Faktoren des verlässlichen Handelns : Leistungspotenziale von Organisationen in Hochrisikoumwelten 9783835054363, 3835054368 [PDF]


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Faktoren des verlässlichen Handelns : Leistungspotenziale von Organisationen in Hochrisikoumwelten
 9783835054363, 3835054368 [PDF]

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Zitiervorschau

Peter Mistele Faktoren des verlässlichen Handelns

GABLER EDITION WISSENSCHAFT

Peter Mistele

Faktoren des verlässlichen Handelns Leistungspotenziale von Organisationen in Hochrisikoumwelten

Mit einem Geleitwort von Prof. Dr. Peter Pawlowsky

Deutscher Universitäts-Verlag

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Dissertation Techn. Universität Chemnitz, 2007

1. Auflage September 2007 Alle Rechte vorbehalten © Deutscher Universitäts-Verlag | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Frauke Schindler / Stefanie Brich Der Deutsche Universitäts-Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.duv.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Regine Zimmer, Dipl.-Designerin, Frankfurt/Main Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8350-0867-0

Geleitwort Mit Blick auf einen besonderen Typus von Hochleistungsorganisationen fragt Peter Mistele im Rahmen seiner Arbeit nach den Determinanten dieser Organisationsleistungen. Im Fokus stehen hier Organisationen, die aufgrund ihrer Anforderungen und Leistungsziele besonders verlässlich agieren müssen und in spezifischen Einsatzsituationen konfrontiert sind mit hoher Dynamik, Zeit- und Entscheidungsdruck, Intransparenz der Entscheidungssituation, Stress und Eigengefahr. In der Organisations-, sozialpsychologischen und arbeitswissenschaftlichen Forschung wurden bisher unterschiedliche Organisationstypen analysiert. Im Vordergrund standen bisher entweder hochkomplexe technische Systeme mit hoher Fehleranfälligkeit (z. B. Flugzeugträger), Organisationen, die mit der Handhabung von hochgefährlichen Produkten und Prozessen (Atom- und bestimmte Bereiche der chemischen Industrie) befasst sind, Dienstleistungen, die gesundheits- und lebenserhaltende Funktion haben, wie etwa das mobile Rettungswesen und medizinische Notfallteams, sowie komplexe technische und soziale Systemfunktionen, die von unterschiedlichen Akteuren entlang einer Prozesskette verantwortet werden, wie z. B. die Flugsicherheit. Die Forschung zu den Bedingungen einer erfolgreichen Handhabung solcher Systeme befasst sich mit intraindividuellen Merkmalen der Akteure, den Spezifika der Interaktion und gruppendynamischen Einflussfaktoren sowie den technischen und sozialen Konstruktionsmerkmalen der Systeme, wobei auch in dieser Forschungstradition, ähnlich wie in der generellen Managementlehre, zunächst ein mechanistisches, technisches Bewältigungsszenario von Fehlerursachen dominierte und allmählich die verhaltenswissenschaftlichen Faktoren erkannt und in die Konzepte einbezogen wurden. Peter Mistele beschreibt diese Forschungszweige – High Risk-, High Reliability-, Human Factors Crew Resource Management und Naturalistic Decision Making – und verbindet die bisherigen Erkenntnisse in einem synthetischen Modell der Determinanten von Hochverlässlichkeit. Damit beansprucht der Autor sowohl einen theoretisch-konzeptionellen Beitrag zur Hochverlässlichkeitsforschung, der im Rahmen einer qualitativen empirischen Exploration von Hochverlässlichkeitsorganisationen verdichtet wird. Dem Autor ist es gelungen, eine neuere, bislang wenig transparente und in ihren wechselseitigen Bezügen unklare Forschungsrichtung systematisch aufzuarbeiten und in ein Modell zu integrieren, das als Grundlage der Hochverlässlichkeitsforschung dienen kann. Ohne sich in Details dieser Forschung zu verlieren, kristallisiert Peter Mistele die wichtigsten Defizite und Entwicklungsbedarfe aus dieser Forschung heraus und generiert mit seiner Arbeit eine empirisch gestützte Empfehlung für das Management von Hochrisiko- und Hochverlässlichkeitsorganisationen. Dieses Buch dürfte damit über die engere Scientific Community hinausgehend auch für alle Leser von Interesse sein, die einen kompetenten Einblick in dieses aktuelle Forschungsfeld bekommen möchten. Univ.-Prof. Dr. Peter Pawlowsky

Vorwort Die Fähigkeit, erfolgreich im Sinn der jeweiligen Zielstellung zu handeln, so zeigt die hier vorliegende Arbeit, hängt von ganz unterschiedlichen Faktoren ab. Diese greifen ineinander, beeinflussen sich wechselseitig und tragen gemeinsam zum jeweiligen Erfolg bei. Ähnlich verhält es sich beim Verfassen einer Dissertation. Obwohl als Einzelaufgabe angelegt, kann diese Arbeit nur erfolgreich bewältigt werden, wenn verschiedene „Faktoren“ den Autor bei seinem Vorhaben (bewusst oder unbewusst) unterstützen und ihn zu einem fortwährenden, zielorientierten Handeln motivieren. Daher möchte ich mich vorab bei allen Menschen, die mich bei dieser Arbeit unterstützt haben, recht herzlich bedanken. Ein besonderer Dank gilt Professor Dr. Peter Pawlowsky, der mein Interesse für das Thema Hochleistung geweckt und die vorliegende Arbeit betreut und gefördert hat. Ich danke ihm für die Möglichkeit, als Mitarbeiter an seiner Forschungsstelle für organisationale Kompetenz und Strategie (FOKUS) ein in Deutschland bisher wenig beforschtes Gebiet zu erkunden. Bei Professorin Dr. Uta Wilkens möchte ich mich für ihre Gesprächsbereitschaft – auch während ihres Urlaubs – und ihre wertvollen und motivierenden Hinweise sowie die schnelle Übernahme des Zweitgutachtens bedanken. Privatdozent Dr. Thomas Steger stand mir trotz Junior- und Vertretungsprofessur sowie Vaterfreuden jederzeit als geduldiger und wertvoller Gesprächspartner zur Verfügung und hat als Drittgutachter diese Arbeit bewertet. Hierfür möchte ich mich herzlich bei ihm bedanken. Ebenfalls bedanken möchte ich mich bei Professor Dr. Ludwig Gramlich, der mit seiner ruhigen und freundlichen Art den Vorsitz des Promotionsausschusses übernommen hat. Ein weiterer Dank gebührt meinen Kollegen und den Koordinatoren des Graduiertennetzwerks „Lernkultur und Kompetenzentwicklung“ der ABWF e. V. sowie meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen des Lehrstuhls Personal und Führung und der Forschungsstelle für die wertvollen Diskussionen und Kommentare. Besonders hervorheben möchte ich dabei Dipl.-Hdl. Silke Geithner und Dipl.-Soz. Veronika Krüger. In kritischen Zeiten, in denen ich an meine Grenzen stieß und Probleme besprechen musste, fand ich bei ihnen jederzeit ein offenes Ohr. Durch die immer konstruktiven und ermutigenden Diskussionen haben sie einen großen Anteil am Gelingen dieser Arbeit. Herzlichen Dank Euch beiden! Auch Dipl.-Soz. Daniela Menzel und Dipl.-Soz. u. MSc. Stephan Hauptmann möchte ich für ihre dezidierte und kritische Auseinandersetzung mit dem Manuskript recht herzlich danken. Ohne die Mitwirkung der Interviewpartner in den verschiedenen betrachteten Organisationen wäre diese Arbeit nicht möglich gewesen. Mit ihren intensiven, offenen und angenehmen Gesprächen ermöglichten sie wertvolle Einblicke in Organisationen in Hochrisikoumwelten. Hierfür sei allen Gesprächspartnern herzlich gedankt. Insbesondere möchte ich mich nament-

VIII

Vorwort

lich bei Markus Haid und Jürgen von Massenbach-Bardt bedanken, ohne die der Zugang zu einigen der untersuchten Organisationen wesentlich schwerer ausgefallen wäre. Nicht zuletzt gebührt ein sehr großer Dank meiner Familie und meinen Freunden. Sie haben mich stets – auch über räumliche Distanzen hinweg – moralisch gestützt und motiviert. Sie haben dafür gesorgt, dass die wenige Zeit, die wir gemeinsam verbrachten, für mich „Freizeit“ war, in der ich wieder den notwendigen Abstand zu meiner Arbeit bekommen konnte. Damit haben sie einen gewichtigen Anteil am Gelingen dieser Arbeit. Außerordentlich dankbar bin ich meinen lieben Eltern. Sie haben mich nicht nur durch ihre Werte wesentlich geprägt, sondern auch stets an mich geglaubt und mich moralisch sowie finanziell auf meinem bisherigen Weg unterstützt. Ihnen widme ich in Dankbarkeit diese Arbeit. Peter Mistele

Inhaltsübersicht Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................ XIII Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................... XVII Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................ XIX Tabellenverzeichnis ............................................................................................................. XXI

Teil A:Hintergrund und Perspektive der Arbeit................................................................... 1 1

Einleitung ...................................................................................................................... 1 1.1

Ausgangssituation ......................................................................................................... 1

1.2

Zielstellung der Arbeit .................................................................................................. 6

1.3

Forschungsverständnis der Arbeit ................................................................................. 7

1.4

Gang der Arbeit ............................................................................................................. 8

2

Bereiche und Perspektiven der Hochleistungsforschung ....................................... 11 2.1

Der Hochleistungsbegriff ............................................................................................ 11

2.2

Bereiche von Hochleistung ......................................................................................... 13

2.3

Perspektiven und Gestaltungsebenen der Hochleistung ............................................. 19

2.4

Resümee: Verlässlichkeitsorientierte Hochleistungsforschung .................................. 21

Teil B: Theoretische Grundlagen der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung ............................................................................................. 23 3

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen .................................................................. 25 3.1

Betrachtete Organisationen ......................................................................................... 25

3.2

Handlungsbeeinflussende Kontextfaktoren ................................................................ 33

3.3

Erkenntnisinteresse: Zuverlässiges Handeln ............................................................... 37

3.4

Forschungen zu High Reliability ................................................................................ 48

3.5

Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management .................................. 62

3.6

Zwischenbetrachtung: Verlässlichkeitsorientierte Forschungen ................................ 89

X

Inhaltsübersicht

Teil C: Empirische Untersuchung ........................................................................................ 99 4

Untersuchte Organisationen.................................................................................... 101 4.1

Medizinische Rettungsdienste................................................................................... 103

4.2

Spezialeinheiten der Polizei ...................................................................................... 104

4.3

Feuerwehreinheiten ................................................................................................... 106

5

Methodik der explorativen Untersuchung ............................................................. 109 5.1

Methode der Datenerhebung ..................................................................................... 110

5.2

Inhaltliche Ausgestaltung der Datenerhebung .......................................................... 112

5.3

Probleme der Datenerhebung .................................................................................... 114

5.4

Vorgehen der Datenauswertung ................................................................................ 115

6

Situative Handlungsbedingungen der untersuchten Organisationen ................. 119 6.1

Handeln in Einsatzsituationen ................................................................................... 119

6.2

Dynamische Umweltsituationen ............................................................................... 120

6.3

Zeit- und Entscheidungsdruck .................................................................................. 121

6.4

Intransparente Einsatzlagen ...................................................................................... 122

6.5

Suboptimale Informationsversorgung ....................................................................... 122

6.6

Stress ......................................................................................................................... 124

6.7

Hohe Eigengefahr ..................................................................................................... 127

6.8

Resümee: Situative Handlungsbedingungen der untersuchten Organisationen .......................................................................................................... 127

7

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen ...... 131 7.1

Ziele .......................................................................................................................... 131

7.2

Teamhandeln ............................................................................................................. 137

7.3

Offenheit ................................................................................................................... 142

7.4

Erfahrungsbasiertes Lernen....................................................................................... 145

7.5

Struktur und Führung ................................................................................................ 154

7.6

Rollenkonzept ........................................................................................................... 158

7.7

Fachliche Kompetenzen ............................................................................................ 161

7.8

Wahrnehmung ........................................................................................................... 166

7.9

Motivation und organisationales Commitment ......................................................... 170

7.10 Ergebniszusammenfassung und -diskussion ............................................................. 174

Inhaltsübersicht

XI

Teil D: Lernen in den untersuchten Organisationen ........................................................ 185 8

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz............................................................................................... 187 8.1

Die Fähigkeit, kompetent zu handeln ....................................................................... 187

8.2

Das Konzept des arbeitsbezogenen Lernens ............................................................. 188

8.3

Einsatzbezogenes Lernen in den untersuchten Organisationen ................................ 201

8.4

Resümee: Einsatzbezogenes Lernen zum Erwerb von Handlungskompetenz ................................................................................................ 209

9

Zusammenfassung und Ausblick ............................................................................ 213 9.1

Zusammenfassung ..................................................................................................... 213

9.2

Ausblick .................................................................................................................... 218

Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 223 

Inhaltsverzeichnis Inhaltsverzeichnis ................................................................................................................ XIII Abkürzungsverzeichnis ..................................................................................................... XVII Abbildungsverzeichnis ........................................................................................................ XIX Tabellenverzeichnis ............................................................................................................. XXI

Teil A:Hintergrund und Perspektive der Arbeit................................................................... 1 1

Einleitung ...................................................................................................................... 1 1.1

Ausgangssituation ......................................................................................................... 1

1.2

Zielstellung der Arbeit .................................................................................................. 6

1.3

Forschungsverständnis der Arbeit ................................................................................. 7

1.4

Gang der Arbeit ............................................................................................................. 8

2

Bereiche und Perspektiven der Hochleistungsforschung ....................................... 11 2.1

Der Hochleistungsbegriff ............................................................................................ 11

2.2

Bereiche von Hochleistung ......................................................................................... 13

2.2.1 Hochleistungsorganisationen ................................................................................ 13 2.2.2 High Performance Work Systems ......................................................................... 14 2.2.3 Dynamikrobuste Höchstleister .............................................................................. 15 2.2.4 Hochleistungsteams ............................................................................................... 16 2.3

Perspektiven und Gestaltungsebenen der Hochleistung ............................................. 19

2.4

Resümee: Verlässlichkeitsorientierte Hochleistungsforschung .................................. 21

Teil B: Theoretische Grundlagen der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung ............................................................................................. 23 3

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen .................................................................. 25 3.1

Betrachtete Organisationen ......................................................................................... 25

3.1.1 Organisationen in Hochrisikoumwelten ................................................................ 25 3.1.2 Hochverlässlichkeitsorganisationen ...................................................................... 30 3.2

Handlungsbeeinflussende Kontextfaktoren ................................................................ 33

3.3

Erkenntnisinteresse: Zuverlässiges Handeln ............................................................... 37

3.3.1 Zuverlässigkeit im Sinn von Sicherheit ................................................................ 37 3.3.2 Fehler und Fehlermanagement .............................................................................. 40

XIV

Inhaltsverzeichnis

3.4

Forschungen zu High Reliability ................................................................................ 48

3.4.1 Entstehungshintergrund, Begriff und Ziel ............................................................. 49 3.4.2 Verlässlichkeitsbeeinflussende Merkmale: Das Konzept der gemeinsamen Achtsamkeit ........................................................................................................... 53 3.4.3 Resümee: Forschungen zu High Reliability .......................................................... 61 3.5

Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management .................................. 62

3.5.1 Entstehungshintergrund, Begriff und Ziel ............................................................. 63 3.5.2 Anwendungsbereiche des Crew Resource Management ...................................... 68 3.5.3 Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren: Nicht-fachliche Fähigkeiten ............... 74 3.5.4 Berücksichtigung des Naturalistic Decision Making ............................................ 77 3.5.5 Crew Resource Management-Training: Grundkonzeption ................................... 85 3.5.6 Resümee: Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management............ 87 3.6

Zwischenbetrachtung: Verlässlichkeitsorientierte Forschungen ................................ 89

3.6.1 Faktoren des verlässlichen Handelns .................................................................... 89 3.6.2 Erklärungsdefizit Lernen ....................................................................................... 93

Teil C: Empirische Untersuchung ........................................................................................ 99 4

Untersuchte Organisationen.................................................................................... 101 4.1

Medizinische Rettungsdienste................................................................................... 103

4.2

Spezialeinheiten der Polizei ...................................................................................... 104

4.3

Feuerwehreinheiten ................................................................................................... 106

5

Methodik der explorativen Untersuchung ............................................................. 109 5.1

Methode der Datenerhebung ..................................................................................... 110

5.2

Inhaltliche Ausgestaltung der Datenerhebung .......................................................... 112

5.3

Probleme der Datenerhebung .................................................................................... 114

5.4

Vorgehen der Datenauswertung ................................................................................ 115

6

Situative Handlungsbedingungen der untersuchten Organisationen ................. 119 6.1

Handeln in Einsatzsituationen ................................................................................... 119

6.2

Dynamische Umweltsituationen ............................................................................... 120

6.3

Zeit- und Entscheidungsdruck .................................................................................. 121

6.4

Intransparente Einsatzlagen ...................................................................................... 122

6.5

Suboptimale Informationsversorgung ....................................................................... 122

6.6

Stress ......................................................................................................................... 124

6.7

Hohe Eigengefahr ..................................................................................................... 127

Inhaltsverzeichnis

6.8 7

XV

Resümee: Situative Handlungsbedingungen der untersuchten Organisationen .......................................................................................................... 127 Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen ...... 131

7.1

Ziele .......................................................................................................................... 131

7.1.1 „Unklare Ziele – trifft eher nicht zu“ .................................................................. 131 7.1.2 Gemeinsame Zielwahrnehmung und Zielorientierung ........................................ 135 7.2

Teamhandeln ............................................................................................................. 137

7.2.1 Das Team als „Trumpf-As“................................................................................. 137 7.2.2 Handeln im Team ................................................................................................ 141 7.3

Offenheit ................................................................................................................... 142

7.3.1 „Einsatzerfahrung […] preiszugeben, ist bei uns eine Lebensversicherung“ .... 142 7.3.2 Offenheit im Umgang mit Erfahrungen und Fehlern .......................................... 145 7.4

Erfahrungsbasiertes Lernen....................................................................................... 145

7.4.1 „Es ist wichtig, dass man sich bespricht“ ............................................................ 145 7.4.2 Ausgeprägte Reflexionsprozesse im Rahmen der Einsatznachbereitungen ........ 150 7.5

Struktur und Führung ................................................................................................ 154

7.5.1 „Die Einsatzhierarchie ist eine ganz andere als die administrative“ ................... 154 7.5.2 Flexible Einsatzorganisation und Führung .......................................................... 156 7.6

Rollenkonzept ........................................................................................................... 158

7.6.1 „Es gibt eine ganz klare Rollenverteilung“ ........................................................ 158 7.6.2 Akzeptiertes Rollenkonzept ................................................................................ 160 7.7

Fachliche Kompetenzen ............................................................................................ 161

7.7.1 „Das Basiswissen ist unerlässlich“ ...................................................................... 161 7.7.2 Redundante fachliche Kenntnisse und Fähigkeiten ............................................ 164 7.8

Wahrnehmung ........................................................................................................... 166

7.8.1 „Wahrnehmung spielt eine ganz große Rolle bei uns“ ....................................... 166 7.8.2 Ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit ................................................................ 167 7.9

Motivation und organisationales Commitment ......................................................... 170

7.9.1 „Es war schon ein Kindheitstraum…“ ............................................................... 170 7.9.2 Hohe Motivation und Einsatzbereitschaft ........................................................... 172 7.10 Ergebniszusammenfassung und -diskussion ............................................................. 174 7.10.1 Teambezogene Faktoren ..................................................................................... 176 7.10.2 Strukturelle Faktoren ........................................................................................... 178 7.10.3 Personenbezogene Faktoren ................................................................................ 178 7.10.4 Ganzheitliche Betrachtung der Faktoren ............................................................. 180

XVI

Inhaltsverzeichnis

Teil D: Lernen in den untersuchten Organisationen ........................................................ 185 8

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz............................................................................................... 187 8.1

Die Fähigkeit, kompetent zu handeln ....................................................................... 187

8.2

Das Konzept des arbeitsbezogenen Lernens ............................................................. 188

8.2.1 Arbeitsbezogene Lernformen .............................................................................. 191 8.2.2 Arbeitsbezogene Lerntypen................................................................................. 197 8.2.3 Resümee: Arbeitsbezogenes Lernen ................................................................... 200 8.3

Einsatzbezogenes Lernen in den untersuchten Organisationen ................................ 201

8.3.1 Lernräume des einsatzbezogenen Lernens .......................................................... 201 8.3.2 Einsatzbezogene Lernformen .............................................................................. 203 8.3.3 Einsatzbezogene Lerntypen................................................................................. 205 8.4 9

Resümee: Einsatzbezogenes Lernen zum Erwerb von Handlungskompetenz ................................................................................................ 209 Zusammenfassung und Ausblick ............................................................................ 213

9.1

Zusammenfassung ..................................................................................................... 213

9.2

Ausblick .................................................................................................................... 218

Literaturverzeichnis ............................................................................................................. 223

Abkürzungsverzeichnis AAR

After Action Review

ACT

Air Crew Coordination Training

BWL

Betriebswirtschaftslehre

CRM

Crew Resource Management

ELT

Experiential Learning Theory

ENB

Einsatznachbereitung

FuE

Forschung und Entwicklung

GIHRE

Group Interaction in High Risk Environments

Hdl.

Handelslehrer(in)

HL

Hochleistung

HRO

High Reliability Organization dt.: Hochverlässlichkeitsorganisation(en)

HRT

High Reliability Theory

HWPS

High Performance Work System

ISO

International Organization for Standardization

JARTEL

Joint Aviation Requirements – Translation and Elaboration of Legislation

Kfz

Kraftfahrzeug

LOFT

Line Orientated Flight Training

LOSA

Line Orientated Safety Audit

MEK

Mobiles Einsatzkommando

NASA

National Aeronautics and Space Administration (nationale Luft- und Raumfahrtbehörde der USA)

NAT

Normal Accident Theory

NDM

Naturalisitc Decision Making dt.: Entscheiden in realen Umweltsituationen

NONTECHS Non-Technical Skills OP

Operationssaal

PG&E

Pacific Gas and Electric Company (US-amerik. Energiekonzern)

RD

Rettungsdienst

REFA

Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung (seit 1995: REFA Verbund für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung)

XVIII

Abkürzungsverzeichnis

RPD

Recognition Primed Decision

RTW

Rettungswagen

SEG

Spezialeinsatzgruppe

SEK

Spezialeinsatzkommando

SEP

Spezialeinheiten der Polizei

TDM

Team Decision Making

TMS

Transactive Memory System

US

United States

USS

United States Ship (Namenspräfix von US-Kriegsschiffen)

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1:  Gang der Arbeit ................................................................................................ 10 Abbildung 2:  Die Teamleistungskurve ................................................................................... 18 Abbildung 3:  Das Verhältnis von Verlässlichkeit und technologischem Risiko .................... 29 Abbildung 4:  Wirkung von Fehlern ........................................................................................ 41 Abbildung 5:  Systemcharakter der Entstehung von Unfällen ................................................ 42 Abbildung 6:  Klassifikation von Fehlern................................................................................ 46 Abbildung 7:  Begegnungsmöglichkeiten von Fehlern ........................................................... 47 Abbildung 8:  Das Konzept der gemeinsamen Achtsamkeit ................................................... 60 Abbildung 9:  Das Konzept der Achtsamkeit und die Möglichkeiten des Fehlermanagements .......................................................................................... 62 Abbildung 10:Prozess der Mustererkennung und der mentalen Simulation im Rahmen der erkenntnisgesteuerten Entscheidungsfindung ............................................ 81 Abbildung 11:Varianten des RPD-Modells ............................................................................. 83 Abbildung 12:Phasen des Crew Resource Management-Trainings ........................................ 86 Abbildung 13:Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der Human Factors/ Crew Resource Management-Forschungen ...................................................... 88 Abbildung 14:Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten..................................................................................... 91 Abbildung 15:Drei Phasen des Einsatzablaufes .................................................................... 120 Abbildung 16:Situative Handlungsbedingungen der betrachteten Organisationen ............... 128 Abbildung 17:Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen ... 176 Abbildung 18:Prozessmodell des Einsatzhandelns................................................................ 180 Abbildung 19:Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten (ergänzt) ................................................................... 183 Abbildung 20:Formen arbeitsbezogenen Lernens ................................................................. 192 Abbildung 21:Lernzirkel nach Kolb ...................................................................................... 195 Abbildung 22:Modell des einsatzbezogenen Lernens ........................................................... 205 

Tabellenverzeichnis Tabelle 1: 

Verschiedene Definitionen von Organisationen in Hochrisikoumwelten ........ 27

Tabelle 2: 

Klassifikation von Organisationen in Hochrisikoumwelten ............................. 28

Tabelle 3: 

Kontextfaktoren des Handelns von Organisationen in Hochrisikoumwelten .. 36

Tabelle 4: 

Gegenüberstellung Normal Accident Theory und High Reliability Theory .... 52

Tabelle 5: 

Verlässlichkeitsbeeinflussende Merkmale der Hochverlässlichkeits forschungen ...................................................................................................... 54

Tabelle 6: 

Verschiedene Bereiche der Human Factors/CRM-Forschung ......................... 73

Tabelle 7: 

Kategorien der nicht-fachlichen Fähigkeiten ................................................... 77

Tabelle 8: 

Überblick Interviewpartner............................................................................. 102

Tabelle 9: 

Themenaspekte der empirischen Erhebung .................................................... 113

Tabelle 10:  Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der betrachteten Organisationen.... 175 Tabelle 11:  Typen arbeitsbezogenen Lernens ................................................................... 197 Tabelle 12:  Einsatzbezogene Lerntypen ............................................................................ 210

Teil A: Hintergrund und Perspektive der Arbeit 1

Einleitung

1.1 Ausgangssituation Organisationen, seien es z. B. Softwareunternehmen, Automobilhersteller, Energiekonzerne, Krankenhäuser oder Einheiten der Polizei, sind heute zunehmend mit unbestimmten und dynamischen Umwelten konfrontiert. Ihre Mitglieder müssen häufig in neuen und unbekannten Situationen weitreichende Entscheidungen treffen. Hierfür fehlen oft die notwendigen Informationen. Erschwerend kommen Stress und Zeitdruck hinzu (vgl. zu diesen Handlungsbedingungen z. B. Sutcliffe und Weber 2003:68; St. Pierre et al. 2005:5; Böhle 2004:37; Hofrage und Reimer 2004; Dörner und Schaub 1995:35; Strohschneider 2003:V). Gleichzeitig wird von den Organisationen und ihren Mitglieder erwartet, dass sie eine zuverlässige Leistung im Hinblick auf die jeweiligen Zielstellungen erbringen und sich nicht durch unerwartete Situationsveränderungen, die durch die hohe Umweltdynamik hervorgerufen werden, in ihrer Handlungs- und Leistungsfähigkeit beeinträchtigen lassen (vgl. Gray 2003:3). Insbesondere Organisationen wie Kernkraftwerke, petrochemische Unternehmen, zivile Luftfahrt, medizinische Einrichtungen oder Spezialeinheiten der Polizei, zählen zu Organisationen, die in sog. Hochrisikoumwelten (high risk environments) agieren. Das sind Umwelten, in denen Fehler zu einer überdurchschnittlichen Gefahr für die Gesundheit und das Leben von Menschen oder Gefahren für die Umwelt führen (vgl. Dietrich und Childress 2004b:1). Diese Organisationen sind bisweilen mit unvorhergesehenen Situationen konfrontiert, in denen sie handeln müssen. Von ihnen wird erwartet, dass sie den ihnen gestellten Herausforderungen gewachsen sind, möglichst keine Fehler machen und zuverlässig arbeiten. Begründet liegt dies darin, dass Fehler in diesen Organisationen Zwischenfälle oder Unfälle nach sich ziehen, die katastrophale Folgen für Mensch und Umwelt haben, wie z. B. der Unfall von Tschernobyl im Jahr 1986 zeigt (vgl. Helmreich und Sexton 2004:15). Menschen sind jedoch nicht unfehlbar. Selbst den besten Experten und erfahrensten Menschen unterlaufen mitunter Fehler, die in der Folge zu weitreichenden Konsequenzen führen können (vgl. Reason 1997:61; 2000a:768; St. Pierre et al. 2005:6). Untersuchungen von Organisationen in Hochrisikoumwelten, u. a. in der Luftfahrt, der Handelsschifffahrt oder dem medizinischen Bereich, zeigen, dass über 70 Prozent von Zwischenfällen und Unfällen auf menschliches Versagen zurückzuführen sind (vgl. z. B. Helmreich und Foushee 1993; Flin 1995; Helmreich 1997; Klampfer et al. 2000; Hansis und Hart 2001; Helmreich et al. 2001; St. Pierre et al. 2005). Interessanterweise gelingt es manchen dieser Organisationen in Hochrisikoumwelten, trotz der individuellen Fehlbarkeit und der unbestimmten und dynamischen Umweltsituationen zuverlässig und leistungsfähig zu arbeiten und die an sie gestellten Erwar-

2

Kapitel 1

tungen zu erfüllen. Obwohl diese Organisationen häufig mit kritischen Situationen1 konfrontiert sind, in denen sie unter Zeitdruck entscheiden, handeln und ein hohes Leistungsniveau aufrechterhalten müssen, sind sie in der Lage, überwiegend mit einem geringen Fehleraufkommen zuverlässig zu agieren und die an sie gestellten Erwartungen zu erfüllen (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:30; Roberts 1990a:101; Vogus und Welbourne 2003:878). Ausgehend von dieser Tatsache stellen sich die forschungsleitenden Fragen: Wie gelingt es Organisationen in Hochrisikoumwelten, diese Leistungsfähigkeit im Sinn eines sicheren und zuverlässigen Handelns zu erzielen? Lassen sich hierfür bestimmte Faktoren identifizieren? Zeigen sich ggf. bestimmte Muster und Gemeinsamkeiten hinsichtlich der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren dieser Organisationen? Auf der Suche nach Antworten auf diese Fragen bieten sich vor allem wissenschaftliche Arbeiten an, die sich intensiv mit der (Hoch-)Leistungsfähigkeit von Organisationen auseinandersetzen. Dabei zeigt sich jedoch, dass die meisten empirischen und theoretischen Untersuchungen vorwiegend Profitorganisationen zum Gegenstand haben, die nicht in Hochrisikoumwelten agieren, wie z. B. Banken, Versicherungen, Handels- oder Industrieunternehmen (ein Überblick findet sich z. B. bei Kirby 2005). Die Leistungsziele dieser Organisationen richten sich dabei in den wenigsten Fällen auf Verlässlichkeit im Sinn von Sicherheit, sondern orientieren sich vielmehr an ökonomischen Aspekten, wie Gewinnmaximierung, Umsatzsteigerung oder Verbesserung der Wettbewerbsposition. Neben diesen Arbeiten existiert jedoch auch eine kleine Anzahl von Publikationen, die sich explizit mit der Leistungsfähigkeit im Sinne des Aufbaus und Erhalts von Verlässlichkeit und Sicherheit von Organisationen in Hochrisikoumwelten beschäftigen. Diese Arbeiten werden hier als verlässlichkeitsorientierte (Hochleistungs-)Forschungen bezeichnet und entstammen zumeist dem Bereich der Fehler- und Unfallforschung. Hierzu zählen Arbeiten zur High Reliability-Forschung (vgl. z. B. Roberts 1990a; 1990b; La Porte und Rochlin 1994; Weick et al. 1999; Weick und Sutcliffe 2003), Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management (CRM) (vgl. z. B. Helmreich und Foushee 1993; Helmreich et al. 1993; Thomas et al. 2003; Flin 1995; Flin und Maran 2004) oder dem Fehlermanagement (vgl. z. B. Hollnagel 2004; Reason 1993; 1994; 1997). Angesichts der Problemstellung wird in ihnen ein hohes Potenzial gesehen, wenn es um die Beantwortung der forschungsleitenden Fragestellungen nach den verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten geht. Die High Reliability-Forschungen und die daraus entstandene High Reliability Theory (HRT) (vgl. z. B. Roberts 1990a; 1990b; La Porte und Rochlin 1994; Weick und Sutcliffe 2003) sehen vor allem in der Verknüpfung von technischen, strukturellen und personenbezogenen Merkmalen eine Möglichkeit, mit unerwartet aufgetretenen Situationen adäquat umzu

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Kritische Situationen können dabei als zeitlich abgrenzbare Phasen verstanden werden, in denen Faktoren wirken, welche die Entwicklung des Gesamtprozesses wesentlich zum Positiven oder Negativen beeinflussen (vgl. Strohschneider 2003:vi).

Einleitung

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gehen. Insbesondere wird dabei dem Konzept der gemeinsamen Achtsamkeit (Collective Mindfulness2) eine hohe Bedeutung beigemessen und als Ursache für das verlässliche Handeln der Organisationen in unerwarteten Situationen gesehen (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:22). Achtsamkeit meint dabei eine grundlegende mentale Haltung und Denkweise, die es Organisationen auch in unvorhergesehenen Situationen erlaubt, flexibel und situationsangepasst zu handeln (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:15). Die Erkenntnisse der High Reliability Theory stützen sich dabei überwiegend auf Untersuchungen von sog. Hochverlässlichkeitsorganisationen (High Reliability Organizations [HRO])3 (vgl. La Porte 1996:61; Rochlin 1996:56). Hierunter ist eine Untergruppe der Organisationen in Hochrisikoumwelten zu verstehen, die technologisch komplex sind und unter ingenieurtechnischen Gesichtspunkten wegen ihrer eingesetzten Technologien als gefährlich angesehen werden (vgl. Perrow 1992:15; Roberts 1990b; Sagan 2004:15). Eine Hochverlässlichkeitsorganisation wird definiert als Organisation „in which errors can have catastrophic outcomes, but which conducts relatively error free operations over a long period of time, making consistently good decisions, resulting in high quality and reliability operations“ (Bourrier 2005:94). Flugsicherung, atomar getriebene Flugzeugträger sowie Kernkraftwerke zählen bspw. zu dieser Art von Organisationen (vgl. z. B. Roberts 1990a:102f.; Mannarelli et al. 1996:84; Rochlin 1996:55; Bourrier 2005:93). Die in der zivilen Luftfahrt wurzelnden Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management zielen ebenfalls darauf ab, Sicherheit und Verlässlichkeit von Organisationen in Hochrisikoumwelten zu erhalten und zu verbessern. Dabei fokussieren sie hauptsächlich die personenbezogenen nicht-fachlichen Fähigkeiten von Mitarbeitern und Teams, wie Kommunikations-, Führungs-, Situationswahrnehmungs- oder Entscheidungsfähigkeiten. Begründet liegt dies in der Erkenntnis, dass ein Großteil von Zwischenfällen und Unfällen in Hochrisikoorganisationen auf menschliches Versagen und damit auf mangelhafte sog. „Human Factors“ zurückzuführen sind (vgl. Helmreich und Foushee 1993:5; Flin 1995:23; Helmreich 1997; Klampfer et al. 2000). Hieraus ergibt sich auf der Individuums- und Gruppenebene ein hohes Verbesserungspotenzial der Human Factors. Diesen widmet sich die Forschung zu Human Factors/Crew Resource Management. Ziel dabei ist es, u. a. individuelle kognitive und soziale Fähigkeiten zu fördern, um Gefahren und Fehler zu erkennen sowie die individuelle und teamorientierte Reaktionsfähigkeit in Notfallsituationen zu verbessern (vgl. Flin 1995:27; Thomas et al. 2003:242).



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Der Terminus mindfulness wird mit „Achtsamkeit“ übersetzt und in dieser Arbeit synonym verwendet. Reliability wird in dieser Arbeit mit Verlässlichkeit oder Zuverlässigkeit übersetzt. High Reliability Organizations werden in der Literatur auch als „Organisationen mit hoher Zuverlässigkeit“ übersetzt (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:15). In dieser Arbeit werden die Begriffe High Reliability Organizations, Hochverlässlichkeitsorganisationen oder Organisationen mit hoher Zuverlässigkeit gleichbedeutend verwendet.

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Kapitel 1

Sowohl HRT als auch Human Factors/CRM-Forschungen beschäftigen sich intensiv mit Organisationen, die in Hochrisikoumwelten agieren. Sie suchen nach Ansätzen und Merkmalen, mit denen es diesen Organisationen gelingt, ihre Leistungsfähigkeit, im Sinn von Verlässlichkeit und Sicherheit, aufzubauen und zu erhalten. Trotz der gemeinsamen Zielstellung haben sich die beiden Forschungsbereiche lange Zeit parallel und losgelöst voneinander entwickelt sowie unterschiedliche Aspekte thematisiert. Sie haben sich überwiegend auf einzelne Praxisfelder oder wissenschaftliche Disziplinen beschränkt, so dass es selten zu einer disziplinübergreifenden Betrachtung der Verlässlichkeitsthematik kam. Erst in jüngerer Zeit zeichnet sich eine Annäherung der beiden Forschungsbereiche ab (vgl. z. B. Weick und Sutcliffe 2003:10; Wilson et al. 2005). Dies mag durch die wegweisenden Arbeiten der Fehlerforschung (vgl. insbesondere die Arbeiten von Reason 1994) und der systemischen Auffassung von Fehlern4 begründet sein. Seither nehmen HRT und Human Factors/CRM diese Perspektive in Bezug auf Fehler ein und widmen sich intensiv einem kontinuierlichen Fehlermanagement. Dabei gehen sie vor allem auf die proaktiven und reaktiven Aspekte im Umgang mit Fehlern und Fehlerfolgen ein. Verlässlichkeitsorientierte Forschungen betrachten Organisationen, die in Hochrisikoumwelten agieren (vgl. z. B. Roberts 1990a:102; Helmreich und Sexton 2004:15; Weick und Sutcliffe 2003:9; Klampfer et al. 2001:6; Carroll 2004:127). Deswegen wird in diesen Forschungen ein hohes Erklärungspotenzial vermutet, wenn es um die Identifikation von verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren geht. Allerdings zeigt sich, dass die Erkenntnisse der verlässlichkeitsorientierten Forschungen von anderen Bereichen und Disziplinen, wie z. B. der allgemeinen Organisations- und Managementforschung, nur selten beachtet wurden (vgl. Weick et al. 1999:82). Begründet liegt dies darin, dass die Grundeigenschaften von High Reliability Organizations – hohe technische Komplexität und enge Kopplung der Teilsysteme (vgl. u. a. Roberts 1990a; Perrow 1992; Marais et al. 2004) – als zu speziell angesehen wurden (und werden), um Anhaltspunkte zur Leistungsverbesserung von anderen (Profit-)Organisationen zu geben (vgl. Weick et al. 1999:82; Weick und Sutcliffe 2003:31; Vogus und Welbourne 2003:877). Die hier vorliegende Arbeit vertritt jedoch die Auffassung, dass Erkenntnisse verlässlichkeitsorientierter Hochleistungsforschungen durchaus Hinweise und Anregungen liefern, wie andere Organisationen in dynamischer und komplexer werdender Umwelt bestehen können. Die Vorbildfunktion der Hochverlässlichkeitsorganisationen ergibt sich weniger aus der Tatsache, dass sie in Hochrisikoumwelten agieren, als vielmehr durch deren Methoden, Konzepte und Faktoren, mit denen sich die Leistungsfähigkeit beeinflussen lässt.5 Mit diesen  4

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Hiernach entstehen Fehler durch die Kombination von aktiven Fehlern und latenten Systembedingungen (vgl. Kapitel 3.3.2.2). Diese Einsicht setzt sich auch in anderen Disziplinen langsam durch, wie eine verstärkte wissenschaftliche und praktische Diskussion sowie verschiedene Sonderausgaben von Fachzeitschriften zu diesem Thema zeigen (vgl. u. a. Vogus und Welbourne 2003; Seaman und Williams 2005; Carroll et al. 2002b; Dietrich und Childress 2004b; Journal of Organizational Behaviour 24, 2003; Harvard Business Review 6, 2005; Harvard Business Manager 11, 2005).

Einleitung

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gelingt es HRO, ihre Aufmerksamkeit und Wahrnehmungsfähigkeit zu verbessern, um somit plötzlich auftretenden Situationsveränderungen oder unvorhergesehenen Situationen besser begegnen zu können (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:32; Gray 2003:3). Eine weitere grundlegende These dieser Arbeit ist, dass es neben den bisher betrachteten „klassischen“, stark technisch orientierten Hochverlässlichkeitsorganisationen weitere Organisationen, Einheiten oder Gruppen gibt, die ähnliche Eigenschaften wie die HRO aufweisen und zuverlässig arbeiten, sich aber nicht durch eine hohe technische Komplexität (den Einsatz komplexer Technologien) auszeichnen. Das Verlässlichkeitsstreben dieser Organisationen begründet sich weniger durch den Einsatz gefährlicher Technologien als vielmehr durch z. B. eine hohe ethisch-moralische Verantwortung oder ein großes öffentliches Interesse (vgl. Mannarelli et al. 1996:84; Helmreich und Merritt 1998:143). Zu diesen Organisationen sind bspw. Rettungsdienste, Feuerwehreinheiten oder Spezialeinheiten der Polizei zu zählen. Da diese bisher selten Betrachtungsgegenstand verlässlichkeitsorientierter Forschungen waren, werden sie zum Untersuchungsgegenstand der hier durchgeführten explorativen Erhebung gemacht. Ausgehend von dieser Situation und der forschungsleitenden Fragestellung, wie es Organisationen in Hochrisikoumwelten gelingt, sicher und verlässlich zu handeln, ergibt sich das erste Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit: Basierend auf den bestehenden Arbeiten der verlässlichkeitsorientierten Forschungen sowie einer durchgeführten explorativen Erhebung sollen verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten identifiziert werden. Ein zweites Erkenntnisinteresse fokussiert die Lernthematik von Organisationen in Hochrisikoumwelten und resultiert aus der eingehenden Betrachtung der verlässlichkeitsorientierten Literatur. Hiernach wird in den bestehenden Arbeiten dem Erwerb und Erhalt von Wissen und Erfahrung durch Lernen und Training eine zentrale Bedeutung für die Leistungsfähigkeit und Verlässlichkeit von High Reliability Organizations beigemessen (vgl. Weick 1987; Roberts 1990a; La Porte 1996; Marais et al. 2004). Trotz dieser großen Bedeutung beschäftigen sich allerdings nur wenige Arbeiten intensiv mit der Lernthematik (vgl. so bspw. Carroll et al. 2002b; 2002a; Carroll 1998; Wilpert et al. 1997; Fischer und Röben 2004). Ein ähnliches Bild zeigt sich diesbezüglich in den Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management. Durch den Einsatz simulationsgestützter CRM-Trainings6 beim Erwerb nicht-fachlicher Fähigkeiten betont die Human Factors/CRM-Forschung implizit die Bedeutung des erfahrungsbasierten Lernens, ohne dies jedoch näher zu thematisieren oder unter Rückgriff auf bestehende Lernkonzepte und -theorien zu erklären. Stattdessen beschäftigen sich die Arbeiten des Human Factors/CRM-Bereichs überwiegend mit dem Transfer und der konkreten Ausgestal

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Auch „Human Factors-Training“ genannt (vgl. Helmreich et al. 1999b:1). Die Begriffe Human FactorsTraining und Crew Resource Management-Training werden in dieser Arbeit synonym verwendet. Wird von „Human Factors/Crew Resource Management“ gesprochen, ist damit der Forschungsbereich gemeint.

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Kapitel 1

tung von CRM-Trainings- und Lernmethoden (vgl. z. B. Helmreich und Schaefer 1994; Rall et al. 2001; Flin 1995; Lubnau 2006; Thomas et al. 2003). Somit lässt sich in der verlässlichkeitsorientierten Forschung ein blinder Fleck bezüglich der Lernthematik konstatieren sowie ein Erklärungsbedarf ableiten. Diesem widmet sich die vorliegende Arbeit, weil das Lernen sich maßgeblich auf die Leistungsfähigkeit von Organisationen auswirkt (vgl. z. B. Pawlowsky 2001:61; Dehnbostel 2005:111; Baird et al. 1999:21; Schreyögg und Kliesch 2005:5; Schreyögg und Noss 1997:68).

1.2 Zielstellung der Arbeit Ausgehend von der oben skizzierten Situation ergeben sich für diese Arbeit zwei Hauptzielstellungen, die nacheinander bearbeitet werden. Als erstes Ziel sollen verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten identifiziert werden, um damit Einflussmöglichkeiten der Leistungsfähigkeit aufzuzeigen. Hierzu rücken vor allem die bisher weniger beachteten Forschungen zu High Reliability, Fehlermanagement und Human Factors/Crew Resource Management in den Betrachtungsmittelpunkt und bilden den Bezugsrahmen der vorliegenden Arbeit. Da Organisationen in Hochrisikoumwelten den Untersuchungsgegenstand der verlässlichkeitsorientierten Forschungen bilden (vgl. z. B. Roberts 1990a:102; Helmreich 2000:781; Rall et al. 2001:322; Dietrich und Childress 2004b:3), wird in diesen ein hohes Erklärungspotenzial vermutet, wenn es um die Beantwortung der forschungsleitenden Fragestellung nach verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren geht. Bislang wurde die verlässlichkeitsorientierte Perspektive der Hochleistungsforschung außerhalb der eigenen und angrenzenden Disziplinen nur wenig problematisiert, dargestellt und erforscht (vgl. Weick et al. 1999:82). Ausgehend von der bestehenden Literatur werden daher in dieser Arbeit Maßnahmen und Faktoren herausgearbeitet, die sich auf die Leistungsfähigkeit im Sinn von Verlässlichkeit und Sicherheit von Organisationen in Hochrisikoumwelten auswirken. Diese überwiegend theoretischen Ausführungen werden um Erkenntnisse einer eigenen, explorativen Untersuchung in medizinischen Rettungsdiensten, Spezialeinheiten der Polizei und Feuerwehreinheiten empirisch ergänzt. Sowohl die theoretischen Betrachtungen als auch die Ergebnisse der empirischen Erhebung zeigen, dass Organisationen in Hochrisikoumwelten dem Lernen und Trainieren eine zentrale Bedeutung für den Aufbau und Erhalt von Leistungsfähigkeit beimessen (vgl. Weick 1987; Carroll et al. 2002b), dies jedoch selten explizit thematisieren. Dieses Erklärungsdefizit führt zur zweiten Zielstellung der Arbeit, der intensiven Beschäftigung mit der Lernthematik und dem Erwerb von Handlungskompetenz. Basierend auf den Ergebnissen der durchgeführten Untersuchung soll ein Modell entwickelt werden, mit dessen Hilfe sich das Lernen der betrachteten Organisationen in Hochrisikoumwelten erläutern lässt. Dabei wird auf das bestehende Konzept des arbeitsbezogenen Lernens (vgl. z. B. Dehnbostel 2001; 2005) zurückgegriffen, dieses um situative und organisationale Besonderheiten der betrachteten Organisationen ergänzt und zum Modell des einsatzbezogenen Lernens weiterentwickelt. Die Entwick-

Einleitung

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lung dieses Modells zeigt eine Möglichkeit auf, wie sich Lernprozesse von Organisationen in Hochrisikoumwelten unter Rückgriff auf bestehende Lernkonzepte und -methoden erklären und interpretieren lassen. Damit wird ein Beitrag zur Verringerung des bestehenden Erklärungsdefizites hinsichtlich der Lernthematik in der verlässlichkeitsorientierten Forschung geleistet.

1.3 Forschungsverständnis der Arbeit Die Arbeit folgt einem verhaltenswissenschaftlichen Forschungsverständnis und wählt einen anwendungsorientierten Ansatz. Mit Anwendungsorientierung ist der praktische Nutzen sozialwissenschaftlicher Theorien und Erkenntnisse in Bezug zu einer konkreten Problemlösung gemeint (vgl. Schanz 1992:117). Aus den theoretischen und sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen sowie aus Praxiserfahrungen sollen damit (Problem-)Lösungen generiert werden, die eine Handlungsorientierung für Organisationen aufweisen. Unter Rückgriff auf die Erkenntnisse verschiedener sozialwissenschaftlicher Forschungsbereiche, wie Unfallforschung, High Reliability- oder Human Factors-Forschung, sollen in dieser Arbeit verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren von bisher weniger beachteten Organisationen in Hochrisikoumwelten identifiziert werden, die sich positiv auf die Leistungsziele von Organisationen, deren Gruppen und Mitglieder auswirken. Hieraus lassen sich Anhaltspunkte zur Gestaltung und Verbesserung der Handlungs- und Leistungsfähigkeit für Organisationen ableiten. Da im deutschsprachigen Raum medizinische Rettungsdienste, Feuerwehren oder Spezialeinheiten der Polizei bisher selten Untersuchungsgegenstand der verlässlichkeitsorientierten Forschung sind, kann kaum auf Vorarbeiten in diesem Bereich zurückgegriffen werden. Angesichts der bestehenden geringen Kenntnisse über die situativen Handlungsbedingungen und die verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren in den eben angesprochenen Organisationen erscheint eine offene, explorative Form der Datenerhebung geeignet, um dieses neue Feld der verlässlichkeitsorientierten Forschung zu erkunden sowie wissenschaftlich fundierte und praktisch nützliche Erkenntnisse zu gewinnen. Daher wird auf Interviews als ein Erhebungsinstrument der qualitativen Sozialforschung zurückgegriffen. Durch die Wahl eines qualitativen Sozialforschungsansatzes wird dem Prinzip der Offenheit Rechnung getragen (z. B. Mayring 2002; Steger 2003). Offenheit gegenüber den Untersuchungspersonen, der Untersuchungssituation und der anzuwendenden Methoden ist ein zentrales Merkmal qualitativer Sozialforschung und insbesondere von Bedeutung, wenn neue und unbekannte Forschungsfelder untersucht werden (vgl. Lamnek 2005:21).

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Kapitel 1

1.4 Gang der Arbeit Die Arbeit gliedert sich in vier Teile (vgl. Abbildung 1). Zuerst widmet sie sich der Fragestellung nach den verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten. Der einführende Teil A zeigt neben der bereits vorgestellten Ausgangssituation und den Zielstellungen der Arbeit verschiedene Bereiche und Perspektiven der Hochleistungsforschung auf (Kapitel 2). Dadurch wird es möglich, den weiteren Untersuchungsgegenstand dieser Arbeit auf das Feld der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung einzugrenzen sowie ein grobes Untersuchungsraster abzuleiten. In Teil B erfolgt die theoretische Betrachtung verlässlichkeitsorientierter Hochleistungsforschungen. Kapitel 3 behandelt grundlegende Aspekte dieses – außerhalb ihrer und angrenzender Disziplinen wenig beachteten – Forschungsbereiches und stellt diese detailliert dar. Damit wird ein tieferer Einblick in die verlässlichkeitsorientierten Forschungen ermöglicht. Neben den betrachteten Organisationen in Hochrisikoumwelten, ihren Besonderheiten und Kontextfaktoren wird auf die Bedeutung von Fehlern sowie dem Umgang mit Fehlern für diese Organisationen eingegangen. Mit den Forschungen zu High Reliability (Kapitel 3.4) und Human Factors/Crew Resource Management (Kapitel 3.5) werden zwei zentrale Bereiche der verlässlichkeitsorientierten Forschungen erläutert und deren verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren herausgearbeitet, strukturiert und im Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten zusammengeführt. Überdies dienen die dargestellten Grundlagen dazu, die empirischen Befunde der hier durchgeführten explorativen Untersuchung zu erklären. Die intensive Auseinandersetzung mit den verlässlichkeitsorientierten Forschungen ermöglicht es gleichzeitig, bestehende Forschungs- und Erklärungsdefizite hinsichtlich der bisherigen Untersuchungsorganisationen sowie der Lernthematik zu erkennen. Dies wirkt sich einerseits auf die Wahl der zu untersuchenden Organisationen aus, andererseits leitet sich daraus die zweite Zielstellung dieser Arbeit ab. Teil C der Arbeit widmet sich der empirischen Betrachtung von Organisationen in Hochrisikoumwelten und exploriert im Rahmen einer qualitativen Untersuchung verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren in medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehreinheiten sowie Spezialeinheiten der Polizei.7 Nach Erläuterungen zu den untersuchten Organisationen (Kapitel 4) sowie der verwendeten Methodik bei der explorativen Erhebung (Kapitel 5) werden die empirisch gewonnen Ergebnisse vorgestellt. Kapitel 6 befasst sich mit den vorgefundenen situativen Handlungsbedingungen der betrachteten Organisationen und bestätigt damit die grundlegende These dieser Arbeit, dass es sich bei den untersuchten Organisationen ebenfalls um Organisationen in Hochrisikoumwelten handelt. Im Anschluss werden in Kapitel 7 die hand

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Die empirische Untersuchung wurde im Rahmen des Projektes „Lernen in und von Hochleistungssystemen“ am Lehrstuhl Personal und Führung der Technischen Universität Chemnitz unter Mitarbeit von Prof. Dr. Peter Pawlowsky, Dipl.-Hdl. Silke Geithner und Dipl.-Soz. Veronika Krüger durchgeführt (vgl. z. B. Pawlowsky et al. (2005b); Mistele und Kirpal (2006); www.hochleistungssysteme.de).

Einleitung

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lungsbeeinflussenden Faktoren dieser Organisationen detailliert vorgestellt und erläutert. Der ersten Zielstellung folgend, werden die explorativ gewonnenen Erkenntnisse dazu herangezogen, das entwickelte Modell zu ergänzen. Der letzte Teil (D) dieser Arbeit widmet sich der zweiten Zielstellung. Die theoretischen Betrachtungen der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschungen weisen eine Erklärungslücke hinsichtlich der Lernthematik auf. Gestützt durch die Erkenntnisse der durchgeführten Untersuchung, wonach Lernen ein wichtiger verlässlichkeitsbeeinflussender Faktor ist, widmet sich Kapitel 8 intensiv der Lernthematik in den untersuchten Organisationen. Kapitel 8.2 zeigt mit dem Konzept des arbeitsbezogenen Lernens eine Möglichkeit auf, wie das Lernen und der Kompetenzerwerb in den betrachteten Organisationen interpretiert werden kann. Aufbauend auf diesen Erkenntnissen entwickelt Kapitel 8.3 ein Modell, das die Lernaktivitäten der untersuchten Organisationen in Hochrisikoumwelten erklärt. Das abschließende Kapitel 9 dient der Zusammenfassung und kritischen Würdigung der Arbeit und gibt einen Ausblick auf weiteren Forschungsbedarf für das junge Feld der Hochleistungsforschung.

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Kapitel 1

Zusammenfassung und Ausblick

[Kapitel 9]

Einsatzbezogenes Lernen

Teil D

Lernen in den untersuchten Organisationen

Interpretation und Zusammenfassung x x

Teil C

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren

Handlungskompetenz Arbeitsbezogenes Lernen

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren [Kapitel 7]

Handlungsbedigungen [Kapitel 6]

Untersuchte Organisationen [Kapitel 5]

empirische Betrachtungen

Methodik der Erhebung [Kapitel 4]

Grundlagen der verlässlichkeitsorientierten Forschungen

Teil B

theoretische Betrachtung

Teil A

Hintergrund und Perspektive

x x x x

Betrachtete Organisationen Erkenntnisinteresse High Reliability Forschungen Foschungen zu Human Factors/Crew Resource Management [Kapitel 3]

Zielstellung 1:

Erklärungsdefizit hinsichtlich der Lernthematik

Zielstellung 2:

Kontext: verlässlichkeitsorientierte Hochleistungsforschung: Organisationen in Hochrisikoumwelten [Kapitel 1+2]

Abbildung 1:



Gang der Arbeit

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Bereiche und Perspektiven der Hochleistungsforschung

In folgendem einleitenden Kapitel soll ein Grundverständnis für die Hochleistungsthematik geschaffen werden. Hierzu werden der Leistungsbegriff erläutert sowie mit den Arbeiten zu Hochleistungsorganisationen, dynamikrobusten Höchstleistern, High Performance Work Systems und Hochleistungsteams Bereiche der Hochleistungsforschung aufgezeigt. Ausgehend von diesen Arbeiten werden deren leistungsbeeinflussende Faktoren skizziert, um damit exemplarisch zu zeigen, dass die organisationale Leistungsfähigkeit über unterschiedliche Gestaltungsebenen beeinflusst werden kann. Des Weiteren werden die bestehenden Arbeiten zu Hochleistung anhand der primär verfolgten Leistungsziele in ökonomisch-orientierte sowie sicherheits-/verlässlichkeitsorientierte Arbeiten eingeteilt. Diese Einteilung ermöglicht es für die weitere Bearbeitung der Forschungsfrage, den Betrachtungsrahmen auf die Perspektive der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung und die damit verbundenen Organisationen in Hochrisikoumwelten einzugrenzen.

2.1 Der Hochleistungsbegriff Die Leistungsfähigkeit von Individuen, Teams oder Organisationen ist Forschungsgegenstand unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen, wie z. B. Physik, Sport, Pädagogik, Arbeitswissenschaften oder Betriebswirtschaftslehre. Jede dieser Disziplinen verwendet den Begriff „Leistung“ und versteht etwas anderes darunter. Aufgrund der Vielzahl und der Breite dieser Forschungsfelder ist es daher unmöglich, eine einheitliche Begriffsbestimmung zu formulieren. Je nach wissenschaftlicher Perspektive und Erkenntnisinteresse werden unterschiedliche Aspekte der Leistungsfähigkeit fokussiert. Überwiegend geht es dabei um die Messung, Beeinflussung und Verbesserung der Leistungsfähigkeit von Menschen, Teams oder Organisationen. Die Vielfalt des Leistungsbegriffs kann exemplarisch am Beispiel der Betriebswirtschaftslehre verdeutlicht werden.8 Die Frage nach der Leistungsfähigkeit von Organisationen ist seit jeher in den wirtschaftlich orientierten Disziplinen ein zentrales Thema (vgl. Becker 1994). Trotz der großen Bedeutung der Leistung gibt es keine allgemeingültige und übergreifende Begriffsdefinition (vgl. Becker 1994:38).9 Dies liegt nicht zuletzt daran, dass der Leistungsbegriff sich durch eine große Verwendungs- und Bedeutungsvielfalt auszeichnet (vgl. Becker 1994:11). Es gibt somit nicht den Leistungsbegriff. Vielmehr richtet sich dessen Bedeutung nach dem zu Grunde liegenden wissenschaftlichen Verständnis (vgl. Becker 1994:39). In wirtschaftlich orientierten Disziplinen kann unterschieden werden in: technologisch-orientierte, tätigkeitsorientierte und ergebnisorientierte Leistung (vgl. hierzu und zu den folgende Ausführungen auch Becker [1994: 44ff.]). 

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Auf Forschungsrichtungen anderer Disziplinen, die keine Organisationen zum Untersuchungsgegenstand haben, wie z. B. Sport, Physik oder Hochbegabtenforschung, wird in dieser Arbeit nicht eingegangen. Becker (1994) gibt einen detaillierten Überblick über das unterschiedliche Leistungsverständnis in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen.

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Kapitel 2

Das technologisch-orientierte Leistungsverständnis lehnt sich an der physikalischen Leistungsdefinition an und fasst Leistung als Arbeit, Produktionsmenge oder Output pro Zeiteinheit auf. Unter produktionstheoretischen Gesichtspunkten ist die Leistung somit das „Ergebnis der Kombination von Produktionsfaktoren“ (Heinen 1956:224 zitiert nach Becker 1994:45). Dieses Leistungsverständnis konzentriert sich schwerpunktmäßig auf technische Verbrauchsvorgänge in einem Unternehmen. Ähnlich verhält es sich mit dem Leistungsbegriff der Arbeitswissenschaften. Diese fassen Leistung als beobachtbare Arbeit pro Zeiteinheit auf. Deutlich wird dies z. B. in den Arbeitsbestimmungsmethoden der REFA10. Zentrale Bezugsgröße bei der REFA-Leistungsbestimmung ist die sog. Bezugsleistung. Darunter ist die einer Soll-Zeit zugrunde liegender Mengen-Leistung gemeint, die einem Leistungsgrad von 100 Prozent entspricht (vgl. Becker 1994:36). Das ergebnisorientierte Leistungsverständnis, welches sich in der BWL durchgesetzt hat (vgl. Becker 1994:49), fokussiert stark auf ökonomische Aspekte und orientiert sich an einer Extremierung des Zielkriteriums, wie z. B. Maximierung des Umsatzes oder des Gewinns, Steigerung der Wertschöpfung, Erhöhung der Produktivität oder Minimierung der Stückkosten (vgl. Bea 2004:316). Dabei wird Leistung überwiegend als Ergebnis einer Tätigkeit aufgefasst, die sich in effizienten Kombinationsprozessen, wie abgesetzten Gütern und Dienstleistungen oder dem erzielten Wertschöpfungsbeitrag messen lässt (vgl. Becker 1994:53ff.). Der tätigkeits- oder handlungsorientierte Leistungsbegriff fasst Leistung nicht lediglich als Ergebnis einer Tätigkeit auf, sondern stellt die Tätigkeit selbst in den Mittelpunkt. „Mit diesem Verständnis begreift man im Grund die Tätigkeit an sich als Leistungsverhalten, welches im betrieblichen Kombinationsprozess die Mitarbeiter zeigen. Der Zusammenhang zum jeweiligen (Leistungs-)Ergebnis wird zwar gesehen, die eigenständige Tätigkeitskomponente aber betont.“ (Becker 1994:46). Dies gilt insbesondere dann, wenn dem Tätigsein – dem Leisten – eine bestimmte Zielsetzung zugrunde liegt. Das wird als Handeln bezeichnet (vgl. Meier 2002:441). Damit kann Leistung aus einer tätigkeits- oder handlungsorientierten Perspektive als Handeln, d. h. als bewusstes Verhalten eines Individuums oder Gruppe zur Erreichung bestimmter Ziele aufgefasst werden (vgl. Becker 1994:47; Meier 2002:441). Gute Leistungen sind relativ leicht zu erkennen und werden gerne auch als Spitzen- oder Hochleistung bezeichnet. Soll allerdings deren Zustandekommen erklärt werden, fällt dies häufig viel schwerer (vgl. Stewart 2005:12; Katzenbach und Smith 1993:21f.). Seit rund fünfundzwanzig Jahren setzen sich Praktiker und Wissenschaftler aus unterschiedlichen Disziplinen, wie z. B. Betriebswirtschaftslehre, Unfallforschung oder Arbeitswissenschaften mit den Aspekten von „Hochleistung“ in Organisationen auseinander, so dass von einer „Hochleistungsforschung“ gesprochen werden kann (vgl. u. a. Sommerlatte 1989; Katzenbach und Smith 1993; Weick 1987; Kirby 2005; Appelbaum et al. 2000). Zahlreiche Publikationen sind  10

Reichsausschuss für Arbeitszeitermittlung. Seit 1995: REFA-Verbund für Arbeitsgestaltung, Betriebsorganisation und Unternehmensentwicklung.

Bereiche und Perspektiven der Hochleistungsforschung

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zu diesem Themenbereich erschienen. Um einige Bereiche der Hochleistung aufzuzeigen, sollen im Folgenden mit Hochleistungsorganisationen, dynamikrobusten Höchstleistern, High Performance Worksystems, Hochleistungsteams exemplarisch Arbeiten skizziert werden, die sich mit leistungsbeeinflussenden Faktoren in Organisationen auseinandersetzen.

2.2

Bereiche von Hochleistung

2.2.1 Hochleistungsorganisationen Jahrelang haben Konzepte aus der japanischen Managementphilosophie wie Total Quality Management, Leanproduction, Lean Management usw. das Streben nach Effizienzsteigerung in Wirtschaftsunternehmen bestimmt (vgl. u. a. Smart et al. 2003:734; Greifenstein 2000). Im deutschsprachigen Raum hat Sommerlatte (1989) den Begriff Hochleistungsorganisationen eingeführt. Er beschäftigt sich aus einer innovationsorientierten Sichtweise mit der Frage, wie Organisationen Hochleistung i. S. von strategischer Wettbewerbsfähigkeit erbringen können. Um dem geänderten Wettbewerb (Produkt-, Qualitäts- Innovationswettbewerb) adäquat begegnen zu können, bedarf es einer bestmöglichen marktorientierten Gesamtleistung (vgl. Sommerlatte 1998). Nach Sommerlatte (1989) führen zeiteffiziente Entwicklungs-, Innovations-, Forschungs- und Entwicklungs- (FuE-) oder Produktionsprozesse sowie eine hohe Lernfähigkeit (organizational learning) mit gemeinsam geteilten Denkmodellen zu einer höheren Leistungsfähigkeit des Unternehmens. Wegen des prozessorientierten (Hoch)Leistungsverständnisses ist es für ihn zentral, die Effizienz der einzelnen Leistungsprozesse, wie Kundennutzen-Optimierungsprozess, Marktkommunikationsprozess, Leistungserstellungsprozess, Forschungs- und Entwicklungsprozess etc., aufeinander abzustimmen und etwaige Schnittstellenprobleme zu minimieren (vgl. Sommerlatte 1989:15; 1998). Nur so lässt sich eine bestmögliche Gesamtleistung im Unternehmen realisieren. Die organisationale Lernfähigkeit und das daraus resultierende Wissen, die Erkenntnisse und Erfahrungen werden ebenfalls als leistungsförderlich angesehen. Durch den Austausch von Wissen und Erfahrungen entsteht ein gemeinsames Verständnis über die zu erreichenden Unternehmensziele, an denen die Mitarbeiter ihr Handeln ausrichten. Das so entstehende gemeinsam geteilte Denkmodell im Unternehmen sowie das daraus entstehende Wissen und die Erfahrungen fördern einerseits Prozessinnovationen und führen andererseits zu neuen Produktinnovationen, die ggf. neue Marktpotenziale erschließen können (vgl. Sommerlatte 1989:18; 1998). SchmiedelBlumenthal (2000) lehnt sich an die Definition der Hochleistungsorganisation von Sommerlatte an, betont dabei aber stärker den Aspekt des organisationalen Lernens (vgl. SchmiedelBlumenthal 2000:76f.). Diese größtenteils innovationsorientierte und managementgeprägte Auffassung der Hochleistungsorganisation beinhaltet, dass organisationale Hochleistung unter Berücksichtigung bestimmter Handlungs- und Gestaltungsschwerpunkte von Führungskräften auf der Organisationsebene bewusst gestalten werden kann (vgl. Sommerlatte 1989:22).

14

Kapitel 2

2.2.2 High Performance Work Systems Seit rund zwanzig Jahren beschäftigen sich überwiegend amerikanische Wissenschaftler und Praktiker unter dem Begriff High Performance Work System (HPWS)11 mit Möglichkeiten zur Leistungsverbesserung im Produktionsbereich von Wirtschaftsunternehmen. Notwendig wurde die Disposition damaliger Arbeitsbeziehungen und Arbeitsorganisationsformen durch die fortschreitende Technologisierung im Produktionsbereich, die sich verändernden Kundenwünsche und Qualitätserwartungen sowie den Einfluss japanischer Managementansätze, wie Just in Time oder Total Quality Management (vgl. Appelbaum et al. 2000:5f.; Gephart 1995:36; Greifenstein 2000). Ferner setzte sich die Erkenntnis durch, dass die Mitarbeiter mit ihren Kenntnissen und Fähigkeiten eine wichtige Ressource bei der Verbesserung des Geschäftserfolges oder der Wettbewerbsfähigkeit darstellen (vgl. Evans und Davis 2005:758; Gephart 1995:31). Insbesondere die Nutzung ihres Gestaltungs- und Innovationspotenzials wirkt sich positiv auf eine flexible und wettbewerbsfähige Produktion aus (vgl. Gephart 1995:30). Damit Hochleistung entstehen kann, ist es notwendig, „that work is organized to permit front-line workers to participate in decisions that alter organizational routines“ (Appelbaum et al. 2000:7). Der High Performance Work Systems (HPWS)-Ansatz zielt darauf ab, die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit der Produktionsmitarbeiter zu verbessern, sie zu sog. „fähigen Problemlösern“ (skilled problem solvers) (Whitfield 2000:2) zu machen, um so die Produktions- und Arbeitsleistung – und damit die Gesamtleistung des Unternehmens – zu verbessern. Zentraler Ansatzpunkt hierzu ist die Stärkung der Mitarbeiterautonomie durch eine partizipative Arbeitsgestaltung im Produktionsbereich. Konkret bedeutet dies die Förderung der Mitbestimmung bei betrieblichen und arbeitsplatzbezogenen Entscheidungen, die Möglichkeit, an Problemlösungen und Qualitätsverbesserungen teilzuhaben, Arbeitsaufgaben und Arbeitsprozesse autonom und selbstorganisiert zu gestalten oder die arbeitsbezogene Kommunikation mit Kollegen, Vorgesetzten, Fachexperten oder Kunden zu verbessern (vgl. Appelbaum et al. 2000:7, 115; Evans und Davis 2005:760; Greifenstein 2000). Um das Ziel des HPWS-Ansatzes zu erreichen, bedarf es intensiver Human Ressource ManagementPraktiken. Mitarbeiter müssen aus- und weitergebildet werden, um den ihnen gestellten Anforderungen gerecht zu werden und einen nachhaltigen Beitrag zur Produkt-, Qualitäts- oder Prozessverbesserungen leisten zu können (vgl. Greifenstein 2000; Evans und Davis 2005:759). Des Weiteren beschäftigen sich die Personalmanagementmaßnahmen mit der Anreizgestaltung, um die Produktionsmitarbeiter zu einem engagierten Handeln im Sinn der Unternehmensziele zu motivieren (vgl. Greifenstein 2000; Kling 1995:30). HPWS können somit als Ansatz verstanden werden, Produktionsmitarbeiter mit den notwendigen Informationen, Wissen, Fähigkeiten, Anreizen und Verantwortlichkeiten auszustatten, um eine Reagibilität und Flexibilität des Unternehmens auf Umweltveränderungen zu verbessern sowie die verschiedenen Leistungsziele (Innovation, Qualität, Produktivität etc.) positiv zu beeinflussen. Somit zeigt sich, dass nach Auffassung des HPWS-Ansatzes die organisationale Leistungsfä 11

High Performance Work System kann mit „Hochleistungsarbeitssystem“ übersetzt werden.

Bereiche und Perspektiven der Hochleistungsforschung

15

higkeit über die Mitarbeiter, d. h. die individuelle Ebene, beeinflusst werden kann. Diese Auffassung wird auch durch die Arbeiten zu dynamikrobusten Höchstleistern gestützt.

2.2.3 Dynamikrobuste Höchstleister Wohland et al. (2004) setzen sich mit Wirtschaftsorganisationen auseinander, die es schaffen, einen hohen Marktdruck zu erzeugen und dabei wachsen, ohne selbst unter diesem Druck zu leiden (vgl. Wohland et al. 2004:12). Diese Organisationen sind in der Lage, dem sog. Dynamikproblem12 besonders gut zu begegnen und werden als „Höchstleister“ bezeichnet (Wohland et al. 2004:8). Die Höchstleistung dieser Organisationen wird in der souveränen Bewältigung des Dynamikproblems gesehen. Insbesondere beeinflussen dabei die Mitarbeiter mit ihren Talenten und ihrem Können die (Höchst-)Leistungsfähigkeit von Unternehmen (vgl. Wohland et al. 2004:21). Höchstleister zeichnen sich durch Eigenschaften aus, die es ihnen erlauben in der Umweltkomplexität und -dynamik zu bestehen, sich diese sogar zu Nutze zu machen, indem sie die eigene Dynamik der ihrer Umgebung anpassen. In dem Bestreben, Gründe und Gemeinsamkeiten der außerordentlichen Leistungsfähigkeit von dynamikrobusten Höchstleistern zu identifizieren, wurden höchstleistungsfähige deutsche Unternehmen wie z. B. Mettler Toledeo, Nokia Networks, Schindler oder die Schweizer Rückversicherung untersucht (vgl. Wohland et al. 2004:10). Zu den identifizierten Faktoren, die sich auf die organisationale Leistungsfähigkeit von Höchstleistern auswirken, zählen (vgl. Wohland et al. 2004:21ff., 38f.): x

Eine moderne Werte-Kultur als Basis für autonomes Handeln. Nur durch eine Kultur, in der Mitarbeiter zu eigenem, kreativem Handeln angeregt werden, gelingt es Unternehmen, auch in plötzlich auftretenden, unvorhergesehenen Situationen handlungsfähig zu bleiben, weil das Handeln nicht durch Regeln und Anweisungen, sondern durch die gemeinsamen Werte und Normen des Unternehmens bestimmt wird.

x

Das Können der Mitarbeiter ist wichtiger als Wissen. Können, verstanden als problemlösende Handlungsfähigkeit, wird in dynamischen Situationen wichtiger als Wissen, da es nicht so einfach imitiert werden kann. Können entsteht durch Üben.

x

Dynamikrobuste Höchstleister zeigen ihr Können und gehen offen damit um. Sie müssen keine Angst vor Nachahmern haben, weil das Können nur schwer imitiert werden kann. Daher stellt es einen Wettbewerbsvorteil dar.

x

Prinzipien sind wichtig für das Handeln. Dynamische und unvorhergesehene Prozesse lassen sich nicht durch vordefinierte Regeln und Anweisungen beschreiben. Wichtig für den reibungslosen Ablauf dynamischer Prozesse sind Prinzipien, weil diese unabhängig von der jeweiligen Situation Gültigkeit besitzen.



12

Unter dem Dynamikproblem verstehen Wohland et al. (2004:8) die Folgen der steigenden Wettbewerbsintensität und Veränderungsdynamik moderner globaler Märkte, wie z. B. abnehmende Planungshorizonte, verkürzte Produktlebenszyklen oder individueller werdende Kundenanforderungen.

16

Kapitel 2

x

Gelassenheit und Muße sind Voraussetzungen für Höchstleistung. Mitarbeiter von Höchstleistern lassen sich nicht durch die Dynamik in Stress und Hektik versetzten.

x

Mitarbeitertalente müssen erkannt und gefördert werden. Die Talente der Mitarbeiter sind die Basis ihres Könnens und damit Grundlage für die Höchstleistung. Jeder Mitarbeiter hat Talente; diese gilt es zu entdecken und zu fördern.

x

Mitarbeiter von Höchstleistern sind stark intrinsisch motiviert. Eine gezielte extrinsische Anreizgestaltung (Motivierung) würde diese Motivation zerstören.

x

Flexibilität sichert die Handlungsfähigkeit. Bei sehr hoher Umweltdynamik verringert sich die Reichweite der Planung und macht sie teilweise sogar sinnlos. Deswegen ersetzen Höchstleister wissensbasierte Planung durch ideenbasierte Flexibilität. Diese auf Können basierende Flexibilität hilft Höchstleistern, schnell auf Unvorhergesehenes zu reagieren und dieses zu verarbeiten.

x

Bedeutung von Visionen. Visionen sind für Höchstleister sehr wichtig, da sie alle Mitarbeiter intrinsisch zum Handeln antreiben. „Visionen werden von Personen gestiftet und verbreiten sich durch Ansteckung“ (Wohland et al. 2004:39).

Die hier identifizierten leistungsbeeinflussenden Faktoren von Höchstleistern beziehen sich überwiegend auf die Mitarbeiter, deren Können, Wissen und Fähigkeiten. Somit zeigt die Arbeit von Wohland et al., dass sich die organisationale Leistung über Faktoren der individuellen Gestaltungsebene beeinflussen lässt.

2.2.4 Hochleistungsteams Die Arbeiten zu Hochleistungsteams (vgl. vor allem Katzenbach und Smith 1993; Katzenbach 2000; Katzenbach und Smith 2005) vertreten eine Gruppenperspektive und sehen den Schlüssel für eine Hochleistungsorganisation13 in sog. Hochleistungsteams. Die dynamische Umwelt schafft Herausforderungen, denen Organisationen nur durch Teamarbeit begegnen können, weil Teams Probleme und Aufgaben lösen können, die ein Einzelner nicht lösen könnte (vgl. Stanley 2002:11). Umweltherausforderungen lassen Teams entstehen, die wiederum Leistungen erbringen und „das allgemeine Leistungsethos des Unternehmens festigen und aufrecht erhalten. Dieser Kreislauf von Leistung und Teams, Teams und Leistung wird die Gewinner von morgen kennzeichnen“ (Katzenbach und Smith 1993:227). Daher ist es nicht verwunderlich, dass das Team für die meisten Organisationen eine zentrale Leistungs- und Aktionseinheit ist. Wie Untersuchungen zeigen, nimmt Teamarbeit in vielen Unternehmen mittlerweile eine zentrale Stellung ein (vgl. Adams et al. 2004:3), denn ein Team „bündelt die Fähigkeiten, Erfahrungen und Erkenntnisse mehrerer Leute und stellt die natürliche Ergänzung indi-

 13

Obwohl Katzenbach und Smith den Terminus Hochleistungsorganisation gebrauchen, unterbleibt eine explizite Definition, was sie genau darunter verstehen.

Bereiche und Perspektiven der Hochleistungsforschung

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vidueller Initiative und Leistung dar, weil es mehr Engagement für ein gemeinsames Ziel hervorbringt“ (Katzenbach und Smith 1993:48). Die von Katzenbach und Smith in verschiedensten Organisationen durchgeführten Untersuchungen zielten darauf ab herauszufinden, welche Faktoren für die Leistungsunterschiede von Arbeitsgruppen verantwortlich sind; warum manche dieser Gruppen zu Teams werden und besonders gut arbeiten; welche Möglichkeiten für das Management bestehen, die Teamleistung zu beeinflussen (vgl. Katzenbach und Smith 2005:163). Katzenbach und Smith weisen darauf hin, dass der Begriff Team häufig sehr unterschiedlich und unpräzise verwendet wird. Deswegen unterscheiden sie ganz bewusst zwischen Arbeitsgruppen und verschiedenen Arten von Teams. Generell verstehen sie unter einem Team „eine kleine Gruppe von Personen, deren Fähigkeiten einander ergänzen und die sich für eine gemeinsame Sache, gemeinsame Leistungsziele und einen gemeinsamen Arbeitsansatz engagieren und gegenseitig zur Verantwortung ziehen“ (Katzenbach und Smith 1993:70). Ergänzende Fähigkeiten, eine gemeinsame Sache, gemeinsame Ziele und ein gemeinsamer Arbeitsansatz sowie eine hohe Motivation und gegenseitige Verantwortung sind fünf Aspekte, die sich auf die Effektivität und die Leistungskraft von Gruppen und Teams auswirken. Sie werden bei der Unterscheidung in Arbeitsgruppe, Pseudo-Team potenzielles Team, echtes Team und Hochleistungsteam herangezogen (vgl. Katzenbach und Smith 1993:118,125ff.). Arbeitsgruppen zeichnen sich durch eine fehlende kollektive Leistung aus. Mitarbeiter interagieren primär nur, um Informationen auszutauschen, damit die Leistung innerhalb des eigenen Verantwortungsbereichs verbessert werden kann. Hierbei fehlt es eindeutig an der gemeinsamen Sache, den gemeinsamen Leistungszielen oder der gegenseitigen Verantwortung. Die Leistung der Arbeitsgruppe ist die Summe der Individualleistungen. Ähnlich verhält es sich bei den Pseudo-Teams. Auch hier wird kein Augenmerk auf die Zusammenarbeit und kollektive Leistung gelegt. Häufig minimiert die unkoordinierte Interaktion der PseudoTeammitglieder deren potenzielle individuelle Arbeitsleistung, so dass die Gesamtleistung von Pseudo-Teams geringer ist als das Gesamtleistungspotenzial der einzelnen Mitarbeiter. Potenzielle Teams streben eine gemeinsame Leistung an, oft fehlt es ihnen aber an den gemeinsamen Zielen und Arbeitsansätzen, so dass sich auch keine gegenseitige Verantwortung entwickeln kann. Echte Teams dagegen stellen die grundlegende Leistungseinheit von Organisationen dar. Die Mitglieder echter Teams verfügen über ergänzende Fähigkeiten. Diese stellen sie in einem gemeinsamen Arbeitsansatz zur Verfügung. Sie fühlen sich für die gemeinsamen Ziele und die gemeinsame Sache verantwortlich. Hochleistungsteams sind echte Teams, die sich darüber hinaus durch ein sehr hohes emotionales Engagement auszeichnen. Sie entwickeln einen tiefen Sinn für die gemeinsame Sache, sorgfältig ausgearbeitete Arbeitsansätze, ambitionierte Leistungsziele und eine umfassende gegenseitige Verantwortung (vgl. Katzenbach und Smith 1993:114; Gaitanides 2004:29). Mitglieder von Hochleistungsteams unterstützen sich gegenseitig aufrichtig beim Erreichen von beruflichen und persönlichen Zielen. Sie haben ein sehr großes gegenseitiges Vertrauen zueinander. Hochleistungsteams wer-

18

Kapitel 2

den als Schlüssel für die Schaffung und Erhaltung von Hochleistungsorganisationen gesehen (vgl. Katzenbach und Smith 1993:34). Abbildung 2 stellt die Leistungskraft und Effektivität dieser verschiedenen Teams graphisch dar.

Leistungskraft

Hochleistungsteam

Echtes Team

Arbeitsgruppe Potenzielles Team

Pseudo-Team Effektivität

Katzenbach und Smith (1993:118)

Abbildung 2:

Die Teamleistungskurve

Ähnlich wie die HPWS beziehen sich Katzenbach und Smith in ihren Forschungen primär auf angestellte Mitarbeiter (workforce employees) in Wirtschaftsorganisationen und meinen damit „all employees across the baseline of the organization who either make the products, design services or deliver value to the customer“ (Katzenbach 2000:XII). Als higher perfoming workforces, die Spitzenleistungen erbringen, werden somit Mitarbeitergruppen bezeichnet, deren emotionales Engagement maßgeblich dazu beiträgt, Produkte und Dienstleistungen herzustellen, die einen dauerhaften Wettbewerbsvorteil für ihren Arbeitgeber begründen (vgl. Katzenbach 2000:IX). Katzenbach und Smith zeigen mit ihren Forschungen, dass im Team ein hohes Potenzial zur Beeinflussung der organisationalen Leistungsfähigkeit begründet ist. Die Ausführungen von Katzenbach und Smith werden durch Studien der Gallup Organisation14 gestützt. Gallup beschäftigt sich seit Jahren mit der Messung der Leistungsverbesserung von Unternehmen. Verschiedene Studien belegen, dass sich eine hohe individuelle, emotionale Mitarbeiterbindung positiv auf die organisationale Leistungsfähigkeit und damit auf den Geschäftserfolg und die Wettbewerbsfähigkeit eines Unternehmens auswirkt (vgl. u. a. Coff 14

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Bereiche und Perspektiven der Hochleistungsforschung

19

man und Gonzalez-Molina 2003; Harter et al. 2002; Thackray 2002; Buckingham und Coffman 2001). Der emotionale Bindungsgrad (Engagement) eines Mitarbeiters lässt sich mit Hilfe des sog. Q12-Instrumentariums bestimmen. Dabei handelt es sich um einen 12 Faktoren umfassenden Fragebogen, welcher über sog. „weiche Faktoren“, wie Arbeitsmoral, Mitarbeiterengagement, Lob oder den Wunsch nach Mitgestaltung, den Grad des emotionalen Engagements eines Mitarbeiters an die Organisation bestimmt. Der so erhobene Bindungsgrad kann mit messbaren Faktoren der Leistung (Absatzzahlen, Produktivitätskennziffern etc.) in Beziehung gesetzt werden (vgl. Harter et al. 2002; Thackray 2002). Durch diese Methode wird es möglich, die Auswirkungen der sonst sehr schwer messbaren weichen Faktoren mit harten Faktoren in quantifizierbaren Ergebnissen zu verbinden. Mit Hilfe einer gezielten Analyse der Mitarbeitermotivation lassen sich Ansatzpunkte zur Verbesserung der Leistungsfähigkeit aufzeigen.

2.3 Perspektiven und Gestaltungsebenen der Hochleistung Die exemplarisch skizzierten Arbeiten zu Hochleistung zeigen, dass es sich bei den Untersuchungsorganisationen vorwiegend um Wirtschaftsorganisationen aus unterschiedlichen Branchen und Industrien handelt. Dies spiegelt sich in den verfolgten Leistungszielen der Organisationen wieder. Die organisationale Leistung ist überwiegend ergebnisorientiert und bezieht sich dabei auf eine Verbesserung ökonomischer Zielstellungen, wie z. B. Produktivitäts-, Kosten-, Qualitäts- oder Innovationszielen. Diese drücken sich wiederum in klar messbaren betriebswirtschaftlichen Leistungs- und Erfolgsgrößen, wie Umsatz, Gewinn, Wettbewerbsposition, Marktvolumen etc. aus. Aufgrund der betriebswirtschaftlichen Leistungszielstellung dieser Organisationen kann von einer ökonomischen Orientierung der Hochleistung gesprochen werden. Diese Perspektive der Hochleistung dominiert die bestehenden Arbeiten. So zeigt z. B. ein Überblick von Kirby (2005), dass acht der dort dargestellten zehn Arbeiten aus dem Hochleistungsbereich ausschließlich Wirtschaftsorganisationen als Betrachtungsgegenstand für ihre Forschungen gewählt haben (vgl. Kirby 2005: 32ff.). Neben der ökonomischen Orientierung in der Hochleistungsthematik beschäftigt sich eine weitaus kleinere Anzahl von Arbeiten mit dem Erhalt und Ausbau von Sicherheit und Verlässlichkeit in Organisationen und sucht nach Maßnahmen und Methoden, um dieses Leistungsziel zu erreichen (vgl. z. B. Roberts 1990b; Helmreich und Foushee 1993; La Porte und Rochlin 1994; Helmreich und Schaefer 1994; Flin 1995; Rall et al. 2001; Weick und Sutcliffe 2003; Dietrich und Childress 2004b). Untersuchungsgegenstand dieser Forschungen sind größtenteils die eingangs erwähnten Organisationen in Hochrisikoumwelten.15 Die Leistung dieser Organisationen orientiert sich weniger an ökonomischen Zielstellungen, sondern vielmehr an einem sicheren und zuverlässigen Handeln, so dass es zu keiner Gefährdung von Mensch und Umwelt kommt. Arbeiten, die Organisationen betrachten, deren primäres Leis 15

Weitere Erläuterungen zu den Organisationen in Hochrisikoumwelten siehe Kapitel 3.1.

20

Kapitel 2

tungsziel auf Sicherheit und Zuverlässigkeit ausgerichtet ist, sollen als verlässlichkeitsorientierte Hochleistungsforschung bezeichnet werden. Obwohl Erkenntnisse der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung wichtige Einblicke in Prozesse und Strukturen gewähren, die sich positiv auf die organisationale Leistungsfähigkeit auswirken (vgl. Weick et al. 1999:82), fanden diese Forschungen außerhalb ihrer und angrenzender Disziplinen bisher nur wenig Aufmerksamkeit (vgl. Vogus und Welbourne 2003:878; Weick et al. 1999:82). Dies kann damit begründet werden, dass die Erkenntnisse der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung als zu speziell angesehen wurden, um auf andere, primär ökonomischorientierte Organisationen übertragen zu werden (vgl. Weick et al. 1999:82). Insbesondere in der hohen „technischen Komplexität“ und der „engen Kopplung der Teilsysteme“ von Hochrisikoorganisationen16 wurden zentrale Merkmale gesehen, die selten in anderen Organisationen vorzufinden sind. Auch agieren diese Organisationen selten in Hochrisikoumwelten oder setzen gefährliche Technologien ein. Erst in jüngster Zeit rücken die verlässlichkeitsorientierten Arbeiten zunehmend in den Betrachtungsmittelpunkt interdisziplinärer Diskussionen. Dies zeigt sich z. B. in einer verstärkten theoretischen Diskussion (vgl. u. a. Vogus und Welbourne 2003; Carroll et al. 2002b; Dietrich und Childress 2004b; Wilson et al. 2005), Sonderausgaben von Journals und Zeitschriften17 oder aber in interdisziplinären Projekten18, die in diesen Themenbereich fallen.19 Des Weiteren fällt bei den oben dargestellten (ökonomisch-orientierten) Arbeiten zu Hochleistung auf, dass die organisationale Leistungsfähigkeit durch verschiedene Faktoren auf unterschiedlichen Gestaltungsebenen – Organisation/Struktur, Team, Individuum – beeinflusst werden kann. Auf einer organisationalen/strukturellen Ebene lässt sich die Leistungsfähigkeit z. B. durch zeiteffiziente und abgestimmte Arbeitsprozesse oder ein ausgeprägtes organisationales Lernen im Sinn der Leistungsziele beeinflussen. Auf der Teamebene wirken sich heterogene und ergänzende Fähigkeiten der Mitarbeiter, ein gemeinsames handlungsleitendes Ziel, ein gemeinsamer Arbeitsansatz sowie eine hohe Motivation und eine gegenseitige Verantwortung der Mitarbeiter positiv auf die organisationale Leistungsfähigkeit aus. Zu den leistungsbeeinflussenden Faktoren der oben skizzierten Arbeiten, die über die individuelle Ebene wirken, gehören u. a. das Wissen und Können der Mitarbeiter, deren Motivation und 

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17

18

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Nähere Erläuterungen zu diesen HRO-charakteristischen Merkmalen vgl. Kapitel 3.1.2. Vgl. hierzu bspw. Journal of Organizational Behaviour, 24, 2003; Harvard Business Review, 7, 2005; Harvard Business Manager 11, 2005. So beschäftigt sich etwa das aus der Crew Resource Management-Forschung (vgl. Kapitel 3.5) stammende Projekt „Group Interaction in High Risk Environments (GIHRE)“ mit dem Verhalten und der Kommunikation von professionellen Arbeitsgruppen, die in Hochrisiko-Umwelten agieren (vgl. Dietrich und Childress 2004b und die dortige Literatur). Begründen lässt sich dieses zunehmende Interesse mit der steigenden Überzeugung, dass Erkenntnisse der verlässlichkeitsorientierten Forschung durchaus auf Organisationen, die nicht in Hochrisikoumwelten agieren, übertragen werden können. Hierbei kann argumentiert werden, dass sich die Komplexität nicht aus den eingesetzten gefährlichen Technologien ergibt, sondern aus der eng gekoppelten, hochdynamischen und komplexen Organisations-Umweltbeziehung (bei Wohland et al. [2004] auch als Dynamikproblem bezeichnet), in der sich eine Vielzahl von Organisationen bewegt (vgl. Vogus und Welbourne 2003:878).

Bereiche und Perspektiven der Hochleistungsforschung

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Commitment, die Entscheidungs- und Handlungsfähigkeit, die Stressresistenz oder die handlungsleitende Funktion von Zielen, Werten und Normen. Aber auch ein autonomes und selbstorganisiertes Handeln der Individuen und eine gute Kommunikation können sich positiv auf die organisationale Leistungsfähigkeit auswirken. Damit zeichnet sich eine Klassifikationsstruktur ab, die im Folgenden auch bei der Untersuchung der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschungen angelegt werden soll.

