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German Pages 278 Year 2011
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Gudrun Hentges Hans-wolfgang Platzer (Hrsg.)
Eurapa qua vadis? Ausgewählte Problemfelder der europäischen Integrationspol itik
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VS VERLAG
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften I Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
Lektorat: Frank Engelhardt VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17381-8
Inhalt
Einleitung ............................................................................................................ 7 Gudrun Hentges/Hans- Wolfgang Platzer
I
Politisch-institutionelle Perspektiven der Europäischen Union zwischen Vertiefung und Erweiterung
Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon ein weiterer Schritt auf der Suche nach Problemlösungsfähigkeit und demokratischer Legitimität ........................................................................ 15 Andreas HofmannlWolfgang Wesseis Die EU und ihre Nachbam - Integrationsmodelle zwischen Nachbarschaftspolitik: und Vollmitgliedschaft .................................................. 43 Johanna Birk
U
Weltwirtschaftskrise und Perspektiven der europäischen Wirtschafts- und Sozialpolitik
Eine gemeinsame europäische Krisenüberwindungsstrategie Probleme und Perspektiven ............................................................................... 69 Hans-Jürgen Bieling Das Europäische Sozialmodell auf dem Prüfstand. Zur wissenschaftlichen Modelldebatte und den Perspektiven der Europäischen Sozialpolitik unter den Vorzeichen der Weltwirtschaftsund Eurokrise und des EU-Reformvertrages .................................................... 93 Hans-Wolfgang Platzer
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III Dimensionen und Perspektiven der Arbeitsmigration Zwischen offenen Arbeitsmärkten und transnationalem Lohngef::ille. Gewerkschaften und Migration im Zuge der EU-Osterweiterung .................. 127 Thorsten Schulten Migration und Entwicklung. Eine Neuorientierung der EU im21. Jahrhundert? ......................................................................................... 151 UweHunger Feminisierung von Migration - Formen und Folgen weiblicher Wanderungsprozesse ....................................................................................... 171 Susanne Spindler
IV Festung Europa? - Herausforderungen der Fluchtmigration Wohin bewegt sich die europäische Einwanderungspolitik:? Perspektiven nach dem Lissabon-Vertrag und dem Stockholm-Programm ......................... 189 Petra Bendel Die Asyl- und Flüchtlingspolitik zwischen Europäisierung und nationalen Interessen. Das Beispiel Italien ..................................................... 205 Julia Wahnel
V
Aktuelle Herausforderungen: Rechtspopulismus und Rechtsextremismus
Die extreme Rechte in Europa - zwischen niederländischem Rechtspopulismus und ungarischem Rechtsextremismus .............................. 235 Gudrun Hentges
Autorinnen und Autoren ................................................................................. 277
Einleitung Gudrun Hentges/Hans- Wolfgang Platzer
Quo vadis? Diese häufig bemühte Frageformel, die historisch aus den frühchristlichen Petrusakten der ersten nachchristlichen Jahrzehnte stammt, ist zu einem geflügelten Wort geworden, das umgangssprachlich, neben dem "Wohin gehst du?" auch im Sinne von "Wie geht es weiter?" und "Wohin soll das führen?" verwendet wird. Dieser dreifache Bedeutungsgehalt der Quo-vadis-Frage kommt auch in einschlägigen Europadebatten zum Tragen, die Politik und Wissenschaft seit Beginn der Integrationsgeschichte immer dann besonders intensiv führten, wenn sich das Projekt der europäischen Integration in schwierigen Fahrwassern befand oder an Weichenstellungen angekommen war, die nach grundlegenden Richtungsentscheidungen verlangten. Durch die Weltfinanzmarktkrise des Jahres 2008 - mit ihren bis dato nur zum Teil bewältigten Folgen - und vor allem durch die dramatischen Entwicklungen in der Eurozone zu Beginn des Jahres 2010, als nur noch mithilfe eines 750-Milliarden-Euro-Rettungsschirms und durch das erstmalige Aufkaufen von Staatsanleihen kriselnder Euro-Länder durch die Europäische Zentralbank ein Crash in der Euro-Zone verhindert werden konnte, gewinnt die Frage "Europa - quo vadis" an beispielloser Aktualität und Brisanz; denn die Europäische Union befindet sich in einer Lage, in der mit den Weichenstellungen zur Bewältigung der EuroKrise auch über die Zukunft der EU als politisches Projekt entschieden wird. Die gewaltigen Herausforderungen, die die EU zu bewältigen hat, umfassen ebenso Maßnahmen eines kurz- und mittelfristigen Krisenmanagements wie längerfristige grundlegende Strukturentscheidungen. Dabei müssen Antworten auf mehrere komplexe Fragen gefunden werden: 11
Erstens: Wie schafft die gesamte EU eine möglichst rasche ökonomische Genesung auf dem schmalen Grat zwischen staatlicher Sparpolitik und notwendigen Wachstumsimpulsen angesichts national höchst unterschiedlicher Strukturvoraussetzungen in den Handels- und Leistungsbilanzen, in den Arbeitslosenzahlen, in der Wettbewerbsfahigkeit, in der Gesamthöhe der Staatsverschuldung und der jährlichen Neuverschuldung?
G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zweitens: Wie organisiert die EU künftig die fiir eine Währungsunion nötige Koordinierung der Wirtschaftspolitik und Überwachung der Haushaltspolitik, ohne dafiir zu viel Demokratie aufzugeben?
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Drittens: Welche Sicherheitsnetze und neuen institutionellen Regeln - darunter voraussichtlich auch die Option geordneter Insolvenzverfahren und Austrittsregeln - braucht die Union künftig fiir Krisen dieser Art?
