Gesammelte Schriften. Bd 12: Zur preussischen Geschichte 3525303130, 9783525303139 [PDF]


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Table of contents :
GESAMMELTE SCHRIFTEN. Bd. XII (Titelei)......Page 1
VORBERICHT DES HERAUSGEBERS......Page 4
INHALT......Page 8
SCHLEIERMACHERSPOLITISCHE GESINNUNG UND WIRKSAMKEIT......Page 10
I. DER FREIHERR VOM STEIN......Page 46
II. KARL AUGUST VON HARDENBERG......Page 62
III. WILHELM VON HUMBOLDT......Page 73
Jugendjahre und Garnisondienst......Page 95
Der französische Krieg von 1806 und Gneisenaus Verteidigung Kolbergs......Page 97
Die militärische Reorganisationskommission und Gneisenaus leitender Gesichtspunkt......Page 99
Einzelne Arbeiten......Page 100
Die Schwierigkeiten der Stellung von Gneisenauund Scharnhorst. — Gneisenaus Abschied......Page 102
Englischer Aufenthalt. 1809. 1810......Page 104
Plan eines Volksaufstandes. 1811......Page 106
Gneisenau als Feldherr......Page 108
Jugendjahre......Page 109
Leitung der Militärschule in Hannover. Schriftstellerische Arbeiten......Page 111
Anteil an dem Kriege von 1793—95......Page 113
Preußische Dienste. Die Militärschule in Berlin und die dortige militärische Gesellschaft......Page 115
Seine Stellung im preußischen Generalstab......Page 116
Beurteilung seines Anteilsam preußisch-französischen Krieg von 1806......Page 118
Die Aufgabe der Militärreform......Page 123
Der König und die Reorganisationskommission......Page 124
Scharnhorsts Gedankeder allgemeinen Wehrpflicht aller Preußen......Page 125
Zeiten des Organisierens und Abwartens......Page 127
Scharnhorsts Charakter......Page 129
I.......Page 132
II.......Page 136
EINLEITUNG. DER FRIDERIZIANISCHE STAAT UND DIE OBJEKTIVIERUNG SEINES GEISTESIM LANDRECHT......Page 140
ERSTES KAPITEL GESCHICHTE DER JUSTIZREFORM BIS ZUM LANDRECHT......Page 142
ZWEITES KAPITEL DAS PREUSSISCHE NATURRECHT......Page 161
1. DIE SITTLICHKEITALS DIE GRUNDLAGE VON RECHT UND STAAT......Page 164
2. DIE SOUVERÄNITÄT......Page 172
3. DAS ALLGEMEINE WOHLALS PRINZIP DES LANDRECHTES......Page 186
4. DER WOHLFAHRTSSTAAT UND SEINE ALLMACHT......Page 191
I. DIE MATERIELLE FÜRSORGE......Page 192
2. DAS KRIMINALRECHT......Page 194
3. DAS GEISTIGE WOHL.KIRCHE, SCHULE UND AUFKLÄRUNG......Page 200
VIERTES KAPITEL. DER RECHTSSTAAT......Page 208
ANMERKUNGEN......Page 214
VERZEICHNIS DER SCHRIFTEN WILHELM DILTHEYS......Page 217
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Gesammelte Schriften. Bd 12: Zur preussischen Geschichte
 3525303130, 9783525303139 [PDF]

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Zitiervorschau

WILHELM DILTHEY GESAMMELTE SCHRIFTEN

XII. BAND

B. G. TEUBNER VERLAGSGESELLSCHAFT · STUTTGART VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

ZUR PREUSSISCHEN GESCHICHTE SCHLEIERMACHERS POLITISCHE GESINNUNG UND WIRKSAMKEIT · DIE REORGANISATOREN DES PREUSSISCHEN STAATES DAS ALLGEMEINE LANDRECHT

5., unveränderte Auflage

B. G. TEUBNER VERLAGSGESELLSCHAFT · STUTTGART VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

CIP-Kurztiielaufnahme der Deutschen Bibliothek Dilthey, Wilhelm: Gesammelte Schriften / Wilhelm Dilthey. - Stuttgart : Teubner ; Göttingen : Vandenhoeck u. Ruprecht Ab Bd. 15 besorgt von Karlfried Gründer. — Teilw. nur im Verl. Vandenhoeck u. Ruprecht NE: Gründer, Karlfried [Hrsg.]; Dilthey, Wilhelm: [Sammlung] Bd. 12. Zur preussischen Geschichte. — 5., unveränd. Aufl. — 1985 Enth. u. a.: Schleiermachers politische Gesinnung u. Wirksamkeit. Die Reorganisatoren des preussischen Staates ISBN 3-525-30313-0

5. Auflage 1985 B.G.Teubner Verlagsgesellschaft m.b.H., Stuttgart 1960; 1964 - Printed in Germany - Ohne ausdrückliche Genehmigung der Verlage ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf foto- oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Druck- und Bindearbeit: Hubert & Co., Göttingen

VORBERICHT DES HERAUSGEBERS Die in dem vorliegenden Bande zusammengestellten Arbeiten Diltheys beziehen sich auf P r e u ß e n und seine Aufgabe in der deutschen Geschichte. Diese Zusammenstellung war nicht wie bei den anderen Sammelbänden der Ausgabe durch eine aus Diltheys Gesamtwerk bekannte Hauptrichtung seines Forschens und einen von ihm selbst erwogenen Titel gegeben. Sie ergab sich aus der im Vorbericht zu Bd. XI dargelegten Aufgabe einer Auswahl aus der unbekannten Schriftstellerei seiner Frühzeit, von deren Fülle die Bibliographie am Schluß des Bandes Kunde gibt. Dabei hob sich diese Gruppe historisch-politischer Aufsätze heraus, die in dem Gesamtwerk des Philosophen scheinbar an der Peripherie liegen, aber mit seiner Grundrichtung verbunden sind durch sein Verlangen nach ,,wirkungskräftigem" Wissen — „wer wahrhaft lebendig ist, will durch Wissenschaft wirken". So konnte auch in diesem Bande wieder an die Jugendaufsätze eine Schrift des reifen Alters — die Abhandlung über das Allgemeine preußische Landrecht — angefügt werden. Die Briefe des jungen Dilthey schlössen die bis dahin unbekannte politische Seite seiner Existenz auf; die Aufsätze über die deutschen Geschichtschreiber, die Erinnerungen anHaym, Treitschke und Scherer, die in Bd. XI abgedruckt sind, zeigen, wie leidenschaftlich auch der n a t i o n a l e I m p u l s seiner Jugend war. Dilthey gehörte wie Dahlmann, Treitschke, Scherer zu denen, die aus Neigung und Wahl Preußen wurden, stärker als viele geborene Preußen überzeugt von der deutschen Mission dieses Koloniallandes; er gehörte zu dem engsten Kreis derer, die, um die „Preußischen Jahrbücher" versammelt, noch einmal Professorenpolitik machten. Der Siebzigjährige denkt mit Stolz an jene Tage zurück: „Was für beste Männer waren das, die damals für Preußens Vorherrschaft stritten, und was für gute Kämpfe!" Er erinnert, daß diese Zeit „die einzige war, in der auch er politische Artikel schrieb" (Bd. XI, S. 225). Diese politischen Artikel waren nicht aufzufinden, die A n z e i g e d e r „ P r e u ß i s c h e n J a h r b ü c h e r " , mit der wir die Reihe schließen, gibt jedoch eine lebendige Vorstellung von der Art seines Einsatzes. Die Legende von dem nur ästhetisch empfindenden, alles verstehenden, vorsichtig zurückhaltenden Dilthey

VI

Vorbericht des Herausgebers

wird beseitigt durch das Bild, das uns hier entgegentritt: von dem Freunde und rückhaltlosen Bewunderer Treitschkes, der mit ihm selbst gegen Ranke steht, der die „stahlharte Natur" Schleiermachers hinter der weichen Außenseite entdeckt und liebt, dem „Männlichkeit die Tugend der Tugenden ist". So erhellt sich jetzt jener eigene Zug in seinen geistesgeschichtlichen Arbeiten, daß er mit Vorliebe der Wirkung männlicher Naturen, wie Lessing, Schiller, Schlosser, Schleiermacher, der „germanischen Kraft", dem „Heldenmütigen" in der W i s s e n s c h a f t nachgeht. Ein politischer Historiker ist Dilthey freilich nicht geworden; der „auf die Einheit unseres Volkes gerichtete politische Affekt", der auch ihn ergriffen hatte, führte ihn vielmehr dazu, die geistigen Kräfte zu erforschen, die hinter dem politischen Geschehen stehen. Er weist sie aber nicht nur nach verstehend auf, sondern er e n t s c h e i d e t sich zwischen ihnen, und das ist es eben, was ihn an die Seite Preußens führte. Die spannungsreiche Begegnung zwischen dem durch den Willen seiner Monarchen im Geiste der Aufklärung und der absoluten Staatsmacht gegen alle natürlichen Bedingungen im wörtlichen Sinne g e s c h a f f e n e n Preußen und der großen Selbstbesinnungsbewegung des deutschen Geistes, die die Wiederentdeckung seiner g e w a c h s e n e n Grundlagen in Volkstum, Sprache und Dichtung einschloß, ist ihm der Sinn der deutschen Geschichte, die aus der Begegnung entsprungene Gemeinsamkeit des Willens in der preußischen Reform und in den Freiheitskriegen ihr Gipfel. Von diesen Zeiten berichten die Aufsätze über die „ R e O r g a n i s a t o r e n d e s p r e u ß i s c h e n S t a a t e s " . Sie wollen keine eigene Forschung geben, sondern ; n der einfachen Erzählung deutlich machen, worauf es jetzt in dem neuen Deutschen Reich nach dem Gesetz, nach dem es geworden ist, ankommt. Damals, als diese Aufsätze geschrieben wurden, gab es noch keine der großen Darstellungen der Männer der Reformzeit, durch die heute unser Urteil bestimmt ist. Nur die ungefügen Materialsammlungen der Pertz und Klippel lagen vor. Ihnen folgt Dilthey, aber er zeigt überall den inneren Zusammenhang, den diese schuldig bleiben, oft mit überraschenden Vorgriffen auf moderne Auffassungen, so in der Beurteilung Steins: „Die staatbildende Kraft Preußens verknüpfte sich mit der Entwicklung des Unterrichts, der Wissenschaften und des freien schöpferischen Gedankens. Aus diesem Zusammenwirken heraus vollzog sich die Reorganisation Preußens seit 1807. Sie hat unter dem Gesichtspunkt der Ereignisse seit 1866 eine ganz neue Bedeutung erhalten." Ist hier die Einheit betont, so an einer anderen Stelle die Spannung: ,,Ιη der neueren Geschichte Preußens haben stets zwei Elemente nebeneinander gewirkt, aber stets

Vorbericht des Herausgebers

VII

als getrennte, manchmal als in Fehde liegende Kräfte. Das ältere Preußen erzog einen Staatssinn, den es aber zugleich einschränkte auf die Beamtenwelt, als die unmittelbare und zugleich ausschließende Staatsarbeiterschaft. Dieser altpreußischen Staatsgesinnung stellte sich seit der Katastrophe zur Seite der Inbegriff idealer deutscher Kräfte, welche unsere große geistige Revolution entbunden hatte. Man darf sagen, daß die Fehde zwischen diesen beiden Mächten, altpreußischer straffer prosaischer Staatsgesinnung und dem Enthusiasmus des im vorigen Jahrhundert neugeborenen geistigen Deutschland, auch heute noch nicht beschwichtigt ist. Nie durfte sie durch Aufgeben einer der beiden Richtungen beschwichtigt werden. Ihre Versöhnung ist eine der großen Aufgaben des neuen Deutschen Reiches" (Bd. XII, S. 65). Die eigene Forschungsarbeit Diltheys konzentrierte sich damals im Zusammenhang mit der Arbeit am Schleiermacher zunächst auf die eine Seite, die „Deutsche Bewegung". Der Aufsatz über „ S c h l e i e r m a c h e r s p o l i t i s c h e G e s i n n u n g u n d W i r k s a m k e i t " ist ein gewichtiges Zeugnis dieser Richtung seines Denkens, wie später der S ü v e r n (Bd. IV, S. 451—506). Auf der Höhe seines Lebens sah er dann seine p r a k t i s c h e n Aufgaben in der Richtung, die ein Brief an den Vater vorahnend geschildert hatte (1864, Der junge Dilthey, Nr. 83, S· 193) : „Mich täuscht gewiß nicht die sichere Ahnung, daß nicht bloß die theoretische Laufbahn raschen Erfolg haben wird; sondern auch, daß diese Zeit, welche alles in Gärung versetzt und in der zu leben eine Freude ist, sicher auch den Moment herbeiführen wird, in welchem der öffentliche Unterricht und die kirchlichen Verhältnisse umgestaltet werden müssen, und daß dann wirklich fruchtbare und wohlerwogene Grundgedanken über die intellektuelle und moralische Bildung des Menschen allein befähigen, auf diese Umgestaltung, die ich für ebenso wichtig halte als die politische, einen bestimmenden Einfluß zu üben." Ein unmittelbares, mehr als beratendes Wirken lag schwerlich je in seinem Sinne; auch sein Freund Yorck, den er finden berufenen Kultusminister hielt, hat das politische Kampffeld nicht betreten. Aber seine pädagogischen Vorlesungen und seine Studien zur Geschichte des preußischen Unterrichtswesens (jetzt in Bd. IX gesammelt) zeigen, wie seine Arbeit diesen Absichten diente. Auch in ihnen machte es seine Eigenart aus, daß er realistische Überzeugungen von der Macht des Staates als Bedingung für das Dasein der Nation verbindet mit tiefen Einsichten in die „scheinlose Macht des Geistes", der im Verborgenen wirkt. Im Alter wendet sich Dilthey noch einmal zur preußischen Geschichte zurück, nun aber beschäftigt ihn — im Zusammenhang der Studien zur Geschichte des deutschen Geistes — die andere Seite des Spannungs-

VIII

Vorbericht des Herausgebers

gefüges, das Phänomen des friderizianischen Staates. Die vollendeten Teile seiner Studien über die geistigen Grundlagen dieses Staates sind bereits in Bd. III herausgegeben; jedoch der Abdruck der großen Abhandlung über „Das a l l g e m e i n e L a n d r e c h t " , die nach der Aussage des Herausgebers „die Darstellung des friderizianischen Staates krönen sollte", unterblieb dort aus schwerwiegenden Gründen. In dem jetzt vorliegenden Zusammenhang ergab sich eine Möglichkeit, sie ohne Umarbeitung, freilich auch unter Fortlassung des umfassenden wissenschaftlichen Apparates, der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Denn aus dieser Abhandlung, mit der der fast Achtzigjährige so etwas wie „sein Testament" geben wollte, wird ersichtlich, wie seine „Geschichte des Deutschen Geistes" im tiefsten Sinne praktisch gemeint war, und dieser Zusammenhang schließt sich von den hier vorangestellten Jugendaufsätzen her jetzt auf. Wie der Achtundzwanzigjährige sich äußerte, als er die „Einbildungen" eines spezifischen Preußenrums auf den „Staat der Intelligenz" abwehrte: „Aber wenn der Idealismus, welcher in der Intelligenz überall den ersten bestimmenden Faktor alles Geschehens sucht, echt deutsch ist, dann muß wohl ganz Deutschland auf die Geschichte eines Staates stolz sein, der durch rein geistige Energie zweimal in entscheidenden Kämpfen um seine Existenz neubegründet worden ist, dessen Stellung nach seiner Lage und Ausdehnung auf seiner geistigen Spannkraft beruht, nicht auf Naturverhältnissen. Diese Energie des G e i s t e s , d e r s e i n e r H e r r s c h a f t g e w i ß i s t , ist zugleich der Ursprung der Größe Preußens und der Charakter der deutschen Nation." Erich Weniger.

INHALT Durch einen · sind die bisher unveröffentlichten Abhandlungen und Fragmente bezeichnet. Seite

Vorbericht

V

Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit

1

DIE REORGANISATOREN DES PREUSSISCHEN STAATES (1807—1813) I. Der Freiherr vom Stein II. Karl August von Hardenberg III. Wilhelm von Humboldt

37 53 64

IV. N e i t h a r d t von Gneisenau 86 Jugendjahre und Garnisondienst 86 Der französische Krieg von 1806 und Gneisenaus Verteidigung Kolbergs 88 Die militärische Reorganisationskommission und Gneisenaus leitender Gesichtspunkt . . . .' 90 Einzelne Arbeiten 91 Die Schwierigkeiten der Stellung von Gneisenau und Scharnhorst. — Gneisenaus Abschied 93 Englischer Aufenthalt. 1809. 1810 95 Plan eines Volksaufstandes. 1811 97 Gneisenau als Feldherr 99 V. Scharnhorst 100 Jugendjahre 100 Leitung der Militärschule in Hannover. Schriftstellerische Arbeiten . . . 1 0 2 Anteil an dem Kriege von 1793—95 104 Preußische Dienste. Die Militärschule in Berlin und die dortige militärische Gesellschaft 106 Seine Stellung im preußischen Generalstab 107 Beurteilung seines Anteils am preußisch-französischen Krieg von 1806 . 109 Die Aufgabe der Militärreform 114 Der König und die Reorganisationskommission 115 Scharnhorsts Gedanke der allgemeinen Wehrpflicht aller Preußen . . - 116 Zeiten des Organisierens und Abwartens 118 Sieg und Ende 119 Scharnhorsts Charakter 120 Die Preußischen Jahrbücher 123

Χ

Inhalt • DAS ALLGEMEINE LANDRECHT Seite

Einleitung. Der friderizianische S t a a t und die Objektivierung seines Geistes im Landrecht E r s t e s Kapitel. Geschichte der Justizreform bis zum Landrecht

131 . 133

Zweites Kapitel. Das Preußische N a t u r r e c h t 152 1. Die Sittlichkeit als die Grundlage von Recht und Staat 155 2. Die Souveränität 163 3. Das allgemeine Wohl als Prinzip des Landrechtes 177 4. Der Wohlfahrtsstaat und seine Allmacht 182 D r i t t e s Kapitel. Der soziale Beruf der Monarchie und die Aufklärung 183 1. Die materielle Fürsorge 183 2. Das Kriminalrecht 185 3. Das geistige Wohl. Kirche, Schule und Aufklärung 191 Viertes Kapitel. Der R e c h t s s t a a t

199

Anmerkungen

205

V e r z e i c h n i s der S c h r i f t e n W i l h e l m D i l t h e y s von den Anfängen b i s zur „ E i n l e i t u n g in die G e i s t e s w i s s e n s c h a f t e n " . . . . 208

SCHLEIERMACHERS POLITISCHE GESINNUNG UND WIRKSAMKEIT Wenn man für die ersten Dezennien unseres Jahrhunderts von einer politischen Wirksamkeit d e r Männer spricht, welche außerhalb des Beamtenstandes standen, so kann man eine solche nur innerhalb sehr bestimmter und sehr enger Grenzen meinen. Organisatorische Pläne und Gedanken entspringen zu allen Zeiten nur aus Erfahrung im Staatsleben, damals also aus dem abgeschlossenen politischen Stande des Beamtentums, welcher das ausschließliche Vorrecht solcher Erfahrung besaß. Und auch die Not der außerordentlichen Zeiten, welche 1806 begannen, vermochte nicht an diesem Gesetz der Sache zu rütteln. Aber diese Not — und zwar sie weit mehr, als alle Einflüsse französischer und englischer Theorien und Zustände — rief neben dem Mechanismus des Staates neue Kräfte wach, welche mitarbeiteten an der Rettung des Staates, und, einmal aus ihrer Passivität aufgerüttelt, einen Anteil an der Leitung desselben erstrebten und errangen. Es ist für die Geschichtschreibung außerordentlich schwierig, diese unwägbaren Kräfte g r o ß e r p a t r i o t i s c h e r G e s i n n u n g u n d s e l b s t t ä t i g e n A n t e i l s der P r i v a t m e n s c h e n am S t a a t , wie sie damals durch die starren Formen desselben hindurchbrachen, in ihrer Wirksamkeit zu fassen und in ihren Erfolgen zu würdigen. Bei jedem Ruck, welchen Preußen von da ab tat, ist dieser Hebel neben dem bürokratischer und militärischer Einsicht bemerkbar. In den mannigfaltigsten, meist unbehilflichen, zuweilen auch gefährlichen Formen; denn jede bürgerliche Selbsttätigkeit bleibt eine Gefahr für den Staat, solange sie nicht zur geregelten Mitwirkung an demselben gelangt. Bis dann endlich dies flüchtige Element in dem Repräsentativsystem seine Form und seinen verfassungsmäßigen Anteil am Staatsleben erhielt. Dies ist der Gesichtspunkt, unter den wir die folgenden Erörterungen und Mitteilungen über Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit stellen möchten. Auch er gehört zu den großen Männern, welche zuerst aus ihren Privatverhältnissen heraus einen Weg fanden, für den Staat zu leben, ohne Beamtenstellung, ohne den Ehrgeiz politischer Abenteuer, im sicheren Selbstgefühl des Bürgers. Ohne dies

Schleiermachers politische Gesinnung und

Wirksamkeit

Selbstgefühl dünkt uns das Leben nicht mehr lebenswert. Und doch ist es nicht viel mehr als ein halbes Jahrhundert, daß diese Männer es uns errangen. Und was Schleiermacher selbst betrifft, so helfen vielleicht diese Mitteilungen ein unglaublich lächerliches Vorurteil der Unwissenden zu zerstören, welche fortfahren, aus einiger Lektüre der Reden über Religion und gewisser Partien der Briefe diese stahlharte Natur für eine empfindsame Seele zu halten, welche zeitlebens am liebsten im zarten Gespräch mit edlen Frauen die großen Fragen des menschlichen Gemüts diskutiert habe. Da man diesen Guten, welche in Schleiermacher eine weibliche Natur erkannt haben, schwerlich zumuten kann, die Kritik der Sittenlehre oder die Ethik zu lesen: so erregen ihnen doch vielleicht einige der hier folgenden Äußerungen und Tatsachen wenigstens einigen Zweifel an ihrer leicht errungenen Erkenntnis. Nichts deutet in dem früheren Leben Schleiermachers auf irgendein besonderes Interesse ^m Staat. Auch er hatte, wie alle jungen Philosophen der ersten neunziger Jahre, dem Schulproblem der Zeit, der Vertragstheorie, seinen Tribut dargebracht. Noch sind Aufzeichnungen für eine umfassende Behandlung dieser Frage unter seinen Papieren. Aber diese betraf ja weder Preußen noch irgendein anderes wirkliches Land unter dem Monde. Auch er diskutierte, wie alle Welt, gelegentlich über die Französische Revolution, aber mit der Erhabenheit des in Eberhards und Garves Schule von aller Leidenschaft und allem realen Wollen gereinigten Weisen, welche den jungen Gesichtern jener Zeit so seltsam steht. Er liebt die Revolution, aber klüglich scheidet er aus, „was menschliche Leidenschaften und überspannte Begriffe dabei getan haben". Er verabscheut die Hinrichtung eines schuldlosen Königs, aber er erschreckt den alten Grafen Dohna, der sehr viel auf Etikette hielt, mit dem philosophischen Paradoxon, daß, „wenn die Todesstrafe überhaupt etwas Rechtmäßiges sei, und Ludwig etwas verbrochen hätte, was den Gesetzen gemäß sie verdiente, das Gesalbtsein seiner Verdammung weiter nicht hinderlich sei". Soviel und begeistert er sich mit der englischen Literatur in jenen Jahren beschäftigt: das politische Selbstgefühl derselben lag so weit ab von den Stimmungen und Zuständen jener Tage in Deutschland, wie etwa das des Demosthenes und Cicero, das wie die Regeln ihrer Grammatik und Rhetorik eben mit zum Schulbetrieb gehörte. Und als er nun in Berlin das farblose und spitzfindige Wesen der Philosophie und Theologie jener Jahre, dem alles zum moralischen Problem wurde, von sich abschüttelte und aus der Wielandschen und

Unpolitische Jugendzeit

Spaldingschen Empfindelei, welche aus Gefühlen die Glückseligkeit herausrechnete, dazu fortschritt, in neuer Jugend und Freiheit der Empfindung dem großen Zuge seiner Natur, der ihn von Kind auf bewegt hatte, der seit drei Generationen in seiner Familie wirksam gewesen war, mit freiem Herzen zu folgen: da traf dieser Zug, die Genialität einer echten religiösen Natur, in der i n n e r e n B i l d u n g j e n e r Z e i t einen wahlverwandten, seit Jahrhunderten aufgehäuften und durchgebildeten Stoff; lange Zeit fand sie in der großen Aufgabe volles Genüge, welche sich hier vor ihr auf tat; die geschichtlichen und politischen Ideen traten ihr ferner als je. Aber es liegt in den Gesetzen der Dinge, daß tiefgedachte Wahrheiten oft ihr Licht plötzlich auf einen scheinbar ganz von ihnen abliegenden Punkt werfen. Und sittliche Wahrheiten sind zugleich Kräfte; sie gestalten Lebensgebiete um, auf welche sie sich bei ihrer ersten Aufstellung durchaus nicht bezogen. So geschah es, daß der sittliche Grundgedanke, den Schleiermacher in dieser Periode an der Anschauung des Privatlebens durchbildete, zugleich für den Staat und unser politisches Leben gedacht ward. Wenn wir an den Wendepunkt unseres Jahrhunderts denken, so stehen die großen Dichter und Philosophen vor unserer Seele und verdecken alle ärmlicheren Gestalten. Der breite Strom der Bücher aus jener Zeit hat sich verlaufen, und nur, wer sie in ihrer Verlassenheit auf einer der großen Bibliotheken, besonders in der damals von Biester geleiteten Berliner, wo mit Vorliebe die Opposition gegen die Aristokratie des Geistes gepflegt ward, einmal aufsucht, bekommt einen Begriff davon, in welchem Grade der Idealismus auch damals in der Minorität war. Einmütig bemerken dies alle einsichtigeren Beobachter mit Schrecken — von so strengen Urteilern wie Stein und Fichte ganz zu schweigen. Die vom Staat abgedrängte, von der Religion emanziepierte Masse verfiel in ein ängstlich eifriges, überkluges Suchen nach Glückseligkeit. Eudämonismus war der gesamte Charakter unserer Literatur; überall Theorie der Empfindung, der Glückseligkeit. Gab es auch noch nicht das lösende Wort von der alleinseligmachenden Zivilisation: den Nicolai und Biester lag die Empfindung davon bereits in den Gliedern. Und auch seine Poesie hatte schon dieser Vorläufer des Materialismus — die Poesie von Wieland und Heinse, Iffland und Kotzebue. Es gab damals keinen tieferen Kopf in Deutschland, der nicht vor dem haltlosen Treiben dieser Staat- und fast religionslosen, einem weichlichen und bornierten Egoismus verfallenen Menge tiefen Ekel empfunden hätte. Wenn man der völligen Verderbnis der leitenden Politiker jener Jahre nicht Unrecht tun will, muß man sie im Zusammenhang mit diesen Stimmungen und Anschauungsweisen nehmen.

Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit Kein männliches Wort, kein ganzer Charakter schien in diesen Kreisen mehr zu finden. Und diese Verderbnis hatte nach dem allgemeinen Urteil aller Tüchtigen in Berlin ihren Hauptsitz. Ein merkwürdiges historisches Zeugnis hiervon ist die Wirkung der Übersiedelung der Regierung nach Königsberg. Erst auf dem Boden von Ostpreußen, in jenem Kreise, welchen Kant mit seiner nüchternen, auf den starken Willen gestellten Philosophie und Kants Freund, der hochbejahrte Nationalökonom Kraus, mit den auf freie Bewegung gerichteten Lehren Adam Smiths erfüllt hatte: inmitten der Schön, Schrötter, Auerswald, fand Stein die Gesinnung, das selbständige Studium der Kräfte des Staates, deren er für seine großen Pläne bedurfte. Damals erlebte die Philosophie Kants, die den Menschen auf den Willen und das Handeln stellte, und die bisher, seinen Einen großen Nachfolger ausgenommen, nur in dünnen theoretischen Streitfragen an die Öffentlichkeit getreten war, eine zweite Wirksamkeit, welche dem Geiste des großen Denkers, der sich mit dem Staat und der Geschichte so tief beschäftigt hatte, wohl besser behagt hätte, als das Kathederheldentum der Krug und ihresgleichen. Bei dieser Lage der Dinge mußte gerade in Berlin der Gedanke reifen, welcher den Männern von Königsberg, Weimar und Jena notwendig fremd blieb: d e r Summe d e r inneren Bildung, welche das abgelaufene J a h r h u n d e r t a u f g e h ä u f t h a t t e , eine F o r m zu v e r l e i h e n , in w e l c h e r Ged a n k e u n d P o e s i e s i t t l i c h e M a c h t w ü r d e n . In Kant und Fichte hatte die Philosophie sich in ihr eigenes Wesen vertieft, sie hatte die Welt aus dem Bewußtsein zu erklären unternommen. Eine unausfüllbare Kluft schien aufgetan zwischen dem philosophischen Bewußtsein in seiner absoluten Selbstgewißheit und der gemeinen Ansicht der Dinge. Die Dichter hatten in freiem Spiel der Phantasie eine fernabliegende Welt ästhetischer Vollendung ersonnen; zwischen der freien Ruhe, mit welcher sie an diesen Gebilden schufen, und dem verworrenen, hastigen Leben der Menschen fehlte das verknüpfende Band. Einen Augenblick mochte der Idealismus in der Philosophie die gemeine Wirklichkeit verneinen, in der Dichtung sie vergessen. Seine größte Aufgabe war doch, sie u m z u b i l d e n . Wo Dichter und Philosophen endeten, begann, wenn man den Ausdruck recht verstehen will, der Ethiker, der religiöse Redner. Ihm, seiner innersten Natur nach, waren die höchsten Resultate der idealistischen Bildung weder ein asketisches Postulat, noch ein Vorrecht hoher Menschen, sondern eine unwiderstehliche sittliche Macht. So stellte er, was ihn bewegte, in den Reden, den Monologen, den Predigten hin, damit die Anschauenden davon ergriffen würden. Und nach ihm Fichte in demselben Geiste. Es kann hier nicht einmal angedeutet werden, welche Gestalt die innere

Der deutsche Idealismus

Bildung jener Zeit in der Seele des Ethikers, des religiösen Redners gewann, wie die Fülle eines großen Herzens, ein Tiefblick für das sittliche Leben und seine Gestaltung, wie er auch in Deutschland ohnegleichen war, sich über das ganze Gebiet unseres Privatlebens verbreitete. Es galt, das innere Leben der einzelnen, die Liebe und Ehe, die Geselligkeit und das religiöse Leben aus jener ganzen Fülle einer nach innen gekehrten, dem Privatleben zugewandten Bildung, welche die vergangene Entwicklung hervorgebracht hatte, zu reformieren. Diese Reform gab dem allen eine neue Gestalt: der Hauch eines gewaltigen religiös-sittlichen Pathos durchdringt hier auch die weltlichsten Gedanken unserer Dichter. Alles einzelne läßt sich, wie in einem Brennpunkte, in dem Gedanken von der s i t t l i c h e n A u t o n o m i e d e r f r e i e n I n d i v i d u a l i t ä t sammeln. In diesem Gedanken versöhnte sich die ästhetische Harmonie Goethes und Schillers mit dem Sittengesetz Kants und Fichtes. Der kategorische Imperativ hatte den einzelnen zu einer eintönigen und gleichgültigen Wiederholung des allgemeinen Sittengesetzes gemacht. Die ästhetische Erziehung war in Gefahr, im Spiel der schönen Individualitäten die positiven und allgemeinen Zwecke des Lebens aufzulösen. Über beide erhob sich die sittliche Anschauung Schleiermachers. Das Individuum erfaßt in sich das Allgemeine und Ewige; es erfaßt es durch einen energischen Akt des freien Willens; aber wie es dasselbe als sein inneres Gesetz findet, ist es nicht farblos allgemeines Sittengesetz, sondern bestimmte, individuelle Form desselben. Nunmehr ist eigenartige Persönlichkeit und alle Leidenschaft persönlichen WoUens nicht mehr eine Abweichung von der in der Aufgabe der Vernunft liegenden kühlen Allgemeinheit, eine Unvollkommenheit : erst in ihr vielmehr wird die menschliche Bestimmung erreicht. Sie ist auch nicht der exklusive Besitz ästhetischer Naturen, zum flüchtigen Genuß für die übrigen in dichterischen Gestalten hingestellt: sie ist vielmehr eine a l l g e m e i n e s i t t l i c h e Aufg a b e . Der Denker wird zum Redner, um durch sein begeistertes Wort dies Selbst, das in alle gelegt ist, in allen zu erwecken; wie er dies überall empfand, aufregte, erhob, darin treffen alle einzelnen Bestrebungen und Leistungen dieses vielseitigsten Menschen zusammen. Das Resultat einer großen Bildungsgeschichte war mit diesem Gedanken ausgesprochen. Langsam, aber mit unwiderstehlicher Gewalt war mit der Reformation das Selbstgefühl der auf sich selber ruhenden Individualität bei uns als unser höchstes Gut herangewachsen; alles, unsere politischen und unsere religiösen Zustände, zwang den, der sich nicht selbst verlieren wollte, auf diesen Weg; alles Edle und Tapfere, was uns erhalten blieb, beruhte auf dieser Stimmung. Und von hier aus war uns auch bestimmt, zu politischem Selbstgefühl und poli-

Schleiermachers politische Gesinnung und Wirksamkeit

tischer Tüchtigkeit fortzuschreiten. Ganz entgegengesetzt der Entwicklung, welche England durchmachte und durchmacht : denn noch heute ist dort die freie individuelle Bewegung in religiösem und wissenschaftlichem Denken wie in gesellschaftlichen Formen verpönt, die bei uns allem politischen Selbstgefühl vorausging. Dieser Fortschritt hat sich bei uns in mehreren deutlich unterschiedenen Ansätzen vollzogen. Es war das erste Bedürfnis dieses moralischen Individualismus, auf dem Gebiet selber, auf welchem er erwachsen war, dem religiös-wissenschaftlichen, dem alles regierenden bürokratischen Mechanismus Grenzen zu setzen. In diesem Streben treffen Schleiermacher, Wilhelm von Humboldt und Fichte in ihren Jugendschriften zusammen. Emanzipation der Wissenschaft, der Kirche und der Presse vom Staatszwang: das war das erste Gut politischer Freiheit, um welches in Deutschland gestritten wurde, weil es hier das erste Bedürfnis war. Die einzige originale und wirksame Theorie aber, welche aus dieser Bewegung, die den Staat b e g r e n z e n wollte, hervorging, war die Schleiermachers von der totalen Sonderung von Kirche und Staat. Wie man auch über ihre Richtigkeit denken mag: in den Kämpfen um die Gestaltung der protestantischen Kirche, welche seit 1817 sich erhoben haben, war sie unbedingt die durchgreifendste geistige Macht. Durch das Vorbild der Brüdergemeinde und die genauere Kenntnis der Landeskirche erhielt jene allgemeine Tendenz der persönlichen Selbständigkeit geg e n ü b e r und a u ß e r h a l b des Staates hier eine bestimmte Gestalt. Schon von Schlobitten aus schrieb der junge Hofmeister dem Oheim, „in der ganzen Verbindung der Kirche als einer Sozietät mit dem Staate liege immer noch der Keim der Intoleranz und des Gewissenszwanges, und das einzige radikale Gegenmittel sei, daß der Staat sich gar nicht um die Religion der Untertanen kümmere." Als ihm dann aufging, daß Religion nicht eine Tradition von Vorstellungen, sondern eine Produktion in der Tiefe des Gemüts sei, erschien ihm der Staat — in den Reden — wie ein Feind, der den großen freien Verkehr religiöser Hingabe und Anschauung zerstört, indem er überall Schranken aufrichtet; mit dem Stolz einer großen religiösen Natur sprach er den Wunsch aus: „daß nie der Saum eines priesterlichen Gewandes den Fußboden eines königlichen Zimmers berührt haben, daß nie der Purpur den Staub am Altar geküßt haben möchte." Aus d e r B e z i e h u n g und a n a l o g e n E n t w i c k l u n g m i t dem S t a a t v e r s e t z t er d i e R e l i g i o n in d i e mit d e r G e s e l l i g k e i t , dem Element, in welchem jenen Lehren und jenem Kreis das sittliche Leben kulminierte. „Wenn die Geselligkeit" — mit deren Studium er sich zu gleicher Zeit mit der Abfassung der Reden auf das unablässigste beschäftigte, wie noch vorhandene Bruchstücke zeigen — „vom höchsten Standpunkt

Die Wendung zum Staat aus in ihrem innersten Wesen erkannt wird", dann steigert sie sich zu der religiösen als zu „ihrem vollendetsten Resultat". Es ist das Charakteristische dieser Ansicht, daß sie den religiösen Gesichtspunkt für die Kirche wiederherstellt, aber das Recht des sittlich-staatlichen vollkommen verkennt. Wie eine Andeutung dieses Fehlers steht in den Reden der Gedanke da: habe der Staat ein solches sittlich-politisches Institut nötig, so sei ja neben der „religiösen Geselligkeit" für ein solches Raum da. Natürlich also, daß mit dem wachsenden Verständnis des Staates diese Theorie sich milderte; aber es blieb ihr auch in ihrer späteren schönen und echt religiösen Entwicklung mit tiefen Spuren eingeprägt, daß sie zu einer Zeit entstanden war, in der man die freie und selbständige Bewegung der Persönlichkeit nur retten zu können glaubte, indem man ihr außerhalb des Staates Spielraum gewähre. Aber auch damals bereits — scheinbar auf dem Höhepunkt des privaten Interesses — wird das negative Verhältnis der persönlichen Freiheit zum Staat schmerzlich empfunden. Sehnsüchtig regt der selbständig gewordene Geist die Flügel, endlich in der Luft eines wahren Staates sich in freiem, hohem Flug zu regen. Es gibt nur einen Spielraum für die große und männliche Bewegung der freien Individualität: den Staat. So wendet sich denn das Buch, in dem Schleiermacher das Leben im Geist der neuen persönlichen Freiheit schildern wollte, die Monologe, gegen die Entfremdung der Zeit vom Staat und seinen Interessen. „Wo sind vom Staat die alten Märchen der Weisen? Wo ist die K r a f t , d i e d i e s e r h ö c h s t e G r a d des D a s e i n s d e m M e n s c h e n g e b e n , das Bewußtsein, das jeder haben soll, ein Teil zu sein von seiner Vernunft und Phantasie und Stärke? Wo ist die Liebe zu diesem neuen, s e l b s t g e s c h a f f e n e n Dasein?" Aber diese Entfremdung ist nicht nur die Schuld der Bürger, sondern mehr noch des Staates selber. Denn der selbständig gewordene Mensch kann nichts verstehen, nichts achten, nichts lieben, das nicht Charakter und Individualität hat. „Wo ist der eigene Charakter jedes Staates? Und wo die Werke, durch die er sich verkündet?" Denn wenn dieser Charakter fehlt, dann kommt es zu der Torheit, „daß alle glauben, der sei der beste Staat, den man am wenigsten empfindet, und der auch das Bedürfnis, daß er da sein müsse, am wenigsten empfinden lasse". „Wer so das schönste Kunstwerk des Menschen, wodurch er auf die höchste Stufe sein Wesen stellen soll, nur als ein notwendiges Übel betrachtet, als ein unentbehrliches Maschinenwerk, um seine Gebrechen zu verbergen, der muß ja das n u r als B e s c h r ä n k u n g f ü h l e n , was ihm den h ö c h s t e n G r a d des L e b e n s zu g e w ä h r e n b e s t i m m t ist." — Und wie nun Schleiermacher sich in den festen Berufsverhältnissen von Halle und einer großen, schönen öffentlichen D il t h e y , Gesammelte Schriften XII

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Wirksamkeit einlebt, wie seine Ethik ihn nötigt, aller persönlichen Vorliebe vergessend, einen Überblick über das gesamte Leben der sittlichen Welt zu gewinnen, wie dazu ein tragisches Geschick kurz vor dem Unglück des Staates das vieljährige Gewebe persönlicher Empfindungen und Wünsche zerreißt, als wollte es ihn ganz und frei auf die Welt der Handlung, des Staates, der patriotischen Aufopferung hinweisen: da war aus dem Gedanken der freien Individualität die schönste Frucht herangereift, das energische Gefühl, daß es kein Leben gebe für männliches Selbstgefühl ohne den tätigen Anteil am Staat und daß es besser sei hierfür zu sterben, als unter willkürlicher Herrschaft staatlos und heimatlos zu leben. Wenn in dem schlichten Familiensaal des römischen Mannes die Wachsmasken aller Ahnen, die vor ihm dem Staat gedient und Staatsehren erlangt, ihn umgaben, wenn er gedachte, wie sie eines Tages alle, mit purpurgesäumten, goldgestickten Mänteln angetan, je nach den Ämtern, die sie zu Lebzeiten erlangt, seiner Bahre das Geleit geben würden und auf dem Markt um ihn herumsitzen, während ihre Ehren und Taten aufgezählt würden, und dann ihnen folgend auch die seinigen: gab es für einen solchen Mann eine andere Wahl, als für den Staat zu leben und zu sterben? Nirgend im Privatleben gab es Ehre, Genuß, Macht, Lebensfreude, die ihm nur einen Tag den Staat entbehrlich gemacht hätten. Unsere individuelle Bildung hat das Leben mit Werten der verschiedensten Art erfüllt und geschmückt. Es entspricht unserem modernen Leben, wie die Schleiermachersche Ethik es schon in ihrer Gliederung scharf ausdrückt, daß das höchste Gut uns nicht im Staate aufgeht, sondern dieser ein Gut unter Gütern, eine sittliche Form unter anderen sittlichen Formen ist. Hier, in der Überfülle sittlicher Werte, inmitten einer ganz neuen und tiefen Schätzung der Ehe und Geselligkeit, der Religion und Kunst, muß die politische Gesinnung wie von neuem erobert werden. Dies Leben hinzugeben für das Vaterland — das ist mehr als ein Grieche oder Römer tat. Und so bedurfte es einer großen idealistischen Gesinnung, um in dieser reichen, scheinbar dem Schicksal des späteren Griechenland zueilenden deutschen Kulturwelt Taten und Opfer für den Staat hervorzurufen, die lange wie Sagen des Altertums erschienen waren. Es wird unvergessen bleiben, was die Philosophie der Kant, Fichte, Schleiermacher, die Philosophie des Willens, des auf das eigene Ethos gestellten Subjekts, damals gewirkt hat.* * Über den Einfluß dieser Richtung auf die späteren politischen Fortschritte in Deutschland, im Gegensatz zu der Hegeischen, darf ich auf den von mir versuchten Nachweis in betreff Schlossers, bei dem man es am wenigsten erwarten sollte, verweisen; Preuß. Jahrb. 1862, S. 373ff. [Bd. XI S. 131 ff.]

Politische Überzeugungen vor der Katastrophe

Dies etwa war der innere Zusammenhang der bewegenden Gedanken, welche Schleiermacher der Katastrophe des preußischen Staates entgegenbrachte. Jedes eingehendere Studium der Zeit zeigt, wie falsch die herrschende Ansicht sei, als habe erst diese Katastrophe selbst in den Männern des Idealismus den Sinn für den Staat geweckt. Lange Zeit vor dem Ausbruch des Krieges verfolgten diese mit tiefer Mißbilligung die falschen Schritte der preußischen Politik: weit entfernt, nur Muße für ihre wissenschaftlichen oder Kunstinteressen zu begehren, wünschten sie den Krieg mit Frankreich. Schleiermacher vor allen sah in diesem Krieg nach seiner großartigen Ansicht von Wissenschaft und Protestantismus nur den Kampf für dieselbe Gesinnung, für welche sie bisher friedlich hatten arbeiten dürfen. Als er im Frühjahr 1806 mit Steffens und Herrn v. Voß in Berlin war, hielt ihn bereits die Aufregung der Lage von dem alten, engen literarischen Kreise ferner. Preußen hatte sich mit seiner Politik unselig verwickelt. Hannover von den Preußen besetzt und diese dort verhaßter als die Franzosen selbst; Rußland erzürnt, Österreich heftig erbittert; nach allem Preußen an Frankreich unrettbar gebunden. In dieser Lage sah man der Kriegserklärung von England täglich entgegen. Die politische Ansicht der Tüchtigsten war ganz entschieden. „Alles was edel und vornehm in Preußen war — so erzählt Steffens, den, wie er bekennt, Schleiermachers Gespräche damals erst zu entschieden preußischer Gesinnung bekehrt hatten —, erschien zur selben Zeit auf das Innigste mrt England verbunden, als dieses Land im Begriff war, uns den Krieg zu erklären." Die politische Aufregung dieser Lage hatte das alte literarische Berlin ganz verwandelt; wenn man sich zur Mittagsstunde bei dem schönen Frühlingswetter unter den Linden traf, verdrängte das politische Gespräch jedes andere. Schleiermacher hoffte „auf einen nordischen Bund, zu dessen Grundlagen, als Band des allgemeinen Vertrauens, Handelsfreiheit notwendig gehörte, und auf ein vereinigtes Militärsystem, das die Deutschen wieder zu Brüdern gemacht hätte". Er teilte nicht die Täuschung, als ob Preußen, wie es sei, und kurzweg in diesem Kampfe siegen könne, sondern wie mit prophetischem Auge sah er schon damals den Gang der Dinge — nur von seiner idealistischen Gesinnung gefärbt — voraus. Dies zeigt ein merkwürdiger Brief vom 20. Juni aus Halle. „Bedenken Sie — schreibt er einer entfernten Freundin —, daß kein einzelner bestehen, daß kein einzelner sich retten kann, daß doch unser aller Leben eingewurzelt ist in deutscher Freiheit und deutscher Gesinnung, und diese gilt es. Glauben Sie mir, es steht bevor, früher oder später, ein allgemeiner Kampf, dessen Gegenstand u n s e r e Ges i n n u n g , u n s e r e R e l i g i o n , u n s e r e G e i s t e s b i l d u n g nicht

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weniger sein werden, als unsere äußere Freiheit und äußeren Güter, ein Kampf, der gekämpft werden muß, den die Könige mit ihren gedungenen Heeren nicht kämpfen können, sondern die Völker mit ihren Königen gemeinsam kämpfen werden — an den sich jeder, jeder, wie es die gemeinsame Sache erfordert, anschließen muß." — „Ich atme — so schließt er — in Gewitterluft und wünsche, daß ein Sturm die Explosion schneller herbeiführe; denn an Vorüberziehen ist, glaube ich, nicht mehr zu denken." Es war in denselben Wochen, daß er jenen merkwürdigen Schluß zur zweiten Auflage der Reden schrieb, der so recht das Hervorwachsen seines Patriotismus aus der geschilderten Gesinnung veranschaulicht. Keine Lockung und kein Schrecken werde die Protestanten bewegen, einen von Napoleon reformierten Katholizismus anzunehmen. „Ja ich möchte herausfordern den Mächtigsten der Erde, ob er dieses nicht auch etwa durchsetzen wolle, wie ihm alles ein Spiel ist, und ich möchte ihm dazu einräumen alle Kraft und alle List; aber ich weissage ihm, es wird ihm mißlingen, und er wird mit Schanden bestehn. Denn Deutschland ist immer noch da, und seine unsichtbare Kraft ist ungeschwächt, und zu seinem Beruf wird es sich wieder einstellen mit nicht geahndeter Gewalt, würdig seiner alten Heroen und seiner vielgepriesenen Stammeskraft; denn es war vorzüglich bestimmt, diese Erscheinung zu entwickeln, und es wird mit Riesenkraft wieder aufstehn, um sie zu behaupten." Der Sommer verging in wachsender Spannung. Endlich war der Krieg entschieden. Ein preußisches Armeekorps stand in der Gegend und in Halle selbst. „Ich freue mich auf den nun doch wohl unvermeidlichen Krieg gegen den Tyrannen und habe große Lust an der allgemeinen mutigen Stimmung der Truppen und des Volkes bei uns. Mir ist schon oft so zumute gewesen ein p o l i t i s c h e s W o r t l a u t zu r e d e n , wenn ich nur die Zeit dazu hätte gewinnen können." Die allgemeine Kriegsbegeisterung riß ihn hin. Dann kam die Entscheidungsschlacht am 14. Oktober, und zwei Tage darauf erschienen die Franzosen, die Preußen verfolgend, in der Stadt. Die Freunde erfuhren zum ersten Male die Not des Kriegs. Sie hatten sich — Steffens mit den Seinigen, Gaß, Schleiermacher — mit Lebensgefahr in die Wohnung des letzteren in einem großen Hause der Merkerstraße geflüchtet und wurden da ausgeplündert — indes scheinen die beiden jungen Professoren nach ihrem Bericht dabei keinen erheblichen Verlust erlitten zu haben. Dort in der engen Wohnung, die noch durch einen einquartierten Beamten des kaiserlichen Kriegsbüros beschränkt war, brachten sie nun die nächste Zeit, während der Besetzung von Halle, gemeinsam in mannigfacher Aufregung und Verlegenheit zu. „Der Einquartierte — erzählt Steffens — versuchte es

Franzosen in Halle

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oft, ein Gespräch mit uns anzuknüpfen, und zwar ein in mancher Rücksicht bedenkliches; ja, da wir uns immer vorsichtig und zurückhaltend äußerten, wagte er es, Schleiermacher aufzufordern, einen Brief aufzusetzen, dessen Inhalt ein Angriff auf den preußischen Hof und die Regierung, und die Hoffnung, welche die Einwohner auf die heilbringende Herrschaft des Kaisers gründeten, sein sollte. Daß ein Mann von Schleiermachers allgemein bekannter starker Gesinnung genötigt war, eine solche Zumutung mit Entrüstung abzuweisen, empörte mich." Dann erschien der französische Kaiser selber in der Stadt; als er am zweiten Tage mit seinen Marschällen durch die Merkerstraße ritt, forderte der einquartierte Beamte die Freunde auf, den Zug zu betrachten. Schleiermacher und Steffens schlugen es aus, und nur nach wiederholten Bitten mußten sie doch widerwillig einen Blick auf die Straße werfen. Man gedenkt bei dieser Szene unwillkürlich des geschichtsphilosophischen Enthusiasmus, mit welchem Hegel, im Kleinstaatentum aufgewachsen, den Kaiser, „diese Weltseele", anstaunte. Und um Schleiermacher in diesen Verwirrungen, dieser Angst um das Vaterland und einer völligen Ungewißheit über die politische Lage das einzige Mittel, zu dem sonst sein energischer Geist in jeder schmerzlichen Gemütsbewegung griff, lebendige Tätigkeit, zu nehmen, folgt nun die brutale Vertreibung der Studenten aus Halle. Es hatte nichts geholfen, daß der arme Prorektor Maaß, den die bei ihm einquartierten französischen Soldaten, da er keinen Bedienten hatte, gezwungen haben sollen, ihnen eigenhändig die Stiefel zu putzen, keine Versammlung der Mitglieder des Konziliums, wie sie Schleiermacher verlangt hatte, gestattete, damit man sie nicht für eine Verschwörung halte. Es war nun freilich ein sehr dürftiges Leben, das die Freunde in Steffens' kleiner Wohnung zwischen ihren Arbeiten führten; dort, in einer Ecke des gemeinsamen Familienzimmers, in welchem auch Steffens arbeitete, hat Schleiermacher sein für die neutestamentliche Kritik epochemachendes Sendschreiben über den ersten Brief an Timotheus geschrieben. ,,Wir leben hier so armselig als möglich, eigentlich mehr als möglich", an dem Nötigsten litten sie Mangel. Es war eine Entscheidung, wie sie nur großer Gesinnung möglich ist, daß Schleiermacher eine in diesem Augenblick ihm gebotene schöne Stellung in Bremen ausschlug, so sehr er sich nach seiner Kanzel sehnte. „Solange noch ein Schatten von Hoffnung ist für das Bestehen der Universität auf dem bisherigen Fuß, lasse ich mich auf nichts anderes ein. Und ungerner als je würde ich mich jetzt von dem Könige trennen, dem ich eine recht herzliche Sehnsucht habe, ein tröstliches ermunterndes Wort zu sagen, in dem Unglück, das wahrlich nicht durch seine Sünden über ihn und uns gekommen ist." Und noch energischer lautet ein Brief

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an Brinckmann: solange Halle preußisch bleibe und er Kartoffeln und Salz da auftreiben könne, werde er bleiben. Würde es aber sächsisch oder französisch, dann werde er seinem König bis in den entferntesten Winkel der Monarchie folgen. Für jene wissenschaftlichreligiöse Gesinnung, welche er bisher in Preußen auf Katheder und Kanzel verkündigt hat, will er hier in seinem Vaterlande, wenn die Zeit es fordert, auch handeln, sein Leben einsetzen. Wenn das Werk seines Lebens, die freie Ausbildung und Verbreitung dieser Gesinnung in seinem Vaterlande, unwiederbringlich zerstört ist: dann ist sein zweiter Wunsch, daß es möglich sein möchte, in der gemeinsamen Sache den Tod zu finden. Und ihn dünkt, vielleicht bald werde die Erfüllung jenes Wunsches ihn überraschen. „Denn wenn das Glück nicht umschlägt, so wird er gewiß bald wüten gegen den Protestantismus, und dann wird es vor vielen anderen mein Beruf sein hervorzutreten. Niemand kann wissen, was ihm bestimmt in dieser Zeit! Es k a n n n o c h wieder Märtyrergeben, wissenschaftliche und religiöse!" Sein Gedanke war, Napoleon werde einen Frieden erzwingen, der ihn zum Herrn von Niederdeutschland mache. Dann würde er, nach verschiedenen Äußerungen zuschließen, den Protestantismus angreifen und ein Religionskrieg nach alter Art würde ausbrechen: „denn der ganze norddeutsche Sinn und unser ganzes wissenschaftliches Streben hängt am Protestantismus". „Wenn das kommt—schreibt er seinem Freunde, dem Prediger von Willich — dann laß uns nur auf unseren Posten stehn und nichts scheuen. Ich wollte, ich hätte Weib und Kind, damit ich keinem nachstehen dürfte für diesen Fall." Er war entschlossen, dann hervorzutreten und für jene protestantische Gesinnung, wie sie vor seinem Geiste stand in den großen Zügen der sittlichen Autonomie der freien Individualität, mit seinem Leben einzustehn. Es war ihm nicht bestimmt, auf solche Weise im Vordergrund des gewaltigen Kampfes zu stehen, ein Held und Märtyrer seiner Gesinnung zu werden, wozu alle Spannkraft und alle streitlustige Schärfe in seiner stählernen Natur lag. Der Kampf zog sich hin. Verschiedene Pläne faßte er vorübergehend in dem unruhigen Drang seines Herzens. Er suchte nach einer Form, „dem guten König ein Wort zu sagen über die Anhänglichkeit des besseren Teiles der Nation, über den Mut für die gute Sache des Vaterlandes und über den Haß gegen die Niederträchtigkeiten des Feindes". Dann wieder in einem Briefe an Brinckmann wünscht er sich, wie Fichte, eine „Möglichkeit, in das Hauptquartier meines Königs zu kommen, der gewiß Leute, die hier ganz müßig sitzen, recht gut auf irgendeine Art brauchen könnte". D i e dam a l i g e F o r m des S t a a t e s bot d i e s e n M ä n n e r n n i r g e n d s e i n e n Raum.

Politische Pläne

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Nie, glauben wir, hatte bis dahin ein großes Volk so wenig Öffentlichkeit gehabt. Und doch gab es damals, in jener Lage, keine mächtigere Waffe als das freie öffentliche Wort. Schleiermacher hatte recht mit seinem Wort über Napoleon: „eine freie Rede ist für ihn das schärfste Gift." Der deutsche Idealismus — es sollte ihm ewig gedankt werden —, bis dahin stumm im Staate, eroberte sich Stimme und Macht. Fichtes eherner Geist schuf sich ein Publikum und eine Rednerbühne für seine Worte, die wie Blitz und Schwerter trafen. Arndts Lieder gingen von Mund zu Mund wie lebendige Rede. Und das einzige Organ, das sich die Nation in ihrer gewaltigsten Zeit und durch ihren gewaltigsten Mann geschaffen hatte, die deutsche Predigt Luthers — dieses ergriff Schleiermacher. Wie er, nach unserer Darstellung, diesen Kampf verstand, war er eins mit dem Interesse der echten protestantischen Gesinnung. So war es völlig seines Amtes, ihn auf der Kanzel aufzunehmen. Er ward der Prediger an die deutsche Nation. Er ward überhaupt d e r e r s t e p o l i t i s c h e P r e d i g e r in g r o ß e m S t i l , w e l c h e n d a s C h r i s t e n t u m h e r v o r b r a c h t e . Denn dazu bedurfte es anderer Dinge, als der politischen Anspielungen oder der üblichen Zitate von der Obrigkeit, unter welcher wir „ein geruhiges Leben führen mögen", wie man sie bis dahin in den Kirchen vernommen hatte — von den wilden Reden fanatischer Sekten abgesehen. Das Christentum, wie es in der Bibel vorliegt, gleicht an einigen Stellen den Grundrechten einer Nation, die erst ihrer Ausführung in den einzelnen Gesetzen harren. In alle Zeit hinaus bleibt als ein Wunder anzustaunen, wie es die ewige Lage des Menschen sich selbst, Gott, den höchsten Gütern gegenüber erfaßt. Aber so arm und zerrüttet war die sittliche Welt, in welcher es sich erhob, daß einige große sittliche Konsequenzen desselben erst unter anderen Verhältnissen sich erschlossen. So hat erst die Reformation — obwohl mit dem vereinzelten Bibelwort im Streite — Ehe und Familie in ihren vollen Zusammenhang mit dem christlichen Gedankenkreis eingesetzt. So begann der Staat noch später und schwerer in diesem Gedankenkreise seine Stellung zu finden. Auch die Anschauung der Reformation, obwohl sie zuerst von Kirchenvorurteilen frei war, haftete noch an der persönlichen Vertiefung des einzelnen in den göttlichen Heilswillen, in die Rechtfertigung und deren Bewährung. Somit wird jede Handlung sofort wieder als auf ihren letzten Zweck, auf den Gemütsprozeß des Individuums zurückbezogen, das mit Gott allein ist. Und indem der Mensch sich n u r getragen, n u r bestimmt von dem Ewigen fühlt, überwältigt diese Seite der menschlichen Existenz, wie sie in der passiven Lehre von der Prädestination ihren Ausdruck findet, ihn völlig. Die Wahrheit dieser unbedingten passiven Hingebung unseres Gemüts an

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das Unendliche, welche die Hälfte unserer religiösen Seligkeit umschließt, hat auch Schleiermacher empfunden, wie nur je einer jener einsamen Mystiker, in denen alles Wollen und Tun wie aufgesogen war von der verzehrenden Liebe des Unendlichen. Aber es gibt im Christentum ein zweites Element, ein aktives, energisches, der Gemeinschaft zugewendetes. Männlich und kampflustig genug redet es aus den Sätzen Jesu über das Reich Gottes, dem ältesten Bestandteil der Evangelien. Hier, in diesen ältesten und allgemeinsten religiösen Gedanken des Christentums fand Schleiermacher den Ausgangspunkt für ein aus der Tiefe desselben geschöpftes Verständnis politischen Lebens und politischer Gesinnung, wie es in den Predigten hervortritt. Diese Predigten, und die Predigten Schleiermachers überhaupt, müssen die in Erstaunen versetzen, welche immer noch, nach der Tradition einer Zeit, in welcher man nur Reden und Dogmatik vor sich hatte, in Schleiermachers christlicher Weltansicht nur passive religiöse Gefühle suchen. Es bleibt zu bedauern, daß Schleiermacher diese Weltansicht nicht in ihrer inneren Einheit dargestellt, sondern in zwei schematisch gesonderte Disziplinen zerfällt hat: aber er wußte, was er tat, als er die Herausgabe der c h r i s t l i c h e n S i t t e n l e h r e anordnete. Diese erst enthält jene aktive Seite des Christentums. Die Religion, aus dem Interesse der Vorstellung betrachtet, ist Glaubenslehre; in der Sittenlehre dagegen wird sie erkannt als Antrieb, als in den Willen aufgenommen — als G e s i n n u n g . Demnach ist in der praktischen, sittlichen Welt des Christentums, in welcher sich die Prer digten bewegen, ziemlich ausschließlich von Gesinnung die Rede, äußerst selten von Gefühlen. Wohl bedarf die Religion immer wieder der Momente stiller Einkehr; aber die Summe auch des christlichen, wie jedes anderen tüchtigen Lebens ist Gesinnung, das heißt die Gegenwart der Ideen als Antrieb, Wille und Handlung. Daher ist die Grundstimmung dieser Predigten durchaus nicht das Gefühl der schlechthinnigen Abhängigkeit, sondern ein t i e f g e f a ß t e r V o r s e h u n g s g l a u b e , den er geradezu Glauben nennt. Er ist das Innewerden, „daß das Gesetz, welches in den Frommen gebietet, und die Kraft, welche das Ganze der menschlichen Angelegenheiten leitet, eines und dasselbige sind". Er ist das sichere Wissen, daß Gott den Frommen über ihre Mitwirkung an seinem Reiche die Augen öffnen, und daß er diese Mitwirkung mit Erfolg krönen wird — er ist, kurz gesagt, Glaube an die sittliche Weltordnung, oder wie die Bibel es in ihrer Sprache ausdrückt, an das göttliche Reich. Da ist Gott nicht „das Unendliche", sondern der Träger aller Zwecke und Güter und Werte der Welt. Durch ihn sind in Individuen, Staaten, Generationen Schicksal und Charakter eins.