2.4 Resümee: Verlässlichkeitsorientierte Hochleistungsforschung Zusammenfassend lässt sich für dieses Kapitel festhalten, dass sich verschiedene Arbeiten mit der Thematik der organisationalen Hochleistung beschäftigen. Ihnen gemeinsam ist, dass sie nach Faktoren suchen, mit denen sich die Leistung von Organisationen positiv, im Sinn der jeweiligen Leistungsziele, beeinflussen lässt. Ähnlich dem Leistungsbegriff zeichnet sich der Begriff „Hochleistung“ in der Literatur durch eine Bedeutungsvielfalt und Unschärfe aus. Häufig wird er als bekannt vorausgesetzt und nicht explizit definiert. Darüber hinaus bestimmt sich das jeweilige Verständnis maßgeblich durch die wissenschaftliche Disziplin, aus der die Thematik Hochleistung betrachtet wird. Es konnte gezeigt werden, dass es nicht „die“ Hochleistungsforschung gibt. Vielmehr ließen sich anhand des primär verfolgten Leistungsziels der untersuchten Organisationen eine ökonomisch-orientierte und eine verlässlichkeitsorientierte Perspektive der Hochleistungsthematik ableiten. Arbeiten der ersten Perspektive verfügen zumeist über ein ergebnisorientiertes Leistungsverständnis und thematisieren ökonomische Aspekte, wie Produktiväts- Qualitäts- oder Innovationsverbesserungen, die sich in klar messbaren betriebswirtschaftlichen Kennzahlen, z. B. Unternehmenserfolg oder Wettbewerbsposition widerspiegeln. Verlässlichkeitsorientierte Forschungen hingegen argumentieren aus einer Sicherheits-/ Verlässlichkeitsperspektive heraus. Sie sehen die organisationale Leistung als einen kontinuierlichen Prozess, der es Organisationen in Hochrisikoumwelten ermöglicht, sicher und zuverlässig zu handeln, so dass es zu keinen Schädigungen von Mensch und Umwelt kommt. Damit unterstellen sie ein tätigkeits-/handlungsorientiertes Leistungsverständnis. Die hier vorgenommene Einteilung der Hochleistungsforschungen ermöglicht es, die Betrachtungsperspektive der vorliegenden Arbeit zu präzisieren und auf die verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschungen einzugrenzen. Diese bilden den Bezugsrahmen der Arbeit und werden zur theoretischen Bearbeitung der forschungsleitenden Fragestellungen herangezogen. In ihnen wird ein hohes Erklärungspotenzial gesehen, wenn es darum geht, verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten zu identifizieren.

Teil B: Theoretische Grundlagen der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung Im vorangegangenen Kapitel wurde das breite Feld der Hochleistungsthematik aufgezeigt und für die weiteren Untersuchungen auf die verlässlichkeitsorientierte Perspektive eingegrenzt. Welche Forschungen sind hierunter genau zu verstehen? Teil B dieser Arbeit zielt darauf ab, ein tief greifenderes Verständnis für die verlässlichkeitsorientierte Perspektive zu schaffen. Daher werden im folgenden Kapitel Grundlagen der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung erarbeitet. Mit den Organisationen in Hochrisikoumwelten und den Hochverlässlichkeitsorganisationen (Kapitel 3.1) wird gleich zu Beginn des Kapitels der zentrale Betrachtungsgegenstand der verlässlichkeitsorientierten Forschungen vorgestellt sowie auf deren handlungsbeeinflussende Kontextfaktoren (Kapitel 3.2) eingegangen. Es wird sich zeigen, dass die Leistungszielstellung dieser Organisationen darin besteht, auch unter erschwerten Handlungsbedingungen eine organisationale Verlässlichkeit, im Sinn von Sicherheit, aufzubauen und zu erhalten. In diesem Zusammenhang werden vor allem der Umgang mit Fehlern, Zwischenfällen und Unfällen thematisiert und die für die verlässlichkeitsorientierte Forschung zentralen Aspekte der Fehlerforschung herausgearbeitet (Kapitel 3.3). Mit den High Reliability-Forschungen (Kapitel 3.4) und den Arbeiten zu Human Factors/Crew Resource Management (Kapitel 3.5) werden anschließend zwei grundlegende Bereiche der verlässlichkeitsorientierten Forschung ausführlich vorgestellt und erläutert sowie deren verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren herausgearbeitet und diskutiert. Ausgehend von dem oben abgeleiteten Klassifikationsschema, werden diese Faktoren in organisational-strukturelle, teambezogene und individuumsbezogene Gesichtspunkte eingeteilt und in einem Modell zusammengefasst, das die verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten darstellt (Kapitel 3.6). Darüber hinaus ermöglicht die intensive Auseinandersetzung mit der verlässlichkeitsorientierten Perspektive, bestehende Erklärungs- und Forschungslücken hinsichtlich der bisher untersuchten Organisationen sowie der Lernthematik aufzudecken. Jene wirken sich auf den empirischen Teil der Arbeit aus und spiegeln sich in der Wahl der später zu untersuchenden Organisationen in Hochrisikoumwelten wider. Gleichzeitig eröffnen sie das zweite zentrale Erkenntnisinteresse der vorliegenden Arbeit.

3 Verlässlichkeitsorientierte Forschungen 3.1 Betrachtete Organisationen 3.1.1 Organisationen in Hochrisikoumwelten Organisationen, die in Situationen handeln, in denen Fehler zu einer überdurchschnittlichen Gefahr für das eigene Leben, das Leben oder die Gesundheit anderer oder Gefahren für die Umwelt führen, agieren in Hochrisikoumwelten. Sie zielen daher auf einen möglichst zuverlässigen und fehlerfreien Betriebsablauf ab und können als Organisationen in Hochrisikoumwelten bezeichnet werden. Meist handelt es sich dabei um komplexe Organisationen, die gefährliche Technologien einsetzen und unter ingenieurtechnischen Gesichtspunkten als gefährlich anzusehen sind (vgl. u. a. Roberts 1990b; Sagan 2004:15; Perrow 1992:15; Carroll et al. 2002b:4). Organisationen in Hochrisikoumwelten sind Untersuchungsgegenstand der verlässlichkeitsorientierten Forschungen. Bei Durchsicht der bestehenden einschlägigen Literatur fällt auf, dass hinsichtlich der Bezeichnung dieser Organisationen eine terminologische Vielfalt herrscht. Je nach wissenschaftlicher Disziplin werden Organisationen mit ähnlichen Eigenschaften unterschiedlich bezeichnet: High Risk Systems (Perrow 1992); High Hazard Organizations (Carroll et al. 2002a), High Hazard Industries (Carroll et al. 2002b), Hazardous Organizations (Perrow 1992; Sagan 2004), High Tech Systems (Marais et al. 2004; Sagan 2004:15), Safety critical Industries (Helmreich und Sexton 2004); High Reliability Organizations (Roberts 1990a; Roberts 1990b; La Porte 1996; Marais et al. 2004). Diese Begriffsvielfalt erschwert den Überblick innerhalb der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung. Tabelle 1 stellt beispielhaft einige dieser Begrifflichkeiten dar: Begriff

Autor

High Risk Environments

Dietrich und Childress (2004b)

Safety Critical Industries

Helmreich und Sexton (2004)

(Safety Climate/ Safety Culture)

High Reliability Industries

Klampfer u. a. 2001

Definition

Untersuchungsgegenstand

“High Risk Environments are environments in which there is a more than normal chance to one’s own life, the life of others or to material property.“ (Dietrich und Childress 2004b:1)

OP-Teams

“In recent years, there has been growing interest in safety climate (also referred to as safety culture), particularly in safety critical industries such as nuclear power generation, petro-chemical plants, spaceflight, medicine and aviation.” (Helmreich und Sexton 2004:15)

Kernkraftwerke

“High reliability industries such as nuclear power, rail and maritime transport, and medicine… “ (Klampfer et al. 2001:6)

Kernkraftwerke

Teams von Intensivstationen Cockpit Crews Teams von Kontrollzentren in Kernkraftwerken

Petrochemieanlagen Raumfahrt Medizin Luftfahrt

Bahn Schifffahrt Medizin

26

Kapitel 3

Begriff

Autor

Hazardous Organizations

Perrow

High Hazard Industries

Untersuchungsgegenstand Kernkraftwerke

Carroll et al. (2002b)

High Hazard Organizations “are distinctive work settings that include potential harm or death to large numbers of individuals in a single event, such as an explosion or crash.“ (Carroll et al. 2002b:4)

Kernkraftwerke

Carroll (2004)

“High-hazard Industries, such as nuclear power and aviation, that would put many people at the risk in the event of a single accident.” (Carroll 2004:127)

Kernkraftwerke

Carroll et al. (2002a)

“Nuclear Power plants and other Highhazard or high reliability production systems” (Carroll et al. 2002a:4)

Kernkraftwerke

Carroll (1998)

“Nuclear power plants are the prototypical high-hazard industry because of the potential for catastrophic consequences and the public dread of radiation.” (Carroll 1998:701)

Kernkraftwerke und Chemieunternehmen

Sagan (2004)

High Hazard Organizations

Definition Hazardous Organizations “are complex organizations that use hazardous technology.” (Sagan 2004:15)

Luftfahrt

“Chemical process plants […] are continuous process technologies with significant hazards arising from toxic chemicals, high temperatures, explosions etc. “ (Carroll 1998:707) High Hazard Production Systems

Carroll (2002b)

“Nuclear Power plants and other Highhazard or high reliability production systems” (Carroll et al. 2002a:4)

Kernkraftwerke und Chemieunternehmen

Rall et al. (2001)

„Hochsicherheits-, Hochrisikobereiche sind zum Beispiel die zivile Luftfahrt, die Raumfahrt, der Betrieb von Kernkraftwerken oder andere großindustrielle Anlagen. Hochsicherheit bezieht sich dabei darauf, dass die Sicherheit höchste Priorität hat. Hochrisiko bedeutet, dass, wenn es doch zu Zwischenfällen kommt, die Auswirkungen verheerend sein können.“ (Rall et al. 2001:322)

Keine eigene Untersuchung:

High Reliability Production Systems HochsicherheitsHochrisikoBereiche

Kernkraftwerke Zivile Luftfahrt Raumfahrt Großindustrielle Anlagen

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

Begriff

Autor Roberts (1990a, b)

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Definition “Within the set of hazardous organization there is a subset of which has enjoyed a record of high safety over long periods of time. One can identify this subset by answering the question ‘How often could this organization have failed with dramatic consequences?’ If the answer to the question is man thousands of times this organization is highly reliable.“ (Roberts 1990b:160)

Untersuchungsgegenstand Atomar getriebene Flugzeugträger Kernkraftwerke Flugsicherung

“Within the set of hazardous organization, some organizations have operated nearly error free for very long periods of time. These organizations are “high reliability” organizations.” (Roberts 1990a:101). Vogus und Welbourne (2003)

“HROs are defined by their unique ability to operate high-hazard technological systems in a nearly error-free manner.” (Vogus und Welbourne 2003:878)

Verweis auf Roberts und andere

Gray (2003)

HROs “are organizations such as nuclear power plants, aircraft carriers, and hospital emergency departments that operate in situations where the potential for disaster is great and outcomes are highly unpredictable. Despite being bombed by unforeseen occurrences, HROs are able to maintain excellent performance.” (Gray 2003:3)

Keine eigene Untersuchung:

Kerfoot (2004)

“In health care, our challenge is to create that high level of reliability so that patients can trust us as a reliable organization and where they will never undergo wrong surgery, medication, or fall out of bed.” (Kerfoot 2004:79)

Keine Untersuchung

La Porte (1996)

HROs are organizations that are “pressed to operate continuously at a level usually understood to be very much above average, often near peak capacity”. (La Porte 1996:60f.)

Bourrier (2005)

HROs können definiert werden als Organisationen „in which errors can have catastrophic outcomes, but which conducts relatively error free operations over a long period of time, making consistently good decisions, resulting in high quality and reliability operations“. (Bourrier 2005:94)

High Reliability Organizations (HROs)

Tabelle 1:

Kernkraftwerke Flugzeugträger Med. Notaufnahme

Verschiedene Definitionen von Organisationen in Hochrisikoumwelten

Häufig umschreiben die unterschiedlichen Begrifflichkeiten implizit ähnliche Eigenschaften von sicherheitsorientierten Systemen, ohne sich jedoch voneinander abzugrenzen. Somit lässt sich eine begriffliche Unklarheit konstatieren.

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Kapitel 3

Im Versuch, diese Begrifflichkeiten zu klassifizieren, bieten sich unterschiedliche Möglichkeiten an. Marais et al. (2004) versuchen die bestehenden Organisationen anhand der Risikoursache zu unterteilen (vgl. Tabelle 2). Begriff

Risikoursache

Hochrisikosysteme (High Risk Systems)

Aufgabe und Aufgabenerfüllung

High Tech Systems

Technik Technische Entscheidungsfindung

Hochverlässlichkeitsorganisationen (High Reliability Organizations)

Komplexe interne und externe technische, soziale und organisationale Umwelt

Tabelle 2:

Klassifikation von Organisationen in Hochrisikoumwelten

Bei Hochrisikosystemen (High Risk Systems) stellen weniger die technischen, strukturellen oder sozialen Faktoren eine Ursache des Risikos dar als vielmehr die schwer zu kontrollierende und zu beeinflussende Aufgabe und die Aufgabenerfüllung. In High Tech Systems stellen die Technik sowie die technischen Entscheidungen Risikoursachen der Organisationen dar. In Hochverlässlichkeitsorganisationen (High Reliability Organisationen) werden sowohl komplexe interne und externe technische, soziale und organisationale Faktoren als Risikoursache gesehen. Die Klassifikation der beschriebenen Organisationen wird jedoch erschwert, weil die Autoren selbst mitunter keine saubere Trennung vornehmen, welche Organisationen zu den Hochverlässlichkeitsorganisationen zu zählen sind. So fassen z. B. Weick et al. (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:15; Weick et al. 1999:86; Coutu 2003:86) neben Stromnetzbetreibern, atomar getriebenen Flugzeugträgern oder Kernkraftwerken auch Notaufnahmen in Krankenhäusern, Geiselbefreiungsteams oder Feuerwehreinheiten als Hochverlässlichkeitsorganisationen auf, obwohl Letztgenannte nicht über die für HRO charakteristische technische Orientierung verfügen.20 Die begriffliche Aufweichung geht sogar so weit, dass „you could even think of restaurant kitchens, with orders coming in rapid-fire and knives flying all over the place, as high-reliability organizations” (Coutu 2003). Zudem fällt auf, dass sich einige Arbeiten im Bereich der High Reliability-Forschung nicht auf eigene Erhebungen beziehen, sondern auf die Untersuchungen der „Berkeley Gruppe“ (siehe Kapitel 3.4.1.) zurückgreifen sowie deren Begrifflichkeiten übernehmen (vgl. Gray 2003; Kerfoot 2004). Eine weitere Einteilung dieser Organisationen kann anhand der Dimensionen technologisches Risiko und Zuverlässigkeit – im Sinn einer technischen Sicherheit – erfolgen (vgl. Abbildung 3). Je nach Ausprägung der Dimensionen (gering oder hoch) lassen sich Organisationen entsprechend in eines der vier Matrixfelder einordnen. Ökonomisch-orientierte Organisationen, 

20

Zu den Merkmalen von Hochverlässlichkeitsorganisationen vgl. Kapitel 3.4.2.

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

29

die z. B. fehlerhafte oder unzuverlässige Werkzeuge oder Maschinen produzieren, zeichnen sich durch ein geringes technologische Risiko und eine geringe Verlässlichkeit aus. Diese Organisationen bewegen sich im ersten Feld und sind nicht dem grau eingefärbten Bereich der Hochrisikoumwelten zuzurechnen. Organisationen aus Hochrisikoumwelten, bei denen es bereits zu Zwischenfällen und Unfällen kam (z. B. Kernkraftwerk in Three Mile Island, Tschernobyl oder Spaceshuttle Challenger), verfügen über ein hohes technologisches Risiko und haben nicht die von ihnen erwartete Verlässlichkeit erfüllt. Sie sind Feld zwei zuzuordnen. Zeigen aber solche Organisationen in Hochrisikoumwelten die von ihnen erwartete Zuverlässigkeit, sind sie „high reliable“ und werden als High Reliability Organizations bezeichnet. Diese bewegen sich im vierten Feld der Matrix und bilden zumeist den Gegenstand der in Kapitel 3.4 genauer erläuterten High Reliability-Forschung. Organisationen, die dem dritten Quadranten zuzuordnen sind, zeichnen sich durch ein geringes technisches Risiko aus. Jedoch wird von ihnen eine hohe Verlässlichkeit z. B. aufgrund einer hohen ethisch-moralischen Verantwortung erwartet (vgl. Helmreich und Merritt 1998:143). Gleichzeitig führt auch das zunehmende öffentliche Interesse (Medien, Rechtsprechung, Politik etc.) zu einem gesteigerten Verlässlichkeitsbestreben und zur Vermeidung von Fehlern in diesen Organisationen (vgl. Mannarelli et al. 1996:84f.). Wasserversorger, Rettungsdienste, Feuerwehr oder klinische Notfallteams könnten diesem Bereich zugeordnet werden. Allerdings zeigt sich, dass die Organisationen des dritten Quadranten in den bestehenden verlässlichkeitsorientierten Forschungen selten Gegenstand empirischer Betrachtungen sind. Überwiegend untersuchen verlässlichkeitsorientierte Forschungen Organisationen, die sich den Feldern zwei und vier zuordnen lassen.

1 Unzuverlässige Organisationen mit geringem techn. Risiko z. B. Konsumgüterindustrie

3 Zuverlässige Organisationen in Hochrisikoumwelten mit geringem techn. Risiko z. B. Wasserversorger, Feuerwehr

Verlässlichkeit

4 Zuverlässige Organisationen in Hochrisikoumwelten mit hohem techn. Risiko z. B. HRO

gering

hoch

hoch

Technologisches Risiko

Abbildung 3:

gering

2 Unzuverlässige Organisationen in Hochrisikoumwelten z. B. Tschernobyl, Three Mile Island

angelehnt an Roberts (1990a:105)

Das Verhältnis von Verlässlichkeit und technologischem Risiko

Um sich nicht in der Begriffsvielfalt von Organisationen in Hochrisikoumwelten zu verlieren, lehnt sich diese Arbeit an die Definition von Dietrich und Childress (2004b) an und spricht

30

Kapitel 3

allgemein von Organisationen in Hochrisikoumwelten. Mit den sog. Hochverlässlichkeitsorganisationen (High Reliability Organizations) gibt es zudem eine Untergruppe von Organisationen, die in Hochrisikoumwelten agieren (vgl. Roberts 1990b:160; Weick et al. 1999:84). Charakteristisch für die HRO ist, dass sie sich trotz ihrer technischen Komplexität und engen Kopplung der Teilsysteme (vgl. hierzu folgendes Kapitel) durch „a high record of safety over long periods of time“ (Roberts 1990b:160) auszeichnen. Welche Organisationen zählen nun aber zu den Hochverlässlichkeitsorganisationen? Sind diese durch bestimmte Merkmale gekennzeichnet? Hierauf soll nun im Folgenden eingegangen werden.

3.1.2 Hochverlässlichkeitsorganisationen Arbeiten der High Reliability-Forschung bezeichnen Organisationen in Hochrisikoumwelten als Hochverlässlichkeitsorganisationen, sobald folgende Frage in der nachfolgend aufgeführten Weise beantwortet werden kann: „’How often could this organization have failed with dramatic consequences?’ If the answer to this question is many thousands of times the organization is highly reliable” (Roberts 1990a:101f.). Zu den „klassischen“ Beispielen von HRO zählen Kernkraftwerke, Chemieunternehmen, atomar getriebene Flugzeugträger oder die Flugsicherung (vgl. Roberts 1990a:102f.; Mannarelli et al. 1996:84; Bourrier 2005:93). Im Zuge des Forschungsfortschrittes und des damit verbundenen Einflusses der Fehlerforschung (vgl. Kapitel 3.3) hat auch die Begriffsbestimmung einen Wandel erfahren. In jüngeren Publikationen werden Hochverlässlichkeitsorganisationen definiert als: „organizations in which errors can have catastrophic outcomes, but which conducts relatively error free operations over a long period of time, making consistently good decisions, resulting in high quality and reliability outcomes” (Bourrier 2005:94). Gray (2003:3) betont in ihrer Definition insbesondere die gravierenden Fehlerfolgen: „Organizations, such as nuclear power plants, aircraft carriers, and hospital emergency departments that operate in situations where the potential for disaster is great and outcomes are highly unpredictable. Despite being bombed by unforeseen occurrences, HROs are able to maintain excellent performance.” Hochverlässlichkeitsorganisationen können somit als Organisationen in Hochrisikoumwelten aufgefasst werden, „die ständig unter schwierigen Bedingungen arbeiten und bei denen trotzdem weit weniger Unfälle und Störungen auftreten, als statistisch zu erwarten wäre.“ (Weick und Sutcliffe 2003:15). Dieses Zitat verdeutlicht, dass überdurchschnittliche Fehlerfreiheit ein wichtiges Definitionsmerkmal der Hochverlässlichkeitsorganisationen ist. Zu Beginn der High ReliabilityForschungen (vgl. hierzu Kapitel 3.4) wurde noch die Annahme vertreten, dass es in HRO möglich sei, Fehler durch entsprechende personelle, strukturelle und technische Maßnahmen gänzlich zu vermeiden. Beeinflusst durch die Arbeiten der Fehlerforschung (insbesondere Reason 1994) wird heute davon ausgegangen, dass Fehler unvermeidbar sind: „Accidents are normal in the sense that they aren’t likely to be eleminated on either a system or organizatio-

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

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nal level.“ (Roberts und Bea 2001:77). Dies liegt daran, dass „roots of catastrophes are embedded in operational systems, latent until an undesirable combination of events occurs” (Roberts und Bea 2001:71). Jedoch werden die Fehlerursachen nicht nur alleine im System gesehen, sondern auch in den Menschen und ihrem Verhalten – den sog. „Human Factors“ (vgl. hierzu Kapitel 3.5): „Accidents occur because the humans who operate and manage complex systems are themselves not sufficiently complex to sense and anticipate the problems generated by those systems“ (Weick 1987:112). Fehler und die daraus resultierenden Störungen und Zwischenfälle in Hochrisikoorganisationen lassen sich demnach nie gänzlich vermeiden, jedoch durch organisationale und strukturelle Maßnahmen sowie durch ein gemeinsames achtsames Handeln und eine Sicherheitskultur minimieren, so dass Organisationen zu HRO werden (vgl. u. a. Weick und Sutcliffe 2003; Weick et al. 1999; Ruchlin et al. 2004; Carroll 1998:704). Neben der ausgeprägten Fehlerfreiheit zeichnen sich die High Reliability Organizations durch eine starke technologische und technische Ausrichtung aus (vgl. u. a. Roberts 1990a:106; Vogus und Welbourne 2003:878; La Porte 1996:60; Rochlin 1996:96). In HRO geht es darum, „to operate safely technologically complex organizations“ (Roberts 1990b:160). Die komplexen Technologien sichern und optimieren den Organisationen ihre Funktionsfähigkeit. Gleichzeitig sollen sie helfen, Fehler und daraus resultierende Störungen und Zwischenfälle zu vermeiden. Die erhöhte Komplexität durch die technologischen Teilsysteme sowie deren Beziehungen untereinander erhöhen die Komplexität und das Unfallrisiko des Gesamtsystems. Die komplizierten Technologien und die komplexen technischen Prozesse setzten ein tief greifendes technisches Verständnis seitens der Mitarbeiter voraus (vgl. Vogus und Welbourne 2003:878; La Porte 1996:61). Neben der positiven Wirkung auf die Funktionsweise der Organisation stellen sie zugleich ein hohes Gefahrenpotenzial für die Organisationen dar, da nur ein begrenztes Wissen über die neuen Technologien und deren Wechselwirkungen mit bestehenden Technologien und Prozessen vorherrscht (vgl. Roberts 1990a:106; Marais et al. 2004:4). Ein weiteres Merkmal von Hochverlässlichkeitsorganisationen sind die interaktive Komplexität und die enge Kopplung der Teilsysteme.21 Die interaktive Komplexität bezieht sich dabei auf ungeplante und unerwartete Situationen in einem hochkomplizierten, technologischen System. Die Situationen sind dabei weder vorhersehbar noch können sie schnell kompensiert  21

Mit der „interaktiven Komplexität“ und der „engen Kopplung der Teilsysteme“ übernehmen die High Reliability-Forschungen zwei zentrale Organisationsmerkmale aus der „Normal Accident Theory“ (vgl. Perrow 1992; Roberts 1990b:166; Sagan 2004:17; Marais et al. 2004). Weitere Ausführungen zur Normal Accident Theory finden sich in Kapitel 3.4.1. Im Zusammenhang mit der interaktiven Komplexität und der engen Kopplung sei erwähnt, dass Kritiker der Hochverlässlichkeitsforschung darauf hinweisen, dass es sich bei den in der HRO-Forschung betrachteten Organisationen nicht um eng gekoppelte und interaktiv komplexe Systeme handeln würde (vgl. hierzu die Ausführungen in La Porte und Rochlin 1994:222; Marais et al. 2004:3).

32

Kapitel 3

werden. Komplexität bestimmt sich durch hinderliche und gegenläufige Funktionen22 von Teilsystemen, die Nähe der Teilsysteme sowie die indirekten Informationsquellen (vgl. Roberts 1990b:163). Unter enger Kopplung wird eine starke Interdependenz der verschiedenen Teilsysteme verstanden. Bei der engen Kopplung geht es weniger um die Anzahl der Beziehungen zwischen den Teilsystemen als vielmehr um ihre Brüchigkeit. Jede Veränderung eines Teilsystems beeinflusst alle anderen Teilsysteme. „Enge Kopplung ist ein technischer Begriff und bedeutet, dass es zwischen zwei miteinander verbundenen Teilen kein Spiel, keine Pufferzone oder Elastizität gibt. Sämtliche Vorgänge des einen Teils wirken sich unmittelbar auf die Vorgänge der anderen Teils aus.“ (Perrow 1992:131). In eng gekoppelten Systemen bestehen zeitabhängige Prozesse, invariante Teilschritte (Schritt A muss vor Schritt B erfolgen), in der Regel nur ein Weg, das Ziel zu erreichen und wenig Spielraum für korrigierende Handlungen (vgl. Roberts 1990b:163). Eine enge Kopplung erlaubt es damit den Teilsystemen nicht, gemäß ihrer eigenen Logik oder ihren eigenen Interessen zu funktionieren. Ein eng gekoppeltes System reagiert viel direkter auf Änderungen. Verdeutlichen lässt sich dies am Beispiel eines linearen Produktionsprozesses (z. B. Scheinwerferproduktion, Medikamentenherstellung, Backwarenherstellung in Großbäckerei etc.). Hier wirkt sich die enge Kopplung der verschiedenen Teilsysteme (Bearbeitungsstationen) positiv auf die Effizienz aus, wenn der Produktionsprozess auf eine andere Produktvariante umgestellt wird. Denn die einzelnen Teilsysteme können sich an vordefinierten und optimierten Vorgaben, Toleranzen, Bearbeitungszeiten etc. orientieren und so recht zügig wieder effizient zusammenarbeiten (vgl. hierzu auch Perrow 1992:131f.). Bei Störungen besteht allerdings die Gefahr, dass durch die enge Kopplung und dem damit verbundenen geringen Handlungsspielraum bereits kleinste Fehler in Teilsystemen leicht zu Zwischenfällen im Gesamtsystem führen können (vgl. Roberts und Bea 2001:71; Marais et al. 2004:1f.). Aufgrund der geringeren Abhängigkeiten der Teilsysteme bieten lose gekoppelte Systeme hingegen größeren Spielraum, Störungen und ungeplantes Verhalten auszugleichen (vgl. Perrow 1992:134). Gleichzeitig fordert die geringere Abhängigkeit eine stärkere Koordination. Das führt wiederum zu einer höheren Komplexität und damit zu einer stärkeren Fehleranfälligkeit des Gesamtsystems. Hochverlässlichkeitsorganisationen sind sich dieser wechselseitigen Beeinflussung von enger Kopplung und interaktiver Komplexität bewusst und wirken ihr aktiv entgegen. Sie versuchen nicht wie bisher üblich, die Systeme durch den verstärkten Einsatz von Technologien sicherer zu machen. Vielmehr zielen sie darauf ab, Teilprozesse durch ein achtsames Handeln zu entkoppeln, um damit die Verlässlichkeit der Organisation zu erhöhen (vgl. Weick et al. 1999:105).



22

Unter gegenläufiger Funktion von Teilsystemen wird z. B. verstanden, wenn ein Generator dazu benutzt wird, die Flüssigkeit eines Chemietanks zu heizen und gleichzeitig die eines anderen Tanks zu kühlen. Fällt der Generator aus, führt dies dazu, dass ein Tank überhitzt und der andere unterkühlt wird (vgl. Roberts 1990b:163).

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

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Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Organisationen in Hochrisikoumwelten den Betrachtungsgegenstand der verlässlichkeitsorientierten Forschungen bilden. Diese stellen eine Untergruppe der Organisationen in Hochrisikoumwelten dar und charakterisieren sich durch: eine überdurchschnittliche Fehlerfreiheit, interaktive Komplexität, enge Kopplung der Teilsysteme sowie eine starke technologische Ausrichtung (vgl. Roberts 1990a:104f.; La Porte und Rochlin 1994:222; Weick und Sutcliffe 2003:66; Weick et al. 1999:81; Weick und Roberts 1993:377).

3.2 Handlungsbeeinflussende Kontextfaktoren Im vorangegangenen Kapitel wurden Organisationen in Hochrisikoumwelten und Hochverlässlichkeitsorganisationen vorgestellt. Diese sind in der Lage, auch unter „very trying conditions“ (vgl. La Porte und Rochlin 1994:221; Coutu 2003:86) verlässlich zu agieren. Was ist aber genau mit diesen sehr schwierigen (Handlungs-)Bedingungen gemeint? Obwohl sich die Arbeiten zu High Reliability Organizations überwiegend mit den organisationsinternen, verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren beschäftigen, geben sie dennoch einige Hinweise auf die jeweiligen Bedingungen, mit denen diese Organisationen konfrontiert sind: HRO bewegen sich in Hochrisikoumwelten und agieren damit in „situations fraugth with risk“ (Bourrier 2005:93). Dabei sind sie mit dynamischen, unsicheren Umwelten, komplexen Aufgaben und unerwarteten und unvorhersehbaren Aufgaben und Situationsveränderungen konfrontiert, in denen sie durch ihre Mitarbeiter verlässlich handeln müssen (vgl. Roberts 1990b:161; Weick et al. 1999:117; Coutu 2003:86; Weick und Sutcliffe 2003:14; vgl. Bourrier 2005:94; Gray 2003:3). Etwas intensiver setzen sich die Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management (Kapitel 3.5) und damit verbunden die Forschungen zum Naturalisitc Decision Making (NDM) (Kapitel 3.5.4) auf einer individuellen und teambezogenen Ebene mit verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren auseinander. Insbesondere die NDMForschungen haben sich stark mit der Frage nach den Kontextfaktoren des Entscheidens in realen Umweltsituationen auseinandergesetzt (vgl. z. B. Orasanu und Connolly 1995:7; Zsambok 1997:4; Lipshitz et al. 2001:332). Als Untersuchungsgegenstand dienten hierfür u. a. Feuerwehren, Polizei- und Militäreinheiten oder Luftfahrtorganisationen (vgl. z. B. Driskell und Salas 1991:473; Orasanu 1997; Salas und Driskell 1996:44; Flin et al. 1997 und die dortigen Beiträge).23 Organisationen in Hochrisikoumwelten sind mit unvorhergesehenen Situationen oder Situationsveränderungen konfrontiert, in denen sie handeln müssen (vgl. z. B. Weick und Sutcliffe 2003:7; Kerfoot 2004:79). Dabei setzt dieses Handeln meist ein Entscheiden im und durch Handeln voraus (vgl. Böhle 2004:42; 2007). Entscheiden und Handeln sind somit eng miteinander verbunden, so dass die in der NDM Forschung identifizierten Kontextfaktoren durchaus als Kontextfaktoren des Handelns aufgefasst werden können.  23

Trotz ähnlicher Untersuchungsgegenstände finden sich in den Arbeiten der NDM-Forschung selten Bezüge zu den Arbeiten der HRO-Forschung.

34

Kapitel 3

Handeln in realen Umweltsituationen ist stark in einen situativen Kontext eingebunden. Dies bedeutet für die Handelnden, dass sie u. U. mit mehreren z. T. schlecht strukturierten Problemstellungen konfrontiert sind: Statt einer Entscheidung müssen multiple Entscheidungen getroffen werden. Häufig sind die zugrunde liegenden Problemstellungen im Vorfeld nicht transparent, so dass diese erst identifiziert, bewertet und priorisiert werden müssen (vgl. Orasanu und Connolly 1995:8; Klein 2003b:179). Erschwerend kommt hinzu, dass die Zielstellungen in realen Umweltsituationen oft schlecht definiert sind, häufig wechseln oder miteinander konkurrieren (vgl. Orasanu und Connolly 1995:8f.; Means et al. 1995:317).24 Zudem zeichnen sich Umweltsituationen in den Hochrisikoorganisationen durch eine hohe (Eigen-)Dynamik und Unsicherheit25 aus (vgl. Kerstholt und Raaijmakers 1997:206; Orasanu und Connolly 1995:8; Burke et al. 2004:96). Die Dynamik der Handlungssituation ergibt sich aus der sich kontinuierlich verändernden Umwelt. Diese Veränderungen resultieren dabei entweder unabhängig oder als Folge der getroffenen Entscheidungen und ergriffenen Handlungen oder als eine Kombination aus beidem. In jedem Fall erschweren sie es dem Handelnden, einen Überblick über die aktuelle Situation zu erhalten. Die Unsicherheit ist als „a sense of doubt that blocks or delays action“ (Lipshitz et al. 2001:337) zu verstehen und lässt sich auf unterschiedliche Gründe zurückführen (vgl. ebd. 2001:338): x

Erstens kann die Unsicherheit durch ein unzureichendes Situationsverständnis hervorgerufen werden. Dies bedeutet, dass die Unsicherheit in einer ungenügenden Situationswahrnehmungsfähigkeit oder einer schlecht strukturierten Problemstellung wurzelt.

x

Zweitens kann die Unsicherheit durch konfligierende oder nicht klar differenzierte Alternativen ausgelöst werden.

x

Drittens kann die Unsicherheit auf den Umfang und die Qualität der entscheidungsrelevanten Informationen zurückgeführt werden. Je schlechter oder geringer die Informationslage zum Zeitpunkt der Entscheidung ist, desto größer ist die Unsicherheit (vgl. Orasanu und Connolly 1995:8). 26

Unsicherheit beim Entscheiden und Handeln ist unvermeidbar und wird immer existieren (vgl. Klein 2003b:325). Gute Entscheider akzeptieren dies und handeln trotz Unsicherheit. Nur durch den Vollzug von Entscheidungen im praktischen Handeln lassen sich die jeweili-

 24

25

Als Beispiel sei hier ein Küchenbrand angeführt: Kurz nach Eintreffen der Feuerwehr-Einsatzkräfte ist es das Ziel, ein Übergreifen des Feuers auf andere Gebäudeteile zu verhindern. Im Einsatzverlauf zeigt sich jedoch, dass sich das Feuer bereits über den Kamin auf andere Gebäudeteile ausgedehnt hat und dort befindliche Personen gefährdet. Diese veränderte Situation führt zu einer Änderung der Zielstellung: Ging es bisher um Substanzerhaltung des Gebäudes, gilt es nun primär, Menschenleben zu schützen oder zu retten. Folge dieser geänderten Zielstellung ist die Notwendigkeit, das gesamte Gebäude zu evakuieren. Zusätzlich kann sich die Entscheidungssituation für den Einsatzleiter erschweren, in dem er zwischen konkurrierenden Zielen (Rettung von eingeschlossenen Passanten und Schutz der eigenen Mannschaft) zu entscheiden hat. „Uncertainty“ wird hier mit „Unsicherheit“ übersetzt. Übersetzungen mit „Ungewissheit“ (z. B. bei Klein 2003b) werden synonym verwendet.

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

35

gen Rahmenbedingungen verändern. Infolgedessen kommt es zu Situationsveränderungen (vgl. Böhle 2004:42). Um mit diesen Schritt zu halten, bedarf es möglichst aktueller handlungsrelevanter Informationen. Da das Entscheiden und Handeln in Hochrisikoumwelten „in the context of complex diagnostic, command and control, design, and planning task[s]“ (Means et al. 1995:316) stattfindet, sind kontinuierliche Feedbackinformationen über die Auswirkungen der jeweiligen Entscheidung für eine gute Leistung unerlässlich (vgl. Kerstholt und Raaijmakers 1997:211). Diese Handlungs-/Feedbackschleifen sind charakteristisch für das Handeln in realen Umweltsituationen (vgl. Orasanu und Connolly 1995:9). Dem Entscheider werden so aktuelle Informationen über Situationsveränderungen kommuniziert. Diese helfen ihm, einen Gesamtüberblick und damit die in der High Reliability-Forschung geforderte Sensibilität für betriebliche Abläufe (vgl. Kapitel 3.4.2.1) zu erhalten. In realen Situationen müssen häufig mehrere Entscheidungen innerhalb kurzer Zeit getroffen werden. Dieser Zeitdruck stellt eine Stresskomponente dar und führt – je nach individueller Stressresistenz – sowohl zu einer Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit und damit zu einer reduzierten diagnostischen Fähigkeit im Rahmen der Entscheidungen (vgl. Means et al. 1995:320; Orasanu und Connolly 1995:9) als auch zur Beeinträchtigung der Wahrnehmungsfähigkeit. Aber auch andere Faktoren, wie Gefahr, schlecht definierte Ziele, Müdigkeit oder eine beeinträchtigte körperliche Verfassung, wirken auf die individuelle Stressresistenz und können damit über die individuelle Leistungsfähigkeit das organisationale Handeln beeinflussen (vgl. u. a. Helmreich und Merritt 1998:38; St. Pierre et al. 2005:85; Mearns et al. 2001:319; Klein 1997b:19). Dies bedeutet, dass ein direkter Zusammenhang zwischen individueller Stressresistenz und organisationaler Leistungsfähigkeit, im Sinn eines zuverlässigen Handelns, besteht: Je höher die Stressresistenz eines Individuums, desto geringer die Beeinträchtigung seiner kognitiven Leistung während des Entscheidens und Handelns gemäß der organisationalen Zielstellungen. Wie später noch genauer erläutert wird (vgl. Kapitel 3.5.3), werden diese Erkenntnis in der Human Factors/Crew Resource ManagementForschung berücksichtigt: Stressresistenz stellt eine wichtige nicht-fachliche Fähigkeit dar, die es im Rahmen von CRM-Trainings auszubauen gilt (vgl. Helmreich und Merritt 1998:36). Auch die empirischen Ergebnisse der hier durchgeführten explorativen Untersuchung zeigen, dass dem Aufbau von Stressresistenz eine hohe Bedeutung im Rahmen eines verlässlichen Handelns beigemessen wird. Darüber hinaus beeinflussen übergeordnete organisationale Ziele sowie organisationale Werte und Normen das Entscheiden und Handeln in realen Umweltsituationen (vgl. Means et al. 1995:322). So führen Entscheidungen bspw. zu einer Änderung und Anpassung von Zielen, Regeln oder Handlungsanweisungen innerhalb der Organisation. Diese wirken sich wiederum entscheidungs- und handlungsleitend auf künftige Situationen aus (vgl. Orasanu und Connolly 1995:10). 

26

Klein (2003b:324) unterteilt nicht so differenziert und reduziert Unsicherheit auf ein reines Informationsproblem. Bei ihm sind lediglich fehlende Informationen, unzuverlässige, mehrdeutige sowie widersprüchliche oder komplexe Informationen für die Unsicherheit eines Entscheiders verantwortlich.

36

Kapitel 3

Damit lassen sich folgende, in Tabelle 3 dargestellte Merkmale als Kontextfaktoren des Handelns von Organisationen in Hochrisikoumwelten auffassen. Kontextfaktoren

Erläuterung

Mehrere Problemstellungen

Relevante Problemstellung ist nicht sofort ersichtlich, sondern muss identifiziert, bewertet und priorisiert werden

Wechselnde oder schlecht definierte Zielstellungen

x x x

Dynamische Umweltsituation

Dynamik resultiert aus permanent sich verändernder Umwelt, so dass es schwer ist, eine Gesamtübersicht zu erhalten

Einfluss von Entscheidung und Handlung auf Umweltsituation

x x

Unsicherheit

x x x

Hoher Zeit- und Handlungsdruck

x x

Einfluss von organisationalen Zielen, Werten und Normen

Tabelle 3:

Schlecht formulierte Ziele Mehrere ggf. konkurrierende Ziele Dynamische oder wechselnde Ziele

Entscheiden und Handeln stehen in einer Wechselbeziehung und resultieren in Umweltveränderungen Entscheiden/Handeln und Umweltsituation stehen in einer Wechselbeziehung Unvorhergesehene Situationen Unvorhergesehene Situationsveränderungen Unsicherheit ergibt sich aus: 1. unzureichender Wahrnehmungsfähigkeit 2. schlecht strukturierten oder intransparenten Problemund Zielstellungen 3. unzureichender Informationsversorgung Handelnde müssen innerhalb kurzer Zeit multiple „real-time“Entscheidungen treffen Zeit- und Handlungsdruck ergibt sich aus der dynamischen Umweltsituation

Organisationale Ziele, Werte und Normen beeinflussen unterbewusst und bewusst Entscheidungen

Kontextfaktoren des Handelns von Organisationen in Hochrisikoumwelten

Aufgrund dieser Kontextfaktoren können die Situationen, in denen Organisationen in Hochrisikoumwelten agieren, als komplex bezeichnet werden. Komplexität wird in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen thematisiert (z. B. Mathematik, Systemtheorie, Psychologie) und erfährt verschiedenste Definitionen (vgl. Perrow 1992; Dörner und Schaub 1995; von der Weth 2001; St. Pierre et al. 2005). Im Zusammenhang mit menschlichem Handeln lassen sich komplexe Situationen vor allem durch folgende Merkmale beschreiben (vgl. Dörner und Schaub 1995:38; Dörner 2004:58ff.; von der Weth 2001:124f.; Hofinger 2003:115ff.; St. Pierre et al. 2005:17ff.): x

hohe Intransparenz der Situation, in der Handelnde leicht den Überblick verlieren

x

unklare Ausgangslagen

x

schlechte, unvollständig oder zu viele Informationen

x

situative Vernetztheit, d. h. Teilaspekte einer Situation können sich gegenseitige beeinflussen und zu vorher nicht bedachten Nebeneffekten führen

x

Zeitverzögerung von Handlungen, d. h., manche Wirkungen von Handlungen werden nicht sofort erkennbar

x

hohe Umweltdynamik, d. h., Situation verändern sich ohne Zutun des Handelnden

x

hoher Zeit- und Gefahrendruck

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

37

Ein Vergleich dieser Eigenschaften mit den oben skizzierten handlungsbeeinflussenden Kontextfaktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten (vgl. Kapitel 3.2) zeigt Übereinstimmungen. Damit ist zu konstatieren, dass Organisationen in Hochrisikoumwelten in komplexen Situationen agieren. Diese komplexen Situationen führen häufiger dazu, dass Mitglieder von Organisationen in Hochrisikoumwelten während des Handelns mit kritischen Situationen konfrontiert sind, in denen sie handeln müssen. Kritische Situationen können als zeitlich abgrenzbare Phasen verstanden werden, in denen das menschliche Denken, Entscheiden und Handeln die Entwicklung des Gesamtprozesses wesentlich beeinflussen und darüber entscheiden, ob die Gesamtsituation einen positiven oder negativen Verlauf nehmen wird (vgl. Strohschneider 2003:VI; Hofinger 2003:119; St. Pierre et al. 2005:5). Das Verhalten der Menschen in kritischen Situationen wird wiederum von stressauslösenden Umwelt- und Situationseinflüssen, einem hohen Zeitdruck sowie weitreichenden Konsequenzen der ergriffenen Handlungen und Entscheidung beeinflusst (vgl. Hofinger 2003:120f.). Zusammenfassend lässt sich damit für dieses Teilkapitel festhalten, dass Organisationen in Hochrisikoumwelten in komplexen Situationen agieren. Organisationsmitglieder sind dabei mit kritischen Situationen konfrontiert, in denen sich ihr Handeln maßgeblich auf die Verlässlichkeit der Organisation auswirkt. Was unter einer verlässlichen Leistung von Organisationen in Hochrisikoumwelten zu verstehen ist, wird im folgenden Abschnitt genauer erörtert.

3.3

Erkenntnisinteresse: Zuverlässiges Handeln

3.3.1 Zuverlässigkeit im Sinn von Sicherheit Wie in den bisherigen Ausführungen erläutert, verfolgen die Forschungen zur verlässlichkeitsorientierten Hochleistung primär den Aufbau und Erhalt von Zuverlässigkeit in Organisationen, die in Hochrisikoumwelten agieren. Wegen der potenziell verheerenden Folgen von Fehlern wird dabei Zuverlässigkeit implizit mit Sicherheit und einer möglichst großen Fehlerfreiheit gleichgesetzt und als hauptsächliche Leistungszielsetzung angesehen (vgl. Roberts 1990a; Carroll 1998; La Porte und Rochlin 1994; Ruchlin et al. 2004). Sicherheit kann dabei definiert werden als „the ability of individuals or organisations to deal with risks and hazards so as to avoid damage or losses and yet still achieve their goals“ (Reason 2000b:5). Sicherheit zeigt sich durch das Ausbleiben von Fehlern, Störungen, Zwischenfällen oder Unfällen. Allerdings ist Sicherheit kein dauerhaftes Ergebnis einer einmaligen Leistungsanstrengung. Vielmehr ist Sicherheit ein dynamisches Nicht-Ereignis (das Ausbleiben von Fehlern), welches durch kontinuierliche Leistungsanstrengungen immer wieder hergestellt und aufrecht erhalten werden muss (vgl. Reason 1997:37; Weick und Sutcliffe 2003:43). „Das Überleben von HROs hängt davon ab, daß sie unter extrem veränderlichen, überraschenden Bedingungen zuverlässige Leistung erbringen.“ (Weick und Sutcliffe 2003:104). HRO unternehmen kontinuierlich eine

38

Kapitel 3

Leistungsanstrengung, um Fehler zu vermeiden. Daher kann ein tätigkeits-/handlungsbezogenes Leistungsverständnis (vgl. Kapitel 2.1) in der verlässlichkeitsorientierten Forschung unterstellt werden. Bereits La Porte und Rochlin (1994:223) erwähnen jedoch, dass „our interests include reliability in readiness, as well as assured production and service in the face of technological change in environmental turbulence”. Allerdings rücken erst in jüngeren Veröffentlichungen auch ökonomische Aspekte wie z. B. Effektivitäts- oder Innovationsaspekte in den Betrachtungsmittelpunkt, wie u. a. die Forschungen von Vogus und Welbourne (2003:878) zu Reliability Seeking Organizations zeigen.27 Auch Marais et al. (2004:12) weisen darauf hin, dass Zuverlässigkeit nicht automatisch mit Sicherheit gleichgesetzt werden darf. Was ist nun aber unter Zuverlässigkeit im Kontext der verlässlichkeitsorientierten Forschung zu verstehen? Im ingenieurwissenschaftlichen Bereich ist Verlässlichkeit definiert als die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bauteil seine vorherbestimmte Aufgabe unter den gegebenen Voraussetzungen erfüllt (vgl. Marais et al. 2004:12). Etwas allgemeiner formuliert kann Verlässlichkeit verstanden werden als: „the unusual capacity to produce collective outcomes of a certain minimum quality repeatedly“ (Hannan and Freemann, 1984:153 zitiert nach Weick et al. 1999:86). Unter Verlässlichkeit wird damit die wiederholbare Leistung verstanden, um ein Ergebnis gemeinsam mit einem bestimmten Mindestmaß an Qualität zu erbringen. Die verlässliche Leistungserbringung wird dabei nicht von ungewollten, unvorhergesehenen und unerklärbaren Störungen beeinflusst (vgl. Weick et al. 1999:86). Diese Auffassung führt dazu, dass Routinen und Verlässlichkeit fälschlicherweise häufig synonym verwendet werden. Dem traditionellen Routineverständnis nach sind Routinen „eingeübte und/oder genau festgelegte Formen menschlichen Handelns und setzten sich i. d. R. aus einer Mehrzahl von aufeinander abgestimmten Einzelhandlungen zusammen“ (Schreyögg et al. 2004:1297). Routinen werden danach definiert als sich wiederholende Verhaltens- bzw. Handlungsmuster, die nach Eintritt eines spezifischen, auslösenden Ereignisses vollzogen werden (vgl. Koch 2005:2; Schreyögg et al. 2004:1297). Sie stellen ein statisches, präfixes Antwortschema für bekannte Frage- und Problemstellungen dar. Die wiederholte Durchführung der Prozesse führt bei stabilen Umwelten zu einem verlässlichen Ergebnis. Wie in Kapitel 3.2 näher erläutert wurde, agieren Organisationen in Hochrisikoumwelten meistens in dynamischen Umweltsituationen und müssen auf unvorhergesehene oder uner 27

Vogus und Welbourne (2003) verbinden die verlässlichkeitsorientierte und die ökonomisch-orientierte Perspektive der Hochleistungsforschung, indem Sie das zentrale Konzept der High Reliability-Forschung auf Organisationen der IT-Branche anwenden. Dabei argumentieren sie, dass in vielen ökonomisch-orientierten Organisationen die Komplexität weniger durch die eingesetzten (gefährlichen) Technologien zustande kommt als vielmehr durch die sich schnell ändernde, eng gekoppelte Organisations-Umweltbeziehung. Um in den dynamischen Umwelten flexibel zu reagieren und Innovations- oder Wettbewerbsvorteile zu realisieren, streben die ökonomisch-orientierten Organisationen eine verlässliche Leistung hinsichtlich dieser Ziele an. Nach Meinung der Autoren bieten sich daher auch die Erkenntnisse der Hochverlässlichkeitsforschung an, das Verhalten dieser Organisationen zu erklären. Organisationen, die in einer eng gekoppelten OrganisationsUmweltbeziehung stehen und nach einem verlässlichen, flexiblen Handeln unter Berücksichtigung wirtschaftlicher Zielstellungen streben, werden von den Autoren als „Reliability Seeking Organizations“ bezeichnet.

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

39

wartete Situationsveränderungen flexibel reagieren, so dass nicht von stabilen Umweltsituationen ausgegangen werden kann. Hierbei ergibt sich das Problem, dass bekannte, statische Prozeduren und Routinen für neue und unbekannte Situationen aufgrund des Neuigkeitsgrades selten angewendet werden können oder die Handelnden gezwungen sind, vorgegebene Standards und Routinen zu verlassen, um die Sicherheit zu gewährleisten (vgl. Marais et al. 2004:12; Young 2003:4f.).28 Bezogen auf die obige Definition von Zuverlässigkeit als wiederholbare Leistung, würden die Handelnden damit nicht ihre vorbestimmten Aufgaben und Routinen erledigen und so ihr Handeln als nicht zuverlässig bezeichnet werden können. Für Organisationen in dynamischen Umweltsituationen sind daher weniger die stabilen und zuverlässigen Handlungsroutinen und -prozeduren eine Quelle der Verlässlichkeit. Vielmehr begründet sich ihre Zuverlässigkeit darin, ungeachtet der Umweltbedingungen, stabile Ergebnisse zu erzielen, indem sie zuverlässig handeln und neue Probleme erkennen und lösen können (vgl. Seaman und Williams 2005:15; Weick et al. 2000:33; Young 2003:2). Weick et al. (1999:87) bezeichnen diese Fähigkeit als „stabile kognitive Prozesse“. Nach dieser Auffassung ist Zuverlässigkeit damit „the result of stable processes of cognition, directed at varying processes of production that uncover and correct unintended consequences” (Weick et al. 1999:87). Stabile kognitive Prozesse fördern die Wahrnehmungsfähigkeit und erlauben es HRO, trotz veränderter Umweltbedingungen unbekannte Situationen zu erkennen, zu verstehen, zu bewerten sowie Handlungsalternativen zu entwickeln und umzusetzen. Sie unterstützen damit die Leistungsfähigkeit der HRO. Die tätigkeitsorientierte Leistung – verstanden als zielbezogenes Verhalten von Individuen und Gruppen – ist auf ein sicheres und zuverlässiges Handeln ausgerichtet, so dass keine Schäden für Mensch und Umwelt entstehen. Daher kann in HRO Verlässlichkeit auch mit Handlungsfähigkeit gleichgesetzt werden, die sich positiv auf die organisationale Sicherheit auswirkt.29 Somit ist es nicht verwunderlich, dass von den Mitarbeitern der High Reliability Organizations ein fast fehlerfreies Handeln für die Verlässlichkeit vorausgesetzt wird (vgl. Schulman 1996:74). Um zuverlässig fehlerfrei zu handeln, ist es wichtig, sich mit Fehlern, als Einflussgrößen der Sicherheit, auseinanderzusetzen. Hierfür ist ein Verständnis erforderlich, was Fehler sind, welche Arten von Fehlern es gibt, wie Fehler entstehen können und welche Möglichkeiten bestehen, Fehlern zu begegnen. Mit diesen Aspekten beschäftigt sich die Fehlerforschung. Deren für die verlässlichkeitsorientierten Forschungen relevanten Aspekte werden im folgenden Abschnitt thematisiert.



28

29

Dies kann auch als „Ermessenshandlung“ (discretionary action) bezeichnet werden (vgl. Young 2003). Gemeint ist damit ein beabsichtigtes Fehlhandeln (vgl. Kapitel 3.3.2.1). Häufig wird diese Ermessenshandlung auch als Improvisation bezeichnet. Diese hängt von der jeweiligen Situation ab und kann nicht vorab geplant werden. Ermessenshandeln kann auf individueller, Team- und Organisationsebene stattfinden. Die Begriffe Verlässlichkeit und Handlungsfähigkeit können in dieser Arbeit daher synonym verwendet werden. In späteren Ausführungen wird überwiegend der Verlässlichkeitsbegriff verwendet.

40

Kapitel 3

3.3.2 Fehler und Fehlermanagement Menschen sind nicht unfehlbar. Selbst erfahrenen Menschen unterlaufen mitunter Fehler. Daher lassen sich Fehler nie gänzlich vermeiden. Fehler und deren Folgen stellen den Untersuchungsgegenstand verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, wie z. B. Ingenieurwissenschaften, Arbeitswissenschaften oder Psychologie dar. Mit der Fehlerforschung (vgl. z. B. Reason 1993; 1994; 1997; Hollnagel 2004) hat sich im Bereich der Sicherheits-, Risiko-, Unfallforschung eine Disziplin gebildet, die sich intensiv mit dem Zustandekommen und dem Management von Fehlern beschäftigt. Dabei wird das Wort „Fehler“ nicht wie im allgemeinen Sprachgebrauch, mit zumeist negativen Attributen, wie Schuldhaftigkeit, Inkompetenz, Vermeidbarkeit, Fahrlässigkeit, Verantwortungslosigkeit, Selbstüberschätzung etc., verbunden. Vielmehr wird der Begriff wertfrei definiert als „eine nicht beabsichtigte, oft auch nicht erwartete negative Reaktion auf eine bewusst oder unbewusst ausgeführte oder unterlassene Maßnahme“ (Rall et al. 2001:324f.). Reason definiert Fehlerverhalten als Oberbegriff für Fehler und meint damit Handlungen, „bei denen eine geplante Abfolge geistiger oder körperlicher Tätigkeiten nicht zum beabsichtigten Resultat führt“ (Reason 1994:28). Fehler stellen somit unerwünschte Ergebnisse von Handlungen dar, die in Störungen, Zwischenfällen und Unfällen resultieren können. Wie oben kurz angedeutet wurde, sind Fehler nie gänzlich zu vermeiden: „As long as hazards, defensive weaknesses and human fallibility continue to co-exist, unhappy chance can combine them in various ways to bring about a bad even.” (Reason 2000b:5). Fehler müssen nicht immer zwangsläufig zu Unfällen und damit zu Schäden für die Gesundheit, das Leben oder die Umwelt führen. Häufiger resultieren Fehler in Störungen oder Zwischenfällen (vgl. hierzu und den folgenden Ausführungen Hollnagel 2004:20f.; St. Pierre et al. 2005:176). Störungen (near misses) können dabei als minimale Ereignisse aufgefasst werden, die den betrieblichen Ablauf oder die optimale Funktion eines Systems stören, aber zu keiner Gefährdung führen. Zwischenfälle (incidents) sind Ereignisse im Arbeitsablauf, bei denen ein Fehler offenkundig geworden ist, das Ereignis zu keinem oder nur einem geringen Schaden führte, da vorgesehen Sicherheitsvorkehrungen oder ein entsprechendes Handeln von Personen Schlimmeres verhinderten. Unfälle hingegen entstehen, wenn die Sicherheitsvorkehrungen versagen und Störungen und Zwischenfälle zu einer massiven Gefährdung, Zerstörung oder Schädigung von Menschen oder der Umwelt führen. Hollnagel definiert einen Unfall als „short, sudden, and unexpected event or occurrence that results in an unwanted and undesirable outcome“ (Hollnagel 2004:5). Abbildung 4 verdeutlicht die Wirkung von Fehlern nochmals grafisch. Dabei stellen die Größen der Ellipsen die Häufigkeit des Auftretens dar (vgl. Hollnagel 2004:24). Ob Ereignisse als Zwischenfälle oder Unfälle angesehen werden, hängt von der Schwere der Fehlerfolgen ab. Da diese in den wissenschaftlichen Disziplinen unterschiedlich aufgefasst werden, bestehen keine allgemeingültigen Unterscheidungskriterien (vgl. Hollnagel 2004:20). Generell entscheiden die Sicherheitsvorkehrungen und das menschliche Handeln, ob Fehler in Störungen,

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

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Zwischenfällen oder Unfällen resultieren und damit eine Gefahr für Menschen und Umwelt bilden.

versagt

Sicherheitsvorkehrungen

Unfälle

Zwischenfälle

Störungen

funktioniert geringe Gefährdung

Abbildung 4:

Auswirkung

hohe Gefährdung

Wirkung von Fehlern

3.3.2.1 Unterschiedliche Perspektiven auf Fehler Im Bereich der Fehlerforschung gibt es unterschiedliche Auffassungen, worauf Fehler zurückzuführen sind: Die personenbezogene Perspektive (person approach), die technische Perspektive (engineering approach) sowie die systemische Perspektive (system approach) (vgl. Reason 1997:224ff.; Reason 2000a:768; St. Pierre et al. 2005:25). Die personenbezogene Perspektive geht davon aus, dass sich Fehler genau einer Handlung und einer Person zuschreiben lassen. Es wird unterstellt, dass Fehler durch mangelhaft arbeitende Individuen entstehen, die unachtsam, vergesslich, schlecht motiviert, nachlässig oder fahrlässig handeln (vgl. Reason 1997:224; Reason 2000a:768). Organisationen, die diese Auffassung vertreten, verfügen meist über eine Kultur des „naming, blaming and shaming“, d. h. einer Kultur der Schuldzuweisung. Die technische Perspektive sieht die Ursache von Fehlern in einer schlechten MenschMaschine-Beziehung. Fehler kommen zustande, weil das Design von Anlagen und Maschinen nicht an die Bedürfnisse und Ansprüche der Menschen angepasst ist. Diese Sichtweise wird überwiegend in den Ingenieur- und Arbeitswissenschaften vertreten (vgl. Reason 1997:225). Die systemische Perspektive unterstellt die Annahme, dass Menschen nicht unfehlbar sind. Sie sieht den fehlerhaft handelnden Menschen lediglich am Ende einer Kette von vorangestellten Fehlhandlungen. Das Auftreten von Fehlern kann daher nicht einer einzelnen Person oder Personengruppe zugeschrieben werden, sondern ist das Resultat aus einer Verkettung von mehreren (technischen, organisational-strukturellen und personellen) Faktoren. Deswegen

42

Kapitel 3

lässt sich das Eintreten von Zwischenfällen oder Fehlern auch nicht mit mangelnder individueller Sorgfalt, Achtsamkeit, Vergesslichkeit oder Qualifizierung gleichsetzen. Aus systemischer Perspektive dürfen Fehler und Fehlhandlungen nicht isoliert betrachtet werden, sondern sind immer im Kontext aller beteiligten Einflussfaktoren zu sehen. Diese Sichtweise auf Fehler beschäftigt sich daher intensiv mit der Ursachenanalyse. Insbesondere Organisationen in Hochrisikoumwelten vertreten zunehmend die systemische Perspektive. Aufgrund ihrer spezifischen Merkmale (enge Kopplung und interaktive Komplexität – siehe Kapitel 3.1.2) lässt sich ein Auftreten von Fehlern und Unfällen nie gänzlich vermeiden. Perrow (1992:16,18) spricht in diesem Zusammenhang von Systemunfällen oder „normal accidents“. Reason beschreibt den Systemcharakter bei der Entstehung von Unfällen anhand seines in Abbildung 5 dargestellten „Käsescheibenmodells“ (swiss cheese model of defense) (vgl. Reason 1994:256; Reason 1997:9ff.).

Auslösende Ereignisse, innere Defekte, atypische Bedingungen

Sicherheitsgefährdende Handlung (aktive Fehler)

Flugbahn der Unfallmöglichkeit: von der Gefahr zum Unfall

Potenzielle Gefahren

Unfälle

Latente Versäumnisse auf der Führungsebene

Sicherheitsvorkehrungen angelehnt an Reason (1994:256)

Abbildung 5:

Systemcharakter der Entstehung von Unfällen

Organisationen, insbesondere Organisationen in Hochrisikoumwelten, haben viele verschiedene Sicherheitsvorkehrungen (Sicherheits-/Schutzschichten: devensive layers) – hier dargestellt als einzelne Scheiben. Die Sicherheitsvorkehrungen können dabei sowohl technischer Art (z. B. Alarme, Sicherheitssysteme, physische Barrieren, Automatismen), personeller Art (z. B. Mitarbeiter mit bestimmten Fähigkeiten, Doppelbesetzung von Positionen) sein oder aus bestimmten organisatorischen Strukturen oder Prozessabläufen bestehen (vgl. Miller und Wilpert 1997:164; Ruchlin et al. 2004:51). Egal wie diese Schutzschichten ausgestaltet sind, sie zielen darauf ab, Menschen vor potenziellen Gefahren zu schützen. Unter Idealbedingungen funktioniert jede der einzelnen Sicherheitsvorkehrung für sich. In Wirklichkeit weisen sie

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

43

jedoch Mängel auf, d. h. die Schutzschichten haben Löcher.30 Diese Löcher verändern sich permanent: Sie öffnen und schließen sich und sie verändern ihre Größe und Position. Stellt man sich die Unfallmöglichkeit als Flugbahn eines Projektils vor, so kann dieses einzelne Löcher der Scheiben durchdringen, wird aber in der Regel an der nächsten Schutzschicht abgefangen. Erst wenn die Löcher aller Schutzschichten einmal übereinanderstehen, sind diese durchlässig und es kommt zu einem Unfall. Die Löcher in den jeweiligen Schutzschichten kommen aus zwei Gründen zustande: durch aktive Fehler und latente Systembedingungen. Nach der systemischen Perspektive auf Fehler stellen fast alle Zwischenfälle und Unfälle eine Kombination dieser beiden Faktoren dar. Die Ursachen von Zwischenfällen und Unfällen sind demnach eine Verkettung aktiver Fehler und latenten Systembedingungen, an deren Ende das Individuum steht. Was genau ist unter aktiven Fehlern und latenten Systembedingungen zu verstehen? 3.3.2.2 Aktive Fehler und latente Systembedingungen in Organisationen Fehler lassen sich nach unterschiedlichen Kriterien klassifizieren. Bisher gibt es noch keine einheitliche Taxonomie, die das menschliche Fehlverhalten umfassend beschreiben würde (vgl. St. Pierre et al. 2005:25). So sind z. B. für Hacker (2005) Handlungsfehler das Resultat von menschlichen Fehlhandlungen, die auf ein Informationsdefizit zurückzuführen sind. Er unterscheidet daher Fehlhandlungen an Hand des Informationsgrades in Fehler, die aufgrund von fehlenden Informationen, fehlender Nutzung von Informationen oder einer falschen Nutzung von Informationen zustande kommen (vgl. Hacker 2005S.680ff.). Eine weitere prominente und verbreitete Einteilung von Handlungsfehlern wurde von Reason (z. B. Reason 1994:26ff.) vorgenommen. Hiernach können Fehler anhand der Handlungsintention zwischen beabsichtigtem und unbeabsichtigtem Fehlhandeln unterschieden werden. Bei beabsichtigtem Fehlhandeln (violations) wird bewusst gegen Sicherheitsregeln, Verfahrensvorschriften, Handlungsanleitungen verstoßen oder fahrlässig gehandelt (vgl. Reason 1997:72f.; St. Pierre et al. 2005:27f.; Rall et al. 2001:324). Ein abweichendes Verhalten von den Verfahrensvorschriften kann als Verstoß oder als „Ermessenshandlung“ (discretionary action) bezeichnet werden (vgl. Young 2003) und geschieht nicht mit dem Vorsatz, eine unsichere Handlung zu begehen. Vielmehr verstoßen Individuen gegen Regeln, weil es ihnen situativ für die Zielerreichung sinnvoll erscheint (vgl. Ortmann 2003:238; St. Pierre et al. 2005:28). Diese Regelverstöße können einmalig erfolgen (Ausnahme-Verstoß) oder – wenn sie nicht geahndet werden – zu Routineverstößen werden. Bei einem unbeabsichtigten Fehlhandeln kommt es zu Fehlern in der Handlung, obwohl der Handelnde alles richtig machen wollte. Je nachdem, wo dabei die Fehler gemacht wurden, 

30

Das Modell von Reason wird aufgrund der Löcher in den Schutzschichten auch als „Käsescheibenmodell“ oder „swiss cheese model of defense“ bezeichnet (vgl. z. B. Reason 1997:9ff.; 2000a; Ruchlin et al. 2004:51).

44

Kapitel 3

kann zwischen aktiven und latenten Fehlern (latente Systembedingungen) unterschieden werden (vgl. Reason 1993:11; Reason 1994:216; Reason 1997:10). Aktive Fehler sind Fehler, die meist von Personen begangen werden, die direkt am Geschehen beteiligt sind und sich damit an der „scharfen Seite“ (sharp end) der Organisation, d. h. an der Schnittstelle Mensch-System, befinden (vgl. z. B. Reason 1993:11; Hollnagel 2004:62; Rall et al. 2001:325). Aktive Fehler werden meist sofort sichtbar und lösen unmittelbare Konsequenzen in Form von Störungen, Zwischenfällen oder Unfällen aus. Die aktiven Fehler lassen sich nach Reason anhand der kognitiven Entstehungsebene31 (Planung, Speicherung und Durchführung) in drei Fehlertypen unterteilen (vgl. Reason 1994:32f.; 199771ff.; Rall et al. 2001:325f.):32 x

„Echte Fehler“ (mistakes) entstehen auf der kognitiven Planungsebene, indem Maßnahmen bewusst geplant und durchgeführt werden, die allerdings falsch sind. Dabei können die ergriffenen (falschen) Maßnahmen durchaus korrekt ausgeführt werden. Zu den echten Fehlern zählt auch bewusstes Nicht-Durchführen von Maßnahmen.

x

„Aussetzer“ (lapses) sind auf das fehlende Erinnerungsvermögen zurückzuführen und daher auf der kognitiven Ebene der (Informations-)Speicherung anzusiedeln. Diese Fehler entstehen, wenn einzelne, notwendige Tätigkeiten innerhalb eines Ablaufs von Maßnahmen vergessen werden.

x

„Ausrutscher“ (slips) finden auf der Durchführungsebene bei der Ausführung von Handlungen statt. Hierbei wird versehentlich eine richtige Maßnahme falsch durchgeführt.

Menschliche Leistungsfähigkeit bestimmt sich durch: fähigkeitsbasiertes (skill based), regelbasiertes (rule based) oder wissensbasiertes (knowledge based) Handeln (vgl. Reason 1994:68f.; 1997:68f.). Anhand dieser Leistungsebenen des menschlichen Handelns (performance levels), können Fehler ebenfalls wie folgt eingeteilt werden (vgl. Reason 1994:69; Wagenaar et al. 1990:283; Rall et al. 2001:325f.):33 x

Fehler auf der Wissensebene (knowledge level) oder in der mentalen Modellbildung (knowledge based error): Echte Fehler (mistakes) werden durch Defizite in Kenntnissen und Fähigkeiten hervorgerufen. Diese Fehler entstehen bspw. bei geringem Problembewusstsein, Wahrnehmungsdefiziten, Defiziten in der Analyse und Modellbildung. Der Handelnde geht irrtümlich davon aus, richtig zu handeln.



31

32

33

Fehler können sich auf unterschiedlichen Ebenen der geistigen Vorbereitung einer Handlung ergeben. Sie können bei der Planung einer Handlung entstehen (Planung). Da die geplanten Handlungen meist nicht sofort ausgeführt werden können, müssen Pläne zwischen Planungs- und Ausführungsphase gespeichert werden (Speicherung); letztlich können Fehler auch auf der Ebene der Ausführung entstehen (Ausführung) (vgl. genauer Reason 1994:32f.). Die Klassifikation der aktiven Fehler ist sehr komplex. Daher sei der interessierte Leser für weiterführende Erläuterungen an die entsprechende Literatur verwiesen, z. B. Reason (1994; 1997), Wagenaar et al. (1990). Diese Klassifikation beruht auf der Kombination und Erweiterung von Rasmussens Drei-Ebenen-Theorie und Normans Fehlerunterscheidung in mistakes und lapses (vgl. Wagenaar et al. 1990:283).

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

45

x

Regelbasierte Fehler (rule based errors) bewegen sich auf der Ebene von Regeln und vorgefertigten Handlungsabläufen (rule based level). Auf dieser Ebene entstehen echte Fehler, wenn der Handelnde irrtümlich meint, das richtige Muster für die Anwendung bestimmter Regeln gefunden zu haben. Ist dies der Fall, kommt es zu einer richtigen Anwendung falscher Regeln. Aussetzer resultieren auf der regelbasierten Ebene, wenn das Problem richtig erkannt wurde, richtige Regeln allerdings falsch angewendet werden.

x

Durchführungsfehler (skill based errors) finden sich auf der Ebene der Handlungsabläufe (skill based level). Auf dieser Ebene laufen Handlungen häufig unterbewusst und automatisiert ab. Aussetzer und Ausrutscher passieren durch Unaufmerksamkeiten oder Ablenkung. Ein Fehlerbewusstsein tritt jedoch sofort nach Erkennen des gemachten Fehlers ein.

Neben den aktiven Fehlern gibt es auch latente Fehler in einer Organisation. Diese sind nicht sichtbar und meist systemimmanent. Daher werden sie auch als latente Systembedingungen34 (latent conditions) bezeichnet (z. B. bei Hollnagel 2004:55; Reason 1997:10). Sie können jahrelang im System verborgen sein und treten erst zu Tage, wenn sie in Kombination mit auslösenden Faktoren (z. B. aktiven Fehlern) zusammentreffen (vgl. z. B. Reason 1994:216; Reason 2000a:769; Wagenaar et al. 1990:75). Latente Fehler liegen fernab des eigentlichen Handelns und werden daher auch als Fehler am „stumpfen Ende“ (blunt end) der Organisation bezeichnet (vgl. Hollnagel 2004:62f.; St. Pierre et al. 2005:28; Rall et al. 2001:325). Meist werden sie durch soziale Werte und Normen beeinflusst und begründen sich in grundlegenden Planungen und Entscheidungen von z. B. Gesetzgebern, Management, Konstrukteuren, Entwicklern oder Designern. Latente Fehler weichen die Sicherheitsvorkehrungen auf, d. h., sie vergrößern die Löcher der in Abbildung 5 dargestellten Schutzschichten (vgl. Reason 1997:11; Reason 2000a:769). Wurden beispielsweise beim Bau eines Daches falsch dimensionierte Schrauben verwendet, tragen diese das Dach bei normalen Belastungen jahrelang. Kommt es jedoch, z. B. aufgrund überdurchschnittlicher Schneemassen auf dem Dach, zu einer höheren Gewichtsbelastung, zeigt sich dieser latente Fehler: Die Schrauben halten dem erhöhten Gewicht nicht stand und das Dach stürzt ein.35 Die folgende Abbildung gibt nochmals einen Überblick über die verschiedenen Fehlermöglichkeiten, mit denen Organisationen in Hochrisikoumwelten konfrontiert sein können. Welche Möglichkeiten gibt es nun, mit dem unbeabsichtigten Fehlhandeln umzugehen?



34

35

Die Begriffe latente Fehler und latente Systembedingungen werden in dieser Arbeit synonym verwendet. Ein weiteres Beispiel aus dem medizinischen Bereich: Die mangelnde Aus- und Weiterbildung von Ärzten stellt einen latenten Fehler dar. Dieser führt zwar nicht sofort zu Konsequenzen, sondern wirkt sich erst negativ aus, wenn mangelndes Wissen mit einer aktuell „passenden“ Patientensituation zusammentrifft (vgl. Rall et al. 2001:325).

Abbildung 6:

Routineverstöße

Ausnahmeverstöße

Regelverstöße

beabsichtigtes Fehlhandeln

Klassifikation von Fehlern Durchführung

Speicherung

Planung

Kognitive Ebene

Aussetzer (lapse) Einzelne notwendige Tätigkeiten in einem Ablauf werden vergessen: x Geplante Schritte x Aktueller Stand x Tätigkeitsabsicht

Ausrutscher (slip) Falsche Durchführung einer richtigen Maßnahme x Vertauschen x Falsche Abfolge x Unterlassen x Falsche Zeit

unbeabsichtigtes Fehlhandeln

„Lapses“ und „Slips“ entstehen durch: x Unaufmerksamkeit, x Ablenkung, x Gewohnheit oder Routinen

Fehler auf der Durchführungsebene

x Handelnde geht irrtümlich davon aus das Richtiges Handlungsmuster erkannt zu haben (mistake); x Das richtige Handlungsmuster wird falsch angewendet (lapses)

Fehler auf der Regelebene

Echte Fehler durch Defizite in Kenntnissen und Fähigkeiten z. B. Wahrnehmung, Dateninterpretation, Modellbildung

Fehler auf der Wissensebene

Fehlerebene

Routiniertes Abarbeiten von handwerklichen, eingeübten Maßnahmen

Skill based level

Abarbeiten von bekannten Handlungsabläufen und Algorithmen

Rule based level:

Abstraktes Denken, Analyse von Situationen

Knowledge based level:

Ebene der mentalen Aktivität

nach Leistungsebenen des menschlichen Handelns

aktive Fehler

„echte“ Fehler (mistakes) Bewusste Planung und Durchführung einer falschen Maßnahme: Durchführung der Maßnahme erfolgt korrekt

Fehlertypen

nach der kognitiven Entstehungsebene

Handlungsfehler

Konstruktionsfehler …

Technikfehler

Entscheidungsfehler

Planungsfehler

latente Fehler

46 Kapitel 3

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

47

Fehler entdecken, bevor sie zu Störungen und Zwischenfällen führen

Fehler vermeiden

latente Fehler

Fehlerfolgen minimieren

aktive Fehler

3.3.2.3 Umgang mit Fehlern Nach der systemischen Fehlerperspektive entstehen Fehler durch das Zusammenspiel von aktiven Fehlern mit latenten Systembedingungen. Daher ist das Auftreten von Fehlern unvermeidbar. Während aktive Fehler nur schwer im Vorfeld identifizierbar sind, können latente Fehler durch ein entsprechend proaktives Fehlermanagement erkannt und minimiert werden (vgl. Reason 2000a:769).36 Unter einem Fehlermanagement ist ein sinnvolles Herangehen an Fehler zu verstehen, das darauf abzielt, (Folge-)Fehler zu vermeiden sowie die negativen Fehlerfolgen möglichst gering zu halten und schnell zu beseitigen. Ein Fehlermanagement beinhaltet somit immer zwei Komponenten: die Fehlerprävention und die Eindämmung der zumeist negativen Fehlerfolgen (vgl. Hoyos 1992:14; Reason 1997:125; 2000a). Wie in Abbildung 7 dargestellt, kann dabei Fehlern auf drei Arten begegnet werden.

angelehnt an Helmreich et al. (1999b)

Abbildung 7:

Begegnungsmöglichkeiten von Fehlern

Bei der Fehlervermeidung geht es insbesondere darum, latente Fehler im Rahmen des proaktiven Fehlermanagements im Vorfeld zu entdecken und zu beseitigen, bevor sie zu Störungen führen (dunkler Bereich). Gleichzeitig müssen beginnende Fehler frühzeitig entdeckt und ihnen entgegengewirkt werden, damit sie nicht zu Störungen, Zwischenfällen oder Unfällen eskalieren. Da sich Fehler nie gänzlich vermeiden lassen, kommt es zu Zwischenfällen oder Unfällen. Hier muss das Fehlermanagement darauf ausgerichtet sein, die Fehlerfolgen schnell zu minimieren und zu beseitigen (heller Bereich). Resümierend für diese Teilkapitel zeigt sich, dass Organisationen in Hochrisikoumwelten mit komplexen und kritischen Umweltsituationen konfrontiert sind. Dabei setzen die Organisationen Verlässlichkeit überwiegend mit Sicherheit und einer möglichst großen Fehlerfreiheit  36

Reason (2000a:769) illustriert dies mit folgendem Beispiel: Aktive Fehler sind wie Stechmücken: Man kann sie eine nach der anderen erschlagen, aber sie werden einen immer wieder belästigen. Die beste Methode, um sie langfristig loszuwerden, ist es, das Sumpfgebiet in denen sie brüten – die latente Systembedingung – trockenzulegen.

48

Kapitel 3

gleich. Auch nehmen sie eine systemische Sichtweise auf Fehler ein, wonach Menschen lediglich am Ende einer Verkettung von unterschiedlichen Faktoren stehen, die zu einem unerwünschten Ereignis führen. Anhand des Fehlermodells von Reason konnte der Systemcharakter der Entstehung von Unfällen verdeutlicht werden. Hiernach treten Störungen, Zwischenfälle und Unfälle durch das Zusammenspiel von aktiven Fehlern und latenten Systembedingungen auf. Aktive Fehler ereignen sich meist am scharfen Ende der Organisation, werden sofort sichtbar und führen zu unmittelbaren Konsequenzen. Latente Fehler hingegen sind systemimmanent und liegen in der Organisation so lange verborgen, bis sie mit einem auslösenden Faktor zusammentreffen. Die hier skizzierten Ausführungen haben verdeutlicht, welchen zentralen Beitrag das Fehlermanagement mit seinen proaktiven und reaktiven Komponenten für die organisationale Sicherheit besitzt. Das erklärte Ziel verlässlichkeitsorientierter Forschungen ist es, durch strukturelle, personelle und technische Maßnahmen eine organisationale Sicherheit aufzubauen und zu erhalten. Daher müssten sich in den bestehenden Arbeiten dieses Forschungsbereiches Aspekte des Fehlermanagements identifizieren lassen. Zudem ließe sich untersuchen, inwieweit die bestehenden leistungsbeeinflussenden Faktoren das Fehlermanagement bzw. dessen proaktive und reaktive Komponenten unterstützen. Sowohl die Forschungen zu High Reliability als auch zu Human Factors/Crew Resource Management zählen zu den grundlegenden Richtungen der verlässlichkeitsorientierten Perspektive und bieten sich daher an, diesen Fragen nachzugehen.

3.4 Forschungen zu High Reliability Die Entstehung der High Reliability-Forschungen sowie die Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management wurzeln in der Unfalltheorie. Sie haben sich zu Beginn parallel und unabhängig voneinander entwickelt. Beide sind aber eng verbunden mit der Fragestellung, wie Sicherheit und Zuverlässigkeit bei Organisationen in Hochrisikoumwelten hergestellt und aufrecht erhalten werden kann. Beide Richtungen scheinen einen großen Erklärungsbeitrag liefern zu können, wenn es um die Beantwortung der forschungsleitenden Fragestellung dieser Arbeit nach der Identifikation verlässlichkeitsbeeinflussender Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten geht. Da auf diese grundlegenden verlässlichkeitsorientierten Forschungen und deren leistungsbeeinflussende Faktoren im empirischen Teil C Bezug genommen werden soll, ist eine detaillierte Erläuterung der Hochverlässlichkeits- und Human Factors/Crew Resource Management-Forschungen hilfreich. In diesem Kapitel wird zunächst näher auf die Hochverlässlichkeitsforschungen eingegangen. Dabei wird mit der Normal Accident Theory der Ursprung der High Reliability-Forschung vorgestellt. Anschließend werden die verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren dieser Forschungsrichtung herausgearbeitet und diskutiert sowie ein Bezug zur Fehlerforschung hergestellt.

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

49

3.4.1 Entstehungshintergrund, Begriff und Ziel Die High Reliability-Forschung geht schwerpunktmäßig auf Arbeiten eines interdisziplinären Teams37 der University of California at Berkeley zurück (vgl. Mannarelli et al. 1996:83; Roberts 1990a:102; Bourrier 2005:93). Im Jahr 1984 begannen sich die Forscher La Porte, Rochlin und Roberts für Organisationen zu interessieren, denen es erfolgreich gelang, ein komplexes und gefährliches technisches System zu unterhalten (vgl. Rochlin 1996:55). Zusammen mit weiteren Kollegen aus Sozial-, Ingenieur- und Organisationswissenschaften zielten die Forschungen der „Berkeley Gruppe“ im Rahmen des sog. „High Reliability Organizations Projects“ (Bourrier 2005:93) darauf ab, nach Merkmalen und Faktoren zu suchen, die diese Organisationen charakterisieren und ihnen trotz des hohen Gefahrenpotenzials ein verlässliches und sicheres Handeln ermöglichen. Anders als in bisherigen Arbeiten wurden hierfür keine retrospektiven Unfallanalysen von Organisationen in Hochrisikoumwelten durchgeführt. Statt mit Sekundärinformationen zu arbeiten, konzentrierte sich die Berkeley Gruppe darauf, Primärdaten zu erheben (vgl. Roberts 1990b:164). Dabei wurden folgende Organisationen der Flugsicherung, der Energieversorgung sowie der Kriegsmarine untersucht (vgl. Roberts 1990a:102f.; Rochlin 1996:55; Bourrier 2005:93):38 x

„Oakland Enroute Air Traffic Control Center” und das „Bay Traffic Radar Approach Control” des Federal Aviation Adminstations’s air traffic control system,

x

zwei atomar getriebene Flugzeugträger: „USS Enterprise“ und „USS Carl Vinson“, sowie

x

Stromversorgungsnetz Management (grid management) der Pacific Gas and Electric Company (PG & E) im Diablo Canyon Kernkraftwerk in Kalifornien.

Zwischen diesen Organisationen kristallisierten sich Gemeinsamkeiten heraus, die damit zusammenhingen, „how the organizations engaged in processes to ensure safe and reliable operations in situations fraught with potential risks“ (Bourrier 2005:93). Aufgrund ihrer gemeinsamen charakteristischen Merkmale (vgl. Kapitel 3.1.2) wurden diese als Hochverlässlichkeitsorganisationen definiert. Aus den Erkenntnissen dieser Forschungen entwickelte sich die sog. High Reliability Theory (HRT) (vgl. z. B. Roberts 1990a; 1990b; La Porte und Rochlin 1994; Weick und Sutcliffe 2003). Die verhaltensorientierte High Reliability Theory stellt neben der stark technisch orientierten Normal Accident Theory39 (vgl. z. B. Perrow 1992 erstmals 1984; Sagan 2004) eine weitere prominente Theorie zur Erklärung des Aufbaus und Erhalts von Verlässlichkeit in Organisa-

 37

38

39

U. a. Karlene Roberts, Gene Rochlin, Todd La Porte, Karl Weick, Paul Schulman. Mannarelli u. a. (1996) haben die Untersuchungen auf den Marinebereich erweitert und machen Raffinerien und Ölbohrplattformen zum Gegenstand ihrer Untersuchungen (vgl. Mannarelli et al. 1996:85). Mitunter auch als „Natural Accident Theory“ bezeichnet (vgl. Hollnagel 2004xi).

50

Kapitel 3

tionen in Hochrisikoumwelten dar. Dabei greift die High Reliability Theory auf Erkenntnisse der Normal Accident Theory (NAT) zurück.40 Generell baut die NAT überwiegend auf Ex-post-Untersuchungen von Organisationen auf, in denen bereits Störungen, Zwischenfälle und Unfälle auftraten; die Organisationen haben nicht die Sicherheitsleistung erbracht, die von ihnen erwartet wurde. Retrospektiv wurde nach strukturellen und verhaltensorientierten Faktoren und Signalen gesucht, welche die Verfehlung ankündigten (vgl. La Porte und Rochlin 1994:60; La Porte 1996:60). Beispiel hierfür sind die Unfälle in den Kernkraftwerken Three Mile Island und Tschernobyl oder dem Chemiewerk in Bhopal (vgl. Perrow 1992). Im Rahmen der NAT-Entwicklung definierte Perrow zwei maßgebliche Einflussfaktoren für die Systemanfälligkeit: die interaktive Komplexität (interactive complexity) und die enge Kopplung (tight coupling)41 (vgl. Perrow 1992:95ff.; Marais et al. 2004; Sagan 2004:17). Die NAT geht davon aus, dass es aufgrund der Komplexität und der Tatsache, dass die Interaktion der Teilsysteme nicht gründlich verstanden, geplant, vorhergesagt und geschützt werden kann (latenten Systembedingungen), immer zu Unfällen kommen wird (vgl. Marais et al. 2004:4; Ruchlin et al. 2004:47). Diese sind daher als „normal“ anzusehen (vgl. Perrow 1992:18). Deswegen spricht Perrow in diesem Zusammenhang von „normal accidents“ (Systemunfällen).42 Er bezeichnet damit die Konsequenz von einem Zusammenspiel verschiedener, unabhängiger und unvorhersehbarer Betriebsstörungen und Zwischenfällen (z. B. Feueralarm fällt aus und gleichzeitig bricht ein Feuer aus [vgl. Perrow 1992:16f.]). Wie in Kapitel 3.3.2.2 dargestellt, bleiben latente Fehler so lange im System verborgen, bis sie mit auslösenden Faktoren oder durch eine Verkettung von Situationen ans Tageslicht kommen (vgl. Roberts und Bea 2001:71; Reason 1994:216). Aufgrund dieser pessimistischen Grundauffassung lassen sich Fehler und deren Folgen hauptsächlich mit Hilfe technologischer und technischer Maßnahmen begrenzen oder minimieren, jedoch nicht verhindern. Daher zielte die NAT überwiegend darauf ab, zumeist über probalistische Methoden mögliche Fehler und Unfälle zu antizipieren, um deren Folgen durch einen erhöhten Technikoder Technologieeinsatz (z. B. technische Alarmsysteme, Messinstrumente etc.) entgegenzutreten und somit Schadensbegrenzung zu betreiben (vgl. Carroll 2004:128; Roberts 1990a:103). Die NAT nimmt damit eine technologische Perspektive auf Fehler ein und vertritt eine „Sicherheit-durch-Technik-Philosophie“ (vgl. Strohschneider 2003:VII). Forscher der Berkeley Gruppe teilten diese pessimistische Grundeinstellung der technikorientierten NAT nicht. Sie griffen auf zentrale Basiselemente der NAT zurück, entwickelten diese

 40

41

Die Normal Accident Theory wurde maßgeblich von Charles Perrow (1992 erstmals 1984) geprägt und hat nachhaltig das Denken über Organisationen in Hochrisikoumwelten bestimmt. Ausgangspunkt der NATForschung war der Unfall im Reaktorblock 2 des Kernkraftwerks von Three Mile Island (USA) im Jahr 1979. Mit der detaillierten Unfallursachenanalyse und die Verallgemeinerung der Ursachen legte Perrow den Grundstein für die NAT. Komplexität und enge Kopplung der Teilsysteme sind ebenfalls Merkmale von High Reliability Organizations und wurden bereits in Kapitel 3.1.2 skizziert.

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

51

an den Kritikpunkten weiter und differenzierten sie damit zur verhaltensorientierten High Reliability Theory aus. Dabei wird von HRT-Vertretern jedoch immer wieder betont, dass es sich bei der HRT nicht um eine mit der NAT konkurrierende Unfalltheorie handelt. Vielmehr stellt die HRT eine Ergänzung oder Spezifikation der NAT dar, welche die gleichen Sachverhalte aus einer verhaltenswissenschaftlichen Sicht betrachtet (vgl. La Porte und Rochlin 1994:221). Hinsichtlich der Fehler vertritt die HRT einen optimistischen Standpunkt. Fehler und Unfälle in komplexen und eng gekoppelten technologischen Systemen sind zwar unvermeidlich, lassen sich aber neben technologischen Maßnahmen auch durch ein gutes organisationales Design und ein gutes Management eindämmen oder stellenweise sogar verhindern (vgl. La Porte und Rochlin 1994; Roberts und Bea 2001:71; Weick und Sutcliffe 2003; Whitney 2003). Fokussierten die (NAT)-Forschungen bis dahin darauf, was nach einem Unfall zu tun ist – d. h. eine reaktive Minimierung der Fehlerfolgen – (vgl. Roberts 1990b:174), konzentriert sich die HRT stärker auf ganzheitlich – Mensch, Organisation und Technik umfassende – proaktive Maßnahmen zur Vermeidung und Minimierung von Unfällen. Damit sollen Fehler und die daraus resultierenden Folgen möglichst gering gehalten werden, um somit eine Verlässlichkeit, im Sinn einer Systemsicherheit, zu erhalten (vgl. Roberts 1990a:103; Weick und Sutcliffe 2003:123). Nachfolgende Tabelle 4 stellt die beiden Theorien nochmals überblicksartig gegenüber.43



42

43

Im englischsprachigen Original wird deswegen auch häufig von „normal accidents“ gesprochen, wobei die deutsche Übersetzung mit „Systemunfällen“ weitaus treffender ist. Für weiterführende Informationen zur Normal Accident Theory wird auf die entsprechende Literatur (u. a. Perrow 1992) verwiesen.

52

Kapitel 3

Normal Accident Theory

High Reliability Theory

Perrow

Roberts

Sagan

La Porte Rochlin Weick

(Haupt-)Vertreter

Sutcliffe

Kernaussage

Theoretischer Hintergrund

Fehler von Organisationen, die in Hochrisikoumwelten agieren, lassen sich nicht verhindern und müssen als „normal“ angesehen werden. Es gilt, durch geeignete technologische Maßnahmen das Ausmaß (Schaden) der Fehler zu begrenzen.