Als wir den vorliegenden Band konzipierten, waren die Auswirkungen der Weltfinanzmarktkrise in Umrissen erkennbar, nicht jedoch die Herausforderungen, vor denen die EU im Bereich der gemeinsamen Währung nunmehr steht. Vielmehr sollten unter der Leitfrage "Europa - quo vadis?" der konstitutionelle Rahmen nach dem Inkrafttreten des EU-Reformvertrages und ausgewählte materielle Problemfelder der Integration beleuchtet werden. Dieses Ziel des Bandes, "Ortsbestimmungen" der EU in ihrer gegenwärtigen vertraglich-politischen Verfasstheit vorzunehmen und in einzelnen zentralen Politikfeldern Pfade bisheriger Entwicklung sichtbar zu machen und aktuelle Weichenstellungen der europäischen Politik kritisch zu reflektieren, behält - auch wenn die Imponderabilien der währungspolitischen Krise jegliche Analyse überlagern - nach wie vor seine Gültigkeit. Dies allein schon deshalb, weil die Dynamik: des Europäischen Integrationsprozesses und das EU-System mittlerweile eine Komplexität angenommen haben, die eine Zusammenführung unterschiedlicher Erklärungsansätze und theoretischer Perspektiven sowie eine nach Politik:feldern differenzierte Problemanalyse erfordern. Diese Prinzipien kommen in der Gesamtkonzeption und in den einzelnen Beiträgen dieses Bandes zum Tragen. Bei einem solchen Verständnis des wissenschaftlichen Europadiskurses können die in diesem Band gegebenen Antworten auf die Frage "Europa - quo vadis?" notwendigerweise nur Teilantworten sein. Und es handelt sich immer auch um vorläufige Antworten; dies in der gegenwärtigen Lage der EU schon deshalb, weil derzeit nicht absehbar ist, ob die Stabilisierung der Europäischen Währungsunion in der Krise gelingt und ob durch eine nachhaltige Stärkung der wirtschaftspolitischen Steuerungsfähigkeit der EU zugleichjene Voraussetzungen geschaffen werden können, die letztlich auch über den Erhalt der politischen Gesamtarchitektur der EU entscheiden werden. Der Band versammelt Beiträge, die sich zentralen Entwicklungsachsen der EU-Integration und den damit verbundenen Problemstellungen widmen. Dies ist zunächst der historische Erfahrungszusarnmenhang einer engen Wechselwirkung zwischen "Vertiefung" und "Erweiterung" der EU. Zwei Komplexe sind hierbei von zentraler Bedeutung: die Frage der vertraglich-konstitutionellen Weichenstellungen und der "inneren Verfasstheit" der EU nach dem Inkrafttreten des Vertrages
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von Lissabon und die Frage nach den Optionen, die der EU zur Verfügung stehen, ihr Verhältnis zu künftigen Beitrittsaspiranten bzw. Ländern in der (unmittelbaren) Nachbarschaft der Union zu gestalten. Eine zweite Entwicklungsachse der Europäischen Integration, entlang der seit je grundlegende ordnungs- und integrationspolitische Ziel- und Interessenkonflikte einer Lösung zugefiihrt werden mussten, betrim das Verhältnis von "Marktintegration" und "Politikintegration", von Europäischer Wirtschafts- und Währungsunion und Europäischer Sozialunion. Auch dieser Komplex wird in mehreren Beiträgen dieses Bandes beleuchtet. Die einzelnen Analysen, die theoretisch unterschiedlich inspiriert sind, widmen sich neben Grundsatzfragen des sozial-ökonomischen Regierens in der EU ausgewählten Problemfeldern der Arbeitsmarktpolitik und Finanzmarktregulierung, die - zumal unter den Vorzeichen der Weltwirtschafts- und Eurokrise - Aufschlüsse über Handlungsbarrieren und Entwicklungsoptionen der EU in materiellen Kernbereichen des Integrationsprojekts geben. Die dritte Entwicklungsachse der Europäischen Integration ist eng verknüpft mit der Marktöffnung und der Beseitigung von Mobilitätsbarrieren bzw. mit der Herstellung der Freizügigkeit als eine der Grundsäulen des EU-Binnenmarktes. Infolge der Erweiterungsrunden der Jahre 2004 und 2007 gewann die wissenschaftliche Beschäftigung mit der Thematik der Arbeitsmigration der EU-Bfuger(innen) erneut an Bedeutung. Aus der Perspektive der osteuropäischen Herkunftsstaaten der Arbeitsmigrant(inn)en stellt sich die Frage nach dem quantitativen Ausmaß der Emigrationsbewegungen, nach der zeitlichen Dauer der Emigration, nach der beruflichen Qualifikation der Migrant(inn)en sowie nach dem Zielland dieser neuen Wanderungsbewegung. Die Aufnahrneländer der vorwiegend osteuropäischen Arbeitsmigrant(inn)en stehen ihrerseits vor der Herausforderung, die Konsequenzen der Immigration osteuropäischer Arbeitsmigrant(inn)en im politischen Handeln zu berücksichtigen - eine Herausforderung, mit der vor allem die Gewerkschaften konfrontiert sind. Hier ist zu beobachten, dass sie sich auf einem schmalen Grat bewegen: Einerseits müssen sie vermeiden, dass sie auf nationaler Ebene lediglich die Interessen der einheimischen Arbeitnehmer(innen) gegen unliebsame Konkurrent(inn)en und gegen Lohn-Dumping verteidigen, andererseits kann ein neoliberales Konzept der Öffnung der Arbeitsmärkte keine Lösung für die neuen Herausforderungen der globalisierten Arbeitsmärkte sein. Insofern bewegen sich Gewerkschaften in einem Spannungsfeld, das in diesem Band ausgelotet werden soll. Damit eng verbunden ist auch die Frage nach dem Zusammenhang von Migration und Entwicklung: Migration, so die Argumentation eines Beitrags, werde in Europa immer noch vorwiegend als Bedrohung wahrgenommen. Dadurch werde, wie ein internationaler Vergleich zeige, den vielschichtigen Wechselwir-
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Platzer
kungen zwischen brain drain und brain gain, zwischen dem Nutzen gelungener Einwanderungspolitik für das Gastland und der wirtschaftlichen Entwicklung in den Herkunftsländern der Migrant(inn)en nicht angemessen Rechnung getragen. Die Auseinandersetzung mit dem Thema Migration verlangt schließlich mehr denn je eine Genderperspektive: Im Jahr 2005 war (fast) jeder zweite internationale Migrant weiblich (49,6 % im Jahr 2005). Für die Europäische Union verbinden sich mit dieser Entwicklung, die als ,,Feminisierung der Migration" beschrieben wird, nicht zuletzt arbeits- und sozialpolitische Fragen, da Migrantinnen in den EU-Staaten überproportional in folgenden Berufsfeldern tätig sind: im Hotelund Gaststättengewerbe, in den Bereichen Gesundheit und soziale Dienstleistungen sowie in privaten Haushalten. Die vierte Entwicklungsachse steht in Zusammenhang mit der Fluchtmigration in die Europäische Union, also Migration im Sinne von unfreiwilliger Migration. Aufgezeigt werden die aktuellen Tendenzen der europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik. Als Folge der Aufhebung der europäischen Binnengrenzen und verstärkten Sicherung der EU-Außengrenzen gewinnen die südeuropäischen EUMitgliedstaaten an Bedeutung, vor allem aufgrund ihrer langen Küstenlinie. Vor dem Hintergrund der Dublin lI-Verordnung, die das Prinzip der Bodenberührung festschreibt und daraus ableitet, welcher Staat zur Bearbeitung des Asylantrags verpflichtet ist, zeichnet sich ab, dass die südlichen EU-Mitgliedstaaten vor großen Herausforderungen stehen. Fragen der Asyl- und Flüchtlingspolitik der südeuropäischen Staaten werden in diesem Band exemplarisch am Beispiel Italiens diskutiert und kritisch reflektiert. Die fünfte Entwicklungsachse thematisiert die besorgniserregende Tendenz des wachsenden Einflusses der extremen Rechten auf das Parteiensystem und die politische Kultur der EU-Mitgliedstaaten. Diese Entwicklung beschränkt sich nicht, wie noch Mitte der 1980er-Jahre, auf einige wenige EU-Staaten - damals standen der französische Front National und die Freiheitliche Partei Österreichs im Zentrum der Debatte. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts lässt sich dieses Phänomen in fast allen EU-Staaten beobachten; in einem Viertel der EU-Länder ist die Regierung mittlerweile von Parteien der extremen Rechten abhängig. Die Übertragung nationalstaatlicher Kompetenzen an supranationale Organisationen und der damit verbundene Prozess der Europäisierung zentraler Politikfelder provoziert(e) auf nationalstaatlicher Ebene antieuropäische Abwehrkämpfe und Ressentiments, die häufig durch Bewegungen und Parteien der extremen Rechten vorangetrieben werden. Die Forderung nach einer Wiederherstellung des souveränen Nationalstaates - verbunden mit einer Rückgewinnung nationalstaatlicher Kompetenzen - bezieht sich auf verschiedene Politikfelder. Im Zentrum der Pro-