Der politische Prediger

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In s i c h fest u n d w a h r h a f t i g ist d a h e r n u r ein L e b e n , d a s in d e n I d e e n u n d Z w e c k e n G o t t e s l e b t . Herr der Erde ist, wer um der göttlichen Gesetze willen keine Stätte hat, wohin er sein Haupt lege. „Wer aber nicht die Sache der Wahrheit, des Rechts, der Ordnung um jeden Preis verteidigen will: der nimmt ja den Gütern des Lebens, von denen er so feigherzig ist, sich nicht trennen zu wollen, dasjenige, was ihnen allein Sicherheit und Bestand geben kann. Wie sicher er auch gestellt scheine, er ist der unsteteste Flüchtling, folgend mit seinem ganzen Dasein der Vergänglichkeit der Dinge, mit umhergeworfen von den Verwicklungen, die wir Zufall nennen, nichts in sich tragend, als die unsicheren, wechselnden, immer wieder verschwindenden Eindrücke von dem, was er unglücklich genug ist, zu sehr zu lieben." Wenn die großen Kreise unserer Tätigkeit gestört sind, dann muß im Kampf für ihre Wiederherstellung das wertlos gewordene Leben für nichts geachtet werden. Es wäre ermüdend, allen Ausführungen dieses Gedankens zu folgen, aber die Lektüre zeigt, daß neben Kant und Fichte kaum jemand ausschließlicher, härter den Wert des Individuums in den Willen, in die Arbeit für die allgemeinen Zwecke gesetzt hat, als dieser Mann der Gefühle und der schönen Individualität. Und zwar schon in Prer digten, die neben den Reden, Monologen und Luzindenbriefen herlaufen. Die große Form aber, durch welche nach dem Gesetz der Dinge das Individuum in die allgemeinen Zwecke und den göttlichen Weltplan eingreift, ist a u s s c h l i e ß l i c h d e r S t a a t . Alles Große verlangt eine Versammlung von Kräften zu einer dauernden Einheit; und diese hat keine andere Grundlage als die Volkseinheit. „Wessen Kurzsichtigkeit oder Hochmut dieses zu klein ist, wer, anstatt auf sein Volk und mit seinem Volke zu wirken, sich weiter ausstreckt und es gleich auf das Ganze des menschlichen Geschlechts anlegt, der wird in der Tat erniedrigt, anstatt erhöhet zu werden. Denn wer jene große Haltung, jene mächtige Hilfe verschmäht, kann doch auf das Ganze unmittelbar nicht anders wirken, als indem er als einzelner auf einzelne wirkt." Und als solchem stehen ihm immer nur einzelne vorübergehende Einwirkungen auf die Empfindungen anderer zu Gebote. Bis zur Paradoxie geht der politische Prediger in seinem Hasse gegen „die gemeine Rede, die, dem Himmel sei Dank, noch jung ist und nur einer schlechten erschlafften Zeit angehört, daß die wissenschaftlich Gebildeten am wenigsten ein Vaterland hätten". „Alle" — sagt er — „die Gott zu etwas Großem berufen hat in dem Gebiete der Wissenschaften, in den Angelegenheiten der Religion, sind immer solche gewesen, die von ganzem Herzen ihrem Vaterlande und ihrem Volke anhingen und

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dieses fördern, heilen, stärken wollten." Denn „es ist nicht die Not, die den Menschen festhält an seiner Stelle, sondern eine innere Lust und Liebe, ein angeborenes gemeinsames Dasein, eine unzerstörbare Zusammenstimmung". Ja, er erklärt mit einer völlig schonungslosen Schärfe gegen die Lehre von der schönen Individualität, daß selbst die schönen Empfindungen des Privatlebens in dieser Lage des staatlosen Daseins verdürben. „Ihre allgemeine Liebe beschränkt sich auf die gewöhnlichen guten Eigenschaften, welche sich, wenn ich so sagen darf, im kleinen Dienst des Lebens äußern. Und darum sind sie größtenteils so weichlich empfindsam gegen alle Kleinigkeiten, welche sich da ereignen." Erst durch den Staat erhält das Empfindungsleben des Individuums einen großen Zug und die Freiheit und Energie der Bewegung, deren die starke Individualität eben am meisten bedarf. Noch bevor die Not von Jena die Bedeutung des Staates und des Patriotismus handgreiflich machte, drang sein moralischer Individualismus zu dieser Hingabe an den Staat vor. Denn diese Sätze über denr selben gehören Predigten an, die vor der Katastrophe lagen. Aber auf ihrer Höhe stand diese Gesinnung, als alles verloren schien und nichts übrigblieb, als der große Glaube an die unwiderstehliche Gewalt des mit der göttlichen Weltordnung einigen, in sich selber ruhenden Willens. Wenn man die Predigten aus dieser Zeit liest, ist es, als ob aller Reichtum seines religiösen Lebens sich damals in diesen einzigen Gedanken gesammelt hätte. Und dieser Gedanke zündete. „Es gibt keinen" — erzählt Steffens von seiner Berliner Kanzelwirksamkeit —, „der wie er die Gesinnungen der Einwohner hob und regelte; Berlin ward durch ihn ein ganz anderes. Sein mächtiger, frischer, stets reger Geist war einem kühnen Heere gleich in dieser trüben Zeit." So wirkte er auf Unzählige. Und als in jener Nacht, am 5. Januar 1809, Preußens größter Staatsmann auf seinem einsamen Schlitten, proskribiert, der Grenze zueilte: da hat auch er an Schleiermachers Neujahrspredigt gedacht über das, was der Mensch zu fürchten habe und was nicht zu fürchten sei, die er am ersten Tage dieses Jahres mit den Seinigen gelesen hatte; sie erschien ihm nun als die passendste Vorbereitung auf die nachher so rasch gefolgten Ereignisse. In seiner einsamen Seele weckte sie eine ruhige Fassung, die alles Gewaltigste auf seinen wahren Wert zu bringen bereit war. Und welche wunderbare Form war es, in der Schleiermacher diese Wirkung übte! Wenn man sich in diese Predigten einliest, scheint es einem undenkbar, daß dieser ruhige Fluß gleichmäßig langer, ineinander verketteter Perioden, in welchen ein künstlicher Bau weitverzweigter Gedanken sich gelassen bewegt, jemals ein Gemüt wirklich ergriffen hätte. Nirgend schlägt ein rascherer Puls der Empfindung in knappen Sätzen oder schneidenden Worten; kaum,

Wirkung der Predigten

daß die Bewegung des Gemüts sich manchmal in einem Bilde Ausdruck schafft. Die Sprache Piatos, der Geist antiker Ruhe und Gemessenheit spricht aus ihnen. Wie man sie nun aber öfter und — was unerläßlich ist — mit Vergegenwärtigung aller Zeitverhältnisse überblickt, wie fast auf jeder Seite die bestimmtesten Beziehungen auf diese Verhältnisse im klaren Fluß der Rede ruhig hervortreten: da empfindet man es nach, mit welchem eigentümlichen Zauber diese tiefe Ruhe und Besonnenheit, indem sie ihr stilles Licht über unerhörte Leiden und Befürchtungen, kühne Entschlüsse, schmerzliche Verzweiflung ausbreitet, die Gemüter erfüllen mußte. Hier läßt sich bur andeuten, was allein durch eine chronologisch bearbeitete Sammlung dieser Predigten mit historischen Vorbemerkungen und Winken zur Anschauung gebracht werden könnte.* Das preußische Heer war im Rückzug nach der Oder, die Prenzlauer Kapitulation verbreitete einen panischen Schrecken, Halle war besetzt. In Schleiermachers Briefen schlägt überall die Furcht vor einem raschen Frieden durch. Da hielt er in Halle jene wunderbare Predigt, deren Thema schon wie Ironie klingt: daß überall Friede sei im Reiche Gottes — in der in seiner eigensten Weise, mit einem scheinbar unwillkürlichen, in der Tat bitter treffenden Witze aus Friedenswünschen überall die Hoffnung auf Ausdauer im Kriege abgeleitet wird. Innere Ordnung, Besonnenheit in der Kühnheit, das ist der Friede in dieser Welt des Krieges, in der es nach außen nur Waffenstillstände gibt; die Gesinnung, welche der äußeren Ruhe den inneren Frieden opfert, ist die schlimmste Feindin dieses wahren Friedens. Wie die Nachrichten von den Kapitulationen sich häufen, Welle auf Welle der Strom des Unheils hereinbricht, zeichnet er mit ruhigen, großen Zügen, dem müßigen Klagen und faulen Lästern der eudämonistischen Masse gegenüber, die Bedeutung der letzten Ereignisse. Es ist die Predigt über die Benutzung öffentlicher Unglücksfälle. In den Fehlern der Feldherren, der Truppen, der Regierung kommt nur die Schuld des Ganzen an den Tag. Und neben ihnen mag man sich doch daran erfreuen, daß auch jetzt noch dem Volke überall Duldsamkeit in Beschwerden und Mut in Gefahr einzuflößen sind, wo Vertrauen * Die Chronologie der politischen Predigten läßt sich leider nicht überall herstellen, obwohl sie gerade hier, für das Verständnis der einzelnen Anspielungen, besonders nötig wäre. Doch läßt sich so viel sagen : die klassische Predigt I, 223 fällt in die zweite Hälfte August oder Anfang September 1806: I, 239 wahrscheinlich etwa 16. November 1806; I, 251 etwa den 23. November (Briefw. mit Gaß 57, aus Schleiermachers Leben II, 79); die beiden folgenden sind bezeichnet als am letzten Sonntag 1806 und Neujahrstag 1807 gehalten; die zwei Predigten I, 326—360 fallen dann wahrscheinlich in den Dezember 1807, Januar 1808; die letzte der Sammlung ist bezeichnet als am 22. Januar gehalten. Die hierhergehörigen Predigten des vierten Bandes sind datiert.

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auf eine verständige Führung herrscht — eine offenbare Anspielung auf die Bravour des Blücherschen Rückzuges. Welche Demütigungen auch noch in dieser Zeit der Läuterung unserem Volke und wie lange bevorstehen mögen: nach dem Gesetz der göttlichen Weltordnung wird es, wenn es sich nicht selbst aufgibt, einst noch der Mittelpunkt werden, um den alles Gute und Schöne sich sammelt. Wie derselbe Gedanke in einem gleichzeitigen Briefe anklingt: „Deutschland, der Kern von Europa, wird in einer schöneren Gestalt sich wieder bilden." Das unglückselige Jahr neigte sich zu Ende. Was hatte er verloren ! Es war nicht lange, daß er an seinem Geburtstage in schmerzlichem Nachsinnen überdacht hatte, wie ihm das Schicksal alles geraubt habe: ein Jahr zuvor hatte er um Eleonoren trauern müssen, mit welcher alle Träume seiner Jugend von ihm schieden; und nun war er des Berufs beraubt, an dem er sich damals noch halten durfte. Aber sein tiefes Auge schaut darum nicht weniger hell in den großen Gang der Zeit, der hinter den erschütternden Ereignissen und den persönlichen Geschicken liegt. Er spricht es aus, „daß die letzten Zeiten nicht schlechter sind als die vorigen". Aus der Ruhe und dem Wohlstand erhob sich ein leichtfertiges Jagen nach Genuß, selbstischer, friedloser Sinn in der Familie, habsüchtiger Egoismus der Beamten und Indolenz der Bürger im Staate. Unser früherer Reichtum war Schein. Und Schein ist auch unser jetziger Verlust. Unsere Selbständigkeit ist vernichtet, unser König zurückgedrängt an die Grenzen seines Reichs; aber ein selbständiger reiner Wille der einzelnen, in der Familie ein herzliches Ineinanderleben, getragen von großen gemeinsamen Gefühlen, im Staate ein neues Vertrauen der Stände aufeinander, eine neue Hingebung aller an das Ganze haben sich erhoben. Mitten unter den Ausbrüchen der Krankheit verkündigen sich schon die Zeichen der Genesung. Und dann, ein paar Tage darauf, am Neujahrstag 1807, wendet er sich von der Vergangenheit zur Zukunft mit jenem herrlichen „was wir fürchten sollen und was nicht". Es ist der helle, scharf-heitere Geist der Monologen — noch in der persönlichen Erscheinung des Sechzigjährigen das am meisten Charakteristische —, was aus dieser Predigt voll Leben und Will ens énergie redet. Die Furcht ist schlimmer als jeder Verlust, schlimmer als der Tod selber. „Wer sich erst gestattet, aus Furcht irgend der Stimme seines Herzens nicht zu folgen, sondern die inneren lebendigsten Bewegungen zurückzuhalten, dem wird allmählich auch die Beweglichkeit selber verloren gehen; und in einer Fühllosigkeit, welche mit der Furcht wächst, bis er an nichts mehr teilnimmt, als an seinem eigenen schon ganz verarmten und unwürdigen Dasein, wird er die schönste Hälfte seines Lebens verlieren."

Was wir fürchten sollen und was nicht

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— „Ohne einen Verdacht zu hegen, als sei es schlechter geworden, entsteht in ihm jener schwächliche zitternde Zustand, der den Menschen nicht mehr derb auftreten, nicht mehr fest zuschreiten läßt" — ihm das Verhaßteste und Armseligste. Der furchtlose Wille aber ist über jedes Schicksal erhaben. Es klingt wie aus den Monologen, wenn er ausspricht: „Wie auch jedem die äußere Wirksamkeit zerrüttet, die wohlausgeführten Werke zerstört und alles Leibliche seines Tuns und Seins verwundet oder getötet werde (empfand er doch das alles selber) : wir werden unter allen Zerstörungen jene göttliche Kraft in uns fühlen, vermöge deren der Geist überall seinen Leib, seine Glieder, seine Werkzeuge wiederherstellt oder neu erschafft; und so werden wir mutig und heiter, tüchtig und unbesiegt der Welt zum Trotz, Gott zum Preise, uns selbst zur Zufriedenheit dastehen." Nur eine Predigt ist dann noch aus der Halleschen Zeit vorhanden — seltsam, aber in ihrer Seltsamkeit für das feine Umspinnen biblischer Sätze mit der üppig wuchernden Dialektik seiner Gedanken, wie es ihm eigen war, höchst charakteristisch. Er nimmt die Wandlung des Wassers in Wein zum Text. Und indem jedes einzelne Wort umgedeutet wird, schildert er mit lebendiger Anschaulichkeit, wie die edlen Männer, welche diesem eudämonistischen Zeitalter aufhelfen sollen, zu kämpfen haben, wie man ihres Winkes gewärtig sein müsse, wie die Geduld sich endlich in herrlichem Erfolg belohnen würde. Die ganze Geschichte von der zukünftigen Erneuerung und Befreiung Deutschlands blickt hinter dem alten Wunderbericht hervor. In einem merkwürdigen Briefe an Raumer aus dem Januar 1807 spricht sich dieselbe Ansicht der Lage, die in den Predigten zugrunde liegt, nüchtern und im Detail dahin aus: „die Anschauung der französischen Armee hat mich wenigstens überzeugt, daß an eine dauernde Herrschaft dieser Macht über unser festes Land nicht zu denken ist, und was man von der französischen Verwaltung sieht, scheint nicht mehr Sorge zu erregen. Der Herrscher hat zu wenig den Sinn eines Königs; alles scheint mir darauf berechnet zu sein, einen unsicheren Emporkömmling durch Benutzung jedes niedrigen Interesses zu befestigen. Und sollte es denn nicht leicht sein, selbst seine Kriegskunst zu besiegen durch Beharrlichkeit von vorn und durch k l u g e L e i t u n g d e r B e w e g u n g e n , die sich notwendig weit im Rücken der Heere organisieren müssen? Doch wäre dies vielleicht für manches andere Übel eine Palliativkur. Um ein neues Deutschland zu haben, muß wohl das alte noch viel weiter zertrümmert werden. Außerdem, daß ich ein Deutscher bin, habe ich wirklich aus vielen Gründen die Schwachheit, ein Preuße zu sein, zum großen Ärger Ihres Bruders und Steffens'. Aber freilich geht meine Leidenschaft auf eine I d e e v o n

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P r e u ß e n , w e l c h e v i e l l e i c h t in d e r E r s c h e i n u n g d i e w e n i g s t e n e r k e n n e n . " Mitten im Unglück tritt hier nur mutiger fortgebildet sein alter Gedanke von Preußen als dem Staat protestantischer Bildung und der auf dieser ruhenden straffen persönlichen Kraft hervor. Im Rücken der Heere wird er durch diese Kraft der Bürger einen unbesiegbaren Rückhalt gewinnen; durch sie wird er dann der Mittelpunkt Deutschlands werden. Man konnte nicht genauer die Gedanken ausdrücken, auf welchen die Zukunft des preußischen Staates damals ruhte. Aber der Prophet selber ahnte, welche Widerstände im Hintergrund lagen. „Ob sich nun diese Idee nach der gegenwärtigen Krisis besser herausarbeiten wird, steht dahin; vieles Gute erscheint mir fast unvermeidlich." Wie bitter spricht aus diesem „unvermeidlich" seine Ansicht von den damaligen Leitern der preußischen Politik. Zunächst sollte der Tilsiter Friede eine furchtbare Enttäuschung bringen. Aus dem von Feinden besetzten, vereinsamten Halle war Schleiermacher für den Sommer nach Berlin gegangen. Den wohlmeinenden Ratschlägen der Freunde entgegen hatte er die noch schwebenden Bremer Verhandlungen abgebrochen. Er hatte keine äußere Stütze, als eine Ungewisse entfernte Aussicht auf eine Berliner Universität und die edle Freundschaft Georg Reimers. Einstweilen las er über die griechische Philosophie. Er war eben gerade zu seiner Erholung auf ein paar Tage bei seinem jungen Freunde Marwitz in Friedersdorf, als Reimer und Varnhagen die Nachricht von den Tilsiter Friedensbedingungen brachten. „Marwitz und Schleiermacher waren in Niedergeschlagenheit ganz betäubt, als sie diese schmachvollen Bedingungen der Reihe nach vernahmen." Mit überaus komischer Entrüstung berichtet Varnhagen, wie diesem tiefen Schmerz gegenüber jedes geistreiche Gespräch wirkungslos geblieben sei; ja Schleiermacher habe ihm sogar verübelt, daß er sich über die Niedergeschlagenheit desselben „zu rasch und überlegen hinweggesetzt habe". Alle nächsten Pläne waren zertrümmert. Sein erstes Wort über diesen Frieden, der kein Frieden sein konnte, war der bittere „heilsame Rat, zu haben als hätten wir nicht". Er sagt es geradezu, daß er diesen Rat gegen die richte, welche in diesem dem Namen nach wiederhergestellten Frieden den Anfang wirklicher Ruhe sehen möchten, aus dem Mißbehagen der gestörten Genußsucht, oder auch aus dem armseligen Bedürfnis äußerer Sicherheit. Das Leben ist keine ruhige Ansiedelung, sondern ein Kampf. Rüstige Streiter sollen wir sein, die alles gern dahinter lassen, was sich nicht mit der leichten und behenden Führung der Waffen verträgt. Es gilt alles, Beruf, Lebensfreude, häuslichen Kreis, zu haben als hätten wir nicht. Wie unser Beruf, unsere äußere Lage, die ruhigen Verhältnisse unseres

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Lebens aus unserem Willen entstanden sind, in das Reich Gottes wirkend einzugreifen: so soll das alles allezeit auch nur als solches Mittel geachtet werden. Jeder Schmerz soll nur der Sache, nicht unserem Verlust gelten. Wenn uns Gedanken beschleichen möchten, ob es recht sei, vielleicht vergeblich Not über die Unseren zu bringen, andere uns anvertraute Menschen für das große Werk mit aufs Spiel zu setzen: ,,dann ist es hohe Zeit, uns zu ermannen, Weiber, Kinder, Freunde zu haben, als hätten wir keine." Wir sollen in dem Sinne für die Unseren handeln, daß nur deren sittliches Urteil damit übereinstimmen sollte, gleichviel, ob sie es tun: das ist nicht Härte, sondern Wohltat. „Was verloren ist für uns, das kann nur wiedergewonnen werden durch solchen Sinn; was noch übrig ist und in Gefahr schwebt, kann nur erhalten werden durch ihn." Wie mußten solche Worte ergreifen, ohne rednerisches Pathos, der reine, gefaßte Ausdruck seines persönlichsten Willens. Es ist merkwürdig, wie in den paar erhaltenen Briefen dieser Jahre überall die Themata der Predigten anklingen: sie waren der Ausdruck seiner innersten Kämpfe und Erlebnisse. Und darum hing er auch so an der Kanzel, daß er sagte: ,.Predigen, mit einiger Muße und der täglichen Nahrung ist alles, was ich eigentlich bedarf." So geht ζ. Β. neben dieser letzten Predigt ein Brief her, in dem er sagt: „Vor allem bin ich über mein eigenes zerstörtes Schicksal so ruhig und gleichgültig, wie ich mir kaum gedacht hätte. Die einzelnen kleinen Verhältnisse des Lebens verschwinden ganz neben · dem großen Schauspiel. Das kleinste, was ich in diesem wirken könnte, würde mich jetzt mehr freuen, als das größte in meinem besonderen Kreise. Unser u n v e r s c h u l d e t e r Friede ist noch unsicherer, als der Krieg gewesen ist. Nur den Vorsatz habe ich, meinem unmittelbaren Vaterlande Preußen so lange nachzugehen, als es besteht und dieses Vorsatzes nicht unwürdig ist. Sollte es dem Unglück ganz erliegen, so will ich, solange ich kann, das deutsche Vaterland da suchen, wo ein Protestant leben kann und wo Deutsche regieren. Dabei tun zu können, was meines Berufs ist, wird mir doch nie ganz fehlen. So muß sich trösten, wer die Waffen nicht führen kann." Und noch einschneidender, kriegerischer lautet dann die nächste Predigt. ,,Von der Beharrlichkeit gegen das uns umdrängende Böse." Er warnt vor der Tollkühnheit vereinzelter eigenwilliger Kämpfe ; aber wo einer im Namen des Ganzen steht — diese Mahnung ist direkt an die unter den Augen des Feindes in Berlin tätigen Beamten gerichtet — lasse er sich durch keine Drohung oder Überredung über den Willen des Ganzen täuschen, als würde dieses nicht mehr die alte Pflichterfüllung von ihm fordern; er handle im Geist der vaterländischen

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Gesinnung. Und wenn es einmal gilt, das Höchste zu wagen: dann schwinde alles Hin- und Herrechnen über den Erfolg vor dem einfachen, harten physischen Mut. „Wie gewaltig die Natur in den Tieren wirkt, wenn sie um ihr Leben kämpfen, daß sie unbesorgt um den künftigen Augenblick und um die allmähliche Erschöpfung ihrer Kräfte, nur in jedem gegenwärtigen alles daransetzen, was sie haben: so gewaltig wirke in uns die Gnade, das Gefühl von der Heiligkeit des sittlichen Willens, daß wir, unbekümmert um das Ende, nur jeden Augenblick den Angriffen des Bösen alle unsere Kräfte entgegenstellen." Als nun das Ministerium Steins mit der Reform des Staates begann, scheute er sich nicht, auf der Kanzel die Verteidigung derselben zu führen. Am Geburtstag Friedrichs des Großen, den eine ohnmächtige und kindische Sehnsucht zurückrief, während bereits der Mann da war, der sein Werk erhalten und fortsetzen sollte, sprach er „über die rechte Verehrung gegen das einheimische Große aus einer früheren Zeit". Wohl gibt es Bleibendes, Unvergängliches im preußischen Staate, Gesetze des altpreußischen Wesens: arbeitsame Sparsamkeit, Rechtsschutz gegenüber der Regierung und Gleichheit der Bürger vor dem Gesetz, Aufklärung, Glaubens- und Gewissensfreiheit. Diese gilt es völlig und aufrichtig zu handhaben. Auf diesen Grundlagen muß ein neues Gebäude errichtet werden; das Alte, das vor den Stürmen der Zeit wich, hat sich dadurch des Wiederaufbaus unwert erwiesen. Dies neue Gebäude ist nichts anderes, als der nach Steins Reformen reorganisierte Staat. Es ist der Grundgedanke desselben, daß jeder in den Stand gesetzt werde, durch nützliche Tätigkeit seinen ganzen inneren Wert frei darzulegen, daß dieser Wert anerkannt werde von der Gesellschaft, daß endlich sich künftig das Recht durch die Übereinstimmung aller als die natürlichste Wirkung des vereinigten Verstandes und der vereinten Kräfte bilde. Das war in der Tat der Staat, wie er aus den Prinzipien folgte, deren Entwicklung bei Schleiermacher wir hier verfolgt haben. Im Februar 1808 hat Schleiermacher seine politischen Predigten in einer Sammlung veröffentlicht, damit sie „einleuchtend machten, woher allein wahres Heil kommen kann und wie ein jeder dazu mitwirken muß". Die Hauptsache blieb die Wirkung auf Berlin selbst, dem er fortab als Prediger angehörte. Es war ein seltsam gemischtes Publikum, das sich in der Dreifaltigkeitskirche um den „Redner der Religion" versammelte. Scherzend schreibt er an Brinckmann: „Bunter ist wohl kein Auditorium : Herrnhuter, Juden, getaufte und ungetauf te, junge Philosophen und Philologen, elegante Damen, und das schöne Bild vom heiligen Antonius muß mir immer vorschweben." Die ge-

Neuer politischer Wirkungskreis

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wichtigsten Zeugen bestätigen, daß durch ihn und Fichte der Geist der Stadt in diesen Jahren völlig umgewandelt wurde. Auf ihnen, auf ihrer Überzeugung von der göttlichen Weltregierung und dem Beruf des prqtestantischen Deutschland in dem Plane derselben, nicht auf orthodoxen Theorien von Erbsünde oder Zurechnung beruhte die religiöse Begeisterung, welche die Freiheitskriege durchdrang. Heute, wo die freie Sprache der Tribüne der politischen Begeisterung offen steht, klingt manches Wort aus Schleiermachers Predigten seltsam und abstrakt, welches politische Ideen in Kanzelsprache umsetzt; an mancher Anspielung würden wir jetzt die Überschreitung des religiösen Gebietes mißbilligen. Hat man doch auch in Fichtes Schriften aus jenen Jahren die Vermischung des Politischen und Wissenschaftlichen hart getadelt. Worüber die Fachkritik den Kopf schüttelt, gerade daran erfreut sich hier der historische Blick. In seiner Absperrung vom politischen Leben schuf sich damals der patriotische Drang willensstarker Naturen Formen, wie er eben vermochte; gleichviel, was Kritiker davon denken mochten: es galt, daß in ihnen d i e Gedanken an die Nation kamen, deren sie bedurfte. Aber diesem leidenschaftlichen Drang patriotischer Wirksamkeit eröffnete sich seit 1808 noch ein anderer höchst merkwürdiger Wirkungskreis, der ein persönliches, praktisches Eingreifen gestattete. Wir begegnen auch hier wieder einer außerordentlichen Form der Tätigkeit für den Staat, welche aus der ungewöhnlichen Lage desselben entsprang. Wir meinen die patriotischen Verbindungen dieser Jahre. Seit der Broschürenflut, welche Schmalz' Angriff auf diese Verbindungen 1815 hervorrief, haben wir über die Organisation der Patriotenpartei von 1808 und 1809 — denn auf eine solche zielten eigentlich alle diese Verbindungen ab — mannigfache Mitteilung erhalten, die interessantesten von Hausser aus der Götzenschen Korrespondenz und von Barsch aus dem Schatze seiner Erinnerungen zur Berichtigung der Voigtschen Schrift über den Tugendbund. Schleiermachers früher vielbesprochener Anteil an dieser nationalen Agitation trat im zweiten Band seiner Briefe zwar in einigen Briefen an seine Braut in geheimnisvollen und spannenden Andeutungen hervor, ohne indes näher aufgeklärt werden zu können. Dies wird nun durch einige Briefe von und an Schleiermacher möglich, welche wir aus dem Nachlaß verschiedener Personen zusammenstellen. Sie müssen im Zusammenhang der damaligen Tätigkeit der Patriotenpartei betrachtet werden. Diese Tätigkeit beruhte auf der Lage und Stimmung Norddeutschlands zwischen dem Tilsiter und dem Wiener Frieden. Nach diesem ersteren Frieden standen auch in den preußisch gebliebenen Landesteilen D il t h e y , Gesammelte Schriften XII

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noch bedeutende französische Truppenmassen; durch nichtswürdige Interpretation des Friedensvertrags, der nur „genügende Bürgschaft" für die Kontributionen verlangte, ward die Räumung des Landes von Monat zu Monat hinausgeschoben; Napoleon hemmte durch diese Fessel die preußische Regierung vorläufig in der kleinsten ihm unwillkommenen Bewegung. Die Tätigkeit der Regierung zur Vorbereitung eines etwaigen Kriegs war völlig suspendiert. Und doch mußte Preußen, nach dem Urteil einer Partei, welche die Besten in sich schloß und von der Stimmung des Landes getragen war, die nächste günstige Kombination zu einer Allianz gegen Frankreich ergreifen, sollte es nicht gebunden seinem Ruin entgegengeschleift werden. Der Regierung in ihren öffentliche Äußerungen stand nur der Weg einer den Franzosen in ihrem wahren Sinne unverständlichen Reform offen; aber daneben waren die bedeutendsten Mitglieder derselben, Stein, besonders aber Scharnhorst und Gneisenau, im stillen für die Verstärkung des Kriegsmutes, der Waffenfähigkeit, der engen Verbindung der Patrioten im Lande tätig. Mehr noch von dem Gefühl innerer Übereinstimmung mit den Bestrebungen dieser Männer, als von ausdrucklichen Beziehungen zu denselben getragen, vereinigten sich überall in den einzelnen Provinzen und engeren Kreisen Patrioten zu gemeinsamer Tätigkeit. Die große Anzahl der im Frieden entlassenen Offiziere und der Beamten der verlorenen Provinzen bot, ohnehin beruflos und von der heftigsten Leidenschaft gegen Napoleon bewegt, überall die leichtesten Anknüpfungspunkte dar. Ihre Zwecke waren klar. Auch nach der Reorganisation des Heeres vom Herbst 1807 setzten Scharnhorst, Gneisenau, Boyen große Hoffnung auf einen Volkskrieg. Der Mut hierzu mußte der Bevölkerung eingeflößt, Waffen beschafft, Verbindungen geknüpft werden, damit im Augenblick des Kriegs wie mit einem Schlage alles bereit sei. Auch auf das nichtpreußische Norddeutschland mußte man rechnen, und auch hier wurden Verbindungen angeknüpft. Man mußte eine Übersicht über Verteilung und Anzahl der französischen Truppen haben. Kurz, Wille und Leitung der Regierung, welche in dieser Zeit gehemmt war, mußten durch die gemeinsame Tätigkeit der Privaten von einzelnen Kreisen aus ersetzt werden. Geheime Verbindungen, in dem Sinne der Illuminaten und späteren Verbindungen in unserem Jahrhundert, mit fester Organisation, feierlicher Aufnahme, Gehorsam gegen die Oberen waren diese Einigungen, von denen wir hier reden, nicht. Erst aus dem Schöße des Freimaurerordens, der Loge zu den drei Kronen in Königsberg, kam im Frühjahr 1808 der Gedanke an eine solche Organisation, welche dieser Tätigkeit der einzelnen Kreise eine einheitliche Leitung gäbe; aber die meisten der hier geschilderten Verbindungen weigerten sich, dieser künst-

Die politischen Verbindungen

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liehen Organisation sich einzufügen. Die Existenz eines „Tugendvereins" als einer geschlossenen Einheit dieser Verbindungen a u ß e r h a l b des Tugendbundes hat sich wenigstens bis jetzt nicht historisch konstatieren lassen. Das abfällige Urteil tüchtiger und patriotischer Männer wie Yorck und Niebuhr über diese Verbindungen ist bekannt; es ist auch neuerdings wieder aufgenommen worden. Indes weiß man, wie bitter der eine von diesen über die Tätigkeit Steins 1808, der andere über die Katastrophe des großen Staatsmanns geurteilt hat: beide waren mindestens zu leidenschaftliche Beurteiler. Der Wille auch der in dem hohen Ziele Einigen stieß in diesen aufgeregten Zeiten oft hart einer gegen den anderen; die Urteile der großen Männer gegeneinander haben daher nicht selten etwas Scharfes, Maßloses. Auf der anderen Seite dürfen wir uns darauf berufen, daß Männer wie Scharnhorst und Gneisenau in beständiger Beziehung zu diesen Verbindungen standen und ihre Wirksamkeit billigten, daß Männer wie Grolmann, Boyen, Eichhorn, Schleiermacher — so viele andere Tüchtige — in ihnen mit Begeisterung tätig waren. Die Hauptsache scheint uns diese: D a s U r t e i l über diese V e r b i n d u n g e n ist a u s s c h l i e ß l i c h a b h ä n g i g von dem ü b e r e i n e n p r e u ß i s c h e n K r i e g im J a h r e 1808 o d e r 1809. Denn ohne geheime Vorbereitungen der verschiedensten Art konnte ein solcher schlechterdings nicht geführt werden. Für solche bedurfte es Komitees. Daß es aber zu einem solchen Krieg im Verein mit Österreich und mit Unterstützung Englands, während Spanien den Imperator ohnehin beschäftigte, damals nicht kam : das beklagt auch der Verfasser der deutschen Geschichte, gewiß ein kompetenter Beurteiler dieser Dinge. Und wer bedenkt, wieviel günstiger damals die Aussichten für eine würdige Gestaltung Deutschlands durch einen Frieden gewesen wären, wird nicht anders können, als es beklagen. Hiermit fällt aber das Deklamieren gegen das sogenannte „Verbindungswesen" in nichts zusammen. Etwas anderes ist das Urteil darüber, ob man gut tat, zu diesem großen Zweck auch gefährliche Elemente, wie sie namentlich die Kreise der jungen Offiziere bargen, zu benutzen, und ο b n a c h d e r Z u r ü c k z i e h u n g d e r f r a n z ö s i s c h e n T r u p p e n die Verbindungen noch ein Bedürfnis waren. Unter diesem Gesichtspunkt muß nun auch das Komitee oder die Verbindung betrachtet werden, welche in Berlin bestand und zu der Schleiermacher damals zugezogen wurde. An der Spitze stand Graf Chasot. Als die eigentliche Seele desselben bezeichnet der freilich in diesem Punkte nicht unparteiische Steffens den damaligen Kammergerichtsassessor Eichhorn, den späteren preußischen Unterrichtsminister. Die Fäden, welche diese Verbindung unterhielt, liefen über

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ganz Norddeutschland; zum Teil mit englischem Gelde reisten Offiziere in den verschiedensten Teilen desselben; ein weitverzweigter Briefwechsel ward unterhalten. Was ihre Organisation betrifft, so erklärt Schleiermacher von ihr, daß „durchaus keine Form bestand und es mehrere Personen gab, von denen er nicht zu sagen gewußt hätte, ob sie Mitglieder waren oder nicht", „daß er bei ihren Zusammenkünften nie das leiseste Gefühl gehabt habe, als handle er seinem Grundsatz entgegen, nie in eine geheime Gesellschaft zu treten". „Ich rechnete mir's zur Ehre — so erzählt er in der Broschüre gegen Schmalz —, als sie mich in ihren Kreis zogen, gewiß mehr, um mir selbst einen erfreulichen Haltungspunkt mehr zu geben, als daß sie viel von mir erwartet hätten. Denn wenn ich gleich ganz in ihrem Sinne war, eo gestatteten mir meine Verhältnisse doch nicht, viel in diesem Sinne zu tun. Ich wage auch nicht, mich den anderen gleichzustellen, da sie alle ohne Ausnahme, auch die nicht vorher schon Soldaten waren, hernach, als es wirklich galt, für den König und die Befreiung des Vaterlandes ihr Leben darangewagt und manche Teure es auch geopfert haben." Die erste Andeutung seiner Beziehung zu dieser Gesellschaft findet sich am 7. August 1808. Seit dem Dezember hatte er sich in Berlin fest niedergelassen; als er nun eben im Sommer von einer Rügener Reise zurückgekehrt war, ward die Verbindung angeknüpft. „Viel Vertrauen und Liebe — so schreibt er damals — ist mir hier entgegengekommen, auch schon in dieser kurzen Zeit, von n e u e n u n d m e r k w ü r d i g e n S e i t e n , und was ich geweissagt habe, daß diesen Winter noch große Verwirrungen in Deutschland losgehen werden, davon sehe ich schon mehrere bedeutende Vorzeichen." Dann, einige Tage später, am 18. August 1808, abermals an seine Verlobte: „An dem, was mich jetzt am meisten bewegt und beschäftigt, mußt Du eben auch Anteil nehmen, und wenn Dir die Herz nichts gesagt hat, so fordere es ihr doch ab. Mir ahnt keine Gefahr, ich gehe keinen anderen Weg, als den meines Berufes, und an Mäßigkeit und Vorsicht fehlt es weder mir noch denen, welche im einzelnen mein Tun zu leiten haben. Es ist durchaus eine würdige, schöne, tadellose Rolle, die ich spiele, und was kann es Schöneres geben, als daß ich den Zustand der Dinge, auf dem das Glück unseres Lebens beruhen muß, selbst kann leiten und herbeiführen helfen. Der Himmel gebe nur, daß die Dinge einen solchen Gang gehen, d a ß d i e A u s f ü h r u n g d e s s e n , was b e s c h l o s sen i s t , wirklich kann unternommen werden, welches n u r u n t e r s o l c h e n U m s t ä n d e n g e s c h e h e n s o l l , u n t e r d e n e n es k a u m m i ß l i n g e n kann." — „Noch eins — fügt er dann am Schluß des Briefs hinzu — es kann sein, daß ich noch eine Reise nach Königsberg machen muß. Doch ist die Sache, die ich in sehr vieler 'Rück-

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sieht wünschen muß, noch sehr ungewiß; länger als drei Wochen hält sie mich wohl kaum entfernt." Acht Tage darauf befand er sich bereits, im Auftrag jener patriotischen Gesellschaft, in Königsberg.* Hier treten nun die vorhandenen Briefe ein. Wir versuchen ihre Resultate im Zusammenhang darzustellen. Diese Briefe führen uns in die verhängnisvolle Zeit, in welcher sich Preußens Stellung zum Krieg von 1809 entschied. Die Darstellung der damaligen Vorgänge, welche wir versuchen, wird die eine und andere Stelle unerläutert lassen müssen: zeigen doch die wiederholten Klagen über mangelnde „Musterhaftigkeit", „schlechte Dinte" und ähnliche, daß die Freunde selber nicht alles zu enträtseln vermochten. Das „am Rande" in dem Steffensschen Briefe deutet auf eine der von ihm selber beschriebenen Methoden, besondere geheime Mitteilungen zu verstecken; wahrscheinlich muß ein ausgeschnittenes Blatt über den Brief gelegt werden. Natürlich läßt sich dies nicht mehr ermitteln. Die aufregenden Nachrichten vom spanischen Volkskriege und seinen Erfolgen kamen im August und September 1808 trotz des Absperrungssystems von Napoleon, eine die andere drängend, nach Norddeutschland — Duponts Kapitulation bei Baylen, die Unruhen in Madrid, die Flucht Josephs, endlich der Rückzug der Franzosen über den Ebro. Unter dem begeisternden Eindruck dieser spanischen Nationalbewegung rüstete Österreich unter Stadion energisch. Man rechnete diesmal neben der Armee auf den Volkskrieg. Wenn es gelang, mit englischer Hilfe Norddeutschland zur Erhebung zu bringen, durch plötzlich gesammelte Massen bis in das Königreich Westfalen hinein die französischen Truppen zu vernichten: dann sah sich Napoleon dem verzweifelten Kampf von halb Europa gegenüber; alle westlichen Nationen von den schwedischen Nordküsten bis zur Südspitze Spaniens gegen ihn. Gelang es nicht, isolierte sich Preußen, dann schien diese Monarchie ein Spiel in der Hand Napoleons werden zu müssen; man mußte, wie Scharnhorst dem König vorstellte, wehrlos seinen Plan erwarten, „dem noch gebliebenen preußischen Staat eine andere Form zu geben und alle Nationalität auszulöschen, der regierenden Dynastie sich zu bemächtigen". Den Führern der preußischen Reformpolitik, Stein, Scharnhorst und Gneisenau, erschien in dieser Lage der Krieg unvermeidlich. Er er* Aus den Daten seiner damaligen Korrespondenz läßt sich bestimmen, daß sein Aufenthalt in Königsberg vom 25. August bis zum 22. oder 23. September dauerte. (In den Pr. Jbb. folgen nun die Briefe, die hier fortgelassen sind. Ihre Deckworte wurden von Dilthey entziffert.)

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schien ihnen aber auch nur mit der höchsten Anspannung aller Kräfte denkbar. Die Aktenstücke dieser Männer aus dem August 1808 atmen eine rücksichtslose Größe der Gesinnung, welche Preußen unbesiegbar gemacht hätte. Damals erklärte Stein, der Krieg müsse zur Befreiung von Deutschland, durch Deutsche geführt werden; auf den Fahnen des Landsturms müsse das ausgedrückt sein; bei seinem Beginn möge man den Adel aufheben, nur dem Verdienst in diesem Kriege solle er zuteil werden. Es sollte keiner Zeugnisse bedürfen, obwohl es nicht an solchen fehlt, daß diese preußische Regierung die Vorbereitungen und Rüstungen zu einer allgemeinen Erhebung Norddeutschlands, wie sie die Komitees und Verbindungen betrieben, nicht nur nicht mißbilligte: da sie auf d i e s e l b e n a l s auf e i n s d e r w e s e n t l i c h s t e n E l e m e n t e i h r e s P l a n s r e c h n e t e . In seiner klassischen „Darstellung der Lage von Europa" vom n . August 1808 sagt Stein: „Man muß die Nation mit dem Gedanken der Selbsthilfe vertraut machen, man muß gewisse Ideen über die Art, wie eine Insurrektion zu erregen und zu leiten, verbreiten und beleben. Hierzu werden sich mehrere Mittel auffinden und anwenden lassen, ohne daß die Regierung dabei tätig erscheint, die aber bei schicklicher Gelegenheit und unter günstigen Umständen diesen Geist wird benutzen können." Über diese Mittel waren besondere Mémoires ausgearbeitet. So weit waren unter Leitung der Regierung bereits die Vorbereitungen der Insurrektion gediehen, daß, als der König seine Zustimmung von der des Kaisers von Rußland abhängig machte, Stein und Scharnhorst auf eine schnelle Entscheidung drangen, „damit nicht ohne hinreichende Veranlassung das Leben von Menschen auf das Spiel gesetzt und der Staat kompromittiert werde". Denn bereits am 23. Juli hatte der König den General Götzen nach Schlesien geschickt, der dort — an der Grenze von Österreich und Preußen — Rüstungen ordnete, Verbindungen knüpfte, die geheimen Gesellschaften unter dem Tugendbund konzentrierte, um eine raschere einheitlichere Bewegung derselben zu ermöglichen. Wir sind über andere Gegenden bis jetzt weniger instruiert; aber Scharnhorsts und Gneisenaus Verbindungen liefen nach den verschiedensten Seiten. So war nun auch, im Einverständnis mit Götzen, der Regierungsassessor Bardeleben, ein sehr tätiges und wie es scheint zur Verhandlung geschicktes Mitglied des Tugendbundes, im August kurze Zeit in dem noch immer von den Franzosen besetzten Berlin gewesen, dort, wie sich Götzen ausdrückt, „die Kommunikation zu eröffnen". Seine Bemühung blieb erfolglos. Der Kriegsrat von Ahlefeld und der Geh. Rat Schmalz, welche er gewann, traten bald wieder zurück. Nur sein Schwager, der Geh. Sekretär Jochmus ward dauernd gewonnen und

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war für die Ausbreitung des Tugendbundes in lebhafter Tätigkeit. Wir zweifeln kaum, daß man auch, wie Bardeleben überall in Schlesien tat, mit dem vorhandenen patriotischen Komitee Verbindungen anknüpfte. Wahrscheinlich beziehen sich die Verhandlungen von Reimer und Schleiermacher mit Böckler (Jochmus oder einem anderen Mitglied des Tugendbundes), deren in den Briefen mehrmals Erwähnung geschieht, auf Versuche dieser Art. Schleiermacher und seine nächsten Freunde hatten zu der künstlichen Organisation des Tugendbundes mit seinen Kammern, Räten und Zensoren, seinem Überwachungssystem und seinen feierlichen Aufnahmeformeln kein Zutrauen. Was Stein und Scharnhorst in der obigen Äußerung an den König aussprachen, mußte das unter den Augen des Feindes tätige Berliner Komitee lebhaft empfinden: ohne einen bestimmten Plan der Regierung weitere Vorbereitungen zu treffen, die Offiziere in Aufregung zu erhalten, gefährliche Korrespondenzen zu führen, schien bedenklich. Schleiermacher erhielt den Auftrag, mit den in der Regierung befindlichen Freunden in Königsberg über die Vorbereitungen und Verbindungen Rücksprache zu treffen, sich über die Sachlage zu informieren, möglichst auf Entscheidung und Krieg zu drängen. Am 25. August, gerade in den Tagen, an welchen Scharnhorst und Stein in täglichen Gesprächen und Vorlagen, im lebhaftesten Kampf mit der Gegenpartei, das Mißtrauen des Königs in seine Nation und Österreich zu besiegen, sein Vertrauen auf Rußland zu widerlegen bemüht waren, kam er in Königsberg an. Es zeigt, wieviel Wert man auf das Berliner Komitee legte und wie gern man auch Schleiermacher sah, daß er Steins (Christs) „ziemlich genaue Bekanntschaft" in vertraulichen Gesprächen machen durfte, mit Gneisenau und Scharnhorst (Call und Mansfeld) konferierte. Auch die Königin (Quednows Frau) sprach er, und lernte die Prinzeß Wilhelm (seine Schwägerin), die mit ihrem Manne eine der edelsten Stützen der Patriotenpartei war, „eine der ersten und herrlichsten deutschen Frauen", kennen. Der Geist, der diese alle, Männer wie Frauen, durchdrang, war völlig entschieden; über die „Notwendigkeit des Hauptgeschäftes", wie er es bezeichnet, war hier nirgends ein Zweifel. Sein erster, verlorengegangener Bericht erregte im Berliner Kreise große Freude und Hoffnung. Aber dieser Geist war keineswegs der allein herrschende; Steins Ministerium befand sich schon damals, am 6. September, also vor der Koppeschen Affäre, in einer solchen Krisis, daß Schleiermacher diese Entscheidung (Christs conte courante) abwarten zu können glaubte. Es stimmt diese Auffassung Schleiermachers, der damals mit den Hauptpersonen persönlich zu tun hatte, mit der Notiz von Pertz, daß Stein schon vor

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dieser Briefangelegenheit, im September, von sehr hoher und zuverlässiger Hand eine Warnung erhalten habe. Über den eigentlichen Hergang dieses „Hauptsturms" sind wir bis heute noch nicht genauer unterrichtet. Es wird vielfach angedeutet, daß persönliche Intrigen beim König damals gegen ihn sehr täjtig gewesen seien; die politische Frage war, wie sie Schamhorst schon im August formulierte, daß der König sich entweder für die Kriegspolitik entscheiden und dann alle widerstrebenden Elemente aus der Regierung entfernen müsse („das Amt nicht länger im Unkraut liegen lassen") oder Stein und Scharnhorst, den faktischen Kriegsminister, entlassen, wenn er sich zu Napoleon und Alexander halten wollte. „Wird ein kräftiger Entschluß gefaßt — schrieb damals Stein —, so entferne man alle Freunde der Ruhe, damit nicht alles wieder gelähmt und in seiner fortschreitenden Bewegung aufgehalten werde." Die nächste Frage war, wie sich die Verhandlungen des Prinzen Wilhelm am Pariser Hofe gestalteten, für welche man von einer persönlichen Unterredung des Prinzen mit Napoleon immer noch günstigen Erfolg hoffte. Denn auch Napoleon schien in seinen Verwicklungen ein klares Verhältnis zu Preußen zu bedürfen. Am 10., 13. und 17. August fanden die wichtigen Unterredungen des Prinzen mit Champigny — da der Kaiser immer noch nicht in Paris erschien — statt. Auf diese Erwartung bezieht sich wohl die Briefstelle, daß man in Königsberg Nachricht über ein Gespräch zwischen dem lieben Manne (Napoleon) und unserem dortigen Freunde (Prinzen W.) erwarte, das am 20. habe vorfallen sollen. Der Gesandte schlug eine Art Beitritt zum Rheinbunde vor, welchen der König mit Entrüstung ablehnte, und erhöhte mit unerhörter Dreistigkeit abermals die pekuniären Forderungen. Alle Hoffnung des Königs war nun auf den Kaiser Alexander gerichtet. Wenn irgendein einzelner die Schuld der langjährigen Ohnmacht Europas Napoleon gegenüber zu tragen hat, so war es dieser verschlagene und zugleich weichherzig-phantastische Mann mit seinen ungeheuren Plänen, welche die Ostseeprovinzen und das osmanische Reich umspannten. Auch damals, in einer Lage Europas, welche endlich gestattete, Frankreich in die Grenzen seiner Macht zurückzuwerfen, wurde er von Napoleon durch die „großen Ideen von Tilsit" für Frankreich gewonnen. Er ward der Keil, der in die sich vorbereitende Allianz von England, Schweden, Preußen und Österreich getrieben ward. Während seiner dreitägigen Anwesenheit, in welcher Stein noch einmal — vergebens — mit der ganzen einschneidenden Wucht seines Verstandes ihm und dem König die Lage vorstellte, erhielt er es vom König, daß dieser ihm die Verhandlungen für eine Ermäßigung der

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französischen Forderungen in Erfurt überließ. Was dies bedeutete, durchblickt der Schleiermachersche Bericht, der am Tage der Abreise Alexanders (Quednows Gast) geschrieben ist, vollkommen. Je besser Alexander die preußische Kontributionssache auf dem Erfurter Kongreß (der Erf. Messe) ordnet, desto mehr sinken die Hoffnungen, daß der König sich zum Krieg entschließt (der Herde Brot gibt). Seinen positiven Gegenplan vermögen wir nicht zu enträtseln. Er wünscht, daß Alexander sich so eng mit Napoleon in Erfurt verbinde, daß die Engländer (Freunde über See) imstande seien — was das folgende betrifft, so wollen wir phantastischen Vermutungen keinen Raum geben. Soviel ist gewiß: er fürchtete, daß nach diesem Entschluß des Königs die Leitung der Dinge in die Hände der Gegner fallen müsse (sie würden erbärmliches Unkraut davon haben). Am Tage nach der Absendung des zweiten Königsberger Briefs, welcher diese Befürchtungen aussprach, am 21. September, erhielt man in Königsberg den Abdruck des Steinschen Briefes im Moniteur, mit dem theatralisch drohenden: „als ein Denkmal der Ursachen des Gedeihens und des Sturzes der Reiche." Schleiermachers Ausdruck, „nachdem der Hauptsturm glücklich überstanden gewesen sei, habe man Stein durch e i n e e l e n d e I n t r i g e " verloren, stimmt genau mit dem des Ministers Reden: „Sie sind das Opfer einer bestimmten weitangelegten Trame" und liefert, da die Freunde in Berlin wohl gut über eine in Berlin sich abspielende Geschichte unterrichtet waren, ein neues Zeugnis für den alten Verdacht gegen die damalige Kreuzzeitungspartei, daß sie in dieser Sache mit Soult kooperiert habe. Steins Ministerium war von einem Wort Napoleons abhängig. Um so eifriger betrieb die Patriotenpartei die Entscheidung für den Krieg, da auf Steins Beistand nicht mehr lange zu rechnen war. Der Schwerpunkt der Verhandlungen lag in der Verständigung mit Österreich, welche vorzugsweise von Schlesien und Prag aus von Götzen durch Agenten betrieben wurde; sie war dadurch besonders schwierig, da man sich weder Österreich gegenüber binden, noch Frankreich gegenüber kompromittieren durfte, und hierin lag vielleicht die größte Schwäche des ganzen Plans. Aber es galt daneben, die Verbindung in Bewegung zu halten und eine Übersicht über die französischen Truppen zu gewinnen, während sich in Erfurt die Geschicke Österreichs und Preußens entschieden. Unter den Tätigen war auch wieder Schleiermacher. Erst am 22. oder 23. September von Königsberg zurückgekehrt, verabredete er mit seinen alten Halleschen Freunden Steffens und Blanc eine Zusammenkunft auf dem Wege zwischen Berlin und Halle, in Dessau. Im entscheidenden Augenblick die Studenten in Halle zu gewinnen und so auch hier für die westfälische Insurrektion

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einen festen Anhalt zu erhalten, war natürlich von großer Wichtigkeit. Wie denn auch Chasot später, vor dem Ausbrechen des Dörnbergschen Aufstandes, in Halle war und die in Dessau geknüpften Verbindungen benutzte. Daneben konnte man von Dessau aus ohne Gefahr über den Gang des benachbarten Kongresses und die Bewegungen der dortigen Truppen Nachrichten einziehen. Mit Schleiermacher zusammen waren dort sein Freund Georg Reimer und Leo v. Lützow, der von da „in Geschäften" weiterreiste. Am 14. waren die Freunde in Dessau. Es war der Jahrestag der Jenaer Schlacht, und es ist bekannt, daß Napoleon, Prinz Wilhelm zur Seite, auf der Ebene des Schlachtfeldes an diesem Tage ein Hasenjagen abhalten ließ. Es wäre wie ein Spruch des antiken Fatums gewesen, wäre damals der Imperator im Übermut des Glückes auf dieser Ebene unter den Kugeln eines Mörders gefallen. Nimmt man von Steffens Erzählung das, was wohl der Phantasie der norwegischen Novellen angehört: so bleibt doch das Faktum, daß der Plan der beiden wahnsinnigen Offiziere, welche diese Absicht hegten, irgendwie dem Berliner Komitee mitgeteilt worden war. Vielleicht, als es bereits zu spät war, dies zu hindern. Vielleicht auch hofften die beiden Freunde, indem sie nachreisten, es noch verhindern zu können. Besser als jede Reflexion zeigt freilich dies Faktum, welche gefährlichen skrupellosen Elemente aus der verzweifelten Lage Deutschlands aufwuchsen und sich an die kühnen, aber reinen Pläne dieser edlen Männer anhefteten. Inzwischen begannen die Franzosen doch, vielleicht von deutschen Gegnern der Reformpartei gewarnt, auf die Stimmungen ein wachsames Auge zu haben. Unter den bei Marschall Davoust Denunzierten, welche von ihm eine Warnung erhielten, befand sich auch Schleiermacher. „Sie wissen ja — erzählt er sehr hübsch in seiner Gegenschrift gegen Schmalz —, daß er mich auch kurz vor seinem Abzüge (27. November) rufen ließ als eine tête chaude et ardente — schrecklich zu hören ! aber neben mir brannte zu meinem Trost ebenso lichterloh das Haupt unseres Propstes Hanstein. Als ich ihm nun, um zu erfahren, ob er etwa einige Notiz bekommen hätte von der Gesellschaft, deren Sie erwähnen, immer enger zu Leibe ging, was er denn von mir wüßte, und er sich immer nur auf seine Tablettes berief, entgegnete ich, ich begriffe eben nicht, wie ich auf diese käme, denn ich wäre ein ohne alle öffentliche Wirksamkeit lebender, auf seinem Studierzimmer emsiger Gelehrter, kurz, ich sagte ihm gerade heraus, ich wäre ein privatisierender Gelehrter, auf den es am wenigsten paßte, daß er sich an ihn halten wolle, wenn die Regierung, wie er sagte, Torheiten beginge." — „Das Ganze war denn nichts, als daß er uns eine Rede hielt, wir wären notiert als hitzige Köpfe und Unruhstifter. Ich

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mußte noch den Dolmetscher abgeben bei den anderen und habe meine Rolle sehr ernsthaft gespielt." Am 24. November ward Stein entlassen. „Es drückt mich vieles recht schwer — schrieb Schleiermacher darüber — in den allgemeinen Angelegenheiten. Unser guter König hat sich überraschen lassen von einer elenden Partei, und sich zu einem Schritt verführen, der alles aus dem sicheren Gang, in den es eingeleitet war, wieder herausbringt. Es stehen zwar noch immer treffliche Männer" — er dachte besonders an seinen Freund Dohna, zu dem er großes Zutrauen hatte — „an der Spitze, aber wer weiß, wie lange sie sich werden halten können gegen die schlechten, die den König immer aufs neue verstrickt halten, und so kann es sein, daß das Vaterland zum zweiten Male an den Rand des Verderbens geführt wird, wenn n i c h t d i e B e s s e r e n es d u r c h M a ß r e g e l n zu r e t t e n s u c h e n , w e l c h e i m m e r a u c h s e h r m i ß l i c h b l e i b e n . Ich kann Dir schriftlich nichts Ausführlicheres mitteilen, selbst wenn auf die größte Sicherheit zu rechnen wäre." Aber der alte Glaube an Preußen, in dem sein unmittelbares Lebensgefühl und seine ganze geschichtliche Ansicht zusammentrafen, wich auch bei diesem neuen Rückgang der Verhältnisse nicht aus seiner Seele. „Niemals kann ich dahin kommen, am Vaterlande zu verzweifeln; ich glaube zu fest daran, ich weiß es zu bestimmt, daß es ein auserwähltes Werkzeug und Volk Gottes ist. Es ist möglich, daß alle unsere Bemühungen vergeblich sind und vorderhand harte und drückende Zeiten eintreten — aber das Vaterland wird gewiß herrlich daraus hervorgehen in kurzem." Es war recht in seiner Art, der es selber bekannte, daß er weder gegen sich noch andere die gewöhnliche Weise von Mitgefühl bei äußeren Unfällen habe, und bei dem es nicht Phrase, sondern frühgebildeter Grundzug des Wesens war, das äußere Geschick nur als Stoff für das Handeln zu betrachten, daß er über Steins Verfolgung schrieb: „sie hat mich gar nicht alteriert; ich hatte zwar gar .nicht daran gedacht, aber als es kam, war es mir als etwas ganz Bekanntes und Erwartetes. Nur das hat mir erstaunlich leid getan, daß er, was gar nicht nötig gewesen wäre, so schnell abgereist ist, und daß ich ihn nicht vorher noch gesprochen habe. Ich habe ihm sagen lassen, ich gratulierte ihm, denn es wäre die größte Ehre, die einem Privatmanne widerfahren könnte, für einen Feind der großen Nation erklärt zu werden." Stein hatte vor seiner Abreise auch den Eintritt des Grafen Alexander von Dohna in das Ministerium vorgeschlagen. Er war der älteste Sohn jener Familie, in welcher Schleiermacher einst ein paar glückliche Kandidaten jähre als Erzieher verlebt hatte; wie er mit der ganzen Familie in den besten Beziehungen blieb, so war er mit Alexander

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herzlich befreundet. Durch ihn, als Minister des Innern, durfte er auf den Gang der Regierungspolitik einigen, wenn auch bei Dohnas wohlwollendem, aber unsicherem Charakter vielfach durch andere Einflüsse aufgewogenen Einfluß üben. „Dohna — schreibt er am 6. Januar — setzt mich in rasende Bewegung; er möchte posttäglich die ausführlichsten Briefe von mir haben, und ich kann kaum anders als willfahren, da ich ihm über Gegenstände der inneren Verwaltung schreiben kann, die für mich vom höchsten Interesse sind." Wenn Dohna, nachdem ihn Altenstein in den ersten Wochen der Geschäftsführung völlig okkupiert hatte, doch allmählich Mißtrauen gegen denselben faßte und sich mehr auf Beymes Seite neigte, so war sicher Schleiermachers Einwirkung nicht ohne Einfluß auf diese veränderte Stellung. In den vorhandenen Briefen nimmt Schleiermacher durchaus die Stellung des älteren Ratgebers. Der Weg der Reform ward wenigstens nicht verlassen; aber die Partei der Patrioten verlangte zugleich energische Schritte in der äußeren Politik, da der Krieg zwischen Österreich und Frankreich immer näher rückte. Solange die französischen Truppen noch in den preußischen Provinzen standen, war der Plan, beim Ausbruch des österreichischen Krieges loszuschlagen. „Wenn der Krieg mit Österreich losgebrochen wäre, ehe die Franzosen diese Provinzen geräumt hätten: so würde es auch hier ernsthafte Auftritte, ich zweifle nicht von herrlichem Erfolg, gegeben haben." Am 10. Dezember 1808 waren die ersten preußischen Truppen unter Schill in Berlin eingezogen. Damit endete ein Zustand, welcher dem dortigen Komitee ein Recht zu selbständigem Handeln gegeben hätte. Und Schleiermacher war bei seiner scharfen Entschiedenheit doch nicht der Mann, die Grenze, die hier bestand, zu mißachten. „Nun aber — so erklärt er — kann und darf man der Regierung nicht vorgreifen." Aber ein anderer verhängnisvoller Entschluß der Patriotenpartei tritt in dem eben benutzten Brief vom 11. Februar 1809 hervor. „Wenn Preußens böser Dämon siegte", wenn man sich zum Krieg nicht zu entschließen vermöchte: „dann muß wenigstens der gute Geist des übrigen nördlichen Deutschlands das seinige tun." Es war die unselige Zeit der Petersburger Reise des Königs, eine Zeit, in der auch der edle Gneisenau den Plan faßte, seine bisherige Stellung zu verlassen und in Prag in einer deutschen Legion eine Zuflucht zu eröffnen für die letzten Reste des preußischen Geistes. Preußische Unterhändler gingen von dem Berliner Komitee aus nach England, dessen Unterstützung zu sichern. Es war das ein Anschlag, der auf der Hoffnung beruhte, an der österreichischen Armee eine Basis für einen norddeutschen Aufstand zu gewinnen und Preußen in die allgemeine

Norddeutscher Aufstand 35 Bewegung mit hineinzuziehen. Beide Voraussetzungen erwiesen sich als Täuschungen; und so nahmen die nunmehr isolierten Erhebungen in Hessen und Magdeburg, sowie der Schillsche Zug, ihre tragische Wendung. Mehrere Data geben die Verbindungsfäden der Aufstände mit der patriotischen Gesellschaft in Berlin an die Hand. Chasot befand sich vor dem Ausbruch der Dörnbergschen Insurrektion in Halle; Eichhorn, Schleiermachers Freund, nach dem Briefe von Steffens ebenfalls; seine Absichten dort bezogen sich offenbar auf den Fall, daß der Aufstand in Kassel glücke; dann sollte einer in Halle folgen. Eichhorn ging dann nach Hessen, wohin er auch einen Brief von Steffens an Martin, einen hessischen Beamten, mitnahm, mit welchem Steffens Verbindung unterhielt; nach einem Brief von Rumohr (Lübecker Freund), der an einer Lübecker patriotischen Gesellschaft teilgenommen hatte, nach Prag hatte fliehen müssen und von dort aus mit Hessen in Verbindung stand, war auch Martin bereits bedroht. Von da wagte sich dann Eichhorn nach Kassel selbst, wo er zwei Tage vor dem Losbruch ein Gespräch mit DÖrnberg hatte. Eichhorn folgte dann dem Schillschen Zug, nebst Leo v. Lützow, dem Begleiter Schleiermachers auf der Dessauer Reise. Über den Zweck Eichhorns — denn dieser ist offenbar mit der Stelle gemeint — sprach sich Schleiermacher später in der Broschüre gegen Schmalz aus: ,,Ist einer aus dieser Gesellschaft dem Schill nachgegangen, um das tolle Unternehmen minder gefährlich zu leiten, und hat seine ganze bürgerliche Existenz an die gute Absicht gesetzt, ein paar hundert brave Männer, deren Kräfte in besseren Zeiten dem Staat noch nützlich werden konnten, von einem eitlen Verderben zu retten, so verdient er nicht, und noch weniger eine Gesellschaft, die niemanden zwang und niemanden abhielt, die Beschuldigung, etwas gegen den Willen des Königs unternommen zu haben." Mit dem Erlöschen dieser Aufstände und dem Aufgeben der englischen Landung sanken die Hoffnungen der Nationalpartei zusammen; bis zum letzten Augenblick hatte sie ein Mann wie Stein mit eisernem Willen festgehalten. Erst 1811 war wieder ein Moment, in welchem Schamhorst und Gneisenau die alten Verbindungen wieder aufnahmen und auch Schleiermachers Tätigkeit vorübergehend durch einen Auftrag in Schlesien wieder in Anspruch genommen ward. Inzwischen eröffneten sich diesem reichen Geiste andere Wege, für die Erneuerung Preußens zu wirken. Die Stellung gestaltete sich, in welcher er dann Jahrzehnte hindurch auf die politisch-kirchlichen Verhältnisse Preußens Einfluß gewinnen sollte. Von 1809 ab sehen wir ihn als einen der Mitbegründer der Universität, als den gefeierten Prediger der Dreifaltigkeitskirche, als energisches Mitglied des Unter-

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richtsdepartements tätig. In diesem Jahr führte er Henriette v. Willich heim. Alle Kreise seines Lebens, wie er sie in den Monologen mit prophetischer Ahnung umschrieben hatte, waren nun erfüllt. Schon damals war ihm sein Ziel klar vor Augen gewesen. Wenn Hegel zur selben Zeit die ungeheure Aufgabe ergriffen hatte, vom philosophischen Gedanken aus mit enzyklopädischer Allseitigkeit das menschliche Wissen zu umfassen, so war schon damals das seine U n i v e r s a l i t ä t des L e b e n s — das Ziel einer großen ethischen Natur. Es war jetzt erreicht: „Wissenschaft und Kirche, Staat und Hauswesen — weiter gibt es nichts für den Menschen auf der Welt, und ich gehörte unter die wenigen Glücklichen, die alles genossen hätten. Freilich ist es nur in dieser neuesten Zeit, wo die Menschen alles trennen und scheiden, daß eine solche Vereinigung selten ist; sonst war jeder tüchtige Mensch wacker in allem, und so muß es auch werden, und u n s e r e g a n z e B e m ü h u n g g e h t d a r a u f , d a ß es so werde." Auf dieser Grundrichtung seiner Natur beruhte nun das Charakteristische sowohl seines praktischen Einflusses auf den Staat von seiner jetzt gewonnenen Stellung aus, als auch seiner politischen Theorie, deren Ausbildung seit 1808 damit Hand in Hand ging. So fand er in seiner Predigerstellung eine Handhabe, für die Freiheit der Kirche zu wirken. So hat er von den ersten Plänen zur Gründung der Berliner Universität ab für die Selbstverwaltung derselben gestritten. Mit dieser Richtung stand er so gut Fichte und Hegel, als dem preußischen Beamtentum entgegen. Nichts bezeichnet diese seine Stellung schärfer, als die Geschichte seines Anteils an der Begründung der Berliner Universität. Mit dieser werden wir zu beginnen haben, wenn wir demnächst versuchen, seine politische Wirksamkeit und sein politisches System, wie sie sich in d e r z w e i t e n H ä l f t e s e i n e s L e b e n s entwickelten, in ihren Hauptzügen darzustellen.

