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German Pages 366 Year 2011
Inka Bormann Zwischenräume der Veränderung
Inka Bormann
Zwischenräume der Veränderung Innovationen und ihr Transfer im Feld von Bildung und Erziehung
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Zugl. Habilitationsschrift an der Freien Universität Berlin, Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie, 2009. Diese Veröffentlichung wurde freundlicherweise durch den Fachbereich Erziehungswissenschaft und Psychologie der Freien Universität Berlin unterstützt.
. 1. Auflage 2011 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011 Lektorat: Dorothee Koch / Dr. Tanja Köhler VS Verlag für Sozialwissenschaften ist eine Marke von Springer Fachmedien. Springer Fachmedien ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-17768-7
Inhalt Einleitung: Zwischenräume der Veränderung .................................................. 9
1
‚Innovation’ im Feld: Umrisse einer Gegenwartsdiagnose.............. 15 1.1
Innovation als bildungspolitisches Thema: Ein dauerhafter Imperativ? ............................................................... 17
1.2
Innovation in der Erziehungswissenschaft: Ein immanentes Moment? ................................................................ 25
1.3
Innovation in einer entgrenzten Gesellschaft: Eine paradoxe Normalität? ............................................................... 29
1.4
Implikationen für das weitere Vorgehen ........................................... 39
2
Vorstellungen von Innovationen und ihren Elementen ................... 43 2.1
Womit alles beginnt, ........................................................................ 44
2.2
…was daraus wird, ........................................................................... 48
2.3
…wie es sich verbreitet .................................................................... 53
2.4
… und wie es verankert wird – ein ‚Perspektivenwechsel’ ............... 66
2.5
Zwischenresümee ............................................................................. 72
2.5.1 2.5.2 2.5.3 2.5.4
Elemente von Innovation ............................................................. 74 Innovation als Bewegungsbegriff und ihr sozialer Charakter als ‚Sprachspiel’ .......................................................... 78 Eigenes Innovationsverständnis: Innovation als Wissenspassage .................................................... 82 Implikationen für die theoretische Beschreibung und Analyse von Innovationen............................................................ 84
6
Inhaltsverzeichnis
3
Zur theoretischen Kontextualisierung von ‚Innovation’ ................. 87 3.1
Zum Verhältnis von Stabilität und Wandel ....................................... 89
3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2
Wandel und Stabilität im Medium des Sozialen: Zur Ordnung des Wandels .............................................................. 111
3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3
Systemtheorie: Innovation ist nicht möglich .............................. 112 Theorie sozialer Praxis: Innovation ist habituell begrenzt .......... 129 Strukturationstheorie: Innovation ist eine dauerhafte Realität sozialer Dynamik .......................................................... 143 Gegenstandsbezogene Zusammenfassung und Präzisierung von Forschungsfragen .................................................................... 160
3.3.1 3.3.2 3.3.3 3.3.4 3.3.5 4
Innovation in Grenzen: Pfadabhängigkeitstheorie ........................ 92 Spiel und Täuschung: Neo-Institutionalismus ............................ 102 Innovation: Spiele in ausgehandelten Zonen tolerierter Differenz.................................................................................... 106
Sachliche Dimension: Was gilt als Innovation? ......................... 160 Räumliche Dimension: Wo findet Innovation statt? ................... 163 Soziale Dimension: Wer oder was trägt Innovation?.................. 166 Zeitliche Dimension: Wie verläuft Innovation?.......................... 169 Kognitive Dimension: Wie werden Innovationen verankert? ..... 171
Theoretisch-konzeptionelle Dimensionen der Analyse von Innovationen und ihrem Transfer .................................................. 175 4.1 4.1.1 4.1.2 4.1.3 4.2 4.2.1 4.2.2
Kollektive Akteure: Träger und Prozessoren von Innovationen und ihrem Transfer ......................................................................... 176 Netzwerke ................................................................................. 177 Advocacy coalitions................................................................... 179 Communities of Practice............................................................ 182 Praktiken der Ordnung von Wissen: Lernen und Aneignung .......... 187 Lernen ....................................................................................... 188 Aneignung ................................................................................. 192
Inhaltsverzeichnis 4.3
Diskurs als Modus der Ordnung von Wissen .................................. 196
4.3.1 4.3.2 4.3.3 4.3.4 4.4
5
7
Was ist ein Diskurs .................................................................... 197 Wer und was ‚macht’ den Diskurs ............................................. 200 Wo ist der Diskurs ..................................................................... 202 Was macht und wie wirkt Diskurs ............................................. 205 Zusammenfassung und Implikationen für die Analyse von Innovationen und ihrem Transfer.................................................... 209
Methodologie und ‚Methode’: Diskursanalyse .............................. 215 5.1
Theoretische Bezüge der wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA)................................................................... 218
5.2
Wissen und Diskurs........................................................................ 223
5.3
Methodologische Elemente der wissenssoziologischen Diskursanalyse ............................................................................... 226
5.3.1 5.3.2 5.3.3 6
Interpretative Methodik in der wissenssoziologischen Diskursanalyse........................................................................... 226 Die Grounded Theory in der WDA............................................ 233 Sampling und Kodieren in der WDA ......................................... 236
Die Innovationsanalyse.................................................................... 239 6.1
Was die Wissenssoziologische Diskursanalyse leisten soll ............. 239
6.2
Zur Darstellung und Begründung der Feldauswahl ......................... 242
6.2.1 6.2.2 6.3
Was ist hier das Feld und wer agiert darin?................................ 242 Wieso ist hier Innovation erwartbar?.......................................... 245 Wissenssoziologische Diskursanalyse von Innovation.................... 251
6.3.1 Vorgehen im Allgemeinen......................................................... 251 6.3.2 Grobanalyse .............................................................................. 252 6.3.2.1 Das Materialkorpus ............................................................... 252 6.3.2.2 Die Konstitution von Fällen .................................................. 254 6.3.2.3 Das Korpus für die Feinanalyse ............................................ 256
8
Inhaltsverzeichnis 6.3.3 Feinanalyse................................................................................ 258 6.3.3.1 Situiertheit und Kontextualisiertheit des Materials ............... 258 6.3.3.2 Formale Struktur des Materials ............................................. 261 6.3.3.3 Die interpretative Feinanalytik .............................................. 266 6.4
Fälle im Feld: Differente Aneignungsstile eines ausgewählten Innovationsdiskurses ...................................................................... 269
6.4.1 Fallbezogene interpretative Rekonstruktion ............................... 270 6.4.1.1 AG 1: Außerschulische und Weiterbildung ......................... 271 6.4.1.2 AG 4: Hochschule................................................................. 277 6.4.1.3 AG 5: Informelles Lernen ..................................................... 284 6.4.1.4 AG 7: Schulische Bildung..................................................... 291 6.4.2 Fallübergreifende, interpretative Typisierung............................. 297 6.4.2.1 Innovation im Diskurs – Zwischen geltungsorientierter Regulation und bedeutungsorientierter Elaboration............... 298 6.4.2.2 Governance im Diskurs – Wissen, Handlungskoordination und Integration...................................................................... 302 6.5
7
Zusammenfassung in Thesen......................................................... 309
Zwischenräume der Veränderung ‚revisited’ – Ein Modell diskursiver Innovation..................................................................... 315 7.1 7.1.1 7.1.2 7.1.3 7.1.4 7.2
Wissenspassagen – ein transaktionales und transformationales Modell diskursiver Innovation ........................................................ 315 Externer Faktor und dessen Elemente ........................................ 316 Interner Faktor und dessen Elemente ......................................... 317 Transaktion und Transformation................................................ 321 Dekontextualisierung und Rekontextualisierung ........................ 323 Resümee und Ausblick ................................................................... 325
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis ............................................................ 331 Literatur .................................................................................................................333
Einleitung: Zwischenräume der Veränderung Innovationen, das Vermögen und die Bereitschaft an Innovationen mitzuwirken und diese im Bildungssystem zu verankern, sind zu modernen Imperativen geworden. Mit Innovationen wird das Versprechen verbunden, einen als verbesserungswürdig erkannten Zustand zu verändern. Ebenso wird aber festgestellt, dass Innovationserwartungen uneingelöst bleiben, erneuert werden müssen oder zumindest problematisch sind: Innovationen werden oftmals nur lokal umgesetzt, haben unerwünschte bzw. unerwartete Nebenfolgen oder bleiben kurze Episoden. Diese Problemwahrnehmung korrespondiert mit einem steigenden öffentlichen, politischen und wissenschaftlichen Interesse an Innovationen und ihrem Transfer. Lange Zeit wurden Innovationen als Gegenstand aufgefasst, der scheinbar leicht zwischen verschiedenen Kontexten transferiert werden kann, und es fand eine Konzentration auf zentrale Strategien statt, die eine koordinierte Verbreitung von Innovationen versprachen. Nicht erst aus heutiger Perspektive kann dies als eine reduzierte Problemsicht betrachtet werden, die der Komplexität von Innovationsprozessen nicht gerecht wird. Mit der Ernüchterung, die sich in Bezug auf die Wirkungen zentral administrierter Veränderungsvorhaben einstellte, setzte auch ein Umdenken in Hinblick auf die Konzeption, Steuerung und Forschung zu Innovationen und ihrem Transfer ein. Inzwischen gestaltet sich die Forschung zu diesem Themenkomplex überaus differenziert und ist in verschiedenen Disziplinen verankert. Auch die Erziehungswissenschaft hat den Themenkomplex ‚Innovation und Transfer’ nunmehr in ihren Forschungskanon aufgenommen. Wie so oft in dieser Disziplin, ist diese Integration durch die Beobachtung gesellschaftlicher Phänomene und unter Verwendung von Theorien, Methoden und Konzepten benachbarter Disziplinen erfolgt. Ein einheitliches Verständnis von Innovationen ist allerdings noch nicht in Sicht: So werden Innovationen als willkürlich auftretende Ereignisse aufgefasst, aber auch als Voraussetzungen für geplante Veränderungsprozesse angesehen. Sie werden aus psychologischer Warte als Thema individuellen Lernens oder als Problem der Instruktion reflektiert. Aus soziologischer Perspektive werden sie als Thema der Koordination in komplexen sozialen Systemen diskutiert. Außerdem gelten sie einmal als unwahrscheinliche Sonderfälle, ein anderes Mal als Normalfälle. Doch bei aller Heterogenität teilen diese Zugänge die allgemeine Herausforderung, konstruktiv mit der begrifflichen, theoretischen und methodischen Fixierung eines semantisch zwar allgegenwärtigen, aber gleichsam flüchtigen Sachverhalts umzugehen. Als gemeinsamer Nenner der verschiedenen Ansätze
I. Bormann, Zwischenräume der Veränderung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92709-1_1, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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kann außerdem festgehalten werden, dass sie sich mit Wissen befassen – deklarativem Wissen über die Innovation, prozeduralem Wissen über Formen ihrer Realisierung, Wissen das von einem Entwicklungs- in einen Anwendungskontext transferiert werden soll, einem Wissen, das im Zuge eines Innovationsprozesses erst noch generiert wird oder Wissen, das in der Folge eines Innovationsprozesses zur Verfügung steht. Von Glauben, Meinungen oder Überzeugungen unterscheidet sich Wissen aus einer wissenssoziologischen Perspektive dadurch, dass es in Sinn- und Bedeutungssysteme eingebunden und als gültig anerkannt wird. Diese Anerkennung ist nicht per se gegeben, sondern wird über soziale Praktiken aktualisiert. Wird der Innovationstransfer als eine soziale Praxis der Wissensgenerierung und -anwendung aufgefasst, kann er als kollektives Phänomen verstanden werden. Innovation und Innovationstransfer sind dann Vorgänge, bei denen kollektive Akteure und deren Praktiken der Wissensgenerierung und Sinnerzeugung sowie die sozialen Bedingungen dieser Prozesse in den Fokus der Beobachtung rücken. In der vorliegenden Schrift werden Innovationen und ihr Transfer aus einer wissenssoziologisch-diskursanalytischen Perspektive betrachtet. Diese Forschungsperspektive beruht auf der Annahme, dass soziale Wirklichkeiten diskursiv konstruiert werden. Innovationen können vor diesem Hintergrund als Gegenstände und Resultat solcher Konstruktionsprozesse aufgefasst werden. Insofern diese im Medium des Sozialen stattfinden, verlaufen diese Konstruktionsprozesse koordiniert. Dadurch werden Innovationen statt als Erfolge der individuellen Adaptionsfähigkeit, der Kreativität oder des individuellen Lernens als Formen sozialen Wissens und ihr Transfer als kollektive und koordinierte Vorgänge der Wissensarbeit verstanden. Damit wird Abstand genommen von einer vermeintlichen Ontologie von Wissen, und es werden der Umgang mit Wissen, dessen soziale Konstruktion und die Ordnung von Wissen in den Vordergrund gerückt. Die Konstruktion von Wissen ist verbunden mit Einfluss, Interessen, Machtkonstellationen, die sich einweben in sozialen Praktiken und so wiederum die Bedingungen mitbestimmen, unter denen Wissen generiert wird. Aus dieser Perspektive können Innovationen nicht einfach kommunikativ von Entwicklungs- in Anwendungskontexte transferiert werden, sondern sie werden in Diskursen produziert. Diese einleitenden Ausführungen machen auf verschiedene Fragestellungen und Probleme aufmerksam, denen im Rahmen dieser Arbeit nachzugehen ist. Zum einen sind die sozialen Bedingungen zu klären, die dazu führen, dass Innovationen zu einem auch wissenschaftlich relevanten Phänomen werden. Zum anderen ist es erforderlich, das hybride Phänomen Innovation begrifflich und theoretisch so zu fassen, dass es einer systematischen Untersuchung zugänglich wird, in der die oben ausgeführten Annahmen zur sozialen Konstruktion von
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Innovationen fundiert werden können. Eine Rekonstruktion und Reflexion der Idee der Erneuerung, die seit jeher bildungstheoretisch verwurzelt ist, ist insofern nicht die Absicht dieser Arbeit. Der Blick gilt vielmehr Veränderungsprozessen im Feld von Bildung und Erziehung. Es ist das Ziel der vorgelegten Schrift, ein theoretisch fundiertes und empirisch handhabbares Verständnis von Innovationen und ihrem Transfer vorzuschlagen, das weder der Versuchung unterliegt, Innovationen als manifeste oder sie als rein hermeneutisch verstehbare Artefakte, noch sie als Errungenschaften individueller Kompetenzen oder situativ vorhandener Kontextbedingungen zu stilisieren. Dies vermeidend, geht die Arbeit der Frage nach, wie Innovationen im Feld von Bildung und Erziehung transferiert werden und welche Mechanismen der sozialen Koordination der Wissensgenerierung und -anwendung dabei vorzufinden sind. Der Fragestellung wird in insgesamt sieben Kapitel wie folgt nachgegangen: In Kapitel 1 steht die soziale Kontextualisierung von Innovation und ihrem Transfer im Vordergrund, es präsentiert den Umriss einer Gegenwartsdiagnose, in deren Kontext neue Koordinationserfordernisse bestehen. Das Kapitel steht unter folgenden Leitfragen: Wie kann das soziale Feld von Bildung und Erziehung beschrieben werden, in denen Innovationen transferiert werden, und welche Akteure sind an der Generierung und Anwendung von Wissen im Zusammenhang mit Innovationen beteiligt? Wie können Koordinationsprozesse vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen dargestellt werden? Innovation und die Elemente ihres Transfers sind Gegenstand des Kapitels 2: Wie kann das implizit normative Verständnis von Innovationen und den Elementen bzw. Mechanismen ihrer Verbreitung i.S. eines reflektierten Verständnisses des komplexen Innovationsvorgangs neu gefasst werden? Die scheinbar beliebige Begriffsverwendung und die Vermischung von Begriff und Bezeichnetem wird hinterfragt sowie ein eigenes Innovationsverständnis präsentiert. Kapitel 3 nimmt eine sozialtheoretische Fundierung des zugrunde gelegten Innovationsverständnisses vor: Dabei wird zum einen der Frage nachgegangen, wie sich Wandel und Stabilität zueinander verhalten und es wird zum anderen die Ordnung von Wandel reflektiert. Auf dieser Basis werden das zuvor skizzierte Verständnis von Innovationen als Wissenspassagen weiter differenziert sowie Fragen für die Analyse von Innovationsprozessen präzisiert. Das Kapitel untersucht sozialtheoretische Antworten auf die Frage nach den theoretischen Bedingungen der Möglichkeit von Innovation und strebt die theoretische Fundierung des zuvor skizzierten Innovationsverständnisses an. Zur Vorbereitung der Innovationsanalyse werden in Kapitel 4 die Träger und Formen des Innovationsprozesses sowie der Modus, in dem Innovationen angeeignet werden, vorgestellt: Wie können kollektive Akteure konzipiert wer-
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den, die die mit Innovationsprozessen verbundenen Aneignungsvorgänge tragen, und wo ist der symbolische soziale Ort bzw. in welcher Form verläuft dieser Beund Verarbeitungsprozess? Die methodologischen und methodischen Voraussetzungen der Innovationsanalyse werden in Kapitel 5 dargelegt: Inwiefern können Diskurse als Modus der Innovation aufgefasst werden, in welcher Beziehung stehen Diskurs und Wissen zueinander? Hier geht es darum, nicht nur das Verhältnis von Wissen und Diskurs zu klären, sondern im Anschluss daran eine diskurstheoretisch orientierte Forschungshaltung zu präsentieren, an der die Innovationsanalyse ausgerichtet ist. Die als Fallstudie vorgeführte Innovationsanalyse selbst ist Gegenstand von Kapitel 6. Die diskursanalytisch geschulte Beschreibung des Innovationsprozesses wird ergänzt durch eine fallübergreifende komparative Interpretation, die zu einer typisierenden Verdichtung der vorgefundenen Aneignungsstile führt. Diese Typen werden interpretiert vor dem Hintergrund der in Kapitel 1 dargelegten Kategorien der Beobachtung und Beschreibung von Koordinationsprozessen. Im abschließenden Kapitel 7 werden die Überlegungen zu einem Modell diskursiver Innovation zusammengefasst und diskutiert. Gerahmt wird diese Diskussion von den im ersten Kapitel dargelegten Überlegungen zu Steuerung in entgrenzten sozialen Kontexten. Die Auseinandersetzung mit dem Thema der Schrift erfolgt in Bezug auf Innovationstransfer im Feld von Bildung und Erziehung. Angesichts der Frageund Zielstellung der vorgelegten Arbeit werden auch Theorien anderer Disziplinen und Gegenstandsbereiche bemüht, um so das gegenwärtig in der erziehungswissenschaftlichen Diskussion vorfindbare Verständnis von Innovationen und ihrem Transfer systematisch zu erweitern. So geraten Innovationen und ihr Transfer als soziale Praktiken der Wahrnehmung und des Umgangs mit Innovationsan- und -aufforderungen, -zumutungen oder -angeboten in den Blick. Diese Perspektive findet theoretische Anschlüsse in Sozialtheorien, die nach den Mechanismen und Modalitäten der Sinnstiftung in Wandlungsprozessen fragen. Übertragen auf Innovationen und ihren Transfer im Bildungssystem bedeutet diese analytische Haltung, dass nicht von feststehenden Innovationen und bestmöglichen Transferwegen ausgegangen wird. Vielmehr wird die Perspektive gewissermaßen umgekehrt, wenn davon ausgegangen wird, dass das maßgebliche Erfolgskriterium des Innovationstransfers die aktive und selektive Aneignung der Innovation ist. Diese Sichtweise bleibt nicht bei der Ermittlung der Formen und Wege der Kommunikation einer Innovationsaufforderung stehen, sondern fragt nach den symbolischen Prozessen der Sinnstiftung und Konstruktion von Bedeutung, die sich an die kommunikative Verbreitung einer Veränderungsabsicht anschließen. Sie fokussiert damit auf Vorgänge der Konstruktion
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von Bedeutung, der Rekombination von Wissen, der Kombination von Wissen und Praktiken. Das Thema Innovation und Transfer positioniert sich damit in einem mehrdimensionalen Zwischenraum von Veränderung. Dieser spannt sich auf zwischen den Polen Vermittlung und Aneignung. Dieses Begriffspaar greift die Beobachtung auf, derzufolge Innovationsprozesse mitunter nicht intendierte Ergebnisse hervorbringen, eine kommunikativ vermittelte Veränderungsabsicht also ‚verfremdet’ wird. Mit der Aneignungsperspektive verändert sich das Verständnis von den Beteiligten an Innovationsprozessen: statt als Adressaten werden sie als Akteure verstanden, die eine Innovation ‚real’ werden lassen. zwischen Differenzierung und Integration. Dieses begriffliche Dual verweist auf die Prozesse, die ablaufen, wenn Akteure eine kommunizierte Veränderungsabsicht wahrnehmen und interpretieren, sie dadurch differenzieren und in ihr Wissen integrieren, auf das sie in ihren Praktiken rekurrieren. zwischen Akteur und System bzw. Handlung und Struktur. Diese Begriffspaare ordnen das Thema auf der Ebene von Institutionalisierungsprozessen ein und verweisen auf die Relevanz von theoretischen und analytischen Zugängen, die die Verknüpfung von Wissen und Macht bzw. Einfluss reflektieren. Innovationen treten vor dem Hintergrund von Strukturen und habitualisierter Routinen hervor, und sie situieren sich ebenso in institutionell fundierten, explizit oder implizit organisierten Handlungen. Sich in einem solchen symbolischen Zwischenraum zu bewegen, bringt die Herausforderung mit sich, in diesem Raum Potentiale offenzulegen, mit denen Unterschiede zum Bestehenden dargestellt werden können. Dieser Herausforderung will die vorgelegte Arbeit konstruktiv, theoriegeleitet und analytisch begegnen.
1 ‚Innovation’ im Feld: Umrisse einer Gegenwartsdiagnose „Innovation wird gegenwärtig als Passepartout zur Erschließung von Zukunftsoptionen moderner Gesellschaften angesehen... Die einschlägigen politischen und wissenschaftlichen Diskussionen unterschätzen jedoch die ... Schwierigkeiten des Themas, die in der paradoxalen Struktur der Innovationsthematik selbst ihre tiefere Ursache haben“ (Sauer 1999: 11)
Mit Innovationen wird ein Gegenstand in den Mittelpunkt gerückt, der zwar Gegenstand zahlreicher theoretischer und empirischer Untersuchungen ist. Dennoch handelt es sich dabei um ein Phänomen, das keine direkte empirische Entsprechung hat. Innovation wird vielmehr auf mannigfache Weise konzeptualisiert. Schon die Begriffsverwendung illustriert das opake Bild der Forschung zu Innovationen: Der Begriff ‚Innovation’ wird oftmals affirmativ oder gar euphemistisch zur Beschreibung von Sachverhalten, Entwicklungen, Produkten verwendet. Er markiert etwas, was gemeinhin als wünschens- oder erstrebenswert gilt. Vorab wird so eine Bewertung transportiert. Begründet kann diese Bewertung jedoch erst erfolgen, wenn die avisierte Veränderung1 bereits eingetreten ist. Der Terminus wird ebenso in regulativer Absicht, d.h. als Aufforderung, etwas zu tun, verwendet oder rekurriert umgekehrt auf etwas, was mehr oder weniger geplant oder zufällig entsteht oder bereits entstanden ist. Der Terminus wird zudem nicht nur als normatives ‚Label’, als Vorausschau oder als eine nachträglich wertende Zuschreibung verwendet, sondern kann sich gleichsam auf Prozesse wie auf Produkte beziehen. Schon mit diesen wenigen Hinweisen wird deutlich, dass es sich bei dem mit ‚Innovation’ Bezeichneten um ein paradoxes Phänomen handelt, das, um theoretisch und empirisch handhabbar zu werden, kontextualisiert und definiert werden muss. Eine breit anerkannte Definition sozialer Innovation formuliert Zapf (1989). Statt von der Seite der mit Innovationen transportierten Ansprüche definiert Zapf Innovationen von der Prozess- und Ergebnisseite her und bestimmt mit der gesellschaftlichen Kontextualisierung von Innovation zugleich ihre Reichweite. Soziale Innovationen sind ihm zufolge nicht identisch mit sozialem Wandel, sondern Teile gesellschaftlichen Wandels, gewissermaßen dessen kleinere Einheit. Demnach gelten Innovationen als treibende Kräfte oder Motoren eines umfassenden gesellschaftlichen Wandels. Innovationen sind nach Zapf neue Wege, auf denen Ziele 1
Mit Veränderung als allgemeinem Ausdruck wird auf einen Unterschied zwischen zwei Beobachtungszeitpunkten hingewiesen, ohne dass eine Aussage hinsichtlich der Ursachen oder Absichten vorgenommen wird und ohne dass eine Bewertung der beobachteten Veränderung erfolgt. Veränderung ist damit ein allgemeiner Oberbegriff für Wandel, Reform und Innovation.