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grammatik und Ideologie der extremen Rechten steht häufig die Migrations- und Asylpolitik. Forderungen wie "Nederland is de Nederlandse", "Danmark, danskerne", "Magyarorszag, a magyarok", "La France aux Franvais", ,,Deutschland den Deutschen" finden sich in der Agitation der extremen Rechten in Europa. Diese Forderungen nach Exklusion und (Wieder)herstellung einer ethnischen Homogenität sind immer auch verknüpft mit einer repressiven Ausländer- und Asylpolitik. Trotz nationaler Unterschiede und Konkurrenzen versuchen die Bewegungen und Parteien der extremen Rechten punktuell eine transnational übergreifende Kooperation zu realisieren. Unter dem Motto "Für ein Europa der Vaterländer - gegen die EU" strebten bzw. streben die Parteien der extremen Rechten europaweit eine Zusammenarbeit an. Entlang der skizzierten Entwicklungsachsen des EU-Integrationsprojekts lotet dieser Band politisch-institutionelle Rahmenbedingungen, aktuelle Problemhaushalte und Weichenstellungen in zentralen Politikfeldern der Europäischen Union aus. Auf diese Weise will er durch ausgewählte sozialwissenschaftliehe Forschungsbeiträge die mittlerweile breit gefacherten European Studies bereichern und einen Beitrag zu einer integrationspolitischen Debatte leisten, die unter der Frage "Europa - Quo vadis" gerade gegenwärtig größte Aufmerksamkeit verdient. Ganz herzlich bedanken möchten wir uns bei unserer Lektorin, Dr. Nicole Warmbold (Berlin), für die hervorragende Zusammenarbeit. Gudrun Hentges und Hans-Wolfgang Platzer Fulda im November 2010
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Politisch-institutionelle Perspektiven der Europäischen Union zwischen Vertiefung und Erweiterung
Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon ein weiterer Schritt auf der Suche nach Problemlösungsfähigkeit und demokratischer Legitimität! Andreas HofmannIWolfgang WesseIs
1. Einleitung: Das Vertragswerk - Lesarten und Untersuchungsperspektiven Nach mehrjährigem Vorlauf, einer mehr als halbjährigen konkreten Vorbereitungszeit und einem problembehafteten, zwei Jahre andauernden Ratifikationsprozess trat am 1. Dezember 2009 ein neues EU-Vertragswerk in Kraft. Das Dokument, das als "Vertrag von Lissabon" in die Annalen der Integrationsgeschichte eingehen wird, ist ein weiterer Meilenstein in der Geschichte der konstitutionellen Systemgestaltung der europäischen Integration. Ausgehend von der "Berliner Erklärung" vom 25. März 2007 2 über die Verabschiedung eines Mandats für eine Regierungskonferenz (vgl. Europäischer Rat 2007a) hatte der Europäische Rat als konstitutioneller Architekt den Vertrag bereits am 13. Dezember 2007 unterzeichnet. Ein negatives Referendum in Irland und eine Reihe von Klagen vor nationalen Verfassungsgerichten, insbesondere in der Tschechischen Republik und der Bundesrepublik Deutschland, ließen sein Inkrafttreten über lange Phasen unsicher erscheinen. Der Vertrag von Lissabon kennzeichnet den gegenwärtigen Stand der Beantwortung konstitutioneller Grundfragen der europäischen Integration vonseiten der Regierungen der Mitgliedstaaten. Wir können das Dokument somit als eine weitere Stufe eines seit der Verabschiedung der Einheitlichen Europäischen Akte zwei Jahrzehnte währenden Prozesses betrachten, die Union "demokratischer, transparenter und effizienter" (siehe Europäischer Rat 2001) zu gestalten. Diese Aufgabe haben die Staats- und Regierungschefs im Jahr 2007 wie folgt formuliert:
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Dieser Beitrag ist eine erweiterte und aktualisierte Fassung des Aufsatzes: Andreas Hofmann! Wolfgang Wessels (2008), Der Vertrag von Lissabon - eine tragfiibige und abschließende Antwort auf konstitutionelle Grundfragen?, in: integration Nr. 1, S. 3-20. Erklärung anlässlich des 50. Jahrestages der Unterzeichnung der Römischen Verträge, 25.3.2007; http://www.eu2007.de/delNews/download_docslMaerzl0324-RAAJGerman.pdf (30.9.20 10). V gl. auch Goosmann (2007).
G. Hentges, Hans-Wolfgang Platzer (Hrsg.), Eurapa – qua vadis?, DOI 10.1007/978-3-531-92805-0_2, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Andreas
WesseIs
"Um auch in Zukunft eine aktive Rolle in einer sich rasch verändernden Welt und im Hinblick auf die ständig wachsenden Herausforderungen spielen zu können, müssen wir die Handlungsfählgkeit der Europäischen Union und ihre Rechenschaftspflicht gegenüber dem Biliger bewahren und weiterentwickeln" (Europäischer Rat 2007c, Ziffer 2). Korrespondierend mit dieser politischen Lesart kann der nun vorliegende Text in unterschiedlichen Perspektiven erfasst, erklärt und bewertet werden (vgl. Quermonne 1992; Wesseis 2005a). In einer Perspektive, die die kurzfristigen Entwicklungsrichtungen der institutionellen Architektur (zu diesem Begriff vgl. Wesseis 2008) analysiert, wird zu prüfen sein, ob und wie nationale und europäische Politiker das neue Regelwerk innerhalb oder auch neben den EU-Organen in Zukunft nutzen werden, um die selbst gesetzten Ziele zur Steigerung der Handlungsfählgkeit und demokratischen Kontrolle zu erreichen (vgl. CEPSfEGMONTfEPC 2010). Eine Betrachtung des Vertragswerks in einer mittelfristigen Perspektive fokussiert die Evolution des politischen Systems Europas seit der Unterzeichnung der Pariser Verträge 1951. Demnach bildet die Bündelung von Souveränität in europäischen Institutionen jenseits des Nationalstaates den Ausgangspunkt fiir die konstitutionelle Entwicklung eines supranationalen Konstrukts, das von den Mitgliedstaaten nach und nach mit einer staatsähnlichen Agenda ausgestattet wurde und dessen vorläufiger Kulminationspunkt mit dem Lissabonner Vertrag vorliegt. Eine besondere Herausforderung fiir die Forschung bildet schließlich die Einordnung des Lissabonner Vertrags in eine langfristige Perspektive im Sinne von Braudels longue duree (vgl. Braudei 1980; vgl. auch Christiansen 1998). Demnach wäre die jüngste Entwicklung eine weitere Stufe der Entwicklung und Transformation europäischer Staaten, die entlang - vielfach symbolisch evozierter - europäischer Traditionen seit "Athen" und "Rom" sowie historischer Grundlinien seit der Herausbildung souveräner Territorialstaaten in Europa nach dem Westfälischen Frieden 1648 verläuft (vgl. Bartolini 2005). Die historische Verortung des Vertragswerks stellt zugleich die Frage nach dem zukünftigen Voranschreiten der Integrationskonstruktion. Die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten als Vertreter der "Herren der Verträge" (Bundesverfassungsgericht 1994) haben einen "Schwur" auf die Beständigkeit des vorliegenden Werkes geleistet. So formuliert die Präambel des Lissabonner Vertrags3 den "Wunsch", mit dem nun vorliegenden Vertragswerk "den mit dem Vertrag von Amsterdam und dem Vertrag von Nizza eingeleiteten Prozess, mit dem die Effizienz und die demokratische Legitimität der Union erhöht und die Kohärenz ihres 3
Gemeint ist hier die Präambel des Änderungsver1rags, nicht des zu ändernden Vertrags über die Europäische Union.