DIE REORGANISATOREN DES PREUSSISCHEN STAATES (1807-1813)

I. DER FREIHERR VOM STEIN Die Geschichte Deutschlands ist erst in unseren Tagen an einem Punkte angelangt, an welchem sie durchschaut und dargestellt werden kann. Man bemerkt das heute, wenn man auch die besten Schriften, wie Häussers treffliche Deutsche Geschichte, zur Hand nimmt: es ist etwas Pathetisches und Unbestimmtes in ihnen, das uns schon ganz fremdartig vorkommt. Wir sind die Letztgeborenen in der großen europäischen Völkerfamilie. Das fühlt man, wenn man etwa Voltaires oder Machiavellis reife und illusionslose Wahrheit vergleicht mit dem dunkel und mächtig Vorandringenden in unseren großen Dichtern und Denkern. Das fühlte man, wenn man in einem Eisenbahnwagen zwischen den durchgearbeiteten Gesichtern der kriegsgefangenen Franzosen, in welchen Bewußtsein aller Leidenschaften und aller Winkel des Lebens sichtbar ist, das, ich möchte sagen, naive Gesicht eines deutschen Soldaten erblickte. Aus der furchtbaren Sündflut des Dreißigjährigen Krieges, in welcher Wohlstand, frisches, heiteres Gemütsleben, kriegerische Kraft, reine Sitte und Sprache untergegangen waren, erhob sich Deutschland durch das Zusammenwirken höchst verschiedenartiger Kräfte. Die staatbildende Kraft Preußens verknüpfte sich mit der Entwicklung des Unterrichts, der Wissenschaften und des freien, schöpferischen Gedankens. Aus diesem Zusammenwirken heraus vollzog sich die Reorganisation Preußens seit 1807. Sie hat unter dem Gesichtspunkt der Ereignisse seit 1866 eine ganz neue Bedeutung erhalten. Wir sehen heute erst, welches die Leistungsfähigkeit des so reorganisierten Staates war. Wir sehen erst jetzt, welches die Tragweite der einzelnen Teile dieser sich in wenigen Jahren vollziehenden Umgestaltung war. Will man die jetzige Stellung Deutschlands erkennen, so muß man zunächst in die Werkstätte jener Jahre blicken. In ihr schmiedeten Helden Pflugschar und Waffen, durch die wir stark wurden.

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Die Reorganisatoren des preußischen Staates

Es ist nicht meine Absicht, das Leben der Männer in gleichmäßigem Gang zu erzählen, welche dies Werk taten. Ich widerstehe dem Reiz, den mannigfachen, zuweilen dem Abenteuerlichen sich nähernden Lebensschicksalen eines Stein oder Gneisenau nachzugehen. Denkwürdig ist freilich der Unterschied ihres Lebens von dem unserer gegenwärtigen Führer in Politik und Krieg. Sie bezahlten ihre geschichtliche Größe durch ein vor und nach jenen mächtigen Jahren zerstücktes, in bangen. Erwartungen, herben Enttäuschungen, großen Verlusten verbrachtes Leben. Ich werde den Gang ihres Lebens nur in flüchtiger Skizze darlegen, dagegen ihren Anteil an dem großen Werke der Grundlegung unseres heutigen politischen Organismus genau und gründlich hinzustellen den Versuch machen. Das Leben Steins ist in vielen Büchern populär geschildert worden. Das, was er wirklich für die Reorganisation Preußens leistete, ist in Pertz' umfassender, vielbändiger Sammlung von Denkschriften und Briefen enthalten; eine einfache faßliche Darstellung existiert nicht. Um diese aber ist es mir zu tun. Vom 7. bis 9. Juli 1807 war in Tilsit der Friede verhandelt worden, durch welchen Preußen auf die Hälfte seines Umfangs zurückgeführt und damit aus der Zahl der Großstaaten gestrichen wurde. Rings umlagerten dies Land der Rheinbund, das Königreich Sachsen, welchem auch das Herzogtum Warschau untergeordnet war, das Königreich Westfalen: drei Schöpfungen Napoleons, alle drei berechnet, Preußen in Schach zu halten. Preußen selbst blieb besetzt von französischen Truppen, bis die Kriegsentschädigungssumme von 150 Millionen Ta lern bezahlt sei. Es ist interessant, Nationen, die in ähnlicher Lage sich befinden, miteinander zu vergleichen. Preußen hatte damals nach den raschen Schlägen, welche durch keinen Erfolg mehr ausgeglichen werden konnten, sofort, ohne weitere Experimente zu machen, den Frieden angenommen, so hart derselbe war, vielleicht der härteste, der je in gleicher Lage einem Lande aufgelegt wurde. Es untersuchte die Ursachen dieses jähen Falles ohne selbstgefällige Phrase oder Beschönigung. Es reorganisierte und erwartete dann die Gelegenheit, den Krieg wieder zu beginnen. Dies alles tat es unter Bedingungen, die nur den Mutigsten noch eine Aussicht auf Erfolg ließen. Und der Mann, von dem allein man hoffte, daß er diese Reorganisation zu leiten vermöchte, war der Freiherr vom Stein. Kein Jahr war vergangen, seitdem (im Januar 1807) ihm der König selber geschrieben hatte: ,,Sie sind als ein widerspenstiger, trotziger, hartnäckiger und ungehorsamer Staatsdiener anzusehen, der, auf sein Genie und seine Ta-

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lente pochend, weit entfernt, das Beste des Staates vor Augen zu haben, nur durch Kaprizen geleitet, aus Leidenschaft und aus persönlichem Haß und Erbitterung handelt." Er hatte in einigen formlosen und beleidigenden Zeilen seinen Abschied erhalten. Seine Bitte um ordnungsmäßige Entlassung war ohne Erfolg und ohne Antwort geblieben. Nun schrieb ihm Hardenberg: „Sie sind in der Tat der einzige, auf den alle gute Vaterlandsfreunde ihre Hoffnung setzen." Die edle Prinzessin Louise schrieb : „Auf Sie, mein lieber Stein, wenden sich alle unsere Blicke in diesen traurigen Augenblicken; von Ihnen hoffen wir Trost und Vergessen der Unbilden, welche Sie von uns entfernt, und deren sich zu erinnern Sie zu großmütig sein werden, zu einer Zeit, wo derjenige, der Sie beleidigt hat, nur noch Ihre Teilnahme und Ihre Hilfe verdient." Stein kam sogleich, ohne irgendeine Bedingung über seinen Geschäftskreis zu stellen. Ein kurzer Rückblick scheint erforderlich, wie der Mann sich gebildet hatte, auf welchem, nach dem Urteil aller Beteiligten, die Hoffnung beruhte, den so verkleinerten und geschwächten preußischen Staat wieder leistungsfähig zu machen zu neuem Kampf. Heinrich Friedrich Karl vom Stein war am 26. Oktober 1757 geboren, auf der Burg zu Nassau an der Lahn, aus einem uralten reichsfreiherrlichen Geschlechte Frankens. Er hatte den gewöhnlichen Weg junger Adeliger auf Universitäten und Reisen gemacht. Die Eltern hatten ihn, ob er gleich der jüngste der Söhne war, zum Stammhalter auf den Gütern bestimmt. Er war in den preußischen Staatsdienst getreten in den letzten Jahren Friedrichs des Großen: denn er gehörte zu den wenigen erlesenen Geistern, welche, wie Gneisenau, auch des alternden Königs Sonne noch unwiderstehlich anzog. In mannigfachen Zweigen der preußischen Verwaltung bildete er sich nunmehr aus. Seit 1793 war er Präsident der märkischen Kriegs- und Domänenkammer. Seit 1804 war er Minister für das Akzise-, Zoll-, Fabriken- und Handelsdepartement in Berlin. So war er rasch, aber auf Grund genauer Geschäftserfahrung, zum Ministerium in seiner Branche aufgestiegen, als Jena und die darauffolgenden furchtbaren Schläge eintraten. Dies muß beachtet werden, will man die Stellung verstehen, welche er zu der Reorganisation der inneren Zustände Preußens, andererseits aber zu den umfassenderen Fragen der auswärtigen Politik einnahm. Ihm war, wie allen gründlichen Charakteren, Dilettantismus das Verhaßteste. Mit Männern verschiedener sittlicher Grundsätze hat er wohltätig zusammen gearbeitet, den Dilettantismus verfolgte er schonungslos. Er war der gegebene Mann für die Reorganisation der inneren Zustände Preußens. Diese hatte er mit genialem Blick und unermüdlicher Arbeit studiert. In die äußere Politik trat er spät ein. Und er würde es nie Dilthey, Gesammelte Schriften XII

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getan haben unter gewöhnlichen Verhältnissen. Aber mit einem Schlage waren für die auswärtigen Angelegenheiten zwei Faktoren entscheidend geworden, welche er in hohem Grade besaß: energischer Charakter und das Vermögen, die inneren Kräfte der Staaten richtig zu beurteilen und gegeneinander abzuwägen. Dagegen waren die Überlieferungen des Rechts und der Formen in ihrem Werte gesunken. Trotzdem griff Stein hier nicht mit so folgerechtem, sicherem Zusammenhang ein als in den inneren Reorganisationen. Jene seine Tätigkeit auf der großen Bühne der europäischen Politik war glänzender; diese seine Reorganisationstätigkeit war als Leistung weit vollendeter und tadelloser. In jener Tätigkeit ist er durch Vorgänger und durch einen Nachfolger überboten worden; in dieser steht er allein da in seinem Geschäftskreis. Was er unvollständig zurückließ, ist bis heute noch nicht vollendet worden. Die erste Forderung, welche Stein stellte im Interesse der Reorganisation Preußens, betraf den Sturz der Kabinettsregierung, die Aufrichtung einer einheitlichen, folgerichtigen Regierung durch den König und den Staatsrat der Minister. Sie ward gestellt nach der politischen Niederlage dieser Kabinettsregierung, welche Haugwitz am 15. Februar 1806 durch seinen Vertrag mit Napoleon besiegelte: Preußen ward an diesem Tage politisch gänzlich isoliert. Sie ward erneut nach der militärischen Niederlage, als in Königsberg die Regierung neu gebildet wurde und der König Stein das Ministerium des Auswärtigen anbot. Als dieser Schritt die formlose und beleidigende Entlassung Steins in seinem Gefolge hatte, ward sie erst nach seiner Wiederberufung allmählich durchgesetzt. Mit markigen Zügen entwirft Stein in seiner ersten Denkschrift die Grundzüge der Regierungsgeschichte in Preußen: eine Stelle, deren Wortlaut niemand ungelesen lassen darf. „Friedrich Wilhelm I. herrschte selbständig, beratschlagte, beschloß und führte aus durch und mit seinen versammelten Ministern. Er bildete die noch vorhandenen Verwaltungsbehörden und regierte mit Weisheit, Kraft und Erfolg. Friedrich der Große regierte selbständig, verhandelte und beratschlagte mit seinen Ministern s c h r i f t l i c h und durch U n t e r r e d u n g , führte durch sie aus, seine Kabinettsräte schrieben seinen Willen und waren ohne Einfluß. Er besaß die Liebe der Nation, die Achtung seiner Bundesgenossen, das Zutrauen seiner Nachbarn. Friedrich Wilhelm II. regierte unter dem Einfluß eines Favoriten, seiner Umgebungen, sie traten zwischen den Thron und seine ordentlichen Ratgeber.

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Gegenwärtig verhandelt, beratschlagt und beschließt der Regent mit seinem Kabinett, dem mit diesem affiliierten Grafen von Haugwitz, und seine Minister machen Anträge und führen die in dieser Versammlung gefaßten Beschlüsse aus. Es hat sich also unter der jetzigen Regierung eine neue Staatsbehörde gebildet. Diese hat k e i n g e s e t z l i c h e s und ö f f e n t l i c h anerkanntes Dasein; sie verhandelt, beschließt, fertigt aus in der Gegenwart des Königs und im Namen des Königs. Sie hat alle Gewalt, die endliche Entscheidung aller Angelegenheiten, die Besetzung aller Stellen, aber keine Verantwortlichkeit, da die Person des Königs ihre Handlung sanktioniert. Den obersten Staatsbeamten bleibt die Verantwortlichkeit der Anträge, der Ausführung, die Unterwerfung unter die öffentliche Meinung. Alle Einheit unter den Ministern selbst ist aufgelöst. Der Monarch selbst lebt in einer gänzlichen Abgeschiedenheit von seinen Ministern." Und nun wendet sich die Denkschrift schonungslos zur Analyse der Personen, welche das damalige Kabinett des Königs bildeten. Man erwäge, daß dies noch vor der militärischen Niederlage geschrieben ist, in dem Gefühl, daß der Staat so dem Verderben entgegengehe. Sie schildert Beyme, einen talentvollen, arbeitsamen Mann, „aber das neue Verhältnis, in welches er als Kabinettsrat trat, machte ihn übermütig und absprechend, die gemeine Aufgeblasenheit seiner Frau war ihm nachteilig, seine genaue Verbindung mit der Lombardschen Familie untergrub seine Sittenreinheit." Alsdann Lombard selber: „Er ist physisch und moralisch gelähmt und abgestumpft, seine Kenntnisse schränken sich auf französische Schöngeisterei ein. Seine frühe Teilnahme an den Orgien der Rietzschen Familie, seine frühe Bekanntschaft mit den Ränken dieser Menschen haben sein moralisches Gefühl erstickt." Endlich der dem Kabinett affiliierte Minister Haugwitz: „Sein Leben ist eine ununterbrochene Kette von Verschrobenheiten oder von Äußerungen von Verderbtheit." Die Umgestaltung der obersten Leitung des preußischen Staates gelang erst, nachdem die Ereignisse selber eine vernichtende Kritik an der Kabinettsregierung geübt hatten. Den 30. September 1807 kam Stein, in das Ministerium vom König zurückgerufen, während vorher die Forderungen dieser Denkschrift ihn mit Friedrich Wilhelm III. entzweit hatten, nach Memel und fand dort den flüchtigen Monarchen niedergedrückt, überzeugt, daß ein unerbittliches Verhängnis ihn verfolge, geneigt, in den Privatstand zurückzutreten. Stein legte einen Plan der Wiederherstellung Preußens vor: wenn der König ihn annehme und Beyme entlasse, war er bereit, die oberste Leitung aller Zivilangelegenheiten zu übernehmen. Nach schwerem Kampf entschloß sich der König, Beyme zum Präsidenten des Kammergerichts in Berlin

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zu ernennen. Immer noch zögerte er dann, ihn aus seiner Nähe zu lassen. Es kam ein bedenklicher Augenblick, in welchem die Königin selber Stein schreiben mußte: „Ich beschwöre Sie um König, Vaterland, meiner Kinder, meiner selbst willen um Geduld." Den i. Juni 1808 endlich ward das bisherige Kabinett aufgelöst. Ein großer Schritt dem gegenwärtigen verfassungsmäßigen Königtum entgegen war damit geschehen. Aber in dem von französischen Truppen zum Teil besetzten Preußen war in diesem Augenblick die Feststellung einer dauernden Organisation der oberen Behörden nicht möglich. Und doch war das Prinzip, welches hier herrschte, gänzlich veraltet, und Stein war vom ersten Augenblick ab entschlossen, es aufzugeben. Die Geschäfte waren nicht nach den Sachen, sondern nach den Provinzen verteilt; Provinzialminister leiteten sie. Strenge Durchführung großer leitender Prinzipien der Verwaltung durch die ganze Monarchie war hierdurch gehemmt, fachmäßige Behandlung der Geschäfte vielfach beeinträchtigt. Die Verwaltungseinrichtungen, welche Stein nunmehr traf, hatten nur einen provisorischen Charakter. Erst nach seinem Austritt aus dem Ministerium kam es zu der ersten dauernden Organisation nach Steins Plänen. Dies waren Veränderungen, welche praktischer Scharfblick notwendig auf die eine oder andere Weise durchführen mußte, nachdem einmal durch Steins mächtige Persönlichkeit die Kabinettsregierung gestürzt war. Aber Steins geniale schöpferische Kraft begann nun den Umbau des Staates vom Grunde aus. Er legte den Grund und sah bereits auf demselben sich ein verfassungsmäßiges preußisches Königtum im Geiste erheben. Zwei große Gebiete der Reformen müssen hier auseinandergehalten werden. Die Verteilung von Besitz, Recht und Pflicht zwischen den einzelnen oder größeren Gruppen konstituiert die Gesellschaft. Auf ihrer breiten Basis erhebt sich der Staat. Auf beiden Gebieten bedurfte es umfassender Reformen. Die Reform der Gesellschaft war in ihrer Notwendigkeit erkannt, bevor Stein auftrat. Galt es doch hier nur die Arbeit, welche in Frankreich die Revolution unter Strömen von Blut, mit sich überbietenden radikalen Edikten, in einer von gegenseitigem Haß zerfleischten Gesellschaft getan hatte, in Deutschland nicht ungenutzt zu lassen. Dies war von Anfang an eine Notwendigkeit der inneren Politik. Es ward, seitdem Napoleon das neue Recht der Revolution kodifiziert und in die von ihm abhängigen Teile Deutschlands getragen hatte, zu einer Notwendigkeit der äußeren Politik. Preußen, wollte es existieren, durfte nicht das Probehaltige in der neuen Gesetzgebung einfach zurückweisen. Welcher aber war hier der Hauptpunkt ? Alle europäischen

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Staaten, außer England, waren auf den Ackerbau gegründet. Diese Grundlage des Staates war in Preußen, wie vordem in Frankreich, tief zerrüttet durch den Fortbestand der alten Leibeigenschaft unter neuen Formen. Die adligen Geschlechter waren durch die Monarchie unter den Willen des Königs gebeugt worden, aber ihre erbliche Herrschaft über die Bauern auf ihrem Grund und Boden bestand fort in modifizierter, doch höchst drückender Gestalt. Toquevilles genialer politischer Blick hat als eine Hauptursache der Französischen Revolution erkannt, daß die alten Vorrechte des Adels sich in Privilegien, d. h. das alte, auf die verschiedensten Motive gegründete gesellschaftliche Verhältnis sich zu einem einseitig drückenden Geldanspruch umgebildet hatte: alle Affekte von Neid und Haß wurden so in Frankreich dem Adel gegenüber großgezogen, kein einziges von den früheren Gefühlen der Pietät und Ehrfurcht blieb in seiner alten Stärke. In Preußen hatte das Verhältnis sich viel günstiger gestaltet. Es blieb ein Verhältnis der Pietät. Und die preußische Justiz mit ihrer Unparteilichkeit stand in Streitfällen zwischen dem Bauern und seinem Herrn. Dennoch mag man aus Büchern, wie Buchholz' Gemälde des gesellschaftlichen Zustandes in Preußen bis zum 14. Oktober 1806, sich überzeugen, wie die Erbuntertänigkeit — denn in dies Verhältnis hatte sich die alte Leibeigenschaft umgebildet — zerstörend wirkte. Der Bauer war doppelter Untertan, des Staates und des Grundherrn. Er war im erblichen, vollen Besitz seiner eigenen Scholle, aber er war verpflichtet, zwei, drei,.vier, bisweilen sogar fünf Tage für den zu arbeiten, der sich seinen Grundherrn nannte; er war mit seiner Familie nicht persönlich leibeigen, aber er war gebunden, für eine bestimmte und ganz ungenügende Entschädigung Sohn oder Tochter, wenn es verlangt wird, in den Dienst des Edelmannes oder seines Pächters zu geben. Er war in ein rechtliches Verhältnis getreten, aber dies rechtliche Verhältnis gab ihn, seiner Natur nach, welche Anstrengungen er auch machen mochte, der Gewalt seiner Grundherren, der schlimmeren Gewalt der Pächter preis. Hierauf gründete sich ein teils gefährlicher, teils jeden Fortschritt hindernder und jedes patriotische Gefühl erstickender geistiger Zustand in den erbuntertänigen Bauernschaften, den Buchholz folgendermaßen beschreibt: „Faßte man den preußischen Bauer in seiner doppelten Beziehung zu dem Grundherrn und zum Staate ein wenig schärfer ins Auge, so ward man in ihm ein Wesen gewahr, welches durch Mißtrauen, Schadenfreude, Neid, Aberglauben, kurz durch alle jene feindseligen Leidenschaften regiert wurde, die dem Menschen den wahrhaft menschlichen Charakter rauben und ihn zum ewigen Antagonisten seiner Gattung machen." Hierauf gründete sich von der Seite der Grundbesitzer und ihrer Pächter

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ein Mißbrauch der Gewalt, welcher den Ergebnissen der Arbeit und der Moralität der Familien gleicherweise schädlich war. Dies Mißverhältnis ward dadurch gesteigert, daß der König selbst Grundbesitzer war; seine Domänen wurden von Pächtern verwaltet. Und es ward dadurch verallgemeinert, daß dieser Gegensatz der Erbuntertänigen und des mit dem König verbundenen Adels alle Verhältnisse auch des Staates, des Militärwesens und selbst des Beamtentums durchdrang. Es war die alte, aus den Banden des Mittelalters noch nicht befreite Monarchie, welche politisch und militärisch den Ideen der Revolution unterlag. Die physisch und intellektuell überlegenen deutschen Stämme mußten aus diesen Banden befreit werden, sollten sie ihre Kraft entfalten. Dies war Steins Mission in bezug auf die Reform der Gesellschaft. Er selbst war aus uraltem Reichsadel, stolz darauf, nichts weniger als frei von den Vorurteilen, welche sich an eine solche Geburt zu knüpfen pflegen. Aber die Verhältnisse hoben den in die Tiefe der gesellschaftlichen Grundverhältnisse blickenden Mann notwendig über solche Vorurteile hinaus, als es die Rettung des Staates galt. Dies ist sehr deutlich, wenn man seine energische Reorganisation von 1808 vergleicht mit den späteren Denkschriften und Briefen, die von dem Schlosse Nassau ausgingen. Er blieb ein Hochtory. Gerade ein solcher war fähig, die Bedenken am Hofe und im Adel zu überwinden. So kam das epochemachende „Edikt, den erleichterten Besitz und den freien Gebrauch des Grundeigentums sowie die persönlichen Verhältnisse der Landbewohner betreffend" vom 9. Oktober 1807 zustande. Die Not, die Wissenschaft, die Erfahrung der höchsten Behörden forderten einstimmig, und Stein wog ab, formulierte, setzte durch. Zwei Theorien über die Behandlung des Grundbesitzes standen einander gegenüber bei den wissenschaftlich durchgebildeten und ihre Zeit erfassenden Staatsmännern. Die eine war getragen durch den ungemeinen Einfluß der Königsberger Universität und des dortigen Nationalökonomen Kraus auf die Ausbildung der hervorragenden Verwaltungsbeamten. Dieser Einfluß ward durch eine Lage des Staates verstärkt, in welcher die Provinz Preußen und bald Königsberg selbst plötzlich zum Sitz der obersten Behörden auf längere Zeit wurde. Kraus folgte den Lehren Adam Smiths, des Begründers der modernen Nationalökonomie. Der Ort seines Wirkens, eine mit England vielfach verknüpfte Handelsstadt, gab seinen Grundsätzen Überzeugungskraft und Deutlichkeit; seine vielfachen Verbindungen mit der Provinz in ihren verschiedenen Ständen gaben ihnen Gewicht und Anwendbarkeit. Es ist sehr beachtenswert, daß so hervorragende Träger der Reform, als Schön, Schrötter, Auerswald, aus seiner Schule hervorgingen. Sein

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Einfluß war außerordentlich. Am konsequentesten vertrat Schön die Smith-Kraussche Theorie. Er ging davon aus, daß die Aufgabe der Politik auf diesem Gebiete sei, alles Hemmende wegzuräumen, damit auf dem gegebenen Räume eine möglichst große Masse äußerer Güter geschaffen werde. Ob die jetzigen schwächeren Besitzer erhalten blieben, erschien ihm als gleichgültig, wenn nur kräftigere an ihre Stelle träten. Dieser Richtung traten Niebuhr und Stägemann in der für die schwebende Frage eingesetzten Immediatkommission entgegen. Niebuhrs umfassender historischer Gesichtspunkt stellte sich gegen den ausschließlich wirtschaftlichen von Kraus. Der konservative, mit den bestehenden Grundlagen der Gesellschaft verwachsene Sinn vieler hoher Beamten stellte sich gegen die negativen Konsequenzen von Adam Smith. So erschien dieser Partei das Interesse an der denkbar größten Produktion eingeschränkt durch das wichtigere Interesse an der Erhaltung" eines gesunden und kräftigen Bauernstandes. War Schöns Ansicht, daß ein Besitzer von vier Hufen Landes mit sechs Pferden mehr leiste als vier Besitzer von einer Hufe, welche sechzehn Pferde bedurften, und daß demgemäß die Konsolidation zu größerem Besitz und die Verdrängung kleiner Bauern nicht durch Gesetze gehemmt werden dürfe: so erschien die Erhaltung eines zahlreichen Standes kleiner Grundbesitzer einem Niebuhr als erstes Interesse des Staates; die Preisgebung der unter den Kriegslasten verschuldeten kleinen Besitzer an das Kapital als eine Ungerechtigkeit. Niebuhr, eine leidenschaftliche Natur, trat aus der Kommission, weil er es für unmöglich halte, lange in ihr zu sein, „ohne sich mit Freunden zu entzweien, wenn ihre Grundsätze oft gar zu ungeheuer und ihre Konsequenz noch fürchterlicher ist." Stein glich die Gesichtspunkte beider Richtungen mit weiser Besonnenheit aus und verallgemeinerte die Vorschläge der Kommission für Besserung der Zustände der Provinz Preußen zu einer Reihe organischer Gesetze für den preußischen Staat. Grundlage war die Aufhebung des Untertänigkeitsverhältnisses. Alsdann wurden Maßregeln getroffen, die Bewirtschaftung der Güter zu steigern, indem man das Kapital zum Grundeigentum ohne Hemmung gelangen lasse, andererseits das Grundeigentum dem Kapital zugänglich zu machen. Denn die Steigerung aller Bewirtschaftung des Grundeigentums hat den Zutritt des Kapitals zu ihm zu seiner Voraussetzung. War das Kapital durch besondere zugunsten des Grundeigentums getroffene Bestimmungen von demselben zurückgescheucht worden, so wurden nunmehr die Bestimmungen aufgehoben. Waren adelige Güter bisher dem Kapital vielfach verschlossen durch die Bestimmung, daß nur Edelleute sie kaufen durften, so wurde auch diese Einschränkung aufgehoben. Von jetzt

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ab durfte Grundbesitz ungehindert geteilt, verbunden, kurz als ganz freies Eigentum behandelt werden. Eine einzige Einschränkung forderte das hochwichtige Interesse des kleinen Bauernstandes. Die Zusammenziehung kleiner Bauerngüter zu einem größeren Ganzen war nur unter Genehmigung der Kammern der Provinz gestattet. Mit dieser Gesetzgebung wirkte eine andere Maßregel zusammen, welche dem Staat durch Finanznot abgezwungen, aber von einsichtigen Politikern als im wahren Interesse des Ganzen liegend begrüßt wurde. Der Staat war im Besitz umfangreichen Grundeigentums in allen Provinzen, der sogenannten Domänen, welche von einem Heer von Beamten und Pächtern verwaltet und bewirtschaftet wurden. Er sah sich nun genötigt, einen beträchtlichen Teil derselben zur Veräußerung anzubieten. Ökonomisch und politisch war dies ein großer Fortschritt im Sinne des modernen Staates. Ein so ausgedehnter Wirtschaftsbetrieb durch den Staat wird ökonomisch einstimmig von allen Kennern verworfen. Und ein so starkes Interessiertsein des Staates in seiner ganzen Gesetzgebung vermöge seiner eigenen Stellung als Großgrundbesitzer muß von allen, welche gerechte Gesetzgebung wollen, als ein geradezu unsittliches Verhältnis verworfen werden. Durch diese Mittel ward die gesellschaftliche Grundlage wesentlich abgeändert. Es geschah das — man darf sagen durch eine Revolution von oben. Uralte Rechte einzelner Stände mußten dem Bedürfnis des großen Ganzen weichen. Stein war niemals konservativ aus juristischer Peinlichkeit, er war es nur aus Überzeugung über die wahren Interessen des großen Ganzen. In diesem Punkte sind alle wahrhaft großen konservativen Staatsmänner einander ähnlich. So blieb er kalt dem Sturme gegenüber, der sich wegen verletzter altherkömmlicher Rechte erhob. Es ist interessant gegenüber dem heutigen Geschrei der Franzosen über den deutschen Eigennutz, die Art zu sehen, wie Napoleon die Kontribution und Besetzung Preußens behandelte. Die Verfahrungsweisen von damals und heute sollten einmal einander gegenübergestellt werden. Der Plan war, daß für 100 Millionen Franken Domänen an Frankreich verpfändet werden und so die Besetzung Preußens verewigt, ein Heer von jede politische Bewegung ausspähenden Beamten durch Preußen verteilt werde. Das war die Zeit, in welcher der edle Prinz Wilhelm den hochherzigen Entschluß faßte, persönlich sich zur Haft in Paris zu stellen, als Geißel für die Abzahlungen. Anleihen, wie sie heute Frankreich immer noch zu Gebote stehen, mißglückten. Es bedurfte aller erfinderischen Kraft Steins, des ganzen Opfermutes des Landes, Preußen allmählich von den Franzosen frei zu machen. Diese dringenden Aufgaben des Moments kreuzten immer wieder die großen Pläne der Reorganisation.

Der Freiherr vom Stein 47 Doch ging diese unaufhaltsam weiter. Die zweite große Reihe von Maßregeln, welche er, um Staatsgesinnung zu erwecken und zu steigern, unternahm, gipfelt in der Städteordnung. Auch sie war nicht isoliert, sondern Teil eines Gesamtplanes. Nirgends vielleicht zeigt sich klarer der geschichtliche und politische Einblick Steins als in der Denkschrift, welche diesen Gesamtplan begründet. Er geht aus von dem naturgesetzlichen Verhältnis1 zwischen dem Bildungsgrade eines Volkes und seinen Bedürfnissen in bezug auf die Verfassung seines Staates. „Hat eine Nation sich über den Zustand der Sinnlichkeit erhoben, hat sie sich eine bedeutende Masse von Kenntnissen erworben, genießt sie einen mäßigen Grad von Denkfreiheit, so richtet sie ihre Aufmerksamkeit auf ihre eigenen National- und Kommunalangelegenheiten. Räumt man ihr nun eine Teilnahme daran ein, so zeigen sich die wohltätigsten Äußerungen der Vaterlandsliebe und des Gemeingeistes: verweigert man ihr alles Mitwirken, so entstehen Mißmut und Unwille, der entweder auf mannigfaltige schädliche Art ausbricht, oder durch gewaltsame, den Geist lähmende Maßregeln unterdrückt werden muß." In der Tat war dieser Erfolg an den Preußen schon in den letzten Jahren Friedrichs des Großen zu studieren gewesen. Wer kennt nicht Mirabeaus Schilderungen und Vorschläge, so verfehlt in dem Radikalismus ihrer Absicht, aber so scharfblickend in der Analyse der Tatsachen. Gewaltsam war der Bürgergeist, der nach freier Diskussion und -Anteil am Staate rang, in die nichtige Bahn politischen Pasquillantentums oder literarischer Kritik abgelenkt worden. Es war endlich Zeit, daß dem ein Ende gemacht wurde. Stein durchschaute die Folgen, welche hervorgetreten waren. Ausschließende Richtung auf Erwerb und Genuß, ein hier und da plötzlich hervorbrechender wilder und unverständiger Tadel der Regierung und usurpierter Wert der spekulativen Wissenschaften — das war das Ergebnis gewesen. So begründete er die große Forderung einer „ T e i l n a h m e der Nation an der Verwaltung der ö f f e n t l i c h e n Angelegenheiten." Das Verdrängen der Nation aus dieser erstickt den Gemeingeist. Man muß also bemüht sein, „die ganze Masse der in der Nation verhandenen Kräfte auf die Besorgung ihrer Angelegenheiten zu lenken". So ging Stein durch geschichtliche Generalisation und Studium der Staatszustände seiner Zeit die große Lehre von der S e l b s t v e r w a l tung als der G r u n d l a g e der p o l i t i s c h e n B i l d u n g der Nationen auf. Sie ist der selbständige Anfang unserer deutschen Verfassungsbestrebungen. Nicht von England entlehnt, wie man wohl geglaubt hat, sondern aus der eigensten Tiefe des gründlichen deutschen

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Geistes hervorgegangen ist dieser Anfang. Und höchst merkwürdig erscheint, wie Stein den Gegensatz dieser Freiheit, welche ihm vorschwebte, zu der französischen durchblickte. Der ganze Grundgedanke von Toquevilles Schrift über das alte Regime und die Revolution ist in Steins lapidaren Sätzen enthalten: „In Frankreich ist die Nation nur zum Schein zur Teilnahme an den öffentlichen Angelegenheiten zugelassen, ihr gesetzgebender Körper ist nur eine der registrierenden Verwaltungsbehörden, das Maschinenwesen ihrer Bürokratie ist zusammengesetzt, kostbar, in alles eingreifend und wird von dem ungebundenen, rücksichtslosen Willen eines einzelnen geleitet." Auf Grund dieser tiefen politischen Einsichten entstand zunächst die Städteordnung Steins. Dies war in der Tat der erste Schritt im Gange unserer politischen Freiheit. Als gründliche Deutsche haben wir mit dem Anfang begonnen. Die alte Freiheit der Städte war geschwunden. Die obrigkeitlichen Stellen in den Städten mußten laut Vorschrift mit Invaliden besetzt werden: diese e i n e Bestimmung zeigt, was aus der stolzen Entwicklung des deutschen Städtewesens in der Hand des absoluten Staates geworden war. Alle inneren städtischen Angelegenheiten, bis zu den unbedeutendsten hinab, wurden vor die Staatsbehörden gezogen und dort endgültig entschieden. Selbsttätigkeit der Gemeinde ward so mit ihren Wurzeln von der eigenen Hand des Staates ausgerissen. Wohin das führte, hatte der Krieg gezeigt. Es ist doch nicht genug zu beachten, wie dieser furchtbare Zusammenbruch unseres Staatsgebäudes alle Fehler in seiner Anlage in bitterklarer, tagheller Genauigkeit bloßgelegt hatte. Wie sich die Kriegsgefahr den Städten näherte, sah man das Unzureichende dieser Invalidenversorgungsanstalten, welche als Städteverwaltungen bezeichnet wurden. Man konnte nicht anders, als schleunigst den Bürgerschaften selber die Leitung ihrer Angelegenheiten in die Hände zu geben. Der Beweis in betreff dieser Fragen war damit erbracht. Man beschloß, die Verfassung der sämtlichen Städte auf dem Grunde der ursprünglich freien und geordneten Teilnahme der Bürger an der Besorgung ihrer Gemeindeangelegenheiten herzustellen. Schon am 19. November 1808 war der Entwurf der Städteordnung vollendet und vom König bestätigt. Die Städteordnung Steins hat den Bürgerschaften die Verwaltung des städtischen Vermögens und aller städtischen Angelegenheiten zurückgegeben, die Teilnahme der Bürgerschaft an der Verwaltung durch von ihr gewählte Vertreter, die Wahl der Magistrate aus der Mitte der Bürgerschaft. Sie hat damit in den Bürgern ein erhöhtes Gefühl für Selbständigkeit und Ehre geschaffen. Sie hat echten Gemeinde-

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sinn geschaffen, auf den sich dann in weiterem Umkreis Staatssinn gründen kann. Sie hat in der Teilnahme an den naheliegenden, überschaubaren städtischen Angelegenheiten die beste Schulung der Bürger gewährt für die Teilnahme an den allgemeinen Angelegenheiten. Und zwar war sogleich im ersten Entwurf die Städteordnung von Stein nur als erste Maßregel in einem System gedacht, welches in preußischen Reichsständen seinen Abschluß finden sollte. Die ersten Verhandlungen über diesen Gegenstand sind noch nicht veröffentlicht. Das erste, was wir haben, ist das Gutachten des Präsidenten von Vinke, vom 20. September 1808. Steins eigene damalige Vorschläge sind uns im einzelnen unbekannt. In seinem berühmten politischen Testament vor Ausgang 1808 fordert er eine allgemeine Nationalrepräsentation. „Mein Plan war, jeder aktive Staatsbürger, er besitze hundert Hufen oder eine, er treibe Landwirtschaft oder Fabrikation oder Handel, er habe ein bürgerliches Gewerbe oder sei durch geistige Bande an den Staat geknüpft, habe ein Recht zur Repräsentation. Auf diesem Wege allein kann der Nationalgeist positiv erweckt und belebt werden." Wohl und Wehe des Staates schien ihm davon abhängig, ob der König sich entschließe, der Nation eine solche allgemeine Repräsentation zu geben. Hardenberg übernahm es, nach dem Abgang Steins, die Maßregeln für die Errichtung einer solchen Repräsentation zu treffen. Nichts geschah inzwischen, bis nach der Wiederherstellung der Staatenordnung Europas durch den großen Krieg die Frage nach der Neuordnung der deutschen Staaten brennend wurde. Stein gab im September 1814 den Anstoß zur Beratung der Verfassungsfrage. Er ging davon aus, daß gleichförmige Verfassungen in den einzelnen deutschen Ländern gewünscht werden müßten. Er wünschte wenigstens, daß alle Deutschen unter e i n e m öffentlichen Rechte ständen. Es leuchtet ein, wie dies ebensosehr im Interesse der Regierungen war als in dem des Volkes. Es leuchtet ebenso ein, welch straffen Zusammenhaltens der Regierungen es bedurft hätte, des Vorteiles, der hier für sie lag, sich zu bemächtigen. So kam es, daß der Plan Steins von Metternich und Münster angenommen ward. Stein hatte bittere Erfahrungen in diesen Jahren in betreff der Gesinnungen der einzelnen souveränen deutschen Fürsten gemacht, und so lautet seine Sprache herb genug. „Alle Maßregeln, die man zur Beschränkung des Sultanismus zu ergreifen beschließen wird, werden unterstützt und ausführbar durch das Übergewicht an Macht der Verbündeten und durch den in Deutschland herrschenden und laut gewordenen Unwillen über den gegenwärtigen Druck der Fürsten." Aber zugleich kam es auf Grund obiger Verhältnisse so, daß auf ein einmütiges Vorgehen der einzelnen Regierungen verzichtet werden mußte.

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Als im Frühjahr 1815 der Krieg noch einmal begann, als die Fürsten empfanden, was sie den Völkern schuldeten, die von neuem gegen Napoleon sich in ungeheuren kriegerischen Massen bewegten: damals endlich ward in betreff einer künftigen preußischen Verfassung vom König eine eingehende und bindende Erklärung erlassen. Sie ist von Steins Hand. Es soll eine Repräsentation des Volkes gebildet werden. Zu diesem Zweck sollen Provinzialstände wiederhergestellt oder neu organisiert werden. Aus ihnen wird die Versammlung der Reichsstände gewählt, die in Berlin ihren Sitz haben wird. Die Wirksamkeit derselben soll sich über alle Gegenstände der Gesetzgebung erstrecken. So die Order des Königs vom 22. Mai 1815, welche zur weiteren Beratung dem Staatskanzler von Hardenberg die Ernennung einer Kommission empfahl. Man bemerkt, daß der Hauptpunkt mit Schweigen übergangen war. Eine solche Körperschaft konnte nicht nützen, ja, sie mußte schaden, wenn sie eine bloße beratende Stimme hatte. Sie bedurfte vor allem des Rechts, neue Steuern zu bewilligen. Sie bedurfte alsdann des Rechts, neue Gesetze anzunehmen oder zu verwerfen. Aber man würde irren, dächte man, der König oder Stein oder Hardenberg hätten die Absicht gehabt, die preußische Nationalvertretung mit solchen Rechten auszustatten. Hier war die Grenze für die politische Einsicht auch der ersten Staatsmänner der damaligen Generation. Und so konnte aus dem tiefsinnigen Anfang der Städteordnung keine preußische Verfassung in diesen Jahren erwachsen, in welchen Stein auf die innere Verwaltung Preußens Einfluß hatte. Es gab endlich ein noch weitergreifendes politisches Problem, welches diese Generation weder übergehen noch lösen konnte. Der alte Bund war aufgelöst. Diesen Zustand dauern zu lassen, war die Auflösung und Zerrüttung in Permanenz. Diesen Zustand zu ändern, schien anfangs Sache des Einverständnisses von Preußen und Österreich; wie die Dinge sich verschoben und verwickelten, wurde der Wille immer mehrerer in die Entscheidung gezogen. Mit dem Willen die Interessen. Hatte anfangs nur eine Schwierigkeit bestanden, ein großes Reich mit zwei leitenden Mächten zu organisieren, so traten nun neue Schwierigkeiten aus den monarchischen Bedürfnissen der Einzelfürsten hinzu. Es gab keine vernünftige Lösung dieses großen politischen Problems mehr. Es ist nun nicht zu sagen, wie die Entwürfe sich drängten, sich entgegentraten, welche auf die Neugestaltung des Deutschen Reiches gingen. Unter ihnen sind durch politischen Tiefblick und Einfluß diejenigen Steins die am meisten hervorragenden. Als er 1809, durch Napoleons Einfluß aus dem Ministerium verdrängt, in Brunn saß, den Fortgang der Ereignisse erspähend, wie ein

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Adler, der zum Hinabstoßen bereit ist: da schrieb er unter anderen Betrachtungen auch eine nieder über Deutschlands künftige Verfassung. Noch war damals für die Betrachtung des Künftigen keine Schranke in zu berechnenden Interessen. Und so entwickelte Stein damals sofort diejenigen Grundideen, die von da ab bei allen Nationen leitend geblieben sind. Sie boten sich sogleich seinem klaren Blicke dar. Sie mußten bald hernach fallengelassen werden, wie die Interessen sich verwickelten. „Die Auflösung Deutschlands", so bemerkt er, „in viele kleine, ohnmächtige Staaten hat dem Charakter der Nation das Gefühl von Würde und Selbständigkeit genommen, das bei großen Nationen Macht und Unabhängigkeit erzeugt; es hat ihre Tätigkeit abgeleitet von den größeren Nationalinteressen; es hat Titelsucht und das elende Treiben der Eitelkeit, Absichtlichkeit, Ränke durch die Vervielfältigung der kleinen Höfe vermehrt." Er findet: Munizipal- und Provinzialverfassung, Beteiligung der Bürger an der Verwaltung hätten alle die Vorteile gewähren können, welche man den kleinen Staaten nachrühmt. Aber er ahnt, daß ihre völlige Beseitigung nicht werde durchgesetzt werden können. Und so hat er denselben Vorschlag schließlich, auf den die Geschichte selber gekommen ist. „Wollte man auch einen Bund kleiner Fürstentümer beibehalten, so müßte ihnen doch die Teilnahme an der Leitung der äußeren Verhältnisse, des öffentlichen Einkommens und der Verteidigungsanstalten entzogen werden. Sie würden nur die übrigen Verwaltungszweige behalten, und diese nach den Beschlüssen des Reichstages oder nach Selbstbestimmung ausüben." Als 1812 der russische Krieg die Möglichkeit eröffnete, Deutschland zur Erhebung zu bringen und von der Last Napoleons frei zu machen, sah Stein sofort der Frage scharf ins Auge, welcher Zustand aus dem Chaos hervorgehen solle. Das Argument, von dem er ausging in seiner „Denkschrift über Deutschlands künftige Verfassung" an Kaiser Alexander, war unantastbar. „Die Ruhe Europas erheischt, daß Deutschland so eingerichtet sei, daß es Frankreich widerstehen, seine Unabhängigkeit erhalten, England in seinen Häfen zulassen und der Möglichkeit französischer Einfälle in Rußland zuvorkommen könne." Was er für Deutschland wollte, war hier nur in der Sprache der Interessen von Rußland und England ausgedrückt. „Diesen Zweck" — schließt Stein weiter — „kann man erreichen erstens, entweder durch Vereinigung Deutschlands zu einer Monarchie, zweitens, oder wenn man es nach dem Lauf des Main zwischen Preußen und Österreich teilt, drittens, oder indem man in diesen beiden großen Teilen einige Länder, wie ζ. Β. Hannover und andere unter einem Bündnis mit Österreich und Preußen bestehen läßt." Denn die alte Verfassung

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Deutschlands kann nicht wieder hergestellt werden. Sie war nicht das Ergebnis des Willens der Nation, sondern einer Reihe von Ursachen, welche von diesem Willen unabhängig waren, ja ihm entgegenarbeiteten. Ihre Wiederherstellung forderte die Restauration der Obergewalt Österreichs, die Verkleinerung Preußens und Bayerns, die Erneuerung der geistlichen Fürstentümer, der Reichsstädte und Reichsgerichte. Und auch so würden in Deutschland nur von neuem der kriegerische Geist und das Gefühl der Würde einer großen Nation zerstört. Man bemerkt, daß hier jener obige Plan bereits vor der Macht der damaligen politischen Tatsachen zusammengesunken war. Eine einheitliche Reichsgewalt für Krieg und äußere Politik forderte eine herrschende Macht. Der Antagonismus von Österreich und Preußen war die gegebene Tatsache, welche jeden Versuch einer vernünftigen Verfassung sofort zurückdrängte. Erst mußte dieser durch das Schwert aufgehoben sein, bevor der ursprüngliche Plan Steins verwirklicht werden konnte. Was er nun plante, war doch nur ein Notbau. Während dann die deutschen Heere gegen Paris vorrückten, entwarf Stein einen neuen Plan, welcher den Dingen selber näher auf den Leib rückte. Er war bedingt durch die politischen Tatsachen, mit denen man einmal rechnen mußte. Aber von diesen Tatsachen aus einmal genommen, zeigt er bedeutende Vorzüge vor demjenigen, welcher nachher durch die Wiener Bundes- und die Schlußakte Verfassung Deutschlands für ein halbes Jahrhundert geworden ist. Er will als oberste leitende und ausführende Behörde des Bundesstaates Gesamtdeutschland ein Direktorium. Dieses sollte aus den vier mächtigsten Staaten, Österreich, Preußen, Bayern und Hannover gebildet sein. Es sollte den Bundestag leiten, welcher aus den Abgeordneten aller Bundesstaaten jährlich einmal zusammenträte, die von ihm gegebenen Gesetze ausführen — was aber die Hauptsache war, das selbständige Recht besitzen, Krieg und Frieden zu schließen und die auswärtigen Verhältnisse zu leiten. Es ist höchst schmerzhaft, den weiteren Verhandlungen zu folgen. Das war immer noch, auch nachdem es sein Herzblut für die Befreiung Europas geopfert hatte, dasselbe Deutschland, über dessen Verfassung alle Großstaaten Europas mitsprachen von ihrem Interesse aus. Es war immer noch dasselbe unlösbare Problem, während die großen europäischen Dynastien die verwandten kleinen Fürsten'höfe in ihren Schutz nahmen, während der Antagonismus Österreichs und Preußens jeden kräftigen Schritt hemmte, durch politischen Verstand eine Verfassung zu entdecken, welche Deutschland stark machte, ohne irgendeiner Macht Europas unangenehm zu sein. Was nun geplant und getan ward, entsprang nicht aus folgerecht durchgeführtem politischem Plan, son-

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dem aus dem Kampf der widerstreitenden Interessen. Unsere politische Verfassung ward von neuem, wie sie es das erstemal gewesen, nicht ein Werk des politischen Verstandes, sondern ein Vertrag der kämpfenden Interessen. Dies sind die Grundzüge der Reorganisation des preußischen Staates, welche Steins Ministerium 1808 durchführte. Es ist bezeichnend für dieselbe, daß sie von dem großen Gedanken getragen war, den Nationalgeist und zugleich das Gefühl der persönlichen Würde aller einzelnen zu beleben, daß sie alsdann diesen großen Gedanken nicht durch irgendeine Repräsentation und ihre Debatten oder eine andere ähnliche äußere Einrichtung durchzuführen versuchte, sondern dadurch, daß sie ökonomisch und sozial die einzelnen mündig zu machen suchte, politisch aber mündige und selbständige größere Ganze zu schaffen begann. Diesem Tiefsinn der Steinschen Gesetzgebung verdanken wir es, daß unser Staat sich auf germanischen Grundlagen, frei von allen Schablonen, aus seinen eigensten Bedürfnissen entwickelt.