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erreicht werden und die die Richtung des sozialen Wandels beeinflussen (ebd.: 177). Konkret betrachtet er Maßnahmen, Dienstleistungen, politische Reformen, Lebensstiländerungen etc. als soziale Innovationen. Im Laufe der Zeit tragen diese sukzessive zu sozialem Wandel bei. Im Rahmen sozialen Wandels verändern sich relativ stabile Regelmäßigkeiten und Ordnungen des Sozialen (Zapf 1994: 11). Dies erfolgt auf einer Mikroebene (soziales Handeln, Orientierungsmuster, Lebensstile von Individuen), einer Mesoebene (Organisationen) oder der Makroebene (gesamtgesellschaftliche Veränderungen). Während Zapf Reformen und Innovationen auf einer gemeinsamen Begriffsebene ansiedelt und politische Reformen als soziale Innovationen begreift, differenziert Gillwald (2000) an dieser Stelle: Reformen konzipiert sie als das ‚Scharnier’, das zwischen Innovationen und Wandel vermittelt (ebd.: 6ff.). Reformen zielen auf gewollte, oftmals umfassende Veränderungen, die sich auf alle drei von Zapf identifizierten Ebenen auswirken bzw. auswirken sollen. Sie stellen plan- und absichtsvolle und zielgerichtete Eingriffe in den Lauf der Dinge dar, lassen aber Interpretationsspielräume hinsichtlich ihrer Ausführung bzw. Realisierung. Reformen haben einen klar benennbaren Ursprungsort und adressierbare Protagonisten, sie werden (politisch) legitimiert und hinsichtlich ihrer Erfolge bewertet. Reformen sind so gesehen mehr oder weniger deutlich kommunizierte Absichten, die durch Handlungen konkretisiert werden. Als diese Handlungen werden Innovationen zunächst verstanden. Allgemein lässt sich festhalten, dass Innovationen, Reformen und Wandel in einem rekursiven Verhältnis zueinander stehen und mehrere Ebenen des Sozialen umfassen. Im Gegensatz zu Wandel und dem hier noch genauer darzulegenden Verständnis von Innovationen wird mit Reformen der planvolle Eingriff in die Handlungsbedingungen eines adressierten sozialen Kontexts beabsichtigt: Etwas Neues soll in etwas Vorhandenes integriert werden. Gegenüber sozialem Wandel und sozialen Innovationen sind Reformen gewissermaßen eine gerichtete Form der Veränderung mit einem deutlichen Ursprungsort sowie auf ein klares Ziel bezogenen, intendiert gestalteten Abläufen. Innovationen dagegen sind Vorgänge, die ebenso wie sozialer Wandel nicht vollends plan- und steuerbar sind. Zwar führen Innovationen ebenso zu Veränderungen, die im Laufe der Zeit über Routinisierung und Habitualisierung zu umfassendem Wandel beitragen und zu Selbstverständlichkeiten institutionalisieren. Aber anders als Reformen lassen sich Innovationen nicht immer eindeutig „auf Absichten zurückverfolgen“ (Kuper 2004b: 197). Das bedeutet, dass sich in der Folge von Reformvorhaben, die auf politischadministrativem Wege implementiert werden, eigendynamische Innovationen entfalten können, in deren Verlauf der Bezug auf die Reform undeutlich werden kann. Begründet wird dies damit, dass Innovationen mit Lernen und der Transformation von Wissen einhergehen. Innovationen können daher nicht in der Annahme
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implementiert werden, dass im Zuge von Veränderungsvorhaben eine simple Reproduktion von Vorgaben, Maßnahmen oder Zielorientierungen stattfindet. Innovationen müssen vielmehr als komplexe und voraussetzungsreiche Transferleistungen aufgefasst werden, bei denen eine aktive Aneignung i.S. der Selektion und Anpassung avisierter Ziele und Maßnahmen erfolgt (Euler/Sloane 1998; Nickolaus/Schnurpel 2001; Wiechmann 2003; s. Abschnitt 2.3.1 und 4.2). An dieser Stelle lässt sich zunächst festhalten, dass sozialer Wandel den Optionsrahmen für Reformen darstellt, die in einem bestimmten Zeitfenster des sozialen Wandels initiiert werden. Innovationen können sich auf solche Reformen beziehen, aber ebenso auch ohne einen direkten Bezug zu diesen auftreten (Edelstein 1993) und erst im Nachhinein in Reformvorhaben integriert und damit legitimiert werden (Kern 1998f.). Reformen und Innovationen unterscheiden sich damit hinsichtlich ihrer Intentionalität und Reichweite: Während Reformen zur Lösung erkannter Problemlagen beitragen sollen, großflächige Veränderungen beabsichtigen, vertikal prozessiert werden und auf ein Ziel ausgerichtet sind, entstehen Innovationen mitunter zufällig, entwickeln sich in horizontalen und vertikalen Interaktionen und sind gegenüber Reformen zunächst kleinformatiger. Gegenüber Reformen stellen sie konkret-operative Veränderungen dar. In einer ersten Annäherung können Innovationen vor diesem Hintergrund als wissensintensive soziale Prozesse aufgefasst werden, in deren Zuge neue Ordnungen des Wissens entstehen, in denen für das Verstehen einer Veränderungsabsicht Wissen aktiviert und angewendet, aber ebenso auch generiert wird. Wie in den folgenden Abschnitten noch ausgearbeitet werden wird, werden Innovationen hier zunächst allgemein als Vorgänge der Wissensgenerierung und -anwendung verstanden.
1.1 Innovation als bildungspolitisches Thema: Ein dauerhafter Imperativ? "Innovation is the child of competetive economics" (Cros 1999: 60)
Das Thema Innovation genießt in der politischen Arena einen von parteipolitischen Programmatiken unabhängigen, prominenten Platz: So wurde das Jahr 2004 unter der rot-grünen Regierung zu einem ‚Innovationsjahr’ ausgerufen. Ziel des Innovationsjahres war es, Wissenschaft und Wirtschaft zu fördern, damit diese durch Forschungs- und Entwicklungsmaßnahmen zur Sicherung des Wirtschaftsstandorts Deutschland beitragen. Politische Parteien hielten Innovationskongresse ab; der damalige Bundeskanzler Schröder rief einen Innovationsrat ins Leben und lud führende Industrie- und Wirtschaftsverbände zu einem Innovationsgipfel ein, dessen Ergebnis ein Innovationsbündnis war; seit 2005 verfasst das Deutsche Institut
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für Wirtschaftsforschung indikatorenbasierte Innovationsreporte zur Feststellung und Bewertung des Innovationsverhaltens und -potentials. Es wurden Innovationswettbewerbe wurden ins Leben gerufen, Innovationspreise für Schulen, Weiterbildungsorganisationen und Betriebe ausgelobt, und auf dem deutschen Bildungsserver wurde ein Innovationsportal eingerichtet, dass regional, national und international wegweisende Modellprojekte, bildungspolitische Maßnahmen und Akteure erfasst (Bildungsserver o.J.). Auch unter der großen Koalition der neuen Bundesregierung wurde das Thema Innovation, in Kombination mit Forschung, weiterhin groß geschrieben, und für die kommenden Jahre werden „(g)roße Innovationswellen“ (BMBF 2009) forschungsbasierter, technologischer Neuerungen prognostiziert. Bereits mit dem Pakt für Forschung und Innovation wurde angestrebt, dass Bund und Länder den Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen mehr Zuschüsse zukommen lassen; 2007 konnte das Volumen gegenüber 2005 um mehr als 11% erhöht werden (BLK 2007). Ein Bezugspunkt dieser Entwicklungen ist die 2000 verabschiedete LissabonStrategie für Beschäftigung und Wachstum der Europäischen Union (European Commission 2009), die sich als Beitrag zur Initiierung eines wirtschaftlichen Aufschwungs in Europa versteht. Allgemeine und berufliche Bildung, Forschung und Entwicklung werden in der Strategie als zentrale Erfolgselemente angesehen, um im internationalen Wettbewerb zum ‚dynamischsten wissensbasierten Wirtschaftsraum’ zu werden. Dafür sollen die Investitionen in Forschung, Entwicklung und Innovation bis 2010 um jährlich 3% des Europäischen BIP sowie die Beschäftigungsquote auf 70% gesteigert werden. In Deutschland wurde die LissabonStrategie von den Regierungschefs des Bundes und der Länder mit der Verabschiedung des Pakts für Forschung und Innovation umgesetzt; Ende 2007 wurde diese erstmalig positiv bilanziert (BLK 2007; BMBF 2009). Während diese Strategie erhebliche monetäre Investitionen u.a. in Bildung, Forschung und Innovation vorsieht, finden gleichzeitig im Bildungssektor internationale Leistungsvergleichsstudien statt – die Steigerung des Fördervolumens im Zusammenhang mit dem Pakt für Forschung und Innovation erfolgte nicht ohne die Erwartung einer Gegenleistung: Die Wissenschafts- und Forschungseinrichtungen sind aufgefordert, durch entsprechende Maßnahmen ihre Qualität, Effektivität und Effizienz, also ihre Leistungsfähigkeit zu sichern bzw. zu optimieren. Während mit der Lissabon-Strategie die Hoffnung auf die Wirksamkeit von monetärer Inputsteuerung gerichtet wird, werden in den internationalen Leistungsvergleichsstudien verstärkt die Outputs v.a. des Schulsystems betrachtet. Die Ergebnisse dieser Studien attestieren dem deutschen Bildungssystem auf der Basis empirisch belastbarer Daten eine nur mittelmäßige Leistungsfähigkeit: Nicht erst seit der erstmaligen Veröffentlichung der PISA-Ergebnisse (Baumert/Prenzel/Neu-
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brand u.a. 2001) und IGLU-Ergebnisse (Bos/Lankes/Prenzel u.a. 2003), sondern schon nach der Veröffentlichung der Mitte der 1990er Jahre durchgeführten TIMSStudie (Baumert/Lehmann/Lehrke u.a. 1997), lastet ein öffentlich kommunizierter Innovationssdruck auf dem Bildungs- und insbesondere dem Schulsektor (Dedering/Kneuper/Tillmann 2003). Neben diesen und weiteren wissenschaftlichen Studien sind auch „(p)olitische Forderungen und Zielsetzungen oder Prinzipien, Interpretationen der Verfassung, Gesetze/Verordnungen/Erlasse, sanktionierte Planungsprozesse, Erkenntnisse und Ideen von Psychologie und Pädagogik…, Empfehlungen und Vorschläge von Beratungsgremien, Interventionen von Interessenverbänden“ (Wilhelmi 2000: 11) ursächlich für Veränderungen. Inzwischen werden zahlreiche Maßnahmen zur Veränderung, oftmals mit dem Impetus der Verbesserung, im Bildungssektor – durchaus kontrovers – diskutiert und umgesetzt. Exemplarisch lassen sich für die verschiedenen pädagogischen Handlungsbereiche folgende Innovationsvorhaben benennen: Vorschulische Bildung: z.B. die Einführung von Qualitätszertifikaten und Bildungsprogrammen für Kindergärten; die Einführung von Bildungsgutscheinen für die Erleichterung der Inanspruchnahme der öffentlichen, vorschulischen Betreuung, Erziehung und Bildung; die Akadamisierung des Erzieherberufs; Schulen: z.B. die Einführung von internationalen Leistungsvergleichen und Kompetenzmessungen, mit denen das Erreichen von Bildungsstandards ermittelt wird; der Ausbau von Ganztagsschulen; das jahrgangsübergreifende Lernen in der Schuleingangsphase; das Abitur nach zwölf Jahren; die geplante Einführung des Zentralabiturs; Berufliche Bildung: z.B. die Einführung von Lernfeldern, die die traditionelle Orientierung an Fächern aufheben; die Etablierung neuer Berufsbilder; die Abschaffung der Meisterpflicht in zahlreichen Branchen; Weiterbildung: z.B. die Einführung von Bildungsgutscheinen, mit denen Erwerbslose Anpassungsqualifizierungen bei einem Anbieter ihrer Wahl wahrnehmen können; die Einführung von Qualitätstestierungen, an deren Nachweis zunehmend die Vergabe von Subventionen an Weiterbildungsorganisationen geknüpft ist; Wissenschaft / Hochschulen: z.B. die Internationalisierung der Hochschulen im Kontext des Bologna-Prozesses; die Herstellung eines Wettbewerbs zwischen den Hochschulen, wie er durch die Exzellenzinitiative von DFG und Wissenschaftsrat angestoßen wurde; die Einführung neuer Steuerungsmodelle, etwa Leistungsvereinbarungen zwischen den Ländern und ihren Hochschulen bzw. innerhalb der Hochschulen zwischen Präsidium und Fachbereichen bzw. zwischen Dekanaten und Professoren;
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Innovation im Feld. Umrisse einer Gegenwartsdiagnose mit öffentlichen Mitteln finanzierte Bildungsforschung: die Hinwendung von Einzelförderungen zu Programmförderungen durch die BLK in den 1990er Jahren sowie ihre Bestrebungen ab Mitte / Ende der 1990er Jahre, statt Einzelinnovationen stärker erfolgreiche Modellversuchsergebnisse in die Fläche des Bildungssystems zu bringen; die Etablierung eines umfassenden Bildungsmonitorings sowie differenzierter Formen und Instrumente der Qualitätssicherung in Bildungseinrichtungen.
Veränderungsetappen im Feld von Bildung und Erziehung: Ein Blick zurück – nach vorn? Wie dieser notwendigerweise unvollständige Überblick illustriert, mangelt es keineswegs an längerfristigen, großformatigen und geplanten Veränderungen, die als Reformen bezeichnet werden. Rückblickend identifiziert Wiechmann (1996) mar2 kante Ereignisse als Auslöser für tief greifende Entwicklungsschübe (‚Wellen’ ) in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und im 20. Jahrhundert: Als wesentliche Reformwellen im Bildungssystem identifiziert Wiechmann zum einen die durch Humboldt angestoßene Auseinandersetzung mit naturwissenschaftlichen Inhalten im schulischen Unterricht, auf die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine inhaltliche Neukonzeptualisierung von schulischer Allgemeinbildung erfolgte. Zum anderen identifiziert er zu Beginn des 20. Jahrhunderts die reformpädagogische Strömung als Auslöser eines weiteren Entwicklungsschubs, der in einer Neudefinition des Bildungsverständnisses mündete, das auf die didaktisch-methodisch unterstützte Selbsttätigkeit der Lernenden abzielte. Schließlich führt Wiechmann die Bildungsreform der 1960er und 1970er Jahre an. Ihr Anliegen bestand in einer umfassenden Curriculum- und Schulstrukturreform mit dem Ziel der Demokratisierung von Bildungschancen durch den Aufbau eines einheitlichen Bildungssystems und führte zu einer Bildungsexpansion. In Bezug auf die Realisierung dieser letzten von Wiechmann identifizierten Reform wurde allerdings deutlich, dass eine zentral administrierte politische Planung wenig wirksam war und diese bald für gescheitert erklärt werden musste (dazu Hüfner/Naumann/Köhler u.a. 1986: 149ff.; Drewek 1994; Maritzen 1996). In der Phase der Reflexion über die Ursachen des Scheiterns richtete sich der Blick auf die Bildungsorganisationen selbst. Im Zuge des Interesses an einem theoretisch aufgeklärten Verständnis des Funktionierens von Organisationen gewann der Import soziologischer Theorien an Attraktivität (Bormann 2002: 85ff.). Die organisa2
Zur Metapher der Veränderungs’wellen’ im Anschluss an den Makroökonomen Kondratieff: s. Schumpeter 1947; Nefiodow 1990. In der Erziehungswissenschaft wurde die Metapher der Welle ebenso aufgenommen, etwa um die Kontraktions- und Expansionsphasen in der Entwicklung des Bildungswesens aufzuzeigen (Nath 2003) bzw. um auf regelmäßige Abstände tiefgreifender Reformvorhaben hinzuweisen (Wiechmann 1994).
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tionssoziologisch bzw. systemtheoretisch aufgeklärte Beschreibung von Bildungseinrichtungen führte – insbesondere mit Blick auf Schulen – v.a. in der angloamerikanischen Forschung zu deren Etikettierung als lose gekoppelten, technologiearmen Organisationen, die sich hinsichtlich ihres Vermögens, intendierte Ziele realisieren zu können, als schwerlich oder gar nicht von außen steuerbar erweisen (Cohen/March/Olsen 1972; Weick 1976; Luhmann/Schorr 1979; Orton/Weick 1990; zur losen Kopplung s. Abschnitt 1.3.2, 3.1.2). Auch im deutschsprachigen Raum setzte sich Mitte der 1980er Jahre auf der Grundlage umfangreicher vergleichender Studien die Formel der Einzelorganisationen als pädagogischen Handlungseinheiten durch (Fend 1988; Rolff 1991). Dennoch spielte der Wunsch nach einer Gestaltung von Innovationen und deren Ausbreitung in die Fläche des Bildungswesens weiterhin eine tragende bildungspolitische Rolle. Nachdem die Bundesländer dem vom Deutschen Bildungsrat ausgesprochenen Vorschlag zur Einführung von Schulversuchen (Deutscher Bildungsrat 1968ff.) entsprachen und Innovationen im Bildungssystem zunächst in zeitlich und räumlich begrenzten Modellversuchen erprobt wurden (Weishaupt 1997: 381), wurde diese Praxis in den 1970er Jahre mit der Rahmenvereinbarung der Bund-Länder-Kommission zur koordinierten Vorbereitung, Durchführung und wissenschaftlichen Begleitung von Modellversuchen im Bildungswesen institutionalisiert (BLK 1971) und knapp 25 Jahre darauf neu geordnet (BLK 1997). In den 1970er Jahren wandelte sich die Bildungsverwaltung so von einer primären Vollzugs- zu einer planenden Verwaltung (Tenorth 2000; von Recum 2006). Während diese bildungspolitisch legitimierten Maßnahmen in den 1970er Jahren als Teil der Antwort auf die Feststellung von Steuerungsversagen gelten kann, rückten Innovationen und die Möglichkeiten und Formen ihrer Verbreitung in dieser Zeit v.a. im angesächsischen Forschungsraum verstärkt in die Aufmerksamkeit des systematischen, wissenschaftlichen Interesses (Havelock 1976; Aregger 1976; Berman/McLaughlin 1975f.; Dalin 1978; Huberman/Miles 1984). Die wissenschaftliche Aufklärung zu Beginn der wissenschaftlichen Auseinandersetzung zielte in den 1970er und 1980er Jahren v.a. auf „Implementations-, Motivations-, Wissens-, Steuerbarkeitsprobleme“ (von Recum 2006: 31) ab. Doch das Bildungssystem zeigte eine gewisse Trägheit und Beharrlichkeit (Oelkers 1995: 15) – oder positiv formuliert: eine hohe Stabilität. Nicht alle Veränderungsmaßnahmen erzielten die erwünschten Ergebnisse. Von der Annahme, Innovationen beliebig und problemlos reproduzieren zu können musste abgerückt (Kriegesmann 2006: 21) und die im Rahmen der „doctrine of transferability“ (House 1974, nach Porter 1980: 79) entstandene Hoffnung auf einfache Lösungen gemäßigt werden. Einer der Gründe für die beobachteten Implementationsschwierigkeiten wurde in der konsekutiven Erprobungs- und Anwendungslogik gesehen – also darin, dass in den Modellversuchen die Entwicklung und Erprobung der Innovation den
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Überlegungen zu ihrer Verbreitung zeitlich vorausgingen und insofern auch systematisch von ihnen getrennt waren. Das Scheitern eines Tranfers von Innovationen in die Breite des Bildungswesens wird daher für unvermeidlich gehalten (Brockmeyer 2005a: 103; Holtappels 2005: 7).3 Vor diesem Hintergrund betonen Nickolaus und Schnurpel (2001) als wesentliche Aufgabe die „Verschiebung der Modellversuchsmittel und -anstrengungen zugunsten des Transfers“ (ebd.: 5; Mertineit/Nickolaus/Schnurpel 2002: 47; auch Forum Bildung 2001: 4). Auf der Grundlage der sichtbar gewordenen Probleme der Implementation von Innovationen wurde in der Folge die bisherige Praxis der Modellversuchsförderung und -forschung durch eine wissenschaftliche Hinwendung zur systematischen Innovationsforschung abgelöst, die der Kompliziertheit und Dynamik des Transfergeschehens besser gerecht werden soll (z.B. Nickolaus/Gräsel 2006). Die Forschungsförderung konzentrierte sich nun stärker auf solche „Problembereiche, für die erkennbar ein umfassender bildungspolitischer, pädagogischer und fachlicher Handlungsbedarf bestand“ (Brackhahn 2005: 18). In der Folge der beobachteten Implementationsschwierigkeiten und aufgrund des Beharrungsvermögens des Bildungswesens unterlagen die mit den Modellversuchen verbundenen Intentionen selbst einem Wandel (Rauner 2002): Von einer planungsvorbereitenden Aufgabe zur flächendeckenden Verbreitung von erfolgreichen Einzelinnovationen verlagerte sich das Interesse zunehmend auf die grundsätzliche Frage, wie das im Zuge von Modellversuchen gewonnene lokale Wissen wirkungsvoll transferiert, d.h. übertragen und verbreitet werden kann. Die Logik einer Entwicklungs- und konsekutiven Verbreitungslogik sollte nun aufgegeben und Transferaktivitäten zu einem von Beginn an berücksichtigten konstitutiven Bestandteil von Modellversuchen zur Innovation im Bildungswesen werden (BLK 1997). Die Transferfrage, so fasst Nickolaus (2002) diese Entwicklung zusammen, war damit „im politischen Raum zu einer Schicksalsfrage der Modellversuchsarbeit geworden“ (ebd.: 1). Es erfolgte ein Kurswechsel der bildungspolitischen Steuerungsformen im Zusammenhang mit Innovationen, so z.B. der BLK in Bezug auf die Ausrichtung von Modellversuchen: Innovationen wurden zunehmend angesichts ihres Potentials, sich dauerhaft sozial und rämlich auszubreiten, bewertet (BLK 2002). Dadurch wurde die Bedeutung des Transfers von Innovationen gegenüber deren Invention, d.h. ihrer Erfindung, aber auch gegenüber ihrer nur singulären oder kleinräumigen 3
Gescheiterte Innovationsversuche werden jedoch nur selten referiert (Euler 2001: 68; s. aber zu einer Systematik des Scheiterns von Reformen: Strittmatter 2001). Dennoch wird es für erforderlich gehalten, gerade auch gescheiterte Innovations- und Transferaktivitäten zu untersuchen, um generelle Aussagen nicht nur zu den Bedingungen des Transfers in einzelnen Organisationen, sondern darüber hinaus zu den Bedingungen des Transfers in einem potentiellen Rezeptionsfeld treffen zu können (Nickolaus/Schnurpel 2001).
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Anwendung in den Vordergrund gerückt: Die Frage des Transfers in die Fläche des Bildungswesens avancierte zum Kernproblem bildungspolitisch initiierter, systemischer Innovation und deren wissenschaftlicher Untersuchung (Euler/Sloane 1998: 313ff.; Euler 2001; Maritzen 2008; Nickolaus/Gräsel 2006; Fend 2005, 2008b). Mit dem „Interesse am Flächentransfer von Innovationserfahrungen“ (Hameyer 2005: 13) erlebte die oben bereits skizzierte Vorstellung, dass Innovationen implementiert, d.h. quasi verordnet werden könnten, scheinbar eine Renaissance – wenn auch unter anderen begrifflichen Vorzeichen. Mit dem Interesse an der „Transfergewährleistung“ (Hameyer 2005: 13) und der damit verbundenen „Beschleunigungshoffnung“ (Altrichter/Wiesinger 2005: 31) kam (erneut) ein Steuerungs- und Wirkungsoptimismus zum Ausdruck – obwohl diese Hoffnungen bereits als entkräftet gelten konnten (Kussau/Brüsemeister 2007: 21), auf innovations- und transferhemmende Faktoren hingewiesen (Nickolaus/Schnurpel 2001) und vor der Illusion einer ideologischen Durchsetzungspolitik gewarnt wurde (Brockmeyer 2005b: 16). Zunehmend stellte sich – abermals – heraus, dass auftretende Implementationsschwierigkeiten mit den Instrumentarien zentraler Steuerung gar nicht bewältigt werden konnten und unbegleiteter Transfer i.S. einer breiten Verankerung in der Fläche des Bildungssystems wenig erfolgreich war (Brockmeyer 2005a: 98; Wiechmann 2002: 96). Während die Reformen in den 1960er und 1970er Jahren die Demokratisierung des Bildungssystems und dessen Expansion zum Ziel hatten, zielen heutige Reformabsichten – nicht nur im deutschen Bildungswesen – auf Qualität, Exzellenz und marktlichen Wettbewerb v.a. im Schulsektor ab. Inhaltlich können die oben genannten Vorhaben zusammengefasst werden mit dem Etikett „Ergebnisorientierte Steigerung von Effektivität und Effizienz im Bildungssektor“ (dazu Bellmann 2005; Bauer/Bittlingmayer 2005). So brandet wiederum drei bis vier Jahrzehnte nach der letzten Reformwelle seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre und verstärkt mit der Jahrtausendwende das bereits erwähnte Thema der Qualitätssicherung auf, und Ergebnisse von Leistungsstudien wurden zum Ausgangs- und Zielpunkt von bildungspolitischen Veränderungsbemühungen gemacht (Oelkers/ Reusser 2008; Klieme/Avenarius/Blum u.a. 2003). Um das Bildungssystem bzw. dessen Ergebnisqualität und Leistungsfähigkeit weiter zu entwickeln und zu sichern, wird dabei vielfach auf Instrumente zurückgegriffen, die ursprünglich nicht aus dem Repertoire der Erziehungswissenschaft stammen. Verfahren, die ursprünglich im Profit-Sektor angewendet wurden und dort erfolgreiches unternehmerisches Handeln sicherstellen konnten, werden ‚importiert’ und für den Gebrauch in Bildungsorganisationen angepasst, um auch hier als erfolgreiche Mittel zur Abhilfe widriger Umstände zu reüssieren – Standards, benchmarks, Kennziffern und Indikatoren, Qualitätskriterien etc. Eingeführt werden sie unter dem begrifflichen Dach des Neuen Steuerungsmodells, das sich zunächst v.a. im Bereich
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der Jugendhilfe etablierte und bald auch im Schul- und Hochschulsektor sowie der außerschulischen Bildung angewendet wurde (Flösser/Otto 1996; Lange 1999; Altrichter/Heinrich 2007; Bogumil/Heinze 2009; Lange/Rahn/Seitter u.a. 2009; Altrichter/Maag Merki 2010). Die verwendeten Instrumente und Konzepte laufen auf das – durchaus kritisch diskutierte – Ziel einer Steigerung von Effektivität und Effizienz durch die Initiierung von Quasi-Märkten hinaus, auf dem ein QuasiWettbewerb und damit insgesamt eine Ökonomisierung stattfindet (Böttcher 2002; von Reccum 2006: 19).4 Mit dem Konzept der Neuen Steuerung wird von einem mechanischen, bürokratischen Steuerungsoptimismus abgerückt. Stattdessen ist die Rede von Deregulierung und erweiterter Autonomie, transformationaler Führung und Wissensmangement (Wissinger 2000). In diesem Zusammenhang werden auf den unterschiedlichen Ebenen des Bildungswesens Formen der Qualitätssicherung, -kontrolle und -entwicklung, Organisationsentwicklung und Formen der Rechenschaftslegung durch interne und externe Evaluation praktiziert (Böttcher/Holtappels/Brohm 2006). Unter Anerkennung der Einzelorganisationen als Handlungseinheiten sowie ihres lokalen Wissens wird die Verantwortung für Entwicklungsprozesse mit den Instrumenten der neuen Steuerung partiell auf die einzelnen Organisationen selbst delegiert.5 Diese erweiterte Autonomie wird zum Preis der Rechenschaftspflicht eingeräumt, über die mittels Vergleichsstudien, Inspektionen, Qualitätskontrollen steuerungsrelevantes Wissen generiert werden soll (Dedering/Kneuper/Tillmann 2003). Wenngleich diese Entwicklung mitunter kritisiert wird als „Trendwende in Richtung Dirigismus“ (Allemann-Ghionda 2004: 127), zeigt diese Entwicklung, dass trotz der Outputorientierung derzeitiger Reformen auf lenkende Inputs nicht verzichtet werden kann (Böttcher 2007; Kussau 2007).
