt: „Quae tamen artis humanae peritia, si quando tractandis sacris eloquiis adhibetur, non debet jus magisterii sibimet arroganter arripere; sed velut ancilla dominae quodam famulatus obsequio subservire“. Vgl. zu dieser Tradition Kluxen, Wolfgang, Ancilla theologiae, in: Ritter, Joachim (Hrsg), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Basel 1971, S. 294 f. Den Hinweis auf den Topos verdanke ich Sebastian Kaufmann (NK 3/2 zu FW 1, in Vorb.). 93 Hegel, Ge[org] Wilh[elm] Fr[iedrich], System der Wissenschaft, Teil 1: Die Phänomenologie des Geistes, Bamberg / Würzburg 1807, S. 616. Diesen Stellen-Hinweis verdanke ich ebenfalls den Forschungen Sebastian Kaufmanns (NK 3/2 zu FW 1, in Vorb.). Vgl. die Hinweise auf das französische Sprichwort: „il n’y a pas de héros pour le valet de chambre“, sowie die Aufnahme dieses Gedankens in Goethes Wahlverwandtschaften (2. Teil, 5. Kapitel, aus Ottiliens Tagebuch): „Es giebt, sagt man, für den Kammerdiener keinen Helden. Das kommt aber blos daher, weil der Held nur vom Helden anerkannt werden kann. Der Kammerdiener wird aber wahrscheinlich seines Gleichen zu schätzen wissen“ (Goethe, Johann Wolfgang, Sämmtliche Werke in vierzig Bänden, vollständige, neugeordnete Ausgabe, Bd. 15, Stuttgart / Augsburg 1856 (NPB, 250), S. 198) bei Hegel, Phänomenologie des Geistes, nach dem Texte der Originalausgabe, hrsg. von Johannes Hoffmeister, Berlin 1964, S. 468. Im März 1807 erhielt Goethe die Phänomenologie von Hegel als Geschenk, vgl. den Hinweis in ders., Werke, Bd. 6: Romane und Novellen I, textkritisch durchgesehen von Erich Trunz, kommentiert von Erich Trunz / Benno von Wiese, München 2000, S. 729 f. Wichtig für die Überlieferung dieser Sentenz ist Montaigne, der sich in den Essais, 3. Buch, 2. Hauptstück, wiederum auf Nicolas de Catinat beruft: „Es ist schon mancher vor der Welt ein  



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Für den Kammerdiener ist der Held somit gar kein Held, gerade er nimmt ihn in der Verrichtung alltäglicher Aufgaben und der Befriedigung niederer, wenig heldenhafter Bedürfnisse wahr. Diese Konstellation von Kammerdiener und Held muss jedoch auf das Abhängigkeitsverhältnis zwischen den Dichtern und den Helden der Moral im vorliegenden Abschnitt bezogen werden. Nur so lässt sich die ganze Hintergründigkeit der Anspielung ermitteln. Sobald FW 1 von der Thematik der Moralität zu der des Lachens ‚hinübergleitet‘, scheint es, als hätte ein ‚Dichter‘ die Rolle des Sprechers übernommen. Der Wechsel hin zur theatralen Metaphorik der Tragödie und Komödie, des Helden und der Nebenrolle legt die Annahme eines dichterischen Text-Ichs zumindest nahe. Wenn dieses Ich den

Wunder gewesen, an dem seine Frau und Bedienten nicht einmal etwas besonders bemerket haben. Noch wenige (a) sind von ihrem Gesinde bewundert worden.“ (a) zeigt dabei eine Fußnote an, in der zu lesen ist: „Man muß ein großer Held seyn, sagte der Marschall von Catinat, wenn man es in den Augen seines Kammerdieners seyn will.“ [Montaigne, Michel de], Michaels Herrn von Montagne [sic] Versuche, nebst des Verfassers Leben, nach der neuesten Ausgabe des Herrn Peter Coste ins Deutsche übersetzt. Zweeter Theil [sic], Leipzig 1754, (NPB, 394), S. 780 f. Im französischen Original: „Tel a esté miraculeux au monde, auquel sa femme et son valet n’ont rien veu seulement de remarquable; peu d’hommes ont esté admirez par leurs domestique [1]“. Unter [1] dann: „‚Il faut être bien héros, disait le maréchal de Catinat, pour l’être aux yeux de son valet de chambre.‘ C.“ Montaigne, Michel de, Essais, Avec des notes de tous les commentateurs, Édition revue sur les textes originaux, Paris 1864, (NPB, 393), S. 418. Die Sentenz findet sich dann wieder bei David Hume: „‚Die groͤ ßesten Feinde der Ehre der Helden, saget ein gewisser Schrifsteller, sind ihre Kammerdiener.‘ Es ist gewiß, Bewunderung und Bekanntschaft koͤ nnen, in Ansehung aller sterblichen Geschoͤ pfe, unmoͤ glich zusammen bestehen. Antigonus, der von seinen Schmeichlern als eine Gottheit, und ein Sohn dieses herrlichen Planeten, der die Welt erleuchtet, begruͤ ßet wurde, sagte: hieruͤ ber kannst du den Mann fragen, der meinen Nachtstuhl ausraͤ umet. Schlaf und Liebe uͤ berzeugte den Alexander, daß er kein Gott war: aber ich glaube, diejenigen, die ihn taͤ glich bedieneten, koͤ nnten noch viele andere uͤ berzeugendere Beweise seiner Menschheit, in den unzaͤ hligen Schwachheiten gegeben haben, denen er unterworfen war.“ [Hume, David], Herrn David Hume, Esqu. Moralische und politische Versuche, als dessen vermischter Schriften vierter und letzter Theil, Nach der neusten und verbesserten Ausgabe uͤ ebersetzet, Hamburg / Leipzig 1756, S. 203 f. Schließlich ist noch ein Passus aus der Nouvelle Héloise, 4. Teil, 10. Brief zu nennen: „On a dit qu’il n’y avoit point de héros pour son valet de chambre; cela peut être; mais l’homme juste a l’estime de son valet; ce qui montre affés que l’héroïsme n’a qu’une vaine apparence, & qu’il n’y a rien de solide que la vertu.“ [Rousseau, Jean-Jaques], Lettres de deux amans, Habitans d’une petite Ville au pied des Alpes, recueillies et publiées par J. J. Rousseau, Quatrieme Partie, Amsterdam 1761, S. 93. Die Hinweise zu Montaigne, Hume, Rousseau und Hegel sind zu finden im Kommentar von Marie Rischmüller zu einer Stelle in den Bemerkungen in den ‚Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‘, wo es heißt: „Daß große Leute nur in der Ferne schimmern ǀ daß ein Fürst vor seinem Kammerdiener viel verliert ǀ kommt daher weil kein Mensch groß ist ǀ“, vgl. Kant, Immanuel, Bemerkungen in den ‚Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen‘, neu herausgegeben und kommentiert von Marie Rischmüller, Hamburg 1991, S. 28, der Kommentar dazu S. 173.  



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Poeten also eine rezessive Rolle zuschreibt, liegt darin schon eine ironische Volte, denn es selbst erhebt ja den Zwecklehrer mittels seiner dichterischen Konstruktion überhaupt erst zum Helden. Der Interpret des Textes erkennt eine solche Finte aber erst recht vor dem Hintergrund des Hegel-Bezugs, da dort die Dialektik des Verhältnisses zwischen Held und Kammerdiener entfaltet wird. Für den Dichter als „Kammerdiener“ im Sinne Hegels ist der Morallehrer als Held auf der Bühne der Daseins-Tragödie gerade kein Held. Der Prätext lenkt die Interpretation des Abschnitts somit auf eine Fährte, die einer vordergründigen Lektüre entgeht. Durch die Rekonstruktion der Hegel-Allusion vorbereitet, ergibt sich bei genauer Lektüre jedoch noch ein weiterer Befund, der das Heldische der Morallehrer mit weiteren Fragezeichen versieht. Denn die an diese Erörterungen anschließende Aussage, es verstehe „sich von selber, dass auch diese Tragöden im Interesse der A r t arbeiten, wenn sie auch glauben mögen, im Interesse Gottes und als Sendlinge Gottes zu arbeiten“,94 unterminiert ebenfalls das Heroische des Helden, indem sie seine religiösen Überzeugungen und Motive in den Bereich des oberflächlichen Scheins verweist. Auch die vermeintlichen Heroen sind dem Primat der Arterhaltung unterstellt, als dessen Quelle sich zu Beginn des Abschnitts ein Instinkt beschreiben ließ. So wird Hegels Held-Kammerdiener-Dialektik variiert, indem die Helden selbst durch das Text-Ich gewissermaßen zu ‚Kammerdienern‘ der Arterhaltung degradiert werden. Darauf verweist überdies ihre Bezeichnung als „Tragöden“ an dieser Stelle. Der Tragöde ist nämlich seinerseits gar kein tragischer Held, sondern lediglich ein Helden-Darsteller, ein Schauspieler.95 Die Kategorie des Einzelnen, zumal des Heroischen, ist – dies bestätigt sich erneut − in evolutionsbiologischer Perspektive hinfällig. Die spezifische Aufgabe der ‚Helden‘ im Prozess der Arterhaltung wird nun darin gesehen, das „Leben der Gattung“ zu fördern, „i n d e m s i e d e n G l a u b e n a n d a s L e b e n f ö r d e r n “.96 Wieso aber sollte diese dezidierte Affirmation des Lebens gerade eine besondere Bedeutung für die Arterhaltung haben, wenn doch die Grundthese von einer Gleichgültigkeit individueller Handlungen ausgeht, da man zum Schaden der Art gar nicht handeln könne? Das als Dichter identifizierte Ich schlüpft (selbst wie ein Schauspieler) in die Rolle der (Helden spielenden) Morallehrer, um ihre Position zu karikieren: Der Ausruf, dass es „werth“ sei „zu leben“, eine Überzeugung, die es ihnen allen unterstellt, wird durch die umgangssprachliche Wendung, es habe „Etwas auf sich mit diesem Leben“ und der

94 FW 1, KSA 3, 371, 4–6. 95 Hinweis von Sebastian Kaufmann. Vgl. auch die entsprechende Verwendung des Begriffs in NL 1881, 15[17], KSA 9, 642, 18. 96 FW 1, KSA 3, 371, 7 f.  