II. KARL AUGUST VON HARDENBERG Es gibt Politiker von außerordentlichen intellektuellen Gaben, welche unter der Leitung eines großen Charakters ungemeiner Leistungen fähig sich erweisen, die aber, selbst zur höchsten Leistung berufen, stets den Eindruck machen, als blickten sie sich nach dem starken Arm um, an welchen sich zu lehnen ihnen Bedürfnis ist, und über deren Verdienst oder Schuld alsdann die Bedingungen entscheiden, welche sie vorantreiben. Ein solcher war Hardenberg. Hätte er mit Stein zusammen den preußischen Staat leiten können, so wäre er eben der Mann gewesen, was in Stein hindernd war, auszugleichen. Er hätte dem feurig vorandringenden Manne die Kunst seines Benehmens und sein gewinnendes, ja bezauberndes Wesen geliehen. Er hätte den in der Verwaltung aufgewachsenen Staatsmann durch seine Kenntnis des äußeren Departements und der in ihm herrschenden Formen unterstützt. Er hätte den stürmischen Reformer ausgeglichen und versöhnt mit den tief verletzten höheren Klassen, deren Rückstoß unfehlbar sich gegen Stein gewandt hätte, wäre er länger im Amte geblieben. Nun sollte diese weltmännische Natur das Gewicht der inneren Reformen und der großen äußeren Politik allein tragen seit 1809, welches für die mächtigen Schultern des größten deutschen Staatsmannes seit Friedrich dem Großen bemessen war. Anderes kam dazu, was diesem merkwürdigen Manne schwer machte, für große politische

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Maßregeln mit seiner Person einzustehen, mit ihnen zu stehen und zu fallen, wie doch jeder wahre Staatsmann muß. Es ist ein merkwürdiges psychologisches Drama, das Leben des späteren Staatskanzlers Fürsten Hardenberg. Er war das älteste von neun Kindern des Generalfeldmarschalls von Hardenberg in Hannover. In Begleitung eines Hauslehrers studierte er in Göttingen, durch dessen Schule ebenso Stein und Humboldt gegangen sind. Denn diese Universität verknüpfte zuerst in Deutschland Geschichte, Recht und Politik und ward daher für den höheren Staatsdienst die allgemeine Schule. Eine aufflammende Neigung für das schöne Fräulein von Münchhausen ward durch das Einschreiten der Verwandten von beiden Seiten zurückgedrängt, und Hardenberg ging nach Leipzig, wohl, um zu vergessen; erst nach einem Jahre kehrte er nach Göttingen zurück und beendete dort seine Studien. In der Kammer, der höchsten Verwaltungsbehörde in Hannover, fand er dann Anstellung, und sein rascher, gewandter Geist durchschaute schnell, wie sehr die Verwaltung dieses Landes der Reform bedurfte. Diese Arbeiten wechselten mit Reisen, welche seinen politischen Gesichtskreis erweiterten. So besuchte er mit seinem Vater England unter den günstigsten Verhältnissen: den alten tapferen Feldmarschall zu ehren eilten alle höchsten Kreise, und die Anmut des Jünglings gewann alle Herzen. Ebenso besuchte er die deutschen Höfe, besonders aber Wetzlar, wohin immer noch der höchste deutsche Gerichtshof mit seinen in der Ferne schwer zugänglichen Einrichtungen, wie zu der Zeit, als Goethe da war, junge Juristen zog. Im folgenden Jahre sah er Frankreich und England. Schon damals stellte sich seine Lebensweise fest, welche in den heterogenen Anlagen seiner Natur und dem Mangel eines dieselbe beherrschenden starken Willens gegründet war. Er wechselte zwischen tiefem Studium der Verfassung dieses Landes und üppigem, uneingeschränktem Sinnengenuß. Die Eltern verheirateten ihn mit der kaum dem Kindesalter entwachsenen fünfzehnjährigen Gräfin Juliane von Reventlow in Holstein. Anmut, Schönheit, hohe Geburt, sehr großen Reichtum, allen Glanz des Lebens brachte sie ihm zu. Hardenberg selbst war damals vierundzwanzig Jahre alt, die Gestalt von mittlerer Größe, der Körperbau kräftig, er bewegte sich mit großer Gewandtheit und leichtestem Anstände, aus den feurigen Augen und der hohen, gewölbten Stirn sprach ein Geist, der unfehlbar seine Umgebung bezauberte. Wer die beiden sah, dem schienen sie wie geboren, einander das höchste Glück zu bringen. Doch waren das keine Naturen, welche die Unfertigkeit ihres Charakters in geduldigem Ernst zu bessern die Neigung besaßen. Sie wollten beide grenzenlos genießen. Sie hatten beide keine Idee

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von Ordnung des Hauses und der Verhältnisse. Sie verstanden beide, bittere Zerwürfnisse im leidenschaftlichen Genuß des nächsten Moments zu vergessen. So ward diese Verbindung für sie die Quelle tiefer Verwicklungen. Nicht lange nach der Verbindung, 1774, traten schon die ersten Zerwürfnisse ein. Diese Vorfälle, zusammentreffend mit seinem kühnen Auftreten in der Beurteilung der hannoverschen Verwaltung, führten zu Schwierigkeiten, welche ihn aus seiner Bahn warfen. Er hatte dem König in London zwei Denkschriften eingereicht, deren eine die Mängel der Finanzverwaltung, den Druck der Steuerlast schonungslos bloßlegte, deren andere die gefährdete politische Lage des Kurfürstentums darlegte und, ganz wie bald darauf Friedrich der Große, ein Bündnis zwischen Preußen, Hannover, Sachsen, Hessen und Braunschweig anriet. Diese Denkschriften erwarben ihm ebensoviel Feinde als Bewunderer. Und ein Vorfall kam, welcher den Feinden eine furchtbare Blöße bot. Als geheimer Rat der Kammer war er mit seiner Gemahlin nach London gegangen, und beide überließen sich dort, gefeiert in der ersten Gesellschaft, dem Übermut wenig gezügelter Leidenschaften. Unter den Verehrern der schönen Frau gewann nach einiger Zeit der englische Thronfolger allen anderen den Vorrang ab. Das Verhältnis beider ward bald ein beliebter Gegenstand in den englischen Tagesblättern. Nur ein königliches Machtwort hinderte, daß Hardenberg sich mit dem Prinzen von Wales mit dem Degen in der Hand begegnete. Hannover war ihm nun verleidet. Und als er sich bereit erklärte, als Reichstagsgesandter nach Regensburg zu gehen, hintertrieben seine Feinde diese Ernennung. So trat er aus dem Staatsdienst. Die Familie empfand aufs tiefste, was geschehen war. Aber dies war keine Natur, an der Treulosigkeit eines schamlosen Weibes zugrunde zu gehen. Auf Vermittlung eines seiner Verwandten ging er 1782 in braunschweigische Dienste, als wirklicher Geheimrat. Seine Reformtätigkeit in dem Herzogtum war durchgreifend. Er begann auch hier mit den Finanzen und setzte die Steuern des Bauernstandes herab, belebte durch Unterstützung des Staates die Gewerbetätigkeit. Ein Amt nach dem anderen übertrug ihm das Vertrauen des Herzogs, bis er schließlich das Herzogtum regierte. Es scheint indessen, daß die Verwirrungen seiner persönlichen Lage ihm auch hier den Aufenthalt verleideten. Er machte mit Frau von Hardenberg in Braunschweig ein glänzendes Haus. Sie überboten sich in Verschwendung. Rücksichtslos fast gegen den äußeren Anstand, gab sich Hardenberg allen sinnlichen Genüssen hin. Und als die Scheidung von seiner Frau vollzogen war, verband er sich, ehe noch irgend die Geldangelegenheiten geordnet waren, mit einer schönen Frau, für die er D i l t h e y , Gesammelte Schriften XII

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schon seit Jahren eine leidenschaftliche Liebe gehegt hatte, Sophie von Lenthe, geborene von Heßberg. Nur das außerordentliche Wohlwollen des Herzogs machte es ihm möglich, sich pekuniär zu halten. Hardenberg wünschte einen Wechsel des Ortes. 1786 hatte der König von Preußen Hardenberg kennengelernt, als derselbe im braunschweigischen Auftrag das Testament Friedrichs des Großen nach Berlin überbrachte. Er hatte die gewinnende Persönlichkeit desselben nicht vergessen. Er sandte ihn nun nach Ansbach und Bayreuth in eine höchst bedenkliche Stellung, welche zu beherrschen gerade Hardenberg sehr geeignet erschien. Es galt, den Markgrafen, dessen Land später dem Erbrecht nach an Preußen fiel, zu beaufsichtigen und zu lenken. Hardenberg scheute schlüpfrige Wege nicht, dem Markgrafen die Abtretung des Landes zu seinen Lebzeiten abzugewinnen. Er leitete alsdann in fast selbständiger Stellung als Statthalter diese Fürstentümer. Er reformierte nach preußischem Muster. Die großen Weltbegebenheiten riefen ihn 1795 a u s Bayreuth zu einer hervorragenden, aber nichts weniger als erfreulichen Rolle. Der Minister Graf von der Goltz war inmitten der Baseler Friedensverhandlungen plötzlich gestorben, und Hardenberg ward ernannt, diese Verhandlungen von preußischer Seite fortzuführen. Es war ein unseliges Debut eines Staatsmannes, mit dem Abschluß dieses für Deutschland verderblichen Friedens zu beginnen. Zugleich trat von da an die Eifersucht von Haugwitz Hardenberg entgegen. Er wußte ihn auf die innere Verwaltung der Fürstentümer zu beschränken und auch hier dadurch zu hemmen, daß er ihn zwang, von Berlin aus dieselbe zu führen. Alle stimmen überein, daß diese Verwaltung vortrefflich war. Die Irrnisse seines persönlichen Lebens hafteten nach wie vor an ihm. Die leidenschaftliche Liebe, die er einst für seine zweite Gemahlin genährt, war erloschen. Schönheit, Zartheit, reiche Empfindung, aufrichtige Erwiderung seiner Liebe hatten nicht vermocht, den in seinen Neigungen so Wankelmütigen dauernd zu fesseln. Von neuem wirkte seine eigene Verschuldung auf die Gesinnung der Frau zurück, und auch diese zweite Ehe ward gelöst. Nicht genug damit. Eine Schauspielerin, die aller Reize des Geistes und des Körpers entbehrte, Charlotte Lengenfeld, verstand es, ihn in ein dauerndes Verhältnis zu verwickeln. Nachdem sie sich von ihrem Ehemann getrennt, begleitete sie ihn nach Basel, Ansbach, Berlin. Durch einen festen Willen, verbunden mit der Absicht und der Kunst, Hardenberg zu lenken, erreichte hier eine Frau, die in allem tief unter ihm war, was Anmut, Liebe und Geist nicht über ihn vermocht hatten. Weder die Bemühungen der Familie, noch die unangenehmsten Szenen mit der Geliebten selber, die auf

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maßlosen Forderungen fest zu bestehen pflegte, vermochten dies Verhältnis zu lösen. Ja, der ihn umgebende Widerstand, zusammen mit einer solchen Charakteren eigenen marklosen Güte, trieb ihn nur weiter. Er erhob sie 1807 zu seiner Gemahlin. Dies war ein bequemes Verhältnis für ihn, das weder nach innen Treue, noch nach außen gemessene Repräsentation von ihm forderte. Allen vorübergehenden Anwandlungen der Sinne durfte er sich überlassen. Aber es zerstörte zugleich in ihm jede heroische Regung des Ehrgefühls. Es isolierte ihn, auch in den höchsten Stellungen. Es fesselte ihn an seine hohen Posten. Denn nur auf diesen überwand er den Widerstand der Welt. Man kann nicht umhin, eine allgemeinere Betrachtung hier anzustellen. Die Leidenschaften greifen das Innerste des Charakters an, wo sie den Menschen abhängig machen von einer äußeren Lage, welche doch nur nach den höchsten Gesichtspunkten mit dem ganzen Gefühl der Verantwortlichkeit behandelt werden dürfte. In dieser Art aber waren die Staatsmänner der Wiener Verträge und der Restauration abhängige Naturen. Metternich, Gentz, Hardenberg hatten nicht den Mut, ihre Pflicht gegen Deutschland zu erfüllen, weil sie nicht den Mut hatten, ihre Stellungen zu wagen. Es ist unzureichend, nur von Hardenbergs Schwäche zu reden. Dieser hochbegabte Staatsmann ist Deutschland dadurch auf eine so verhängnisvolle Weise verderblich geworden, daß er, nach der persönlichen Lage, in welche seine Leidenschaften ihn versetzten, gar nicht daran denken konnte, an die Gesichtspunkte, welche seine politische Überzeugung ausmachten, seine Person zu setzen. Indem er sie geltend machte, mußte er gleichzeitig im Auge behalten, nicht gegenüber dem König mit ihnen zu stehen und zu fallen, nicht um ihn her Intrigen das Übergewicht zu verschaffen, nicht allzu mächtige Feindschaften hervorzurufen. Durch seine Naturanlage befähigt, durch Anmut des Betragens überall zu versöhnen und zu gewinnen, Persönliches und Sachliches zu verknüpfen, Gegensätze zu vermitteln, entwickelte er, zunehmend in sich die Neigung, auch in den größten Verhältnissen, in welchen männliche Beharrlichkeit erfordert war, seinen persönlichen Bedürfnissen und den Neigungen seiner Natur nachzugeben auf Kosten der Sachen. Stein, der ihn festgehalten hätte durch eine Art physischer Gewalt, welche ein solcher gewaltig sich äußernder Wille über Naturen von Hardenbergs Art hat, hatte seit 1809 keine amtliche Stellung, die seinen Einfluß auf Hardenberg gesichert hätte. Humboldt, in dem freies Interesse an den Sachen, unbestechlicher Wahrheitssinn und klarer Wille zusammentrafen, um ihn überall zum denkbar trefflichsten Ratgeber zu machen, war doch in der Hardenberg untergeordneten Stellung, die er einnahm, durch die geschlossene Kühle, in welcher sein Wille hervortrat, nicht 5*

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der Mann, den Minister zu bewegen, ja zu bezwingen. So nahmen die Dinge ihren unseligen Lauf. Seit 1804 erlangte Hardenberg das Übergewicht über Haugwitz und leitete mit Unterbrechungen die auswärtige Politik Preußens. Es kann hier nicht meine Absicht sein, in diese verwickelten politischen Verhältnisse unseres Jahrhunderts einzugehen. In den Gesichtskreis dieser Darstellung fällt erst seine Tätigkeit, seitdem er 1810 an die Spitze aller Geschäfte Preußens gestellt ward und sonach die Aufgabe vor ihm stand, die von Stein begonnene Reorganisation des Staates fortzuführen. Am 6. Juni 1810 ernannte ihn der König zum Staatskanzler und beauftragte ihn mit der Leitung aller äußeren und inneren Angelegenheiten. Wir besitzen eine höchst merkwürdige Denkschrift Hardenbergs, in welcher dieser Staatsmann, fern von den Geschäften, die „Reorganisation des preußischen Staates" in Grundzügen entwirft. Es war, als er unmittelbar nach dem Frieden von Tilsit dem Argwohn Napoleons hatte weichen müssen und Stein an seine Stelle getreten war. Die Größe der Zeit erhob ihn gewissermaßen über sich selber. „Mußte ich", schrieb er damals an Stein, „nicht darauf rechnen, daß Sie jede persönliche Rücksicht beiseite setzen werden, um die Befriedigung zu haben, den Staat zu retten, dem Sie seit Ihrer Jugend Ihre Kräfte geweiht haben? Es ist von größter Wichtigkeit, daß Sie sich ohne Zögern zum König begeben. Die ersten Augenblicke werden die größte Sorgfalt erfordern. Der König hat durch das Unglück viel gewonnen, und seine Ausdauer macht ihm Ehre." Dies war auch die Voraussetzung, unter welcher er wagte, aufgefordert von dem König, ihm die folgenden Gesichtspunkte darzulegen. Diese Gesichtspunkte sind von höchstem Interesse. Man ist heute, unter dem Einfluß der letzten Begebenheiten, nicht selten ungerecht gegen den Einfluß, welchen Frankreich auf unsere politische Entwicklung gehabt hat. Sicher müssen wir unsere Auffassung dessen, was in der Revolution geschah, modifizieren. Das Heroentum der heutigen Kommune wirft ein unheimliches Licht auf das Heroentum der revolutionären Ausschüsse jener Zeiten rückwärts. Indem wir heute notgedrungen lernen, Lüge und Wahrheit in der Phraseologie Frankreichs zu scheiden, sehen wir uns genötigt, rückwärts in den berühmtesten Reden der Führer der Revolution dieselbe Scheidung vorzunehmen. Aber diese gerechte Kritik hindert nicht eine gerechte Anerkennung. Unsere Nation erhielt durch die Revolution und die von ihr ausgehende Propaganda Antriebe, welche uns von größtem Werte waren. Die Französische Revolution wirkte auf die deutsche Reform. Sie tat

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es, indem sie im populären Geiste und in der Klasse der Schriftsteller neue Ideen in Bewegung brachte und neue Ziele aufstellte. Sie tat es, indem sie durch die Gewalt der Waffen und das politische Übergewicht in Europa, welches sie unter Napoleons Führung erlangte, die deutschen Regierungen nötigte, den Wettlauf der Freiheit mit dem aus der Revolution entsprungenen französischen Kaisertum einzugehen. Hardenberg, welcher von der äußeren Politik herkam, welcher die Reorganisation als ein Mittel für die politische Selbsterhaltung Preußens auffaßte, stellt diesen Gesichtspunkt nackt und einfach voran. Die Französische Revolution, sagt er, gab den Franzosen unter Blutvergießen und Stürmen einen ganz neuen Schwung. Das Veraltete ward zerstört. Die schlafenden Kräfte wurden geweckt. Die benachbarten Regierungen sahen den Einfluß der Revolution auf ihre eigenen Länder wachsen von Tag zu Tag, und die Mittel selber, zu welchen sie griffen, verstärkten nur dies Wachstum. „Der Wahn, daß man der Revolution am sichersten durch Festhalten am Alten und durch strenge Verfolgung der durch solche geltend gemachten Grundsätze entgegentreten könne, hat besonders dazu beigetragen, die Revolution zu fördern und derselben eine stets wachsende Ausdehnung zu geben. Die Gewalt dieser Grundsätze ist so groß, sie sind so allgemein anerkannt und verbreitet, daß der Staat, der sie nicht annimmt, entweder seinem Untergang oder der erzwungenen Annahme derselben entgegensehen muß; ja selbst die Raub-, Ehr- und Herrschsucht Napoleons und seiner begünstigten Gehilfen· ist dieser Gewalt untergeordnet und wird es gegen ihren Willen bleiben." Nun zieht Hardenberg seine politische Folgerung. „Also eine Revolution im guten Sinne, gerade hinführend zu dem großen Zweck der Veredelung der Menschheit, durch Weisheit der Regierung und nicht durch gewaltsame Impulsion von innen oder von außen, das ist unser Ziel, unser leitendes Prinzip. Demokratische Grundsätze in einer monarchischen Regierung, dies scheint mir die angemessene Form für den jetzigen Zeitgeist." Es ist beachtenswert, wie diese ursprüngliche politische Ideenreihe Hardenbergs ihn, hätte er selbständig die Reorganisation Preußens übernommen und hätte er die Kraft gehabt, inmitten aller Hemmungen sie durchzuführen, einen ganz anderen Weg geführt hätte, als welchen Stein zur selben Zeit einzuschlagen begann, in der Hardenberg dies niederschrieb. Der Gegensatz der Charaktere unterscheidet auch hier. Stein, gegenüber der aus der Revolution erwachsenen furchtbaren Macht, stemmt sich nur um so fester auf die ureigenen Bedingungen und Charakteranlagen seines Landes, seiner Nation. Hardenberg, beweglich, gewandt, geneigt zum Vorteil zu wenden, was andere besaßen,



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ließ sich von den Erfolgen Frankreichs fortreißen und sah allein in mäßiger Aufnahme der dortigen Ergebnisse in die eigene politische Entwicklung Rettung. Hardenberg hatte sich durch den Gang seiner persönlichen Schicksale von den Interessen seines Standes losgelöst. Stein besaß die geistige Größe, diese Interessen den Staatsinteressen unterzuordnen, aber mit starker Betonung hob er sie jederzeit hervor. So fordert denn Hz rdenberg als leitende Maxime für die innere Verwaltung nach französischem Muster „möglichste Freiheit und Gleichheit". „Jede Stelle im Staat, ohne Ausnahme, sei nicht dieser oder jener Kaste, sondern dem Verdienste und der Geschicklichkeit und Fähigkeit aus allen Ständen offen. Jede sei der Gegenstand allgemeiner Ämulation, und bei keinem, er sei noch so klein, noch so gering, töte der Gedanke das Bestreben: Dahin kannst du bei dem regsten Eifer, bei der größten Tätigkeit, dich fällig zu machen, doch nie gelangen. Keine Kraft werde im Emporstreben zum Guten gehemmt." Dies also waren die durchgreifenden politischen Gesichtspunkte, mit welchen im Sommer ίδιο Hardenberg an die Spitze der Geschäfte trat. Die Basis aber, von welcher aus er weiter zu bauen gedachte, war die Vervollständigung der sozialen Umbildung durch Stein, indem besonders auch der Verkehr von seinen Fesseln befreit wurde; alsdann eine durchgreifende rationelle Steuergesetzgebung. Dies waren die Gedanken, welche er mit den Erfahrungen vieler in der Verwaltung zugebrachter Jahre mitbrachte. Leider ist das Verdienst ihrer Durchführung sehr wesentlich durch die Schwäche eines Charakters beeinträchtigt worden, welcher erschrak vor dem Lärm der höchsten Klassen über den Verlust ihrer Privilegien, und zurückscheute davor, sich mit den Tüchtigsten zu umgeben, welche solide Arbeit und rasche Durchführung ermöglicht hätten. So ging denn der Minister in folgender Ordnung mit seiner Reform vor. Am 27. Oktober 1810 legte er dem König einen Gesetzentwurf zur Unterzeichnung vor, in welchem die Steuerfreiheit des Adels aufgehoben und die Aufstellung eines allgemeinen Landeskatasters befohlen wurde. Den 30. Oktober legte er dem König einen zweiten Gesetzentwurf vor, in welchem die geistlichen Güter eingezogen wurden, um mit ihnen einen Teil der Staatsschuld zu bezahlen. Dann folgte den 2. November das Gesetz über Zünfte und Gewerbefreiheit. Hier ist denkwürdig, wie wörtlich durchgeführt das von Hardenberg aufgestellte Programm in diesen drei Verordnungen erscheint. Ähnliche Dekrete hatte die französische Nationalversammlung zwanzig Jahre früher erlassen, und der preußische Staat hatte in seiner Gesetzgebung innerhalb sechs Tagen einen Zyklus durchlaufen, den zu durchlaufen die Revolution zwei Jahre gebraucht hatte.

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Viel länger dauerte es, bis die Akzise zu fallen begann. Hardenberg erkannte ganz genau ihre Unhaltbarkeit. Aber er schwankte lange über das System der indirekten Steuern, welches sie zu ersetzen imstande wäre. Endlich durch das Gesetz vom 26. Mai 1818 wurden alle Zollinien im Innern aufgehoben und auf die allgemeine Grenze Preußens verlegt: so war der sämtliche Verkehr im Innern frei. Als Ersatz traten zwei andere indirekte Steuern auf. Eine Verbrauchssteuer, durch Gesetz vom 8. Februar 1819 eingeführt, von folgenden vier Gegenständen inländischer Erzeugung, von Wein, Bier, Branntwein, Tabaksblättern. Die Schlacht- und Mahlsteuer, durch Gesetz vom 30. Mai 1820 eingeführt, nicht neu als solche, wohl aber in dieser gleichmäßigen Durchführung durch 132 Städte der Monarchie. So war die Akzise umgeformt in die indirekten Steuern, die bei Eintritt der Waren aus dem Ausland und ihrer Ausfuhr erhoben wurden, und die Verbrauchssteuern bestanden in inländischen Produkten. Den Ausfall mußte endlich eine direkte Personensteuer decken, welche unter die Einwohner nach Klassen verteilt wurde. Große und schwere Fehler wurden begangen. Ein Chirurg, der einen Arm abnehmen soll und dies ins Werk setzte, indem er täglich einen Finger und so weiter abnähme, würde keinen Dank verdienen. Ist ea anders mit den Abgaben eines Staates? Sie sind ein System von Gliedern in der Staatsmaschine, man kann nicht allmählich, stückweise eines nach dem anderen abnehmen, ohne unnütze Grausamkeit. Durch Hardenbergs zögernde Reform entstand eine verhängnisvolle Unsicherheit in den Verkehrsverhältnissen. Der erste Grund lag leider auch hier in dem Charakter des Staatskanzlers. Das Gesetz von i8io über die Durchführung der Grundsteuer rief den Widerstand des ganzen Standes der von Steuern befreiten Grundbesitzer gegen ihn auf. Man zieh ihn jakobinischer Grundsätze: man intrigierte zu seinem Sturz. In den Provinzialständen organisierte sich ein starker Widerstand. Da wich Hardenberg zurück. Er verzichtete darauf, das Gesetz vom 27. Oktober 1810 uneingeschränkt durchzuführen. Die Grundlage seines Werkes blieb damit schwankend. Worauf hatte das bisherige Steuersystem Preußens beruht? Die leitenden Grundsätze waren: Die direkten Steuern werden als unveränderliche Staatsrenten aus dem Grundeigentum behandelt. Zu ihnen treten die Renten aus dem ansehnlichen Staatseigentum, d. h. den Domänen. Alle Bedürfnisse, welche durch diese Einkünfte nicht gedeckt sind, werden durch indirekte Steuern aufgebracht. Die Erhebung so hoher indirekter Steuern — denn diese mußten mehr als jene direkten vom Grundeigentum einbringen — war nur möglich durch die berüchtigte Akziseeinrichtung, mit deren letzten Resten

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wir heute zu kämpfen haben. Wenn heute der Reisende durch die Tore Berlins fährt und ihm die Frage des Zollwächters entgegentönt: Nichts Zollpflichtiges? auf sein verdrießliches Nein dann der Wagen weiterrollt: so mag er daran denken, daß dies ein letzter Rest eines umfassenden, schwer drückenden Systems ist, das einst auf allem Handel und Wandel im Königreich Preußen lastete. In den fünf alten Provinzen betrugen diese Steuern zwischen acht und neun Millionen. Die Erhebung so hoher indirekter Steuern war aber nur infolge der Tatsache möglich, daß aller Verkehr in den Städten des Landes konzentriert war. Man behandelte die Städte gewissermaßen als königliche Packhöfe. Da das flache Land seine Bedürfnisse in den Städten holte, ward es mit besteuert. An den Toren der Städte erhob man diese indirekten Steuern, welche das Haupteinkommen des Staates ausmachten. Schon seit dreißig Jahren hatte man das Lähmende solcher Binnenzölle für Gewerbe und Verkehr erkannt. Eine der ersten Maßregeln der französischen Nationalversammlung war die Unterdrückung der Zölle im Innern Frankreichs selbst gewesen. Die Freiheit des Verkehrs in der europäischen Gesellschaft ist einen von der Natur der Sache vorgeschriebenen Weg gegangen. Man verlegte zuerst die Zollgrenzen, welche ehedem Orte nächster Nachbarschaft voneinander wie durch Schlagbäume geschieden hatten, an die äußeren Grenzen der Staaten. Man hat in Deutschland dann die Zollgrenzen der einzelnen Zollvereinsstaaten aufgehoben. Endlich schreitet man dazu fort, sowohl die Klassen der zu besteuernden Gegenstände als die Höhe der Steuern an den großen Grenzen der europäischen Staaten zu verringern. Der Staatskanzler fügte zu den sozialen Reformen Steins, die hauptsächlich den Ackerbau betroffen hatten, solche, welche die Gewerbe betrafen. Am 2. November 1810 legte er dem König den denkwürdigen Gesetzentwurf vor, in welchem die Zünfte aufgehoben und eine völlige Gewerbefreiheit eingeführt wurde, damit jeder Staatsbürger seine Kräfte frei und nach eigener Einsicht gebrauchen könne. Damit war notwendig gegeben, daß das Akzisesystem fallen mußte. Denn wo Schlagbäume benachbarte Städte voneinander scheiden, ist der Freiheit der Gewerbe die Lebensader unterbunden. Alsdann vermochte er ebensowenig energisch die ergänzenden Maßregeln von hervorragenden Finanzautoritäten durchführen zu lassen. Die erste außer Stein war damals Niebuhr. Dieser war so tief erbittert von der frivolen Art, mit welcher der Staatskanzler die Frage behandelte, daß er trotz der lebhaftesten Bitten desselben sich weigerte, mit ihm gemeinsam zu arbeiten. Damals rief er Schön zu Hilfe. Aber auch Schön, einverstanden durchaus mit den leitenden Gesichtspunk-

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ten, war von seinem Finanzplan ganz unbefriedigt. So entsprangen überall aus seinem Wesen Hemmungen. Von diesen wichtigsten Arbeiten Hardenbergs, welche die Gesellschaft und die Verwaltung betrafen, wenden wir uns zu der Stellung, welche er der großen Verfassungsfrage gegenüber einnahm. Die Gesellschaft muß die Mittel zu ihren Bedürfnissen aufbringen; aber sie allein vermag auch anzuzeigen, wie sie aufzubringen seien. Ein rationelles Steuer-, Handels- und Finanzsystem in Europa ward erst möglich durch den allmählichen Fortgang der Repräsentativverfassungen. Daher hatte Hardenberg an die neue Gesetzgebung unmittelbar die Aussicht auf eine Repräsentativverfassung geknüpft. Ich habe erzählt in der Übersicht über Steins Wirken, welche Versprechungen gegeben, welche Vorschläge gemacht wurden, vor und unmittelbar nach dem Kriege. Es waren auf dem Wiener Kongreß besonders die preußischen Gesandten, welche darauf drangen, daß ein Minimum ständischer Rechte in der Bundesakte selber festgestellt werde. Als dies durch widerstrebende Interessen einzelner Fürsten vereitelt war, als der König zum zweiten Male sein Volk auffordern mußte, in den Kampf zu ziehen, uneingelöst die älteren Versprechungen: da ging Preußen allein vor; der König erklärte den 22. Mai 1815, daß er nach beendetem Kriege dem Lande eine Repräsentativverfassung geben werde. Als der Krieg beendet war, wurde zunächst die wichtige Organisation der Verwaltungsbehörden vollendet. Was Stein vorbereitet hatte, ward nun abgeschlossen. Denn man trat in definitive Zustände. Den 20. März 1817 erschien das Gesetz, welches den Staatsrat errichtete, auf den Stein von Anfang seiner Laufbahn ab hingewiesen hatte. Ein Ausschuß dieses Staatsrats ward mit Ausarbeitung einer Verfassungsurkunde beauftragt. Man saß zusammen, beriet, arbeitete. Da kamen die Gegenwirkungen. Das Studentenfest auf der Wartburg. Stourdza über die Gefahren des deutschen Universitätswesens. Kotzebues Ermordung durch Sand. Metternichs für Österreich höchst scharfsinnige, für Preußen unheilvolle Furcht vor der Ausbreitung der Repräsentativverfassungen. Hardenberg ward von der Partei der Restauration umlagert und bewacht. Sie kannten ihn. Er, der gefürchtete Staatskanzler, beobachtete nicht nur sorgsam jede Wendung seiner Gegner in Berlin und an anderen europäischen Höfen, sondern fürchtete sie. Er wollte die Stelle behaupten, die er inne hatte. Er wollte gern den seinen Überzeugungen entsprechenden Weg gehen, aber lieber jeden anderen, als die Höhe verlassen, zu der keine Widrigkeit aus seinen persönlichen Verhältnissen hinaufreichte. Er sah den König täglich. Besser als irgend

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jemand durchschaute er, daß dieser keine Repräsentativverfassung akzeptieren würde. Ja, er sah, daß der König mit Metternich völlig einstimmig war. Damit war ihm die Linie seiner eigenen Politik vorgezeichnet. So trüb als die öffentlichen Verhältnisse waren seine persönlichen. Von seiner dritten Frau hatte er sich durch gütliches Abkommen getrennt. Er selber kränkelte. Ein Nervenschlag endete sein Leben, zu einer Zeit, da niemand wahrhaft ihn betrauerte als diejenigen, welche von ihm abhingen. Sein einziger Sohn entsagte für sich der fürstlichen Würde und starb ohne Nachkommen. Seine einzige Tochter löste zwei Ehen. So versank ein Geschlecht, welches bestimmt schien, durch ihn zum höchsten Glanz sich zu erheben. „Man kann", so urteilte Humboldt über ihn, „mit Wahrheit von ihm sagen, daß, wenn man die Begebenheiten von 1810 bis 1816 wie die Entwicklung eines Dramas betrachtet, ein Dichter keinen geeigneteren Charakter hätte finden können, dieselbe für Preußen herbeizuführen, als den seinigen. Ich habe dies inmitten dieser Begeben^ heiten oft gefühlt." Man darf hinzufügen: in allem Guten und Schlimmen, was in dieser Zeit geschah, leitend durch seine Stellung, bedurfte er für die Durchführung des Guten mächtiger durch die Zeit gegebener Beweggründe und starker ihm zur Seite stehender Naturen; auch das Schlimme war bedingt durch mächtige Verhältnisse und eine Verbindung von Europa leitenden Personen, welchen zu widerstehen ein stärkerer Wille wäre erforderlich gewesen, und ein reinerer, als der seinige war. So versanken die Hoffnungen Deutschlands auf nationale Einheit und auf Repräsentativverfassung während seines Ministeriums, nicht zuletzt durch die Schuld seines Charakters.

III. WILHELM VON HUMBOLDT Fremdartig, dem ganzen Gepräge seines Geistes nach, tritt in diesen Kreis Wilhelm von Humboldt, der Schüler Kants und der Griechen, der Genosse Goethes und Schillers, welcher das Glück seiner römischen Existenz aufgab, um ohne jeden Ehrgeiz, ja ohne Tatendrang, im Gefühl der Pflicht gegen den Staat und gegen sich selber, in dem zerrütteten Staat das schwierige Departement des Unterrichts und des Kultus zu übernehmen. Ein Mensch, der für sich nichts als Muße gewünscht hätte, und doch der genaueste und unermüdlichste Arbeiter, den man sich denken kann. Grieche nach seiner ganzen Bildung, und nun trat er an die Spitze der preußischen Kirchenleitung. Preußen besaß nie einen Unterrichtsminister, der an Größe der Gesichtspunkte und genauer Tüchtigkeit der Ausführung mit ihm zu vergleichen gewesen wäre.

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Die Gesichtspunkte richtig aufzufassen, mit denen er in den Zusammenhang der Reorganisationen in Preußen eintrat, muß man verstehen, wie er geworden ist. Ohnehin gewährt ein Überblick dieses Lebens ein eigentümliches Interesse hoher Art für die hier in Rede stehenden Probleme. In der neueren Geschichte Preußens haben stets zwei Elemente nebeneinander gewirkt, aber stets als getrennte, manchmal als in Fehde liegende Kräfte. Das ältere Preußen erzog einen Staatssinn, den es aber zugleich einschränkte auf die Beamtenwelt, als die unmittelbare und zugleich ausschließende Staatsarbeiterschaft. Dieser altpreußischen Staatsgesinnung stellte sich seit der Katastrophe zur Seite der Inbegriff idealer deutscher Kräfte, welche unsere große geistige Revolution entbunden hatte. Man darf sagen, daß die Fehde zwischen diesen beiden Mächten, altpreußischer straffer prosaischer Staatsgesinnung und dem Enthusiasmus des im vorigen Jahrhundert neugeborenen geistigen Deutschland, auch heute noch nicht beschwichtigt ist. Nie durfte sie durch Aufgeben einer der beiden Richtungen beschwichtigt werden. Ihre Versöhnung ist eine der großen Aufgaben des neuen Deutschen Reiches. Als der Repräsentant der in der geistigen Bewegung Deutschlands entbundenen Kräfte tritt Wilhelm von Humboldt neben einen Stein. Sein Ursprung und sein Lebensgang hatten ihm von den Gewohnheiten und Gesinnungen des hohen preußischen Beamtentums nur gerade genug mitgegeben, daß er in diesem Ganzen mitzuwirken überhaupt in der Lage war.

Wenige Fremde werden Berlin besucht haben, ohne Schloß und Park von Tegel, den Ort, an dem Wilhelm und Alexander von Humboldt aufgewachsen sind und der mit ihrem Gedächtnis untrenilbar verknüpft ist, gesehen zu haben. Das Schloß liegt drei Stunden von Berlin — man kommt durch düstere Kiefernwaldung und Sand — an der Havel, die sich da wie ein See ausbreitet, an der nordöstlichen Spitze dieses Sees, umgeben von einem anmutigen Park. Eine echte Brandenburger Landschaft. In jenen Zeiten stand noch nicht das heutige Schloß, das vielmehr erst eine Schöpfung Wilhelm von Humboldts ist, sondern ein engeres, altertümliches, von den Zeiten des großen Kurfürsten her aneinander gebaut. Wilhelm von Humboldt wurde 1767 geboren, alsdann Alexander 1769. Es macht einen eigentümlichen Reiz ihrer Lebensgeschichte aus, daß in ihr Charaktere und Schicksale von zwei so verschiedenen und doch durch die geniale Verallgemeinerung des Blickes so verwandten Naturen verbunden sind. Ihre Erziehung war eine gemein-

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same. Da der Vater schon im Jahre 1779 starb, so wuchsen die Bruder unter den Augen ihrer ausgezeichneten Mutter in der Aufsicht zuerst — komisch es zu sagen — des glorreichen Aufklärers Campe auf, alsdann aber des trefflichen Kunth. Von Campe wird noch erzählt: als er mit Wilhelm das Zimmer besah, in dem Rousseau gestorben, und als Hofmeister doch überall ein wichtiges Wort äußern zu müssen geglaubt, sei er an das Fenster getreten und in die Worte ausgebrochen: „Zu diesem Fenster ist die große Seele hinausgefahren." Dennoch, so wunderlich der Mann war, gedenkt man daran, daß vielleicht seine sprachlichen Arbeiten die ersten Triebe der Sprachforschung im Geiste Wilhelms weckten, sein Robinson und seine Bilder aus dem Leben kühner Weltumsegler Alexanders Phantasie vielleicht zuerst mit Bildern kühner Entdeckungsfahrten erfüllten. Christian Kunth ward dann nicht nur der Lehrer, sondern für das ganze Leben, auch als er in eine Staatsstellung übergegangen war, der treue Vertraute beider Brüder, ihr Ratgeber in Vermögensangelegenheiten, der Verwalter ihres Besitzes, wenn Wilhelm in Spanien und Italien weilte, Alexander jenseits des Ozeans. Ich wüßte nicht, daß je ein Gelehrter einen so vortrefflichen Erzieher gehabt hätte. Ruhig, geordnet, beharrlich verfolgte er die Aufgabe, alles, was Berlin an echten Bildungsmitteln besaß, für die Entwicklung großer Anlagen fruchtbar zu machen. Unter anderem nahmen sie an Vorlesungen teil, welche der berühmte Staatsmann D o h m , damals im Departement des Auswärtigen in Berlin, einigen jungen Leuten hielt. Alexander wußte immer mit dem älteren Bruder gleichen Schritt zu halten. In der ersten Zeit der Kindheit hatte man ganz an seinen Fähigkeiten verzweifelt, bis es im späteren Knabenalter plötzlich licht in seinem Kopf wurde. Auf Engels Veranlassung hielt ihnen K l e i n , seit 1781 Mitarbeiter an der großen preußischen Gesetzesreform, Vorlesungen über das Naturrecht. Aber der Hauptanteil an der Erziehung Wilhelms gebührt nach seinem eigenen Zeugnis demselben Mann, der später der Erzieher des Königs war, unter welchem Humboldt an der Staatsverwaltung Anteil nahm. E n g e l war es, der in Humboldt durch seinen Unterricht die klare logische Durchbildung des Gedankens und Ausdrucks, die unerschütterliche Nüchternheit des Untersuchungsgeistes förderte, welche zugleich in Humboldts Anlage so tief gegründet waren. So erwuchs er ganz und gar in der Atmosphäre der Berliner Aufklärung. Diese Aufklärung darf nicht unterschätzt werden. Vor allem war sie durch Friedrich in Preußen ganz mit der preußischen Staatsgesinnung verschmolzen. Begeisterung für das Gemeinwohl der bürgerlichen Klasse, für den Ruhm des Königs, für die Stellung Preußens in Europa, für den großen Gang fortschreitenden Unterrichts und

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wachsende Aufklärung waren die Seele aller Bestrebungen der Engel, Biester, Nicolai. Die Schöpfer der preußischen Landwehr und diese Männer waren desselben Geschlechts. Wilhelm von Humboldt mußte später, als er mit den Jakobi und Forster verkehrte, viel Spaß über seine alten Lehrer und Freunde vernehmen, aber was er von ihnen empfangen, gab ihm doch diesen gegenüber die unbestechliche Festigkeit und Klarheit des historisch-politischen Blickes, durch welche er in seinen Schriften sie hinter sich läßt und in seinem Leben zu schöpferischem, zusammenhängendem Wirken befähigt war. Doch war diese Natur so reich, daß noch Elemente ganz anderer Art, welche sich der Erziehung durch die Aufklärung entzogen, in dem Jüngling hervortraten. Es war eine mächtige Sinnlichkeit und ein tiefes Empfindungsleben in ihm. Durch Kunth ward Humboldt in das Haus von Marcus Herz eingeführt und gehörte bald zu denen, welche sich unter die Seelenleitung der Frau Hofrat stellten. Sie machte ihn mit ihren Freundinnen bekannt. Er ward in eine Art von Tugendbund aufgenommen. Er lernte dann in Göttingen Thérèse Forster kennen. Auch die Freundschaft mit jener Frau, welche später die „Briefe an eine Freundin" von dem Greise empfing, stammte aus einer obwohl nur kurzen Begegnung dieser Jahre. Wer durchdringt ganz den Menschen ! Seltsam waren die schroffsten Gegensätze ungeheurer Empfindsamkeit und kältester Ruhe in dem Jüngling gepaart, welche dann erst allmählich im Verlauf einer tiefsinnigen und idealen Entwicklung sich ausglichen. Ein Vorfall zeichnet das drastisch. In Göttingen badete er mit seinem Freunde Stieglitz in der Leine und, fortgerissen, vergeblich ringend, begann er zu sinken und sah den Tod vor sich. Da rief er dem Freunde zu: „Stieglitz, ich ertrinke, aber es tut nichts." Stieglitz sprang nach und rettete ihn. Humboldt erzählte später seine Empfindungen, es waren die der zartesten und edelsten Freundschaft für den anwesenden Freund, des innigsten Andenkens an seine Geliebte, aber in den unmittelbaren Äußerungen fand sich nichts davon, er ging mit dem Freunde, der ihn gerettet hatte, unter Scherz und Lachen noch lange in der Mondnacht spazieren. Es ist bezeichnend für ihn, daß er auch später den tiefsten echtesten Sinn für Männerfreundschaft mit kühlem und keuschem Bezeigen und Aussprechen verband. Nicht minder seltsam ist in ihm die größte Fähigkeit für Geschäfte gepaart mit einer Gesinnung, für welche in der persönlichen Ausbildung der schließliche Zweck des Lebens, in den Ideen das Leitende lag. „Hätte ich", schrieb er an Schiller, „einen Wirkungskreis wie der, welcher jetzt eigentlich Europa beherrscht (Napoleon), so würde ich ihn doch immer als ein jenem Höheren Untergeordnetes ansehen, und das ist meine wahre Meinung."

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Die Gesellschaft, in welche er nunmehr in Göttingen und von da ab eintrat, entsprach mehr als die Berliner dem Gefüge seines Wesens. Doch sieht man auch hier durch, daß er die Inkonsequenz und Einseitigkeit der neuen Genossen mitten im schönsten Enthusiasmus keinen Moment vergaß. Er blieb auch hier überlegen. Er lernte F ors t e r kennen. Als ein Siebzehnjähriger hatte dieser die Reise um die Welt gemacht, als ein Zwanzigjähriger sie beschrieben; ein die Erde umfassender Blick, eine Verknüpfung aller Interessen, welche Naturforschung und Historie darbieten, im Studium und der Förderung des Menschen, eine ihn selber und andere verwirrende Vielseitigkeit, in welcher er so aufwuchs: das war sein intellektueller Charakter, und wie mußte er Humboldts Seele erweitern, ohne doch zugleich ihm die Freiheit zu nehmen. Er lernte J a k o b i kennen. Fünf Tage, welche sie in Pyrmont zusammen waren, ließen ihn zugleich den Adel seines vom Selbstgefühl getragenen Empfindens und seinen dialektisch hervorragenden, aber für den Gedankenaufbau unproduktiven Scharfsinn durchschauen: so sonderbar ist in die starken Seiten dieses Mannes überall etwas eingemischt gewesen, wodurch sie beinahe degenerierten. Diesen deutschen Kreisen gab einen sonderbaren Hintergrund die ausbrechende Französische Revolution. Das weltgeschichtliche Drama begann, in dessen Verlauf Humboldt als Mithandelnder in den letzten Akten aufzutreten bestimmt war. Damals hatte er sich mit dem Menschenfreund Campe als heiterer Zuschauer des ersten Aktes eingefunden. Die beiden waren ausdrücklich nach Paris gereist, der Befreiung der Humanität von mittelalterlichen und dynastischen Fesseln persönlich beizuwohnen. Sie sahen den Schauplatz des eben beendeten Kampfes vom 14. Juli. Sie wurden von Mirabeau in die dichtgefüllten Zuschauerräume des Parlaments geführt, um den Debatten beizuwohnen. Sie mischten sich unter die Deputierten, welche am 13. August Ludwig XVI., als dem Wiederhersteller der französischen Freiheit, ihre Glückwünsche darbrachten, und sahen Marie Antoinette im Schlosse und den König —: ein deutscher Edelmann und ein exzentrischer deutscher Humanitätsschriftsteller unter den französischen Politikern des ersten Revolutionsjahres versteckt. Campe, in seinem dann gedruckten Tagebuch, wird ganz närrisch angesichts dieser Vorgänge. Humboldts großes, klares, vornehmes Auge sah die Revolution von Anfang, wie sie war, und er brachte sehr ernüchternde Berichte nach Deutschland zurück. An solche Anschauungen schloß sich die wichtige Schule des Beamtentums. Humboldt arbeitete nunmehr in Berlin als Referendarius am Kammergericht. Dieses bildete damals das letzte Bollwerk aller Rechte im preußischen Staat. In einem wichtigen Prozeß, der die Preß-

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freiheit gegenüber den Maßregeln des Ministeriums Wöllner betraf, funktionierte Humboldt als Protokollführer neben seinem Lehrer, dem berühmten Juristen Klein. Daneben politisierte und lebte Humboldt mit G e n t z , der damals in Berlin den hervorragendsten politischen Verstand, für seine Verhältnisse die meisten Schulden und für einen Mann seiner Art den schlechtesten Ruf hatte. Ein neuer Mitspieler in den letzten Akten des großen Dramas, das von 1789 bis 1815 sich abgespielt hat, trat damit in Humboldts intimste Nähe. Über zwanzig Jahre später sollten die beiden bei den großen Friedensschlüssen am selben grünen Tisch sitzen. Nun aber trat Humboldt endlich in den Kreis ein, welcher seiner großen Natur genug tat, in welchem er den festen Grund seiner persönlichen und wissenschaftlichen Weltstellung legen sollte. Weder Campe, Biester und Engel, noch Forster und Jakobi waren dieser tiefen, festgegründeten, umfassenden Natur gewachsen gewesen. Nun traten ihm die entgegen, mit welchen er die schönsten Jahre seines Lebens in einer beneidenswerten Gemeinschaft denken, arbeiten, genießen sollte. Die Liebe sollte ihn in diesen Kreis führen. Der Kreis, in welchem er in Berlin lebte, war auch mit Karoline von Dacheröden, einer Verwandten des Koadjutors Dalberg, in Erfurt, in Verbindung. So entwickelte sich eine Verbindung, welche für Humboldt das ganze Leben hindurch eine Quelle des seltensten Glückes sein sollte. Schiller bezeichnete Karoline als eine ungewöhnliche idealische Erscheinung voll Adel und Feinheit. Im Juni 1791 verbanden sie sich, und Humboldt zog sich, nachdem er als Legationsrat den Staatsdienst verlassen, nach Burgörner, in der Nähe von Mansfeld, einem Gute seiner Frau, zurück, in tiefster Einsamkeit dort seiner Liebe und seinen Studien zu leben. In dieser Einsamkeit entstand die Schrift, welche Humboldts Antwort auf die Tatsache der Französischen Revolution ist. Sein gesunder, an Kant geschulter Sinn verwarf die ganze Methode, wodurch die neue französische Verfassung zustande gekommen war. Hier entspringt eine wichtige historisch-politische Ansicht, welche ihr Licht auch auf die Geschichte unserer Gesamtverfassung von 1848 wirft. Die französische Verfassung ward gebildet „nach bloßen Grundsätzen der Vernunft" und wird demgemäß sich nicht erhalten können. Denn ohne Erfahrung ist Vernunft nicht politisch schöpferisch, und ohne die realen Verhältnisse sind ihre Produkte nicht haltbar. Verfassungen haltbarer Natur entspringen daher nur im geschichtlichen Kampf politischer Ideen mit „der gesamten individuellen Beschaffenheit der Gegenwart, der vorhandenen Summe individueller menschlicher Kräfte".

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Er verwarf den leitenden Gedanken, welcher inhaltlich der in der Französischen Revolution geschaffenen Verfassung zugrunde lag. Dieser Gedanke war nichts als die Fortsetzung des leitenden Gedankens im alten Regime. Die Regierung, verantwortlich für das physische und moralische Wohl der Staatsbürger, entwirft einen Inbegriff von Maßregeln, um dieses zu regeln. Humboldt nannte diese Maxime mit Recht „den drückendsten und ärgsten Despotismus". Diese Gedanken zirkulierten in Briefen Humboldts an verschiedene Freunde. So gelangten sie an D a l b e r g , der schon damals bestimmt war, Kurfürst von Mainz zu werden. In diesem Manne, der sich mit gemütsweichen, aber wenig praktischen Plänen trug, wie er das Wohl der künftigen Untertanen zu schaffen hoffe, riefen sie lebhaften Widerspruch hervor. Er bat Humboldt um eine Darlegung über die Grenzen der Wirksamkeit des Staates. So entstand die Schrift: „Ideen zu einem Versuch, die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen." Sie ist in ihrer negativen Tendenz höchst bedeutend und unangreifbar. Sie ist geschrieben „gegen den Wahnsinn des Regierens, als die verderblichste Krankheit der neueren Regierungen". Anschaulich stellt sie dar, was Humboldt am preußischen System so genau als seinen Grundfehler kennengelernt hatte. Er war hier ganz eins mit Stein. Dies System der Vielregiererei von oben macht aus dem Beamtentum eine dienstbare Maschine, aus den Untertanen selbstlose Gegenstände für diesen Regierungsapparat, in welchen dann der praktische, selbständige Sinn mangelt. Mit derselben anschaulichen Klarheit zeigt dieser Versuch das Unternehmen der Französischen Revolution in seiner Nichtigkeit, einen Vernunftstaat zu gründen, welcher durch neuerdachte Maschinen der Regierung das Wohl aller verwirkliche. Auch die positive Absicht ist höchst bedeutend, doch keineswegs geeignet, durchaus Billigung zu finden. Der Staat ist da um des Menschen willen, nicht dieser um des Staates willen. Die Aufgabe des Menschen ist freie Entwicklung all seiner Kräfte. Diese Aufgabe fordert Freiheit oder Selbständigkeit einerseits, Sicherheit andererseits. Diese letztere kann der Staat allein gewähren; er ist also als Rechtsstaat eine Sicherheitsanstalt. Die erstere Aufgabe selbständiger Entwicklung braucht der Staat nur nicht zu hindern, sie positiv zu fördern vermag er nicht. Hieraus folgt, daß er in Erziehungswesen, Religion und Sitten nicht einzugreifen hat. Von diesen Gedanken aus deutet Humboldt umfassende Reformen des Rechts an: keinerlei Beschränkung der Ehescheidung, kein Testatrecht, möglichst gelinde Strafen, mit völligem Ausschluß der Strafe der Ehrlosigkeit. Sind so die Fesseln des Staates gebrochen, so vermag alsdann, nach

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Humboldts Ansicht, frei. das Gestaltende und Verknüpfende in der menschlichen Natur die Verbindungen der Glieder einer Nation hervorzubringen. Die Nation stellt sich Humboldt unter dem Bilde einer edlen Gesellschaft vor, eines „Nationalvereins". „Es ist das freie Wirken der Nation untereinander, welches alle Güter bewahrt und die Menschen in eine Gesellschaft führt." Freie Assoziationen leisten so, was vordem die für das Wohl der Nation sorgende Regierungsgewalt leistete. Und der Staat selber muß streben, „die Menschen durch Freiheit dahin zu führen, daß leichter Gemeinheiten entstehen, deren Wirksamkeit an die Stelle des Staates treten könne". Es ist die Stärke dieser politischen Theorie, daß sie die Selbstregierung an die Stelle der Regierung setzt. Es ist ihr schwacher Punkt, daß sie diese Selbstregierung nicht in organische Verbindung mit dem Staatszweck und den obersten Organen des Staates setzt. Sie ist im edelsten Sinne deutsch durch jene erste Tendenz, mit allen größten Leistungen der Reorganisationsepoche einmütig. Indem sie aber den abstrakten Gegensatz zwischen dem selbsttätigen Menschen und der ihn einschränkenden Staatsgewalt festhält, bleibt sie stehen vor dem schöpferischen Gedanken, mit welchem Stein und Scharnhorst einsetzten. Hier liegt ein Mangel Humboldts, welcher ihm in seiner ganzen politischen Tätigkeit eigen blieb. Der am meisten demokratische unter den großen preußischen Staatsmännern, stand er doch jederzeit unentschlossen vor der Aufgabe, Steins Reform durch eine Repräsentativverfassung zum Abschluß zu bringen. Im Mai 1792 war diese Schrift vollendet. Am 6. Januar 1809 erst traf ihn der Ruf, in die Reorganisation Preußens miteinzugreifen. Siebzehn Jahre sich vertiefender Selbstbildung und umfassender Forschung lagen dazwischen. In ihnen näherte er sich stetig der hohen Reife, in welcher seine große politische Aufgabe und seine wissenschaftliche von ihm ergriffen werden sollten. Denn diese glückliche Natur erfaßte nichts zu früh, bewältigte aber mit den Jahren das Höchste. Die Reorganisation des Unterrichts, die großen Friedensschlüsse waren seine politische Aufgabe; die Begründung der Sprachphilosophie seine wissenschaftliche. Er begann mit der Altertumswissenschaft. F r i e d r i c h A u g u s t W o l f , der Begründer derselben in Deutschland, ward selber sein Führer. Im Sommer 1792 besuchte Humboldt den genialen Philologen in Halle, und von da an nahm ihn Wolf in seine strenge und genaue Schule. In den Weihnachtsferien von 1792, als Wolf bei ihm in Auleben war, ermutigte er ihn, seine Ideen über den Charakter der D i l t h e y , Gesammelte Schriften XII

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Griechen und den Zweck ihres Studiums niederzuschreiben. Die Aufgabe der Altertumswissenschaft ist ihm schließlich die „philosophische Kenntnis des Menschen überhaupt". Der Blick muß, diese Kenntnis zu erlangen, anhaltend auf eine große Nation und deren Bildungsgang gerichtet sein. Er muß sie, wie die Biographie ein Individuum, umfassen. Die Griechen aber sind das Mustervolk für die Erkenntnis echter Menschlichkeit. Daher entspringt aus ihrem Studium mitten in der Erkenntnis zugleich die zarte Blüte der „Bildung des schönen menschlichen Charakters". Diese Grundzüge sind für Wolf leitend geworden. Was in ihm naive Genialität war, fand er hier philosophisch erkannt. Vergeblich hatte er versucht, das zusammenfassende Wort für die von ihm erstrebte Reform der Altertumswissenschaft zu finden; der philosophisch geschulte, tief denkende Genosse sprach es ihm nun aus. So reifte denn in Wolf jene vierzehn Jahre später erschienene „Darstellung der Altertumswissenschaft", welche eine so mächtige Wirkung hervorbringen sollte. In ihr bekannte er, wieviel er den mündlichen und schriftlichen Unterredungen des „edlen und vortrefflichen Genossen seiner philologischen Studien" verdanke; hier verwob er mit seinen eigenen Ideen eine Reihe von Stellen jenes frühen Aufsatzes von Humboldt. Von der Altertumswissenschaft und ihrem genialen Vertreter schritt Humboldt weiter zu umfassenden philosophischen Forschungen, angeschlossen an das Höchste, was unsere Nation damals zu bieten vermochte: Schiller, Goethe und Kant. Persönliche Bildung und vergleichende Anthropologie als philosophisch-historische Wissenschaft beschäftigten ihn in dieser nunmehr folgenden höchst glücklichen Epoche. In den ersten Tagen des April 1793 hatte er von Erfurt aus S c h i l l e r besucht, dessen Frau und Schwägerin seiner Frau innig befreundet waren. Fäden persönlichster Art waren zwischen ihnen; sie traten sich von vornherein nicht als Fremde gegenüber. Es war die Zeit jener philosophisch-ästhetischen Vertiefung Schillers, die seiner großen schöpferischen Epoche voraufging. In dieser Zeit mußte die Begegnung für beide Männer ein Ereignis werden. Humboldt siedelte nach Jena über, und eine Freundschaft zwischen beiden Männern entstand, welche Humboldt jederzeit unter die höchsten Güter seines Lebens gerechnet hat. Schiller ward erfaßt von der „seltenen Totalität" in Humboldts Wesen. Er fand, daß sich im Gespräch mit ihm all seine Ideen leichter entwickelten. Sie waren beide Idealisten. Man kann nicht schlichter und tiefer dies aussprechen, als mit den Worten der Nachrede Humboldts an den früh verstorbenen Freund. Wie „der Gedanke das eigentliche Element seines Lebens gewesen, wie er nicht

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anders als umgeben von den höchsten Ideen und den glänzendsten Bildern gelebt hatte, wie er in rastlosem geistigem Fortbewegen sein Leben und Streben stets als etwas Unendliches betrachtet, wie er mit tiefer Liebe, mit echter und steter Leidenschaft in seinem Schaffen und dessen Gegenstand versenkt gewesen, wie alles Gemeine tief unter ihm gelegen und wie selbst das Gewöhnliche durch die Größe der Ansicht und der Behandlung von ihm geadelt worden". Welch ein Gespräch entwickelte sich zwischen diesen beiden Menschen! Sie hatten in der schönsten Vertraulichkeit eine persönliche gemeinschaftliche Grundlage, in der Philosophie Kants, welche auszubauen beiden als höchstes Ziel philosophischer Forschung erschien, eine wissenschaftliche Basis. Die beiden Familien lebten wie eine. Meist zweimal des Tages sahen sich die zwei Freunde, und ihre Abendgespräche zogen sich oft bis tief in die Nacht. Humboldt selber hat die Gesprächsweise des Freundes beschrieben. Liebenswürdigkeit und Größe verschmolzen sich ineinander, die Begeisterung des Schaffens sprühte dann in den Worten seines Mundes, den Flammen seines Auges: in den glücklichsten Momenten seines Gesprächs war er mit keinem unter allen Menschen zu vergleichen. Von Humboldts Gespräch aber schrieb Schiller an Körner, „es wecke jede schlummernde Idee und nötige zur schärfsten Bestimmtheit". Als „vergleichende Anthropologie" bezeichnete Humboldt die wissenschaftliche Aufgabe, welche sich ihm unter dem so erweiterten Gesichtskreis ergab. Einzelne Studien über die Geschlechter, über das Epos, anknüpfend an „Hermann und Dorothea", traten heraus. Der Gesamtplan aber ward der breite und tiefe Untergrund, auf welchem seine Sprachforschung sich aufbauen sollte. Dies vergleichende Studium des Menschen forderte, daß er zunächst die Individualitäten der großen Kulturnationen studiere. Er teilte mit seinem Bruder Alexander den universellen Blick und die in realistischen Naturen mit ihm untrennbar verknüpfte Reiselust. Nichts, hatte er schon früher erklärt, möchte er unangeschaut auf der Erde zurücklassen. So wurden die nächsten Jahre in Frankreich, Spanien und Italien zugebracht. Ja, noch weiter wollte ihn dieser Zug locken. Kaum hielt er sich zurück, den Bruder auf einer von diesem projektierten großen orientalischen Reise zu begleiten. Zuerst ließ man sich in Paris bequem nieder. Interessante Beobachtungen über die französische Schauspielkunst teilte er damals nach Deutschland mit. Der französische Schauspieler spielt im ganzen mehr die Leidenschaft als den Charakter; er läßt den Zuschauer nicht sowohl in eine Gemütsart und einen Gang der inneren Bewegungen blicken, als in einen augenblicklichen Gemütszustand. Daher ist die

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Darstellung verschiedener Rollen weniger individuell nuanciert; sie folgt mehr gewissen wiederkehrenden Typen. Der Ausdruck der Leidenschaft ist mehr der physische der Natur als der höhere idealische. Es ist durchsichtig, wie hinter dieser Darlegung die Einsicht in eine wesentliche Verschiedenheit französischer und deutscher Nationalität liegt. Auch physiognomische Studien beschäftigten ihn zur selben Zeit. Er suchte nach Grundtypen. Immer wieder forschte er an jenem Punkte, an welchem Sinnliches und Geistiges verschlungen sind, den Menschen zu studieren. Darum zog ihn das Problem der Geschlechter an, der Gesichtsausdruck: bis er endlich in der Sprache das Problem festhalten sollte, welches von hier aus die umfassendsten Perspektiven eröffnet. Dies Problem der Sprache trat ihm nun näher auf seiner weiteren Reise nach Spanien. Das Studium des Baskischen fesselte ihn dort. Er durchforschte die Pariser Manuskripte, als er von der spanischen Reise zurückgekehrt war. Er wandte sich dann plötzlich noch einmal nach Spanien, sein Material zu erweitern. Er hatte den Punkt gefunden, an welchem seine wissenschaftliche Forschung ihre Hebel einsetzte, jenes große und universelle Problem einer vergleichenden Anthropologie zu bewegen. Und nun führte ihn das Schicksal an denjenigen Ort, welcher von allen der geeignetste ist, den mächtigen Umkreis emporgestiegener und gesunkener Nationen wie mit einem Blicke zu überschauen. Wer wäre in Rom gewesen, und es wäre nicht über ihn jene universelle Gemütsverfassung gekommen, in welcher wie von selber der Blick den ganzen Horizont menschheitlicher Geschichte umschreibt! Es war ihm beschieden, nun eine Reihe von Jahren in glücklichster Muße in Rom zu leben. Mit seltener Gunst hatte das Schicksal über ihm gewaltet. Sein Reichtum hatte ihm möglich gemacht, solange er ganz sich selber leben wollte, dies in völliger Freiheit zu tun. Seine vornehme Geburt, die Verbindungen seiner Familie machten ihm möglich, die einzige Staatsstellung, welche in dieser Zeit seinen Wünschen und seinen wissenschaftlichen Plänen entsprach, sofort zu erhalten, sobald er sie begehrte. Denn die Familie Humboldt war seit alten Zeiten im Dienste der brandenburgischen Fürsten. Humboldts Vater hatte zu Friedrich Wilhelms II. bevorzugten Günstlingen gehört. Humboldt selber stand in nahen Beziehungen zu dem Hof und den ersten Ratgebern Friedrich Wilhelms III. Uhden hatte um seine Abberufung aus Rom nachgesucht. Die Stelle des dortigen Gesandten war damals die einzige, welche Humboldt locken konnte, und sie ward ihm, auf Beymes Antrag, sofort zuteil. Im Herbst 1802 trat er die Reise nach dem neuen

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Bestimmungsorte an. Er sah in Halle abermals Wolf, um sich von ihm mit philologischen Notizen und Aufträgen beladen zu lassen. Er sprach in Weimar mit Goethe über das Land, „wo das Herrlichste, was die Kunst hervorgebracht, unter freiem Himmel steht, und wo man zu solchen Wunderwerken unentgeltlich, wie zu den Sternen des Firmamentes aufschauen darf". Er sagte Schiller Lebewohl, dem teuersten Freunde, den seine Augen nicht wiedererblicken sollten. „Wie oft", schrieb er an Goethe, da er Schillers nach seinem Tode gedachte, „ist es mir eingefallen, daß der Mensch sich leichtsinnig trennt, zerreißt, was ihn beglückt, und mutwillig nach dem Neuen hascht. Wenn die wahre Ungewißheit des menschlichen Schicksals dem Menschen so lebendig vor Augen stände, als sie es sollte, würde kein Mensch von Gefühl je sich entschließen, die Spanne Landes zu verlassen, auf der er zuerst Freunde umarmte." Am 25. November abends fuhr er durch die Porta del Popolo in Rom ein und bezog seine Wohnung auf dem Monte Pincio in einem alten Bau, von dem aus einst die Maltheserritter auf die ewige Stadt, die Campagna und die Höhen von Albano geschaut hatten. Nie war ein preußischer Gesandter so populär in Rom als Wilhelm von Humboldt. Er hatte keine Art von politischen oder religiösen Forderungen an den Vatikan. Um so lieber gewährte man ihm, was er für die Deutschen von Schutz und Förderung erbat. Nicht, als hätte er nicht durchschaut, wo in anderen Zeiten der politisch-religiöse Schwerpunkt seiner Stellung gelegen haben würde. Behielt er doch unter so ungünstigen Umständen stets als die Aufgabe seiner Stellung im Auge, „dem Zwang, den man von Rom aus sogar noch in den entferntesten Gegenden ausüben möchte, soviel es angeht zu steuern". Doch schönere Befriedigung fand er darin, die hervorragenden deutschen Künstler, welche damals in Rom vereint waren, zu fördern, gelehrten Unternehmungen hilfreich zu sein, einen Mittelpunkt der Deutschen in seinem Hause zu schaffen. Denn hier umgab ihn das heiterste Gelingen. Seine Frau besaß ein unvergleichliches Talent der Geselligkeit, ihm selber, mit seinen feinen diplomatischen Formen, war im Vatikan das Unmögliche im Kleinen zu erreichen möglich — wenn er das Große nur nicht anrührte! Mit Humboldt begann jene schöne Verbindung des preußischen Staates mit dem Boden und der Vergangenheit der ewigen Stadt. Niebuhr und Bunsen sind in demselben Geiste als Gesandte in Rom tätig gewesen. Die Schule der deutschen Kunst in Rom, der dortige Sitz der Kunstwissenschaft und Inschriftenkunde Deutschlands entstanden so. Für ihn selber war Rom die Vollendung seiner gesamten inneren Bildung. Ich wüßte nicht, daß sich, außer Goethe, jemand so tief als

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Humboldt über Rom ausgesprochen hätte. Hier sei, sagte er, „der Begriff des welthistorischen Ganges der Menschheit, das Gefühl des notwendigen Sinkens alles Bestehenden in der Zeit, wie in einem ungeheuren Bilde auf alle Zeiten verkörpert hingestellt". In diesem Gefühl konnte er sich bis zu Äußerungen hinreißen lassen, welche härter klingen, als die härteste und vielangefochtenste von Goethe. „Nur wenn", so schreibt er an Goethe, „in Rom eine so göttliche Anarchie, und um Rom eine so himmlische Wüstenei ist, bleibt für die Schatten Platz, deren einer mehr wert ist als dies ganze Geschlecht." Sicher würde er als praktischer Politiker jeden Schritt unterstützt haben, der Rom aus diesem Zustande der Anarchie gerissen hätte. Aber es muß erlaubt sein, zu abstrahieren und sich einem Eindruck ganz hinzugeben, ohne durch andere, ebenso berechtigte, ihn aufzuheben. Dieser Eindruck war ihm derjenige der „Stadt der Trümmer". Er fühlte jene weltgeschichtliche Melancholie über den Ruinen weben, welcher einst Gibbon einen so erhabenen Ausdruck gegeben hat. Aus dieser Stimmung entsprang die Elegie, welche er Rom gewidmet hat: Stets an Albas ernster Scheitel hängen Möchte zauberisch gebannt der Blick, Wo einst Latium mit Festgesängen Flehte von dem Donnrer Sieg und Glück, Zu Soraktes lichten Höhn sich drängen Kehren über Tiburs Hain zurück: All die tiefen schweifenden Verlangen Halten in dem engen Raum gefangen.