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Das blieb und bleibt nicht ohne Widerspruch, schließlich verstößt ein solcher Theorie- bzw. Konzeptimport gegen eine geisteswissenschaftlich ausgerichtete pädagogische Haltung mit ihrem aufklärerischen Impetus und der Betonung der selbstbestimmten Selbstbildung (Heinrich 2001; Lohmann/Rilling 2001). Insbesondere für Schulen bedeutet das eine Art Revolution, denn „zum ersten Mal würde es so etwas wie eine Technologie, nämlich die Qualitätsmanagements von Teams, geben, die in die – bislang als nicht technologisierbar geltende – Schule eingeführt wird“ (Brüsemeister 2005: 313).
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1.2 Innovation in der Erziehungswissenschaft: Ein immanentes Moment? „In der Bildungsgeschichte hat es seit jeher Reformen gegeben, die Innovationen und Reflexionen über Reformen ausgelöst und sich wie Wellenbewegungen durch die Geschichte der Disziplin gezogen haben“ (Kraul/Merkens 2003: 313)
Ändern sich die gesellschaftlichen bzw. politischen Rahmenbedingungen, ändern sich auch die Bedingungen und Beobachtungsgegenstände der auf dieses Verhältnis reflektierenden Disziplinen (Link/Nath/Tenorth 2003). Die Erziehungswissenschaft gilt als eine traditionell veränderungsbereite Wissenschaft: Mit ihrer Tendenz zur Pädagogisierung und Inklusion öffentlicher und politischer Themen (Pollak 1989: 13; Thiel 1996) gilt sie als seit jeher offen für „Erneuerungsideen und hoffnungen“ (de Haan 1996: 174). Umgekehrt drückt sich in ihrer hohen Resonanzfähigkeit und Offenheit für extra-disziplinäre Themen auch ihre Reflexivität aus: Mit den Themenkonjunkturen, die sie aus dem öffentlichen Diskurs bzw. ihren Nachbardisziplinen inkludiert, kann Innovation als immanentes Moment und charakteristisches Merkmal der Erziehungswissenschaft gelten (Stroß/Thiel 1998; Kuper 2004b; Keiner 2005). Immanente Innovativität der Erziehungswissenschaft Ein an dieser Stelle notwendig kurzer Blick in die Geschichte der Erziehungswissenschaft zeigt, dass die Entwicklung der Disziplin ihre weit verzweigte philosophische, theoretische und methodologische Wurzeln offenbart. Unter sich wandelnden politischen und ökonomischen Rahmenbedingungen, die sich auf die Anforderungen und Erwartungen an Erziehungswissenschaft ebenso wie auf pädagogisches Handeln niederschlagen, entwickelten bzw. differenzierten sich in ihren Gegenwartsdiagnosen, Zukunftsvorstellungen und Interventionsmöglichkeiten unterschiedlich ausgerichtete Pädagogiken bzw. Erziehungs- und Bildungstheorien (Tenorth 2000). In den nur schlaglichtartig aufgeführten Ansätzen erfährt insbesondere das Moment der Abschirmung des Subjekts vor gesellschaftlichen Anforderungen und Zumutungen bzw. die Öffnung der Pädagogik zur Gesellschaft i.S. einer teleologischen Gerichtetheit der pädagogischen Interaktion auf gesellschaftliche Zwecke eine jeweils unterschiedliche Akzentuierung: Im Zuge der Professionalisierung und Verwissenschaftlichung der Pädagogik kommen im 20. Jahrundert innovative Ansätze in so unterschiedlichen, hier nur exemplarisch genannten, inhaltlichen und methodischen Ausprägungen wie der geisteswissenschaftlichen Pädagogik, der daran anknüpfenden Reformpädagogik, der Herausbildung einer kritischen Erziehungswissenschaft, der Friedens-, Eine Welt- und Umweltbildung, der Werteerziehung, der praxeologischen Erziehungswissenschaft, der interkultu-
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rellen Erziehung u.a.m. zum Ausdruck. Die Ansätze zielen insgesamt auf durch Erziehung und Bildung realisierbare Veränderungen in den pädagogischen Interaktionen und deren theoretische Begründung, teilweise verbunden mit hohen normativen Ansprüchen an deren gesellschaftliche Reichweite. Jeder Ansatz kann für sich, ebenso wie schon die Pädagogiken Rousseaus, Kants und Humboldts, in seinem jeweiligen Kontext als innovativ gelten (Cros 1999: 60). Dieser kurze Abriss macht die stete Veränderung der Erziehungswissenschaft und ihre Positionierung zu gesellschaftlichen Fragen deutlich. Vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Veränderungsprozesse, die auf Bildung und Erziehung einwirken, und unter Anerkennung der Erziehungswissenschaft als einer begrifflich und thematisch inklusionsbereiten Disziplin, lässt sich auch die Forderung verstehen, der zufolge erziehungswissenschaftliche Forschung und Entwicklung „gesellschaftliche Veränderungs- und Innovationspozesse begleiten muss – sowohl in der Form kritischer Analysen als auch in der Form konstruktiver Impulse“ (Gogolin/Tippelt 2003: 9). Doch bis Mitte der 1990er Jahre, d.h. bis zum Kurswechsel der mit öffentlichen Mitteln geförderten Modellversuchsförderung, war die systematische Innovationsforschung kein größeres eigenständiges erziehungswissenschaftliches Sujet. Bis dahin galt die Innovationsforschung als ein Thema, das vornehmlich in der Betriebswirtschaftslehre und Soziologie angesiedelt war (Reinmann 2005: 53; Kuper 2004b: 195). Gänzlich aussichtslos ist die Suche allerdings nicht, wenn auch Arbeiten aus den 1970er Jahren herangezogen werden – selbst wenn sie aus heutiger Sicht eine zu optimistische oder einfache Vorstellung von Innovationssteuerung transportierten: In den 1970er Jahren lagen international bereits erste Studien zu Innovationen im Bildungsbereich vor (Havelock 1976; Berman/McLaughlin 1975f.; Dalin 1978; Fullan 1978; Hameyer 1978; Bauer/Rolff 1978). Inzwischen stellt sich die Situation grundlegend anders dar. Während die auf Prozesse im Bildungswesen reflektierende Innovationsforschung der 1960er und 1970er Jahren Innovationen vornehmlich als konsekutive Abfolge von Entwicklungs- und Implementationsschritten betrachteten, löste sich dieses auf Machtasymmetrien bzw. Hierarchien beruhende Verständnis in dieser Zeit zugunsten solcher Modelle auf, die auf einem kooperativen, interaktiven Verständnis von Innovation basierten (Cros 1999: 69ff.; Schluß 2001; Dalin 1986). So findet seit einigen Jahren zum einen durchaus eine explizite, selbstreflexive Auseinandersetzung mit den immanenten Innovationen in der Erziehungswissenschaft, deren Niederschlägen in der Theoriebildung sowie den durch Bildung und Erziehung verursachten sozialen Innovationen statt (Ruhloff 1998; Friedrich/Sanders 2002; Achtenhagen 2002; Gogolin/Tippelt 2003b). Zum anderen setzte mit der Etablierung der Modellversuchsförderung, die das Ziel der Entwicklung, Erprobung und Verbreitung von Innovationen im Bildungssystem verfolgte, in der Erziehungswis-
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senschaft eine empirische Hinwendung zur Innovationsthematik ein. So wurden Fragen der Verbreitung von Innovationen im Feld von Bildung und Erziehung nunmehr zu einem ausdrücklichen Gegenstand von Theoriebildung und empirischer Forschung (de Haan/Jungk/Kutt u.a. 1997; Cros 1999; Nickolaus/Schnurpel 2001; Wiechmann 2002). Innovation als in die Forschung ausstrahlendes bildungspolitisches Thema Über alle inhaltliche Differenzierung und Pluralität ihrer Gegenstände hinweg zeigt sich die Erziehungswissenschaft heute als eine zunehmend empirisch arbeitende Disziplin. Angesichts der in der von Roth (1963) proklamierten ‚realistischen Wende’ wurzelnden heutigen ‚empirischen Wende’ der Erziehungswissenschaft (Lange 2008) und deren Auswirkungen auf die Konzeption von Bildungsreformen wird allerdings befürchtet, dass die Erziehungswissenschaft ihre disziplinären Wurzeln vernachlässige: So meint Koch (2004), dass aufgrund des derzeitigen Trends zum Aneinanderrücken von Bildungsforschung und Bildungspolitik theoretische Reflexionen durch kurzatmige Auftragsforschung ersetzt werde (ebd.: 54). Ruhloff (2007) geht noch einen Schritt weiter: Er warnt davor, dass sich die Erziehungswissenschaft mit ihrem empirischen Forschungsschwerpunkt zur Erfüllungsgehilfin im „Wettbewerb um die Produktion von Humankapital“ (ebd.: 140) mache. Da jedoch die Erziehungswissenschaft als eine empirisch arbeitende Wissenschaft bildungspolitische Entscheidungen zwar informieren, aber keinesfalls ersetzen kann (Klieme 2007: 141), zeigt die Neuausrichtung der Erziehungswissenschaft vielmehr einen wesentlichen binnendisziplinären Bedarf an: die kritische Hinterfragung des Verhältnisses zwischen Erziehungswissenschaft, Bildungsforschung, Bildungspolitik sowie (inter-)nationalen privaten Akteuren (König/Zedler 1989; Kade/Lüders/Hornstein 1991; Tippelt 1998; de Haan/Hamm-Brücher/Reichel 2000; Weiler 2003; Radtke 2003; Wigger 2004; Herrlitz 2004; Bellmann 2006; Merkens 2006b, c; Lange 2008; Tillmann 2008). Für die Erziehungswissenschaft ist dies mit der Prämisse einer „Etablierung und Aufrechterhaltung eines reflexiven Verhältnisses zwischen Theorie und Empirie“ (Marotzki/Nohl/Ortlepp 2006: 174). Diese Aufgabe umschließt auch die oben nur kurz angerissene selbstreflexive Haltung der Erziehungswissenschaft und kennzeichnet sie damit als eine immanent innovative Wissenschaft. Mit der Förderalismusreform war allerdings auch ein Ende der bis dato praktizierten Modellversuchsforschung verbunden, und in den letzten Jahren wurde die Frage nach dem Transfer guter Praxis verstärkt zu einem neuen Anliegen erziehungswissenschaftlicher Innovationsforschung. Zwar kann insgesamt konstatiert werden, dass der zur politisch-administrativen Arena hin geöffnete Diskurs wegen der erst Ende der 1970er Jahre einsetzenden wissenschaftlichen Begleitforschung von Modellversuchen auch im Bildungssystem mit der Chiffre „Innovation ohne
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Forschung“ (Reinmann 2005) lange Zeit treffend charakterisiert zu sein schien. Doch mit der empirischen Wende der Erziehungswissenschaft sowie einem mit dieser Wende verzahnten Ausbau einer evidenzbasierten Bildungspolitik kann diese Feststellung so nicht mehr aufrecht erhalten werden (Slavin 2002; Lange 2008; LISUM/bm:ukk/EDG 2008; BMBF 2008): Durchaus setzte eine Implementation von Innovationen auf der Grundlage wissenschaftlichen Wissens über ‚gute Praxis’ ein.6 Dabei wurde das Wissen um die Unterschiedlichkeit nicht nur der Entwicklungs- und Anwendungskontexte von Innovationen, sondern auch um die Unterschiedlichkeit der Rezeption in den jeweiligen Anwendungskontexten zum Ausgangspunkt gemacht. Grundsätzlich wurden Innovationen zunehmend als in Verbindung mit Wissen und Lernen zu untersuchende Konstrukte aufgefasst (Steiner-Khamsi 2000; Wiechmann 2003; Leonard 2006). Insgesamt erfolgte damit eine Abwendung von der Konzentration auf die Absichten politischer Reforminstanzen und eine Hinwendung zu den Bedingungen und Prozessen auf Seiten der (potenziellen) Rezipienten in Anwendungskontexten. Ausgegangen wurde nicht mehr von der Machbarkeit einer steuerbaren, linearen Sequenz von Entwicklung, Übertragung und Anwendung einer Innovation, sondern von selektiven Aneignungs- und Adaptionsprozessen, die im Anwendungskontext ablaufen und die in Bezug auf die daran beteiligten individuellen und kollektiven Akteure von Erwartungen, Orientierungsmustern, Vorwissen, Einschätzungen bzgl. verfügbarer Ressourcen sowie strukturellern Rahmenbedingungen beeinflusst werden. Zum integralen Bestandteil der Forschung wurden die bislang wenig untersuchten „ideas that 6
Bei der Ende der 1990er Jahre im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung von Modellversuchen beginnenden Konzentration auf Transferfragen ließ sich dabei eine ‚Forschung mit Routine’ beobachten (Anderson/de Dreuj/Nijstad 2004; Bormann 2009a). Diese dokumentierte sich in einer Verengung auf eine reduzierte Auswahl spezifischer analytischer Fragestellungen, theoretischer Konzepte sowie an den methodischen Zugriffen (überwiegend standardisierte, empirisch-quantitative Verfahren). Unterschiedliche Qualitäten des Transfers, Formen des positiven oder negativen Transfers, wie sie aus der Lehr-Lern-Forschung (Mandl/Prenzel/ Gräsel 1992; s. Abschnitt 2.4) oder aus der linguistischen Wissenstransfer-Forschung (überblicksartig Antos/Weber 2005: insbesondere Ballod 2005, Roelcke 2005; Weber 2004) bekannt sind, werden in diesem Zusammenhang kaum angesprochen bzw. deren Übertragbarkeit auf die Frage des Transfers von Innovationen in die Fläche des Bildungswesens hinterfragt. Ebenso wurde zunächst selten auf das Zusammenspiel von Innovation und Kontext reflektiert (allerdings: Nickolaus/Schnurpel 2001; Gräsel/Parchmann 2004): Handelt es sich um nahen oder weiten, oberflächlichen oder in der Tiefe wirkenden Transfer, können direkte oder sollten indirekte Transferbemühungen angestellt werden (dazu Subedi 2004; Perkins/Salomon 1992)? Zudem war in der modellversuchsbezogenen Forschung zu Innovationen und ihrem Transfer eine Hinwendung zur Darstellung erfolgreicher Innovationen zu verzeichnen (s. Fußnote 3). Durch die nur geringe Berücksichtigung der Bedingungen des Scheiterns allerdings erscheinen Innovationen irrtümlich als lineare Verbindungen zwischen einem bekannten Ausgangspunkt und einem bekannten Endpunkt, die durch rationale, quasi soziotechnisch vollzogene Aktivitäten der Transformation miteinander verbunden sind (Bauer 2005: 45; Schluß/Sattler 2001).
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implementing agents come to understand to interpret from policy“ (Spillane/Reiser/Reimer 2002: 392; Euler/Sloane 1998; Euler 2001; Holtappels 2005; auch: Silverberg/Dosi/Giovani 1988; Kirton 2003; Wiechmann 2002; Jäger 2004; Nickolaus/Gräsel 2006; Kriegesmann/Kley/Schwering u.a. 2008; Zeitschrift für Erziehungswissenschaft 2010). Mit der empirischen und theoretischen Bearbeitung der Transferfrage in Bezug auf Innovationen wurde deutlich, dass die Wirksamkeitshoffnungen in Bezug auf Implementationen eingeschränkt werden müssen (Altrichter/Heinrich 2006). Zugleich wurde mit der Hinwendung zur Frage des Transfers eine bildungspolitisch relevante Aufgabe – die der langfristigen Ergebnissicherung von öffentlich finanzierten Modellvorhaben zur Entwicklung, Erprobung und Verbreitung von Innovationen in der Fläche des Bildungswesens – in die erziehungswissenschaftliche Innovationsforschung integriert.
1.3 Innovation in einer entgrenzten Gesellschaft: Eine paradoxe Normalität? „Innovations are not ends in themselves“ (Fullan 1991: 27)
In den vorigen Abschnitten wurde verdeutlicht, dass Innovationen und ihr Transfer nicht nur in die wissenschaftliche Aufmerksamkeit rücken. Dem Gegenstand wird auch ein anwendungsorientiertes Interesse zuteil: So wird bildungspolitisches Steuerungshandeln seit geraumer Zeit evidenzbasiert, d.h. im Rekurs auf wissenschaftliches Wissen über förderliche und hemmende Innovationsbedingungen vorbereitet (Radaelli 1995; Slavin 2002f.; Bridges 2008; Ozga 2007; OECD 2007; BMBF 2008; LISUM/bm:ukk/EDK 2008). Zu diesem Zweck aufgelegte, mit öffentlichen Mitteln finanzierte Forschungs- und Entwicklungsprogramme sowie der Ausbau von Formen evidenzbasierter bildungspolitischer Steuerung illustrieren ein Zusammenrücken – anders ausgedrückt: eine Interdependenz – von Politik und Wissenschaft: „Wir beobachten zunehmend Grenzüberschreitungen in politischen Prozessen, und zwar sowohl hinsichtlich territorialer wie funktionaler und sektionaler Grenzen“ (Benz 2004: 14). Darüber hinaus werden bildungspolitische Zielsetzungen auch durch private Akteure beeinflusst bzw. beanspruchen oder übernehmen private Akteure bildungspolitischen Einfluss (Radtke 2003; Jakobi/Martens 2006; Höhne/Schrenk 2009). Die entstehenden Interdependenzen zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen und Akteuren werden in soziologischen Gegenwartsdiagnosen auchbeschrieben als Phänomen der Entgrenzung (Beck 1996: 312f.; Rammert 1997f.).
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In diesem Abschnitt werden die im Zusammenhang mit der Diagnose der Entgrenzung auftretende Auswirkungen auf die Verfasstheit der Kontexte und Form der Wissensproduktion sowie die Formen der Gestaltung von Veränderungen skizziert.7 Wissensproduktion in fragmentierten Kontexten Entgrenzung bezieht sich auf kognitive, soziale und handlungsrelevante Sachverhalte – mithin auf die im sozial konstruierten Raum aufgeführten Praktiken und das ihnen zugrunde liegende sowie genutzte bzw. generierte Wissen. Rammert (2002b) spricht in diesem Zusammenhang von einem Zustand der über Funktionen und Hierarchien hinweg bestehenden, losen Verteiltheit von Wissen (ebd.: 11). Anders ausgedrückt finden „Vermischungen von vormals eindeutig trennbar aufgefassten Phänomenen (z.B. Fakten und Werte) und institutionellen Bereichen (z.B. Wissenschaft und Politik) …“ (Böschen/Schneider/Lerf 2004: 282) statt. Diese Vermischung verläuft in zwei Richtungen und führt zu einer Verwissenschaftlichung von Gesellschaft sowie gleichzeitig zu einer Vergesellschaftung von Wissenschaft. Diese Entgrenzung wird – wenn auch nicht unter diesem Terminus – auch für das Verhältnis von Bildungspolitik und Bildungsforschung konstatiert, v.a. in Hinblick auf die Entwicklung der Erziehungswissenschaft zur empirischen Bildungsforschung (s. Abschnitt 1.2). Die Diagnose der modernen Entgrenztheit korrespondiert mit Beobachtungen des Verhältnisses von Gesellschaft und ihrem Wissen bzw. den Mechanismen der Wissensproduktion, denen zufolge aufgrund eines zunehmenden Problemdrucks neue Formen der Kooperation unterschiedlicher Akteure zu beobachten sind. Gibbons u.a. (Gibbons/Limognes/Nowotny u.a. 1994; Nowotny/Scott/Gibbons 2003; auch Power 1997; Nassehi/von der Hagen/Demszky 2007) beschreiben diese als sog. ‚mode-2-Forschung’. Diese mode-2-Wissensproduktion ist gekennzeichnet durch ihre Hybridität: Die im mode 2 stattfindende Wissensproduktion hält sich nicht an organisationale oder disziplinäre Grenzen, sondern ist charakterisiert als eine inter- und transdisziplinär organisierte, problemlösungsbezogene Form der Wissensproduktion. Die Inhalte des so produzierten Wissens sind durchaus variabel und können sich mit politischen bzw. gesellschaftlichen Themenkonjunkturen durchaus verändern. Es gilt dennoch als robust, weil es aufgrund seiner Produkti7
Das Konzept der Entgrenzung wird mit Bezug auf das Verhältnis von Sozialem und Natur sowie Technik auch in der poststrukturalistischen Akteur-Netzwerk-Theorie aufgegriffen. Darin gelten unbelebte Dinge als Akteure (Aktanten; Latour 2001; Bammé 2004). Im Vorgriff auf Abschnitt 4.3 sowie Kapitel 5 sei an dieser Stelle angemerkt, dass dieses Theorem mit dem wissensoziologisch-diskursanalytischen Ansatz weiterverfolgt wird. Bei diesem sind ebenfalls die Relationen von Akteuren, ihre Positionen, Ressourcen aber auch Praktiken und Dinge, die den Diskurs konstituieren und beeinflussen, wesentlich.