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ironischen Variation ihrer Präposition durch „hinter“ und „unter“ persifliert.97 Der Sprecher tangiert jedoch implizit die Frage, wie aus einem „Trieb der Arterhaltung“ die Lehrer der Moral hervorgehen können, da dieser, obwohl in jedem Menschen „gleichmässig“ waltend, „von Zeit zu Zeit als Vernunft und Leidenschaft des Geistes hervor[breche]“.98 Diese Erklärung ist allerdings nur eine scheinbare, denn wie es dazu gekommen ist, dass der Trieb der Arterhaltung als Vernunft auftritt und wieso er dies tut, bleibt gänzlich opak. In einem Spannungsverhältnis steht dies einerseits auch zur Privilegierung gerade der ‚schlechten‘ Handlungen in ihren angeblich der Degeneration entgegenwirkenden Konsequenzen. Andererseits erhalten die Tragöden so nachträglich eine gewissermaßen naturgesetzliche Apologie, die der vom Sprecher geäußerten Kritik an den Zweck-Lehrern vor der Kontrastfolie einer erhofften Zeit der Komödie entgegensteht. Wenn es der Trieb zur Arterhaltung ist, der durch die Tragöden ‚hindurch‘ handelt, kann man ihnen wohl kaum einen Vorwurf machen. Das Text-Ich verfolgt diesen Gedanken jedoch weiter und beschreibt den Trieb der Arterhaltung als Paradox. Der Arterhaltungstrieb versuche intentional mittels kausaler Begründungsmuster („ein glänzendes Gefolge von Gründen“) die eigene Irrationalität („Grundlosigkeit“), welche ihm als „Trieb“ zukomme, zu verdecken.99 Auch hier nutzt der Sprecher zur Illustration dieser Position die rhetorische Technik der direkten Rede, allerdings ohne dies durch Anführungszeichen eigens zu markieren: „Das Leben s o l l geliebt werden, d e n n ! Der Mensch s o l l sich und seinen Nächsten fördern, d e n n !“100 Solche moralischen Imperative, die typisch optimistisch-philanthropische Maximen formulieren, werden vom Text-Ich ohne Differenzierung verworfen: „Und wie alle diese Soll’s und Denn’s heissen und in Zukunft noch heissen mögen!“101 Der Sprecher identifiziert ein überhistorisches Argumentationsmuster, dessen sich die Lehrer der Moral bedienen, verweist es jedoch in den Bereich des Scheins, indem er ihm die vermeintlich wahre Erkenntnis des Arterhaltungstriebs entgegenstellt. Dabei kommt auch der Titel des Abschnitts zu einem gewissen Recht, denn das nach strenger Allgemeinheit („immer“), Notwendigkeit und „ohne allen Zweck“ Sich-Ereignende soll als „auf einen Zweck hin gethan erscheine[n]“; es soll dem Menschen „als Vernunft und letztes Gebot“ verständlich sein.102

97 FW 1, KSA 3, 371, 8–10. 98 FW 1, KSA 3, 371, 12 f. 99 FW 1, KSA 3, 371, 14–16. 100 FW 1, KSA 3, 371, 16–18. 101 FW 1, KSA 3, 371, 18 f. 102 FW 1, KSA 3, 371, 20–22.  



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An dieser Stelle wird ein Paradox formuliert, das die Ernsthaftigkeit der Argumentation wiederum in Zweifel ziehen lässt. Das Ich bedient sich der Kategorien der Allgemeinheit und Notwendigkeit, um das Wirken eines zwecklosen Triebs zu beweisen, der kausale Begründungsmuster in Frage stellt. Die genannten Kategorien setzen jedoch gerade ein Kausalitätsgesetz voraus, unabhängig davon, ob es im aristotelischen Sinne der Natur selbst zukommt oder nach Ansicht Kants durch den menschlichen Verstand der Natur ‚vorgeschrieben‘ wird. Das von Nietzsche instanziierte Text-Ich kritisiert zwar kausale Begründungsmuster, verdeckt aber, dass es sich solcher Muster selber bedient. Darüber hinaus mag der Sprecher zwar als Kritiker des Zweckbegriffs auftreten; indem er die Arterhaltung indes nicht bloß als kontingentes Ergebnis, sondern als Ziel eines menschlichen Triebes beschreibt, führt er unter der Hand ebenfalls einen Zweckbegriff ein. Gerade über die Rekonstruktion von Nietzsches Bezugnahme auf die Prätexte Schneiders und Büchners konnte diese implizite Vorstellung rekonstruiert werden. Zwar tritt auch das in FW 1 sprechende Ich mit den beiden genannten Autoren etwa gegen den Zweckbegriff Spencers an, das heißt aber nicht, dass Zielsetzungen insgesamt obsolet würden. Dies trifft auch schon auf Schopenhauer zu, der den „Zweck unsers Daseyns“103 in der „Erkenntniß“ sieht, „daß wir besser nicht dawären“. Der „Lehrer vom Zwecke des Daseins“ ist gerade jemand, der einen moralischen Begriff des Zwecks verfolgt, weswegen das Text-Ich ihn alternativ auch den „ethische[n] Lehrer“ nennt.104 Damit ist keine spezifische philosophische oder moralische Richtung gemeint, deren Protagonisten der Sprecher kritisiert; vielmehr können Vertreter verschiedener Philosophien, Religionen oder Moralen impliziert sein. Die entscheidende Bedingung ist, dass die avisierten „Lehrer“ „ein zweites und anderes Dasein“ erfinden, welches das „alte gemeine Dasein aus seinen alten gemeinen Angeln“ hebt.105 Es geht um eine Fiktion, die das wahre, einzig der Arterhaltung dienende Dasein überformt. Hierbei kann es sich beispielsweise um das christliche Jenseits oder die ‚noumenale Welt‘ in der Ethik Kants handeln,106 an einer präziseren Differenzierung in der Sache ist dem Sprecher keineswegs gelegen. In Betracht zu ziehen wäre freilich auch, dass selbst Schopenhauer mit seinem resemantisierten Zweckbegriff und seiner Lehre von der Willensverneinung in letzter Konsequenz dieser Kritik verfällt. Selbst Schopenhauers Philosophie, die das durch asketisches Absterben zu erreichende

103 Schopenhauer, Sämmtliche Werke, Bd. 3, S. 695. Die Unterstreichung stammt von Nietzsches Hand. 104 FW 1, KSA 3, 371, 23 f. 105 FW 1, KSA 3, 371, 24–26. 106 Für diesen Hinweis sei Sebastian Kaufmann (NK 3/2 zu FW 1, in Vorb.) gedankt.  

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Nichts als erstrebenswerten Zustand darstellt, steht nach der Argumentation in FW 1 damit paradoxerweise im Dienst des Lebens: als ein Mittel zum Zweck der Arterhaltung. Schließlich geht es auch dem Text-Ich selbst um die Konstitution einer neuen Ethik, wenngleich sie mit dem Postulat der „Unverantwortlichkeit“ von den bestehenden Morallehren abgesetzt wird.107 Der Sprecher wünscht sich für die Zukunft eine Überwindung des tragischen Zustands, der im Verkennen der eigentlichen Natur des Daseins besteht, und erhofft sich stattdessen eine Zeit, in der die Erkenntnis der Wahrheit gerade keine Überformung durch fiktive Welten, sondern humorvolle Akzeptanz der realen Welt mit sich bringt. Wenn man den Text also präzise liest, fällt auf, dass das Ich zwar vorgibt, alle Morallehrer abzulehnen; genau betrachtet führt es in seiner Gegenbewegung gegen deren Ethiken aber selbst eine neue Ethik ein und wird somit ebenfalls zu einem ‚Lehrer‘. Damit aber entzieht das Text-Ich sich selbst den Boden seiner Argumentation bzw. weist implizit auf deren Brüche hin. Mit dieser Strategie leistet der Text eine Kritik kritischer Maßstäbe, die man – begrifflich avanciert – ‚Metakritik‘ nennen könnte. Doch auch die theatrale Thematik lässt der Sprecher keineswegs fallen. Der Lehrer des Zwecks, der zugleich als ethischer Lehrer auftritt, ist weiterhin als Tragödienschauspieler zu verstehen. Die Tragödie besteht, so ließe sich rekonstruieren, gerade wieder darin, dass er „durchaus nicht“ will, „dass wir über das Dasein l a c h e n “,108 auch nicht über ihn, den Helden(-Darsteller), oder über uns selbst. Die vom Sprecher mit Bezug auf die Zukunft artikulierte Hoffnung einer Verbindung von Wahrheit und Lachen, die er als adäquate Haltung einem Dasein gegenüber artikuliert, das eigentlich Komödie ist, verneint der ‚ZweckLehrer‘. Der früher im Abschnitt zitierten ‚Wahrheit‘, einer sei keiner, halte der Tragöde entgegen, dass „Einer immer Einer“ sei, gar etwas „Erstes und Letztes und Ungeheures“109 – womit dem Einzelnen ‚göttliche‘ Attribute zugeschrieben werden. Indem der Sprecher keine ‚authentischen‘ philosophischen Positionen zu Wort kommen lässt, sondern sie indirekt wiedergibt, erhält er die Möglichkeit, sie zu karikieren; an dieser Stelle etwa durch den hyperbolisch paraphrasierten Gedanken der unantastbaren Würde jedes einzelnen Menschen.

107 FW 1, KSA 3, 370, 22. 108 FW 1, KSA 3, 371, 26 f. 109 FW 1, KSA 3, 371, 28 f.  



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4 Geschichtsphilosophische Verschiebungen. Die Veränderung der Art durch die tragische Weltsicht Die Leugnung der „Art“, die vordergründig von den Zweck-Lehrern propagiert wird, bezeichnet das Text-Ich als „thöricht und schwärmerisch“, als eine Position, die das Wesen der „Natur verkennt“.110 In diesem Sinne hätten „alle Ethiken“ dazu geführt, dass „an jeder von ihnen die Menschheit zu Grunde gegangen sein würde, falls sie sich der Menschheit bemächtigt hätte“.111 Die Fiktion eines anderen, besseren Daseins hinter dem realen Dasein ist demzufolge nicht nur falsch, sondern auch gefährlich für die Erhaltung der Art – obwohl wenige Zeilen weiter oben das Gegenteil behauptet wurde, dass nämlich auch und gerade jene Fiktion der Arterhaltung diene.112 Indem der Sprecher nun darlegt, dass die konsequente Verkennung der Natur auf Dauer sehr wohl zu einer Gefährdung der Arterhaltung führen könnte, widerspricht er überdies der vorher artikulierten Überzeugung, dass man in Bezug auf sie gar nicht ‚schlecht‘ handeln könne. Dies lässt sich auch nicht durch den schon beschriebenen Gedanken relativieren, dass das der Art Schädigende zwar vielleicht einmal existiert habe, in der Gegenwart aber gar nicht mehr möglich sei. Im Gegenteil: Dasjenige, was der Art wirklich gefährlich werden könnte, stuft das Text-Ich als dominierende Moral ein. Der Sprecher gesteht dem Erscheinen dieser Morallehrer, „‚der Held[en]‘“ – im Text in Anführungszeichen, da es sich tatsächlich nur um Helden-Darsteller handle –, sogar eine gewisse positive Konsequenz zu („immerhin!“), die jedoch als „das schauerliche Gegenstück des Lachens“ gleich wieder relativiert wird.113 Hierbei spielt das sprechende Ich mit den konventionellen Vorstellungen vom Tragischen, wenn das Schauerliche nun nicht mehr, wie bei Schopenhauer, das zur Evidenz gelangende Elend der Welt ist, das eine pessimistische Einstellung des Menschen nach sich zieht. Vielmehr beschreibt das Text-Ich dasjenige als schauerliche Erfahrung, was beim Menschen zu einer optimistischen Haltung dem Leben gegenüber führt: den metaphysischen Gedanken seiner eigenen Würde („ja, ich bin werth zu leben!“).114 Indem das Text-Ich den Optimismus des Menschen als etwas Tragisches interpretiert, destruiert es den überlieferten Assoziationshorizont der Tragödie mittels einer ironischen Umkodierung. Tragisch sei

110 111 112 113 114

FW 1, KSA 3, 371, 29–32. FW 1, KSA 3, 371, 34–372, 2. Vgl. FW 1, KSA 3, 371, 3–8. FW 1, KSA 3, 372, 2–4. FW 1, KSA 3, 372, 5.