Auf diesem Boden setzte er seine sprachwissenschaftlichen Forschungen fort. „Im Grunde ist alles, was ich treibe, auch der Pindar, Sprachstudium. Ich glaube die Kunst entdeckt zu haben, die Sprache als ein Vehikel zu brauchen, das Höchste und Tiefste und die Mannigfaltigkeit der ganzen Welt zu durchfahren, und ich vertiefe mich immer mehr in dieser Ansicht." Selbst die Übersetzungen des Agamemnon von Äschylos und Pindarischer Oden, welche hier entstanden, sind beherrscht von dem linguistischen Gesichtspunkt. „Mir hat es immer geschienen", sagt die Einleitung zum Agamemnon, „daß vorzüglich der Umstand, wie sich in der Sprache Buchstaben zu Silben und Silben zu Worten verbinden, und wie diese Worte sich wieder in der Rede nach Weile und Ton zueinander verhalten, das intellektuelle, ja sogar nicht wenig das moralische und politische Schicksal der Nationen bestimmt oder bezeichnet." Der grammatisch-rhythmische Gesichtspunkt ist daher sogar in diesen Übersetzungen herrschend. Für die Linguistik selber kamen ihm nunmehr immer bedeutendere Hilfsmittel zusammen. Hier war das Institut der Propaganda, aus welchem Priester ausgehen, in den verschiedensten Sprachen das Evangelium

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zu verkünden. In ihm lagerten reiche Schätze für sprachliche Studien. Und Alexander erschien aus der neuen Welt mit reichen Materialien zum Studium der amerikanischen Sprachen. An Alexander richtete er jenes Gedicht, das schließlich am besten die Stimmung veranschaulicht, in welcher er diese römischen Jahre abschloß: Glücklich bist du gekehrt zur Heimatserde, Von fernem Land und Orinokos Wogen. Ο wenn — die Liebe spricht es zitternd aus — Dich andren Weltteils Küste reizt, so werde Dir gleiche Huld gewährt, und gleich gewogen Führe das Schicksal dich zum Vaterherde, Die Stirn von neu errungnem Kranz umzogen. Mir gnügt, im Kreis der Lieb', im stillen Haus, Daß mir den Sohn zum Ruhm dein Name wecke, Mich einst ein Grab mit seinen Brüdern decke.

Lag doch dort bei der Pyramide des Cestius sein Kind, der Liebling seines Herzens, begraben, und bei ihm zu ruhen war sein Wunsch. Aber schon griff, was in Deutschland inzwischen geschehen war, nicht nur aufs tiefste in sein Gemütsleben ein: es bestimmte auch sein nunmehr folgendes Schicksal. Humboldt liebte seine Nation. Aber er hatte sie geliebt, wie er Griechenland liebte. Die beschauliche Tiefe in ihr, deren Kehrseite ihre politische Ratlosigkeit war, erfüllte ihn mit ausschließlicher Begeisterung. Die einander "überbietenden Fehler der politischen Leitung erregten in ihm Ekel, aber nicht das Feuer patriotischer Entrüstung. Da kam der Schlag von Jena und rüttelte auch ihn auf. „Wir sind alle unglücklich", schrieb er aus Rom, „ich sage wir alle, die sonst ein froher und harmloser Kreis umschloß. Die Samen unseres Unglücks lagen in unserer damaligen Sorglosigkeit. Mir war seit lange vor dem Ausgang bange und ich zitterte vor dem Augenblick der Entscheidung." Er verließ Rom. Denn auch das Schicksal des Kirchenstaates war entschieden. Die Stadt war von französischen Truppen besetzt, der Papst in seiner eigenen Residenz ein Gefangener. Rom war eine französische Stadt, die amtliche Stellung Humboldts hatte damit ihr Ende erreicht, und im Herbst 1808 kehrte Humboldt nach Deutschland zurück. Den 6. Januar 1809 traf ihn von Königsberg aus in Erfurt die Aufforderung des Königs, in der neugebildeten Regierung die Stelle des Direktors der Sektion für den Kultus und Unterricht zu übernehmen. Eben war Stein auf den Befehl Napoleons entlassen worden; er hatte vor der französischen Achtserklärung Schutz in den österreichischen

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Staaten suchen müssen. Das Ministerium Altenstein-Dohna war gefolgt. Nach der damaligen Organisation der obersten Behörden waren Kultus und Unterricht dem Minister des Innern untergeordnet; die Leitung desselben, als Abteilungsdirektor, sollte nunmehr Humboldt übernehmen. Humboldt zweifelte nicht einen Augenblick, was die Pflicht von ihm fordere. Er glich in diesem Punkte wenig Goethe oder Wolf. Er war ein alter märkischer Edelmann, und er war ein Kantianer. Wenn der König und die Pflicht riefen, war er auf seinem Posten. Ohne allen Drang nach den Geschäften, nach großer Wirksamkeit, aber mit einer ruhigen Sicherheit, welche in diesen aufgeregten Zeiten gewiß aufrichtend und stärkend auf seinen Kreis wirkte. So schreibt er von Königsberg aus 1809 an Wolf: „Von der Zerfallenheit der Dinge, wie Sie es nennen, zeigt sich nicht eben mehr, ja weniger, als sich vor einiger Zeit besorgen ließ. Niemand kann die Zukunft enträtseln; aber ich weiß nicht, ich habe einen vielleicht manchem wunderbar scheinenden Mut." Bald darauf die großgedachten Worte, mit denen er auch das Wagnis der Berliner Universität begründete: „Man muß am Rande des Abgrundes das Gute nicht aufgeben." Humboldts Tätigkeit war im echten Zusammenhang mit der von Stein gegründeten Reorganisation. Schon Vincke hatte die Reorganisation des Schul- und Kirchenwesens als die Hauptsache bezeichnet, ohne welche alle anderen Reformbestrebungen in sich zerfallen müßten. Stein in seinem politischen Testament hatte Neubelebung des religiösen Sinnes im Volke und geistig-sittliche Bildung der Heranwachsenden als die Bedingungen genannt, unter welchen allein alle sonstigen Einrichtungen ihren Zweck erreichen könnten. Humboldt wußte, was Vincke und Stein forderten. Und wenn das Ministerium AltensteinDohna scharfem und gerechtem Tadel unterlag: das von Humboldt verwaltete Departement nahm man immer aus und erkannte an, daß in ihm allein der Steinsche Geist lebendig und die Steinschen Intentionen mächtig seien. Stein selber würdigte freudig Humboldts Tüchtigkeit. In allen Kreisen des Unterrichtswesens verbreitete sich durch Humboldt ein neuer Geist. Das Elementarschulwesen war lange ohne neue durchgreifende Impulse gewesen. Nun traf Humboldts Tätigkeit zusammen mit einer Epoche theoretischer Regeneration. In P e s t a l o z z i hatte sich, da er das Elend des Volks sah, der Gedanke einer neuen Erziehung erhoben, welche seine wahren Kräfte entbände. Die Grundkräfte des menschlichen Wesens sollten durch die Erziehung entwickelt werden. Der Mensch aber sollte nicht von außen gebildet werden, als gelte es, durch Erziehung ihn willkürlich zu formen; die selbsttätige Kraft seines

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eigenen Wesens sollte nur zu freier und gesunder Entfaltung gelangen. Es war derselbe Grundgedanke, auf dem die kraftvolle Philosophie Fichtes beruhte, und Fichte nahm sie begeistert auf in seinen Plan einer Neubildung der Nation. Ebenso kam diese Erziehung der Aufgabe entgegen, welche sich Stein gestellt hatte, und Stein erkannte freudig diese Methode an, welche „die Selbsttätigkeit des Geistes erhöht, den religiösen Sinn und alle edleren Gefühle des Menschen erregt, das Leben in der Idee befördert und den Hang zum Leben im Genuß mindert und ihm entgegenwirkt". So war schon, als Humboldt eintrat, die Förderung dieser Methode ins Auge gefaßt, und man hatte Zeller, vielleicht den fähigsten Schüler von Pestalozzi, nach Deutschland kommen lassen. Besonders N i c o l o v i u s , welcher unter Humboldt die Kultusangelegenheiten bearbeitete, hatte in Kraft früherer persönlicher Anschauung dieser Pestalozzischen Bestrebungen mit Lebhaftigkeit die Sache gefördert. Es war Humboldts Verdienst, daß nun alle Schwierigkeiten entfernt und die Angelegenheit energisch betrieben wurde. Von da ab fand die Erziehungsmethode Pestalozzis in Preußen eine neue Heimat und begeisterte Verteidiger. Pestalozzi selber war tief ergriffen von diesem Gang seiner Reformbestrebungen. Es erschien ihm als die Sicherung seines großen Werks, daß der preußische Staat in den Zusammenhang seiner Reorganisation dasselbe einzufügen den Willen hatte. In Königsberg bestand Zellers Institut, und während seiner dortigen Anwesenheit besuchte Humboldt dasselbe mehrmals. Ja, er übergab seinen eigenen Sohn, den er aus Italien mitgebracht hatte, einer Pestalozzischen Erziehungsanstalt. So tief war er von der Richtigkeit und Bedeutung dieser Methode durchdrungen. Indem er sich den Gymnasien zuwandte, war Humboldt ganz auf seinem eigensten Felde. Ein ganzes Leben hindurch hatte er über die Bedeutung der Alten für unsere Bildung nachgedacht. Wie hätte er nicht genau und selbständig hier eingreifen sollen? Humboldt legte den Grund zu der nachmaligen Blüte der Gymnasien in Preußen. Er steckte das Ziel des Gymnasialunterrichts höher. Wolfs Rat stand ihm hier zur Seite, nicht minder wertvoll war die tätige Mitarbeit Süv e r n s , der, selber ein vortrefflicher Philologe, in die Sektion des Unterrichts eingetreten war. Dies alles aber ward überragt durch die eine Tat, welche vor allem Humboldts Namen auf dem Gebiet der Tatsachen unsterblich macht, die Gründung der Universität Berlin mitten in der äußersten Finanznot und der politischen Krisis des Staates. Gedenkt man der kurzen, bedeutungsvollen Verwaltung Humboldts, so haftet an dieser Gründung vor allem das Auge. Die Monarchie hatte die Universität Halle verloren. Zwei Universi-

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täten allein waren ihr geblieben: Königsberg und Frankfurt an der Oder. Die Universität Königsberg war hervorragend: es war dies die Blütezeit derselben: Kant als Philosoph und Kraus als Nationalökonom gaben ihr auf die ganze Haltung der Monarchie einen hervorragenden Einfluß, aber an der östlichen Grenze gelegen, war sie ganz ungeeignet, den Bedürfnissen der ganzen Monarchie Genüge zu tun. Frankfurt an der Oder war eine zurückgebliebene Universität. Humboldt kannte sie genau genug, denn er hatte selber dort eine Zeitlang studiert. Die Meinung der Vorsichtigen ging dahin, Frankfurt zu heben; damit seien alsdann die Bedürfnisse des so sehr verkleinerten preußischen Staates vollkommen gedeckt. Diese Meinung ward unterstützt durch die unermüdlichen Bitten der Mitglieder der Frankfurter Universität. Humboldt selber trat vorsichtig und langsam in die Pläne derer ein, welche in Berlin eine Universität forderten. Aus den Kreisen der Schriftsteller und Gelehrten war dieser Plan schon lange hervorgegangen. Eine Denkschrift Engels lag schon Beyme vor, und dieser Staatsmann, höchst schädlich in seiner Gesamtwirkung, aber den Wissenschaften aufrichtig zugetan, hatte denselben zu dem seinigen gemacht. Es war auf einen höheren Dilettantismus im Sinne der Berliner Aufklärung abgesehen. Als dann das Bedürfnis durch den Wegfall von Halle dringend wurde, gingen von verschiedenen Gelehrten tiefergreifende Pläne aus. Dies alles lag vor. Der König hatte bereits auf Beymes Antrag eine Kabinettsorder unter dem 4. September 1807 erlassen, durch welche die Errichtung einer höheren Lehranstalt in Berlin genehmigt wurde. Humboldt erst gab dem abstrakten Plan die feste und klare Wirklichkeit. Den 10. Juli 1809 richtete er seinen formulierten Antrag zur Gründung einer Universität an den König. Berlin sollte eine Universität im höchsten Sinne werden. Sie sollte mit der Akademie der Wissenschaften und der Künste sowie mit allen in Berlin bereits vorhandenen wissenschaftlichen Instituten zu einem organischen Ganzen vereinigt werden, daß jeder Teil bis auf einen gewissen Grad selbständig bliebe, alle aber gemeinschaftlich zu dem einen großen Zweck zusammenwirkten. Mit der Regierung selber sollte sie im wohltätigsten Wechseleinfluß stehen. Für diesen großartigen Plan forderte er eine Summe, die selbst unter unseren gegenwärtigen Verhältnissen höchst bedeutend erscheint. Seitdem Schiller tot war, gab es vielleicht keinen Mann in Deutschland mehr, welcher den erhabenen Idealismus Humboldts besessen hätte, bei genauester Kunde der gesamten Finanzlage die höhere Notwendigkeit dieses Schrittes in sich zu fühlen und dies starke, idealistische Gefühl allen Personen, die in Frage kamen, mitzuteilen. Auf

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dem Lande lastete eine unerschwingliche Kriegssteuer; Grund und Boden war entwertet ; die Preise waren gestiegen, der Wert des laufenden Geldes gesunken. Unter solchen Umständen, da jeder einzelne bis zum König hinauf die schwersten Lasten sich auflegen mußte, forderte Humboldt die großen Summen, deren sein umfassender Plan bedurfte. Doch tat er es mit dem klaren Bewußtsein auch der politischen Bedeutung dieses Schrittes für die äußere Lage des Staates. „Alles, was sich in Deutschland für Bildung und Aufklärung interessiere", werde sich der König damit aufs neue auf das festeste verbinden; einen neuen Eifer und neue Wärme für das Wiederaufblühen seiner Staaten erregen; und, in einem Zeitpunkt, wo ein Teil Deutschlands vom Kriege verheert, ein anderer in fremder Sprache von fremden Gebietern beherrscht wird, der deutschen Wissenschaft eine vielleicht kaum noch gehoffte Freistatt eröffnen. So begründete er seinen Antrag bei dem König. Er besaß dann die zähe Beharrlichkeit, das groß Begonnene würdig zur Ausführung zu bringen. In dem ersten Lektionsverzeichnis las man die Namen von Fichte und Schleiermacher, von Reil, damals dem ersten wissenschaftlichen Arzt Deutschlands, von Savigny, dem größten deutschen Juristen, von Böckh. Seine ganze geschäftliche Praxis faßte sich in den Worten zusammen: „In Geschäften ist es mein Grundsatz, daß man nur dann gut wirkt, wenn man ruhig, geduldig und beharrlich ist. Auch die reifste Überlegung kann durch Zufälligkeiten ihres Zwecks verfehlen; aber wenn man nur diesen im Auge behält und immerfort redressiert, so kommt man doch ans Ziel." So gelang ihm, seine Pläne für das Unter•richtswesen durchzuführen. Anders stellte er sich zu den Angelegenheiten der Kirche, mit deren Verwaltung er ebenfalls vertraut war. Immer tiefer und inniger, bis zum Lebensende, gestaltete sich in Humboldt eine eigentümliche Frömmigkeit, welche nicht darum gering geachtet werden darf, weil sie nicht spezifisch christlich war. Seine Frömmigkeit war die Kants und des moralischen Idealismus, aber viel tiefer, klarer und gründlicher gefaßt durch jene vergleichende Wissenschaft der Menschheitsgeschichte, welche er zuerst als vergleichende Anthropologie bezeichnete, deren Instrument er alsdann in der Sprachvergleichung entdeckte. Die leitenden Ideen, moralische Vollkommenheit, die Vorsehung, die Unsterblichkeit sah er in ihrer individuellen Verzweigung das Leben der gesamten Menschheit durchdringen. In ihnen ruhte er selber mit der sichersten Überzeugtheit. Diese Anschauungen hatten nichts von der „religiösen Gemütlichkeit", deren in solchen Zeitlagen der Mann

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bedurft hätte, der an der Spitze des Kultusdepartements unmittelbar auf die Masse der Nation hätte bewegend wirken sollen. Es war ein zweifelloser Vorzug eines Stein, daß er den religiösen Überzeugungen der Nation so viel näher stand, den Dialekt gewissermaßen ihrer Religion redete. Aber Humboldt glich dies aus durch das klarste Bewußtsein davon und den redlichsten Willen. Er sah in der Religion des Volkes den Idealismus, der für alle ist. Er sah in ihr die Angelegenheit, „welche alle Glieder der Nation ohne Ausnahme tief und ernsthaft beschäftigt und gleich nahe den Gefühlen verwandt ist, die sie durch Familie und Vaterland an die Welt, als mit denen, die sie durch ihr Gemüt an etwas Überirdisches knüpfen". Darüber hinaus sah er den Zweck des Gottesdienstes darin, daß er „alle Glieder der Nation nur als Menschen und ohne die zufälligen Unterschiede der Gesellschaft vereinigt". Von solchen objektiven Gesichtspunkten aus mußte ihm sehr wertvoll sein, einen Mann wie Nicolovius als Direktor der Abteilung für den Kultus vorzufinden. Nicolovius war einmütiger mit dem christlichen Glauben. Er hatte sich die Aufgabe gestellt, denselben in den Gemeinden wiederzuerwecken. Er war dabei gemäßigt und in vollem Einverständnis mit der idealen, wissenschaftlichen Richtung des Unterrichtsdepartements. So ließ ihn sein Vorgesetzter, W. von Humboldt, frei schalten und erhielt doch zugleich einen einmütigen Geist in diesem ganzen Umkreis des idealen Lebens der Nation. Während Humboldt in seinem Departement stetig fortarbeitete, geriet das Gesamtministerium in immer tiefere Verwirrung. Die Auflösung ging in erster Linie von der Finanzverwaltung aus. Altenstein war kein Finanzmann. Und doch welcher Finanzmann hätte dazu gehört, Maßregeln zu ergreifen, welche die Durchführung der begonnenen Reorganisationen mitten in derKrisis des von Kontributionen unterdrückten Staates ermöglicht hätten. So geriet alles ins Stocken. Humboldt sah, daß er auf die Durchführung seiner Pläne zum größten Teil werde verzichten müssen. Da geschah ein noch Schlimmeres. Die Lage wuchs Altenstein so über den Kopf, daß er dem König die Abtretung Schlesiens vorschlug. Es war der Bruch mit der gesamten Tradition des friderizianischen Staates. Humboldt nahm nun, am 29. April 1810, seine Entlassung. Er ward zum Gesandten in Wien mit dem Charakter eines Geheimen Staatsministers ernannt. Auf der Reise verweilte er in Brunn, um seine Gedanken über die unglückliche Lage des Staates mit Stein auszutauschen. Dieser hatte mit zustimmendem Anteil Humboldts Strebsamkeit verfolgt und gewünscht, man möge Humboldt zugleich das Ministerium des Äußeren übertragen. Diese günstige Ansicht ward durch

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die persönlichen Eindrücke sehr verstärkt. Der große Reformer bedauerte, nicht früher die Bekanntschaft eines Mannes gemacht zu haben, welcher ihm der würdigste Genosse in seinem Werk der Regeneration Preußens gewesen wäre. Humboldt seinerseits sah hier zuerst eine Geistesart verkörpert, im größten Stil, die ihm Bewunderung abzwang, Aufgehen des ganzen Menschen in die e i n e , einzige Leidenschaft für den Bestand und die sittliche Bedeutung des Gemeinwesens, dem er eingeordnet war. Er war entschlossen, sich selber keinem Ruf des Vaterlandes zu entziehen und finanziellen und staatswissenschaftlichen Studien die größere Muße zuzuwenden, welche seine Gesandtenstellung in Wien zunächst bot, verglichen mit der eines Leiters von Unterricht und Kultus. Er sollte nicht wieder in eine Lage gelangen, welche ihm vergönnt hätte, weiterzuarbeiten an der Regeneration, die Stein begonnen, er alsdann fortgesetzt hatte.

Überblickt man seine nun folgende so glänzende politische Laufbahn, so liegt doch offenbar etwas Unbefriedigendes über ihr im ganzen. Er war ein Diplomat von den feinsten Formen und dem durchdringendsten Verstande, der höchsten Macht des Wortes. Auch gelang ihm einige Male Wichtiges in dieser Tätigkeit. Der Beitritt Österreichs zur Liga gegen Napoleon war nicht zuletzt sein Werk. Öfter vermochte er Hardenbergs Tätigkeit wenigstens durch seine Gründlichkeit und Genauigkeit zu heben. Aber was nutzte es, daß die Kongresse einmütig in der Bewunderung seines staatsmännischen Talentes waren, wenn sein Vaterland doch im ganzen geringen Nutzen aus demselben für die wichtigsten Entscheidungen zog! Ihm fehlte das Naturell und die Gesinnung des Diplomaten. Er imponierte auf den Kongressen durch seine Logik, aber nicht durch seine tätige Veränderung der Allianzverhältnisse, welche doch schließlich die Entscheidung bestimmten, der logischen Folgerichtigkeit aber nur wenig zu tun übrigließen. Er war der Mann gewesen, als tiefdringender, wahrhaftiger, gründlich wissenschaftlicher Kopf der inneren Verwaltung die wichtigsten Dienste zu leisten. Hier gerade schloß man ihn aus. Es kamen zwar zweimal Momente, in welchen möglich schien, daß er die Leitung der Staatsverwaltung übernähme. 1817, nachdem er hervorragenden Anteil an den Friedensschlüssen als preußischer Bevollmächtigter unter Hardenberg genommen, trat er, vom König durch das Eiserne Kreuz erster Klasse sowie eine Dotation geehrt, aber der herrschenden Partei ein bedenklicher Mann, in den neugegründeten Staatsrat. Humboldt

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erschien in Berlin und fand die Autorität des ersten Staatskanzlers tief erschüttert. Hardenberg war nicht viel mehr als ein eitler und gebrechlicher alter Mann, von den feinsten diplomatischen Formen. Umgeben von den herrschenden Koterien, belagert gewissermaßen von ihnen, über sich die hereinbrechende Wolke der Reaktion, hatte er nur den Willen, Ehre und Einkünfte seiner Stellung zu wahren. In diesem Moment griff Wilhelm von Humboldt ein. Er war sowohl zum Mitglied des Verfassungs- als des Finanzausschusses ernannt. In dem Finanzausschuß trat zuerst seine Opposition schneidig hervor. In der Sitzung vom 2. Juli 1817 stellte er schonungslos die wirkliche preußische Finanzlage der Darlegung des Finanzministers von Bülow gegenüber. Bülow mußte zurücktreten. Auch die Stellung Hardenbergs war bedroht, und man sprach von seinem bevorstehenden Rücktritt. Mit einem Schlage war Humboldt zu einem populären Manne, zum Haupte der Opposition geworden. Aber Humboldt stand auf dem Gebiet der Intrige hinter dem Staatskanzler so weit zurück, als er ihm auf dem genauer Verwaltung, strenger Gewissenhaftigkeit in Staatssachen, durchdringenden Scharfsinns und überzeugender Beredsamkeit überlegen war. So gelang es Hardenberg, Humboldt als Gesandten nach London zu entfernen und alsdann zu seinem Rücktritt zu bewegen. Ein neuer Moment kam, als Humboldt 1819 vom König mit der Leitung der ständischen und Kommunalangelegenheiten betraut ward, mit Sitz und Stimme im Ministerium. Er ward so durch den König an den wichtigsten Punkt der Staatsleitung gestellt. Die Denkschrift Humboldts liegt vor, durch welche er für diese wichtigste Frage des damaligen politischen Lebens eine vollständige Einsicht in seine Überzeugungen gewährt. Sie setzt in dem Grundgedanken der von Stein gegründeten Reorganisation ein: „Es kommt nicht bloß auf die Einrichtung von Wahlversammlungen und beratenden Kammern, es kommt auf die ganze politische Organisation des Volkes selbst an." Die Grundlage liegt daher in der Organisation der städtischen und ländlichen Gemeinden. Über ihnen erheben sich die Provinzialstände. Aber das Ganze muß abschließen in den allgemeinen Ständen. Sie gehen hervor aus unmittelbarer Volks wähl. Ihr Gegenstand sind Gesetzund Geldvorschläge. Und zwar — dies war der entscheidende Punkt, um welchen alle damaligen Debatten sich drehten, der Punkt, an welchem Hardenberg und der König durchaus abweichender Ansicht waren — sie haben nicht bloß eine beratende, sondern eine entscheidende Stimme. „Über Entschlüsse, die man doch auszuführen gesonnen ist, allgemein auszusprechende Mißbilligung gleichsam hervorrufen zu

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wollen, kann unmöglich zweckmäßig genannt werden." Und zwar fällt jede Veränderung des Besteuerungszustandes in den Umkreis der Gegenstände, über die ihre Stimme mitentscheidet. Mit der Verfassung zugleich muß dann als ein integrierender Teil derselben Sicherheit der Person und des Eigentums, Unabsetzbarkeit der Richter, Freiheit des Gewissens und der Presse verbürgt werden. Diese Humboldtsche Verfassung von 1819 damals durchgeführt gedacht, wieviel Unheil und Krisen wären Preußen erspart geblieben! Aber Humboldt sah in Berlin bald, wie wenig oder gar keine Hoffnung bestand. Drittehalb Monate war er da, ohne den König gesehen zu haben. Der Staatskanzler wünschte nichts anderes, als den Plan Humboldts durch Schweigen und Zögern zu beseitigen. Und er verkehrte doch von allen Ministern allein mit dem König. Da kamen das Wartburgfest und Sands Tat. „Nun sei eine Verfassung unmöglich", rief Hardenberg aus, als die Nachrichten anlangten. Mit Humboldt nahmen auch Boyen und Beyme ihre Entlassung. Dies war das Ende der politischen Laufbahn Wilhelm von Humboldts.

Wer war nicht von solchen, die Berlin gesehen, in Tegel, in dem Hause am See, angefüllt mit Statuen, in deren Umgebung nun Humboldt seine wissenschaftliche Laufbahn wieder aufnahm und zu so ruhmreichen Ergebnissen fortführte? Das schönste und fruchtbarste Alter war ihm bestimmt: Nur ein Verlust traf hart bis in die Wurzel seines Lebens, der seiner Gattin. Am Abend des 8. April 1835 starb er. Im Garten zu Tegel, an der Säule, welche die Hoffnung trägt, ruht er neben seiner Gattin. Ein Sonett, das Rahel gewidmet ist, mag die Stimmung vergegenwärtigen, welche die Summe seines Lebens war: Zwei Punkte sind im menschlichen Gemüte, Von welchen aus der Weg zum Höchsten führet; Das Ich, in dem das Forschen sich verlieret. Das All, der Götterkraft freiwill'ge Blüte. Du hast gelebet in des Ichs Gebiete, Hast jeder seiner Falten nachgespüret. Gefühlet alle Flammen, die es schüret; Kein Blick sieht mehr, wie er hinstarrend brüte. Allein das All, in dem das Ich sich findet, Doch daß darin es ist, als Ich nicht fühlet — Nie wölbte sich hervor aus deinem Wesen. Vertraut mit allem, was die Brust durchwühlet. Mit jedem irdischen Tragen und Genesen, Bliebst fremd du dem, was überirdisch bindet. Nicht Schmerz ist Unglück, Glück nicht immer Freude : Wer sein Geschick erfüllt, dem lächeln beide.

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IV. NEITHARDT VON GNEISENAU Friedrich der Große hatte die genialste Leitung der Staatsgeschäfte und der Armee in seiner Person verknüpft; er war sein eigener Minister des Innern, Kriegsminister und Chef des Generalstabs gewesen. Die Reorganisation des preußischen Staates dagegen vollzog sich, ganz wie im letzten Dezennium der Aufbau des Deutschen Reiches, durch eine Verbindung von Staatsmännern und Militärs, welche in einer Freundschaft miteinander verbunden gewesen sind, die nicht minder fruchtbar war, als die vielgepriesene Goethes und Schillers einst gewesen. Stein, Scharnhorst und Gneisenau haben zusammengestanden wie in unseren Zeiten Bismarck, Roon und Moltke. Aber wie verschieden erscheint der Lebenslauf jener Männer von dem unserer gegenwärtigen Führer. Die furchtbaren Wechsel jener Zeiten, die tiefe, andauernde Zerrüttung des ganzen Staates, die unseligen Wendungen nach der endlich errungenen Herstellung, eigentümliche Züge daneben im Charakter des Königs selber brachten jähen Wechsel, lange Jahre steter Unsicherheit, Verluste und Entbehrungen aller Art in das Leben dieser Männer, und schließlich die herbsten Enttäuschungen in das der beiden von ihnen, welche den Krieg überlebten. Nur um so glänzender hebt sich auf dem Hintergrunde solcher Schicksale die hohe, ritterliche Gestalt Neithardt von Gneisenaus ab. J u g e n d j a h r e und Garnisondienst. In der Mitte des Siebenjährigen Krieges, im Spätherbst des Jahres 1760, genas die junge Frau eines sächsischen Artillerieleutnants, August Wilhelm von Neithardt, in Schiida, dicht unter den Kanonen und dem Trommellärm der zwei feindlichen Lager, eines Knaben, der August Wilhelm Antonius getauft ward — des späteren Grafen und Feldmarschalls Neithardt von Gneisenau. Dann schreckte wenig Tage darauf der Sieg des großen Königs bei Torgau, am 3. November, alles, was je zu den Reichstruppen gehörte, zu wilder Flucht auf, und in dem furchtbar verworrenen Nachtrab einer geschlagenen Armee ward die Mutter mit ihrem Kinde mit fortgeschleppt. In kalter Novembernacht auf offenem Bauernwagen schlief sie erschöpft ein, ihren Armen entglitt der Knabe und fiel auf die Chaussee, wo er unfehlbar unter den Rädern der folgenden Wagenzüge umgekommen wäre, hätte nicht ein Soldat der Bedeckung ihn gefunden und dem Wagen nachgebracht. Die Mutter erlag diesen furchtbaren Eindrücken. So begann dies

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Leben, das ganz erfüllt sein sollte von Soldatentum, Krieg und kriegerischen Abenteuern. Der Leutnant folgte der Trommel und ließ siebzehn Groschen zur Verpflegung des Knaben zurück. Es wird erzählt, dieser habe zu Schiida die Gänse gehütet. Als die Eltern der Mutter in Würzburg vernahmen, wie es ihm erging, fuhr eines Tages eine prächtige Kutsche mit Kutscher und Bedienten in Staatsröcken vor, ihn zu ihnen zu holen. So überraschend nahte sich ihm das Glück. Er durchlief in Würzburg unter den angenehmsten Verhältnissen das Gymnasium und bezog 1777 als Studiosus der Philosophie die Universität Erfurt. Das kleine mütterliche Erbteil schien geeignet, seine Studien zu sichern; sein Leichtsinn vergeudete es in zwei Jahren. Er trat, um den sich häufenden Schwierigkeiten zu entrinnen, in die kaiserliche Armee, aber ein Duell endete hier rasch seine Laufbahn. Nun ging er zu den Truppen des Markgrafen von Ansbach und Bayreuth, um in Amerika sich militärischen Ruhm und militärische Stellung zu schaffen; hier sammelte er Tatsachen über die Natur und Wirkung des Volkskriegs, welche bedeutend auf seine spätere Ansicht einwirken sollten. Mit so weitem Gesichtskreis kehrte er als Leutnant, 24 Jahre alt, aus Amerika zurück. Die Garnison in Bayreuth konnte ihm unter solchen Umständen nicht behagen. Er wandte sich an den großen König, und dieser beschied ihn zu sich. Das große, durchdringende blaue Auge des alten Helden ruhte mit Wohlgefallen auf der schönen, kräftigen Gestalt, der selbstbewußten, würdevollen Haltung, den edlen, ausdrucksvollen Zügen des Jünglings, der auf alle an ihn gerichteten Fragen rasch und treffend Antwort gab, wie es der große König liebte. Er ernannte ihn zum Premierleutnant in seinem Gefolge. Anfangs des Jahres 1786 trat Gneisenau in die Armee, auf deren fernere Gestaltung und Schicksale er einen so tiefgreifenden Einfluß erhalten sollte. Er gehörte der Umgebung des Königs und seinem Generalstabe an und wohnte in Potsdam. Rüchel und Massenbach — Namen, die mit den folgenden Katastrophen der Armee eng verflochten sind — lernte er hier kennen und ward unter ihnen in den Generalstabsdienst eingeführt. Ein halbes Jahr war rasch in diesen Beschäftigungen vergangen, als der Tod des Königs ihnen unerwartet ein Ende machte. Friedrich Wilhelm II. machte bedeutende Änderungen in der Armee, neue Regimenter wurden errichtet, und in eins derselben trat Gneisenau ein, wohl immer wieder gedrängt von seinen Schulden, und in der Hoffnung, so leichter in die Lage zu gelangen, sie zu tilgen. Er sollte acht Jahre in Garnison unter den drückendsten Verhältnissen in Löwenberg zubringen. Er lebte in diesen langen Jahren ausschließlich für den Dienst und suchte in den Wissenschaften eine einsame D i l t h e y , Gesammelte Schriften Xlt

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Beschäftigung. Sein Vater wurde im Baufach verwandt, aber mit geringen Einnahmen, und der Sohn war unermüdet, für ihn zu wirken, für die Söhne aus der zweiten, wenig glücklichen Ehe desselben mitzusorgen. Er befürchtete, die Halbgeschwister möchten dem Namen Gneisenau keine Ehre machen. Die eigenen Angelegenheiten lasteten schwer auf ihm. Ein neues Duell führte zu verdrießlichen Verwicklungen. Endlich befreite ihn die Ernennung zum Hauptmann. Das war damals in der preußischen Armee der große Schritt. In der Hand des Hauptmanns lag der Haushalt der Kompanie, und so belief sich sein Einkommen nicht selten auf 2000 Taler. Nun konnte er auch ein eigenes Hauswesen gründen. Über allem in seinem Leben liegt ein Hauch von ritterlichem Abenteuer. Ein Freund von ihm war im Duell gefallen, und Gneisenau überbrachte der schönen Braut desselben, Freiin Karoline von Kottwitz, seine letzten Grüße. Wenige Monate darauf kehrte er zurück, um ihre Hand zu werben: im Herbst 1796 führte er sie heim. Ein Gut, welches seine Frau mit ihrem Vermögen erwarb, brachte manche Sorgen, aber ein ruhiges Heimatsgefühl. Der f r a n z ö s i s c h e K r i e g von 1806 und Gneisenaus V e r t e i d i g u n g Kolbergs. Der französische Krieg kam. Auf die Kunde vom Vordringen des Feindes im Saaltal warf Gneisenau Bemerkungen aufs Papier, welche zeigen, wie vollkommen er die Lage durchschaute. „Als Patriot seufze ich. Man hat in Zeiten des Friedens viel vernachlässigt, sich mit Kleinigkeiten abgegeben, des Publikums Schaulust gefrönt, und den Krieg, eine sehr ernsthafte Sache, vernachlässigt. Der Geist der Offiziere ist vortrefflich, und hieraus kann ich große Hoffnungen versprechen, aber, aber . . . Was die Franzosen ferner tun werden, weiß ich; was wir, weiß ich nicht. Ich habe den Angriff längs der Saale längst vorausgesagt. Allein ich seufze in den niederen Graden, und mein Wort gilt nicht. Das Herz ist mir beklemmt, wenn ich die Folgen berechne. Ο Vaterland, selbstgewähltes Vaterland! Ich bin vergessen in meiner kleinen Garnison und kann nur für selbiges fechten, nicht raten." Man fühlt durch, wie er sein Schicksal empfand, durch sein Ausscheiden aus dem Generalstabe und die langen Jahre der kleinen Garnison nun die Stellung für den Krieg verscherzt zu haben, in welcher er einzugreifen die Macht gehabt hätte. Er empfand seine Überlegenheit, und er hatte kein Mittel, sie zu gebrauchen. Die Schlacht von Jena machte Gneisenau in der Suite seines alten Lehrers vom Generalstab her, des Generals Rüchel, mit. Die Erfahrung

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dieses furchtbaren Tages haftete in ihm mit unauslöschlichem Eindruck. Er hatte gelernt, daß das kriegerischste Heer, unter dem Gewicht des Schreckens in willenlose Haufen aufgelöst, fast widerstandslos vernichtet wird. In der Erinnerung an diese Erfahrung war es, daß er am Abend der Schlacht bei der Katzbach den vergeblichen Rat unausgesetzter Verfolgung gab, daß er dann selber in der Nacht des 18. Juni 1815 das letzte Pferd und den letzten Mann zur Vernichtung des Napoleonischen Heeres mit ungeheurem Erfolg voranführte. Er selbst berichtet mit bitterem Humor: „Bei Saalfeld bekam ich einen Schuß ans Bein, daß ich einen Satz in die Höhe machte. Ich machte meinen Rückzug hinkend. Bei Jena focht ich zu Pferde und stellte noch die letzten Truppen aus, aber zuletzt lief ich mit den anderen davon, in guter Gesellschaft, mit Fürsten und Prinzen. Bei Nordhausen focht ich wieder und schlich mich am Ende durch den Harz, abgeschnitten von allen, kam aber am Ende zu den übrigen Davonlaufenden. Das waren Greuel ! Tausendmal lieber sterben, als dies wieder erleben. Aber, aber, unsere Generale und Gouverneure. Das wird wunderbare Zeilen in der Geschichte geben. Immer und überall der Alte, dankbar und gut und gefaßt, der sich sehr freuen würde, jemals wieder an einer gewissen Tafel über vergangene Unglücksfälle sich lustig zu machen und dabei mit der Zuckerstreubüchse seinen Pudding auf seinem Teller umzuwenden. Aber auslachen muß man mich nicht, da verstehe ich keinen Spaß." Der König ernannte ihn-auf Bericht seines Verhaltens in der Jenaer Schlacht zum Major, und als Kolberg sich an ihn um einen heldenhaften Verteidiger wandte, sandte er Gneisenau. Eben hatten die Kolberger den König verlassen, als Gneisenau anlangte, sich demselben als Führer seines Bataillons zu präsentieren. Es wird erzählt, er habe, ganz unbekannterweise, beim Herabsteigen Beyme begegnend, diesem einen so ungemeinen Eindruck gemacht, daß dieser in ihm den richtigen Mann für Kolberg erkannt habe. Denn so war der Eindruck seiner Gestalt, daß sie beim ersten Eintreten in einen Saal sogleich aus der ganzen Menge hervortrat; und ein ausgezeichneter General, der alle Befehlshaber der großen Kriegszeit gesehen hatte, erklärte, daß keiner von allen gleich Gneisenau diese schlanke, edle Gestalt, diese hervorragende Muskel- und Geistesspannkraft gezeigt, diesen Eindruck des kühnen, kräftigen Soldaten hinterlassen habe. Es begann jene heldenmütige Verteidigung von Kolberg, in welcher Gneisenau jede Erwartung seines Königs übertraf. Aus viermonatigen Kämpfen gegen einen siegesgewissen, weit überlegenen Feind ging die Festung unbezwungen hervor, während vor und neben ihr viel stär7*

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kere, solche darunter, die für unüberwindlich galten, nach geringem Widerstand oder unverteidigt gefallen waren. „Ein kraftvolles und kluges Wirken" — schrieb ihm der König — „sowie das ehrenvolle Benehmen der Kolberger Garnison und seiner treuen Bürgerschaft wird Ihnen gemeinschaftlich in den Annalen der vaterländischen Geschichte in dieser verhängnisvollen Zeit ein ewiges, unvergeßliches Denkmal stiften." Ein Augenzeuge seiner unermüdlichen Tätigkeit schrieb: „Er ist der erste Kommandant von Europa." Die m i l i t ä r i s c h e R e o r g a n i s a t i o n s k o m m i s s i o n und Gneisenaus l e i t e n d e r Gesichtspunkt. Nun hatte er die erste Schwierigkeit seiner großen Laufbahn besiegt. Er hatte lange Jahre in der kleinen Garnison verloren und war vergessen worden. Jetzt hatte die Verteidigung von Kolberg ihn unter die Ersten gestellt. Der König ernannte ihn mit dem Range eines Oberstleutnants den 25. Juli zum Mitglied der Kommission, welcher die Reorganisation der Armee anvertraut wurde. Hier trat er in Beziehung zu Scharnhorst. Diese beiden hervorragenden Männer hatten den nun geendeten Krieg in sehr verschiedenen Stellungen durchgemacht. Scharnhorst war Chef des Generalstabs des Herzogs von Braunschweig gewesen. Gneisenau hat die beiden Maßregeln, welche er in dieser Stellung beim Beginn des Krieges durchgesetzt hatte, nicht gebilligt. Er tadelte die neue Gliederung der Armee nach Divisionen, dem französischen Muster gemäß, weil man nach seiner Meinung nicht die genügende Zahl tüchtiger Generäle hatte, diese Divisionen zu befehligen, besonders aber tadelte er, daß man die Kavallerie durch Verteilung in die Divisionen zerstückelt hatte, so daß sie außerstande war, einen entscheidenden Schlag zu tun. Er war alsdann mit dem Feldzugsplan nicht einverstanden, welchem gemäß man mitten durch den Thüringer Wald über die französischen Quartiere in Franken herzufallen gedachte. An diesem Plan hatte Scharnhorst hervorragenden Anteil. Aber Gneisenau, so gut als Scharnhorst, wußte, daß im Kriege das im ganzen Zweckmäßige zutun ein besserer Weg zum Siege ist, als über dem Allerbesten zu sinnen und die Zeit zu verlieren. Unter den hervorragendsten Ursachen für den schlimmen Ausgang hob er hervor, daß Schamhorsts Einwirkung im Hauptquartier so früh neutralisiert worden war. Er trat ihm mit dem besten Vorurteil gegenüber. Er seinerseits hatte kein Mittel gehabt, auf den Gang des Krieges eine wesentliche Einwirkung zu üben. Er war eben erst nach langen, öden Garnisonsjahren im Aufsteigen begriffen. Jetzt zeigte sich in den Geschäften, wie sie einander ergänzten.

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Scharnhorst war nur vier Jahre älter als Gneisenau; aber neidlos, mit jener beinahe in bezug auf seine Person lässigen Vornehmheit, überließ ihm Gneisenau die leitende Stellung in dem, was nun geschah. Seine Ideen gehen mit den Ansichten Scharnhorsts parallel. Aber ein eigentümlicher Glanz, eine siegesgewisse Frische sind Gneisenau, eigen. Er entwickelt die Gründe der Reorganisation: „Man hat seither alles aufgeboten, um den Menschen finanzistisch, und für alle Zwecke der Staatsmaschine nützlich zu bilden, aber bei weitem weniger, um ihn frei und edel und selbständig zu machen, als den, der sich fühlt, auch ein Teil des Ganzen zu sein und für sich selbst eine Würde zu haben." Er schildert den Gegensatz des Staates mit stehendem Heer und des Staates mit kriegerisch ausgebildeter Bevölkerung: „Man klagt über Entnervung und Entartung der Völker, aber nichts hat mehr dazu beigetragen als die stehenden Heere, die den kriegerischen Geist der Völker und ihren Gemeinsinn zerstörten. Durch sie trennen die Regierungen ihre Interessen von denen des Volkes. Die Aufgabe ist, eine von anderen Völkern beneidete Konstitution zu haben; dabei die Mittel vorbereitet, um zur entscheidenden Stunde gerüstet dazustehen, andere Staaten zu überleben. Dahin führen Wohlstand, Aufklärung, Sittlichkeit und bürgerliche Freiheit; ein Volk, arm, roh, unwissend und sklavisch wird es nie mit einem an Kenntnissen und Hilfsmitteln reichen aufnehmen können. Um ein ganzes Volk zu Soldaten zu machen, muß ihnen mitten im Frieden militärischer Geist eingeflößt werden." Aber welche Anstrengungen erforderte die Umgestaltung nach diesen Gesichtspunkten! Gneisenau berichtet im Sommer 1807: „Ich esse einsam auf meinem Zimmer, schlage die meisten Einladungen aus, schlafe nur fünf Stunden und widme beinahe alle meine Zeit dem Staatsdienst." Einzelne Arbeiten. Wir heben nur einzelnes aus der Fülle der Arbeiten heraus, welche der Leser bei Pertz zusammengestellt findet. Er begleitete Scharnhorsts Mémoire über die allgemeine Dienstpflicht mit noch heute sehr lesenswerten Bemerkungen über die „militärischen Einrichtungen der Stadtschulen". Sein Vorschlag ist, daß in denselben mehr reine Mathematik als bisher gelehrt werde, daß jede Schule sich ihre Offiziere wähle und unter ihnen Disziplin und den Gebrauch der Waffen lerne, daß endlich Leibesübungen zur Erholung in den Schulen eingeführt würden. Kurz, er wollte eine körperliche Erziehung der Jugend, welche sie vorbereite zur Erfüllung der allgemeinen Wehrpflicht.

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Er entwarf, auf Scharnhorsts Antrag den 24. Mai 1808 zum Inspekteur der Festungen ernannt, eine Instruktion für die Festungskommandanten, deren Stellung in dem zu erwartenden französischen Kriege von größter Wichtigkeit sein mußte. Diese Instruktion zeigt in ihrer Schärfe den neuen kriegerischen Geist. Glaubt ein Kommandant alle Verteidigungsmittel erschöpft zu haben, so hat er einen Kriegsrat um sich zu versammeln, und ist in diesem ein einziger, welcher die Übergabe noch um einige Tage verziehen zu können glaubt, so übernimmt dieser sogleich namens Sr. Majestät das Kommando, und er allein ist dann für die folgenden Maßregeln verantwortlich. Er führte, auf Scharnhorsts Antrag alsdann auch zum Chef des Ingenieurkorps ernannt, die Neubildung des Ingenieurkorps durch. Hatte er doch bei der Belagerung von Kolberg auch für diesen Dienstzweig seine hohe Schule durchgemacht. Er selber freilich empfand, nun im täglichen Austausch mit Scharnhorst, welchen Wert eine zusammenhängendere wissenschaftlich-militärische Bildung auch auf diesem neuen Posten für ihn gehabt haben würde. Er schrieb an den König: „Meine äußerst vernachlässigte Erziehung hat mir keine Gelegenheit gegeben, mir die theoretischen Kenntnisse zu verschaffen, die zu einem solchen Posten gehören, und wenn ich auch späterhin die Lücken in meiner militärischen Bildung fühlte, so konnte ich solche teils nur durch mühsames Selbstlernen ausfüllen, teils nötigte mich meine unstete Lebensart, meinen Blick nur auf die praktischen Resultate zu heften. So fehlt mir alle zu meiner neuen Eigenschaft erforderliche streng wissenschaftliche Bildung." Diese offene Darlegung an den König ist so ganz in der nachlässig großen Art dieses Charakters. Auch der Presse bediente sich Gneisenaus vorurteilsfreier Geist bei mehreren Gelegenheiten, Vorurteile in wichtigen Punkten zu beseitigen. Er war sehr entschieden für die Abschaffung der entehrenden Prügelstrafe im Militärdienst. Stein in seiner derben, konservativen Weise äußerte gegen ihn, die Prügelstrafe erscheine den Deutschen gar nicht so ehrenrührig, als die neuen Kriegsartikel der Kommission es hinstellten. Hierüber im eifrigen Gespräch mit Leutnant Barsch (dem Gründer des Tugendbundes), der den „Volksfreund" herausgab, diktierte er diesem sofort einen Artikel: „Freiheit des Rückens." „Jede Nation", sagt er, „muß sich selbst ehren und keine Einrichtungen bei sich, dulden, die sie in den Augen anderer Völker herabsetzen. Ebenso jeder Stand. Aber was soll der Fremde, was soll der Bürger denken, wenn er den Soldaten auf öffentlichem Platze mit dem Stocke mißhandeln, ihn oft für geringfügige Exerzierfehler von eigener Hand seiner hohen Vorgesetzten willkürlich mit Schlägen übersäen sieht und gewahr wird,

Neithardt von Gneisenau 93 daß dem oft erst der Kindheit entwachsenen Befehlshaber niederen Grades dasselbe Recht zusteht, und sogar der Unteroffizier dieselbe Willkür ausübt. Muß der Zuschauer nicht seine Blicke unwillig wegwenden? Die Proklamation der Freiheit der Rücken scheint also der Verallgemeinerung der Waffenpflichtigkeit vorangehen zu müssen." Ebenso bediente er sich des ,,Volksfreunds", um eine Reihe von Vorurteilen in bezug auf die Karriere zu bekämpfen. An seinem Geburtstage, den 3. August, genehmigte der König die Abschaffung der Leibesstrafen in der Armee, die zweite sogenannte Strafklasse ausgenommen. Und einige Tage darauf veröffentlichte er jene Verordnung über die Besetzung der Offizierstellen, welche mit den alten Vorurteilen brach, die Bürgerlichen in der Armee den Adligen gleichsetzte und das Prinzip der Anciennität aufhob. D i e S c h w i e r i g k e i t e n d e r S t e l l u n g von G n e i s e n a u und Scharnhorst. — Gneisenaus Abschied. Was so geleistet wurde, kann der erst richtig würdigen, welcher den Inbegriff entgegenwirkender Kräfte abschätzt. Es war das eine ganze alte Generalität. Es waren die Offiziere, die in der Umgebung des Königs emporgekommen waren. Es war endlich die ganze große Masse, welche durch die bisherigen Mißbräuche Bequemlichkeiten und Vorteile genossen hatte, die sie als ihr Recht betrachtete und sich nun entrissen sah. Wie natürlich ist es, daß die in solchem Getriebe Kämpfenden zuweilen von Müdigkeit übermannt wurden! Hätte nicht Scharnhorst durch seine wundervolle Klugheit und dem König so genehme Einfachheit seine Stellung fest behauptet : so hätte eine so durchgreifende Reform der ganzen Armee nie errungen werden können. Im Frühjahr 1809 schrieb Gneisenau an seine Frau: „Notwendigkeit und Mißvergnügen raten mir gleich stark, in einem anderen Lande mein Unterkommen zu suchen; in welchem? darauf sollst Du den stärksten Einfluß haben. Vielleicht wunderst Du Dich über das von mir gebrauchte Wort ,Mißvergnügen', aber dem ist so. Ich will nicht länger hinter Leuten dienen, die zehn bis zwölf Jahre jünger sind als ich, und die weder etwas geleistet haben, noch jemals etwas leisten werden, die aber ihre verborgenen Pfade gehen und dadurch ihre Verdienstlosigkeit emporzubringen wissen. Auch sind diese Menschen von einer Art politischer Überzeugung, und diese Überzeugung wirkt so nachteilig, daß ich mich schon deswegen entfernen müßte, wenn auch nicht die Notwendigkeit dazu triebe." Und in derselben Zeit schrieb er an Barsch, als Schill in Berlin mit Begeisterung als der Held von Kolberg beim Einzug der Truppen begrüßt wurde und Barsch bei ihm anfragte, ob

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nicht eine Berichtigung dieser Entstellung des wirklichen Tatbestandes zu wünschen sei: „Mag die Welt immerhin glauben, daß er Kolberg verteidigt hat, für den Staat ist dies um so besser. Schill ist noch jung, mit mir geht es bergab. Durch Schills allverbreiteten Namen können noch schöne Dinge getan werden; wir müssen daher solchen verherrlichen soviel wir können. Sie verstehen mich, mein lieber Barsch, wohinaus ich will. Mich plagt kein Ehrgeiz, vielmehr drücken mich Familiensorgen und Geldsorgen danieder. Mein Blick in die Zukunft erheitert sich nur dann, wenn ich mir die Möglichkeit denke, dem fremden Joche zu entgehen; in einem solchen Kampfe will ich gern untergehen. Ich habe nur e i n e s im Auge: Unabhängigkeit, und für diesen Zweck opfere ich alles." Man erwägt nicht hinlänglich, welche Opfer viele Jahre hindurch diese Führer der Patriotenpartei bringen mußten. Seit dritthalb Jahren war nun Gneisenau ganz von Frau und Kindern getrennt. Seine politische Energie hatte selbst zwischen seiner Frau und ihm zeitweise eine tiefe Verstimmung hervorgebracht, welche nun nicht durch die süße Gewohnheit täglichen Zusammenlebens gemildert wurde. Zu der weiten Entfernung von den Seinen gesellte sich die Sorge. Er hatte die Führung der Gutsverwaltung seiner Frau überlassen müssen, und zu deren Unterstützung, bei den grenzenlosen Erpressungen der Franzosen, Vorschüsse erhalten, die nun eingefordert werden mußten. Er sah die Notwendigkeit voraus, sich des ererbten Grundbesitzes zu entledigen. Und das bei der einfachsten Lebensweise, bei der angestrengtesten Arbeit. Durch eine persönliche Anwesenheit gelang ihm wenigstens, dies Mißgeschick abzuwenden. Bei der Ankunft in Mittelkauffung erkannten die Kinder ihren Vater nicht wieder. Alle Schwierigkeiten erhöhten sich, als der unglückliche Zug Schills im Frühjahr 1809 den Gegnern einen Anhalt für die elendesten Verleumdungen bot. Nichts weniger als eine Thronrevolution sollte im Werk gewesen sein. Schill sollte von den Häuptern des Heeres, Scharnhorst, Blücher, Gneisenau, Chasot, benutzt worden sein, um bei günstigem Verlauf seines Aufstandes den Prinzen Wilhelm auf den Thron zu erheben. Ja, der armselige Bischof Eylert träumt noch in seiner Lebensbeschreibung von einem Auftrag, den ihm Stein gegeben habe, auf der Kanzel den Prinzen Wilhelm zum König auszurufen — und preist seine Loyalität an, es nicht getan zu haben. Man kann denken, was damals erst an den König herankam von seiten der skrupellosen •konservativen Partei. Der König ließ Chasot nach Berlin zur Verantwortung bescheiden. Er schrieb an Blücher einen unangenehmen Brief in schwebenden Dienstangelegenheiten, welchen der alte Held sofort durch ein Ent-

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lassungsschreiben beantwortete; auch die Ernennung zum Kavalleriegeneral besänftigte ihn nicht. „Noch", schrieb er, „will ich eine kleine Frist geben; ordnet es sich dann nicht, kommen wir nicht zu einem Entschluß, so gehe ich. Trage Fesseln wer da will, ich nicht." Dem General Scharnhorst drückte der König in Gegenwart aller Minister seine Unzufriedenheit über die militärischen Behörden und die neue Einrichtung derselben aus. Scharnhorst entfernte sich mitten im Vortrag und sandte von Awaiden aus sein Entlassungsgesuch, begleitet von jener herrlichen Denkschrift über die Geschäftsführung der Militärkommission, welche für alle Zeiten ein Denkmal seines großen Sinnes bleiben wird. Gneisenau, gegen welchen ebenfalls eine Denunziation vorlag, ward durch Estafette aus Schlesien zurückgerufen. „Ich eilte Tag und Nacht, um hierherzukommen, aber wie fand ich den Zustand der Dinge ! Der General von Scharnhorst verfolgt, verleumdet, denunziert, noch krank von einem Gallenfieber, war im Begriff, von seinem Posten abzutreten. Die Finanzen in grausamer Verwirrung. Kein kräftiger Entschluß von oben." Er arbeitete nun entschieden an seinem Austritt aus der Armee, um nach England zu gehen. Schrieb doch auch Blücher, ungeduldig und immer noch grollend: „Gesund bin ich wie ein Fisch, aber die liebe lange Weile, der Schreibtisch und das ewige Einerlei sind mich Gift." Die Trennung selbst öffnete das Herz des Königs wieder gegen Gneisenau. Er erhielt seinen Abschied nur für die Friedenszeit. Und der König ließ ihm zweitausend Dukaten zahlen, „Euch einen Beweis meiner Zufriedenheit mit Euren mir und dem Staate geleisteten treuen Diensten zu geben, soweit es die Lage desselben gestattet." Gneisenau seinerseits sah den neuen Versuch, den er machte, als im Dienste seines Königs und Vaterlandes gemacht an, ebensosehr als alles, was er bis dahin getan hatte. E n g l i s c h e r A u f e n t h a l t . 1809. 1810. Im August 1809 betrat er den englischen Boden und suchte sofort eine Zusammenkunft mit dem englischen Minister Canning nach. Ausgearbeitete Pläne lagen in seinem Kopfe, wie durch eine Landung Englands an der norddeutschen Küste eine große und für Deutschland heilsame Entscheidung herbeigeführt werden könne. Was für Erfahrungen sollte nun der leidenschaftliche ritterliche Gegner Napoleons in England machen, das ihm als die letzte Zuflucht großer Pläne erschienen war ! Abwechselnd setzten ihn die ungeheuren Kräfte dieses Landes, sein Reichtum und die jeder Aufgabe gewachsene Stärke der Individuen in Begeisterung, und dann wieder die Weise, wie diese Kräfte von Regierung und militärischer Leitung verschleudert wurden. In den höchsten Kreisen bestand der Plan, einen

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nordwestdeutschen Staat zu gründen. Das weifische Haus mußte befürchten, bei dem Tode des Prinzen von Wales vom großbritannischen Thron ausgeschlossen zu werden; so richtete man seinen Blick auf die Begründung einer Herrschaft in Deutschland. Aber wo waren die militärischen Kräfte, einen solchen Plan auszuführen? Die Autorität für deutsche Kriegsangelegenheiten war der General von der Decken. Gneisenau durchschaute diesen Mann sofort. „Sein Charakter ist aus Feigheit, List und Geiz zusammengesetzt. Er hat sich durch die Werbung der deutschen Legion ein großes Vermögen erworben; dieses ist zum Teil in Deutschland angelegt. Dieser Mann, der das Feuer nicht liebt, will die Früchte seiner Industrie in Ruhe genießen. Eine Expedition nach Deutschland hätte ihn mit dorthin gezogen, und dies vermied er. Er schilderte daher eine solche Expedition als zwecklos und gefährlich, und die Deutschen als unsoldatisch, feige und den Franzosen ergeben." Ebenso elend war der englische Befehlshaber an der Scheide, Lord Chatham. Er war aus den Kreisen der Londoner Lebemänner genommen und übertrug die Sitten der Hauptstadt in sein Lager. Spät stand er auf, mittags frühstückte er, und vor der Mahlzeit am Abend gab er die Befehle für den Tag aus, der bereits verstrichen war. Kurz, Gneisenau fand: „In diesem Lande werden die Regierungsangelegenheiten ebenfalls auf die erbärmlichste Art betrieben. Dies Volk müßte zugrunde gehen, wenn nicht seine geographische Lage es schützte." Unter solchen Verhältnissen wies er den Antrag, in englische Dienste zu treten, entschieden zurück. Er durfte nicht für Pläne eintreten, welche den damaligen preußischen Territorialbestand bedrohten. Und er mochte nicht einer Armee angehören, von der er urteilte, sie sei die am übelsten befehligte der Welt. Er verbrachte beobachtend und lernend die nächsten Monate in Schweden und Rußland. Es scheint nicht, daß er hier Beziehungen zu den regierenden Kreisen pflegte. Das Resultat, besonders seines englischen Aufenthalts, war wenig tröstlich. Es war nur die Bestätigung einer Ansicht, welche er inmitten der hohen Politik der letzten Jahre sich schon längere Zeit gebildet hatte. „Ich halte die alten Regierungen für verloren. Ein Mann mit solchen Talenten und solcher Gewalt wie Napoleon, mit einer solchen Kenntnis der ihm entgegenstehenden Höfe und der Nichtswürdigkeit der meisten Menschen, und mit einer solchen Verwegenheit, wird und muß seine Pläne zur Reife bringen, sofern er das Leben behält. Er wird das feste Land von Europa unterjochen, weil er den Willen dazu hat, und die alten Herrscher werden zugrunde gehen, weil keine Einheit in ihren Maßregeln und keine Kühnheit zum Entschlüsse da ist.