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onsbedingungen sozial verankert und in Anwendungskontexte eingebunden ist. Diese ‚neue’ Qualtität erhält das Wissen aufgrund der kommunikativen Beteiligung verschiedener Akteure an der Bewältigung einer Situation oder Lösung einer Aufgabe, wegen der dadurch erforderlichen Aushandlungen bzgl. gemeinsamer Ziele, Relevanzen, Maßnahmen etc., sowie aufgrund des unterschiedlichen Wissens, das die Akteure einbringen und lösungsorientiert mit dem Wissen und den Interessen anderer Akteure in Beziehung setzen und das sie vor dem Hintergrund ihrer unterschiedlicher Rationalitäten, d.h. Handlungslogiken und Interessen (Ladeur 2007; Brüsemeister 2007), gegenstands- und anwendungsbezogen revidieren müssen, erhält das von ihnen generierte Wissen diese neue Qualität. Diese Aushandlungen können durchaus von Konflikten begleitet und unter der Bedingung ggf. ungleich verteilter Ressourcen ausgetragen werden (Cros 1999: 64ff.; s. Abschnitt 3.2.2). Die Diagnose, nach der Wissen, Praktiken und Instrumente in modernen Gesellschaften zunehmend ‚grenz’überschreitende Anwendung finden und sich damit räumliche, soziale und zeitliche Grenzen verschieben und aufgrund des flottierenden Wissens durchlässig werden, führt dazu, dass die Annahme klar umgrenzter sozialer Systeme, die mit spezifischen, nicht beliebig austauschbaren Praktiken und je spezifischem Sinn ausgestattet sind, nicht konkurrenzlos geteilt wird (Giddens 1997: 33). Stattdessen wird von einer parallelen Gültigkeit unterschiedlicher Wissensformen ausgegangen, die an hochgradig diversifizierten Orten produziert werden und in einem Zustand diffuser Verteiltheit vorliegen (Rammert 1997ff.; Ortmann 1999ff.; Hug 2003b; Krücken 2005: 68; auch Hitzler 1994). Im Zuge dieser Entwicklung löst sich die Trennung zwischen öffentlich und privat auf – ohne jedoch vollständig obsolet zu werden (Ladeur 2007; Kussau/Brüsemeister 2007: 22f.). Ozga und Jones (2006) gehen angesichts solcher Beobachtungen davon aus, dass das in der Interaktion zwischen Politik und Wissenschaft generierte und für relevant gehaltene Wissen zwischen verschiedenen Akteuren und über geographische Grenzen hinweg sowie aufgrund der oftmals langwierigen Prozesse der politischen Entscheidungsvorbereitung, -findung und des Vollzugs in räumlicher, sozialer und zeitlicher Hinsicht ‚wandert’. Andere Autoren, die sich mit diesem Geschehen auseinandersetzen, konzipieren diesen Vorgang der Wissensproduktion als ‚Übersetzung’, die zwischen verschiedenen Akteurskonstellationen stattfindet, um anschlussfähiges Wissen zu generieren (Bosch/Renn 2003; Estabrooks/Thompson/Lovley u.a. 2006). Wissen ist vor diesem Hintergrund nicht eine unveränderliche Ressource (knowledge), sondern kann als etwas Dynamisches verstanden werden, das permanent im Werden begriffen ist (knowing). Angesichts dessen, dass Steuerungsinstanzen sich aufgrund zunehmender Komplexität und zunehmender Unsicherheit auf dem Weg von Beratungen der Legitimität ihres Handelns versichern, ist der Staat zwar auch weiterhin ein hierar-
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chisch organisierter Akteur (Scharpf 2000). Er agiert allerdings zum einen zunehmend weniger interventiv und tritt stattdessen interaktiv in Erscheinung. Die Attribute, die zu seiner Beschreibung verwendet werden, sind vielfältig und reichen von ‚kooperativ’, ‚verhandelnd’ über ‚moderierend’ und ‚kommunikativ’ bis hin zu ‚aktivierend’ (Schützeichel/Brüsemeister 2004; Dose 2004; Klimecki 2007; Schuppert/Zürn 2008). Als kollektiver Akteur gestaltet er einerseits die Bedingungen der Wissensgenerierung und schafft andererseits durch die Einführung evidenzbasierter Steuerungsformen, die Institutionalisierung wissenschaftlicher Politikberatung oder Projekte eine ‚Nachfragesituation’ für die Produktion von Wissen. Die Verantwortung für Entwicklungsprozesse wird so zwar nicht delegiert, zumindest aber mit anderen Akteuren geteilt. In diesem Zusammenhang wird der Staat als Akteur dargestellt, der als einer von vielen verschiedenen Akteuren an der Produktion von Wissen über das Bildungssystem sowie von Steuerungswissen beteiligt ist. Er gilt aus dieser Perspektive nicht als Akteur, der ohne das Zutun weiterer Akteure die symbolischen Handlungsarenen und -spielräume markiert, in denen sich die an den subpolitischen Prozessen beteiligten Akteure bewegen. Es kommt nicht nur zu einer verteilten Wissensproduktion, sondern in diesem Zuge auch zu einer institutionell verteilten Verantwortung für Gestaltungs- und Entwicklungsprozesse: „In today's shared power, no-one-in-charge, interdependent world, public problems and issues spill over organizational and institutional boundaries“ (Bryson/Crosby, zit. nach Kooiman 2002: 138; Sørensen 2002: 693; Straßheim 2008; Sørensen/Torfing 2009). Nebenfolgen Für die Gestaltung von Veränderungen im Feld von Bildung und Erziehung bedeutet die Entgrenzungsthese, dass durch die Erwartungen, die pädagogische und nicht-pädagogische Akteure aneinder richten und bedienen oder durch die Verlagerung von Aufgaben im Rahmen von Reformprozessen (z.B. Autonomieerweiterung und Rechenschaftslegung) neue Mitsprachemöglichkeiten und Mitsprecher und dadurch auch neues, multipel genutztes Wissen geschaffen werden. Dieses Phänomen wird durchaus kritisiert: Zwar scheint die Relevanz wissenschaftlichen Wissens und mit diesem auch das Erfordernis der kommunikativen Übersetzung und damit auch die Gefahr der Entdifferenzierung von Wissen zwischen verschiedenen Kontexten zu steigen. In Bezug auf die tendenzielle Auflösung der Trennung von Entwicklung und Anwendung von Wissen wird befürchtet, dass durch die Vermischung von ‚Wahrheits’- mit (politischen) ‚Nützlichkeitsansprüchen’ die Wertefreiheit von wissenschaftlicher Forschung zur Disposition gestellt wird (Weingart 1999; Heidenreich 2002f.; Böschen/Wehling 2004: 13; Blättel-Mink/Kastenholz 2003: 300; Bosch/Renn 2003; Bonß 2003; mit Bezug auf Bildung: Wimmer 2002). Ähnlich wird auch in der Erziehungswissenschaft davor
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gewarnt, dass die Disziplin angesichts dieses Trends ihre bildungstheoretischen Wurzeln vernachlässige, das Konzept der Bildung auf das empirisch Messbare reduziere und zu einer auf Schulforschung reduzierten empirischen Bildungsforschung zu werden drohe (Ruhloff 2007; von Hentig 2008). Diesem Vorbehalt wird allerdings mit dem Hinweis begegnet, dass Erziehungswissenschaft sich der Lösung – auch bildungspolitisch formulierter – Probleme zu widmen habe, um legitim zu sein. Ohnehin habe die Erziehungswissenschaft stets beide Komponenten, Bildungstheorie und empirische Bildungsforschung, in sich getragen (Drerup/Terhart 1990; Weegen/Böttcher/Bellenberg u.a. 2002; Tenorth 2003; Jäger/Prenzel 2005; Klieme 2007; Leschinsky 2007; Tillmann 2008; Baumert 2008). Soziale Kompensation von Fragmentierung Die Entgrenzungsthese beschreibt das Soziale statt als funktional differenziert als fragmentiert. Formelhaft ausgedrückt, beschreibt fragmentale Differenzierung die Entstehung eines heterogenen Ganzen, das aus Elementen gleicher Art besteht, die aber mit unterschiedlichem Status ausgestattet sind und unterschiedlichen Ebenen des sozialen repräsentieren (Rammert 2002b: 7). Nicht komplementäre, funktional differenzierte soziale Systeme, sondern kollektive Akteure aus unterschiedlichen Wissenskulturen treffen bei der Bewältigung von Situationen zusammen und konstituieren durch ihre gemeinsame Auseinandersetzung mit einer Situation, einem Thema oder Problem Arenen, in denen Informationen flottieren, Wissen erzeugt und angewendet wird. Die Akteure in solchen Konstellationen vertreten eigene Rationalitäten, sie folgen eigenen Handlungslogiken und bringen spezifisches Wissen ein, das in der Interaktion mit anderen Akteuren, wie oben dargestellt, zur Disposition gestellt wird. Sie teilen nur in Bezug auf das sie gemeinsam berührende Thema oder Problem auch ein gemeinsames Wissen bzw. müssen dieses erst schaffen, sind aber hinsichtlich der Realisierung von Zielen aufeinander angewiesen, d.h. sie sind interdependent. Mit Blick auf die Bedingungen der Erzeugung von Wissen konstatiert Lash (1996) die Bedeutung reflexiver Gemeinschaften (ebd.: 294f.). Dies ist, zusammen mit der „Entgrenzung des Politischen“ (Beck 1996: 312) ein wesentliches Merkmal einer Gesellschaftsformation, die als ‚reflexive Moderne’ bzw. ‚Zweite Moderne’ bezeichnet wird (Beck/Giddens/Lash 1996; Beck/Bonß/Lau 2004; kritisch: Münch 2002; zu Akteuren s. ausführlicher Abschnitt 4.1). Zusammengehalten werden solche heterogenen Ensembles verschiedener Akteure aus theoretischer Perspektive durch lose Kopplungen (Weick 1976; Orton/ Weick 1990; s. Abschnitt 1.1.1, 3.1.2). Lose Kopplungen sind dadurch gekennzeichnet, dass die Beziehungen zwischen den konstituierenden Elementen eines sozialen Systems eher schwach als stark sind sowie eher kontinuierlich als plötzlich wirken. Das bedeutet auch, dass Absichten, Ziele und Mittel nicht starr, son-
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dern flexibel aufeinander bezogen sind. Lose Kopplungen bewirken daher, dass Veränderungsabsichten nicht bruchlos realisiert werden können. Von einer zielgerichteten Steuerung und Implementation von Innovationen unter der Voraussetzung loser Kopplung und Entgrenztheit also nicht ausgegangen werden. Dennoch gelten solche lose gekoppelten Akteurskonstellationen als vergleichsweise innovativ, da in ihnen aufgrund der Unterschiedlichkeit der in solchen Konstellationen zusammentreffenden Akteure verschiedenste Informationen zirkulieren, aufgenommen oder neu kombiniert werden können. Dadurch kann neues Wissen generiert und werden insofern Innovationen hervorgebracht: „Innovationsprozesse (kommen, d.Verf.) trotz und mit der Heterogenität der Akteure zustande...“ (Peine 2006: 150). Die oben skizzierte Entwicklung des Aneinanderrückens verschiedener Akteure kennzeichnt einen „Prozess, der einer funktionalen Differenzierung des Bildungssystems entgegenläuft“ (Kuper 2004c: 241). Doch das Attribut ‚entgrenzt’ chiffriert keinesfalls Beliebigkeit, Zerfallserscheinungen des Sozialen, den Rückzug oder eine schwindende Legitimation staatlicher Akteure. Die These der Entgrenzung bedeutet auch keine Abwesenheit von Regeln und Ordnung. Vielmehr verweist sie auf eine kontext- und gegenstandsspezifische Formierung von Akteurskonstellationen und damit einhergehend: die Verschiebung von Grenzen – der Zuständigkeit, Verantwortung, Ausführung, Kommunikation und des Wissens. In fragmentarischen Gesellschaften mischen sich in dieser Optik unterschiedliche Wissenskulturen, es entstehen „Regime verteilter Wissensproduktion“ (ebd.: 8) und „distributed cognitions“ (Hutchins 1993). Diese Entdifferenzierung von distinkten, funktional differenzierten Systemen mit ihren klar benennbaren Akteuren, Prozeduren und spezifischen Wissensbeständen (Wissenschaftswissen, Alltagswissen etc.) geht Hand in Hand mit Dekontextualisierungen und Rekontextualisierungen von Wissen, d.h. einer Transformation von Wissen, die aufgrund der Entschlüsselung von Informationen mit dem Ziel erfolgt, diese sinnhaft neu zu kombinieren und in anderen Kontexten anzuwenden. Weil die Akteure trotz ihrer gemeinsamen Wissensarbeit dennoch mit unterschiedlichem Wissen und unterschiedlichen Rationalitäten ausgestattet bleiben (s.o.), kann der Verlust von Eindeutigkeit in Bezug auf die Bewertung von Informationen als ein Nebeneffekt von Entgrenzung betrachtet werden. Erforderlich sind daher Aushandlungsprozesse, in denen den Situationen, Themen oder Problemen, aufgrund derer diese Akteurskonstellationen entstehen, Sinn und Bedeutung verliehen wird (Kuper 2008: 442; zu Aushandlungsprozessen s. Abschnitt 3.1.1 und 3.1.3). Für möglich gehalten wird diese Rekontextualisierung von Wissen aufgrund diskursiver Verständigungsprozesse, d.h. durch den Rückgriff von Sprache als gemeinsamer, symbolischer Denk- und Handlungsressource für soziale Interaktion (Hug 2003b: 143; Gee/Green 1998). Statt von ‚policy-making’ wird in
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diesem Zusammenhang auch von ‚policy-shaping’ und ‚-transfer’ und ‚-learning’ gesprochen (Cronbach u.a. 1980; Dolowitz/Marsh 1996; Lawn 2003; Peine 2006: 39; Schneider/Janning 2006). Damit wird die Aufmerksamkeit auf Formen und Bedingungen der Einflussnahme und die die aktive Einbindung der adressierten Akteure gerichtet und die Wissensabhängigkeit von Wandel, Reformen und Innovationen hervorgehoben (s. Abschnitt 1, 2.5). Statt dass klar voneinander abgregrenzte gesellschaftliche Teilsysteme wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik spezifische Funktionen übernehmen, werden im Zuge des Aneinanderrückens die Grenzen zwischen diesen Teilsystemen durchlässiger, und es entstehen – nicht zwingend geplant oder auf formellen Mitgliedsschaftsregeln basierend – aufgabenspezifische Konstellationen von Akteuren. Entscheidungen darüber, welche Ziele verfolgt werden und wie soziale Aufgaben zu erfüllen sind, werden im Verbund mit Akteuren ‚anderer’ gesellschaftlicher Bereiche getroffen, die ebenfalls von einem Problem oder Thema affiziert sind. Diese Akteurskonstellationen können ganz unterschiedlich konfiguiert sein, z.B. hierarchisch oder egalitär, als Gruppen, die unter der Bedingung der Kopräsenz ihrer Mitglieder agieren oder als solche, die ohne die gleichzeitige Anwesenheit der Mitglieder funktionieren, der Zugang kann über formelle Regeln der Mitgliedschaft organisiert werden oder aber informell erfolgen. Akteurskonstellationen können marktliche, hierarchisch-bürokratische oder gemeinschaftliche Formen annehmen; zu letzteren sind Netzwerke zu zählen (Schneider/Janning 2006: 68). Netzwerke werden oftmals als die Akteurskonstellation angesehen, die am ehesten verspricht, Innovationen wirkungsvoll verbreiten zu können (Valente 1993f.; Rogers 2003; Peine 2006; Berkemeyer/Manitius/Müthing 2008). Netzwerke sind „eine Menge von Akteuren …, die über eine Menge von Beziehungen mit einem bestimmbaren Inhalt verbunden sind“ (Wald/Jansen 2007: 93). In den lose gekoppelten Netzen heterogener, verteilter Akteure flottieren gemeinsame Semantiken, d.h. Wissenvorräte und Selbstbeschreibungen (Lash 1996: 274; Sørensen/Torfing 2009). Sie entwickeln sich aufgrund von Informationsaustausch oder politischen Einfluss. Netzwerke können als der soziale Rahmen verstanden werden, in dem sich interdepentende Akteure aufgrund einer gemeinsamen Affiziertheit durch ein Thema, ein Problem, eine Situation begegnen. Anders ausgedrückt sind Netzwerke „ein Muster der Interdependenzbewältigung zwischen Akteuren“ (Schimank 2007b: 30). In steuerungstheoretischer Hinsicht löst sich mit der Betrachtung von solchen Akteurskonstellationen die klassische Differenzierung zwischen Steuerungssubjekten und -objekten auf, d.h. zwischen solchen Akteuren, die steuern und jenen, die gesteuert werden (s.u.). Keineswegs liegt damit ein Machtvakuum vor. Ausgegangen wird vielmehr von Steuerungsinstanzen, die auf unterschiedlichen Ebenen des Mehrebenensystems angeordnet sind, also an verteilten Orten Wissen produzieren,
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das sie in Gestaltungsprozessen anwenden. Statt einzelner kollektiver Akteure schalten sich daneben viele weitere in diese Prozesse ein. Bezeichnet wird dies mit dem Terminus Governance. Im Gegensatz zu Government – Regieren – wird Governance als „neue(r, d.Verf.) Regulierungs- und Koordinationsmodus jenseits der Dichotomie Staat/Markt“ verstanden (Lattemann 2007: 25). Legislative Akteure stehen demnach neben anderen, z.B. ökonomischen oder wissenschaftlichen Akteuren, die um die Durchsetzung ihrer Interessen miteinander konkurrieren (Mayntz 2004f.; Lange/Schimank 2004; Zürn 2008; Priddat 2000). So kann Governance gleichzeitig als Effekt einer – kollektiv erzeugten – entgrenzten Gesellschaft und als Voraussetzung für die Schaffung kollektiv verbindlicher Regelungen aufgefasst werden. Steuerung in fragmentierten Kontexten: Governance 8 Gegenüber Steuerungstheorien ist die Governanceperspektive zum einen dadurch gekennzeichnet, dass sie den Wandel des Verhältnisses zwischen staatlichen und gesellschaftlichen bzw. öffentlichen und privaten Akteuren zum Ausgangspunkt nimmt; sie konzentriert sich zum anderen auf die Mechanismen und Modi der Koordination dieser Akteursverhältnisse (Lange/Schimank 2004; Schimank 2007b; Lauth 2007). Die Governanceperspektive ist also insgesamt durch ihren Anspruch gekennzeichnet, soziale Komplexität systematisch zu erfassen. Entsprechend vielschichtig sind die Gegenstände der Governanceforschung. Governance umfasst den Gesamtzusammenhang von Inhalten oder Themen, deretwegen sich Akteurskonstellationen konstituieren (policies), Prozessen oder Regelungen (politcs), nach denen sie agieren sowie Strukturen oder Institutionen (polity), die sie verändern, schaffen und mit denen sie auf andere Akteure Einfluss nehmen (Benz 2004: 15). Mit Governance wird also eine Form der Erfüllung öffentlicher Aufgaben durch Konstellationen von privaten und öffentlichen Akteuren bezeichnet, die hinsichtlich ihrer institutionellen und organisationalen Hintergründe zwar ungleich, aber in Bezug auf den Umgang mit einem sie gemeinsam berührenden Thema interdependent sind. Dadurch tendiert die Differenz zwischen Steuernden und Gesteuerten sich zu verringern (Mayntz 2004; Dose 2008; kritisch z.B. Höhne/Schrenk 2009), ohne aber letztlich vollständig aufgehoben werden zu können: Die Entscheidungskompetenzen bleiben in formaler Hinsicht unberührt. Insofern kann aus der Governanceperspektive von Akteurskonstellationen ausgegangen werden, die auf einer horizontalen Ebene Einfluss nehmen, die aber dennoch im Schatten von Hierarchien stehen (Ladeur 2007; Scharpf 1994; Héritier/Lehmkuhl 2008). 8
Benz (2004) betont, dass die Governance-Perspektive keine Theorie sei, sondern eine „Sichtweise auf die Realität“ (ebd.: 6).
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Wie findet angesichts dieser Beoachtungen die Handlungskoordination dieser Akteure statt? Aus der Governanceperspektive lässt sich dazu festhalten, dass in fragmentierten Kontexten nicht nur eine Differenzierung hinsichtlich der Konstruktion von gesellschaftlichen Aufgaben stattfindet, sondern auch eine Integration des Wissens, das beim Umgang mit diesen ko-konstruierten Problemen, Situationen, Themen oder Inhalten herangezogen wird. Mit der verteilten Wissensproduktion verbunden ist die Integration des Wissens, das in den Konstellationen heterogener Akteure generiert wird (Lange/Schimank 2004). Die Form der Integration – Sozialintegration, d.h. die Integration von Akteuren in die Gesellschaft oder Systemintegration, d.h. die Integration verschiedener sozialer Systeme – wird aus der Governanceperspektive als Wirkung der Interaktion spezifischer Akteurskonstellationen verstanden (ebd.: 26; zu Integration s. Abschnitt 3.2.3). Allgemein lässt sich zusammenfassen, dass Governance in analytischer Hinsicht als Form der Wissensgenerierung und -anwendung bzw. der Rekombination von Wissen und Wissensdistribution in komplexen, themengebundenen Akteurskonstellationen verstanden werden kann (Antonelli/Quéré 2002). Wie dies geschieht und welche Koordinationsmechanismen und -muster dabei anzutreffen sind, wird in Governanceanalysen untersucht. Diese konzentrieren sich auf die Rekonstruktion sozialer Ordnung (Strukturen) und der Ordnungsbildung (Prozesse). Sie beschäftigen sich sowohl mit dem Zustandekommen von Akteurskonstellationen und den Wirkungen, die diese erzielen, als auch mit den Veränderungen von Regelungsstrukturen, d.h. der Handlungskoordination bzw. -abstimmung und den Mustern und Mechanismen, denen die Bewältigung von Interdependenz folgt. Handlungsabstimmung bzw. Koordination ist dann erforderlich, wenn Asymmetrien zwischen unterschiedlichen Akteuren bestehen, die zum Zwecke der Bearbeitung einer gemeinsamen Aufgabe überwunden werden sollen (Lange/Schimank 2004: 22). Dabei werden nicht einzelne Akteure betrachtet, sondern kollektive Akteure, deren Konstitution und Position bzw. Positionierung in interdependenten Akteurskonstellationen – neben Netzwerken auch Märkte und Hierarchien (Powell 1990; Wiesenthal 2000; Benz 2004; Benz/Lütz/Schimank u.a. 2007; Lattemann 2007) – die auch ohne die Kopräsenz ihrer Akteure existieren können (s. dazu Abschnitt 4.1 und 4.2). Die zentralen Mechanismen der Ordnungsbildung und Bewältigung von Interdependenz, die aus governanceanalytischer Perspektive zwar in jeglicher Akteurskonstellation, aber je nach Akteurskonstellation in unterschiedlicher Konfiguration zum Tragen kommen, beruhen auf den drei Koordinationsmodi wechselseitige Beobachtung, wechselseitige Beeinflussung und Verhandlung (Lange/Schimank 2004). Diese Modi sind aufeinander insofern bezogen als Verhandlung nicht ohne Beeinflussung und diese nicht ohne Beobachtung stattfinden kann; umge-
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kehrt jedoch ist Beobachtung ohne Beeinflussung und diese auch ohne Verhandlung vorfindbar (Schimank 2000: 207ff.; Wiesenthal 2000; Schimank 2007b: 36ff.): Der Modus Beobachtung führt zu Prozessen gegenseitiger Anpassung und beruht auf Erwartungen, die Akteure aneinander stellen und deren Einhaltung sie erwarten. Direkt ist sie in klar umgrenzten Gruppen möglich, indirekt nur über Antizipationen bzw. Erwartungen zukünftiger Handlungsereignisse (Schimank 2000: 228). Beobachtungskonstellationen lassen sich z.B. anhand von Berichtssystemen oder Systemen der Rechenschaftslegung illustrieren. Bei diesem Modus der sozialen Ordnungsbildung handelt es sich um einen, der sich „auf von außen gesetzt und gleichartig wahrgenommene Stimuli“ (Schimank 2007b: 37) bezieht, er ist reaktiv und weniger proaktiv. Im Modus Beeinflussung erfolgt die Handlungsabstimmung auf der Basis des strategischen Einsatzes von allokativen und autoritativen Verfügungsrechten und -fähigkeiten, oder anders ausgedrükt: von Ressourcen bzw. Einflusspotenzialen wie Wissen, Macht, Geld. Hier kommt insofern ein asymmetrisches Verhältnis der interagierenden Instanzen zum Ausdruck. Der Modus der Verhandlung schließlich ermöglicht die Hervorbringung von den daran beteiligten, verhandlungsfähigen und -willigen Akteuren akzeptierter Ergebnisse: In Verhandlungen passen Akteure ihre Positionen einander an, sie tauschen Ressourcen aus und legen dies z.B. in im Modus der Verhandlung in Verträgen und Vereinbarungen fest (Lange/Schimank 2004: 22). Entsprechend wenden sich Governanceanalysen den Interessen von Akteuren zu. Sie fragen nach den Formen, wie Akteure ihre Interessen zur Geltung bringen und den Wegen und Mitteln ihrer Durchsetzung – kurz: sie untersuchen, wie in Akteurskonstellationen die Interdependenz bewältigt wird, die bei der Realisierung von Veränderungen entsteht. Interdependenz besteht nicht nur in Bezug auf die wechselseitige Angewiesenheit der Akteure bei der Durchsetzung ihrer Interessen und Absichten, sondern auch in Bezug auf deren Wissen. Dieses Wissen – auf dessen Basis Informationen wahrgenommen, interpretiert und mit Bedeutung aufgeladen werden (Schützeichel 2007: 433; Willke 2004) – unterscheidet sich mit den Akteuren einer Akteurskonstellation. Im Rahmen der Bewältigung von Interdependenz kann dieses Wissen zur ‚Verhandlungsmasse’ werden, d.h. in einer Akteurskonstellation wird neues Wissen generiert und angewendet, das im Umgang mit oder zur Bearbeitung eines gegebenen Problems oder einer Situation erforderlich scheint (Bormann 2007). Mit Formen der wissens- bzw. informationsbasierten Gestaltung wird eine Governanceform betrachtet, die als ‚soft governance’ bezeichnet wird (Lawn 2006; Moos 2009). Gegenüber ‚hard governance’ ist diese von einer prinzipiellen Kontingenz eher diskursiv-horizontaler Interaktionen und einer losen Kopplung von Prozessen und deren Resultaten gekennzeichnet. Die theoretisch fundierte empirische Untersuchung verschiedener Formen der Handlungskoordination interdependenter, im Mehrebenensystem interagierender
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Akteure ist ein zentrales Anliegen der sich formierenden educational governanceForschung (Brüsemeister 2004; Altrichter/Heinrich 2006; Kussau/Brüsemeister 2007; Altrichter/Brüsemeister/Wissinger 2007; Heinrich 2008). Diese richtet sich v.a. auf Governance im Schulsystem und sieht sich gegenwärtig folgenden Fragestellungen gegenübergestellt (Langer 2008: 15f.; Schimank 2007a): Formen der Handlungskoordination: Wie positionieren sich die Akteure zueinander und zu dem von ihnen wahrgenommenen Thema, aufgrund dessen sie miteinander interagieren? Aufkommen und Wirkungen von Handlungsintentionen und -handlungen: Mit welchen (Wirkungs-)Erwartungen verbinden Akteure ihre Handlungen? Welche unbeabsichtigten Effekte treten auf und warum? Relationen der steuernden Akteure: Mit welchen Vorstellungen von Kooperation und Konkurrenz begegnen sich Akteure, wie positionieren sie sich zueinander, und wie beeinflussen sie sich gegenseitig? Diese Fragen werden in Bezug auf Innovationen im Bildungswesen und in Hinblick auf kollektive Akteure bearbeitet. Allgemein wird der Frage nachgegangen, wie sich Innovationen und ihr Transfer in entgrenzten sozialen Kontexten vollziehen. In dieser Frage ist die Prämisse enthalten, der zufolge Governance ein Resultat von Entgrenzung ist. Entsprechend wird untersucht, wie angesichts dieser Voraussetzung Veränderungen koordiniert und wie diese beschrieben werden können. In Hinblick auf Innovationen werden die oben genannten Themenstellungen wie folgt re-formuliert: Welche Akteure sind mit welchen Intentionen und Praktiken an Innovationen beteiligt, welches Wissen bringen sie auf welche Weise in Innovationsprozesse ein, und wie wird die Relevanz des eingebrachten Wissens erzeugt? Inwiefern beeinflusst die Interpretation einer Innovation deren Integration, d.h. wie beeinflussen Wissensprozesse, d.h. Wahrnehmung und Aneignung die soziale Verbreitung und Verankerung von Innovationen? Welche Differenzierungsformen sind dabei zu beobachten?