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diese Haltung, weil sie – dies wurde als strukturelles Moment herausgearbeitet – die wahre Natur des Daseins verkennt, der zufolge der Einzelne im Verhältnis zur Art bedeutungslos sei. Die Entwicklung, in der „das Leben und ich und du und wir Alle einander […] uns wieder einmal für einige Zeit i n t e r e s s a n t “ wurden,115 erscheint nun aber (im Gegensatz zum vorher Gesagten) als Gefahr, weil sie der Arterhaltung entgegenwirken könne. Allerdings gehen die Ausführungen zum Tragischen noch weiter und ziehen das rekonstruierte Modell des geschichtlichen Verhältnisses von Komödie und Tragödie in Zweifel. Nach der bisherigen Rekonstruktion schien es so, als sei das Dasein aus Sicht des Sprechers zwar eigentlich komisch, was aber nur erkenne, wer die Wahrheit über das Wesen der Arterhaltung und die Nichtigkeit des Individuums begriffen hat. Der Sprecher ließ indes den Eindruck entstehen, dass die Komik des Daseins bislang – abgesehen von ihm selbst – gerade noch nicht verstanden worden sei, dass in der Vergangenheit und Gegenwart mittels der Fiktion eines zweckhaften, moralischen Daseins vielmehr die Tragödie dominiert habe. Deswegen artikulierte er die Hoffnung auf eine zukünftige Verbindung von Lachen und Wahrheit, eine Zeit der ‚fröhlichen Wissenschaft‘, die zugleich eine Epoche der Komödie sei. Die ‚Lehrer vom Zweck des Daseins‘ wurden dann jedoch so dargestellt, dass sie immer schon – wenngleich nur aufgrund eines arterhaltenden Triebes – gegen die Erkenntnis der Lächerlichkeit des Einzelnen angesichts der Arterhaltung ankämpften. Gerade diese Erkenntnis, die doch eigentlich zum Lachen führen könnte, muss von ihnen als etwas Schlechtes wahrgenommen worden sein, da sie ihr die Fiktion eines wie auch immer gearteten anderen, vermeintlich besseren Daseins überstülpten. Wenn es nun heißt, dass es „nicht zu leugnen“ sei, „dass a u f d i e D a u e r über jeden Einzelnen dieser grossen Zwecklehrer bisher das Lachen und die Vernunft und die Natur Herr geworden“ sei,116 erscheint das ganze Modell fraglich. Nicht nur führt der Sprecher auf einmal ein zyklisches Modell ein, in dem sich Perioden der Tragödie mit eher kurzen Phasen der Komödie abwechseln. Auch der Zwecklehrer kann nicht mehr bloßer Tragödienschauspieler sein, sondern ist als Figur einer Daseinskomödie zu verstehen, die er zwar tragisch zu überformen versucht, die schließlich aber immer wieder durch ein zyklisches Gesetz der Geschichte in eine komödienhafte Dimension überführt wird. In der wirklichen Tragödie ist das Lachen über den Helden(-Darsteller) nicht vorgesehen. Die Komödie gerät so zur „ewige[n]“ Bestimmung des „Daseins“ und die Tragödie, ganz entgegen der vorigen Ausführungen, denen gemäß alles immer

115 FW 1, KSA 3, 372, 6 f. 116 FW 1, KSA 3, 372, 7–10.  

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nur auf das Erscheinen der großen tragischen Helden bzw. Tragöden zulaufe, zu einem „kurze[n]“ Intermezzo.117 In diesem Zusammenhang nennt der Sprecher erstmals einen realen Tragödiendichter, den er als Beweis für den Umschlag von kurzer Tragödie zu ewiger Komödie zitiert: „die ‚Wellen unzähligen Gelächters‘ – mit Aeschylus zu reden – müssen zuletzt auch über den grössten dieser Tragöden noch hinwegschlagen.“118 Bei der Imagination eines Gelächters, das in „Wellen“ daherkommt und nicht mehr quantifizierbar ist, handelt es sich um eine Metapher für die geschichtliche Naturgesetzlichkeit des Wechsels von der Tragödie hin zur Komödie, die seine gleichsam mechanische Gewalt, seine Unaufhaltsamkeit zu verbildlichen sucht. In der Tat liegt eine Aischylos-Paraphrase119 vor, die jedoch durch eine markante Verschiebung gekennzeichnet ist. In Der gefesselte Prometheus heißt es: P r o m e t h e u s . O heil’ger Luftkreis und ihr Winde schnellbeschwingt! O Stromesquellen und des Meers, des lachenden, Unübersehlich Wallen! Erd’! Allmutter du, Und dich, der Sonn’ allsehend Auge, ruf’ ich an: Schaut, was ich Gott von Göttern jetzo dulden muss!120

Das ‚Lachen‘ erscheint hier, in der Übersetzung partizipial konstruiert, als kühne Metapher für das apostrophierte und anthropomorphisierte Meer, dem das Menschliche über das Moment des visuell nicht mehr Fassbaren zugleich wieder entzogen wird. In der Beschreibung des Text-Ichs geht es allerdings nicht mehr um eine Naturbeschreibung, die es metaphorisch intensiviert und überformt, sondern die ‚Wellen‘ selbst werden zur Metapher.121 Das als Naturgewalt erscheinende Lachen schließt in seiner Bildlichkeit an die Thematik von Trieb und Natur an, die für FW 1 konstitutiv ist. Die Metapher des Aischylos wird so nicht nur in einen völlig neuen Kontext gestellt – der Sprecher invertiert das Bild auch in seinen Bestandteilen, was eine gänzlich andere Denotation mit sich bringt. Mehr noch: Das Text-Ich stellt Aischylos vordergründig als Tragödiendichter dar, der verstanden hat, dass die Komödie des Daseins unhintergehbar ist. Tatsächlich ist

117 FW 1, KSA 3, 372, 10 f. 118 FW 1, KSA 3, 372, 12–14. 119 Vgl. zum Aischylos-Zitat insgesamt den Aufsatz von Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, hier vor allem auch die Diskussion der wichtigen Parallelstelle in GT 9, KSA 1, 70, 25–71, 1 sowie Griffin, Nietzsche on Tragedy and Parody. 120 Aischylos, Die Tragödien des Aeschylos, verdeutscht von Johannes Minckwitz, Stuttgart 1853 (NPB, 106), S. 168, V. 88–92. 121 Vgl. auch Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 113, der zudem das Lachen als „spiegelbildliches Gegenstück zur dionysischen Flut in der Tragödienschrift“ interpretiert.  

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es genau umgekehrt: Denn die Monodie des Prometheus ist der Suche nach dem ‚Zweck‘ seines Leidens gewidmet; wenn Nietzsches Sprecher es aber so darstellt, als würde dieser ausgelacht, dann ist damit gerade die Lächerlichkeit seiner Handlung, stellvertretend für alle Lehrer vom Zweck des Daseins, angezeigt. Die Komödie des Daseins holt das Individuum ein. Insofern lässt sich über den Prätext gerade eine hintergründigere Lesart ausmachen, die den Text des Aischylos selbst parodiert.122 Das Text-Ich verhindert mit seinen Ausführungen jedoch weiterhin jede einfache Festlegung. So spricht es zwar einerseits von einer ‚ewigen Komödie des Daseins‘ und deren immer wieder erfolgenden Sieg über den einzelnen Tragöden; dann ist andererseits wieder nur von einem „corrigirenden Lachen“ der Komödie die Rede, einer korrektiven Funktion, die gleichwohl nicht verhindern konnte, dass „durch diess immer neue Erscheinen jener Lehrer vom Zweck des Daseins die menschliche Natur verändert worden“ sei.123 Sind diese unterschiedlichen Gewichtungen von Komödie und Tragödie schon keineswegs mehr in Einklang zu bringen, so kommt es mit der These von der Veränderung der menschlichen Natur zu einem eklatanten Widerspruch. Denn es war ja gerade die Erkenntnis der menschlichen Natur, die zeitweise als kritischer Maßstab in der Bewertung der ethischen Lehrer diente; deren Lehren werden jetzt aber ebenfalls (wieder) als Teil der Natur angesehen.124 Wieso beruft sich der Sprecher dann allerdings immer wieder auf eine gewissermaßen überzeitliche Natur des Menschen, die zur Erkenntnis der Lächerlichkeit des Einzelnen führt, wenn diese Natur überhaupt keine überzeitliche Entität, sondern wandelbar ist? Wurde oben schon festgestellt, dass die geschichtsphilosophischen Implikationen der Ausführungen des Text-Ichs sich immer wieder verschieben, so erfährt dies hier noch einmal

122 Vgl. schon Griffin, Nietzsche on Tragedy and Parody, S. 341, der konstatiert: „If tragedy (like moralities and religions) justifies suffering, then we must refuse to take it seriously; if Aeschylus justifies Prometheus, then the sea needs to laugh at Prometheus. Nietzsche is parodying Aeschylus.“ 123 FW 1, KSA 3, 372, 14–16. 124 Vgl. auch Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 115 f. Er wertet dies als „einen gewaltsamen Kunstgriff“, der von einer Stimme des Textes vollzogen worden sei. Auch erkennt er die Entlarvungsstrategie, die hinter solchen widersprüchlichen Semantisierungen steckt (vgl. ebd., S. 116). In seiner kursorischen Lektüre von FW 1 versucht Zittel, „eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe“, S. 57 eine integrierende Position zu entwickeln: „Doch selbst wenn dies [die Erkenntnis der „Lächerlichkeit des Daseins“] künftig einmal geschehen sollte, ist dies keine positive Aussicht, da der Mensch ohne den Glauben an den Ernst nicht mehr leben könne, das Bedürfnis nach Zwecken sei ihm zur zweiten Natur geworden, ohne die er nicht zu existieren vermag“. Dass es sich um „keine positive Aussicht“ handle, geht aus dem Text meiner Auffassung nach nicht hervor.  

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seine Bestätigung.125 Nach der Revision des Phasenmodells, dem zufolge Vergangenheit und Gegenwart Zeiten der Tragödie waren und sind, in Zukunft jedoch die Komödie kommen werde, hin zu einem zyklischen Modell, in dem Phasen der Komödie und Tragödie sich abwechseln, wobei auch die Gewichtung dieser Phasen schwankt, findet nun wiederum eine Revision des zyklischen Modells statt. Das zyklische ‚Hin‘ und ‚Her‘ habe eine Veränderung hervorgetrieben, als deren Resultat das Tragische zum integralen Moment menschlicher Existenz geworden sei – das Komische bildet so nicht mehr allein die Essenz der humanen Natur. Diese habe „jetzt ein Bedürfniss mehr, eben das Bedürfniss nach dem immer neuen Erscheinen solcher Lehrer und Lehren vom ‚Zweck‘.“126 So ließe sich die Argumentation des Text-Ichs nachvollziehen. Jedoch ist die Behauptung, das Tragische sei Teil der menschlichen Natur geworden, keineswegs neu. Das sprechende Ich verschweigt, dass es eine solche Konzeption schon zuvor – gar als etwas Selbstverständliches – vertreten hat.127 So entsteht der Eindruck, dass die Ausführungen des Ichs eine zirkuläre Struktur aufweisen. Rekonstruiert wurde aber ebenfalls, dass es diese These revidiert, wenn es im Laufe des Abschnitts behauptet, das Tragische widerspreche dem „Gang der Natur“128 und sei für die Art tendenziell gefährlich. An diesem Punkt der Argumentation bringt das Text-Ich den Gedanken zunächst nicht in einen Zusammenhang mit dem der Arterhaltung. Schädigt diese vorgeblich neue Eigenschaft der menschlichen Natur vielleicht die Erhaltung der Gattung? Oder ist durch die korrektive Funktion der Komödie ein Gleichgewicht geschaffen worden, dass die Erhaltung der Art weiterhin verbürgt? Und wenn ja, auf welche Weise? Es stellt sich mithin die Frage, welche der beiden schon vertretenen Positionen das Text-Ich wieder aufgreift: Das Tragische als etwas immer schon zur Natur des Menschen Gehöriges, der Art Dienendes – oder als etwas, das die Erhaltung der Art gefährdet. Die Argumentation des Sprechers füllt diese Lücken erst einmal nicht und wirft stattdessen für die Interpretation erneut die Frage nach der philosophischen Seriosität von FW 1 im Ganzen auf. Größtmögliche Stringenz und Nachvollziehbarkeit kann zumindest nicht intendiert sein, wenn unpräzise Zeitangaben wie „allmählich“ verwendet werden, um den Prozess einer Transformation des Menschen zum „phantastischen Thiere“ zu beschreiben.129 Der homo sapiens müsse – anders als jedes andere Tier – „von Zeit

125 Die Analyse von Higgins, Comic Relief, S. 48 bedürfte einer Differenzierung: „Nietzsche’s summation is as inconclusive as the rest of the section.“ 126 FW 1, KSA 3, 372, 17–19. 127 Vgl. FW 1, KSA 3, 371, 3–8. 128 FW 1, KSA 3, 371, 31 f. 129 FW 1, KSA 3, 372, 19 f.  