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Von allen Regenten, die ihre Throne verlieren werden, beklage ich nur unseren König. Er hat den besten Willen gehabt, sein Volk glücklich zu machen, und hätte dies auch in einem weniger stürmischen Zeitalter bewirkt; so aber fiel, zu seinem Unglück, seine Regierung gerade in die schwierigste Epoche, die jemals die Geschichte aufzeichnete." Er selber, wenn er in der Einsamkeit der winterlichen Tage in Stockholm auf sein vergangenes Leben zurückblickte, hielt ihm eine wenig erfreuliche Nachrede. Die kühne Offenheit seines Charakters litt weder sich selbst noch anderen gegenüber ein Dunkel; der große Schnitt seiner Natur litt nichts Halbes. „Wenn man", schrieb er, „in die letzten Räume der Lebensbahn eintritt und unparteiische Betrachtungen über sich selbst anstellt, so wird man mit Unmut gewahr, wie wenig wahrhaft Nützliches man geleistet hat. Wieviel Unnützes habe ich gelesen, wieviel habe ich gelernt, um es wieder zu vergessen ! Wieviel Nützliches hätte ich nicht statt dessen treiben können, wenn ich mit Verstand zu Werke gegangen wäre. Eine rohe Erziehung und eine noch rohere Lebensart nachher ließen das Bessere in mir nicht zur harmonischen Entwicklung kommen. So blieb es immer bei unfruchtbarem Wollen und kam nie zum Vollbringen. So fehlt mir jetzt das, was ich so häufig an anderen Menschen gewahr werde: Selbstzufriedenheit." Im Sommer 1810 war er auf der Rückreise nach Kauffung; an der Grenze traf ihn eine Kabinettsorder des Königs, welche ihm eine Staatsdomäne mit fünfzehnhundert Taler Einkommen jährlich überwies; er begab sich nach Kauffung zu den Seinen, wo er endlich die Muße hatte, seine finanzielle Lage zu ordnen. Und von hier aus spähte er aus, welchen Gang die stets wachsenden europäischen Verwicklungen nehmen würden. Napoleon bildete in dieser Zeit den Gedanken der Weltherrschaft aus und brütete, über Rußland herzufallen. Damit rückte für Preußen der Kampf um seine Existenz selber heran. P l a n e i n e s V o l k s a u f s t a n d e s . 1811. Plötzlich kann sich's umgestalten! Laß den Schwächling angstvoll zagen! Mag das dunkle Schicksal walten! Wer um Hohes kämpft, muß wagen; Mutig auf der steilsten Bahn! Leben gilt es oder Tod! Trau dem Glücke! Trau den Göttern! Laß die Woge donnernd branden. Steig trotz Wogendrang und Wettern Nur bleib immer, magst du landen Kühn wie Cäsar in den Kahn! Oder scheitern, selbst Pilot! Berlin, 8. August 1811. v. Gneisenau. Mit diesen Worten wandte sich Gneisenau an den König, als er seine Pläne vorlegte, Napoleon zuvorzukommen und den Krieg zu eröffnen, die ganze Nation unter die Waffen zu rufen. Die Denkschriften sind im zweiten Bande des Gneisenau von Pertz abgedruckt, mit den höchst

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merkwürdigen Randbemerkungen des Königs und den Antworten Gneisenaus auf dieselben. Eine sei herausgehoben. Gneisenau hatte vorgeschlagen, daß auch die Kanzeln benutzt werden müßten, zur Verteidigung anzufeuern. An das jüdische Volk unter den Makkabäern sollten die Prediger erinnern, an den tapferen Widerstand der österreichischen Milizen gegen die französische Reiterei. Der König schrieb an den Rand: „Als Poesie gut." Hierauf Gneisenau: „Religion, Gebet, Liebe zum Regenten, zum Vaterland, zur Tugend sind nichts anderes als Poesie, keine Herzenserhebung ohne poetische Stimmung. Wer nur nach kalter Berechnung handelt, wird ein starrer Egoist. Mit Poesie ist die Sicherheit der Throne gegründet. Wie so mancher von uns, der mit Bekümmernis auf den wankenden Thron blickt, würde eine ruhige, glückliche Lage in stiller Abgezogenheit finden können, wie mancher dürfte selbst eine glänzende erwarten dürfen, wenn er, statt zu fühlen, berechnen wollte. Die Bande der Geburt, der Zuneigung, der Dankbarkeit fesseln ihn an seinen Herrn; mit ihm will er leben und fallen; für ihn entsagt er den Familienfreuden und gibt seine Lieben einer Ungewissen Zukunft preis. Dies ist Poesie, und zwar von der edelsten Art. An ihr will ich mich aufrichten mein Leben lang." Man bemerkt, wie ein edler Unmut hier die innersten Gefühle Gneisenaus ans Tageslicht hervorzwingt. Gneisenau zauderte keinen Augenblick, in diesem Moment, in welchem es galt, alle moralischen Kräfte für eine übergroße Aufgabe zu entfesseln, zu den radikalsten Maßregeln zu greifen. Floß erst Blut, so mußten die niederen Stände dadurch zur Rache gereizt werden. Der Bürgerstand sollte erregt werden, indem Verdienste in diesem Kriege inmitten desselben einen Stand von Notabein schüfen, aus welchem allein alsdann Repräsentanten und Beamte genommen werden sollten. Endlich kein anderer Adel sollte nach errungener Unabhängigkeit gültig sein, als derjenige, der in diesem heiligen Kriege durch Handlungen großer Tapferkeit oder ersprießliche Ratschläge, durch herbe Verwundungen oder große dem Vaterlande dargebrachte Opfer erneuert sei. Solche Wagnisse waren nicht im Sinne des Königs. Es ist schwer, die Entscheidungen der Menschen, deren Gründe in der Politik eines ganzen Weltteils lagen, nachträglich zu beurteilen. In dem Königstand, gegenüber den Vorschlägen dieser kühnen Männer, stets im Hintergrund ein Mißtrauen erregender Gedanke. Er allein hatte eine Krone zu verlieren. Er allein war seinen Kindern für ein ererbtes Reich verantwortlich. Es trennt den Fürsten in Momenten eines solchen Entschlusses von seinen Ratgebern eine breite Kluft. Er ist doch allein mit sich selber und seinem ererbten Königtum. Und wenn er Rat

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empfängt, wird ihm der genehm sein, der von Menschen ausgeht, welche nur ihm persönlich attachiert sind und daher mehr von seinen Interessen aus urteilen, als von solchen, welche das große Ganze im Sinne haben, die Nation und den Staat. Aber es kann sein, daß in solchen ungeheuren Krisen der fürstliche Instinkt der Selbsterhaltung sicherer leitet als die größten Gesichtspunkte. Von Monat zu Monat finden wir dem König andringende Vorschläge vorgelegt, verknüpft mit der Befürchtung, daß nunmehr der Kampf mit Napoleon unausweichlich, und ohne entschiedenes Vorgehen die Krone verloren sei. Der Erfolg hat für den König entschieden, welcher die Entscheidung hinausschob, bis der ungeheure Ehrgeiz Napoleons auf einen jener Zufälle stieß, welche dafür zu sorgen scheinen, daß das Ungeheure und Grenzenlose auf der Erde sich nicht realisiere. Doch würde man irren, was nicht sofort verwirklicht wurde von solchen Plänen, für verlorene Mühe zu halten. Der Tropfen höhlte den Stein. Ideen, welche dem König fremd waren, wurden ihm gewohnt. Ideen, welche er im ganzen verwarf, wurden im einzelnen und herabgemindert realisiert. Auf diesem Gegenwirken der Kräfte beruhte die Reorganisation unseres Staates. Gneisenau als Feldherr. Die Tätigkeit Gneisenaus für die Reorganisation war 1811 im wesentlichen abgeschlossen. Die politischen Kombinationen beschäftigten ihn 1811 und 1812, alsdann der Krieg. Mit dem Abschluß der Allianz zwischen Frankreich und Preußen war vorläufig die Politik der patriotischen Aktionspartei beseitigt. Eine ganze Anzahl von Offizieren, unter ihnen Scharnhorst, Gneisenau und Boyen, nahm und erhielt im Frühjahr 1812 den Abschied. Gneisenau verbrachte das nächste Jahr in Bemühungen, die Kräfte gegen Napoleon zu sammeln. Er ward in Österreich, Rußland, Schweden, England mit Vertrauen aufgenommen. Während seines Aufenthalts bei dem russischen Heere gewährten seine scharfsichtigen Beobachtungen und Ratschläge in Unterredung und Denkschrift dem Kaiser Alexander wichtige Belehrung. Es ist bemerkenswert, daß Gneisenau schon in einer Denkschrift vom Sommer 1812 dem Kaiser von Rußland den folgenden Vorschlag machte: „Alles Getreide und Vieh muß weggenommen und in das Innere gebracht werden, alle Dorfwirtshäuser mit ihren großen Ställen müssen zerstört, alle Mühlen vernichtet und ihre Maschinen zerbrochen werden; die Einwohner sich in die großen Waldungen und die Sümpfe flüchten. Mit solchen Maßregeln wird es gelingen, die Bewegungen des Feindes zu lähmen. Dann wird das Klima nicht zögern, seine Wirkung zu üben. Während der

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Schnee die Zufuhr für das russische Heer erleichtert, wird die Härte eines nordischen Winters den Mut aller dieser Horden lähmen." Von da wandte er sich nach Schweden und bestärkte den Kronprinzen in dem Plan, als ein zweiter Gustav Adolf im Rücken Napoleons an der Ostküste zu landen. Am längsten verweilte er in England, und nun kamen ihm die Erfahrungen jener früheren vergeblichen Reise zustatten. Sein Gedanke, daß in Deutschland, nicht in Spanien, die Entscheidung des Kampfes gegen Napoleon liege, fand jetzt Eingang. Ausgerüstet mit englischen Mitteln, kehrte er nach Yorcks entscheidendem Schritt zurück. Er erscheint in Breslau, wo der König um sich die Kriegsmittel nunmehr offen sammelt. Der König stellt ihn neben Scharnhorst in Blüchers Hauptquartier. Scharnhorst erliegt der Wunde der ersten Schlacht, und Blücher, mit seinem scharfen Blick und seiner schlichten Offenheit, sprach es sofort aus, daß er nun nur noch auf Gneisenau bauen dürfe und nichts ohne diesen vermöge. Was Scharnhorst das Schicksal mißgönnte, unternimmt nun Gneisenau. Jenes einzige Bündnis zwischen ihm und Blücher stellt sich fest, welches in der ganzen Kriegsv geschichte kaum seinesgleichen hat. Was Gneisenau je von Ruhm und militärischer Größe geträumt hat, wird ihm jetzt vollauf zuteil.

V. SCHARNHORST Scharnhorst hat die Organisation der preußischen Armee gegründet, welche 1813 unser Vaterland befreite, und welche dann, über die nächste Absicht dieses großen Genies hinaus, einer der gewaltigsten Hebel für die Errichtung des Deutschen Reichs geworden ist. Wie Luther ging dieser Mann mächtigen Willens und unbeugsamen, massiven Verstandes aus dem Volke hervor. Jugendjahre. Ein Ernst Wilhelm Scharnhorst war um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, nachdem er als Quartiermeister den hannoverschen Dienst quittiert hatte, auf sein kleines ererbtes Bauerngut, in der Nähe von Hannover, zurückgekehrt und hatte die Verwegenheit, die jüngste Tochter Tegtmeyers, des Besitzers des ritterschaftlichen Gutes Bordenau, zu lieben. Die reichen Eltern des Mädchens verwarfen den Liebhaber, und erst als die Tochter, um sich den schlimmen Nachreden der Leute zu entziehen, ihre Heimat längere Zeit verlassen mußte, willigten sie gezwungen in die Verbindung. Ein Mädchen kam, und ihm folgte dann in Bordenau am 12. November 1755 der erste Sohn,

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Gerhard, welcher den Großvater damals ganz aussöhnte und später den Namen der Scharnhorst unsterblich machen sollte. Er wuchs unter fünf Geschwistern auf einer Pachtung heran und wurde von seinem Vater als Aufseher der Tagelöhner gebraucht. Die Erzählung, daß er die Schafe gehütet habe, eine Erzählung, welche seltsamerweise in der Jugendgeschichte Gneisenaus wiederkehrt, hat nach den Verhältnissen der Familie wenig Wahrscheinliches. Als 1772 ein Prozeß über Bordenau zugunsten des alten Scharnhorst entschieden war, siedelte man auf dies Gut. Der tatkräftige Wille des alten Scharnhorst hob bald den Ertrag desselben ansehnlich. Nun ward dem Sohn auch gestattet, sich seinem entschiedenen Wunsche gemäß der militärischen Laufbahn zu widmen. Varnhagen hat ein schönes Lebensbild des Reichsgrafen von Schaumburg-Lippe entworfen, welcher in verkrüppelt kleinen Verhältnissen seine militärischen Ideen zu verwirklichen suchte. Man kann nicht umhin, wechselsweise über ihn zu lächeln und ihn zu bewundern. Er erneuerte in seiner Grafschaft das altdeutsche Gesetz, nach welchem jeder ansässige Einwohner zum Kriegsdienst verpflichtet war, und errichtete mit Hilfe dieser Gewaltsamkeit, der niemand begegnen konnte, da die Grafschaft keine Landstände mehr hatte, ein Regiment zu Fuß, eine Abteilung Artillerie und eine Reiterschwadron. Er bildete diese kleine Armee zu einer Mustertruppe und errichtete auf dem Wilhelmsstein musterhafte militärische Anstalten. In diese, welche dem väterlichen Gütchen ganz nahe lagen, trat nun Schamhorst ein. Der Graf pflegte selber zu prüfen und zu entscheiden. Er bemerkte zwar in den Vorkenntnissen des achtzehnjährigen Jünglings noch erhebliche Lücken; aber ihn erfreute die Reinheit seiner Sitten, ein unbefangenes bescheidenes Benehmen, seine lebhafte Wißbegierde und die freudige Kriegslust, welche aus den großen blauen Augen und den offenen, edlen Zügen leuchtete. Die Vorbildung, welche Scharnhorst nunmehr empfing, ward für ihn von bleibender Bedeutung. Es ist ein Werk des Grafen „über den Defensivkrieg" von 1775 erhalten, welches erst einen Einblick in das innere Verhältnis der Leistungen beider Männer gibt. Gneisenau erklärte hierüber an Varnhagen von Ense: „Sie haben den Grafen von Lippe sehr gerühmt, aber lange noch nicht nach Verdienst, er war viel größer noch, als Sie ihn darstellen. Ich habe mich früher eine Zeitlang in Bückeburg aufgehalten und dort im Archive seine Handschriften durchgelesen. Unsere ganze Volksbewaffnung vom Jahre 1813, Landwehr und Landsturm, das ganze neuere Kriegswesen hat der Mann ausführlich bearbeitet, von den größten Umrissen bis auf das kleinste einzelne, alles hat er schon gewußt, gelehrt, ausgeführt. Denken Sie

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nun, was das für ein Mann gewesen, aus dessen Geiste, so weit in der Zeit voraus, die größten Kriegsgedanken sich entwickelt, aus deren späterer Verwirklichung zuletzt die ganze Macht Napoleons eigentlich zusammengebrochen ist." Der Graf liebte Scharnhorst. Er verlieh ihm die goldene Medaille der Kriegsschule und beförderte ihn zum Offizier untersten Grades. L e i t u n g d e r M i l i t ä r s c h u l e in H a n n o v e r . S c h r i f t s t e l l e r i s c h e Arbeiten. Als der Graf von Schaumburg im Herbst 1777 seiner geliebten Gattin, der Freundin Herders, nachstarb, meldete sich Scharnhorst zum hannoverschen Militärdienst. Er besaß bereits eine geschlossene militärische Ausbildung. Auch über sie hinaus hatte sein Geist geblickt. Es wird erzählt, daß er mit besonderer Vorliebe Young, Klopstock, Schubart, Lessing und Goethe gelesen habe. So trat er in das 8. hannoversche Regiment von Estorff-Dragoner. Dieser vortreffliche Offizier, General von Estorff, hatte eine Kriegsschule in seinem Regiment für die jüngeren Offiziere errichtet. Der Übergang Scharnhorsts in sein Regiment war ihm besonders erwünscht, weil gerade die Kriegsschule des Grafen von Schaumburg ihm bei seinen eigenen Bestrebungen als Muster vorschwebte. Scharnhorst ging eifrig in seine Pläne ein. Vor kurzem noch Schüler, lehrte er nun mit um so mehr Feuer Mathematik, Artilleriewissenschaft, Fortifikation. Er ward sofort der Lieblingslehrer der jungen Offiziere. Und daneben fand er noch hinreichend Muße, in den Militärwissenschaften selbständig fortzuarbeiten und eine Reihe schriftstellerischer Versuche auf diesem Gebiet teils zu veröffentlichen, teils zu beginnen. Eine so ernste, gründliche, erfolgreiche Tätigkeit machte Scharnhorst bald auch in Hannover bekannt. Und als man dort eine Artillerieschule errichtete, wurde er als Fähnrich an diese berufen. Eine lange Reihe von Jahren, 1782—1793, sollte er in Hannover zubringen, hier sollte er für seine militärische Ausbildung den Abschluß und für sein Leben die geliebte Gefährtin finden. An der Spitze der Artillerieschule stand Oberstleutnant von Trew, welcher seine Verdienste vollauf würdigte. Scharnhorst ward die Seele dieses ganzen Unternehmens. Damals verfaßte er ein Handbuch für Offiziere in den angewandten Teilen der Kriegswissenschaften, das seit 1788 erschien. Es ist bezeichnend für ihn, daß der Vorwurf vernommen wurde, er verfahre zu streng wissenschaftlich in seinem Unterricht, und er behandle die am Unterricht teilnehmenden Offiziere zu sehr als Schüler, nicht als Offiziere. In der Biographie des späteren hannoverschen Generals Sir Julius von Hartmann, der sein Schüler in der Anstalt

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und sein Untergebener in der Kompanie war, wird Scharnhorsts Einfluß so geschildert: „Scharnhorst übte schon damals ein außerordentlich großes Gewicht auf seine Umgebung und speziell auf seine Schüler aus. Er bewirkte dies weniger durch seinen Unterricht. Dieser hätte wohl für seine damaligen weniger entwickelten Schüler elementarer sein können. Viel entschiedener wirkten seine große Freundlichkeit und Humanität, sein herablassendes Hineingehen in der jungen Leute Ansichten, welche er in mannigfachsten Richtungen, nicht bloß auf dem militärischen Felde, berichtigte und leitete. Bis in seine letzten Lebenstage erinnerte sich Hartmann mit jugendlichem Schwünge der Gespräche Scharnhorsts während der Zwischenstunden mit den Kadetten und Offizieren. Besonders interessant waren seine kriegsgeschichtlichen Vorlesungen über den Siebenjährigen Krieg, die Belagerung von Gibraltar und andere Ereignisse, bei denen hannoversche Truppen tätig gewesen waren." Er war eine Gelehrtennatur, welche durch die militärische Schulung nur jene geschlossene Haltung empfangen hatte, welche an den hervorragenden Mitgliedern dieses Standes so angenehm berührt, und so trieb ihn seine Neigung zu zusammenhängender schriftstellerischer Tätigkeit. Seit 1782 gab er die militärische Bibliothek heraus, welche dann unter dem Titel „Bibliothek für Offiziere" von ihm fortgesetzt wurde; alsdann erschien 1788 bis 1790 zu Hannover sein „Handbuch für Offiziere", ein Werk, das bis jetzt im einzelnen erreicht, doch im ganzen noch nicht übertroffen ist; eine Geschichte der Belagerung von Gibraltar und eine andere, die Veränderung und Einrichtung des schwedischen Kriegswesens durch Gustav Adolf, folgten. Am meisten Aufsehen aber machte das Taschenbuch für Offiziere, welches 1792 erschien und versuchte, in der Kürze alles zusammenzufassen, was dem Offizier im Felde und bei Belagerungen von Nutzen sein kann. Sein Erscheinen traf mit dem Beginn des französischen Revolutionskrieges zusammen. Schon nach einem Jahr war eine zweite Auflage nötig. Und noch viel später urteilte Clausewitz, Scharnhorst habe in diesem Taschenbuch über den eigentlichen Krieg von allen bisherigen Militärschriftstellern am besten geschrieben. Friedrich der Große hatte 1762 für seine Offiziere eine „Anweisung zur Kriegskunst für Offiziere" herausgegeben; diese gab nun Scharnhorst 1793 heraus und fügte zahlreiche Zusätze hinzu, teils aus den späteren kriegswissenschaftlichen Werken des Königs, teils Ergänzungen aus seinen eigenen Studien. Durch diese Arbeiten trat Scharnhorst in die Reihe der ersten Militärschriftsteller aller Zeiten. Bald nach seiner Ankunft in Hannover war sein Vater gestorben, und das Gütchen Bordenau war auf ihn übergegangen. Während er DU t h e y , Gesammelte Schriften XII

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für die Ausbildung seiner Brüder eifrig Sorge trug, hatte er den Haushalt selber aufgelöst, die Ländereien verpachtet. Er hatte dann Urlaub genommen, um auf einer längeren Reise bis Wien die militärischen Verhältnisse verschiedener Staaten aus eigener Anschauung kennenzulernen. 1785 hatte er sich mit Clara Schmalz verheiratet, deren elterliches Haus er durch ihren Bruder kennengelernt hatte, welcher damals als Privatgelehrter eine Lebensbeschreibung des Grafen Wilhelm von Bückeburg ausarbeitete. In Bordenau, im Kreise der Verwandten und Freunde, wurde die Verbindung gefeiert. Die weiche, sanfte, zu stiller Beschaulichkeit neigende Gemütsart seiner Gattin ging hingebend in Scharnhorsts wissenschaftliche Pläne ein; es machte sie glücklich, ihm als Sekretär zur Seite zu stehen. Im Frühjahr 1786 brachte sie ihm den ersten Sohn, und um so freudiger arbeitete er nun für Frau und Kind. Er las kein Buch, ohne bei der Lektüre eigene Ideen niederzuschreiben; er war eine im größten Sinne produktive Natur. Ich finde unter solchen Aufzeichnungen die Bemerkung: „Es hat mich immer traurig gemacht, daß wir Deutschen so wenige Vaterlandsliebe und so wenigen Nationalstolz besitzen; daß ein Teil unserer feurigsten, unserer vorzüglichsten Schriftsteller sich mit mehr Enthusiasmus für die französische, als ihre eigene Nation interessieren kann." Damals plante er auch eine Erklärung von Cäsars Kommentarien, eine Geschichte des Siebenjährigen Krieges. A n t e i l an d e m K r i e g e von 1793—95. Während Scharnhorst so in glücklichen Verhältnissen seinen militärwissenschaftlichen Arbeiten und seiner Familie lebte, näherten sich die Gewitter der Französischen Revolution immer drohender. Vor dem Schluß 1792 erging an die Mehrzahl der hannoverschen Truppen der Befehl, sich marschbereit zu machen. Am 29. Januar spät abends traf in Hannover die Nachricht von der Hinrichtung Ludwigs XVI. ein. Scharnhorst hatte, wiewohl mit Vorsicht und Einschränkungen, die Bewunderung der Nationalversammlung geteilt, wie ein Schlözer, Klopstock, Schiller sie aussprachen. Von solchen Gefühlen war nichts mehr bei ihm übrig. Aber er erkannte, daß die Maßregeln des Schreckensregiments und die vereinfachte Taktik der Republik dem französischen Heer entschiedene Vorteile gaben. Mit genialem Blick in die Grundfehler des französischen Soldaten, Eitelkeit und Ungeduld, empfahl er damals: „Daher sollte man in einem Kriege gegen die Franzosen sich zur Grundregel machen, sie stets in Bewegung zu erhalten, besonders bei üblem Wetter, sie beständig anzugreifen, u n d sie nie i h r e n e i g e n e n D i s p o s i t i o n e n f o l g e n zu l a s s e n , sondern sie zu zwingen, sich nach den unsrigen zu richten. Ihre Ungeduld würde sie bald

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zu einem Hauptfehler verleiten. Ist aber ihr Anführer klug und schlägt ihnen ihr unvernünftiges Begehren ab, so begegnen sie ihm verächtlich, werden aufrührerisch und gehen davon." Es ist diesem Zusammenhang fremd, den unglückseligen Krieg der Verbündeten gegen Frankreich von 1793—95 zu schildern. Schamhorst nahm als Hauptmann Anteil an demselben. Aus diesem ruhmlosen Feldzuge leuchtet die Verteidigung von M en in hervor. Diese wurde durch den General von Hammerstein und durch Scharnhorst als seinen ersten Generalstabsoffizier geleitet. Die treffliche Biographie von Klippel gibt ausführlicher die Geschichte dieses ganzen Unternehmens aus dem handschriftlichen Material. Als endlich der größte Teil der Stadt in einen Schutthaufen verwandelt, die spärlichen Lebensmittel unter den Ruinen der Häuser begraben waren, als die Garnison pro Mann nur noch dreißig bis vierzig Schüsse hatte: sammelte der General abends um 10 Uhr die Kommandeure um sich, ihnen mitzuteilen, er sei entschlossen, mit den 2000 Mann sich durch die 20000 Mann starke Armee der Belagerer durchzuschlagen. „Das Zimmer", so erzählt Scharnhorst selbst, ,,in welchem die Disposition ausgegeben wurde, war mehr durch die Flammen der brennenden Gebäude als der aufgestellten Lichter erleuchtet; die Bomben spielten nach dieser Richtung hin gerade jetzt sehr lebhaft; bald fielen sie auf das Gebäude, in dem sich der General befand, und krachten in demselben, als wenn der Blitz einschlüge, bald krepierten sie in dem Garten, nahe vor den Fenstern. Nach 12 Uhr mitternachts hatten sich die Truppen versammelt." Der General redete jedes Bataillon einzeln an. „Die unaufhörliche Unruhe", sagt Scharnhorst, „und die beständige Gefahr, in der die Truppen seit vier Tagen waren, gaben dieser Unternehmung einen eigenen Anstrich. Es schien, als wenn sie glaubten, daß dies der gewöhnliche Gang des Krieges wäre. Man wünschte einander Glück, daß es endlich so weit gekommen, und bloß diejenigen waren untröstbar, welche zurückbleiben sollten. Das augenblickliche Bedürfnis reizt im Krieg zu großen Taten. Man sollte diesen Umstand mehr benutzen, nicht wie Tilly und Trenck, aber wohl wie im Revolutionskrieg die Franzosen." Der Durchbruch gelang unter den furchtbarsten und abenteuerlichsten Wechselfällen. In seiner Relation sagt Hammerstein: „Vor allen anderen halte ich mich verpflichtet, vom Hauptmann Scharnhorst allein Erwähnung zu tun. Dieser Mann hat bei seinem ganzen Aufenthalt in Menin, nachher beim Bombardement und letztlich beim Durchschlagen Fähigkeiten und Talente, verbunden mit einer unvergleichlichen Bravour, einem unermüdeten Eifer und einer bewundernswürdigen Kontenance gezeigt, daß ich seiner Anordnung allein den langen Aufenthalt in Menin während des Bombardements

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und den glücklichen Ausgang des Plans, mich durchzuschlagen, verdanke. Er ist bei allen Ausführungen der erste und der letzte gewesen. Wenn je einem eine Belohnung für etwas Außerordentliches geworden, so verdient sie Hauptmann Scharnhorst im größten Maße." Scharnhorst ward zum Major und zweiten Generalquartiermeister der hannoverschen Truppen ernannt. Der Krieg neigte sich zu Ende. Scharnhorst fand keine Gelegenheit mehr, sich auszuzeichnen. Er kehrte zu den gewohnten, liebgewordenen Beschäftigungen in Hannover zurück, und zu ihnen traten die Pflichten seiner neuen Stellung. Er stieg zum Oberstleutnant und Generalquartiermeister der Armee auf. Aber er fand jetzt im Frieden sich gegenüber Hemmungen, welche er entschlossen war, nicht gelten zu lassen. Es war für seine pekuniäre Lage entscheidend, wenn er Inhaber eines Regiments wurde; auch war Graf Wallmoden durchaus nicht gegen diesen Wunsch; er kannte seine Unentbehrlichkeit. Dagegen erfuhr Scharnhorst unter der Hand aus sicherer Quelle, daß sowohl Geheimrat von Lenthe in London als auch ein paar einflußreiche Männer von Adel in Hannover selber sich mit Entschiedenheit gegen die Erfüllung seines Wunsches erklärten. Seine bürgerliche Herkunft, seine wissenschaftliche Richtung erregten bei ihnen Anstoß. Öfters bereits war von Preußen aus ihm der Wunsch ausgedrückt worden, er möge in die dortige Armee eintreten; jetzt nahm er diese Verhandlungen auf, und als er nach langem Zögern im Mai 1801 seinen Abschied erlangt hatte, trat er in preußische Dienste über. P r e u ß i s c h e D i e n s t e . Die M i l i t ä r s c h u l e in B e r l i n und die d o r t i g e m i l i t ä r i s c h e Gesellschaft. Er brachte vollendete militärische Bildung und Tüchtigkeit aus hannoverschen Diensten mit. „Gewiß", sagt der Biograph des Generals Hartmann, „war Scharnhorst in seiner speziellen wissenschaftlichen Bildung nur als eine besondere Einzelheit zu betrachten, dennoch fußte er ganz in der hannoverschen allgemeinen Bildung, war gleichsam ihre Spitze und bezeichnete ihren Typus. Diesen charakterisierte aber vor allem der gesunde, einfache Menschenverstand, der fern von den üppigen Wucherungen der Spekulation eines Heinrich von Bülow und eines Massenbach die Tatsachen im Lichte der Wirklichkeit prüfte, und aus ihnen die einfachen Regeln für die Praxis zog. Nüchternheit, Ruhe und Gesundheit waren die hervorragenden Eigentümlichkeiten der militärischen Bildung Scharnhorsts und der hannoverschen Offizierkorps im allgemeinen." Dreiundzwanzig Jahre hat Scharnhorst dem Dienste des Staates gewidmet, dem er durch seine Geburt und bürgerlichen Verhältnisse an-

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gehörte. Mit dem Eintritt in preußische Dienste begann der für die Geschichte des Militärwesens und der Staaten von ganz Europa denkwürdige Abschluß seines Lebens. Ein Dutzend Jahre nur noch sollte ihm vergönnt sein; aber in dieser Zeit gestaltete sein gründlicher und mächtiger Geist das ganze Militärwesen Friedrichs des Großen um. Seit 1797 regierte Friedrich Wilhelm III. Er war sehr gründlich militärisch gebildet und von klarem, einfachem Blick. „Glauben Sie mir", schrieb einmal Gneisenau, „der König ist der Unterrichtetste von allen, die ihn umgeben; unglücklicherweise hat er Fremden gefolgt und seine Besseren hintangesetzt." Aber indem man in die nächsten Jahre Scharnhorsts in Berlin blickt: sieht man, wie die Intrigen in den militärischen Kreisen den guten Absichten des Königs entgegenwirkten. Scharnhorst leitete die Militärschule in Berlin; er war Präsident der militärischen Gesellschaft; seine Arbeiten sicherten ihm den ersten Rang unter den damals der preußischen Armee angehörigen militärischen Schriftstellern. Aber seine Stellung inmitten der entgegengesetzten Parteien wurde ihm täglich verhaßter. Er hatte anfangs gehofft, durch ruhige Neutralität sich Frieden zu erhalten, aber er hatte es dann unmöglich gefunden. Neid verfolgte ihn. Seine Gattin und eine Tochter starben ihm kurz hintereinander weg, und eine andauernde Schwermut bemächtigte sich seiner nun; er wünschte dringend eine Veränderung seiner Lage. Der gütige König, welcher ihn 1802 in den Adelstand erhoben, versetzte ihn nun in den Generalstab als dritten Generalquartiermeister-Leutnant. Aus diesen schmerzlichen Jahren sollen ihm eine tiefe Schwermut, eine vorsichtige Zurückhaltung im Verkehr und eine gewisse Reizbarkeit zurückgeblieben sein, welche sich nicht selten in kurzabfertigender Schroffheit und unnachsichtiger Strenge, zumal im Dienst, äußerten. S e i n e S t e l l u n g im p r e u ß i s c h e n G e n e r a l s t a b . Der Generalstab der damaligen preußischen Armee, welche nunmehr bald in den Entscheidungskampf mit Napoleon eintreten sollte, war wenig homogen zusammengesetzt. An seiner Spitze stand der Kriegsminister selber, welcher der Masse der Geschäfte nicht gewachsen war; er begnügte sich, ein äußeres friedliches Verhältnis mit jedem einzelnen Mitglied des Generalstabs aufrechtzuerhalten. Unter ihm standen die drei Generalquartiermeister-Leutnants. Der älteste unter ihnen war der Oberst von Phull. Er galt für einen gründlichen Gelehrten; aber von Natur kalt und in sich verschlossen, war er dem Soldatenleben und der Kameradschaft gänzlich fremd. In dieser unbehaglichen Stellung hatte er versucht, sich der bedeutenden Persönlichkeit des Prinzen Louis Ferdinand und einigen jüngeren

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Offizieren anzuschließen; er hielt ihnen Vorträge über den Krieg. Geistvoll und wissenschaftlich gebildet, wie er es war, hat er zwar vielen Menschen imponiert, aber wenigen Vertrauen und keinem Liebe einzuflößen gewußt. Eine solche Persönlichkeit mußte durch ihre Neigung zu frondieren im Kriege sich unheilvoll erweisen. Und der Erfolg wird uns dies bestätigen. Auf ihn folgte der Stellung nach der Oberst von Massenbach. Auch dieser war ein geborener Württemberger und aus der Stuttgarter Militärschule. „Ein Feuerkopf, reich an Ideen, von einer aufreibenden, aber nie praktischen Tätigkeit. Er war von der Leidenschaft geplagt, alles um sich her zu regieren" ; er sprach gern und schön : aber im entscheidenden Augenblick fehlte ihm die courage d'esprit, und seine lebhafte, springende Phantasie zeigte den Sachen gegenüber sich unkräftig, sie zu bewältigen. So geschah es, daß dieser hervorragende Offizier ebenfalls vorzugsweise hemmend wirkte, als es galt, den Feldzug durch rasche und entscheidende Schläge zu eröffnen, und daß er dann Ursache jener schmachvollen Kapitulation von Prenzlau ward. Er hat später viele Schriften zu seiner Rechtfertigung herausgegeben. Sie sind alle geistreich, leidenschaftlich, beredt; doch zeigen sie alle nur einen Mann, der sich selbst geltend machen wollte, aber nicht einen Gedankenzusammenhang, auf dessen Grunde Staat und Heer mit Erfolg hätten tätig sein können. Als Jüngster war nun Scharnhorst hinzugetreten. Seine Tätigkeit war, da man in der Artillerie ihm entgegengewirkt hatte, von 1802 bis 1806 hauptsächlich auf die Schulung der Infanterie-und Kavallerieoffiziere in der Militärschule gerichtet. Er erweiterte den Unterricht, welcher in Berlin schon seit Friedrich dem Großen diesen Offizieren über Kriegskunst erteilt worden war, und dem bisher ein einziger Lehrer vorgestanden hatte, zu einer wahren Akademie. Er übernahm die Stelle des Direktors und lehrte selbst denjenigen Teil der Kriegskunst, der bis dahin auf Kathedern und in Büchern noch wenig zur Sprache gekommen war, den eigentlichen Krieg. So verbreitete sich durch ihn zuerst in der preußischen Armee die Kenntnis der neueren Kriegsart, welche, durch den Revolutionskrieg herbeigeführt, mit Bonaparte ihren Gipfel erreicht hatte. Diese Neuerungen waren der preußischen Armee fremd geblieben; denn zur Zeit der Feldzüge 1792—1794 hatten sie noch nicht gehörige Reife erlangt gehabt. Die Bildungsanstalt, welche auf diese Weise durch Scharnhorst geschaffen wurde, besteht noch jetzt in der preußischen Armee und hat den größten Teil der Generalstabsoffiziere gebildet. Im Generalstab selber standen ihm Phull und Massenbach nach Charakter und wissenschaftlicher Richtung beinahe feindlich gegen-

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über. Er kannte den Dienst in den verschiedenen Waffen. In seinem ganzen Wesen drückte sich eine fast mit Ängstlichkeit verbundene Bestimmtheit aus, mit der er das durch scharfes Nachdenken Erkannte anwandte. Gesunder, einfacher Menschenverstand galt ihm über alles. Kaum hatte die Wirksamkeit von Scharnhorst begonnen, sich bemerkbar zu machen, als ihr der ausbrechende Krieg ein jähes Ende machte. B e u r t e i l u n g seines Anteils am p r e u ß i s c h - f r a n z ö s i s c h e n K r i e g von 1806. Wie beurteilte Scharnhorst die Lage Preußens? Er gehörte nicht zu der Partei, an deren Spitze unter den Militärs Massenbach stand, welche an der Möglichkeit, Krieg zu führen, verzweifelte, und demgemäß bis zum letzten Augenblicke Unterhandlungen hinzog. Er hielt den Krieg für eine Notwendigkeit. Er gehörte ebensowenig zu jener anderen Partei, welche unbesonnen und übermütig nichts begehrte, als daß der Krieg nur erst erklärt wäre, welche damit die Hauptsache für getan hielt; es ist bekannt, daß unter den Offizieren der Prinz Louis Ferdinand und seine Kameraden von der Garde diese Ansicht laut und stürmisch aussprachen. Er verlangte umsichtige Vorbereitung, wenn aber erst der Krieg beschlossen sei, raschesten Angriff. Klippel hat im dritten Bande seiner Biographie Scharnhorsts die beste bis heute vorhandene Zusammenstellung von Tatsachen gegeben, welche die nun folgende Katastrophe erklären. Leider ist seine Darlegung so wenig anschaulich, daß kaum einer seiner Leser ein klares und zusammenhängendes Bild davontragen wird. Die Sache ist für die Würdigung von Scharnhorst von größter Bedeutung. Scharnhorst war der leitende Generalstabsoffizier des Herzogs von Braunschweig,; sein Name kann nicht anders als in das allgemeine Urteil über dessen Kriegsführung mit hineingezogen werden. Der Herzog von Braunschweig fiel mitten im Verlauf der Schlacht von Auerstedt; es scheint, als hätte Scharnhorst die Leitung des Ganzen übernehmen müssen, und die Verwirrung, welche eintrat, scheint auch auf Scharnhorst einen Schatten zu werfen. Es ist sehr bequem, auf die preußische Armee selber en gros alle Vorwürfe zu werfen, welche der Ausgang dieses Feldzugs aufdrängt. Auch Scharnhorst spricht es aus, daß „die inneren Verhältnisse der Armee keine glücklichen Erfolge zuließen". Aber er sprach jederzeit mit der höchsten Anerkennung von der Bravour und Tüchtigkeit der Truppen und der Offiziere. Er selber, auf dem Flügel, auf dem er die Schlacht leitete, hatte keinen Augenblick Grund, sich über seine

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Truppen zu beklagen, einen Teil der Kavallerie ausgenommen; ja, er sagt geradezu: „In der Bravour waren wir den Franzosen überlegen." Auch Gneisenau hob die Tüchtigkeit der Offiziere als einzige Hoffnung hervor. Man lasse also jene allgemeinen Deklamationen gegen die preußische Armee von 1806 fallen. Es ist eine Reihe sehr hervorspringender Ursachen, deren Zusammenwirken so verhängnisvolle Wirkungen hatte. In der Organisation der Armee selber lag die erste Klasse von Ursachen. Gneisenau bezeichnete sie so: „ U n s e r R e k r u t i e r u n g s wesen, mit allen seinen Exemtionen, das nur einen Teil der Nation zu den Waffen verpflichtete, dessen Dienstzeit über die Gebühr verlängerte, der folglich mit Widerwillen diente und nur noch durch die Disziplin zusammengehalten wurde; Einrichtungen, die dem Soldaten erlaubten, sich mit einer Familie zu belasten, deren Schicksal gar oft dem bekümmerten Vater das Ende des Krieges wünschenswert machte; das B e u r l a u b u n g s w e s e n , das den darauf mit seinen Einkünften angewiesenen Kompaniechef verleitete, den noch wenig disziplinierten Rekruten in seine Heimat zu entlassen, die schlechte Beschaffenheit unserer Regimentsartillerie und unserer Waffen und die in den seitherigen Friedensjahren zur Tagesordnung gewordene B e s c h ä f t i g u n g mit n i c h t s w ü r d i g e n K l e i n i g k e i t e n d e r E l e m e n t a r t a k t i k , für die Schaulust des Publikums erfunden, um alles zu umfassen, unser Eigendünkel, der uns nicht mit der Zeit fortschreiten ließ." Die zweite Klasse von Ursachen lag in der Führung dieser Armee. Gneisenau faßt diese Klasse einfach zusammen als „Untauglichkeit der meisten unserer Generale". Scharnhorst schreibt darum seinem Sohne, welchen es drängte mitzufechten, nach Ausgang des Jahres 1805, vor Ausbruch des Krieges: „Dies macht Deinem Mut und Deinem Patriotismus Ehre. Lerne aber, mein Sohn, diese Tugenden früh besiegen. Sie haben mir von jeher und vorzüglich in diesem Augenblick mehr Kummer als irgendein Laster gemacht. Übrigens wünsche ich nicht, daß Du jemals als Soldat auftrittst; schwerlich würdest Du hier Befriedigung finden. Alter, Schwäche, Untätigkeit, Unwissenheit und Unmut auf der einen Seite, Tätigkeit und Entschlossenheit auf der anderen. Die preußische Armee wird von dem besten Geiste beseelt, Mut und Geschicklichkeit, nichts fehlt ihr. Aber sie wird nicht, sie soll nicht, sie kann nicht in der Lage, in der sie ist, in die sie kommen wird, etwas Großes und Entscheidendes tun." Näher analysiert Gneisenau die Mängel der Führung folgendermaßen: „Die Unfähigkeit des Herzogs von Braunschweig, einen soliden Feldzugsplan zu

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entwerfen, die seinem Alter so gewöhnliche Unentschlossenheit, sein Feldherrnunglück, das Mißtrauen der Armee in ihn, die Uneinigkeit der Koryphäen des Generalstabs, die Neutralisierung einiger der fähigsten Mitglieder desselben." Hier ist ohne Frage in erster Linie Scharnhorst gemeint. Dieser hatte sich am 23. September 1806 als Chef des Generalstabs des Herzogs von Braunschweig in Naumburg eingefunden. Der Herzog war damals 72 Jahre alt, hatte gleichwohl eine merkwürdige Rüstigkeit des Körpers und Frische des Geistes sich bewahrt. Wir haben in diesen Zeiten gesehen, wie wenig berechtigt das Urteil derer ist, welche das Alter des Höchstkommandierenden und einiger anderer Generäle als eine hervorragende Ursache des folgenden Unglücks hervorheben. Aber er fühlte sich selber der obersten Leitung einem Napoleon gegenüber nicht gewachsen und hatte sie nur übernommen, weil er immer noch, hoffte, dem Krieg ausweichen zu können. Was hiermit zusammenhängt: er hatte alsdann kein Zutrauen zu den Generälen und der Armee. Wenn ihn die Heftigkeit übermannte, nannte er Rüchel einen Fanfaron, Möllendorf einen abgestumpften Greis, Hohenlohe einen schwachen und eitlen Mann. Alsdann erschien seine Natur und Ausbildung wenig geeignet, sich mit der seines Generalstabchefs Scharnhorst zu verständigen. Das Methodische in Schamhorsts Vortrag war ihm nicht angenehm. Es behagte ihm nicht, daß Scharnhorst bei Meinungsverschiedenheiten in eine strenge, ausführliche Auseinandersetzung eintrat. Er stutzte, wenn ihm Scharnhorst auf diese Weise Vorschläge im Geiste der neueren Kriegsführung machte. Dann rekurrierte er gern auf den Scharnhorst beigegebenen Muffling, und suchte dieser Schamhorsts Ideen ihm näherzubringen, so war er verstimmt. Scharnhorst erlangte von ihm die Gliederung der Armee in Divisionen nach dem französischen Muster, d. h. in selbständige taktische Körper mit eigener Verwaltung nach allen Beziehungen. Er erlangte alsdann von ihm die endliche Feststellung des Feldzugsplanes, welchem gemäß die preußische Armee mitten durch den Thüringer Wald über die französischen Quartiere in Franken herfallen sollte. Hier aber endete sein Einfluß. Am Abend des 23. September waren der König und die Königin mit Möllendorf und Phull im Hauptquartiere eingetroffen. Auch Massenbach war da. Der Herzog, froh, sich der Verantwortung zu entledigen, begann nun, lange strategische Beratungen zu halten, in welchen Phull, Massenbach, Scharnhorst einander neutralisierten. In einer solchen Beratung, nachdem Massenbach einen langen Vortrag gegen den akzeptierten Feldzugsplan vorgelesen und einen Abmarsch über Hof und Bayreuth vorgeschlagen hatte und der alte Herzog nun

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sich an Scharnhorst wandte: „Herr Oberst, was sagen Sie dazu?" antwortete Scharnhorst in seiner schneidigen Art: „Ich kann zwar dem Vorschlag des Obersten von Massenbach nicht beitreten, indes darauf kommt es hier nicht an. Denn ob man im Krieg immer das beste tut, ist die Frage. Das beste ist aber gewiß, daß man e t w a s tut." Es war umsonst. Immer noch plante der Herzog Frieden. Gegen Scharnhorst verschloß er sich. Nicht einmal über das Ergebnis des Kriegsrats vom 12. Oktober zu Jena erfuhr Scharnhorst ein Wort. Nun hatte Napoleon den Vorteil der Initiative erlangt, der im Krieg von so hoher Bedeutung ist. Man sieht, eine dritte Klasse von Ursachen für den schlimmen Ausgang lag darin, daß der Herzog und auch der von Haugwitz beeinflußte König ihre Friedenswünsche in die Vorbereitungen zum Krieg hineinwirken ließen, ja in die ersten so entscheidenden Stadien der Kriegsführung. Unter so ungünstigen Umständen maß sich die preußische Armee mit der französischen. Und hier haben die Franzosen stets die Berechnung eines letzten Faktors unterlassen, welcher ebenfalls von großem Gewicht war. Napoleon pflegte öffentlich zu behaupten, mit einer Minderzahl die weit überlegene Mehrzahl besiegt zu haben. In der Tat war eins seiner mächtigsten Hilfsmittel, daß er einige seiner wichtigsten Kriege mit großen Überzahlen eröffnete. In bezug auf die Schlacht bei Jena hat er dies Verhältnis später selber zugegeben. Die preußische Armee betrug 238 000 Mann, während Napoleon ihr 560000 Mann gegenüberstellte. Bald nach Beginn der Schlacht wurde Scharnhorst vom Herzog zum linken Flügel geschickt. „Ich mache Sie", sagte er ihm, „für alles, was dort geschieht, verantwortlich." Es ist wahrscheinlich, hätte zwischen beiden das richtige Verhältnis bestanden, so würde Scharnhorst im Mittelpunkt der Leitung geblieben sein. Da er sich nun bei dem linken Flügel unentbehrlich fand, da der Herzog ihn für dessen Leitung verantwortlich gemacht hatte, blieb er während der Schlacht und leitete diesen Flügel mit der ganzen gründlichen Sicherheit und Bravour, die ihm eigen waren. „Auf dem linken Flügel", schrieb er nach der Schlacht, „wo ich war, siegten wir, und ich darf sagen, allein durch Bravour und Geschicklichkeit. Man überließ mir alle Anordnungen, und ich habe nie mit mehrerem Vergnügen eine Affäre gemacht." Das Pferd wurde unter ihm erschossen, er selber ward verwundet. Er war einer der letzten, die das Schlachtfeld verließen, das Gewehr in der Hand, da er sein zweites Pferd dem Prinzen Heinrich übergeben hatte. Auf dem Rückzug bildeten sich drei Korps. Das eine unter Kalk-

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reuth, das bei Auerstädt gar nicht gefochten hatte, vereinte sich mit dem zweiten, welches Hohenlohe aus den Trümmern seines bei Jena geschlagenen Heeres gesammelt hatte. Das dritte unter Blücher bildete die Arrieregarde, und in diesem übernahm Scharnhorst als Chef des Stabs neben Blücher die Führung. Blüchers Rückzug bis Lübeck und die vielen Gefechte, die er auf ihm lieferte, sind ohne Frage das Rühmlichste in dieser Periode; er erhielt seinen Ruf in einer Zeit allgemeiner Auflösung, in welcher so viele militärische Reputationen zugrunde gegangen sind. Scharnhorst hatte an diesem Verlauf seinen vollen Anteil. Sie sahen sich genötigt, sich in die Stadt Lübeck zu werfen, und dort ward Scharnhorst gefangengenommen. Als ihn Blücher nach seiner Auswechslung wiedersah, sagte er ihm mit Tränen in den Augen: „Wie Sie gefangen waren, war ich verloren. Sie waren die Seele meines Korps, ohne Sie hatte niemand mehr Mut, ohne Sie konnte nichts geschehen." Dem König schrieb er: „Der festen Entschlossenheit und dem einsichtsvollen Rat von Scharnhorst muß ein großer Teil des glücklichen Ausgangs meines mühsamen Rückzugs zugeschrieben werden." In was für einer Stimmung suchte Scharnhorst das Hauptquartier des Königs auf! „Hätte ich nicht", schrieb er seinen Kindern, „den Zweck und die Verbindlichkeit, für Euch zu sorgen, ich würde mich nicht der Verachtung preisgegeben haben, ich würde Gelegenheit gefunden haben, mit Ehren zu scheiden. Schon den 14. war ich dazu disponiert." In Wehlau traf" er den König. Dieser empfing Scharnhorst sehr gnädig. Scharnhorst betrieb seine Versetzung zu einem agierenden Korps. „Nur in ununterbrochener Tätigkeit vor dem Feind kann ich in unserem Unglück Ruhe finden." Er ward zum Chef des Generalstabs des Generals von Lestocq ernannt. Dies preußische Korps war dem russischen beigegeben, das Bennigsen befehligte. Der Ruhm der preußischen Waffen ward durch dasselbe in jener blutigen und unentschiedenen Schlacht von PreußisehEylau wiederhergestellt, welche zu den furchtbarsten und hartnäckigsten der neueren Zeit gehört. Beide Parteien, Napoleon und Bennigsen, beanspruchten den Sieg; unbestritten war nur die furchtbare Erschütterung und völlige Erschöpfung beider Teile. Napoleons Absicht war gescheitert, in erster Linie durch den geschickten Flankenmarsch und das rechtzeitige Eingreifen der Preußen. Dies war das Verdienst Scharnhorsts. Der König verlieh ihm den Orden pour le mérite; Mißhelligkeiten mit seinem unbrauchbaren General bestimmten ihn, sich zum König zu begeben, und bald nach seiner Ankunft machte der Tilsiter Friede auch diesem Teil des Kriegs ein Ende.

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Die Aufgabe der M i l i t ä r r e f o r m . Der König ernannte wenige Tage nach dem Frieden, am 17. Juli 1807, Scharnhorst zum Präsidenten der Militärreorganisationskommission mit dem Rang eines Generalmajors. Das alte Kriegswesen war im Revolutionskrieg zusammengestür2t. Die Formen des Kriegs sind jederzeit bedingt durch die ökonomischen, politischen und intellektuellen Verhältnisse. Die Franzosen hatten das alte Instrument der Kriegführung mit ihren revolutionären Mitteln wie mit Scheidewasser angegriffen. Der von den Fesseln der bisherigen diplomatisch-militärischen Überlieferung befreite Krieg schritt nun mit seiner rohen Gewalt daher. Man sah die alte Kriegskunst in Trümmern; man sah auf der anderen Seite unerhörte Erfolge; aber niemand unterschied noch ein neues System der Kriegführung, d. h. neue, positive Formen im Gebrauch der Waffe. Und zwar hatte der Krieg eine andere, viel breitere Basis in der Revolution erhalten. Er war gewissermaßen dem Volke wiedergegeben, von welchem ihn die stehenden Heere zum Teil entfernt hatten. Und während unter den Händen der Revolution in Bonaparte dies ungeheure Instrument nach und nach ganz neue Form empfing, erschienen Systemmacher, welche nacheinander ganz verschiedene, aber gleich einseitige Theorien entwarfen, in welchen sie die ungeheure französische Praxis zu erfassen gedachten. So Bülow und Jomini. Während der Krieg selber gewissermaßen auf dem Katheder stand und täglich praktischen Unterricht gab, unternahmen sie vorschnell, ihm seine Lehre vom Munde abzulesen. Scharnhorst unternahm unterdessen, durch Organisation, durch die Militärschule, durch schriftstellerische Tätigkeit und persönlichen Umgang ein Heer zu bilden, welches den neuen Umständen gewachsen wäre. Ihn berührten jene windigen Systeme gar nicht. Andererseits hemmte ihn jenes alte militärische System nicht, welches in den Revuen und Herbstmanövern des preußischen Heeres überliefert wurde. Sein positiver Geist zog seine Schlüsse nicht aus den neuesten Begebenheiten, sondern aus der ganzen Kriegsgeschichte seit den schlesischen Kriegen. Von den wirklichen Begebenheiten aus schienen sich so die allgemeinen Grundsätze von selbst zu bilden. So fielen seine Grundsätze mit dem praktischen Kriege selber, wie er sich im 19. Jahrhundert entwickelt hatte, zusammen; obwohl sie im einzelnen viel mehr Elemente von Überlegung, Klugheit und List enthielten, als der etwas plumpe Stoßmethodismus der französischen Generäle. Und so förderte er in der Armee jene natürliche und gesunde Verbindung der Wissenschaft mit praktischer Tüchtigkeit, welche ihr so eigen blieb.

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So ging seine Tätigkeit für das preußische Militärwesen von der in ihrer ganzen Tiefe verstandenen Aufgabe aus. Und er war ganz ohne jedes Vorurteil, wenn es nun galt, zur Lösung dieses Problems die Mittel zusammenzustellen. Diese Mittel ordnet Clausewitz in folgende Hauptpunkte: 1. Eine der neuen Kriegsart entsprechende Einteilung, Bewaffnung und Ausrüstung. 2. Veredlung der Bestandteile und Erhebung des Geistes. Daher die Abschaffung des Systems der Anwerbung von Ausländern, eine Annäherung an die allgemeine Verpflichtung zum Kriegsdienst, Abschaffung der körperlichen Strafen, Einrichtung guter militärischer Bildungsanstalten. 3. Sorgfältige Auswahl der Offiziere, die an die Spitze der größeren Abteilung gestellt werden. Daher wird das Dienstalter in seinen Rechten beschränkt. Wirklich sind unter Scharnhorsts Administration die meisten der Männer zuerst herangezogen worden, die später zu den ausgezeichnetsten Führern gehörten. 4. Neue, der neuen Kriegsart angemessene Übungen. Der K ö n i g u n d d i e R e o r g a n i s a t i o n s k o m m i s s i o n . Die Militärreorganisationskommission wurde zusammengesetzt aus Scharnhorst, Massenbach, Lottum, Bronikowsky, Gneisenau und Grolmann. Die Vertreter des Alten waren anfangs für eine eingreifende Tätigkeit zu stark, und so schied auf den Betrieb von Schamhorst noch in demselben Jahre Bronikowsky aus, während Götzen und Boyen eintraten. Die geistigen Träger der Reorganisation waren Scharnhorst, Gneisenau, Grolmann und Boyen, die Seele des Ganzen Scharnhorst. Der König selber hatte noch vor dem Tilsiter Frieden „Instruktionen und Entwürfe" ausgearbeitet, welche zeigen, wie klar er die Gebrechen der bisherigen preußischen Taktik und Kriegführung durchschaute. Nun legte er der Kommission vierzehn Punkte vor, welche bestimmt waren, ihren Arbeiten die Richtung zu geben. Man kann nicht zweifeln, daß er in militärischen Dingen einen gesunden, natürlichen und klaren Blick hatte. Er wollte Abschaffung des Ausländerund Werbesystems, Verminderung der Exemtionen in der Militärpflichtigkeit, Bildung größerer Ersatzbezirke, Abschaffung aller besonderen Einnahmen der Kompaniechefs. Damit war die Hand an die nicht mehr haltbaren Grundlagen der Militäreinrichtung Friedrichs des Großen gelegt; das Werbesystem mit all seinen Übeln Folgen war aufgegeben und der erste Schritt zu einer nationalen Heereseinrichtung getan. Damit stand in notwendigem Zusammenhange die Abschaffung der entehrenden Militärstrafen und die Umarbeitung der Kriegsartikel.