1.4 Implikationen für das weitere Vorgehen Statt die Möglichkeiten ihrer Verbreitung und Verankerung in der Fläche des Bildungssystems von Anfang an systematisch mitzubedenken, wurde die wissenschaftliche wie politische Aufmerksamkeit lange Zeit auf die Entwicklung, Erprobung und Evaluierung solcher Maßnahmen gerichtet, die Verbesserungen zu versprechen scheinen – und damit als innovativ gelten (Euler 2001). Dies enstpricht einer diffusions- bzw. implementationstheoretischen Betrachtung, bei der die Verwendung demokratisch legitimierter Regulierungsmechanismen zur Erkennung
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und Lösung von Problemen im Vordergrund steht. In den Fokus gelangen so v.a. die direkt an den formalen Prozessen des ‚policy-making’ (Cronbach u.a. 1980: 84) beteiligten bildungspolitischen und -administrativen Instanzen und deren Strategien: Der Blick richtet sich auf Gesetze, Erlasse, Verordnungen etc. und deren Verankerung in Regeln und Regularien (Nickolaus/Ziegler/Abel 2006: 53ff.). Ein Grund dafür liegt in den vielfältigen bildungspolitischen Regulierungsmöglichkeiten des Bundes und der Länder, die es ihnen erlauben, die Integration von Innovationen per Weisung, Gesetz, Dienstanordnung oder zumindest diese Möglichkeiten legislativ vorbereitet durchzusetzen und formal zu implementieren.9 Eine Forschungsperspektive, die quasi positiv vor allem auf solche Veränderungen eingeht, die von dazu legitimierten Instanzen initiiert werden und die die äußeren Entwicklungswege von Innovationen nachzeichnet, kann in verschiedener Hinsicht kritisiert werden. Zum einen rücken mit der Konzentration auf staatliche Interventionen vornehmlich solche Maßnahmen in den Blick, „die einer öffentlichen Kontrolle, sowohl hinsichtlich der Themenstellung, der Interventionsbereiche als auch der benutzten Beeinflussungsinstrumente u.ä. unterliegen“ (Dahme 1983: 118). Allein diese zu betrachten, kennzeichnet allerdings eine verkürzte Problemsicht: Innovationsideen, die bottom-up und von anderen als staatlichen Akteuren, nämlich von Konstellationen mit heterogenen und hinsichtlich der Realisierung gemeinsamer Ziele interdependenten Akteuren, in die formalen Arenen von Bildungspolitik und -administration vordringen, bleiben dann systematisch zugunsten von vertikal, d.h. top down administrierten Veränderungen unberücksichtigt. Darüber hinaus erlaubt dieser Blickwinkel keine Aussagen über die innere Logik von horizontalen Innovationsprozessen (Kern 1998), also jenen Vorgängen, die in diesen netzwerkartigen Akteurskonstellationen ablaufen oder die in den von ihnen adressierten Instanzen in Gang gesetzt werden – er intendiert es auch nicht. So bleiben Überzeugungsstrategien, d.h. „kommunikative, symbolisch vermittelte Beeinflussungsprozesse“ (Dahme 1983: 118) außerhalb des analytischen Blickfelds. Eine diese Defizite kompensierende, komplexe, d.h. mehrebenenanalytische Betrachtung wurde jedoch bereits zu Beginn der 1980er Jahre als eine Chance für die Implementationsforschung erachtet (Wollmann, nach Hucke 1980: 218). Schon damals galt die Berücksichtigung ausschließlich juristischer Aspekte der einseitigen Durchsetzung bzw. Implementation von Reformvorhaben, die isolierte Be9
Wenngleich diese Perspektive suggeriert, eine eindeutige Verantwortung für Innovationsauslöser lokalisieren zu können, weist Rürup (2007) im Rahmen seiner history-event-Analyse von Innovationswegen im Schulsystem am Beispiel der Innovation ‚Autonomie’ darauf hin, dass in den intermediären, zwischen Politik und Praxis angesiedelten administrativen Instanzen, die die bildungspolitischen Entscheidungen umsetzen, oftmals auch solche Personen agieren, die selbst langjährige Erfahrungen im professionellen pädagogischen Handeln haben. Eine empirische Trennung von bildungspolitisch veranlassten Reformen auf der einen und pädagogisch veranlassten Reformen auf der anderen Seite sei daher erschwert (ebd.: 34).
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trachtung rein organisatorischer Fragen oder die alleinige Analyse politischer Sachprobleme als eine für die in Hinblick auf eine soziale und zeitliche Dimension aufgezeigte Komplexität von Innovation unangemessene Herangehensweise. Vor dem Hintergrund der Ausführungen der Abschnitte 1.1 bis 1.3 wird im Folgenden von einem netzwerkartig organisierten ‚Feld’ gesprochen, in dem sich Innovationsprozesse abspielen (s. auch Abschnitt 3.1.2). Von einem Feld ist hier aufgrund der Beschreibung einer entgrenzten Gesellschaft die Rede, in der funktional differenzierte, als autonom gedachte soziale Teilsysteme ihre ursprüngliche Distinktion verlieren und sich gewissermaßen auflösen, um sich aufgabenbezogen – hier: in Bezug auf die Prozessierung von Innovationen – neu zu ordnen. Konzeptuell betrachtet brachliegende Funktionen – z.B. Selektion – werden von neu amalgamisierten kollektiven Akteuren übernommen, die dafür neuer Semantiken und neu geschaffenen Wissens bedürfen. Dies erfolgt in Netzwerken. Die Mitglieder dieser Netzwerke sind Akteure aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen und Bereichen. Die Interdependenz der Akteure ist nicht nur eine von ihnen zu bewältigende Aufgabe, sondern wird auch für essentiell gehalten, damit Innovationsprozesse, die mit ihnen in Zusammenhang stehende Wissensgenerierung und -anwendung und die damit verbundenen kollektiven Lernprozesse breit verankert werden können. Für solche kollektiven Akteure sind Innovationen keine äußerlichen Erscheinungen, und Innovationen treffen nicht auf Adressaten, sondern auf ‚aktive Akteure’. Innovationen bzw. die Wahrnehmung von Phänomenen als innovativ tragen zur Konstitution der Netzwerke erst bei, in denen sie zum Gegenstand reflexiver Auseinandersetzung werden, bei denen Vorwissen aktiviert wird, mit dem das Phänomen als relevant und different wahrgenommen wird. Neben den Themen, Problemen, Inhalten oder schlicht Situationen, deretwegen Akteurskonstellationen entstehen und aufgrund der in diesen Verbünden vorhandenen unterschiedlichen Rationalitäten, die innerhalb des Netzwerks implizit oder explizit zum Gegenstand werden und des heterogenen Wissens werden Innovationen zu einem Normalfall. Innovationen sind in dieser Hinsicht Nebenprodukte permanenter, in Netzwerken sich vollziehender Wissensarbeit, sie sind keine diskontinuierlich auftretenden Ereignisse, sondern Resultate fortlaufenden Lernens und der Neukombination von Wissen und Praktiken (Blättel-Mink 2005: 90; Peine 2006; Willke 2001: 291; Schofield 2004). Für eine theoretisch fundierte, prozessorientierte Innovationsanalyse ist es daher entscheidend, nicht nur die formalen Wege, sondern auch die strukturellen Bedingungen und Aneignungsformen von Akteurskonstellationen, die mit einer Innovation in Berührung kommen, zu betrachten. Nicht ausschließlich die Strukturen, sondern auch die sie reproduzierenden und in ihnen agierenden Akteure bzw. Akteurskonstellationen entscheiden über Veränderungen. Dabei entwickeln jegliche Akteure eigene Positionen zu neuen Gegebenheiten, koordinieren diese miteinander und machen sie in routinierten Interaktionen zur ‚Verhandlungsmasse’,
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aus der sich Innovationen konstituieren und beobachtbar werden: Wie erfolgt diese Handlungskoordination, welche Praktiken sind dabei wesentlich, und welches Wissen wird generiert, aktiviert und angewendet? Wir wird einer Innovation soziale Geltung verschafft? Unter Anerkennung der hier dargestellten Entgrenzungstendenzen kann festgehalten werden, dass sich im Zuge sozialen Wandels sozial, d.h. kommunikativ konstituierte Räume mit kollektiven Akteuren aus Wissenschaft, Politik, Öffentlichkeit und teilweise Wirtschaft entwickeln. Die Anlässe von Innovationsprozessen können den netzwerkartigen Akteurskonstellationen zwar durchaus äußerlich sein, d.h. die Innovationen können zunächst als exogene Impulse verstadnen werden. Mit der Fokussierung auf die Prozesse der Wissensproduktion und die damit verbundene Herstellung neuer sozialer Ordnung wird jedoch eine Perspektive eingenommen, bei der sich der analytische Blick auf die im Transferverlauf endogenisierten Formen der Innovation, die perspektivisch zu exogenen Impulsen werden können, verlagert. Zur Untersuchung von Innovationsprozessen ist die Beobachterperspektive also notwendig symbolisch ins Innere von Akteurskonstellationen und ihren Wissensprozessen zu verlagern: Nicht quasi von außen quantitativ beschreibbare Diffusionsprozesse oder nachzeichenbare, formelle Implementationswege, sondern vielmehr die qualitativ-interpretative Rekonstruktion von Wissensgenerierungs-, -nutzungs-, -aneigungs- und -ordnungsprozessen im zusammenhang mit Innovationen stehen im Vordergrund. In dieser Optik kann der Gegenstand bzw. können Innovationen im Feld von Bildung und Erziehung als normale, vorübergehende Prozesse gelten, die in Netzwerken entwickelt, angestoßen, aufgenommen und symbolisch, d.h. sprachlich-kommunikativ weiter prozessiert werden. Innovationen sind so eine paradoxe Normalität, die aus der losen Verteiltheit von Wissen sowie der netzwerkartigen Gesellschaftsstruktur resultiert bzw. diese kennzeichnet. In den nächsten Abschnitten wird der hier nur vorläufig skizzierte Gegenstand Innovation dekonstruiert, eingehender diskutiert sowie darauf aufbauend eine vorläufige Skizze des dieser Arbeit zugrunde gelegten analytischen Vorstellung von Innovation vorgestellt (s. Kapitel 2). Im darauffolgenden Kapitel werden die Elemente von Innovation aus sozialtheoretische Perspektive reflektiert und die im vorangegangenen Abschnitt skizzierte Vorstellung von Innovation zu einem mehrdimensionalen Innovationskonzept konkretisiert (s. Kapitel 3). Schließlich wird die Innovationsanalyse vorbereitet, indem Träger, Orte und Modalitäten von Innovationen diskutiert werden (s. Kapitel 4). In den Kapiteln 5 und werden Methodologie und Methode der Innovationsanalyse dargestellt. Ihre Ergebnisse werden abschließend in Kapitel 7 diskutiert.
2 Vorstellungen von Innovationen und ihren Elementen “The field of innovation is very broad” (Damanpour 1991: 556) „Bisher liegt kein geschlossener, allgemein gültiger Innovationsansatz bzw. keine allgemein akzeptierte Begriffsdefinition vor” (Gablers Wirtschaftslexikon 2000: 1542)
Schon im vorigen Kapitel wurde deutlich, dass Innovation ein allgegenwärtiges bzw. ein allenthalben erwartetes soziales Phänomen ist. Innovation ist ein Attraktor für Akteure unterschiedlicher Kontexte. Als Begriff ist ‚Innovation’ mehrfach kontextualisiert und das damit bezeichnete Phänomen mit unterschiedlichen Erwartungen und Ansprüchen verknüpft. Durch seine Mehrfachkontextualisierung fallen begriff und Bezeichnetes auseinander, es kommt zu einer unübersichtlichen Fülle von Realdefinitionen – mal soll Innovation ein Prozess, mal ein Produkt sein, mal wird der Begriff deskriptiv, mal präskriptiv verwendet. Aufgrund seiner insgesamt positiven Konnotation stellt sich der Begriff als ein vielfach anschlussfähiger, alltagstauglicher Symbolbegriff dar (Aderhold/John 2006): Er ist affirmativ, d.h. in seiner inhärenten Verbesserungsabsicht nahezu zustimmungspflichtig – aber nicht unmittelbar beweisbedürftig, er ist nicht zwingend reflexiv. Anders ausgedrückt ist ’Innovation’ ein Begriff mit hoher semantischer Unschärfe; ein wissenschaftlicher Substanzbegriff ist er nicht. Statt einer eindeutigen und akzeptierten Nominaldefinition existieren auch in der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung zahlreiche und überaus heterogene Realdefinitionen: Das, was als Innovation bezeichnet wird, scheint mit der Vielzahl der Autoren zu variieren (Meißner 1989: 21; Blättel-Mink 2006). Die Situation also, die Havelock bereits vor drei Jahrzehnten auf der Grundlage einer umfangreichen Sekundäranalyse von Innovationsdefinitionen konstatierte, hat sich bis heute nicht grundlegend verändert: Demnach ist „(d)as gesamte Bild des Innovationsbegriffs (…) uneinheitlich, vielschichtig und mehrdimensional“ (Havelock 1976: 115). Entsprechend dieser Vielfalt erhalten auch im Bildungsbereich ganz unterschiedliche Phänomene das Attribut: z.B. Lehr- und Lern-Technologien, organisatorische oder strukturelle Veränderungen im Bildungswesen oder in Bildungsorganisationen, Praktiken des Unterrichtens, Inhalte des Unterrichts oder auch ein Ensemble all dieser Formen (s. KMK 2001; de Haan/Jungk/Kutt u.a. 1997: 151).
I. Bormann, Zwischenräume der Veränderung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92709-1_3, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Diese Situation erschwert die theoriegeleitete Analyse von Innovation zwar (Gillwald 2000: 8). Gleichzeitig kann sie doch grundlegend als ein Indiz dafür angesehen werden, dass es sich bei dem mit dem Begriff bezeichneten Phänomen um ein reichhaltiges theoretisches und empirisches Betätigungsfeld handelt (Okruch 1999: 17). Vor dem Hintergrund der Fülle von Realdefinitionen, theoretischer Beschreibungen und Erklärungen von Innovation, und um die schillernde Oberfläche des Begriffs mit Tiefe zu versehen, widmet sich dieser Abschnitt der Begriffsarbeit. Im Folgenden werden einzelne Elemente von Innovationen dargestellt. Zwar erfolgt dies hier in einer chronologisch oder linear anmutenden Abfolge. Dies ist dem heuristischen Anspruch geschuldet, den komplexen Sachverhalt ‚Innovation’ zu ordnen, um ihn sprachlich darstellen und auf dieser Basis empirische Beobachtungen anleiten zu können. Die im Folgenden erörterten Elemente folgen also nicht zwingend sukzessive aufeinander – die Einteilung des Innovationsvorgangs in empirisch klar voneinander abgrenzbare Sequenzen, ihren Abfolgen und Inhalten suggerieren eine top-down-Linearität, die aufgrund ihrer Simplifizierung und der Unklarheit bzgl. ihrer Abfolge, den Übergängen und Inhalte umstritten ist (Meißner 1989: 17ff; Sabatier 1993; Krause 2004: 65). Auch schließen sich diese Elemente nicht gegenseitig aus. Vielmehr wird davon ausgegangen, dass Innovation ein rekursiver sozialer Prozess ist, der erst dann vollständig durchlaufen wurde, wenn eine Innovation nicht nur kommunikativ verbreitet wurde, sondern auch ihre Verankerung i.S. einer Aneignung stattgefunden hat (ausführlicher s. Abschnitt 2.2.1 und 2.4).
2.1 Womit alles beginnt, ... Eine Idee allein macht noch keine soziale Innovation aus. Sie bleibt so lange eine mentale Konstruktion, bis sie eine sprachlich-kommunikative und aktive Umsetzung erfährt. Über die Bewertung ihres prospektiven, potentiellen Nutzens tritt eine Innovation erst als solche hervor (Damanpour 1991: 562; Reinmann 2005; Hauschildt/Salomo 2007). Insbesondere organisations- und motivationspsychologische Studien untersuchen, welche individuellen Dispositionen und organisationalen bzw. strukturellen Rahmenbedingungen Innovationsbereitschaft und Transferaktivitäten in welcher Art begünstigen (West/Farr 1990; Hall/Hord 2001; Kirton 2003; Krause 2004f.; Klusemann 2003; Emmrich 2008). Sie unterstreichen, wie bedeutsam die Bewertung einer Neuerung ist: Je nachdem, wie veränderungsbedürftig und veränderbar eine Situation eingeschätzt wird, werden persönliche und soziale Ressourcen aktiviert und zielorientiert eingesetzt. Intrinsisch Motivierte nehmen bereits die Ausgangssituation, d.h. die Veränderungsfähigkeit sowie die zur Verfügung stehenden
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Ressourcen optimistischer wahr als extrinsisch Motivierte, die zur Aktivierung ihrer Volitionen Anreize benötigen. Begünstigt wird der positive Zusammenhang dieser Faktoren durch Unterstützungsangebote wie die Bereitstellung von Informationen zur Innovation oder die Gewährung von Handlungsautonomie bei der Realisierung von Innovationsprozessen. Stärker organisationssoziologisch ausgerichtete Arbeiten zeigen darüber hinaus Zusammenhänge zwischen der Art und Tiefe der Innovation und der Adaptivität einer Organisation auf: So zeigte Damanpour (1991) in einer umfangreichen Metaanalyse, dass komplex strukturierte Organisationen eher Innovationen initiieren als formalisierte und zentralisierte Organisationen. Letztere neigen dazu, Innovationen per Weisung zu implementieren. Außerdem wurde deutlich, dass eine Innovation umso weniger Chance auf Umsetzung hat, je radikaler und umfassender sie von den ‚Betroffenen’ wahrgenommen wird. Ergebnisse aus der erziehungswissenschaftlichen Innovationsforschung, die v.a. im Zusammenhang mit der Modellversuchsförderung aufgesetzt wurde, untermauern diese Befunde: Sie betonen die Aktivität i.S. einer Bewertungs- bzw. Einschätzungspraxis der Akteure, die mit einer Innovation ‚konfrontiert’ werden. Insgesamt besteht weitgehend Einigkeit darin, dass jeder Versuch der Übertragung einer Innovation von einem Versuchs- in das Regelfeld nicht als „Kopier-, sondern als ein Auswahl- und Konstruktionsprozess... und damit streng genommen als ein neuer Problemlösungsprozess“ (Euler/Sloane 1998: 319) zu verstehen ist. Neuheit „Lässt sich über das Neue im Allgemeinen, ...überhaupt etwas Vernünftiges sagen? Ist das ein theoriefähiger Gegenstand?“ (Ruhloff 1998: 411). Diese Skepsis ausdrückende Frage zerstreut der Bildungstheoretikers Ruhloff selbst: Er konstatiert, dass die Kategorie des Neuen seit jeher von theoretischem Interesse ist: „Es interessiert..., um eine naheliegende Analogie zur Verdeutlichung heranzuziehen, nicht der neue Hut, sondern dass neuerdings Hüte getragen werden, während es zuvor niemals welche gegeben hat“ (ebd.: 416). Eine Theorie, die Neuerungen in ihren Mittelpunkt stellt, muss dieses kategorial Neue mit bereits vorhandenen Bedeutungen verknüpfen, so dass eine Kontinuität aufrechterhalten bleibt. Andernfalls bleibt das Postulat des Neuen eine bloße Behauptung, die das bereits errungene theoretische Fundament ignoriert, auf dem die rhetorische und semantische Vermittlung des Neuen basiert (ebd.: 419f.). Auch wenn Innovationen oftmals pleonastisch als Neuheiten bezeichnet werden, scheinen die Begriffe sinnvoll in einen Bezug zueinander zu bringen zu sein: Die kontextspezifische Attribuierung qualifiziert eine Innovation erst zu einer solchen. Neuheit und Innovation stehen insofern in einem definierenden Verhältnis zueinander. Neuheiten evozieren eine wahrgenommene Abweichung vom Ge-
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wohnten und eröffnen Spielräume und Freiheiten, die zuvor nicht vorhanden waren. Neuheiten markieren eine möglicherweise überraschende Differenz zwischen Erinnertem und Beobachtetem und auch zwischen Vergangenem und Zukünftigem; sie stören gewohnte Abläufe und stellen Routinen in Frage (auch Aderhold/John 2006: 20; Briken 2006). Mit dem Neuen liegen per definitionem noch keine Erfahrungen vor: Neu ist, was überrascht oder überraschenderweise ‚Sinn macht’ (John 2005). Als neu wird etwas bezeichnet, das in einem zeitlichen, räumlichen oder sozialen Kontext außerhalb bisheriger Erfahrungen oder Erwartungen liegt, aber nur vor deren Hintergrund als solches erkannt und bewertet werden kann (Koselleck 1989: 358). Da die Erfahrungshintergründe und Erwartungshorizonte selbst sozial, zeitlich und räumlich variabel sind, sind auch Neuheiten keine objektiven Tatsachen, sondern vielmehr Produkte variabler, sprachlich, praktisch und auf der Basis von in Deutungsmustern repräsentiertem Wissen vorgenommener Zuschreibungen. Deutungsmuster können verstanden werden als ‚sedimentiertes’, oft implizites kollektives Wissen, über das Akteure aufgrund von Erfahrungen verfügen, das sich auf Alltagshandeln bezieht und das sie aufgrund einer gemeinsamen Sinn- und Lebenswelt miteinander teilen (Schütz/Luckmann 1979: 132f.). Gesellschaftlich lagert sich dieses Wissen über sprachlich-kommunikative Prozesse und habitualisierte Interaktionen in Institutionen ab, d.h. in symbolischen Ordnungen von Werten und Normen, auf die sich Akteure wiederum in ihrem Rollenhandeln, Wahrnehmen, Denken und Handeln implizit oder explizit berufen und die ihre Interaktionen regulieren (Berger/Luckmann 1995; s. auch Exkurs 1). Während symbolische Deutungsmuster zu verstehen sind als eine Form theoretischen Wissens über die Welt, als Objektivationen von Sinn, sind lebensweltliche Deutungsmuster erfahrungsbasierte, vor-theoretische und kollektive Repräsentationen von Sinn. Sie haben die Funktion, situativ Komplexität zu reduzieren, Wahrnehmungen und Zukunftsvorstellungen zu orientieren, intersubjektive Verständigung zu ermöglichen sowie über die Gewissheit ihrer intersubjektiven Gültigkeit ‚Gemeinschaft’ zu erzeugen. Deutungsmuster werden mobilisiert, wenn Handlungen oder Situationen ein Sinn verliehen wird. Im Zusammenhang mit Prozessen des Wandels unterliegen sie selbst einem Aushandlungsprozess, in dessen Zuge sie ihre Legitimität und Funktionalität unter Beweis stellen (Plaß/Schetsche 2001: 522ff.; Lüders/Meuser 1997: 73; auch: Berger/Luckmann 1995: 72, 98ff.; s. Abschnitt 1.3). Wie bereits verdeutlicht, ist ‚Innovation’ ein mehrdimensionaler Begriff, der gleichermaßen für die Bezeichnung von Voraussetzungen, Verläufen wie Ergebnissen verwendet wird. Um dieser scheinbaren Beliebigkeit Abhilfe zu schaffen, muss er als relativer Begriff bestimmt werden (Hauschildt/Salomo 2007) – nur im Bezug auf etwas anderes tritt die Substanz des Bezeichneten hervor: Innovationen sind bzw. werden erst vor dem Hintergrund der Einschätzung ihrer relativen Neu-
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heit zu Innovationen. Zuvor sind sie zufällig emergierende oder intentional geplante ‚Angebote’, die zum Gegenstand von Bewertungen werden. In einer symbolisch-interaktionistischen bzw. sozialkonstruktivistischen Perspektive sind diese Interpretationen selbst durch soziale und kuturelle Faktoren mitgeprägt, die als Deutungsmuster schon die Wahrnehmung strukturieren (Schütz 1974; Resnick 1993; Nickolaus/Schnurpel 2001: 17; Luckmann 2002: 202). ‘Neues’ wird demnach im Lichte früherer Erkenntnisse und Einsichten bewertet. Diese Deutungsmuster variieren mit dem sozialen, zeitlichen und räumlichen Kontexten und ermöglichen, strukturieren, aber beschränken auch die Wahrnehmung und Interpretation von Innovationen; sie sind die symbolischen Werkzeuge, deren Anwendung Innovationen gewissermaßen erst hervortreten lassen. Eine Neuigkeit ist also nicht objektiv gegeben und quasi ontologisch als solche fixiert, sondern Gegenstand durchaus selektiver, kontextvariabler Interpretationen. So ist durchaus denkbar, dass als ‚neu’ Dinge, Ideen oder Praktiken gelten können, die andernorts oder schon zu anderer Zeit existiert haben. Auch Reinmann (2005) betont die Kontextabhängigkeit und damit Relativität dessen, was „offiziell als Innovation gilt“ (ebd.: 55), denn „woran das Neuartige bemessen wird, ist abhängig von der Domäne und den darin herrschenden Regeln, Normen und Routinen“ (ebd.). Das Neue, so resümieren auch Beck, Bonß und Lau (2004), ist kein absolutes Kriterium, sondern müsse „nach dem Prinzip des ‚Sowohl-als-Auch’ gedacht werden... Es tritt ...nicht in ‚reiner’ Form auf, sondern in unterschiedlichen, vielfältigen Konfigurationen“ (ebd.: 32). Neuheit ist insofern ein relatives, zeit- und beobachterabhängiges Kriterium, an dem sich sachlich entscheidet, ob etwas als Innovation (an)erkannt wird oder nicht. Das führt aber auch dazu, dass „(j)ede Veränderung, die eine Neuerung für diejenigen darstellt, die in den Veränderungsprozess einbezogen sind“ (Havelock 1976: 21) als Innovation gilt: Demnach ist ein Produkt, eine Idee, eine Dienstleistung bereits dann als neu zu bezeichnen, wenn sie in dem fraglichen sozialen System oder Rezipienten erstmalig wahrgenommen wird oder bislang kein passendes Schema für den Umgang mit dem Artefakt vorliegt. Neuheit und Innovation sind in diesem Fall synonym verwendbare Kategorien (auch Reinmann 2005). Auch Schumpeter (1947) wendet ein leicht erfüllbares Minimalkriterium an, wenn er von Innovation spricht. Für ihn ist bereits die neuartige Kombination von bereits Bekanntem eine Innovation: Innovation ist ihm zufolge „the doing of new things or the doing of things that are already being done on a new way“ (ebd.: 151). In Bezug auf die Prozessierung von Innovationen vertritt Schumpeter mit seiner These der ‚schöpferischen Zerstörung’ einen Ansatz, der auf die revolutionäre Kraft von Innovationen und machtvoll agierende, durchsetzungsstarke Promotoren setzt. Während einige Autoren also davon ausgehen, dass Neuheiten und Innovationen identisch sind und beide Begriffe synonym verwenden, differenzieren andere
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Neuheiten als notwendige, nicht aber als hinreichende Bedingungen von Innovationen (Aderhold/John 2006; Denning/Dunham 2006). Sie machen so auf den Zuschreibungsvorgang aufmerksam, als dessen Resultat eine Innovation erst beobachtbar ist. Anders ausgedrückt kann Neues also nicht losgelöst von Wissen erfasst werden, sondern ist eingebettet in Wissen: Mit der wissensbasierten Wahrnehmung von etwas als ‚neu’ erst ist die Voraussetzung erfüllt, damit eine Innovation beobachtet werden kannNeuheiten und Innovationen sind in dieser Hinsicht aufeinander verwiesen und gerade nicht synonym zu behandeln. Innovationen gelten ihnen als relative Resultate kontextvariabler Zuschreibungen, die sich auf das Kriterium der Neuheit berufen. Dieser Vorstellung folgend werden Artefakte symbolischkommunikativ durch die Zuschreibung von graduell variierender Neuheit zu Innovationen ‚qualifiziert’: Diese Zuschreibung der Neuartigkeit erfolgt nicht voraussetzungslos, denn dabei werden explizit oder implizit sozialer Kommunikation immanente Kriterien, Begriffe, Wissen und Werte aufgerufen.