Die
Union nach dem
von Lissabon
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Handeins verbessert werden sollen, abzuschließen". Die Schlussfolgerungen des Vorsitzes bestätigen diese Erwartung. Mit dem Vertrag von Lissabon erhalte "die Union einen stabilen und dauerhaften institutionellen Rahmen". Sie erwarten "in absehbarer Zukunft keine weiteren Änderungen". Die neu geschaffene institutionelle Balance gebe der Union daher die Möglichkeit, "sich voll und ganz auf die konkreten Aufgabenstellungen zu konzentrieren, die vor ihr liegen, einschließlich der Globalisierung und des Klimawandels" (siehe Europäischer Rat 2007b, Ziffer 6). Nicht zuletzt lassen die Problematiken des Ratifikationsprozesses sowie einige Ergebnisse nationaler Parlamentswahlen der letzten Zeit auf eine deutliche Integrationsmüdigkeit der Bevölkerung schließen, die weitere Integrationsbemühungen auch für an Vertiefungsschritten interessierte Staats- und Regierungschefs unattraktiv erscheinen lassen. Gleichzeitig behält aber auch der Vertrag von Lissabon die Erwartung einer schrittweisen Weiterentwicklung der Union bei. Nach wie vor verortet sich das Vertragswerk als "neue Stufe bei der Verwirklichung einer immer engeren Union der Völker Europas" (siehe Artikell EUV). Diese latent konftigierenden Zielsetzungen der zukünftigen Entwicklung sind als Ausdruck der Schwierigkeit zu werten, konstitutionelle Grundfragen der Systemgestaltung des europäischen Konstrukts abschließend zu beantworten.
2. Neue Struktur - mehr Überschaubarkeit? Der Vertrag von Lissabon nimmt einige Änderungen an der bisherigen Struktur der vertraglichen Grundlagen des europäischen Konstrukts vor. Zwar behält er vordergründig die Zweiteilung des Primärrechts bei, die Unterscheidung zwischen "Union" und "Gemeinschaft" aber wird aufgehoben. Der Ausdruck "Gemeinschaft" wird durchgängig durch den Ausdruck "Union" ersetzt. Die vertragliche Grundlage der Union bilden von nun an der "Vertrag über die Europäische Union" (EUV) sowie der "Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union" (AEUV), der den bestehenden "Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft" (EGV) ablöst. Strukturelle Änderungen sind vor allem im EUV zu erkennen. Ein Blick auf die neu geordneten Titel erweckt zunächst den Eindruck, es handele sich hier nun um eine Schilderung der Grundlagen der Union, während der AEUV lediglich die Details der sektoralen Zusammenarbeit klärt (vgl. iTbersicht 1).
Andreas HofmannlWolfgang WesseIs
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Übersicht 1: Aufbau des Primärrechts entsprechend dem Vertrag von Lissabon Vertrag von Lissabon Vertrag über die Europäische Union EUV
Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union-AEUV
Titel I
Gemeinsame Bestimmungen
Erster Teil
Titel II
Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze
Zweiter Teil
Titel III
Bestimmungen über die Organe
Dritter Teil
Die internen Politiken und Maßnahmen der Union
Titel IV
Bestimmungen über eine verstärkte Zusammenarbeit
Vierter Teil
Die Assoziierung der überseeischen Länder und Hoheitsgebiete
Titel V
Allgemeine Bestimmungen über Fünfter Teil das auswärtige Handeln der Union und besondere BestimSechster Teil mungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Siebter Teil Schlussbestimmungen
Titel VI
Grundsätze Nicht-Diskriminierung und Unionsbürgerschaft
Das auswärtige Handeln der Union Institutionelle Bestimmungen und Finanzvorschriften Allgemeine und Schlussbestimmungen
Eigene Darstellung nach den Vorgaben des Vertrags von Lissabon.
Bei näherer Betrachtung jedoch ist festzustellen, dass wichtige neue Elemente wie beispielsweise die - in dieser Form erstmalige -Aufzählung der Zuständigkeiten der Union entgegen der augenscheinlichen Systematik im AEUV (Artikel 2-6 AEUV)4 zu finden sind. Zudem fällt auf, dass sich in der Lissabonner Version des EUV kein Verweis mehr auf die "polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen" findet. Dieser Teil des Regelwerks wurde komplett in den AEUV aufgenommen. Dort wurde der bisherige Titel "Visa, Asyl, Einwanderung" durch den neuen Titel V "Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts" im Dritten Teil "Die internen Politiken und Maßnahmen der Union" ersetzt. Damit wird die bisherige "dritte Säule" der Union aufgelöst. Die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) verbleibt jedoch als Titel V im EUV. In diesem Bezug wird in Artikel 24, Absatz I EUV betont, dass für die GASP "besondere Verfahren" gelten.
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Die Nummerierung der Vertragsartikel in diesem Beitrag folgt der in der konsolidierten Version vorgeno=enen Neunummerierung nach Artikel 5, Absatz 1 des Vertrags von Lissabon (entsprechend den Übereinsti=ungstabellen im Anhang zu diesem Vertrag).
Die Europäische Union nach dem Vertrag von Lissabon
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3. Konstitutionelle Grundfragen: Ein dreifaches Dilemma Die folgende Analyse des Lissabonner Vertrags konzentriert sich auf drei zentrale Aspekte des politischen Systems der Union: die Kompetenzordnung, die institutionelle Architektur und die Verfahrensordnung. Dem folgend identifizieren wir drei konstitutionelle Grundfragen der Systemgestaltung: 1. 2. 3.
Wie schreibt der Vertrag die Zuständigkeitsverteilung zwischen den Mitgliedstaaten und der Union und damit deren Aufgabenwahrnehmung fest? Wie positioniert der Vertrag Akteure und strukturiert Verfahren zur Steigerung der Handlungsfähigkeit innerhalb der institutionellen Architektur? Werden die neuen Vorschriften das EU-System "demokratischer" gestalten und damit seine Legitimität steigern?
Bei der Beantwortung dieser Grundfragen nach Effizienz und demokratischer Legitimation, die sich prinzipiell für jedes politische System stellen, gehen wir von einem dreifachen Dilemma aus (vgl. Übersicht 2), das ambivalente Einstellungen und Verhaltensmuster der Mitgliedstaaten beim Ausbau des EU-Systems seit Beginn des Integrationsprozesses prägt und auch weiterhin wesentliche Elemente des Vertrags und dessen Komplexität in einem "Fusionsprozess" (Wesseis 2005b) erklären hilft. Der Lissabonner Vertrag dokumentiert somit den gegenwärtigen Versuch einer dauerhaften Lösung dieser Dilemmata, die ein Grundprinzip der konstitutionellen Entwicklung des europäischen Integrationsprozesses darstellen.