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Alsdann forderte er Reinigung des Offizierkorps von unwürdigen Elementen, verbesserte Avancementordnung der Offiziere und freiere Konkurrenz der Nichtadligen zu den Offiziersstellen. Endlich, wenn so die Truppenmasse selber und das Offizierkorps reorganisiert seien, erstrebte er eine verbesserte militärische Technik dieses Ganzen, Einteilung in Divisionen, Vereinigung der Kavallerie zu größeren taktischen Körpern, Zusammenstellung der Artillerie in Batterien, Verbesserung der Bekleidung und Verminderung der Bagage, Entwicklung der Übungen gemäß den neuen Bedürfnissen. Wohl durfte Scharnhorst an Clausewitz schreiben: „Der König hat nicht allein sich ohne alle Vorurteile willig gezeigt, sondern mir sehr viele dem Geiste und den neuen Verhältnissen angemessene Ideen gegeben." In Ausführung dieser Ideen arbeitete eine militärische Untersuchungskommission, den Offizierstand zu reinigen und zu heben, und die Militärkommission selber entwarf neue Ordnungen. Scharnhorsts Gedanke der a l l g e m e i n e n W e h r p f l i c h t aller Preußen. Scharnhorst selber griff noch tiefer in die bisherigen Grundlagen des preußischen Militärsystems. In seinem Kopfe bildete sich der Gedanke eines nationalen Heeres. Den Gesichtspunkt, von dem er ausging, drückte er in einem Briefe an Clausewitz vom 27. November 1807 so aus: „Wäre es möglich, aus den Ruinen sich wieder zu erheben, wer würde nicht gern alles daransetzen. Aber nur auf einem Wege, mein lieber Clausewitz, ist das möglich. Man muß der Nation das Gefühl der Selbständigkeit einflößen, man muß ihr Gelegenheit geben, daß sie mit sich selbst bekannt wird, daß sie sich ihrer selbst annimmt; nur erst dann wird sie sich selbst achten und von anderen Achtung zu erzwingen wissen. Darauf hinzuarbeiten, dies ist alles, was wir können. Die Bande des Vorurteils lösen, die Wiedergeburt leiten, pflegen und sie in ihrem freien Wachstum nicht hemmen, weiter reicht unser hoher Wirkungskreis nicht." Dies war der Gedanke, welcher ihn leitete, als er den 31. Juli 1807 dem König sein Mémoire über Landesverteidigung und Errichtung einer Nationalmiliz vorlegte. In den schlichtesten Worten wurde hier dem König ein Gedanke vorgelegt, welcher mächtiger als irgendein anderer seit der Reformation auf die Geschichte der deutschen Nation einwirken sollte. Scharnhorst schlug vor, bei jeder Kompanie einen überzähligen Offizier zu führen, jährlich einen Teil der ausgebildeten Leute zu entlassen und durch neue zu ersetzen. Für die entlassene Mannschaft aber Klei-

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dung, Schießbedarf und Waffen bereitzuhalten und sie jährlich in den Kantons zu revidieren. Dies einfache Prinzip war wirklich das Ei des Kolumbus, wenn es galt, daß ein Staat von Mittelgröße eine politisch-militärische Stellung behaupte. Er schlug alsdann vor, alle, welche nicht solchergestalt dem Heere angehörten und doch die Mittel besaßen, sich selber zu bewaffnen, zu einer Landmiliz zu vereinigen. Diese Miliz müßte militärisch gekleidet, geübt und im Schießen tüchtig vorgebildet werden; alsdann würde sie zum Garnisondienst, als leichte Truppe in Verbindung mit dem stehenden Heere zur Verteidigung der Flüsse, Posten, im durchschnittenen Terrain, endlich im günstigen Moment mit der übrigen Armee zur Landesverteidigung gebraucht werden können. So gedachte Scharnhorst die Errichtung einer Nationalmiliz vorsichtig und allmählich vorzubereiten. Der Gedanke fand so beim König noch keinen Eingang. Aber Scharnhorst wußte, was es galt; er trat kaum einen Monat darauf von neuem mit dem „Entwurf einer Verfassung der Reservearmee" hervor. „Alle Bewohner des Staates", so formuliert er den fundamentalen Satz, ,,sind geborene Verteidiger desselben." Und zwar bilden dieselben die stehende Armee, sofern sie nicht sich selbst zu bewaffnen und zu erhalten vermögen, dagegen die Reservearmee, sofern sie auf eigene Kosten zu dienen imstande sind. Man bemerkt, wie hier ein wenig angemessener Entscheidungsgrund für die Stellung des einzelnen in der einen oder anderen Armee aus seiner pekuniären Lage hergenommen wurde. Die Bedenken des Königs riefen eine neue Erwägung hervor. Nun entstand ein Entwurf von der Hand Scharnhorsts, welchen auch die Militärkommission zu dem ihren machte. „Für große und reiche, für erobernde Staaten", heißt es hier, „ist die bisherige Verfassung der stehenden Heere vielleicht die beste, sie entspricht aber nicht den eigentümlichen Verhältnissen der mittleren Staaten. Haben diese eine gute Verfassung, so steht ihnen ein Mittel zu Gebote, welches den größeren, nicht mit Vernichtung bedrohten Staaten fehlt. Dies ist die freiwillige Aufopferung für die Erhaltung des Staates, des Eigentums und der Rechte der Bewohner desselben. Kein unabhängiges Volk unterwirft sich dem Joch eines anderen, ohne seine letzten Kräfte aufzubieten, wenn es gut regiert wird. Die mittleren Staaten können daher in ihrem Innern mit der ganzen Masse ihrer streitbaren Männer auftreten, wenn sie vorher in den Waffen geübt, mit den nötigen Streitmitteln versehen und mit der unentbehrlichen militärischen Disziplin bekannt gemacht werden." Unter diesem Gesichtspunkt wird der frühere Entwurf wörtlich in den neuen aufgenommen. Auch hier wird als zweckmäßig angesehen, daß das stehende Heer aus den zu eigener

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Ausrüstung nicht Bemittelten gebildet werde. Seine Größe ist abhängig vom Bedürfnis der politischen Kombination und von der Forderung, daß die ganze ärmere Klasse der streitbaren Männer des Staates geübt werde. Wolle man dagegen auch die Miliz durch das stehende Heer laufen lassen, so würde erst nach Ablauf der Dienstzeit in demselben mit Errichtung einer Miliz begonnen werden können. Der große momentane Zweck, daß die Nation mit der Regierung aufs innigste vereint werde, mußte durch die Anforderung an die Vermögenden, zuerst durch das stehende Heer zu gehen, verfehlt werden. Man bemerkt, wie diese beiden Gründe von entscheidendem Gewicht für den damaligen Moment waren, daß sie aber einer späteren gerechteren Durchführung des Prinzips der allgemeinen Wehrpflicht nicht in den Weg treten durften. Durch diese Arbeiten ward Scharnhorst der Schöpfer des preußischen Systems allgemeiner Wehrpflicht. Es darf nicht gezweifelt werden, daß die entscheidenden Gedanken von ihm ausgingen. Gneisenau, Boyen und Clausewitz, mit denen er damals in Memel und Königsberg am vertrautesten verkehrte, denen er öfters diese seine Gedanken auseinandersetzte, erklären es einstimmig. Zeiten des O r g a n i s i e r e n s und Abwartens. Nun trat Stein hinzu. Die Reorganisation hatte mit dem Militärwesen begonnen; aber es war notwendig, die Nation und ihre Verfassung mit den neuen Formen des Heeres in Einklang zu setzen; es war notwendig, von allen Punkten aus das Nationalgefühl zu wecken. Stein trat in die Militärkommission am 5. Oktober 1807, aber leider wurde er schon am 26. November 1808 durch Napoleon gezwungen, seinen Abschied zu nehmen und Preußen zu verlassen. Scharnhorst hielt sich in allen Verwicklungen, indem er stets klugbescheiden zurücktrat und jede Einmischung in die anderen Departements unterließ. Er wurde nun bei der neuen Einrichtung des Ministeriums an die Spitze des ganzen Kriegsdepartements gestellt. „Ich habe", schreibt er an Götzen, „nicht gesucht, Kriegsminister zu werden, und ganz entgegengesetzte Projekte gehabt. Ich habe dem König gesagt, ich würde darin das größte Glück sehen, wenn er mich zu irgendeiner anderen Anstellung als die jetzige, oder zu einer einstweiligen Invalidität bestimmen wollte — weil ich meiner Verhältnisse müde bin, weil ich die noch zu lebenden zehn oder zwölf Jahre nicht in Verdruß und Kabale zubringen will. — Dies weiß niemand außer mir und dem Könige." Der König vertraute ihm wie keinem der anderen hervorragenden Männer, welche an der Reorganisation des Staates arbeiteten. Einen Augenblick nur erregte ihm der abenteuerliche Zug Schills auch

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gegen Scharnhorst Mißtrauen; die Freunde der alten Einrichtungen schürten dies Mißtrauen. Scharnhorst ging sofort mutig zum Angriff über, in einer Verteidigungsschrift an den König schreibt er: „Die Materialien der Armee und die Nationalstimmung hatten die Richtung zu großen heroischen Taten, aber die Verfassung der Armee und die Oberbehörden derselben erstickten diese Tugenden, oder hinderten, daß wir von ihnen Früchte sahen, da sie Greise an die Spitze stellten, der Einbürgerung von Eigennützigkeit, welche dem menschlichen Geschlechte eigen ist, freien Lauf ließen, oder sie gewissermaßen beförderten und überall einen größeren Wert auf die Form als auf den Geist legten." Und nun deckt er den Inbegriff der niedrigen Beweggründe auf, welche die Verteidiger des Alten an dieses fesseln; er erklärt dem König, wenn der Weg der Reform verlassen würde, so stünden noch mehrere Schlachten von Auerstädt zu erleben: die ganze männliche Sicherheit seines Wesens tritt schneidig hervor. Der Widerstand war damit vollkommen zurückgeschlagen. Eins blieb seinen Gegnern übrig: sie denunzierten ihn bei dem französischen Gesandten wegen seiner Verbindung mit England. Nun ließ Napoleon dem König seinen Wunsch ausdrücken, daß Scharnhorst nicht länger dem Kriegsdepartement vorstehe, Scharnhorst selbst bat dringend, ihn zu entlassen, und so wurde die Einrichtung getroffen, daß er sich in seine Stellung als Chef des Generalstabs zurückzog, während der neue Chef des Kriegsdepartements, von Hake, verpflichtet wurde, sich in allen wichtigeren Fragen nur als- ausführend, Scharnhorst aber nach wie vor als den eigentlichen Leiter zu betrachten. Es war Scharnhorst eine besondere Freude, als im Frühjahr 1810 der Organisationsplan der Berliner Militärakademie festgestellt war. Sie ist wesentlich seine Schöpfung; sie ist der Ausdruck jener naturgemäßen und gesunden Verbindung des wissenschaftlichen Geistes mit militärischer Praxis, welche in Scharnhorst so vollendet entwickelt war. Er stellte seinen großen Schüler Clausewitz an dieser Anstalt an, und er selber erschien nicht selten bei dem Unterricht. In dieser schwülen, drückenden Zeit arbeiteten Scharnhorst und seine Freunde Tag für Tag, unablässig, unermüdlich an der Reorganisation des Militärwesens bis ins kleinste Detail. Und sie ward getan, ohne daß jemand wissen konnte, ob sie jemals dem König und dem Staat nützen würde. Sieg und Ende. Es kam die russische Niederlage, die Konvention Yorcks zu Tauroggen. Niemand sollte die mächtige Erzählung dieser Ereignisse in der Geschichte des Jahres 1813, vom General Clausewitz, ungelesen D i l t h e y , Gesammelte Schriften XII

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lassen. Kein deutscher Geschichtschreiber ist mit diesem genialen Schüler Scharnhorsts zu vergleichen. Nun ward der große Plan Scharnhorsts, die Gründung der Landwehr, verwirklicht. Schon anfangs 1813 hatte Scharnhorst seine seit Jahren vorbereitete Arbeit vollendet; nur einzelne notwendige Verbesserungen wurden bis zu ihrer am 17. März erfolgten Bekanntmachung vorgenommen. Scharnhorst hatte hervorragenden Anteil an dem Plan des ganzen nunmehr folgenden Feldzugs; aber er empfing gleich in der ersten Schlacht, bei Großgörschen, jene Wunde, der er erlegen ist. Clausewitz schrieb: „Scharnhorst führte hauptsächlich das Gefecht auf dem rechten Flügel. Er war mehrere Male mit gezogenem Säbel an der Spitze der Kavallerie und Infanterie in den Feind gedrungen; er feuerte die Leute an und rief: Es lebe der König!, indem er den Säbel schwang. Seine Wunde, die er etwa gegen 7 Uhr erhielt, ist nicht gefährlich. Gneisenau befand sich auf dem linken Flügel und hat an der Spitze der Kavallerie mit eingehauen. Unsere Truppen sind offenbar viel braver als die feindlichen. Scharnhorst vermissen wir alle sehr; er hat sehr in dem Vertrauen der Armee gewonnen, und alle Menschen sehen auf ihn als die Seele des Ganzen." Die Wunde Scharnhorsts verschlimmerte sich ganz unerwartet auf der Reise nach Wien. Voll Ungeduld, schreibt er damals seiner geliebten Tochter Julie: „Könnte ich das Ganze kommandieren, so wäre mir daran viel gelegen, ich halte mich in aller Vergleichung ganz dazu fähig. Da ich das aber nicht kann, so ist mir alles gleich. An Distinktionen ist mir nichts gelegen. Alle Orden und mein Leben gäbe ich für das Kommando e i n e s Tages." Er starb in Prag am 28. Juni 1813, im 58. Jahre seines Lebens, während der ungeheure Kampf um die Existenz Preußens raste, in dem Moment, in welchem man am nötigsten seiner bedurfte. „Glauben Sie mich", schrieb Blücher, „eine verlorene Schlacht wäre kein größerer Verlust für uns gewest, nu ist Gneisenau noch da, geht der auch ab, so vollge ich lebendig oder todt." Scharnhorsts Charakter. Die intellektuelle Ausstattung von Scharnhorst war wohl der jedes großen wissenschaftlichen Kopfes, den wir in Deutschland hatten, gewachsen. Es war ein ruhiger, wenig beweglicher, aber zu seinem Ziele sicher durchdringender Verstand. Die Bewegungen dieses Verstandes waren mehr innere, als solche, die sich äußerlich zeigten. Er war in einer beständigen inneren Arbeit, aber man wurde es nicht an ihm gewahr. Zwei Eigentümlichkeiten dieses Denkens traten hervor. Es war völlig

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unabhängig von jeder Meinung und von jeder Autorität. Es besaß eine große Vorliebe für die Kraft des historischen Beweises in allen Gegenständen seines Bereichs. Daher liebte er, selbst, wo es künstlich erschien, seine Meinungen mit den Handlungen hervorragender Militärs zu vergleichen und durch sie zu rechtfertigen. Spielende Beweglichkeit des Geistes und Glanz der Ideen waren ihm fremd. Es scheint, daß ein solcher Verstand der Kriegskunst besonders entsprechend ist. Seinem außerordentlich klaren Vorstellungsvermögen stand nicht der klare Ausdruck zu Gebote. Wenn er begann, erschien er weitläufig, unbestimmt, langsam. Es war, als ob ihm die Mitteilung der Ideen schwer würde. Daher er im mündlichen Vortrag dem Gedanken dadurch Klarheit gab, daß er verschiedene Formulierungen desselben sich ergänzen ließ; so war er trotz der Unbehilflichkeit des Ausdrucks ein trefflicher Lehrer. Wenn er schrieb, besserte er, bis der Ausdruck den Gedanken deckte und ausprägte. Eine große Wirksamkeit um ihrer selbst willen, aus Geistesbedürfnis lieben, war ihm der Stempel des Mannes. Als ein Fremdling im Land und Heer, ohne Familienverbindungen, ohne Talent und Übung in den Sitten der Höfe, der Ratgeber eines schwer zu gewinnenden Königs zu werden, in dieser Stellung still die Mittel zu einem riesenhaften Widerstände vorzubereiten: zu einem solchen Unternehmen gehört männliche Kühnheit. Auch ging ihm am Soldaten nichts über Tapferkeit im Kriege; und er selber zeigte sich kühn im Gedanken und persönlich tapfer, so oft der Krieg Gelegenheit bot. Einen einzigen Tag gegen Napoleon zu kommandieren, dafür hätte er sein Leben gegeben. So erlangen auch Menschen, die vom Glück ungemein begünstigt erscheinen, doch nicht das letzte Ziel ihrer Wünsche. Er war fest und unbeweglich in dem Verfolgen seiner Pläne. Er besaß vollendete Herrschaft über sich selbst in der Aufwallung, und es war, als koste ihn diese auf der Oberfläche seines Geistes herrschende Stille gar nichts. Das Studium der Kriegskunst hatte ihn gelehrt, zu den Mitteln der List zu greifen, und ein feiner Verstand, ein weiches Wesen neigten eben dahin. Neben der List stand unbesiegbare Verschlossenheit, welche sich, weder durch eigene Eitelkeit, noch durch fremde Klugheit abringen ließ, was sie zu verschweigen gedachte. Beide Eigenschaften aber bezogen sich nie auf seine persönlichen Verhältnisse, sondern standen im Dienste seiner weitreichenden, tiefgedachten Absichten für das Ganze. Dies gab selbst Eigenschaften, welche sonst zum Kleinen herabzuziehen pflegen, ein großartiges Gepräge. Die Menschen urteilen lieber nach der äußeren Erscheinung als selbst nach festgestellten und zweifellosen Tatsachen. Der Soldat muß

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Die Reorganisatoren des preußischen Staates

sich nach dem allgemeinen Urteil in kräftigem Auftreten, kühnem Reiten, stattlicher Gestalt zu Fuß und zu Pferde und gebietendem Ton erweisen. Es nützt nichts, daß die Geschichte gerade an einigen der größten Feldherren das Gegenteil beweist. Es nützt sogar nichts, daß die Tatsachen selber sich zum Beweis ordnen gegenüber der äußeren Erscheinung. Und so ist denn die lässige Erscheinung Scharnhorsts, die etwas gebeugte Haltung, der in sich gekehrte Gang, welche mehr den Gelehrten als den Soldaten zu bezeichnen scheinen, dem großen Soldaten stets hinderlich gewesen, sich die Anerkennung zu erringen, welche seine Handlungen fordern durften. Und doch zeigten Menin, Auerstädt, der Rückzug nach Lübeck, Eylau, Görschen, daß er ein geborener Soldat war. Alles, was den großen Feldherrn macht, besaß er, Kühnheit und Vorsicht, Fassung in erschütternden Momenten, Fruchtbarkeit an neuen Hilfsmitteln, List, Verschlossenheit, alles getragen von genialer theoretischer Kenntnis und praktischer Übung; das Schicksal aber hat ihm nicht verstattet, zu dem Ruhm des größten militärischen Organisators, von dem wir wissen, den eines großen Feldherm zu fügen.

DIE PREUSSISCHEN JAHRBÜCHER I. Lebenskräftige politische Parteien entspringen stets aus geistigen Bewegungen allgemeinerer Art. Weder die Anomalien in der Parteis t e l l u n g , die sich in jeder politischen Generation finden, noch das Stationäre der Partei η am en, das den Wechsel der wirklichen politischen Parteien überdeckt, darf uns über diese immer neue Entstehung der Parteien aus allgemeinen geistigen Bewegungen, über den i d e e l l e n K e r n in ihnen und über die Umbildungen, denen derselbe mit jeder neuen Generation unterworfen ist, täuschen. Auch indem sich Männer anschließen, die auf anderen oft höchst seltsamen Wegen zu den praktischen Zielpunkten der Partei gelangt sind, bleibt dieser ideelle Kern vorherrschend. Auch indem die aus neuen Impulsen hervorgegangene Bewegung in die alten Parteien — eigentlich sind es nur Parteinamen — einmündet, bleibt die Partei neu. Denn ihre Grundlage bildet ein Zusammenhang von Gedanken, aus welchen eine neue Anschauung des Staatslebens erwächst. Gelten nun in der handelnden Politik nur praktische Ziele, schließen die Parteien diesen gemäß Kompromisse und Bündnisse, so wird doch dadurch jene ideelle Grundlage der Parteibildung nicht aufgehoben; aus ihr schöpft jede Partei das tiefere Bewußtsein ihrer Bedeutung, aus ihr entnimmt sie die Waffen für ihre Kämpfe; in ihr liegt das Maß ihrer unsichtbaren Triebkraft. Werden nun die täglich erscheinenden Zeitungen von dem wechselnden Interesse der Tagesfragen vorherrschend bewegt, so wird jede bedeutende Partei das Bedürfnis fühlen, sich Organe zu schaffen, in denen d i e s e r Z u s a m m e n h a n g d e r P o l i t i k m i t d e n a l l g e m e i n e n g e i s t i g e n B e w e g u n g e n und mit den der Politik benachbarten Wissenschaften, der Staatswissenschaft und Geschichte, seinen Ausdruck fände. Man weiß, welche Rolle solche Organe in den beiden politisch bewegtesten Staaten spielen. Auch in Deutschland haben wenigstens die entscheidenden politischen Bewegungen solche Zeitschriften geschaffen. Schlözers „Neuer Briefwechsel" und seine „Staatsanzeigen" sind in Deutschland die ersten politischen Zeitschriften in diesem großen Stile

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^* e Preußischen Jahrbücher

gewesen. Die früheren politischen Kämpfe waren in vereinzelten Journal-Aufsätzen, Denkschriften und Broschüren ausgekämpft worden; so hat gleich die Reformation eine umfassende Broschürenliteratur hervorgebracht. Diese ersten großen politischen Zeitschriften nun waren das Organ der deutschen Aufklärungsperiode für die Politik. Auch die große Umwandlung in ihrer Richtung von der Vertretung eines freisinnigen auf die Volkswünsche hörenden Despotismus zur Billigung der repräsentativen Monarchie drückte nur den Gang der öffentlichen Meinung in Deutschland vom Zeitalter Friedrichs des Großen zu dem der Französischen Revolution aus. Schlözer bekämpfte 1773 aufs heftigste die nordamerikanischen und noch 1782 ff. die holländischen demokratischen Bewegungen; als dann die Französische Revolution ausbricht, begrüßt er sie mit Jubel, und alle ihre Stadien bis 1792, wo die „Staatsanzeigen" zuerst über Frankreich schweigen müssen, dann völlig verstummen, verfolgt er mit Beifall. Schon 1788 erkennt sein scharfer Blick: „die Menschheit ist zu einer Revolution reif. Der Bürgerstand (das Volk) reklamiert seine Rechte. Er ist der mannsstärkste, hat auch wohl in Frankreich die größte Aufklärung, wird's also wohl durchsetzen." In der Bewegung selbst sah er ,,das allgemeine Staatsrecht zum Durchbruch gekommen". Man verfolgt gern die Kraftausdrücke, den trockenen kernigen Witz, mit denen er die Staatsveränderungen mitteilt. Für Deutschland ist ihm der Hauptpunkt: „Man predige von den Dächern: Der Herrscher — der König oder Magistrat gleichviel — sei des Volkes wegen geschaffen, nicht vom lieben Gott; er sei diesem Volke comptes rendus schuldig, und zwar früher noch als am jüngsten Tage." Sucht man den Schwerpunkt der in dieser Zeitschrift herrschenden Ideen, so liegt er nicht in dem Gedanken einer bestimmten Staatsverfassung, obwohl die konstitutionelle Monarchie seinen Gedanken sichtlich am meisten entspricht, sondern in der Forderung der Unterordnung aller persönlichen Privilegien und Vorrechte unter das Volkswohl. Deshalb ist ganz im Geiste jener Zeit der n a t i o n a l ö k o n o m i s c h e G e s i c h t s p u n k t so vorherrschend; deshalb ist ihm Aufhebung aller Sonderprivilegien der erste, Garantie einer auf das wahre Volksrecht gerichteten Regierung durch Preßfreiheit und irgendeine Form, die Staatshandlungen der Zensur der öffentlichen Meinung zu unterwerfen, der zweite Hauptsatz seiner Desiderien für Deutschland. Von jeder Art von Selbstregierung hat er noch kein Verständnis. Wir berühren die in Berlin von Unger gegründete Woltmannsche Zeitschrift nur kurz, da sie es weder innerlich zu einer festen Haltung, noch äußerlich zu einer größeren Wirksamkeit gebracht hat. Die eklektische Manier, in der Woltmann die Philosophie Fichtes, die roman-

Schlözers Staatsanzeiger. Zeitschriften der Romantik

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tische Theorie von Mittelalter und Kunst und Johann v. Müllers historische Art miteinander vermengte, ließ keine klare politische Stellung der Zeitschrift aufkommen. Interessant ist immerhin, wie hier bereits die ersten Versuche philosophisch-historischer Konstruktion auftauchen, die erste Bewunderung der politisch-religiösen Einheit Europas im Mittelalter laut wird. Erst Adam Müllers und Friedrich Schlegels Zeitschriften zogen voll und klar alle K o n s e q u e n z e n d e r R o m a n t i k für d i e P o l i t i k . Sie lassen sich kurz in zwei Punkten zusammenfassen. Für die innere Form des Staates ward die ständische Gliederung Ausgangspunkt. Selbständige Gewalt der Kirche als des uralten Mittelpunktes aller geistigen Interessen; eine ethische, vom Grundbesitz unabhängige Bedeutung des Adels; die Zünfte als die wahren Repräsentanten des Volks — das waren in dieser Beziehung die Kanones, welche diese Zeitschriften zuerst aufstellten; wenn man sie jetzt einmal wieder zur Hand nimmt, erkennt man leicht, wie auch die letzten abfließenden Gewässer der feudalen Staatstheorie aus diesen Quellen gespeist worden sind. Für die äußeren Verhältnisse der Staaten — das ist der zweite Hauptpunkt — ist jene politisch-religiöse Einheit Europas das Endziel der Restauration, von der diese Politiker träumten, daß sie im Zeitalter der Kreuzzüge bestanden habe. Man weiß, wie aus solchen Ideen die heilige Allianz und die Politik einer gemeinsamen Unterdrückung jeder Bewegung in Europa entstanden ist, der gegenüber erst jetzt das Recht der einzelnen Nationen, ihre Angelegenheiten selbst zu ordnen, zur Anerkennung kommt. Der Grundgedanke, welcher diese Zeitschriften durchdringt, ist: Restauration der aus dem Mittelalter erhaltenen gesellschaftlichen Gliederung als einer göttlichen, durch die Gemeinschaft der Fürsten zu erhaltenden Ordnung. Zerstörung derselben, wo sie irgend der Sorge des Staates für das Wohl aller einzelnen hindernd entgegensteht, war überall Schlözers Maxime gewesen. Nach den ungeheuren Erschütterungen, welche dieser Grundsatz in Frankreich hervorgerufen hatte, sah man in der m i t t e l a l t e r l i c h e n H e r r s c h a f t der G e s e l l s c h a f t über den S t a a t die einzige Rettung vor der modernen Vernichtung der älteren Gesellschaftsordnung im Interesse des Staates. In der Julirevolution zuerst brach sich die Macht dieser Richtung. Die Bourbonen gingen an dem Versuche unter, der Geistlichkeit und dem Adel die alte Herrschaft in der Gesellschaft durch Zwang zurückzu ver schaff en. Das Hauptinstrument der neuen Bewegung war die Geschichte gewesen, wie Nationalökonomie und Finanzwissenschaft das der Bewegung von 1789. Thiers und Guizot nahmen die Ministerstühle ein, welche die Freunde der geistlichen Macht und des Adels hatten verlassen müssen. Dieser wichtigen Veränderung entsprach eine gleich-

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Die Preußischen Jahrbücher

zeitige unmerklichere, aber weit durchgreifendere in Deutschland. Auch hier lag ihr Schwerpunkt in den Universitäten und in den historischen Wissenschaften. Diese modernen Politiker gingen von Erörterungen über Staatsformen, nicht über die ökonomische Basis der Staaten, noch weniger über ihre gesellschaftliche Gliederung aus. In dem Studium der neueren, besonders der englischen Geschichte und Verfassungen wurzelten sie, nicht in statistischer Untersuchung oder gar in philosophischer Konstruktion des Mittelalters aus dem Gedanken der Gesellschaftsgliederung. Das wissenschaftliche Organ dieser Partei waren d i e d e u t s c h e n J a h r b ü c h e r . Sie wurden von der Schlosserschen Schule gegründet, welche die Geschichte durch den politischen Zweck, durch den Hinblick auf die unmittelbare praktische Wirkung neu zu beleben begann. Den Schwerpunkt dieser Partei zeigt die von Gervinus herrührende Einleitung in die Jahrbücher am deutlichsten. In Schlossers Geschichtschreibung erkennt er ,,ein Zeichen, daß in der Ges c h i c h t e vielleicht der Anfang gemacht werden dürfte, den ausschließlichen Weg der objektiven Forschung zu verlassen und indem man darstellende Werke gibt, die von Ideen ausgehen, welche die Zeit und ihr Bedürfnis bedingen, die Wissenschaft für die gegenwärtige Umgebung fruchtbar zu machen". ,,Wenn die Literatur, und wenn selbst die Staatsverwaltungen, welche die Völker nach Theorien zu regieren denken, meinten, diese Indifferenz und der Schlaf in der politischen Welt hätte von längerer Dauer sein können, so zeigte eben die neueste Zeit, daß dies eine Täuschung war. Wie konnte man vergessen, daß das vorige Jahrhundert die ungeheuersten Ideen aufstellte, die man zwar, weil sie in Frankreich mit einer frivolen Keckheit auf eine unnatürliche Spitze getrieben wurden, wieder fallen ließ, aber keineswegs, um sie für immer liegen zu lassen. Gerade der Geist der Humanität, den das letzte Jahrzehnt mit der klassischen Literatur wieder aufbrachte, und gerade d i e r ü h r i g e F o r s c h u n g in d e r G e s c h i c h t e , d i e im j e t z i g e n J a h r h u n d e r t f o l g t e , mußte die besonnene Wiederaufnahme jener Ideen gleichsam bedingen." Die „ P r e u ß i s c h e n J a h r b ü c h e r " nehmen nun die Grundrichtung dieser deutschen in einer glücklicheren und politisch weit reiferen Zeit wieder auf.

A ndere politische Zeitschriften

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II. Der politische Rationalismus des vorigen Jahrhunderts, der sich so naiv in den von uns aus Schlözers Staatsanzeigen zitierten Kraftstellen ausspricht, litt an dem ihm damals tief verborgenen, aber bald in einer furchtbaren Katastrophe sich enthüllenden Irrrum, der Theorie von der persönlichen Verantwortung des Herrschers gegenüber dem Volk. Mit jenen „comptes rendus" waren nur Verwaltungsrechenschaftsberichte gemeint, aber in Paris zog man die entsetzliche Konsequenz der kriminellen Verantwortung, und zeigte durch eine fluchbeladene Tat, daß jener Irrtum nichts mehr und nichts weniger als die Vernichtung des monarchischen Prinzips enthält. Die Restaurationspolitik krankte an dem entgegengesetzten Irrtum, indem sie die Autorität der Obrigkeit überall auf unmittelbar gegebene göttliche Ordnungen zurückführte, deren Gestaltung sie den unhistorischen Vorstellungen mittelalterlicher Zustände entlehnte. Darunter mußte die nüchterne und klare Strenge der Rechtsidee leiden. Politisch reifer nannten wir soeben die Jetztzeit, und sie ist es unverkennbar zunächst diesen Perioden des politischen Rationalismus und der Restaurationsideen gegenüber, aber auch gegen die ihnen viel näher liegende Erscheinungszeit der Deutschen Jahrbücher ist ein mächtiger Fortschritt nicht zli verkennen, der hauptsächlich darin liegt, daß sich jetzt die öffentliche Diskussion überall auf bestimmte praktische Ziele richtet, während zur Zeit der Deutschen Jahrbücher der Kampf ein wesentlich theoretischer blieb. Im übrigen erkennt man die innere Kontinuität zwischen den „Deutschen Jahrbüchern" und den „Preußischen Jahrbüchern" leicht, wenn man letztere mit der anderen bedeutendsten politischen Zeitschrift Deutschlands: der V i e r t e l j a h r s s c h r i f t vergleicht. In der Fülle von Geist und Wissen, die ihnen zu Gebote steht, sind beide Zeitschriften völlig ebenbürtig. Von der Verschiedenheit ihres Charakters, der durch den Unterschied der Erscheinungszeit bedingt wird, reden wir hier natürlich auch nicht. Aber es ist sehr merkwürdig, welchen Gegensatz der Anschauungen der Boden beider Zeitschriften bedingt. Obwohl durch eine große Kluft der politischen Stellung von den anderen auf Österreich und den von ihm abhängigen Bestrebungen beruhenden Zeitschriften, denen der Romantiker und Adam Müllers, dann den 1818 erschienenen Wiener Jahrbüchern der Literatur getrennt, stimmt die Vierteljahrsschrift doch darin mit ihnen durchaus überein, daß die Naturelemente des Staates: Gesellschaftliche Gliede-

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Die Preußischen Jahrbücher

rung, Arbeitsteilung, Verhältnis der Nationalitäten usw. überall ihr vorherrschendes Interesse bilden ; Nationalökonomie und Gesellschaftslehre sind ihr Lieblingsgebiet; auch Theorien der allgemeinen Politik, wie sie schon Gentz' Zeitschrift am Beginn dieses Jahrhunderts enthielt, finden sich gelegentlich; dagegen treten politische Geschichte, Biographie, Behandlung der literarischen Vertreter der verschiedenen Parteien durchaus zurück. Es ist ein Staat, der auf einer gewaltigen materiellen Grundlage ruht, vielartige Nationalitäten und Gesellschaftsformen in sich vereinigt, dessen Geschichte voll von gewaltigen Bewegungen der Nationalitäten, der finanziellen und ständischen Verhältnisse, aber beinahe an keinem Punkte von geistigen Bewegungen bedingt ist, dessen Gegenwart mit den Fragen kämpft, welche die finanzielle Lage, der Gegensatz der Nationalitäten, die Übermacht der Kirche über den Staat usw. ihr aufdringt, dagegen der Frage nach der Herrschaft des Rechtsstaates über die gesellschaftliche Gliederung sich erst allmählich nähert — ein solcher Staat ist es, dessen Lage, Probleme und Ziele die Vierteljahrsschrift vorherrschend beschäftigen. In demselben Verhältnisse, in welchem die Vierteljahrsschrift zu Österreich steht, stehen die Preußischen Jahrbücher zu Preußen. Und der Charakter dieses Staates mußte notwendig dieser Zeitschrift ein von jener sehr verschiedenes Gepräge geben. Die Einbildungen des spezifischen Preußentums heute pflegen zu wollen, wäre für jede Zeitschrift ein Unrecht und eine Torheit. Es gibt keinen Staat der Intelligenz in dem Sinne, als ob irgendein Teil Deutschlands reicher an dieser wäre, als die übrigen. Aber wenn der Idealismus, welcher in der Intelligenz überall den ersten bestimmenden Faktor alles Geschehens sucht, echt deutsch ist, dann muß wohl ganz Deutschland auf die Geschichte eines Staates stolz sein, der durch reingeistige Energie zweimal in entscheidenden Kämpfen um seine Existenz neubegründet worden ist, dessen Stellung nach seiner Lage und Ausdehnung auf seiner geistigen Spannkraft beruht, nicht auf Naturverhältnissen. Diese Energie des G e i s t e s , d e r s e i n e r H e r r s c h a f t g e w i ß i s t , ist zugleich der Ursprung der Größe Preußens und der Charakter der deutschen Nation. Und in diesem Sinne darf man wohl Preußen den Staat der Intelligenz wie den deutschesten Staat nennen. Es ist bekannt, wie dieser historische Charakter Preußens an dem Herausgeber der Preußischen Jahrbücher von jeher einen begeisterten Vertreter gehabt hat. Verdanken wir ihm doch die klassische Darstellung des Mannes, in welchem sich nach dem unvergleichlichen Friedrich dem Großen dieser Charakter des preußischen Staates am tiefsten ausspricht, Wilhelm von Humboldts. Man war längst gewöhnt, in Haym

Verhältnis zu Preußen. Leitende Gedanken

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einen der Hauptvertreter jener heilsamen Überzeugung zu erblicken, daß alle Güter des Denkens und der Forschung, die unser Volk seit lange gesammelt, in diesem Augenblicke dem einen, alles überragenden Zwecke dienstbar werden müßten, unserer Nation zu einer ihrer würdigen, politischen Existenz zu verhelfen. Von dieser Überzeugung ist nun auch die von ihm geleitete Zeitschrift ganz bestimmt. Auch den scheinbar abgelegensten ästhetischen und literarischen Objekten weiß seine energische Hand eine Beziehung zu derselben zu geben; von ihr aus umfaßt sie aber auch in der Tat, wie sie von Anfang versprach, „alle Gebiete des wirklichen wie des geistigen Lebens der Gegenwart". In dieser Grundrichtung liegt es, daß Geschichte und Biographie, die Welt des Handelns und der geistigen Bewegung, das Interesse der Zeitschrift vorwiegend beschäftigen, daß die Zustände und die natürliche Basis des Staates dagegen zurücktreten. Von nicht geringerer Wichtigkeit ist ein zweiter Grundzug unserer Zustände, der sich in den Preußischen Jahrbüchern ausspricht. Das Ziel der inneren Entwicklung Preußens ist in einer merkwürdig bewußten und zusammenhängenden Weise der R e c h t s s t a a t . In einer Zeit, in der unser Staat das Gedächtnis seines wahren Wesens zu verlieren begann, trat diese Zeitschrift hervor, und sie hatte sich in erster Linie zur Aufgabe gesetzt, das politische Rechtsbewußtsein zu kräftigen, welches die Seele des Staates ist. Sie hatte den Künsteleien der Interpretation gegenüber sich, zum Zwecke gestellt, das einfache und ungekünstelte Festhalten an der Verfassung als Basis aller politischen Tätigkeit hervorzuheben. Sie hatte freilich auf keinen anderen Erfolg rechnen dürfen, als wahre politische Gesinnung zu erhalten und zu kräftigen, indem sie den unabänderlichen Gang des politischen Fortschritts in der Geschichte wahrnahm, indem sie aus der Betrachtung von Wissenschaft, Kunst und jedem anderen Zweig des menschlichen Strebens das tröstliche Resultat zog, daß sie alle untrennbar mit dem politischen Leben des Volkes verbunden sind und so alle dasselbe verbürgen. Solche Gesinnungen und Überzeugungen konnte sie zu verbreiten suchen: auf unmittelbare, im Moment eingreifende Wirksamkeit mußte sie verzichten. Aber diese Lage änderte sich bald nach dem Beginn der Zeitschrift auf das Erfreulichste. Nun wurde die öffentliche Meinung eine Macht; es galt, die einzelnen drängenden Fragen zu ergreifen, zu ihrer Lösung mitzuwirken. Die Aufgabe der Jahrbücher nach dieser Seite hin war wesentlich verschieden von der täglich erscheinender Zeitungen, die mehr oder weniger unter dem Einflüsse rasch wechselnder Stimmungen stehen und leicht von der Aufregung des Moments über ihr Ziel hinausgetrieben werden; sie

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Die Preußischen Jahrbücher

selbst formulierten sie dahin, „nicht der Aufregung des Moments das Wort zu leihen, nicht ein allzeit fertiges Urteil zu geben, vielmehr die Dinge teils ruhig vorzubereiten, teils zu begleiten, und aus ihnen das Ergebnis zu ziehen". Das war die Aufgabe, die sie sich stellten und die sie auch in den Momenten heftiger Aufregung, wie sie die letzten Jahre gebracht haben, treulich gehalten haben.

DAS ALLGEMEINE LANDRECHT

EINLEITUNG

DER FRIDERIZIANISCHE STAAT UND DIE OBJEKTIVIERUNG SEINES GEISTES IM LANDRECHT An den Grenzen des deutschen Lebens, umgeben von starken Staaten hat sich eine Monarchie gebildet, zusammengesetzt aus verschiedenartigen Bestandteilen, zur äußersten Zusammenfassung ihrer Kräfte genötigt. Nur wenn die einzelnen bereit waren, der Sicherheit, der Einheit, der Macht, dem Wohl dieses Staates alles zu opfern, konnte er zunehmen und wachsen. Die Entwicklung dieser Staatsgesinnung hatte durch das Erziehungswerk und die Taten Friedrichs des Einzigen eine unermeßliche Förderung erfahren. Aus dieser Schule sind die Schöpfer des Landrechtes hervorgegangen. Jeder Teil ihres Werkes· ist davon durchdrungen.] Der friderizianische Staat wird Gesetzgeber. Der Geist, der diesen Staat erfüllt, der in seinen Organen vom König bis zum letzten Beamten und Unteroffizier wirksam war, der in den Schriften Friedrichs, in Denkern wie Christian Wolff und Kant, in Juristen, Staatsrechtslehrern und politischen Schriftstellern einen freien literarischen Ausdruck fand, hat selber sein allgemeines und dauerndes Wesen im Landrecht ausgesprochen. Nicht ein einzelner spricht hier, sondern der Staatswille durch seine von ihm bestellten Organe. Er betrachtet das Leben nicht, sondern als höchster Wille ordnet er dasselbe. Und dies geschieht nicht in einzelnen Verordnungen oder Maßregeln, sondern in einer Gesetzgebung, die sich auf alle Lebensverhältnisse erstreckt und sie allgemein regelt. Der vom Geist dieses Staates und dieses Zeitalters erfüllte Staatswille gebietet allgemeine Regeln des äußeren Handelns für die ihm unterworfenen Einzelnen und Gemeinschaften, durch welche die Bedingungen, deren das Zusammenleben auf seinem Boden bedarf, vermittels seiner Zwangsmittel realisiert werden. Das ist das Wesen des Rechts. In ihm stellt der Wille des Staates das Dauernde und Allgemeine in ihm als Macht über die ihm Unterworfenen her-

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Der friderizianische Staat und die Objektivierung seines Geistes im Landrecht

aus. Das ist die Art, wie das Recht den Geist des Staates objektiviert. Die werdende christliche Kirche objektivierte den religiösen Geist, der sie erfüllte, im Dogma, das 18. Jahrhundert fand die höchste Form der Objektivation seines Geistes in der Gesetzgebung. Wir suchen in das, was dieser Zusammenhang zwischen dem Geist des friderizianischen Staates und seiner Gesetzgebung bedeutet, tiefer einzudringen. Die Lebensverhältnisse, die das Recht regelt, sind gegründet in den Bedürfnissen der Individuen, der Kultursysteme, der Organisationen. Jedes derselben ist inhaltlich durch die Zwecke bestimmt, die in ihm verwirklicht werden sollen. Sofern es diesen entspricht, hat es darin seine Vollkommenheit. [Es realisiert sie vollständig.] Die Regeln, durch die das Recht sie ordnet, bezwecken daher die Verwirklichung eines zweckentsprechenden Typus dieser Verhältnisse. So reicht das Recht mit seinen Wurzeln in die Tiefe des Lebens. Diesen Zusammenhang aufsuchen heißt: Recht verstehen. So ist es auch mit dem Landrecht. Und wie nun die Lebensverhältnisse konkret, individuell, historisch bestimmt sind, muß auch das Recht, das sie regelt, ein historisches sein — gebunden an ein bestimmtes Gemeinwesen, sein wirtschaftliches Leben, seine soziale Gliederung, die ihm eingeordneten Gemeinschaften. Nur von hier aus wird es gebildet. Daher kann auch das Landrecht nur aus dem friderizianischen Staat verstanden werden. Sein Geist kommt in ihm zum Ausdruck. Aber in jedem historischen Recht, in den Verhältnissen, die es regelt, gelangt doch ein immer gleiches, in der Natur menschlicher Verhältnisse und in der Kraft der Vernunft sie zu ordnen Gegründetes zum Ausdruck. Eigentum, Vertrag, Ehe, religiöse Gemeinschaften, Staat, Verbrechen und Strafe kehren überall wieder. Sie haben gewisse gemeinschaftliche Bestimmungen [die ihre Einheit ausmachen], denen überall Elemente der Rechtsregeln entsprechen. Hierin liegt die Wahrheit des Naturrechts. Und da diese Bestimmung ein Zweck ist, ein immerwährender Typus, so enthält es in irgendeinem Grade einen Zug zur Realisierung des Rechtsideals. Es ist nun entscheidend für die vollkommensten Gesetzgebungen des i8. Jahrhunderts gewesen, daß sie den Zusammenhang des Rechts als einen ewigen in den naturrechtlichen Schriften ihres Jahrhunderts fanden. So vollzog sich ein Zusammenhang zwischen dem historischen Wesen der Staaten, dem Geist der Zeit, der sie alle durchdrang, und der Gesetzgebung. Und in keiner dieser Gesetzgebungen spricht sich nun der Geist eines Staates so vollständig aus als im Landrecht, da dieses sich über Privatrecht, Staatsrecht, Kirchenrecht und Straf recht erstreckt und eine einheitliche Rechtsanschauung in allen diesen Gebieten zur Geltung bringt. Darum ist die Geschichte dieses Landrechts für den Historiker so belehrend.

Geschichte der Justizreform bis zum Landrecht

ERSTES KAPITEL

GESCHICHTE DER JUSTIZREFORM BIS ZUM LANDRECHT Die Selbstherrschaften, die sich aus der mittelalterlichen Staatsordnung entwickelt haben, mußten sich gegeneinander behaupten, und so waren sie vom stärksten Machtstreben erfüllt. Es fand gleichsam eine geschichtliche Auslese zwischen ihnen statt, in der die stärksten sich behaupteten und erweiterten. Die so im Krieg und durch Erbschaft erworbenen Territorien mußten zu Einheitsstaaten zusammengenommen werden. In einer solchen Lage, da kein Staatsgefühl die unter den Fürsten äußerlich vereinigten Territorien noch miteinander verband, war die Staatseinheit verkörpert in den Fürsten. Sie bändigten den provinzialen Geist und die ständischen Eigeninteressen. Das war ihnen aber nur möglich, indem sie die Organe, durch welche sie ihre Hoheitsrechte ausübten, die Armee, von der alles abhing, das Finanzwesen, die Verwaltung und die Justiz, so leistungsfähig und stark als möglich machten. So entstanden politische Gebilde von einer starken Ausbildung der leitenden Organe, wie sie die neueren Völker noch nicht besessen hatten. In diesem Zusammenhang ist nun auch in Preußen die Reform des verrotteten Justizwesens durchgeführt worden, welche im Landrecht ihren Abschluß fand. Sie entstand in langer und mühseliger Arbeit, deren Anfänge in die Regierung der beiden ersten Könige zurückreichen: unter dem großen König gelangte sie dann im Landrecht zu einem gewissen Abschluß, aber es konnte erst beinahe ein Dezennium nach seinem Tode, 1794, publiziert werden, und in diesen Jahren hat auch hier Wöllner seinen verderblichen Einfluß geübt. Verschiedene Momente haben die Justizreform notwendig gemacht und kamen in ihr zur Geltung. Die Reform entstand zunächst aus den Mißständen im Justizwesen. Die immer zunehmende Menge der Gesetze, die Rückständigkeit vieler unter ihnen, der unausgeglichene Gegensatz zwischen den deutschen und römischen Bestandteilen im geltenden Recht verdunkelten das Recht und machten die Entscheidungen der Gerichte unsicher. Diese Unsicherheit wurde erhöht durch die mangelhafte Vorbildung der Richter und die Zufälligkeiten im Rechtsgang. Die Prozesse wurden verlangsamt und verteuert durch den Anteil der Richter an den Sportein, den Spielraum, den die sittlich und wissenschaftlich unzureichenden Advokaten für die Ausnutzung ihrer Klienten hatten, die Einmischung der Prokuratur, die sich geldgierig und unwissend zwischen die Ad-

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Geschichte der Justizreform bis zum Landrecht

vokaten und ihre Klienten eingeschoben hatte, und durch die mangelnde Vorbildung und unzureichende Stellung der Richter. Endlich wirkten diese Umstände der friedlichen Beilegung von Rechtsstreitigkeiten entgegen. Ein zweites Moment, das zur Justizreform drängte, lag in der Verschiedenheit der Gesetzgebung und des Rechtsgangs in den Territorien. Die Ausbildung starker Einheitsstaaten forderte überall die Rechtseinheit. Ein einheitliches, in seinem Instanzenzug wohl geregeltes und von der Verwaltung besser abgegrenztes Justizwesen mußte hergestellt werden. Die Rechtseinheit konnte aber ihren Abschluß erst in einem gemeinsamen Gesetzbuche finden, das dem ganzen Staate ein einheitliches materielles Recht gab. Und wie nun ein solches Gesetzbuch eine einheitliche Rechtsanschauung forderte, die dem Geist dieses Staates gemäß und den Bedürfnissen des praktischen Lebens in ihm angemessen war und in einem System von Rechtsbegriffen den Forderungen juristischer Technik entsprach, drängte auch von dieser Seite das praktische Bedürfnis vorwärts; die preußischen Universitäten mußten als Staatsanstalten eine dem Bedürfnis der Richter und Beamten entsprechende Jurisprudenz ausbilden; ein Richterstand war nötig, der durch seine Vorbildung, seine persönliche Würde und seine praktische Erfahrung befähigt war, diese Jurisprudenz überzuführen in ein den Verhältnissen des Lebens genügendes Gesetzbuch. Forderungen, welche es begreiflich machen, wie mehrere Generationen vergehen mußten, bis ein Gesetzbuch gelang. Zu der Forderung der Rechtseinheit trat in den modernen Staaten die der Unabhängigkeit des Rechtsganges von jeder Macht außerhalb des Staates. Auch im Rechtsleben mußte der preußische Staat sonach seine Souveränität durchzuführen suchen. Die Rechtsprechung im Lande mußte auch in ihrer obersten Instanz vom Reich und von den Universitäten unabhängig gemacht werden. Ward man so auch von dieser Seite auf einen regelmäßigen, wohl geordneten Instanzenzug und einen obersten Gerichtshof im Lande geführt, so forderte das erstarkte Rechtsgefühl eine bessere Abgrenzung des so geregelten Justizwesens von der Verwaltung und seine Unabhängigkeit gegenüber königlichen Machtsprüchen. In derselben Richtung wirkt ein Zug von allgemeinem geistigem Charakter in der Aufklärung auf den Rechtsgang und dann auch auf die Gesetzgebung. In immer zunehmendem Grade sind der Verstand und die Wissenschaft an der Arbeit, das öffentliche Leben einzurichten. Ihr Ideal ist Einheit, Klarheit, Durchsichtigkeit in der Beziehung der Teile und Funktionen der Gesellschaft. In der Wissenschaft sucht man eine Begründung auf Axiome, in der Kunst Symmetrie, und so

Motive der Justizreform

erstrebt man auch im Rechtsgang Regelhaftigkeit und Gleichförmigkeit und in der Gesetzgebung logischen Zusammenhang, der sich über alle Gebiete des Rechts erstreckt. Die allgemeine Jurisprudenz ist das Ziel des Naturrechts, und so wird das Landrecht die erste Gesetzgebung, welche unter höchsten Prinzipien alle Teile des Rechts umfaßt. Ein letzter Zug macht sich in dieser Justizreform geltend. Er ist oft und mit Recht als Geist der Bevormundung scharfem Tadel unterworfen worden. Seine schädlichen Wirkungen haben sich über alle Teile des preußischen Staatswesens erstreckt bis zum Zusammenbruch der alten Form desselben. Es gilt doch, ihn aus der inneren Notwendigkeit der Zeit zu verstehen. Richter, die nur zum Teil die entsprechende Vorbildung besaßen, Advokaten, welche würdelos alle Künste der Schikane und der Ausnützung übten, eine unkultivierte niedere Bevölkerung, ein gelehrtes schwerverständliches Recht aus der Fremde und schriftliches Verfahren: das waren die Verhältnisse, welche die Kontrolle der im Prozeß beschäftigten Personen und die Bevormundung der Rechtsuchenden nötig machten und schließlich selbst ein Gesetzbuch forderten, welches die freie Erwägung des einzelnen Falles durch den Richter möglichst einschränkte. Und über die Notwendigkeiten hinaus macht sich in der Justizreform ein Mißtrauen bei Friedrich Wilhelm I. und dem großen König geltend, das sich in der Bewachung ihrer Organe nicht genug tun kann — ein natürliches Schicksal der Selbstherrschaft. So mannigfach waren die Antriebe der Justizreform und die Aufgaben, die aus ihnen entsprangen. An den meisten dieser Aufgaben hatten preußische Fürsten und Behörden lange gearbeitet, und ihre Lösung war jetzt nur unter der Macht der vereinigten Antriebe dringender geworden. Sie wurden jetzt in einem gewissen Zusammenhange aufgefaßt. Im Interesse der Größe des neuen königlichen Hauses hat schon Friedrich I. den Rechtsgang im wesentlichen vom Reich losgelöst. Unter seiner Regierung trat aber auch schon die Idee eines allgemeinen Gesetzbuches für den preußischen Staat hervor. Auch hier steht am Beginn Leibniz mit seinem hellseherischen Blick in die kommenden Notwendigkeiten der Rechtsentwicklung. Sein Ausgangspunkt war noch das römische Recht. Aus diesem spricht nach ihm die Vernunft der Sache durch den Mund der größten logischen Techniker des Rechts. Aber in dieser römischen Gesetzgebung fehlt die systematische Einheit : die philosophische Jurisprudenz muß analytisch von den überlieferten römischen Rechtsquellen rückwärts dringen zu den elementaren Rechtsbegriffen und Rechtsregeln, sie erweisen sich als die Grundsätze der juristischen Vernunft, und so ergibt ihre Kombination D i l t h e y , Gesammelte Schriften XII

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Geschichte der Justizreform bis zum Landrecht

die Einheit des Naturrechts mit der positiven römischen Jurisprudenz. Ideen, die bei wachsender Kenntnis des römischen Rechtes nicht standhalten konnten, aber sie haben den ersten Entwurf eines preußischen Gesetzbuches durch Cocceji noch beherrscht. Er selbst ist zuletzt über diese Pläne seiner Jugend hinausgegangen. Das Recht ist in Deutschland „durch die Menge, Dunkelheit, Unvollkommenheit der Gesetze, durch die abweichenden Sprüche der Gerichtshöfe, durch die Streitigkeiten der Rechtsgelehrten verfinstert und zu einer merkwürdigen Ungewißheit herabgekommen". Nur neue Kodifikationen können hier helfen. Das römische Recht muß zurücktreten in die Rolle eines großen Lehrers, einer Manifestation des Rechtsgeistes. Das neue Rechtsbuch muß aus dem umfassenden Stoff des gegenwärtig geltenden Rechtes, seinen Grundlagen in der römischen und in der einheimisch-deutschen Rechtsbildung, vor allem aber aus den evidenten Geboten der Billigkeit gewonnen werden. Es muß kurz, klar und für die Entscheidung der Rechtsfälle ausreichend sein. Sätze, welche die Richtung klar bezeichnen, in welcher das friderizianische Landrecht die Aufgabe gelöst hat. Der Regierungsantritt Friedrich Wilhelms brachte die Justizreform wieder in Bewegung, und auch der Plan eines Landrechts wurde nun wieder aufgenommen. Eine Ordre des Königs an die juristische Fakultät von Halle entwickelt Prinzipien für die Herstellung eines festeren Rechts in der Mark, die bedeutsam in die Zukunft hineinreichten. Die Prinzipien des Naturrechts werden ausdrücklich als Grundlage bezeichnet. Wo die Rechtsgelehrten uneinig sind, soll die gesunde Vernunft entscheiden. Die Gesetze sollen die natürliche Billigkeit vor Augen haben, und sie sollen auch vom gemeinen Mann verstanden werden können. Ihr Stil soll deutsch, leicht und gleichförmig sein. Die Leitung der in Halle zu leistenden Arbeit wurde Thomasius übertragen. Aber der kühne Neuerer erwies sich auch hier als gesunder Realist. Er erkannte, daß die Zeit für eine solche Gesetzgebung nicht reif war. Erst mußten die Universitäten aus der langen Finsternis theologischer Vorurteile und dem Schlendrian handwerksmäßigen Betriebes sich erheben; die Rechtswissenschaft mußte fortschreiten; Beamte und Richter mußten gebildet werden. Dies war in der Tat der Weg, der zu durchlaufen war, bevor dem Bedürfnis, das Volk, Praktiker, der König selbst so stark empfanden, entsprochen werden konnte. Und die ungestüme Autokratennatur dieses organisatorischen Genies konnte wohl das Justizwesen fördern: eine Gesetzgebung forderte feinere, geduldigere Hände. Vielleicht, daß auch das Thomasius empfand. Das Leben des Königs neigte sich schon dem Ende zu, als er den Plan des Landrechts noch einmal aufnahm. Im November 1737 erhielt

Friedrich Wilhelm I. Cocceji

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C o c c e j i die Leitung der Justiz, und wenige Monate danach erschien die Ankündigung einer Gesetzgebung auf der Grundlage des römischen Rechts. Hiermit begann die Periode in der Entwicklung des Landrechts, die auch die Regierungszeit des großen Königs bis zu Coccejis Tode 1752 umfaßt. Samuel von Cocceji gehört zu den Männern, welche in frühen Jahren einen Standpunkt erfassen, unerschütterlich an ihm festhalten und so wissenschaftlich und praktisch der kurzen Dauer menschlicher Lebenszeit einen einheitlichen bedeutenden Ertrag abgewinnen. Er war ganz von den Ideen seines Vaters bestimmt, der als Professor der Jurisprudenz in Frankfurt a. d. Oder wirkte. Dieser Heinrich von Cocceji war eine der festen Naturen des 17. Jahrhunderts, in denen der protestantische Glaube und die neuen Forderungen rationaler Begründung zusammenwirkten zu einer festen Stellung dem Leben gegenüber. Er leitete nach einer älteren juristischen und philosophischen Tradition das Recht aus dem Willen und der Herrschaft Gottes ab. Pufendorfs Prinzip der Sicherheit und des Friedens der Gesellschaft genügte ihm nicht, den bindenden Charakter des Rechts abzuleiten und seine n> haltlichen Bestimmungen auf den verschiedenen juristischen Gebieten zu begründen. Sein Bedürfnis nach Vereinigung von Autorität mit rationaler Ableitung machte sich auch im Gebiet des bürgerlichen Rechts geltend: er schöpfte aus dem römischen Rechte, sah aber in ihm ähnlich wie Leibniz die Vernunft der Sache selbst verwirklicht. Indem nun sein Sohn diese Gedanken ergriff, mußte ihm dies eine feste und dem damaligen Charakter der preußischen Monarchie entsprechende Position geben. Er war kurze Zeit in Frankfurt Professor der Rechte gewesen, trat aber dann in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts in preußische Dienste. Die Natur hatte ihn nicht zu einem ruhigen Gelehrten bestimmt; er war kein produktiver wissenschaftlicher Kopf. Aber er übertrug auf sein amtliches Wirken die wissenschaftlichen Grundgedanken, mit denen er sich erfüllt hatte, die Herrschaft über die Jurisprudenz, den Blick auf letzte große Ziele des Wirkens und eine systematische Ordnung der Kenntnisse, in der ihm alles wie in Schubfächern bereit lag und gleichsam an seiner Stelle liegen blieb, bis es oft nach langen Hemmungen wieder aufgenommen werden konnte. Er war ein großes organisatorisches Talent und ein unvergleichlicher Arbeiter, wie denn keiner der damaligen Minister so viel Aktenpapier als er verschrieben hat. Schon diese Bereitschaft alles aufzuarbeiten, gab ihm ein Übergewicht über seinen Gegner Arnim von Boytzenburg, der als ein vornehmer Herr lieber abwartete und persönlich wirkte. In letzter Instanz aber gab ihm nun seine Überlegenheit über seine Gegner, Nebenbuhler und Neider ein energischer,

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zäher, harter Wille, wie er den verrotteten Zuständen des Justizwesens gegenüber nötig war. Er war wohl oftmals gewaltsam und rücksichtslos den Personen und manchmal auch den Sachen gegenüber; damals aber ist in den großen Geschäften der Selbstherrscher nirgends ohne Benutzung fürstlicher Eigenheiten und ohne Intrige Bedeutendes zu erreichen gewesen. Manches der Art wird von ihm berichtet, vornehmlich aber verstand er den Willen der Selbstherrschaft mit den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Interessen der Stände in seinen großen Maßregeln zu vereinigen. So war der Mann, der nun zunächst unter Friedrich Wilhelm die Leitung des Justizwesens 1737 übernommen hatte. Der König war bereits alt und krank; eben darum war er eiliger, gewalttätiger und mißtrauischer als je. Sein Justizminister war von Kabalen umgeben. Die Reduktion der Sportein der Justizbeamten wurde der Ausgangspunkt eines Konflikts, der Coccejis Stellung erschütterte, und so wurde seine Reform in kollegialischen Beratungen begraben, bis der König starb. Unter ihm war die Richtung der Justizreform eingeschlagen worden, die dann sein Sohn zur Durchführung brachte. Stärkung und Entwicklung der staatlichen Organe der Justiz, Erweiterung des mündlichen Verfahrens, und die Strafrechtspflege, für die der König echt patriarchalisch sich besonders verantwortlich fühlte, war reformiert worden. Aber seinem Sohn und Nachfolger fiel doch die wirkliche Durchführung des Reformwerks zu. Unter ihm ist Cocceji erst zur Durchführung seiner Ideen gelangt. Zunächst dauerte die Stockung in der Reform fort; sie war eben darin begründet, daß für ein Werk, das eine einheitliche Leitung erforderte, entgegengesetzte Kräfte zusammengespannt waren. Aber als der König aus dem Zweiten Schlesischen Krieg nach Berlin zurückkehrte, erklärte er in einer denkwürdigen Kabinettsorder vom 12. Januar 1746, er wolle sich nun selbst den Angelegenheiten der Justizreform widmen. Nun sollte endlich rasche und billige Justiz nach Vernunft und Billigkeit für jedermann ohne Ansehen der Person geschaffen werden. Welch ein heller und starker Klang geht durch solche Worte ! Und als nun Cocceji einer raschen Rechtspflege die Bahn frei machte, indem er persönlich, nicht ohne Härte, aber in kurzer Frist mehrere Tausend verschleppter Prozesse beendigte, war der König für ihn gewonnen; es lag in dessen Absicht, daß er nun Cocceji die selbständige Durchführung der Reform überließ. Die Vorbildung des Richterstandes wurde geregelt, der Anteil der Richter an den Sportein aufgehoben. Bei Verminderung der Zahl der Richter konnte ihr Gehaltsverhältnis würdiger gestaltet werden. So hob sich der richterliche Stand. Prozeßordnung und Gerichtswesen wurden im Sinn des moder-

Friedrich II. Grenzen Coccejis

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nen Staates geregelt. In drei Stufen bauten sich nun im regelmäßiger» Instanzenzug die Gerichte auf. Und die Selbständigkeit dieses Gerichtswesens wurde durch zwei Maßregeln gefördert: die Aktenversendung an juristische Fakultäten wurde aufgehoben, wodurch diesen auch Raum für wissenschaftliche Arbeit geschafft wurde. Und auf die Eingriffe der Selbstherrschaft in den Gang der Zivilprozesse, dies alte Königsrecht, das mit den Rechtsbegriffen des väterlichen Regiments so innig zusammenhing, hat Friedrich unter dem Einfluß der neuen Zeit, die in Montesquieu ihren Repräsentanten fand, verzichtet. Die wichtigste und zugleich schwierigste Aufgabe lag noch vor Cocceji: ein auf die natürliche Vernunft und die Landesverfassung gegründetes Landrecht, wie es ein Reformplan vom Mai 1746 verlangt hatte. Sie war immer in Sicht gewesen; vielleicht war er schon bei der Kabinettsorder von 1736 beteiligt, 1738 war ihm dann unter den anderen Aufgaben der Reform auch diese übertragen. Dies Hauptwerk seines Lebens sollte nun getan werden. Er stand dem 70. Lebensjahr nahe, und seine körperlichen Kräfte waren verbraucht. Allein und in kurzer Zeit wollte er eine Arbeit leisten, die nachher nur in einem langen Zeitraum und in einem seltsam glücklichen Zusammentreffen großer Kräfte getan worden ist. Personen- und Familienrecht, Sachenund Erbrecht wurden in den nächsten Jahren abgeschlossen und gedruckt. Aber mitten in der Ausarbeitung des Obligationenrechtes entsank dem müden Mann die Feder. Sein Werk blieb nur Vorarbeit für die glücklicheren Schöpfer des Landrechts. Aber so seltsam ist in den menschlichen Dingen das Schicksal des einzelnen mit dem Fortschritt des Ganzen gemischt, das über ihn hinweggeht: es war für die preußische Gesetzgebung ein Glück, daß sein Werk nicht zustande kam. Er war der rechte Mann gewesen, die Schwierigkeiten der Justizreform zu überwinden, aber den großen freien Horizont, den die neue Aufgabe forderte, hat er nicht gehabt. Mehrere Schwächen lagen in der von ihm noch geleisteten Arbeit, von denen jede allein für diese verhängnisvoll sein mußte. Er ging von der einseitigsten Bevorzugung des römischen Rechtes aus. Die nahe Beziehung, welche die Zeit, Leibniz voran, zwischen dem römischen und dem natürlichen Recht annahm, ist von ihm überspannt worden. Das Vernunftrecht war für ihn in allem Wesentlichen durch das Genie der römischen Juristen realisiert worden: ihrem Rechte ermangelte nur die systematische Ordnung. So wollte sein Landrecht die „im römischen Recht versteckten principia iuris naturalis hervorsuchen" — hierin nahm er den tiefen Gedanken einer Analysis des römischen Rechtes von Leibniz auf, und aus den Prinzipien, dem Rechtsalphabet von Leibniz, wollte er das Universalsystem der Rechtsvernunft ableiten. Alles was in den römi-

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sehen Rechtsquellen zeitlich bedingt war, hatte in diesem System von Gesetzen keinen Platz: wer dächte hierbei nicht an Semlers ähnliche Sonderung der jüdischen Vorstellungen von dem vernünftigen christlichen Glauben in der Bibel. Das so gewonnene System sollte der Deutschen Landesverfassung angepaßt werden. Von den Rechtsgelehrten, die das deutsche Recht „bei den Haaren wieder hervorgezogen haben", spricht Cocceji abschätzig. So herrschen denn die römischen Begriffe. Die Vergleichung des Landrechts mit dem Entwurf Coccejis zeigt leicht an entscheidenden Punkten die Abweichung dieses römischrechtlich gedachten Entwurfs vom Rechtsbewußtsein der Zeit. Hiermit ist ein zweiter Mangel verbunden. Dies Gesetzbuch jagte der Schimäre eines allgemeinen Vernunftrechts nach und verkannte völlig die Bestimmtheit jedes Rechts durch den Staat und seine Entwicklungsstufen. Und so wenig als sein Inhalt entsprach seine Form dem Bedürfnis. Es fiel aus dem Stil des Gesetzes immer wieder in den des Lehrbuchs; es mischte die römischen Kunstausdrücke in den deutschen Text. Selbst an dem Maßstab der Zeit gemessen, war Cocceji schon durch seine Sprache zum Gesetzgeber nicht geeignet. Eine bedeutende Einwirkung auf das spätere Landrecht ist doch von diesem Gesetzentwurf ausgegangen in dem Ziel eines gewissen, die richterliche Willkür ausschließenden Landrechts, in der Methode einer gedankenmäßigen Gliederung und in den verschiedenen Hilfsmitteln, auch in der Zukunft von diesem Recht neue Streitigkeiten fernzuhalten. Der König hatte mit Zuversicht Coccejis Reformwerk verfolgt. So groß war doch der Eindruck, den der tiefe Menschenkenner in persönlichen Verhandlungen von ihm hatte, daß er ihm in dem Vortrag vor der Akademie nach seiner Intelligenz, seiner unvergleichlichen Aktivität und Rechtschaffenheit einen Platz neben den großen Männern des Altertums zuerkannte. Wie erhöhte es doch sein königliches Selbstgefühl, daß er nach siegreichen Kriegen, nach Erweiterung der Grenzen seiner Monarchie nun derselben als Gesetzgeber eine einheitliche Rechtsordnung gab — wie die römischen Kaiser und Ludwig XIV., denen er sich so verwandt fühlte. Damals hat er eine Denkmünze schlagen lassen, auf der er als Reformator des Justizwesens ganz wie Ludwig neben der Göttin der Gerechtigkeit erscheint. Am deutlichsten erhellt aber sein inneres persönliches Verhältnis zur Justizreform aus der Dissertation über die Gründe, die Gesetze zu erlassen oder aufzuheben, die er am 22. Januar 1750 in der Akademie vortragen ließ. Sie gehört zu den geringeren Arbeiten des Königs. Ihr historischer Teil war schon für einen damaligen deutschen Leser, der unsere rechtsgeschichtliche Wissenschaft kannte, vielfach rückständig.