2.2 …was daraus wird, Innovation Im vorigen Abschnitt wurde herausgearbeitet, dass Innovationen Resultat von kontextabhängig variierenden Neuheitsbewertungen sind und somit nur relational bestimmt werden können. Damit ist zunächst etwas über die Bedingung ausgesagt, die erfüllt sein muss, um von Innovationen sprechen zu können. Klärungsbedürftig ist noch, wie der Innovationsbegriff selbst differenziert werden kann, wenn nicht eine auf manifeste Produkte bezogene Vorstellung von Innovationen verfolgt wird, sondern die Prozesse sozialer Innovationen im Mittelpunkt stehen. Grundsätzlich ist in der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung eine Konzentration auf materielle, mithin technologische Innovationen zu Ungunsten sozialer / institutioneller Innovationen (immaterielle Artefakte) zu beobachten. Gillwald (2000) merkt dazu an, dass die Forschung zu sozialen Innovationen vor erheblichen methodologischen Problemen steht, die der technologischen, produktbezogenen Innovationsforschung weitgehend fremd sind. So ist beispielsweise nach wie vor strittig, wie stark etwas in quantitativer Hinsicht verbreitet sein sollte, um im sozialen Bereich von einer Innovation sprechen zu können (ebd.: 6). Daher schlägt sie vor, soziale Innovationen als relative Phänomene zu begreifen und von sozialen Innovationen dann zu sprechen, wenn etwas gegenüber früheren Zeitpunkten anders ist, es sich relativ dauerhaft sozial verbreitet und stabilisiert, also nicht nur eine kurze Episode bleibt, und Auswirkungen i.S. der Einflussnahme auf weitere Entwicklungen zu beobachten sind (ebd.: 41).
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Die umfangreiche Literaturlage in der Innovationsforschung erlaubt eine Klassifikation a) linearer bzw. sequentieller Phasenmodelle sowie b) zirkulärer Vorstellungen von Innovationsprozessen. In empirischen Termini ausgedrückt, lassen sich die Zugriffe auf Innovationsprozesse folgendermaßen darstellen: Entweder gilt Innovation als unabhängige Variable – dann wird sie als Auslöser oder Gegenstand von Veränderungen aufgefasst, die im Zentrum von Evaluations- bzw. Wirkungsstudien stehen. Analytisch gesehen handelt es sich hierbei um die Untersuchung zielorientierter Handlungen oder Intentionen. Oder Innovation gilt als abhängige Variable – dann ist umgekehrt darunter ein intentional herbeigeführtes Handlungsergebnis zu verstehen, das als Innovation bezeichnet wird. Analytisch handelt es sich hierbei um die retrospektive Begründung von Anlässen der Veränderung bzw. die Überprüfung von Einflussstärken. Schließlich wird Innovation auch als ein komplexes Geschehen ohne klaren Anfangs- und Endpunkt, als ein rekursiver Prozess aufgefasst – dann wird darunter ein evolutionärer, kontinuierlicher Vorgang der Hervorbringung und Integration von Veränderungen verstanden. Empirisch wird dieser Prozess zugänglich anhand eines normativ ausgewählten zeitlichen, sachlichen und sozialen Ausschnitts aus einem andauernden Innovationsgeschehen. Wesentliche Unterschiede zwischen linearen und zirkulären Innovationsvorstellungen bestehen darin, dass in ersteren Ursachen und Effekte deutlich voneinander getrennt sind. Sie implizieren dadurch eine Asymmetrie i.d.S., dass ein Prozess, der andere Akteure als dessen Initiatoren tangiert, machtvoll von klar benennbaren Initiatoren in Gang gesetzt wird. Zudem tendieren sie trotz ihrer chronologischen Binnendifferenzierung von Innovationsprozessen dazu, Innovationen zu ontologisieren, indem diese als abhängige bzw. unabhängige Variable konzipiert wird. Innovation ist entweder das Resultat eines geplanten Prozesses oder aber Ausgangspunkt von erwünschten Veränderungen. Dadurch geriert sich Innovation zudem als ein Fall, der ‚gemanagt’ werden kann. Zirkuläre Innovationsvorstellungen stehen dagegen vor der Herausforderung, dass aufgrund des symbolisch-interaktionistischen Charakters des gesamten Prozesses die analytische Trennung von Entwicklern und Anwendern einer Innovation zunächst nicht distinkt scheint. Andererseits vermögen integrierende, zirkuläre Vorstellungen der als unstrittig ausgewiesenen Komplexität des Innovationsprozesses eher gerecht zu werden, indem sie soziale und kognitive Aspekte und deren Eigendynamik stärker einbeziehen. Lineare Innovationsvorstellungen: Innovation als Prozess oder als Ergebnis 1) Innovation als unabhängige Variable Ein prominentes Konzept, in dem Innovationen als unabhängige Variable gehandhabt werden, ist das Diffusionsmodell von Rogers (2003). Ihm zufolge ist eine
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Innovation „an idea, practice, or object that is perceived as new by an individual or other unit of adoption“ (ebd.: 12). Sein Hauptaugenmerk richtet Rogers auf die Prozesse der sozialen Verbreitung einer bereits vorhandenen – bei ihm entgegen seiner umfassenden Definition zumeist: technologischen – Innovation. Die Innovation ist als etwas Exogenes zu verstehen: Die Innovation initiiert in Rogers Modell eine Phase der individuellen Adoption, auf die eine Phase der sozialen Diffusion folgt (ausführlich s. Abschnitt 2.3.2). Innovation wird hier konzipiert als Auslöser (push) weiterer Veränderungen; sie haben den Charakter von geplanten Zäsuren oder Diskontinuitäten. Mitunter wird die gesamte Abfolge verschiedener Phasen als Innovation bezeichnet, so z.B. bei Giaquinta (1973, nach Holtappels 2005). Nach Giaquinta können Innovationen differenziert werden in die Phase der Initiation, der Implementation sowie der Institutionalisierung. Die verschiedenen Phasen können in einem sozialen System durchaus gleichzeitig auftreten und sich auch überlappen (Holtappels 2005: 4). 2) Innovation als abhängige Variable Als abhängige Variable wird Innovation in solchen Ansätzen konzipiert, die ‚das Soziale’ als den Ort deklarieren, aus dem Innovationen hervorgehen (Sauer 1999). So wird im Neoinstitutionalismus davon ausgegangen, dass Innovationen in einem organisationalen Feld entstehen, das aufgrund von neuen Anforderungen, Druck oder Zwang verunsichert ist. Ebenso wie zu Nachahmungen andernorts erfolgreicher Konzepte des Umgangs mit den wahrgenommenen Herausforderungen kann es aufgrund der herrschenden Unsicherheit auch zu Rekombinationen, ‚Verschnitten’ mit bestehenden Routinen und damit zu Innovationen kommen. Innovationen haben in dieser Variante eine problemlösende Funktion (s. ausführlicher Abschnitt 3.1; DiMaggio/Powell 1983; Krücken 2005: 74; Hasse/Krücken 2005;). Als abhängige Variable wird Innovation auch konzipiert, wenn das Augenmerk auf die Bedingungen (wie z.B. etwa Führungshandeln, Organisationsstrukturen) der Innovativität gelenkt wird. Innovation wird dann als ein Gegenstand betrachtet, der aufgrund von pull-Mechanismen zutage tritt, d.h. aufgrund von Nachfrage, Bedarfen oder besonderer Fähigkeiten und Bedingungen wird ein Prozess ausgelöst, aus dem Innovationen hervorgehen, die oftmals den Charakter von Verbesserungsinnovationen haben (Mensch 1972). Grundsätzlich werden lineare Vorstellungen von Innovationsprozessen angesichts des Zusammenspiels vielzähliger in Frage kommender Faktoren, die zudem auf unterschiedlichen gesellschaftlichen Ebenen angesiedelt sind, für unterkomplex gehalten. Zwar erscheint eine lineare Vorstellung von Innovationsprozessen als Aneinanderreihung klar benennbarer Phasen zunächst plausibel. Allerdings suggeriert sie deren logisch-lineare Abfolge, ohne aber Bedingungen der Übergänge
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zwischen den Phasen anzuzeigen (Sabatier 1988ff., ausführlicher Abschnitt 4.1.2). Zudem verleitet sie dazu, einzelne Phasen isoliert zu betrachten, dabei die sozialen Bedingungen ihres Auftretens zu vernachlässigen, die Bedingungsfaktoren für Innovationsprozesse zu stark zu reduzieren, aus ihrem sozialen und zeitlichen Kontext zu lösen und so zu simplifizierenden Kausalitätsbehauptungen zu gelangen. So „werden häufig kurzschrittige Ursache-Wirkungsketten betrachtet, die nur einzelne Elemente ... berücksichtigen“ (Wiechmann 2002: 99). Ein „multikausales Verständnis eines in unterschiedlichen Systemebenen eingebundenen Wandels“ (ebd.) bleibt damit unberücksichtigt. Wenngleich der Vorteil linearer Innovationsvorstellungen insbesondere darin liegt, dass empirisch klare Ursachen und Wirkungen, Sender und Empfänger benannt und Innovationsprozesse als exogen veranlasst bezeichnet werden können, wird dieses Paradigma seit einiger Zeit als „nützliche Fiktion“ (Braun-Thürmann 2005: 35) bezeichnet und allmählich von einem „komplex-iterativen Prozessverständnis“ (Vordank 2005: 33) abgelöst. Zirkuläre Innovationsvorstellungen: Innovation als soziales Geschehen Während lineare Vorstellungen chronologisch und sachlich aufeinander folgende Sequenzen beschreiben, in denen eine ontologisierte, feststehende Innovation entweder am Ende oder am Beginn eines komplexen Vorgangs steht, setzen sich allmählich Ansätze durch, die Innovationen als kommunikative, reflexive Prozesse und als soziale Praxis zu konzipieren, in denen statt von Adressaten einer Innovation von ko-konstruierenden Akteuren ausgegangen wird (Vordank 2005: 33; Kehrbaum 2009). Solche interaktiven Ansätze haben seit den 1980er Jahren an Bedeutung gewonnen (Cros 1999). Die in linearen Modellen klar benannten Ursachen für Innovationsprozesse entwickeln sich dieser Vorstellung zufolge erst – als das Soziale konstituierende und durch das Soziale konstituierte Elemente. Sie gehen davon aus, dass Veränderungen in sozialen Feldern immer wieder überraschende Wendungen nehmen (Dalin 1999: 19), die auf den Innovationsprozess einwirken, so dass er ggf. abgelenkt wird, scheitert oder zu anderen als den ursprünglich intendierten Ergebnissen führt. Sie berücksichtigen insofern endogene Einflüsse auf Innovationen. In diesem Sinne können sowohl Absichten, die z.B. im Rahmen von Reformen kommunikativ lanciert werden, als auch Erwartungen, Deutungsmuster, Vorwissen einbezogen werden. Einseitig gerichtete Vorstellungen von Innovation, wie sie in linearen Ansätzen zum Tragen kommen, werden zugunsten von kontextabhängigen, verlaufs- und ergebnisoffenen Konzeptionen des Innovationsprozesses abgelöst: Es „erfolgt keine Zuschreibung auf einzelne Akteure, sondern die Beobachtung des Wechselspiels (ist angesiedelt, d.Verf.) zwischen Akteuren und ihrem institutionellen Kontext“ (Kaudela-Baum/Scheiber/Holzer u.a. 2008: 14).
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Innovation kann so als „ein fortlaufender Prozess des Lernens, Suchens und Forschens“ (Blättel-Mink 2005: 90) aufgefasst werden, in dessen Verlauf immer neue Kombinationen bereits vorhandenen Wissens vorgenommen werden. Während im Zusammenhang mit linearen Innovationsmodellen sog. push- bzw. pull-Ansätze aufzufinden sind, werden diese Zug- bzw. Druckmechanismen in anderen Vorstellungen integriert. Sie folgen einem komplexen, oftmals evolutionären Innovationsverständnis, nach dem sowohl unmittelbare, dramatische oder revolutionäre Effekte als auch inkrementelle oder evolutionäre Prozesse demnach Innovationen hervorbringen können (Braun-Thürmann 2005: 31, 42; Reinmann 2005). Strukturen und Akteure bzw. deren Handlungen sind hier theoretisch gleichgewichtig, keiner der beiden Faktoren geht dem anderen voran oder determiniert den anderen (Vordank 2005). Vielmehr nehmen Innovationen durch ihre Eigenschaften, ihre Anschlussfähigkeit und deren Rezeption selbst auf ihre weitere Verbreitung und Entwicklung Einfluss: „Innovation ist also nicht ein einzelner Gegenstand oder Prozess, sondern eine komplexe Strukturänderung“ (Aderhold/John 2006: 21). Zirkulären Vorstellungen zufolge lassen sich Innovationen als iterative Vorgänge darstellen, die nicht gänzlich steuerbar sind und deren Ende nicht mit der schlichten Kommunikation einer Innovation von einem Sender zu vielen potentiellen Empfängern bzw. Adoptern erreicht ist. Innovationsprozesse werden in dieser Hinsicht als permanente Phänomene verstanden. Ursache und Wirkung sind insofern nicht klar isolierbar, liegen ggf. zeitlich und räumlich weit auseinander, d.h. wahrgenommene Veränderungen sind möglicherweise unintendierte Resultate von voneinander unabhängigen Einflussfaktoren. Innovationsprozesse zeigen so eine dynamische Komplexität. Bei allem Gesagten wird deutlich, dass Innovationen einen hybriden Charakter haben. Dennoch kann bei allen Unterschieden und Unklarheiten bei der begrifflichen Annäherung als kleinster gemeinsamer Nenner festgehalten werden, dass Innovationen eine symbolische Scharnierfunktion zwischen vergangenen und zukünftigen Zuständen einnehmen. Die im Folgenden erörterten zwei Charakteristika fassen die Komplexität des Bezeichneten zusammen, bevor Innovationen in analytischer Absicht vereinfachend in einzelne Elemente zerlegt und dargestellt werden: Innovationen gelten als paradoxe Artefakte mit einer ‚fluiden Identität’ (Braun-Thürmann 2005). Sie sind Mittler zwischen Gegenwart und Zukunft und lösen Routinen ab, sind aber nur vor deren Hintergrund erkennbar: Nur vor dem Hintergrund von Traditionen, stabilen Deutungsmustern etc. sind Innovationen i.S. semantischer Brüche, zeitlicher Markierungen und Unterbrechungen und sachlichen Signifikationen des Neuen überhaupt denkbar; die Überwindung genau dieser Routinen impliziert soziale Innovationen. Paradox sind Innovationen auch deshalb, weil sie neue Handlungsoptionen in der Ge-
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genwart eröffnen und gleichzeitig zukünftiges Handeln einschränken. Sie reduzieren Unsicherheit, rufen aber bezüglich der Wirkungen der Innovation eine neue Unsicherheit hervor (Simonis 1999; Ortmann 1999; de Vries 1998). Um sich zu verstetigen, bedürfen Innovationen eines sozialen und institutionellen Kontextes, der im vornherein nicht immer abschätzbar, möglicherweise gar nicht vorhanden ist und erst geschaffen werden muss (Sauer 1999: 14). Darüber hinaus sind die Folge- und Nebenwirkungen einer Innovation nicht immer vorhersagbar, d.h. die einer Innovation letztlich immanente Verbesserungsabsicht kann ggf. und subjektiv gesehen ausbleiben oder zu nichtintendierten Nebenfolgen führen (Beck 1986; Beck/Giddens/Lash 1996). Diese Paradoxie führt zu Komplexität und Dynamik: Im Rahmen von (geplanten) Innovationsprozessen können Diskrepanzen zwischen den angestrebten Zielen und den erwünschten Wirkungen auftreten. Situationen, in denen Innovationen entstehen oder wirksam werden, lassen sich durch vorübergehende oder dauerhafte Unsicherheit, Eigendynamik, Intransparenz sowie Instabilität charakterisieren (Auhagen 2003). Innovationen lösen auf dem Weg über die von ihnen induzierte Unsicherheit immer neue Innovationen aus. Komplexität ist ebenfalls im Zusammenspiel der Einflussfaktoren anzunehmen – auf der Makroebene etwa politische Konstellationen oder Subventionsbedingungen, auf der Mesoebene z.B. Führungsstile und auf der Mikroebene etwa variable Kompetenzen bzw. Wissensbestände. Nicht immer sind strukturelle Gegebenheiten die alleinige Ursache für zwar erwartete, aber nicht eintretende Handlungsergebnisse. Schließlich stellen Strukturen und Institutionen die von Akteuren erdachten ‚Spielregeln’ der Interaktion dar, die ihr Handeln beschränken oder unterstützen. Vielmehr wird die Frage evoziert, aufgrund welcher Mechanismen, Macht, Zuschreibungen oder Wissen Innovation betrieben, beschleunigt, verlangsamt oder gar verhindert werden.