Übersicht 2: Das dreifache Dilemma Europäische Ebene Ebenendilemma
Problem1ösungsinstinkt
Nationale Ebene Souveränitätsreflex
Entscheidungsdilemma Effizienzsuche
Letztentscheidungsvorbehalt
Legitimitätsdilemma
abgeleitet national
eigenständig europäisch
Eigene Darstellung
3.1 Das Ebenendilemma der AuJgabenzuordnung: Problemlösungsinstinkt versus Souveränitätsreflex Im Hinblick auf das Dilemma der Aufgabenzuordnung unterstreichen die Regie-
rungen der Mitgliedstaaten einerseits die Notwendigkeit, bei grenzüberschreitenden Problemen und globalen Herausforderungen in einer irgendwie gearteten
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Andreas
WesseIs
Form gemeinsam "zum Wohle der europäischen Bürger" (siehe Europäischer Rat 2007c, Ziffer 2) vorgehen ZI.l müssen. In leicht variierenden Formulierungen betonen sie immer wieder: "Europa ist geeint in der Überzeugung, dass wir in der Welt von morgen nur dann unsere Interessen und Ziele vertreten können, wenn wir ZI.lsammenarbeiten" (siehe Europäischer Rat 2007c, Ziffer 1). Als Ziel wird dabei vorgegeben, "einen Beitrag zum Alltagsleben der Bürger ZI.lleisten" (siehe Europäischer Rat 2007c, Ziffer 6). Deutlich tritt in diesen Formulierungen ein "Problemlösungsinstinkt" der Mitgliedstaaten ZI.ltage, der das EU-System zunehmend als optimale "Problemlösungsebene" (Hrbek/Wessels 1984) erkennen lässt. Andererseits versuchen Bestimmungen des Vertrags von Lissabon in einem gegenläufigen "Souveränitätsreflex" noch stärker als ZI.lvor die Zuständigkeiten der Union ZI.l begrenzen, um das Risiko der Aushöhlung der De-jure-Souveränität der Mitgliedstaaten ZI.l begrenzen. 5 Subsidiarität ist ein zentrales Losungswort, das in dieser Debatte eine prominente Stellung einnimmt, in der Praxis aber nur begrenzt Anwendung findet. Die Erfahrungen mit konkurrierenden Gesetzgebungen im "unitarischen Bundesstaat" (Hesse 1962) Deutschland verdeutlichen, dass dieses Problem kein allein der Europäischen Union eigenes Phänomen darstellt (vgl. Scharpf 1985). Gerade im Hinblick auf eine Erklärung des Integrationsprozesses muss deshalb hervorgehoben werden, dass nicht die Europäische Kommission oder der Europäische Gerichtshof (EuGH) als Hauptverursacher der Aufgabenausweitung gelten können. Die Regierungen der Mitgliedstaaten selbst wollen die EU-Ebene immer intensiver nutzen, wie die jahrzehntelangen Aktivitäten des Europäischen Rats als Leitliniengeber und konstitutioneller Architekt (vgl. ZI.l diesem BegriffWesseis 2008) belegen.
3.2 Das Entscheidungsdilemma der Handlungsfiihigkeit: Ejjizienzsuche versus Letztentscheidungsvorbehalt Nach dem Beschluss über die adäquate Problemlösungsebene stehen die Mitgliedstaaten vor einem "Entscheidungsdilemma": Einerseits suchen die Mitgliedstaaten Verfahrensregeln, die die Entscheidungseffizienz stärken und damit "die künftige Handlungsfahigkeit der Europäischen Union" (siehe Europäischer Rat 2007c, Ziffer 6) sichern. Andererseits ist vonseiten der Mitgliedstaaten ein immer wieder vorgebrachter Vorbehalt bei der Abgabe von Letztentscheidungsrechten feststellbar, etwa in Form von Vetos im Rat. Das Verfahrensprofil gestaltet sich als Folge vielfacher Kompromissformeln äußerst unübersichtlich. 5
Solche Bestimmungen finden sich zum Teil in den dem Vertrag zugehörigen Protokollen und Erklärungen.
Die
Union nach dem
von Lissabon
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3.3 Das Dilemma der Legitimationsquelle: eigenständig europäisch versus abgeleitet national Neben dem Prozess der Effizienzsteigerung in Kompetenzverteilung und Verfahrensordnung betont der Vertrag die Notwendigkeit, die demokratische Legitimität der Union zu steigern. Dieses Bestreben wird durch die als Titel II neu in den EUV eingebrachten "Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze" eindrücklich verdeutlicht, die in Artikel 10 EUV eine eigenständig europäische und eine abgeleitete nationale Legitimationsdimension nebeneinander stellen. Deutlich wird ein paralleler Ausbau mehrerer Verfahren, die die Legitimität auf beiden Ebenen steigern sollen. Dieses Legitimitätsdilemma zeitigt somit Wirkungen bei der Gestaltung des Vertragstexts, die durch rein effizienzsteigernde oder souveränitätserhaltende Motivationen alleine nicht erklärt werden können. Dabei ist zu beobachten, dass die Stärkung bestehender und die Einführung neuer Akteure zur Steigerung der Legitimität immer auch Auswirkungen auf die Handlungsfahigkeit der Union haben.
4. Die Neuordnung der Kompetenzen: Zwischen begrenzter Emzelermächtigung und staatsähnlicher Agenda 4.1 Ausprägungen des Souveränitätsreflexes Eine Durchsicht des Vertragswerkes im Hinblick auf die Kompetenz- und Aufgabenzuordnung offenbart mehrere Ausprägungen des Souveränitätsreflexes. Der Lissabonner Vertrag übernimmt ausdrücklich nicht die quasi-konstitutionellen, staatsanalogisierenden Charakterisierungen des Verfassungsvertrags. Bereits im Mandat für die Regierungskonferenz wurde dekretiert, dass der EUV und der AEUV keinen "Verfassungscharakter" haben dürfen (Europäischer Rat 2007c, Ziffer 4). Die Artikel des Verfassungsvertrags zu den Symbolen der Union (Hymne, Flagge, Europatag, Wahlspruch) und Bezeichnungen wie "Europäisches Gesetz"6 sind im neuen Vertrag nicht zu finden. Auch die Position des ,,Außenministers der Union" wurde urnbenannt in "Hoher Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik" und ähnelt damit der Kennzeichnung dieser Position im vorherigen Vertrag von Nizza. Auch die Verbannung der Vorrangklausel des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht aus dem Vertragstext in eine Erklärung (vgl. Erklärung 17 zum Vorrang, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon) ist als Ausdruck des Bemühens zu verstehen, einer unbegrenzten Kompetenzausweitung Grenzen zu setzen - ob6
Diese Bezeichnung lebt jedoch in den neu eingeführten "ordentlichen" und "besonderen Gesetzgebungsverfahren" fort.