Fehler von Organisationen, die in Hochrisikoumwelten agieren, lassen sich nicht vermeiden, allerdings kann durch geeignete technische, strukturelle und organisatorische Maßnahmen die Fehlerhäufigkeit und das Ausmaß der Fehler reduziert oder verhindert werden.

Unfall- und Krisenforschung

Verhaltensforschung Organizational Behaviour

Fehler in Hochrisikoorganisationen sind auf Grund der interaktiven Komplexität und der engen Kopplung der Teilsysteme unvermeidlich. Diese Organisationen können nicht sicher gemacht werden, da alle Sicherheitsanstrengungen das System noch komplexer machen.

Fehler in Hochrisikoorganisationen können zwar nicht vermieden werden. Es lassen sich aber geeignete technologische, strukturelle und organisatorische Maßnahmen ergreifen, die es ermöglichen, Fehler zu verhindern bzw. zu minimieren und damit helfen, die Verlässlichkeit zu erhöhen.

Vertreter der NAT vertreten eine technologisch (pessimistische) Sicht.

HRT-Vertreter legen eine optimistische Sicht an den Tag, die neben der Technologie auch den Menschen und die Organisation mit einschließt.

Reaktives Vorgehen (Schadensbegrenzung); da angenommen wird, dass Fehler unvermeidbar sind

Proaktives Vorgehen (Schadensvermeidung), da angenommen wird, dass sich manche Fehler durch bestimmte Maßnahmen vermeiden oder minimieren lassen

High Risk Organizations:

High Reliability Organizations:

Organisationen aus Hochrisikoumwelten, in denen es bereits zu Unfällen oder Katastrophen gekommen ist (Ex-postBetrachtung)

Organisationen aus Hochrisikoumwelten, die keine oder weniger Fehler und Unfälle aufweisen, als statistisch zu erwarten wäre.

Fehlerperspektive/Sicht

Vorgehen

Untersuchungsgegenstand

x x x

x Merkmale

Tabelle 4:

x x x

Three Mile Island Kernkraftwerk Tschernobyl Kernkraftwerk Union Carbid, (Chemieunternehmen) Bhopal, Indien U-Boot Greenville, US Navy

x x x

US Flugzeugträger Pacific Gas & Electric Company Federal Aviations Air Traffic Control System

Hochgefährliche Technologien Interaktive Komplexität Enge Kopplung der Teilsysteme

x x x

Hochgefährliche Technologien Interaktive Komplexität Enge Kopplung der Teilsysteme

Gegenüberstellung Normal Accident Theory und High Reliability Theory

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

3.4.2

53

Verlässlichkeitsbeeinflussende Merkmale: Das Konzept der gemeinsamen Achtsamkeit Ziel der Forschungen zu Hochverlässlichkeitsorganisationen ist es, Merkmale und Faktoren zu identifizieren, die es zuverlässigen Organisationen in Hochrisikoumwelten erlauben, sicher und verlässlich zu handeln. Ausgehend von den Untersuchungen in den oben skizzierten Organisationen, zeichneten sich hierfür unterschiedliche Aspekte ab. So zeigte sich, dass Mitarbeiter in HRO ständig damit rechnen, mit unerwarteten Situationen konfrontiert zu werden (vgl. Roberts 1990a:104). Sie sind hinsichtlich des Auftretens von Fehlern sensibilisiert und lassen sich nicht durch das Eintreten unvorhergesehener Situationen in ihrer Handlungsfähigkeit einschränken. Mitarbeiter dieser Organisationen wissen, dass sie nicht unfehlbar sind, akzeptieren dies und achten daher besonders auf Abweichungen und unvorhergesehene Situationen (vgl. Roberts und Bea 2001:72). Hierzu haben sie eine ausgeprägte Fähigkeit entwickelt, über schwache Signale frühzeitig Anomalien und Abweichungen wahrzunehmen und entsprechend dieser Signale zu handeln (vgl. Coutu 2003:86). Durch den Aufbau von strukturellen, personellen und technischen Redundanzen versuchen Hochverlässlichkeitsorganisationen, die Gefahr von Fehlern zu vermeiden bzw. zu minimieren (vgl. Roberts 1990b:168; La Porte 1996:63; Roberts und Bea 2001:73). Back-up-Systeme, Doppelbesetzung von Aufgaben, überlappende Aufgaben, Vier-Augen-Prinzip etc. werden als sehr wichtig angesehen, um Fehler frühzeitig zu entdecken und ihnen entgegenzuwirken, bevor sie in größeren Unfällen resultieren. Gleichzeitig zeichnen sich Hochverlässlichkeitsorganisationen durch hohe Trainingsaktivitäten von verschiedenen möglichen Unfallszenarien aus. Hierdurch sollen Mitarbeiter Fähigkeiten entwickeln, die ihnen erlauben, Anomalien besser zu erkennen und auf diese entsprechend zu reagieren (vgl. Roberts 1990a:104; Roberts und Bea 2001:73). Trotz Trainings und Vorsichtsmaßnahmen können Fehler und unvorhergesehene Situationen auftreten. Diesen gilt es flexibel zu begegnen. Obwohl ausgeprägte hierarchische Strukturen in den HRO existieren, werden diese situativ verändert und aufgeweicht, sobald die Organisationen mit unvorhergesehenen Situationen oder komplexen Aufgaben konfrontiert werden (vgl. La Porte 1996:64; Mannarelli et al. 1996:84). Das zeigt sich insbesondere in der Veränderlichkeit der Entscheidungsstrukturen. In komplexen oder kritischen Situationen werden Entscheidungen von denjenigen Mitarbeitern getroffen, die über die besten für das Entscheidungsproblem notwendigen Kenntnisse und Erfahrungen verfügen (vgl. Roberts und Libuser 1993:21f.). Hierbei spielen Rang und hierarchische Position des Mitarbeiters eine untergeordnete Rolle. Häufig wird sogar bewusst die Erfahrung und das Wissen der „Frontline-Mitarbeiter“ genutzt, da diese sehr nahe am tatsächlichen Geschehen und mit der Situationen oder den Problemen besonders gut vertraut sind (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:90). Des Weiteren zeigte sich in den ursprünglichen Untersuchungen der Berkeley Gruppe, dass es für die Verlässlichkeit von HRO wichtig ist, ein Gesamtbild der Situation zu haben und dieses auch an die einzelnen Mitarbeiter zu kommunizieren (vgl. Roberts und Libuser 1993). Hierfür sind direkte und zuverlässige Informationen über betriebliche Abläufe notwendig. Gleichzeitig müssen Ziele und Handlungssituationen möglichst an alle Mitarbeiter kommuniziert wer-

54

Kapitel 3

den, so dass eine Transparenz der Gesamtzusammenhänge entsteht und die Mitarbeiter ihre eigenen Aufgaben und Situationswahrnehmungen entsprechend der Gesamtsituation einordnen und interpretieren können. Eine weitere Erkenntnis aus den HRO-Forschungen ist, dass verlässliche Organisationen über eine entsprechende Organisationskultur verfügen (vgl. z. B. Roberts 1990b:173; Kerfoot 2004:79; Gray 2003:4), die sicherheits- und verlässlichkeitsrelevante Werte und Normen in den Vordergrund stellt, ein gemeinsames Verständnis von Sicherheit und Zuverlässigkeit ermöglicht sowie den Mitarbeitern bei der Einschätzung hilft, welche Situationen als normal und welche als Anomalie zu betrachten sind. Zugleich fördert eine verlässlichkeitsorientierte Organisationskultur einen offenen Umgang mit Fehlern, begünstigt das Vertrauen der Mitarbeiter untereinander und trägt zu einer hohen Klarheit und der Identifikation mit den grundsätzlichen Zielen der Organisationen bei (vgl. Roberts 1990b:172). Dies führt dazu, dass Mitarbeiter sich so lange verantwortlich für Fehler und Anomalien fühlen, bis das Problem gelöst oder eine geeignete Person zur Problemlösung gefunden ist (vgl. Roberts und Libuser 1993; Roberts et al. 1994:620). Ferner sind sich die Mitarbeiter potenzieller Gefahren bewusst und wirken ihnen entsprechend entgegen (vgl. Roberts 1990a:106). Tabelle 5 stellt die im Rahmen der HRT-Forschung identifizierten und eben skizzierten verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren nochmals im Überblick dar und versucht, sie den unterschiedlichen, in Kapitel 2.4 abgeleiteten Gestaltungsebenen – organisational-strukturelle Ebene, Teamebene und individuelle Ebene – zuzuordnen. Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren

Gestaltungsebene

Akzeptierte Fehlbarkeit und Sensibilität für das Auftreten von Fehlern

Individuum

Bewusstsein für potenzielle Gefahren und entsprechendes Entgegenwirken

Individuum

Wahrnehmungsfähigkeit und Reaktion auf schwache Signale und Anomalien

Individuum

Verantwortlichkeit von Mitarbeitern für entdeckte Fehler und Anomalien, bis diese einer Lösung zugeführt werden

Individuum

Redundanzen: Technische, strukturelle und personelle Redundanzen in Form von Back-UpSystemen, Doppelbesetzung von Positionen, Überlappende Tätigkeiten, Vier-AugenPrinzip

Organisation

Flexible Entscheidungsstrukturen bei komplexen Aufgaben oder unvorhergesehenen Situationsveränderungen

Organisation

Kontinuierliches und ausgeprägtes Training

Organisation

Transparenz für Gesamtzusammenhänge und Situation

Organisation

Bewusster proaktiver Umgang mit Fehlern

Organisation(-skultur)

Verlässlichkeitsorientierte Organisationskultur wirkt sich aus auf: x Vertrauen x Offenen Umgang mit Fehlern x Gemeinsames Verständnis von Situation und Sicherheit x Zielklarheit und Identifikation mit organisationalen Zielen (Sicherheit und Verlässlichkeit)

Organisation(-skultur)

Tabelle 5:

Verlässlichkeitsbeeinflussende Merkmale der Hochverlässlichkeitsforschungen

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

55

Diese und weitere Merkmale werden im zentralen Konzept der HRT – dem Konzept der gemeinsamen Achtsamkeit (Collective Mindfulness) zusammengefasst (vgl. Weick et al. 1999:88ff.; Weick und Sutcliffe 2003:55ff.). Hierunter ist eine grundlegende mentale Haltung und Denkweise zu verstehen, die es Organisationen erlaubt, achtsam zu handeln und so in unvorhergesehenen Situationen flexibel und situationsangepasst zu agieren (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:15). Achtsamkeit ist die Fähigkeit von Individuen und Gruppen, „to be acutely aware of significant details, to notice errors in the making, and to have the shared expertise and freedom to act on what they notice” (Weick et al. 2000:34). Achtsamkeit meint dabei nicht nur die Aufmerksamkeit im Sinn einer lediglichen Wahrnehmung von Situationen und Situationsänderungen, sondern sie hat viel mit der Qualität und der Nachhaltigkeit der Aufmerksamkeit gegenüber schwachen Umweltsignalen zu tun: Diese müssen wahrgenommen, interpretiert und verarbeitet werden. Darüber hinaus muss sich die so erzielte Aufmerksamkeit in Handeln umsetzen. Dies bedeutet, dass die gemeinsame Achtsamkeit als ein Zusammenspiel verschiedener Elemente zu verstehen ist (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:55f.; Weick et al. 1999:89ff.): „Die bestehenden Erwartungen werden laufend überprüft, überarbeitet, und von Erwartungen unterschieden, die auf neueren Erfahrungen beruhen; es besteht die Bereitschaft und die Fähigkeit, neue Erwartungen zu entwickeln, durch die noch nie da gewesene Ereignisse erst verständlicher werden“ (Weick und Sutcliffe 2003:55). Die nuancierte Würdigung und Einschätzung des Kontextes und der Handlungsalternativen verbessern den Umgang mit einem Problem. Im Konzept der Collective Mindfulness wird der Schlüssel für ein zuverlässiges Handeln von Organisationen gesehen. Organisationen, die bereit sind, in gefährlichen Situationen zu handeln, sind auch bereit und in der Lage, potenzielle Gefahren zu erkennen und zu analysieren. Durch diese Sensibilität vergrößert sich der Wahrnehmungstrichter der Aufmerksamkeit (vgl. Weick et al. 1999:90). Das Konzept der gemeinsamen Achtsamkeit fokussiert überwiegend die organisationale Ebene und ist „conceptualized as a pattern of heedful interrelations of actions in a social system“ (Weick und Roberts 1993:357). Daher wird das achtsame Handeln einer Organisation auch als eine organisationale Kompetenz angesehen (vgl. Weick et al. 2000:34).44 Das Konzept der Collective Mindfulness fasst u. a. die oben genannten Merkmalen in den fünf Dimensionen der gemeinsamen Achtsamkeit zusammen (vgl. Weick et al. 1999:92ff.; Weick und Sutcliffe 2003:22ff.; 76ff.): x

Sensibilität für betriebliche Abläufe

x

Konzentration auf Fehler

x

Abneigung gegen vereinfachende Interpretationen

x

Streben nach Flexibilität

x

Respekt vor fachlichem Wissen und Können



44

Wegen des starken Bezugs der Achtsamkeit zur organisationalen Ebene wäre es nach Meinung des Autors besser, von einer organisationalen Achtsamkeit zu sprechen.

56

Kapitel 3

Gemeinsam sind sie für die außerordentliche Aufmerksamkeit, Flexibilität und Anpassungsfähigkeit von Hochverlässlichkeitsorganisationen verantwortlich. Um ein Verständnis dafür zu bekommen, was genau mit den fünf zentralen Merkmalen der Achtsamkeit gemeint ist, werden diese im Folgenden näher skizziert. 3.4.2.1 Sensibilität für betriebliche Abläufe Nach Auffassung der HRO-Forschungen stellt eine ganzheitliche Wahrnehmungsfähigkeit und Berücksichtigung der Situation ein wichtiges Merkmal für eine effiziente Leistungsfähigkeit dar. Gerade dann, wenn eine Organisation mit Unerwartetem konfrontiert ist, kommt es darauf an, ein möglichst umfassendes Bild der aktuellen betrieblichen Abläufe bzw. der Gesamtsituation zu haben.45 Dies hilft einerseits, das eigene Handeln besser einordnen zu können, andererseits lassen sich so die einzelnen Personen besser in die Lösung des Problems einbinden. Damit eine Sensibilität für betriebliche Abläufe entwickelt werden kann, ist es notwendig, dass von der Führungsspitze Ziele, Situationen und Zusammenhänge transparent gemacht und kommuniziert werden. Mitarbeiter von HRO bekommen so detaillierte Informationen über den aktuellen Stand der Dinge. Sie können sich aufgrund des Gesamtbildes für alle Aktivitäten bereithalten, die notwendig sein könnten, um den aktuellen Betrieb aufrechtzuerhalten (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:78). Damit auch die Führungsspitze einen aktuellen Überblick aufrechterhalten kann, ist es notwendig, dass seitens der Mitarbeiter keine Anzeichen für einen gestörten Betriebsablauf verschwiegen werden (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:26). Störungen, Zwischenfälle und Unfälle lassen sich nur verhindern, wenn Anomalien und Fehler frühzeitig erkannt und kommuniziert werden.46 Unterbleibt dies z. B. auf Grund mangelnder Kommunikationsfähigkeiten, Kompetenzrangeleien oder fehlender Strukturbeziehungen zwischen den Mitarbeitern, können Anomalien und Fehler schnell zu Unfällen eskalieren und in einem gestörten betrieblichen Ablauf resultieren. Wie Anomalien und Fehler gehandhabt werden, hängt maßgeblich vom Umgang der Mitarbeiter untereinander ab und wird stark von kulturellen Aspekten der Organisation geprägt. Eng verbunden mit der Sensibilität für betriebliche Abläufe ist die Wahrnehmungsfähigkeit von HRO sowie deren Konzentration auf Fehler. 

45

46

Weick und Sutcliffe (2003:48ff.) gehen davon aus, dass Überraschungen und unerwartete Ereignisse fünf Formen annehmen können: 1. Probleme und Ereignisse treten völlig überraschend auf; 2. Probleme werden erkannt, daraus abgeleiteten Erwartungen gehen jedoch in die falsche Richtung; 3. Kenntnisse, dass ein Ereignis eintritt, jedoch der Zeitpunkt wird falsch einschätzt; 4. Kenntnisse, dass ein Ereignis eintritt, jedoch die Wirkungsdauer wird falsch eingeschätzt; 5. Kenntnisse, dass ein Ereignis eintritt, jedoch das Ausmaß wird falsch eingeschätzt. Fraglich bei dieser Einteilung ist jedoch, ob es sich bei den letzten drei Formen überhaupt um unerwartete Ereignisse handelt. Nach Meinung des Autors kann nur in den ersten beiden Punkten von unerwarteten Ereignissen gesprochen werden, so dass die hier vorgestellte Klassifikation nur bedingt geeignet ist, das „Unerwartete“ zu klassifizieren. Die Gespräche von Mitarbeitern während der regelmäßigen Dienstbesprechungen auf einem Flugzeugträger hören sich für einen Außenstehenden irrelevant und unzusammenhängend an. Ein Außenstehender kann nur schwer den Inhalten folgen. Erfahrene Mitarbeiter konzentrieren sich weniger auf die gesamten Gesprächsinhalte, vielmehr achten sie auf Abweichungen von Situationen und Inhalten, die nicht ihren Erwartungen entsprechen. Werden diese Abweichungen identifiziert, reagiert der betreffende Mitarbeiter und führt sofort eine Klärung der Situation herbei (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:44).

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

57

3.4.2.2 Konzentration auf Fehler Erkenntnisse der Fehlerforschung zeigen, dass Fehler systemimmanent und damit latent vorhanden sind. Mitarbeiter in Hochverlässlichkeitsorganisationen sind sich der potenziellen Fehlergefahren innerhalb der Organisation bewusst. Sie wissen, dass sie nicht alles wissen und vorhersehen können; sie rechnen damit, überrascht zu werden (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:69). D. h., sie akzeptieren ihre Fehlbarkeit und richten ihr Verhalten darauf aus, Fehler möglichst frühzeitig zu entdecken, um ihnen entgegenzuwirken (vgl. Reason 2000b:11; Reason 2000a:768). Da sich überraschende Ereignisse stets durch Anomalien und Unregelmäßigkeiten ankündigen, achten HRO-Mitarbeiter im Rahmen der Sensibilität für betriebliche Abläufe besonders auf schwache Signale. Sie haben eine Wahrnehmungskompetenz entwickelt, die es ihnen ermöglicht, Anomalien, kleinste Störungen und Fehler frühzeitig wahrzunehmen. Je früher diese Unregelmäßigkeiten erkannt werden, desto größer ist der verbleibende Handlungsspielraum, den Fehlern und Störungen entgegenzuwirken. Die Akzeptanz der eigenen Fehlbarkeit führt dazu, dass Fehler nicht als eine Bedrohung und etwas Negatives gesehen werden, sondern als elementare Quelle zur Verbesserung der Verlässlichkeit (vgl. Marais et al. 2004:9; Reason 2000a:768; Weick et al. 1999:92). Wie später in Kapitel 3.6.2 noch erläutert wird, sehen die Mitarbeiter in jedem noch so kleinen Fehler einen Lerngegenstand und Lernauslöser. Dies und die Überzeugung, dass Lernen aus Fehlern ein elementarer Bestandteil der Zuverlässigkeit in High Reliability Organizations ist, führt dazu, dass HRO eine Organisationskultur entwickeln, die eine vertrauensvolle Kommunikation ermöglicht und eine gemeinsame Auffassung hinsichtlich der Bedeutung der Sicherheit und der damit verbundenen präventiven Maßnahmen fördert. Reason (1997:194) spricht daher von einer Sicherheitskultur als informierter Unternehmenskultur. Diese Kultur ist das Ergebnis individueller und kollektiver Werte, Einstellungen, Fähigkeiten und Verhaltensmuster und bestimmt über die Verlässlichkeit und Leistungsfähigkeit einer Organisation.47 Damit verbunden werden Fehler offen angesprochen und nicht aus Angst, Unwissenheit oder Gleichgültigkeit verschwiegen. Häufig wird das Ansprechen von Fehlern oder Störungen belohnt. So berichten Weick et al. (1999:93), dass ein Raketenwissenschaftler einem Ingenieur eine Flasche Champagner schenkte, nachdem dieser im Anschluss an einen missglückten Raketenversuch zugab, evtl. einen Kurzschluss während der Abschussvorbereitungen an der Rakete verursacht zu haben. Wie sich später herausstellte, war der Kurzschluss tatsächlich die Ursache für den Absturz der Rakete. So verhinderte das Eingestehen eines Fehlers eine aufwändige Ursachenforschung und Konstruktionsänderungen. Die hohe Motivation, sich auf Fehler zu konzentrieren und diese bewusst zu reflektieren, ermöglicht es Hochverlässlichkeitsorganisationen, aus Fehlern zu lernen. Dabei betrachten HRO Fehler und Anomalien nicht isoliert oder als ein lokales Problem eines Teilsystems. Vielmehr sehen sie in jeder Panne oder Störung „ein Signal für eine mögliche Schwachstelle in anderen Teilen des Systems“ (Weick und Sutcliffe 2003:70).  47

Detaillierte Ausführungen zur Sicherheitskultur finden sich bei Reason (1997:191ff.).

58

Kapitel 3

3.4.2.3 Abneigung gegen vereinfachende Interpretationen High Reliability Organizations wissen, dass die Umwelt, mit der sie konfrontiert sind, komplex, unbeständig und unvorhersehbar ist (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:24). Eine Möglichkeit im Umgang mit dieser Komplexität bestünde darin, diese zu reduzieren, indem das Beobachtungsfeld eingeschränkt wird. Allerdings würde das automatisch zu einer Reduktion der Wahrnehmungsmöglichkeit führen, da bewusst Informationen ausgeblendet würden. Mitarbeiter von HRO würden zudem lediglich bestimmte Erwartungen an die Umwelt stellen und ihre Aufmerksamkeit auf deren Eintreffen richten. Durch die Fokussierung ließen sich nur schwer Anomalien, Unregelmäßigkeiten oder Fehler frühzeitig wahrnehmen, so dass die Achtsamkeit der Hochverlässlichkeitsorganisationen sänke (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:76). Um diese Problematik zu umgehen, akzeptieren High Reliability Organizations die begrenzte Vorhersehbarkeit von Umweltveränderungen sowie ihre eigene Fehlbarkeit (vgl. Gray 2003:3; Weick et al. 1999:100). Sie sind überzeugt, dass komplexe Probleme auch einer komplexen Problemlösung bedürfen (vgl. Weick 1987:112; Weick und Sutcliffe 2003:56). Daher pflegen Hochverlässlichkeitsorganisationen eine Skepsis gegenüber vereinfachenden Annahmen und Situationsinterpretationen und versuchen, eine Vereinfachung und Fokussierung weitgehend zu vermeiden. Stattdessen sind sie bestrebt, ihre Wahrnehmungsfähigkeit zu steigern, indem sie für ein möglichst breites Vorstellungsspektrum sorgen. Hierfür wird bewusst eine Divergenz von analytischen Perspektiven, Theorien, Modellen und Annahmen erzeugt (vgl. Weick et al. 1999:99). Die Diskussion konträrer Standpunkte und Ideen, eine interdisziplinäre Teamzusammensetzung oder die Nutzung unterschiedlicher Erfahrungshintergründe helfen den Hochverlässlichkeitsorganisationen, verengende einheitliche Wahrnehmungs- und Denkmuster bei der Problemlösung zu vermeiden. Obwohl sie durch diese Maßnahmen bewusst die Gefahr eingehen, Konflikte heraufzubeschwören, ist es gerade „the divergence not the commonalities, that holds the key to detection anomalies“ (Weick et al. 1999:96), die dazu führt, den High Reliability Organizations eine größere (Re-)Aktionszeit zu verschaffen. 3.4.2.4 Streben nach Flexibilität „Flexibilität ist eine Mischung aus der Fähigkeit, Fehler frühzeitig zu entdecken, und der Fähigkeit, das System durch improvisierte Methoden am laufen zu halten“ (Weick und Sutcliffe 2003:27). Mitarbeiter in HRO sind stellenweise mit Situationen konfrontiert, die für sie neu, ungewohnt oder unerwartet sind und in denen sie schnell Entscheidungen treffen und improvisiert handeln müssen. Die akzeptierte Fehlbarkeit hilft ihnen, sich nicht durch das Auftreten von Unerwartetem in ihrer Handlungsfähigkeit lähmen zu lassen. Um diesen Situationen begegnen zu können, unternehmen HRO ganz bewusst Anstrengungen, sich eine Flexibilität aufzubauen und zu erhalten. Hierbei geht es weniger darum, Probleme zu verhüten. Vielmehr zeigt sich die Flexibilität in der Fähigkeit, Probleme schnell zu erkennen und zu behandeln. „Anders als die Antizipation, die uns dazu ermuntert, zuerst nachzudenken und

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

59

dann zu handeln, motiviert die Flexibilität, zu handeln, während man nachdenkt, oder auch zu handeln, um klarer zu denken“ (Weick und Sutcliffe 2003:93).48 Hierfür bedarf es Mitarbeiter, die nicht nur fachliche Lösungen für klar umrissene Probleme kennen, sondern auch über allgemeine, nicht-fachliche Fähigkeiten verfügen, die ein situationsspezifisches Handeln unterstützen. Denn, „once you start to act, you can flesh out your interpretations and rework them“ (Coutu 2003:88). So wird das Handeln die Grundlage für weiteres flexibles Handeln. Insbesondere die Human Factors/CRM-Forschungen (vgl. Kapitel 3.5.3) thematisieren nichtfachliche Fähigkeiten, wie Wahrnehmungs- oder Entscheidungsfähigkeit als wichtiges Merkmal für das flexible und situationsspezifische Handeln. Um Flexibilität aufzubauen und zu verbessern, ist es nach Weick und Sutcliffe (2003:85f.) wichtig, zeitnah aus Feedback zu lernen und neue Erkenntnisse zu gewinnen, schnell und präzise zu kommunizieren, eine Erfahrungsvielfalt auf- und auszubauen sowie vorhandene Handlungsmuster zu kombinieren und auf die jeweilige Situation anzuwenden. 3.4.2.5 Respekt vor fachlichem Wissen und Können Dieses Merkmal wird mitunter auch als Veränderlichkeit der Entscheidungsstrukturen – „fluidity of decision-making structure“ – (Weick et al. 2000:34) oder als flexible Entscheidungsfindung bezeichnet. Um in unerwartet aufgetretenen Situationen rasch handeln zu können, müssen Entscheidungen zügig getroffen werden. Je nach Situationsdynamik verschieben Hochverlässlichkeitsorganisationen die Entscheidungsgewalt von der Hierarchiespitze an die Peripherie (vgl. Mannarelli et al. 1996:84; Weick und Sutcliffe 2003:30; La Porte 1996:63). In ruhigen Zeiten werden die Entscheidungen zentral getroffen. In unvorhergesehenen Situationen oder wenn die Aufgaben komplexer werden, delegieren HRO die Entscheidungsgewalt bewusst an Personen, die über das benötigte Fachwissen oder Können verfügen und meist nahe am Handlungsgeschehen agieren (vgl. Roberts et al. 1994:616; Weick et al. 2000:37). Dies bedeutet, dass Entscheidungen an den Ort verlagert werden, wo die höchste fachliche Expertise für das zu lösende Problem liegt. Wegen dieses Respekts vor fachlichem Wissen und Können treten formale hierarchische Strukturen mit ihren Macht- und Entscheidungskompetenzen bei fachlichen Entscheidungen in den Hintergrund. So kann bspw. auf einem Flugzeugträger ein Rollfeldmitarbeiter die Entscheidung treffen, dass Rollfeld zu sperren und die Starts und Landungen abzubrechen, sobald er der Meinung ist, dass Gegenstände auf dem Rollfeld (Schraubenschlüssel etc.) die Sicherheit des Flugbetriebs gefährden (vgl. Marais et al. 2004:8; Weick et al. 1999:93; Weick und Sutcliffe 2003:53f.). Mitarbeiter in Hochverlässlichkeitsorganisationen haben gelernt, dass Erfahrungen sowie fachliches Wissen und Können bei Entscheidungen in unbekannten Situationen wichtiger sind als dessen hierarchische Posi-



48

Ein planmäßig-rationales Handeln, das den Prinzipien: „erst nachdenken, dann handeln, analysieren und vorhandenes Fachwissen nutzen, exakt beobachten und Informationen sammeln“ folgt, kann als objektivierendes Handeln bezeichnet werden (vgl. Böhle 2004:37). Dieses Vorgehen eignet sich jedoch selten für ein Handeln in unvorhergesehenen Situationen.

60

Kapitel 3

tion (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:90).49 HRO umgehen zu Gunsten der fachlichen Kompetenzen ganz bewusst die formale Hierarchie und lockern damit klassische Befehls- und Kontrollgewalten, die unter normalen Umweltbedingungen gelten würden (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:29f.). Diejenige Person, welche über das benötigte Wissen oder Können zum Handeln in der unerwarteten Situation verfügt, übernimmt die Führungsrolle. Diese Verschiebung der Führungsrolle wird als „koordinierte Führung“ (Weick und Sutcliffe 2003:91) bezeichnet und fördert die Flexibilität des Handelns. Mit Hilfe der hier skizzierten fünf Merkmale von Achtsamkeit gelingt es HRO, sowohl Unerwartetes zu antizipieren als auch auf Unerwartetes zu reagieren (vgl. z. B. Weick und Sutcliffe 2003:67ff.; 81ff.; Seaman und Williams 2005:15). Umweltveränderungen, Anomalien und Fehler sollen durch die Antizipation rechtzeitig bemerkt werden, bevor sie zu schwer kontrollierbaren Zwischenfällen und Unfällen eskalieren. Hierbei wirken sich die Sensibilität für betriebliche Abläufe, die Konzentration auf Fehler sowie die Abneigung gegen vereinfachende Interpretationen förderlich aus. Da trotz aller Vorsichtsmaßnahmen unerwartete Situationen eintreten können, ist eine flexible Reaktion auf Unerwartetes wichtig. Mit Hilfe des kontinuierlichen Strebens nach Flexibilität sowie dem Respekt vor fachlichem Wissen und Können sind HRO in der Lage, unerwarteten Situationen adäquat zu begegnen (vgl. Roberts 1990b:161). Die hier beschriebenen Merkmale des Konzeptes der gemeinsamen Achtsamkeit können zur besseren Übersicht auch folgendermaßen dargestellt werden.50

ZUVERLÄSSIGKEIT GEMEINSAME ACHTSAMKEIT

Sensibilität für betriebliche Abläufe

Konzentration auf Fehler

Abneigung gegen vereinf. Interpretation

Streben nach Flexibilität

Respekt vor fachl. Wissen und Können

Antizipation

Flexible Reaktion

Ö Fähigkeit zur Entdeckung von Unerwartetem

Ö Fähigkeit zum Management von Unerwartetem

Abbildung 8:

Das Konzept der gemeinsamen Achtsamkeit



49

50

Mit der Bedeutung der Erfahrung für die Entscheidungsprozesse beschäftigen sich die Forschungen zum Naturalistic Decision Making (vgl. z. B. Klein et al. 1995) Sie zielt darauf ab, Aussagen darüber zu treffen, wie Individuen ihre Erfahrungen bei der Entscheidungsfindung in realen Umweltsituationen einsetzen (vgl. Zsambok 1997:4). Auf das Naturalistic Decision Making wird in Kapitel 3.5.4 näher eingegangen. Bei der Einteilung der Merkmale in „Antizipation“ und „Reaktion“ handelt es sich um eine idealtypische Zuordnung. Wegen der wechselseitigen Beeinflussung lassen sich die fünf Merkmale nicht trennscharf einer Kategorie zuordnen.

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

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Durch die wechselseitige Beeinflussung von Achtsamkeit und Handlung vermeiden HRO, in Trägheit oder Gedankenlosigkeit bei der Aufgabenerfüllung zu verfallen. Das Wechselspiel dieser beiden Aspekte bestimmt die Zuverlässigkeit ihres Handelns. Organisationen, die bereit sind, auf unterschiedlichste Fehler, Störungen oder Zwischenfälle zu reagieren, sind gleichzeitig bereit, über diese Störungen im Vorfeld nachzudenken, mögliche Handlungsalternativen zu entwickeln und auf die schwachen Signale der Störungen zu achten.

3.4.3 Resümee: Forschungen zu High Reliability Die Forschungen zu High Reliability zeigen, dass sich unterschiedliche Faktoren auf die Verlässlichkeit und Sicherheit einer Organisation auswirken. Sie zielen auf einer organisationalen Ebene darauf ab, zu erklären, wie sich die Leistungsfähigkeit im Sinn von Sicherheit und Verlässlichkeit in Hochrisikoumwelten beeinflussen lässt. Das Zusammenspiel der eben skizzierten fünf Merkmale – Konzentration auf Fehler, Abneigung gegen vereinfachende Interpretation, Sensibilität für betriebliche Abläufe sowie ein kontinuierliches Streben nach Flexibilität und der Respekt vor fachlichem Wissen und Können – fördern die organisationale Kompetenz eines gemeinsamen (organisationalen) achtsamen Handelns und erlauben es Hochverlässlichkeitsorganisationen, Fehler rechtzeitig zu antizipieren und flexibel auf Fehlerfolgen zu reagieren. Fehler und der adäquate Umgang mit Fehlern bilden aus Sicht der Fehlerforschung einen wichtigen Baustein für den Aufbau und Erhalt von Sicherheit. Ausgehend von den in Kapitel 3.3.2 erläuterten Ausführungen zum Fehlermanagement zeigt sich, dass die High Reliability Theory maßgeblich durch diese Arbeiten beeinflusst wurde. Nach Auffassung der verhaltensorientierten HRT sind Fehler gerade in komplexen und eng gekoppelten technischen Systemen aufgrund der latenten Systembedingungen unvermeidlich, so dass es immer zu Störungen, Zwischenfälle und Unfällen kommen wird. Allerdings widmen sich die Hochverlässlichkeitsforschungen nicht ausschließlich einer retrospektiven Betrachtung von Fehlern, sondern betonen vor allem die proaktiven strukturellen, technischen und personenbezogenen Möglichkeiten, mit denen sich Fehler und deren Folgen eindämmen oder sogar verhindern lassen. Die High Reliability-Forschung nimmt daher heute eine systemische Perspektive der Fehlerbetrachtung ein (vgl. Reason 2000a:768). Sie sieht die Ursache von Störungen, Zwischenfällen und Unfällen im Zusammenspiel von aktiven Fehlern und latenten Systembedingungen, an dessen Ende das Individuum steht. Dieser Wandel in der Fehlerbetrachtung wird dabei in den Arbeiten der HRT Ende der 1990er Jahre deutlicher (vgl. Roberts und Bea 2001:71) und zeigt sich vor allem in der Entwicklung des Konzeptes der gemeinsamen Achtsamkeit (vgl. Weick et al. 2000; Weick und Sutcliffe 2003). Mit Hilfe dessen soll es Organisationen möglich werden, Fehler frühzeitig zu antizipieren, so dass diese sich nicht zu schwerwiegenden Störungen, Zwischenfällen oder Unfällen ausweiten. Gleichzeitig sollen Hochverlässlichkeitsorganisationen in die Lage versetzt werden, flexibel auf bereits aufgetretene Fehler und Unfälle zu reagieren. Stellt man diese zwei Zielstellungen der „Achtsamkeit“ den Ausführungen zum

62

Kapitel 3

Fehler entdecken, bevor sie zu Störungen und Zwischenfällen führen

Fehler vermeiden

Abbildung 9:

Reaktion x Streben nach Flexibilität x Respekt vor fachlichem Wissen und Können

Antizipation latente Fehler

Fehlerfolgen minimieren

aktive Fehler

Fehlermanagement (vgl. Kapitel 3.3.2.2) gegenüber, so zeigt sich, dass die HRO damit ein kontinuierliches Fehlermanagement betreiben. Ausgehend von den drei Möglichkeiten im Umgang mit Fehlern und deren Folgen (Vermeidung von Fehlern, frühzeitiges Entdecken von Fehlern sowie Minimierung der Fehlerfolgen) lassen sich die Merkmale der Achtsamkeit dem Fehlermanagementkonzept, wie in Abbildung 9 dargestellt, zuordnen.

x Konzentration auf Fehler x Abneigung gg. vereinfachende Interpretation x Sensibilität für betriebliche Abläufe

Das Konzept der Achtsamkeit und die Möglichkeiten des Fehlermanagements

Ein gutes Fehlermanagement zeigt sich in der erfolgreichen Bewältigung von unvorhergesehenen und/oder kritischen Situationen. Gleichzeitig verbreitert der Umgang mit Fehlern die Erfahrungsbasis der Mitarbeiter und ermöglicht es diesen, noch sensibler auf Anomalien und Abweichungen zu achten (vgl. Weick et al. 1999:90). Neben den Arbeiten zu High Reliability wurden auch die Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management maßgeblich durch das Fehlermanagement geprägt.

3.5 Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management Ein weiterer zentraler Bereich der verlässlichkeitsorientierten Forschungen stellen die Arbeiten zu Human Factors/Crew Resource Management dar. Diese Forschungen haben sich unabhängig von den High ReliabilityForschungen entwickelt. Sie beschäftigen sich ebenfalls mit Faktoren, die es Organisationen in Hochrisikoumwelten ermöglichen, verlässlich und sicher zu handeln. Dabei fokussieren sie weniger die organisationale Ebene als vielmehr die individuelle Ebene und die Gruppenebene, wenn es um den Aufbau und Erhalt von Verlässlichkeit und Sicherheit geht. Da im empirischen Teil C auf die Erkenntnisse und die abgeleiteten verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren Bezug genommen wird, werden die Human Factors/CRM-Forschungen ebenfalls ausführlich erläutert. Zu Beginn dieses Kapitels wird die Entwicklung des CRM-Konzeptes hin zu einem Fehlermanagementkonzept aufgezeigt, bevor nach einer Ziel- und Begriffsklärung die vielfältigen

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

63

Anwendungsbereiche vorgestellt werden. Anschließend werden mit den nicht-fachlichen Fähigkeiten verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der Human Factors/CRM-Forschung herausgearbeitet und strukturiert. Dabei zeigt sich, dass die Entscheidungsfähigkeit von Mitarbeitern einen wichtigen Faktor für die organisationale Verlässlichkeit darstellt. Deswegen wird mit den Forschungen zum Naturalistic Decision Making ein für die Human Factors/CRM-Forschung wichtiger Teilbereich skizziert. Das Kapitel schließt mit der Darstellung der Grundkonzeption von CRM-Trainings und fasst die verschiedenen identifizierten verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren nochmals zusammen.

3.5.1 Entstehungshintergrund, Begriff und Ziel Parallel zur HRO-Forschung entwickelte sich die Forschung zu Human Factors/Crew Resource Management.51 Sie wurzelt ebenfalls in der Unfallforschung und stellt den Mensch und seine Fähigkeit, Fehler zu vermeiden, in den Untersuchungsmittelpunkt. Mitarbeiter von Organisationen in Hochrisikoumwelten arbeiten häufig in Gruppen zusammen, die als Crews, Teams oder Schichten bezeichnet werden. Hierbei müssen Individuen sehr wirksam sowohl mit der Technologie als auch mit den anderen Teammitgliedern zusammenarbeiten (vgl. Mearns et al. 2001:381; Gaba 2004:5; Wilson et al. 2005:303). Die Qualität dieser Zusammenarbeit wirkt sich maßgeblich auf die Zuverlässigkeit und Leistung der Organisation aus. Untersuchungen des amerikanischen NASA Ames Research Center und des National Transportation Safety Board im zivilen Luftfahrtbereich Ende der 1970er Jahre zeigten, dass die Ursachen von Fehlern und Zwischenfällen in Hochrisikoumwelten weniger in technischen Fehlern oder im Umgang mit der Technik begründet liegen. Vielmehr entstehen Fehler durch personenbezogene Faktoren (Human Factors), wie z. B. unzureichende Problemantizipation, zu geringe Kommunikation zwischen den Teammitgliedern, geringe Entscheidungsfähigkeiten oder ungenügende Führung (vgl. u. a. Helmreich und Foushee 1993:4; Mearns et al. 2001:382; Thomas 2004:207). In der Human Factors/CRM-Literatur werden diese Fähigkeiten auch als „Non-Technical Skills“ (nicht-fachliche Fähigkeiten) (vgl. St. Pierre et al. 2004:144; Mearns et al. 2001:382), „crew resource management skills” (vgl. Thomas 2004:207; Klampfer et al. 2001:24) oder „human factor skills” (vgl. Klampfer et al. 2000) bezeichnet.52 Die Human Factors/Crew Resource Management-Forschungen sehen in der Verbesserung der Human Factors ein sehr großes Potenzial, um Fehler zu minimieren und die Sicherheit und Verlässlichkeit des organisationalen Handelns zu stärken (vgl. u. a. Mearns et al. 2001:378; Helmreich et al. 2001:1). Daher stellen die Arbeiten zu Human Factors/CRM einen weiteren grundlegenden Teilforschungsbereich der verlässlichkeitsorientierten Hoch 51

52

Zu Beginn der CRM-Forschung wurde überwiegend im amerikanischsprachigen Raum von „Crew Resource Management“ gesprochen, während im europäischen Raum der Terminus „Human Factors-Training“ gebräuchlich war (vgl. Helmreich et al. 1999b:1). In dieser Arbeit werden beide Begriffe synonym verwendet, meist jedoch wird von Human Factors/Crew Resource Management gesprochen. Im weiteren Verlauf dieser Arbeit werden überwiegend die Begriffe „nicht-fachliche Fähigkeiten“ oder „Non-Technical Skills“ verwendet.

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Kapitel 3

leistungsforschung dar. Seit Beginn der 1980er Jahre rücken die Human Factors verstärkt ins Blickfeld der Sicherheitsbestrebungen von Organisationen in Hochrisikobereichen (vgl. u. a. Butler 1993:236f; Buerschaper et al. 2003:[1]; Hollnagel 2004:32f; Stelfox et al. 2006:174). Insbesondere die Luftfahrtindustrie hat die Bedeutung der Humanressourcen zur Bewältigung von Fehlern und Zwischenfällen schnell erkannt und übernahm in der Human Factors/CRMForschung eine Pionierrolle. Insbesondere das dabei abgeleitete sog. Crew Resource Management-Konzept war wegweisend für die Entwicklung neuer, simulationsgestützter Trainingsund Ausbildungsmaßnahmen für Organisationen in Hochrisikoumwelten. 3.5.1.1 Historische Entwicklung Die Hauptursachen für die aufgetretenen Zwischenfälle und Unfälle im Luftfahrtbereich lagen, wie im vorherigen Abschnitt skizziert, in den Human Factors und damit verbunden in den zu gering ausgeprägten Non-Technical Skills (vgl. Helmreich und Foushee 1993:7). Ausgehend von diesen Erkenntnissen wurde zu Beginn der 1980er Jahre das sog. „Cockpit Resource Management“ als Trainingsmethode mit dem Ziel entwickelt, die „Pilotenfehler“ zu vermeiden. Anfangs beschäftigten sich überwiegend Psychologen in den USA mit dieser Thematik und entwickelte Strategien und Programme zur Verbesserung der Zusammenarbeit von Cockpitpersonal im Luftfahrtbereich. Die Entwicklung des CRM-Konzepts hat jedoch seither eine Weiterentwicklung erfahren und wurde von der zivilen Luftfahrt auch in andere Bereiche und Organisationen, die in Hochrisikoumwelten agieren, übertragen (siehe Kapitel 3.5.2). Wegen der grundlegenden und wegweisenden Rolle des CRM-Konzeptes werden dessen fünf Entwicklungsstufen im Folgenden kurz skizziert. Die erste Generation des CRM entwickelte sich Anfang der 1980er Jahre und zielte darauf ab, individuelle Einstellungen und das Verhalten gegenüber Risiken und Sicherheit der Piloten zu beeinflussen, um so das Auftreten von Fehlern zu vermeiden (vgl. Häusler et al. 2004:25). Die Trainings waren überwiegend individuumsbezogen, beinhalteten psychologische Tests zur Selbstdiagnose und vermittelten allgemeine Inhalte zu Führung, Teamarbeit und individuellem Verhalten (vgl. Hackman 1993:49f.; Butler 1993:237; Helmreich und Merritt 1998:146; Helmreich et al. 1999b:2). CRM-Trainings stellten eine separate Komponente des Pilotentrainings dar und wurden meist in Form von ein- oder mehrtägigen, eigenständigen Seminaren oder Schulungen abgehalten (vgl. Prince und Salas 1993:348). Überwiegend wurden dabei Psychologen als Trainer eingesetzt. Häufig war deren Akzeptanz bei den Teilnehmern wegen ihrer fehlenden oder geringen Luftfahrtkenntnisse sehr gering. Mit der zweiten Generation rückten gruppendynamische Aspekte in den Trainingsmittelpunkt und das Cockpit Resource Management wurde in Crew Resource Management umbenannt. Gleichzeitig erfolgte ein modularer Aufbau der Trainingsinhalte, die sich intensiv mit Teambildung, Briefingstrategien, Situationsbewusstsein, Stressmanagement oder Entscheidungsfindung beschäftigten (vgl. Helmreich et al. 1999b:2). Trotz der Modularisierung hatten

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

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die CRM-Trainings nach wie vor einen Seminarcharakter. Die Inhalte wurden überwiegend losgelöst vom Flugkontext behandelt und selten auf die Anforderungen des Luftfahrtbereichs abgestimmt. Wegen dieses geringen Kontextbezugs und der mangelnden Praxisrelevanz wurden sie von den Teilnehmern häufig als „Psychokram“ abgetan und der Beitrag zur Steigerung der Flugsicherheit nicht erkannt (vgl. Helmreich et al. 1999b:2). Die durch ein CRM-Training hervorgerufene Einstellungsänderung gegenüber der Human Factors-Thematik führt nicht zwangsläufig zu einer Verhaltensänderung im realen Flugbetrieb (vgl. Häusler et al. 2004:25; Burke et al. 2004:102). Daher fokussierte das CRM in der Weiterentwicklung stärker auf praktische Übungen in Form von technologiegestützten Simulationen. Die bisher nur zur Ausbildung flugtechnischer Fähigkeiten („stick and rudder skills“) eingesetzte Simulation wurde nun auch zur Ausbildung der Human Factors herangezogen (vgl. Amalberti 1993:184; Helmreich 1997:3). Die dritte Generation der CRM versuchte Mitte der 1990er Jahre einen stärkeren Kontextbezug herzustellen, indem sie Piloten bei der Entwicklung und Durchführung von CRMTrainings miteinbezog und diese zunehmend in die technischen Trainings integrierte. Gleichzeitig wurde der Teilnehmerkreis erweitert: Neben der Cockpitcrew, bestehend aus Pilot, CoPilot und Bordingenieur, nahmen nun auch weitere Personen, wie Flugbegleiter, Fluglotsen oder Wartungspersonal, an den CRM-Trainings teil (vgl. Helmreich 1997). Mit der vierten Generation wurde CRM ein Bestandteil des regulären Flugtrainings. Das sog. Advanced Qualification Program der US-Flugsicherungsbehörde förderte zudem die Entwicklung organisationsbezogener Crew Resource Management-Trainings. Damit wurde es den Luftfahrtorganisationen möglich, spezifische CRM-Trainings zu entwickeln, die auf ihre ganz speziellen Bedürfnisse und Besonderheiten abgestimmt waren (vgl. Helmreich et al. 1999b:3). Die Integration der spezialisierten Trainings in das reguläre Flugtraining führte zu einer Prozessorientierung. D. h., Kommunikation und individuelles Verhalten richteten sich stark an den jeweiligen technischen Aufgaben und Prozessen aus. In der Folge zielten die CRM-Trainings immer weniger auf den Auf- und Ausbau nicht-fachlicher Fähigkeiten ab, sondern widmeten sich überwiegend dem möglichst reibungslosen Abarbeiten bestimmter Checklisten und der Vermeidung von Schnittstellenproblemen zwischen den Beteiligten (vgl. Helmreich et al. 2001:18). Dieser Trend zur Prozessorientierung reduzierte zwar die Schnittstellenproblematik, jedoch ging das ursprüngliche Ziel des CRM-Trainings, der Auf- und Ausbau eines Fehlerbewusstseins und -management, zunehmend verloren (vgl. Helmreich und Merritt 1998:143, 146). Zwar wurde den Mitgliedern durch die Trainings der vierten Generation beigebracht, wie sie idealerweise zusammenarbeiten sollten, allerdings wurde das „Warum“, d. h. das Vermeiden von Fehlern, in den Hintergrund gedrängt. Dies änderte sich erst Ende der 1990er Jahre mit der noch heute bestehenden fünften Generation von CRMTrainings. Beeinflusst durch die Arbeiten der Fehlerforschung (z. B. Reason 1994; 1997) wurde das noch heute aktuelle Crew Resource Management in der fünften Generation rekonzeptionalisiert und konzentriert sich wieder stärker auf die Identifikation und das Management von Feh-

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Kapitel 3

lern. Es wird daher auch als Error Management CRM bezeichnet (vgl. Helmreich und Merritt 1998:143ff.; Helmreich und Merritt 2000:3). Vorrangiges Ziel ist es nicht mehr, Fehler zu verhindern, sondern interne und externe Risikofaktoren eines Fluges möglichst frühzeitig zu entdecken. Fehlermanagement „is based on understanding the nature and extent of error, changing conditions, that induce error, determining behaviours that prevent or mitigate error, and training personnel in their use” (Helmreich 2000:781). Wie in der Hochverlässlichkeitsforschung zeichnet sich auch in den Human Factors/CRMArbeiten ein Wandel hin zu einer systemischen Fehlerbetrachtungsperspektive ab (vgl. Kapitel 3.3.2.1). Fehler in komplexen Systemen werden als etwas Unvermeidbares akzeptiert, die sich nicht allein durch menschliches Versagen erklären lassen. Vielmehr haben sie, insbesondere in hochtechnologischen Bereichen wie der Luftfahrt, multiple Ursachen, die auch strukturelle und organisatorische Faktoren einschließen (vgl. Helmreich und Merritt 2000; Thomas 2004:208). Wie in Kapitel 3.3.2.2 beschrieben, lassen sich Fehler durch geeignete technische, personelle und organisatorische Maßnahmen minimieren oder teilweise vermeiden (vgl. La Porte und Rochlin 1994; Weick und Sutcliffe 2003). Somit kommt den Mitarbeitern und deren nicht-fachlichen Fähigkeiten eine besondere Bedeutung im Umgang mit Fehlern zu. Ausgehend von diesen grundlegenden Annahmen der Unfall- und Fehlerforschung, haben Helmreich et al. (z. B. 1999a) ein Fehlermanagement-Modell für Luftfahrzeugbesatzungen entwickelt.53 Das CRM der fünften Generation leistet durch den Aufbau der nicht-fachlichen Fähigkeiten einen wichtigen Beitrag für die Sicherheit in Organisationen. Einerseits wird durch das CRM-Training bei den Individuen und Gruppen ein Bewusstsein für potenzielle Gefahren und Risiken geschaffen. Andererseits werden die sozialen und kognitiven Fähigkeiten der Individuen verbessert, was in der Folge zu einem guten Fehlermanagement führt (vgl. Helmreich et al. 1999b:7; Helmreich und Merritt 2000:2; Mearns et al. 2001:386; Thomas 2004:211). Damit zeigt sich, dass das Crew Resource Management heute nicht mehr nur als reine Trainingsmaßnahme betrachtet wird. Vielmehr stellt es ein Instrument dar, das der Organisation erlaubt, ein kontinuierliches Fehlermanagement zu betreiben (vgl. u. a. Helmreich und Merritt 1998:133ff.; Helmreich et al. 2001:1; Gaba 2004:3). Es stellt ein effektives, aber nicht alleiniges Instrument dar, mit dem sich die Verlässlichkeit, im Sinn von Sicherheit, in Organisationen verbessern lässt (vgl. Helmreich und Merritt 2000:2; Helmreich et al. 2001:1, 15; Thomas 2004:209).

 53

Der interessierte Leser sei für detaillierte Erklärungen hierzu verwiesen auf z. B. Helmreich und Merritt (1998), Helmreich et al. (1999a; 1999b; 2001). Für allgemeine Informationen zum Fehlermanagement siehe u. a. Reason (1993; 2000a) und Hollnagel (2004).

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3.5.1.2 Begriff und Ziel des CRM Crew Resource Management lässt sich definieren als die Nutzung aller zur Verfügung stehenden Ressourcen (Personen, Informationen und Ausrüstungsgegenstände), die zu einem sicheren und effektiven Handeln beitragen (vgl. Helmreich und Foushee 1993:4). Um in Hochrisikoumwelten verlässlich zu agieren, sind neben den fachlichen Fähigkeiten (technical skills) insbesondere auch die nicht-fachlichen Fähigkeiten notwendig. Die Human Factors/CRMForschungen weisen vor allem diesen Non-Technical Skills eine hohe Bedeutung für die organisationale Sicherheit zu. Sie beschäftigen sich intensiv mit deren Erwerb und Ausbau durch simulationsbasierte Trainings. Damit ist das CRM-Training allgemein „one type of human factor training, which deals with nontechnical issues” (Mearns et al. 2001:378). Ziel des CRM-Trainings ist es, durch die Entwicklung individueller und gruppenbezogener sozialer und kognitiver nicht-fachlicher Fähigkeiten, das Auftreten operationaler Fehler, Störungen und Zwischenfälle zu minimieren sowie die Reaktion auf unvorhergesehene (Notfall-) Situationen zu verbessern (vgl. Flin 1995:23, 27; Flin und Maran 2004:180). Damit setzt das CRM auf eine Verbesserung der organisationalen Leistungsfähigkeit über die individuelle und die Gruppenebene. Im Rahmen des CRM-Trainings wird es Individuen und Teams vor allem durch technologiegestützte sog. „high fidelity“-Simulationen möglich, verlässlichkeitsrelevante soziale und kognitive Fähigkeiten in einem realitätsnahen Kontext zu erwerben, anzuwenden und auszuprobieren (vgl. Helmreich und Merritt 1998:11). Durch diese erfahrungsbasierten Simulationstrainings werden die nicht-fachlichen Fähigkeiten gestärkt, die es der Organisation erlauben, ein kontinuierliches Fehlermanagement zu betreiben. Bezogen auf das in Kapitel 3.4.2 dargestellte Konzept der Achtsamkeit der High Reliability-Forschung, fördern CRM-Trainings damit z. B. die Wahrnehmungsfähigkeit von Mitarbeitern und unterstützen den Aufbau einer gemeinsamen Achtsamkeit in Hochverlässlichkeitsorganisationen. Dies bedeutet, dass Crew Resource Management-Konzepte eine Möglichkeit darstellen, mit Hilfe derer sich verlässlichkeitsbeeinflussende Merkmale der High Reliability-Forschung konkret unterstützen und beeinflussen lassen. CRM wird damit zu einem aktiven Prozess, der ein achtsames Handeln der Mitarbeiter unterstützt und ihnen hilft, sicherheitsgefährdende Situationen zu erkennen, zu kommunizieren und Maßnahmen zur Gefahrenvermeidung oder -minimierung zu entwickeln und umzusetzen. Letztendlich zeigt sich Crew Resource Management in der Anwendung allgemeiner nicht-fachlicher Fähigkeiten in der konkreten Handlungssituation eines Teams sowie dessen Interaktion (vgl. Helmreich et al. 1999a:677). Das so verstandene Crew Resource Management fördert durch die kontinuierliche Anwendung das Fehlerbewusstsein der Mitarbeiter und den Aufbau einer Sicherheitskultur, so dass Organisationen aktiven als auch latenten Fehlern adäquat begegnen können. Daher ist es nicht verwunderlich, dass der aus der Luftfahrt stammende CRM-Ansatz wegweisend für die Konzeption und Entwicklung von simulationsbasierten Trainings in anderen Organisationen in Hochrisikoumwelten war (vgl. Mearns et al. 2001:382; Flin und Maran 2004:80).

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Kapitel 3

Im Folgenden werden verschiedene Anwendungsbereiche des CRM skizziert. Hieran lässt sich veranschaulichen, dass sich die Human Factors/CRM-Forschung ebenfalls intensiv mit Organisationen in Hochrisikoumwelten beschäftigt. Gleichzeitig wird deutlich, dass z. B. mit den Kernkraftwerken sowie den petrochemischen Anlagen Überschneidungen in den Betrachtungsgegenständen zwischen Hochverlässlichkeits- und Human Factors/CRM-Forschung gibt.54

3.5.2 Anwendungsbereiche des Crew Resource Management Der Ursprung der Forschungen zu Human Factors/CRM liegt im Luftfahrtbereich. Insbesondere in den Vereinigten Staaten von Amerika wurde das Forschungsfeld stark vorangetrieben. Neben der zivilen Luftfahrt erkannte auch die militärische Luftfahrt sehr schnell das Potenzial, das in einer besseren Nutzung der Human Factors verborgen liegt. Ähnlich den Studien der zivilen Luftfahrt ergaben Untersuchungen im militärischen Bereich, dass viele Zwischenfälle, Unfälle und Flugzeugabstürze auf menschliches Fehlverhalten zurückzuführen waren, die zu kostenintensiven Verlusten und Schädigungen des Militärs führten (vgl. Prince und Salas 1993: 347). Um die bestehenden Human Factors besser zu nutzen, wurden Ende der 1980er Jahre unter dem Begriff „Aircrew Coordination Training“ (ACT) unterschiedliche Human Factor-Trainingskonzepte für die Airforce, die Army und die Navy entwickelt (vgl. Prince und Salas 1993:340). Die ACT-Konzepte basierten dabei auf bestehenden CRMKonzepten der zivilen Luftfahrt, wurden aber um die jeweiligen Anforderungen und Besonderheiten der unterschiedlichen Militäreinheiten ergänzt und abgeändert. Die so entstandene Vielzahl der verschieden ACT-Konzepte lässt sich einerseits durch die generellen Unterschiede zwischen ziviler und militärischer Luftfahrt erklären. So besteht bspw. die Aufgabe ziviler Piloten darin, die Passagiere sicher von einem zum anderen Ort zu bringen, während bei Kampfpiloten verschiedene militärische Aufträge erfüllt werden müssen. Andererseits stellen die verschiedenen Militärbereiche unterschiedliche Anforderungen an die Flugzeugbesatzung. Crews von Abfangjägern auf einem Flugzeugträger müssen über andere Human Factors und Non-Technical Skills verfügen als Hubschrauberpiloten der Marine oder Piloten von Versorgungsflugzeugen des Heers. Einen detaillierten Überblick über die Unterschiede zwischen ziviler und militärischer Luftfahrt sowie die Unterschiede innerhalb des Militärs geben Prince und Salas (1993). Ein weiterer großer Anwendungsbereich, auf den das simulationsgestützte CRMTrainingskonzept übertragen wurde, ist der medizinische Bereich – hier insbesondere der Anästhesiebereich (vgl. z. B. Helmreich und Schaefer 1994; Gaba 2000:19; 2004:2; Flin und 

54

Die stellenweise gleichen Untersuchungsgegenstände der beiden Forschungsbereiche könnten eine Erklärung für die in Kapitel 3.4.3 erläuterte HRO-Begriffsaufweichung liefern: Werden z. B. Kernkraftwerke in der High Reliability-Forschung als HRO aufgefasst, fehlt bei Arbeiten des CRM dieser explizite Verlässlichkeitsbezug.

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

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Maran 2004; Müller et al. 2007). Untersuchungen im Anästhesiebereich zeigten, dass 75 bis 80 Prozent der Zwischenfälle und Unfälle auf menschliches Fehlverhalten und damit auf die Human Factors zurückzuführen sind (vgl. Helmreich und Sexton 2004:118; Helmreich und Merritt 1998:17; Hansis und Hart 2001; St. Pierre et al. 2005:8). Ähnlich dem Luftfahrtbereich haben Ärzte und medizinisches Personal ebenfalls Probleme, kritische Situationen zu erkennen, Handlungsstrategien zu erstellen, mit Stress umzugehen, gut zu kommunizieren oder gut zu führen. Defizite in diesen Fähigkeiten führen zu einem Fehlhandeln und in der Folge zu Patientenschädigungen (vgl. Helmreich und Schaefer 1994:244f.; St. Pierre et al. 2005:V). Trotz der disziplinbedingten Unterschiede zwischen Cockpit Crews und medizinischem Personal – insbesondere OP-Teams – ergeben sich Parallelen und Gemeinsamkeiten hinsichtlich der Human Factors-Probleme (vgl. u. a. Thomas et al. 2003; Helmreich und Merritt 1998:17ff.; Helmreich 2000:781).55 In der Adaption des CRM-Ansatzes aus der Luftfahrt wurde eine Möglichkeit gesehen, die nicht-fachlichen Fähigkeiten des medizinischen Personals zu verbessern, um so die Patientensicherheit zu erhöhen. Da sich häufig der Anästhesiebereich mit dem Human Factors-Training beschäftigt, wird oft auch von „Anesthesia Crisis Resource Management“ gesprochen (vgl. u. a. Dieckmann et al. 2005:174; Moorthy et al. 2005:493; Müller et al. 2007). Zentraler Bestandteil der medizinischen CRM-Trainings sind ebenfalls technologiegestützte Simulationen. Mit deren Hilfe wird es möglich, seltene oder kritische Situationen abzubilden sowie bestimmte Fertigkeiten zu trainieren, ohne den Patienten dabei zu gefährden (vgl. St. Pierre et al. 2005:173; Moorthy et al. 2005:494). Es gibt unterschiedliche Arten von Simulationen (vgl. Gaba 2004:5; Flin und Maran 2004:81): Bei computerbasierten Simulationen werden Patientenszenarien komplett am Computer simuliert. Puppenbasierte (mannequin based) Simulationen verwenden in der Regel mobile Patientenpuppen oder Teilpuppen mit bestimmten Funktionen, die in einer „normalen“ Umgebung angewendet werden. Beispiel hierfür ist die Übung der Herz-Lungen-Wiederbelebung (Reanimation) bei einem Erste-HilfeKurs. Im Rahmen der medizinischen CRM-Trainings werden häufig aufwendige Full-Scaleoder High Fidelity-Simulationen angewendet. Damit sind komplexe Simulationen gemeint, die technisch multifunktionale und computergesteuerte Patientenpuppen (sog. High Fidelityoder Full-Scale-Simulatoren)56 als Simulatoren einsetzen und in speziell dafür vorgesehenen Umgebungen, wie z. B. Übungsoperationssaal oder Übungsintensivstation, stattfinden (vgl. Dieckmann 2005:5; Flin und Maran 2004:81; Gaba 2004:5).57 Mit Hilfe dieser Simulationen können verschiedene Übungsszenarien gestaltet werden. Die Simulationstrainings folgen da 55

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57

Für eine detailliertere Erläuterung zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden des Luftfahrt- und Gesundheitsbereichs vgl. z. B. Thomas (2003); Helmreich und Merritt (1998:17ff.). Meist handelt es sich dabei um lebensgroße Patientenpuppen, die über bestimmte Funktionen (Bewegung des Brustkorbs, Atemgeräusche, Pupillenreaktion, tastbarer Puls etc.) verfügen sowie skriptbasiert und computergestützt gesteuert werden können (vgl. Dieckmann 2005:4ff.). Im Jahr 2004 wurden in Deutschland bereits zehn dieser Full-Scale-Patientenpuppen in sog. Simulationszentren an Krankenhäusern und Kliniken eingesetzt. Der Aufbau weiterer Simulationszentren ist geplant (vgl. St. Pierre et al. 2004:151).

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Kapitel 3

bei den Phasen: Vermittlung von Theorie und Wissen; Bearbeitung von Simulationsszenarien; Debriefing und Transfersicherung (vgl. St. Pierre et al. 2005:173; Müller et al. 2007).58 Im Rahmen dieser CRM-Trainings lässt sich das Zusammenspiel aller beteiligten Akteure sowie deren Zusammenarbeit und der gemeinsame Umgang mit Zwischenfällen besonders gut trainieren (vgl. Helmreich et al. 2001:19). Die Ausgestaltung der medizinischen CRM-Trainings richtet sich nach der jeweiligen Zielstellung, den Simulationsteilnehmern, deren Kenntnissen und Erfahrungen sowie Lernintention und -inhalten.59 Je nach Ausgestaltung der Szenarien lassen sich schwerpunktmäßig fachliche oder nicht-fachliche Fähigkeiten trainieren. Im Rahmen der Assistenzarztausbildung können Simulationen einsetzt werden, um sowohl einfache fachliche Fähigkeiten (skills, z. B. Intubation) als auch regelbasierte Fertigkeiten (rules, z. B. Vorgehensweise bei der Reanimation) oder komplexe Handlungsmuster (knowledge, z. B. Therapie eines anaphylaktischen Schocks) zu trainieren. Im Zuge der Facharztaus- und -weiterbildung lassen sich nicht-fachliche Fähigkeiten durch die computergesteuerten High Fidelity-Simulationen in den entsprechenden Übungsräumen trainieren, da „simulated scenarios involving operating theatre based cases were used to allow participants to put non-technical skills into practice“ (Flin und Maran 2004:82). Diese simulationsgestützten Trainings dauern in der Regel ein bis eineinhalb Tage. Dabei haben die Teilnehmer die Möglichkeit, das theoretisch vermittelte Wissen in verschiedenen simulierten Szenarien anzuwenden und anschließend die auf Video aufgezeichneten Simulationen im Rahmen einer Nachbesprechung gemeinsam zu reflektieren und zu analysieren (vgl. Dieckmann et al. 2005:174; Dieckmann 2005:5ff.; Müller et al. 2007). Die Sicherheit von Kernkraftwerken und Anlagen der petrochemischen Industrie hängt sowohl von der Technik als auch von den Menschen ab, welche die Technik bedienen (vgl. Fukuda und Sträter 2004:55). Untersuchungen haben ergeben, dass in Kernkraftwerken 20 bis 70 Prozent der Systemfehler auf menschliche Fehler zurückzuführen sind (vgl. Fukuda und Sträter 2004:55). In petrochemischen Anlagen, wie Bohrinseln der Offshore Öl- und Gasindustrie, lassen sich rund 46 Prozent der Zwischenfälle in den Human Factors-Kontext einordnen (vgl. Mearns et al. 2001:386). Die Sicherheit in diesen Bereichen bestimmt sich durch die Zusammenarbeit der Mitarbeiter in den jeweiligen Anlage-Kontrollzentren. Daher wurde das CRM-Konzept auf Kontrollteams in Kernkraftwerken oder petrochemischen Anlagen, wie Bohrinseln (offshore control room operator) übertragen (vgl. Flin 1995; Fukuda und Sträter 2004; Mearns et al. 2001). Somit zeigen sich bei diesem Untersuchungsgegenstand

 58

59

Zum Ablauf von Simulationstrainings vgl. Kapitel 3.5.5. Gaba hat elf Dimensionen der Simulation definiert, die sich auf die konkrete Ausgestaltung der Trainings auswirken. Für eine nähere Beschreibung dieser Dimensionen vgl. Gaba (2004:3ff.).

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

71

Überschneidungen zu den High Reliability-Forschungen.60 Zu den wichtigen nicht-fachlichen Fähigkeiten in diesem Bereich zählen z. B. Entscheidungsfindung, Kommunikation, Umgang zwischen den Kollegen sowie der Einfluss und Umgang mit Stress (vgl. Flin 1995: 24). Diese gilt es im Rahmen des CRM-Trainings zu fokussieren. Auch im maritimen Bereich zeigt die Analyse von Seeunfällen, dass bei durchschnittlich 370 Unfällen pro Jahr häufig menschliches Versagen die Ursache ist (vgl. Helmreich et al. 1993:494). Damit bietet das als „Bridge Resource Management“ bezeichnete Human FactorsTraining auch hier eine Möglichkeit, die Sicherheit zu verbessern (vgl. Helmreich et al. 2001:19). Ein am Dänischen Marine Institut entwickeltes Trainingskonzept für die Schifffahrt nutzt hierfür einen „high fidelity ship simulator“, um Non-Technical Skills im Bereich der Schifffahrt zu vermitteln (vgl. bspw. Andersen, Soerensen, Weber und Soerensen (1996) zitiert in Helmreich et al. 2001:19). Ein jüngst an der Universität Bremen durchgeführtes Projekt beschäftigt sich mit dem Erfahrungserwerb von jungen Tankerkapitänen und weist dabei der Simulation, als Technik zum aktiven Aufbau impliziten Handlungswissens, eine hohe Bedeutung zu (vgl. Nafzger et al. 2005). Seit kurzem beginnt sich vor allem im US-amerikanischen Raum auch der Feuerwehrbereich zunehmend für die Human Factors und deren Auswirkungen auf die Sicherheit zu interessieren (vgl. Lubnau 2006; Okray und Lubnau 2004). Insbesondere werden Anstrengungen unternommen, bestehende CRM-Prinzipien und die damit verbundenen Lernmöglichkeiten für den Feuerwehrbereich zu adaptieren (vgl. Okray und Lubnau 2004:17). Begründet liegt dies darin, dass trotz moderner und verbesserter technischer Ausrüstung der Feuerwehrleute die mitunter tödlichen Eigenunfälle und Einsatzunfälle nicht signifikant zurückgegangen sind (vgl. Okray und Lubnau 2004:16). Die hier skizzierten Anwendungsbereiche von CRM-Trainings verdeutlichen, dass Organisationen in Hochrisikoumwelten in den individuellen und gruppenbezogenen nicht-fachlichen Fähigkeiten einen zentralen Bestandteil für den Erwerb und Erhalt ihrer organisationalen Verlässlichkeit und Sicherheit sehen. Auch veranschaulicht die Darstellung der Anwendungsbereiche, dass diese in der CRM-Adaption und -Entwicklung unterschiedlich weit vorangeschritten sind. So übernimmt die medizinisch orientierte Human Factors/CRM-Forschung neben der ursprünglichen Human Factors/CRM-Forschung aus der Luftfahrt heute eine führende Rolle, während bspw. der Feuerwehrbereich erst in den Anfängen seiner eigenen Betrachtung steckt. Tabelle 6 fasst die unterschiedlichen Bereiche der Human Factors/Crew Resource Management-Forschung sowie einige dazugehörige Vertreter nochmals überblicksartig zusammen.  60

Dieser wird aber nicht immer explizit thematisiert. Schaut man sich z. B. die Publikationen des GIHRE Projektes an (u. a. Dietrich und Childress 2004a; Dietrich und Jochum 2004) zeigt sich, dass hier ein geringer Bezug zu aktuellen Arbeiten der HRO-Forschung hergestellt wird.

72

Kapitel 3

Bereich

Vertreter

Hinweis

Helmreich Foushee

x

Merritt Wilhelm Klinect (Helmreich und Foushee 1993; Helmreich und Merritt 1998; Helmreich et al. 1999b; Helmreich und Merritt 2000; Helmreich et al. 2001)

x

x

x

Helmreich und die Kollegen der Universität Texas in Austin sind die Hauptvertreter des CRM. Erheben Daten zur Bestimmung der Einstellung von Piloten hinsichtlich Teamarbeit, sowie der Wahrnehmung der organisationalen Sicherheitspraktiken und -kultur (vgl. Thomas u. a. 2003:241). Beschäftigen sich insbesondere mit dem Einfluss kultureller Aspekte auf das CRMTraining in USA, Europa etc. Haben CRM zum Fehlermanagement ausgebaut (5. Generation).

Thomas (2004)

Untersucht den Einfluss kontextueller Faktoren und Non-Technical Skills auf das Fehlermanagement während normaler Flüge. (Insgesamt wurden 323 Flüge beobachtet).

Helmreich Wilhelm Klinect

Fokus: kulturelle Aspekte:

Ziviler Luftfahrtbereich

Merritt (Helmreich et al. 2001)

Klampfer Häusler Fahnenbruch Naef (Klampfer et al. 2000; Klampfer et

Beschäftigen sich mit dem Einfluss kultureller Aspekte (Berufs-, Organisations- und Nationalkultur) auf das CRM-Training in USA, Europa etc.

Fokus: Messung von CRM-Fähigkeiten: 180 Cabincrews aus der zivilen Luftfahrt. Es wurden die CRM-Skills mit Hilfe der beiden Methoden LOAS und NOTECHS untersucht.

al. 2001; Häusler et al. 2004) Salas Militärische Luftfahrt

Prince (Prince und Salas 1993) Gaba Helmreich Schäfer

Medizin

Rall Manser (Gaba 1994; 2000; 2004; Rall et

(insbes. Anästhesiebereich/Operationssaal)

al. 2001; Helmreich und Schaefer 1994)

Beschäftigen sich mit dem CRM in der militärischen Luftfahrt.

Adaptieren das CRM-Konzept aus der Luftfahrt und wenden es im medizinischen Bereich (insbes. Anästhesie) an. Insbesondere wird hier der Anästhesiebereich sowie der intensivmedizinische Bereich fokussiert. Haben z. T. eigene Untersuchungen zur Ausprägung der Non-Technical Skills in OP-Teams durchgeführt.

Thomas et al. (2003)

Fokus auf Gesundheitsfürsorge (healthcare). Er fasst damit den medizinischen Bereich etwas weiter als Schäfer und Gaba, die sich überwiegend dem OP/Anästhesiebereich widmen.

Flin (1995)

Teilnahme am JAR-Projekt. Besonderes Interesse an Entscheidung und Stress (Flin stellt Verbindung zu NDM her).

Mearns et al. (2001)

Haben 7 off-shore-Unternehmen hinsichtlich verschiedener Handlungsfehler untersucht.

Petrochemische Industrie (Bohrinseln, Chemieanlagen)

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

Bereich

Vertreter

Hinweis

Fischer und Röben (2004)

Beschäftigen sich mit organisationalem Lernen in der Chemischen Industrie und dessen Auswirkungen auf die berufliche Aus- und Weiterbildung

Wilpert, Fahlbruch, Miller

Beschäftigen sich mit Lernen aus Betriebserfahrung in der verfahrenstechnischen Industrie (Chemie, [Kern-]Kraftwerken)

(Wilpert et al. 1997; Miller und Wilpert 1997) Harrington und Kello (1991) 61 Fukuda und Sträter (2004)

Fukuda und Sträter untersuchen das Kommunikationsverhalten in Kernkraftwerken (insbesondere von Kontrollraum- und NotfallteamMitarbeitern).

Andersen, Soerensen, Weber; Soerensen (1996)62

Ähnliche Probleme wie Luftfahrt: Unfälle meist auf menschl. Versagen zurückzuführen.

Lubnau (2001; 2006)

Übertragen das CRM-Konzept der Luftfahrt auf den Feuerwehrbereich.

Kernkraftwerke

Seefahrt

Feuerwehren

Tabelle 6:

73

Okray (Okray und Lubnau 2004)

Verschiedene Bereiche der Human Factors/CRM-Forschung

Wie eben gezeigt wurde, sind die Einsatzmöglichkeiten des Crew Resource ManagementKonzeptes sehr breit gefächert und werden von unterschiedlichen Organisationen in Hochrisikoumwelten adaptiert. Hierbei beeinflussen organisationsspezifische und kulturelle Eigenschaften maßgeblich die Ausgestaltung und Wirkungsweise des Human Factors-Trainings (vgl. Helmreich et al. 1999b; 2001; Mearns et al. 2001), so dass es nicht „das“ (allgemeingültige) CRM-Training geben kann. CRM-Konzeptionen lassen sich daher auch nicht eins zu eins von einem Bereich/einer Organisation auf einen anderen Bereich/eine andere Organisation übertragen. Vielmehr müssen bestehende Ansätze sorgfältig geprüft und an die jeweiligen Bedürfnisse und Gegebenheiten (Kultur, Struktur, Anforderungen, Kenntnisstand etc.) der jeweiligen Organisation angepasst werden (vgl. Mearns et al. 2001:388; Helmreich 2000:783). Grundvoraussetzung für ein erfolgreiches CRM-Training in einer bestimmten Organisation ist daher eine zielgruppenspezifische Analyse der Trainingsschwerpunkte und inhalte. Dabei kann es durchaus vorkommen, dass bereits unterschiedliche Einheiten einer Organisation verschieden ausgestaltete CRM-Trainings benötigen (vgl. Means et al. 1995:388). Welche Möglichkeiten bieten sich aber, diese Bedarfe zu analysieren? Im Rahmen der Human Factors/CRM-Forschungen werden auf Analyse- und Bewertungsmethoden von CRM-bezogene Stärken und Schwächen thematisiert. Hier übernimmt die Luftfahrt erneut eine Vorreiterrolle. CRM-Trainingsschwerpunkte und -inhalte lassen sich z. B. durch Beobachtungen, Befragungen oder Auswertungen von Fehlerreporting-Systemen (critical incident reporting systems) ableiten (vgl. Helmreich et al. 1999a:677). 

61 62

Zitiert in Flin (1995:23). Zitiert in Helmreich et al. (2001:19).

74

Kapitel 3

So werden z. B. in der zivilen Luftfahrt teilnehmende Beobachtungen – sog. Line Audits – während normaler Linienflüge oder CRM-Trainingsflügen durchgeführt. Dabei begleiten speziell ausgebildete Personen diese Flüge und beobachten das Verhalten der gesamten Flugzeugbesatzung, mit Hilfe hierfür entwickelter Instrumentarien63. Die darin erfassten, beobachtbaren Verhaltenskriterien (sog. behavioural markers64) ermöglichen es, die CRM-Fähigkeiten während des gesamten Flugs zu erfassen, zu dokumentieren und zu bewerten. Das Ergebnis des Line Audits „gives clear guidance to management as to what to emphasize in training and also indicates where problems of leadership or poor safety norms may be present“ (Helmreich et al. 2001:17). Durch die Bewertung der CRM-Fähigkeiten lassen sich Problembereiche identifizieren und daraus notwendige CRM-Trainingsinhalte und -schwerpunkte ableiten (vgl. u. a. Helmreich et al. 1999a:680; Helmreich und Merritt 1998:138; Klampfer et al. 2000:7; 2001:8). Neben der teilnehmenden Beobachtung bieten sich auch anonyme Befragungen der verschiedenen Zielgruppen (Piloten, Flugbegleiter, Wartungsmitarbeiter etc.) an, trainingsrelevante Schwerpunkte zu identifizieren (vgl. Helmreich und Merritt 1998:149f.). Abhängig vom Erhebungsdesign und -umfang lassen sich hierdurch Aussagen über die Wahrnehmung der Sicherheitskultur, Probleme in der Zusammenarbeit oder die wahrgenommene Bedeutung von CRM ableiten. Aber auch die Auswertung interner und externer Fehlerreporting-Systeme, wie z. B. das „Aviation Safety Reporting System“ der NASA, geben wertvolle Hinweise für die inhaltliche Ausgestaltung von CRM-Trainings (vgl. Helmreich und Merritt 1998:149; 2000:115f.) und tragen damit zur Steigerung der organisationalen Verlässlichkeit bei. Bisher wurde die Bedeutung des Auf- und Ausbaus von nicht-fachlichen Fähigkeiten in unterschiedlichen Organisationen in Hochrisikoumwelten als sehr bedeutsam für den Erwerb und Erhalt von Verlässlichkeit und Sicherheit aufgezeigt. Welche konkreten Non-Technical Skills sind hierunter genau zu verstehen? Das folgende Kapitel nimmt sich dieser Fragestellung an und stellt unterschiedliche nicht-fachliche Fähigkeiten vor.

3.5.3 Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren: Nicht-fachliche Fähigkeiten Das Crew Resource Management zielt darauf ab, die nicht-fachlichen Fähigkeiten auf der individuellen und der Gruppenebene zu verbessern, um damit die organisationale Handlungsund Leistungsfähigkeit zu beeinflussen. CRM-Maßnahmen sollen ein kontinuierliches  63

64

Zu den Erhebungsinstrumenten der CRM-Fähigkeiten im Luftfahrtbereich zählen z. B. die Line/LOSCheckliste (vgl. Helmreich und Merritt 1998:137; 261f.) das LOSA (Line Orientated Safety Audit) (vgl. Helmreich et al. 1999a; 2001:16) oder das NONTECH (Non-Technical Skills) (vgl. Klampfer et al. 2001:24ff.). „Behavioural markers are critical non-technical skills associated with effective and safe job performance” (Helmreich und Sexton 2004:14). Sie stellen damit einen Operationalisierung der Non-Technical Skills, wie Wahrnehmungsfähigkeit, Entscheidungsfähigkeit etc., dar (vgl. Helmreich und Merritt 1998:138; Klampfer et al. 2001:7).

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

75

Fehlermanagement ermöglichen und sind konzipiert „to target knowledge, skills and abilities as well as mental attitudes and motives related to cognitive processes and interpersonal relationships that influence crew coordination” (Gregorich und Wilhelm 1993:173). Je nach Anwendungsbereich des CRM, organisationalem Kontext und Anforderungen der Organisation müssen Mitarbeiter über unterschiedlich ausgeprägte nicht-fachliche Fähigkeiten verfügen. Diese gilt es im Rahmen von CRM-Trainings zielgruppengerecht zu adressieren. Piloten von zivilen Verkehrsflugzeugen benötigen für ihre Aufgabenbewältigung eine andere Ausprägung nicht-fachlicher Fähigkeiten als bspw. Militärpiloten oder Anästhesisten im OP. Im Rahmen der Human Factors/CRM-Forschungen konnten unterschiedliche Faktoren identifiziert werden, die sich positiv auf die organisationale Leistungsfähigkeit auswirken. Hierzu zählen z. B. „interpersonal activities including leadership, effective team formations and maintenance, problem-solving, decision-making, and maintaining situation awareness“ (Helmreich und Foushee 1993:4). Diese können heruntergebrochen werden auf die individuellen Fähigkeiten, wie Team- und Führungsfähigkeiten oder Problemlöse-, Entscheidungsund Wahrnehmungsfähigkeiten. Zu weiteren nicht-fachlichen Fähigkeiten zählen aber auch Konfliktlösungsfähigkeiten sowie Selbsteinschätzungsfähigkeiten, d. h. Kenntnisse über die eigenen individuellen Grenzen hinsichtlich Stress, Müdigkeit oder Aufgabenbelastung (vgl. Thomas 2004:208; Mearns et al. 2001:384). Insbesondere die Fähigkeit, handlungsrelevante Ideen, Informationen oder Anweisungen klar und deutlich zwischen Gruppenmitgliedern zu kommunizieren, stellt eine wichtige nichtfachliche Fähigkeit dar (vgl. Mearns et al. 2001:382).65 Denn die Kommunikationsfähigkeiten der Mitarbeiter beeinflussen die Qualität der organisationalen Kommunikation. Sie wirken sich damit auf die Zusammenarbeit im Team, also z. B. auch auf die in Kapitel 3.4.2.1 beschriebene Sensibilität für betriebliche Abläufe aus, mit denen es Organisationen gelingt, ein aktuelles Gesamtbild der Situation zu erlangen und aufrecht zu erhalten. Neben der Kommunikation wird aber auch in der sog. „Assertiveness“ (Selbstbehauptung66) eine nicht-fachliche Fähigkeit gesehen, die sich auf die Verlässlichkeit und Sicherheit von Organisationen auswirkt und im Rahmen des CRM-Trainings adressiert werden muss (vgl. Flin 1995:24f.). Assertiveness meint dabei, dass eine Person ihre Einschätzung einer Situation kundtut, dass sie klar über Fakten, Bedenken, Gefühle und Vorschläge spricht sowie ggf. auch einem Vorgesetzte widerspricht und nicht aufgrund dessen hierarchischer Position schweigt und ein Fehlhandeln toleriert (vgl. hierzu z. B. Helmreich und Foushee 1993:21f.; St. Pierre et al. 2005:137f.; Wilson et al. 2005:306). Es zeigt sich, dass, je nach betrachteter Organisation oder Branche, unterschiedliche nichtfachliche Fähigkeiten für das verlässliche Handeln als besonders wichtig angesehen werden  65

66

Dies zeigt sich z. B. darin, dass sich das Forschungsprojekt „Goup Interaction in High Risk Environments“ intensiv mit der Kommunikation von Teams in Hochrisikoumwelten auseinandersetzt (vgl. hierzu Dietrich und Childress 2004a und die dortigen Beiträge). Assertiveness kann mit Bestimmtheit, Selbstbehauptung, Durchsetzungsfähigkeit übersetzt werden.

76

Kapitel 3

(vgl. z. B. Klampfer et al. 2001; Flin 1995; St. Pierre et al. 2005; Thomas et al. 2003; Flin und Maran 2004). Trotz dieser Unterschiede lassen sich Gemeinsamkeiten und Überschneidungen zwischen den verlässlichkeitsbeeinflussenden Non-Technical Skills feststellen. Einen wichtigen Beitrag zur Klassifikation der Vielzahl von nicht-fachlichen Fähigkeiten sowie deren Messung und Bewertung haben das JARTEL und das GIHRE Projekt geleistet (vgl. Klampfer et al. 2001).67 Ausgehend von den in der Literatur diskutierten nicht-fachlichen Fähigkeiten, lassen sich diese in folgende Kategorien zusammenfassen: Kooperationsfähigkeiten, Führungs- und Managementfähigkeiten, Wahrnehmungsfähigkeiten, Entscheidungsfähigkeiten und Selbsteinschätzungsfähigkeiten. Diese fünf Kategorien können wiederum in soziale Fähigkeiten (Kooperation, Führung und Management) und kognitive Fähigkeiten (Wahrnehmung, Entscheidung sowie Selbsteinschätzung) unterteilt werden (vgl. Klampfer et al. 2001:26). Die hier skizzierten Fähigkeiten lassen sich ebenfalls anhand der in Kapitel 2.3 abgeleiteten Gestaltungsebenen (organisationale/strukturellen Ebene, Teamebene und individuelle Ebene) unterteilen. Dabei zeigt sich, dass die verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren der Human Factors/Crew Resource Management-Forschung überwiegend der individuellen und teambezogenen Gestaltungsebene zugeordnet werden können. Auf einer individuellen Ebene lassen sich vor allem Faktoren beeinflussen, die sich auf die kognitiven Fähigkeiten von Mitarbeitern beziehen. Die teambezogenen Gestaltungsfaktoren fokussieren überwiegend die sozialen Fähigkeiten, die sich auf die Zusammenarbeit der Mitarbeiter im Rahmen einer Aufgabenerfüllung auswirken. Tabelle 7 stellt die nicht-fachlichen Fähigkeiten sowie deren Klassifizierung nochmals im Überblick dar. Die Fähigkeit, in kritischen und unvorhergesehenen Situationen zügig zu entscheiden, stellt eine bedeutende nicht-fachliche Fähigkeit von Organisationsmitgliedern dar. Dies zeigt sich z. B. in der oben beschriebenen flexiblen Entscheidungsfindung von HRO bei unvorhergesehenen Situationen oder komplexen Aufgaben. Die Entscheidungsfähigkeit bestimmt sich dabei durch die Fähigkeit, Problemsituationen zu erkennen, zu definieren und zu bewerten sowie zielführende Handlungsmöglichkeiten zu generieren und umzusetzen (vgl. Laux 2005:8; Klampfer et al. 2001:26). Unabhängig von den Human Factors/Crew Resource Management

67

Generell lassen sich in der Human Factors/CRM-Forschung zwei wesentliche Projekte benennen, die sich mit der Messung und Bewertung von Human Factors-Fähigkeiten und CRM-Trainingsmaßnahmen beschäftigten. Hierzu zählt das von der Gottlieb Daimler und Carl Benz Stiftung initiierte Projekt „Group Interaction in High Risk Environments“ (GIHRE) sowie das von verschiedenen Behörden der zivilen Luftfahrt initiierte und geförderte Projekt „Joint Aviation Requierements – Translation and Elaboration of Legislation“ (JARTEL). Im Rahmen des GHIRE Projektes wurde das „Line Orientated Safety Audit“ (LOSA) entwickelt, während die Entwicklung des NONTECHS (Non-Technical Skills) auf das JARTEL Projekt zurückgeht. Beide Instrumente zielen auf die Identifikation und Analyse von Indikatoren zur Bewertung von Non-Technical Skills in Hochrisikoorganisationen ab, unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der betrachteten Ebenen: Das Instrument der NOTECHS setzt auf der individuellen Ebene an und zielt darauf ab, das individuelle Verhalten der Piloten zu bestimmen, um daraus den individuellen Trainings- und Weiterbildungsbedarf abzuleiten, während das LOSA auf der organisationalen Ebene ansetzt und versucht, relevante Trainingsbedarfe und inhalte zu identifizieren (vgl. Klampfer et al. 2000:7). Für weiterführende Informationen zu den Gemeinsamkeiten und Unterschieden dieser beiden CRM-Bewertungsprogramme siehe insbesondere Klampfer et al. (2000; 2001).

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

Kategorie

Elemente

Soziale Fähigkeiten

Kooperationsfähigkeiten

Gestaltungsebene Team

x

Kommunikation

x

Teambildung

x

Berücksichtigung anderer Teammitglieder

x

Unterstützung von Teammitgliedern

x

Konfliktlösung Team

x

Assertiveness

Führung und Management-

x

Einhaltung von Standards und Regeln

fähigkeiten

x

Planung und Koordination

x

Workload Management

Wahrnehmungsfähigkeit

Kognitive Fähigkeiten

77

Entscheidungsfähigkeit

Selbsteinschätzungsfähigkeit

x

Systemwahrnehmung

x

Umweltwahrnehmung

Individuum

x

Kognitive Informationsverarbeitung

x

Antizipation von Situationen und Fehlern

x

Problemerkennung und -definition

x

Generierung von Handlungsmöglichkeiten

x

Risikobewertung und Ergreifen einer Handlung

x

Bewertung der Handlung

x

Eigene Grenzen einschätzen

x

Stressresistenz kennen und beachten

Individuum

Individuum

angelehnt an: Klampfer et al. (2001:26)

Tabelle 7:

Kategorien der nicht-fachlichen Fähigkeiten

Forschungen beschäftigt sich das sog. Naturalistic Decision Making (Entscheiden in realen Umweltsituationen)68 damit, wie Menschen Entscheidungen in realen Umweltsituationen treffen. Untersuchungsgegenstand dieses Forschungsbereiches sind u. a. ebenfalls Organisationen, die in Hochrisikoumwelten agieren. Frühzeitig wurden Erkenntnisse der NDMForschung bei der Ausgestaltung des Crew Resource Management berücksichtigt, ausgebaut und weiterentwickelt. Damit kann das Naturalistic Decision Making als ein Teilbereich der Human Factors/CRM-Forschung aufgefasst werden. Es wird daher im Folgenden näher vorgestellt.