Über die Gründe, die Gesetze zu erlassen

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Und der systematische Teil zeigt ein selbst am Schüler des Voltaireschen Stils auffallend loses Gefüge. Schon das läßt vermuten, daß der König durch eine praktische Tendenz zu der Arbeit bestimmt worden sei. In der Tat benutzte er auch hier seine Akademie, eine Regierungsmaßregel zu verkündigen und zu rechtfertigen. Die Initiative der Justizreform war von ihm ausgegangen. Leitende Gedanken derselben gehörten ihm an. Wie in der unbeschränkten Monarchie auf den Fürsten die Verantwortung für alle falschen Regierungsmaßregeln fällt, so bildete auch jede gelungene einen Teil seines Ruhmes. Als den „Eroberer-Gesetzgeber" bezeichnete Voltaire den König, und Cocceji preist ihn als den neuen Salomon. Vom Gefühl dieser Stellung ist der Vortrag erfüllt. Er entwickelt die Prinzipien, die für sein Gesetzgebungswerk leitend gewesen waren; die Bedenken, die von den Männern der vorsichtigen Praxis geltend gemacht worden sind, erörtert er und unternimmt, sie zu widerlegen. Dies ist der Zusammenhang, der hinter der wissenschaftlich angesehen lose gefügten Gedankenfolge besteht und alle ihre Teile durchdringt. Das Ergebnis seiner vergleichenden Betrachtung ist: die Kodifikationen entspringen aus den mannigfachen Bedürfnissen der Nation, welche bald die Klarheit, Eindeutigkeit und Sicherheit des Rechtes, bald seine Humanität, bald seine staatsbildende Macht vornehmlich in den Vordergrund stellen. Die Dauer jeder Gesetzgebung ist abhängig von der Richtung des Gesetzgebers auf das öffentliche Wohl und die natürliche Billigkeit, wie von der Anpassung seiner Gesetze an den Geist seines Volkes und seiner Zeit. Wie der König in seiner Regierungspraxis es immer betont hatte, so fordert er auch hier Humanität und Milderung des Drucks auf die unteren Klassen. So erscheinen ihm als nötigste Maßregeln die Abschaffung der Tortur, die Herabsetzung der Strafen auf den Diebstahl und den Kindesmord der unehelichen Mutter und eine von kirchlichen Gesichtspunkten freie Behandlung der Sittlichkeitsvergehen. Sehr bedeutsam ist aber dann der allgemeine Gegensatz, der hier zwischen den Ideen des Königs und dem Programm Coccejis zu seiner Gesetzgebung hervortritt. Er betrifft eben den Punkt, in welchem Cocceji der Intention des ganzen Reformwerks nicht genug tat. Der König denkt historisch. Die Theorie der Gesetzgebung beruht ihm auf dem Studium der Gesetzgebung bei den verschiedenen Nationen. Auch er hatte von dem naturrechtlichen Zug der Zeit ein gutes Stück in sich. Aber der ganze Sinn seiner Abhandlung ist auf eine Gesetzgebung gerichtet, die dem Geist seines preußischen Volkes und der politischen Ordnung seines Staates entsprechend sei. Der große Realist war dem Gesetzgebungswerk seines Ministers überlegen und antizipierte die Richtung des späteren Landrechts.

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Besonders deutlich tritt aber hier in dem Bilde des historischen Denkers ein eigener Zug hervor. Er sieht in der Rechtsgeschichte nirgends Werden sondern überall Macht. Die absichtliche Zwecksetzung, diese Form des Vernunftwillens, ist dem Sohn der Aufklärung auch die innere Form der Rechtsbildung. Das Recht'entsteht aus der Anpassung des überlegenen Gesetzgebers an den Geist der Nation. Auch nachdem .die historischen Schulen von Savigny und Niebuhr die Tiefen der rechts- und staatsgeschichtlichen Vorgänge eröffnet haben, bleibt doch in der historischen Anschauung des Königs und seinem Verhältnis zur Gesetzgebung ein Moment von dauernder Geltung. — Beinah ein Vierteljahrhundert verfloß, bis das Werk einer allgemeinen Gesetzgebung, das Coccejis Tod unterbrach, wieder in Angriff genommen wurde. Der Entwurf Coccejis blieb in Ruinen liegen; nur die Bestimmungen über das Ehe- und Vormundschaftsrecht erhielten in einzelnen Provinzen Gesetzeskraft. Dies Vierteljahrhundert war erfüllt von beständiger Wachsamkeit in der äußeren Politik, vielen Kriegsjahren, mühseliger Wiederherstellung des Landeswohls und der Finanzen. Dies war indes kaum der einzige Grund. Es ist immer schwer in der Seele des Königs zu lesen: vielleicht hat Friedrich neben der begeisterten Zustimmung der Aufklärungsschriftsteller auch von den Bedenken der Fachmänner Kenntnis genommen, da ja seine eigenen Gedanken von Cocceji abwichen, und sicher fühlte er, daß die nächsten Nachfolger desselben nicht die Männer waren, das Werk zu Ende 2u führen. Ein ganz anderer als sein Vater, kannte er die Natur einer solchen geistigen Arbeit und wußte sie zu werten. Nach dem Frieden vom Frühjahr 1779 wandte er sich zunächst wieder der Reform der Justiz zu; mißtrauisch gegen Gerichte und Advokaten, griff er dann in den bekannten Prozeß des Müllers Arnold gegen seinen Grundherrn ein. Sein Mißtrauen gegen die Gerichte kam in einer der stärksten Explosionen seines Temperamentes zum äußersten Ausdruck, gewiß in Verkennung des Tatbestandes, aber im Gefühl, der Anwalt der armen Leute zu sein. Fürst wurde entlassen und sein Gegner C a r m e r zu seinem Nachfolger ernannt. Und damit war nun die Bahn frei, sowohl für Carmers Pläne einer neuen Reform der Prozeßordnung als für die Wiederaufnahme der Kodifikation. Endlich waren die Zeiten reif für die Lösung der Aufgabe, an der drei Könige gearbeitet hatten. In Halle hatte sich eine philosophischjuristische Schule gebildet, deren Doktrinen vom Geist dieses Staates ganz erfüllt waren. Ein Zusammenhang von Rechtsbegriffen war hier von Wolff ab entwickelt worden, welcher der Gesetzgebung eine Grundlage bot. Vornehmlich unter der Einwirkung dieser Universität hatte sich ein wissenschaftlich geschulter Richterstand gebildet. Die Reform

Neuer Beginn. Universität Halle. Carmer

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des Justizwesens hatte auch ihn mit dem Gefühl der Würde seiner richterlichen Tätigkeit erfüllt. Er war vom Geist der Aufklärung und der preußischen Staatsgesinnung getragen. So war er fähig, in dem Gesetzeswerk eine leitende Rolle zu übernehmen. Zwischen dem König, seinen Beamten und dem Volk bestand eine Gemeinsamkeit aufgeklärten Staatsinteresses, wie es in dem damaligen Europa ohnegleichen war. Daran änderten weder seine explosiven Gewaltakte etwas, noch die Gegensätze und Intrigen um ihn her. Eben diese Gemeinsamkeit war das, was dem neuen Gesetzbuch sein eigenstes Gepräge gegeben hat. Und nun war auch in der Entwicklung unserer Literatur die Prosa zu der Reife gelangt, deren ein Gesetzeswerk bedarf. Was Cocceji seine Zeit nicht geboten hat, war für Suarez nun bereit. Lessing, Mendelssohn, der junge Kant, Moser — sie alle hatten zu der neuen Prosa ihren Beitrag gegeben. Ohne Zweifel hatten die Verfasser des französischen Gesetzwerkes große Vorteile voraus; sie schrieben in einer Sprache, welche der des römischen Rechtes verwandt war: wieviel leichter war ihnen die Übertragung dieser technischen Ausdrücke gemacht als den Verfassern des Landrechts. Aber diese hatten doch einen anderen unschätzbaren Vorzug in der Gewöhnung an die pedantische Pünktlichkeit der Begriffe und Definitionen, wie sie aus dem systematischen Geiste des deutschen Universitätsbetriebes herstammten. Und nun waren auch die Personen da, deren das Werk bedurfte. Der neue Kanzler war durch Geburt und Besitz zur Herrschaft befähigt. Er kannte die große Welt "und wußte sie zu behandeln. Seine geistige Bildung war nicht einseitig juristisch, er war mit der englischen und französischen Literatur vertraut. Sie hatte ihm das Streben eingeflößt für das Wohl des Menschengeschlechts. Früh war er nun in eine bedeutende Stellung gelangt. So besaß er den weiten Horizont des Staatsmannes. Er war immer von großen Gesichtspunkten beherrscht. Und zur Durchführung seiner leitenden Gedanken einten sich ihm unerschütterlicher Mut, der von den unendlichen Schwierigkeiten der Aufgabe sich nie schrecken ließ, mit der Lebensklugheit, welche verschiedene Könige richtig zu behandeln und bedeutenden Gegnern gegenüber sich auch durch Nachgiebigkeit im Unvermeidlichen sein Werk zu retten wußte. Und er wußte die mit ihm Arbeitenden mit seinem Mut und seiner Begeisterung zu erfüllen. Dem neuen Großkanzler folgte nach Berlin Carl Gottlieb S u a r e z . Sein Vater, Ratsherr in Schweidnitz, hatte sein Vermögen im Siebenjährigen Kriege verloren und war dann früh gestorben. In engen Verhältnissen, frühreif, arbeitsam, eingezogen durchlief der Jüngling das Gymnasium in Schweidnitz und die Universität in Frankfurt a. d. O. Hier hat er unter der Einwirkung des Juristen und Philosophen Darjes

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sich mit dem naturrechtlichen Standpunkt der Wölfischen Schule erfüllt. Er war noch nicht zwanzig Jahre alt, als er die Universität verließ und in Breslau seine Amtstätigkeit begann. Dort trat er in das Lebensverhältnis zu Carmer, das ihn bald in große Lebensinteressen und Geschäfte führte und ihm dann 1780 in Berlin die Tätigkeit eröffnete, für die er geboren war. Seine Mitarbeit begleitete den ganzen Verlauf der Entwicklung von Carmers Plan einer neuen Prozeßordnung bis zu dem Abschluß 1793. Aber erst im Landrecht fand sein juristisches Genie die große einheitliche Aufgabe seines Lebens. Sein Verhältnis, wie er es nun zu Carmer in dem großen Werk der Gesetzgebung gestaltete, ist demjenigen ähnlich, in dem Süvern später zu W. von Humboldt gestanden hat. Vor seinem Geist stand immer das Ganze, und er widmete zugleich jedem Paragraphen die peinlichste Sorgfalt. In ihm verkörperte sich die Gesinnung dieser aufgeklärten Monarchie so, wie außer ihm vielleicht nur in Zedlitz. Ihm genügte die unablässige, tagtägliche, aufreibende Arbeit an dem großen Werk, die Teilnahme an den Kämpfen für dasselbe im Interesse der Aufklärung, eine edle, schlichte Häuslichkeit und der einfache Verkehr mit gleichdenkenden Freunden. Wenige Jahre nach der Einführung des Landrechts ist er gestorben, 1798, aufgerieben von der unablässigen Arbeit. Neben den beiden tritt unter den Mitarbeitern des Landrechtes Ernst Ferdinand K l e i n als eine bedeutende Persönlichkeit hervor. Er war wie Suarez mühsam aus engen Lebensverhältnissen hervorgegangen. Wie dieser hatte er sich die neue philosophische Jurisprudenz angeeignet, und zwar an ihrem Hauptsitz in Halle, und er arbeitete sich wie Suarez mit eisernem Fleiß empor. Er war von früh auf mit Suarez befreundet. Zunächst trat er in den vielgeschmähten und viel gemaßregelten Stand der Advokaten ein, und Vorschläge über dessen Verbesserung bildeten den Ausgangspunkt seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Denn darin lag nun seine Bedeutung, daß er seit 1781 an dem Reformwerk mitwirkte, zugleich aber als Schriftsteller die stille, schwere Arbeit mit der juristischen Welt vermittelte. Umfassende geistige Kultur, lebendige Beziehungen zu den leitenden Männern der Aufklärung und strenge Jurisprudenz befähigten ihn hierzu. Nach Abschluß seiner Arbeit 1791 hat er in Halle, von wo seine Studien ausgegangen waren, nun als Professor und Direktor der Universität gewirkt und daneben eine umfangreiche schriftstellerische Tätigkeit entfaltet. 1800 ist er dann Mitglied des Obertribunals geworden und lebte bis 1810. [Über das Gesetzbuch hinaus erscheint Suarez als einer der großen Repräsentanten der friderizianischen Monarchie, die Paladinen gleich den großen König umgeben, und von seiner umfassenden Ansicht fällt

Suarez. Klein

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wieder ein Licht auf seine positive Arbeit am Landrecht. Sie bildet den großen allgemeinen Hintergrund desselben. Jedem von ihnen gibt sein Beruf ein eigenes Gepräge. Suarez ist die Verkörperung des juristischen Denkens; er ist erfüllt von dem stolzen Bewußtsein seines Berufs, die Verwirklichung des Rechts, seine Herrschaft im Staat zu realisieren. Daher er in der Kontinuität der Rechtsverhältnisse gegenüber der Französischen Revolution die Pflicht der Monarchie erblickt. Schutz und Sicherung des Eigentums ist die nächste Aufgabe des Staates; bestehende Rechte dürfen nicht ohne Entschädigung abgeschafft werden. Ein Gesetz kann wohl mittelbar dem einzelnen Schaden zufügen; aber es kann nie nutzbare Rechte ohne Entschädigung aufheben. Selbst in bezug auf die erbuntertänigen Bauern scheint er der Meinung gewesen zu sein, daß der Grund und Boden, der Bearbeitung erfordert, geschützt werden müsse durch Sicherung der Seßhaftigkeit gegen den Zug in die Städte. Wie hier erscheint er überall als ein starker Realist. Den großen Idealen der Revolution, der Verkündigung der Menschenrechte, der Hoffnung, daß irgendeine Verfassung der Gewalt dauernde Grenzen setzen könnte, setzt er die Nüchternheit des praktischen Juristen entgegen. Vor allem aber: dieser Wirklichkeitssinn läßt ihn darauf bestehen, daß die dem preußischen Staat entsprechende Aufgabe die Verwirklichung der bürgerlichen Freiheit sei. Wenn die Nation zum Interesse am Gemeinwohl, zu gesetzlichem Sinn, zur Vaterlandsliebe, zur bürgerlichen Freiheit erzogen sei, dann erst werde sie reif sein zum Übergang zur politischen Freiheit. An der Realisierung dieser bürgerlichen Freiheit aber hält er nun unentwegt fest, und nur gezwungen hat er von deren Forderungen im Landrecht nachgelassen. Der Monarch muß durch die Gesetze sich selbst einschränken. Die Nation muß durch die Erziehung zur Aufklärung geführt werden, und aufs äußerste bekämpft er die Lehre, daß der Bruch des Gehorsams gegen den König in der Französischen Revolution durch die Aufklärung der Bürger gefördert sei. So eröffnet sich uns ein weiterer Zusammenhang. Die Ideen des Suarez schließen sich an die Abhandlungen von Hertzberg, welche die friderizianische Monarchie verteidigen, und sie stehen ebenso im Zusammenhang mit Kleins Verteidigung derselben gegen Schlosser. Alle drei erfassen den Hauptpunkt. Die unumschränkte Monarchie, in der der König sich durch Gesetze beschränkt und die bürgerliche Freiheit verwirklicht, ist eine notwendige Stufe in der Entwicklung Preußens. Notwendig nicht nur zur Lösung der Aufgabe, inmitten der Großmächte sich aufrechtzuerhalten, sondern zugleich — was freilich in untrennbarem Zusammenhang damit steht —, um ein vom lokalen Geist der Provinzen und durch das Einzelinteresse der Stände getrenntes Gemeinwesen zu innerer Gemeinschaft,

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zum Staatssinn, zum gesetzlichen Sinn zu erziehen, das Gemeinwohl und die bürgerliche Freiheit zu verwirklichen. Und so sehen wir, daß der friderizianische Staat am Schluß dieser Regierung im höchsten Bewußtsein seiner Kraft, seiner Aufgaben, seiner Bedeutung gelebt hat. Es ist wenig, was der Geschichtschreiber zu diesem zum Verständnis noch hinzuzufügen hat. Nicht sein geschichtliches Schicksal, sondern sein Wille, und zwar der einmütige Wille des Königs und seiner in der Aufklärung erwachsenen höchsten Beamten, hat die Aufgabe dieses Staates realisiert. Und damit erreichen wir endlich den Punkt, von welchem aus das Landrecht unter seinem wahren Gesichtspunkt verstanden werden kann. Es war in erster Linie der Ausdruck des Willens, der Monarchie Einheit im Recht zu geben. Aus dem Selbstgefühl des neuen Königtums Friedrich Wilhelms I. war zunächst dieser Wille erwachsen, ganz ebenso wie das in der Gesetzgebung Ludwigs XIV. und Colberts der Fall war. Dann aber vertiefte sich die Aufgabe dazu, dem Geist dieses Staates eine objektive Gestalt in einer einheitlichen Gesetzgebung zu geben.] Die Männer, welche das Werk durchführten, waren getragen von denselben Grundüberzeugungen und standen in dem schönsten persönlichen Verhältnis zueinander. Dies war ein wesentlicher Grund für die Kraft und Einheit ihres Werkes. Auch das höhere Beamtentum dieser Tage ist herausgewachsen aus dem abgemessenen, abgestuften, förmlichen gegenseitigen Verhalten der Zeit, in welcher die Berufsgliederung das persönliche Verhältnis bestimmte. Und nun brachte die freie Menschlichkeit der Aufklärungszeit eine Gemeinschaft hervor, die aus dem Bewußtsein entsprang, gemeinsam an dem Fortschritt der Menschheit zu arbeiten. Gerade Carmer lebte in diesen Überzeugungen, und sein Blick war immer auch dem allgemeinen Fortschreiten der politischen Ideen in den leitenden Kulturländern zugewandt. Nicht die inneren Probleme des Seelenlebens, die Diskussion über sie bilden das Band, das diese Beamtengesellschaft, in der auch Zedlitz eine hervorragende Rolle spielte, verknüpft. Es ist die Gemeinsamkeit der Aufklärungsidee, die Arbeit an ihrer Verwirklichung, worauf diese unerschütterlichen Verhältnisse beruhen. Sie gibt diesen Männern das frohe Bewußtsein des Zusammenwirkens, ihr sicheres Vertrauen zueinander, und sie schafft ihnen in ihrer schweren Arbeit eine eigene gelassene Heiterkeit. Feste Familienverhältnisse umgeben sie. Und eben aus ihrer tiefen Sicherheit im Gewissen und aus ihren aufgeklärten Überzeugungen entspringt eine Seelenverfassung, die später Fichte als die Freudigkeit des Rechttuns bezeichnet hat. Ein Ausdruck dieses Bewußtseins von Gemeinschaft im Beamtentum der Aufklärung war die Mittwochsgesellschaf t, welche eben in derZeitder

Zusammenhalt der Mitarbeiter. Mittwochsgesellschaft

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Arbeit am Landrecht 1783—1800 in Berlin bestand und der Suarez und Klein angehörten. Sie bestand vornehmlich aus hohen Beamten, leitenden Geistlichen und Schulmännern und einigen Aufklärungsschriftstellern. Man wollte mit vollkommener Sicherheit und Offenheit sich aussprechen, und so durften die Aufsätze, die innerhalb der Gesellschaft verlesen und besprochen wurden, niemandem außerhalb der Gesellschaft mitgeteilt werden. Den Hauptgegenstand der Diskussion bildeten die Probleme des Staates, des Rechts, der Religiosität. Hier hat auch Suarez prinzipiell bedeutende Fragen behandelt, die bei der Arbeit am Landrecht hervortraten. Wer wüßte nicht, welche Kraft für die eigene Arbeit aus solcher Gemeinschaft erwächst! Ein merkwürdiges Dokument des Geistes dieser Gesellschaft ist uns in acht Gesprächen E.F.Kleins über die Beschlüsse der Französischen Nationalversammlung erhalten. Sie sind eine ideale Nachbildung der Personen, die hier vereinigt waren, ihrer Art zu debattieren. In der Aufklärung war für all diese Männer der gemeinsame Boden. Während sie alle in Geschäften vereinigt sind durch das politische Gefüge, in dem sie ihren Beruf erfüllen, sprechen sie hier sich in der völligen Freiheit aus, die das gegenseitige Vertrauen ihnen gab. Da sieht man denn die Hauptrichtungen, die sich in den nächsten Dezennien der preußischen Geschichte geltend machen sollten, schon hier bei der Beurteilung der Französischen Revolution im engsten Raum zum Ausdruck kommen. Die Möglichkeiten der weiteren Entwicklung des preußischen Staates werden erwogen. So außerordentlich günstige Bedingungen waren in diesem Beamtentum für die Verwirklichung des großen Werkes vorhanden. Cocceji hatte allein, unter dem Druck der Eile gearbeitet; das Zusammenwirken, wie es nun zwischen diesen Menschen in einem langen Zeitraum bestand, machte die Verbindung der geschlossensten Zusammenarbeit mit der gewissenhaftesten Durchbildung des einzelnen möglich. Die Werkstätte ihrer gemeinsamen Arbeit war das Palais an der Königsbrücke, das Carmer bewohnte ; in dieses nahm er Suarez auf, und dieser hat fünfzehn Jahre hindurch da mit ihm gewohnt. Auch Klein fand dann dort Platz. Es bezeichnet das menschlich freie Verhältnis des Großkanzlers zu den beiden Arbeitsgenossen, wie sie ihn regelmäßig auf seinen Ausfahrten begleiten oder in seinem einfachen Landhaus in Steglitz und in dessen ländlicher Umgebung die großen Fragen der Gesetzgebung mit ihm besprachen. Suarez selbst schildert den Arbeitsplan, von dem er ausgeht. Die von den Ufern des Rheins bis an die russischen Grenzen sich ausbreitenden preußischen Staaten, die im Verlauf von drei Jahrhunderten unter dem Zepter des Hauses Brandenburg vereinigt worden waren, verschieden wie sie in Verfassung, Rechten und Gewohnheiten waren, sollen nun ein gemeinsames Gesetzbuch

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erhalten. Es kann kein naturrechtliches Ideal aussprechen, sondern muß den Sitten, dem Charakter, den Gewohnheiten und Geschäften des Volkes sich anpassen. Der unter diesen gegebenen Umständen höchstmögliche Grad von Wohlfahrt muß sein Ziel sein. Das Naturrecht bietet ihm die Prinzipien, und das römische Recht, das fast in allen Provinzen subsidiäre Geltung hat, wird in seinen Rechtssätzen und Rechtsbegriffen das juristische Instrument der Arbeit. Die Einheit des Gesetzgebungswerks, das so entstand, war darin begründet, daß das Naturrecht auf dem römischen Recht beruhte und auch das gemeine Recht von ihm aus sich gebildet hat. Die Ergänzung dieses Gesetzbuches sollte dann in der Zusammenfassung der Gesetze der einzelnen Landesteile, die Gültigkeit behielten, zu besonderen Gesetzbüchern liegen. So sollte das ganze Gesetzgebungswerk aus zwei Teilen bestehen, dem allgemeinen Gesetzbuch und den einzelnen Landesgesetzgebungen; diese sind dann nicht zustande gekommen. Diesem Plan entsprach die Methode der Ausarbeitung. Man sah sich zunächst nach einer Hilfskraft für einen Auszug aus den justinianischen Rechtsbüchern um. Die Arbeit ist dem hervorragenden Juristen Schlosser, dem Schwager Goethes, angetragen worden. Er war ein Gegner des Planes einer solchen Kodifikation, im Sinne der späteren historischen Rechtsschule erkannte er wohl die Aufgabe, aus dem römischen Recht die in ihm verborgenen Grundbegriffe herauszuheben, er war geneigt, in seinen Einwendungen, mit Muße und in freien Verhältnissen dafür zu arbeiten: aber er konnte sich nicht entschließen, nach Berlin überzusiedeln. Die Arbeit ist dann von untergeordneten Kräften in wenig zureichender Weise geleistet worden, Savigny hebt nachdrücklich hervor, wie nachteilig das für das Landrecht geworden ist. Schließlich war doch die damalige Jurisprudenz für die Lösung dieser Aufgabe überhaupt noch nicht reif. Erst von Savigny bis zu der Analyse Iherings konnte diese Vorarbeit geleistet werden. Und eine ähnliche für das deutsche Recht dem Landrecht zugrunde zu legen, daran war nun damals gar nicht zu denken. Dies waren die beiden wissenschaftlichen Schranken des Landrechts, daß erst das Deutsche Bürgerliche Gesetzbuch auf erweiterter wissenschaftlicher Grundlage arbeiten konnte. Die Arbeit selbst ging von dem geltenden Rechte aus: „das Volk hat seit Jahrhunderten Gesetze; es ist gewohnt, seine Handlungen danach einzurichten und sich danach beurteilen zu lassen. Also sollen für es nicht sowohl neue Gesetze erfunden, als vielmehr nur die bereits vorhandenen gesammelt und verbessert werden." Wo eine Abänderung oder nähere Bestimmung erforderlich schien, gaben die ersten Entwürfe, die Klein anfertigte, die Motive hierfür an. Und in dem

Römisches Hecht und geltendes Recht

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weiteren amtlichen Verlauf des Gesetzgebungswerks, das sich an die Umarbeitung des Kleinschen Entwurfs durch Suarez als die eigentliche Grundlage der Gesetzgebung anschloß, der Begutachtung durch die Gesetzgebungskommission, der Revision durch Suarez, dem Vortrag beim Großkanzler werden immer die neuen Gesetze mit dem geltenden Recht verglichen, und die Abweichungen werden diskutiert. Man bemerkt dabei nur selten eine Auseinandersetzung mit Coccejis Entwurf und neben dem Rückzug auf das römische Recht die Benutzung der Jurisprudenz der Zeit. An wichtigen Punkten hat Carmer eigene Entwürfe aufgestellt. Coccejis Gesetzbuch war den Justizkollegien, Fakultäten und Landständen vorgelegt worden. Jetzt ging man weiter. Die Vorerinnerung des neuen Entwurfes forderte die „philosophischen Rechtsgelehrten" des Inlandes und des Auslandes zur Kritik desselben auf. Hervorragende Sachverständige wurden besonders um ihr Gutachten ersucht. Zwei Preise wurden ausgesetzt. Auch hier wurde als Maßstab der Beurteilung Vernunftmäßigkeit und Billigkeit der Rechtsbestimmungen herausgehoben. Dies Verfahren und seine Begründung, daß in einer für das ganze Publikum so wichtigen Angelegenheit auch seine Stimme vernommen werden müsse, fand begeisterte Aufnahme. Unter den schriftstellerischen Äußerungen waren die von Pütter, Schlosser und Mirabeau die bedeutendsten; sie repräsentieren die vornehmsten Stimmen der öffentlichen Meinung. Es ist klar, daß ein Gesetzbuch, das seinen begrifflichen Zusammenhang sucht in der gegenseitigen Verpflichtung des Staates und seiner Bürger zur Realisierung des gemeinen Wohls, auf den Widerstand aller derjenigen Elemente stoßen mußte, die ihren Vorteil in der Konservierung des uneingeschränkten Absolutismus und der ständischen Ungleichheit des ancien régime fanden und den Bestrebungen der Aufklärung, die der individuellen Freiheit den Weg brachen, sich widersetzten. Am 20. März 1791 hatte der König das Publikationspatent vollzogen. Mit dem 1. Juni 1793 sollte das Gesetzbuch in Kraft treten. Im Frühjahr 1792 setzte der Kampf ein. Die Verhältnisse hatten sich zugunsten der politischen und religiösen Reaktionäre gewandt. „Auf zufällige Umstände und Konjunkturen" kam leider außerordentlich viel an, wie Suarez im Juni dieses Jahres an einen Freund seines Werkes schrieb. Der König war über das Verhalten des Kammergerichts in dem Prozeß gegen den Pastor Schulz auf das äußerste erbittert. Die „Justizbedienten" schienen ihm einen Ton anzunehmen, der ihm gar nicht gefiel; „es ist beinahe, als ob sie eine Art von Parlament vorstellen wollten, welches ihnen nie gestatten, sondern sie bei aller Gelegenheit derbe auf die Finger klopfen werde, wofern sie sich nicht

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Geschichte der Justizreform bis zum Landrecht

solches bald abgewöhnen". Der Widerwille des Königs gegen eine Selbständigkeit der Rechtspflege, die seine Stellung als höchster Richter tangierte, seine Eingriffe in das Verfahren aufhob, erfuhr durch die Zeitereignisse eine Stärkung. Am 20. April hatte Louis XVI. in der Nationalversammlung den Krieg gegen Deutschland proklamieren müssen. Als nun noch in den letzten Tagen dieses Monats die österreichischen Waffen glücklich fochten, lebte die Hoffnung, die Revolution allgemein zu unterdrücken, auf. Da wagten sich auch in Preußen die heimlichen Widersacher des Gesetzbuches vor. Der Regierungspräsident von Küstrin berichtete von Unruhen der Landbevölkerung, die die neuen Freiheiten kennenlernen wollte. Die Bauern erklärten, zu größeren Leistungen an die Gutsherrschaft als das Gesetzbuch vorschriebe, nicht verpflichtet zu sein. Die ständische Kommission zur Begutachtung des Gesetzbuches beantragte, bis zur Einführung der beabsichtigten Provinzialgesetzbücher die Dispositionen des neuen Gesetzbuches nicht zur Anwendung zu bringen. Unter diesen Umständen hatte der Minister für Schlesien, von Dankelmann, sowohl ein persönlicher Widersacher des Großkanzlers als politisch ein Anhänger des ancien régime, beim König Erfolg mit dem Vorschlag auf Suspension. Am 18. April erging eine Order des Königs an den Großkanzler, die das Gesetzbuch bis auf weiteres suspendierte. Man scheute sich, das Kind beim rechten Namen zu nennen. Der Grund, den Dankelmann in seinem Antrag geltend gemacht hatte, wurde auch Carmer eröffnet: Das Publikum habe sich noch nicht genug mit dem Inhalt des Gesetzbuches vertraut machen können. Ein Scheingrund! Und Carmer erklärt mit stolzer Offenheit in seinen Gegenvorstellungen an den König: ,,Ich bin völlig überzeugt, daß alle Insinuationen, welche Ew. Kgl. Maj. gegen das Gesetzbuch gemacht worden, von einigen wenigen mit einer aristokratischen Regierungsform schwanger gehenden Köpfen herrühren, denen daran gelegen ist, die Sache erst zu verschieben, dann nach und nach zu untergraben und solchergestalt ihre eigenen Pläne und Anmaßung der gesetzgebenden Macht zur Reife zu bringen." Mit Schärfe und Zähigkeit haben Carmer und Suarez um ihr Werk gekämpft. Zunächst ohne Erfolg. Eine abermalige Order vom 5. Mai hielt die Suspension auf unbestimmte Zeit aufrecht. Die nächste Aufgabe der Gesetzgeber war, die Scheingründe ihrer Gegner zu beseitigen. Ihr diente der von Suarez verfaßte „Unterricht über die Gesetze", der Anfang des Jahres 1793 herauskam. Die Brauchbarkeit dieses Buches für den Zweck, sich mit dem neuen Gesetzbuch vertraut zu machen, wurde überall anerkannt. Trotzdem wäre das Schicksal des Gesetzbuches mit der fristlosen Suspension besiegelt gewesen. Da brachte der Erwerb Südpreußens durch die Teilung Polens eine glück-

Kampf um die Einführung 151 liehe Wendung. Bei der Einführung preußischer Rechtsverhältnisse für die neue Provinz dachte man an das Carmersche Gesetzbuch. Es war Dankelmann selbst, der die Einführung gewisser Partien desselben neben dem allgemeinen Recht empfahl. In der allmählichen Steigerung der Gegenvorschläge Carmers beantragt dieser schließlich, den Richtern Südpreußens das Gesetzbuch in die Hand zu geben und billigt Dankelmanns Vorschlag, für das Volk eine polnische Übersetzung zu autorisieren. Nun ist endlich die Sache so weit, daß mit offenem Visier gekämpft werden muß. Der alte Grund, daß das Volk mit den neuen Gesetzen noch nicht genügend vertraut sei, hat für Südpreußen keine Kraft. Denn hier muß sich unter allen Umständen der Untertan an neues Recht gewöhnen. Zum ersten Male eröffnet Dankelmann ehrlich seine Bedenken gegen das Carmersche Werk. Die Suspension sei hauptsächlich wegen der im Gesetzbuch enthaltenen „passus, welche mehr auf das Staatsrecht als Privatrecht gehen", erfolgt. Das Verhältnis zwischen Staat und Untertanen sei in einer für die Krone bedenklichen Weise festgelegt. „Nur vom Gesetz, d. h. von ergehenden Ge- und Verboten, nicht vom Recht müsse der Staatsbürger Kenntnis haben." Schließlich empfiehlt Dankelmann eine Revision des Gesetzbuches, dessen großen Nutzen er an sich gar nicht verkennt. Man sieht: Dankelmann ist recht eigentlich der Vertreter einer konservar tiven, absolutistischen Staatsanschauung. Die Wöllner, Bischofswerder, Goldbeck, der Chefpräsident des Kammergerichts, die dem Orden der Rosenkreuzer angehören, unterstützen das kirchlich-reaktionäre Moment der Opposition gegen das Landrecht. In Verbindung mit diesen Männern, die leider eine häßlich vergiftende Sprache gegen den alten Carmer führen, weiß nun Dankelmann den König zu bestimmen, dem Großkanzler eine Revision des Gesetzbuches anzubefehlen. Carmer und Suarez geben die Hoffnung bis zum letzten Augenblick nicht auf, die Reinheit ihrer Schöpfung unverletzt zu erhalten. Carmer bittet um bestimmte Angaben der anstößigen Stellen, natürlich in der Absicht, diese aufs äußerste zu verteidigen. Und während Goldbeck für den Gebrauch des Königs diese Stellen moniert, läßt er Carmer in einer kgl. Order scharf antworten, daß die wegzulassenden Stellen ihm als Rechtsgelehrten und Verfasser genügend bekannt sein müßten. Die Denkschrift Goldbecks vereinigte nun die Bedenken der politischen und kirchlichen Reaktion. Der § 6 der Einleitung über die Machtr sprüche wird als der verwerflichste bezeichnet. Er sollte fallen, im Zusammenhang mit ihm die Terminologie des § 7 und 9 der Einleitung, sowie der § 528 und 529, die den Terminus Machtspruch gebrauchten, geändert werden. Das Wort Bürger wollte Goldbeck nicht dulden wegen der damit verbundenen Nebenbegriffe. Schließlich wurde D i l t h e y , Gesammelte Schriften XII

II

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Das Preußische Naturrecht

Einspruch erhoben gegen die Ausdehnung der Ehe zur linken Hand und gegen das Verbot des Mißbrauchs religiöser Handlungen zu Zauberei und Gespensterbannen, namentlich wenn damit sektiererische Nebenzwecke verbunden sind. Carmer war nun vor die Entscheidung gestellt, das Ganze fallen oder sich die Verstümmelung gefallen zu lassen. Nun ist es sein Rat Suarez, der den zähen Kampf bis zum letzten nicht aufgeben will. Er verteidigt Dankelmann gegenüber noch einmal ausführlich sein Werk. „Es enthalte nichts, als was Preußens Monarchen von Despoten unterscheide, die sie nie hätten sein wollen." „Diejenigen, welche behaupten, es stehe auf den Prinzipien der französischen Konstitution, ließen im blinden Eifer die Konstitution dem Gesetzbuch vorausgehen." Mit gleicher Energie verteidigte er die unpolitischen Partien, an denen Anstoß genommen wurde. Es war umsonst. Als im Laufe der Verhandlungen Carmer endlich die Bedenken spezifiziert wurden, versuchte er auf den Wunsch seines treuen Rates eine neue Formulierung der Paragraphen. Er fand damit kein Gefallen. Seine Gegner verlangten die sachliche Verwandlung. Und als schließlich eine wieder von Goldbeck diktierte Order die Revision innerhalb bestimmter Frist anbefahl, gab man den Widerstand im Interesse des Ganzen, dessen geistiger Gehalt durch diese Exstirpation doch nicht zu töten war, auf. Satz auf Satz wurde von Suarez im Staatsrat verlesen und verteidigt und bis auf die inkriminierten angenommen. Am 1. Juni 1794 erfolgte die Publikation des Gesetzbuches unter seinem neuen Titel als Landrecht. Ein heimlicher Angriff, den die märkischen Stände wenige Tage danach nochmals eröffneten, blieb nunmehr ohne Folgen.

ZWEITES KAPITEL

DAS PREUSSISCHE NATURRECHT Die Begriffe des Naturrechts leben in den Verfassern des Landrechts, und sie liegen ihm zugrunde. Das Landrecht hat es nicht mit der Natur der moralischen Person, nicht mit dem psychologischen Wesen der Handlung oder mit dem Umfang der Naturrechte zu tun, sein Inhalt ist politisches Recht. Andererseits ist es nicht Darstellung eines solchen, sondern Gesetzgebung. Jeder Satz ist durch seine ordnungsmäßige Veröffentlichung Vorschrift für die Untertanen dieses preußischen Staates. Aber in allen Teilen dieser gesetzlichen Vorschriften machen sich als Voraussetzung, als Terminologie, als verbindender Geist die naturrechtlichen Sätze bemerkbar. Die klare deutsche Terminologie des Landrechts über „äußere freie Handlungen", Ver-

Publikation. Naturrecht als Grundlage

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bindlichkeit, die Grade der Zurechnung ist in der Arbeit der narurrechtlichen Schule Wolffs erworben. Im Landrecht findet dann der Satz über die allgemeinen Rechte des Menschen seinen Platz, der eine Zusammenfassung der naturrechtlichen Bestimmungen ist: „Die allgemeinen Rechte des Menschen gründen sich auf die natürliche Freiheit, sein eigenes Wohl ohne Kränkung der Rechte eines anderen suchen und befördern zu können." [Das Naturrecht der modernen Zeit, das im Landrecht zum Ausdruck kam, hat seine mächtigste Wirkung geübt durch seinen Grundgedanken, durch den der Ausgangspunkt von Recht und Staat in die Individuen verlegt wurde. Schließlich beruhte dies auf der Umwälzung der Ideen, welche in der Verbindung der christlichen und germanischen Anschauung vom Unabhängigkeitswert der Person entstanden waren. Im Christentum war diese Unabhängigkeit bedingt im religiösen Erlebnis, im Germanentum in der mächtigen Selbständigkeit der Person. Das war der Keim für eine Entwicklung, die dann in der Doktrin der Menschenrechte dem ganzen modernen Verfassungsleben zugrunde liegt. Die Formel für die rechtliche Darstellung dieser Idee war die naturrechtliche Ableitung des öffentlichen Rechts aus dem Vertrag, und diese war die notwendige Konsequenz der Konstruktion des Rechtes von der Einzelperson aus.] Im Vertrag vereinigt sich eine Anzahl Menschen zu einer Gesellschaft, welche die öffentliche Wohlfahrt zum Zweck hat, und es kann dann die so entstandene Regierungsgewalt, die zunächst allen Bürgern zusteht, durch den Unterwerfungsvertrag einer aus wenigeren Personen bestehenden Obrigkeit unter bestimmten Bedingungen übertragen werden. Der Staat ermöglicht dann das erzwingbare Recht, auf dem seine innere Sicherheit beruht. So gründet sich nach dem Landrecht die Ehe auf einen Vertrag, der für einen bestimmten Zweck geschlossen ist. Ebenso beruhen die Gesellschaften auf dem Vertrag. Es sind Verbindungen von Mitgliedern des Staates zu einem gemeinschaftlichen Endzweck, von den erlaubten unterscheiden sich die privilegierten oder Korporationen. Unter das Recht dieser Gesellschaften fallen alle die geduldeten oder privilegierten Kirchen. Aus dieser Unterordnung folgt, daß das Landrecht, wie das Naturrecht, auch sie juristisch aus dem Gesellschaftsvertrag konstruiert. Und der Staat selber? Suarez bezeichnet ausdrücklich als die Grundlage der landrechtlichen Auffassung des Staates den Vertrag. Daß das neue Staatsrecht den Staat auf den Gesellschaftsvertrag gründen müsse, ist für ihn eine unantastbare Wahrheit. Indem er nun hierin mit Rousseau und der französischen Nationalversammlung übereinstimmt, bestimmt er dann den Zweck des Vertrags und des auf ihm gegründeten Gemeinwesens umfassender, als jene es taten. Er schließt sich in diesem entscheidenden

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Das Preußische Naturrecht

Punkte an Wolff und seine Schule an. Der Anlaß, in Staatsverbindungen zu treten und die vereinigten Kräfte der Gesellschaft in die Hände des Regenten gleichsam niederzulegen, mag die Sicherheit der Person und des Eigentums gewesen sein. Aber der Zweck, den die Staatsgewalt zu realisieren übernimmt, reicht weiter, er liegt im allgemeinen Wohl des Gemeinwesens und seiner Teile. Aus diesem Zweck erklärt sich die Hingabe von Einzelrechten im Interesse der Steigerung der Glückseligkeit der Gesellschaft, die Übertragung von Pflichten an sie. Dieser Gesellschaftsvertrag ist ihm, wo er ihn als Grundlage des Landrechts anerkennt, nicht als historisches Faktum gewiß, sondern als Grundlage der juristischen Konstruktion. In demselben Sinn geht auch Klein von der Vertragslehre aus. Und da das Landrecht positives Recht eines bestimmten Staates ist, so treten zu ihm alle im Lauf seiner Geschichte entstandenen Verträge, erteilten Rechte und Privilegien hinzu. Jedes Rechtsverhältnis, in dem Gemeinschaften gegründet sind, setzt einen Vertrag voraus. Gegenseitige Verpflichtung ist die Grundlage jeder Gemeinschaft, jeder Rechtsbeziehung des einzelnen zu ihr und der einzelnen wie der Gemeinschaften zum Staat. Die Festlegung von Rechtsgrundsätzen für jedes Lebensverhältnis und die Begründung derselben auf eine im Staatszweck festgelegte Beziehung der Rechte auf Pflichten, der Pflichten auf das allgemeine Wohl; dies ist das Ziel, das die Gesetzgeber des Landrechts sich gestellt haben. Der Entwurf selbst enthält in seiner Vorerinnerung eine merkwürdige Anwendung der Lehre vom bürgerlichen Vertrag: die Prüfung der in ihm vorliegenden Gesetzesvorlage durch einen Ausschuß von Kollegien und Ständen und die Annahme durch diesen wird als ein Vertrag zwischen der Krone und den Repräsentanten des Landes aufgefaßt. „Der bürgerliche Vertrag, dieser von den Weltweisen mit menschenfreundlichem Witz erfundene Grund des Gehorsams gegen die Gesetze, wird alsdann etwas mehr sein als eine schöne Hypothese." Darin besteht die historische Bedeutung des Landrechts im Vergleich zu den anderen Gesetzgebungen vor ihm, daß es nicht den konkreten geschichtlichen Verhältnissen gegenüber ein Vernunftrecht geltend macht, sondern die diesem Staat immanente Vernünftigkeit zum Ausdruck bringen will; in ihr ist dann die Regel des Fortschreitens für diesen Staat gegeben. Und wenn es von den Verhältnissen eingeengt, oft hinter dem, was den Gesetzgebern als Ideal vorschwebte, zurückblieb, schon im Entwurf, mehr dann noch in der letzten Redaktion: sie haben doch im hartnäckigen Kampf mit der Regierung Friedrich Wilhelms 11. diesen Grundzug ihrer Gesetzgebung auch auf dem kirchlichen und politischen Gebiet aufrechtzuerhalten gewußt.

Die Vertragstheorie des Naturrechts

Die Lösung dieser Aufgabe ist durch zwei historische Momente bedingt gewesen. Die Maßregeln des friderizianischen Staates waren aus demselben Geiste hervorgegangen, den nun die Gesetzgebung ru zusammenhängendem Bewußtsein erhob. Und der dies Preußen unter Friedrich erfüllende Geist hatte seine begrifflichen Formeln in dem Naturrecht und der Jurisprudenz der Universitäten erhalten. Unter diesem Gesichtspunkt versuchen wir nun das Landrecht selber historisch zu verstehen. Vor allem enthält die Philosophie Wolffs und seiner Schule den Schlüssel für das geschichtliche Verständnis des Ideenzusammenhangs im Landrecht. Das Prinzip der Souveränität und das des allgemeinen Wohls haben sich unabhängig voneinander entwickelt; in dem der Souveränität kommen Beziehungen auf andere Gewalten zur Geltung, welche über den einzelnen Staat und das ihn bestimmende Wohlfahrtsprinzip hinausreichen. So werden in der nachfolgenden Darstellung beide Prinzipien voneinander getrennt; aber die dargelegte Beziehung beider aufeinander, wie sie das Landrecht erfüllt, muß in der Darstellung desselben immer gegenwärtig gehalten werden. Es ist die Beziehung von Rechten und Pflichten der Staatsgewalt als der Macht, die Glieder des Staates durch Zwang zu beherrschen, und des Wohlfahrtsprinzips als des Zwecks, aus dem alle Machtverhältnisse gerechtfertigt werden. 1. DIE SITTLICHKEIT ALS DIE GRUNDLAGE VON RECHT UND STAAT Die juristische Konstruktion von Recht und Staat im Landrecht hat ihren Hintergrund in einem Gedanken, der tief in den Zusammenhang der germanischen und christlichen Ideen zurückgreift. Die Macht ist nicht Besitz sondern Amt. Im Amt aber sind die Rechte an die Pflichten gebunden. Die Obrigkeit besitzt daher ihre Rechte zur Erfüllung ihrer Pflichten. Die sittliche Ordnung ist die Grundlage der Rechtsordnung. Diese Ideen haben im Naturrecht der auf dem Protestantismus begründeten germanischen Nationen überall ihren Ausdruck gefunden. Indem sie nun aber in dem Zeitalter der in ganz Europa sich entwickelnden Selbstherrschaft sich Geltung zu verschaffen suchen, nehmen sie entweder eine oppositionelle Stellung zu dieser Selbstherrschaft ein, oder es entsteht gleichsam ein Vertrag dieser beiden großen Kräfte miteinander. Eine solche Vereinigung konnte nur vollzogen werden, indem die Gegenseitigkeit der Bindung des Volkes und des Fürsten nicht nur die Begründung in der hinter dem Recht liegenden moralischen Ordnung fand, sondern auch die Erzwingbarkeit der Pflichten des Fürsten im wesentlichen innerhalb der

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Das Preußische Naturrecht

in den Formen der Selbstherrschaft regierten Staaten beinah vollständig in die moralisch-religiöse Sphäre ihrer Verantwortlichkeit vor Gott verlegt wurde. Das ist der kritische Punkt in all diesen Systemen: das Problem, in welchem Umfange diese Erzwingbarkeit auf das Recht des Widerstandes des Volkes begründet werden dürfe oder der Verlauf auf Erden der göttlichen Zulassung zu überlassen sei und nur das Bewußtsein des Fürsten von seiner Pflicht und seine Erwartung des göttlichen Richterspruches die Schranke der selbstherrlichen Gewalt sei. Betrachtet man die naturrechtlichen Systeme unter diesem Gesichtspunkt, dann ist doch billig zu erwägen, daß von jeder Verfassungsform unabhängig es einen Punkt gibt, an welchem das Staatsrecht endigt und die Rechtsverhältnisse zwischen dem Fürsten und dem Volke der Machtfrage Platz machen. Unter den verschiedenen Formen, welche die Begründung des öffentlichen Rechtes auf eine sittliche Ordnung in der Aufklärungszeit angenommen hat, ist nun die bedeutsamste diejenige, die in dem Preußen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen sich entwickelt hat und im Landrecht ihren Ausdruck fand. Es ist für dessen Verständnis von entscheidender Bedeutung, sein Verhältnis zu dem Naturrecht festzustellen. Die Sittlichkeit als die Grundlage von Staat und Recht ist bedingt durch die naturrechtliche Ableitung dieser Begriffe aus der menschlichen Vernunft. Von der Reformation ab hatte ein sittlich-religiöses Band zwischen den protestantischen Fürsten und dem Volksganzen wie den einzelnen Untertanen bestanden. Es war von entscheidender Bedeutung, daß damals dies Verhältnis im Naturrecht eine von der Religiosität losgelöste allgemeingültige Grundlage erhalten hat. Thomasius gründet das Verhältnis von Staat und einzelnen auf die natürlichen sittlichen Pflichten, die in dem germanischen Rechtsbewußtsein der deutschen Entwicklung gegeben waren. Und das war von unermeßlichem Einfluß auf die Geschichte des preußischen Rechts, da von der Staatslehre des Thomasius die Herrschaft dieser Vorstellungen auf der Universität Halle ausging. Die Vernunft erfaßt in uns das Gesetz der Natur. In diesem ist eine Bindung gegeben, die dem erzwingbaren Rechte voraufgeht, ja eben in dem Bestand dieser Norm liegt die Voraussetzung für die bindende Kraft des Staatsvertrages. Unter diesen Normen tritt nun auch das oberste Prinzip des Rechts auf: unabhängig vom Staatsvertrag und den aus ihm fließenden erzwingbaren Rechten hat es seine Geltung. Es verbietet allgemein, einem anderen das zu tun, wovon wir nicht wünschen, daß andere es uns tun. In Übereinstimmung mit ihm grenzt das Landrecht die allgemeinen Rechte der Menschen ab.

Naturrechtliche Ableitung des Staates.

Thomasius

Auf allen Lebensgebieten herrschen solche Prinzipien und Normen, unabhängig von der Gesellschaft und ihren Anforderungen und vor derselben. Aber sie sind so vermischt in der Seele des Menschen mit der Torheit, den Einbildungen und den Leidenschaften, daß sie nicht die Kraft haben, den äußeren Frieden aufrechtzuerhalten. So muß durch den Vertrag der Staat geschaffen werden, der durch seine Zwangsgewalt nach innen in der Rechtsordnung und nach außen mit den Mitteln des Krieges und der Politik den Frieden aufrechterhalten kann. Damit realisiert der Staat die Bedingung, deren die Bürger zur Erreichung ihrer Glückseligkeit bedürfen. Diese naturrechtliche Theorie löst wie die von Hobbes und Pufendorf das Staatsrecht los von jeder theologischen Lehre; sie verneint die unmittelbare Übertragung der Staatsgewalt von Gott; sie gründet deren Recht auf die Vernunft: Aber im Sinne der deutschen Aufklärung behauptet sie nach Pufendorf eine natürliche Ordnung der menschlichen Pflichten, die der Staat nicht schafft, sondern auf der er selber beruht und aus der seine Rechtsordnung ihren geistigen Gehalt schöpft. Sie verweltlicht den Staat, indem sie seinen Zweck im äußeren Frieden findet, sie sondert zum ersten Male reinlich die sittliche Bindung von dem erzwingbaren Recht, aber in der sittlichen Ordnung, in der gegenseitigen Verpflichtung erkennt sie das sittliche Band an, welches von altersher in den germanischen Staaten zwischen ihren Gliedern, zwischen der Obrigkeit und den Untertanen bestanden hatte. Und vielleicht das wichtigste, das, was Thomasius am meisten am Herzen lag, in dem moralische Energie, pietistische Neigung und der Wille zur religiösen Freiheit so eigen verbunden waren: diese Theorie ermöglicht die Sphäre der Gewissensfreiheit zu erweitern und das Recht der Staatshoheit zum Schutz der Mitglieder der Kirchen gegen die Eingriffe der geistlichen Gewalt im Sinne der religiösen Freiheit auszudehnen. Thomasius zuerst hat die neue Abgrenzung zwischen den Rechten des Staates, der ihm unterworfenen Personen und der Kirchen vollzogen. Wenn Pufendorf die Grundlage des Staates in einem allgemeinen religiös moralischen Glauben gefunden hatte, der über der Trennung der Konfessionen steht; wenn nun Thomasius erkannt hatte, daß der Staat selbst seit dem ihn konstituierenden Vertrag vom Bestand eines moralisch religiösen Bewußtseins abhängig ist, das an die übernommene Pflicht bindet, so ergaben sich aus der Verbindung dieser Pflicht des Staates mit dem Rechte seiner Untertanen auf Gewissensfreiheit die Sätze : Das Tun und Lassen der Untertanen, das den gemeinen Frieden nicht verhindern noch befördern kann, ist den Rechten eines Fürsten nicht unterworfen. Wissenschaftliche Überzeugung und religiöser Glaube als innerer Zustand eines

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Das Preußische Naturrecht

Menschen unterliegen keiner Inquisition und dürfen nicht mit Strafe belegt werden. Treten sie aber in Lehre und Handlung nach außen, dann findet ihre Duldung eine Grenze an der Störung des äußeren Friedens, und eine solche Störung liegt auch in jedem äußeren Wirken für Lehrmeinungen, welche die gemeinen menschlichen Pflichten aufheben. So ist der Staat nicht verpflichtet, Atheisten auf seinem Gebiet zu dulden. Andererseits darf er sie nicht mit Strafen belegen. Es ist immer der Staatszweck, der die Abgrenzung der Rechte bestimmt. Bei Thomasius ist er prohibitiv: nur Schutz des äußeren und inneren Friedens. Wolff und seine Schule erweitern den Staatszweck ganz außerordentlich. Der Staat soll das allgemeine Wohl befördern, das in der Vollkommenheit aller einzelnen besteht. Die sittliche Pflicht der einzelnen zur Vollkommenheit wird die Richtlinie der staatlichen Fürsorge. So erfaßt das Hallesche Naturrecht Wolffs den Geist polizeilicher Bevormundung, wie er dem Staat Friedrich Wilhelms eigentümlich war. Das öffentliche Wohl verpflichtet jeden einzelnen zum Streben nach eigener Vollkommenheit und Mitarbeit an der Vollkommenheit der anderen. Die Machtvollkommenheit des Staates rechtfertigt sich aus seiner moralischen Verpflichtung im Dienste des allgemeinen Wohls. Und diese moralische Verbindlichkeit setzt er sich selbst als Schranke seiner Macht. Diese Moralgesetze bekommen dadurch eine objektive Gültigkeit. Die Rechtsidee gewinnt eine Selbständigkeit, welche nun den Fortgang zur Idee des Rechtsstaates möglich machte. Die gegenseitige sittliche Bindung zwischen Staat und Untertanen, die jenem die Macht als das Fundament eines Amtes lieh, erwirkt andererseits dem Individuum einen Umkreis von Rechten, die in Korrespondenz zu seinen natürlichen Pflichten stehen. Diese angeborenen Rechte des Individuums sollen ihm den bürgerlichen Rechtsschutz, die Gewissensfreiheit sichern. Schließlich setzte sich die Ausbildung natürlicher Rechte des Individuums in Widerspruch mit der überlieferten Rechtsordnung der ständisch gegliederten Gesellschaft. Sie wirkte nivellierend und bereitete ein allgemeines Staatsbürgerrecht vor. So führte die sittliche Bindung, der sich die Machtfülle des absoluten Staates in diesem Zeitalter der Aufklärung unterwarf, zu einer natürlichen Selbstüberwindung des Absolutismus. Das Landrecht steht nun ganz auf dem ethischen Boden dieses Staatsrechts. In dem Pflichtenverhältnis des einzelnen Individuums ist das moralische Prinzip gegeben, von dem aus das Landrecht konstruiert ist. Am Anfang steht die Pflicht des Individuums zur Vollkommenheit. Sie ist die Grundlage seines natürlichen Rechts, sein eigenes Wohl zu fördern. Dieses Recht wird nur durch die Pflicht gegen die anderen beschränkt: Die allgemeinen Rechte des Menschen

Wolff. Vorrang der Pflichten

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gründen sich auf die natürliche Freiheit, sein eigenes Wohl ohne Kränkung der Rechte eines anderen suchen und befördern zu können. Diese Pflicht gegen die anderen führt von dem Verbot, in die Sphäre der Verwirklichung der Vollkommenheit bei den anderen einzugreifen, weiter zu dem Gebot der Unterstützung der anderen. Auch das Gesetzbuch enthält dies moralische Prinzip der Pflicht der Mitarbeit zum Wohle der anderen. Ein jedes Mitglied des Staates ist das Wohl und die Sicherheit der anderen nach dem Verhältnis seines Standes und Vermögens zu unterstützen verpflichtet. Dies Verhältnis von Pflicht und Recht räumt der Pflicht den Vorrang ein. Es ist die Pflicht, die jeder- Recht erst moralisch begründet. Alle Herrschaftsverhältnisse erhalten den Charakter eines Amtes, (da. ihr Zweck) in die Erfüllung von Pflichten gelegt wird. War dieser Begriff des Amtes im germanischen Recht und im Christentum begründet, so wird er jetzt hiervon gelöst und aus der Vernunft abgeleitet. In dem Staatszweck der Realisierung des Wohles aller sind die Pflichten jedes Amtes vorgezeichnet. Und wenn nun in diesem absoluten Staat diese Aufgabe in letzter Linie vom Selbstherrscher übernommen wird, so wird ihr Inhalt, nämlich der Inbegriff dessen, was zu entwickeln ist, nicht verändert. Der Landesherr hat für Anstalten zu sorgen, wodurch den Einwohnern Mittel und Gelegenheiten verschafft werden, ihre Fähigkeiten und Kräfte auszubilden und dieselben zur Beförderung ihres Wohlstandes anzuwenden. In dieser Übertragung liegt, daß das allgemeine Wohl jedesmal dem besonderen vorangestellt werden darf. Einzelne Rechte und Vorteile der Mitglieder des Staates müssen den Rechten und Pflichten zur Beförderung des gemeinschaftlichen Wohls nachstehen. So findet dadurch eine Einschränkung der Rechte des einzelnen statt. Aber sie ist beschränkt durch den Zweck, den die Übertragung hatte, nämlich die Entwicklung des einzelnen zur Vollkommenheit darf nicht aufgehoben werden. Dies moralische Prinzip sichert dem Individuum eine vom Staat unabhängige Rechtssphäre, ohne die seine sittliche Freiheit und Selbstbestimmung undenkbar wäre: Das Gewissen ist frei! Die Anerkennung der Gewissensfreiheit ist eine Frucht des Kampfes um das weltliche Kirchenregiment, das die Toleranz gegen die Konfessionen bedingte, eine Entwicklung, von der im Rahmen der Souveränität die Rede sein wird. Das Landrecht ist erfüllt von dem Bestreben, die Gewissensfreiheit auf eine gesetzliche Grundlage zu stellen. Sein kirchenrechtlicher Abschnitt beginnt mit den Sätzen: „Die Begriffe der Einwohner des Staates von Gott und göttlichen Dingen, der Glaube, und der innere Gottesdienst können kein Gegenstand von

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Das Preußische Naturrecht

Zwangsgesetzen sein." „Jedem Einwohner im Staate muß eine vollkommene Glaubens- und Gewissensfreiheit gestattet werden", § 1 , 2 . Über die Privatmeinung seiner Untertanen in Religionssachen darf der Staat keine Vorschrift geben, er kann keine Angabe darüber fordern, zu welcher Religionspartei jemand sich bekenne, sofern nicht die Gültigkeit gewisser bürgerlicher Handlungen davon abhängt, und nur Unfähigkeit zu diesen und was aus ihr sich ergibt, darf aus dem Geständnis abweichender Meinungen folgen. Hiermit ist dem Individuum, dem Naturrechte entsprechend, persönliche religiöse Freiheit als eine unantastbare Rechtssphäre gesichert, in welche keine inquisitorische Frage und kein Strafrecht dringen darf. Auch ist jedem Hausvater sein häuslicher Gottesdienst frei überlassen. Sobald nun aber Religiosität und Gottesverehrung in öffentlichem Gottesdienst nach außen tritt, machen die Beschränkungen sich geltend, welche das Landrecht, dem geschichtlich bedingten Tatbestand entsprechend, in der Zulassung und Privilegierung den Kirchengemeinschaften zum Gottesdienst gelassen hat. Aber darin liegt nun sein bedeutsamer Fortschritt: es bindet diese nur an die Regel des allgemeinen Wohles, die Anwendung dieser Regel auf den einzelnen Fall ist offen, und so hatte die Entwicklung zu völliger Gewissensfreiheit in diesem Punkte freie Bahn,