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gleich dieses aus der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hervorgehende Prinzip seit den frühen 1960er-Jahren etabliert ist (vgl. Streinz 2003, S. 75 f.). In diesem Sinne setzt auch der neu in den Vertrag aufgenommene systematisierende Zuständigkeitskatalog in den "Gemeinsamen Bestimmungen" des EIN und den "Grundsätzen" des AEIN der Unionskompetenz deutliche Schranken. Die Grundsätze der Zuständigkeitsordnung (Artikel 4 und 5 EUV) betonen das Prinzip der "begrenzten Einzelermächtigung", die "Verhältnismäßigkeit" und die "Subsidiarität" und unterstreichen damit die Position der Mitgliedstaaten als "Herren der Kompetenzen" - in Anlehnung an die "Herren der Verträge" (Bundesverfassungsgericht 1994). Entsprechend achtet die Union die "nationale Identität" der Mitgliedstaaten, "die in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommt" (siehe Artikel 4, Absatz 2 EUV). Zudem definiert der Lissabonner Vertrag mit der "nationalen Sicherheit" erstmals eine ausschließliche Zuständigkeit der Mitgliedstaaten (Artikel 4, Absatz 2 EUV). Das traditionelle Prinzip der "begrenzten Einzelermächtigung" wird dadurch akzentuiert, dass "alle der Union nicht in den Verträgen übertragenen Zuständigkeiten" ausdrücklich bei den Mitgliedstaaten verbleiben (siehe Artikel 4, Absatz 1 EIN). Artikel 48, Absatz 2 EIN betont zusätzlich, dass Regierungskonferenzen bei Änderungsverfuhren des Vertrags auch Rückführungen beziehungsweise Verringerung von übertragenen Kompetenzen vorsehen können. Ein "Protokoll über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit" grenzt zudem die Wirkungen geteilter Kompetenzen ein: "Die Ausübung von Zuständigkeiten [erstreckt] sich nur auf die durch den betreffenden Rechtsakt geregelten Elemente und nicht auf den gesamten Bereich." (Protokoll Nr. 25 über die Ausübung der geteilten Zuständigkeit) Schließlich sieht eine Erklärung im Bereich der geteilten Zuständigkeiten die Möglichkeit vor, einen Rechtsakt der Union aufzuheben und so Kompetenzen an die Mitgliedstaaten zurückzugeben (vgl. Erklärung 19 zur Abgrenzung der Zuständigkeiten, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon). Der Rat kann demnach aufInitiative eines oder mehrerer seiner Mitglieder die Kommission auffordern, "Vorschläge für die Aufhebung eines Rechtsaktes zu unterbreiten". Auch Erklärungen zur GASP belegen den Souveränitätsreflex: So sollen Bestimmungen des Lissabonner Vertrags "weder die derzeit bestehenden Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten für die F orrnulierung und Durchführung ihrer Außenpolitik noch ihre nationale Vertretung in Drittländern und internationalen Organisationen berühren" (siehe Erklärung 13 zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon). Ferner wird festgestellt, dass der Vertrag von Lissabon "der Kommission durch die Bestimmungen zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik keine neuen Befugnisse zur Einleitung
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von Beschlüssen übertragen werden und dass diese Bestimmungen die Rolle des Europäischen Parlaments nicht erweitern" (siehe Erklärung 14 zur Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon). Als Antwort auf die Bedenken der irischen Bevölkerung betont der Europäische Rat zudem explizit, der neue Vertrag werde weder die Befugnisse der Union im Bereich des Steuerrechts erweitern, noch traditionelle außenpolitische Verpflichtungen der Mitgliedstaaten (wie etwa Neutralität) beeinträchtigen und ebenso wenig in das irische Familien- und Abtreibungsrecht eingreifen (vgl. Europäischer Rat 2008). Zwar formulieren diese Ergänzungen nur Sachverhalte und Möglichkeiten, die das bestehende Vertragswerk bereits heute vorsehen. Deutlicher als zuvor betonen die "Herren der Verträge" jedoch die Absicherung vor Risiken für die nationale Gestaltungshoheit. So markiert der Vertrag expliziter als zuvor mitgliedstaatliche Tabuzonen und nationale domaines reserw'!es - oder in den Worten des Bundesverfassungsgerichts: "Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse" (siehe Bundesverfassungsgericht 2009). 4.2 1m Gegenzug: Mehr Europa - eine staatsähnliche Agenda? Im Gegensatz zu dieser Tendenz beinhaltet der Vertrag von Lissabon in der Präambel und gleichzeitig in den Gemeinsamen Bestimmungen des geänderten EUV einen breit angelegten Wertekatalog sowie eine umfangreiche Ziel- und Aufgabenliste. Im AEUV führen die Mitgliedstaaten - als Ausdruck des Problemlösungsinstinkts im augenscheinlichen Widerspruch zur verstärkten Souveränitätsbetonung - in mehreren Abstufungen einen umfassenden Kompetenzkatalog der Union in den Vertrag ein. Die Formulierungen des Dokuments zeigen deutlich, dass die Vertragsväter und -mütter diese Union nicht als einen eng definierten Zweckverband (vgl. Ipsen 1972) einzig für die regulative Verwaltung eines gemeinsamen Binnenmarktes verstehen. Der neue Artikel 3 EUV spricht wesentliche Ziele staatlichen Handelns an: die allgemeinen Aufgaben der Förderung von Frieden, Werten und Wohlergehen ihrer Völker, (bereits an zweiter Stelle) die Schaffung eines Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, die Errichtung eines Binnenmarkts einschließlich sozial- und regionalpolitischer Aufgaben mit der Betonung von Solidarität, die Wirtschafts- und Währungsunion, der Erhalt der kulturellen Vielfalt und des kulturellen Erbes Europas und die Förderung der Werte der Union und des Schutzes der Unionsbfuger(innen) in den Beziehungen zur übrigen Welt - wobei letztere Formulierung eine gemeinsame Verteidigung in die Ziele der Union einschließt. Der mit dem Lissabonner Vertrag eingeführte Kompetenzkatalog teilt sich auf in "ausschließliche" (Zollunion, Wettbewerb, Währungspolitik, Erhaltung der
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biologischen Meeresschätze im Rahmen der gemeinsamen Fischereipolitik, Handelspolitik) und "geteilte" Zuständigkeiten (unter anderem Binnenmarkt, Sozialpolitik, Innen- und Justizpolitik, Landwirtschaft, Umwelt, Verbraucherschutz und Verkehr) sowie "Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen" der Union (unter anderem Gesundheit, Industrie, Kultur, Tourismus und Katastrophenschutz). Zusätzlich - quasi außerhalb dieses nachvollziehbaren Katalogs - bietet der Lissabonner Vertrag Möglichkeiten zur Koordinierung der Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Sozialpolitik (vgl. Artikel 5 AEUV). Zu diesem Katalog zählen auch die in Artikel 24 EUV aufgeführten Zuständigkeiten im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik und der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP).7 Addiert man die erwähnten Politikfelder, so fehlt auf EU-Ebene kein zentraler Bereich der nationalen Politik, auch wenn die Verfahren zu deren Ausgestaltung in ihrer Vielfalt keine durchgängige Zentralisierung erwarten lassen. Im Hinblick auf den Problemlösungsinstinkt ist schließlich auf Flexibilitätsoptionen in der Zuständigkeitsverteilung hinzuweisen, die ihren Ausdruck in Artikel 352 AEUV als Ermächtigung zur Vertragslückenschließung finden, jedoch in spezifischer Form auch an anderen Stellen im Vertrag zu finden sind (vgl. Streinz 2003, S. 191).
4.3 Legitimität durch eigenständig europäische Grundrechte? Zum Bereich der Kompetenzordnung sind trotz ihrer "Verbannung" aus dem Vertragswerk auch der Artikel zur Charta der Grundrechte und das dazugehörige Protokoll zu zählen. Zwar wird im neuen Artikel 6, Absatz 1 EUV auf die Charta Bezug genommen und ihr "dieselbe Rechtsverbindlichkeit wie die Verträge" zugesprochen, der Text selber wird jedoch nicht dem Primärrecht zugeordnet. In diesem Kontext werden die Auswirkungen des Legitimitätsdrucks deutlich: Aufgrund ihrer bereits erreichten Kompetenzfiille soll die Union einerseits als Wertegemeinschaft den Grundrechteschutz auf europäischer Ebene kodifizieren und die Charta der Grundrechte in einer modifizierten Fassung als rechtsverbindlich anerkennennicht zuletzt, um grundlegenden legitimatorischen Ansprüchen zu genügen. Dem Souveränitätsreflex folgend betont der zweite Unterabsatz des Artikels 6, Absatz 1 EUV jedoch: ,,Durch die Bestimmungen der Charta werden die in den Verträgen festgelegten Zuständigkeiten der Union in keiner Weise erweitert." Für die Anwendung der Charta sieht ein zusätzliches Protokoll (vgl. Protokoll Nr. 30 über die Anwendung der Charta der Grundrechte der Europäischen Union 7
Interessanterweise weist der Lissabonner Vertrag diesen Bereich jetzt als "Gemeinsam" und nicht mehr als "Europäisch" aus.