3.5.4 Berücksichtigung des Naturalistic Decision Making Mitarbeiter von Organisationen in Hochrisikoumwelten agieren in komplexen Umweltsituationen. Sie müssen häufig in dynamischen und kritischen Situationen weitreichende Entscheidungen auf Basis von unvollständigen Informationen treffen. Daraus ergibt sich „ a growing demand for better understanding of decision making in critical hazardous situations to improve selection, training and operational performance“ (Flin et al. 1997:1). Mit dem „naturalistic decision making“ (NDM) hat sich eine deskriptive Entscheidungstheorie69 entwickelt, 

68

69

Der Terminus „naturalistic“ wird im Folgenden mit „real“ übersetzt, so dass unter „naturalistic decision making“ ein „Entscheiden in realen Umweltsituationen“ verstanden wird. Die Entscheidungstheorie bezeichnet allgemein „die logischen und empirischen Analysen des rationalen oder intendiert rationalen Entscheidungsverhaltens.“) (Bamberg und Coenenberg 2004:3). Aufgabe der Ent-

78

Kapitel 3

die sich mit der Frage beschäftigt, wie Entscheidungen unter Berücksichtigung der jeweiligen Umweltbedingungen in realen Umweltsituationen getroffen werden (vgl. z. B. Lipshitz et al. 2001:332; Orasanu und Connolly 1995:7ff.; Means et al. 1995:313ff.). Untersuchungsziel der NDM-Forschung ist es, einerseits Aussagen darüber zu treffen, wie Individuen ihre Erfahrungen bei der Entscheidungsfindung in realen Umweltsituationen einsetzen. Andererseits sollen Kontextfaktoren identifiziert werden, welche die Individuen bei ihrer Entscheidungstätigkeit beeinflussen (vgl. Zsambok 1997:4). Die Erkenntnisse der NDM-Forschung stützen sich dabei u. a. auf Untersuchungen von Organisationen in Hochrisikoumwelten, wie z. B. Feuerwehren oder Polizei- und Militäreinheiten70 und wurden früh bei der Ausgestaltung von CRM-Trainingskonzepten für andere Organisationen in Hochrisikoumwelten berücksichtigt (vgl. z. B. Orasanu 1997; Salas und Driskell 1996; Flin 1995:24; 1997 und die dortige Literatur). Insbesondere wird in den technologiegestützten (high fidelity)-Simulationen des Crew Resource Management eine sehr gute Möglichkeit gesehen, die Entscheidungsfähigkeiten in realitätsnahen Situationen zu beobachten und zu verbessern. 3.5.4.1 Begriff und Erkenntnisinteresse des NDM Das Erkenntnisinteresse der Naturalistic Decision Making-Forschung ist darauf ausgerichtet, zu verstehen, wie erfahrene Menschen in realen Umweltsituationen ihre Entscheidungen treffen (vgl. Lipshitz et al. 2001:332). Daher stehen vor allem entscheidungsbeeinflussende Kon

70

scheidungstheorie ist es, Entscheidungsprobleme zu erkennen, zu formulieren, zu strukturieren und zu lösen (vgl. Bea 2004:311). Mit ihren Modellen dient sie als Orientierungshilfe zur Lösung von Entscheidungsproblemen. Die Entscheidungstheorie lässt sich dabei in zwei Richtungen einteilen: die normative (präskriptive, klassische) Entscheidungstheorie und die deskriptive Entscheidungstheorie (vgl. z. B. Bea 2004; Bamberg und Coenenberg 2004; Laux 2005). Die normative Entscheidungstheorie konzentriert sich auf die Entscheidungslogik. Sie zielt darauf ab, Entscheider zu unterstützen, wie sie sich unter bestimmten Voraussetzungen verhalten sollen, um eine optimale Lösung zu realisieren. D. h., sie gibt Verhaltensempfehlungen für alternative Entscheidungssituationen (vgl. Laux 2005:14). Hierzu bedient sie sich unterschiedlicher Entscheidungsmodelle, mit denen das zugrunde liegende Problem abgebildet wird, um so die Problemerkennung und -lösung zu erleichtern (vgl. Bea 2004; Laux 2005). Allgemeine Entscheidungsmodelle zielen darauf ab, typische Entscheidungsprobleme zu beschreiben und zu strukturieren, um sie dann mit Hilfe von Logik und Algorithmen zu lösen. Sie unterstellen dabei eine objektive Rationalität, wonach ein Entscheider über vollständige Informationen der Umweltzustände verfügt, alle möglichen Handlungsalternativen kennt, diese hinsichtlich ihrer Folgen bewerten kann – er also allwissend ist – und diejenige Alternative auswählt, die ihm zu einer optimalen Zielerfüllung verhilft (vgl. Bach und Lipshitz 1995:21; Orasanu und Connolly 1995:5; Kieser 2001:140). Normative Entscheidungsmodelle legen ihren Schwerpunkt somit auf den parallelen Bewertungs- und Auswahlprozess von Alternativen (vgl. Orasanu und Connolly 1995:5). Die deskriptive Entscheidungstheorie zielt darauf ab, zu klären, wie (und warum) Entscheidungen in der Realität „tatsächlich“ getroffen werden (vgl. Laux 2005:15). Dabei geht sie nicht von gegebenen Entscheidungsprämissen aus, sondern untersucht deren Zustandekommen, um daraus einen begrifflich-theoretischen Bezugsrahmen für spätere Modellentwicklungen zu schaffen (vgl. Bamberg und Coenenberg 2004:5). Die deskriptiven Forschungen unterstellen dabei eine begrenzte Rationalität, wonach Individuen auf Grund ihrer begrenzten kognitiven Fähigkeiten nur begrenzt Informationen aufnehmen und verarbeiten können, sie niemals vollständige Informationen besitzen und auch nie zukünftige Ereignisse exakt vorhersehen können; daher ist es ihnen unmöglich, alle denkbaren Entscheidungsalternativen beachten zu können (vgl. Kieser 2001:140f.). Zunehmend finden die Erkenntnisse auch in anderen Bereichen, wie Medizin, Wirtschaft oder Industrie, Beachtung (vgl. Flin et al. 1997:6; Klein 1997a:384; 1997b:19; Lipshitz et al. 2001:332).

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

79

textfaktoren/Umweltsituationen sowie deren Wirkungen auf Entscheidung im Mittelpunkt des Forschungsinteresses (vgl. Orasanu und Connolly 1995:7; Means et al. 1995:313ff.): „The study of NDM asks how experienced people, working as individuals or groups in dynamic, uncertain, and often fast paced environments, identify and assess their situation, make decisions and take actions whose consequences are meaningful to them and to the larger organizations in which they operate” (Zsambok 1997:5). Neben den Kontextfaktoren fokussiert sich das Erkenntnisinteresse der NDM-Forschung heute verstärkt darauf, wie Individuen ihre Erfahrung und Expertise beim Entscheiden in realen Umweltsituationen einsetzen. NDM kann daher definiert werden als die Forschung, „of how people use their experience to make decisions in field settings“ (Klein 1997b:11). Trotz des steigenden Erkenntnisinteresses am Einfluss der Expertise auf die Entscheidung dürfen – und können – die entscheidungsbeeinflussenden Kontextfaktoren nicht gänzlich ignoriert werden (vgl. Lipshitz et al. 2001:334). Erfahrung und Umweltsituation stehen in wechselseitigem Verhältnis zueinander und bedingen sich gegenseitig. Es sind die spezifischen Umweltbedingungen, in denen der Entscheider sein (fach-)spezifisches Wissen und Können im Rahmen von Entscheidungen einbringen kann. Gleichzeitig sind es die Umweltbedingungen, durch die ein Entscheider im Prozess des Handelns neues Wissen, Können und Erfahrungen sammelt. Daher zielt die NDM-Forschung darauf ab, „to help people do better, not by offering generic strategies, but by learning how experience is being used in a domain, and learning where the barriers are to developing and applying experience“ (Klein 1997b:20). In Kapitel 3.2 wurden mit den handlungsbeeinflussenden Kontextfaktoren zentrale Erkenntnisse der NDM-Forschung vorgestellt, die das Entscheiden und Handeln von Organisationen in Hochrisikoumwelten beeinflussen. Demnach wirken sich schlecht strukturierte und intransparente Problemstellungen, schlecht definierte, wechselnde oder konkurrierende Zielstellungen, eine hohe Eigendynamik und Unsicherheit der Umweltsituationen, hoher Zeit- und Handlungsdruck oder der Einfluss von organisationalen Zielen, Werten und Normen auf das Entscheidungsverhalten aus. Im folgenden Abschnitt wird mit der erkenntnisgesteuerten Entscheidungsfindung ein Konzept vorgestellt, das beschreibt, wie Individuen ihre Erfahrung und Expertise beim Entscheiden in realen Umweltsituationen einsetzen, um auch in dynamischen und unvorhergesehenen Situationen verlässlich und sicher zu handeln. 3.5.4.2 Erkenntnisgesteuerte Entscheidungsfindung Gerade komplexe, dynamische und kritische Situationen, in denen Mitarbeiter handeln müssen, erlauben es in den seltensten Fällen, aufwändige analytische Entscheidungsmodelle durchzuspielen. Im Zuge der deskriptiven Entscheidungsforschung haben sich verschiedene Modelle entwickelt, die darauf abzielen, das Entscheidungsverhalten in realen Umweltsituationen zu erklären.71 Eines der prominentesten Modelle in diesem Bereich ist das sog. „Re

71

Einen Überblick über die Modelle des Naturalistic Decision Making gibt z. B. Lipshitz (1995).

80

Kapitel 3

cognition Primed Decision Model“ (RPD)72 von Klein (vgl. u. a. Klein 1995:139; 2003a:15; Klein und Weick 2000:18). Wegen seines prototypischen Charakters bildet es die Grundlage für andere Modelle des NDM, die auf einer erkenntnisgesteuerten Entscheidungsfindung basieren.73 Klein, ein Pionier auf dem Gebiet der deskriptiven Entscheidungsforschung, untersuchte in seinen ersten Forschungen das tatsächliche Entscheidungsverhalten von sehr erfahrenen USFeuerwehrleuten.74 Dabei legte er die Hypothese zugrunde, dass sich die Feuerwehrleute wegen des bestehenden Zeit- und Handlungsdrucks eines vereinfachten klassischen Entscheidungsmodells bedienen und ihre Alternativenauswahl auf wenige, von ihnen favorisierte Alternativen reduzieren (vgl. Lipshitz et al. 2001:336). Diese Annahme ließ sich in den Untersuchungen jedoch nicht bestätigen. Stattdessen zeigte sich, dass keine rational-analytischen Entscheidungsmethoden angewandt wurden. Daher konnte das Entscheidungsverhalten auch nicht mit bestehenden analytischen Entscheidungsmodellen beschrieben werden (vgl. Klein 1995:139; 2003a:15; Klein und Weick 2000:18). In den meisten Fällen erlaubte es der enorme Zeitdruck den Feuerwehrmitarbeitern nicht, systematisch verschiedene Handlungsalternativen aufzustellen, zu bewerten und sich für eine dieser Alternativen zu entscheiden. Stattdessen agierten und entschieden sie auf Basis ihrer individuellen Erfahrungen: „They saw themselves as acting and reacting on the basis of prior experience; they were generating, monitoring, and modifying plans to meet the needs of the situation“ (Klein 1995:139). Die eigene Erfahrung ermöglicht es den Personen, Situationen schnell wahrzunehmen und als typisch zu erkennen. Sobald eine Situation als typisch erkannt wurde, waren aufgrund der Erfahrungen auch gleich die Handlungen bekannt, die voraussichtlich zum gewünschten Erfolg führen würden. Aufbauend auf diesen ersten Untersuchungsergebnissen entwickelten Klein und Kollegen 1985 das Recognition Primed Decision (RPD) Modell (vgl. z. B. Klein 1995:140; 1997c:285; 2003b:43ff.). Das Modell beschreibt, wie erfahrene Entscheider unter dem Einfluss der oben beschriebenen handlungsbeeinflussenden Kontextfaktoren Entscheidungen auf Basis ihrer individuellen Erfahrungen treffen. Entgegen den klassischen Entscheidungsmodellen werden dabei keine Handlungsalternativen verglichen. Vielmehr fußen Entscheidungen auf der Basis des Wiedererkennens von typischen Situationen (recognition primed decisions) (vgl. Klein 2003b:43; Klein und Weick 2000:18). Erfahrene Entscheider „can use their experience to size up a situation as typical, can identify a typical reaction to the situation, and can evaluate that action by projecting it forward to see if it will work“ (Klein 1997b:12). Sie verfügen damit über die Fähigkeit, bestimmte Situationen zu erkennen, entsprechend zu klassifizieren und schnell situationsadäquate Handlungen 

72

73 74

Unter „recognition primed decision making“ wird die „erkenntnisgesteuerte Entscheidungsfindung“ verstanden. Wegen seines prototypischen Charakters wird das RPD-Modell häufig fälschlicherweise mit NDM gleichgesetzt. Es stellt jedoch nur eines unter vielen Modellen des NDM dar. Weitere Modell des NDM werden z. B. bei Lipshitz et al. (2001) oder Klein et al. (1995) skizziert. Die durchschnittliche Berufserfahrung der Teilnehmer betrug 23 Berufsjahre (vgl. Lipshitz et al. 2001:336).

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

81

zu generieren (vgl. Klein 1995:140; 1997b:12). Das auf Wiedererkennen basierende Entscheidungsverhalten läuft daher auch schneller ab als die analytische Entscheidungsfindung (vgl. Klein und Weick 2000:18). Das RPD-Verhalten von erfahrenen Entscheidern wurde auch von weiteren Untersuchungen verschiedener Forscher in anderen Anwendungsbereichen, wie z. B. bei Flugsicherungspersonal, Intensivpflegepersonal oder Navi-Offizieren beobachtet. Diese Untersuchungen trugen zu einer kontinuierlichen Validierung und Weiterentwicklung des RPD-Modells bei (vgl. Klein 1997c; 2003b). Die erkenntnisgesteuerte Entscheidungsfindung setzt sich dabei aus zwei elementaren Teilprozessen zusammen: die Mustererkennung und die mentale Simulation. Im Rahmen der Mustererkennung versucht der Entscheider, neue oder unbekannte Situationen an Hand von Hinweisen, Zielen und sonstigen Merkmalen als bekannt zu identifizieren. Im einfachsten Fall des RPD-Prozesses75 erkennt er eine Situation als typisch. Damit weiß er genau, welche Ziele zu verfolgen sind, auf welche Hinweise und Informationen zu achten ist, welche Situationsveränderungen eintreten können und zu erwarten sind oder welche Reaktion typischerweise eintritt (vgl. Klein 2003b:43). Das erfolgversprechendste Handeln wird aufgrund des prototypischen Charakters einer Situation abgeleitet. Um die Wirkungen der Handlung auf die konkrete Situation besser bestimmen zu können, findet eine sog. mentale Simulation statt. Diese kann als eine gedankliche Szenarioanalyse aufgefasst werden, bei welcher der Entscheider die (Aus-)Wirkungen der möglichen Handlung in der konkreten Situation bestimmt (vgl. Klein 2003a:17; Klein 2003b:41). Abbildung 10 stellt die beiden zentralen Prozesse der erkenntnisgesteuerten Entscheidungsfindung grafisch dar. Prozess der mentalen Simulation

Situation beeinflusst

Mustererkennungsprozess generiert

mentale Simulation

Hinweise

Handlungsablauf mentale Modelle

aktiviert Muster

lässt Muster erkennen angelehnt an Klein (2003a:16)

Abbildung 10:

Prozess der Mustererkennung und der mentalen Simulation im Rahmen der erkenntnisgesteuerten Entscheidungsfindung



75

Die verschiedenen Varianten der RPD werden unten skizziert.

82

Kapitel 3

Mustererkennung und mentale Simulation sind zentrale Elemente der erkenntnisgesteuerten Entscheidungsfindung. Es können drei Varianten des RPD (vgl. Abbildung 11) unterschieden werden: In der einfachsten, ersten Variante des RPD-Modells – einfach Entsprechung – erkennt der Entscheider die Situation als typisch und weiß genau, z. B. aufgrund von Regeln, wie auf die Situation reagiert werden muss. Entscheidungen spielen sich auf der regelbasierten mentalen Ebene eines Individuums ab (vgl. Kapitel 3.3.2.2). Damit es zu keinen regelbasierten Fehlern kommt, ist es wichtig, dass der Entscheider die Hinweise der Situation richtig erkennt und interpretiert, um eine geeignete Reaktionsweise zu ergreifen (vgl. Klein 2003b:45). Wegen des regelbasierten Reaktionsverhaltens spielt die mentale Simulation in dieser Variante des RPD-Modells eine untergeordnete Rolle. Die zweite Variante des RPD-Modells – Diagnose der Situation – kommt dann zum Einsatz, wenn die Situation für den Entscheider unklar ist, die Informationen nicht eindeutig einem typischen Fall entsprechen und er sich ein Situationsbewusstsein verschaffen will (vgl. Klein 1997c:290). Bei dieser Variante zielt die mentale Simulation primär auf die Diagnose der Situation ab. Einerseits kann dies dadurch geschehen, dass der Entscheider die relevanten Situationsmerkmale erfasst und kategorisiert, um so die Situation zu verstehen (Merkmalsvergleich). Andererseits kann er mit Hilfe der mentalen Simulation versuchen, das Zustandekommen der jetzigen Situation nachzuvollziehen, indem er eine Geschichte konstruiert, die einigen Inkonsistenzen gerecht wird (story building) (vgl. Klein 2003b:43f.). Mit dieser retrospektiven Strategie versucht der Entscheider, einen kausalen Zusammenhang zwischen beobachteter Situation und Erklärung herzustellen. In der dritten Variante des RPD-Modells – Evaluieren des Handlungsverlaufs – wird die mentale Simulation, wie oben beschrieben, dazu eingesetzt, den künftigen Verlauf der Handlung zu prognostizieren. D. h., der Entscheider versucht, prospektiv etwas über die Wirkungen und Konsequenzen seiner angedachten Handlungen zu erfahren. Kommt der Entscheider nach der mentalen Simulation zu dem Schluss, dass die Handlung im konkreten Kontext zu einem gewünschten Ergebnis führt, wird diese Handlung ergriffen. Zeigt die mentale Simulation dagegen kein befriedigendes Ergebnis, muss der Entscheider die Handlung ggf. anpassen oder gänzlich aufgeben und ein anders Handeln mental simulieren. Es zeigt sich, dass bei allen drei Varianten des RPD die Erfahrung des Entscheiders eine wichtige Rolle im Entscheidungsprozess spielt (vgl. Lipshitz et al. 2001:336). Bei der ersten Variante dient dem Entscheider seine Erfahrung dazu, möglichst schnell eine Situation als typisch zu erkennen. In der zweiten Variante benötigt der Entscheider seine Erfahrung zur Konstruktion eines mentalen Modells, um eine plausible Erklärung für das Zustandekommen einer Situation zu erhalten. Während ihm in der dritten Variante die Erfahrung hilft, die Konsequenzen einer geplanten Handlung besser einschätzen zu können

Abbildung 11:

Varianten des RPD-Modells

typische Handlungen

Erwartungen

plausible Ziele

Quelle: in Anlehnung an Klein (2003b:44)

Untersuchung der gewählten Handlung

relevante Hinweise

Erkennen erzeugt vier Nebenprodukte

Diagnose

Nein

Anomalie

Klärung

Schlussfolgerungen

Merkmalsvergleich Story Building

typische Handlungen

plausible Ziele

Durchführung der gewählten Handlung

relevante Hinweise

Erwartungen

Erkennen erzeugt vier Nebenprodukte

Ja

Ist die Situation typisch? [Prototyp oder Vergleichsfall]

Erleben einer Situation in einem sich verändernden Kontext

Erleben einer Situation in einem sich verändernden Kontext

als typisch wahrgenommen [Prototyp oder Vergleichsfall]

Variante 2 Diagnose der Situation

Variante 1 Einfache Entsprechung

modifizieren Ja, aber…

plausible Ziele

Erwartungen

Durchführung der gewählten Handlung

Ja

Wird es funktionieren?

Evaluierung der Handlung (n)

Handlung 1…n

relevante Hinweise

Erkennen erzeugt vier Nebenprodukte

als typisch wahrgenommen [Prototyp oder Vergleichsfall]

Erleben einer Situation in einem sich verändernden Kontext

Nein

Variante 3 Evaluierung des Handlungsverlaufs

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen 83

84

Kapitel 3

Das RPD-Modell ist ein auf Wiedererkennen basierendes deskriptives Entscheidungsmodell. Generell dürfen Modelle der deskriptiven Entscheidungsforschung jedoch nicht als Alternative zu den normativen Entscheidungsmodellen gesehen werden (vgl. Klein 1995:145). Es wird immer wieder betont, dass die Wahl des jeweiligen Entscheidungsmodells sehr stark durch die Umweltsituation und die Erfahrung des Entscheiders beeinflusst wird. RPD kommt tendenziell dann zum Einsatz, wenn ein erfahrener Entscheider unter Zeitdruck in wenig stabilen Umweltsituationen entscheiden und handeln muss (vgl. Klein 1995:146). Ein Beispiel stellt das später im empirischen Teil der Arbeit vorgestellte Handeln von Rettungsdienstmitarbeitern, Feuerwehrleuten oder SEK-Mitarbeitern während des Einsatzes dar.76 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Entscheidungsfähigkeit – als Non-Technical Skill von Individuen – eine wichtige Rolle im Rahmen des Handelns in unvorhergesehenen Situationen einnimmt. Erkenntnisse zum Naturalistic Decision Making belegen, dass erfahrene Entscheider in kritischen Situationen ihre Entscheidungen weniger auf Basis von analytischen Entscheidungsprozessen treffen. Vielmehr leiten sie ihr Handeln aus dem Wiedererkennen bestimmter Situationen ab. Bei diesem Recognition Primed Decision Making spielen Erfahrungen und die erfahrungsbasierten Prozesse Mustererkennung und mentale Simulation eine wichtige Rolle. Sie erlauben es dem Entscheider, möglichst schnell Situationen zu erkennen, sich in unklaren Situationen ein mentales Modell über die kausalen Zusammenhänge von Situation und Erklärung zu bilden oder aber prospektiv mögliche Konsequenzen des Handelns zu bestimmen. Sollen die individuellen Entscheidungsfähigkeiten verbessert werden, gilt es Lernmethoden und Lerninstrumente einzusetzen, die den Auf- und Ausbau von entscheidungsrelevanten Erfahrungen unterstützen. Das Human Factors/CRM Training mit seinen Simulationen kann hierfür einen wichtigen Beitrag leisten (vgl. z. B. Means et al. 1995:314). Daher wird im folgenden Kapitel die Grundkonzeption von CRM-Trainings vorgestellt.

 76

Trotz der Vorteile, die das Modell für die Erklärung des Entscheidungsverhaltens von Experten liefert, zeigt es auch Schwächen und Grenzen (vgl. Klein 1997b:16). So beschäftigt es sich bspw. nicht mit metakognitiven Prozessen. D. h., es erklärt nicht, wie Entscheidungen zustande kommen und wie die Mustererkennung beim Individuum abläuft. Die Stress verursachende Unsicherheit und der Umgang mit Unsicherheit wird nicht weiter verfolgt. Das Modell liefert ferner auch keine Erklärung dafür, was passiert, wenn in einer Situation tatsächlich verschiedene Alternativen bewertet werden müssen. Es dient auch nicht dazu, die Qualität der getroffenen Entscheidung zu bewerten. Diese begründeten Kritikpunkte wurden von Klein (1997b) erkannt und bilden die Grundlage für weitere Forschungen und Weiterentwicklungen des RPD-Modells. So stellt z. B. das Recognition Metacognition Model eine Ausdifferenzierung des RPD-Modells dar und widmet sich der Frage, was passiert, wenn die Wahrnehmung im Rahmen der Mustererkennung nicht passiert (vgl. Klein 1997c:291). Lipshitz (1997; 2001) wiederum thematisiert die Unsicherheit und beschreibt mit seinem Modell, wie Entscheider mit Unsicherheit umgehen (Lipshitz 1997:155f.; 2001:337f.). Einen Überblick über die verschiedenen Weiterentwicklungen und Modelle der deskriptiven Entscheidungsforschung findet sich z. B. bei Zsambok und Klein (1997).

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

85

3.5.5 Crew Resource Management-Training: Grundkonzeption Die CRM-Trainingskonzeptionen der ersten Generation (vgl. Kapitel 3.5.1.1) zeigten, dass sich verlässlichkeitsrelevante soziale und kognitive Fähigkeiten nicht alleine durch kontextunabhängige und praxisferne Maßnahmen, wie z. B. Seminare, Schulungen, Gruppenarbeit oder Rollenspiele erwerben lassen (vgl. Gregorich und Wilhelm 1993:175; Burke et al. 2004:102). Vielmehr bedarf es Instrumente, welche es ermöglichen, praxis- und arbeitsrelevante nicht-fachliche Fähigkeiten in authentischen Arbeitssituationen zu erwerben. Hierfür bieten sich Simulationen an. Allgemein können Simulationen als Nachbildung von Wirklichkeitsausschnitten in einem veränderten Kontext aufgefasst werden, um Handlungseffekte in einem Simulationsszenario darzustellen (vgl. Dieckmann et al. 2005:175). Simulationen bieten damit eine Möglichkeit, in realitätsnahen Problemsituationen praktische und arbeitsrelevante Fähigkeiten und Fertigkeiten zu erwerben. Simulationen „provides the organization with a means of creating conditions requiring the practice of effective crew coordination to resolve complex emergency situations. It is also the instrument for reinforcing and evaluating the concepts learned in the CRM classroom” (Wiener et al. 1993:xx). Mit dem sog. „line orientated fligth training“ (LOFT)77 (vgl. Butler 1993:232; Helmreich 1997:3) wurde im zivilen Luftfahrtbereich ein prominentes Crew Resource ManagementKonzept entwickelt, das auf der Simulation als Trainingsinstrument basiert und Grundlage für Trainingskonzepte in anderen Hochrisikobereichen bildet. Bis zur Entwicklung des LOFT wurden Flugsimulatortrainings überwiegend dazu genutzt, das Verhalten von Piloten in technisch begründeten Ausnahmesituationen zu trainieren (vgl. Amalberti 1993:184). Somit lag das Lernziel dieser durchgeführten Simulationstrainings auf dem Erwerb vorwiegend individueller fachlicher Fähigkeiten ("stick and rudder"-Fähigkeiten). Im Zuge der CRMEntwicklung erweiterte sich das Lernziel dahingehend, dass auch individuelle und teambezogene nicht-fachliche Fähigkeiten durch die Simulation erworben werden sollten. D. h., Simulationen wurden zunehmend dazu eingesetzt, normale Flugsituationen unter Berücksichtigung von z. B. Kommunikations- und Teamarbeitsaspekten zu trainieren. Ziel war es „to target knowledge, skills and abilities as well as mental attitudes and motives related to cognitive processes and interpersonal relationships that influence crew coordination” (Gregorich und Wilhelm 1993:173). Simulationstrainings können, wie in Abbildung 12 dargestellt, in die Phasen Vorbereitung, Simulation und Debriefing einteilt werden (vgl. u. a. Butler 1993:242ff.; St. Pierre et al. 2005:173; Müller et al. 2007). Sie zielen darauf ab, realitätsnahe Problemsituationen in einem spezifischen Kontext (z. B. während des Fluges oder während einer Operation), zu deren Lösung gute Kommunikations-, Team- und Entscheidungsfähigkeiten erforderlich sind, zu simulieren.  77

LOFT ist ein Aufbautrainingsprogramm und muss von jedem zivilen Piloten absolviert werden, der als verantwortlicher Flugkapitän im Linienverkehr fliegen will (vgl. Butler 1993:233).

86

Kapitel 3

Vorbereitungsphase

Intensivbriefing über CRM relevante Inhalte

Abbildung 12:

Simulationsphase

Anwendung der theoretisch erworbenen Kenntnisse in Simulation

Debriefingphase

Gemeinsame Reflexion der Simulation

Phasen des Crew Resource Management-Trainings

Im Rahmen der Vorbereitungsphase kommt es zu einem Intensivbriefing durch den Instrukteur. Dabei können unterschiedlichste Human Factors-relevante Aspekte thematisiert und theoretisiert werden.78 Nach dieser Vorbereitungsphase haben die Teilnehmer die Möglichkeit, in der Simulationsphase die theoretisch erworbenen Kenntnisse selbst anzuwenden und umzusetzen. Die Simulationsphase wird häufig auf Video dokumentiert und von einem ausgebildeten Instrukteur begleitet. Dieser steht den Teilnehmern nach der Simulation für Rückfragen und Feedback zur Verfügung. Während der Simulation ist es Aufgabe des Instrukteurs, das Verhalten der Teilnehmer zu beobachten. Gleichzeitig übernimmt er verschiedene Rollen, wie z. B. Flugbegleiter, Fluglotse, Wartungspersonal oder Patient, OP-Pfleger etc., und beteiligt sich in der jeweiligen Rolle an der Simulation. Im Rahmen eines Trainings werden in der Regel komplexere Situationen, wie z. B. eine gesamte OP oder ein kompletter Flug, mit ihren verschiedenen Phasen – Vorbereitung, Start, Flug, Landung, Nachbereitung – simuliert (vgl. Helmreich 1997:3). Je nach Trainingsszenario und Lernziel lassen sich dabei unterschiedliche kritische Situationen, Fehler und Störungen thematisieren. Um die Teilnehmer nicht zu überfordern, sollten die Übungsszenarien möglichst realistisch gestaltet sein (vgl. Butler 1993:234f.; Salas und Burke 2002:120). Die CRM-Trainings sind nicht als Test anzusehen. Vielmehr haben die Teilnehmer in der „abgesicherten“ Simulationsumgebung die Möglichkeit, ihr neu erworbenes Wissen sowie geänderte oder neue Verhaltensweisen anzuwenden und auszuprobieren, ohne dass mögliche Handlungsfehler zu weitreichenden Konsequenzen führen (vgl. u. a. Helmreich 2000:783; Moorthy et al. 2005:494). Ein wichtiger Bestandteil des CRM-Trainings ist die abschließende Phase des postsimulativen Debriefings. Hier kommt es zu einer gemeinsamen Reflexion und Besprechung der Handlungen während der Simulation. Häufig durch Videoaufzeichnungen unterstützt, wird dabei nicht nur auf das Fehlhandeln einzelner Personen eingegangen, sondern es werden auch positive Aspekte des Handelns besprochen und analysiert (vgl. Butler 1993:246). Durch die Reflexion der Situation und des eigenen Handelns wird – wie später in Kapitel 8.2.1.2 genauer erläutert – ein informelles Lernen über Erfahrung (vgl. Dehnbostel 2005:116) bei den Teilnehmern ermöglicht. 

78

Untersuchungen im medizinischen Bereich zeigen, dass Lerninhalte nachhaltiger vermittelt werden können, wenn die Intensivbriefings fachlich und psychologisch durch entsprechende Personen begleitet werden (vgl. St. Pierre et al. 2004; Müller et al. 2007).

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

87

3.5.6 Resümee: Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management Die Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management sind neben der High Reliability-Forschung ein weiterer Bereich, der sich intensiv mit verlässlichkeitsorientierten Organisationen in Hochrisikoumwelten beschäftigt. Ursprünglich aus einer ingenieurwissenschaftlichen und psychologischen Perspektive auf die Mensch-Maschine-Beziehung fokussiert, hat sich die Human Factors/CRM-Forschung zunehmend multidisziplinär erweitert. Sie umfasst heute Konzepte und Methoden verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen, wie Sozial- und Verhaltenswissenschaften, Ingenieurwissenschaften, Anthropologie oder Physiologie, um die menschliche Arbeitsleistung zu verbessern und Fehler zu reduzieren (vgl. Helmreich und Foushee 1993:3). Ausgehend von der Erkenntnis, dass ein Großteil von Unfällen und Zwischenfällen auf personenbezogene Faktoren, wie unzureichende Problemantizipation, mangelhafte Kommunikations-, Führungs-, Entscheidungs- oder Teamfähigkeit zurückzuführen ist, beschäftigt sich die Human Factors/CRM-Forschung intensiv mit Faktoren und Merkmalen, die ein verlässliches und sicheres Handeln von Organisationen ermöglichen. Dabei wird vor allem der Mensch mit seinen Fähigkeiten in den Betrachtungsmittelpunkt gestellt. Das aus diesen Forschungen abgeleitete Konzept des Crew Resource Management-Trainings zielt darauf ab, sicherheitsrelevante, kognitive und soziale, nicht-fachliche Fähigkeiten auf individueller und Teamebene mit Hilfe von Simulationen zu verbessern. Die Trainings verlaufen dabei nach einem dreistufigen Grundschema: Nach einer theoretischen Einführung (Vorbereitungsphase) haben die Teilnehmer die Möglichkeit, das theoretisch erworbene Wissen im Rahmen der Simulation anzuwenden (Simulationsphase), bevor das Handeln im Rahmen einer Nachbesprechung (Debriefingphase) gemeinsam reflektiert wird. Zu den nicht-fachlichen Fähigkeiten, die durch das Human Factors-Training erworben und verbessert werden sollen, zählen sowohl teambezogene (soziale) Fähigkeiten, wie Kooperations-, Führungs- und Managementfähigkeiten als auch individuelle (kognitive) Fähigkeiten, die zu Wahrnehmungs-, Entscheidungs- und Selbsteinschätzungsfähigkeiten zusammengefasst werden können. Greift man die oben gewählte Klassifikation der leistungsbeeinflussenden Faktoren nach den Gestaltungsebenen (Individuum, Team , Struktur/Organisation) auf, so lassen sich die aus der Human Factors/CRM-Forschung identifizierten leistungsbeeinflussenden Faktoren wie in Abbildung 13 dargestellt zuordnen.

88

Kapitel 3

ZUVERLÄSSIGKEIT

x

Abbildung 13:

x

x

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren

Team

x

Wahrnehmungsfähigkeit x System- und Umweltwahrnehmung x Antizipation von Situationen und Veränderungen Entscheidungsfähigkeit x Mustererkennung x Mentale Simulation x Handlungsbewertung und Durchführung Selbsteinschätzungsfähigkeit x Kenntnisse eigener Grenzen x Stressresistenz

Individuum

x

Kooperationsfähigkeiten x Kommunikation x Teamfähigkeit Führung und Managementfähigkeiten x Assertiveness x Planung und Koordination x Workload Management

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der Human Factors/Crew Resource Management-Forschungen

Die Bedeutung der Entscheidungsfähigkeit, als eine wichtige nicht-fachliche Fähigkeit, wird auch durch die Erkenntnisse der Naturalistic Decision Making-Forschung unterstützt. Hiernach treffen erfahrene Menschen, die mit Zeit- und Handlungsdruck, unklaren Problem- und Zielstellungen oder unvollständigen Informationen sowie hoch dynamischen Umwelten konfrontiert sind, ihre Entscheidungen überwiegend auf Basis des Wiedererkennens bestimmter Situationen (recognition primed decision). Dieser erkenntnisgesteuerte Entscheidungsprozess setzt sich aus den Teilprozessen Mustererkennung und mentale Simulation zusammen und wird vor allem durch die jeweilige individuelle Erfahrung beeinflusst. Je größer der Erfahrungsschatz der Mitarbeiter ist, desto förderlicher ist dies für den Entscheidungsprozess. Die notwendigen Erfahrungen lassen sich dabei durch realitätsnahe, simulationsbasierte Crew Resource Management-Trainings aufbauen und fördern. Auch in den Human Factors/CRM- Forschungen, ist der Einfluss der Fehlerforschung deutlich erkennbar und spiegelt sich vor allem in der heutigen fünften CRM-Generation wider: CRM zielt nicht allein auf die Vermeidung von Fehlern ab. Vielmehr sollen durch den Aufbau nicht-fachlicher Fähigkeiten individuellen und gruppenbezogenen Gestaltungsperspektive geschaffen werden, die es der Organisation erlauben, Fehler frühzeitig zu erkennen und zu vermeiden sowie die Fehlerfolgen durch ein flexibles Handeln weitgehend zu minimieren. Das so aufgefasste CRM leistet damit einen wichtigen Beitrag zu einem organisationalen Fehlermanagement. Diese fehlermanagementorientierte Auffassung des CRM wird heute in vielen Organisationen in Hochrisikoumwelten vertreten. Wegen seines großen Beitrags zum Aufbau und Erhalt von Sicherheit und Verlässlichkeit wurde der CRM-Ansatz auf andere Bereiche und Organisationen in Hochrisikoumwelten (z. B. militärische Luftfahrt, medizinischer Bereich, Kernkraftwerke und petrochemische Anlagen sowie Handelsschifffahrt oder Feuerwehrbereich) übertragen.

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

89

3.6 Zwischenbetrachtung: Verlässlichkeitsorientierte Forschungen Ausgehend von dem ersten Erkenntnisziel der vorliegenden Arbeit, werden in dieser Zwischenbetrachtung die oben herausgearbeiteten und bisher überwiegend unverbunden nebeneinander stehenden Erkenntnisse zu den verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten in ein Modell zusammengefasst. Anschließend werden für die bisher untersuchten Organisationen in Hochrisikoumwelten sowie im Rahmen der Behandlung der Lernthematik zwei Erklärungsdefizite der verlässlichkeitsorientierten Forschungen aufgezeigt. Diese Defizite wirken sich auf die Wahl der zu untersuchenden Organisationen im Rahmen der empirischen Erhebung aus und begründen die zweite Zielstellung der vorliegenden Arbeit: die Erklärung des Lernens unter Rückgriff auf bestehende Lernkonzepte und -methoden.

3.6.1 Faktoren des verlässlichen Handelns Die bisherigen Ausführungen zeigen, dass die Arbeiten zu High Reliability und zu Human Factors/Crew Resource Management wichtige Teilbereiche der verlässlichkeitsorientierten Forschungen sind. Sie wurzeln beide in der Unfallforschung, haben sich jedoch lange Zeit parallel und unabhängig voneinander entwickelt. Dabei zeigen sie durchaus Gemeinsamkeiten: Beide Bereiche betrachten Organisationen, die in Hochrisikoumwelten agieren und ein hohes Gefahrenpotenzial für Mensch und Umwelt besitzen. Sie beschäftigen sich beide intensiv mit dem Aufbau und Erhalt organisationaler Verlässlichkeit i. S. v. Sicherheit und suchen nach Faktoren und Maßnahmen, mit der sich diese beeinflussen lässt. In diesem Zusammenhang werden vor allem Fehler und der adäquate Umgang mit Fehlern und Fehlerfolgen thematisiert. Beeinflusst durch die wegweisenden Arbeiten von Reason (z. B. 1994), nehmen die verlässlichkeitsorientierten Forschungen heute überwiegend eine systemische Perspektive der Fehlerbetrachtung ein. Demnach entstehen Störungen, Zwischenfälle und Unfälle durch das Aufeinandertreffen von aktiven Fehlern mit latenten Systembedingungen und sind unvermeidbar (vgl. Hollnagel 2004:56; Reason 1997:11). Um Verlässlichkeit und Sicherheit herzustellen, bedarf es daher eines guten organisationalen Fehlermanagements. Dieses beinhaltet proaktive Maßnahmen, mit denen es Organisationen gelingt, Fehler frühzeitig zu entdecken und zu beseitigen, bevor diese zu größeren Zwischenfällen eskalieren können. In diesem Zusammenhang setzen sich Organisationen intensiv mit möglichen Schwachstellen auseinander und überlegen, wie diesen begegnet werden kann. Gleichzeitig müssen Organisationen auch über reaktive Fähigkeiten des Fehlermanagements verfügen, um eingetretene Störungen, Zwischenfälle oder Unfälle minimieren und zügig beheben zu können (vgl. Reason 2000a:769; Helmreich und Merritt 2000). Wie in Kapitel 3.3.1 erläutert, sehen sowohl High Reliability als auch Human Factors/CRM-Forschungen die organisationale Leistung darin, dauerhafte Verlässlichkeit im Sinne eines sicheren und möglichst fehlerfreien Handelns aufrecht zu erhalten, so dass keine Schäden für Menschen und Umwelt entstehen.

90

Kapitel 3

In der Erklärung, wie sich die so verstandene Verlässlichkeit aufbauen und erhalten lässt, argumentieren Human Factors/CRM- und Hochverlässlichkeitsforschung aus unterschiedlichen Perspektiven. Die in Kapitel 3.4 vorgestellten Forschungen zu High Reliability nehmen dabei vorwiegend eine organisationale Sichtweise ein und versuchen hier verlässlichkeitsbeeinflussende Merkmale aufzuzeigen. Das Erkenntnisinteresse ist auf die wechselseitige Beziehung von Verhalten und Struktur ausgerichtet, die es Organisationen ermöglicht, zuverlässig in Hochrisikoumwelten zu handeln (vgl. Roberts 1990a; La Porte und Rochlin 1994; La Porte und Rochlin 1994). Die Erkenntnisse der High Reliability-Forschung werden im zentralen Konzept der gemeinsamen Achtsamkeit zusammengefasst (vgl. u. a. Weick et al. 2000:34ff.; Weick und Sutcliffe 2003:22ff.; Seaman und Williams 2005:15f.). Eine gemeinsame, organisationale Achtsamkeit – und die damit verbundene Verlässlichkeit – entsteht durch achtsames Handeln. Dies bedeutet, dass sich die Organisation explizit auf Fehler konzentriert, vereinfachende Situationsinterpretationen ablehnt, eine Sensibilität für aktuelle betriebliche Abläufe entwickelt, kontinuierlich nach Flexibilität strebt und darauf achtet, dass Entscheidungen in kritischen und unvorhergesehenen Situationen von Personen getroffen werden, die über das erforderliche Wissen und Können verfügen. Anders als die High Reliability-Forschungen stellen die in Kapitel 3.5 erläuterten Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management den Menschen und seine nicht-fachlichen Fähigkeiten in den Untersuchungsmittelpunkt. Sie beschäftigen sich intensiv mit dem Aufund Ausbau sowie dem Management der „Human Factors“. Nach Auffassung der Human Factors/CRM -Forschung lässt sich die organisationale Verlässlichkeit vor allem über die individuelle Ebene und Gruppenebene beeinflussen (vgl. z. B. Helmreich und Merritt 2000; Flin 1995:23). Daher thematisieren diese Forschungen auf einer individuellen Ebene vorwiegend die kognitiven Fähigkeiten der Individuen, wie z. B. Wahrnehmungs- Informationsverarbeitungs- Entscheidungs- Kommunikationsfähigkeiten. Die gruppenbezogene Ebene der Human Factors fokussiert neben den kognitiven auch soziale Fähigkeiten, wie Führung, Kommunikation oder Teamfähigkeit, die sich auf die Zusammenarbeit der Individuen im Rahmen einer Aufgabenerfüllung auswirken. In der Verbesserung der Human Factors wird ein sehr großes Potenzial zur Minimierung von Fehlern und damit eine Möglichkeit gesehen, die Sicherheit und Verlässlichkeit des organisationalen Handelns zu stärken (vgl. u. a. Mearns et al. 2001:378; Helmreich et al. 2001:1). Dies bedeutet, dass der Mensch nicht nur einen Risikofaktor, sondern auch einen Erfolgsfaktor – eine wertvolle Ressource – darstellt, wenn es darum geht, Fehler zu vermeiden und ein sichereres und verlässlicheres Handeln in Organisationen zu gewährleisten (vgl. Reason 1997:61; Mearns et al. 2001:390; St. Pierre et al. 2005:12; Böhle 2007). Mit den CRM-Trainingskonzeptionen werden konkret Möglichkeiten aufgezeigt, wie sich die nicht-fachlichen Fähigkeiten von Individuen und Gruppen mit Hilfe von Simulationen auf- und ausbauen lassen.

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

91

In den Kapiteln zu High Reliability und Human Factors/Crew Resource Management wurden die jeweiligen verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren herausgearbeitet, anhand ihrer Wirkungsebenen (Individuum, Team, Struktur/Organisation) strukturiert und grafisch aufbereitet. Dabei zeigt sich, dass die bisher überwiegend isoliert betrachteten Teilforschungsbereiche nicht nur Gemeinsamkeiten aufweisen, sondern sich auch gegenseitig ergänzen. Das in Fehler! Verweisquelle konnte nicht gefunden werden. dargestellte Modell der verlässlichkeitsorientierten Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten stellt den Versuch dar, diese Teilergebnisse zusammenzuführen.

ZUVERLÄSSIGKEIT

GEMEINSAME ACHTSAMKEIT

Sensibilität für betriebliche Abläufe

x

Respekt vor fachl. Wissen und Können

Streben nach Flexibilität

Antizipation

Reaktion

Ö Fähigkeit zur Entdeckung von latenten Systembedingungen

Ö Fähigkeit zum Umgang mit Fehlerfolgen

Wahrnehmungsfähigkeit x System- und Umweltwahrnehmung x Antizipation von Situationen und Veränderungen Entscheidungsfähigkeit x Mustererkennung x Mentale Simulation x Handlungsbewertung und Durchführung Selbsteinschätzungsfähigkeit x Kenntnisse eigener Grenzen x Stressresistenz

x

x

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren

Team

x

Abneigung gegen vereinf. Interpretation

Individuum

x

Konzentration auf Fehler

Kooperationsfähigkeiten x Kommunikation x Teamfähigkeit Führung und Managementfähigkeiten x Assertiveness x Planung und Koordination x Workload Management

Struktur/Organisation x x x x

Redundanzen Flexible Entscheidungsstrukturen Kontinuierliches u. ausgeprägtes Training Fehlermanagement

Verlässlichkeitsorientierte Organisationskultur x x x x

Abbildung 14:

Akzeptierte Fehlbarkeit Fehlerbewusstsein Vertrauen und Offenheit Gem. Verständnis von Situation und Sicherheit

Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten

92

Kapitel 3

Die unter einer organisationalen Perspektive der Hochverlässlichkeitsforschung formulierten Merkmale für den Aufbau einer gemeinsamen Achtsamkeit (Kasten „Struktur/Organisation“ sowie oberer Teil der Abbildung) finden in den individuellen und teambezogenen handlungsbeeinflussenden Faktoren der Human Factors/CRM-Forschung (Kasten „Individuum“ und „Team“) eine Konkretisierung. So lässt sich z. B. die organisationale „Sensibilität für betriebliche Abläufe“ durch den Aufbau von Kommunikations- und Wahrnehmungsfähigkeiten im Rahmen des CRM-Trainings verbessern. Durch diese CRM-Maßnahmen auf der individuellen und der Gruppenebene wird es den Mitarbeitern möglich, schwache Signale und Anomalien wahrzunehmen und entsprechend zu kommunizieren. Damit steigt das allgemeine aktuelle Situationsverständnis in der Organisation, und es wird die die Sensibilität für betriebliche Abläufe gefördert. Ferner unterstützen CRM-Maßnahmen konkret das organisationale „Streben nach Flexibilität“. Ziel der Flexibilität ist es, in unvorhergesehenen oder komplexen Situationen Probleme schnell zu erkennen und zu beheben. Hierfür sind vor allem gute Wahrnehmungs- und Entscheidungsfähigkeiten der Mitarbeiter notwendig. Diese lassen auf der individuellen- und teambezogenen Gestaltungsebene gezielt durch entsprechende CRM-Trainings auf- und ausbauen. Eine weitere Verbindung zwischen den Human Factors/CRM - und Hochverlässlichkeitsforschungen zeigt sich z. B. hinsichtlich der „Konzentration auf Fehler“. Die in der Human Factors/CRM-Forschung entwickelten Fehleranalysen und Fehlerreportingsysteme (bspw. im Rahmen von LOFT o. Ä.) sind eine Möglichkeit, das Merkmal „Konzentration auf Fehler“ in Organisationen konkret auszugestalten. Die Fähigkeit, seine Meinung und Situationseinschätzung gegenüber anderen Mitarbeitern kundzutun und zu vertreten (Assertiveness), stellt einerseits eine Möglichkeit dar, auf eigene problemlösungsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten in einer Situation aufmerksam zu machen. Sie fördert so den „Respekt vor fachlichem Wissen und Können“ sowie die damit verbundene flexible Entscheidungsfindung. Ein Beispiel hierfür ist die Zusammenarbeit von Ärzten und Schwestern auf einer Kinderintensivstation. Sind hier die erfahrenen Schwestern der Meinung, dass es zum Wohle des Kindes besser wäre, die Medikamentation zu verändern, tragen sie ihren „Wunsch“ dem behandelnden Arzt vor. Dieser ist angehalten, die Empfehlungen der Schwestern in seine Entscheidungsfindung einzubeziehen (vgl. Weick et al. 2000:37). Andererseits wirkt sich die Assertiveness positiv auf das Merkmal „Abneigung gegen eine vereinfachende Wirklichkeitsinterpretation“ aus, da unterschiedliche Sichtweisen einer Situation aufgezeigt und diskutiert werden können. Erst in jüngster Zeit werden die Gemeinsamkeiten und Ergänzungsmöglichkeiten von High Reliability und Human Factors/CRM-Forschungen thematisiert (vgl. Roberts und Bea 2001:72; Weick und Sutcliffe 2003:10; Gaba 2004:2; Wilson et al. 2005). Dabei hat Rochlin (1996) bereits Mitte der 1990er Jahre in einem Forschungsausblick auf die Bedeutung der

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

93

Human Factors/CRM-Forschung und deren Ergänzungsmöglichkeit zur Hochverlässlichkeitsforschungen hingewiesen: „These multiple perspectives on, and approaches to, describing and understanding collective performance open new and exciting streams of research.“ (Rochlin 1996:58). Im Bestreben, die Verlässlichkeit und Sicherheit von Organisationen in Hochrisikoumwelten zu fördern, sollten künftig die Erkenntnisse beider Forschungsrichtungen nicht mehr isoliert betrachtet, sondern zunehmend miteinander in Beziehung gebracht werden. Das oben dargestellte Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten verbindet die bestehenden Erkenntnisse der verlässlichkeitsorientierten Forschungen und zeigt auf, wie sich diese im Zusammenspiel auf die Zuverlässigkeit von Organisationen auswirken. Im empirischen Teil C (vgl. Kapitel 7.10) wird das Modell herangezogen und um Erkenntnisse der eigenen Untersuchung erweitert. Weiterhin ist festzuhalten, dass bisherige empirische Untersuchungen ihren Fokus überwiegend auf technisch komplexe Organisationen in Hochrisikoumwelten, wie Kernkraftwerke, Ölbohrplattformen, Luftfahrtindustrie, gelegt haben (vgl. z. B. Rochlin 1996:56; Roberts 1990a:102ff.; Mearns et al. 2001:379). Dabei gibt es, wie in Kapitel 3.1.1 dargestellt, neben den klassischen Hochverlässlichkeitsorganisationen noch weitere Organisationen, Einheiten oder Teams, die ein sicheres und zuverlässiges Handeln anstreben. Teilweise bilden diese Organisationen bereits den Untersuchungsgegenstand von Human Factors/CRM- oder NDMForschungen (vgl. z. B. Gaba 1994; Helmreich und Schaefer 1994; Helmreich und Sexton 2004; Klein 1995:139f.; Klein 2003b:22), sind aber bisher selten einer allgemeineren verlässlichkeitsorientierten Betrachtung unterzogen worden. Um diesem Erklärungsdefizit entgegenzutreten und die Untersuchungsperspektive der verlässlichkeitsorientierten Forschung empirisch zu erweitern, wurden in der hier durchgeführten explorativen Erhebung mit medizinischen Rettungsdiensten, Spezialeinheiten der Polizei und Feuerwehreinheiten weniger technisch komplexe Organisationen in Hochrisikoumwelten betrachtet. Ziel der eigenen Untersuchung war es, empirische Erkenntnisse über verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der betrachteten Organisationen zu gewinnen, um so das oben entwickelte Modell von verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten explorativ zu ergänzen. Die intensive Auseinandersetzung mit den bestehenden verlässlichkeitsorientierten Forschungen zeigt zudem, dass ein Erklärungsdefizit hinsichtlich der Thematisierung der Lernaspekte zu konstatieren ist. Hierauf wird im folgenden Abschnitt näher eingegangen. 3.6.2 Erklärungsdefizit Lernen Sowohl High Reliability-Forschungen als auch die Arbeiten zum Human Factors/Crew Resource Management weisen dem Lernen/Training und dem damit verbundenen Aufbau von Wissen und Kompetenzen ein hohe Bedeutung für den Erwerb und Erhalt von Verlässlichkeit von Organisationen in Hochrisikoumwelten zu (vgl. Roberts 1990b:173; La Porte 1996:63;

94

Kapitel 3

Marais et al. 2004:9; Gray 2003:3; Wilson et al. 2005). Obwohl Lernen als fundamentale Verpflichtung von Organisationen in Hochrisikoumwelten angesehen wird, ist zu konstatieren, dass sich, im Vergleich zu anderen Aspekten, in den verlässlichkeitsorientierten Forschungen bisher wenig mit der Erklärung des Lernens oder einer lerntheoretischen Fundierung auseinandergesetzt wurde (so z. B. Carroll 1998; Wilpert et al. 1997; Fischer und Röben 2004; Carroll et al. 2002a; 2002b).79 Zudem fällt bei Durchsicht der bestehenden Literatur zur Hochverlässlichkeitsforschung auf, dass unterschiedliche Auffassungen darüber bestehen, was unter dem Terminus „Lernen“ zu verstehen sei. Wird hierunter einmal auf individueller Ebene ein Lernprozess zum Aufbau von „Skills“ und Fähigkeiten zur Bewältigung von Routinesituationen subsumiert (vgl. Roberts 1990a:104; Roberts 1990b:165), geht es ein anderes Mal auf der organisationalen Ebene um den Aufbau von gemeinsam geteilten, mentalen Denkstrukturen, die den Mitarbeitern in kritischen Situationen helfen, schneller und situationsgerechter zu reagieren (vgl. Weick und Roberts 1993; Weick und Sutcliffe 2003; Carroll 1998; Carroll et al. 2002b; Gray 2003). Insbesondere dem erfahrungsbasierten Lernen durch Reflexion der eigenen Handlungen wird eine hohe Bedeutung für den Erhalt der Zuverlässigkeit beigemessen, ohne dies jedoch explizit näher zu thematisieren. So betonen z. B. Weick und Sutcliffe (2003:84) die Bedeutung, zeitnah über Feedback und Reflexion aus Fehlern zu lernen. In diesem Zusammenhang besteht jedoch ein Dilemma: Fehler treten in High Reliability Organizations so selten auf, dass ein Lernen aus Fehlern nur selten möglich ist (vgl. Weick et al. 1999:84; 2000:34). Die zu Beginn der HRT-Forschung vertretene Auffassung, dass ein Lernen aus Fehlern (trial and error) überhaupt nicht möglich sei, da aufgrund des technischen Risikos der erste Versuch der letzte Irrtum sein könnte (vgl. Weick 1987:113), wurde im Laufe des Forschungsprozesses revidiert. Heute besteht Einigkeit darüber, dass in HRO wegen des geringen Fehleraufkommens Lernen aus Fehlern nur sehr begrenzt möglich ist (vgl. Weick et al. 1999:84). Daher gilt es einerseits Wege zu finden, diese begrenzten Lernmöglichkeiten optimal zu nutzen. Hierfür bieten sich neben dem Lernen aus Analogien „imagination, vicarious experience, stories, simulations, and other symbolic representations of technology and its effects“ (Weick  79

Carroll (1998) beschäftigt sich mit organisationalem Lernen von Organisationen, die in Hochrisikoumwelten agieren. Er fokussiert dabei auf ein Lernzirkelkonzept, welches sich stark auf Feedback-, Reflexions- und Erfahrungsprozesse stützt. Mit Hilfe einer tiefgreifenden Fehleranalyse (root cause analysis) zielt er darauf ab, sowohl individuelles Wissen zu verändern als auch eine gemeinsam geteilte Wirklichkeit innerhalb und zwischen den verschiedenen beteiligten Mitarbeitergruppen zu realisieren. Auch Wilpert et al. (Wilpert et al. 1997; Miller und Wilpert 1997) sehen in ihrem Konzept „Sicherheit durch organisationales Lernen“ einen wichtigen Beitrag, wie aus alltäglicher Betriebserfahrung gelernt und damit die Sicherheit von Organisationen in Hochrisikoumwelten gesteigert werden kann. Ähnlich wie Carroll findet bei Wilpert eine differenzierte Ursachenanalyse von Störungen und Zwischenfällen, d. h. eine Fehleranalyse statt (vgl. Wilpert et al. 1997:40). Die Erkenntnisse der Analyse werden in einem computergestützten Berichtssystem dokumentiert. Ziel dieses Vorgehens ist es, die gewonnenen Erkenntnisse innerhalb der Organisation zu verteilen, um so ein wiederholtes Auftreten von Ereignissen zu vermeiden. Gleichzeitig wird mit dieser Methode versucht „Schwachstellen von Systemen vorausschauend durch probalistische Methoden zu identifizieren“ (Wilpert et al. 1997:40). Fischer und Röben (2004) untersuchen in der Chemischen Industrie Arten des organisationalen Lernens sowie dessen Auswirkung auf die berufliche Aus- und Weiterbildung.

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

95

1987:113) an. Andererseits müssen sich Organisationen auf die wenigen aufgetretenen Fehler konzentrieren, um hieraus einen größtmöglichen Lerneffekt zu erzielen (vgl. Weick et al. 2000:34).80 Im Rahmen der zweiten Zielstellung dieser Arbeit wird in Kapitel 8.2 genauer auf das erfahrungsbasierte Lernen durch die Reflexion eigener Fehler und Handlungen eingegangen. Lernen in Hochverlässlichkeitsorganisationen, so zeigt sich, verfolgt zwei Zielstellungen: Zum einen geht es um den Erwerb von grundlegenden fachlichen Kenntnissen und Fähigkeiten, zum anderen um den Erhalt der verlässlichkeitsrelevanten gemeinsamen Achtsamkeit. Im Rahmen der erstgenannten Lernzielstellung soll bei den Organisationsmitgliedern ein gemeinsames Basiswissen geschaffen werden, das ihnen hilft, möglichst in allen Situationen reaktionsfähig zu bleiben und die Situation kontrollieren zu können (vgl. Carroll et al. 2002b:2). Insbesondere stehen dabei die Aneignung und Perfektion fachlicher (Basis-)Fähigund Fertigkeiten im Mittelpunkt (vgl. Roberts 1990a; 1990b; La Porte 1996; Weick und Sutcliffe 2003; Marais et al. 2004). Diese fachlichen Fähigkeiten sind abhängig von der jeweiligen Branche der Organisation und können unterschiedliche Leistungsebenen des menschlichen Handelns betreffen (fähigkeitsbasiert, regelbasiert oder wissensbasiertes Handeln; vgl. Kapitel 3.3.2.2), wie z. B. das Fliegen eines Flugzeugs, das Bedienen von komplizierten Kontrolltechnologien in einem Kernkraftwerk oder die Fähigkeit eines Arztes, einen Patienten zu intubieren. Neben dem Erwerb fachlicher Basiskenntnisse zielt das Lernen zum anderen auf den Erhalt der Achtsamkeit ab. Wie in den vorangegangenen Abschnitten erläutert, ist es hier unumgänglich, dass die Organisationsmitglieder über die fachlichen Kenntnisse und Fertigkeiten hinaus weitere, nicht-fachliche Fähigkeiten wie Kommunikations- oder Wahrnehmungsfähigkeiten entwickeln können (vgl. Carroll 1998:709; Weick und Sutcliffe 2003:67). Für Hochverlässlichkeitsorganisationen ist es wichtig, beide Zielstellungen gleichermaßen zu verfolgen.81 Erst wenn umfassende fachliche Kenntnisse und Fähigkeiten sowie entsprechende nicht-fachliche Fähigkeiten erworben wurden, sind Mitarbeiter in der Lage, in unerwarteten Situationen adäquat zu agieren. Trotz der hier skizzierten hohen Bedeutung des Lernens für den Erwerb von fachlichen und nicht-fachlichen Fähigkeiten finden sich in der originären High Reliability-Literatur nur kurze und oberflächliche Erläuterungen dazu, mit welchen Lernmethoden und -instrumenten diese Fähigkeiten aufgebaut werden können (vgl. z. B. bei Weick 1987; Roberts 1990a; 1990b; Car-

 80

81

Wilson et al. (2005:307ff.) zeigen bspw. mit dem „Cross Training“, dem „Perceptual Contrast Training“, dem Senario- und Simulationstraining oder dem „Guided Error Training“ unterschiedliche Methoden auf, mit Hilfe derer sich das Lernen auf einer Teamebene unterstützen lässt. Liegt das Lernziel im Erwerb fachlichen Wissens und Fertigkeiten, so eigenen sich primär Methoden, welche auf Wiederholen und Perfektionieren von Abläufen abzielen (vgl. Weick und Roberts 1993:362). Sollen überwiegend nicht-fachliche Fähigkeiten verbessert werden, bedarf es Methoden, die es den Individuen ermöglichen, ihr eigenes, kontextbezogenes Handeln bewusst zu reflektieren.

96

Kapitel 3

roll 2004).82 Damit bleibt unklar, wie Lernen in High Reliability Organizations konkret ausgestaltet ist oder welche lerntheoretischen Erklärungen hierfür herangezogen werden können. Ausgehend von diesem Defizit eröffnet sich eine Forschungslücke hinsichtlich der Lernthematik, die bereits von den HRO-Forschern erkannt wird: „We need to learn about the underlying learning processes that occur as organizations become more reliable.” (Bourrier 2005:94). Obwohl die CRM-Trainings das erfahrungsbasierte Lernen auf individueller und Teamebene in authentischen Problemsituationen thematisieren, wird erst in jüngster Zeit seitens der High Reliability-Forschung Bezug auf diesen Forschungsbereich genommen (vgl. Roberts und Bea 2001:73; Weick und Sutcliffe 2003:10). Neben Diskussionen, Fallstudien und Seminaren setzten CRM-Trainings überwiegend interaktive Methoden, wie Rollenspiele und Simulationen, zur Aneignung nicht-fachlicher Fähigkeiten ein (vgl. Gregorich und Wilhelm 1993:175; Burke et al. 2004:102). Wie in Kapitel 3.5.5 angesprochen, dienen Simulationen dazu, gewisse Ausschnitte der Realität in einem anderen Kontext abzubilden. Sie werden vor allem dort eingesetzt, wo ein Lernen in der realen Situation nicht oder nur schwer möglich ist (vgl. Gaba 2000:92). So kann bspw. im medizinischen Bereich ein Assistenzarzt nicht immer in der realen Situation lernen, da die Gesundheit des Patienten für Ausbildungszwecke nicht gefährdet werden darf (vgl. Dieckmann et al. 2005:175). Insbesondere Organisationen in Hochrisikoumwelten bieten daher ihren Mitarbeitern eine simulationsbasierte Aus- und Weiterbildung an. Diese ermöglicht es ihnen, in einem „sicheren“ Umfeld bestimmte (fachliche und nichtfachliche) Kenntnisse und Fähigkeiten erfahrungsbasiert zu erwerben und zu erproben (vgl. Gaba 2004:2; Salas und Burke 2002:119). Kernelement der simulationsbasierten CRMTrainingskonzeption ist die postsimulative Phase des Debriefings (vgl. Kapitel 3.5.5). Ohne den Ausführungen in Kapitel 8.2 vorzugreifen, ermöglicht diese eine distanzierte und vergegenständlichte Reflexion des Handelns und fördert damit ein „reflexives“ Lernen (Erfahrungslernen) (vgl. Dehnbostel 2001:73f.). Hinsichtlich der Lernthematik ist in der Human Factors/CRM-Forschung zu konstatieren, dass sich viele Arbeiten vorwiegend mit inhaltlichen Aspekten des Lernens beschäftigen. D. h., es wird analysiert, welche konkreten nicht-fachlichen Fähigkeiten auf- und ausgebaut werden sollen und wie sich diese messen und bewerten lassen (vgl. z. B. Klampfer et al. 2001; Häusler et al. 2004; Flin und Maran 2004). Selten thematisieren Arbeiten explizit die Lernaspekte oder die dahinterliegenden Lernkonzepte und -theorien (so etwa Dieckmann et al. 2005:174f.; Müller et al. 2005:786). D. h., es wird kaum erläutert, warum sich die Simulation aus einer Lernperspektive heraus zum Erwerb von nicht-fachlichen Fähigkeiten eignet oder 

82

Carroll (1998; 2002b; 2002a; 2004) greift als einer der wenigen Autoren die Lernthematik in Hochrisikoorganisationen explizit auf. Er widmet sich dabei schwerpunktmäßig den Ex-post-Problem/Fehleruntersuchungen (problem investigation), die durch eine tiefgreifende Analyse (root cause analysis) ausgelöst werden. Im Erkenntnisinteresse steht dabei der Beitrag von den sog. „off-line reflective practices“ zum organisationalen Lernen.

Verlässlichkeitsorientierte Forschungen

97

mit welchen bestehenden Lernkonzepten und -theorien sich das CRM-Training erklären lässt.83 Ähnlich der High Reliability-Forschung ist damit hinsichtlich der Behandlung der Lernthematik ein Erklärungsdefizit zu konstatieren. Zusammenfassend ist bezüglich der Lernthematik in der verlässlichkeitsorientierten Forschung festzuhalten, dass dem Lernen eine zentrale Bedeutung für den Aufbau und Erhalt von Verlässlichkeit beigemessen wird, ohne dies jedoch näher zu erläutern. Bei den bestehenden Arbeiten bleibt größtenteils unklar, wie Mitarbeiter in den jeweiligen Organisationen lernen, welche Instrumente und Methoden zur Anwendung kommen oder mit welchen bestehenden lerntheoretischen Konzepten und -theorien sich das Lernen der Organisationen in Hochrisikoumwelten erklären lässt. Aus diesem bestehenden Defizit ergibt sich das zweite zentrale Erkenntnisziel der vorliegenden Arbeit: Unter Rückgriff auf bestehende Lernkonzepte und -methoden soll ein Modell entwickelt werden, mit Hilfe dessen sich das Lernen in den untersuchten Organisationen erklären lässt. Der hier durchgeführten empirischen Erhebung lag dabei die Vermutung zugrunde, dass die untersuchten Organisationen über ausgeprägte erfahrungsbasierte Lernprozesse verfügen, die es ihnen ermöglichen, auch in neuen oder unvorhergesehenen Situationen adäquat zu agieren. Ausgehend von dieser Vermutung wurden im Rahmen der Erhebung Aspekte des Lernens thematisiert. Der folgende Teil C befasst sich mit dieser explorativen Erhebung und den daraus gewonnenen Erkenntnissen.

 83

Schmalzl (2005) zeigt dies z. B. für den Polizeibereich auf und konstatiert, dass es den bestehenden simulationsbasierten Einsatztrainings zum Eigenschutz von Polizisten einer theoretischen Fundierung von Inhalten und Zielen ermangelt (Schmalzl 2005:96).

Teil C: Empirische Untersuchung Ausgehend von den eingangs formulierten Erkenntnisinteressen besteht ein Ziel der Arbeit darin, verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten zu identifizieren. Hierzu wurden im vorangegangenen Teil B theoretische Betrachtungen im Bereich der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung angestellt. Es zeigte sich, dass unterschiedliche Faktoren auf ein sicheres und verlässliches Handeln wirken. Diese Faktoren wurden herausgearbeitet, diskutiert und in einem Modell zusammengefasst. Im hier folgenden Teil C sollen diese Erkenntnisse durch eine empirische Untersuchung, die im Rahmen des Projektes „Lernen in und von Hochleistungssystemen“ am Lehrstuhl Personal und Führung der Technischen Universität Chemnitz durchgeführt wurden, ergänzt und verfeinert werden. Basierend auf den Ausführungen in Kapitel 3.1.1 wird vermutet, dass es neben den klassischen Hochverlässlichkeitsorganisationen weitere Organisationen, Einheiten oder Gruppen in Hochrisikoumwelten gibt, die zuverlässig und sicher arbeiten, sich aber nicht primär durch die HRO-charakteristischen Merkmale (starke technologische Ausrichtung, interaktive Komplexität und enge Kopplung der Teilsysteme) auszeichnen. Das Verlässlichkeitsstreben dieser Organisationen ergibt sich daher weniger durch technisch komplexe und gefährliche Technologien als vielmehr durch z. B. ein großes öffentliches Interesse oder eine hohe ethischmoralische Verantwortung. Hierzu zählen z. B. medizinische Rettungsdienste, Spezialeinheiten der Polizei oder Feuerwehreinheiten. Da diese Organisationen bisher selten Gegenstand empirischer Untersuchungen waren, wurden sie in den Mittelpunkt der hier durchgeführten explorativen Erhebung gestellt. Damit wird es möglich, sowohl das Feld der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschungen als auch die bisher identifizieren verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten empirisch zu erweitern. Da in diesem Zusammenhang kaum auf bestehende Vorarbeiten zurückgegriffen werden kann, wurde die Untersuchung so angelegt, dass erste Einblicke in diese Organisationen, deren Handlungsbedingungen sowie deren verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren gegeben werden können. Die explorative Erhebung bestätigt gleichzeitig die Vermutung, dass die betrachteten Organisationen über ausgeprägte Lernprozesse verfügen, die sich nachhaltig auf die organisationale Leistungsfähigkeit auswirken, Lernen somit ein wichtiger verlässlichkeitsbeeinflussender Faktor ist. Auf diese Weise wird eine empirische Grundlage geschaffen, um – unter Rückgriff auf bestehende Lernkonzepte – in Teil D ein weiteres Modell zu entwickeln, das die identifizierten Lernprozesse der betrachteten Organisationen erklärt. Dadurch wird der zweiten Zielstellung dieser Arbeit Rechnung getragen und ein Beitrag geleistet, das Erklärungsdefizit hinsichtlich der Lernthematik in der verlässlichkeitsorientierten Forschung zu verringern. Der folgende Teil C beschäftigt sich mit den empirischen Erkenntnissen der durchgeführten explorativen Erhebung. Zuerst werden die untersuchten Organisationen (Kapitel 4) sowie die Methodik der Untersuchung (Kapitel 5) erläutert. Kapitel 6 thematisiert dann die situativen

100

Überblick Teil C

Handlungsbedingungen, anhand derer sich die betrachteten medizinischen Rettungsdienste, Feuerwehr- und Polizeispezialeinheiten den Organisationen in Hochrisikoumwelten zuordnen lassen. Anschließend werden die identifizierten Gemeinsamkeiten hinsichtlich der handlungsbeeinflussenden Faktoren vorgestellt und unter Rückgriff auf die verlässlichkeitsorientierten Forschungen erläutert (Kapitel 7). Der empirische Teil schließt mit einer Betrachtung der Ergebnisse und entwickelt das in Teil B vorgestellte Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren in Hochrisikoumwelten weiter (Kapitel 7.10).

4

Untersuchte Organisationen

Für die hier durchgeführte explorative Erhebung standen mit zwei medizinischen Rettungsdiensten, zwei Feuerwehreinheiten und zwei Spezialeinheiten der Polizei sechs relevante Untersuchungsorganisationen zur Verfügung, die im Zeitraum von August bis Oktober 2004 befragt wurden. In jeder Organisation wurden drei bis fünf Einzelgespräche geführt. Alle Gesprächspartner waren Mitglieder der jeweiligen Organisation. Sie kamen aus verschiedenen Funktionsbereichen und verfügten über unterschiedliche Erfahrungshintergründe. Im Mittelpunkt des Interesses stand nicht die Persönlichkeit des Gesprächspartners, sondern dessen Erfahrung und Wissen hinsichtlich der jeweils untersuchten Organisation. Die subjektive Darstellung der Situation durch den Befragten, seine Strukturierung des Gegenstands und seine Bewertung halfen, ein besseres Verständnis für die jeweilige Organisation zu entwickeln. Um möglichst unterschiedliche Perspektiven auszuleuchten, wurde gegenüber den Hauptansprechpartnern der jeweiligen Organisationen der Wunsch geäußert, unterschiedlich erfahrene Mitarbeiter aus verschiedenen Funktionsbereichen zu befragen. Obwohl kein direkter Einfluss auf die konkrete Auswahl der jeweiligen Gesprächspartner genommen werden konnte, wurde diesem Wunsch zumeist entsprochen. Die Teilnahme an den Interviews war freiwillig. Einen Überblick über die beteiligten Gesprächspartner sowie deren Funktion innerhalb der jeweiligen Organisation gibt Tabelle 8. Alle Gespräche wurden digital aufgezeichnet. Lediglich in einem Fall war der Gesprächspartner nicht damit einverstanden, so dass hier ein Protokoll abgefasst wurde. Bis auf eine Ausnahme wurden die Gespräche als Einzelinterviews in deutscher Sprache durchgeführt. Die Interviews dauerten zwischen 70 und 120 Minuten, in der Regel ca. 90 Minuten. Insgesamt wurden in den betrachteten sechs Organisationen 21 Gespräche geführt. Alle Gespräche orientierten sich an einem Interviewleitfaden, der sechs gesprächsleitende Themen – Organisation/Struktur, Handlungssituation, Information und Kommunikation, Organisationsmitglieder, Lernen, Führung – umfasste (vgl. Kapitel 5.2). Um einen besseren Überblick über die jeweiligen untersuchten Organisationen zu bekommen, werden diese kurz skizziert.

102

Kapitel 4

Organisation

A u. D

Branche

Rettungsdienst (Deutschland)

Freiwillige Feuerwehr

B

Interviewpartner

Position

A1

Stellv. Rettungsdienstleiter

A2

Rettungsassistent

A3

Rettungssanitäter

D1

Leitender Notarzt

B1

Zugführer u. Ausbilder

B2

Zugführer u. Kommandant

X1

Gruppenführer u. Lehrrettungsassistent

B3

Sellv. Amtsleiter

B4

Leiter Aus- und Weiterbildung

B5

Auszubildender

B6

Wachabteilungsleiter

C1

Kommandoführer

C2

Leiter Aus- und Weiterbildung

C3

Leiter Führungsgruppe

E1

Rettungssanitäter

E2

Anästhesiepfleger*

E3

Anästhesiepfleger*

E4

Rettungssanitäter u. Ausbildungsleiter

F1

Kommandoführer

F2

Einsatzgruppenleiter

F3

Einsatzgruppenleiter

Berufsfeuerwehr

C

Spezialeinsatzkommando

Rettungsdienst (Schweiz)

E

F

Mobiles Einsatzkommando

Tabelle 8:

Überblick Interviewpartner



In einigen Kantonen der Schweiz gliedert sich der Rettungsdienst anders als in Deutschland. Während es in Deutschland die Unterscheidung in Rettungssanitäter, Rettungsassistenten und Notarzt gibt, wird in der Schweiz zwischen Rettungssanitäter, der die Stellung und Kompetenzen eines deutschen Rettungsassistenten hat, sowie Anästhesiepfleger, der die Funktion des Notarztes übernimmt, unterschieden (zum Anästhesiepflegermodell siehe Kapitel 4.1).

Untersuchte Organisationen

103

4.1 Medizinische Rettungsdienste Den medizinischen Rettungsdiensten84 wird, wie den anderen untersuchten Organisationen, eine hohe Leistungsanforderung abverlangt. Da diese Organisationen häufig in Notfallsituationen agieren, in denen die Gesundheit oder das Leben von Menschen gefährdet ist, sind sie mit einer hohen ethisch-moralischen Verantwortung konfrontiert und müssen die Erwartungen Dritter zuverlässig erfüllen. Zu den Aufgaben professioneller medizinischer, bodengebundener Rettungsdienste gehört einerseits der qualifizierte Krankentransport.85 Andererseits besteht die Hauptaufgabe der Rettungsdienste in einer medizinischen Notfallrettung von verunfallten oder lebensbedrohten Personen. Im Rahmen der hier vorliegenden Untersuchung konnten ein deutscher und ein schweizer Rettungsdienst untersucht werden. Seit der Liberalisierung des Rettungswesens in Deutschland übernehmen auch private Anbieter Krankentransport- und Rettungsdienstaufgaben. Überwiegend wird der professionelle Rettungsdienst jedoch von gemeinnützigen Organisationen, wie z. B. Deutsches Rotes Kreuz, Arbeiter Samariter Bund, Johanniter Unfallhilfe oder der Feuerwehr, übernommen. Die befragten Interviewpartner des deutschen Rettungsdienstes waren Mitglieder einer dieser Organisationen. Die anfallenden Rettungsdienstaufgaben werden von qualifizierten Rettungssanitätern, Rettungsassistenten und Notärzten ausgeführt. Aufgrund ihrer unterschiedlichen Ausbildung verfügen die Mitarbeiter über unterschiedlich ausgeprägte Kompetenzen und übernehmen dementsprechend während des Einsatzes verschiedene Aufgabenschwerpunkte und Verantwortungen. Im Regelfall besteht die Besatzung eines Rettungswagens (RTW) aus zwei Mitarbeitern (entweder Rettungssanitäter und Rettungsassistent oder zwei Rettungsassistenten). Je nach Einsatzart oder -schwere ergänzt ein Notarzt das Rettungsteam. Dieser wird bei dem untersuchten deutschen Rettungsdienst in einem separaten Notarzteinsatzfahrzeug86 an den Einsatzort oder zum Rettungswagen gebracht. Bei den Notärzten handelt es sich um Klinikärzte, die nicht Mitglieder der jeweiligen Rettungsdienstorganisation sind. Trotzdem bilden sie gemeinsam mit der RTW-Besatzung ein Rettungsteam, das sich um einen oder mehrere verletzte Patienten kümmert. Der zweite untersuchte Rettungsdienst ist in der Schweiz angesiedelt. Er zeichnet sich durch ein außerordentlich hohes Interesse an der hier zugrunde liegenden Thematik und den verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren aus. So kam der Erstkontakt mit dem Rettungsdienstleiter 

84

85

86

Mit Rettungsdiensten sind hier die bodengebundenen, professionellen Rettungsdienste gemeint. Nicht eingeschlossen sind Luft-, Berg- oder Wasserrettung sowie ehrenamtliche Tätigkeiten im Rahmen des Rettungsdienstes. Hierbei gilt es, kranke und hilfsbedürftige Personen geplant mit dem Krankenwagen in oder aus dem Krankenhaus zu bringen sowie Patienten zwischen verschiedenen Kliniken zu transportieren. Sog. Rendez-Vouz-System. Optional gibt es auch Landkreise, die mit einem sog. „Kompaktsystem“ fahren. Hierbei wird auf das Notarzteinsatzfahrzeug verzichtet, und der Notarzt befindet sich von Einsatzbeginn an im gleichen Fahrzeug wie die Rettungsassistenten.

104

Kapitel 4

auf einer internationalen Konferenz zum Thema „Group Interaction in High Risk Environments“87 zustande. Darüber hinaus gilt dieser Rettungsdienst nach eigenen Angaben in der Schweiz als sehr innovativ, qualitätsbewusst und als Vorzeigebetrieb. Dies zeigt sich z. B. darin, dass er ISO 900188 qualitätszertifiziert ist und sich kontinuierlich bemüht, seine Qualität durch regelmäßige Patientenbefragungen zu verbessern.89 Im Unterschied zu deutschen Rettungsdiensten wird in der Schweiz nicht nach den Funktionen Rettungssanitäter und Rettungsassistent differenziert, sondern es gibt nur den Beruf des Rettungssanitäters. Dieser ist jedoch nach Ausbildung und Kompetenzen mit dem deutschen Rettungsassistenten gleichzusetzen.90 Eine spezifische Besonderheit des betrachteten schweizer Rettungsdienstes besteht darin, dass statt mit einem Notarzt- mit einem „Anästhesiepflegermodell“ gearbeitet wird (vgl. o. V. 2006). Notärztliche Aufgaben werden dabei nicht von einem Notarzt, sondern von einem Anästhesiepfleger wahrgenommen. Diese Anästhesiepfleger sind Mitarbeiter der Rettungsdienstorganisation und verfügen über eine Doppelqualifikation: Sie sind sowohl ausgebildete Rettungssanitäter als auch ausgebildete klinische Anästhesiepfleger. Sie verfügen über entsprechende Berufserfahrung und die notwendige medizinische Kompetenz (Medikamentenkenntnisse, Intubation, Narkose etc.) zur Erfüllung der notärztlichen Aufgaben und müssen diese auch regelmäßig nachweisen.91 Der untersuchte schweizer Rettungsdienst umfasst rund 30 Mitarbeiter und deckt sämtliche Krankentransport- und Notfallrettungsmaßnahem im gesamten Kanton ab. Ähnlich wie in Deutschland bilden dabei zwei Rettungssanitäter die Besatzung eines Rettungswagens. Je nach Notfallart und -schwere wird das Team durch einen Anästhesiepfleger ergänzt, der alleine in einem extra Fahrzeug zum Einsatzort kommt.

4.2 Spezialeinheiten der Polizei Zu den untersuchten Spezialeinheiten der Polizei gehören ein Spezialeinsatzkommando (SEK) sowie ein Mobiles Einsatzkommando (MEK) des Landes Baden-Württemberg. Die Spezialeinsatzkommandos (MEK und SEK) des Landes Baden-Württemberg zählen hinsichtlich ihrer Leistung zum oberen Drittel der Spezialeinheiten in der Bundesrepublik Deutschland und haben ihre Leistungen in verschiedenen erfolgreichen Einsätzen unter Beweis gestellt (vgl.  87

88

89

90 91

Abschlussveranstaltung des Projektes „Group Interaction in High Risk Environments“ am 06. Mai 2004 in Rüschlikon, Schweiz. Die ISO 9001 ist ein von der International Organization for Standardization entwickelter und weltweit anerkannter Standard zur Zertifizierung von Qualitätsmanagementsystemen. Diese kontinuierliche Patientenbefragung wird durch das schweizerische Sozialversicherungssystem begünstigt. Anders als in Deutschland rechnet die Rettungsdienstorganisation nicht mit den Krankenkassen, sondern direkt mit den Patienten ab. Dieser direkte Patientenkontakt ermöglicht es, sehr einfach eine standardisierte Befragung hinsichtlich der Qualität und Zufriedenheit mit den erbrachten Rettungsdienstleistungen abzufragen. Überblick zum Rettungswesen in der Schweiz (vgl. o. V. 2006). Da die Anästhesiepfleger sehr ähnliche Kompetenzen wie ein deutscher Notarzt haben, werden sie im Folgenden ebenfalls als Notärzte bezeichnet.

Untersuchte Organisationen

105

Scholzen 2003:149).92 Aufgrund der schwierigen Zugänge zu diesen Organisationen (siehe Kapitel 5.3) erfolgte der Kontakt über bestehende Verbindungen in das Innenministerium des Landes Baden-Württemberg. Die konkrete Auswahl der zu untersuchenden SEK- und MEKEinheiten oblag der Kontaktperson des Innenministeriums, die als ausgewiesener Experte auf dem Gebiet der Polizeiarbeit gilt. In Deutschland gibt es insgesamt 23 Sondereinsatzkommandos (vgl. Scholzen 2003:147). Die SEKs sind Spezialeinheiten der deutschen Bundesländer. Je nach Bundesland sind sie direkt der Polizei, der Bereitschaftspolizei oder dem Landeskriminalamt unterstellt. Zu den Aufgaben der SEKs gehören die Bekämpfung der organisierten-, der politisch motivierten oder der schweren Kriminalität sowie Schutzmaßnahmen bei besonderen Anlässen oder Rettungsmaßnahmen von Menschen in gefährlichen Situationen (vgl. Massenbach-Bardt 2007). Hauptsächlich geht es beim SEK um Zugriffs- und Schutzmaßnahmen in vorwiegend statischen Lagen93, bei denen Gefahr für Leib, Leben und Gesundheit von Menschen besteht. Klassisches Beispiel für diese gefährlichen Lagen sind Geiselnahmen, Entführungs- und Erpressungslagen (vgl. SEK 2004; Scholzen 2003:16). Das untersuchte SEK gliedert sich regulär in fünf Spezialeinsatzgruppen (SEG), welche die anstehenden Einsätze durchführen. Jede Spezialeinsatzgruppe wird in der Regel durch zehn Mitarbeiter gebildet: einem Gruppenführer, einem Stellvertreter sowie zwei bis drei Trupps – das sind Kleingruppen von zwei bis vier Personen – mit jeweils einem Truppführer. Darüber hinaus gibt es eine Bereitschaftsgruppe, welche die fünf SEGs im Bedarfsfall unterstützt. Diese setzt sich aus einem Gruppenführer, acht SEK-Beamten, einem Techniker, einem Präzisionsschützen sowie einem Mitarbeiter zur Beweissicherung zusammen. Je nach Einsatzart und -schwere variiert die Größe der am Einsatz beteiligten SEGs. Aufgrund der Ähnlichkeiten in Organisationsstruktur, Ausbildung und Ausrüstung können die verschiedenen Spezialeinheiten länderübergreifend eingesetzt werden und ohne größere Probleme gemeinsam in einem Einsatz zusammenarbeiten. Das untersuchte SEK weist eine flache Stablinienorganisation auf. Die rund 90 Mitarbeiter des SEK teilen sich primär auf drei Funktionsbereiche auf (vgl. SEK 2004): 1. Die Führungsgruppe, die sich wiederum in die Teilbereiche Verwaltung, Innendienst und „Einsatztraining, Taktik und Fortbildung“ gliedert, 2. die fünf Sondereinsatzgruppen sowie 3. die technische Einsatzgruppe, die sich wiederum in verschiedene Teilbereich untergliedert.



92 93

Eine grobe öffentliche Einsatzstatistik findet sich bei Scholzen (2003:149). Es wird in statische (stationäre) und dynamische Lagen unterschieden. Bei statischen Lagen handelt es sich um solche, bei denen die Zielperson sich wenig in der Umwelt bewegt (z. B. Festnahme eines Geiselnehmers in der Bank) (vgl. F1, SEP). Bei dynamischen Lagen bewegt sich die Zielperson in der Umwelt (z. B. verdeckte Observation eines Rauschgifthändlers, der mit öffentlichen Verkehrsmitteln von einer Stadt in eine andere fährt).

106

Kapitel 4

Das untersuchte Mobile Einsatzkommando zählt ebenfalls zu den Spezialeinheiten der Polizei. Die Aufgaben des MEK bestehen vorwiegend aus Observations- und Fahndungsmaßnahmen in dynamischen Einsatzlagen, wie bspw. die Beobachtung von Drogenkurieren oder die Fahndung nach Erpressern. Anders als die SEK-Beamten, die mit ihrer Schutzkleidung als Polizeibeamte für Dritte erkennbar sind, agieren die MEK-Mitarbeiter in Zivilkleidung – ohne einheitliche Uniform. Auch bei den MEKs ist das Team die zentrale Aktionseinheit. Je nach Einsatzart wird das Einsatzteam aus Mitarbeitern der vier Funktionsbereiche – optische Einsatzgruppe, Audioeinsatzgruppe, Kfz-Einsatzgruppe und Technikgruppe – zusammengestellt. Die Auswahl der Teammitglieder erfolgt nach den jeweiligen Einsatzanforderungen und den Spezialkenntnissen der Mitarbeiter. Das so gebildete Team wird durch den MEK-Einsatzleiter geführt. Die länder- und bundesweite Zusammenarbeit mit anderen MEKs und SEKs ist aufgrund ähnlicher Strukturen und Ausbildung ohne größere Probleme möglich. Aufgrund ihrer ähnlichen Strukturen werden SEK und MEK bei der Darstellung der empirischen Ergebnisse als „Spezialeinheiten der Polizei“ (SEP) bezeichnet. 4.3 Feuerwehreinheiten Bei der Auswahl der untersuchten Feuerwehreinheiten wurde, wie im Fall der Spezialeinheiten der Polizei, auf persönliche Kontakte zurückgegriffen, um den Zugang zum Forschungsfeld zu erleichtern.94 Bei den Gesprächspartnern der Feuerwehreinheiten handelt es sich um Mitglieder einer städtischen Berufsfeuerwehr und einer Freiwilligen Feuerwehr desselben Landkreises in Baden-Württemberg. Die betrachteten Feuerwehreinheiten zeichneten sich durch die Besonderheit aus, dass Berufsfeuerwehr und Freiwillige Feuerwehr im Einsatzfall sehr eng als gleichberechtigte Partner zusammenarbeiten (sog. Zwei-Säulen-Prinzip95). Obwohl sich die Ausbildung von Berufsfeuerwehr und Freiwilliger Feuerwehr unterscheidet96, verfügen die betrachteten Einheiten über einen überdurchschnittlichen Ausbildungsstand.97 Dieser ermöglicht die sehr gute Zusammenarbeit von Berufs- und freiwilligen Feuerwehrleuten im Rahmen des Zwei-Säulen Prinzips. So ist es z. B. ohne Weiteres möglich, dass Berufsfeuerwehrleute und Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr gemischte Fahrzeugbesatzungen bilden und Einsätze ableisten. Die besondere Ausbildungsleistung der betrachteten Feuerwehr zeigt sich auch darin, dass andere Feuerwehren verstärkt den Wunsch äußern, ihre Mitarbeiter dort aus- und weiterbilden zu lassen. 

94 95

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Siehe hierzu auch Kapitel 5.3. Die Feuerwehr des betrachteten Landkreises besteht aus zwei tragenden Säulen: der Berufsfeuerwehr sowie den Einheiten der Freiwilligen Feuerwehr der jeweiligen Stadtbezirke. Berufsfeuerwehr und Freiwillige Feuerwehren arbeiten im Einsatz als gleichberechtigte Partner zusammen und bilden damit die Grundlage der Gefahrenabwehr des Landkreises (sog. Zwei-Säulen-Prinzip). Die Ausbildung zum Berufsfeuerwehrmann erfolgt als sechsmonatige Vollzeitausbildung mit anschließendem sechsmonatigem Praktikum. Die Grundausbildung im Bereich der Freiwilligen Feuerwehr umfasst regulär 70 Stunden und wird „in der Freizeit“, meist abends und am Wochenende, absolviert. So umfasst bspw. der Grundausbildungslehrgang im Bereich der untersuchten Freiwilligen Feuerwehr 120 Stunden statt der gesetzlich vorgeschriebenen 70 Stunden. Ebenso verhält es sich mit anderen Aufbaulehrgängen.