2.3 …wie es sich verbreitet Als ‚Innovationen’ oder ‚innovativ’ werden nicht nur Dinge, Produkte und Prozesse bezeichnet. Der Begriff wird auch im Zusammenhang mit verschiedenen Varianten von Prozessen ihrer Verbreitung verwendet – es wird gesprochen von der Implementation von Innovationen, der Innovationsdiffusion oder der Dissemination von Innovationen. Ebenso wird unter ‚Innovation’ das rekursive Verhältnis von Voraussetzungen und Resultaten bezeichnet. Diese Variante fragt nach der Sinnstiftung und Wissensgenese im Zusammenhang mit dem Transfer von Innovationen und umfasst den komplexen, wissensbasierten Prozess der Verbreitung und
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Verankerung von Innovationen; sie ist in der Innovationsforschung bislang wenig vertreten (Bormann/Rürup 2009; aber: Heideloff 1998; Kehrbaum 2009). Im Folgenden werden, systematisiert nach abnehmenden Möglichkeiten, direkt auf die Verbreitung zuzugreifen, Implementation, Diffusion und Dissemination dargestellt. Diese drei Formen der Verbreitung von Innovation basieren, wie gezeigt wird, zum einen auf einem Innovationsverständnis, das ein mehr oder weniger implizit asymmetrisches Verhältnis zwischen den beteiligten Akteuren unterstellt und zum anderen auf eine lineare Innovationsvorstellung rekurriert. Implementation Von Implementationen wird dann gesprochen, wenn „eine Neuerung an einem angezielten Ort aufgenommen und in den dafür vorgesehenen Situationen nach und nach als Standardpraktik übernommen wird“ (Dahme/Grunow 1983: 119; Altrichter/Wiesinger 2005: 32; Nickolaus/Schnurpel 2001). Dies kann sich auf die operativ praktische Durchführung einer Innovation oder instrumentell auf die Inkraftsetzung einer neuen Verordnung beziehen. Die in Abschnitt 2.1 vorgenommene Charakterisierung einer Innovation als mentales Konstrukt löst sich in dieser Perspektive zugunsten einer Handlung auf, die mit der Intention verbunden ist, eine hohe soziale Reichweite einer zentral geplanten Veränderung zu erreichen. Solche zielgerichteten, intentionalen Handlungsformen, die andere Akteure in ihren Handlungen beeinflussen, werden als Steuerung bezeichnet (Mayntz 2004; Benz 2004; s. Abschnitt 1.3). Die Steuerungsform ‚Implementation’ korrespondiert mit Vorstellungen von zentral geplantem und administriertem Wandel (Leithwood/Montgomery 1982; Cros 1999). Zudem ist sie geprägt von einer linearen Vorstellung von Innovation. Um Aussagen über die Wirkungen von Steuerung treffen zu können, sind Programmentwicklung und Implementation als Einheit zu untersuchen; Implementationsforschung stellt insofern einen Beitrag zur Elaboration von Steuerungstheorien dar (Mayntz 1980: 15f.). In Bezug auf die Steuerungspraxis wurden in den Anfangsjahren der Implementationsforschung zwei wesentliche Strategien identifiziert: der fidelity approach und die mutual adaption (Fullan 1983; Hall/Loucks 1979; Berman 1980). Beim fidelity approach geht es darum, eine Innovation möglichst unverändert in ein Rezeptionsfeld zu übertragen, das sich strukturell und inhaltlich an die Erfordernisse der Innovation anzupassen hat (Fullan 1991: 38): Die Innovation wird als nicht flexibel konzipiert, und Steuerung hat die Aufgabe, das Rezeptionsfeld so in Bewegung zu versetzen, dass die Innovation darin wie vorgesehen aufgenommen wird. Diese Form der gesteuerten ‚Implementation’ klassifiziert Akteure zunächst in unterschiedliche Gruppen, die in einem asymmetrischen, hierarchischen Verhältnis zueinander stehen: die Gruppe der Akteure, die eine Innovation in einen
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von ihnen strukturell ‚anderen’ sozialen Kontext dauerhaft und mittels festgelegter Mittel einzubringen beabsichtigt und die Gruppe derjenigen Akteure, die mit einer Innovation konfrontiert und von der erwartet wird, dass sie diese regelhaft in ihre Praktiken, Normen, Wertsysteme etc. übernehmen. Mit der Konzentration auf eine möglichst bruchlose Implementation einer Innovation durch zweckrationales Handeln wird also eine durchsetzungsorientierte Sichtweise in den Vordergrund gerückt. Dies entspricht der von Dalin (1986) identifizierten Machtstrategie. Entsprechend wird die fidelity-Strategie dann für probat gehalten, wenn „a large amount of power behind the innovation“ (Weedall 2004: 56) vorhanden ist. Es handelt sich damit um eine Form der top-down-Strategie, d.h. um eine Form der hierarchischen Steuerung (Gräsel/Parchmann 2004: 198). Eine solche Strategie ist „more aligned with the normative and predictive roles of implementation“ (Schofield 2004: 288). Bei so gesteuerten Implementationen handelt es sich um einen Vorgang der machtvollen, gewissermaßen technokratischen Durchsetzung einer Innovation, und zwar im Rahmen eines linearen Innovationsverständnisses, das auf der Vorstellung eines asymmetrischen Akteursverhältnisses i.S. von Sendern und Empfängern bzw. Ausführenden einer intendierten Innovation beruht und das zudem die Innovation ontologisiert. Daran wird deutlich, dass Implementation als zentral administrierte Form der Steuerung mit dem Ziel der großflächigen Verbreitung von Innovationen immanent politische Implikationen hat (Tenorth 2003: 157; Mayntz 1980a, b). Doch die politische oder politisch legitimierte Durchsetzung einer Innovation ist keinesfalls zugleich ein Garant für ihren Erfolg: Obwohl mit top-down-gerichteten Steuerungsformen mitunter ein Wirkungsoptimisus zum Ausdruck kommt, bleibt „die Praxis der ‚Implementierung’ weit hinter unseren hochfliegenden Erwartungen zurück...“ (Dalin 1999: 15). Dass die Erwartung eines leichtgängigen Transfers einer Innovation von Entwicklungs- auf weitere Anwendungskontexte bzw. die „doctrine of transferability“ (House 1974, nach Porter 1980: 79) nicht gänzlich eingelöst werden kann, begründet Dahme (1983) damit, dass in westlichen Kulturen gemeinsam geteilte Überzeugungen, Werte und Normen und insgesamt liberale Maximen im Vordergrund stünden. Auf eine strikte Befolgung von Rechtsnormen könne man sich in diesen kulturellen Kontexten daher weniger verlassen (ebd.: 117; Blättel-Mink 2005; Hofstede 2001). Eine weitere wesentliche Ursache für uneingelöste Implementationshoffnungen sieht Oelkers (1995) in der über mehrere Hierarchiestufen hinweg sich vollziehenden Akkumulation von Fehlern: „Die Hierarchie wusste oben, was unten zu erfolgen hat, obwohl die Spitze schmal ist und so die Fehlerquelle nach unten hin zunehmen muss" (ebd.: 15). Was damals schlicht als Fehlerquelle bezeichnet wur-
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de, wird aus heutiger Sicht sozial- und akteurstheoretisch erklärt: Politisch intendierte Veränderungen werden von den Akteuren, die davon betroffen sind, weder einfach übernommen, noch ändern die Akteure ihre „eingeschliffenen Praktiken... nachhaltig und bezogen auf die Tiefenstruktur einer Innovation“ (Oelkers/Reusser 2008: 235). Vielmehr kann in Mehrebenensystemen von unterschiedlichen Interessen, Zwängen und Handlungsrationalitäten der Akteure ausgegangen werden, die durchaus miteinander konfligieren können (s. Abschnitt 1.3). Alles in allem bezeichnet der Terminus Implementation in seiner Variante des fidelity-approaches also eine Tätigkeit mit zwar klar umrissenen Intentionen bzgl. der zu erzielenden sozialen Implikationen. Er setzt auf die Differenz zwischen ‚Sendern’ einer Innovationsbotschaft auf der einen und deren ‚Empfängern’ auf der anderen Seite. Die Annahme einer linearen, störungsfreien kommunikativen Übertragung allerdings scheint unrealistisch, denn Abweichungen von den andernorts ersonnenen Intentionen sind eher die Regel als die Ausnahme. Diese Form der Steuerung sitzt insofern einem Kausalitätsmythos auf. Zwar entfalten die in vorgängigen mentalen Prozessen entstandenen Entwürfe oder ‚praktischen Utopien’ über ihre Umsetzung in sichtbare, rationalisierbare Handlungen ihre soziale Bedeutsamkeit (Luckmann 48ff.) – ohne dass das Ziel aber verbindlich und wirksam erreicht würde. Vielmehr kann es dazu kommen, dass die Steuerungsabsichten von den angesprochenen Akteuren aufgegriffen und formal integriert werden (‚talk’), ohne dass dem jedoch Aktivitäten (‚actions’) entsprechen (Brunsson 1989; Meyer/Rowan 1977; DiMaggio/Powell 1983; s. ausführlicher 3.1.2). Ein solches symbolisches Aufgreifen der Implementationserwartungen hält in zweifacher Hinsicht einen Innovationsmythos aufrecht (Krücken 2005: 73): zum einen den Kausalitätsmythos der steuernden Akteure, zum anderen den Innovativitätsmythos der von jenen adressierten Akteure. Diese durch „Heuchelei“ (Brunsson) gestärkten Mythen können weitreichende Folgen für das entsprechende Feld haben: Wird die Steuerungsabsicht als staatlicher Zwang wahrgenommen, kann es im Feld aufgrund gegenseitiger Beobachtung der Akteure zu Kopierprozessen vermeintlich guter Praktiken, Taktiken, Strategien etc. und schließlich zu Isomorphismen, d.h. 10 strukturellen Angleichungen kommen (DiMaggio/Powell 1983; Ortmann/Sydow/Türk 1997; für den Bildungsbereich: Schaefers 2002; Brüsemeister 2002; Amos 2008; Kuper/Thiel 2009). Abgesehen davon, dass die Annahme des Imitierens selbst einem Mythos unterliegt, kann in konzeptioneller Hinsicht davon aus10
Zu den Auswirkungen dieser durch Angleichungsprozesse einander ähnlich gewordenen Kontexte auf Innovation existieren in den verschiedenen Disziplinen unterschiedliche Positionen: Aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive (die auf individuelle Transferleistungen fokussiert) müsste dies den Transfer von Innovation erleichtern (s. Abschnitt 2.4.1), aus diffusionstheoretischer Perspektive erleichtert Homogenität zwar ebenfalls die Verbreitung einer Innovation, nicht aber ihr Zustandekommen (s. Abschnitt 2.3.2).
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gegangen werden, dass die so entstehende Homogenität eines Feldes zum Erliegen der Innovation bzw. Innovativität führen kann (Scherrer 2001: 3; ausführlicher s. Abschnitt 3.1.1). Die Implementation kann insofern als ein intentionaler Schritt, als ein „Willensakt“ (Luckmann1992: 75) im Innovationsprozess gelten – der allerdings auf die Motive, Ziele, Handlunge etc. anderer Akteure trifft und sich an ihnen brechen kann. So kann „es zu sogenannten Implementationsverschiebungen kommen, d.h. die neuen Konzepte verändern nicht die Personen und Strukturen, sondern diese ändern im Prozess der Implementation die Konzepte und damit auch die Ziele“ (Euler 2001: 60). Aufgrund von Implementationsschwierigkeiten, die z.B. in der abweichenden Interpretation der Zielsetzung einer Innovation oder in der Anpassung von andernorts geplanten Innovation an die jeweiligen lokalen Rahmenbedingungen begründet sind, wurden Steuerungsformen eingeführt, die stärker den lokalen Bedingungen der Wahrnehmung und Bewertung von Innovationen Rechnung tragen. Das Augenmerk wurde stärker auf die kognitiven Prozesse im Zusammenhang mit Innovationen gerichtet und danach gefragt, wie die Anliegen von Veränderungsvorhaben von den Adressaten verstanden und dauerhaft in der Breite des Bildungssystems verankert werden können (z.B. Hargreaves/Fink 2000; Spillane/Reiser/Reimer 2002; Coburn 2003; Schofield 2004). Schon zu Beginn der 1980er Jahre wurde darauf hingewiesen, dass eine „einseitige Regierungsperspektive überwunden werden müsse und (es einer, d. Verf.) ... Ergänzung durch eine Adressatenperspektive bedürfe“ (Mayntz 1980: 3; Dahme 1983). Eine empirische Implementationsforschung soll die Einseitigkeit einer auf Konformität bedachten Implementationsforschung überwinden. Dazu adressiert diese vorrangig die – oftmals politisch-administrativen – Implementationsakteure. Allerdings erlaubt eine solche „isolierte Betrachtung von Implementationsvorgängen … weder ein adäquates Kausalverständnis noch die adäquate Erfassung der Folgen und Folgeprobleme der beobachteten Vorgänge“ (Mayntz 1980: 15). Stattdessen sollen aus der bottom-up- bzw. Adressatenperspektive die strukturellen Besonderheiten in den angesprochenen Kontexten beobachten werden (Mayntz 2004). Diese Forderung zieht forschungspragmatische Erwägungen insofern nach sich, dass eine stärker an den Adressaten, ihrem Wissen, ihren Einstellungen, Überzeugungen und Praktiken orientierte Forschungshaltung sowie eine Perspektive, die sich auf das zur Implementation anstehende Innovationsobjekt eingenommen wird. Eingelöst wird diese Forderung im mutual adaption-Ansatz. Zwar wird hier ebenfalls einer linearen Innovationslogik gefolgt, die ein asymmetrisch konzipiertes Akteursverhältnis mit sich bringt. Allerdings wird hier von einer beidseitigen Beweglichkeit von Kontext und Innovation ausgegangen: Die Innovation unterliegt einer rezeptionsfeldspezifischen Bewertung, die im Implementationsprozess zu
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einer Anpassung der Innovation führt. Gleichzeitig löst die Wahrnehmung der Innovation durch die Akteure selbst Veränderungen im Feld aus, das sich adaptiv auf die Möglichkeit der Innovation einrichtet. Steuerung hat dementsprechend den Ausgleich beider Dynamiken zur Aufgabe (s. auch Abschnitt 1.3). Der mutualadaption-Ansatz geht insofern damit einher, was Dalin (1986) als re-reduktiven Strategie bezeichnet (ebd.: 59): Die von einer Innovation Betroffenen werden einbezogen, um ihr Wissen über die Implementationsbedingungen schon bei der Planung der Innovation zu berücksichtigen. Gräsel und Parchmann (2004) bezeichnen dies als symbiotische Implementationsstrategie und weisen darauf hin, dass hier Gefahr bestünde, dass lediglich graduelle Innovationen realisiert werden (ebd.: 210). Insofern ist die Strategie der mutual adaption aber bzgl. ihrer Effekte auch unwägbarer. Sie basiert auf der Anerkennung der Erfahrungen, des Wissens und Einstellungen der Akteure im Implementationsfeld sowie der Bedeutsamkeit von dessen lokalen Besonderheiten. Dieser Anspruch, zum Zwecke der Kontextualisierung der Implementationsforschung eine bottom-up-Perspektive einzunehmen, wird durch Coburns (2003, 2004) Untersuchungen zur Implementation von Reformen im Schulsektor unterstrichen: Sie zeigt, dass bei der Implementation von Reformen kontextualisierte Interpretationen und Sinngebungsprozesse von Akteuren in Netzwerken, die sich über verschiedene Ebenen des Bildungswesens erstrecken, in Gang gesetzt werden (auch Weick 1995). Dies unterstreicht die Bedeutsamkeit der kognitiven Dimension beim Implementationsvorgang – gegenüber der Frage nach den effektivsten und effizientesten Wegen, auf denen eine Innovation durchgesetzt werden soll sowie gegenüber den Strukturen, die dafür erforderlich sind. Sofern die kognitive Dimension einbezogen wird, sind qualitative Aussagen über das Tiefenmerkmal des „shift in ownership“ (Coburn 2003: 3) möglich – statt Zahlen anzubieten, die lediglich über die Zahl von Organisationen Auskunft geben, die an einem Reformprogramm beteiligt sind und keine oder wenig Aussagen über die Nachhaltigkeit einer Innovation und die Tiefe der durch sie erzeugten Veränderungen der Praktiken zulassen. Eine solche Perspektive, die sich stärker dem Faktor der Veränderung des Wissens in Innovationsprozessen widmet, nimmt auch Burch (2007) ein. Sie identifiziert drei Variablen als Quellen der Veränderung: die Ideologie im rezeptiven Feld, das lokale Wissen sowie spezifische Bedingungen wie z.B. personelle oder finanzielle Ressourcen (ebd.: 88ff.). Sie betont, dass die sachliche bzw. inhaltliche Dimension der Innovation ausschlaggebend ist für deren Implementation: Abhängig von Interessen, Wissen und Erfahrungen wird im jeweiligen Feld entschieden, inwiefern eine Innovation als anschlussfähig an Deutungsmuster, Praktiken oder Aufgaben interpretiert wird (ebd.: 89; Hameyer 2005; im Schulkontext Hughes/Keith 1980; mit besonderer Betonung der motivationalen Dimension Emmerich 2008; Kirton 2003; s. auch Abschnitt 4.1).
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Mit der auf dem Ansatz der mutual-adaption beruhenden Implementationssteuerung wird der Erkenntnis entsprochen, dass Innovationen weder kopiert noch direktiv verordnet werden können, sondern in kontextspezifischen, selektiven und aktiven Aneignungsprozessen nacherfunden und ko-konstruiert werden (Euler/ Sloane 1998: 319; Hameyer 1978: 33; Oelkers/Reusser 2008: 235; Coburn 2003; Maritzen 2008). Spillane, Reiser und Reimer (2002) fassen den Forschungsbedarf diesbezüglich wie folgt zusammen: „we must explore the mechanisms by which implementation agents understand policy and atttempt to connect understand with practice“ (ebd.: 391; Schofield 2004; s. Abschnitt 2.4.1 und 4.1). Während der fidelity-approach mit linearen Vorstellungen von Innovationen konform geht, entspricht die mutual adaption-Strategie einer die Kontextbedingungen berücksichtigenden zirkulären Vorstellung von inkrementellen, d.h. langsam voranschreitenden Innovationen. Die geplante Steuerung i.S. des Einsatzes von Technologie, die einen avisierten Erfolg einlösen, ist vor diesem Hintergrund erschwert. Implementation erscheint somit weniger als ein sachliches, politisches Problem der Organisation bzw. des Einsatzes zweckrationaler Mittel für die Umsetzung einer Innovation (Huck 1980). Vielmehr kann Implementation als ein Vorgang der versuchten, letztlich aber ergebnisoffenen Strukturierung von komplexen Interaktionen verstanden werden: Es wird zwar das Erreichen von Zielen intendiert, aber es kommt zu transintentionalen Effekten, die ein präzises Erreichen der Ziele unterlaufen. Im Rahmen von Implementationsprozessen wird dann zwar aus Sicht bildungsplanerischer Akteure eine Steuerungsabsicht realisiert, aus Sicht der potentiellen Adressaten oder Rezipienten dagegen wird mit diesem Prozess ein Interpretationsangebot unterbreitet, das auf die Passfähigkeit für die betreffenden Kontexte zu hinterfragen ist. Die Wirksamkeitsannahme im Zusammenhang mit Implementation, direkter Steuerung und Regulation ist dementsprechend empirisch wie theoretisch umstritten, und es wird anerkannt, dass nichtintendierte Nebeneffekte und -folgen bei der Implementation von Innovationen eher die Regel als die Ausnahme sind (e.g. Ruscoe/Miller 1991; Strittmatter 2001; Spillane/Reiser/Reimer 2002; Bauer 2005; Heinrich 2007). Stattdessen ist Implementation ein komplexer sozialer Prozess „des Lernens auf verschiedenen Ebenen ..., der zu (partiell) neuen Kompetenzen, Einstellungen, Praktiken und Identitäten der AkteurInnen, und neuen Strukturen ... führt“ (Altrichter/Wiesinger 2005: 35). In analytischer Hinsicht lassen sich dann nicht wie in linearen Innovationsmodellen die Phasen der Entwicklung, Übertragung und Anwendung unterscheiden, sondern es muss von rekursiven Prozessen ausgegangen werden.
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Diffusion Im Zusammenhang mit sozialen Veränderungsprozessen wird unter Diffusion die „räumliche Verbreitung neuer Produkte, Ideen oder Verfahrensweisen“ (Hameyer 2005: 8) verstanden. Diese Definition geht von einer prinzipiellen Aufnahmebereitschaft von Akteuren eines sozialen Kontexts aus, ohne allerdings systematisch nach den Bedingungen und Implikationen der dortigen Aufnahme der Innovation zu fragen. Dies kommt auch in der folgenden Definition von Diffusion zum Ausdruck: Nach Jäger (2005) ist Diffusion eine ungeplante Verbreitung einer Innovation ohne eine steuernde Instanz. Das wohl elaborierteste Modell von Diffusion hat Rogers (2003 [1962]) vorgelegt und dieses seit den späten 1960er Jahren mit zahlreichen empirischen Studien zu durchaus heterogenen Anwendungsbeispielen fundiert (Schreibmaschinentastatur11, Mobilfunk, Kühlschränke, Düngemittel, Medikamente...). Für die Erziehungswissenschaft zählte Rogers im Jahr 1994 in den USA insgesamt über 350 Publikationen, in denen eine Auseinandersetzung mit der Diffusion von Innovationen stattfindet. Nach seinen Berechnungen waren dies 9% aller Publikationen zur Thematik (ebd.: 61). Auch heute wird sein Modell in vielen erziehungswissenschaftlichen Studien rezipiert (exemplarisch Hameyer 1978; Jäger 2004; Kuper 2004; Nickolaus/Gräsel 2006; Rürup 2007). Obwohl es sich um ein „eher theoriearmes Diffusionskonzept“ (Vorddank 2005: 48) handelt, scheint das Diffusionsmodell von Rogers für sich beanspruchen zu können, in heuristischer Hinsicht state-of-the-art zu sein. In seinem Modell geht es Rogers zum einen um die grundlegende Frage, auf welchen Wegen eine Innovation kommunikativ verbreitet und zum anderen – in Verbindung damit – um die Klärung, aufgrund welcher Bedingungen und zu welchem Zeitpunkt eine Innovation übernommen wird. Die Übernahme einer Innovation konzipiert er als einen kommunikativen Akt, durch den Innovationen im fraglichen sozialen Kontext mit neuen Ideen ‚beschichtet’ werden. Zusammen mit Shoemaker definiert Rogers (1971) Diffusion wie folgt: „Diffusion is the process by which an innovation is communicated through certain channels over time among the members of a social system. It is a special type of communication, in that the messages are concerned with new ideas” (Rogers/Shoemaker 1971: 18; Rogers 2003: 18). Die Diffusion einer Innovation konzipiert Rogers (2003) als zwei aufeinander aufbauende Teilprozesse: Zunächst findet demnach in der Initiationsphase eine individuelle Adoption, d.h. eine unveränderte Annahme der Innovation statt. Nach der individuellen Adoption erfolgt deren soziale Diffusion; diese zweite Phase 11
Dieses Beispiel ist der zentrale Ausgangspunkt für die Entwicklung der Pfadabhängigkeitstheorie (s. Abschnitt 3.1.1).
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bezeichnet er als Implementationsphase.12 Individuelle und soziale Innovationsprozesse warden von Rogers als prinzipiell strukturidentisch behandelt, ohne dass dies jedoch näher fundiert wird: „The innovation-decision-process ist the process thhrough which an individual (or other decision-making unit) passes from first knowledge of an innovation, to forming an attitude toward the innovation, to a decision to adopt or reject, to implementation of the new idea, and to confirm of this decision“ (Rogers 2003: 170). Im Zusammenhang mit der Diffusion von Innovationen in Organisationen haben diese Phasen nach Rogers folgende Sub-Prozesse: In der Initiationsphase wird über agenda-setting und matching eine Aufmerksamkeit für ein Thema erzeugt, in der Implementationsphase eine Neudefinition der Innovation, es folgt eine evaluative Klärung und schließlich die Übernahme der Innovation in Routinen (ebd.: 421). Initiation der Diffusion durch individuelle Adoption Der Prozess der individuellen Adoption ist möglich in sog. ‚windows of opportunities’, d.h. Zeitfenstern günstiger Konstellationen sozialer, ökonomischer, politischer u.a. Variablen, die sich in ihrem Zusammenspiel als relevant für die Rezeption und Verbreitung von Innovationen erweisen. Die positive Entscheidung des Individuums zur Übernahme und Anwendung am Abschluss dieser Phase ist wesentlich beeinflusst durch die Eigenschaften der Innovation selbst (Rogers 2003: 229ff.): Innovationen, die so wahrgenommen werden, dass deren Anwendung zu einem Vorteil führen, die einfach zu verstehen sind und erprobt werden können, für nützlich gehalten werden und deren Nutzen beobachtbar ist sowie anschlussfähig an bestehende Überzeugungen, Praktiken und Technologien etc. sind, verbreiten sich nach Rogers schneller und leichter als solche, denen diese Eigenschaften nicht zugeschrieben werden. Die individuelle Adoption verläuft in fünf aufeinander folgenden Phasen (ebd.: 20ff.; 169ff.): Wissen – Überzeugung – Entscheidung – Übernahme / Um13 setzung – Bestätigung. Der Überzeugungsphase misst Rogers eine besondere Bedeutung bei: Hier wird aufgrund der subjektiv wahrgenommenen bzw. zugeschriebenen Eigenschaften einer Innovation darüber entschieden, ob der Innovation 12
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Fullan (1991) teilt diese Phasenheuristik, geht aber davon aus, dass nur eine lose Relation besteht: „The relationship between initiation and implementation is loosely coupled and interactive” (ebd.: 64). In früheren Publikationen differenzierte Rogers diese Phasen nach dem durch die RationalChoice-Theorie beeinflussten so genanten AIETA-Schema: awareness – interest – evaluation – trial – adoption (Rogers 1962; auch Bennis/Benne/Chin 1975; ähnlich das CBA-Modell [concern-based adoption model] mit seinen Phasen Unverbindlichkeit – Aufmerksamkeit – persönlicher Bezug – Durchführung – Konsequenzen – Zusammenarbeit; kritischer Rückblick von Hall/Hord 2001; Hall/Loucks 1979).