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auf Polen und das Vereinigte Königreich) eine Sonderregelung fiir das Vereinigte Königreich, Polen und in Zukunft auch die Tschechische Republik vor (vgl. Europäischer Rat 2009a). Dieses schafft eine weitere Form von Opt-outs in der ohnehin langen Liste von Ausnahmeregelungen, die insbesondere das Vereinigte Königreich in Anspruch nimmt. Bestanden bisherige Varianten insbesondere darin, sich an geplanten neuen Politikfeldern nicht zu beteiligen, wird mit diesem Protokoll eine Ausnahmeregel vom Grundsatz gleicher Rechte und Pflichten formuliert. Die Einheitlichkeit der Rechtsgemeinschaft (vgl. Hallstein 1979; Mayer 2005), die als ein besonderes Gut der Integrationskonstruktion gesehen wird, wird dadurch erneut und verstärkt durchbrochen.
5. Die Neuordnung der institutionellen Architektur: Legitimitätsdruck und Handlungsfähigkeit 5.1 Demokratische Grundsätze: Duale Legitimität als institutionelle Leitidee Der Vertrag von Lissabon stellt den veränderten "Bestimmungen über die Organe" in seiner Neuordnung der Artikel des EUV die ebenfalls neuen "Bestimmungen über die demokratischen Grundsätze" der Union voran. Diese sind gleichsam als institutionelle Leitidee dem Aufbau der institutionellen Architektur vorgeordnet. Betont wird ein duales Legitimationsprinzip: die Union als "Union der Bürgerinnen und Bürger" und als "Union der Staaten". Die Beteiligung der Bürger auf der europäischen Ebene als eigenständig europäisches Legitimationselement wird durch das Europäische Parlament als ihrer Vertretung gewährleistet, während die Mitgliedstaaten durch ihre demokratisch legitimierten Regierungen im Rat vertreten sind (vgl. Artikel 10, Absatz 2 EUV). Zur "Union der Bürger" ist zudem die neu eingeführte Möglichkeit zur "Bürgerinitiative" (Artikel 11 ,Absatz 4 EUV) zu zählen; die verstärkte Beteiligung nationaler Parlamente (Artikel 12 EUV) hingegen ist beiden Prinzipien zuzuordnen. Als zentrale Grundsätze dieses Selbstverständnisses können "Gleichheit" (Artikel9 EUV), "repräsentative Demokratie" (Artikell 0 ElJV, Absatz 1) und "Partizipation" (Artikel 11 EUV) identifiziert werden. Die "demokratischen Grundsätze" umfassen auch den Verweis auf die Rolle politischer Parteien in der Herausbildung eines "europäischen politischen Bewusstseins" (Artikell 0 ElJV, Absatz 4) sowie die Rolle der nationalen Parlamente (Artikel 12 EUV). Die Betonung der Beteiligungsrechte nationaler Parlamente an dieser Stelle ist eine Neuerung des Lissabonner Vertrags und als Antwort auf den Vorwurf sowohl eines demokratischen
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Defizits der Union als auch der vermeintlichen Aushöhlung nationaler Souveränität - insbesondere der Parlamentshoheit - zu verstehen. Die Legitimität europäischer Entscheidungen soll so durch eine abgeleitete - und teilweise vorgelagerte - nationale Dimension gefestigt werden.
5.2 Akteure in der institutionellen Architektur: gesteigerte Handlungsfähigkeit der Institutionen? Der Lissabonner Vertrag sieht eine Reihe von Veränderungen im institutionellen Aufbau der Union vor, deren Formulierungen einen hohen Grad an Mehrdeutigkeit aufweisen und damit auch potenzielle Konflikte fiir die Handlungsfähigkeit der Union erkennen lassen. Zu diskutieren ist, wie sich die neuen Bestimmungen auf das reale Verhalten der Akteure auswirken (werden) und ob die Neuerungen bei einzelnen Akteuren einer Steigerung der Handlungsfähigkeit der Union insgesamt zuträglich sein können (vgl. Lequesne 2007; Wesseis 2008). Eine prominente Neuerung ist der (Vollzeit)Präsident des Europäischen Rats, der nun fiir eine Amtszeit von zweieinhalb Jahren gewählt wird (vgl. Artikel 15, Absatz 5 EUV). Seine Aufgabenbeschreibung lässt die Präferenz der Staats- und Regierungschefs erkennen, ihre eigene Institution handlungsfähiger zu gestalten, legt aber auch den Schluss nahe, dass sie als "Herren der Verträge" eine zusätzliche Instanz zur Kontrolle anderer Institutionen installieren wollen. Einem möglichen Kontrollverlust seitens der Mitgliedstaaten hinsichtlich der Handlungen der Kommission, aber auch des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik, könnte so durch die Installation eines zusätzlichen "Wächters" Einhalt geboten werden. Schließt man das "Gesetz der unerwarteten Folgen" nicht aus, so kann diese Position - wie in der öffentlichen Debatte schon jetzt immer wieder anklingt - auch zum "Präsidenten der Union" insgesamt stilisiert werden - verbunden mit einer deutlichen Abwertung der Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten, insbesondere des jeweiligen (nach wie vor bestehenden) Ratsvorsitzes. Die Rolle des Präsidenten des Europäischen Rats kann so zwischen zwei Polen verortet werden: Der Amtsinhaber kann als ein "üblicher" Vorsitzender handeln, der die Arbeit seines Gremiums vereinfacht und beschleunigt; er kann sich aber auch als Präsident im Sinne der französischen Rollendefinition verstehen, der insbesondere nach außen als Repräsentant "Europas" auftritt (vgl. CEPSIEGMONTIEPC 2007, S. 49). Die Benennung des ersten Amtsinhabers gibt bereits Hinweise darauf, wie die Staatsund Regierungschefs diese Rolle verstehen. Mit der Wahl Herman Van Rompuys, und nicht etwa des lange als aussichtsreicher Kandidat gehandelten ehemaligen Premierministers des Vereinigten Königreichs, Tony Blair, zeigte der Europäische Rat eine deutliche Präferenz fiir eine Person, deren vornehmliehe Stärke im Aus-