Untersuchte Organisationen

107

Die betrachteten Feuerwehreinheiten verfügen über ein großes Interesse, ihre Handlungsfähigkeit permanent zu verbessern. Sie haben z. B. maßgeblich bei der Gestaltung der Landesfeuerwehrvorschriften mitgewirkt, neue und innovative Löschtechniken und -methoden eingesetzt und mitentwickelt oder verfügten als eine der ersten Feuerwehren des Landes über eine sog. Brandübungsanlage – einen Simulator zur Durchführung einer möglichst realitätsnahen Aus- und Weiterbildung. Feuerwehrtechnische Aufgaben beschränken sich nicht nur auf das Löschen von Bränden. In den betrachteten Feuerwehreinheiten müssen die Mitarbeiter auch weitere Aufgaben, wie z. B. technische Hilfeleistungen (Wohnungsöffnungen), Höhenrettung, Gefahrstoffbekämpfung, Verkehrsunfallrettung, Wasserrettung oder vorbeugende Brandschutzmaßnahmen übernehmen. Die Wahrnehmung dieser Aufgaben erfolgt dabei von unterschiedlichen Mitarbeitern, die aufgrund ihrer Qualifikation verschiedene Funktionen erfüllen und damit verschiedene Aktionseinheiten bilden können. Truppmann, Truppführer, Staffelführer, Gruppenführer, Zugführer, Maschinist und Melder stellen dabei elementare Funktionsträger zur Erledigung der vielfältigen Aufgaben dar. Je nach Situation und Aufgabenstellung werden die Mitarbeiter gemäß ihrer Qualifikation zu unterschiedlichen Aktionseinheiten zusammengestellt. So bildet bspw. die neunköpfige Gruppe die Standardbesetzung für ein Löschfahrzeug. Sie setzt sich zusammen aus einem Maschinisten, einem Gruppenführer, einem Melder sowie drei Trupps mit je zwei Mann (Truppführer und Truppmann). Die betrachte Berufsfeuerwehr umfasst rund 60 Mitarbeiter, die sich auf zwei Schichten aufteilen und einen 24-Stunden-Schichtdienst versehen. Ergänzt wird die Berufsfeuerwehreinheit im Einsatzfall durch bis zu 60 Mitglieder der betrachteten freiwilligen Feuerwehreinheit. Die in diesem Kapitel skizzierten Organisationen bildeten den Untersuchungsgegenstand der explorativen Erhebung. Deren Methodik wird im folgenden Kapitel näher beschrieben.

5

Methodik der explorativen Untersuchung

Ein Erkenntnisziel dieser Arbeit ist darauf ausgerichtet verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten zu identifizieren. Dabei werden die theoretisch gewonnenen Eindrücke durch empirische Untersuchungen angereichert. Untersuchungsgegenstand sind dabei die im vorangegangenen Kapitel beschriebenen medizinischen Rettungsdienste, Feuerwehr- und SEK-/MEK-Einheiten. Welche Faktoren, Mechanismen, Strukturen oder Besonderheiten tragen zu einem zuverlässigen Handeln dieser Organisationen bei? Um dieses, unter dem Gesichtspunkt der Verlässlichkeit, bisher weniger beforschte Gebiet näher zu erkunden und einzugrenzen, bieten sich vor allem Methoden der qualitativen Sozialforschung an. Qualitative Sozialforschung zielt darauf ab, sich die soziale Wirklichkeit durch deutende und sinnverstehende sprachliche und nichtsprachliche Symbole zu erschließen, um damit ein möglichst detailliertes Bild des zu erschließenden Wirklichkeitsausschnittes zu gewinnen (vgl. Kardorff 1995). Gleichwohl zielt die qualitative Sozialforschung darauf ab, induktiv in der Realität verankerte Hypothesen und Theorien zu entdecken und zu entwickeln (vgl. Mayring 2002:36; Mayring 2003:20; Kleining 1995:12). Um ein Bild sozialer Wirklichkeit von medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehren oder Spezialeinheiten der Polizei zu erlangen, ist es notwendig, möglichst viele und ungefilterte Informationen aus dem Untersuchungsfeld aufzunehmen. Wegen der geringen Kenntnisse über das Handlungsumfeld und die handlungsbeeinflussenden Faktoren der hier zu untersuchenden Organisationen bietet sich ein exploratives Vorgehen an.98 Dieses erfordert Offenheit – gegenüber dem Untersuchungsgegenstand, der Untersuchungssituation und den anzuwendenden Methoden (vgl. Lamnek 2005:21). Offenheit ist ein zentrales Prinzip qualitativer Sozialforschung (vgl. Steger 2003:4; Mayring 2002:27f.).99 Auf theoretischer Ebene kritisiert das Offenheitsprinzip der qualitativen Sozialforschung die strenge Hypothesengeleitetheit der deduktiven Forschung. Hiernach sei es nur wissenschaftlich, wenn Hypothesen vor der empirischen Untersuchung formuliert und durch die Untersuchung überprüft werden (vgl. Mayring 2002:28). Anders als beim klassisch deduktiven Vorgehen werden beim qualitativen Vorgehen Hypothesen in der Regel nicht vor der Untersuchung formuliert, um sie dann mit standardisierten quantitativen Techniken zu überprüfen. Stattdessen ist die Hypothesen- und Theorieentwicklung ein zentraler Bestandteil des qualitativen Forschungsprozesses (vgl. Lamnek 2005:89f.). Somit hat die Empirie in der qualitativen Sozialforschung eine Explorationsfunktion und versteht sich als ein Hypothesen generierendes Verfahren (vgl. Lamnek 2005:21). Bei der Bildung von Hypothesen kommt es zu einem ständigen „Austausch zwischen den qualitativ erhobenen Daten und dem zunächst 

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„Die Untersuchung eines fremden Lebensbereiches im Rahmen einer flexiblen und reflexiven Vorgehensweise, indem Ergebnisse über Einzeldaten und deren Zusammenhänge […] ständig reflektiert und im Laufe des Untersuchungsprozesses korrigiert werden können“ (Lamnek 2005:38), wird als Exploration bezeichnet. Durch die Exploration sollen ein möglichst genaues Bild des Untersuchungsfeldes gewonnen und theoretische Zusammenhänge erkennbar werden (vgl. ebd.). Neben dem Offenheitsprinzip zählen Kommunikations- und Reflexionsprinzip sowie Prinzipien der Prozessualität, der Explikation und der Flexibilität zu den zentralen Prinzipien qualitativer Sozialforschung. Einen Überblick und Hinweise zu weiterführender Literatur gibt Steger (2003:4f.).

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Kapitel 5

noch vagen theoretischen Vorverständnis, so dass es zu einer fortwährenden Präzisierung, Modifizierung und Revision von Theorien und Hypothesen [kommt]“ (Lamnek 2005:89). Ziel der qualitativen Sozialforschung ist es, basierend auf empirischem Datenmaterial, Theorien zur Erklärung sozialer Phänomene abzuleiten. Angesichts der geringen Kenntnisse über konkrete Handlungssituationen und handlungsbeeinflussende Faktoren der zu untersuchenden Organisationen erscheint eine explorative Datenerhebung geeignet, um diesbezüglich wissenschaftlich fundierte und praktisch nützliche Erkenntnisse zu gewinnen. Exploration wird hier nicht als reine vorbereitende Erkundung eines Forschungsfeldes für nachfolgende quantitative Forschung verstanden. Vielmehr wird die Exploration – wie häufig in der qualitativen Sozialforschung – als eine freie und weitflächige Auseinandersetzung mit und im Forschungsfeld aufgefasst, die darauf abzielt, Theorien zu formulieren, zu modifizieren oder partiell zu überprüfen (vgl. Steger 2003:10f.). Beeinflusst durch das grundlegende Forschungsinteresse – die Identifikation leistungsbeeinflussender Faktoren –, gilt es möglichst weit dem Prinzip der Offenheit zu folgen. Nur so gelingt es, den Wahrnehmungstrichter größtmöglich offen zu halten, um auch unerwartete, aber nicht minder interessante Informationen über die untersuchten Organisationen, deren Mitarbeiter und Interaktionen, deren Handlungsumfeld oder sonstige Sachverhalte aufzunehmen. Die eingesetzten Erhebungsmethoden und -instrumente müssen dieser Anforderung genügen. Die qualitative Sozialforschung bedient sich vor allem verbalisierter oder verschrifteter Daten oder Texte, um soziale Forschungsgegenstände wissenschaftlich zu beschreiben (vgl. Heinze 2001:12). Dies bedeutet, dass informationsreduzierende, strukturierte Erhebungstechniken mit vorformulierten Antwortkategorien für die Exploration der hier vorliegenden Thematik ungeeignet sind. Um dem Offenheitsprinzip Rechnung zu tragen, wurde in dieser Arbeit das problemzentrierte, leitfadengestützte Interview als Erhebungsinstrument in den betrachteten medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehr- und Spezialeinheiten der Polizei gewählt. Der folgende Abschnitt stellt diese Art der Datenerhebung näher dar.

5.1 Methode der Datenerhebung Neben der teilnehmenden Beobachtung kommt in der qualitativen Sozialforschung vor allem dem verbalen Zugang zu einem Forschungsfeld eine große Bedeutung zu. Nach dem Kommunikationsprinzip wird qualitative Sozialforschung als Interaktion und Kommunikation zwischen Forscher und Beforschtem aufgefasst (vgl. Lamnek 2005:22; Steger 2003:4). Daher stellt das Interview ein wichtiges Erhebungsinstrument in diesem Bereich dar. Intensive und offene Gespräche helfen maßgeblich bei der Erarbeitung grundlegender Informationen über ein Forschungsfeld (vgl. Hopf 1995:177). Mittlerweile gibt es eine Vielzahl qualitativer Interviewtechniken, die unter den verschiedensten Bezeichnungen anzutreffen sind: problemzentriertes Interview, qualitatives Interview,

Methodik der explorativen Untersuchung

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Intensivinterview, Tiefeninterview, strukturiertes Interview, teilstandardisiertes Interview usw. (vgl. z. B. Mayring 2002:66). Generell lässt sich das Interview anhand der Freiheitsgrade des Interviewers in strukturierte (standardisierte), teilstrukturierte (teilstandardisierte)100 und unstrukturierte (unstandardisierte) Interviews einteilen. Der Strukturierungsgrad beeinflusst die Freiheit des Interviewers, seine Fragen zu stellen. Bei einem strukturierten Interview folgt der Interviewer einem starren Fragenkatalog mit zumeist vorformulierten Fragen, während er bei unstrukturierten Interviews die Möglichkeit hat, die Befragung ohne festes Schema oder vorformulierte Fragen durchzuführen. Bei teilstandardisierten Interviews hat der Befrager zwar einen Interviewleitfaden, der ihm die wichtigsten Themengebiete und Fragen vorgibt. Allerdings kann er, je nach Interviewsituation, die Fragefolge ändern, Fragen streichen oder Fragen nach eigenem Ermessen ergänzen (vgl. Hopf 1995:177). Nach den Antwortmöglichkeiten des Befragten können Interviews in geschlossene und offene Interviews eingeteilt werden. Bei geschlossenen Interviews ist der Freiheitsgrad des Befragten eingeengt. Er kann nur aus bereits vorformulierten Antwortmöglichkeiten diejenige auswählen, die seiner Einstellung am nächsten kommt. Beim offenen Interview kann der Befragte seine Antwort frei formulieren und das äußern, was ihm in Bezug auf die Frage als wichtig erscheint (vgl. Lamnek 2005:345). Durch diese Interviewform wird dem Prinzip der Offenheit stärker Rechnung getragen, da so Einblicke in die Relevanzstrukturen und die Erfahrungshintergründe des Befragten möglich werden (vgl. Schnell et al. 1999:355). Im Rahmen der Untersuchung wurden leitfadengestützte Expertengespräche durchgeführt, die sich an die Vorgehensweise des problemzentrierten Interviews (vgl. Hopf 1995; Bortz und Döring 2003:313f.; Flick 2000:105) als Erhebungsinstrument anlehnen. Expertengespräche sind eine spezielle Form von leitfadengestützten Interviews (vgl. Flick 2000:109). Sie beziehen sich auf den Interviewpartner in seiner Eigenschaft als Experte für ein bestimmtes Handlungsfeld. In der hier durchgeführten Erhebung können die Gesprächspartner aufgrund ihrer mitunter sehr langen Tätigkeit und Erfahrung in den untersuchten Organisationen als Experten für die jeweilige Organisation gelten. Anders als beim unstrukturierten Interview wird sich bei einem leitfadengestützten Interview nicht theorie- oder konzeptionslos in das Forschungsfeld begeben, sondern es werden im Vorfeld theoretische Vorannahmen (wenn auch nur implizit) entwickelt und in einem Interviewleitfaden berücksichtigt (vgl. Lamnek 2005:364). Methodologisch gesehen, kommt es hierbei zu einer Kombination von induktiver und deduktiver Vorgehensweise.101 Die im Vorfeld getroffene Annahmen – wie z. B. die oben formulierte Vermutung, dass die betrachteten Organisationen über intensive Lernprozesse verfügen – werden durch die Datenerhebung ergänzt, 

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Auch als semi-strukturiertes oder Leitfaden-Interviews bezeichnet. Diese Begriffe werden in dieser Arbeit synonym verwendet. Bei offenen, unstrukturierten Interviews wird in der Regel ein induktives Vorgehen angewendet. Dies bedeutet, dass der Forscher idealerweise ohne theoretisches Konzept über die entsprechenden Themenbereiche ins Feld geht. Hypothesen und Theorien werden erst nachträglich auf Basis der erhobenen Daten gebildet (vgl. Lamnek 2005:364).

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Kapitel 5

verworfen oder modifiziert. Bei themen- oder problemzentrierten Interviews kommt es zu einem möglichst offenen Gespräch zu einer bestimmten Thematik/Problemstellung, die vorab vom Interviewer eingeführt wurde. Mit Hilfe eines Interviewleitfadens wird sichergestellt, dass die im Vorfeld als wichtig erachteten Themenaspekte angesprochen werden (vgl. Mayring 2002:67). So wird die theoretische Vorstellung des Interviewers mit der sozialen Realität konfrontiert, plausibilisiert oder modifiziert (vgl. Lamnek 2005:382). Gleichzeitig wird der Befragte durch diese Art des Interviews zu einer möglichst freien Erzählung angeregt. Er wird zu einem Gesprächspartner des Forschers und kann ihm seine subjektiven Perspektiven, Eindrücke oder größerer Zusammenhänge und Strukturen erläutern. Dies trägt dazu bei, zusätzlich neue und bisher vom Forscher nicht beachtete Aspekte und Perspektiven aufzudecken und ein plastisches Bild der subjektiven Einschätzung der sozialen Wirklichkeit zu zeichnen (vgl. Heinze 2001:154). Wegen der bisher geringen Kenntnisse über die handlungsbeeinflussenden Faktoren und Mechanismen in den Untersuchungsorganisationen wurde diese Form des Interviews als Erhebungsinstrument gewählt.

5.2 Inhaltliche Ausgestaltung der Datenerhebung Charakteristisch für die hier verwendete Interviewform ist, dass gewisse Vorannahmen vorliegen, die sich in der Ausgestaltung des Interviewleitfadens widerspiegeln. Eine grundlegende Vermutung der empirischen Erhebung wurde bereits mehrfach genannt (siehe Kapitel 3.6): Es wird davon ausgegangen, dass es sich bei den betrachteten medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehreinheiten und Spezialeinsatzkommandos der Polizei um zuverlässige Organisationen in Hochrisikoumwelten handelt, die zwar ein geringes technisches Risiko aufweisen, trotzdem verlässlich agieren müssen.102 Diese Organisationen sind in der Lage, auch unter extremen Umweltbedingungen und Stress adäquat und situationsgerecht zu handeln, um so eine organisationale Verlässlichkeit und Sicherheit zu gewährleisten. Wissen und Erfahrung, so haben die theoretischen Betrachtungen der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschungen gezeigt, haben eine große Bedeutung für das zuverlässige und sichere Handeln in kritischen Situationen. Wie in Kapitel 3.6.2 skizziert, weisen sowohl High Reliability-Forschungen als auch die Arbeiten zu Human Factors/CRM dem Lernen eine hohe Bedeutung zu, ohne dies näher zu betrachten (vgl. Roberts 1990b:173; La Porte 1996:63; Marais et al. 2004:9; Gray 2003:3; Wilson et al. 2005). Daher wird im empirischen Teil dieser Arbeit der Lernaspekt thematisiert. Es wird vermutet, dass Lernen einen wichtigen verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktor in den betrachteten Organisationen darstellt, der sich maßgeblich auf deren Handlungsfähigkeit auswirkt. Deswegen zielt die Untersuchung darauf ab, Lernprozesse und -inhalte sowie die eingesetzten Lernmethoden und -instrumente der un 102

Bezogen auf die in Kapitel 3.1.1 vorgenommene Klassifizierung ordnen sich diese Organisationen damit in das dritte Feld der Matrix ein.

Methodik der explorativen Untersuchung

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tersuchten Einheiten näher zu beleuchten. In diesem Zusammenhang wird vor allem der Umgang mit Erfahrungen näher thematisiert. Verbunden mit diesem Aspekt wurde zudem angenommen, dass die Mitarbeiter der betrachteten Feuerwehr-, Rettungsdienst- und Polizeieinheiten über eine erhöhte Aufmerksamkeit verfügen, aufgrund derer insbesondere erfahrene Mitarbeiter in der Lage sind, Umwelt- oder Situationsveränderungen frühzeitig wahrzunehmen, zu verarbeiten und entsprechend zu reagieren. Eine weitere Vorannahme im Rahmen der Erhebung war, dass die Mitarbeiter der betrachteten Organisationen über ein gemeinsames Verständnis hinsichtlich des Handlungsziels und des Leistungsniveaus verfügen, so dass es während des Arbeitshandelns zu möglichst geringen „Energieverlusten“ durch Abstimmungsprozesse kommt. Wie die Forschungen zu Human Factors/CRM zeigen, sind Information und Kommunikation sehr wichtig für ein situationsadäquates und verlässliches Handeln (vgl. Mearns et al. 2001:382; Dietrich und Childress 2004a). Um Erkenntnisse bezüglich dieser Aspekte bei Feuerwehr, Rettungsdienst und Polizei zu erhalten, wurde das Informations- und Kommunikationsverhalten ebenfalls in der Untersuchung berücksichtigt. Die hier skizzierten Vermutungen spiegeln sich in der Ausgestaltung der Fragen des Interviewleitfadens wider. Neben den persönlichen biographischen Daten umfasst er sechs Themenaspekte (vgl. Tabelle 9), die im Rahmen der Interviews angesprochen wurden.

Dimension (Leitfaden)

Themenaspekt

0. Daten zum Interview 1. Biographie des Befragten

Biographischer Hintergrund des Befragten

2. Organisation/Struktur

Allg. organisationaler Aufbau der Organisation sowie der Ablauf von Einsätzen

3. Handlungssituation

Umweltsituation, in der die jeweilige Organisation agiert

4. Information und Kommunikation 5. Mensch/Organisationsmitglieder

Informations- und Kommunikationsverhalten, insbesondere während der Einsätze Arbeitsklima und Kollegialität

6. Lernen

Aus- und Weiterbildung sowie Bedeutung des Lernens

7. Führung

Aspekte der Führung

Tabelle 9:

Themenaspekte der empirischen Erhebung

Der Ablauf der Interviews lehnte sich dabei an die Phasen des problemzentrierten Interviews an und gestaltete sich folgendermaßen: Als Gesprächseinstieg dienten kurze Erläuterungen zum Projekt und zur Problemstellung. Anschließend setzten die Interviewer einen Erzählanreiz in Form einer offenen Frage. Die darauf folgenden Erzählsequenzen des Befragten wurden durch Verständnisfragen und direkte Fragen ergänzt. Hierbei wurde auf den Interviewleitfaden zurückgegriffen. Dieser bildete den Rahmen der anzusprechenden Themenaspekte. Die formulierten Fragen dienten den Interviewern dabei lediglich als Anhaltspunkte und Gedan-

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Kapitel 5

kenstützen, um möglichst alle im Vorfeld als relevant erachteten Themenaspekte während des Gesprächs abzudecken. Die Reihenfolge der thematischen Schwerpunkte richtete sich nach dem individuellen Gesprächsverlauf. Um dem Prinzip der Offenheit Rechnung zu tragen, wurde auf eine Standardisierung der Interviews verzichtete. Alle Gespräche waren durch eine sehr offene Atmosphäre gekennzeichnet, was dazu führte, dass auf relevante Äußerungen der Gesprächspartner direkt eingegangen, die Fragen erweitert oder angepasst und damit unterschiedliche thematische Akzente gesetzt wurden. Aufgrund des großen Gestaltungsspielraums bei der Befragung und die außerordentliche Auskunftsfreude der Interviewpartner war es für die Interviewer bereits nach kurzer Zeit möglich, ein besseres Bild vom Handlungsumfeld und der Handlungssituation der jeweiligen Organisation zu bekommen. Neben neuen, bisher nicht berücksichtigten Aspekten ließen sich erste organisationsübergreifende Zusammenhänge und Gemeinsamkeiten erkennen und vorab definierte Erkenntnisinteressen befriedigt. Dieser Erkenntnisfortschritt wirkte sich unmittelbar auf die nachfolgenden Gespräche und die Ausgestaltung der Fragen aus und spiegelt dabei das offene und flexible Vorgehen wider.

5.3 Probleme der Datenerhebung An dieser Stelle sei auf einige Probleme hingewiesen, die sich im Rahmen der explorativen Erhebung zeigten. Die Auswahl der zu untersuchenden Organisationen gestaltete sich schwieriger als angenommen. Um verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten empirisch zu identifizieren, sollten bisher weniger beachtete Organisationen betrachtet werden. Daher war es wichtig, solche Organisationen auszuwählen, die den Hochrisikoumwelten zuzuschreiben sind und sich entweder durch überdurchschnittliche Handlungsanforderungen oder eine besondere Leistungsfähigkeit auszeichnen. Darüber hinaus wurde die Auswahl der Organisationen von dem Wunsch geleitet, eine möglichst große Heterogenität bei den Untersuchungsorganisationen zu erzielen, d. h. Organisationen aus möglichst unterschiedlichen Bereichen zu untersuchen, um so organisationsübergreifende handlungsbeeinflussende Gemeinsamkeiten identifizieren zu können. Erschwerend kam der schwierige Zugang zu den Organisationen hinzu. Das Vertrauensverhältnis zwischen Forscher und Beforschten ist vor allem bei der Erhebung mittels qualitativer Interviews von zentraler Bedeutung. Daher wird der Zugang zu den Untersuchungsfeldern in diesen Fällen in der Regel über bereits bestehende, direkte Kontakte hergestellt (vgl. Lamnek 2005:355). Im vorliegenden Fall konnte jedoch auf keine bestehenden Projektkontakte zu Organisationen in Hochrisikoumwelten zurückgegriffen werden. Um den direkten Zugang zu vereinfachen, folgte die Auswahl der ersten Untersuchungsorganisation (deutscher Rettungsdienst) überwiegend anhand forschungsökonomischer Aspekte, wie lokale Nähe, Bekanntheitsgrad der Universität, hohe Flexibilität der Gesprächstermine. Diese Aspekte wurden als förderlich für den Zugang gesehen. Es stellte sich jedoch heraus, dass sich ein direkter Zugang zu den Organisationen schwieriger gestaltete als

Methodik der explorativen Untersuchung

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angenommen. So lehnten bereits zwei der angefragten lokalen Rettungsdienstorganisationen Gespräche ab oder verschoben diese mehrmals mit dem Hinweis auf die sehr knappen zeitlichen Ressourcen.103 Daher wurde auf Kontakte Dritter zurückgegriffen, die das Vertrauen von Forscher und Beforschtem genießen. Zudem wurde darauf geachtet, dass bei den Organisationen ein Interesse sowie eine Motivation für die Thematik vorhanden waren. Um erste Einblicke in die jeweiligen Organisationen sowie deren Handlungsumfelder und Handlungssituationen zu bekommen, wurden in jeder Untersuchungsorganisation drei bis fünf Personen befragt. Im Rahmen der Gespräche schilderten die Interviewpartner ihre persönlichen Sichtweisen. Dies kann dazu führen, dass ein zu subjektiv gefärbtes Bild der Organisation entsteht, welches zu einer Verzerrung der Interpretation führt. Um diesem Problem entgegenzuwirken und möglichst verschiedene Perspektiven auf die Organisation kennenzulernen, wurden Gesprächspartner aus unterschiedlichen Bereichen, von verschiedenen Hierarchiestufen sowie mit unterschiedlichen Erfahrungshintergründen gewonnen. Die Tatsache, Mitglied einer Organisation zu sein, in der eine „Hochleistungsfähigkeit“ vermutet wird, könnte bei den Interviewpartnern zu einer positiven Selbstbewertung geführt haben. Gleichwohl besteht auch die Gefahr von sozial erwünschtem Antwortverhalten (vgl. z. B. Bortz und Döring 2003:212f.). Dies bedeutet, dass die Antworten sich nicht an den eigenen Überzeugungen, sondern an sozialen Normen über angemessenes Verhalten orientieren und sich daran anpassen. Das würde dann ebenfalls zu einer Verzerrung der Interpretationen führen. Um das Problem des sozial erwünschten Antwortverhaltens abzumildern, wurde den Interviewteilnehmern vollständige Anonymität und Vertraulichkeit im Umgang mit ihren Daten zugesichert. Gleichzeitig wurde bereits während des Gesprächs versucht, einige positive Selbstbewertungen aufzudecken, indem ganz gezielt nach dem Umgang mit Fehlern und fehlgelaufenen Einsätzen gefragt wurde. Hier zeigte sich in der überwiegenden Mehrheit, dass die Gesprächspartner sehr offen über diese Thematik diskutierten und auch suboptimale Prozesse und Probleme innerhalb der Organisation ansprachen.

5.4 Vorgehen der Datenauswertung Häufig liegen erhobenen Daten der qualitativen Sozialforschung in Form verschrifteter Texte vor – sei es in Form von Beobachtungsprotokollen oder Interviewtranskripten (vgl. Kleining 1995:17). Diese Texte gilt es zu verstehen. Verstehen erfolgt dabei durch Interpretation des vorliegenden Datenmaterials. Als wissenschaftliches Verfahren zur Auslegung und Erklärung von Texten kommt der Hermeneutik bei der Interpretation empirischer Daten eine unverzichtbare Aufgabe im Rahmen der qualitativen Sozialforschung zu (vgl. Lamnek 2005:722; Kleining 1995:17). Bei diesem qualitativen Forschungsprozess geht es weniger um die Deutung und Rekonstruktion von originalen Zusammenhängen, als vielmehr um das Aufdecken von 

103

Vermutlich spielte auch ein geringes Interesse für diese Thematik eine weitere Rolle.

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Kapitel 5

kausalen Ursache-Wirkungsbeziehungen, um so einen Erkenntnisfortschritt zu erreichen. Qualitative Sozialforschung ist daher „im Kern keine Deutungskunst, sondern ein Entdeckungs-Verfahren“ (Lamnek 2005:200). Dies setzt voraus, dass die Interpretation von Datenmaterial nicht willkürlich und im „Freistil“ erfolgen darf, sondern gewissen Regeln – und seien sie noch so einfach – folgen muss (vgl. Bortz und Döring 2003:335; Lamnek 2005:208). Zur Auswertung und Interpretation qualitativer Daten stehen dabei unterschiedliche Verfahren zur Verfügung, die sich hinsichtlich ihres Strukturierungsgrades und des zu untersuchenden Materials (Beobachtungsmaterial/verbale Daten) unterscheiden lassen (vgl. Mayring 2002:103).104 Zur Analyse von aus Kommunikation gewonnenem Datenmaterial eignen sich vor allem Verfahren der qualitativen Inhaltsanalyse (vgl. Mayring 2003:11). Diese zielt darauf ab, „manifeste und latente Inhalte des Materials in ihrem sozialen Kontext und Bedeutungsfeld zu interpretieren“ (Bortz und Döring 2003:329). Sie stellt eine Auswertungsmethode dar, die sich dadurch auszeichnet, dass das vorliegende Material nicht mit Hilfe eines vorab entwickelten inhaltsanalytischen Schemas mit Analyseeinheiten, -dimensionen und -kategorien untersucht werden muss. Vielmehr wird eine Interpretation und Deutung angestrebt, die intersubjektiv nachvollziehbar und inhaltlich möglichst erschöpfend ist. Daher sollen die Inhalte für sich sprechen und aus ihnen heraus das Analyseschema entwickelt werden (vgl. Mayring 2003:46; Mayring 2002:114; Lamnek 2005:508). Diese Vorgehensweise trägt dem Prinzip der Offenheit in der qualitativen Sozialforschung Rechnung. Für die Auswertung der hier betrachteten 21 Gespräche war es notwendig, die mitgeschnittenen Gespräche zu verschriften – d. h. zu transkribieren. Die Auswertung der Interviews folgte dabei den Phasen Transkription105, Verdichtung und Vergleich. Transkription Bis auf ein Gespräch106 wurden alle hier zugrunde liegenden Interviews verschriftet und liegen als wörtliche Volltranskripte vor. Wegen der teilweise gesprochenen Dialekte (Sächsisch, Schwäbisch, Schweizerdeutsch) war es notwendig, die Gespräche in Schriftdeutsch zu übersetzen. Neben dem Dialekt wurden die Texte auch dahingehend geglättet, dass grammatische Fehler und unvollständige Sätze verbessert und inhaltliche Wiederholungen gestrichen oder zusammengefasst wurden. Diese Art der Stilglättung war problemlos möglich, da in der vorliegenden Arbeit inhaltlich-thematische Aspekte im Vordergrund stehen (vgl. Mayring 2002:91). Damit keine wichtigen inhaltlichen Sachverhalte im Rahmen der Transkription verloren gingen, fand eine vorherige Unterweisung der zur Transkription eingesetzten studenti 104

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Beispielhaft seien hier die „sozialwissenschaftlich hermeneutische Paraphrase“ oder die „qualitative Inhaltsanalyse“ erwähnt. Zur näheren Erläuterung dieser und weiterer Auswertungsverfahren siehe z. B. Mayring (2002:103ff.). Die Transkiption stellt eine Verschriftlichung der Interviews, d. h. ein Wortprotokoll des zugrunde liegenden Gespräches dar (vgl. Mayring 2002:89). In einem Fall war der Gesprächspartner nicht mit einer Aufzeichnung des Interviews einverstanden, so dass ein handschriftliches Protokoll abgefasst wurde.

Methodik der explorativen Untersuchung

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schen Hilfskräfte statt. Darüber hinaus wurden alle Transkripte durch den Autor nochmals kontrolliert und die von den Hilfskräften markierten, nicht verstandenen Textpassagen nachgearbeitet.107 Verdichtung In einem ersten Schritt wurden die verschiedenen Interviewtranskripte gelesen und die Textstellen grob den sechs Untersuchungsdimensionen zugewiesen. Gleichzeitig wurden die für eine Feinanalyse relevanten Textstellen identifiziert. Parallel zu der ersten Sichtung des Materials wurden Randnotizen und Querverweise erstellt oder weitergehende Fragen formuliert. Die als relevant identifizierten Textstellen wurden dann in einem zweiten Schritt codiert. Codieren meint die Zuordnung von Textteilen zu Kategorien (vgl. Bortz und Döring 2003:330; Schmidt 2004:451) und kann aufgefasst werden als „the process of grouping interviewees’ responses into categories that bring together the similar ideas, concepts or themes“ (Rubin und Rubin 1997:238). Dabei wurde auf ein vordefiniertes, aus den Vorüberlegungen abgeleitetes Codierschema zurückgegriffen, mit dem an das Material herangetreten wurde. Das Codierschema stellte jedoch kein starres Gebilde dar. Wurden im Analyseverlauf Textpassagen identifiziert, die sich unter keinen vordefinierten Code subsumieren ließen – aber der allgemeinen Codierdefinition entsprachen – wurden hierfür neue Codes gebildet. Durch dieses Vorgehen erweiterte und veränderte sich das Codierschema sukzessive. Die ersten Interviews wurden unabhängig von zwei Mitarbeitern des Projektteams codiert.108 Nachdem etwa ein Viertel des vorliegenden Datenmaterials bearbeitet war, wurden die Codierung und die verwendeten Codes miteinander verglichen und unterschiedliche Zuordnungen und Codes diskutiert. Dabei wurden die vordefinierten Codes, die nicht verwendet wurden, gestrichen, neu hinzugekommene Codes abgeglichen, Codes modifiziert oder zusammengefasst. Das so entstandene neue Codierschema wurde erneut auf das bereits analysierte Material sowie auf das restliche Datenmaterial angewendet. Dieses Vorgehen ermöglichte es, das vorhandene Datenmaterial aufzubrechen und auf die relevanten Stellen zu reduzieren (vgl. Steger 2003:14). Die Codierung der ersten Interviews erfolgte noch händisch. Mit der Überarbeitung der Codierliste erfolgte parallel eine Umstellung auf eine rechnergestützte Datenauswertung. Hierbei wurde auf die Analysesoftware AtlasTi 109 zurückgegriffen. Insbesondere wurde das Programm für die Codierung eingesetzt und erleichterte die Textstellenverwaltung im Rahmen der weiteren Analysen.

 107

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Bei diesen Textpassagen handelte es sich meist um dialektbezogene sprachliche Verständnisprobleme. Dieses Vorgehen wird auch als konsensuelles Codieren bezeichnet (vgl. Schmidt 2004:453). Vgl. www.atlasti.com.

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Kapitel 5

Vergleich In einem weiteren Schritt wurden die einzelnen Codes und die ihnen zugeordneten Textstellen überprüft. Dabei wurde kontrolliert, ob die markierten Textstellen auch wirklich einen Bezug zum jeweiligen Code aufwiesen. In diesem rekursiven Prozess mussten einige Textstellen von den jeweiligen Codes wieder gelöst oder anderen Codes zugeordnet werden. Gleichzeitig war es so möglich, bestimmte Codes weiter auszudifferenzieren oder zu sog. Codefamilien zusammenzufassen. Z. B. wurde der Code „Information“ weiter in „Informationsbeschaffung“, „Informationsqualität“ und „Informationsstruktur“ unterteilt oder der Bereich „Aus- und Weiterbildung“ in „Grundausbildung“, „Training/Übung“ und „Weiterbildung“ differenziert. Die so gewonnenen textbasierten Ausprägungen eines Codes erlaubten damit einen sowohl organisationsinternen als auch organisationsübergreifenden Fallvergleich. Um das der Untersuchung zugrunde liegende Erkenntnisinteresse zu erfüllen und die Forschungsfragen zu beantworten, darf sich die Analyse nicht allein auf den Einzelfall beziehen. Vielmehr muss die Auswertung darauf abzielen, überindividuelle Gemeinsamkeiten und Organisationstypisches herauszuarbeiten (vgl. Meuser und Nagel 1991:452). Daher wurden in einem ersten Teilschritt des Vergleichs intraorganisationale Gemeinsamkeiten und Unterschiede identifiziert. Ein weiterer Teilschritt analysierte, inwieweit sich die Gemeinsamkeiten auch in anderen Organisationen wiederfinden. Dabei zeigten sich Parallelen hinsichtlich der Handlungsbedingungen als auch in den Faktoren, die sich positiv auf die Handlungsfähigkeit der untersuchten Organisationen auswirken. Wichtig anzumerken ist, dass der Analyseverlauf nicht linear und überschneidungsfrei erfolgte, sondern dass es sich um einen iterativen, rekursiven Prozess handelte. Kontinuierlich wurden die Textstellen interpretiert und in Zusammenhang gebracht und die Interpretation überprüft. Die Ergebnisse der explorativen Untersuchung werden nun in den folgenden zwei Kapiteln vorgestellt.

6

Situative Handlungsbedingungen der untersuchten Organisationen

Die untersuchten medizinischen Rettungsdienste, Feuerwehreinheiten oder Spezialeinheiten der Polizei sind – so die Vermutung – zu den Organisationen in Hochrisikoumwelten zu zählen, die verlässlich und sicher handeln, auch wenn ihr Tätigkeitsfeld primär nur mit geringen technischen Risiken verbunden ist. Organisationen in Hochrisikoumwelten, so haben die theoretischen Ausführungen in Kapitel 3.2 gezeigt, agieren in komplexen Umweltsituationen, in denen Fehler zu einer überdurchschnittlichen Gefahr für die Gesundheit und das Leben von Menschen oder Gefahren für die Umwelt führen. Sie sind dabei mit unsicheren und dynamischen Umweltsituationen, einem hohen Zeit- und Handlungsdruck, wechselnden und schlecht definierten Zielen oder mehreren Problemstellungen gleichzeitig konfrontiert. Zeichnen sich die hier untersuchten Organisationen durch ähnliche handlungsbeeinflussende Kontextfaktoren aus, können diese den Organisationen in Hochrisikoumwelten und damit der verlässlichkeitsorientierten Forschung zugerechnet werden. Neben der Überprüfung der zugrunde liegenden Vermutung gewährt die explizite Erhebung der jeweiligen Handlungssituationen Einblick in die bisher wenig bekannten Handlungsbedingungen der betrachteten Organisationen. Kapitel 6.1 bis 6.7 stellen die Erkenntnisse der identifizierten situativen Handlungsbedingungen vor. Diese Ergebnisse konnten in allen betrachteten Organisationen – wenn auch nicht immer in der gleichen Ausprägung – vorgefunden werden. Beispielhafte Zitationen von Interviewpassagen sind in der qualitativen Sozialforschung häufig das einzige Mittel, um Aussagen zu belegen (vgl. Lamnek 2005:200). Daher werden folgende Ausführungen durch entsprechende Interviewpassagen verdeutlicht und nachvollziehbar gemacht. Neben den Angaben zum Interviewpartner wird bei den Zitaten auch die jeweilige Organisation – Feuerwehr, Rettungsdienst oder Spezialeinheiten der Polizei (SEP) – angegeben. Kapitel 6.8 fasst die empirisch gewonnenen Erkenntnisse zusammen.

6.1 Handeln in Einsatzsituationen Charakteristisch für alle betrachteten Organisationen ist der Einsatz als besondere Arbeitsform. Hierunter ist ein abgeschlossenes Handeln, bezogen auf ein bestimmtes Ziel oder eine bestimmte Aufgabe, zu verstehen. Einsätze zeichnen sich dadurch aus, dass sie überwiegend unregelmäßig auftreten, in unterschiedlichen Umweltsituationen stattfinden, einen bestimmbaren Anfangs- und Endzeitpunkt haben und mit der Maßgabe durchgeführt werden, eine bestimmte Aufgabe zu erfüllen bzw. ein bestimmtes Ziel zu erreichen. Wie in Kapitel 7.5 noch genauer erläutert wird, besitzen die betrachteten Organisationen zwei Organisationsstrukturen. In der einsatzfreien Zeit bestimmt die formale Organisationsstruktur das Handeln, während die Mitarbeiter im zeitlich begrenzten Einsatzfall ihr Handeln an flexiblen Einsatzstrukturen ausrichten. Die konkrete Ausgestaltung der Einsatzstrukturen wird dabei in der jeweiligen Organisation durch die Art, den Umfang oder die Schwere des Einsatzes mitbestimmt.

120

Kapitel 6

Generell, so hat sich in der Untersuchung gezeigt, kann das Einsatzhandeln grob in drei Phasen eingeteilt werden: die Einsatzvorbereitung, die Einsatzdurchführung und die Einsatznachbereitung (vgl. Abbildung 15).

Einsatzvorbereitung

Einsatzdurchführung

Einsatznachbereitung

t Einsatzbeginn

operativer Einsatzbeginn

Abbildung 15:

operatives Einsatzende

Einsatzende

Drei Phasen des Einsatzablaufes

Während der Einsatzvorbereitung, die je nach Situation sehr kurz ausfallen und direkt am Einsatzort stattfinden kann, werden in der Regel die Einsatzzielstellung geklärt, Aufgaben verteilt und das Einsatzvorgehen abgestimmt. Mit dem operativen Einsatzbeginn folgt die Phase der Einsatzdurchführung. In dieser Phase handeln die Mitarbeiter gemäß der Zielstellungen und ihren Aufgaben in der jeweiligen Einsatzstruktur bis zum operativen Einsatzende. Die Phase der Einsatznachbereitung, in der das operative Einsatzhandeln analysiert und reflektiert wird (vgl. Kapitel 7.4.1), schließt den Einsatz ab. Der Einsatz stellt in den betrachteten Organisationen die elementare Arbeitsform dar. Daher beziehen sich die identifizierten und im Folgenden vorgestellten Handlungsbedingungen alle auf das Handeln im Einsatz.

6.2 Dynamische Umweltsituationen Die Umweltsituationen, mit denen die betrachteten Organisationen konfrontiert sind, kennzeichnen sich durch eine hohe Dynamik. Einsatzsituationen, wie z. B. eine Geiselnahme, der Brand in einer Lagerhalle oder der Gesundheitszustand eines Herzinfarktpatienten sind nicht statisch, sondern verändern sich kontinuierlich ohne das Zutun der jeweiligen Organisationsmitglieder: „Das Feuer hält nicht an, nur weil wir unten mit einem roten Auto vorfahren, sondern der Dachstuhl brennt mit einer rasenden Geschwindigkeit weiter.“ [B2, Feuerwehr]

Situative Handlungsbedingungen der untersuchten Organisationen

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„Es ist sicherlich lebensbedrohlich für den Patienten und mit einer großen Dynamik – entweder der Zustand des Patienten ist schon sehr schlecht oder verschlechtert sich sehr schnell.“ [E2, Rettungsdienst] Zusätzlich kann es auch während des Einsatzhandelns zu Situationsveränderungen kommen, die von den Mitarbeitern erkannt, verarbeitet und bewältigt werden müssen und die deren weiteres Handeln beeinflussen. Erscheint z. B. bei der Erstürmung einer Wohnung durch das SEK aus dem Nebenraum ein weiterer bewaffneter Täter, mit dem im Vorfeld nicht gerechnet wurde, ist dies eine hochdynamische Umweltveränderung. In dieser geänderten Situation haben die Beamten keine Zeit, Rücksprache mit der Einsatzleitung zu halten. Vielmehr müssen sie in Sekundenbruchteilen selbst entscheiden und situationsadäquat handeln. Wie diese Beispiele zeigen, geht die hohe Situationsdynamik meist mit einem massiven Zeitund Entscheidungsdruck einher.

6.3 Zeit- und Entscheidungsdruck Die Situationsdynamik engt den Handlungsspielraum der Akteure häufig ein, so dass sie Entscheidungen zügig und unter einem hohen Zeitdruck treffen müssen. Hierbei haben sie oft „nur wenige Bruchteile von Sekunden, [sich] ein Bild zu machen, eine Entscheidung zu treffen und diese durchzuziehen“ [B2, Feuerwehr]. Oft werden Handlungsalternativen, die eben noch erfolgversprechend waren, innerhalb von Sekunden obsolet. Zeigt sich bspw. ein Geiselnehmer vor der Tür des Zielobjektes und ist damit ein erfolgreicher und unblutiger Zugriff wahrscheinlich, ist eine schnelle Entscheidung vom Einsatzleiter gefordert. Wartet er zu lange – z. B. um sich beim verantwortlichen Polizeiführer abzusichern – ist die Möglichkeit des erfolgreichen Zugriffs vertan. Mitarbeiter der Rettungsdienste berichteten, dass sie mit zeitkritischen und weitreichenden Entscheidungen konfrontiert sind. Sie müssen „schnell erkennen, worum es geht, sehr schnell zielgerichtete Maßnahmen ergreifen – die dann auch funktionieren müssen“ [E2, Rettungsdienst]. Nicht selten nehmen die ergriffenen Maßnahmen einen wesentlichen Einfluss auf den weiteren Krankheitsverlauf des betreffenden Patienten. Insbesondere dann, wenn es zu entscheiden gilt, ob z. B. der Patient in eine entfernte Fachklinik ausgeflogen werden soll, da das nahe gelegene örtliche Krankenhaus „nicht das richtige Krankenhaus ist“ [E2, Rettungsdienst], die Überlebenschance des Patienten allerdings nur gesichert ist, wenn er innerhalb der nächsten 10 Minuten klinisch behandelt wird. Für die Mitarbeiter der betrachteten Organisationen resultiert der Zeitdruck in einem hohen Entscheidungs- und Handlungsdruck. Sie haben nicht die Möglichkeit, aus dem Handeln „auszusteigen“ und in Ruhe über die Situation nachzudenken: „Wir müssen dann trotzdem handeln, auch wenn es noch so verfahren ist. Je schlimmer die Situation, umso höher ist unsere Leistungsanforderung – umso mehr müssen wir dann auch bringen“ [B2, Feuerwehr].

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Kapitel 6

6.4 Intransparente Einsatzlagen Des Weiteren ist den betrachteten Organisationen gemeinsam, dass die Mitarbeiter kurz nach Eintreffen an der Einsatzstelle noch keinen vollständigen Überblick über die Lage und das Geschehen haben. Sie sind mit einer Situation konfrontiert, die sie in den ersten Minuten schnell erfassen, einschätzen und verarbeiten müssen, um entsprechende Handlungen ergreifen zu können. Bei der Feuerwehr wird diese erste Phase am Einsatzort auch als „chaotische Phase“ [B3, Feuerwehr] bezeichnet. Ziel der Organisationsmitglieder ist es, die chaotische Phase so klein wie möglich zu halten, sei es, indem diese versucht wird zu vermeiden oder sie möglichst schnell in eine ruhige Phase überführt wird, in der ein strukturiertes, koordiniertes und zielführendes Einsatzhandeln möglich ist. Wie lange die chaotische Phase anhält, wird maßgeblich durch die Einsatzsituation, die vorhandenen Informationen sowie durch die Handlungsfähigkeit der Mitarbeiter und die verwendete Ausrüstung bestimmt. Für eine der befragten Führungspersonen der Berufsfeuerwehreinheit ist die Dauer der chaotischen Phase ein Kriterium für die Qualität der Einsatzleitung. Bei den befragten Rettungsdiensten zeugt es ebenfalls von beruflicher Professionalität, wenn „man auch in einer totalen Chaoslage noch einen ruhigen Eindruck macht“ [E2, Rettungsdienst]. Es ist auch wichtig, sich als Rettungsassistent nicht durch die Hektik eines Notarztes in einer zügigen und ruhigen Arbeitsweise stören zu lassen, denn es „ ist ja auch die große Kunst, sich nicht aus der Ruhe bringen zu lassen“ [A2, Rettungsdienst].

6.5 Suboptimale Informationsversorgung Die eben erläuterte Intransparenz einer Lage wird sehr stark durch die vorliegenden Informationen beeinflusst, wie folgendes Zitat verdeutlicht: „Heutzutage bei einem Wohnungsbrand, Zimmerbrand sieht man von außen gar nichts – da weiß man oft noch nicht einmal welche Wohnung es ist. Da muss man erst mal klingeln, fragen und rausfinden, wo es ist. Dann weiß man, wo es brennt, aber was innen ist…? Da weiß man vielleicht noch, dass eine Person vermisst wird, aber wo liegt die? Wie sieht es innen aus? Was ist dort gelagert?“ [B4, Feuerwehr] Informationen sind wichtig für ein zielbezogenes und adäquates Handeln. Gerade zu Beginn eines Einsatzes stehen den Einsatzkräften viele entscheidungs- und handlungsrelevanten Informationen nicht oder nur in unzulänglicher Form zur Verfügung. Ferner können die betroffenen Mitarbeiter zu Einsatzbeginn auch mit einer Fülle von Informationen konfrontiert werden, die es zu bewerten und hinsichtlich entscheidungsrelevanter Inhalte zu filtern gilt. Für die einsatzleitenden Führungskräfte heißt dies, dass sie zusätzliche Informationen einholen, Informationen verifizieren oder aus einer Vielzahl von Informationen die für sie relevanten auswählen müssen. Führungskräfte müssen damit ein problembezogenes Informationsmanagement betreiben.

Situative Handlungsbedingungen der untersuchten Organisationen

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„Im Prinzip muss ich die Lage so lange erkunden, bis ich entscheidungsfähig bin. Bis ich sagen kann, dass alle entscheidungsrelevanten Komponenten vorhanden sind. Und ich weiß, dass die Sache so greifbar ist und ich ein klares Ziel habe.“ [B1, Feuerwehr] Je besser die Qualität der vorhandenen Information dabei ist, desto konkreter und zielbezogener können Arbeitsanweisungen definiert und erteilt werden. Selten verlassen sich Mitarbeiter der betrachteten Organisationen auf Vorabinformationen von außenstehenden Dritten. Um die Gefahr zu reduzieren, dass vorliegende entscheidungsrelevante Informationen unberücksichtigt bleiben, erfolgt die Informationsbeschaffung und -validierung in den meisten Fällen direkt durch die einsatzleitenden Personen oder ihre Mitarbeiter. So wurde von den befragten Teilnehmern z. B. berichtet: „Wir nehmen alle Informationen zur Kenntnis, je mehr, desto besser. Aber hundertprozentig verlassen wir uns nur auf unsere eigenen Aufklärungsergebnisse.“ [C2; SEP] „Es ist meine Aufgabe zu schauen, ob die Informationen ausreichend sind. Ich habe von mehreren Seiten Informationen einzuholen und kann mich nicht auf eine einzige Aussage verlassen. Wenn mir einer sagt, dass in dem brennenden Haus niemand mehr drinnen ist, und im Nachhinein stellt sich heraus, dass aber doch noch jemand drin war, dann habe ich insofern schon ein Problem, weil ich mir nicht weitere Informationen geholt habe.“ [B2, Feuerwehr]. Die Informationsbeschaffung und -validierung wird bei den betrachteten Organisationen jedoch häufig durch die Einsatzdynamik und situative Gegebenheiten eingeschränkt. Insbesondere der hohe Zeit- und Entscheidungsdruck führt dazu, dass Führungskräfte auf Basis von unvollständigen, ungenauen oder nicht überprüften Informationen entscheiden und handeln müssen. „Wenn ich vor Ort komme, da gibt es halt noch viele Defizite, da müssen viele Sachen hinterfragt werden. Manches geht aufgrund des Zeitdruckes nicht mehr zu erfragen, dann geht man teilweise mit gewissen Defiziten in die Einsatzszenarien rein.“ [C2, SEP] „Vielleicht hast du ganz am Anfang falsche Informationen. Aber je näher die eigenen Leute dort sind, desto besser werden die Informationen.“ [X1, Feuerwehr] Diese Zitate verdeutlichen, dass sich die einsatzleitenden Personen hierüber bewusst sind. Sie versuchen daher, durch ein kontinuierliches Informationsmanagement weitere Informationen zu beschaffen und zu überprüfen, um so das Handeln an die sich verändernde Informationslage anpassen zu können.

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Kapitel 6

6.6 Stress Des Weiteren wurde von den befragten Mitarbeitern berichtet, dass sie mitunter in Situationen agieren, die von ihnen als stressig empfunden werden. Entscheidungsrelevante Informationsdefizite, unbekannte oder unklare Einsatzmeldungen und -situationen, die hohe Umweltdynamik und der damit verbundene Zeit- und Handlungsdruck wirken dabei als Ursachen für dieses Stressempfinden. Stress ist subjektiv und wird von jedem Mitarbeiter anders empfunden. Für einen MEK-Einsatzleiter entsteht während eines Observationseinsatzes z. B. Stress, wenn die zu observierende Person sich mit vielen unterschiedlichen Verkehrsmitteln bewegt. Der Einsatzleiter muss dann für alle beteiligten Kollegen Entscheidungen treffen und sie so koordinieren, dass die Zielperson nicht verloren wird. Für den Einsatzleiter bedeutete dies dann, dass „über zwei verschiedene Funkkreise mit ihnen gesprochen [wird]. Das Telefon klingelt pausenlos, der Sachbearbeiter – wenn er hinten im Auto sitzt – telefoniert auch, weil er neue Erkenntnisse von der Dienststelle braucht. Wenn er nicht in dem Auto sitzt, muss man auch noch mit dem Sachbearbeiter nebenher telefonieren. Dann braucht man einen guten Fahrer, der vielleicht das eine oder andere Telefonat abnimmt. Also unter Umständen ist da die Hölle los“ [F3, SEP]. Stress wird von Mitarbeitern auch empfunden, wenn sie mit unklaren oder seltenen Einsatzsituationen, wie z. B. Gefahrstoffeinsätzen, Suizidversuchen oder Kindernotfällen konfrontiert werden. Ein befragter Notarzt berichtete beispielsweise, dass die Intubation von Kleinkindern für ihn eine stressige Situation darstellt, weil „das natürlich nicht mein Alltagsgeschäft [ist] – also da bin ich nicht der absolute Profi. Trotzdem ist es der einzige Weg, der das Überleben des Kindes sichert. Das ist natürlich ein großer Stressfaktor für mich selber“ [E3, Rettungsdienst]. Außergewöhnliche oder nicht alltägliche Einsätze wirken auch auf Mitarbeiter der Feuerwehr und der Polizeieinheiten stressauslösend. Hauptsächlich dann, wenn „man mit jedem [Handlungs-]Schritt den man macht, ein Menschenleben retten oder nicht-retten kann“ [C3, SEP]. Das Wissen um die Verletzbarkeit und die damit verbundene Verantwortung für die Gesundheit und das Leben von Kollegen, Betroffenen oder Dritten, stellt einen hohen Stressfaktor dar. Insbesondere dann, wenn die Handelnden mit unvorhergesehenen Situationen konfrontiert werden, in denen sie auf sich alleine gestellt sind und ein Handeln seitens Dritter erwartet wird: „[Es]besteht ja auch die Möglichkeit, dass die Rettungssanitäter mal alleine an einen Einsatz kommen, dass der Notarzt zu einem anderen Einsatz unterwegs und gar nicht verfügbar ist. Da können sie auch nicht sagen ’Wir machen nichts’ oder ’Wir machen nur Basismaßnahmen’. Das ist ja dann für die der größere Stress: Erstens ist eine Person weniger, zweitens ist die bestausgebildete Person nicht dabei. Das sind natürlich zusätzliche Stresskomponenten für das Team.“ [E3, Rettungsdienst] Als weiterer Stressfaktor nannten die Befragten Kommunikationsstörungen und -einschränkungen. Dies verdeutlichte ein SEK-Mitarbeiter am Beispiel eines Wohnungszugriffs: Je zwei Beamte bilden dabei einen Trupp und bekommen ein Zimmer zugewiesen, das sie zu sichern

Situative Handlungsbedingungen der untersuchten Organisationen

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haben. In jedem Zimmer wird eine Zielperson angetroffen. Bei einem der Trupps setzt sich die Person mit dem Messer zur Wehr. Dies führt zu einer handgreiflichen Überwältigung der Zielperson, die mit Schreien und hektischem Arbeiten einhergeht. Ist nun die Kommunikationsmöglichkeit über Funk gestört, hören die Kollegen in den anderen Zimmern nur die Geräusche, ohne zu wissen, welche Aktionen dort ablaufen. Käme über Funk die Meldung, dass der Täter sich mit einem Messer zur Wehr setzt, könnten die Kollegen die dortige Situation besser einschätzen, da sie den Grund für die außerplanmäßige Überwältigung kennen würden. Durch eine eingeschränkte oder gestörte Kommunikation entstehen während eines Einsatzes Informationsdefizite, die nicht immer ausgeglichen werden können und dazu führen, dass „ein koordiniertes Vorgehen nicht mehr möglich [ist]“ [C1, SEP]. Das erhöht den Stress, unter dem die Einsatzmitarbeiter agieren. Ferner wurden Umwelt- oder Witterungseinflüsse wie Lärm, Hitze, Kälte, Rauch, Regen oder das Fahren unter Inanspruchnahme von Sonderwegerechten110 als Ursachen für ein erhöhtes Stressempfinden angeführt. Die Beispiele aus der explorativen Erhebung verdeutlichen, dass Stress verschiedene Ursachen haben kann, sehr unterschiedlich wahrgenommen wird und vom individuellen Stressempfinden der Mitarbeiter abhängt. Den Auswirkungen von Stress wurden sowohl positive als auch negative Eigenschaften zugeschrieben: Beispielsweise wurde die Umweltdynamik von einigen Befragten bis zu einem gewissen Grad als etwas Positives und Motivierendes empfunden, die zu einer Leistungssteigerung beiträgt: „Das ist eigentlich das Wichtigste, dass ein Einsatz dynamisch ist, dass wir etwas bewegen. Und das darf dir keine Angst machen. Als guter Führer musst du in der Lage sein, mit der Dynamik des Einsatzes umzugehen.“ [B2, Feuerwehr] Die durch den Stress hervorgerufene Anspannung wirkt sich dahingehend positiv aus, dass nicht mehr viel geredet wird, sondern die einzelnen Organisationsmitglieder am Einsatzort aussteigen und handeln. „Da gibt es noch kurze Absprachen, wer was macht und dann ist die volle Konzentration da“ [B1, Feuerwehr]. „Dann ist man aufgeregt und die Handlungen laufen auch etwas schneller ab“ [A1, Rettungsdienst]. Extreme, seltene oder gefährliche Einsatzsituationen können dazu führen, dass die Mitarbeiter eine erhöhte Aufmerksamkeit an den Tag legen. „Da bist du mehr eine Einheit und schaust auf den anderen und er auf dich“ [X1, Feuerwehr]. Neben diesen positiven Wirkungen sprachen die Befragten auch negative Auswirkungen des Stresses auf das Einsatzhandeln an. Eine negative Wirkung haben Umwelt- und Situationseinflüsse, wenn sie den Mitarbeitern Angst oder Respekt einflößen. So wurde berichtet, dass sich  110

Wenn Sonderwegerechte im Straßenverkehr in Anspruch genommen werden, geschieht dies meist im Rahmen einer Signalfahrt, d. h. mit Blaulicht und Martinshorn.

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Kapitel 6

die positive Wirkung der Einsatzdynamik schnell in ein negatives Stressempfinden umkehren kann, sobald dem Mitarbeiter „der Einsatz aus den Händen gleitet“ [B2, Feuerwehr] und er das Gefühl bekommt, die Situation nicht mehr zu beherrschen. Zu den genannten negativen Wirkungen von Stress zählen z. B. eine eingeschränkte Wahrnehmungsfähigkeit, eine geänderte, knappere Kommunikation oder eine gesteigerte Hektik, die dazu führen, „dass ich dann Sachen vergesse und sich Fehler einschleichen oder dass ich gewisse Sachen nicht so mache, wie ich sie eigentlich haben wollte“ [A1, Rettungsdienst]. Der erhöhte Zeit- und Handlungsdruck wirkt sich somit auf die Qualität des Handelns aus. Dies gilt insbesondere in der Phase der Einsatzvorbereitung bei den Spezialeinheiten der Polizei: „Der zeitliche Druck, allgemein und insbesondere bei der Vorbereitung des Einsatzes, ist nicht gut. Denn, je schlechter ich einen Einsatz aus Zeitmangel vorbereiten kann, desto weniger kann man auf irgendwelche Eventualitäten gefasst sein.“ [C3, SEP] Die befragten Organisationsmitglieder sind sich der negativen Wirkungen von Stress bewusst und versuchen, ihnen aktiv entgegenzuwirken. In Situationen, in denen es durch Außenstehende „hektisch in einer Wohnung zugeht“ [A1, Rettungsdienst] oder „Ärzte unnötig Stress machen“ [A3, Rettungsdienst], versuchen die Mitarbeiter daher gezielt, eine gewisse Ruhe in die Situation zu bringen, indem sie bspw. die Angehörigen des Zimmers verweisen. Die Mitarbeiter der befragten Organisationen messen dem ruhigen Handeln eine wichtige Bedeutung für ein erfolgreiches Einsatzhandeln bei. Das Bewusstsein um die negativen Folgen von Stress führt bei den betrachteten Organisationen dazu, dass Ausbildungs- und Trainingsmaßnahmen auf die Verbesserung der individuellen Stressresistenz abzielen. Bei den Spezialeinheiten der Polizei sind Stresssituationen Gegenstand der Ausbildung: „Das heißt, man setzt die Leute massiv unter Zeitdruck. Man setzt sie unter Stress, welcher Art auch immer, z. B. Hitze, Kälte, Ermüdung usw. […], um sie dann in Situationen zu bringen, in denen sie möglichst richtig handeln oder entscheiden sollen“ [C3, SEP]. Durch diese Trainings haben die Mitarbeiter die Möglichkeit, Erfahrungen im Umgang mit stressauslösenden Situations- und Umwelteinflüssen zu erwerben sowie ihre eigenen diesbezüglichen Grenzen und Reaktionen kennenzulernen. Diese Erfahrung wird als wichtig angesehen. Sie dient dem individuellen Erfahrungsaufbau und „bringt auch immer Selbstsicherheit und somit Ruhe mit. Ruhe an der Einsatzstelle, und das wirkt sich natürlich auch auf die Mannschaft und die Umgebung aus“ [B3, Feuerwehr]. Um die stressauslösende Wirkung im Umgang mit seltenen oder unbekannten Situationen zu verringern, werden standardisierte oder grundlegende Vorgehensweisen trainiert. Diese dienen den Mitarbeitern in stressigen Situationen als Orientierungshilfe oder gewisses „Standardrepertoire“, das es ihnen wesentlich erleichtert, „in einer schwierigen Situation – wenn es richtig verworren wird – die Arbeit zu erledigen“ [B2, Feuerwehr].

Situative Handlungsbedingungen der untersuchten Organisationen

127

6.7 Hohe Eigengefahr Eine weitere Gemeinsamkeit von den betrachteten Organisationen ist die Eigengefahr, der die Mitarbeiter während der Einsätze ausgesetzt sind. „Wenn ich zu einer Schlägerei fahre, ist das häufig nicht ganz ungefährlich, denn die [Patienten] sind meistens alkoholisiert.“ [E2, Rettungsdienst] Ähnlich sieht dies ein befragter Feuerwehrmann. Er berichtete, dass für ihn bei Einsätzen mit ausströmendem Gas im Vordergrund steht, dass „so ein Einsatz dich das Leben kosten kann. Das hat nichts mehr mit einer Herausforderung zu tun, sondern das ist einfach nur sehr gefährlich“ [X1, Feuerwehr]. Trotz dieser Gefahren handeln die befragten Organisationsmitglieder in extremen Situationen und riskieren mitunter die eigene Gesundheit oder setzen ihr Leben aufs Spiel, um Menschenleben zu retten oder einen Einsatz erfolgreich zu beenden. Das Gefahrenbewusstsein fördert dabei ein vorausschauendes Handeln. Ähnlich dem Umgang mit Stress, versuchen die Mitarbeiter der befragten Einheiten potenzielle Gefahren zu minimieren: „Jede Wohnung hat einen Stromverteilerkasten und der ist immer im Eingangsbereich. An dem laufe ich im Regelfall immer vorbei, wenn ich die Wohnung betrete. Indem ich die Sicherung herausnehme, kann ich damit schon mal eine Gefahr beseitigen. Oder ich schiebe den Gashahn ab, oder….“ [B1, Feuerwehr] Rettungsdienstmitarbeiter berichteten, dass sie bei Einsätzen auf der Autobahn als Erstes die Unfallstelle absichern, um damit das eigene Gefahrenpotenzial für reduzieren. Merken sie, dass sie an ihre Leistungsgrenzen stoßen, z. B. bei einer gefährlichen Bergrettung, erkennen sie diese Grenzen an und fordern entsprechende Hilfe bei Feuerwehr oder Bergwacht nach.

6.8

Resümee: Situative Handlungsbedingungen der untersuchten Organisationen Zusammenfassend lässt sich bezüglich der situativen Handlungsbedingungen in den betrachteten Organisationen festhalten, dass der Einsatz die maßgebliche Form des Arbeitshandelns darstellt. Dabei lässt sich das Einsatzhandeln grob in die Phasen Einsatzvorbereitung, -durchführung und -nachbereitung einteilen. Darüber hinaus kennzeichnen sich die Einsatzsituationen durch: hohe Situationsdynamik, Zeitdruck sowie Intransparenz und suboptimale Informationsversorgung. Ferner zählen als Stress empfundene Umwelt- und Einsatzmerkmale und die hohe Eigengefahr zu den situativen Handlungsbedingungen, unter denen die Mitarbeiter von Rettungsdienst, Feuerwehr oder Spezialeinheiten der Polizei während des Einsatzes handeln müssen. Abbildung 16 stellt die empirisch identifizierten Handlungsbedingungen während des Einsatzes nochmal überblicksartig dar.

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Kapitel 6

Rettungsdienst, Feuerwehr, SEP im Einsatz Zeitdruck Suboptimale Informationen Dynamische Umweltbedingungen Intransparente Einsatzlagen

Stress / Hektik Entscheidungsdruck

Eigengefahr

Umweltsituation während des Einsatzes

Abbildung 16:

Situative Handlungsbedingungen der betrachteten Organisationen

Vergleicht man die hier identifizierten Erkenntnisse mit den in Kapitel 3.2 dargestellten Handlungsbedingungen von Organisationen in Hochrisikoumwelten, zeigen sich Parallelen und Gemeinsamkeiten. Die hier betrachteten Organisationen sind mit hochdynamischen Situationen konfrontiert, die sich ohne das eigene Zutun permanent verändern und bei denen es schwer fällt, den Überblick zu behalten. Aus dieser Umweltdynamik entsteht für die Mitarbeiter der betrachteten Organisationen ein Zeit- und Handlungsdruck; sie müssen mitunter weitreichende, zum Teil multiple Entscheidungen innerhalb kürzester Zeit treffen. Dabei stehen ihnen selten alle entscheidungs- und handlungsrelevanten Informationen zur Verfügung. Aufgrund der intransparenten Einsatzlagen sind Rettungsdienst-, Feuerwehr- oder SEK/MEKMitarbeiter ebenfalls vor die Aufgabe gestellt, die für sie relevanten Problemstellungen zu identifizieren, zu bewerten und zu priorisieren. Diese situativen Handlungsbedingungen in den betrachteten Organisationen decken sich mit den in der verlässlichkeitsorientierten Literatur identifizierten handlungsbeeinflussenden Kontextfaktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten. Eine weitere Gemeinsamkeit ist im hohen Gefahrenpotenzial hinsichtlich der Gesundheit und des Lebens von Menschen zu sehen. Fehlhandlungen von Mitarbeitern der betrachteten Organisationen wirken sich meist unmittelbar negativ auf das menschliche Wohlbefinden aus. Zusammenfassend ist damit festzuhalten, dass sich die hier betrachteten medizinischen Rettungsdienste, Feuerwehr- und Spezialeinheiten der Polizei in Hochrisikoumwelten bewegen. Bezogen auf die in Kapitel 5.2 formulierte Vermutung, lässt sich zusammenfassend festhalten, dass es sich bei den betrachteten Organisationen somit um Organisationen in Hochrisikoumwelten handelt, die über ein geringes technologisches Risiko verfügen und trotzdem in komplexen und kritischen Situationen zuverlässig agieren müssen.

Situative Handlungsbedingungen der untersuchten Organisationen

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Davon ausgehend stellt sich nun die Frage, durch welche Faktoren es den untersuchten Organisationen gelingt, trotz der eben skizzierten Handlungsbedingungen situationsadäquat zu handeln? Neben den ähnlichen Situationsmerkmalen weisen die betrachteten Organisationen weitere Gemeinsamkeiten auf, die für ihr zuverlässiges Handeln verantwortlich sind.

7

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

Neben den eben skizzierten situativen Handlungsbedingungen sollten in der explorativen Erhebung Erkenntnisse über Faktoren von medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehr- und Spezialeinheiten der Polizei gewonnen werden, die sich auf deren Verlässlichkeit auswirken.111 Mit Hilfe dieser Faktoren lassen sich die aus den theoretischen Betrachtungen abgeleiteten verlässlichkeitsbeeinflussender Faktoren ergänzen. Aus diesem Grund werden in folgendem Kapitel die vorgefundenen handlungsbeeinflussenden Gemeinsamkeiten der betrachteten Organisationen vorgestellt. Wie im vorangegangenen Kapitel dienen entsprechende Interviewpassagen dazu, den Erkenntnisprozess nachvollziehbar zu machen. Kapitel 7.10 fasst die ausführlich erläuterten, identifizierten Gemeinsamkeiten im Sinn einer Kurzfassung nochmals repetitiv zusammen, strukturiert diese und erweitert das in Teil B entwickelte Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren.

7.1

Ziele

7.1.1 „Unklare Ziele – trifft eher nicht zu“112 Mitarbeiter der betrachteten Organisationen weisen eine außerordentliche Zielklarheit auf. Sie wissen, welches Ziel sie gemeinsam im Einsatz erreichen wollen und wie jeder einzelne Mitarbeiter hierzu einen Beitrag leisten kann. Dabei folgen die Mitarbeiter einer übergeordneten, allgemeinen Zielstellung, die sich aus der Aufgabendefinition oder dem Zweck der jeweiligen Organisation ableitet. So geht es bei den Rettungsdiensten darum, verunfallten Patienten zu helfen. Feuerwehren sehen ihre allgemeine Zielstellung darin, Brände zu löschen, technische Hilfe zu leisten oder Menschenleben zu retten. Das allgemeine Ziel der PolizeiSpezialeinheiten besteht dagegen in Zugriffs- und Schutzmaßnahmen. Diese allgemeinen Zielstellungen sind von den Mitarbeitern verinnerlicht und wirken handlungsleitend. Obwohl das Gesamteinsatzziel aufgrund der allgemeinen Zielstellung häufig auf der Hand zu liegen scheint, werden zusätzlich konkrete, auf den jeweiligen Einsatz bezogene Zielstellungen explizit angesprochen und verdeutlicht. So findet z. B. bei den Spezialeinsatzkommandos der Polizei vor jedem Einsatz eine Besprechung statt.113 Bei zeitunkritischen, planbaren Einsätzen geschieht das am Stützpunkt/Wache, bei zeitkritischen Ad-hoc-Einsätzen während der Anfahrt im Mannschaftswagen oder direkt am Einsatzort. Diese Besprechung verdeutlicht für jeden am Einsatz Beteiligten das gemeinsame Einsatzziel. Daraus leiten sich die Teilzielstel-



111

112 113

Wie in Kapitel 3.3.1 erläutert, bezieht sich die Verlässlichkeit von Organisationen in Hochrisikoumwelten überwiegend auf ein möglichst fehlerfreies Handeln, so dass die verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren auch als handlungsbeeinflussende Faktoren bezeichnet werden können. E2, Rettungsdienst. Zu den Phasen eines Einsatzes vgl. Kapitel 6.1.

132

Kapitel 7

lungen, Aufgaben und jeweiligen gegenseitigen Erwartungen der Mitarbeiter während des Einsatzes ab. „Im Vorfeld weiß jeder, der in einen Einsatz mitgeht, was auf ihn zukommt. Auch die Rollen werden im Vorfeld verteilt. Es kennt jeder das Ziel, die Art, worum es geht, wie es geht und was seine Aufgabe ist. Und es kriegt auch jeder in der Besprechung mit, was der andere macht.“ [F3 SEP] Ein ähnliches Vorgehen findet sich bei den betrachteten Feuerwehreinheiten. Wegen der häufig zu Beginn vorherrschenden intransparenten Lagen, handeln die Einsatzgruppen nicht mehr sofort nach Eintreffen am Einsatzort. Vielmehr gehen sie in „Bereitstellung“ [B4, Feuerwehr] und warten mit ihrem operativen Einsatzbeginn, bis der Einsatzleiter die Lage erkundet, das konkrete Einsatzziel definiert und ihnen die entsprechenden Teilziele und Aufgaben im Rahmen einer kurzen Einsatzvorbesprechung erteilt hat. Die gesetzten Einsatzzielstellungen und -prioritäten sind jedoch nicht starr, sondern müssen während des Einsatzverlaufes häufig aufgrund der hohen Situationsdynamik präzisiert oder mit anderen Zielstellungen abgestimmt werden, wie folgendes Zitat verdeutlicht: „Ein Kleinlaster steht im Vollbrand neben einem Gebäude, einem Wohn- und Geschäftshaus. Was machst du als erstes, wenn du als Einsatzleiter oder Fahrzeugführer ankommst? Löschst du den PKW oder schützt du das Gebäude?“[B2, Feuerwehr] „Der Einsatzleiter muss mit dem jeweiligen Polizeiführer oder Sachbearbeiter vor Ort, der uns angefordert hat, eine gewisse Absprache treffen. Was ist das Ziel dieses Einsatzes? Zum Beispiel die Festnahme eines Täters.“ [C3, SEP] Dies bedeutet, dass die Einsatzzielstellung permanent überprüft und gegebenenfalls an die veränderten Umweltbedingungen angepasst werden muss. So berichtet einer der befragten Feuerwehrzugführer, dass bei einem länger zurückliegenden Großbrand in einer Reifenfabrik „irgendwann klar war, dass nur noch eine Schadensbegrenzung“ [B1, Feuerwehr] vorgenommen werden konnte und daher ein kompletter Rückzug angeordnet wurde, um weitere Gebäude vor einer Zerstörung zu retten. Für die Mitarbeiter der betrachteten Organisationen ist es für einen möglichst reibungslosen Einsatz unter Extrembedingungen wichtig, dass alle Beteiligten das Einsatzziel gleich wahrnehmen und interpretieren. Nur so lassen sich Missverständnisse während eines Einsatzes vermeiden: „Ja, wenn man die [Einsatzziele] nicht definiert, dann habe ich für mich eine Zielsetzung. Weiß aber nicht, ob die korreliert mit dem des Kollegen und wenn ich das nicht abspreche, dann arbeite ich blindlings etwas vor. D. h. ich mache die Trage mit der Vakuummatratze bereit und er sagt ‚Nein, ich will das Brett’“. [E1, Rettungsdienst]

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

133

So zahlreich die konkreten Einsatzzielstellungen sein können, so vielzählig sind auch die Wege, diese Ziele zu erreichen. Um eine möglichst deckungsgleiche Vorstellung über die Ziele und das Vorgehen bei den Einsatzmitarbeitern zu erreichen, versuchen SEK und MEK, die beteiligten Mitarbeiter in die Vorbereitung geplanter Einsätze, d. h. bei der Wahl von Einsatzzielstellung und Vorgehen, mit einzubeziehen: „Da gibt es dann sehr wohl konträre Diskussionen, die man aber sehr sachlich austauscht und im Endeffekt im Team entscheidet, was mit den gegebenen Informationen am zielführendsten ist. Man einigt sich im Vorfeld – im Bereich Einsatzbesprechung – auf eine gewisse Linie und dann gibt es aber auch kein links und kein rechts mehr.“ [C2, SEP] Nicht immer ist diese partizipative Einsatzgestaltung möglich. Dies gilt insbesondere bei Adhoc-Einsätzen oder während der operativen Einsatzdurchführung. Generell treffen Einsatzleiter ihre Entscheidungen auf Basis der vorhandenen Informationen. Während des Einsatzes sind die Führungskräfte damit beschäftigt, permanent handlungsrelevante Informationen zu sammeln, zu bewerten und auf Basis dieser vorliegenden Informationen zu entscheiden. Die Handlungssituation verändert sich ständig. Dies kann dazu führen, dass Ziele und Vorgehensweisen durch den Einsatzleiter an die veränderte Situation angepasst oder neu definiert werden müssen. Ist dies der Fall, wird das von den Einsatzmitarbeitern akzeptiert und es kommt während des Einsatzhandelns zu keinen Diskussionen über die neu angeordneten Handlungs- und Lösungsmaßnahmen. Auch dann nicht, wenn einzelne Mitarbeiter Ziele oder Zielprioritäten anders gesetzt hätten. Sie ordnen sich der neuen, gemeinsamen Einsatzzielstellung unter und führen diese aus, denn bei „einer Diskussion während des Einsatzes würde nichts herauskommen. Es gibt immer viele Möglichkeiten, das zu lösen und für eine muss er [Einsatzleiter] sich entscheiden und das muss man akzeptieren.“ [B5, Feuerwehr] „Im Einsatz gibt es normalerweise keine Diskussion. Wenn es brennt, dann gibt es keine Diskussion. Bei Verkehrsunfällen, wenn wir zum Beispiel mit dem Kran hinkommen und nur etwas aufstellen müssen, kann es schon sein, dass einer sagt: ‚Das sollten wir vielleicht lieber so machen.’ Der hat dann vielleicht mehr Erfahrung, ist geschickter oder hat das schon mal irgendwo gesehen. […] Aber in den sog. Stresseinsätzen, den schnell ablaufenden Einsätzen, gibt es keine Diskussion. Die bekommen ihren Befehl und müssen das dann machen. [B6, Feuerwehr] Ihre ausgeprägte Zielakzeptanz und -orientierung ermöglicht es den Organisationsmitgliedern, sehr flexibel auf veränderte Einsatzlagen zu reagieren und ihr Handeln an den sich wandelnden Zielstellungen auszurichten. So ändert bspw. die Feuerwehr bei einem Eigenunfall sofort ihre Zielstellung: „[Da] wird der gesamte Einsatz über den Haufen geschmissen. Da interessiert uns auch nicht mehr, ob das Gebäude jetzt noch zu halten ist oder nicht. Da geht der Selbstschutz für unsere Leute vor. Dann werden sofort alle in diesem Bereich tätigen Einsatzkräfte, die ich sinnvoll für eine Rettung einsetzen kann, nur noch mit der Rettung der eigenen Kräfte betraut.“ [B2, Feuerwehr]

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Kapitel 7

Erst wenn die eigenen Kollegen aus dem Gefahrenbereich gerettet wurden und in Sicherheit sind, wird die Einsatzstelle von den einsatzführenden Kräften „wieder neu aufgebaut“ [B2, Feuerwehr]. Neben diesen einsatzinternen Zieländerungen können sich Zielstellungen auch einsatzübergreifend ändern. So kann es beim MEK durchaus sein, dass ein disponierter Observationseinsatz abgebrochen wird, sobald ein dringlicher Ad-hoc-Einsatz, wie z. B. eine Geiselnahme, übernommen werden muss. Die Mitarbeiter können auch in diesem Fall ihr Handeln schnell an der neuen Zielstellung ausrichten. Die handlungsleitende Wirkung der Einsatzziele führt dazu, dass zwischenmenschliche Animositäten oder kleinere Unstimmigkeiten im Einsatz hinten angestellt werden und das Einsatzgeschehen nicht belasten. So berichteten einige Gesprächspartner: „Bei uns ist sich jeder bewusst, vor allem in Lagen, wo es des Öfteren um Leben oder Tod oder Gesundheit geht, dass man da keine Möglichkeit hat, auf Animositäten oder Sympathien und Antipathien Rücksicht zu nehmen. Ich muss mich auf den Anderen hundertprozentig verlassen können. Irgendwann stehe ich mit dem Rücken zur Gefahr und er kann mir helfen. Wenn dann noch irgendwelche zwischenmenschlichen Problemchen eine Rolle spielen würden, wäre das ja fatal. [C2, SEP] „Man kann mit einem rausfahren, von dem man genau weiß, dass der einem eigentlich am Ar*** vorbeigeht, aber wenn man mit dem rausfährt im Trupp, dann muss das funktionieren. Und dann funktioniert das komischerweise auch. Das ist das Einsatzgeschehen und jeder weiß, dass es jetzt darauf ankommt.“ [B4, Feuerwehr] Diese Zitate belegen, dass persönlich Interessen dem Einsatz untergeordnet werden, so „dass die Energien nicht in Konflikten verpuffen, sondern sich wirklich auf den Einsatz richten“ [E3, Rettungsdienst]. Innerhalb der untersuchten Organisationen bemisst sich der Erfolg eines Einsatzes an dessen Zielerreichung, d. h. daran, ob die gesetzten oder vereinbarten Ziele in einem annehmbaren Zeitrahmen ohne großartige Umschweife erreicht wurden: „Der Einsatz war dann erfolgreich, wenn der Auftrag erfüllt ist, es keine Verletzten gab, die Beschädigungen relativ gering sind. Also, wenn man das Einsatzziel erreicht hat.“ [C1, SEP] „Erfolgreich ist ein Einsatz dann, wenn entweder niemand zu Schaden gekommen ist oder du so viel Schaden wie möglich von demjenigen abwenden konntest. Wenn der Schaden gering geblieben ist. Und wenn du danach sagen kannst, dass unsere Einheit zielgerichtet, schnell und effektiv gearbeitet hat.“ [X1, Feuerwehr] Die Bewertung des Einsatzgeschehens wird durch eine schnelle und relativ unmittelbare Rückmeldung aus der Einsatzsituation möglich. So ist z. B. beim SEK der Erfolg „sehr direkt

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

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messbar. Ein Misserfolg ist im Umkehrschluss natürlich, wenn man z. B. versucht, jemanden festzunehmen, und der abhaut. Das ist der klassische Misserfolg“ [C3, SEP]. Der Erfolg eines Einsatzes bemisst sich jedoch nicht nur am Ergebnis, d. h. daran, ob das Einsatzziel erreicht wurde, sondern berücksichtigt dabei auch, wie das Einsatzziel erreicht wurde. „Für mich als Ausbildungsleiter und Instrukteur muss das Einsatzziel erreicht werden. […] Das ist ein Gesichtspunkt bei der Erfolgsbewertung. Was bei mir noch als zweiter wichtiger Punkt hinzukommt, ist die Art und Weise der Lagelösung. Das ist für mich ganz wichtig, denn um ein Einsatzziel zu erreichen, gibt es verschiedene Wege: Ich kann das Harakiri erreichen, ich kann es nur durch Zufall und Glück erreichen oder ich kann es durch professionelles Vorgehen erreichen. [C2, SEP] „Wichtig ist auch noch, wenn sich später herausstellt, dass meine Befehle zeitnah kamen und sehr nahe am Ideal lagen.“ [B1, Feuerwehr] Die Bewertung der Einsätze erfolgt dabei unter Beachtung der jeweiligen Handlungs- und Umweltsituationen. Die Mitarbeiter sind sich darüber bewusst, dass aufgrund der oben genannten situativen Handlungsbedingungen – objektiv gesehen – nicht immer ein idealtypisches Handeln, sondern vielmehr ein situationsadäquates Handeln möglich ist. Zusammenfassend lässt sich damit festhalten, dass die Mitarbeiter der betrachteten Organisationen eine Zielklarheit hinsichtlich der gemeinsam zu erreichenden Einsatzziele sowie ihrer jeweiligen Teilziele besitzen. Wichtig für ein erfolgreiches Einsatzhandeln sind zudem eine gemeinsame Zielwahrnehmung sowie eine Akzeptanz der Einsatzziele. Beides ermöglicht es den Mitarbeitern, ihr Handeln entsprechend auszurichten. Die ausgeprägte Zielakzeptanz und -orientierung befähigt sie zudem, schnell und flexibel auf geänderte Zielstellungen zu reagieren. Der Einsatzerfolg bestimmt sich durch die Zielerreichung und berücksichtigt neben dem Ergebnis auch die jeweiligen situativen Umstände, unter denen das Ziel erreicht wurde.

7.1.2 Gemeinsame Zielwahrnehmung und Zielorientierung Die hier durchgeführte Untersuchung zeigte, dass die Mitarbeiter der betrachteten Organisationen hinsichtlich der Ziele über eine klare Zielvorstellung und Zielausrichtung verfügen. Ziele sind dabei Aussagen über erwünschte und angestrebte Zustände und Ereignisse, die dem Verhalten eine Richtung und Intensität geben (vgl. Bea 2004:316; Schultheiss und Brunstein 1997:308). Ziele sollen das Verhalten von Menschen beeinflussen und deren Handeln auf einen erwünschten Zustand ausrichten. Damit Ziele diese Handlungsfunktion erfüllen können, und Organisationsmitglieder eine möglichst große Handlungsfähigkeit und -bereitschaft erreichen, gilt es verständliche operative Handlungsziele zu formulieren (vgl. Staehle 1999:441; Macharzina 2003:191). Daher leiten die meisten Führungskräfte der untersuchten Organisationen aus dem relativ global formulierten Einsatzziel explizit verschiedene operative Teilziele für die einzelnen Gruppen und Mitarbeiter ab, die wiederum hieraus ihre konkreten Ar-

136

Kapitel 7

beitsaufgaben ableiten. Wie in Kapitel 7.1.1 angedeutet, bestehen zwischen den Zielen Interdependenzrelationen unterschiedlichster Art, die es zu berücksichtigen gilt (Macharzina 2003:193; vgl. Staehle 1999:443; Bea 2004:317).114 Für einen möglichst reibungslosen Einsatz in komplexen und kritischen Situationen ist es notwendig, dass alle Mitglieder das Gesamteinsatzziel gleich wahrnehmen, interpretieren und ihr Handeln danach ausrichten (vgl. Stanley 2002:11). Da die konkreten einsatzbezogenen Ziele aufgrund der zu Beginn häufig herrschenden intransparenten Einsatzsituation selten präzise im Vorfeld bestimmt werden können, gilt es die Ziele vor Beginn des operativen Einsatzbeginns nochmals deutlich für alle Beteiligten zu explizieren. Dies dient den Mitarbeitern dazu, Fehlinterpretationen zu vermeiden und ein gemeinsames Handlungsziel des Einsatzes zu entwickeln. Zugleich leiten sich daraus die jeweiligen Teilziele, Aufgaben und Verantwortlichkeiten für die Einsatzmitarbeiter ab. Die empirischen Erhebungen bestätigen damit die eingangs formulierte Vermutung, dass es durch ein gemeinsames Verständnis hinsichtlich des Leistungsziels zu geringen Abstimmungsprozessen während des Einsatzhandelns kommt. Wie oben dargestellt, spielen Meinungsverschiedenheiten oder Animositäten unter den Mitarbeitern während eines Einsatzes keine Rolle. Vielmehr richten alle beteiligten Organisationsmitglieder ihre Energie und ihr Handeln auf das gemeinsame Einsatzziel aus. Eine Erklärungsmöglichkeit hierfür könnte darin liegen, dass persönliche und gemeinsame Zielstellungen weitgehend deckungsgleich sind. Senge (1996:285) bezeichnet dieses Phänomen als „Alignment“. Damit ist gemeint, dass sich Menschen mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Fertigkeiten in einer Gruppe zusammenschließen, die als Einheit funktioniert und eine gemeinsame Aufgabe, Zielstellung oder Vision verfolgt. Die Besonderheit liegt dabei in einer gleichen Ausrichtung der individuellen Ziele an der gemeinsamen (Gruppen-)Zielstellung. Alignment bedeutet jedoch nicht, dass die gemeinsame Zielstellung die individuelle Zielstellung dominiert. Vielmehr stellt sie eine Erweiterung der persönlichen Zielstellung dar (vgl. Senge 1996:286). Das Alignment ermöglicht ein abgestimmtes Handeln mit geringen Zielkonflikten. Die hier gewonnenen Erkenntnisse hinsichtlich der schnellen Rückmeldung über den jeweiligen Handlungserfolg verdeutlichen das zugrunde liegende handlungsbezogene Leistungsverständnis (vgl. Kapitel 2.1) der Organisationen: Es geht nicht nur alleine um das Handlungsergebnis. Wichtig für die Bewertung der (Einsatz-)Leistung ist auch, wie diese erreicht wurde. 

114

Ziele können sich überhaupt nicht beeinflussen (Zielneutralität). Sie können sich gegenseitig fördern (Zielkomplementarität). Ein Ziel kann nur unter Verringerung des Erfüllungsgrades eines anderen Ziels erreicht werden (Zielkonkurrenz). Oder ein Ziel lässt sich nur unter Verzicht eines anderen Ziels erreichen (Zielantinomie). Zielkonkurrenz und -antinomie können als Zielkonflikt zusammengefasst werden. Während Zielneutralität und -komplementarität keine Probleme im Einsatzhandeln darstellen, gilt es den auftretenden Zielkonflikten während des Einsatzes bspw. durch Zielpriorisierung oder sequenzielles Problemlösen zu begegnen (vgl. Staehle 1999:443; Bea 2004:317f.).

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

137

Wie später in Kapitel 7.9.2 näher erläutert wird, wirkt sich die Zielerreichung dabei auch motivierend auf die Mitarbeiter aus. In den untersuchten Organisationen ist ein hohes Maß an interner struktureller, funktionaler sowie zeitlicher Flexibilität eine wichtige Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit der Organisation. Dabei kann Flexibilität als die Fähigkeit verstanden werden, „das System durch improvisierte Methoden am Laufen zu halten“ (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:27). Die handlungsleitende Funktion der Ziele sowie das Alignment und die ausgeprägte Zielorientierung der Mitarbeiter ermöglicht es den Organisationen, sich schnell und flexibel an sich verändernde Zielstellungen anzupassen. Das Streben nach Flexibilität – Flexibilität aufzubauen und zu erhalten – ist ein zentrales Merkmal des in Kapitel 3.4 vorgestellten Konzeptes der gemeinsamen Achtsamkeit der High Reliability-Forschung. Somit zeigt sich, dass die hier vorgefundene ausgeprägte Zielklarheit und Zielorientierung der Mitarbeiter sich auf die organisationale Handlungsfähigkeit auswirkt. Ein wichtiger Punkt für die erfolgreiche Zielerreichung ist das Bewusstsein der Mitarbeiter, die gesetzten Einsatzziele nur gemeinsam im Team erreichen zu können. Dies ist der Grund, dass die betrachteten Organisationen hauptsächlich in Form von Teams arbeiten.

7.2

Teamhandeln

7.2.1 Das Team als „Trumpf-As“115 Die meisten Aufgaben und Einsätze absolvieren die betrachteten Organisationen durch Teamarbeit. Das Team stellt die zentrale Aktionseinheit der untersuchten Feuerwehr-, SEM/MEK- oder Rettungsdiensteinheiten dar. Alle befragten Mitarbeiter wissen, dass nur eine arbeitsteilige Zusammenarbeit unter Integration verschiedener Fähigkeiten und Kompetenzen ein erfolgreiches Einsatzhandeln ermöglicht: „Es geht nur in der Gruppe. Bei uns kann einer alleine nicht arbeiten. Das geht nur mal in einer bestimmten Situation, aber im Endeffekt ist es nur über Teamleistung zu erreichen. Einer alleine ist nichts.“ [F3, SEP] „Jeder weiß, dass das Team irgendwo das große Trumpf-As beim SEK ist.“ [C2, SEP] Die Mitarbeiter sind sich darüber bewusst, dass die zu erledigenden Aufgaben in einem Zusammenhang stehen und die Qualität der eigenen Aufgabenerledigung sich auf die Gesamtqualität des Einsatzes auswirkt. Jedes Teammitglied trägt, unabhängig von seiner eingenommenen Rolle, durch seine individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten zum Gelingen des Gesamteinsatzes bei. „Im Einsatz weiß der draußen, dass von seinem Tun und seinem Handeln es abhängig ist, ob der gesamte Einsatz funktioniert oder nicht. Da ist es egal, ob ich eine Leiter aufstelle oder eine Wasserversorgung von A nach B verlege,  115

C2, SEP.