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zu Zeit glauben, zu wissen, w a r u m er existirt, seine Gattung kann nicht gedeihen ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben“.130 Die zeitlichen Angaben tragen an dieser Stelle ebenfalls mehr zur Verdunklung des Sinns bei als zu seiner Erhellung. Es ist ja nicht so, dass die menschliche Natur dergestalt verändert worden wäre, dass der Mensch in jedem Moment seines Lebens ein gesichertes Wissen vom Sinn seines Seins, vom Zweckgrund seiner Existenz haben müsste; vielmehr bedürfe er nur ‚ab und zu‘ des Glaubens an ein solches Wissen, also nicht einmal dieses Wissens selbst. Insofern wird das zyklische Modell durchaus weitergeführt, jedoch bleibt völlig unklar, wie man sich diesen zyklischen Wechsel sowohl prozessual als auch konkret historisch vorstellen soll. Muss jeder einzelne Mensch in gewissen Phasen seines Lebens davon überzeugt sein, den Grund seines Daseins zu kennen? Oder bedürfen nur bestimmte Perioden der Menschheitsgeschichte im Ganzen einer solchen Überzeugung? Ob es sich um ein onto- oder ein phylogenetisches Phasenmodell des menschlichen Verhältnisses zur eigenen Existenz handelt, erhellt aus dem Text nicht. Deutlich wird aber, dass der Sprecher tatsächlich wieder davon ausgeht, dass das Tragische zur Erhaltung der Art beiträgt; die zuvor vertretene Option, das Tragische könne der Art schaden, verwirft er. Dies geschieht freilich, ohne diesen Positionswechsel reflexiv einzuholen, wodurch der Interpret des Textes einen Widerspruch innerhalb der Argumentation konstatieren muss. Jedenfalls ist es jetzt nicht mehr der ethische Lehrer allein, sondern das „menschliche Geschlecht“ insgesamt, das in bestimmten Phasen („immer wieder […] von Zeit zu Zeit“) ein Lachverbot in Form moralischer Imperative erteilt („Etwas, über das absolut nicht mehr gelacht werden darf“).131 Doch nicht nur wechselt zum Ende des Abschnitts noch einmal der Fokus vom Lehrer zum Menschengeschlecht; der Sprecher führt auch die neue Figur des „vorsichtigste[n] Menschenfreund[s]“ ein,132 die freilich an den Gegensatz von Misanthropie und Philantropie im ersten Satz von FW 1 erinnern lässt – und diesen Gegensatz in sich vereinigt, insofern in seiner Freundschaft zum Menschen zugleich größt-

130 FW 1, KSA 3, 372, 22–24. In der Reinschrift (vgl. KSA 14, 238) stand noch ein erklärender Satz mehr: Zwischen „existirt“ und „seine“ war eingefügt: „er muss ein Interesse der Erkenntniß dabei haben lieber zu sein als nicht zu sein“. Auch diese Tilgung in der Druckversion zeigt die Tendenz der Verkürzung und Verdichtung in der Entstehung des Textes an. Mit der Verdichtung geht zugleich eine Schwächung der Kohärenz einher, da in der Reinschrift noch an die Frage angeknüpft wurde, welche Konsequenzen aus der Feststellung, dass ‚Einer immer Keiner‘ sei, folgen könnte. Ein Leben in der Verantwortungslosigkeit wird durch die Veränderung der menschlichen Natur infolge der nach dem Sinn fragenden Zweck-Lehrer unmöglich gemacht. 131 FW 1, KSA 3, 372, 25–27. 132 FW 1, KSA 3, 372, 27 f.  

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mögliche Vorsicht ihm gegenüber enthalten ist. Dieser „vorsichtigste Menschenfreund“ scheint aber bloß ein alter ego des dichterischen Ichs zu sein, da er sich derselben Wortwahl wie dieses in der Formulierung des revidierten geschichtlichen Modells bedient. In Wiedergabe direkter Rede des ‚misstrauischen Philantropen‘ heißt es: „nicht nur das Lachen und die fröhliche Weisheit, sondern auch das Tragische mit all seiner erhabenen Unvernunft gehört unter die Mittel und Nothwendigkeiten der Arterhaltung!“133 Der Sprecher suggeriert zwar, mit dem Figuren-‚Zitat‘ seine eigenen Gedanken nicht bloß noch einmal reduktiv zusammenzufassen, sondern noch um eine wichtige Pointe zu ergänzen. Doch dass das Tragische (und folglich die Lehre vom Zweck des Daseins) ebenfalls konstitutiv für die Arterhaltung ist, stellt keineswegs eine neue Einsicht dar, sondern wurde vom Sprecher schon in den vorigen Sätzen entwickelt und rekurriert zirkulär auf eine frühere Stelle der Argumentation, die hier noch einmal zitiert sei. Nach den Ausführungen über die poetischen Kammerdiener der moralischen Zweck-Lehrer merkt das Text-Ich an: „Es versteht sich von selber, dass auch diese Tragöden immer im Interesse der A r t arbeiten“134. Was also gegen Ende des Abschnitts FW 1 als neue Einsicht ausgegeben wird, ist tatsächlich gar keine ‚Hinzufügung‘, vielmehr eine bloße Repetition der Ausgangsvoraussetzung, die das unzuverlässige Sprecher-Ich dem angesprochenen Leser(kreis) als Konklusion unterzujubeln sucht. Der Gang der Argumentation verläuft somit in einer zirkulären Struktur, die auf Konzeptionen rekurriert, welche zu einem frühen Punkt des Abschnitts vorausgesetzt oder dezidiert vertreten wurden. Das Text-Ich versucht dieses Faktum aber zu verschleiern, indem es Momente der Entwicklung innerhalb der menschlichen Art konstatiert – mit Blick auf die vagen Zeitangaben, die das Ich zur Beschreibung dieser Entwicklung nutzt, setzt es jedoch immer wieder Signale, die den aufmerksamen Leser auf solche Verschleierungsversuche hinweisen.

5 Der Schluss. Eine Deutungsperspektive: Aufhebung des logischen Verfahrens In FW 1 entstehen diverse argumentative Brüche und Widersprüche dadurch, dass das sprechende Ich im Verlauf des Abschnitts ganz unterschiedliche Positionen vertritt und sich bei genauer Lektüre als unzuverlässige Instanz erweist. Die

133 FW 1, KSA 3, 372, 28–31. 134 FW 1, KSA 3, 371, 3–5.

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Ironisierungen und epistemischen Unsicherheiten, die sich beim close reading enthüllen, lassen zwar an den jeweils vertretenen Positionen zweifeln; dies heißt aber nicht, dass dadurch ihre Prozessualität im Hinblick auf eine am Ende vertretene integrative Position markiert würde. Fakt ist, dass auch das zyklische Geschichtsmodell eines Kreislaufs von wechselnden tragischen und komischen Phasen des Daseins keine endgütige Lösung darstellt, sondern in seiner irritierenden Widersprüchlichkeit gegenüber den vorigen Positionen stehen sowie in sich selbst vage bleibt. Das tatsächliche Ende des Abschnitts muss jedoch mit besonderer Aufmerksamkeit vergegenwärtigt werden. Nachdem das Text-Ich die Worte des Menschenfreundes wiedergegeben hat, heißt es: „Und folglich! Folglich! Folglich! Oh versteht ihr mich, meine Brüder? Versteht ihr dieses neue Gesetz der Ebbe und Fluth? Auch wir haben unsere Zeit!“135 Diese suggestive Apostrophe des impliziten Leser-Kreises lässt sich nur vor dem Hintergrund der Änderungen verstehen, die Nietzsche von der Reinschrift hin zum Druck vorgenommen hat. Zuvor hieß es anstelle der Passage von „dieses“ bis „Fluth?“136 und ohne den oben zitierten letzten Satz des Abschnitts: daß jetzt zwei sich widersprechende Bedingungen in der menschlichen Natur sind, welche einen Rhythmus in ihrer Folge bilden wollen? Versteht ihr, warum wir Alle unsere Ebbe und Fluth haben müssen? Was wir nicht gleichzeitig haben können? Was wir nicht gleichzeitig haben dürfen? – Wohlan denn! Seien wir die Erfinder dieses neuen Rhythmus! Jeder für sich und seine Musik!137

In der früheren Fassung sollte also darauf hingewiesen werden, dass sich die beiden behaupteten Wesenszüge der menschlichen Natur nicht ineinander fügen, sondern widersprüchlich sind – was auch in der herausgearbeiteten Kontradiktion der beiden geschichtsphilosophischen Modelle ersichtlich ist. Der Mensch kann entweder die eigentliche Wahrheit erkennen und lachen, dabei jedoch die geringe Bedeutsamkeit seiner selbst akzeptieren − oder seine ursprüngliche Natur verkennen, sich ein Lachverbot auferlegen (lassen), dafür aber einen tieferen Sinn seiner persönlichen Existenz annehmen. Beides zusammen ist schon aus logischen Gründen nicht möglich. Der Widerspruch geht noch weiter: Denn das Modell einer ursprünglichen Erkenntnis der menschlichen Natur wird vom zweiten Modell schon deswegen torpediert, weil dieses den Naturbegriff des ersten auflöst. Indem die Natur des Menschen verändert wurde, lässt sie sich nicht mehr

135 FW 1, KSA 3, 372, 31–33. 136 FW 1, KSA 3, 372, 32 f. 137 KSA 14, 238.  

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als überzeitliches Modell in kritischer Absicht heranziehen. Gerade dies wurde aber in Teilen des Textes getan, indem der Sprecher sich auf die Wahrheit des Daseins als Komödie berief, die gar nicht mehr bestand, wenn man das Modell vom Ende des Abschnitts geltend macht, dem gemäß das Tragische (doch wieder) als Teil der menschlichen Natur zu verstehen ist. Solche logischen Widersprüche138 bilden das Komplement zu den Ironisierungsstrategien, die lange Passagen des ersten Abschnitts prägen. In der Reinschrift wird ausgehend von den beiden widersprüchlichen Modellen ein neuer ‚Rhythmus‘ herbeibeschworen; wie man sich diesen vorzustellen habe, spart das Text-Ich allerdings aus – vermutlich deswegen, weil aus dem beschriebenen logischen Widerspruch kein neues Modell mehr entstehen kann. So wundert es nicht, dass der Sprecher die Metapher einer individuell zu erfindenden Musik verwendet, um den artikulierten Anspruch der überindividuellen Nachvollziehbarkeit zu entheben. Entstehungsgeschichtlich liegt in der Bearbeitung der Reinschrift hin zur Druckfassung wieder die Tendenz einer ‚Verdichtung‘ vor, die die Musikmetaphorik und die Ausformulierung des „neue[n] Gesetzes“139 ausspart – wenngleich unter dieser Formel wohl