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handeln von Kompromissen zu liegen scheint (vgl. CEPSIEGMONTIEPC 2010, S. 21). Da im Sinne einer Pfadabhängigkeit die erste Amtszeit prägend sein wird, gilt es weiterhin zu beobachten, wie der Amtsinhaber seine Position zwischen interner Koordination und externer Repräsentanz ausübt - nicht zuletzt gegenüber anderen Institutionen wie der Kommission (vgl. CEPSIEGMONTIEPC 2010, S. 75 f.). Eine Innovation besonderer Art ist weiterhin der "Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik" (Artikel 18 EUV), der der Union mit der Unterstützung eines "Europäischen Auswärtigen Diensts" (Artikel 27,Absatz 3 EUV) in der internationalen Politik "Gesicht" und "Stimme" verleihen soll. Der Hohe Vertreter wird dazu den Vorsitz im Rat für ,,Auswärtige Angelegenheiten" einnehmen, gleichzeitig übernimmt er die Funktion des derzeitigen Kommissars für Außenbeziehungen und fungiert dabei als einer der Vizepräsidenten der Kommission (vgl. Artikel 18,Absätze 3 und 4 EUV). Dieser "Dreifachhut", den der Amtsträger tragen soll, ist ein fast schon idealtypischer Indikator des Ebenen- und Entscheidungsdilemmas, dem die "Herren der Verträge" durch eine komplexe institutionelle Fusion zu entkommen versuchen. Zum Schutz gegen eine "ungebührliche" Stärkung dieser Position wird gleichzeitig der Fortbestand der außenpolitischen Autonomie der Mitgliedstaaten betont (vgl. Erklärung 13 zur Gemeinsamen Außen und Sicherheitspolitik, Schlussakte zum Vertrag von Lissabon), die sich auch im Festschreiben intergouvernementaler Verfahren niederschlägt - mit Einstimmigkeit im Rat als Regelfall, einer schwachen Position für Kommission und Parlament und keiner Zuständigkeit für den Gerichtshof (vgl. Artikel 24, Absatz 1 EUV). Die Sicherung der Kohärenz außenpolitischen Handeins wird sich für die derzeitige Amtsinhaberin Baroness Catherine Ashton so höchst anspruchsvoll gestalten (vgl. CEPSIEGMONTIEPC 2010, S. 143; Avery 2007). Gegenüber diesen neuen Ämtern stärkt der Lissabonner Vertrag aber auch die Rechte des Präsidenten der Kommission (vgl. Artikel 17, Absatz 6 EUV) sowie dessen Legitimation durch die "Wahl" seitens des Europäischen Parlaments (vgl. Artikel 14, Absatz 1; CEPSIEGMONTIEPC 2007, S. 27). Ein Resultat des negativen Referendums in Irland ist der Verzicht auf die ursprünglich geplante Verkleinerung der Kommission, die eigentlich die Handlungsfahigkeit dieser Institution verbessern sollte (vgl. Europäischer Rat 2008). Es wurde deutlich, dass die konstitutionellenArchitekten die besondere Symbolfunktion des Kommissars als Identifikationspunkt für die Bürger - nicht nur in Irland - unterschätzt hatten. Auch hier wird die latente Spannung zwischen der Suche nach Effizienzsteigerung und der Stärkung der legitimatorischen Dimension der Integrationskonstruktion offenbar. Bei der unausweichlichen Auseinandersetzung um zentrale Führungsrollen darf der Ratsvorsitz als vierte Institution in diesem neu geschaffenen "Führungs-
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quartett" nicht übersehen werden. Neben dem permanenten Präsidenten des Europäischen Rates bleibt im Rat - mit Ausnahme des Rats für "Auswärtige Angelegenheiten" - das bisherige Rotationsprinzip mit einigen Änderungen bestehen. Nach einem Beschluss des Europäischen Rats über die Ausübung des Vorsitzes im Rat vom 27. November 2009 soll eine Gruppe von jeweils drei Mitgliedstaaten eine" Team-Präsidentschaft" für einen Zeitraum von 18 Monaten wahrnehmen (vgl. Europäischer Rat 2009b). Die Verteilung soll nach dem Prinzip der gleichberechtigten Rotation "unter Berücksichtigung ihrer Verschiedenheit und des geografischen Gleichgewichts innerhalb der Union" festgelegt werden. Wurde mit Bezug auf die bisherige Regelung in der kurzen Dauer des Vorsitzes ein Defizit hinsichtlich der Kontinuität der Zielsetzung über den Zeitraum des Vorsitzes hinaus gesehen, stellt sich nun die Frage nach der Koordination zwischen den diversen Vorsitzen (vgl. CEPSIEGMONT und EPC 2010, S. 65 ff.). Dies gilt nicht zuletzt im Hinblick auf die Vorbereitung und Durchführung der Tagungen des Europäischen Rats, an der sowohl der Präsident desselben als auch der Kommissionspräsident als dessen Mitglieder sowie der Hohe Vertreter als Teilnehmer (vgl. Artikel 15, Absatz 2 EUV) und die Team-Präsidentschaft über den Vorsitz des Rats für ,,Allgemeine Angelegenheiten" (vgl. Artikel 16, Absatz 2 EUV) beteiligt sind. Durch die Aufstellung des neuen Führungsquartetts wird die Aufgabenwahrnehmung zwar auf eine kontinuierlichere Basis gestellt, die Vertragsbestimmungen erhöhen jedoch gleichzeitig die Zahl der Akteure in verantwortlichen Positionen. Nachteile bilden zumindest in den ersten Jahren die zu erwartende Verwirrung bezüglich Zuständigkeiten, Wettstreit um Einfluss und damit eine Verwässerung und Verwischung von Verantwortlichkeiten. Die Stärkung der einzelnen Positionen kann in der Summe zu einem ungeordneten Neben- und Gegeneinander innerhalb der institutionellen Architektur führen und so die Handlungsfähigkeit - entgegen den Absichten der Vertragsväter und -mütter - schwächen.
6. Die Neuordnung der Verfahren: Schritte zum Ausbau einer effizienten und legitimen (Gemeinschafts)methode
6.1 Mehr europäische Demokratie? Ausbau der Beteiligungsrechte des Europäischen Parlaments und die Bürgerinitiative Deutlich feststellbar ist eine Ausweitung zentraler Verfahrensmodalitäten, die in der Regel der früher so genannten Gemeinschaftsmethode zugeschrieben werden. Wie die vergangenen Vertragsrevisionen wird auch der Lissabonner Vertrag die Aufgaben des Europäischen Parlaments ausbauen, dessen parlamentarische Funktionen
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stärken und somit die eigens:tindig emopäische Legitimitätsdimension der Union verstärken. Er wertet die Rolle eines Organs auf, das außerhalb des direkten Einflussbereichs nationaler Regierungen liegt und dem eine besondere Bedeutung tür die demokratische Legitimität europäischer Rechtsakte zugeschrieben wird (vgl. Pinder 1986 und 2000; LeinenlSchönlau 2003). Von besonderer Bedeutung ist in diesem Zusmnmenhang der Ausbau der Legis1ativrechte des Parlaments (vgl. Abbildung 1). Das bisherige Mitentscheidungsverfahren. das dem Europäischen Parlament dem Rat gleichgestellte Betei1igungsmöglichkeiten einräumt, wird nicht nur dem. Begriffnach zum. "ordentlichen Gesetzgebungsverfahren", sondern auch der Zahl der Artikel nach zu einem ,,NormalfaU". Der Lissabonner Vertrag wird dieses Verfahren in 35 Entscheidungsfiillen zusiitzlich einführen und auf weitere zentrale Politikbereiche ausdehnen - so beispielsweise auf die Asyl- und Einwanderungspolitik und MaßnAhmen gegen internationale Kriminalität und Terrorismus (vgl. CEPS!EGMONTIEPC 2010, S. 36). Das "ordentliche Gesetzgebungsverfahren" stellt so unter den Vertragsartikeln das mit Abstand am häufigsten anzuwendende einzelne Verfahren dar (in 80 von 256 Vorgaben mit Verfahrensbezug).
Abbildung 1: Entwicklung vertraglicher Beteiligungsrcchtc des Europäischen
Parlaments 120
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