138

Kapitel 7

oder ob ich im Innenangriff direkt am Feuer mit dem Strahlrohr den Brandherd bekämpfe. Natürlich ist die Arbeit am Strahlrohr der attraktivere Job – zumindest für die meisten von uns. Aber die anderen Arbeiten gehören genauso dazu und sind genauso wichtig. [B2, Feuerwehr] Dieses Zitat verdeutlicht, dass die Aufgaben zur erfolgreichen Bewältigung arbeitsteilig aufeinander abgestimmt sind und der Erfolg von jeder einzelnen Teilaufgabe beeinflusst wird. So verfügt z. B der Angriffstrupp der Feuerwehr nur über das benötigte Löschwasser, wenn der Wassertrupp seine Aufgabe zuverlässig erledigt. Gelingt es dem Wassertrupp nicht, die notwendige Wasserversorgung herzustellen oder den notwendigen Wasserdruck aufzubauen, geht dem Angriffstrupp das zum Löschen benötigte Wasser aus – das ist „im Prinzip lebensgefährlich“ [B2, Feuerwehr] für den Angriffstrupp. Für den Handlungserfolg der betrachteten Organisationen ist eine funktionierende Zusammenarbeit zwischen den beteiligten Einsatzmitarbeitern unerlässlich. Die Fähigkeit und Bereitschaft der Organisationsmitglieder, im Team zu arbeiten, ist von zentraler Bedeutung. Daher sind Teamfähigkeiten bei den Organisationsmitgliedern elementar. Begründet liegt dies in einem ausgeprägtem Streben nach Verlässlichkeit und Sicherheit: „Weil wir uns diese Sicherheit erhalten wollen, dass Verlass darauf ist. Egal wie die zwischenmenschliche Situation gerade ist, das Team muss funktionieren.“ [B2, Feuerwehr] Mitarbeiter, die hinsichtlich der sozialen Kompetenzen ein Defizit aufweisen, und z. B. ein ausgeprägtes Einzelgängertum an den Tag legen, sind ungeeignet für eine verlässliche Aufgabenerfüllung und werden als Sicherheitsrisiko gesehen. Sie sind daher für die jeweiligen Organisationen nicht tragbar. Besonders deutlich wurde dies bei den betrachteten Spezialeinheiten der Polizei: „Man wird nie alleine in einem Einsatz sein, sondern immer im Team. Daher ist der Einzelkämpfer eher schädlich, weil man ihn nicht unter Kontrolle hat. Denn wenn etwas in die falsche Richtung läuft oder anders als geplant, dann hat man so jemanden nicht mehr unter Kontrolle. Deswegen muss man immer im Team arbeiten können.“ [C3, SEP] Wegen der sehr hohen Bedeutung der Teamfähigkeit legen SEK und MEK bereits bei der Personalauswahl ein sehr großes Augenmerk auf diesen Aspekt. Die Fähigkeit, im Team zu arbeiten, wiegt mitunter mehr als die fachlichen Fähigkeiten oder Erfahrungen, die ein Kandidat mitbringt: „Es gibt aber auch Kandidaten, die sind 27, 28 Jahre und könnten ein unwahrscheinliches Wissen und Erfahrungen aus dem Polizeibereich sowie auch technische Erfahrungen mitbringen, passen aber von ihrer Persönlichkeit nicht hier ins MEK. Diese Leute werden dann auch abgelehnt. Da werden junge 24-, 25-jährige Beamte vorgezogen, die vielleicht nicht über die Erfahrungswerte verfügen, aber von ihrer Persönlichkeit besser ins Team passen.“ [F1, SEP]

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

139

SEK-/MEK-Bewerber, die im Rahmen des mehrstufigen Auswahlprozesses aus Gesprächen, psychologischen Tests und Rollenspielen eine zu geringe Teamfähigkeit erkennen lassen, werden nicht für die Spezialausbildung zugelassen. Die mangelnde Teamfähigkeit ist somit „ein K.O.-Kriterium. Das kann sogar so weit führen, dass der Kandidat abgelehnt wird“ [C2, SEP]. Aber auch Anwärter, die während der mehrmonatigen Spezialausbildung hinsichtlich der Teamfähigkeiten negativ auffallen, „mit falschen Karten“ [C2, SEP] spielen oder die geforderten sozialen Kompetenzen vermissen lassen, müssen die Ausbildung abbrechen und die Spezialeinheit verlassen. Im Extremfall trennt sich das SEK auch am letzten Ausbildungstag von einem Anwärter, wenn dieser hier negativ auffällt. Teams bilden die zentrale Aktionseinheit aller befragten Organisationen. Allerdings unterscheiden sie sich hinsichtlich der Teamzusammensetzung. Bei den betrachteten Rettungsdiensten bildet die täglich oder wöchentlich wechselnde RTW-Besatzung die Basisaktionseinheit. Diese wird, je nach Einsatzart, durch einen Notarzt ergänzt, der sich ins Team integriert. Die teaminterne Rollenteilung in Fahrer und Beifahrer obliegt der jeweiligen RTWBesatzung selbst und wird nicht vorgegeben. Bei der Berufsfeuerwehr werden die diensthabenden Mitarbeiter jeden Morgen durch den Wachabteilungsleiter auf die verschiedenen Fahrzeuge eingeteilt und bilden somit die jeweiligen Fahrzeugteams. Dabei wird darauf geachtet, dass die Mitarbeiter nicht immer die gleiche Position auf den Fahrzeugen einnehmen. Werden für manche Einsätze Spezialeinheiten, wie Wasserrettung oder Höhenrettung, benötigt, erfolgt die Zusammensetzung dieser Spezialteams ad hoc aus den hierfür speziell ausgebildeten Mitarbeitern. Die Teamzusammensetzung der Freiwilligen Feuerwehr erfolgt primär nach Zeit- und Qualifikationsgesichtspunkten. Je nachdem, wie die Mitglieder der Freiwilligen Feuerwehr auf der Wache eintreffen, verteilen sie sich gemäß ihrer Qualifikation auf die verschiedenen Positionen des Fahrzeuges. Dies bedeutet, dass der erste eintreffende Feuerwehrmann mit der Qualifikation eines Gruppenführers das Fahrzeug als verantwortlicher Fahrzeugführer „übernimmt“ [B2, Feuerwehr]. Nachfolgend eintreffende Mitarbeiter besetzen die anderen, untergeordneten Positionen des Fahrzeuges. Im Regelfall ergibt sich aus der Sitzposition im Fahrzeug, welche Rolle ein Feuerwehrmitarbeiter dabei einnimmt. Allerdings kann der verantwortliche Gruppenführer korrigierend in die Teamzusammensetzung eingreifen und Positionen umbesetzen. In dem befragten SEK stellen die zwölfköpfigen sog. Spezialeinsatzgruppen die Basisaktionseinheit dar, mit der die anstehenden Einsätze bearbeitet werden. Je nach Einsatzlage teilen sich die SEG-Mitarbeiter selbstorganisiert auf die verschiedenen Trupps auf, wobei der verantwortliche Einsatzgruppenführer hierauf korrigierend einwirken kann. Kommt es zu größeren Einsätzen, arbeiten mehrere Spezialeinsatzgruppen des SEK zusammen. „Die Gruppen sind stabil und fest. Sie werden nur in besonderen Einsatzanlässen durch andere Gruppen ergänzt. Ansonsten macht die Gruppe in der Regel diese Einsätze autark.“ [C1, SEP]

140

Kapitel 7

Diese einsatzbedingte Zusammenlegung mehrerer SEGs – auch mit Einheiten anderer SEKs/MEKs – zu einem großes Einsatzteam erfolgt aufgrund der einheitlichen Spezialausbildung ohne größere Probleme. Auch sind die Mitarbeiter der SEGs in der Lage, sich bei urlaubs- oder krankheitsbedingten Ausfällen gegenseitig zu vertreten und in eine bestehende Spezialeinsatzgruppe zu integrieren. Bei dem betrachteten mobilen Einsatzkommando findet hingegen generell eine flexible Teamzusammensetzung statt. Dies liegt in der Zielstellung und der originären Aufgabe der Einsätze – die Observation und Überwachung von Zielpersonen – begründet. Bei MEKEinsätzen bedarf es häufig spezifischer technischer Maßnahmen, wie Video- Peil- oder Abhörtechniken. Zudem erfordert eine unerkannte Beobachtung einen sehr hohen Personaleinsatz. Daher rekrutieren die MEK-Einsatzleiter, je nach Einsatzart, -umfang oder benötigten Spezialkenntnissen, ihr Team aus dem gesamten Mitarbeiterstamm. Die Größe des Einsatzteams variiert dabei zwischen vier bis fünfundzwanzig Personen. Um die Einsatzaufgaben erfüllen zu können, müssen die Mitarbeiter über die notwendigen fachlichen und nicht-fachlichen Fähigkeiten und Erfahrungen verfügen. Wie später noch erläutert wird, ist die individuelle Erfahrung von Mitarbeitern sehr wichtig für erfolgreiches Einsatzhandeln. „Also wenn in einem Einsatz zwei Leute einen Auftrag haben, dann werden das nicht die zwei Unerfahrenen sein, sondern es wird ein erfahrener und ein unerfahrener Kollege sein. Das versucht man auch bewusst so einzurichten, damit nicht zwei Personen aus Unerfahrenheit einen Fehler begehen, den ein Erfahrener aufgefangen hätte.“ [C3, SEP] „Man versucht deswegen im Einsatzfall die Trupps auch so zu mischen – ein erfahrener Feuerwehrmann und ein weniger erfahrener. Es kann so viel passieren. Denn die Einsatzstelle ist nicht statisch – das ist ein fortlaufender Prozess. Und das muss jemand einschätzen können, der über Erfahrung verfügt. Der das sieht und genau weiß, dass sich das so und so in nächster Zeit entwickeln könnte. Ein Neuer, der sieht das, nimmt es wahr und denkt, dass das immer so ist. Aber das ist nicht so. Er muss die Decke beobachten, besteht Einsturzgefahr, was habe ich für einen Boden, wie sieht es mit den Temperaturen aus – muss ich raus usw.“ [B4, Feuerwehr] Die Zitate verdeutlichen, dass die untersuchten Organisationen auf eine ausgewogene Teamzusammensetzung von erfahrenen und unerfahrenen Mitarbeitern achten Resümierend ist zu konstatieren, dass sich die Mitarbeiter der betrachteten Organisationen im Klaren darüber sind, die Einsatzaufgaben nur gemeinsam im Team bewältigen zu können. Daher stellt das Team die zentrale Aktionseinheit bei allen untersuchten Organisationen dar. Unter Berücksichtigung einer ausgewogenen Teamzusammensetzung werden mit dessen Hilfe alle anstehenden Einsatzaufgaben bewältigt. Mitarbeiter der betrachteten Organisationen

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

141

zeichnen sich durch eine hohe Teamkompetenz aus; d. h. durch die Bereitschaft und die Fähigkeit, im Team zusammenzuarbeiten.

7.2.2 Handeln im Team Die Betonung der Teamkomponente korrespondiert mit den Erkenntnissen der Human Factors/Crew Resource Management-Forschung (vgl. Kapitel 3.5). Dort wird u. a. die Fähigkeit, im Team zusammenzuarbeiten, als eine wichtige nicht-fachliche Fähigkeit gesehen und in den Betrachtungsmittelpunkt gestellt. Durch die CRM-Trainings sollen die in Kapitel 3.5.3 dargestellten sozialen Kooperations- Führungs- und Managementfähigkeiten auf- und ausgebaut werden, die sich dann positiv auf die organisationale Handlungsfähigkeit in komplexen und kritischen Situationen auswirkt. Auch die Forschungen zu High Reliability weisen Teams implizit eine hohe Bedeutung zu. Nur durch diese gelingt es Organisationen in Hochrisikoumwelten, ihre Achtsamkeit und Verlässlichkeit aufzubauen. Allerdings wurden Teams in den High Reliability-Forschungen bisher selten als expliziter Betrachtungsgegenstand gewählt (vgl. Wilson et al. 2005:303). Legt man die von Katzenbach und Smith (1993:70) formulierten fünf Aspekte eines Teams116 – komplementäre Fähigkeiten, eine gemeinsame Sache, gemeinsame Leistungsziele, gemeinsamer Arbeitsansatz, hohe Motivation, gegenseitige Verantwortung – an die hier betrachteten Einheiten an, so ist zu konstatieren, dass es sich in allen Fällen um „echte Teams“ handelt. In allen betrachteten Organisationen schließen sich für den Einsatz mehrere Personen, die über sich ergänzende und benötigte Einsatzkenntnisse und -fähigkeiten verfügen, zu einer Gruppe zusammen. Das Handeln der Personen richtet sich dabei an der gemeinsam geteilten und akzeptierten Einsatzzielstellung aus, die über die verschiedenen Teilziele und Aufgaben einen gemeinsamen, ergänzenden und arbeitsteiligen Arbeitsansatz vorgibt. Das durch eine hohe ethisch-moralische Verantwortung oder ein hohes öffentliches Interesse hervorgerufene gesteigerte Verlässlichkeitsstreben führt dazu, dass sich die Mitarbeiter der betreffenden Organisationen gemeinsam für ihr Handeln verantwortlich fühlen und dieses gemeinsam im Rahmen von Einsatznachbereitungen (vgl. Kapitel 7.4.1) reflektieren. Inwieweit es sich bei den hier betrachteten Teams um Hochleistungsteams im Sinn von Katzenbach und Smith handelt, kann nicht einheitlich beantwortet werden. Hiernach zeichnen sich Hochleistungsteams über die fünf oben genannten Aspekte hinaus durch einen „tiefen Sinn“ für die gemeinsame Sache, ambitionierte Leistungsziele sowie ein umfassendes Interesse für die persönliche Entwicklung und den Erfolg der Kollegen aus (vgl. Katzenbach und Smith 1993:127). Einige dieser Merkmale fanden sich bei manchen der befragten Organisationen. Ein Großteil der interviewten Mitarbeiter verfügt über eine tiefe innere Überzeugung für die Aufgabe und 

116

Vgl. Kapitel 2.2.4.

142

Kapitel 7

die Ziele der Organisation (vgl. Kapitel 7.9.1). Zudem zeigte sich, dass insbesondere bei den Spezialeinheiten der Polizei und dem schweizer Rettungsdienst ein gutes Arbeitsklima vorherrscht und die Kontakte der Kollegen sich auch auf den privaten Bereich erstrecken. „Es gibt viele Mitarbeiter, mit denen ich auch mal privat ein Bier trinken gehe, obwohl ich eigentlich eine Person bin, die Arbeit und Freizeit trennt. Aber es gibt doch sehr viele Kollegen und Kolleginnen, die ich als Menschen auch in der Freizeit gerne habe. Das kenne ich sonst nicht. In anderen Betrieben, wo ich vorher war, war das nicht so.“ [E3, Rettungsdienst] Es wurde berichtete, dass den SEK- und MEK- Mitarbeitern private Probleme und Schwierigkeiten der Kollegen bekannt sind. Ein Großteil der Mitarbeiter seien weit „mehr als Kollegen“ [F3, SEP]. Teilweise würden sich sogar die Familien kennen und ihre Freizeit oder den Urlaub gemeinsam gestalten. Es ist zu vermuten, dass sich private Kontakte positiv auf das Arbeitsklima und das Interesse für die persönliche Weiterentwicklung der Kollegen auswirken. Diese vorgefundenen Arbeitsverhältnisse erwecken den Eindruck von fast „familiären Verhältnissen“ [E2, Rettungsdienst], in denen die gegenseitige Kenntnis, das Vertrauen und die Offenheit sehr hoch sind und sich die Mitarbeiter füreinander einsetzen und verantwortlich fühlen. Somit liegt die Vermutung nahe, dass es sich bei den Teams des SEK/MEK und des schweizer Rettungsdienstes um Hochleistungsteams im Sinn von Katzenbach und Smith handelt. Bei den befragten Feuerwehren und dem deutschen Rettungsdienst traten diese Merkmale weniger deutlich zu Tage. In jedem Fall können alle betrachteten Teams als echte Teams aufgefasst werden, die sich durch einen offenen Umgang untereinander auszeichnen.

7.3

Offenheit

7.3.1 „Einsatzerfahrung […] preiszugeben, ist bei uns eine Lebensversicherung“117 Die hier durchgeführten Gesprächen ließen eine grundsätzliche Offenheit der Teammitglieder untereinander erkennen. Dies gilt insbesondere für den Umgang mit Erfahrungen und Fehlern. Trotz der prinzipiellen Offenheit zeigen sich beim Umgang mit Fehlern Unterschiede zwischen den Organisationen. Der betrachtete schweizer Rettungsdienst und die Spezialeinheiten der Polizei weisen dabei tendenziell eine größere Offenheit als der deutsche Rettungsdienst oder die untersuchten Feuerwehreinheiten auf. Dies verdeutlichen folgende Interviewpassagen: „Das spricht man hinterher offen an, wie es war. Wenn jetzt einer mal einen Bock baut, weil er sich observationstaktisch falsch verhalten hat, das spricht man auch offen an.“ [F3, SEP] 

117

F3, SEP.

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

143

„Aber vom Grund her, wenn Fehler gemacht werden, wenn ich unsere SEKBeamten betrachte, wenn wirklich ein Fehler gemacht wurde, dann wird er in der Regel auch eingesehen.“ [C2, SEP] „Aber wenn Fehler gemacht werden, dann werden die sehr ausführlich behandelt. Also der wird dokumentiert, da wird drüber gesprochen.“ [E2, Rettungsdienst] „Ich habe den Eindruck, dass eher selten richtig offen damit umgegangen wird. Unter den Kollegen, mit denen man ganz gut auskommt, haben wir das hier schon so geregelt, dass man auch drüber reden kann. Allerdings ist es ganz unterschiedlich, wie sie darauf reagieren.“ [D1, Rettungsdienst] „Klar kann die Mannschaft mich auch kritisieren. Wobei das bei der Feuerwehr immer ein schwieriges Thema ist.“ [B2, Feuerwehr] Begründet mag dieser Unterschied im jeweiligen Arbeitsklima liegen. Für einen offenen Umgang mit Fehlern scheinen Vertrauen und eine gegenseitige Kenntnis der Mitarbeiter eine wichtige Rolle zu spielen. Es ist zu vermuten, dass je besser sich die Kollegen kennen und vertrauen, die Bereitschaft steigt, offen über aufgetretene Fehler zu sprechen: „Also in der kleinen Runde wird auch ohne ein Blatt vor dem Mund kritisiert. Wenn einer Schei** gebaut hat, dann darf man das auch so nennen – in der kleinen Runde. Aber das wird in der großen Runde, vor der Kommandoführung, nicht gemacht.“ [C3, SEP] Die Offenheit des befragten deutschen Rettungsdiensts scheint deutlich eingeschränkter. So wurde berichtet, dass bei Einsatzbeginn häufig zu wenig oder mangelhafte Informationen seitens der Leitstelle an die RTW-Besatzung kommuniziert werden. Auf die Frage, ob den betreffenden Leitstellendisponenten eine Rückmeldung über die schlechte Qualität der Einsatzinformationen und die daraus entstehenden Problemen für die RTW-Besatzung gegeben wurde, kam es zu folgender Aussage: „Nein, bringt nichts! Nein, um Gottes Willen, das können Sie nicht machen. Das ist die [Rettungsorganisation XY]. Das können Sie nicht machen. Das kriegen sie postwendend irgendwann zurück. Das ist leider so. […] Die sitzen am längeren Hebel. Der Hebel ist lang. Und wenn die wollen, können die das einen auch spüren lassen.“ [A1, Rettungsdienst] Dies zeigt, dass hier formale, organisationsinterne Belange den offenen Umgang und die Verbesserung der Einsatzleistung beeinflussen. Die Art und Weise, wie Fehler und Missstände angesprochen werden, hängt stark von deren Art und Umfang sowie von der individuellen Kritikbereitschaft der Organisationsmitglieder ab. Bei kleineren Fehlern kann dies durchaus auf die humorvolle, beiläufige Art geschehen. Häufig erfolgt in den betrachteten Organisationen eine kritische, sachliche Reflexion von Fehlern und Zwischenfällen im Rahmen von sog. Einsatznachbereitungen (vgl. Kapitel 7.4.1). Da den Fehlern ein hohes Lernpotenzial zugeschrieben wird, werden Fehler und Zwischenfälle bewusst zum Gegenstand der Reflexion gemacht und mit klaren und deutlichen Worten an-

144

Kapitel 7

gesprochen. Die Offenheit im Umgang mit Einsatzerfahrungen und Fehlern ist besonders bei SEK und MEK ausgeprägt. Sie sind sich der gravierenden Gefahren und Risiken bewusst, die sich aus Fehlern und Zwischenfällen ergeben können. Für sie ist „Einsatzerfahrung – positive als auch negative – preiszugeben, […] eine Lebensversicherung“ [F3, SEP]. Daher „sollte es kein Kompetenzgerangel geben und kein Problem sein, einen Misserfolg zuzugeben, wenn man dadurch vielleicht beim nächsten Einsatz einen Schaden bei Kollegen abwendet. Da geht man offen miteinander um“ [F3, SEP]. Der offene, selbstkritische Umgang mit Erfahrungen und Fehlern begründet sich somit in dem Bewusstsein der eigenen Verletzbarkeit: „… bevor das nächste Mal von einem anderen MEK einer am Boden liegt und tot ist“ [F3, SEP]. Die Offenheit wird geschätzt und als ein Teil des Arbeitsklimas angesehen. Neben dem organisationsinternen Austausch und der Reflexion von Fehlern und Erfahrungen kommt es bei den Spezialeinheiten auch zu einem organisationsübergreifenden Erfahrungsaustausch mit anderen nationalen und internationalen Spezialeinheiten. Dabei wird ebenfalls sehr offen über positive und negative Einsatzerfahrungen der verschiedenen Einheiten diskutiert. Neben der retrospektiven Betrachtung aufgetretener Fehler muss jedoch auch während des Einsatzhandelns auf diese reagiert und mit ihnen umgegangen werden. Mitarbeiter der untersuchten Einheiten versuchen daher, während eines Einsatzes aufgetretene Fehler schnell zu kompensieren, um den Einsatzablauf oder die Kollegen nicht zu gefährden. Bei der Feuerwehr wird dabei sofort korrigierend durch die Vorgesetzten eingegriffen, auch wenn dies „nicht immer auf die pädagogisch richtige Weise“ [B1, Feuerwehr] geschieht und mitunter laute Worte fallen. Ähnlich verhalten sich die befragten Mitarbeiter des Rettungsdienstes während des Einsatzes. Sie versuchen, das Fehlverhalten bzw. die daraus resultierende Situation nicht vor dem Patienten zu besprechen und den Kollegen bloßzustellen, sondern greifen korrigierend ein und klären das Fehlverhalten nach dem Einsatz untereinander: „Ich würde das auf jeden Fall verbessern oder verändern, aber ohne den Hinweis warum, weshalb. Da können wir später darüber reden. Wenn die Sache vorbei ist, dann reden wir darüber.“ [A1, Rettungsdienst] Fehlverhalten und das Auftreten unerwarteter Zwischenfälle erfordern von den Organisationsmitgliedern ein flexibles Reagieren auf die daraus entstandene Situationsveränderung. Biegt z. B. ein SEK-Mitarbeiter bei der Erstürmung einer Wohnung nicht wie ausgemacht nach links ab, sondern wendet sich nach rechts – wenn einer „irgendwas macht, was nicht vorgesehen war, dann muss der nächste so flexibel sein, diesen Job automatisch mit zu übernehmen“ [C3, SEP]. Das bedeutet: „wenn der Erste eben falsch reagiert, dann müssen die anderen das auffangen“ [C3, SEP]. Zusammenfassend zeigt sich, dass die Offenheit im Umgang mit Erfahrung und Fehlern ein weiterer Faktor ist, der die Handlungsfähigkeit der betrachteten Organisationen beeinflusst. Der Grad der Offenheit kann zwar von Organisation zu Organisation variieren, trotzdem versuchen alle betrachteten Einheiten, aufgetretene Fehler möglichst frühzeitig zu korrigieren sowie anschließend anzusprechen und zu analysieren. Da Fehlern und unvorhergesehenen

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

145

Situationen ein hohes Lernpotenzial zugeschrieben wird, sind sie häufig Gegenstand der Einsatznachbereitungen. 7.3.2 Offenheit im Umgang mit Erfahrungen und Fehlern Mitglieder von Rettungsdienst, Feuerwehr oder SEK/MEK wissen, dass sie nicht unfehlbar sind und Einsätze sich im Vorfeld nicht bis ins letzte Detail planen lassen. Daher kann es während eines Einsatzes immer zu Fehlern und Fehlhandlungen kommen, die in der Folge den Einsatzverlauf stören oder zu Zwischenfällen führen können. Die betrachteten Organisationen nehmen damit eine systemische Sichtweise auf Fehler ein (vgl. Reason 1997:224ff.; 2000a:768). Sie beschäftigen sich intensiv mit Fehlern, Fehlhandlungen und Erfahrungen im Rahmen sog. Einsatznachbereitungen (vgl. folgendes Kapitel) und betreiben damit ein Fehlermanagement (vgl. Kapitel 3.3.2.3). Der offene Umgang mit Erfahrungen und Fehlern begründet sich in einer hohen ethisch-moralischen Verantwortung, die häufig mit dem Einsatzhandeln verbunden ist, sowie im Bewusstsein der eigenen Verletzbarkeit. Daher ist es für die Organisationsmitglieder elementar wichtig, Fehler und Erfahrungen offen zu kommunizieren und auszutauschen und nicht aus Scham oder Angst vor Sanktionen zu verschweigen. Fehler stellen für die befragten Mitarbeiter nichts Negatives dar, sondern werden überwiegend als Möglichkeit aufgefasst, die eigene Leistungsfähigkeit zu verbessern. „Wenn etwas ganz Krasses daneben gegangen ist, kommt doch auch immer so der Effekt: ’Uhh, das könnte mir auch passieren – gut, dass die das sagen!’“ [E1, Rettungsdienst]. Diese Fehlerauffassung korrespondiert mit den High Reliability- und Human Factors-Forschungen. Fehler werden als etwas Positives und damit als Lernauslöser und Lernmöglichkeit aufgefasst, mit deren Hilfe die eigene Leistungsfähigkeit verbessert werden kann (vgl. Marais et al. 2004:9; Reason 2000a:768; Weick et al. 1999:92). Der hier identifizierte – teilweise formalisierte – offene Umgang mit Fehlern stellt damit die in der High Reliability-Forschung bezeichnete Fähigkeit der Konzentration auf Fehler (vgl. Kapitel 3.4.2.2) dar und wirkt sich positiv auf die Handlungsfähigkeit einer Organisation aus. Durch die ausgeprägten Reflexionsprozesse ist der Umgang mit Fehlern eng mit dem erfahrungsbasierten Lernen im Rahmen der Einsatznachbereitungen verbunden.

7.4

Erfahrungsbasiertes Lernen

7.4.1 „Es ist wichtig, dass man sich bespricht“118 Im Rahmen der explorativen Erhebung stellte sich heraus, dass alle Mitarbeiter der betrachteten Organisationen die erlebten Einsätze im Rahmen sog. Einsatznachbereitungen (ENB) diskutieren und aufarbeiten:



118

E2, Rettungsdienst.

146

Kapitel 7

„In der Regel ist es so, dass auch diese beteiligten Kräfte, wenn sie zurückkommen, gemütlich zusammensitzen und dann natürlich auch einiges ansprechen und nachbereiten, bevor es auf die offizielle Schiene geht.“ [C2, SEP] Diese Nachbereitungen werden häufig auch als Manöverkritik oder Einsatzdebriefing bezeichnet. Die ENBs sind für die Mitarbeiter größtenteils ein wesentlicher Bestandteil des Einsatzes. Sie gehören zu „einem guten Abschluss“ [E3, Rettungsdienst] des Einsatzes dazu: „Es gibt kein Wegrennen nach dem Einsatz. Es bilden sich immer Gruppen und dann wird das Ganze noch mal diskutiert“ [B4, Feuerwehr]. Formelle und informelle Einsatznachbereitungen dienen dazu, „dass die Einsätze relativ umfassend reflektiert werden“ [C1, SEP]. Bezugnehmend auf die Phasen des Einsatzablaufes (vgl. Kapitel 6.1) sind die ENBs dem operativen Einsatzende nachgelagert und bilden die Phase der Einsatznachbereitung. In der Einsatznachbereitung sehen die Mitarbeiter eine Möglichkeit, gemeinsam das Einsatzhandeln kritisch zu reflektieren. Ziel ist es, sowohl aus den erlebten Einsätzen zu lernen, um so das künftige Handeln zu verbessern, als auch schwere und psychisch belastende Einsätze besser verarbeiten zu können. Grundsätzlich lassen sich zwei Arten der Einsatznachbereitung unterscheiden: die formelle und die informelle Einsatznachbereitung. Bei der formellen Einsatznachbereitung handelt es sich um eine institutionalisierte, organisierte und meist offizielle Nachbereitung der Einsätze, an der möglichst alle Organisationsmitglieder teilnehmen. Die formelle ENB findet entweder regelmäßig nach jedem Einsatz, oder bedarfsorientiert, dann meist nach besonderen Einsätzen, statt. Hinsichtlich der Durchführung der formellen Einsatznachbereitung zeigen sich Unterschiede bei den betrachteten Organisationen. Bei den befragten Polizeieinheiten kommt es zu einer regelmäßigen formellen ENB im Rahmen der täglichen Einsatzbesprechung: „Jeder Einsatz wird in einer morgendlichen Frühbesprechung resümiert. Zu Dienstbeginn, 7:15 Uhr, trifft sich das gesamte Kommando in unserem Lehrsaal und jeder Einsatz, der stattgefunden hat, wird […] mehr oder weniger selbstkritisch dargestellt.“ [C3, SEP] „Dies geschieht unmittelbar in der Einsatznachbereitung aber auch in der Frühbesprechung, bei der alle Kollegen zusammensitzen. Auch hier wird der Einsatz nochmals reflektiert und ich mache entsprechende Bemerkungen dazu.“ [F1, SEP] Auch bei dem betrachteten schweizer Rettungsdienst werden die absolvierten Einsätze regelmäßig während der morgendlichen Übergabe besprochen. In den anderen betrachteten Organisationen erfolgt die formelle ENB unregelmäßig sowie einsatzabhängig. Meist wird sie „dann gemacht, wenn ein großes Schadensereignis war“ [B2, Feuerwehr] oder wenn außergewöhnliche Einsätze oder Besonderheiten während eines Einsatzes aufgetreten sind: „Bei außergewöhnlichen Einsätzen ist das auch ein ‚must’. Da wird wirklich das Team zusammengenommen, hingesetzt und dann nachbesprochen“ [E3, Ret-

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

147

tungsdienst]. Der Formalisierungsgrad dieser einsatzbezogenen ENB richtet sich somit nach der Schwere des Einsatzes – je schwerer oder größer der Einsatzumfang, desto offizieller wird dieser nachbesprochen. Eine etwas andere Situation lässt sich bei dem untersuchten deutschen Rettungsdienst konstatieren. Hier wurde die Bedeutung von Reflexion und Feedback im Rahmen von Einsatznachbereitung erkannt und für wichtig erachtet. Allerdings berichteten die Befragten, dass es keine formellen ENB gibt. Lediglich die einzelnen RTW-Besatzungen führen – je nach Einsatzsituation und -schwere – eine informelle ENB durch. Dabei wird in den seltensten Fällen der beteiligte Notarzt miteinbezogen. In den Gesprächen wurde jedoch deutlich, dass sowohl von Seiten des befragten Notarztes als auch von den befragten Rettungsdienstmitarbeitern eine gemeinsame Nachbesprechung als sehr hilfreich angesehen wird. Nach ihrer Meinung sind das „Dinge, die […] wirklich viel zu kurz kommen“ [D1, Rettungsdienst]. Bei den untersuchten Feuerwehreinheiten zeigte sich, dass es aufgrund der Trennung in Freiwillige Feuerwehr und Berufsfeuerwehr häufig auch zu eine Trennung der formellen Einsatznachbereitung gemeinsamer „normaler“ Einsätze kommt: „Wenn die Freiwillige Feuerwehr mit beteiligt war, dann machen die das [ENB] für sich“ [B3, Feuerwehr]. Selten finden diese ENB „auf der übergreifenden Feuerwehrebene mit der Berufsfeuerwehr“ [B1, Feuerwehr] statt. Bei größeren und umfangreicheren Einsätzen beschränkt sich die formelle, einsatzabhängige Nachbereitung nicht nur auf Mitglieder der eigenen Organisation, sondern integriert auch Vertreter anderer am Einsatz beteiligter Rettungsorganisationen, wie z. B. Polizei, Feuerwehr, Bergwacht etc. „Bei der Nachbesprechung solcher gemeinsamer Einsätze können auch die Polizei, das DRK oder die Behörden mit am Tisch sitzen. Das machen wir immer bei richtig großen Einsätzen. Dann sind alle Beteiligten noch einmal beieinander und dann wird das nachbesprochen.“ [B3, Feuerwehr] Ähnlich den organisationsinternen ENB wird hier der gemeinsam absolvierte Einsatz reflektiert, um daraus Lehren für künftiges gemeinsames Handeln abzuleiten. „Am nächsten Tag wird der Feuerwehreinsatzleiter einfach noch mal herbestellt […] und es wird besprochen, was gut gelaufen ist, ob es gut gelaufen ist, ob es ein Problem gab und wenn es ein Problem gab, wie wir das lösen und in die Fortbildung einbauen.“ [E2, Rettungsdienst] Neben der formellen Einsatznachbereitung werden die Einsätze auch informell reflektiert. Die informelle Einsatznachbereitung kennzeichnet sich dadurch, dass sie nicht institutionalisiert ist und meist bedarfsorientiert zwischen den am Einsatz beteiligten Mitarbeitern stattfindet. Sie wird stark durch persönliche Beziehungen, Sympathien und dem Vertrauen der Mitarbeiter untereinander beeinflusst und hängt von der individuellen Bereitschaft der Mitarbeiter zur

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Kapitel 7

Reflexion ab. Aufgrund der informellen Ausrichtung können – je nach Anzahl der Beteiligten – die persönlichen Belange bei der Reflexion, wie z. B. Zeit, Örtlichkeiten, Dauer oder Umfang der Einsatznachbereitung berücksichtigt werden. Es wurde berichtet, dass diese informelle ENB bspw. auf der Rückfahrt von der Klinik oder beim Wiederauffüllen des Rettungswagens durchgeführt wird oder sich „abends beim Bier ein Gespräch ergibt, bei dem man dann sagt: ’Das und das ist beim letzten Einsatz falsch gelaufen’“ [C1, SEP]. Vertrauen und persönliche Beziehungen spielen eine wichtige Rolle bei der Reflexion von Einsätzen, wie folgende Aussage eines SEK-Mitarbeiters zeigt: „Bei der großen Runde hört man sich das Ganze an, zieht seine eigenen Schlüsse daraus und ist ruhig. Und in der kleinen Runde fängt man dann eher an, die ganze Sache zu diskutieren. [C3, SEP] Eine ähnliche Situation findet sich auch bei dem befragten schweizer Rettungsdienst. Hier werden die gemeinsam erlebten Einsätze zwischen Auszubildendem und den am Einsatz beteiligten Kollegen separat reflektiert. Das deutet darauf hin, dass trotz der grundsätzlichen Offenheit innerhalb der untersuchten Organisationen die Gesprächs- und Reflexionsbereitschaft in einem kleinen, vertrauteren Kreis mit den direkten Kollegen größer ist. Formelle und informelle ENB schließen sich jedoch nicht aus. Daher werden machen Einsätze sowohl offiziell als auch informell reflektiert. Gegenstand der formellen und informellen Einsatznachbereitung sind überwiegend Besonderheiten, die während des Einsatzes auftraten. Im Rahmen der formellen ENB werden „die Knackpunkte des Einsatzes angesprochen, die vielleicht nicht jeder mitbekommen hat. Es wird der Einsatz an sich nochmals reflektiert“ [F1, SEP]. Es zeigte sich, dass sich ein Großteil der Nachbereitung auf Fehler und Zwischenfälle bezieht. Seltener werden positive Aspekte in der formellen ENB hervorgehoben, obwohl der erfolgreiche Einsatz als etwas Positives angesehenen wird und ein „Anlass zur Anerkennung und Freude ist“ [F1, SEP]. Hauptsächlich sind damit Problemsituationen, unvorhergesehene Situationen, Fehlhandlungen oder Fehler Gegenstand der ENB. Diese werden im Rahmen der Einsatznachbereitung mit klaren, deutlichen Worten angesprochen sowie „offen und schonungslos diskutiert“ [C2, SEP]. Dieser offene Umgang wird als wichtig erachtet, denn „sonst brauche ich solche Gespräche nicht führen. Wenn jeder hinter den Berg hält und nichts sagen will, dann bringt das nichts“ [B4, Feuerwehr]. Während der ENB können mitunter heftige Diskussionen entstehen, bei denen es nach Aussagen eines befragten Feuerwehrmanns zu lautstarkem Meinungsaustausch kommen kann. Inwieweit sich die ENB dabei auf der angestrebten sachlichen Ebene bewegt, richtet sich nach der Kritikfähigkeit der einzelnen Mitarbeiter. Mitarbeiter bedürfen daher „einer Fähigkeit, mit solcher Kritik offen und klar umzugehen. Das ist wichtig, weil ich vielleicht mit dem Beamten, der mich gerade kritisiert hat, morgen wieder in einen Einsatz gehe und mit ihm dort klar kommen muss. D. h. es ist unheimlich wichtig, dass die Kollegen die Kritik nicht persönlich nehmen, sondern immer auf den Einsatz beziehen.“ [F1, SEP]

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Damit geht es in den ENB weniger um Schuldzuweisungen zwischen den Kollegen als vielmehr um sachliche Klärung der Problemsituationen und Fehler. Es wird darauf geachtet, dass die Beteiligten nicht im Streit auseinander gehen oder es zu einer Polarisierung der Gruppe kommt. Nach der Einsatznachbereitung „ist wieder alles im Lot“ [B4, Feuerwehr]. Die Einsatznachbereitung verfolgt unterschiedliche Ziele. Unter persönlichen Gesichtspunkten hilft insbesondere die informelle ENB den Organisationsmitgliedern, „sich vor dem Schlafengehen doch noch einiges von der Seele zu reden“ [C2, SEP] und damit schwere und psychisch belastende Einsätze besser zu verarbeiten. Von der befragten Feuerwehr wurde in dem Zusammenhang von der Möglichkeit berichtet, „dass wir einen Notfallseelsorger aus unseren Reihen um Unterstützung bitten können“ [B3, Feuerwehr]. Aus fachlicher Perspektive zielen die ENB darauf ab, die absolvierten Einsätze aufzuarbeiten und zu analysieren. Die gemeinsame Einsatznachbereitung „trägt natürlich zu einem Erfahrungsaustausch bei“ [B4, Feuerwehr] und ermöglicht es, das Einsatzgeschehen aus verschiedenen Perspektiven der Beteiligten zu beleuchten und zu erläutern. Entscheidungen und Handlungen lassen sich dadurch transparent und für andere nachvollziehbar machen. Insbesondere zielen die ENB darauf ab, Situationen, Probleme oder Fehler zu analysieren, um daraus Lehren für das künftige Handeln zu ziehen, d. h., um aus Fehlern zu lernen. Für die Mitarbeiter ist es „wichtig, dass man sich bespricht. Ob wir es gut gemacht haben, falsch gemacht haben, wie wir es das nächste Mal machen würden, was die Fehler waren – Lernen aus der Situation für uns alle drei“ [E2, Rettungsdienst]. In der mit der Einsatznachbereitung verbundenen Reflexion wird ein sehr hohes Lernpotenzial gesehen, da aus jedem Einsatz gelernt werden kann und „jeder Einsatz [...] mehr als das Doppelte an Lerneindrücken [bringt] als eine noch so gute Übung“ [B1, Feuerwehr]. Wegen des hohen Lernpotenzials sind die Nachbereitungen und die damit verbundene Reflexion des Handelns auch ein zentraler Bestandteil von Übungen und Trainings im Rahmen der Aus- und Weiterbildung. Bei dem befragten schweizer Rettungsdienst müssen die Auszubildenden daher alle Notfalleinsätze mit den beteiligten Kollegen besprechen und schriftlich reflektieren: Wie war die Ausgangssituation, wie ist der Einsatz tatsächlich gelaufen, wie hätte der optimale Ablauf aussehen müssen, welche positiven und negativen Sachverhalte haben den Einsatz gekennzeichnet. Generell lässt sich für die betrachteten Organisationen feststellen, dass die praxisorientierte Grundaus- und Weiterbildung sehr stark auf Reflexionsprozessen im Rahmen von Nachbereitungen basiert. Je nach Übungssituation und Lernziel findet eine Reflexion bereits während der Übung statt, sobald ein Fehlverhalten oder Fehler der Lernenden auftritt. Beispielsweise machen die Ausbilder der befragten Feuerwehr im Rahmen der Grundausbildung „an der entsprechenden Stelle einen „Break“, nehmen die Gruppe raus und besprechen das sofort. Und dann funktioniert es meistens – bis zum nächsten Fehler“ [B4, Feuerwehr].

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Kapitel 7

Von den Spezialeinheiten der Polizei wurde berichtet, dass die Übungen im Rahmen der mehrtägigen Abschlussprüfung des SEK-/MEK-Speziallehrgangs so aufgebaut sind, „dass sich aneinander gereihte Knackpunkte ergeben“ [F3, SEP]. Ähnlich den realen Einsätzen findet in diesem Fall die Reflexion des Handelns dem Übungseinsatz nachgelagert in der Nachbereitung statt: „Dann ist abends eine richtige Nachbesprechung mit Schiedsrichtern und richtiger harter Kritik. Da wird einem nicht über den Kopf gestrichen“ [F3, SEP]. Häufig kommt es bei den betrachteten Organisationen im Rahmen von Übungen und Trainings dazu, dass die Teilnehmer nach erfolgter Übung zusammenstehen und den Übungsablauf gemeinsam reflektieren. Hierbei werden auch Fragen zu bestimmten Vorgehensweisen oder Handlungsalternativen diskutiert. In diesem Zusammenhang wurde es von den Gesprächspartnern als wichtig erachtet, dass die Reflexion möglichst zeitnah und am Handlungsort erfolgt, „weil sich hier die Situation noch so darstellt, wie sie war und man noch einiges nachvollziehen kann“ [B1, Feuerwehr]. Die zeitliche und örtliche Nähe zum (Einsatz)/Übungsort führt dazu, dass das Handeln nicht gänzlich aus dem Gedächtnis reflektiert werden muss. Es besteht die Möglichkeit, Handlungen und Situationen nachzustellen und damit besser verdeutlichen zu können: „Vor Ort kann ich es ihm [Mitarbeiter] aufzeigen, er nickt kurz und dann ist das Thema erledigt. Da haben wir die besten Übungseffekte. Alles andere – an der Tafel oder so – das ist eine endlose Diskussion“ [C2, SEP]. Zusammenfassend lassen die empirischen Befunde damit ausgeprägte Reflexions- und Feedbackprozesse bei allen untersuchten Organisationen erkennen. Die Mitarbeiter reflektieren alle erlebten Einsätze entweder im Rahmen formeller und/oder informeller Einsatznachbereitungen. Dabei stehen insbesondere Fehler und unvorhergesehene Situationen im Betrachtungsmittelpunkt. Primäres Ziel der Einsatznachbereitungen ist es, Situationen, Probleme und Fehler gemeinsam zu analysieren, um so aus ihnen für künftiges Handeln zu lernen. Den Einsatznachbereitungen und den damit verbundenen Reflexionen wird ein hohes Lernpotenzial zugeschrieben, weswegen sie auch einen zentralen Bestandteil der Aus- und Weiterbildung darstellen.

7.4.2 Ausgeprägte Reflexionsprozesse im Rahmen der Einsatznachbereitungen Mitarbeiter der betrachteten Organisationen sehen in den formellen und informellen Einsatznachbereitungen ein hohes Lernpotenzial und ein wichtiges Instrument im Rahmen des Fehlermanagements. Diese Beobachtungen korrespondieren mit Erkenntnissen der High Reliability- und der Human Factors/Crew Resource Management-Forschungen, wonach Teams ihre positiven und negativen Aspekte des Handelns kritisch betrachten, um daraus Verbesserungspotenzial für künftiges Handeln zu identifizieren (vgl. Wilson et al. 2005:306). Diese kritische Reflexion und das Lernen aus Fehlern ist einerseits Bestandteil des realen Arbeitshandelns (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:71). Andererseits bildet die Reflexion des Handelns auch ei-

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

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nen zentralen Bestandteil im Rahmen der CRM-Trainings (vgl. Kapitel 3.5.5). Die bewusste retrospektive Reflexion119 des eigenen Handelns führt bei den Beteiligten zum Erwerb von einsatzbezogenem Wissen und Erfahrung. Es kann daher auch als Erfahrungslernen oder reflexives Lernen bezeichnet werden (vgl. Dehnbostel 2001:73; Bauer und Munz 2004:72). Damit bestätigt sich die – der empirischen Erhebung – zugrunde gelegte Vermutung, dass sich die untersuchten Organisationen durch ausgeprägte erfahrungsbasierte Lernprozesse auszeichnen. Aufgrund der in Kapitel 3.6.2 dargelegten hohen Bedeutung des Lernens für die Verlässlichkeit von Organisationen und die diesbezüglich bestehenden Erklärungsdefizites der verlässlichkeitsorientierten Forschungen wird die Lernthematik ausführlich im Rahmen der zweiten Zielstellung in Kapitel 8 behandelt. Ziel der identifizierten Einsatznachbereitungen ist es, die Stärken und Schwächen des Einsatzhandelns zu identifizieren, um daraus für künftiges Handeln zu lernen. Die in den untersuchten Organisationen durchgeführten Einsatznachbereitungen zeigen dabei deutliche Parallelen zur Methode des After Action Reviews (AAR). Diese in den 1970er Jahren in der US-Armee entwickelte Methode120 ist ein strukturierter Reviewprozess eines bestimmten Ereignisses oder Prozesses, der darauf abzielt, dessen Stärken und Schwächen zu identifizieren und daraus zu lernen (vgl. Busch und von der Oelsnitz 2006:54).121 Beim After Action Review geht es weniger um die alleinige retrospektive Betrachtung des Ereignisses, sondern vielmehr um die Realisierung gemeinsam getragener Ziele durch die Auswertung von bereits durchlaufenen Erfahrungen während eines Prozesses. Durch den AAR werden gemeinsame Lernprozesse angestoßen. Diese helfen Stärken zu erhalten und Schwächen zu verbessern. Der AAR „is a way for a team to reflect on and learn while it is performing“ (Baird et al. 1999:20). Soll eine dauerhafte Verbesserung der Lernfähigkeit erzielt werden, ist die Methode des AAR in den Arbeitsprozess zu integrieren. Durch eine kontinuierliche Anwendung der Methode lernen die Mitarbeiter, kritische Ereignisse wahrzunehmen, diese zu konkretisieren und strukturiert zu reflektieren. Das übergeordnete Ziel des AAR liegt damit in der Schaffung einer (Lern-)Kultur, in welcher die Mitarbeiter permanent zur Reflexion von Ereignissen und zu einem kontinuierlichen Lernen im Prozess der Arbeit angeregt werden. Verbunden mit vorab definierten Lernzielen, -inhalten und -abläufen lässt sich die Methode des After Action Reviews darüber hinaus gut für Trainingsund Ausbildungszwecke verwenden. Anhand des Formalisierungsgrades lassen sich drei verschiedene Typen von After Action Reviews unterscheiden: der formale, der informelle sowie der persönliche AAR (vgl. z. B. Busch und von der Oelsnitz 2006:57f.; Gurteen 2000):  119

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Schön bezeichnet diese Reflexion über die Handlung als „reflection on action“ (vgl. Schön 2002:276ff.). Zur historischen Entwicklung des After Action Review siehe z. B. Darling und Perry (2004). Bei den im Rahmen des AAR geführten Diskussionen geht es weniger um Schuldzuweisungen oder Bloßstellung von Kollegen als vielmehr darum, ein gemeinsames Problem- und Wahrnehmungsverständnis zu schaffen sowie sich auf Maßnahmen zur Realisierung der gemeinsamen Ziel zu einigen (vgl. Baird et al. 1999:25).

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Kapitel 7

1. Formale AARs122 werden im Rahmen von größeren Ereignissen (bspw. Abschluss eines Projektes, größeren Trainingskonzepten) angewandt. Sie sind sehr ressourcenintensiv und bedürfen einer aufwendigen Planung, einer präzisen Koordination und Durchführung sowie einer intensiven Nachbearbeitung. Die Durchführung formaler AARs bietet sich bei Ereignissen an, die eine größere Anzahl von Mitarbeitern unterschiedlicher Hierarchiestufen umfasst. 2. Informelle AAR können ohne größeren Planungsaufwand, ad hoc und bedarfsorientiert durchgeführt werden. Kennzeichnend für diese Form der AAR sind die überschaubare Anzahl der beteiligten Personen sowie die meist mittleren bis kleineren auslösenden Ereignisse. Wegen des informellen Charakters können die AARs von jedem Beteiligten initiiert und ohne große Hilfsmittel durchgeführt werden. 3. Der persönliche AAR wird in der Regel von einer einzelnen Person alleine durchgeführt und kann durch einen Coach oder Mentor unterstützt werden. Diese Form des AAR erfolgt meist bei kleineren Ereignissen und dauert nur wenige Minuten. Wie oben dargestellt, lassen sich vor allem formelle und informelle Formen des AAR in den untersuchten Organisationen wiederfinden. Offizielle, formelle Einsatznachbereitungen finden einsatzabhängig nach großen und umfangeichen Schadensereignissen statt und können Vertreter unterschiedlicher Organisationen einschließen. Bei kleineren Ereignissen reflektieren die am Einsatz beteiligten Mitarbeiter im Rahmen informeller ENB das Einsatzhandeln. Darüber hinaus zeigte sich, dass ein strukturierter Reflexionsprozess auch im Rahmen der Aus- und Weiterbildung angewendet wird. Die gemeinsamen Reflexionen im Rahmen der Einsatznachbereitungen dienen nicht allein dazu, fachliches Wissen und Erfahrungen zu erwerben. Die beteiligten Mitarbeiter lernen durch die Reflexion und die gemeinsamen Diskussionen, die Qualität des eigenen Handelns besser einzuschätzen. Gleichzeitig entwickeln sie ein gemeinsames Verständnis, wie Einsätze ablaufen sollten und welche potenziellen Gefahren bestehen. Zudem bauen sie Kenntnis über die Fähigkeiten, das Wissen und die Erfahrungen der anderen Kollegen auf. Dieses Wissen über das Wissen und die Kompetenzen der Kollegen wird als „transaktives Wissen“ bezeichnet (vgl. von der Oelsnitz und Busch 2007). Es ist das wechselseitige Bewusstsein über die individuellen Kenntnisse und Fähigkeiten der Mitarbeiter untereinander. Der Begriff des transaktiven Wissens entstammt dem Konzept des Transaktive Memory Systems (TMS).123  122 123

Können auch als formelle AARs bezeichnet werden. Das transactive memory (Gruppengedächtnis) setzt sich aus der der Menge der individuellen Gedächtnissysteme sowie der Kommunikation zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern zusammen (vgl. Lehner 2000:109f.). „Transactive Memory is the shared division of cognitive labour with respect to the encoding, storage, retrieval and communication of information from different knowledge domains, which often develops in close relationships.“ (Wenger zitiert in Brandon und Hollingshead 2004:633). Zu den Elementen eines TMS zählen: individuelles Gedächtnis eines Gruppenmitglieds (hier wird neben dem individuellen Wissen

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Zentrale Annahme des TMS-Ansatzes ist, dass Mitglieder einer Gruppe auf Grundlage einer implizit geteilten gemeinsamen Wahrnehmung Informationen verteilen sowie Verantwortlichkeiten für bestimmte Themen übernehmen, in denen sie als Experten gelten (vgl. Brandon und Hollingshead 2004:633). Das organisationale Wissen ist also auf verschiedene Experten im Unternehmen verteilt. Es kann daher nicht direkt, sondern nur mit zeitlicher Verzögerung (transaktiv) über den Austausch von Informationen mit anderen Kollegen erschlossen werden.124 Der TMS-Ansatz betont die Wichtigkeit der Interaktion und Kommunikation der Gruppenmitglieder bei der Gestaltung des organisationalen Gedächtnisses (vgl. Lehner 2000:104). Der Aufbau von transaktivem Wissen ergibt sich aus der Zusammenarbeit (oder der Aussicht darauf) und läuft größtenteils unreflektiert und wenig systematisch ab (vgl. von der Oelsnitz und Busch 2007). Insbesondere durch die konkrete Zusammenarbeit lernen sich die Mitarbeiter gegenseitig kennen, bauen transaktives Wissen auf und entwickeln eine gemeinsame Verständigungsbasis (common ground) sowie eine gemeinsame Situationswahrnehmung. Diese fördert die Zusammenarbeit, weil das eigene Verhalten auf das des Kollegen abgestimmt werden kann und gleichzeitig dessen Verhalten vorhersehbar wird (vgl. ebd.). Besonders für die Mitarbeiter von medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehren und Spezialeinheiten der Polizei besitzt das transaktive Wissen eine hohe Relevanz während des Einsatzhandelns: Je ausgeprägter dieses Wissen ist, desto besser können sie das Handeln der Kollegen einschätzen, antizipieren und miteinander abstimmen. Transaktives Wissen verringert somit den Koordinationsbedarf und wirkt sich förderlich auf die Leistungsfähigkeit aus. Allerdings bedarf es hierfür einer hohen gemeinsamen Auffassung darüber, wer als Experte für bestimmte Bereiche anzusehen ist (vgl. ebd.). Andernfalls kann sich der Koordinationsaufwand erhöhen, da jedes Teammitglied diejenige Person fragen würde, die es persönlich als Experten für einen Bereich ansieht. Neben den hier erläuterten Lern- und Reflexionsprozessen im Rahmen der Einsatznachbereitungen wirken sich auch strukturelle Aspekte förderlich auf die Handlungs- und Leistungsfähigkeit der betrachteten Organisationen aus. 

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auch Metawissen gespeichert, bspw. Zugriffspfade auf externe Gedächtnisse); externes Gedächtnis (hier werden Informationen außerhalb des individuellen Gedächtnisses gespeichert; bspw. Bücher, Richtlinien, CD-ROM) sowie das transaktive Gedächtnis (vgl. Lehner 2000:109f.). Dabei dienen die Individuen als externes Gedächtnis. Durch die wechselseitige Speicherung von Wissen entsteht ein abhängiges System der Wissensspeicherung, welches größer und komplexer als jedes einzelne individuelle Gedächtnis ist. Kommunikation stellt beim Konzept des TMS eine wichtige Komponente für das „Erinnern“ dar. Nur durch Kommunikation ist es möglich, gemeinsam durch das kollektive Gedächtnis zu „wandern“ und gemeinsam Informationen zusammenzutragen. Erst durch Kommunikation und die individuellen Gedächtnisse entsteht ein TMS. Im Zeitverlauf lernen die Gruppenmitglieder die Wissensfachgebiete der anderen kennen und Wissensexperten zu identifizieren. Durch das TMS kommt es zu einer Spezialisierung von Wissen, einer Erweiterung der persönlichen Erfahrung, einem Zugang zu neuen Informationen oder einer Schaffung neuen Wissens (vgl. Lehner 2000:111). Ein Beispiel für transaktives Wissen ist, wenn der Mann weiß, dass seine Frau die Geburtstage von Bekannten kennt, ohne jedoch selbst die genauen Geburtsdaten zu kennen. Er weiß also, bei wem bzw. wo spezifisches Wissen vorhanden ist, ohne dieses selbst genau zu kennen.

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7.5

Kapitel 7

Struktur und Führung

7.5.1 „Die Einsatzhierarchie ist eine ganz andere als die administrative“125 Im Rahmen der Untersuchung zeigte sich ferner, dass die betrachteten Organisationen typischerweise über zwei Organisationsstrukturen verfügen. Zum einen über die formale Aufbauorganisation, die das Handeln in der einsatzfreien Zeit bestimmt. Zum anderen über eine Einsatzorganisation, die das Handeln im Einsatzfall bestimmt und sehr flexibel an die jeweilige Situation angepasst wird. Die Einsatzstruktur ergibt sich aus der jeweiligen Umweltsituation, der Einsatzart und dem Einsatzumfang. Sie kann sich gänzlich von der formalen Struktur der Aufbauorganisation unterscheiden: „Intern ist unser Kommandoführer natürlich der Chef. Das spielt aber für den Einsatz an sich keine Rolle. Die Einsatzgruppierung, die draußen vor Ort ist, ist in diesem Moment eine autarke losgelöste Einheit.“ [F3, SEP] „Die Einsatzhierarchie ist eine ganz andere als die administrative. Es kann sein, dass ich selbst in den Einsatz gehe – als Einsatzmitarbeiter – und mich den einsatzbezogenen Anordnungen des Einsatzleiters unterwerfe.“ [F1, SEP] „Es ist dann so, dass die formale Stellung des Einzelnen im Einsatzfall nichts mehr zu sagen hat.“ [B1, Feuerwehr] In der Einsatzorganisation spielen formale Hierarchien und Positionen sowie die damit verbundenen Macht- und Entscheidungskompetenzen eine untergeordnete Rolle. Wie obige Zitate verdeutlichen, übernehmen formal vorgesetzte Mitarbeiter im Einsatz nicht unbedingt eine Führungsrolle. Vielmehr können sie sich einem formal untergebenen Mitarbeiter, der aufgrund der Einsatzstrukturen die Funktion eines Einsatzleiters ausübt, unterordnen: Es kommt zu einer einsatzbezogenen Unterordnung. So ist es z. B. bei dem schweizer Rettungsdienst üblich, dass ein einsatzleitender Notarzt mit einem Rettungssanitäter zusammenarbeitet, der in der formalen Organisation Abteilungsleiter und damit Vorgesetzter des Notarztes ist. „Interessant ist auch, dass auf dem Rettungswagen ein Rettungssanitäter sein kann, der mein Abteilungsleiter ist. Das ist eigentlich mein Chef. Der ist mir allerdings im Einsatz medizinisch unterstellt.“ [E2, Rettungsdienst] Gleichwohl sind auch die Notärzte in der Lage, sich einsatzbezogen unterzuordnen, wenn sie nicht in ihrer Rolle als Notarzt,126 sondern als Rettungssanitäter auf dem Rettungswagen fahren. Eine höhere Qualifikation bedeutet bei ihnen nicht automatisch, dass auch die Führungsposition eingenommen wird. Auch von den Spezialeinheiten der Polizei wurde berichtet: „Es ist regelmäßig so, dass Leute die hierarchisch höher stehen, dem Einsatzleiter im Einsatz untergeordnet sind“ [C1, SEP].



125 126

F1, SEP. Hier sei nochmals auf die Besonderheit des „Anästhesiepflegermodells“ des betrachteten schweizer Rettungsdienstes und die damit verbundene Doppelqualifikation der entsprechenden Mitarbeiter hingewiesen (vgl. auch Kapitel 4.1).

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

155

Zentrale Aktionseinheit innerhalb der Einsatzstrukturen ist das Team. Die Teams setzen sich dabei meist aus den jeweiligen Funktionsträgern der Organisation zusammen. Im Rettungsdienstbereich sind dies Rettungsassistent, Rettungssanitäter und ggf. ein Notarzt. Bei der Feuerwehr sind dies der Trupp, die Gruppe, der Zug sowie der Einsatzleitungs- und Einsatzführungsdienst. Bei den Spezialeinheiten der Polizei bilden die SEGs die Funktionseinheiten, mit denen die anstehenden Einsätze absolviert werden. Je nach Organisation ist die Einsatzstruktur unterschiedlich stark hierarchisch strukturiert. Insbesondere die Feuerwehr sieht in einem streng hierarchischen Organisationsprinzip die Basis für ein erfolgreiches Einsatzhandeln: „Wenn wir nicht in unserem Alltagsgeschäft klare Strukturen hätten, sowohl von der Führung als auch vom Arbeitsablauf her, also Arbeitsanleitung, dann könnten wir diese [Einsätze] in der Größenordnung ja auch nicht mehr aufbauen. Deswegen ist es wichtig, dass ich mich schon beim kleinsten Einsatz an diese Abläufe und Strukturen halte. Wenn die Situation wächst und immer größer wird, dann muss eigentlich gewährleistet sein, dass wir immer arbeits- und reaktionsfähig bleiben – egal wie die Lage sich entwickelt und egal welches Thema uns gerade beschäftigt.“ [B2, Feuerwehr] Die aufzubauende Einsatzstruktur bestimmt sich bei den untersuchten Organisationen maßgeblich durch Art und Umfang des Einsatzes. Ein Rettungsdiensteinsatz mit einer verletzten Person wird vorwiegend von einer RTW-Besatzung absolviert. Dabei übernimmt in der Regel der für den Patienten verantwortliche Beifahrer oder der Notarzt die Einsatzführung. Größere und komplexere Einsätze erfordern besondere, meist hierarchische Einsatzstrukturen mit klar abgegrenzten Funktionsbereichen. Die Einsätze werden dabei in der Regel von gesonderten Einsatzführungskräften geleitet und koordiniert.127 Die Führung und Verantwortung des Einsatzes obliegt dem jeweiligen Einsatzleiter. Dabei kann es sich einerseits um eine in den operativen Einsatz involvierte Person (z. B. Notarzt) handeln. Andererseits kann es auch eine Person sein, die nicht direkt am operativen Einsatzgeschehen beteiligt ist, sondern nur koordinative Aufgaben übernimmt. Vorteil dieser Variante der Einsatzführung ist, dass der Einsatzleiter sich ganz auf seine Führungsaufgabe konzentrieren kann und nicht durch operative Arbeiten abgelenkt wird. Denn sonst „geht alles das, was du gerade im Blickfeld hattest, verloren“ [B2, Feuerwehr]. Für die einsatzleitenden Personen ist es wichtig, ihre Wahrnehmungsfähigkeit nicht durch blinden Aktionismus oder die Übernahme operativer Einsatztätigkeiten einzuschränken. Vielmehr sollte sie sich bewusst zurücknehmen und sich auf die ihr obliegenden Einsatzleitungsaufgaben konzentrieren. Daher 

127

Bei der betrachteten Feuerwehr bedeutet dies z. B., dass eine größere Einsatzstelle in verschiedene „Unterabschnitte“ (kleinere Einsatzstellen) oder verschiedene Teilaufgaben unterteilt wird. Jeder Unterabschnitt wird dabei von einer gesonderten Einsatzführungskraft geleitet. Ein ähnliches Vorgehen ist bei den Spezialeinheiten in den Polizeidienstvorschriften geregelt. Im Rettungsdienstbereich übernimmt bei einem Großeinsatz in der Regel die Besatzung des zuerst eingetroffenen Fahrzeuges so lange die Führung des Einsatzes, bis spezielle Einsatzführungskräfte(Gesamteinsatzleiter, leitender Notarzt etc.) eintreffen und die Leitung und Koordination des Einsatzes übernehmen.

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Kapitel 7

ist es in der Regel so, „dass der Einsatzleiter etwas abgesetzt ist. Er läuft entweder hinterher oder sitzt an einer bestimmten Position, von der aus er gut entscheiden kann“ [C3, SEP]. „Bei ihm laufen die Fäden zusammen. Er hat alle Informationen und er steuert den Einsatz“ [F3, SEP]. Somit hält sich der Einsatzleiter meist im Hintergrund des operativen Geschehens. Er steht permanent im Kontakt mit den Teamkollegen und koordiniert diese. Zudem beschafft er Informationen, wertet diese aus und trifft auf Basis der vorliegenden Informationen seine Entscheidungen. Diese werden während des Einsatzes von den anderen Kollegen nicht in Frage gestellt oder diskutiert, wie folgende Aussage und die Ausführungen in Kapitel 7.1.1 belegen: „Der Einsatzleiter sagt, was zu tun ist. Du kannst dich seinem Befehl – und in meinen Augen ist das ein Befehl, auch wenn er es nicht so deutlich ausspricht – eigentlich nicht widersetzen.“ [B2, Feuerwehr] Während Feuerwehr und Rettungsdienst autark und eigenverantwortlich in einem Einsatz agieren können, leisten SEK und MEK Unterstützungsarbeit für andere Polizeidienststellen. Sie sind daher der Gesamteinsatzführung dieser Dienststellen unterstellt und müssen ihr Vorgehen mit den dortigen Verantwortlichen abstimmen. Dies kann mitunter zu zeitlichen Verzögerungen führen und den Einsatzablauf behindern. Damit lässt sich für diesen handlungsbeeinflussenden Faktor festhalten, dass die betrachteten Organisationen über flexible Einsatzorganisationsstrukturen verfügen. Diese bestimmen sich nach dem jeweiligen Einsatz, dessen Art, Größe und Umfang und können sich gänzlich von der administrativen Struktur unterscheiden. Die Einsatzführung wird meist von Personen übernommen, die nicht direkt in das operative Geschehen involviert sind und einen Blick für die Gesamtsituation behalten können. Dass flexible Einsatzstrukturen aufgebaut werden können und Mitarbeiter sich einsatzbezogen unterordnen, liegt an einem von allen Mitarbeitern akzeptierten Rollenkonzept.

7.5.2 Flexible Einsatzorganisation und Führung Die flexiblen Strukturen ermöglichen es den betrachteten Organisationen, ihre Einsatzorganisation entsprechend den situativen Gegebenheiten und Einsätzen anzupassen. Somit unterstützt die flexible Einsatzorganisation das in der High Reliability-Forschung formulierte organisationale „Streben nach Flexibilität“ (vgl. Kapitel 3.4.2.4). Die Fähigkeit, die verschiedenen Funktionseinheiten der Organisation entsprechend der jeweiligen Umweltsituationen zu kombinieren, trägt wesentlich zum Aufbau und Erhalt der organisationalen Handlungsfähigkeit bei. Die erhöhte Flexibilität bedarf dabei allerdings einer entsprechenden (Einsatz-)Führung und Koordination, um ihr Leistungspotenzial voll entfalten und den Einsatzherausforderungen

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

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adäquat begegnen zu können. 128 Die Bedeutung von Führung und Koordination für ein verlässliches Handeln wird in der Human Factors/CRM-Forschung als wichtige nicht-fachliche Fähigkeit aufgefasst und daher im Rahmen von CRM-Trainings thematisiert. Die Bedeutung von Führung für das Einsatzhandeln wird auch in den vorliegenden Untersuchungserkenntnissen deutlich. Dabei zeichnet sich ab, dass die Mitarbeiter der betrachteten Organisationen Führung häufig auf die Einsatzsteuerung und -koordination beziehen. Nach Badke-Schaub und Lorei (2003:154) kann Führung allgemein als Steuerung sozialer Systeme verstanden werden. Diese sozialen Systeme bestehen wiederum aus verschiedenen Teilsystemen, wie Mitarbeitern oder Teams, die in einer wechselseitigen Beziehung zueinander stehen und gemeinsame Ziele verfolgen (vgl. ebd.). Führung ist notwendig, wenn Aufgaben nicht nach einem festgelegten Lösungsweg von den Handelnden aus eigener Initiative bewältigt werden können. Dies gilt insbesondere in komplexen Umweltsituationen, in denen die Einsatzaufgaben und -probleme schlecht strukturiert, komplex, mehrdeutig, widersprüchlich oder instabil sowie zeitkritisch sind (vgl. Neuberger 2002:43). Die Steuerungstätigkeiten umfassen dabei die fachliche, die beziehungsorientierte sowie die koordinative Führung (vgl. Badke-Schaub und Lorei 2003:154). Bei der fachlichen Führung geht es um die Bestimmung der fachlich-inhaltlichen Anforderungen, wie Zielbestimmung, Lösungsentscheidungen und Kontrolle. Die beziehungsorientierte Führung beschäftigt sich mit der Ausrichtung von individuellen Zielen und Systemzielen sowie der Vermeidung von Motivationsverlusten bei den einzelnen Teammitgliedern. Die koordinative Führung befasst sich mit der Planung und Steuerung von Arbeitsprozessen – insbesondere mit der Ressourcenbereitstellung sowie die Koordination der verschiedenen Einzelaktivitäten im Arbeitsprozess. In den betrachteten Organisationen wird Führung häufig mit Einsatzsteuerung gleichgesetzt. Greift man die eben erwähnten Steuerungstätigkeiten auf, bedeutet dies, dass es zu einer temporären Einsatzführung kommt. Diese setzt sich überwiegend aus einer inhaltlich-fachlichen sowie einer koordinativen Einsatzführung zusammen. Erstere beschäftigt sich mit der Einsatzzielbestimmung, der Generierung und Umsetzung von Einsatzlösungen sowie deren Kontrolle. Die koordinative Einsatzführung befasst sich mit der Planung und Steuerung des Einsatzes, der Ressourcenbereitstellung sowie der operativen Koordination der Einzelaktivitäten im Einsatz. Die koordinative Führung der Einsätze weist dabei einen interaktionalen Charakter auf, da sie in den meisten Fällen durch einen direkten „Face to Face“-Kontakt erfolgt und auf direkten Anweisungen oder Bitten beruht (vgl. Neuberger 2002:451). Gleichzeitig zeigt sich jedoch auch, dass ein Einsatzleiter der betrachteten Organisationen einen Einsatz nicht alleine steuert. Seine Entscheidungen und Handlungsanweisungen gründen sich auf Informationen, Teilentscheidungen und Handlungen der Kollegen vor Ort. Sie  128

Bezogen auf die hier vorliegende Untersuchung ergeben sich zwei Perspektiven der Führung: Einmal die Führung in der formalen Organisationsstruktur und die Führung in der Einsatzstruktur (Einsatzführung). Im Folgenden wird nur die Einsatzführung betrachtet.

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Kapitel 7

stellen „das verlängerte Auge des Einsatzleiters“ [X1, Feuerwehr] dar und sind aufgrund der Nähe zum operativen Einsatzgeschehen in der Lage, die Situation besser einschätzen zu können. Treffen z. B. Feuerwehrleute im Innenangriff auf Situationsveränderungen, kommunizieren sie diese nach „draußen“ an den Einsatzleiter. Dieser nimmt die Informationen auf, verarbeitet sie und leitet ggf. entsprechende Maßnahmen ein. Lediglich bei plötzlichen Situationsveränderungen oder wenn Gefahr im Verzug ist (z. B. Auffinden einer verletzten Person), ändern die betreffenden Mitarbeiter vor Ort eigenständig ihre Zielstellung. Dieses Phänomen findet sich in ähnlicher Weise in der High Reliability-Forschung wieder und wird dort als „koordinierte Führung“ (Weick und Sutcliffe 2003:91) bezeichnet, die den „Respekt vor fachlichem Wissen und Können“ (vgl. Kapitel 3.4.2.5) berücksichtigt. Darunter ist die Verschiebung der Führungsrolle auf diejenige Person zu verstehen, die im Moment eine Lösung für das bestehende Problem kennt (vgl. Seaman und Williams 2005:16; Weick et al. 2000:37). Bei den betrachteten Einsatzleitern sind dies die Mitarbeiter vor Ort, da diese am ehesten einschätzen können, welche Handlungen aus ihrer Perspektive zielführend sind. Durch das Prinzip der koordinativen Einsatzführung wird bewusst dezentrale Problemlösekompetenz vor Ort genutzt und ein Einsatz nicht alleine von einem Zentrum aus gesteuert. Wie zu Beginn dieses Abschnitts angesprochen, kommt es zu einer einsatzbezogenen Unterordnung formal vorgesetzter Mitarbeiter in der Einsatzorganisation. Dies ist auf ein Rollenkonzept zurückzuführen, das maßgeblich zum Aufbau flexibler Einsatzstrukturen beiträgt.

7.6

Rollenkonzept

7.6.1 „Es gibt eine ganz klare Rollenverteilung“ 129 Alle betrachteten Organisationen verfügen über ein klar definiertes, funktionierendes und von allen Mitarbeitern akzeptiertes Rollenkonzept, welches die flexible Einsatzorganisationsgestaltung unterstützt. Dieses Rollenkonzept ist dafür verantwortlich, dass während des Einsatzes „eine ganz klare Rollenverteilung“ [F3, SEP] herrscht. Das Rollenkonzept der jeweiligen Organisation regelt die Teilziele, Aufgaben, Verantwortungen sowie die Informations- und Kommunikationswege der verschiedenen Rollen während des Einsatzes. Mit Hilfe der Rollen bekommen die Mitarbeiter ihre Funktion im Einsatz zugewiesen und wissen damit genau, welche Teilziele, Aufgaben und Erwartungen mit ihrer Rolle verbunden sind. Das Rollenkonzept darf allerdings nicht nur auf seine arbeitsteilige Funktion reduziert werden, vielmehr signalisieren die verschiedenen Rollen den Mitarbeitern, was sie von den anderen Rolleninhabern zu erwarten haben bzw. welche Handlungserwartungen die Kollegen an die eigene Person in der eingenommenen Rolle stellen. Dies verdeutlicht folgendes Zitat:  129

F3, SEP.

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

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„Also ich höre meinen Befehl: ‚Angriffstrupp mit dem ersten Rohr zur Brandbekämpfung ins erste Obergeschoss über vierteiligen Streckleiter vor!’. Dann ist klar, wer was zu übernehmen hat. Mit diesem Einsatzbefehl ist das ganz klar definiert. Man weiß, wer die Streckleiter stellt, wer die Schlauchleitung legt, man weiß das Mittel, also das erste Rohr. Weg und Ziel sind auch definiert.“ [B1, Feuerwehr] Das Rollenkonzept unterstützt somit eine gemeinsame gedankliche Repräsentation, wie die Handlungen aller Teammitglieder ineinandergreifen. Bei der Rollenbesetzung wird darauf geachtet, dass die Rolleninhaber über entsprechende Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen verfügen, die zur Aufgabenerfüllung der jeweiligen Rolle notwendig sind. Dabei müssen mitunter gesetzliche Vorgaben berücksichtigt werden: „Vom Gesetz her ist die Rollenteilung ja eh da – zwischen Rettungsassistent und Rettungssanitäter. Gewisse Sachen am Patienten darf ja eigentlich nur der Rettungsassistent machen“ [A1, Rettungsdienst]. Bei der Feuerwehr können Mitarbeiter nur eine Führungsrolle einnehmen, wenn sie über die entsprechende Ausbildung und Führungsqualifikationen, wie z. B. Gruppenführer-, Zugführer- oder Einsatzleiterlehrgang verfügen. Neben der Qualifikation ist ein rollenkonformes Verhalten der Rolleninhaber für das Funktionieren des Rollenkonzepts notwendig. Bei allen untersuchten Organisationen konnte festgestellt werden, dass das organisationsspezifische Rollenkonzept akzeptiert wird. Die Organisationsmitglieder verhalten sich im Einsatz gemäß ihrer eingenommenen Rolle und erfüllen damit die an sie gestellten Rollenerwartungen. In der Regel wird „von diesen Grundsätzen auch nicht abgewichen und wer davon abweicht, der muss begründen, warum er das getan hat“ [C2, SEP]. Ein unbegründetes abweichendes Rollenverhalten kann zu Störungen des Einsatzablaufes oder zu einer Gefährdung von Teammitgliedern führen. Sichert z. B. ein SEKBeamter nicht – wie von seiner Rolle erwartet – seinen Kollegen, der einen Täter entwaffnet, kann der Täter den Kollegen überwältigen oder verletzen, was dann zu einer unvorhergesehenen Veränderung der Einsatzsituation führt. Das allgemein akzeptierte Rollenkonzept und das dadurch hervorgerufene rollenkonforme Verhalten der Organisationsmitglieder zeichnet daher für die oben angesprochene einsatzbezogene Unterordnung sowohl formal Vorgesetzter als auch höher qualifizierter Mitarbeiter verantwortlich. Diese sind während des Einsatzes durchaus bereit und in der Lage, Rollen ohne Führungsaufgaben wahrzunehmen und entsprechend der eingenommenen Rolle zu handeln: „Wenn ich als normale Einsatzkraft mitgehe, dann mache ich das, was der jeweilige Einsatzleiter vorgibt normalerweise mit – wenn es Hand und Fuß hat. In der Regel ist das kein Problem.“ [C3, SEP] Lediglich in begründeten Fällen – insbesondere dann, wenn Gefahr im Verzug ist, der tatsächliche Einsatzleiter überfordert ist oder an seine rechtlichen Grenzen stößt – wird diese einsatzbezogene Unterordnung aufgehoben:

160

Kapitel 7

„Ein Dienstranghöherer kann ihm [Einsatzleiter] das eigentlich auch nur in begründeten Fällen abnehmen. […] nur wenn er merkt, dass Gefahr im Verzug ist oder der Verantwortliche ist mit der Lage überfordert, kann er als Zugführer – rechtlich gesehen – in diese Sache eingreifen.“ [B2, Feuerwehr] Ähnlich verhält es sich bei dem betrachteten schweizer Rettungsdienst. Wegen ihrer Doppelqualifikation (Anästhesiepfleger und Rettungssanitäter) werden die Notärzte dienstplanmäßig auch als Rettungssanitäter auf den RTW eingeteilt. Dies kann vereinzelt dazu führen, dass es während des Einsatzes zu einer situationsbedingten Aufhebung der einsatzbezogenen Unterordnung kommen kann. Immer dann, wenn der einsatzleitenden Rettungssanitäter an seine rechtlichen oder medizinischen Grenzen stößt, weil der Zustand des Patienten sich so weit verschlechtert, dass notärztliche Maßnahmen notwendig werden, kommt es zu einem Rollenwechsel. Wenn z. B. der Patient Medikamente benötigt, „die der Rettungssanitäter in der Form und Menge nicht mehr geben darf, dann sage ich [Notarzt] ’Ich übernehme jetzt diesen Einsatz’. Dann ist er der Assistent und ich leite den Einsatz“ [E2, Rettungsdienst]. Der Notarzt wechselt somit von der Rolle des assistierenden Rettungssanitäters in die des einsatzleitenden Notarztes. Dieser Wechsel vollzieht sich nicht stillschweigend, sondern wird deutlich kommuniziert. Ein Rollenwechsel kann auch dann stattfinden, wenn der Rettungssanitäter den Notarzt bittet, den Einsatz zu übernehmen, weil er sich überfordert fühlt. Diese situationsbedingten Rollenwechsel werden von den Mitarbeitern anstandslos akzeptiert. Arbeiten die Notärzte in ihrer Funktion als Rettungssanitäter allerdings im Einsatz mit dem regulär diensthabenden Notarzt zusammen, verhalten sie sich gemäß der eingenommenen Rolle und ordnen sich den Entscheidungen und Anweisungen des einsatzleitenden Notarztes unter. Ein gut funktionierendes und von allen Mitarbeitern akzeptiertes Rollenkonzept ist ein wichtiger verlässlichkeitsbeeinflussender Faktor. Es regelt klar die Teilziele, Aufgaben und Verantwortungen der jeweiligen Rollen. Zudem trägt es dazu bei, dass die Mitarbeiter eine gemeinsame gedankliche Repräsentation entwickeln, wie die einzelnen Handlungen ineinandergreifen und so zum Einsatzerfolg beitragen.

7.6.2 Akzeptiertes Rollenkonzept Ein hohes Maß an interner struktureller, funktionaler und zeitlicher Flexibilität ist eine wichtige Voraussetzung der untersuchten Organisationen, um in komplexen und kritischen Situationen agieren zu können. Daher versuchen die Organisationen, sich diese interne Flexibilität aufzubauen und zu erhalten. Sie ergibt sich aus den oben beschriebenen flexiblen Einsatzstrukturen und wird durch ein klar definiertes und von allen Mitarbeitern akzeptiertes Rollenkonzept unterstützt. Die zur gemeinsamen Zielerreichung benötigten arbeitsteiligen Aufgaben und Funktionen werden an unterschiedlichen Rollen festgemacht. Rollen sind als ein Bündel von Verhaltenserwartungen bezüglich Aufgaben, Rechten und Pflichten zu verstehen, die von anderen an einen Positions- oder Statusinhaber herangetragen werden (vgl. Neuberger

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

161

2002:314; Macharzina 2003:484). Diese Verhaltenserwartungen sind generelle, d. h. von Personen unabhängige Erwartungen. Sie sind nicht an eine konkrete Person gerichtet, sondern beziehen sich auf eine bestimmte Position in der Einsatzorganisation und den damit verbundenen Funktionen. Somit kann eine Rolle durch unterschiedliche Individuen besetzt und ausgefüllt werden. Voraussetzung zur Übernahme einer Rolle ist, dass die Individuen über die entsprechende Qualifikation zur Erledigung der mit dieser Rolle verbundenen Aufgaben verfügen sowie die damit verbundenen Erwartungen und Verhaltensvorschriften erfüllen können (vgl. Steinmann und Schreyögg 2000:544). Die Formulierung von Rollen sowie deren Zusammenfassung zu einem Rollenkonzept helfen den betrachteten Organisationen, die Einsatzabläufe arbeitsteilig zu organisieren und unterstützen damit die Einsatzführung. Gleichzeitig tragen sie zu Handlungstransparenz und Handlungsfähigkeit bei (vgl. Macharzina 2003:485), indem die Mitarbeiter wissen, wie sich die Teilziele und Aufgaben der einzelnen Rollen ergänzen und welche Beiträge sie als Rolleninhaber für den Gesamterfolg des Einsatzes leisten. Auch unterstützt die Zusammenarbeit im Rahmen des Rollenkonzeptes den Aufbau von tranksaktivem Wissen über die Kenntnisse und Fähigkeiten der jeweiligen Kollegen (vgl. Kapitel 7.4.2). Die Rollen in den untersuchten Organisationen regeln klar die Teilziele, Aufgaben, Verantwortlichkeiten, Kompetenzen sowie die Informations- und Kommunikationsstrukturen. Diese sind organisationsspezifisch bezeichnet und werden an den jeweils benötigten Funktionen festgemacht. So lassen sich bei der Feuerwehr z. B. die Rollen Truppmann, Truppführer, Gruppenführer, Maschinist, Melder, Zugführer identifizieren. Bei einer RTW-Besatzung wird üblicherweise nach den Rollen Fahrer, Beifahrer und Notarzt unterschieden. Während die Spezialeinheiten bspw. nach Einsatzgruppenmitarbeiter, Einsatzgruppenführer und Einsatzleiter differenzieren. Organisationsmitglieder, so hat die Untersuchung gezeigt, sind dabei nicht nur auf eine Rolle festgelegt, sondern können – bis zu einem gewissen Umfang und je nach Qualifikation – unterschiedliche Rollen einnehmen und ausfüllen. Begründet liegt dies in den gemeinsamen, redundanten fachlichen Kompetenzen, die im Rahmen einer einheitlichen Grundausbildung erworben werden und die Grundlage des gemeinsamen Handelns bilden.

7.7

Fachliche Kompetenzen

7.7.1 „Das Basiswissen ist unerlässlich“130 Die Erhebung zeigte, dass sich die fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten der Mitarbeiter nicht arbeitsteilig abgrenzen, sondern in hohem Maße überschneiden. Die Mitarbeiter der betrachteten Organisationen besitzen redundante, fachliche Kompetenzen. Diese sind dafür verantwortlich, dass die Mitarbeiter unterschiedliche Rollen innerhalb des Rollenkonzeptes ein 130

C3, SEP.

162

Kapitel 7

nehmen und so eine flexible Einsatzorganisation herstellen können. So soll bspw. jeder Mitarbeiter bei den Spezialeinheiten der Polizei „im Einsatz die Rolle eines anderen nahtlos übernehmen können, weil der, der z. B. vorher besonders auf den verdeckten Ermittler aufzupassen hatte – einfach um ihn zu schützen – eine andere Aufgabe übernehmen muss“ [F3, SEP]. Um sich diese Flexibilität zu sichern, bauen die betrachteten Organisationen ganz gezielt redundante Kompetenzen bei den Mitarbeitern auf. Hierzu durchlaufen die Mitarbeiter eine mehrmonatige Grundausbildung, in der sie die notwendigen, einsatzrelevanten Kenntnisse und Fähigkeiten erwerben. Diese sind je nach Organisation sehr unterschiedlich. Bei der Feuerwehr geht es z. B. dabei um den „Umgang mit dem Strahlrohr, mit den Schläuchen, mit sämtlichen Armaturen, Bedienung von Aggregaten und ihre entsprechenden Funktionen und Aufgaben usw.“ [B1, Feuerwehr]. Bei den Spezialeinheiten erwerben die Anwärter „fachspezifische Dinge aus verschiedenen Bereichen, die für die SEK-Beamten wichtig sind“ [C2, SEP]. Das umfasst u. a. Schießausbildung, Selbstverteidigung, Überwältigen von Tätergruppierungen oder aber auch die Observation und Überwachung von Personen. Ein besonderes Augenmerk liegt auf der Ausbildung verschiedener Zugriffsvorgehen und -routinen. Durch die Grundausbildung werden gleichzeitig Kenntnisse über das Rollenkonzept sowie die unterschiedlichen Rollen mit den verbundenen Teilzielen, Aufgaben, Anforderungen und Kompetenzen erworben. Diese müssen die Mitarbeiter kennen und ausfüllen lernen. Ferner sollen Mitarbeiter im Rahmen der Grundausbildung nicht-fachliche Fähigkeiten, wie Wahrnehmungsfähigkeit oder Stressresistenz aufbauen. Diese Fähigkeiten ermöglichen es ihnen, später in unvorhergesehenen und kritischen Situationen ruhig und besonnen zu handeln. Wie in Kapitel 6.6 skizziert, werden die Mitarbeiter dabei bewusst an ihre Leistungsgrenzen geführt. Die in der Grundausbildung erworbenen organisationsspezifischen, einsatzrelevanten fachlichen Kompetenzen sind „sehr umfassend, so dass man für jede Lage gerüstet ist“ [C3, SEP]. Sie befähigen die neuen Mitarbeiter generell zur Teilnahme an einem Einsatz. Da ihnen jedoch das notwendige einsatzrelevante Erfahrungswissen fehlt, agieren die neuen Kollegen zu Beginn meist in Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Kollegen. Sie haben damit die Möglichkeit, unter Anleitung ihre erworbenen Kenntnisse und Fähigkeiten anzuwenden, zu vertiefen und eigene Einsatzerfahrung zu sammeln. Der Aufbau des Erfahrungswissens ist zeitintensiv und hängt von der Anzahl und der Art der verschiedenen Einsätze ab. So benötigt z. B. ein Truppmann bei der Feuerwehr ca. zwei Jahre Einsatzerfahrung, bevor er sich zum Truppführer weiterqualifizieren kann. Beamte der Spezialeinheiten benötigen ungefähr ein bis zwei Jahre, bis sie genügend Erfahrung haben, die ein selbständiges Handeln ermöglicht. Erst nach ca. vier bis fünf Jahren sind die SEK-Mitarbeiter so weit, „dass sie viele Einsatzsituationen durchgespielt haben und über ein breites Spektrum verfügen“ [C1, SEP].

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

163

Um diesen Erfahrungsaufbau zu fördern, gilt es die fachlichen Kenntnisse und Fähigkeiten durch reale Einsätze sowie durch Übung und Training aktuell zu halten, zu festigen und zu vertiefen. Das Basiswissen stellt die Grundlage des Einsatzhandelns dar und muss von allen Mitarbeitern beherrscht und angewendet werden können. Hierauf verlassen sich die Organisationsmitglieder, wie folgende Aussage belegt: „Das Basiswissen ist unerlässlich, denn einer muss sich auf den anderen verlassen können. Wir gehen immer im Team vor und da muss der eine wissen was der andere tut. In der Regel ist es so, dass es alle auf die gleiche oder ähnliche Art tun, weil sie es eben in der Basisausbildung so vermittelt bekommen haben. Es ist wirklich absolut wichtig, dass man sich drauf verlassen kann. Bestimmte Sachen werden deswegen auch immer wieder trainiert. Das Training – dieses immer wieder fortlaufende Auffrischen – ist unerlässlich, damit die Verlässlichkeit da ist.“ [C3, SEP] Wegen der großen Bedeutung der grundlegenden Kenntnisse werden diese in einigen Organisationen regelmäßig überprüft. So müssen die Mitarbeiter der befragten Rettungsdienste alle zwei Jahre eine medizinische Kompetenzprüfung ablegen. Hierbei werden ihre Kenntnisse und Fertigkeiten z. B. über die Notfallalgorithmen, die Frühdefibrillation, die Intubation oder dem Legen intravenöser Zugänge überprüft und attestiert. Die redundanten fachlichen Kompetenzen bedeuten jedoch nicht, dass Mitarbeiter ausschließlich nur über diese verfügen. Vielmehr haben sie die Möglichkeit, vertiefende Kenntnisse und Fähigkeiten zu erwerben. So spezialisieren sich Feuerwehrmitarbeiter bspw. auf bestimmte Einsatzarten oder Einsatzgruppen, wie Höhenrettung, Wasserrettung, Strahlenschutz etc. MEK Mitarbeiter erwerben zusätzlich spezielle Kompetenzen aus einem der Bereiche Optik, Peilung oder Kfz. Mitglieder mit speziellen Kompetenzen werden in der Regel dann einem Einsatz hinzugezogen, wenn dieser Kenntnisse und Fähigkeiten erfordert, die das allgemeine Wissen und Können der Kollegen übersteigt. Die Grundaus- und Weiterbildung zielt bei allen betrachteten Organisationen auf den Erwerb von Kompetenzen ab, welche die Mitarbeiter zum Einsatzhandeln befähigen. Daher stehen weniger abstrakt theoretische als vielmehr praxisrelevante Lerninhalte im Mittelpunkt der Ausbildung. Die betrachteten Organisationen kombinieren gezielt theoretische Ausbildungsmethoden, wie Schulungen, Unterricht und Seminare, mit praxisorientierten Methoden, wie Übungen, Simulationen und Trainings. Generell führt der hohe Stellenwert einsatzbezogener, praxisrelevanter Lerninhalten dazu, dass häufig konkrete Einsatzlagen, -probleme oder -fehler in die Aus- und Weiterbildung integriert werden. So ist es bei dem untersuchten schweizer Rettungsdienst beispielsweise üblich, „dass wir jeden Monat in der Teamsitzung einen besonderen Fall vorstellen. Das ist dann ein erlebter Fall, der von einem Mitarbeiter vor allen Teamleuten vorgetragen wird – mit Folie usw. Nicht lange – ca. zehn Minuten und anschließend wird diskutiert“ [E2, Rettungsdienst].