138 Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 113 f. rekurriert in seiner weit ausgreifenden Deutung trotz Polyphonie-These auf Nietzsches Intention: „Nietzsche macht deutlich, dass die Tragödie, die in die Epoche der Moralen und Religionen der ethischen Lehrer gehört, nicht einfach durch die Komödie ersetzt werden kann, sobald man sich dieser dienenden Rolle bewusst geworden ist. Auch die Komödie muss oder wird sich ändern. Die Fröhliche Wissenschaft plädiert nicht nur für eine neue Form der Erkenntnis, sondern auch für eine neue, dieser Erkenntnis adäquaten Kunst. Die Voraussetzung dafür ist aber das Schauspiel, das ein Bewusstwerden der Tragödie liefert.“ – Es wäre ein lohnenswertes Unterfangen, für die von mir herausgearbeiteten ‚potenzierten‘ Widersprüche den Begriff des „gleitenden Paradoxons“ zu erproben, den Gerhard Neumann für die Prosa Franz Kafkas geltend gemacht hat (vgl. ders., Umkehrung und Ablenkung. Franz Kafkas ‚Gleitendes Paradox‘, in: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 49, Stuttgart / Weimar 1975, S. 702–744). Ich würde Stegmaiers (Nietzsches Befreiung der Philosophie, S. 71) Auffassung widersprechen, der – vor allem gegen die Systematisierungsversuche ‚der Philosophie Nietzsches‘ – argumentiert, dass „[l]ogische Widersprüche […] nur auf Grund bereits allgemeingültig definierter Begriffe entstehen, die Nietzsche schon voraussetzt.“ Auch seine Schlussfolgerung, Nietzsches Texte so zu interpretieren, „dass keine Ambivalenzen und Widersprüche in ihnen auftauchen“, halte ich für problematisch. Die von mir festgestellten Widersprüche meinen gegenläufige Semantisierungen desselben Phänomens, die in einem Textzusammenhang und zumindest scheinbar von einer Stimme stammend hervorgebracht werden. Allerdings geht es hierbei nicht um den Nachweis von Fehlern innerhalb von ‚Nietzsches Philosophie‘; vielmehr wird die Frage danach gestellt, ob eine Strategie hinter den Ambivalenzen kenntlich gemacht werden kann. Ein „stimmiger Sinn“ (ebd., S. 86), wie Stegmaier ihn im Zuge seiner philosophischen Interpretation fordert, konnte in der vorliegenden Analyse nicht rekonstruiert werden, weil dies einen forcierten, reduktiven Interpretationsakt zur Grundlage hätte. 139 FW 1, KSA 3, 372, 32 f.  



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die wie auch immer funktionierende Abfolge der beiden widersprüchlichen Modelle zu verstehen ist. Zugleich schlägt das Text-Ich in der Druckfassung eine neue Volte, die der Argumentation vollends ihren Boden entzieht. Der Sprecher treibt das Verfahren der logischen Argumentation karikativ auf die Spitze, indem der logische Konjunktor „Folglich!“ dreimal wiederholt wird, ohne die tatsächliche Konsequenz eines Gedankenganges zu beschreiben.140 Wenn man nun die potenzierten logischen Widersprüche, die Aspekte einer Metakritik, die verschiedenen Ironisierungs- und Verschleierungsstrategien sowie die epistemischen Unsicherheiten bedenkt, die in dieser Volte kulminieren, legt das den Schluss nahe, dass der erste Abschnitt insgesamt auf eine Aufhebung des logischen Verfahrens hinausläuft. Freilich erkennt dies nur der akribische Leser, der den Text Satz für Satz, Wort für Wort aufschlüsselt. Der abschließende Ausruf, dass „[a]uch wir […] unsere Zeit“ hätten,141 ist wiederum in seiner kryptischen Kürze bestenfalls ambig zu verstehen: Er mag sich auf das widersprüchliche Ineinander der beiden Modelle und den neuen ‚Rhythmus‘ beziehen, den das ‚Wir‘ in Zukunft erfinden möchte – ganz so, wie es die Reinschrift umschrieben hatte. Dies wäre aber eine vordergründige Lesart. Wenn man die Karikierung des logischen Verfahrens ernst nimmt, könnte es sich auch um einen Aufruf an diejenigen Leser handeln, die gerade diese Metakritik erkannt haben. Vielleicht wäre mit „unsere[r] Zeit“ dann eine Epoche der ‚fröhlichen Wissenschaft‘ gemeint;142 einer Disziplin, für die die Logik zum

140 FW 1, KSA 3, 372, 31. Andeutungen zu dieser These finden sich bei Higgins, Comic Relief, S. 50 f. Benne, Was ist der Zweck der Tragödie? versucht dies als Hinweis auf die Narrativierung von ‚Nietzsches Philosophie‘ seit dem ‚tollen Menschen‘ zu beschreiben (vgl. ebd., S. 113). Zittel, „eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe“, S. 58 hingegen setzt das an dieser Stelle verwendete Lexem „Folglich“ in Bezug zum ganzen Ersten Buch der Fröhlichen Wissenschaft, mithin zu demjenigen, das auf den ersten Abschnitt ‚folgt‘. Demgegenüber ziehe ich eine Interpretation der Stelle aus dem Zusammenhang des ersten Abschnitts vor. Zu dieser methodischen Entscheidung vgl. den in dieser Hinsicht immer noch treffenden Aufsatz von Szondi, Peter, Über philologische Erkenntnis, in: ders., Hölderlin-Studien. Mit einem Traktat über philologische Erkenntnis, Frankfurt/Main 1970, S. 9–34, hier S. 20–22. 141 FW 1, KSA 3, 372, 33. 142 Benne, Was ist der Zweck der Tragödie?, S. 116 kommt zu folgender Deutung: „Das ‚Gesetz der Ebbe und Fluth‘ […] zu verstehen heißt, den Sinn der ‚erhabenen Unvernunft‘ […] dergestalt anzunehmen, dass er zwar als gesetzmäßig gilt, nicht aber zur Grundlage einer ethischen Gesetzgebung für den Einzelnen, d. h. als abstrakte Grundlage der Normativität taugt. Jeder Einzelne oder jede Gruppe trägt zur eigenen Zeit bei anstatt ihr nur ausgeliefert zu sein: ‚Auch wir haben unsere Zeit!‘“. Higgins, Comic Relief, S. 49 stellt sich die Frage nach dem „us“, das hier angesprochen werde und kommt zu folgendem, sehr generell gehaltenen Fazit: „[H]e is implicating his reader in the situation described, and raising questions about the reader’s precise location in the whole saga of human experience.“  



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Ausgangspunkt einer spielerischen, alle fixen Positionen unterlaufenden Denkbewegung wird. Jedoch bleibt dieser letzte Schluss spekulativ, denn auch er verabsolutiert einen Befund, dem, vom Ende des Abschnitts her gesehen, das Text-Ich schon eine andere Position – die Integration des Tragischen − entgegengesetzt hat.143 Mit diesen Ausführungen ist ein Anfang getan für eine textintensive Analyse des Verhältnisses von Komödie und Tragödie in der Fröhlichen Wissenschaft. Dass dieses Thema Nietzsches Schrift keineswegs zufällig eröffnet, wird schon mit Blick auf den letzten Abschnitt der ersten Ausgabe von 1882 ersichtlich,144 der die Tragödie im Titel führt. Aber nicht nur hier scheint Nietzsche Wert auf die thematische Rahmenstruktur gelegt zu haben. Auch in der Ausgabe von 1887 umschließt sie den Text durch die Vorrede145 und den Abschnitt Nr. 382, wenn eine „unfreiwillige Parodie“ mit dem Beginn der „Tragödie“ überblendet wird.146

143 Dies muss auch Zittel, „eine unaufhaltsam rollende Maschine im Kopfe“, S. 60 f. gegenüber eingewendet werden, der abwägt zwischen „eine[r] Möglichkeit […], die Beliebigkeit der Standpunkte mit Feyerabend als fröhliches ‚anything goes‘ zu feiern und die fröhliche Wissenschaft wider den Methodenzwang als Kunst zu propagieren“, und einer anderen, die darin besteht, „einen Metastandpunkt anzuvisieren, von dem aus alle Perspektiven wieder überschaut werden können.“ Zittel strebt unter Interpretation eines Nachlassfragments (NL 1881, 11[10], KSA 9, 443 f.), das er als „Lobrede auf das neutrale, sachliche Sehen“ und als „andere Möglichkeit, Nietzsches Perspektivismus zu verstehen“, einschätzt, eine dritte Position an, ein „Wissenschaftlichkeit beanspruchende[s] Verfahren“, das „in vergleichender Betrachtung die unterschiedlichen Antriebe und Mechanismen der Überzeugungsbildung“ erkennen, „schmerzhaft offen[legen]“, „nüchtern beschr[eiben]“ und „funktional analysier[en]“ soll. „Genau dies“ werde „im ersten Buch der FW praktiziert.“ Dagegen ist zu betonen: Eine solche Annahme geht von deutlich rekonstruierbaren Standpunkten zwischen verschiedenen Abschnitten aus, die dann in ein Verhältnis gesetzt werden können; diese Prämisse ist bezogen auf viele Texte Nietzsches jedoch keineswegs gewährleistet. Anhand des ersten Abschnitts wurde die immense Vielstimmigkeit schon innerhalb eines einzigen Textes erwiesen. Für sehr viele Texte der Fröhlichen Wissenschaft gilt Ähnliches. In der Tendenz zuzustimmen ist dem Fazit von Higgins, Comic Relief, S. 50, das sie ausgehend von der Analyse von FW 1 für das Erste Buch im Ganzen geltend macht: „The book is a defense of perspectivism. Not only does it suggest considerations that might persuade us of the merit of perspectivism, but as the narrator’s viewpoint keeps shifting, it also demonstrates perspectival thinking. […] Each section is its own vantage point, allowing one a new venue for assessing what has gone before, but each as provisional as the last.“ 144 Vgl. FW 342, KSA 3, 571. 145 Vgl. FW Vorrede 1, KSA 3, 346, 28–31. 146 FW 382, KSA 3, 637, 12 u. 15.  



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„Nur Narr! Nur Dichter!“ Nietzsches Versuch einer Neubegründung der Philosophie in der Dichtung Abstract: “O n l y a fool! O n l y a poet!” Nietzsche’s attempt to base philosophy on poetry. It is the basic assumption in this paper that the most relentless critic of Western rationality constitutes at the same time its most radical exponent. Starting from the premise that an understanding of the illusory nature of reality could only be achieved by Nietzsche’s passion for reason, this paper raises the question what kind of significance poetry has for Nietzsche. Since his intellectual integrity causes the dissolution of truth, Nietzsche’s only remaining option is to interpret the world as an aesthetic phenomenon. Following this interpretation, all human interaction with reality is necessarily construction. Through showing how appearance becomes the new truth in Nietzsche’s thinking, this paper outlines the important role poetry plays in this conception. As the conscious creation of a beautiful illusion, poetry can be understood as the highest expression of intellectual integrity and therefore the highest form of affirming life in its aesthetic composition. It becomes the place where a new poetical philosophy can be realized, as the Dionysos-Dithyramben testify.