164

Kapitel 7

Das SEK greift bei der Planung künftiger Lerninhalten der Aus- und Weiterbildung auf bestehendes Videomaterial realer Einsätze zurück und wertet dieses aus.131 „Wichtig an diesen Einsatzvideos für uns ist, wie es im Bereich Handwerkszeug aussieht. Ob die Kollegen – erkennbar anhand des Videos – Probleme beim Überwältigen des Täters hatten? Haben die Kollegen Probleme beim Waffenhandling? Wird die Waffe richtig geführt? Haben die Kollegen Probleme beim Anlegen ihrer Sicherheitsausstattung? Sind da Defizite erkennbar, so dass gewisse Körperbereiche nicht gesichert sind? Das sind so diese Details, die für uns als Aus- und Fortbilder wichtig sind, und das ziehen wir dann aus diesen Videos raus. [C2, SEP] Wie in Kapitel 4.2 berichtet, sind SEK- und MEK-Mitarbeiter in der Lage, mit Kollegen oder Einheiten aus anderen Bereichen ohne größere Probleme zusammenzuarbeiten und eine „Mischgruppierung“ [F3, SEP] zu bilden. Dies liegt an den einheitlichen Richtlinien und Standards, nach denen die Ausbildung erfolgt. Trotz der jeweiligen Hoheit der Bundesländerbezüglich der Polizeiaufgaben haben sich die Sondereinheiten der Polizei freiwillig auf länderübergreifende einheitliche Standards verständigt, die in der Aus- und Weiterbildung berücksichtigt werden. 132 Resümierend bleibt hinsichtlich dieses verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktors festzuhalten, dass in allen betrachteten Organisationen redundante Kenntnisse und Fähigkeiten elementar wichtig für das gemeinsame Einsatzhandeln sind. Sie werden gezielt im Rahmen von Ausund Weiterbildung aufgebaut und von allen Mitarbeitern beherrscht. Gleichzeitig werden die Kenntnisse und Fähigkeiten kontinuierlich durch reale Einsätze, Übungen und Trainings aufrecht erhalten. Dabei wird insbesondere auf einen hohen Praxisbezug und den Erwerb von Erfahrungen geachtet. Die so geschaffene Redundanz ermöglicht es Organisationen, flexibel zu bleiben, da Mitarbeiter unterschiedliche Rollen des Rollenkonzeptes übernehmen und ausfüllen können. Der praxisorientierte Erfahrungserwerb fördert zudem auch die Wahrnehmungsfähigkeit der Mitarbeiter.

7.7.2 Redundante fachliche Kenntnisse und Fähigkeiten Die betrachteten Organisationen sehen in redundanten fachlichen Kenntnissen und Fähigkeiten – den fachlichen Kompetenzen – die Grundlage des flexiblen Einsatzhandelns. Es wird bewusst eine Redundanz geschaffen, die einerseits dazu führt, dass der spätere Erfahrungserwerb für die Mitarbeiter sicherer und schneller vonstatten geht (vgl. Benner 1994:19). Andererseits können die Mitarbeiter der untersuchten Organisationen so unterschiedliche Rollen ausfüllen. Sie sind damit in der Lage, jederzeit Teilaufgaben oder die gesamte Funktion eines Kollegen problemlos zu übernehmen. Dies gilt insbesondere für Mitarbeiter, die über ein sehr 

131 132

Aus rechtlichen Gründen werden alle SEK-Einsätze in der Regel auf Video dokumentiert. Bei der Feuerwehr hingegen sind die Ausbildungsvorschriften bundeseinheitlich gesetzlich geregelt.

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

165

breites Qualifikationsspektrum verfügen. Unterstützt durch eine klar definierte und einsatzleitende Zielstellung, führen die redundanten Kompetenzen im Lauf der Zeit zur Entwicklung eines gemeinsamen Situations- und Handlungsverständnis (vgl. hierzu auch Benner 1994:29f.): Mitarbeiter lernen, wie Einsätze ablaufen sollen und wie hierfür die einzelnen Handlungen ineinander greifen müssen. Dieses gemeinsame Situations- und Handlungsverständnis von Teams, wird in der High Reliability-Forschung als wichtiger Aspekt für den Erhalt von Verlässlichkeit und Sicherheit dargestellt (vgl. Wilson et al. 2005:304). Das gemeinsame Handlungsverständnis der Organisationsmitglieder hilft ihnen, das Handeln der Kollegen besser zu antizipieren und einzuschätzen. Sie wissen genau, wie sie selbst in einer Situation zu handeln hätten. Damit verringert sich die Gefahr von Handlungsfehlern, die in einem unterschiedlichen Situationsverständnis begründet liegen. Je größer dabei das oben erwähnte transaktive Wissen über die Kollegen (vgl. Kapitel 7.4.2) ist, desto genauer kann diese Einschätzung erfolgen. Neben den gemeinsamen Reflexionen in den Einsatznachbereitungen wird transaktives Wissen bereits während der gemeinsamen Grundausbildung aufgebaut. Durch die praxisnahen Übungen und Trainings lernen die Organisationsmitglieder sehr früh die Stärken und Schwächen der Kollegen kennen; sie erleben, wie diese in bestimmten Situationen, z. B. unter Stresseinfluss, reagieren. Die empirischen Ergebnisse erlauben Einblicke in das Lern- und Ausbildungsverhalten der betrachteten Organisationen. In der Untersuchung zeigte sich, dass die betrachteten Einheiten durch Übungen und Trainings bewusst Lernmethoden des theoretischen Wissenserwerbs mit Methoden verbinden, die auf einen praxisorientierten Wissens- und Erfahrungserwerb abzielen. Insbesondere zeigt sich, dass die Lerninhalte einen sehr hohen Einsatzbezug aufweisen. Begründet liegt dies darin, dass die betrachteten Organisationen mit einer sehr dynamischen und komplexen Umwelt sowie immer neuen Herausforderungen konfrontiert sind. So führen z. B. neue synthetische Drogen zu einem veränderten Notfallbild bei Patienten. Die zunehmend besser isolierten Wohnungen/Gebäude erhöhen die Gefahr von Rauchgasdurchzündungen bei Bränden, diese müssen von Feuerwehrleuten erkannt und ihnen mit neuen Löschtechniken begegnet werden. Im Polizeibereich führt bspw. der rasche Wandel bei Audio-, Video oder Computertechnik zu einem veränderten Observationsverhalten oder ermöglicht neue Arten von Kriminalität. Um diesen Herausforderungen adäquat begegnen zu können, bedarf es zunehmend spezifischer werdender Kenntnisse und Fähigkeiten. Diese lassen sich mit herkömmlichen Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen nicht mehr zeitnah bereitstellen (vgl. Bergmann 2000a:19; Sevsay-Tegethoff 2004:291). Daher versuchen die betrachteten Organisationen, durch ein kontinuierliches arbeitsbezogenes Lernen (vgl. u. a. Bergmann 2000b:138; Staudt und Kley 2001:232f.; Dehnbostel 2005:111), wie es in der Reflexion des Einsatzhandelns im Rahmen der Einsatznachbereitungen und einer praxisorientierten Aus- und Weiterbildung stattfindet, einsatzrelevantes Wissen und Fähigkeiten aufzubauen. Wie in Kapitel 8.2 noch genauer erläutert wird, kommt es beim arbeitsbezogenem Lernen zu einer Integration von Lernen und Arbeiten (vgl. Dehnbostel 2005:112; Bergmann 2000b:141f.; Reinmann-

166

Kapitel 7

Rothmeier und Mandl 1998:201). Charakteristisch für dieses Lernen ist, dass sich die Lerninhalte und -prozesse überwiegend aus konkreten Arbeitsabläufen und -problemen ergeben.

7.8

Wahrnehmung

7.8.1 „Wahrnehmung spielt eine ganz große Rolle bei uns“133 Eine weitere Gemeinsamkeit, die sich im Rahmen der explorativen Untersuchung zeigte, ist die frühzeitige und ganzheitliche Wahrnehmungsfähigkeit von Umweltsituationen, die insbesondere bei den erfahrenen Mitarbeitern vorherrscht. Der Bereich Wahrnehmung spielt eine ganz große Rolle bei uns. Viele Einsatzlagen wurden von uns mit Bravour gelöst, weil im Bereich Wahrnehmung – trotz bestimmter Stresssituationen – überdurchschnittliche Fähigkeiten vorliegen.“ [C2, SEP] Gerade in kritischen und dynamischen Situationen müssen die Mitarbeiter in der Lage sein, Situationen und Situationsveränderungen möglichst ganzheitlich und schnell zu erfassen, zu verarbeiten und ihr Handeln danach auszurichten. Begründet liegt dies in dem Bewusstsein der Gefährdung und Verletzbarkeit der beteiligten Personen. So wurde von einem befragten Feuerwehrmann berichtet, dass Spraydosen in einem brennenden Bad ein großes Gefahrenpotenzial darstellen: Aufgrund der Hitze können sie explodieren und zu Verletzungen führen. Allerdings kündigt ein Zischen von entweichender Luft eine bevorstehende Explosion an. Dieses Geräusch nimmt ein unerfahrener Feuerwehrmann tendenziell weniger wahr, während ein erfahrener Feuerwehrmann vor Betreten des Bads ganz bewusst auf dieses schwache Signal achtet und sein Handeln entsprechend ausrichtet [vgl. B1, Feuerwehr]. Die Wahrnehmungsfähigkeit wird einerseits durch die Erfahrung im Umgang mit Situationen beeinflusst: Tendenziell ist ein neuer, unerfahrener Mitarbeiter sich bestimmter Gefahrenquellen einfach nicht bewusst: „Der sieht das, nimmt es wahr und denkt, dass das immer so ist“ [B4, Feuerwehr]. Andererseits beeinflusst auch das individuelle Stressempfinden die situative Wahrnehmungsfähigkeit der Mitarbeiter: „Die Leute, die frisch dazu kommen, die haben auch ihre Hormonausschüttung und sind auch sehr aufgeregt. Gegebenenfalls können sie dadurch nicht mehr ganz klar denken. Die Erfahrung hilft einem dann klar zu denken, aber das Adrenalin kommt immer noch.“ [E4, Rettungsdienst] Mit zunehmender Einsatzerfahrung sinkt das Stressempfinden der Mitarbeiter und die Wahrnehmungsfähigkeit steigt, wie folgende Zitate verdeutlichen: „Ein junger Kollege, der seine Ausbildung gerade erst beendet hat, geht auf einen Patienten zu und macht die ganze Palette: die ganzen Parameter, die Anamnese usw. Und das braucht seine Zeit.“ [E4, Rettungsdienst]



133

C2, SEP.

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

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„Wenn man dann viele Jahre dabei ist, dann kommt man rein in die Wohnung und sieht es dem Patienten schon an.“ [A1, Rettungsdienst] „Man sieht, ob der schwitzt, ob der Stress hat, ob er normal Luft holt oder schnell atmet, ob er blaue Lippen hat oder nicht. Wenn man ein bisschen mehr Erfahrung hat, registriert man dies dann unwillkürlich schneller.“ [D1, Rettungsdienst] Erfahrene Mitarbeiter lassen sich auch weniger durch stressige Situationen in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit beeinträchtigen. Wie in Kapitel 6.7 beschrieben wurde, versuchen sie einerseits Stress und Eigengefahr durch vorausschauendes Handeln (Herausnehmen der Sicherung etc.) zu minimieren oder auszuschalten. Andererseits sind die Mitarbeiter durch die oben beschriebenen Übungen und Trainings in der Lage, gezielt stressbeeinflussende Merkmale auszublenden und ihre Aufmerksamkeit auf die Wahrnehmung einsatzrelevanter Sachverhalte zu konzentrieren: „Sie können gewisse einsatzentscheidende Dinge relativ schnell aufnehmen und das entsprechend in Form von nachfolgenden Maßnahmen oder sonstigen Aktionen in die Lagelösung einfließen lassen.“ [C2, SEP]. Damit zeigt sich, dass die Wahrnehmungsfähigkeit als wichtig für ein Handeln in komplexen und dynamischen Situationen angesehen wird und einen weiteren Faktor des verlässlichen Handelns darstellt.

7.8.2 Ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit Die Fähigkeit, Situationen und deren Veränderungen ganzheitlich wahrzunehmen, wird meist erfahrenen Mitarbeitern zugeschrieben (vgl. Benner 1994; Klein 2003b; Schön 2002; Gruber und Renkl 2000:160f.). Wie am Beispiel des erfahrenen Rettungsdienstmitarbeiters verdeutlicht, sind erfahrene Mitarbeiter in der Lage, in dynamischen und kritischen Situationen sowie unter Einfluss von Stress, Veränderungen schnell und ganzheitlich wahrzunehmen. Die Wahrnehmungsfähigkeit der Einsatzmitarbeiter, so zeigte sich, wird durch deren individuelles Stressempfinden beeinflusst. Stress ist damit eine subjektive Variable, die sich auf die individuelle Handlungsfähigkeit auswirkt und dazu führen kann, dass Handlungsfehler begangen werden (vgl. Means et al. 1995: 320). Stress entsteht durch Einfluss von sog. Stressoren. Das sind bestimmte Umweltereignisse, die sich bei einem Individuum meist negativ auf das Wohlbefinden auswirken und Reaktionen auslösen, die mit den Gefühlen von Angst und Gefahr verbunden sind (vgl. Salas und Driskell 1996:5f.). Negativ empfundener Stress wirkt sich nachteilig auf die individuelle Leistungsfähigkeit aus. Unter physischen Gesichtspunkten verringert Stress die Aufmerksamkeit für die Aufgabenerfüllung. Insbesondere dann, sobald Individuen in Stresssituationen an sich ihnen unbekannte physische Reaktionen (Herzklopfen, Zittern etc.) entdecken (vgl. Salas und Dris-

168

Kapitel 7

kell 1996:12). Auf emotionaler Ebene wirkt Stress negativ, sobald Individuen das Gefühl der Gefahr empfinden, z. B. wenn sie eine Situation nicht mehr unter Kontrolle haben (vgl. Salas und Driskell 1996:26f.). Unter kognitiven Gesichtspunkten wirkt sich Stress in einer verminderten Wahrnehmungsfähigkeit und einer geringeren Verarbeitungsleistung des Gehirns aus (vgl. Klein 1996:59).134 Kenntnisse und Erfahrungen im Umgang mit Stressoren helfen, die negativen physischen, emotionalen und kognitiven Wirkungen von Stress zu verringern. Daher ist es wichtig, sich die Wirkung der Stressoren (z. B. eigene physische Reaktion des Körpers) bewusst zu machen, um sich entsprechend auf diese einstellen zu können. Hilfreich ist auch, sich potenzieller Stressoren – z. B. bestimmter stressiger Situationen – bewusst zu werden. Dadurch sinkt die Wahrscheinlichkeit, dass sich Individuen bei Eintritt von stressigen Situationen überfordert fühlen oder in ihrer kognitiven Leistungsfähigkeit eingeschränkt werden. Wird sich intensiv mit Stressoren auseinandergesetzt, fördert dies die Stressresistenz und hilft damit, Stressoren bewusst entgegenzuwirken sowie deren negative Auswirkungen zu verringern. Ein geeignetes Instrument für den Erwerb diesbezüglicher Erfahrung stellen Übungen und Simulationen dar. Daher fokussieren die Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management u. a. den Erwerb von nicht-fachlichen Selbsteinschätzungsfähigkeiten (vgl. Kapitel 3.5.3) und fördern damit den Aufbau von entsprechender Erfahrung, der sich in stressigen Situationen positiv auf die Wahrnehmungsfähigkeit von Mitarbeitern auswirkt. Das obige Beispiel des erfahrenen Rettungsdienstmitarbeiters verdeutlicht die Bedeutung von Erfahrung für die ganzheitliche Wahrnehmung einer Situation. Die wahrgenommene Situation wird nur dann bedeutsam für das Handeln, wenn sie in Zusammenhang mit der individuellen Erfahrung gebracht wird. In der Expertenforschung135 wird die Fähigkeit, „eine gegebene Situation rasch und genau als einer bestimmten typischen Situation ähnlich zu erkennen, die aufgrund vergangener Erfahrungen im Gehirn gespeichert worden ist“ (Dreyfus 1982:152 zitiert in: Neuweg 2001:298), Experten zugeschrieben. Erfahrungen und ein bereichsspezifisches Wissen über Sachverhalte, Gesetzmäßigkeiten, Methoden und Prozesse sind zentrale Merkmale von Experten (vgl. Haasler 2004:84f.). Zudem zeichnen sich erfahrene Personen durch die Fähigkeit aus, kleinste Umwelt- und Situationsveränderungen bereits in einem sehr frühen Stadium wahrnehmen, verarbeiten und entsprechend agieren zu können. Diese Wahrnehmungsfähigkeit von Experten wird als „Sensibilität für feine qualitative Unterschiede“ (Benner 1994:280) oder als „Kennerblick“ (connoisseurship) bezeichnet (vgl. Benner 1994:28; Neuweg 2001:264). Zumeist bedienen sich Experten dabei konkreter vergangener  134

135

Stressoren können aber auch positive Gefühle wie Ehrgeiz und Eifer ansprechen, so dass eine Situation nicht als Gefahr, sondern als Herausforderung aufgefasst wird (vgl. Flin et al. 1997:3f.; Klein 1997b:19). Ob Stressoren sich positiv oder negativ auf das Wohlbefinden von Individuen auswirken, hängt maßgeblich von deren individuellen Einstellungen, Kenntnissen und Erfahrungen ab (vgl. Klein 1997b19f.; Flin et al. 1997:3f.; Orasanu 1997:46). Häufig werden Stressoren von Experten als Herausforderung aufgefasst. Für detaillierte und weiterführende Informationen zum sehr breiten Feld der Expertiseforschung vgl. z. B. Benner (1994); Dreyfus und Dreyfus (2005), Gruber (1999), Gruber und Ziegler (1996).

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

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Situationen, die ihnen als Musterfälle dienen. Mit Hilfe dieser sog. „paradigmatischen Fälle“ (vgl. Benner 1994:279f.) verfügen sie über ein Schema, im Sinne eines ganzheitlichen mentalen Modells, mit Hilfe dessen sie die aktuelle Situation wahrnehmen, interpretieren und vergleichen. Im oben erwähnten Beispiel ist es dem erfahrenen Rettungssanitäter aufgrund mehrerer erlebter ähnlicher Situationen möglich, bestimmte Symptome (Schwitzen, Atemnot, Atemfrequenz, blaue Lippen etc.) ganzheitlich wahrzunehmen und zu interpretieren, so dass „ich weiß, was dem Patienten fehlt, wenn ich ihn sehe. Das ist nur Erfahrung“ [E4, Rettungsdienst]. Damit sind erfahrene Rettungsdienstmitarbeiter in der Lage, ohne zeitaufwändige „analytische“ Untersuchungen am Patienten eine Verdachtsdiagnose zu stellen und mit der Behandlung zu beginnen.136 Dies korrespondiert mit Erkenntnissen der NDM-Forschungen (vgl. Kapitel 3.5.4.2). Je größer die Erfahrung der einzelnen Mitarbeiter im Umgang mit einer Situation ist, desto wahrscheinlicher ist es, dass Mustererkennungsprozesse und mentale Simulation im Rahmen der erkenntnisgesteuerten Entscheidungsfindung besser und schneller ablaufen. Mitarbeiter sind somit in der Lage, Situationen und Situationsveränderungen schnell wahrzunehmen, kausale Zusammenhänge in unbekannten Situationen herzustellen oder aber prospektiv mögliche Handlungskonsequenzen zu bestimmen (vgl. Klein 2003b:43ff.). Erkenntnisgesteuerte Entscheidungsprozesse verkürzen damit die Entscheidungszeit und wirken sich positiv auf das Handeln in zeitkritischen, komplexen Situationen aus. Für die Expertiseforscher Dreyfus und Dreyfus ist diese intuitive Entscheidungsfähigkeit „the hallmark of expertise“ (Dreyfus und Dreyfus 2005:779). Eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit hilft aber auch den einsatzleitenden Personen, ein umfassendes und aktuelles Bild einsatzrelevanter Abläufe zu erhalten. Dieses ermöglicht ihnen, achtsam und situationsangepasst zu handeln. Damit unterstützt die Wahrnehmungsfähigkeit das in der High Reliability-Forschung thematisierte verlässlichkeitsbeeinflussende Merkmal der „Sensibilität für betriebliche Abläufe“ (vgl. Kapitel 3.4.2.1). Gleichzeitig ermöglicht die Wahrnehmungsfähigkeit den Mitarbeitern, Fehler und Situationsveränderungen in einem frühen Stadium wahrzunehmen, bevor diese zu Störungen und Zwischenfällen eskalieren können. Sie leistet damit einen wesentlichen Beitrag zu einem aktiven organisationalen Fehlermanagement. Wie die Ausführungen zu Human Factors/Crew Resource Management (vgl. Kapitel 3.5) gezeigt haben, zählt die individuelle Wahrnehmungsfähigkeit zu den kognitiven nicht-fachlichen Fähigkeiten, die sich auf die Verlässlichkeit von Organisationen in Hochrisikoumwelten auswirken. Daher wird sie mit Hilfe realitätsnaher Übungen und Simulationen im Rahmen der CRM-Trainings gezielt gefördert.

 136

Die Fähigkeit, Situationen unmittelbar und ganzheitlich zu erkennen, wird auch als „kategoriale Wahrnehmung“ bezeichnet (vgl. Neuweg 2001:4).

170

7.9

Kapitel 7

Motivation und organisationales Commitment

7.9.1 „Es war schon ein Kindheitstraum…“ 137 Eine weitere Erkenntnis aus der hier durchgeführten Erhebung ist, dass sich die befragten Mitarbeiter überwiegend durch eine tiefe individuelle Überzeugung für die Aufgaben und Ziele der Organisation auszeichnen. Verbunden ist dies mit einem hohen Interesse an der Aufgabenerfüllung. Viele der Organisationsmitglieder „machen das nicht aus Job- oder Berufsdenken, sondern da ist mehr dahinter“ [C2, SEP]. Für sie ist der ergriffene Beruf weniger ein „Job“, als vielmehr eine Berufung, wie folgende Zitate belegen: „Für mich selbst ist die Feuerwehrarbeit eine Berufung – wie gesagt: Es war schon ein Kindheitstraum.“ [B4, Feuerwehr] „Viele Kollegen sehen das als Berufung und nicht als Beruf.“ [C2, SEP] „Als Kind wollte ich immer Lebensretter werden. Da sagte ich immer: ‚Wenn ich groß bin, dann werde ich mal Lebensretter.’“ [E3, Rettungsdienst] Häufig motivieren sich die Organisationsmitglieder durch außergewöhnliche und herausfordernde Einsätze, die sie zu einer hohen Leistungs- und Einsatzbereitschaft anspornen: „Dass ich diesen Job mache, weil ich genau diese Einsätze machen will. Denn genau das ist für mich die Herausforderung. Da weiß ich, dass ich gebraucht werde und auch was ausrichten kann.“ [E2, Rettungsdienst] „Es gibt eigentlich nichts Schöneres, als festzustellen, dass die Lage gelöst ist und die Kollegen dankbar sind, dass wir da waren.“ [C2, SEP] „Außergewöhnliche Situationen sind eher ein Ansporn. Die Leute gehen dann eher aus sich heraus. […]du tust mehr, du gehst weiter, du lehnst dich auch weiter aus dem Fenster hinaus und riskierst mehr als für eine Standardsituation.“ [B2, Feuerwehr] Neben diesen Herausforderungen ist die Zugehörigkeit zu einer besonderen Einheit oder Organisation motivierend und wirkt sich positiv auf die Einsatzbereitschaft und die Aufgabenerfüllung aus. „Ein freiwilliger Feuerwehrmann macht das immer als Hobby. Und wenn er es nicht mehr betreiben will, dann braucht er auch nicht mehr hingehen. Aber wenn ich hingehe, dann habe ich Interesse. Und immer wenn ich Interesse an einer Sache habe, dann weckt das meine Neugier und ich möchte das auch mit bestmöglichem Erfolg betreiben.“ [B1, Feuerwehr] „Bei uns ist jeder freiwillig hier. Da kommt man nie in die Lage, dass man jemanden in den Hintern treten muss.“ [C2, SEP] Mitarbeiter der betrachteten Organisationen zeichnen sich durch eine hohe intrinsische Motivation aus, die sich oftmals auch auf das Lernen und die Kompetenzentwicklung bezieht. Obwohl es keine vorgeschriebenen Trainingsnachweise gibt, haben „die Kollegen von sich  137

B4, Feuerwehr.

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

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aus eine hohes Interesse an Übung und Training […]. Häufig sagen die Gruppen selbst, dass eine bestimmte Situation schon lange nicht mehr Übungsgegenstand war und wieder trainiert werden soll“ [C1, SEP]. Die Kenntnis der potenziellen Gefahren für die Gesundheit und das Leben Dritter führt zu einer ethisch-moralischen Verantwortung. Daher messen die Mitarbeiter der untersuchten Organisationen jedem Einsatz eine hohe Bedeutung und Aufmerksamkeit bei und agieren entsprechend. So meinte ein Mitarbeiter der befragten Freiwilligen Feuerwehreinheit, dass sie „immer noch nachts um drei Uhr aufstehen, auch wenn wir ganz genau wissen, dass es aller Voraussicht ‚nur’ das Kreiskreiskrankenhaus sein kann“ [B2, Feuerwehr], und es sich dabei in 90 Prozent der Fälle um einen Fehleinsatz handelt. Ist es jedoch ein Realeinsatz, dann „geht es richtig zur Sache, […] so dass du dann mit ganz großen Maßnahmen eingreifen musst“ [B2, Feuerwehr]. Die Kenntnis der potenziellen Gefahren führt zu einem vorausschauenden Handeln, um auf Eventualitäten und unvorhergesehene Situationen vorbereitet zu sein: „(…) zum Beispiel schon einen Helikopter bereitstellen, der auf meine Rückmeldung wartet, ob man ihn braucht, oder nicht.“ [E2, Rettungsdienst] „Wenn es eben nur ein vergessener Topf auf dem Herd war, dann waren eben drei Einheiten vielleicht zu viel. Wenn ich aber ein komplexes Altstadtgebäude habe, wo die Treppenhäuser im Nachbarhaus sind und ich gar nicht weiß, wie ich in den Wohnbereich hineinkomme, dann ist diese Größenordnung – jeder Mann – zwingend notwendig, um überhaupt Erfolg zu haben.“ [B2, Feuerwehr] „Im Nachhinein hat sich dann herausgestellt, dass die Geiselnahme nicht immer die Bedeutung hatte, die wir ihr mit dem ’großen Programm’ beigemessen hatten.“ [F1, SEP] Mitarbeiter der untersuchten Organisationen setzen oftmals ihr eigenes Leben ein, um andere Menschen zu retten oder einen Einsatz erfolgreich zu beenden. Daher ist die Rückmeldung und die Anerkennung der erbrachten Leistung sowie des Einsatzerfolges eine große Motivation. „Für uns ist es ein Stück weit Bestätigung des Tuns oder des Handelns, wenn wir eine Person noch lebend herausgeholt haben oder wir einen Gebäudekomplexkomplett gehalten haben.“ [B2, Feuerwehr] „Der erfolgreiche Einsatz an sich ist ein positives Element, welches nochmals dargestellt wird und an sich Anlass zur Anerkennung und zur Freude ist. Das muss der Einsatzleiter rüberbringen.“ [F1, SEP] Damit sind eine hohe Motivation und Einsatzbereitschaft der Mitarbeiter ebenfalls wichtige Faktoren, die sich auf die Handlungsfähigkeiten der betrachteten Organisationen auswirken.

172

Kapitel 7

7.9.2 Hohe Motivation und Einsatzbereitschaft Die empirischen Ausführungen des vorangegangenen Abschnitts verdeutlichen, dass die Mitarbeiter der betrachteten Rettungsdienste, Feuerwehr- und Polizeieinheiten über eine tiefe innere Überzeugung und ein großes Interesse für die Aufgaben und Ziele der jeweiligen Organisation verfügen. Die Verbundenheit eines Mitarbeiters mit dem Arbeitgeber, dem Unternehmen oder der Organisation kann allgemein als organisationales Commitment bezeichnet werden. Es stellt eine besondere Intensität der Beziehung zwischen Individuum und Arbeitgeber dar, welche die Bereitschaft impliziert, für die Organisation Leistung zu erbringen (vgl. Wilkens 2004:115): „A person has a sense of commitment to the organization he/she works for. This may involve identification with, tendency to stay in, and willingness to exert efforts for the organization” (Baruch 1998:135). Organisationales Commitment ist ein Aspekt der Unternehmensbindung und zeigt die intensitätsmäßige Bindung von Mitarbeitern an eine Organisation auf (vgl. Wilkens 2004). Dabei lässt sich Commitment zum einen über geäußerte Einstellungen zur Organisation und zum anderen über das tatsächliche Verhalten von Mitarbeitern erschließen. Hierbei unterteilt die Commitmentforschung in Einstellungskonstrukte (attitudinal commitment) und Verhaltenskonstrukte (behavioural commitment). Einstellungskonstrukte erfassen beispielsweise, wie Mitarbeiter das Verhältnis zu ihrem Arbeitgeber einschätzen oder inwieweit eine Kongruenz zwischen den eigenen und den Zielen der Organisation besteht (vgl. Baruch und Cohen 2007; Wilkens 2004:115). Verhaltenskonstrukte suchen zu ergründen, wie Mitarbeiter in der Organisation gehalten werden bzw. aufgrund welcher Basis, Anreize oder Konditionen sie ihren Arbeitgeber nicht wechseln. Bei dem Versuch, organisationales Commitment genauer zu bestimmen, lassen sich außerdem zwei Ansätze unterscheiden: Kalkulative Ansätze konzipieren Commitment als abhängig von exogenen Faktoren (wie z. B. Höhe des Einkommens oder hierarchische Position) oder internen Faktoren (u. a. die Beziehung zu Kollegen). Einstellungsorientierte Ansätze hingegen betonen, dass Commitment auf eine innere Einstellung zurückgeführt werden kann, indem sich beispielsweise das Individuum mit der Organisation identifiziert oder durch seine Mitgliedschaft im Unternehmen eigene Ziele verwirklichen kann (vgl. Baruch und Cohen 2007). Ausgehend von den oben vorgestellten Erkenntnissen zeichnet sich ab, dass die Mitarbeiter der befragten Organisationen eine tiefe innere Überzeugung für die Aufgabe und die Ziele der Organisation haben, so dass deren Verbundenheit sich daher insbesondere über einstellungsorientierte Merkmale des Commitments erklären lassen. Das erfolgreiche Erreichen von Einsatzzielen verleiht dem Handeln eine Bedeutung und wirkt sich motivierend auf die Mitarbeiter aus (vgl. Schultheiss und Brunstein 1997:308). Wie oben dargestellt, zeigen die befragten Organisationsmitglieder eine hohe, intrinsisch motivierte Leistungs- und Einsatzbereitschaft, wenn es darum geht, gesetzte Ziele und Aufgaben zu erreichen. Eine Begründung für diese hohe Leistungsmotivation könnte in einem starken Interesse an der Aufgabenerfüllung und dem damit verbundenen Verschmelzen von individuellen und organisationalen Zielen (Alignment vgl. Kapitel 7.1.2) gesehen werden. Das Modell des

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

173

so genannten „Hochleistungszyklus“ (high performance cycle) (vgl. Locke und Latham 1990) stellt einen Zusammenhang zwischen der Wechselbeziehung von Arbeitsmotivation und -zufriedenheit sowie deren Auswirkung auf die Arbeitsleistung her. Die Grundlage dieses Erklärungsansatzes ist die Zielsetzungstheorie von Locke und Latham (1990), wonach sich insbesondere der Schwierigkeitsgrad der Zielstellung über die individuelle Motivation und Zufriedenheit auf die Leistung auswirkt. Individuelle Motivation und Zufriedenheit stehen hierbei in einer Wechselbeziehung: Der Leistungserfolg spiegelt sich im Grad der individuellen Zufriedenheit wider. Werden besonders herausfordernde Ziele erreicht, dann ist auch die Zufriedenheit sehr hoch. Gleichzeitig verstärkt die Zufriedenheit die Motivation, auch künftig den Anforderungen und herausfordernden Aufgaben der Organisation zu genügen (vgl. Wiendieck 1994:125). Wie stark Arbeitsmotivation und -zufriedenheit die Leistung beeinflussen, hängt nach Locke und Latham von der Ausprägung der folgenden Faktoren ab (vgl. Locke und Latham 1990:7ff.): x

Schwierigkeitsgrad der Zielstellung: Herausfordernde und präzise Leistungsziele sind motivierender als mittlere und diffuse Ziele.

x

Fähigkeiten der Mitarbeiter: Wissen und Können der einzelnen Mitarbeiter sind notwendig, um Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen.

x

Ausprägung des Zielcommitments der Mitarbeiter: Herausfordernde Ziele können nur erreicht werden, wenn ein hohes Commitment der Mitarbeiter gegenüber den Zielen besteht.

x

Feedback über den Grad der Zielerreichung: Eine klare Rückkopplung aus der Umwelt über den aktuellen Fortschritt oder Erfolg bei der Zielverwirklichung sind wichtig.

x

Grad der Erwartung und Selbstwirksamkeit: Mitarbeiter müssen selbst einschätzen können, inwieweit sie die an sie gestellten Herausforderungen und Zielstellungen erfüllen können.

x

Schwierigkeitsgrad der Aufgaben (Aufgabenkomplexität): Handhabbare und nicht zu komplexe Aufgaben erhöhen die Leistungsbereitschaft der Mitarbeiter, die herausfordernden Ziele zu erreichen.

Je nach Ausprägung dieser Rahmenbedingungen ergibt sich ein unterschiedliches Leistungsniveau. Ein spezifisches herausforderndes Ziel hat seinen größten Effekt, wenn a) die Individuen über das notwendige Wissen und Können verfügen, b) bei ihnen ein Zielcommitment besteht, c) sie eine Rückmeldung über den aktuellen Fortschritt bei der Zielverwirklichung bekommen, d) die Mitarbeiter hohe Erwartungen an sich selbst haben, die gesetzten Ziele zu erreichen und e) es sich bei den Aufgaben um handhabbare, einfache und nicht zu komplexe Aufgaben handelt (vgl. Locke und Latham 1990:11). Diese Bedingungen sind in den untersuchten Organisationen weitgehend gegeben. Die Einsatzziele sind überwiegend herausfor-

174

Kapitel 7

dernd und werden vor dem operativen Einsatzbeginn so präzise wie möglich formuliert. Die Organisationsmitglieder verfügen über ein sehr hohes Zielcommitment und haben die Kenntnisse und Fähigkeiten, die sie benötigen, um ihre Teilaufgaben erfolgreich zu erledigen. Ferner bekommen sie nach Einsatzende ein zeitnahes Feedback über ihren Handlungserfolg. Die Zielsetzungstheorie und das Modell des „Hochleistungszyklus“ liefert damit eine plausible Erklärung für die hohe Leistungsbereitschaft der Organisationsmitglieder.

7.10 Ergebniszusammenfassung und -diskussion In der hier durchgeführten explorativen Erhebung wurden Einheiten von medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehren und Spezialeinheiten der Polizei untersucht. Wie mehrfach betont, waren diese bisher selten Untersuchungsgegenstand verlässlichkeitsorientierter Forschungen, so dass geringe Kenntnisse über deren Handlungsbedingungen und handlungsbeeinflussende Faktoren bestanden. Dieses Defizits hat sich die vorliegende Arbeit angenommen und liefert durch die eigene Untersuchung erste empirisch fundierte Einblicke in die situativen Handlungsbedingungen und verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren dieser Organisationen in Hochrisikoumwelten. Wie in den vorangegangenen Abschnitten erläutert, ähneln sich die betrachteten medizinischen Rettungsdienste, Feuerwehr- und Polizeieinheiten nicht nur hinsichtlich der situativen Bedingungen. Sie besitzen ferner Gemeinsamkeiten, die sich auf ein verlässliches und situationsangepasstes Handeln in den komplexen Umwelten auswirkt. Tabelle 10 fasst nochmals die empirisch identifizierten verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren im Überblick zusammen.

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren

Gemeinsame Zielwahrnehmung und Zielorientierung

Teamhandeln

Offenheit im Umgang mit Erfahrung und Fehler

Arbeitsbezogenes erfahrungsbasiertes Lernen

Erläuterung

x

Mitarbeiter haben klare Vorstellung über das gemeinsam zu erreichende Einsatzziel

x

Mitarbeiter haben eine gemeinsame Zielwahrnehmung

x

Einsatzziele werden akzeptiert und wirken handlungsleitend

x

Mitarbeiter können flexibel auf geänderte Zielstellungen reagieren

x

Einsatzziele können nur gemeinsam im Team erreicht werden

x

Das Team ist zentrale Aktionseinheit

x

Mitarbeiter können und wollen im Team arbeiten

x

Ausgewogene Erfahrung des Teams ist wichtig für die Teamzusammensetzung

x

Aufgetretene Fehler werden zu korrigieren versucht

x

Aufgetretene Fehler werden angesprochen, diskutiert und analysiert

x

In Fehlern wird ein hohes Lernpotenzial gesehen

x

Es finden ausgeprägte Reflexionsprozesse im Rahmen der Einsatznachbereitung statt

x

Mitarbeiter reflektieren gemeinsam alle erlebten Einsätze – entweder formell oder informell

x

Gegenstand der Reflexion sind vorwiegend Fehler und unvorhergesehene Situationen

x

Ziel der ENB: gemeinsam aus Situation, Problemen und Fehlern lernen

x

Wegen des hohen Lernpotenzials ist ENB zentraler Bestandteil der Aus- und Weiterbildung

x

Formale Organisationsstruktur und Einsatzorganisationsstruktur sind nicht identisch

x

Einsatzorganisationsstruktur richtet sich nach jeweiliger Situation, Einsatzart, -größe und -umfang

x

Es kommt zu einer einsatzbezogenen Unterordnung formal vorgesetzter Mitarbeiter im Einsatz

Flexible Einsatzstruktur und -führung

Akzeptiertes Rollenkonzept

x

Einsätze werden koordinativ geführt

x

Regelt Teilziele, Aufgaben und Verantwortung der jeweiligen Rollen

x

Fördert bei Mitarbeitern eine gemeinsame gedankliche Repräsentation darüber, wie Einsätze ablaufen und verschiedene Teilaufgaben ineinander greifen

Redundante fachliche Kompetenzen

x

Sind Basis für das Einsatzhandeln

x

Ermöglichen Mitarbeiter, unterschiedliche Rollen und Aufgaben während des Einsatzes zu übernehmen

x

Werden gezielt im Rahmen der Aus- und Weiterbildung aufgebaut

x

Hängt von Erfahrung und Stressresistenz der jeweiligen Mitarbeiter ab

x

Ermöglicht, frühzeitig Situationen/Situationsveränderungen wahrzunehmen, zu verarbeiten und entsprechend zu handeln

x

Mitarbeiter verfügen über hohe Motivation

x

Mitarbeiter besitzen hohe Einsatzbereitschaft für die grundlegenden Ziele der Organisation

Ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit

Hohe Motivation und organisationales Commitment

Tabelle 10:

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der betrachteten Organisationen

175

176

Kapitel 7

Wie bei den verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren der High Reliability- und Human Factors/Crew Resource Management-Forschung zeigt sich, dass auch die empirisch identifizierten Faktoren über unterschiedliche Ebenen auf die organisationale Handlungsfähigkeit und damit Sicherheit einwirken. Um das in Teil B abgeleitete Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren ergänzen zu können, bietet es sich an, die empirisch gefundenen Faktoren dementsprechend zu klassifizieren. Die so vorgenommen Unterteilung stellt sich folgendermaßen dar (vgl. Abbildung 17).

ZUVERLÄSSIGKEIT

x x x

Redundante fachliche Kompetenzen Wahrnehmungsfähigkeit Hohe Motivation und organisationales Commitment

x

Handlungsbeeinflussende Faktoren

Team

Individuum

x

x

x

Gemeinsame Zielwahrnehmung und Zielorientierung x Zielklarheit x Zielwahrnehmung x Zielakzeptanz und -orientierung Teamhandeln x Teamorientierung x Teamkompetenz x Teamzusammensetzung Arbeitsbezogenes erfahrungsbasiertes Lernen x Reflexionsprozesse x Formelle ENB x Informelle ENB Offenheit im Umgang mit Erfahrungen und Fehlern

Struktur/Organisation x x

Abbildung 17:

Flexible Einsatzorganisation und -führung Akzeptiertes Rollenkonzept

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

In den folgenden Teilkapiteln werden die Untersuchungsergebnisse nochmals repetitiv aufgeführt und dabei in teambezogene, strukturelle und personenbezogene Faktoren unterteilt.

7.10.1 Teambezogene Faktoren Hinsichtlich der teambezogenen Faktoren lässt sich festhalten, dass die Mitarbeiter der betrachteten Organisationen über eine gemeinsame Zielwahrnehmung und Zielorientierung verfügen. Ziele sind dabei Aussagen über erwünschte Zustände, die durch das gemeinsame Einsatzhandeln eintreten sollen (vgl. Bea 2004:316). Obwohl die Einsatzzielstellungen häufig auf der Hand zu liegen scheinen, werden diese vor Einsatzbeginn in den betrachteten Organisationen überwiegend nochmals explizit verdeutlicht. Dies dient der Zielklarheit bei den Mitarbeitern und führt einerseits dazu, Fehlinterpretationen zu vermeiden, andererseits leiten sich daraus die jeweiligen Teilziele, Aufgaben und Verantwortlichkeiten für die Einsatzmitarbeiter ab. Die handlungsleitende Funktion der Ziele sowie die große Zielakzeptanz und orientierung und das Alignment der Mitarbeiter (vgl. Schultheiss und Brunstein 1997:308;

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

177

Senge 1996:285) führt dazu, dass die Organisationsmitglieder ihr Handeln schnell und flexibel an sich verändernde Zielstellungen anpassen können. Das Team ist die zentrale Aktionseinheit in den betrachteten Organisationen. Dies geht mit bestehenden Erkenntnissen der verlässlichkeitsorientierten Forschungen einher (vgl. Wilson et al. 2005). Die Mitarbeiter der Organisationen verfügen über eine ausgeprägte Teamorientierung. Sie sind sich darüber bewusst, dass sie die Einsatzziele nur durch eine gemeinsame, arbeitsteilige Zusammenarbeit unter Integration verschiedener Fähigkeiten und Kompetenzen erreichen können. Obwohl sich die Regeln und Methoden der Teamzusammensetzung für einen Einsatz in den betrachteten Organisationen unterscheiden, achten alle Organisationen hinsichtlich der Erfahrung auf eine ausgewogenen Teamzusammensetzung. D. h., die Teams werden so zusammengestellt, dass die für das Einsatzhandeln notwendigen Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen im jeweiligen Team vorhanden sind und nicht nur erfahrene oder nur unerfahrene Organisationsmitglieder ein Team bilden. Zudem zeigte sich, dass die Mitarbeiter der betrachteten Organisationen über entsprechende Teamkompetenzen verfügen, die ein überwiegend reibungsloses Zusammenarbeiten ohne interpersonelle Konflikte ermöglichen. Dies führt dazu, dass etwaige persönliche Interessen, Streitigkeiten oder Animositäten zwischen den Mitarbeitern im Einsatz hinten angestellt werden und sich nicht nachteilig auf das Einsatzhandeln auswirken. Die ausgeprägte Teamarbeit fördert den Aufbau von transaktivem Wissen sowie ein gemeinsames Verständnis der Situation und des Handelns. Wegen der potenziellen Gefahren für die Gesundheit und das Leben von Menschen wird das Handeln der betrachteten Organisationen oft von einem großen öffentlichen Interesse begleitet (vgl. Mannarelli et al. 1996:84; Helmreich und Merritt 1998:143). Dies erzeugt bei den Mitarbeitern ein gemeinsames Verantwortungsgefühl und eine hohe Leistungsbereitschaft. Sie sind daher bestrebt, ihre Handlungsfähigkeit permanent zu verbessern. Daher lässt sich bei den betrachteten medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehreinheiten und Spezialeinheiten der Polizei eine grundsätzliche Offenheit im Umgang mit Erfahrungen und Fehlern feststellen.138 Dies zeigt sich insbesondere in der ausgeprägten Reflexion des Einsatzhandelns in Form von formellen und informellen Einsatznachbereitungen während der abschließenden Phase des Einsatzablaufes. Die Regelmäßigkeit und der Strukturierungsgrad der Einsatznachbereitung hängen dabei von den Organisationen sowie der Einsatzschwere und -größe ab. Generell ermöglicht die Nachbereitung der Einsätze, Handlungen und Entscheidungen transparent zu machen sowie aus aufgetretenen Fehlern und Zwischenfällen zu lernen. Damit lässt sich künftiges Handeln verbessern. Auf der individuellen Ebene hilft die informelle Nachbereitung den Mitarbeitern, psychisch belastende Einsätze besser zu verarbeiten. In der Einsatz 138

Hinsichtlich der hier gewählten Klassifikation der handlungsbeeinflussenden Faktoren stellt sich die Frage, inwieweit der offene Umgang mit Erfahrungen und Fehlern allein den teambezogenen Faktoren zuzurechnen ist. Zwar beeinflusst die Offenheit den Umgang der Mitarbeiter untereinander, spiegelt jedoch eine gewisse Grundeinstellung wider und ließe sich daher auch als ein kultureller Aspekt, der sich in Werten und Normen der jeweiligen Organisation wiederfindet, auffassen.

178

Kapitel 7

nachbereitung und der damit verbundenen Reflexion des Handelns wird ein hohes Lernpotenzial gesehen. Wie in Kapitel 8.3 ausführlich erläutert wird, stellt die Einsatznachbereitung eine Möglichkeit des arbeitsbezogenen, erfahrungsbasierten Lernens dar, welches den betrachteten Organisationen hilft, die eigene Leistungsfähigkeit kontinuierlich zu verbessern (vgl. z. B. Bergmann 2000b; Bergmann 2005; Dehnbostel 2002; Reuther und Weiß 2003; Schiersmann und Remmele 2002). Hauptsächlich werden Zwischenfälle und Fehler zum Gegenstand der Einsatznachbereitungen gemacht. Dabei zeigt sich, dass das gegenseitige Vertrauen und die Offenheit der Mitarbeiter den Austausch von Erfahrungen beeinflussen.

7.10.2 Strukturelle Faktoren Unter strukturellen Gesichtspunkten verfügen die Organisationen sowohl über eine formale Organisationsstruktur als auch über eine Einsatzorganisationsstruktur, die sich sehr flexibel an die jeweilige Einsatzsituation anpasst. Dabei dominiert die Einsatzstruktur die formale Organisation, so dass es zu einer einsatzbezogenen Unterordnung formal vorgesetzter Mitarbeiter kommen kann. Unterstützt wird dies durch ein von allen Mitarbeitern geteiltes und akzeptiertes Rollenkonzept. Die verschiedenen Rollen stellen Verhaltenserwartungen bezüglich der Teilziele, Aufgaben und Verantwortungen an eine Position in der Einsatzorganisation dar (vgl. Neuberger 2002:314; Macharzina 2003:484). Sie regeln auch die Informationsund Kommunikationsbeziehungen während eines Einsatzes. Im Rahmen gemeinsamer praxisorientierter Grundaus- und Weiterbildungen lernen die Mitarbeiter die unterschiedlichen Rollen kennen. Gleichzeitig bauen sie transaktives Wissen auf und entwickeln ein gemeinsames Verständnis dafür, wie Einsätze ablaufen sollen, d. h., wie die Teilziele und Aufgaben der einzelnen Rollen ineinander greifen und so zum erfolgreichen Einsatzablauf beitragen. Für ein erfolgreiches Einsatzhandeln ist eine entsprechende Einsatzführung der Beteiligten notwendig. Im Rahmen der fachlichen und koordinativen Einsatzführung wird der Einsatz geplant und gesteuert. Neben der Ressourcenbereitstellung ist es Aufgabe der Führung, das Einsatzziel sowie die Einsatzaufgaben zu bestimmen und die operativen Einzelaktivitäten zu koordinieren (vgl. Badke-Schaub und Lorei 2003:154). Die Steuerung des Einsatzes wird dabei nicht alleine durch eine Person vorgenommen, sondern durch alle Mitarbeiter, ihre Informationen, Teilentscheidungen und Handlungen vor Ort unterstützt.

7.10.3 Personenbezogene Faktoren Personenbezogene Faktoren wirken sich auf einer individuellen Ebene handlungsbeeinflussend auf die Organisation aus. Zu diesen Faktoren zählen eine hohe Redundanz an fachlichen Kompetenzen der Mitarbeiter, eine große Situations- und Umweltwahrnehmungsfähigkeit erfahrener Mitarbeiter sowie eine sehr hohe Motivation und Verbundenheit der Mitarbeiter gegenüber den Aufgaben und Zielen der Organisation.

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

179

Die betrachteten Organisationen sehen in redundanten fachlichen Kompetenzen die Grundlage des flexiblen Einsatzhandelns. Deshalb fördern sie durch ihre Grundaus- und Weiterbildung gezielt den Erwerb praxisrelevanter, überlappender fachlicher Kenntnisse und Fähigkeiten. Im Rahmen der Aus- und Weiterbildungsaktivitäten stehen daher weniger theoretische, abstrakte Lerninhalte im Mittelpunkt. Vielmehr sollen sich die Mitarbeiter praxisrelevante Einsatzkenntnisse und -fähigkeiten selbständig und selbstorganisiert aneignen (vgl. u. a. Bergmann 2005:104; Reuther und Weiß 2003:97ff.; Bauer und Munz 2004:57). Diese grundlegenden Kenntnisse und Fähigkeiten müssen kontinuierlich angewendet, gefestigt und ausgebaut werden, um einen systematischen Erfahrungsaufbau zu fördern. Neben den realen Einsätzen erfolgt dies durch Übungen und Trainings. Ergänzt werden die grundlegenden Kompetenzen der Mitarbeiter durch individuelle Spezialkenntnisse und -fähigkeiten. Zudem hat sich gezeigt, dass die Fähigkeit, Situationen und deren Veränderungen ganzheitlich wahrzunehmen, sehr wichtig für ein verlässliches Handeln ist und meist Experten zugeschrieben wird (vgl. Benner 1994; Klein 2003b; Schön 2002; Gruber und Renkl 2000:160f.). Aufgrund ihrer Erfahrung und Stressresistenz sind diese in der Lage, auch in extremen Situationen einsatzrelevante Sachverhalte wahrzunehmen, zu verarbeiten und zielorientiertes Handeln daraus abzuleiten. Die Wahrnehmungsfähigkeit stellt eine wesentliche nicht-fachliche Fähigkeit in der verlässlichkeitsorientierten Forschung dar und wirkt sich maßgeblich auf das Entscheiden und Handeln in kritischen Situationen aus (z. B. Klein 1995; Klein 1997b). Insbesondere für einsatzleitende Personen ist eine schnelle und ganzheitliche Wahrnehmungsfähigkeit wichtig, um sich so einen Gesamtüberblick über den Einsatz zu verschaffen. Der Erwerb dieser Fähigkeit erfolgt gezielt mit Hilfe realitätsnaher Übungen und Simulationen im Rahmen von Aus- und Weiterbildung. Ein weiteres Merkmal, das den personenbezogenen Faktoren zugeordnet wird, ist die hohe Motivation und das organisationale Commitment. Mitarbeiter der betrachteten Rettungsdienste, Feuerwehr- und Polizeieinheiten verfügen über eine tiefe innere Überzeugung und ein großes Interesse an den Aufgaben und Zielen der jeweiligen Organisation. Ihre Verbundenheit lässt sich somit weitgehend über einstellungsorientierte Merkmale des Commitments beschreiben (vgl. Baruch und Cohen 2006; Wilkens 2004:115). Die große intrinsisch motivierte Leistungsbereitschaft ist dabei durch eine hohe Übereinstimmung individueller und organisationaler Ziele zu begründen, die wiederum eine positiv sich steigernde Wechselwirkung zwischen Arbeitsmotivation und Arbeitszufriedenheit zur Folge hat (vgl. Locke und Latham 1990; Senge 1996). Vor allem eine kurzfristige Rückmeldung über den jeweiligen Handlungserfolg wirkt sich besonders motivierend aus.

180

Kapitel 7

7.10.4 Ganzheitliche Betrachtung der Faktoren Diese in der Untersuchung gewonnenen Faktoren sind jedoch nicht isoliert zu betrachten. Vielmehr stehen sie in einem wechselseitigen Zusammenhang hinsichtlich der Handlungswirkung für den Einsatz. Wie einer der Interviewpartner erklärte, spielen in handlungsfähigen Organisationen Technik und Mensch eine „Symphonie“, „diese zu beherrschen ist das A und O“ [B2, Feuerwehrs]. Das Zusammenspiel der verschieden Faktoren kann anhand der Phasen des Einsatzablaufes verdeutlicht werden (vgl. Abbildung 18).

Einsatzvorbereitung

x Zielklarheit x Commitment x Motivation

Einsatzdurchführung

x x x x x x

handlungsleitende Ziele flexible Einsatzorganisation akzeptiertes Rollenkonzept fachliche Kompetenz Wahrnehmungsfähigkeit Teamhandeln

Einsatznachbereitung

x Reflexion durch formelle und informelle ENB x Offener Umgang mit Fehlern

Lernen/Handlungsfähigkeit

Abbildung 18:

Prozessmodell des Einsatzhandelns

Grundsätzlich setzt die Durchführung eines Einsatzes ein Commitment und die Motivation der Mitarbeiter zum Handeln voraus. Diese sollte in der Phase der Einsatzvorbereitung aktiviert und verstärkt werden. Gleichzeitig gilt es in diesem Schritt, die Einsatzziele klar zu formulieren, an denen die Mitarbeiter ihr Handeln während der Einsatzdurchführung ausrichten können. Für eine erfolgreiche Einsatzdurchführung müssen die Mitarbeiter gemeinsam im Team auf das Einsatzziel hinarbeiten und ferner über die entsprechenden Kenntnisse, Fähigkeiten und Erfahrungen zur Durchführung des Einsatzes verfügen. Ein ausgeprägtes und von allen Mitarbeitern akzeptiertes Rollenkonzept hilft ihnen, eine flexible und situationsangepasste Einsatzorganisationsstruktur aufzubauen und erleichtert die Zusammenarbeit der Mitarbeiter während des Einsatzes. Um entscheidungs- und handlungsrelevante Informationen über Situationsveränderungen während des operativen Einsatzhandelns frühzeitig erkennen, bewerten und verarbeiten zu können, bedarf es vor allem einer entsprechenden Wahrnehmungsfähigkeit. An die operative Einsatzdurchführung schließt sich die Phase der Einsatznachbereitung an. Retrospektiv wird in ihr das Einsatzhandeln kritisch reflektiert. Dies erfordert ein Klima des Vertrauens und der Offenheit unter den Kollegen sowie die Bereitschaft, aufgetretene Fehler offen zu kommunizieren. Im Ergebnis wirkt sich die Einsatznachbereitung auf die Durchführung künftiger Einsätze aus. Einerseits führt die Reflexion zu einem Erfahrungserwerb bei den einzelnen Mitarbeitern – und damit zu einem Lernprozess. Andererseits

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

181

beeinflussen die Ergebnisse der Reflexion die Ausgestaltung der Lerninhalte von Aus- und Weiterbildungsaktivitäten –was sich wiederum mittelfristig auf das Einsatzhandeln auswirkt. Das wiederholte Durchlaufen der drei Einsatzphasen kann daher als ein zirkulärer Lernprozess aufgefasst werden, mit Hilfe dessen Mitarbeiter Erfahrungen und Kompetenzen auf- und ausbauen. Ausgehend von dem ersten zentralen Erkenntnisinteresse dieser Arbeit, zielte die hier durchgeführte explorative Erhebung darauf ab, verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren in bisher weniger betrachteten Organisationen in Hochrisikoumwelten zu identifizieren und das am Ende von Teil B entwickelte Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren zu erweitern. Mit der Untersuchung von medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehr- und Polizeispezialeinheiten ist es in der Arbeit gelungen, erste fundierte Einblicke in bisher weniger betrachtetet Organisationen in Hochrisikoumwelten zu geben. Vor allem liefert die Arbeit empirisch abgeleitete Erkenntnisse hinsichtlich der situativen Handlungsbedingungen sowie der verlässlichkeitsorientierten Faktoren. Im Ergebnis untermauern und erweitern die empirisch gewonnenen Erkenntnisse die aus der High Reliability- und Human Factors/Crew Resource Management-Forschung abgeleiteten verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren. Davon ausgehend lässt sich das Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren wie folgt ergänzen (vgl. auch Abbildung 19): Auf der organisationsexternen Seite erweitern die situativen Handlungsbedingungen das Modell. Wie die Erläuterungen in Kapitel 3.2 und Kapitel 6 gezeigt haben, sind diese Handlungsbedingungen Merkmale von kritischen und komplexen Situationen (vgl. Dörner und Schaub 1995:38; Dörner 2004:58ff.; von der Weth 2001:124f.; Hofinger 2003:115ff.; St. Pierre et al. 2005:5, 17ff.). D. h., die betrachteten Organisationen agieren in sehr dynamischen Umwelten und sind stellenweise mit intransparenten Situationen konfrontiert, in denen sie auf Basis von suboptimalen Informationen unter Stress oder einem hohen Zeitdruck entscheiden und handeln müssen. Die empirischen Untersuchungen zeigten, dass sowohl die Motivation und das organisationale Commitment der Mitarbeiter (vgl. Wilkens 2004:114f.; Locke und Latham 1990) als auch deren ausgeprägte redundante fachliche Kompetenzen wichtige Faktoren sind, die sich über die individuelle Ebene auf die organisationale Handlungsfähigkeit auswirken. Daher kann das Modell auf der individuumsbezogenen Ebene um diese Faktoren ergänzt werden. Unter den teambezogenen Aspekten zeigte sich, dass das Team die zentrale Aktionseinheit ist, mit der die betrachteten Organisationen ihre Einsatzaufgaben erledigen. Dies korrespondiert mit den Erkenntnissen der verlässlichkeitsorientierten Forschungen. Wie die Ausführungen zu Human Factors/CRM zeigen, weist diese Perspektive dem Team explizit eine hohe Bedeutung für den Aufbau und Erhalt organisationaler Verlässlichkeit zu, während in der High Reliability-Forschung die Bedeutung des Teams lediglich implizit anklingt (z. B. Wilson et al. 2005). Im Modell wird daher das Teamhandeln nicht (wie bisher in der Human Factors/CRMForschung) nur unter dem Punkt Kooperationsfähigkeiten subsumiert, sondern explizit her-

182

Kapitel 7

vorgehoben und um die Teilkomponenten Teamorientierung, Teamkompetenz und Teamzusammensetzung ergänzt. Die Zusammenarbeit im Einsatz, so zeigt die empirische Untersuchung, wird durch die gemeinsame Zielwahrnehmung und Zielorientierung der Mitarbeiter beeinflusst (vgl. Schultheiss und Brunstein 1997:308; Senge 1996:286). Im Modell erweitert daher dieser Aspekt den bestehenden Faktor der Kooperationsfähigkeiten. Zudem wirken sich die ausgeprägten gemeinsamen Reflexionsprozesse im Rahmen der formellen und informellen (Einsatz-)Nachbereitungen positiv auf ein künftiges koordiniertes und gemeinsames Handeln in komplexen Situationen aus. Sie fördern den Erwerb von Kenntnissen und Erfahrungen und unterstützen die Bildung einer gemeinsamen Situationswahrnehmung sowie den Aufbau von transaktivem Wissen unter den Kollegen. Die gemeinsamen Reflexionen im Team ermöglichen ein arbeitsbezogenes, erfahrungsbasiertes Lernen (vgl. z. B. Bergmann 2000b; Bergmann 2005; Dehnbostel 2002; Reuther und Weiß 2003; Schiersmann und Remmele 2002) und stellen einen wichtigen verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktor von Organisationen in Hochrisikoumwelten dar. In diesem Zusammenhang bieten vor allem Fehlhandlungen, Fehler oder Störungen während des Handelns eine große Chance für das Lernen (vgl. Weick 1987; Helmreich und Merritt 2000; Bauer und Munz 2004). Der offene Umgang mit Fehlern und Erfahrungen wirkt zwar auf der Teamebene, ist jedoch tiefer in den Werten und Normen einer Organisation verwurzelt. Er soll im Modell daher den kulturellen Aspekten zugeordnet werden und damit die Bedeutung einer verlässlichkeitsorientierten Organisationskultur (vgl. Reason 2000b; Weick und Sutcliffe 2003) betonen. Mit den empirisch gewonnenen Erkenntnissen über die flexible Einsatzorganisation und das damit verbundene, von allen Mitarbeitern akzeptierte Rollenkonzept wurde das Modell um wichtige strukturelle Faktoren ergänzt.

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren der untersuchten Organisationen

183

ZUVERLÄSSIGKEIT

GEMEINSAME ACHTSAMKEIT

Konzentration auf Fehler

Abneigung gegen vereinf. Interpretation

Antizipation Ö Fähigkeit zur Entdeckung von latenten Systembedingungen

x

x

x x

Wahrnehmungsfähigkeit x System- und Umweltwahrnehmung x Antizipation von Situationen und Veränderungen Entscheidungsfähigkeit x Mustererkennung x Mentale Simulation x Handlungsbewertung und Durchführung Selbsteinschätzungsfähigkeit x Kenntnisse eigener Grenzen x Stressresistenz Motivation und organisationales Commitment Redundante fachl. Kompetenzen

Reaktion Ö Fähigkeit zum Umgang mit Fehlerfolgen

x

x

Individuum

x

Verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren

Respekt vor fachl. Wissen und Können

Streben nach Flexibilität

Team

Sensibilität für betriebliche Abläufe

x

x

Teamhandeln x Teamorientierung x Teamkompetenz x Teamzusammensetzung Kooperationsfähigkeiten x Kommunikation x Teamfähigkeit x Gemeinsame Ziewahrnehumung und -orientierung Arbeitsbezogenes erfahrungsbasiertes Lernen x Reflexionsprozesse x Formelle (Einsatz)-Nachbereitung x Informelle (Einsatz)-Nachbereitung Führung und Managementfähigkeiten x Assertiveness x Planung und Koordination x Workload Management

Struktur / Organisation x x x x x x

Redundanzen (techn., strukturell, personell) Flexible Entscheidungsstrukturen Kontinuierliches u. ausgeprägtes Training Fehlermanagement Flexible Einsatzorganisation und -führung Akzeptiertes Rollenkonzept

Verlässlichkeitsorientierte Organisationskultur x x x x x

Akzeptierte Fehlbarkeit Fehlerbewusstsein Vertrauen und Offenheit Gem. Verständnis von Situation und Sicherheit Offenheit im Umgang mit Erfahrungen und Fehlern

ORGANISATION

Zeitdruck

Suboptimale Informationen Dynamische Umweltbedingungen

Intransparente Einsatzlagen

Stress / Hektik Entscheidungs- und Handlungsdruck

Eigengefahr

Umweltsituation während des Einsatzes

Abbildung 19:

Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten (ergänzt)

Das in dieser Arbeit entwickelte und in Abbildung 19 dargestellte Modell fasst damit verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten zusammen. Es stützt sich auf theoretische Betrachtungen der verlässlichkeitsorientierten Forschungen und wurde um eigene empirische Erkenntnisse von bisher weniger betrachteten Organisationen in

184

Kapitel 7

Hochrisikoumwelten ergänzt. Wie in Kapitel 3.6.1 beschrieben, integriert das Modell Befunde der verschiedenen verlässlichkeitsorientierten Forschungen und erklärt den Wirkungszusammenhang zum Aufbau und Erhalt von organisationaler Zuverlässigkeit. Organisationale Verlässlichkeit – aufgefasst als verlässliche Handlungsfähigkeit –, so haben die Forschungen zu High Reliability ergeben, resultiert aus einem gemeinsamen achtsamen Handeln. Diese gemeinsame Achtsamkeit (dargestellt im oberen Drittel der Abbildung) ermöglicht es Organisationen, frühzeitig latente Systembedingungen zu antizipieren, bevor diese zu unerwarteten Folgen führen. Gleichzeitig kann durch achtsames Handeln aufgetretenen Fehlern und deren unerwarteten Folgen situationsadäquat begegnet werden. Wie die Erkenntnisse der Human Factors/CRM-Forschung sowie die hier durchgeführten Erhebungen zeigen, lässt sich die Ausprägung der gemeinsamen Achtsamkeit durch unterschiedliche strukturelle-, teambezogene- und individuumsbezogene Faktoren sowie eine verlässlichkeitsorientierte Organisationskultur beeinflussen. Die (im mittleren Teil der Abbildung dargestellten) Faktoren wirken jedoch nicht isoliert, sondern stehen in wechselseitigem Verhältnis zueinander. Das hier entwickelte Modell hat somit der eingangs formulierten Zielstellung dieser Arbeit Rechnung getragen und verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten identifiziert. Die im Rahmen der durchgeführten Erhebung gewonnenen Erkenntnisse dienten jedoch nicht nur dazu, das oben erläuterte Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren zu ergänzen. Es zeigt sich, dass Reflexion und Feedback sowie das damit verbundene erfahrungsbasierte Lernen wichtige verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren in den betrachteten Organisationen darstellen. Ausgehend von dieser Erkenntnis und dem in Kapitel 3.6.2 aufgezeigtem Erklärungsdefizit hinsichtlich der Lernthematik in der einschlägigen Forschung, ergibt sich die zweite zentrale Zielstellung der vorliegenden Arbeit: Unter Rückgriff auf bestehende Lernmethoden und -konzepte soll eine Möglichkeit aufgezeigt werden, wie sich die identifizierten Lernprozesse in den betrachteten Organisationen erklären lassen.

8

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz

8.1 Die Fähigkeit, kompetent zu handeln Organisationen in Hochrisikoumwelten zeichnen sich größtenteils durch zuverlässiges Agieren und Handeln in dynamischen Umwelten aus. Aus einer tätigkeits-/handlungsorientierten Leistungsperspektive (vgl. Kapitel 2.1) besteht deren Leistung somit in bewusstem und zielorientiertem Handeln. Hierfür müssen sie die Fähigkeit besitzen, in unbekannten und unvorhergesehenen Situationen die an sie gestellten Herausforderungen und Probleme erfolgreich und zuverlässig zu bewältigen. Die Fähigkeit eines bewussten, zielorientierten und nachhaltig erfolgreichen Verhaltens wird allgemein als Kompetenz bezeichnet (vgl. Pawlowsky et al. 2005a:343). In den letzten Jahren haben sich unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen, vor allem die Psychologie, Pädagogik, Soziologie oder die Organisationsforschung, mit der Kompetenzthematik auseinandergesetzt. Dabei sind aufgrund der verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven zahlreiche Erklärungsansätze entstanden (vgl. Pawlowsky et al. 2005a:343; Sydow et al. 2003:14; Staudt et al. 2002:157).139 Ungeachtet dieser Vielzahl lässt sich ein gemeinsames Grundverständnis von Kompetenz identifizieren: Kompetenz wird als „ein handlungsbezogenes Konstrukt, das sich in einer erfolgreichen Bewältigung von Problemsituationen niederschlägt“ (Schreyögg und Klisch 2003:22) aufgefasst. Dies bedeutet, dass Kompetenz etwas über die Handlungsfähigkeit der jeweils betrachteten Einheit (Individuum, Gruppe, Organisation) aussagt. Neben der Handlungs- und Problemlösefähigkeit zielen die verschiedenen Kompetenzbegriffe auch auf eine situationsübergreifende, möglichst kontextunabhängige Handlungsfähigkeit ab (vgl. Wilkens et al. 2006:125). In Abgrenzung zur Qualifikation140 zeigt sich die Handlungskompetenz von Individuen, Gruppen oder Organisationen in der dynamischen Fähigkeit, neuen und unbekannten Herausforderungen oder Situationen zu begegnen, indem die jeweiligen Einheiten, entsprechend der Situation, neue 

139

140

Die verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen adressieren dabei unterschiedliche Kompetenzebenen – Individuum, Gruppe, Organisation und Netzwerk. Die jeweils auf verschiedene Ebenen gerichteten Forschungsarbeiten stehen bisher noch relativ isoliert nebeneinander, so dass Kompetenz als ein „Mehrebenenphänomen“ bezeichnet werden kann (vgl. Sydow et al. 2003:14; Pawlowsky et al. 2005a:343; Wilkens et al. 2006:124ff.). Die verschiedenen Kompetenzansätze lassen sich nach den von ihnen verfolgten Zielstellungen und betrachteten Kompetenzebenen klassifizieren (vgl. hierzu Wilkens et al. 2006:124ff.): Die pädagogische Forschung setzt auf der individuellen Ebene an und stellt die selbstorganisatorischen und schöpferischen Fähigkeiten des Individuums in den Betrachtungsmittelpunkt. Ziel dieser Ansätze ist es, die individuelle Fähigkeit des lebenslangen Lernens zu fördern, um so eine vom betrieblichen Kontext unabhängige Beschäftigungsfähigkeit (Employability) des Individuums zu sichern (vgl. Wilkens 2005:6). Konzepte der Sozialpsychologie, der Soziologie sowie der soziologisch geprägten Organisationsforschung beschäftigen sich mit Kompetenzen auf der Gruppenebene. Dabei fokussieren sie neben der Handlungs- und Selbststeuerungsfähigkeit von Gruppen auch deren Lern-, Entwicklungs- und Interaktionsprozesse. Ökonomische Ansätze aus der Betriebswirtschafts- und Volkswirtschaftslehre stellen die Wettbewerbsfähigkeit einer Organisation sowie den ökonomischen Wert von Kompetenz in den Betrachtungsmittelpunkt. Detaillierte Erläuterungen zu den unterschiedlichen Kompetenzauffassungen finden sich z. B. bei Pawlowsky et al. (2005a), Wilkens et al. (2006). Qualifikationen sind als Kenntnisse, Fähigkeiten und Fertigkeiten zu verstehen, die von spezifischen Tätigkeitsmerkmalen im Arbeitskontext ausgehend definiert und als fremddefinierte Anforderungen an die Mitarbeiter herangetragen werden (vgl. Pawlowsky et al. 2005a:341; Dehnbostel 2001:76).

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Kapitel 8

Handlungsalternativen entwickeln und somit das eigene Handlungsrepertoire erneuern und anpassen (vgl. Wilkens 2005:7). Das ermöglicht, der jeweiligen Problemsituation adäquat begegnen zu können. Diesem gemeinsamen Grundverständnis nach, kann Handlungskompetenz allgemein als eine situationsübergreifende Handlungs- und Problemlösefähigkeit beschrieben werden (vgl. Wilkens et al. 2006:124f.; Pawlowsky et al. 2005a:343). Auf individueller- und Teamebene sind Erfahrungen und die Beherrschung von gesichertem handlungsrelevantem Wissen eine notwendige Voraussetzung, um kompetent handeln zu können (vgl. Bergmann 2000b:139; Gruber 1999:7). Beides gilt es im Rahmen von Lernprozessen auf- und auszubauen. Untersuchungen der Aus- und Weiterbildungsforschung zeigen, dass handlungsrelevantes Wissen zu über 80 Prozent aus implizitem Erfahrungswissen besteht und meist über informelle, erfahrungsbasierte Lernprozesse im Arbeitskontext erworben wird (vgl. u. a. Staudt und Kley 2001; Staudt et al. 2002:127; Dehnbostel 2005:116). Informelles Lernen bedarf dabei konkreter, anwendungsbezogener Inhalte, die sich aus dem täglichen Handeln, kritischen Situationen oder Fehlern ergeben können (vgl. Reinmann-Rothmeier und Mandl 1998:198). Mitarbeiter in High Reliability Organizations, so wurde in den obigen theoretischen Darstellungen (vgl. Kapitel 3.4) ausgeführt, zeichnen sich durch eine Konzentration auf Fehler aus. Sie versuchen permanent ihr Handeln und die etwaigen aufgetretenen Fehler gemeinsam zu reflektieren, um hieraus möglichst viel zu lernen. Auch die hier durchgeführten explorativen Erhebungen zeigen, dass die betrachteten Organisationen über ausgeprägte arbeitsbezogene Reflexionsprozesse im Rahmen der formalen und informellen Einsatznachbereitung verfügen (vgl. Kapitel 7.4). Zudem wurde deutlich, dass die aus- und weiterbildungsrelevanten Lerninhalte einen hohen praxisrelevanten Arbeitsbezug aufweisen. Um, unter Rückgriff auf bestehende Lernkonzepte, einen Erklärungsbeitrag zu liefern, wie Mitarbeiter von Organisationen in Hochrisikoumwelten Handlungskompetenz erwerben können, muss das Lernkonzept sowohl die erfahrungsbasierte Komponente als auch den hohen Kontext- und Arbeitsbezug berücksichtigen. Beide Aspekte werden von dem aus der Berufsbildungsforschung stammenden Konzept des arbeitsbezogenen Lernens betrachtet.141 Dieses Konzept wird in Kapitel 8.3 dazu herangezogen, die vorgefundenen Erkenntnisse hinsichtlich der Lernprozesse in den hier betrachteten Organisationen zu interpretieren. Daher ist es für ein besseres Verständnis hilfreich, das Konzept des arbeitsbezogenen Lernens in folgendem Kapitel näher zu erläutern. 8.2 Das Konzept des arbeitsbezogenen Lernens Wie die obigen Ausführungen zum Crew Resource Management und dem Naturalistic Decision Making zeigten, lässt sich handlungsrelevantes Wissen und Erfahrung nur bedingt durch 

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Neben der berufspädagogischen Forschung beschäftigt sich insbesondere auch die Expertiseforschung mit dem Aufbau von Kompetenzen. Das Feld der Expertiseforschung sowie die Theorien und Ansätze des situierten Lernens werden in dieser Arbeit nur insofern betrachtet, als sie für das Verständnis des arbeitsbezogenen Lernens relevant sind. Der interessierte Leser sei für detailliertere Erklärungen zu diesen Forschungsbereichen an die entsprechende Literatur verwiesen (z. B. Dreyfus und Dreyfus 2005; Gruber und Ziegler 1996; Benner 1994; Lave und Wenger 1991).

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isolierte, institutionalisierte Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen (Schulungen, Seminare oder Unterricht) erwerben. Vielmehr lernen Menschen durch Tätigsein, d. h. durch die Auseinandersetzung mit konkreten Aufgaben (vgl. Bergmann 2000a:11; Böhle 2004:40f.) und dies bedeutet, dass sie insbesondere im Prozess der (Erwerbs-)Arbeit lernen. Lernen erfährt in der wissenschaftlichen Diskussion eine Vielzahl von Begriffsbestimmungen, die je nach Erkenntnisinteresse, disziplinärer Herkunft oder wissenschaftlichem Standort in den Merkmalszuordnungen variieren (vgl. Kirchhöfer 2004:54). Allgemein bezeichnet Lernen „die Veränderung eines aktuellen Zustandes eines individuellen oder kollektiven Subjekts, die als Resultat der Interaktion des Subjekts mit seiner Umwelt eintritt“ (Kirchhöfer 2004:55). Generell führen eine erhöhte Dynamik im Arbeitsprozess, ein steigender Einsatz von Technologien und Techniken, veränderte Organisationsstrukturen, die sinkende Halbwertszeit von Wissen oder die zunehmend problemhaltiger werdenden Arbeitsaufgaben dazu, dass für das Arbeitshandeln notwendiges Wissen und die benötigten Kompetenzen sich immer rascher verändern und spezifischer werden (z. B. Arnold und Lermen 2005:46; Bergmann 2005:98). Dies gilt insbesondere für Organisationen in Hochrisikoumwelten. Das in der beruflichen Aus- und Weiterbildung erworbene Wissen der Mitarbeiter reicht längst nicht mehr für ein adäquates Arbeitshandeln aus (vgl. Bergmann 2000a:19; Sevsay-Tegethoff 2004:291). Um die notwendige Handlungsfähigkeit aufrechtzuerhalten und zu erweitern, sind die Mitarbeiter zunehmend gefordert, selbständig und überwiegend selbstorganisiert im Prozess der Arbeit zu lernen (vgl. u. a. Bergmann 2005:104; 2000a:20; 1996:153; Reuther und Weiß 2003:97ff.). Lernen im Prozess der Arbeit kann als ein arbeitsbegleitendes Lernen bezeichnet werden, das durch „arbeitsnahe Kontexte und lernförderliche Arbeitsformen zu einer tätigkeitsbezogenen Erweiterung, Neustrukturierung oder Löschung vorhandener Kompetenzen“ (Kirchhöfer 2004: 129f) bei einem Individuum oder einer Gruppe führt. Diesem Lernen wird eine hohe Bedeutung für die Kompetenzentwicklung beigemessen. Es trägt letzten Endes dazu bei, die geforderte Flexibilität und Agilität einer Organisation aufrechtzuerhalten und die angestrebten Leistungsziele zu erreichen (vgl. Dehnbostel 2001:54; Bergmann 2004:14ff.; SevsayTegethoff 2004:293).142 Lernen im und um den Arbeitsprozess erfährt insbesondere in der Berufsbildungsforschung und den angrenzenden Disziplinen, wie der Pädagogik, der Arbeitsund Organisationspsychologie oder der Kompetenzforschung, eine erhöhte Aufmerksamkeit.143 Dies hat dazu geführt, dass verschiedene Modelle und Konzepte des Lernens in und  142

143

Intensiv diskutiert wird dabei der Zusammenhang von Lernen in der Arbeit mit Innovations- und Wettbewerbsfähigkeiten von Organisationen (vgl. Dehnbostel 2001:54; Bergmann 2004:14ff.; Staudt und Kley 2001:243ff.). Gerade in der Verbindung von Lernen und Arbeiten wird ein hohes Potenzial gesehen, den dynamischen und z. T. komplexen Herausforderungen adäquat zu begegnen und damit die Wertschöpfung zu verbessern. Dabei ist Lernen im und um den Arbeitsprozess keineswegs eine neuartige Antwort auf die veränderten Umweltbedingungen. Bereits im Mittelalter zeichneten sich z. B. handwerkliche Berufe dadurch aus, dass Lernen und Arbeiten eng miteinander verzahnt waren (Meister-Lehrlings-Beziehungen). Mit Beginn der Industrialisierung und den rationalen, tayloristisch gestalteten Arbeitsprozessen kam es zu einer Auflösung dieser

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Kapitel 8

um den Arbeitsplatz entwickelt wurden.144 Reuther und Weiß (2003) subsumieren unter „Lernen im Prozess der Arbeit“ diejenigen Lernformen und -prozesse, „die entweder unmittelbar im Arbeitsprozess stattfinden, oder sich unmittelbar auf diesen beziehen bzw. sich ihm anlagern“ (Reuther und Weiß 2003:113). Sie klammern dabei diejenigen Formen der Wissens-, Qualifikations- und Kompetenzentwicklung aus, die außerhalb der Erwerbsarbeit stattfinden, wie z. B. schul- und kursförmige Weiterbildung. Nach diesem sehr engen Verständnis von Lernen in und um die Arbeit würden Lernarrangements, wie z. B. Lehrgänge, Simulationen und Planspiele nicht zum Lernen im Prozess der Arbeit zählen. Daher scheint es sinnvoll, einen weiteren Definitionsrahmen zu wählen. Unter dem Begriff „arbeitsbezogenes Lernen“ sollen alle betrieblichen und außerbetrieblichen Lernformen und -konzepte verstanden werden, die „in ihren Lernprozessen und Lerninhalten von Arbeit und Arbeitsabläufen geleitet sind bzw. auf diesen basieren“ (Dehnbostel 2001:55f.). Bei dieser erweiterten Definition werden lediglich Lernformen ausgeklammert, deren Lernziele auf eine rein theoretische Wissensvermittlung ausgerichtet sind (vgl. Dehnbostel 2002:39). Ziel des arbeitsbezogenen Lernens ist „die Befähigung zum selbständigen und effizienten Handeln in veränderten und neuen Arbeitssituationen“ (Kirchhöfer 2004:76). Arbeitsbezogenes Lernen wird damit zu einem individuellen, aktiven, selbstorganisiertem, situativen und sozialen Prozess zur Aneignung von Wissen, Können und Fähigkeiten (vgl. Reinmann-Rothmeier und Mandl 1998:197; Mandl und Winkler 2002:96f.; Arnold und Lermen 2005:52f.; Dehnbostel 1998:184). Betont wird damit die Eigenleistung und die Autonomie des Lernenden, neben den Lernzielen, -inhalten, methoden und -instrumenten auch die institutionellen und organisatorischen Rahmenbedingungen des Lernens selbst zu bestimmen (vgl. Dehnbostel 2001:71; Erpenbeck und Heyse 1999:130f.).145 Diese Sichtweise widerspricht damit der Idee der linearen Wissensvermitt

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145

engen Verzahnung und zu einer Separierung von Lernen und Arbeiten (vgl. Kirchhöfer 2004:76; SevsayTegethoff 2004:287; Dehnbostel 1996:9ff.). In jüngster Zeit werden wieder verstärkt Bemühungen unternommen, diese beiden Bereiche zu integrieren, so dass von einer Renaissance des Lernens im Prozess der Arbeit gesprochen werden kann (vgl. Dehnbostel 2002:37). Allerdings ist zu konstatieren, dass in der Berufsbildungsforschung und den angrenzenden Disziplinen bisher keine Analyse und Bestandsaufnahme von Modellen des Lernens in und über die Arbeit vorliegen. Zwar wurden hierzu bereits Versuche unternommen (so z. B. von Dexel und Welsopf 1994:303ff; Georg 1996:650ff; Münch 1990:150ff; Simons 1994:244ff. Alle zitiert nach Dehnbostel 2001:55). Diese haben jedoch nicht zu einer tragfähigen, disziplinübergreifenden Modellbildung und Typologie geführt, die für einen Vergleich von Modellen und eine Verständigung zwischen den Disziplinen notwendig wäre (vgl. Dehnbostel 2001; 2002:38). Daher ist es nicht verwunderlich, dass gleiche oder ähnliche Sachverhalte mit verschiedenen Begriffen versehen werden und so den Vergleich und die Auseinandersetzung mit den einzelnen Modellen und Lernformen erschweren. Neben dem „Lernen am Arbeitsplatz“ finden sich Begriffe wie: „Lernen in der Arbeit“, „arbeitsplatznahes Lernen“, „arbeitsintegriertes Lernen“, „arbeitsimmanentes Lernen“, „arbeitsprozessorientiertes Lernen“, „arbeitsbegleitendes Lernen“, „erfahrungsgeleitetes Lernen“ oder „dezentrales Lernen“ (vgl. Dehnbostel 2001:56; Sevsay-Tegethoff 2004:298). Häufig werden die Begriffe selbstgesteuertes-, selbstorganisiertes-, autonomes Lernen oder „self-directed learning“ synonym verwendet (vgl. Schiersmann und Remmele 2002:55). In Abgrenzung zum selbstorganisiertem Lernen wird unter dem selbstgesteuerten Lernen die selbstbestimmte und selbständige Steuerung von Lernprozessen verstanden. Dies bedeutet, dass der Lernende zwar neben den Lernzielen und -inhalten auch die Lernmethoden und -instrumente in dem vorgegebenen Rahmen selbst bestimmt, aber der Handlungsrahmen, in den die Lernsituation eingeordnet wird, von der Organisation vorgegeben ist (vgl. Dehnbostel 2001:71; Erpenbeck und Heyse 1999130f.). Eine detaillierte Ausführung zur Unterscheidung zwischen selbstorganisiertem und selbstgesteuertem Lernen findet sich bei Erpenbeck und Heyse (1999:129ff.). Das im

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lung, wonach Wissen einfach vom Lehrenden auf den Lernenden übertragen werden kann (vgl. Arnold und Lermen 2005:53). Arbeitsbezogenes Lernen zielt somit weniger auf die instruktive Vermittlung von Kenntnissen und Fähigkeiten, sondern legt den Schwerpunkt auf das informelle Lernen (vgl. Dehnbostel 2005:112). Es fördert die Aneignung von anwendungsbezogenem Wissen und Erfahrungen sowie die Entwicklung fachlicher und nichtfachlicher Kompetenzen. Damit sind Organisationsmitglieder in der Lage, selbstgesteuert die erworbenen Kompetenzen auf Handlungen und Verhaltensweisen zu beziehen und die Arbeitswelt mitzugestalten (vgl. Reuther und Weiß 2003:92; Dehnbostel 2001:78; ReinmannRothmeier und Mandl 1998:201; Sevsay-Tegethoff 2004:292). Durch welche Formen des Lernens kommt der Erwerb dieser Handlungsfähigkeit zustande?

8.2.1 Arbeitsbezogene Lernformen Lernprozesse in und um den Arbeitskontext können anhand unterschiedlichster Kriterien klassifiziert werden.146 Das hier gewählte und in Abbildung 20 dargestellte Modell des arbeitsbezogenen Lernens wird später zur Erklärung der identifizierten Lernprozesse der explorativen Erhebung heranzogen. Es unterscheidet die Lernprozesse anhand des Strukturationsgrades in formelle und informelle Lernprozesse und zielt darauf ab, Handlungskompetenzen bei den Organisationsmitgliedern zu fördern. Dehnbostel (2001) bezeichnet dies als „reflexive Handlungsfähigkeit“. Reflexivität ist dabei „die bewusste kritische und verantwortliche Einschätzung und Bewertung von Handlungen auf Basis von Erfahrungen und Wissen“ (Dehnbostel 2001:78). Die Formen des arbeitsbezogenen Lernens werden im Folgenden näher vorgestellt. Wie die empirischen Erkenntnisse zeigen, verfügen die betrachteten Organisationen in Hochrisikoumwelten über ausgeprägte, bewusste Reflexions- und Feedbackprozesse im Rahmen der Einsatznachbereitung. Dies deutet auf informelle und erfahrungsbasierte Lernprozesse hin, die im Folgenden stärker thematisiert werden.



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englischsprachigen Raum häufig anzutreffende self-directed learning kennt diese feine Unterscheidung zwischen selbstorganisiert und selbstgesteuert nicht und definiert sich als „a process in which individuals take the initiative, with or without the help of others, in diagnosing their learning needs, formulating learning goals, identifying human and material resources for learning, choosing and implementing appropriate learning strategies, and evaluating learning outcomes” (Knowles 1975:18 zitiert in: Arnold und Lermen 2005:55). Einen Überblick hierzu gibt z. B. Kirchhöfer (2004:83). So lässt sich Lernen z. B. nach dem Grad der Intentionalität (Bewusstheit des Lernens) in bewusstes und unbewusstes (en passent) Lernen, nach dem Reflexionsgrad in reflektiertes und unreflektiertes Lernen einteilen.

192

Kapitel 8

explizites Theoriewissen

Formelles Lernen (organisiertes Lernen)

Handlungskompetenz (reflexive Handlungsfähigkeit)

Arbeitsbezogenes Lernen Erfahrungslernen (reflexives Lernen)

(überw.) implizites Erfahrungswissen

Informelles Lernen (Lernen über Erfahrung) Implizites Lernen

angelehnt an Dehnbostel (2005:116)

Abbildung 20:

Formen arbeitsbezogenen Lernens

8.2.1.1 Formelles Lernen Unter formellem (organisiertem) Lernen kann ein „durch ein standardisiertes Lerncurriculum strukturierter, kursförmig organisierter, institutionell angebotener, regelmäßig auf formale Abschlüsse zielender und instruktionsbasierter Prozess mit hohem Lehranteil“ (Staudt und Kley 2001:239) verstanden werden. Formelle Lernprozesse charakterisieren sich dadurch, dass sie überwiegend fremdorganisiert sind. Sie schließen meist ein institutionalisiertes Lehr/Lernangebot ein, welches sich in der Regel überwiegend an didaktisch-methodischen Kriterien orientiert und durch pädagogisch ausgebildete Personen begleitet wird. Ferner ist das formelle Lernen auf klar definierte Lerninhalte und -ziele ausgerichtet, an denen die Lernergebnisse im Prinzip überprüfbar sind (vgl. Kirchhöfer 2004:85; Dehnbostel 2001:74; 2005:116). Beispiele für formelles Lernen sind: Fortbildungskurse, Schulungen oder Workshops, wie sie z. B. im Rahmen des CRM-Trainings der ersten Generation (vgl. Kapitel 3.5.1.1) angewendet wurden. Hinsichtlich des Aufbaus von Handlungskompetenz ist zu konstatieren, dass formelles Lernen nur einen begrenzten Beitrag zur Kompetenzentwicklung leisten kann (vgl. Staudt und Kley 2001:231f.). Wie Abbildung 20 zeigt, zielen instruktionsbasierte formelle Lernprozesse in erster Linie auf den Erwerb von explizitem (Theorie-)Wissen. Dieses stellt jedoch nur einen Teil des für die Handlungsfähigkeit benötigten Wissens dar, und muss um das implizite (Erfahrungs-)Wissen ergänzt werden. Darüber hinaus erfolgt formelles Lernen in der Regel ohne konkreten Handlungsbezug. Für die Lernenden bedeutet dies, dass sie das in der Weiterbildung erworbene, dekontextualisierte explizite Wissen auf ihre konkrete Handlungs- und Arbeitssituation übertragen und anwenden müssen. Diese Transferleistung gelingt ihnen dabei nicht immer (vgl. Reinmann-Rothmeier und Mandl 1998:198; Staudt und Kley 2001:231;

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz

193

Schulz 2005:88). Häufig sind Organisationen, wie die hier untersuchten Rettungsdienste, Feuerwehr- oder Polizeieinheiten, mit sich verändernden Umweltherausforderungen konfrontiert.147 Für diese kann die traditionelle Weiterbildung aktuelle Lerninhalte nur mit zeitlicher Verzögerung bereitstellen. Damit besteht die Gefahr, dass die Inhalte bereits an Aktualität und Relevanz verloren haben, sobald sie in das Curriculum aufgenommen werden. Daher ist das formelle Lernen durch den Erwerb von überwiegend implizitem Erfahrungswissen im Rahmen des informellen Lernens zu fördern. 8.2.1.2 Informelles Lernen Basierend auf den Ausführungen des Kapitels 7.7 versteht die vorliegende Arbeit informelles Lernen als „Lernen über Erfahrung“ (Dehnbostel 2005:117). Hiernach ist informelles Lernen ein ungeregeltes, selbstorganisiertes nicht in Bildungsveranstaltungen, sondern im Lebensund Arbeitszusammenhang stattfindendes Lernen (vgl. Staudt und Kley 2001:240f.). Es bezieht sich dabei auf die Situationsbewältigung und entspringt konkreten Handlungs- und Arbeitserfordernissen. Entgegen den formellen Lernprozessen resultieren Lernziele und -inhalte aus der Problemlösung und lassen sich daher nur schwer planen und professionell organisieren. Das informelle Lernen kennzeichnet sich vor allem durch die ausgeprägten Reflexionsprozesse der Individuen. Es umfasst einerseits alles vom Individuum initiierte und bewusste Lernen (Selbstlernen) „das sich in unmittelbaren Lebens- und Erfahrungszusammenhängen außerhalb des formalen Bildungswesens entwickelt“ (Dohmen 2001:25). Andererseits beinhaltet es das unbewusste, beiläufige, nicht intentionale Lernen (en passent Lernen), welches von den Lernenden meist gar nicht als Erweiterung des Wissens wahrgenommen wird (vgl. u. a. Schiersmann und Remmele 2002:17; Kirchhöfer 2004:85; Dehnbostel 2001:73; Arnold und Lermen 2005:56). Anhand dieses „Bewusstseins des Lernens“ lässt sich nach Dehnbostel (2001:73) das informelle Lernen analytisch weiterhin in „implizites Lernen“ und „Erfahrungslernen“ (reflexives Lernen) unterscheiden. Beide Formen dieses informellen Lernens führen zu einem Auf- und Ausbau von implizitem Erfahrungswissen. Wie später noch gezeigt wird, kommt in den betrachteten Organisationen insbesondere dem Erfahrungslernen durch die praxisorientierte Aus- und Weiterbildung sowie der kontinuierlichen Einsatznachbereitung eine große Bedeutung zu. 8.2.1.3 Erfahrungslernen Das Erfahrungslernen (reflexives Lernen) ist ein Teil des informellen Lernens. Es erfolgt über die bewusste Reflexion von Erfahrung und Handlungen und stellte eine wichtige Quelle der Kompetenzentwicklung dar (vgl. Dehnbostel 2001:73; Bauer und Munz 2004:72; Staudt und Kley 2001:265). Es findet dann statt, wenn Handlungen und Erfahrungen bewusst reflektiert werden und aus diesem Reflexionsprozess neue Erkenntnisse resultieren. Das bewusste Heraustreten aus dem Handlungsfluss und die distanzierte, vergegenständlichte Reflexion der 

147

Vgl. hierzu die Ausführungen in Kapitel 7.7.2.

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Kapitel 8

Handlung wird auch als „reflection on action“ (Reflexion über die Handlung) bezeichnet (vgl. Schön 2002:276ff; Altrichter 2000:208). 148 Erfahrungslernen ist untrennbar mit dem „Erfahrung-Machen“ verbunden und liegt in der Annahme begründet, dass Erfahrungen nicht gelehrt oder in formellen Lernprozessen vermittelt werden können, sondern selbst erworben, d. h. „er-lernt“ werden müssen (vgl. u. a. Bauer und Munz 2004:59ff.; Wiegand 1996:363). „Bereits für Dewey (1993, S. 186ff.) erschloss sich die Wirklichkeit über Erfahrungslernen auf Basis von Selbststeuerung und Selbstbestimmung des Lernenden in realen Handlungsvollzügen. Die Abfolge von Handlung, Erfahrung, Reflexion und deren kontinuierliche Fortführung unter Berücksichtigung vorheriger Erfahrungs- und Erkenntnisprozesse“ (Dehnbostel 2001:73) ist Voraussetzung für ein selbstständiges und selbstorganisiertes Lernen und führt zum Aufbau neuer Erfahrung. Erst durch die Reflexion der Handlung wird das Lernen bewusst gemacht, so dass die zunächst unbewussten Handlungsergebnisse als Handlungswissen zur Verfügung stehen (vgl. Staudt und Kley 2001:241). Dies zeigt sich dann in der Praxis als Intuition, Gespür oder Gefühl für bestimmte Situationen (vgl. Dehnbostel 2001:73) und spielt z. B. im Rahmen der erkenntnisgesteuerten Entscheidungsfindung eine wichtige Rolle. Wie lässt sich das Erfahrungslernen jedoch lerntheoretisch erklären? Das Erfahrungslernen wurzelt in der humanistischen Psychologie von Dewey, der Sozialpsychologie von Lewin und der kognitiven Entwicklungstheorie Piagets (vgl. Kolb 1976:21; Baker et al. 2005:412; Pawlowsky 1994:293). Es basiert auf dem von Kolb vorgestellten „experiental learning model“ (Kolb 1976:21), aus dem sich dann die sog. erfahrungsbasierte Lerntheorie – auch Experiental Learning Theory (ELT) oder Action Learning genannt – entwickelt hat (vgl. z. B. Kolb und Kolb 2005:194; Baker et al. 2005; Adams et al. 2004:5f.; Pawlowsky 2001:74).149 Kolb fasst Lernen als „the process whereby knowledge is created through the transformation of experience” (Kolb 1984:41 zitiert in: Kolb und Kolb 2005:194) auf. Daher ist der Kern seines erfahrungsbasierten Lernmodells ein zirkulärer Prozesse (learning cycle) aus Handlungsbeobachtung und Reflexion, der in vier Phasen abläuft und erklärt, „how experience is translated into concepts, which in turn are used as guides in the choice of new experiences” (Kolb 1976:21). Ausgangspunkt bilden dabei die jeweiligen konkreten Erfahrungen (Konkrete Erfahrung), die beobachtet und reflektiert werden (Reflektierende Beobachtung). Ergebnisse dieser reflektierenden Beobachtungen werden integriert und in abstrakte Konzepte und Generalisationen umgesetzt (Abstrakte Konzeptionalisierung). Diese werden aktiv er 148

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Eine differenzierte Betrachtung von Handlung und Reflexion – im Sinne von Schöns Handlungskonzept – findet sich bei Altrichter (2000). Die erfahrungsbasierte Lerntheorie fasst Lernen als einen Informationsverarbeitungsprozess auf, bei dem Wissen und Erfahrung durch ein Wechselspiel aus Beobachtung und Reflexion des eigenen Handelns entstehen und ausgebaut werden. In Europa haben sich vor allem Piaget, Revans und Pedler unter dem Begriff „action learning“ mit dem Erfahrungslernen beschäftigt, während sich in den USA Dewey, Argyris, Schön und Kolb dieser Thematik unter dem Begriff „experiental learning“ widmeten (vgl. Cunningham 1999:692). In dieser Arbeit wird überwiegend der Begriff des „experiental learning“ verwendet. Auf die explizite Betrachtung der verschiedenen Konzepte des Action Learning wird hier nicht eingegangen.

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz

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probt (Aktives Experimentieren) und bilden damit wieder einen Ausgangspunkt für neue Erfahrungen (vgl. u. a. Kolb 1976:22). Somit bildet das Wechselspiel von Handlung, Beobachtung und Reflexion der Handlung die Basis für Wissens- und Erfahrungsaufbau. Neues Wissen und Erfahrung entsteht in diesem Modell stets in Bezug auf die bereits vorhandenen Kenntnisse und Erfahrungen. Diese werden durch die jeweilige Situation aktiviert, korrigiert, erweitert, ausdifferenziert oder integriert. Es gib unterschiedliche, z. T. gegensätzliche Möglichkeiten, Erfahrungen zu ergründen und zu verändern. Erfahrungen lassen sich durch konkretes, sinnliches „Er-fahren“ generieren oder können in einer eher abstrakten Form, wie Planen, Analysieren und Durchdenken von Situationen gewonnen werden. Ebenso werden Erfahrungen auf unterschiedliche Art transformiert. Sie können dabei durch das vorsichtige Beobachten und Reflektieren anderer Erfahrungen verändert werden, während die „Macher“ es bevorzugen, selbst die Erfahrungen zu machen (vgl. Adams et al. 2004:8). Dieser vierstufige zirkuläre Lernprozess (vgl. Abbildung 21) wird von vier Aktivitäten begleitet: Während der Divergenz werden Verhaltensformen gesucht, Möglichkeiten erkundet, Probleme identifiziert und neue Muster entdeckt. Die Assimilation setzt die gewonnene Information in Bezug zu existierendem Wissen, bevor in der Konvergenzphase Alternativen bewertet, Hypothesen geprüft oder Handlungen abgeleitet werden. Diese Handlungen oder die neuen Erkenntnisse werden im Rahmen der Akkomodation realisiert und durchgesetzt und bilden damit wieder einen Ausgangspunkt für neue Erfahrungen.

Konkrete Erfahrung

Akkomodation

Aktives Experimentieren

Divergenz

Reflektierende Beobachtung

Konvergenz

Assimilation Abstrakte Konzeptionalisierung Lernzirkel nach Kolb (1976)

Abbildung 21:

Lernzirkel nach Kolb

Mit seinem wechselseitigen Bezug zwischen Handeln und Reflektieren stellt das Modell des „experimental learning“ das Grundmodell des Erfahrungslernens dar und wird in verschiedenen Ansätzen individuellen Lernens aufgegriffen, differenziert oder erweitert. Gleichzeitig kann es auf einen organisationalen Kontext übertragen werden und liefert damit eine Erklä-

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Kapitel 8

rung, wie Organisationen durch ihrer Mitglieder neues Wissen und Erfahrung erwerben, um damit zugrunde liegende Probleme zu lösen (vgl. Erpenbeck 2002:148f.).150 Die obige allgemeine Definition von Lernen lässt sich nun präzisieren: Lernen kann verstanden werden als ein kontinuierlicher Prozess, der auf Erfahrung gründet, einer Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt bedarf, einen ganzheitlichen Anpassungsprozess an die Umwelt darstellt sowie Wissen durch die Kombination mit vorhandenem objektivem Wissen und subjektiver Erfahrung bei der Bewältigung von Konflikten hervorbringt (vgl. Pawlowsky 1994:293f.). 8.2.1.4 Implizites Lernen Informelles Lernen findet jedoch nicht nur durch die bewusste Reflexion der Handlung statt. Wie oben erwähnt, kann informelles Lernen anhand des „Bewusstseins des Lernens“ unterteilt werden in Erfahrungslernen (reflexives Lernen) und implizites Lernen. Als implizit wird Lernen dann bezeichnet, wenn es zu keiner bewussten Reflexion über die Handlung kommt. Implizite Lernprozesse, insbesondere die Reflexion, finden unbewusst in der Handlung statt. Schön (2002:49) spricht hierbei von „reflection in action“ und meint eine permanente (unbewusste) Selbstreflexion im Handlungsprozess. Implizites Lernen vollzieht sich unmittelbar in der Situation, ohne dass Regeln und Gesetzmäßigkeiten bewusst erkannt und zum Gegenstand von strukturierten Lernprozessen gemacht werden. Im Ergebnis resultiert implizites (Erfahrungs-)Wissen oder präzisier: ein „unausgesprochenes Wissen in der Handlung“ (tacit knowing in action) (vgl. Schön 2002:49). Wenn Individuen mit diesem Wissen konfrontiert werden, z. B. indem sie den Vorgang einer Handlung verbalisieren sollen, sind sie sich häufig nicht bewusst, wie sie dieses Wissen erlernt haben und können es schwer explizieren. Beispiele hierfür sind Schwimmen, Ski- oder Autofahren. Wichtig für das implizite Lernen und das Erfahrungslernen ist der konkrete Kontextbezug, in welchem eine Handlung stattfindet. Mit der Entwicklung situierter Lernkonzepte151 hat die Bedeutung des Erfahrungsgewinns im konkreten Tun eine praxistheoretische Begründung erfahren. Diese aus der ethnologischen Forschung stammenden Lernkonzepte gehen von der Grundannahme aus, dass Lernen situiert, d. h. durch Handlungen und alltägliches Tun in einer Gemeinschaft praktisch tätiger Menschen (communities of practice152) stattfindet (vgl. Schulz 2005:90). Lernen erfolgt dabei „indem personeninterne Faktoren mit personenexternen, situativen Komponenten in Wechselbeziehung stehen“ (Gruber 1999:166). Ziel dieses so verstandenen Lernens „is becoming a practititioner not learning about practice” (Brown und 

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151

152

Dabei wird postuliert, dass die Fähigkeit des organisationalen Lernens von der Güte abhängt, in welcher die vier Phasen durchlaufen werden (vgl. hierzu z. B. Pawlowsky 1994:296). Wie z. B. cognitive apprenticeship, anchorde instruction und cognitive flexibility (Erläuterungen zu diesen Ansätzen z. B. bei Lave und Wenger 1991; Gruber 1999:173f.; Gruber und Renkl 2000:170; Bergmann 2004:24f.). „Communities of practice are groups of people who share a concern, a set of problems, or a passion about a topic, and deepen their knowledge and expertise in this area by interacting on an ongoing basis” (Wenger u. a. 2002:4 zitiert nach: Sevsay-Tegethoff 2004:302).

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz

197

Dugid 1991:48 zitiert in Schulz 2005:90).153 Somit entsteht Wissen immer kontextbezogen, d. h. aus der Relation zwischen Mensch und Situation. Soll individuelles Wissen charakterisiert werden, ist die Situation, in welcher die Person handelt und lernt, mit einzubeziehen (vgl. Gruber und Renkl 2000:167). Situierte Lernkonzepte basieren auf der Kernidee, dass an komplexen, authentischen oder möglichst realitätsnahen Situationen und Problemstellungen gelernt wird.154 Für das arbeitsbezogene Lernen bedeutet dies, dass der jeweilige Arbeitskontext, in dem die Organisationsmitglieder lernen, berücksichtigt werden muss.

8.2.2 Arbeitsbezogene Lerntypen Beim arbeitsbezogenen Lernen kommt es zu einer Integration von Lernen und Arbeiten. Dem Arbeitsplatz wird dabei die Funktion eines Lernortes zugewiesen. Charakteristisch hierfür ist, dass sich Lerninhalte und -prozesse überwiegend aus den Arbeitsinhalten und -abläufen oder daraus resultierenden Problemstellungen ergeben. Folgt man Dehnbostel, lässt sich arbeitsbezogenes Lernen idealtypisch155 nach seinen lernorganisatorischen Aspekten, d. h. der Nähe von Lernen und Arbeiten, in folgende (vgl. Tabelle 11) drei Typen des arbeitsbezogenen Lernens unterschieden (vgl. z. B. Dehnbostel 1998:182; 2001:56): Arbeitsgebundenes Lernen

ArbeitsverbundenesLernen

Arbeitsorientiertes Lernen

Differenzierung arbeitsbezogener Lernorte

x Lernen am Arbeitsplatz

x Arbeitsplatz mit angegliederten Lernräumlichkeiten

x Lernen außerhalb des Arbeitskontextes

Lernform

x Informelles Lernen x Integration von formellem und informellem Lernen

x Formelles Lernen x Informelles Lernen

x Überwiegend formelles Lernen

Methode des

x Lernen durch Handeln im realen Arbeitsprozess x Lernen durch Instruktion oder systematische Unterweisung am Arbeitsplatz

x Lernen durch Integration von Erfahrungslernen und formellem Lernen

x Lernen durch Simulation von Arbeitsprozessen

x Learning by doing x Training on the job

x Reflexionsgespräche x Qualitätszirkel

x Weiterbildungszentren x Übungsfirma

Lernens

Beispiele

angelehnt an Dehnbostel (2005:112)

Tabelle 11:

Typen arbeitsbezogenen Lernens



153

154

155

Detaillierte Ausführung zum Lernen aus einer praxistheoretischen Perspektive finden sich bei Schulz (2005:87ff.). Neben den fachlichen Kenntnissen und Fähigkeiten werden so auch Werte, Einstellungen und Gewohnheiten weitergegeben. Ein wichtiges Konzept im Zusammenhang mit dem situierten Lernen ist das „Konzept des berechtigten Hineinwachsens“ (Legitimate Peripheral Participation) nach Lave und Wenger (1991). Vgl. hierzu auch die Ausführungen zum arbeitsgebundenen Lernen in folgendem Abschnitt. Schiersmann und Remmele (2002:31) weisen zu Recht darauf hin, dass es schwer sei, die Nähe des Lernens zum Arbeitsprozess kategorial sauber zu differenzieren. Daher ist es bisher trotz vieler Versuche nicht gelungen „arbeitsplatznahes bzw. -integriertes Lernen systematisch, erschöpfend und nachvollziehbar darzustellen.

198

Kapitel 8

Arbeitsgebundenes Lernen charakterisiert sich dadurch, dass Lern- und Arbeitsort identisch sind. Lernen findet durch Handeln im realen Arbeitsprozess statt. Dabei sind Arbeitsort und Lernort identisch. Arbeitsgebundenes Lernen erfolgt überwiegend durch Handeln, Zusehen, Nachmachen, Mitmachen, Helfen und Probieren. Durch das Ausführen von Handlungen wird das vorhandene Wissen angewendet, aufgefrischt und erhalten (vgl. Bergmann 2004:22). Der Lernprozess kann dabei selbstgesteuert sein oder der Lernende wird durch Anleitung oder Unterweisung von einem erfahrenen Kollegen unterstützt. Beispiele für diesen Lerntyp sind Training on the job, learning by doing oder Gruppenlernen im Arbeitsprozess. In vielen Punkten stimmt das arbeitsgebundene Lernen mit dem situierten Lernen im Rahmen von Communities of Practices überein (vgl. Kapitel 8.2.1.4). Ein wichtiges Konzept in diesem Zusammenhang ist das „Konzept des berechtigten Hineinwachsens“. Dieses beschreibt Lernen als Hineinwachsen in eine Gemeinschaft durch Beteiligung an ihrer Praxis (vgl. Lave und Wenger 1991; Schulz 2005:95). Ein Neuling (z. B. ein angehender Polizeieinsatzleiter) erhält durch formale oder tatsächliche Legitimierung Zugang zu einer Praxisgemeinschaft (die der Polizeieinsatzleiter) und wird zu deren neuem Mitglied. Durch die Ausführung der ihm übertragenen (sukzessive schwieriger werdenden) Aufgaben erwirbt er während des konkreten Tuns grundlegendes Wissen über die Tätigkeit in der Praxisgemeinschaft. Der Status des Anfängers bedingt eine zunächst geringere Verantwortlichkeit für sein Handeln in der Praxisgemeinschaft (peripheral participation). Auch ermöglicht er dem Neuling durch Beobachten, Nachfragen, Ausprobieren und Reflektieren, Wissen und Erfahrung in der Praxisgemeinschaft zu erwerben. Sukzessive reift er vom Anfänger zu einem vollwertigen und verantwortlichen Mitglied der Praxisgemeinschaft (vgl. hierzu ausführlicher z. B. Schulz 2005:95ff.). Im Zusammenhang mit dem Erwerb von Wissen und Erfahrung durch das berechtigte Hineinwachsen spielen auch Elemente der (aus der Handwerkslehre stammenden) Meister-LehrlingsBeziehungen (cognitive apprenticeship-Ansatz) eine wichtige Rolle. Sie basieren auf der Annahme, dass der Neuling (Lehrling) durch Instruktion, systematische Unterweisung (Vormachen, Nachmachen, Üben) und Interaktion mit dem Meister (erfahrener Mitarbeiter) in Bearbeitung der Aufgabe Wissen, Fähigkeiten und vor allem domänenspezifische Kniffe erwerben kann (vgl. z. B. Lave und Wenger 1991:59ff.; Schulz 2005:95; Gruber 1999:179; Bergmann 2000a:25). Beim arbeitsverbundenen Lernen erfolgt Lernen nicht unmittelbar im Arbeitsprozess, sondern in räumlicher und organisatorischer Verbindung mit diesem. D. h., Lern- und Arbeitsort sind getrennt, aber räumlich und organisatorisch miteinander verbunden. Die Aneignung von Wissen und Können erfolgt bei dieser Lernform in Anknüpfung an reale Arbeitsinhalte und -abläufe. Es kommt zu einer Integration von Erfahrungslernen und formellem Lernen. Begründet liegt dies in den spezifischen Lernanforderungen, wie z. B. kontinuierliche Verbesserungs- und Optimierungsprozesse oder ein wachsender Innovationsdruck. Beispiele für ar-

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz

199

beitsverbundenes Lernen sind Reflexions- und Arbeitsbesprechungen, wie sie u. a. in Qualitätszirkeln156 stattfindet. Arbeitsorientiertes Lernen findet in zentral dafür vorgesehenen Lernräumen, unabhängig vom Arbeitsplatz und -prozess statt, so z. B. in Weiterbildungszentren oder Übungsfirmen. Wissen und Können wird hierbei in simulierten Umgebungen erworben, die möglichst nahe der authentischen Arbeitsumgebung und -realität entsprechen.157 Mit Hilfe des arbeitsorientierten Lernens können nicht nur fachliche Kenntnisse und Erfahrungen erworben werden. Vielmehr lassen sich durch praxisorientierte Lerninstrumente, wie Simulationen oder Übungen und entsprechende Lernzielstellungen, durchaus auch nichtfachliche, soziale und kognitive Fähigkeiten erwerben, wie die Human Factors/Crew Resource Management-Forschung anschaulich zeigt. Bei simulationsbasiertem, arbeitsorientiertem Lernen steht der Erwerb von komplexen Erfahrungen und Wissen im Vordergrund, das nicht – oder nur schlecht – im realen Arbeitsprozess zu erwerben ist, sei es, dass sich die Realität durch zu viele Einflussfaktoren kennzeichnet, die den Lernenden überfordern, oder dass der Arbeitsplatz zu wenige Lernmöglichkeiten bietet. Wie die Ausführungen zum Human Factors/Crew Resource Management (Kapitel 3.5.2) verdeutlichen, bedienen sich insbesondere Organisationen in Hochrisikoumwelten der Simulation, um den Erwerb fachlicher und nichtfachlicher Kompetenzen im Rahmen der Aus- und Weiterbildung zu ermöglichen.158 Somit stellt das simulationsbasierte CRM-Trainingskonzept arbeitsorientiertes Lernen – und damit einen Typ des arbeitsbezogenen Lernens – dar. Im Rahmen des simulationsbasierten CRMTrainings werden je nach Lernzielstellung spezielle Übungen und Simulationen konzipiert und organisiert. Die Übungsszenarien weisen dabei einen sehr hohen Praxisbezug auf, indem die Lerninhalte überwiegend den jeweiligen Arbeits- und Einsatzprozessen der Organisationen entlehnt sind. Beispielhaft sei hier das CRM-Training im medizinischen Bereich genannt (vgl. hierzu u. a. Helmreich und Schaefer 1994; Gaba 2004; Müller et al. 2007). Mit Hilfe computergestützter und aufwändiger High Fidelity-Simulationen in speziell dafür eingerichteten Simulations-OP-Räumen haben Ärzte und medizinisches Personal – je nach Lernsettings – die Möglichkeit, bestimmte nicht-fachliche Fähigkeiten, wie Entscheidungsfähigkeit unter Zeit- und Handlungsdruck, Kommunikations- Koordinations-, Führungs- oder Teamarbeitsfähigkeit zu erwerben. Durch den strukturierten und organisierten Aufbau der CRM-Trainings  156

157

158

Im Rahmen von Qualitätszirkeln (häufig auch als Qualitätsausschüsse, Qualitätsgesprächskreise, Qualitätsgruppen etc. bezeichnet) treffen sich in der Regel Mitarbeiter gleicher Hierarchieebenen in Kleingruppen auf freiwilliger Basis, um gemeinsam Probleme in ihrem Arbeitsbereich zu erörtern. Detaillierte Ausführungen, auch zu den Vor- und Nachteilen, finden sich z. B. bei Schiersmann und Remmele (2002). Wie oben bereits erwähnt, zählen Seminar- und Unterrichtsformen, die auf den alleinigen Erwerb von Theoriewissen abzielen, nicht zum arbeitsorientierten (und damit arbeitsbezogenen) Lernen. Hinsichtlich der im Rahmen von Simulationen zu erwerbenden Erfahrungen gilt jedoch anzumerken, dass es sich dabei weniger um authentische, „natürliche“ Erfahrungen als vielmehr um „synthetische“, d. h. in künstlicher Umgebung geschaffene Erfahrungen handelt (vgl. Wiegand 1996:364; Dehnbostel 2002:44). Diese können zwar als Basis für ein arbeitsbezogenes Handeln dienen, müssen aber durch reale Erfahrungen ergänzt und erweitert werden.

200

Kapitel 8

(Briefing, Simulation und Debriefing) und die Betonung der reflexiven Elemente wird ein didaktisch begleitetes informelles Erfahrungslernen im Rahmen von organisierten Lernprozessen gefördert. Damit kommt es zu einer Integration von informellen und formellen Lernprozessen, die in der betrieblichen Weiterbildungsforschung seit längerem für innovative arbeitsbezogenen Lernkonzepte gefordert wird (vgl. Dehnbostel 1998:193; 2001:75). Somit stellen die CRM-Trainingskonzepte innovative Lernkonzepte im Rahmen des arbeitsbezogenen Lernens dar.

8.2.3 Resümee: Arbeitsbezogenes Lernen Hinsichtlich des arbeitsbezogenen Lernens konnte in diesem Kapitel gezeigt werden, dass darunter ein individueller, aktiver selbstorganisierter oder selbstgesteuerter Prozess verstanden wird, der über formelle und informelle Lernformen den Aufbau der Handlungsfähigkeit fördert. Das formelle Lernen dient dabei überwiegend der Aneignung festgelegter Lernziele und -inhalte im Rahmen von zumeist organisierten Lehr-/Lernveranstaltungen, die vornehmlich den Aufbau von explizitem Theoriewissen fördern. Informelles Lernen kennzeichnet sich dadurch, dass es situiert durch das Wechselspiel von konkreter Handlung und Reflexion der Handlung erworben wird. Bei implizitem Lernen erfolgt diese Reflexion unbewusst, zumeist im Handlungsprozess selbst, während es beim Erfahrungslernen zu einer distanzierten vergegenständlichten Reflexion der Handlung kommt. Durch die kontinuierliche Abfolge von Handlungsbeobachtung und bewusster Reflexion der Handlung entsteht und verändert sich Erfahrung. Wie aus Abbildung 20 auf Seite 192 ersichtlich, bedingen sich formelles und informelles Lernen wechselseitig, so dass Erfahrungswissen teilweise auch durch formelles Lernen entsteht. Begründet liegt dies darin, dass ein informelles – meist implizites Lernen – in nahezu allen Lebens- und Handlungssituationen stattfindet (vgl. z. B. Dehnbostel 2002:48). Umgekehrt reichern Erkenntnisse des Erfahrungslernens, welches sich als theoretisches Wissen über die Reflexion von Erfahrung herausbildet, das Theoriewissen an. Formelle und informelle Lernformen führen gemeinsam zum Aufbau reflexiver Handlungsfähigkeit und müssen integriert werden. Konzepte des CRM-Trainings greifen diesen Aspekt auf. Aus der Perspektive der Berufsbildungsforschung stellen sie durch die Integration der beiden Lernformen eine zukunfts- und richtungsweisende Möglichkeit dar, dem gesteigerten Bedürfnis nach Flexibilität und Anpassung an sich rasch verändernde Umwelt- und Arbeitssituationen gerecht zu werden. Die empirischen Betrachtungen haben gezeigt, dass die untersuchten medizinischen Rettungsdienste, Feuerwehr- und Polizeieinheiten über ausgeprägte erfahrungsbasierte Lernprozesse verfügen. Diesbezüglich stellt sich nun die Frage, inwieweit sich das Konzept des arbeitsbezogenen Lernens zur Erklärung des Kompetenzerwerbs auf diese Organisationen anwenden lässt? Wie in den obigen Ausführungen herausgearbeitet, müssten sich die betrachteten Organisationen dabei sowohl über ausgeprägte, bewusste Reflexionsprozesse des Erfahrungslernens kennzeichnen als auch dadurch, dass das dieses Lernen situiert, d. h. im Zusammenhang mit dem jeweiligen Arbeitskontext stattfindet.

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz

201

8.3 Einsatzbezogenes Lernen in den untersuchten Organisationen Das eben vorgestellte Konzept des arbeitsbezogenen Lernens unterteilt Lernen anhand des Strukturationsgrads in die Lernformen formelles und informelles Lernen. Anhand der Nähe von Arbeits- und Lernort lassen sich die Lerntypen arbeitsgebundenes, arbeitsverbundenes und arbeitsorientiertes Lernen unterscheiden. Die hier betrachteten Organisationen zeichnen sich durch den Einsatz als besondere Arbeitsform aus (vgl. Kapitel 6.1). Anders als in Betrieben und Unternehmen haben die Mitglieder dieser Organisationen aufgrund der wechselnden Einsatzörtlichkeiten keinen festen, lokal bestimmbaren Arbeitsplatz.159 Zudem weisen Einsätze häufig eine hohe Dynamik sowie einen hohen Zeit- und Handlungsdruck auf, so dass Lernen am Einsatzort häufig nicht möglich ist. Diese Besonderheiten erschweren die Unterteilung des Lernens in die verschiedenen Lerntypen des arbeitsbezogenen Lernens. Soll das eben skizzierte Konzept des arbeitsbezogenen Lernens zur Erklärung der hier beobachteten Lernprozesse herangezogen werden, muss es auf die Besonderheiten der untersuchten Organisationen angepasst und zu einem einsatzbezogenen Lernkonzept modifiziert werden. Hierfür werden die Lernformen ebenfalls anhand des Strukturationsgrads in formelle und informelle einsatzbezogene Lernformen eingeteilt. Die einsatzbezogenen Lerntypen werden jedoch durch die Kriterien „Bezug zu einem konkreten Einsatz“ sowie „Örtlichkeit des Reflektierens“ bestimmt. Als weitere Besonderheit unterstellt das so entstehende Konzept des einsatzbezogenen Lernens ein geändertes (Lern-)Raumverständnis, welches im Folgenden kurz skizziert wird.

8.3.1 Lernräume des einsatzbezogenen Lernens Generell findet einsatzbezogenes Lernen überwiegend informell und situiert im Prozess der Arbeit statt. Lernen ist danach „a process of becoming a member of a community of practice through legitimate peripherals participation” (Kolb und Kolb 2005:200), der durch die Auseinandersetzung zwischen Individuum und dem Einsatzkontext entsteht. Die lernenden Mitarbeiter sind dabei aktive, gestaltende Menschen, die über unterschiedliche Lernpräferenzen verfügen sowie selbstgesteuert und selbstorganisiert in Auseinandersetzung mit ihrer Arbeitsumwelt lernen. Dies schließt die Wahl der Lehrmethoden, der Lernpartner, der Lernzeitpunkte und der Lernorte mit ein und kann als Lernautonomie bezeichnet werden. Das bestehende Konzept des arbeitsbezogenen Lernens (vgl. Kapitel 8.2) unterscheidet anhand der räumlichen Nähe von Lernen und Arbeiten die oben genannten arbeitsbezogenen Lernformen. Implizit wird dabei ein euklidisch-geometrisches Raumverständnis zur Bestimmung des Arbeits- und Lernortes unterstellt. Hiernach ist Raum ein von vier Wänden begrenzter und durch die Dimensionen Länge, Breite und Höhe bestimmbarer Raum (vgl. Boll-

 159

So arbeitet bspw. ein medizinisches Rettungsteam einmal auf der Autobahn, um einen verunfallten PKWFahrer zu versorgen, das andere Mal behandelt es eine bewusstlose Person in einer Wohnung.

202

Kapitel 8

now 2004:16).160 Raum kann jedoch auch als erlebter Raum161 (vgl. Bollnow 2004:18ff.) aufgefasst werden. Nach diesem Verständnis ist Raum nicht nur auf die geometrischen Beziehungen reduziert – und damit starr und kontinuierlich existent –, sondern wird als ein Bestandteil eines jeden Menschen aufgefasst: Jeder Mensch nimmt Raum aufgrund seiner Einstellungen, Emotionen, Gefühle, Wahrnehmungen etc. anders wahr.162 Jede Veränderung im Menschen bedingt auch eine Änderung seines gelebten Raums. Dies bedeutet, dass der Mensch ein Teil des Raums wird und er Raum als realen Raum, d. h. sich mit der Zeit ständig verändernde Umgebung, erlebt (vgl. Bollnow 2004:16). Der Mensch bildet so mit anderen Körpern und bewegten Handlungen erfahrbaren Raum. Raum, Körper und menschliche Handlungen sind miteinander verbunden und bedingen sich wechselseitig. Nach diesem Raumverständnis definieren sich Lernräume und Lernorte nicht über externe Eigenschaften, sondern entstehen durch die aktive Beziehung eines Individuums zu den jeweiligen räumlich-sozialen Gegebenheiten, d. h. durch die Bereitschaft, sich im erlebten (Lern-)Raum Wissen und Fähigkeiten anzueignen. Damit Lernräume und -orte entstehen, müssen diese den individuellen Lernbedürfnissen und -präferenzen gerecht werden und frei wählbar sein. Lernräume sind somit erlebte Räume, die aufgrund ihrer räumlichen, sozialen sowie emotionalen Gestaltung von einem Individuum als geeignet angesehen werden, Wissen und Fähigkeiten selbstbestimmt, aktiv und aus dem Kontext heraus zu erwerben (vgl. Mistele und Trolle 2006:6).163 Die so verstandene Auffassung von Lernraum wendet sich damit stark von der pädagogisch/bildungspolitisch geprägten Auffassung des Lernorts164 ab, wonach eine im öffentlichen Bildungswesen anerkannte Einrichtung (organisatorische Einheit) verstanden wird, die Lernangebote organisiert (vgl. Dehnbostel 1996:16, 19). Nach diesem in den unter 160

161

162

163

164

Nach dem euklidisch-geometrischen Raumverständnis können in einen Raum verschiedene Körper (Menschen und Gegenstände) hineingestellt, verändert und wieder herausgenommen werden, ohne dass sich der Raum dabei verändert. Bollnow (2004) spricht von einem erlebten Raum und meint damit „den Raum, wie er sich dem konkreten menschlichen Leben erschließt […] Dieser erlebte Raum ist, […] nichts Seelisches, nichts bloß Erlebtes oder Vorgestelltes oder gar Eingebildetes, sondern etwas Wirkliches: der wirklich konkrete Raum, in dem sich unser Leben abspielt“ (Bollnow 2004:18f.). Der Raum ist ein Medium des menschlichen Lebens. Das Verständnis des erlebten Raums greift auf ein relativistisches Raumverständnis zurück, wonach der Raum seine starre, unveränderbare Existenz verliert, indem den Dimensionen Länge, Breite und Höhe, die Zeit als vierte Dimension zugefügt wird. Die Struktur des Raums ergibt sich aus der relativen Lage der Körper, Gegenstände und Menschen zueinander. Da sich diese im Zeitverlauf ändern, wandelt sich der Raum permanent (vgl. Löw 2001). Detaillierte Informationen zum Verständnis des erlebten Raums finden sich z. B. bei Bollnow (2004), Mistele und Trolle (2006). Diese Auffassung von Raum wird durch die Definition von Marrow verdeutlicht. Dieser fasst Raum auf als „…the total psychological environment which the person experiences subjectively.” (Marrow 1969:35 zitiert in: Kolb und Kolb 2005:199). Kolb und Kolb (2005:200ff.) verwenden das Konzept des „learning space“, um die bisher bestehenden Lerntypen im Rahmen des „experiental learning“ zu erweitern. Der Begriff des Lernorts wurde von der Bildungskommission des Deutschen Bildungsrats eingeführt und folgendermaßen definiert: „Unter Lernort ist eine im Rahmen des öffentlichen Bildungswesen anerkannte Einrichtung zu verstehen, die Lernangebote organisiert. Der Ausdruck Ort besagt zunächst, dass das Lernen nicht nur zeitlich …, sondern auch lokal gegliedert ist. Es handelt sich aber nicht allein um räumlich verschiedene, sondern in ihrer pädagogischen Funktion unterscheidbare Orte“ (Deutscher Bildungsrat 1974, S. 69 zitiert in: Dehnbostel 1996:14).

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz

203

suchten Organisationen zugrunde liegenden Raumverständnis des erlebten Raums reduzieren sich Lernräume -orte nicht mehr nur auf ihre allein physische Örtlichkeit. Einsatzbezogenes Lernen findet nicht nur als informelles, selbstgesteuertes oder selbstorganisiertes Lernen statt. Es erfolgt auch strukturiert und organisiert in dafür vorgesehenen Einrichtungen. Durch diese Strukturierung und Formalisierung werden die Lernenden in ihrer für Lernräume charakteristischen Lernautonomie eingeschränkt. Daher wird der Begriff Bildungsraum für Umgebungen verwendet, in denen formelles, zielorientiertes Lernen angestrebt wird.165

8.3.2 Einsatzbezogene Lernformen Wie die hier durchgeführten Erhebungen zeigen, sind einsatzrelevantes Wissen und Erfahrung elementar für situationsadäquates Handeln im Einsatz. Die grundlegenden handlungsrelevanten Kenntnisse und Fertigkeiten werden im Rahmen einer Grundausbildung erworben. Diese findet in der Regel von pädagogisch ausgebildeten Personen strukturiert und mit Hilfe festgelegter, didaktischer Methoden in einem institutionellen Rahmen und einem bestimmten Lernziel statt (vgl. Kapitel 7.7.1). Im Sinn der oben beschriebenen Lernformen des arbeitsbezogenen Lernens handelt es sich somit um formelles, organisiertes Lernen, bei dem jedoch auch Methoden und Instrumente eingesetzt werden, die das informelle Erfahrungslernen der Teilnehmer unterstützen. Aufgrund der eingeschränkten Lernautonomie der Teilnehmer erleben diese den Lernraum überwiegend als Bildungsraum. Die in der Grundausbildung erworbenen handlungsrelevanten Kenntnisse und Fähigkeiten erlauben es den neuen Organisationsmitgliedern, am Einsatz teilzunehmen. Aufgrund ihres geringen einsatzrelevanten Erfahrungswissens sind sie jedoch meist „nur“ in der Lage, unter Anleitung eines erfahrenen Mitarbeiters im Einsatzgeschehen zu handeln. Denn, es „fehlt dann noch das komplette Erfahrungswissen, dieses Basiswissen im Einsatz in einer anderen Form anzuwenden“ [C3, SEP]. Das für souveränes Handeln notwendige EinsatzErfahrungswissen müssen sich die Mitarbeiter im Laufe der Zeit durch informelles Lernen selbst aneignen. Der Aufbau des Erfahrungswissens ist dabei zeitintensiv und hängt von der Art und Anzahl der verschiedenen Einsätze ab. Wie bereits erwähnt, benötigen die Kräfte der Polizeispezialeinheiten ca. vier bis fünf Jahre, bis sie „viele Einsatzsituationen durchgespielt haben und über ein breites Spektrum verfügen“ [C1, SEP], das ein selbständiges Handeln im Einsatz ermöglicht. Um diesen Erfahrungsaufbau zu fördern, gilt es die Kenntnisse und Fähigkeiten durch reale Einsätze sowie durch Übungen und Trainings aktuell zu halten, zu festi 165

Anzumerken ist, dass es sich bei der Unterscheidung in Lern- und Bildungsraum nur um eine grobe Einteilung handeln kann: Denn, ob Raum vom Individuum als Lern- oder Bildungsraum erlebt wird, hängt von den jeweiligen individuellen Präferenzen und Wahrnehmungen ab: Was für den einen Menschen ein Bildungsraum darstellt, ist für den anderen bereits ein Lernraum.

204

Kapitel 8

gen und zu vertiefen. Einen wichtigen Beitrag hierzu leisten die Einsatznachbearbeitungen (vgl. Kapitel 7.4). Durch sie lernen die Mitglieder der befragten Organisationen situiert durch konstruktive und kritische Reflexion des eigenen Handelns in konkreten Einsatzsituationen oder in realitätsnahen Übungs- und Simulationssituationen. Geprägt durch das Streben nach Flexibilität, um sich rasch ändernden Umwelt- und Arbeitssituationen anpassen zu können (vgl. Dehnbostel 2001:88), bildet das Erfahrungslernen bei den betrachteten Organisationen in Hochrisikoumwelten einen zentralen Bestandteil der Lernaktivitäten. Durch entsprechende strukturelle Maßnahmen (z. B. formale Einsatznachbereitung) versuchen die Organisationen den Aufbau von Handlungskompetenz zu unterstützen. Während der Phase der Einsatznachbereitung kommt es zu formal oder informell initiierten Reflexionsprozessen. Somit sind die dem Einsatz nachgelagerten bewussten Reflexionen ein zentraler Bestandteil des Arbeitsprozesses. Da Ergebnisse der Einsatznachbereitung bei der Vorbereitung anderer Einsätze berücksichtigt werden, kommt es zu einer kontinuierlichen Abfolge der Phasen Einsatzvorbereitung, Einsatzdurchführung und Einsatznachbereitung (vgl. Kapitel 7.10.4) und somit zu einem zirkulären Lernprozess. Durch diesen wird die einsatzbezogene Handlungsfähigkeit kontinuierlich verbessert. Auf der individuellen Ebene wird Erfahrungswissen aufgebaut. Auf der kollektiven Ebene dient der gemeinsame Reflexionsprozess dem Austausch von Erfahrung, um künftig Fehlerwiederholungen zu vermeiden, transaktives Wissen sowie eine gemeinsame Wahrnehmung und Interpretation der Umwelt aufzubauen. Die Erkenntnisse der gemeinsamen Reflexionsprozesse können sich auch auf die Ausgestaltung der Lerninhalte von Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen auswirken, indem diese zeitnah in den Aus- und Weiterbildungsaktivitäten berücksichtigt werden. Somit zeigt sich, dass die hier betrachteten Spezialeinheiten der Polizei, medizinische Rettungsdienste und Feuerwehren bewusst formelle und informelle Lernformen kombinieren, um damit den Aufbau einsatzrelevanter Handlungskompetenz zu fördern. Diese ermöglicht letztendlich den Organisationen ein flexibles und situationsadäquates Handeln in den für sie charakteristischen kritischen und komplexen Situationen. Schematisch lässt sich der Erwerb von einsatzbezogener Handlungskompetenz (Einsatzkompetenz) in den betrachteten Organisationen im Modell des einsatzbezogenen Lernens darstellen (vgl. Abbildung 22) Wegen der intensiven Beziehung von Lernen und Arbeiten bietet der oben vorgestellte Ansatz des arbeitsbezogenen Lernens eine Begründungsmöglichkeit für die ausgeprägten Reflexionsund Feedbackprozesse im Rahmen der Einsatznachbereitungen und die damit verbundene flexible Handlungsfähigkeit der betrachteten Organisationen. Angelehnt an diesen Ansatz lassen sich für die hier untersuchten Organisationen ebenfalls unterschiedliche Typen des einsatzbezogenen Lernens formulieren.

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz

205

EINSATZBEZOGENES LERNEN

formelles Lernen (organisiertes Lernen)

Grundausbildung

informelles Lernen (Lernen über Erfahrung)

Weiter-

anwenden

bildung

Auf- u. Ausbau von Basiswissen und -fertigkeiten

Realitätsnahe Übungen

Reale Einsätze

anwenden

Reflexion/ ENB

Einsatzwissen und -erfahrungen

berücksichtigen

einsatzrelevante Handlungskompetenz / Einsatzkompetenz

Abbildung 22:

Modell des einsatzbezogenen Lernens

8.3.3 Einsatzbezogene Lerntypen Wegen der wechselnden Arbeitsörtlichkeiten im Rahmen der Einsätze lassen sich die unterschiedlichen einsatzbezogenen Lerntypen nicht anhand der räumlichen Nähe von Lernen und Arbeiten unterscheiden. Stattdessen werden die Kriterien „Bezug zu einem konkreten Einsatz“ sowie „Örtlichkeit des Reflektierens“ zur Unterscheidung in die verschiedenen einsatzbezogenen Lerntypen – einsatzorientiertes Lernen, einsatzverbundenes Lernen und einsatzgebundenes Lernen – herangezogen. 8.3.3.1 Einsatzorientiertes Lernen Einsatzorientiertes Lernen in den betrachteten Organisationen bezieht sich überwiegend auf den Erwerb grundlegender fachlicher Kenntnisse und Fähigkeiten im Rahmen organisierter Grundaus- oder Weiterbildungen. Diese finden ohne Bezug zu einem konkreten Einsatz statt. Sie erfolgen meist mit intendierten Lernzielen und -inhalten in speziell dafür vorgesehenen Räumlichkeiten oder Trainingsanlagen und werden von entsprechend ausgebildetem Personal begleitet. Da häufig auch Fertigkeiten für ein einsatzbezogenes Handeln beherrscht werden

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Kapitel 8

müssen, beinhalten die organisierten Aus- und Weiterbildungen praktische Übungen, Trainings oder Simulationen, die das informelle Lernen fördern. Somit kommt es im Rahmen des einsatzorientierten Lernens zu einer bewussten Integration von formellen und informellen Lernprozessen. Die betrachteten Feuerwehreinheiten nutzen beispielsweise simulierte Verkehrsunfälle auf dem Übungsgelände dazu, den Erwerb bestimmter Rettungstechniken und -maßnahmen von verunfallten Fahrzeuginsassen zu ermöglichen. Die Übungen folgen dabei einem vorher definierten Lernziel (z. B. Rettung von eingeklemmten Personen in einem verunfallten PKW) und wollen bestimmte Lerninhalte (z. B. den Umgang mit technischem Gerät, wie Hydraulikspreizer oder Luftkissen) oder aber Besonderheiten im Einsatzverlauf (z. B. auslaufendes Benzin, Anzahl der Verunfallten, spezieller Autotyp) vermitteln. Neben diesen realitätsnahen Übungen setzen die betrachteten Feuerwehreinheiten auch technische Simulatoren ein, mit denen u. a. die Stressresistenz und Wahrnehmungsfähigkeit der Mitarbeiter gefördert werden können. Mit Hilfe einer sog. „Brandübungsanlage“ – einer mit Gas betriebenen Feuerungsanlage in einem Container – lassen sich Bedingungen hinsichtlich Hitze und Rauchentwicklung herstellen, die realen Einsatzsituationen entsprechen. In dieser gefährlichen, aber abgesicherten und zu kontrollierenden Situation haben die Feuerwehrmitarbeiter dann die Möglichkeit, unter Anleitung und Aufsicht der Ausbilder bestimmte gefährliche Einsatzsituationen sinnlich zu „er-fahren“. Ein Beispiel für solch eine – in realen Einsätzen immer häufiger anzutreffende – gefährliche Situation ist der sog. Flash-Over. Dabei handelt es sich um eine Rauchgasdurchzündung in einem Raum, die zu schweren Unfällen führen kann. Durch die relativ sichere und kontrollierbare, simulierte Situation in der Brandübungsanlage wird es nun möglich, die Wahrnehmung der Feuerwehrleute auf schwache Signale und Situationsveränderungen (Temperatur der Tür, wabernder Rauch unter der Tür) zu lenken, durch die sich eine bevorstehende Durchzündung ankündigt. Ebenso werden Maßnahmen geübt, die zur Verhinderung des gefährlichen Flash-Overs ergriffen werden können. Neben der Wahrnehmung spezieller und gefährlicher Situationen dient die Übungsanlage aber auch dazu, dass die Feuerwehrmitarbeiter praktische Erkenntnisse im Rahmen der Grundausbildung sammeln und er-fahren. Sie bekommen ein Gespür dafür, welche Temperaturunterschiede in einem brennenden Raum herrschen können, wie sich unterschiedliche Löschmethoden auf die Hitze- und Rauchentwicklung auswirken und welche Folgen ein Fehlverhalten bei einem Löschangriff haben kann.166

 166

Lehrreich für Feuerwehranwärter sei, so erklärte ein befragter Ausbilder, wenn theoretisches Wissen durch praktisches „Er-fahren“ im Simulator verdeutlicht wird. Für Neulinge sei es immer sehr schwer vorstellbar, wie aus einem Liter Wasser 1700 Liter Wasserdampf entstehen. Erst nach dem „Er-fahren“ im Simulator haben die Anwärter eine Vorstellung davon, wie sich dieser Dampf an unterschiedlichen Stellen im Raum anfühlt oder wie die heiße Feuchtigkeit in die Schutzkleidung eindringt, diese schwerer macht und so das Bewegungsverhalten beeinflusst.

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz

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Einsatzorientiertes Lernen greift damit auf praxisrelevante Einsatzprobleme und -situationen zurück und versucht in einem abgesicherten Rahmen, die für ein Einsatzhandeln notwendigen Kenntnisse, Fertigkeiten und Erfahrungen durch Simulationen und Übungen auf- und auszubauen (vgl. Dieckmann et al. 2005:175; Dehnbostel 2002:43f.). Je nach Formalisierungsgrad der Simulationsübung werden dabei unterschiedliche Lernziele verfolgt. Simulationsübungen bieten einen Rahmen, um Wissen und Erfahrung, bspw. für seltene Umweltsituationen, zu erhalten, indem eben diese Situationen simuliert werden. Die Teilnehmer erhalten damit die Möglichkeit, vorhandenes Wissen und Erfahrung in dieser Situation anzuwenden und aufzufrischen. Gleichzeitig können anhand der Simulationen gezielt „neue“ Situationen geschaffen werden, die es den Teilnehmern erlauben, neues Wissen und Erfahrung aufzubauen. Hier haben die Teilnehmer die Möglichkeit, durch Beobachten, Unterweisung, Ausprobieren und ein ständiges Reflektieren der eigenen Handlung ihr Erfahrungswissen zu erweitern (vgl. Bergmann 2004:22). Neben den fachlichen Fähigkeiten kann das Lernziel des einsatzorientierten Lernens auch auf den Erwerb nicht-fachlicher, sozialer und kognitiver Fähigkeiten gerichtet sein. Ausgehend von dem hier zugrunde liegenden Verständnis des erlebten Raums (vgl. Kapitel 8.3.1), ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass beim einsatzorientierten Lernen der Raum als Bildungsraum wahrngenommen wird. Zurückzuführen ist dies auf die in der formalisierten Grundaus- und Weiterbildung intendierten Lernziele, verbunden mit der eingeschränkten Lernautonomie. Das gilt insbesondere, wenn im Rahmen von einsatzorientierten Lernsettings neues Wissen aufgebaut werden soll. Meist zeichnen sich die entsprechenden Übungen durch einen hohen didaktischen Strukturationsgrad aus, bei dem es während des Übungsverlaufes zu einem Heraustreten aus dem Handlungsfluss kommt und der Übungsleiter auf Fehler aufmerksam macht oder bestimmte Handgriffe zeigt. Zielen die Simulationen hingegen auf das Auffrischen vorhandener Erfahrung und Wissens ab und kommt es zu einem überwiegend selbstgesteuerten Handeln in der Simulationsumgebung, kann der Raum auch als Lernraum wahrgenommen werden. 8.3.3.2 Einsatzverbundenes Lernen Um authentische, natürliche Erfahrungen zu erwerben, ist es notwendig aus realen Einsatzsituationen zu lernen. Die hierfür notwendigen informellen Lernprozesse finden zum einen unbewusst als implizites Lernen statt, zum anderen werden sie durch Erfahrungslernen (reflexives Lernen) auf- und ausgebaut. Bei den untersuchten Organisationen können die damit verbundenen bewussten Reflexionsprozesse nicht immer während des konkreten Einsatzprozess stattfinden. Oft ist es wegen des Zeit- und Handlungsdrucks nicht möglich, den Handlungsprozess zu unterbrechen, um die Situation zu überdenken (vgl. Altrichter 2000:209): Es wäre bspw. sehr unprofessionell, wenn ein Rettungsdienstteam sich bei der Versorgung eines Verunfallten zurückziehen und beraten würde. Daher ist das einsatzverbundene Lernen dem ope-

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Kapitel 8

rativen Einsatzgeschehen nachgelagert. Es bezieht sich auf einen konkret erlebten Einsatz und reflektiert diesen im Rahmen der formellen und/oder informellen Einsatznachbereitung. An welchen Örtlichkeiten diese Reflexion und damit das Erfahrungslernen erfolgt, hängt vom Formalisierungsgrad der Einsatznachbereitung ab. Formelle ENB finden meist geplant und organisiert in dafür vorgesehenen Räumlichkeiten (Aufenthaltsraum, Besprechungsraum) der Wache oder des Stützpunktes statt. Hier kommt es zu einer räumlichen Trennung von Lernund Einsatzort, wobei jedoch immer der inhaltliche Bezug zum konkret erlebten Einsatz besteht. Informelle Einsatznachbereitungen richten sich nach den individuellen Bedürfnissen der beteiligten Mitarbeiter und können an unterschiedlichen Örtlichkeiten stattfinden. Wenn es die Situation zulässt, kann dies durchaus der konkrete Einsatzort sein. Alle am Einsatz beteiligten Mitarbeiter, sowie der Einsatzort selbst, werden zu konstituierenden Faktoren des Lernraums. Die Nähe zum Einsatzort erleichtert den einzelnen Mitgliedern, die Situation und die eigenen Handlungen besser nachvollziehen und reflektieren zu können, „weil sich da die Situation so darstellt, wie sie war und man noch einiges nachvollziehen kann. Da kann ich mit dem Zugführer schnell auf die Rückseite des Gebäudes laufen und ihm zeigen, was er alles nicht gesehen hat. Denn da ist es noch greifbar. Wenn ich nicht mehr am Objekt selbst bin, muss er alles aus dem Gedächtnis machen. Entscheidungen können nicht mehr so einfach nachvollzogen werden“ [Feuerwehr B1]. Diese Nähe von Einsatz- und Reflexionsort kann für manche Situationen des reflexiven, einsatzverbundenen Lernens sehr effektiv sein. Andere Situationen, insbesondere wenn es sich um schwere Einsätze handelte, erfordern eine zeitliche und räumliche Entfernung von der Handlung. Dadurch können Mitarbeiter eine gewisse emotionale Distanz zum Erlebten gewinnen, die es ihnen überhaupt erst ermöglicht, kritisch über das Erlebte zu reflektieren. Wie groß diese Distanz ist und welchen Lernraum die Beteiligten für das einsatzverbundene Lernen wählen, hängt stark vom Ereignis, den individuellen Einstellungen und dem jeweiligen Lernbedürfnis der Personen ab. So können z. B. zwei erfahrene Rettungsassistenten den Einsatz auf der Rückfahrt zur Wache oder in der Pause am Kaffeeautomaten reflektieren. Für einen Auszubildenden ist es dagegen wichtig, sich nach Dienstende mit dem Kollegen in einem Besprechungszimmer zusammenzusetzen und den Einsatz in Ruhe auszuwerten. Da die Mitarbeiter die Lernpartner, Lernzeitpunkte oder Lernorte größtenteils selbstbestimmt wählen können, wird der dabei erfahrene Raum als Lernraum interpretiert. 8.3.3.3 Einsatzgebundenes Lernen Mitunter können die bewussten Reflexionsprozesse auch während des operativen Einsatzablaufs stattfinden, so dass es zu einsatzgebundenem Lernen kommt. Hierbei ist dann der Einsatzort zugleich Reflexionsort. Beim einsatzgebundenen Lernen kann der Lernende sowohl eine passive als auch eine aktive Rolle übernehmen. Erfolgt das Lernen überwiegend durch Beobachten des erfahrenen Kollegen (sog. Lernen am Expertenmodell), erlebt der Lernende, wie „fachmännisches“ Handeln aussieht (vgl. Reinmann-Rothmeier und Mandl 1998:202).

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz

209

Neben der passiven Rolle kann er auch eine aktive Rolle übernehmen und unter Aufsicht, Anleitung oder Unterweisung des erfahrenen Kollegen im realen Einsatzprozess handeln. Beide Methoden des einsatzgebundenen Lernens wenden z. B. SEK und MEK bei der Ausbildung zum Einsatzleiter an. Hier wird der angehende Einsatzleiter einem erfahrenen Einsatzleiter (sog. Bärenführer) zur Seite gestellt. Er hat so die Möglichkeit, diesen bei der Leitung der Einsätze zu beobachten und nachzufragen. Im Laufe der Zeit übernimmt der angehende Einsatzleiter eine aktive Rolle, indem er unter Aufsicht und Anweisung des erfahrenen Kollegen erste kleinere und dann immer größere Einsätze leitet. Durch dieses Vorgehen hat er die Möglichkeit, in den konkreten Einsatzsituationen Erfahrungswissen zu erwerben. Ein ähnliches Vorgehen wurde auch von dem befragten schweizer Rettungsdienst berichtet. Hier ist es üblich, dass ein erfahrener Rettungsassistent dem Auszubildenden in einer konkreten (überschaubaren) Einsatzsituation die Federführung oder bestimmte Aufgaben (z. B. Befragung und Anamnese des Patienten und die daraus abgeleiteten Maßnahmen) überlässt. Mitunter werden auch – das Einverständnis des Patienten vorausgesetzt – bestimmte Fähigkeiten, wie z. B. das Legen von intravenösen Zugängen unter Anleitung des erfahrenen Kollegen im realen Einsatzhandeln erworben. Einsatzgebundenes Lernen erfolgt somit durch ein mehr oder weniger instruiertes Handeln im realen Einsatz und verläuft häufig nach dem oben beschriebenen situierten Konzept des berechtigten Hineinwachsens in eine Praxisgemeinschaft. Ob der erlebte Raum dabei als Lernoder Bildungsraum erfahren wird, hängt vom Strukturierungsgrad des Lernens ab. Arbeitet der unerfahrene Mitarbeiter unter Anleitung oder Unterweisung, ist seine Lernautonomie eingeschränkt und der Raum wird tendenziell als Bildungsraum erlebt. Kommt es hingegen überwiegend zu einem selbständigen Arbeiten mit anschließender Reflexion der Handlung, kann der Raum auch als Lernraum erfahren werden.

8.4 Resümee: Einsatzbezogenes Lernen zum Erwerb von Handlungskompetenz Lernen und der Aufbau von Handlungskompetenz nimmt einen hohen Stellenwert sowohl bei den betrachteten Organisationen als auch in der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung ein. Handlungskompetenz kann dabei allgemein als Fähigkeit eines bewussten, zielorientierten und nachhaltig erfolgreichen Verhaltens definiert werden. Für ein kompetentes Handeln in neuen und unvorhergesehenen Situationen sind Erfahrung sowie praxisorientierte, handlungsrelevante Kenntnisse und Fähigkeiten erforderlich. Diese gilt es in den Organisationen gezielt durch Lernen auf- und auszubauen. Arbeiten der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung haben zwar die Bedeutung des Lernens für ein verlässliches und sicheres Handeln erkannt, sich allerdings bisher wenig mit der Frage beschäftigt, wie das Lernen, unter Rückgriff auf bestehende Lernkonzepte und -theorien, erklärt werden kann. Die hier vorliegenden Untersuchungen zeigen, dass der Aufbau von einsatzrelevanter Handlungskompetenz/Einsatzkompetenz in den betrachteten Organisationen situiert über formelle

210

Kapitel 8

und informelle Lernprozesse stattfindet. Neben den organisierten Aus- und Weiterbildungsaktivitäten sind die Organisationen dadurch charakterisiert, dass sie das erlebte Einsatzhandeln bewusst in formellen und informellen Einsatznachbereitungen reflektieren und somit ein Erfahrungslernen an den Tag legen. Das in Abbildung 22 auf Seite 205 dargestellte Modell des einsatzbezogenen Lernens erklärt den Erwerb von Einsatzkompetenz. Das Modell basiert auf dem Konzept des arbeitsbezogenen Lernens, berücksichtigt jedoch die Besonderheiten der hier untersuchten Organisationen. Medizinische Rettungsdienste, Feuerwehr- und Polizeispezialeinheiten arbeiten in Form von Einsätzen. Wegen der einsatzbedingten wechselnden Arbeitsplätze werden unterschiedliche Lerntypen anhand der Kriterien „Bezug zum konkreten Einsatz“ und „Reflexionsort“ klassifiziert. Gleichzeitig wird ein verändertes Raumverständnis unterstellt. Raum wird als erlebter Raum aufgefasst, in dem sich Lernorte und Lernräume nicht nur durch externe, räumliche Eigenschaften definieren. Vielmehr entstehen Lernräume durch eine aktive Beziehung der handelnden Menschen mit den jeweilig räumlich-sozialen Gegebenheiten und der Bereitschaft, sich Wissen und Fähigkeiten, gemäß ihrer individuellen Lernpräferenzen, im erlebten Raum anzueignen. Das einsatzbezogene Lernkonzept der betrachteten Organisationen integriert bewusst formelle und informelle Lernprozesse. Es unterscheidet die Lerntypen einsatzorientiertes, einsatzverbundenes und einsatzgebundenes Lernen. Tabelle 12 stellt die Lerntypen des einsatzbezogenen Lernkonzeptes nochmals überblicksartig dar. Einsatzgebundenes Lernen

Einsatzverbundenes Lernen

Einsatzorientiertes Lernen

Verhältnis von Reflexions- und Einsatzort

Reflexionsort = Einsatzort

Reflexion steht in inhaltlichem Bezug zu realem Einsatz

Lernort  Einsatzort

Einsatzbezogener Reflexionsprozess

Während des Einsatzes

dem Einsatz nachgelagert

Bezug zu einem konkreten Einsatz

Gegeben

Gegeben

Nicht gegeben

Erfahrungslernen wird direkt im Einsatzhandeln ermöglicht

Erfahrungslernen wird dem konkreten Einsatz unmittelbar nachgelagert ermöglicht. Die Lernorte bestimmen sich nach den indiv. Präferenzen der MA.

Lernen steht in Bezug zu künftigem Einsatzhandeln, findet aber ohne direkten Einsatzbezug statt

–-

Lernform

x x

Wahrnehmung des Raums

Überwiegend Lernraum

Erfahrung

x

authentisch

x

authentisch

x

synthetisch

Beispiele

x x x

„Expertenmodell“ „Meister-Lehrling“ Learning by Doing

x x

Einsatznachbereitung Nachgestellte Einsätze im Rahmen von Übungen und Simulationen

x

Grundaus- und Weiterbildung Übung und Simulationen

Tabelle 12:

Informelles Lernen Integration von formellem und informellem Lernen

x x

Informelles Lernen Integration von formellem und informellem Lernen

Überwiegend Lernraum

Einsatzbezogene Lerntypen

x x

Formelles Lernen Integration von formellem und informellem Lernen

Überwiegend Bildungsraum

x

Einsatzbezogenes Lernen als Möglichkeit zum Erwerb von Handlungskompetenz

211

Das einsatzorientierte Lernen steht nicht in Bezug zu einem konkreten Einsatz, es findet meist formal im Rahmen organisierter Grundaus- und Weiterbildungen statt, bezieht aber meist informelle Lernprozesse mit ein. Durch einsatzorientiertes Lernen lassen sich keine authentischen Einsatzerfahrungen erwerben. Wegen der eingeschränkten Lernautonomie ist es wahrscheinlich, dass die Mitarbeiter den Raum überwiegend als Bildungsraum erleben. Das einsatzverbundene Lernen stellt einen Bezug zwischen Reflexion und Einsatz her, so dass hier authentische Erfahrungen erworben werden können. Aufgrund der einsatzbedingten Situation findet die Reflexion des Einsatzhandelns diesem erst nachgelagert in der Phase der Einsatznachbereitung statt. Die Örtlichkeiten, die dabei von den Beteiligten gewählt werden, hängen von der Form der Einsatznachbereitung sowie von individuellen Präferenzen ab. Meist wird der erlebte Raum dabei als Lernraum erfahren. Das einsatzgebundene Lernen ist dadurch gekennzeichnet, dass das aktuelle Einsatzhandeln bewusst während des Einsatzprozesses gemeinsam reflektiert wird, so dass Reflexions- und Einsatzort identisch sind. Hierbei haben die Lernenden im konkreten Einsatz die Möglichkeit, authentische Erfahrung zu erwerben. Inwieweit die Beteiligten dabei den Raum als Lern- oder Bildungsraum empfinden, hängt vom Strukturierungsgrad des Kompetenzerwerbs ab. Durch die Entwicklung des einsatzbezogenen Lernens wurde sich intensiv mit der zweiten zentralen Zielstellung dieser Arbeit auseinandergesetzt. Es wurde gezeigt, wie sich der Erwerb von Handlungskompetenz unter Rückgriff auf ein bestehendes Lernkonzept bei medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehren oder Spezialeinheiten der Polizei darstellen und interpretieren lässt. Durch die so vollzogene Integration der Lern-/Kompetenzforschung und der verlässlichkeitsorientierten Forschung wurde ein Beitrag zur Verringerung des bestehenden Erklärungsdefizits hinsichtlich der Lernthematik in der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung erbracht. Weitere Untersuchungen müssen zeigen, inwieweit sich dieses Modell des einsatzbezogenen Lernens auch auf andere Organisationen in Hochrisikoumwelten, die in Form von Einsätzen arbeiten, übertragen lässt. Hierin ist eine Aufgabe weiterer Untersuchungen zu sehen. Das nun folgende abschließende Kapitel fasst die gesamte Arbeit nochmals zusammen und gibt einen Ausblick auf künftigen Forschungsbedarf in der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung.

9

Zusammenfassung und Ausblick

9.1 Zusammenfassung Die hier vorliegende Arbeit hat sich mit der relativ jungen verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung beschäftigt und hierüber einen Überblick gegeben. Dabei standen zwei Erkenntnisinteressen im Mittelpunkt der Betrachtung. Zum einen ging es um die Identifikation verlässlichkeitsbeeinflussender Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten, zum anderen um die Entwicklung eines Modells, das die identifizierten Lernprozesse mit Hilfe bestehender Lernkonzepte und -methoden erläutert. Die Zielstellungen wurden aufeinanderfolgend bearbeitet. Ausgehend von den bestehenden Arbeiten zur Hochleistungsforschung zeigte Kapitel 2 deren unterschiedliche Bereiche und Perspektiven auf. Dabei wurde herausgearbeitet, dass es nicht „die“ Hochleistungsforschung gibt. Vielmehr konnten die bestehenden Arbeiten anhand der primär verfolgten Leistungsziele der untersuchten Organisationen in eine ökonomischorientierte und eine verlässlichkeitsorientierte Perspektive der Hochleistungsforschung eingeteilt werden. Gleichzeitig wurden mit der strukturellen/organisationalen, der teambezogenen und der individuumsbezogenen Ebene unterschiedliche Ebenen der Leistungsbeeinflussung abgeleitet. Die so vorgenommene Einteilung ermöglichte es, die Betrachtungsperspektive der Arbeit auf die verlässlichkeitsorientierte Sichtweise einzugrenzen, um nach verlässlichkeitsorientierten Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten zu suchen. Teil B widmete sich theoretischen Grundlagen der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung. Mit den sog. Organisationen in Hochrisikoumwelten und den Hochverlässlichkeitsorganisationen (vgl. z. B. Dietrich und Childress 2004b:1; Weick und Sutcliffe 2003:14f.) wurden die zentralen Untersuchungsorganisationen dieser Forschungsperspektive vorgestellt. Dabei zeigte sich, dass Organisationen in Hochrisikoumwelten, die allerdings ein geringes technisches Risiko aufweisen (vgl. Roberts 1990a:105), bisher in der verlässlichkeitsorientierten Forschung selten Gegenstand empirischer Betrachtungen waren. Um hier einen Erklärungsbeitrag zu leisten, wurden diese Organisationen als Gegenstand der durchgeführten explorativen Erhebung gewählt. Organisationen in Hochrisikoumwelten, so wurde in Kapitel 3.2 gezeigt, sind mit komplexen und kritischen Situationen konfrontiert (vgl. Dörner und Schaub 1995:38; Dörner 2004:58ff.; Hofinger 2003:115ff.). Um auch in diesen Situationen handlungsfähig bleiben zu können, setzen sich verlässliche Organisationen intensiv mit Fehlern und deren Folgen auseinander. Es wurde herausgearbeitet, dass diese Organisationen häufig eine systemische Perspektive auf Fehler einnehmen und ein aktives Fehlermanagement mit seinen proaktiven und reaktiven Komponenten betreiben (vgl. Reason 2000a; Helmreich et al. 1999a; Weick und Sutcliffe 2003).

214

Kapitel 9

Mit der High Reliability- und den Human Factors/Crew Resource Management-Forschungen wurden in Kapitel 3.4 und Kapitel 3.5 zwei zentrale Bereiche der verlässlichkeitsorientierten Forschungen aufgezeigt und näher erklärt. Beide Forschungsrichtungen beschäftigen sich intensiv mit dem Aufbau und Erhalten von Verlässlichkeit im Sinn einer Handlungsfähigkeit, die ein sicheres Handeln der Organisation ermöglicht. In der Erklärung, wie diese Verlässlichkeit aufgebaut und erhalten werden kann, setzten sie jedoch unterschiedliche Akzente. Die verhaltenswissenschaftlich geprägte High Reliability Theory vertritt eine ganzheitliche Sichtweise und argumentiert überwiegend auf einer organisationalen Ebene. Hiernach ermöglicht eine sog. gemeinsame Achtsamkeit den Organisationen ein zuverlässiges und sicheres Handeln und erlaubt ihnen, Fehler sowie unerwartete Situationen rechtzeitig zu antizipieren und flexibel auf bereits eingetretene Fehlerfolgen und Situationsveränderungen reagieren zu können. Unter der gemeinsamen Achtsamkeit wird eine grundlegende mentale Haltung und Denkweise verstanden (vgl. Weick und Sutcliffe 2003:15), die durch das Zusammenwirken der fünf Merkmale „Konzentration auf Fehler“, „Abneigung gegen vereinfachende Interpretation“, „Sensibilität für betriebliche Abläufe“ sowie ein kontinuierliches „Streben nach Flexibilität“ und „Respekt vor fachlichem Wissen und Können“ entsteht. Die Forschungen zu Human Factors/Crew Resource Management stellen vor allem den Menschen und seine Fähigkeiten in den Betrachtungsmittelpunkt. Begründet liegt dies in der Erkenntnis, dass eine Vielzahl von Zwischenfällen und Unfällen in Hochrisikoumwelten auf mangelhafte nicht-fachliche Fähigkeiten der Menschen zurückzuführen ist (vgl. Helmreich und Foushee 1993; Hansis und Hart 2001; Mearns et al. 2001; Flin 1995; Fukuda und Sträter 2004). Hierzu zählen z. B. unzureichende Problemantizipation, mangelhafte Kommunikations- Führungs-, Entscheidungs- oder Teamfähigkeit. Daher beschäftigt sich die Human Factors/CRM-Forschung intensiv mit dem Aufbau von sozialen und kognitiven nicht-fachlichen Fähigkeiten auf der individuellen und teambezogenen Ebene. Ausgehend von den bestehenden Forschungen wurden in dieser Arbeit Kooperationsfähigkeiten (Teamfähigkeit, Kommunikation), Führungs- und Managementfähigkeiten (Assertiveness, Planung und Koordination, Workloadmanagement); Wahrnehmungsfähigkeiten (System- und Umweltwahrnehmung, Antizipation von Situationsveränderungen) oder aber Entscheidungsfähigkeiten (Mustererkennung, mentale Simulation) und Selbsteinschätzungsfähigkeiten (eigene Grenzen und Stressresistenz) als verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten abgeleitet. Die Bedeutung von Erfahrung für das verlässliche Handeln in Hochrisikoumwelten wurde unter Rückgriff auf die Erkenntnisse der deskriptiven Entscheidungsforschung (z. B. Klein 1995; Orasanu und Connolly 1995; Bach und Lipshitz 1995) verdeutlicht. Insbesondere liefert die auf Wiedererkennen basierende Entscheidungsfindung (recognition primed decision) eine Erklärung für die Notwendigkeit des Erfahrungsaufbaus im Rahmen der CRM-Trainings. Ziel dieser Trainings ist es, die verlässlichkeitsrelevanten, nicht-fachlichen Fähigkeiten sowohl auf individueller Ebene als auch auf Teamebene durch simulationsgestützte Übungen zu verbessern. Dieser situierte Kompetenzerwerb führt dazu, dass Organisationsmitglieder Fehler früh-

Zusammenfassung und Ausblick

215

zeitig entdecken und ihnen entgegenwirken bzw. aufgetretenen Fehlerfolgen situationsadäquat begegnen können, und wirkt sich damit auf die organisationale Verlässlichkeit aus. Die Erkenntnisse der Human Factors/CRM- sowie der Hochverlässlichkeitsforschungen liefern wichtige Hinweise im Rahmen der ersten Zielstellung: der Suche nach verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten. Bisher standen die Erkenntnisse von High Reliability und Human Factors/CRM meist unverbunden und parallel nebeneinander. Die Entwicklung des hier vorgestellten Modells der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten stellt einen Beitrag dar, Ergebnisse verschiedener verlässlichkeitsorientierter Forschungen miteinander zu verbinden. Durch diese Integration wurde gezeigt, wie sich die unterschiedlichen Faktoren gegenseitig ergänzen und unterstützen: individuumsbezogene, teambezogene sowie strukturelle Faktoren fördern über die fünf Merkmale der gemeinsamen Achtsamkeit den Aufbau und Erhalt eines achtsamen Handelns in Organisationen. Dieses wirkt sich positiv auf die Antizipation und Flexibilität im Umgang mit unerwarteten Situationen – und damit auf die Zuverlässigkeit von Organisationen – aus. In Teil C wurden mit medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehreinheiten und Spezialeinheiten der Polizei Organisationen in Hochrisikoumwelten untersucht. Im Ergebnis zeigt sich hinsichtlich der situativen Handlungsbedingungen, dass die untersuchten Einheiten während ihres Arbeitshandelns oft mit komplexen und kritischen Situationen konfrontiert sind. Sie sind daher zu den Organisationen in Hochrisikoumwelten zu zählen, die ein geringes technisches Risiko aufweisen, jedoch trotzdem verlässlich handeln müssen. Des Weiteren wurden in der durchgeführten Untersuchung sich wechselseitig beeinflussende individuumsbezogene, teambezogene und strukturelle Faktoren identifiziert, die sich auf die organisationale Verlässlichkeit im Sinn einer Handlungsfähigkeit auswirken. Hierzu zählen: x

eine ausgeprägte gemeinsame Zielwahrnehmung und -orientierung,

x

ein Handeln im Team,

x

eine große Offenheit im Umgang und Austausch mit Erfahrungen und Fehlern,

x

ausgeprägte Reflexions- und Feedbackprozesse im Rahmen von Einsatznachbereitungen sowie das daraus resultierende arbeitsbezogene, erfahrungsbasierte Lernen,

x

eine flexible Einsatzstruktur und -führung,

x

redundante fachliche Kompetenzen,

x

eine ausgeprägte Wahrnehmungsfähigkeit sowie

x

eine hohe Motivation und organisationales Commitment.

216

Kapitel 9

Die explorativ gewonnenen Ergebnisse leisten einen wichtigen Beitrag zur Ergänzung des in Teil B entwickelten Modells der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren in Hochrisikoumwelten. Insbesondere erweiterten die Erkenntnisse bezüglich der flexiblen Einsatzorganisation und des damit verbundenen Rollenkonzepts das Modell unter strukturellen Gesichtspunkten. Die verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren der individuellen Ebene konnten mit einer hohen Motivation und dem großen organisationalen Commitment der Mitarbeiter sowie deren redundanten fachlichen Kompetenzen ergänzt werden. Eine wichtige Erweiterung erfuhr das Modell auf der teambezogenen Ebene durch die ausgeprägten Reflexionsprozesse im Rahmen formaler und informeller (Einsatz-)Nachbereitungen sowie durch das damit verbundene erfahrungsbasierte Lernen. Die bezüglich des Lernens gewonnenen Erkenntnisse wurden nicht nur zu Erweiterung des Modells herangezogen. Im Rahmen der zweiten zentralen Zielstellung dienten sie gleichzeitig als empirische Basis, um die beobachteten Lernprozesse der betrachteten Organisationen in Hochrisikoumwelten mit Hilfe bestehender Lernkonzepte und -methoden zu erläutern. Teil D widmete sich der zweiten Zielstellung und setzte sich mit der Lernthematik auseinander. Begründet liegt dies einerseits in einem diesbezüglich bestehenden Erklärungsdefizit in der verlässlichkeitsorientierten Forschung (vgl. Bourrier 2005:94). Andererseits bestätigte sich in der explorativen Erhebung die Vermutung, dass die betrachteten Organisationen ebenfalls über ausgeprägte erfahrungsbasierte Lernprozesse verfügen. Zudem zeigte sich, dass Lernen überwiegend situiert im Einsatzkontext stattfindet. Von diesen beiden Sachverhalten ausgehend, wurde das Modell des einsatzbezogenen Lernens entwickelt. Dieses basiert auf dem Konzept des arbeitsbezogenen Lernens (vgl. Dehnbostel 2001), integriert bewusst formelle und informelle Lernprozesse und fördert damit den erfahrungsbasierten Erwerb einsatzbezogener Kompetenzen. Aus Sicht der Aus- und Weiterbildungsforschung stellt es damit ein innovatives Lernkonzept dar (vgl. Dehnbostel 1998:193; 2001:75). Die vorliegende Arbeit hat sich intensiv den verlässlichkeitsorientierten Forschungen gewidmet und sowohl theoretische als auch empirische Erklärungsbeiträge geliefert. Unter theoretischen Gesichtspunkten leistet die Arbeit mit dem Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren einen Beitrag zur Integration verschiedener Erkenntnisse bestehender verlässlichkeitsorientierter Forschungen. Es konnte gezeigt werden, dass sich die verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren über unterschiedliche Ebenen auf die organisationale Verlässlichkeit auswirken. Anhand des hier entwickelten Modells der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten wurde herausgearbeitet, wie sich die bisher relativ unverbunden nebeneinander stehenden Erkenntnisse von Fehlerforschung, High Reliability- und Human Factors/Crew Resource Management-Forschung gegenseitig ergänzen. Das Modell verdeutlicht, wie sich die verschiedenen strukturellen, teambezogenen und individuumsbezogenen Faktoren auf eine gemeinsame Achtsamkeit – ein achtsames Handeln –

Zusammenfassung und Ausblick

217

auswirken und so gemeinsam den Aufbau und Erhalt von organisationaler Verlässlichkeit im Sinn der jeweiligen Zielstellung unterstützen können. Mit dem Modell des einsatzbezogenen Lernens wurde in der vorliegenden Arbeit eine Möglichkeit aufgezeigt, wie sich der Erwerb von (einsatzrelevanter) Handlungskompetenz bei Organisationen in Hochrisikoumwelten (insbesondere den Organisationen mit geringem technischen Risiko) mit Hilfe bestehender Lernkonzepte und -methoden erklären und interpretieren lässt. Dabei unterstellt das Modell mit dem „erlebten Raum“ ein bisher wenig bekanntes Raumverständnis und zeigt neue Möglichkeiten bei der Ausgestaltung von Lernräumen auf. Lernräume und -orte definieren sich nicht mehr nur durch räumliche Eigenschaften, sondern entstehen individuell durch eine aktive Beziehung zwischen den handelnden Menschen, ihrer räumlich-sozialen Umgebung und ihrer Bereitschaft, sich Wissen und Fertigkeiten anzueignen. Damit Lernräume entstehen, müssen die jeweiligen individuellen Lernbedürfnisse und -präferenzen der einzelnen Mitarbeiter berücksichtigt werden. Mit dem Modell des einsatzbezogenen Lernens hat die Arbeit einen Beitrag geleistet, das bestehende Erklärungsdefizit hinsichtlich der Lernthematik in der verlässlichkeitsorientierten Forschung zu verringern. Mit der Wahl der untersuchten Organisationseinheiten leistet die Arbeit einen empirischen Erklärungsbeitrag in der verlässlichkeitsorientierten Forschung. Die betrachteten Organisationen, so wurde herausgearbeitet, sind Organisationen in Hochrisikoumwelten, die ein geringes technisches Risiko aufweisen, aber trotzdem verlässlich arbeiten müssen. Diese Organisationen waren bisher selten Untersuchungsgegenstand verlässlichkeitsorientierter Betrachtungen, so dass über sie auch kaum empirisch fundierte Erkenntnisse vorliegen. Durch die hier durchgeführte explorative Erhebung konnten erste empirisch fundierte Einblicke in die situativen Handlungsbedingungen sowie die verlässlichkeitsorientierten Faktoren dieser Organisationen gewonnen werden. Diese Ergebnisse tragen dazu bei, bestehende Erkenntnisse bezüglich der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren zu untermauern und zu erweitern. Gleichzeitig gewähren sie erste Einsicht in die bisher wenig betrachteten Organisationen und erweitern damit das Feld der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung. Die hier gewonnenen Erkenntnisse über verlässlichkeitsbeeinflussende Faktoren von Organisationen in Hochrisikoumwelten leisten zudem einen anwendungsorientierten Beitrag. Wie in der Einleitung dargestellt, sind zunehmend auch Profitorganisationen, die nicht in Hochrisikoumwelten agieren, mit dynamischen und unsicheren Umweltsituationen konfrontiert, in denen sie gemäß ihrer jeweiligen Zielstellung zuverlässig handeln müssen. Bei diesen Organisationen stehen meist effizienzsteigernde oder kostenreduzierende Ziele im Vordergrund. Das in dieser Arbeit entwickelte Modell der verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren zeigt Ansatzpunkte auf, über welche individuumsbezogenen, teambezogenen oder strukturellen Faktoren sich die Achtsamkeit und damit die Zuverlässigkeit – im Sinn der jeweiligen Zielstellung

218

Kapitel 9

– von Organisationen beeinflussen und gestalten lässt. Denn die Vorbildfunktion der verlässlichkeitsorientierten Forschungen ergibt sich weniger aus der Tatsache, dass die betrachteten Organisationen in Hochrisikoumwelten agieren, als vielmehr aus deren jeweiligen verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren und Methoden. Beispielsweise machen es klare und herausfordernde Ziele den Organisationsmitgliedern leichter, sich mit der Organisation sowie deren Zielen zu identifizieren und durch diese Zielkongruenz ein organisationales und auf ihre Aufgaben bezogenes Commitment auszubilden. Regelmäßige Rückmeldungen über Fortschritte zur Zielerreichung, das Unterstützen von Lernprozessen durch Reflexion und das Rückführen von Erfahrungswissen in den Gesamtlernprozess stärken die Handlungsfähigkeit. Ferner lassen sich strukturelle Prinzipien dahingehend ausrichten, Aufgaben und Verantwortlichkeiten klar abzugrenzen, damit Energieverluste bei Aufgaben- und Verantwortungsunstimmigkeiten möglichst vermieden werden. Zudem lässt sich die Leistungsfähigkeit positiv beeinflussen, wenn Mitarbeiter befähigt und ermutigt werden, ungeachtet ihrer hierarchischen Position, schwache Signale wahrzunehmen, diese zu kommunizieren, mögliche Handlungsalternativen zu antizipieren und entsprechend zu handeln.

9.2 Ausblick Die hier durchgeführte Untersuchung von Organisationen in Hochrisikoumwelten gibt einen ersten empirisch fundierten Einblick in die situativen Handlungsbedingungen sowie die gemeinsamen verlässlichkeitsbeeinflussenden Faktoren von medizinischen Rettungsdiensten, Feuerwehr- und Polizeispezialeinheiten. Mit 21 Interviews in sechs Organisationen, weist die durchgeführte Erhebung einen explorativen Charakter auf. Um weitere und vertiefende Erkenntnisse in nicht-technisch orientierten Organisationen in Hochrisikoumwelten zu gewinnen, ist es eine künftige und wichtige Aufgabe im Rahmen der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung, diese Organisationen weiterhin zum Gegenstand empirischer Betrachtungen zu machen. Dabei bieten sich zwei Möglichkeiten an: Einerseits können weitere Feuerwehren, medizinische Rettungsdienste und Spezialeinheiten der Polizei als Untersuchungsgegenstand gewählt werden. Dies trägt zu einer Vertiefung der jeweils domänenspezifischen Erkenntnisse bei. Andererseits kann die empirische Datenbasis dahingehend ausgebaut werden, dass weitere nicht-technische Organisationen aus Hochrisikobereichen, wie z B. Flugrettung, Seerettung, Bergwacht, Notfallteams von Krankenhäusern, in künftige Untersuchungen einbezogen werden. Damit kommt es zu einer organisationsbezogenen Verbreiterung des verlässlichkeitsorientierten Feldes. Das hier entwickelte Modell des einsatzbezogenen Lernens dient der Beschreibung des Lernens in den betrachteten Organisationen und berücksichtigt dabei deren spezifische Eigenheiten. Inwieweit dieses Modell auch auf andere Organisationen, die in Form von Einsätzen agieren, übertragbar ist, muss ebenfalls in weiteren Untersuchungen überprüft werden.

Zusammenfassung und Ausblick

219

Aufgrund des explorativen Charakters der Erhebung war es hinsichtlich einiger Aspekte nicht immer möglich, tiefgehende Erkenntnisse zu gewinnen. So ist es z. B. auf Basis der vorliegenden Materials nicht möglich, detaillierte Aussagen bezüglich eines strukturierten Fehlermanagements oder der Ausprägung einer verlässlichkeitsorientierten Kultur zu treffen. Auch konnten nur geringe Erkenntnisse hinsichtlich des Personalmanagements gewonnen werden. Ferner lassen sich keine fundierten Aussagen darüber treffen, inwieweit die betrachteten Organisationen bei der Verbesserung ihrer Leistungsfähigkeit bewusst auf bestehende wissenschaftliche Erkenntnisse z. B. der High Reliability-Forschung, der Human Factors/Crew Resource Management-Forschung oder Kompetenzforschung zurückgreifen sowie Erfahrungen aus anderen Organisationen berücksichtigen. Diese Felder näher zu beleuchten sowie die unterschiedlichen (Teil-)Forschungen zu integrieren, wird als eine wichtige Aufgabe künftiger Untersuchungen in der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung gesehen. Ausgehend von den Grenzen der durchgeführten Erhebung sowie deren gewonnenen Erkenntnissen in den betrachteten Organisationen, bieten sich zahlreiche inhaltliche Ausgestaltungsmöglichkeiten künftiger Forschungsaktivitäten. Die hier betrachteten Organisationen zeichnen sich durch ausgeprägte Reflexionsprozesse und eine große Offenheit im Umgang mit Fehlern und Erfahrungen aus. Insbesondere die während eines Einsatzes aufgetretenen unvorhergesehenen Situationsveränderungen, Fehler oder Fehlhandlungen werden zum Gegenstand retrospektiver Analysen gemacht. Dies legt die Vermutung nahe, dass handlungsfähige Organisationen in Hochrisikoumwelten mit geringem technischen Risiko über ein ausgeprägtes und strukturiertes Fehlermanagement verfügen. Um diese These genauer zu beleuchten, sollten in weiteren Untersuchungen explizit Aspekte der Fehlerforschung berücksichtigt werden. Dabei könnte der Frage nachgegangen werden, wie ausgeprägt die beiden Komponenten des Fehlermanagements – Fehlerprävention und Fehlerfolgenminimierung – sind. Im Hinblick auf das zugeschriebene Lernpotenzial der Fehler wäre es zudem interessant zu ermitteln, wie detailliert und strukturiert sowie mit welchen Methoden und Instrumenten die verschiedenen Organisationen aufgetretene Fehler erfassen, analysieren und hieraus Lernbedarfe ableiten. Kommt es zu einem organisationsübergreifenden Austausch von Fehlern und Zwischenfällen? Bestehen – analog bspw. zur Luftfahrtindustrie – Critical Incident Reporting-Systeme, welche die strukturierte Erfassung und Auswertung von Fehlern und Zwischenfällen erleichtern? Hinter diesem künftigen Forschungsfokus verbirgt sich die Vermutung, dass handlungsfähige Organisationen über ein ausgeprägtes, strukturiertes Fehlermanagementsystem verfügen. Zudem lässt sich nach den hier gewonnenen Erkenntnissen vermuten, dass die Bereitschaft steigt, sich offen über Fehler und Erfahrungen auszutauschen, je besser die Kollegen sich kennen und vertrauen. Sicherlich spielt hinsichtlich des offenen Umgangs das Bewusstsein der eigenen Verletzbarkeit und die Kenntnis der gravierenden Folgen von Fehlern eine wich-

220

Kapitel 9

tige Rolle. Darüber hinaus stellt sich jedoch die Frage, welche weiteren Faktoren, wie z. B. Führungsverhalten, Strukturen, Teamgröße etc., die Offenheit und das Vertrauen der Mitarbeiter untereinander beeinflussen. Im Kern thematisieren diese Fragen kulturelle Aspekte, die letztendlich zu einer offenen und verlässlichkeitsorientierten Organisationskultur führen sollen. Um in diesem Bereich weitere Erkenntnisse zu erzielen, böte es sich an, kulturelle Aspekte in künftigen Untersuchungen zu thematisieren. Die Handlungsbereitschaft der Mitarbeiter bestimmt sich wesentlich durch die Motivation und ihre Verbundenheit gegenüber der Aufgabe und der Organisation. Die Ausrichtung von persönlichen und organisationalen Zielen sowie die kurzfristige Rückmeldung über das Erreichen von Einsatzzielen wirken sich dabei motivierend auf die Mitarbeiter aus. Bisher bestehen in den verlässlichkeitsorientierten Forschungen wenig Erkenntnisse darüber, in welch konkretem Zusammenhang das Commitment der Mitarbeiter und die Handlungsfähigkeit stehen. Um diesen Zusammenhang näher bestimmen zu können, ist es notwendig, die subjektiven Einstellungen der Mitarbeiter mit objektive messbaren Kriterien des Handlungserfolges, wie z. B. Einsatz- und Ausrückzeiten, Anzahl der Einsatzmitarbeiter, Anzahl der aufgetretenen Fehler, Dauer der chaotischen Phase etc., in Beziehung zu setzen. Wie sich gezeigt hat, nimmt Lernen und der Kompetenzerwerb einen hohen Stellenwert in der verlässlichkeitsorientierten Forschung ein, wird aber bisher selten explizit thematisiert. Daher bietet es sich an, die Untersuchung von Lernprozessen sowie den Kompetenzerwerb von Organisationen in Hochrisikoumwelten verstärkt zu thematisieren und in den Mittelpunkt weiterer Untersuchungen zu stellen. Für eine gezielte Gestaltung der verlässlichkeitsbezogenen Faktoren wäre es sinnvoll, wenn die jeweiligen Organisationen aktuelle Kenntnisse über die eigenen bestehenden Handlungskompetenzen hätten. Hierzu böte es sich an, strukturelle, personenbezogene (soziale) oder technische Kompetenzen zu messen. Aus diesen Analyseergebnissen ließen sich dann Anhaltspunkte für die Ausgestaltung der jeweiligen Faktoren und Kompetenzen ableiten. Mit der Thematisierung der Kompetenzaspekte würde es zu einer bisher nicht erfolgten Integration verlässlichkeitsorientierter und kompetenzorientierter Forschungen kommen. Im Rahmen der Analyse könnte z. B. näher auf die Bestimmung des Expertisestands der Mitarbeiter eingegangen werden. Somit ließe sich die Vermutung überprüfen, dass verlässlichkeitsorientierte Organisationen in Hochrisikoumwelten mehrheitlich über sehr erfahrene Mitarbeiter (Experten und Könner) verfügen. Zudem könnten, durch eine genauere Betrachtung individueller sozialen Kompetenzen, Aussagen über die Ausprägung der jeweiligen Teamfähigkeiten einzelner Mitarbeiter getroffen werden. Diese Betrachtungsperspektive impliziert die Annahme, dass Mitarbeiter handlungsfähiger Organisationen über ausgeprägte und ähnliche Teamfähigkeiten verfügen.

Zusammenfassung und Ausblick

221

Anknüpfend an die Kompetenzthematik, könnte mit der Personalthematik ein weiteres, bisher wenig beachtetes Feld in der verlässlichkeitsorientierten Hochleistungsforschung thematisiert und erkundet werden. In diesem Zusammenhang ließen sich folgende Fragen behandeln: Wie werden die benötigten Kompetenzen im Rahmen der Personalauswahl erfasst und getestet? Wie laufen Personalauswahlprozesse bei Organisationen in Hochrisikoumwelten ab? Welche Anforderungen hinsichtlich der fachlichen und nicht-fachlichen Kompetenzen werden an die Bewerber gestellt? Welche Instrumente und Methoden werden im Rahmen der Personalauswahl eingesetzt? Wie sieht die Personalentwicklung in den betrachten Organisationen aus? Bezüglich der Personalthematik ist in der verlässlichkeitsorientierten Forschung bisher ein blinder Fleck zu konstatieren.

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