1 Die Philosophie als Dichtung Ewig kehrt die Wahrheitsfrage in Friedrich Nietzsches Schriften wieder; in keinem seiner Werke schweigt er von ihr. Das Problem der Wahrheit durchzieht sein Denken wie eine nicht abebben wollende Krisis. Wenngleich Nietzsche sich von der Möglichkeit von Wahrheit bereits in seinen ersten Schriften verabschiedet, bleibt seine Fixierung auf sie ungebrochen: Er wird mit ihr nicht fertig. Zu tiefgreifend erscheint ihm die Tragweite des Ereignisses, welches er in seiner Rede vom Tode Gottes versinnbildlicht. Mit dem Ende der Wahrheit versiegt die bisherige Quelle der Begründung von Mensch und Welt, welche aus ihr Wert, Rechtfertigung und Sinn bezogen haben. Die abendländische Philosophiegeschichte vermag Nietzsche vor diesem Hintergrund nur noch als Geschichte eines Irrtums zu begreifen; eines Irrtums, dessen Aufdeckung in der Gegenwart im Nihilismus kumuliert.1

1 Vgl. GD Wie die „wahre Welt” endlich zur Fabel wurde, KSA 6, 80.

DOI 10.1515/9783110474374-016

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Die folgende Untersuchung versucht den Nachweis zu führen, dass Nietzsches Auseinandersetzung mit der Wahrheit in dem Versuch einer Neubegründung der Philosophie in der Dichtung mündet und sein letztes Werk, die Dionysos-Dithyramben, als Verwirklichung einer solchen erneuerten Vorstellung von Philosophie gelesen werden muss. Drei argumentative Schritte sind für die Prüfung dieser These notwendig: Zunächst wird Nietzsches Kritik an der abendländischen Vorstellung von Wahrheit beleuchtet, um den Kern seiner Destruktion der traditionellen Philosophie zu erfassen. Dabei soll deutlich werden, dass sein Unmut über die Unbegründetheit und Unbegründbarkeit einer Vorstellung von Wahrheit als Seiendem den Ausgangspunkt einer Überwindung der Wahrheit im Namen der Wahrhaftigkeit darstellt. In dem Befund, der Schein sei die einzige Wahrheit, vollzieht er – so wird zu zeigen sein – eine Umwertung der Wahrheit. Diesen Überlegungen folgt eine Auseinandersetzung mit der Frage, ob und inwiefern bei Nietzsche von dieser Warte aus eine Aufwertung der Dichtung zur eigentlich wahren Form der Philosophie erfolgt. Abschließend wird, ausgehend von den Ergebnissen der ersten beiden Teile, eine Analyse des ersten ‚DionysosDithyrambus‘ Nur Narr! Nur Dichter! vorgelegt. Hierbei wird zu prüfen sein, ob Nietzsche sein Denken in den Dionysos-Dithyramben vollendet, da er hier erstmals seiner eigenen Vorstellung von dem gerecht wird, was Philosophie sein müsse.

1.1 Wahrheit und Lüge „Habt ihr nicht von jenem tollen Menschen gehört, der am hellen Vormittage eine Laterne anzündete, auf den Markt lief und unaufhörlich schrie: ‚Ich suche Gott! Ich suche Gott!‘ – Da dort gerade Viele von Denen zusammen standen, welche nicht an Gott glaubten, so erregte er ein grosses Gelächter.“2 Die Botschaft vom Tod Gottes lässt Nietzsche in seiner Fröhlichen Wissenschaft durch einen tollen Menschen überbringen; aus diesem spricht die Wahrheit über die Wahrheit in Gestalt des Wahnsinns. Sein Wort, welches er an die ihn umstehenden Marktbesucher richtet, bleibt unverstanden; nichts Neues scheint er ihnen zu berichten: Längst glaubt die Menschenmenge nicht mehr an Gott, um dessen Ableben scheinen sie zu wissen. Und doch ist ihre Welt in Ordnung, die des tollen Menschen aus den Fugen. Was also gilt es zu begreifen, um sein Wort zu verstehen? Das abendländische Gottesverständnis ist unlösbar verknüpft mit der Vorstellung der Existenz von Wahrheit und ihrer Erkennbarkeit durch den Menschen. Den Ursprung eines solchen Welt- und Selbstverhältnisses knüpft Nietzsche in

2 Vgl. FW 125, KSA 3, 480–482.

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seiner Geburt der Tragödie an die Person des Sokrates, welchen er davon ausgehend als „Wendepunkt und Wirbel der sogenannten Weltgeschichte“3 bezeichnet, sieht er in ihm doch in noch nie dagewesener Form die Leidenschaft der Erkenntnis verbunden mit dem unbedingten Glaube an die Möglichkeit von Erkenntnis mittels der menschlichen Vernunft.4 Sokrates fand kein Genügen an der Suche nach Wahrheit allein, an der selbstbezüglichen Lust des Enthüllens und Entkleidens der Dinge; in ihm wird der Anspruch Wirklichkeit, durch die Vernunft die Tiefen des Seins vermessen zu können. Die Grundprämisse, welche Nietzsche hier herauszulesen glaubt, ist die Überzeugung, dass das Wahre das Gute, da das dem Menschen Zuträgliche und Nützliche, ist. Dies liegt darin begründet, dass der Erkenntnisdrang durch die Hoffnung getragen wird, das Wirre, Blinde und Zufällige des Daseins bändigen zu können, mit der Vernunft aufzuklären und zu ordnen, um schließlich in der Beseitigung alles Unvernünftigen das Glück des Menschen zu ermöglichen. Das Unglück und Leiden wird damit in seinem Ursprung auf die Unwissenheit und Unvernunft zurückgeführt, während die Vernunft es vermag, Glückseligkeit zu verschaffen, indem sie das Scheinbare der Wirklichkeit durchbricht und hinter dem Dickicht einer sich wandelnden und unbeständigen Welt das eine Wahre erfasst.5 Noch in der Götzen-Dämmerung schreibt Nietzsche Sokrates die Gleichung „Vernunft = Tugend = Glück“6 zu. Ein anderer Wert der Wahrheit bzw. des Glaubens an die Wahrheit offenbart sich Nietzsche „im Bild des s t e r b e n d e n S o k r a t e s “7 als eines „durch Wissen und Gründe der Todesfurcht enthobenen Menschen“. Als ein solcher erinnere er nach Nietzsche an die daraus erwachsende Bestimmung der Wissenschaft, „nämlich das Dasein als begreiflich und damit als gerechtfertigt erscheinen zu machen“. Folgt man Nietzsche, besteht das Wesen des Sokratismus in dem Willen zur Begründung des Lebens, aus der erst die Möglichkeit seiner Bejahung entsteht. Die Vernunft vermag dem Leben erst Sinn und Ordnung zu verleihen, indem sie es auf einen unvergänglichen Ursprung und überpersönliche Strukturen zurückführt; so allein wird das Leben trotz aller Vergänglichkeit und Flüchtigkeit erträglich und lebenswert. Deutlich tritt hervor, was hier als das dem Menschen Schädliche empfunden wird, dem der Wille zur Wahrheit Abhilfe schaffen soll: das Leben selbst. In seinem Kern lebensverneinend, da sich gegen das Leben in seiner unsteten Beschaffenheit wendend, verführt jedoch gerade der Wille zur Wahrheit zum Leben – das Nein zum Leben befördert somit erst das Ja zu ihm. In 3 4 5 6 7

GT 15, KSA 1, 100, 8. Vgl. GT 15, KSA 1, 99. Vgl. GT 15, KSA 1, 99. GD Das Problem des Sokrates 4, KSA 6, 69, 20. GT 15, KSA 1, 99, 22.

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der Fröhlichen Wissenschaft schreibt Nietzsche dazu: „Ich bewundere die Tapferkeit und Weisheit des Sokrates in Allem, was er that, sagte – und nicht sagte.“ Sokrates litt am Leben, so Nietzsche; „er hatte eben nur eine gute Miene zum Leben gemacht und zeitlebens sein letztes Urtheil, sein innerstes Gefühl versteckt! Sokrates, Sokrates hat a m L e b e n g e l i t t e n !“8 Der Mensch, so lässt sich folgern, ist das Tier, das Wahrheit will, da der Glaube an diese ein ihm grundlegendes Bedürfnis bedient: Er, so Nietzsche in seiner Abhandlung Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne, braucht den Glauben an die Wahrhaftigkeit seiner geistigen Wirklichkeit, um „mit einiger Ruhe, Sicherheit und Consequenz“9 zu leben. Die Annahme, dass es Wahrheit gebe, macht erst einen Sinn – ein Wozu – der eigenen Existenz denkbar; der Mensch „m u s s von Zeit zu Zeit glauben, zu wissen, w a r u m er existirt, seine Gattung kann nicht Gedeihen ohne ein periodisches Zutrauen zu dem Leben! Ohne Glauben an die V e r n u n f t i m Le b e n !“10 Der Sinn aber kann hier nicht im Leben selbst liegen, welches in seiner Grundbeschaffenheit Vergänglichkeit und Leiden ist. So bleiben nur die Hinwendung zur Vernunft und die Suche nach Wahrheit, um eine untrügliche Quelle des Wertes des Daseins aufzutun. Fällt mit der Gottesidee der Glaube an die Wahrheit, so ist einem solchen – im Wesentlichen auf Wahrheit gründenden – Selbst- und Weltverständnis die Grundlage entzogen. Zurück bleibt das, was man zu fliehen versuchte: Schein, Wandel und Vergänglichkeit. Da die Quelle, aus der das Leben und Leiden ihren Wert bezogen haben, versiegt ist, erfährt das menschliche Dasein eine totale Entwertung; es hat seine Begründung verloren. Diese erweist sich rückblickend als Chimäre und Illusion, denn was der Mensch als Wahrheit zu erkennen glaubte, war nur das, was er selbst erschaffen hat. Der Mensch muss seine geistige Wirklichkeit als das begreifen lernen, was sie im Grunde ist: seine Schöpfung und damit kein Ausdruck einer höheren Vernunft. Er selbst war es, welcher den Wert in die Dinge gelegt hat – er ist der Schöpfer seiner Welt. Nietzsche konstatiert: „Was nur W e r t h hat in der jetzigen Welt, das hat ihn nicht an sich, seiner Natur nach, – die Natur ist immer werthlos: – sondern dem hat man einen Werth einmal gegeben, geschenkt, und wi r waren diese Gebenden und Schenkenden! Wir erst haben die Welt, d i e d e n M e n s c h e n E t w a s a n g e h t , geschaffen!“11 Aus dem Erkennenden ist ein Schaffender geworden. Als ein solcher hat er seine Wahrheiten jedoch nicht nach Maßgabe der Vernunft geschaffen, sondern willkürlich und zufällig: Wahrheitsbildung ist, so 8 FW 340, KSA 3, 569, 30–570, 1. 9 WL, KSA 1, 883, 32. 10 FW 1, KSA 3, 372, 21–25. 11 FW 302, KSA 3, 540, 24–29.

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Nietzsche, nichts anderes als Metaphernbildung:12 die Übersetzung der eigenen Wahrnehmung der Welt in Bilder, welche ihrerseits erst in der Sprache zur Welt kommen können. Doch auch diese ist kein Faktum, kein Gegebenes. Als elementarster Baustein der menschlichen Wirklichkeit ist Sprache auch Produkt des Menschen, welchen Nietzsche als „Sprachbildner“13 bezeichnet. Aus den Tönen und Lauten formieren sich Begriffe, mittels derer der Mensch sich seine Wirklichkeit webt. Das Erkennen war stets nur ein „tastendes Spiel auf dem Rücken der Dinge“14– was der Mensch über eben diese auszusagen vermag, ist allein die eigene Vorstellung, welche er sich von ihnen gemacht hat. Diesen grundlegend ästhetischen Trieb zur Metaphernbildung bezeichnet Nietzsche als „Fundamentaltrieb des Menschen“,15 welcher davon ausgehend als genuin ästhetisches Wesen zu denken ist und dessen Wirklichkeit nach dieser Maßgabe nur als Kunst, als Scheingebilde, verstanden werden kann. Die soziale, politische und kulturelle Lebenswelt des Menschen kann folglich nur noch als ein willkürlich zusammengeworfenes und -gewachsenes Sammelsurium betrachtet werden, als beliebige Zusammenstellung von Sprachen, Moralen, Gesetzen und Zivilisationen, über deren Wahrheitsgehalt niemand etwas zu sagen vermag. Nichts ist wahr in der Welt des Menschen; sein Dasein ist tief eingetaucht „in Illusionen und Traumbilder“16. Doch damit ist wiederum alles wahr, aber auch alles Lüge. Aus den bisherigen Überlegungen geht hervor, worin für Nietzsche die größte Dissonanz und radikalste Spannung der menschlichen Existenz zu suchen ist: Er ist das Tier, welches Wahrheit will und doch immer nur Schein erschafft; ein Tier, das – in Ermangelung der Möglichkeit von Wahrheit – lügen muss. Toll über diese Einsicht kann jedoch nur der Mensch der Erkenntnisleidenschaft, der wahrhaft Wahrheitsliebende – und damit der wahrhaft philosophische Mensch – werden. Diesem wird nicht nur das Dasein zur Absurdität, sondern auch alle bisherige Philosophie, denn, ihrem Wesen nach Liebe zur Wahrheit, galt ihr größter Ernst dem Nichts. Eine Gegenwelt zur eigentlichen Wirklichkeit – zum Leben – suchend, entwarf der Philosoph die „wahre Welt“.17 Sie ist sein Phantasma: „Die ‚scheinbare Welt‘ ist die einzige: die ‚wahre Welt‘ ist nur h i n z u g e l o g e n …“, so Nietzsches Schluss in der Götzen-Dämmerung. Der Versuch, sich aus der eigentlichen Wirklichkeit heraus zu denken, das Scheinhafte und Unbeständige hinter sich zu lassen, um Wahrheit zu finden, habe die Philosophen immer mehr von der ein-

12 13 14 15 16 17

Vgl. WL, KSA 1, 878 f. WL, KSA 1, 879, 7. WL, KSA 1, 876, 32. WL, KSA 1, 880, 1 f. WL, KSA 1, 876, 32. GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 2, KSA 6, 75, 24.  



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zigen Wirklichkeit, der Wirklichkeit des Scheins, weggetrieben. Das Illusorische aller Philosophie wird nach Nietzsches Auffassung potenziert durch die Tatsache, dass das Nachdenken über die an sich bereits illusorische Vorstellung von Wahrheit mittels der grundlegend artifiziellen Sprache erfolgt, ja im Wesentlichen von den Voraussetzungen der Sprache und der daraus geformten Begrifflichkeiten und Abstraktionen lebt. Die Rede von der Substanz, dem Subjekt oder dem freien Willen basiert auf Wortschöpfungen, die nach Nietzsche rein fiktional sind: Erfindungen, die man für Tatsachen nimmt, da man an die „‚Vernunft‘ in der Sprache“18 glaubt und von der Existenz der Begriffe auf die Existenz der Sache selbst schließt. Man denke dabei an Nietzsches Ausspruch: „Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben…“19 Der Glaube an die Sprache erscheint ihm als Quell von allerlei Aberglauben in der Philosophie – so der „Subjekt- und Ich-Aberglaube“20 –, der sich in vermeintlich objektiver Sprache verkleidet als Wahrheit darstellt und den Denkenden in der Täuschung befangen hält. Hinzu kommt, dass die Richtigkeit des Gedachten seit Sokrates am Maßstab der Logik und der Kausalitäten gemessen wird – Prinzipien, die ihrerseits nicht überzeitlich sind, sondern als menschliche Schöpfungen und in diesem Sinne als im Wesentlichen unlogische, da zufällige Erzeugnisse zu verstehen sind.21 Auch hier ist der Glaube an die Logik und ihren Wert – soll sie doch das Wahre vom Falschen scheiden – ausschlaggebend für das Festhalten an der Vorstellung, mittels der Vernunft durch den Schein hindurch das Wahre finden zu können. Man kann sagen, dass von dieser Warte aus die abendländische Philosophie ein sinnloses, sich seiner selbst nicht bewusstes, sich selbst nicht erkennendes Spiel war. Mag der Mensch an sich „k ü n s t l e r i s c h s c h a f f e n d e s S u b j e k t“22 sein, welches nicht Wahrheit, sondern immer nur Lüge reden kann, so war der Philosoph der größte aller Lügner, unbewusst ein Jahrtausende überdauerndes Scheingebilde und Luftschloss errichtend, in allem bar jeder Selbsterkenntnis, tief versunken in das Anschauen des eigenen „ungeheure[n] Gebälk[s] und Bretterwerk[s] der Begriffe“,23 den eigenen Gespenstern und Chimären verfallen.

18 GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 6, KSA 6, 78, 11. 19 GD Die „Vernunft“ in der Philosophie 6, KSA 6, 78, 12 f. Nietzsche bezeichnet in der Fröhlichen Wissenschaft die Grammatik ferner als „Volks-Metaphysik“, in deren „Schlingen“ die „Erkenntnisstheoretiker[…] hängen geblieben“ seien (FW 354, KSA 3, 593, 16 f.). 20 JGB Vorrede, KSA 5, 11, 22. 21 Vgl. stellvertretend für zahlreiche Äußerungen Nietzsches in seinem Werk GD Die vier grossen Irrthümer, KSA 6, 88–97. 22 WL, KSA 1, 883, 31. 23 WL, KSA 1, 888, 25 f.  





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1.2 Die Umwertung der Wahrheit Der Wert der Wahrheit ist verloren, der Schein wertlos. Aus diesem Dilemma heraus führt nur die radikale Infragestellung des Wertes der Wahrheit: „Gesetzt, wir wollen Wahrheit: w a r u m n i c h t l i e b e r Unwahrheit?“.24 Nietzsche hebt in seiner Frage zu einer fundamentalen Umwälzung der Werte an, zur Neugewichtung des Verhältnisses von Wahrheit und Lüge. Begleitet wird dies von den Zweifeln darüber, was in uns eigentlich zur Wahrheit wolle und was dieser Wille überhaupt wert sei.25 In seiner Auseinandersetzung mit dem asketischen Ideal in Zur Genealogie der Moral spricht Nietzsche diesbezüglich von einer „Lücke in jeder Philosophie“,26 die erst in ihm zum Bewusstsein kommt. Dem Willen zur Wahrheit stellt er in diesem Zusammenhang den „W i l l e [n] z u r T ä u s c h u n g “ entgegen.27 Diese Überlegungen sind kein Novum der späten Philosophie Nietzsches, sie sind von Anbeginn seines Schaffens präsent: Bezeichnet er seine Geburt der Tragödie als „erste Umwerthung aller Werthe“28, so gilt dies in besonderem Maße dem Problem von Sein und Schein, Wahrheit und Lüge. Die Umwertung selbst ist durch zwei Motive getragen, den Willen zur Wahrheit sowie den Willen zur Täuschung. Nietzsches Neugewichtung des Verhältnisses von Wahrheit und Lüge ist zunächst die Konsequenz seines eigenen Willens zur Wahrheit, seiner für sich beanspruchten Redlichkeit, die er im Nachlass als „letzte Tugend“29 bezeichnet. Die Einsicht in die Grenzen menschlichen Erkennens, welches sich nur in Scheinhaftem bewegt und nur eben solches hervorbringt, bezeichnet Nietzsche als „t r a g i s c h e E r k e n n t n i s“;30 diese muss als Einsicht des Erkennenden in das Scheitern allen Glaubens an die Wahrheit verstanden werden, da sich der Wahrheitswille nicht mehr vor dem Faktum des illusorischen Charakters aller Wirklichkeit versperren kann. Schreibt Nietzsche: „Schein ist für mich das Wirkende und Lebende selber“,31 so gilt diese Aussage werkübergreifend, wenn auch in verschiedenen Gestaltungen auftretend – sei es als ästhetische Metaphysik, Perspektivismus oder ‚Wille zur Macht‘. Ist der Schein aber die einzige sich offenbarende Realität des Lebens, so ist er die Wahrheit, während das, was ursprünglich für Wahrheit gehalten wurde, sich als Lüge

24 25 26 27 28 29 30 31

JGB 1, KSA 5, 15, 17 f. Vgl. JGB 1, KSA 5, 15, 15 f. GM III 24, KSA 5, 401, 16. GM III 25, KSA 5, 402, 30. GD Was ich den Alten verdanke 4, KSA 6, 160, 26. NL 1885/86, I[145], KSA 12, 44, 3. Vgl. GT 15, KSA 1, 101, 30. FW 54, KSA 3, 417, 11 f.  





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erweist. Dem eigenen Willen zur Wahrheit folgend, muss der Redliche sich dieser Einsicht beugen und die neue Wahrheit, den Schein, anerkennen. Folgt man diesem Gedankengang, so wird deutlich, worin die Notwendigkeit der Umwertung der Wahrheit, die Nietzsche intendiert, liegt: nämlich in dem – im Grunde sokratisch-abendländischen – Schluss, dass das Wahre das Gute und dem Menschen Zuträgliche ist. Daher muss der Schein fortan notwendig als das Gute, da Wahre, begriffen werden, sodass der wahrhaft Redliche und Wahrheitsliebende nicht umhin kann, sich auf den Schein auszurichten, in ihm die Wahrheit zu lieben und nach ihm zu streben. Sein Wille zur Wahrheit, so lässt sich schließen, verlangt von ihm den Willen zur Täuschung, genauer: Sein Wille zur Wahrheit ist Wille zur Täuschung. Das Bewusstsein des eigenen Wahrheitswillens hat Nietzsche ausdrücklich im fünften Buch der Fröhlichen Wissenschaft unter dem Titel Inwiefern auch wir noch fromm sind zur Sprache gebracht: Der Unwillen, sich täuschen zu lassen oder gar sich selbst zu täuschen, ruht, so Nietzsche, auf „jene [m] Christen-Glaube[n], der auch der Glaube Plato’s war, dass Gott die Wahrheit ist, dass die Wahrheit göttlich ist…“32 Nietzsches Umwertung der Wahrheit, so ist zu folgern, bleibt Ausdruck eines unbedingten Willens zur Wahrheit, mag sich die Gestalt der Wahrheit auch wandeln: vom Sein zum Schein. Konsequenterweise spricht der alte Papst auch dem gottlosen Zarathustra eben diese Frömmigkeit zu: „[O]h Zarathustra, du bist frömmer als du glaubst, mit einem solchem Unglauben! Irgend ein Gott in dir bekehrte dich zu deiner Gottlosigkeit.“33 Bleibt die Wahrhaftigkeit der Maßstab des Denkens, so mündet Nietzsches Umwertung der Wahrheit in den Zwiespalt, dass der Schein als das Wahre das an und für sich Gute sein müsste, d. h. sich jeder inhaltlichen Unterscheidung entziehen würde: Ein Schein wäre so gut wie der andere, sei er christlicher, platonischer oder ästhetischer Natur. Selbst der illusorische Glaube an die Wahrheit wäre nicht minder wahr als die Offenbarung des Scheins als Wirklichkeit – ist er doch auch nur Schein. Eine qualitative Unterscheidung würde nach einem anderen Maßstab jenseits der Verabsolutierung des Scheins verlangen; einem Maßstab, der zu beurteilen ermöglicht, welcher Schein der richtige ist. Hier tritt nun das zweite Motiv der Umwertung der Wahrheit hervor, durch welches Nietzsche sich dem angedeuteten Widerspruch zu entziehen versucht: sein Wille zu einer „grundsätzliche[n] Gegenlehre und Gegenwerthung des Lebens“34 angesichts der abendländisch-christlichen Haltung zum Dasein, welche für ihn das absolute Nein zum Leben darstellt. Der rechte Schein müsste demnach auf der  

32 FW 344, KSA 3, 577, 13–15. 33 Za IV Ausser Dienst, KSA 4, 325, 5–7. 34 GT Versuch einer Selbstkritik 5, KSA 1, 19, 13 f.  

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Grundlage der Lebensförderlichkeit bemessen werden. Doch auch hier werden in Nietzsches Schriften der Lust der Erkenntnis sowie dem asketischen Ideal durchaus Macht über das Leben zugeschrieben – insbesondere im asketischen Ideal sieht sich der Wille zum Leben selbst gerettet, mag er auch ein Wille zum Nichts sein.35 So bleibt zu schließen, dass im Grunde von der Lebensförderlichkeit desjenigen zu sprechen ist, der diesen Schein nicht mehr aufrecht zu halten vermag, dem Gott tot ist und dem Gott tot bleibt. Die Rede ist vom tragisch Erkennenden, welcher ein an der Auflösung der alten Wahrheit Leidender ist; ihm ist der Baum der Erkenntnis kein Baum des Lebens mehr. Leben muss für ihn fortan Wille zur Täuschung, zur Illusion, zum Schein bedeuten; es ist eine existentielle Notwendigkeit, welche ihn zum Schein hintreibt, ihn diesen als das Gute, da Belebende, erfahren lässt. Stellvertretend für seine zahlreichen Äußerungen zur Heilung des Erkennenden durch den Schein, insbesondere durch die Kunst, sei eine Stelle aus der Fröhlichen Wissenschaft angeführt: Hätten wir nicht die Künste gut geheissen und diese Art von Cultus des Unwahren erfunden: so wäre die Einsicht in die allgemeine Unwahrheit und Verlogenheit, die uns jetzt durch die Wissenschaft gegeben wird – die Einsicht in den Wahn und Irrthum als in eine Bedingung des erkennenden und empfindenden Daseins –, gar nicht auszuhalten. Die R e d l i c h k e i t würde den Ekel und den Selbstmord im Gefolge haben. Nun aber hat unsere Redlichkeit eine Gegenmacht, die uns solchen Konsequenzen ausweichen hilft: die Kunst, als den g u t e n Willen zum Scheine.36

Der Wille zur Täuschung erscheint aus dieser Perspektive nicht mehr als Wille zur Wahrheit, sondern als Gegengewicht zur Redlichkeit. Der Schein ist hier nicht das Gute, weil er das Wahre ist, sondern weil er das Wahre verdeckt und so dem tragisch Erkennenden das Ja zum Leben wieder möglich macht. In diesem Sinne schreibt Nietzsche – bezugnehmend auf sich selbst – in einem Nachlassfragment: „Nur weiß er – er hat es erlebt, er hat vielleicht nichts Anderes erlebt! – daß die Kunst m e h r w e r t h ist als die Wahrheit.“37 Dass die existentielle Not des Wahrheitsliebenden die Grundlage der Umwertung der Wahrheit darstellt, wird besonders deutlich in einem Nachlassnotat aus dem Jahre 1887 mit dem Titel „T a g e b u c h d e s N i h i l i s t e n …“:38

35 Vgl. GM III 28, KSA 5, 411 f. 36 FW 107, KSA 3, 464, 10–19. 37 NL 1888, 17[3], KSA 13, 522, 23–25. 38 NL 1887/88, 11[327], KSA 13, 139, 7. Vgl. ferner Nietzsches Ausführungen zum Nihilismus in NL 1887/88, 11[99], KSA 13, 46–48.  

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K a t a s t r o p h e : ob nicht die Lüge etwas Göttliches ist.. ob nicht der Werth aller Dinge darin beruht, daß sie falsch sind?.. ob nicht die Verzweiflung bloß die Folge eines Glaubens an die G o t t h e i t d e r W a h r h e i t ist ob nicht gerade d a s L ü g e n und F a l s c h m a c h e n (Umfälschen) das Sinn-Einlegen ein Werth, ein Sinn, ein Zweck ist ob man nicht an Gott glauben sollte, nicht weil er wahr ist (s o n d e r n w e i l e r f a l s c h –?39

Das Ja zur Lüge und Täuschung, zur Scheinhaftigkeit des Daseins, wird zum Ausdruck der Lebensbejahung, im Sinne des Willens zur Täuschung, doch auch gemäß dem Willen zur Wahrheit. Im Gott Dionysos, welcher als Chiffre des Lebens die Vergöttlichung des Scheines symbolisiert, kommen schließlich Nietzsches treibende Motive einer Umwertung der Wahrheit zusammen.

1.3 Dionysos Dionysos ist das – oftmals unsichtbare – Band, welches Nietzsches Werk zu einer Einheit schnürt:40 Dezidiert erwähnt im Früh- und Spätwerk, ist Dionysos auch da präsent, wo Nietzsche nicht ausdrücklich auf ihn Bezug nimmt. Der Grund seiner außerordentlichen Relevanz für den Zugang zu Nietzsches Werk liegt darin begründet, dass Nietzsche in Dionysos den Kern des Lebens, die Grundstruktur alles Lebendigen, verkörpert sieht. Ungeachtet der Tatsache, dass seine Welt- und Lebensentwürfe changieren, bleibt die Welt, die Nietzsche vorstellt, wesenhaft

39 NL 1887/88, 11[327], KSA 13, 139, 26–140, 7. 40 Da in diesem Rahmen kein erschöpfender Nachweis für diese These erfolgen kann, sei zunächst auf Nietzsches Selbstwahrnehmung in der Götzen-Dämmerung verwiesen: „Und damit berühre ich wieder die Stelle, von der ich einstmals ausgieng – die ‚Geburt der Tragödie‘ war meine erste Umwerthung aller Werthe: damit stelle ich mich wieder auf den Boden zurück, aus dem mein Wollen, mein K ö n n e n wächst – ich, der letzte Jünger des Philosophen Dionysos, – ich, der Lehrer der ewigen Wiederkunft…“ (GD Was ich den Alten verdanke 5, KSA 6, 160, 24–30). Zur Präsenz des Dionysischen im Werk Nietzsches siehe u. a. Schäfer, Rainer, Die Wandlungen des Dionysischen bei Nietzsche, in: Nietzsche-Studien, Jg. 40, Berlin / New York 2011, S. 178–202, hier S. 179 f.: „Das Dionysische und das Tragische sind im Werk Nietzsches auch dort anwesend, wo sie nicht explizit oder wörtlich genannt werden.“ Diesem Urteil schließt sich auch Wolfram Groddeck an. Er verweist darauf, dass „das ‚Verbergen‘ des ‚Dionysos‘ in Nietzsches Werk einer bewußten schriftstellerischen Überlegung entspricht“; dazu verweist er auf den ZarathustraNachlass, „wo mehrmals ‚Dionysos‘ genannt wird“ (Groddeck, Wolfram, Friedrich Nietzsche „Dionysos-Dithyramben“, Bd. 2: Bedeutung und Entstehung von Nietzsches letztem Werk, Berlin / New York 1991, S. XVII).  



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dionysisch.41 Was unter dem ‚Dionysischen‘ zu verstehen sei, bringt Nietzsche explizit im Nachlass zu Papier. Seine „d i o n y s i s c h e Welt“ sei eine Welt des Ewig-sich-selber-Schaffens, des Ewig-sich-selber-Zerstörens, diese Geheimniß-Welt der doppelten Wollüste, dieß mein Jenseits von Gut und Böse, ohne Ziel, wenn nicht im Glück des Kreises ein Ziel liegt, ohne Willen, wenn nicht ein Ring zu sich selber guten Willen hat […].42

Bezieht Nietzsche sich im Fortgang dieser Passage auch auf den ‚Willen zur Macht‘ als Ausdruck einer so gedachten dionysischen Welt, klingt hier dennoch deutlich seine Konzeption eines Ur-Künstlers – in Gestalt des Dionysos – aus dem Frühwerk an. Beiden gemeinsam ist die Vorstellung, die Welt müsse als ewig sich selbst neu gestaltendes und zerstörendes Kunstwerk verstanden werden, denn in der Vorstellung permanenten Werdens sind die Überwindung und Vernichtung des Bisherigen und die Neuschöpfung von Zukünftigem notwendig mitzudenken. Das Leben selbst ist eine ästhetische Kraft: Stets von neuem bricht eine Erscheinung aus dem unermüdlichen Strom des Lebens hervor, um im nächsten Augenblick wieder von diesem verschlungen zu werden. Einem Glockenschlage gleich pendelt das Leben ewig zwischen Schöpfung und Vernichtung, kennt weder ein finales Ziel noch einen abschließenden Zweck. Es bleibt ein Kreisen, das niemals zum Abschluss kommen wird, noch kommen will, da es ewig mehr werden will. Mündet die Umwertung der Wahrheit in die Liebe zum Schein, so muss gefolgert werden, dass der Wille zur Täuschung und zum Schein fortan gleichbedeutend mit dem Bekenntnis zu Dionysos ist. Der Wahrheitsliebende, welcher den Schein als wahrhaftiger als die Wahrheit erkannt hat, muss in seiner Liebe zum Schein die Liebe zu Dionysos entdecken, denn Dionysos ist als Verkörperung des Lebens die Wahrheit. Zugleich kommt in ihm Nietzsches Wille zum Ausdruck, das Leben zu bejahen – der christlich-abendländischen Welt- und Lebensverneinung ein neues bejahendes Ideal entgegenzusetzen; eine Intention, die Nietzsche am Ende des Ecce homo zur Formel „D i o n y s o s g e g e n d e n G e k r e u z i g t e n “43 verdichtet. Wer den Schein, und damit Dionysos liebt, wird es ihm gleichtun und in der bedingungslosen Annahme des Lebens danach streben, das „ewige J a zu allen

41 Darauf verweist auch Schäfer, Die Wandlungen des Dionysischen bei Nietzsche, S. 179–202. Eine entgegengesetzte Position vertritt Günter Figal, der argumentiert, „Dionysos“ sei in Nietzsches Spätwerk das „Gegenwort“ zum „Willen zur Macht“ (Figal, Günter, Nietzsches Dionysos, in: Nietzsche-Studien, Jg. 37, Berlin / New York 2008, S. 51–61). 42 NL 1885, 38[12], KSA 11, 611, 10–14. 43 EH Warum ich ein Schicksal bin 8, KSA 6, 374, 31 f.  

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Dingen s e l b s t z u s e i n “44. Doch muss der Mensch zum Lebendigen selbst, zum Wandel werden, um dionysisch zu sein. Das ewige Ja- und Amen-Sagen zum Leben ist nicht zu trennen von der imitatio des Dionysos, d. h. von einer Lebenspraxis, die davon zeugt, dass man Teil der dionysischen Werde- und Schaffenslust ist, den Willen zur Vernichtung eingerechnet: „Für eine d i o n y s i s c h e Aufgabe gehört die Härte des Hammers, die L u s t s e l b s t a m V e r n i c h t e n in entscheidender Weise zu den Vorbedingungen.“45 Oder anders formuliert: Die dionysische Natur weiß das „Neinthun nicht vom Jasagen zu trennen“.46 Der Wille zum Schein muss damit im Fortzeugen des Scheines als des Wahren deutlich werden, und zwar in seiner umfassendsten schöpferischen und zerstörerischen Konsequenz.  

2 Die Dichtung als Philosophie Eine Philosophie im Zeichen des Willens zur Wahrheit hat sich für Nietzsche als größte aller Lügen offenbart. Ihre Lüge gründet in ihrem Anspruch auf Wahrheit, ihre Sinnlosigkeit in ihrem Glauben, sinnhaft zu sein, ihr Unwert im Glauben, ewige Werte erkannt zu haben. Die Destruktion der falschen Form von Philosophie mündet, wie im Weiteren genauer auszuführen ist, in eine neue Vorstellung davon, was Philosophie sein müsse, um ihrem Anspruch, Liebe zur Wahrheit zu sein, gerecht zu werden.

2.1 Die Dichtung Ansgar Maria Hoff kommt in seiner Dissertationsschrift über das Poetische der Philosophie zu de