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in der individuellen Wahrnehmung weitere Aufmerksamkeit zuteil wird (auch Nickolaus/Schnurpel 2001: 15). Die Sequenz dieser Adoption wird auch dargestellt als Sinngebungsprozess (Seligman 2006; auch Weick 1995). Betont wird damit der individuelle Vorgang der rekursiv auf zukünftige Handlungen und Handlungsergebnisse bezogenen Interpretation einer Innovation. Rost und Teichert (2005) unterscheiden die Präadoptionsphase von der Postadoptionsphase. Die Präadoptionsphase ist dadurch gekennzeichnet, dass mit der Entscheidung bzgl. der Annahme einer Innovation auch eine Entscheidung für den Eintritt in ein „neues“ soziales Feld, verstanden als Anwendung bisher unbekannter sozialer Regeln, verbunden ist. Dies vollzieht sich zunächst als ein Lern- und später als ein Anpassungsprozess. Demgegenüber sind die Charakteristika der Postadoptionsphase die Integration des Neuen bzw. die Überführung in bestehende Regeln und Regularien. Erst in dieser Phase, der Anwendung der Innovation, liegen Erfahrungen mit der Nutzung vor, auf deren Grundlage fundierte Aussagen über die Nützlichkeit, Integrierbarkeit etc. der Innovation getroffen werden können. Damit die Innovation ihre soziale Wirkung entfalten kann, bedarf es ihrer aktiven Anwendung im adressierten oder tangierten sozialen Kontext. Im Zuge des dafür erforderlichen Bewertungsprozesses wird sie ggf. dem Kontext angepasst, d.h. es kommt zu einer kontextsensiblen Anpassung der ursprünglichen Innovation. Eine bruchlose Übertragungen der ursprünglich entwickelten Innovation findet also nicht statt, sondern es erfolgt eine Re-Invention (Rogers 2003: 180ff.). Soziale Diffusion einer Innovation durch deren Implementation Die individuelle Wahrnehmung der Innovationseigenschaften ist die Voraussetzung für die soziale Diffusion einer Innovation. Über die soziale Diffusion bestimmen neben der Innovation selbst auch die Kommunikationskanäle, der Faktor Zeit und das fragliche soziale System, wie im Folgenden im Einzelnen dargestellt wird. Wesentliches konzeptuelles Element des Diffusionsprozesses ist der Kanal, über den eine Innovation kommuniziert wird (ebd.: 204ff.). Die Kommunikation einer Innovation erfolgt entweder über face-to-face-Beziehungen oder ohne direkten Kontakt der Akteure untereinander über diverse Massenmedien ab. Massenmedien erreichen effektiv und effizient eine Vielzahl von Adoptern. Interpersonale Kommunikation findet nach Rogers v.a. in homophilen Akteursverbünden statt, d.h. dort, wo Akteure über ähnliche Merkmale und Eigenschaften und über ähnliches Wissen verfügen (ebd.: 305ff.). Vor dem Hintergrund seiner Studien zur Medienrezeption kommt Schenk (2007) zu dem Schluss, dass im Rahmen der medial unterstützten Verbreitung einer Innovation ein agenda-setting stattfindet, das Rogers zufolge die Initiations-
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phase der Diffusion einer Innovation charakterisiert. Interpersonale Kommunikation dagegen trägt dazu bei, Themen und Ereignisse zu bewerten und in Hinblick auf ihre Priorität zu ordnen. Wenngleich die themenbezogene interpersonale Kommunikation eine Variable „von erheblicher Tragweite“ (ebd.: 502, 366ff.) darstellt, fehlen derzeit noch Studien, die diese dem Einfluss der Massenmedien gegenüberstellen um herauszufinden, welche Kanäle welchen Einfluss auf eine Wahrnehmung und Integration neuer Themen haben. Der Faktor Zeit ist in Rogers’ Modell in verschiedener Hinsicht relevant: er spielt nicht nur in der o.g. Phasenheuristik eine Rolle, sondern ist auch zentral für Rogers’ Typologie von Adoptertypen. Angesichts des Zeitpunkts der Übernahme einer Innovation klassifiziert Rogers fünf verschiedene Innovationstypen (adopters), die er idealtypisch nach dem Grad ihrer Risiko- bzw. Anpassungsbereitschaft, sozialem Status und Respekt, den sie genießen, sowie ihrer Kreativität differenziert: Er unterscheidet Innovative (risikobereite, oft mit viel ökonomischem Kapital ausgestattete Personen, die zudem über vielfältigste soziale Kontakte verfügen), Vorreiter (respektierte Meinungsführer, experimentierfreudig, starke Position in ihrer Population), Angehörige des frühen Hauptfelds (gut vernetzte, abwartende Personen), Angehörige des späten Hauptfelds (Skeptiker) und Nachzügler (Traditionalisten; Rogers 2003: 282ff.; zu Persönlichkeitseigenschaften im Zusammenhang mit Innovationsprozessen auch Kirton 2003; Hall/Hord 2001; Emmrich 2008). Schließlich bettet Rogers den gesamten Diffusionsprozess in den sozialen Kontext ein: Das soziale System definiert er als ein „set of interrelated units that are engaged in joint problem solving to accomplish a common goal“ (ebd.: 23). Diese ‘interrelated units’ können nach Rogers sowohl individuelle als auch kollektive Akteure sein. Die Diffusion einer Innovation in diesem sozialen Gefüge hängt von den bestehenden Werten, der Größe und Struktur des Systems sowie von Führungspersönlichkeiten ab. Aufgrund des Homophilie-Prinzips findet die Diffusion einer Innovation bevorzugt zwischen solchen sozialen Einheiten statt, die einander in Deutungsmustern, Wissen, Konventionen, Zielen etc. recht ähnlich sind und daher nicht Gefahr laufen, bestehende Routinen in Frage stellen oder verändern zu müssen (auch Grossback/Nicholson-Crotty/Peterson 2004). Homophilie allerdings führt nicht nur zur Reduktion von Unsicherheit, wie sie im Zusammenhang mit Innovationen auftritt – sie kann die kommunikative Verbreitung einer Innovation auch aufhalten oder unterdrücken und zu Isomorphismus führen (Rogers 2003: 19; Leonard 2006: 90; s. Abschnitt 3.1.1). Denn in sozialen Kontexten, in denen die Akteure einander ähnlich und eng miteinander gekoppelt sind, verfügen diese tendenziell auch über ähnliches Wissen, nutzen ähnliche Informationsquellen und neigen zu einer inneren Geschlossenheit. In losen gekoppelten Verbünden haben es dagegen relativ ‚neue’ Ideen leichter, in die kommunikativen Beziehungen einge-
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speist zu werden, da ohnehin nur schwache Verbindungen in puncto gemeinsam geteiltem Wissen, Überzeugungen etc. zwischen den Akteuren bestehen. Trotz dessen umfänglicher Rezeption wurde und wird das Diffusionsmodell auch kritisiert. Rogers selbst referiert folgende vier Kritikpunkte an Erklärungsmodellen für Diffusion (ebd.: 105ff.): den pro-Innovations-Bias (s. Abschnitt 1.1), die Zuschreibung von Verantwortung für scheiternde Innovationen auf Individuen statt auf Systeme, das durch ex-post-Studien verursachte Ungenauigkeitsproblem aufgrund von fehlerhaften Erinnerungen sowie die Manifestierung von sozioökonomischen Differenzen durch Innovationen in homophilen sozialen Gruppen. Weitere Kritik bezieht sich auf die epidemiologisch anmutende Grundannahme – die Möglichkeit einer vollständigen Durchdringung eines sozialen Kontexts mit einer Innovation im Laufe der Zeit: Diese Annahme lässt die Möglichkeit von Innovationsverweigerung außer Acht (exemplarisch Jäger 2004; Krücken 2005). Insgesamt bringt Rogers mit dem Terminus Diffusion eine recht optimistische Vorstellung in Bezug auf die Verbreitung von Innovationen zum Ausdruck. Problematisch scheint auch das Konzept der Adoption: Die Annahme einer ungebrochenen individuellen Adoption kann auf der Grundlage neuerer Befunde der pädagogisch-psychologischen Forschung zum situierten Lernen (Greeno 1998; Mandl/Prenzel/Gräsel 1992; Mandl/Kopp/Dvorak 2004) sowie der Modellversuchsforschung (s. Abschnitt 1.1 und 1.2) als widerlegt gelten. Das Konzept der Adoption zielt grundsätzlich auf die Integration von etwas Neuem und beschreibt damit eine Qualität dieser Integration, die stärker auf eine Assimilation denn auf eine Akkommodation zielt (s. Abschnitt 4.2). Zudem wird die Innovation von Rogers als etwas Statisches konzipiert, das im Verlauf des Diffusionsprozesses erhalten bleibt. Diese Idee jedoch, nach der Innovationen in gleicher Form auf unterschiedliche Kontexte übertragen werden können, wird inzwischen deutlich angezweifelt. Stattdessen wird unter Anerkennung der Relevanz des Vorwissens für den Aneignungsprozess auf das kognitiv aufwendige Erfordernis der De- und Rekontextualisierung von Innovationen hingewiesen (de Vries 1998; Schenk 2007: 177; Oelkers/Reusser 2008: 235; Fend 2008a, b; s. Abschnitt 7.1.4). Dissemination Unter Dissemination wird im Feld von Bildung und Erziehung die „zielgerichtete, auf der Ebene des Gesamtsystems stattfindende sowie das Gesamtsystem betreffende, geplante und gesteuerte Maßnahme zur Verbreitung einer Innovation“ (Jäger 2004: 24; Prenzel 2000; Blumenfeld u.a. nach Gräsel/Parchmann 2004: 207) verstanden. Dissemination gilt als Voraussetzung für die spätere Übernahme und Verstetigung in solchen Kontexten, die ursprünglich nicht an der Entwicklung einer Innovation beteiligt waren (IPN 2004: 54; auch BLK 1999).
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Im Zusammenhang mit ‚Dissemination’ wird vor diesem Hintergrund auf das Erfordernis der aktiven Einbeziehung der Sichtweisen derer hingewiesen, die von einer Innovation betroffen sind bzw. angesprochen werden. Dementsprechend zielt die Tätigkeit des Disseminierens darauf ab, eine „verbreitete Kenntnis der Innovation bei den Praktikern“ (Stufflebeam 1972: 138) zu erzeugen. Hintergrund ist die Annahme, dass die Verstetigung, d.h. die langfristige und weitreichende räumliche Verbreitung nur dann gelingen kann, wenn die jeweiligen lokalen bzw. regionalen Rahmenbedingungen berücksichtigt werden, die auf die Einschätzung des Neuen einwirken (Hameyer 2005: 8). Ziel ist es, statt kurzer innovativer Episoden oder Einzelinnovationen vielmehr einen „Dauerprozess“ (Rolff 1984: 88) zu initiieren, indem dafür gesorgt wird, Erfahrungen so aufzubereiten, dass sie auf das Bildungssystem zurückwirken (ebd.). Ergebnisse innovativer Vorhaben übertragen sich dieser Annahme zufolge gerade nicht von selbst, sondern bedürfen einer aktiv-gestalterischen Unterstützung. In diesem Zusammenhang wird es für erforderlich gehalten, den Akteuren von Beginn des Modellprogramms an eine intensive Betreuung sowie eine organisierte Unterstützung für den Informations- und Erfahrungsaustausch sowie Lerngelegenheiten in einem Netzwerk mit anderen Beteiligten zu ermöglichen; diese werden als Bestandteil von Implementation betrachtet (BLK 1999; Nickolaus/Schnurpel 2001; Hameyer 2005). Zu diesen Unterstützungsangeboten gehören im Schulbereich etwa die verbindliche Verabschiedung von Arbeitsplänen und Zielvereinbarungen, die unter Einbeziehung unterschiedlichster Anspruchsgruppen wie z.B. Schulaufsicht, Schulleitung, Lehrern, Eltern und Schülern formuliert wurden, die Inanspruchnahme von externer Unterstützung, die Verwendung und Weiterentwicklung andernorts entwickelter und verwendeter Materialien, Verfahren sowie regelmäßige Rückmeldungen bzgl. der Wirkungen ihrer Aktivitäten (IPN 2004). Ebenfalls werden die Kommunikation von best-practice-Beispielen, modulare Bildungsangebote, Informationsdatenbanken sowie die Gewährung von Freiräumen für die Innovationstätigkeit für maßgebliche Organisationsformen gehalten, um die Implementation und Dissemination zu unterstützen (Brackhahn 2002: 20). Diese Ausführungen zur Dissemination als einer Variante der Verbreitung von Innovationen verdeutlichen einerseits die Nähe zwischen Implementation und Dissemination. Andererseits heben sie den Bedarf einer systematischen Berücksichtigung der Bedingungen einer situierten und kontextualisierten Informationsbeund -verarbeitung hervor. Dissemination, so kann zusammengefasst werden, ist ein kritischer Teilprozess von Innovation. Da davon ausgegangen wird, dass Innovationen zunächst von wenigen Einrichtungen entwickelt werden, deren Erfahrungen in der Disseminationsphase auf eine Zahl weiterer Einrichtungen ausgedehnt wird, scheint eine lineare Vorstellung des Innovationsprozesses vorzuliegen. Durch die Betonung der
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aktiven Wissensarbeit der in der zweiten Phase von Innovationsprogrammen adressierten Akteure wird zwar von einem strikten fidelity approach, wie er oben dargestellt wurde, abgerückt. Bei der Dissemination handelt es sich jedoch auch nicht um einen mutual adaption-Ansatz: Zwar werden die Bedingungen der Verbreitung von Innovationen von Beginn an systematisch erhoben. Gleichwohl bleiben Innovateure und Adopter bzw. Entwickler und Ausführende im Rahmen der gestuften Modellprogrammarbeit analytisch voneinander getrennt.
2.4 … und wie es verankert wird – ein ‚Perspektivenwechsel’ Wie bereits erwähnt, haben Forschungserfahrungen mit der Verbreitung und Anwendung von Modellversuchsergebnissen gezeigt, dass sich die Verbreitung von Innovationen weder von selbst einstellt noch ein einfacher Kopierprozess ist oder top-down gesteuert werden kann. Statt auf die Bedingungen einer effektiven und effizienten Durchsetzung geplanter Veränderungen und deren Wirkungen zu fokussieren, scheint im Rahmen von Innovationsprozessen insofern eine Konzentration auf die mit Innovationen verbundenen Wissensprozesse probat zu sein, durch die Innovationsprozesse als Vorgänge aktiver Wissensnutzung kenntlich gemacht werden (Wiechmann 2002; Altrichter/Wiesinger 2005; Leonard 2006). Wo sonst von einer Wirkungslosigkeit zentraler Steuerung ausgegangen wird, kann ein solcher Perspektivenwechsel Aufschluss über die Bedingungen und Prozesse der selektiven Aneignung einer Innovation geben. Im folgenden Abschnitt wird die in den weiter oben diskutierten theoretischen bzw. konzeptionellen Ansätzen der Verbreitung von Innovationen bislang unbefriedigend aufgeklärte Lücke zwischen der intendierten Implementation und ihrer aktiven Aneignung in den Mittelpunkt gerückt. Dieser Vorgang wird hier mit dem Terminus des Transfers belegt, aber aus der Perspektive der aktiv daran beteiligten Akteure betrachtet. Nicht die Wirkung einer Innovation bzw. deren Evaluation steht im Vordergrund, sondern die Frage nach den Bedingungen der Verankerung einer Innovation auf der Seite der adressierten Akteure. Während in den drei vorigen Abschnitten Steuerungsformen im Rahmen linearer Innovationsvorstellungen vornehmlich aus einer instrumentell orientierten Durchsetzungsperspektive dargestellt wurden, wird mit dem in diesem Abschnitt diskutierten Sachverhalt des Transfers ein Perspektivenwechsel vollzogen: Die Figur des Vermittelns/Aneignens wird zur Aneignung hin ‚gekippt’. Zwar ist Vermittlung per se auf Aneignung bezogen. Anders als aus einer instrumentellen Vermittlungs- und Instruktionsperspektive liegt das Hauptaugenmerk nun nicht primär auf den Intentionen jener Akteure, die eine Innovation kommunikativ initiieren (wollen), sondern konzentriert sich auf die Bedingungen
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und Formen der selektiven Wahrnehmung und aktiven Auseinandersetzung mit einem von ihnen wahrgenommenen ‚Angebot’, d.h. auf dem Interpretations- und Verstehensprozess bzw. dem Prozess der ‚aktiven Wissensnutzung’ (Wiechmann 2002: 97; Hameyer 2005). Im Zentrum stehen damit individuelle und kollektive Akteure und ihre Wissensgenerierungs- und Sinnstiftungsprozesse, durch die auf ihre Aneignungsvorgänge geschlossen werden kann (s. ausführlich Abschnitt 4.2). Transfer „A belief in transfer lies at the heart of our educational system“ (Bransford/Schwartz 1999: 61)
Im erziehungswissenschaftlichen Kontext wird unter Innovationstransfer die Übertragung von Ergebnissen, Wissen, Praktiken auf solche sozialen Einheiten, die nicht an deren Entwicklung beteiligt waren, verstanden (Brackhahn 2002: 21). Grundsätzlich wird Transfer auch in Verbindung gebracht mit der Bewältigung von Problemen. Demnach werden erprobte Problemlösungen, die in einem spezifischen institutionellen und personellen Kontext entwickelt wurden, in ähnlich strukturierte Bereiche übertragen – transferiert –, um dort vorhandene Probleme ebenfalls zu lösen (Euler 2001: 54; Nickolaus/Schnurpel 2001: 7; Mertineit/Nickolaus/ Schnurpel 2002). Grundsätzlich wird Transfer definiert „als die geplante und gesteuerte Übertragung von Problemlösungen aus einem Kontext A, bestehend aus den Merkmalen Inhalt, Struktur und Person in einen Kontext B, der sich in mindestens einem der drei Merkmale unterscheidet“ (Jäger 2004: 26). Während diese Definition dem Transfergeschehen gewissermaßen ‚äußerlich’ bleibt, wird in anderen Begriffsbestimmungen ebenso auf Verarbeitungsprozesse hingewiesen: Demnach beruht Transfer auf der Wahrnehmung, Interpretation und Anpassung des Vorhabens, so dass Transfer auch als eine „Neukonstruktion“ (Nickolaus/Schnurpel 2001: 17) aufgefasst wird, dessen Qualität sich differenzieren lässt in einfache Reproduktions- und komplexe Transformationsleistungen (Euler/Sloane 1998). In neueren Konzeptionen des Transfers lassen sich Ansätze finden, die nach wie vor einer durchsetzungsorientierten, linearen Steuerungslogik zu folgen scheinen: So gehen etwa Nickolaus, Abel und Ziegler (2006) davon aus, dass der Vorgang des Transfers einer Innovation folgende Phasen durchlaufen müsse, bevor von einer erfolgreichen Verankerung gesprochen werden könne: Aufbereitung – Auswahl transferrelevanter Ergebnisse und Wahrnehmung im Rezeptionsfeld – Situierung im Rezeptionsfeld – Implementation – Verankerung in Regeln und Regularien (ebd.: 40ff.). Entsprechend formulieren Nickolaus, Ziegler und Abel (2006) vor dem Hintergrund ihrer Modellversuchsforschung weiterreichende For-
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schungsfragen zum Transfergeschehen, die helfen sollen, die grundlegenden Bedingungsfaktoren bzw. deren Wechselwirkungen zu klären, auf die Transferaktivitäten und deren Qualität einwirken. Diese spezifizieren die oben benannten Phasen des Transfers und Fragen insbesondere nach den Bedingungen, wie diese Phasen erfolgreich durchlaufen werden können (ebd.: 65ff.).Die idealtypische Phasenlogik, die sich in der Realität als fließender Übergang darstellt (ebd.: 50), wird mit empirischer Evidenz aus der Modellprogrammforschung unterfüttert. Diese Phasenbetrachtung beschränkt sich im Wesentlichen auf die formalen und z.B. anhand von Dokumenten nachvollziehbaren Schritte einer politisch machbaren und legitimierten Einflussnahme auf den Transfer. Damit findet eine Konzentration auf die Zielgruppe ‚Entscheidungsträger’ und ihre äußerlich sichtbaren Handlungsresultate statt. Der Gegenhorizont einer solchen positiven Forschung, die verborgenen Aspekte der aktiven Aneignung, d.h. die Wahrnehmung und Interpretation der Innovationsaufforderung, ihre Evaluation und Anpassung an situative und kontextuelle Gegebenheiten, die Praktiken bei der Integration und Generierung von Wissen über die Innovation, blieben dagegen systematisch unberücksichtigt. Im Zusammenhang mit Innovationen im Bildungsbereich identifiziert Prenzel (2008) zwei Varianten von Transfer: So wird zum einen das Augenmerk auf Gegenstände und Kontexte des Transfers gerichtet – was wird wohin transferiert? Damit wird vorrangig der sachliche Gehalt der Innovation und die Bewegung, die sie nimmt, untersucht. Zum anderen kann das Verhältnis von Akteuren und Gegenständen betrachtet werden – wer transferiert was; damit wird eine akteursbezogene Sichtweise eingenommen. Durch Verknüpfung dieser analytisch differenzierten Teilfragen können unterschiedliche Verlaufsqualitäten von Transfer zu untersuchen (auch: Dolowitz/Marsh 1996; s. Kapitel 6). Mit diesen ersten knappen Klärungsansätzen wird deutlich, dass es sich bei Transfer um ein Konzept handelt, bei dessen Untersuchung unterschiedliche Dimensionen zu berücksichtigen sind: 1. Die sachliche Dimension – was ist Gegenstand des Transfers? 2. Die soziale Dimension – wer ist Akteur des Transfers? 3. Die zeitliche Dimension – wie verläuft Transfer? 4. Die räumliche Dimension – wo findet Transfer statt? 5. Die kognitive Dimension – worauf beruht Transfer? 6. Schließlich kann eine Ergebnisdimension von Transfer dargestellt werden. Zu den Dimensionen im Einzelnen. 1. In sachlicher Hinsicht werden zum einen kognitive Aspekte hervorgehoben, die zu transferieren sind: in pädagogisch-psychologischen ebenso wie in lingu-
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istischen, betriebs- oder sozialwissenschaftlichen Ansätzen werden so heterogene Konstrukte wie Wissen, Informationen, Kompetenzen oder auch Lernen selbst als ‚Gegenstände’ von Transferleistungen diskutiert; hier stehen die Kognitionen im Vordergrund, die zur Bewältigung neuer Sachlagen aktiviert oder erworben werden müssen (z.B. Skowronek 1984; Cormier/Hagman 1987; Gick/Holyoak 1987; Lemke 1995; Perkins/Salomon 1998; ReinmannRothmeier/Mandl 1998; Nickolaus 2002; Brauner 2006; Ozga/Jones 2006; Mayntz/Neidhardt/Weingart u.a. 2008; Kriegesmann/Kley/Schwering 2008; Konrad/Christophersen/Ellwart 2008). Zum anderen werden komplexe Artefakte als Transfergegenstand behandelt, z.B. wenn es um den „Transfer von Modellversuchen“ (Euler 2001) oder den „Transfer in Schulentwicklungsprojekten“ (Jäger 2004) geht, um Politiktransfer (Dolowitz/Marsh 1996; Holzinger/Jörgens/Knill 2007; Lütz 2007) oder Kulturtransfer (Mitterbauer/Scherke 2005). Dolowitz und Marsh (1996) systematisieren folgende sechs Transferobjekte: 1) Inhalte, Strukturen und Ziele, 2) Instrumente und Techniken, 3) Institutionen, 4) Ideologie, 5) Ideen, Einstellungen und Konzepte sowie 6) negative Erfahrungen. In der Regel kommt es zu einem gleichzeitigen Transfer mehrer dieser Transferobjekte; so beruht die Einführung von Instrumenten und Techniken auf Ideen, Einstellungen und Konzepten und geht einher mit Zielen oder der Schaffung von Strukturen, die zur Realisierung der Innovation erforderlich sind. Neben der Bandbreite des sachlichen Gehalts dessen, was transferiert wird wird hier deutlich, dass Transferleistungen nicht nur individuellen, sondern ebenso kollektiven Akteuren zugeschrieben werden. In sozialer Hinsicht wird zwischen verschiedenen Akteursgruppen unterschieden, die an einer Innovation beteiligt sind. Differenziert wird die schon im Rekurs auf Prenzel erwähnte Richtung, d.h. es wird unterschieden zwischen a) internem und externem Transfer und b) zwischen Interaktionsformen, d.h. zwischen direktem und indirektem Transfer. a) Während der interne Transfer sich innerhalb von klar umgrenzten Organisationen abspielt und auf die kommunikative Verbreitung innerhalb eines Entwicklungskontexts abzielt, geht es beim externen Transfer darum, auch andere kollektive Akteure zu erreichen, die zuvor noch nicht mit einer Innovation in Berührung gekommen waren (Euler 2001: 55). Hier geht es primär um die Frage der sozialen Verbreitung einer Innovation. b) Beim direkten Transfer erhalten Akteure eine Unterstützung bei der Nutzung einer Innovation; beim indirekten Transfer dagegen treten intermediäre Akteure oder Technologien auf, die zwischen Angeboten und Nachfragen unterschiedlicher Akteursgruppen vermitteln (Czarnitzki/ Licht/Rammer u.a. 2001). Hier geht es vorrangig um die begleitende Unterstützung der sozialen Verbreitung einer Innovation. Die Figur des di-
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Vorstellungen von Innovationen und ihren Elementen rekten bzw. indirekten Transfers lässt sich auch in der politikwissenschaftlichen Diffusionsforschung als ‚vermittelte’ oder ‚direkte’ Diffusion auffinden (Kern 1998): Während sich bei letzterer eine Innovation horizontal und ausgehend von einem Zentrum ausbreitet, ist erstere institutionalisiert und verläuft über vertikale Kommunikationsbeziehungen, z.B. über Gesetzgebung und deren Implementation. Dies führt anfänglich zu einer höheren kumulierten Anzahl von Nutzern einer Innovation (Tews 2002). D.h., dass sich die Geschwindigkeit des Adopterzuwachses auf die unterschiedliche Verfügbarkeit von Informationen über die Innovation zurückführen lässt (ebd.: 16) und damit als ein Effekt von Kommunikation zu verstehen ist (s. Abschnitt 2.3.2). In Bezug auf die zeitliche Dimension wird in der kognitionswissenschaftlichen Forschung unterschieden in nahen und weiten Transfer: Naher Transfer liegt vor, wenn etwas Erlerntes schon bald eingesetzt bzw. angewendet wird, weiter Transfer dann, wenn es erst verzögert Anwendung findet (Gick/Holyoak 1987). Zudem spielt die Dimension Zeit in Bezug auf die Transferleistung eine Rolle, da zuvor erworbenes Wissen, Vorwissen, in der Lage ist, die Transferleistung zu unterstützen, etwa weil bereits Lern- oder Problemlösungsstrategien vorhanden sind, die in einer neuen Situation angewendet werden können (ebd.: 34). Ähnlich argumentieren Bransford und Schwartz (1999): Sie schalten das Konzept des Transfers dem Konzept des Lernens vor und gehen davon aus, dass Transfer sich gerade nicht in der Fähigkeit ausdrücke, isolierte Probleme lösen zu können. Transfer ist vielmehr insofern in die Zeit ausgedehnt, als er zur Vorbereitung auf die Lösung künftiger Probleme verstanden wird: „the better prepared for future learning, the greater the transfer” (ebd.: 68). In dieser Optik, so Bransford und Schwartz, sei Transfer auch weitaus häufiger anzutreffen, als wenn angenommen wird, dass es sich bei Transfer um die direkte Applikation bekannter Lösungswege handele. Sie verknüpfen stattdessen Transfer und Lernen: Nicht das ‘knowing how’ oder ‘knowing that’, sondern das ‚knowing with’ – also Wissen, Einstellungen, Überzeugungen etc., die im Umgang mit einer Situation, einem Thema oder Anliegen mobilisiert werden – rücken damit als Bedingungen des Transfers in die Aufmerksamkeit. Der Aspekt der Transfer‚distanz’ wird wiederum aus kognitionswissenschaftlicher Perspektive in Bezug auf die räumliche Dimension des Transfers beschrieben: Hier wird auf die Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit der Kontexte hingewiesen, zwischen denen ein Transfer erfolgt (Euler/Sloane 1998; Subedi 2004; Gräsel/Parchmann 2004; Nickolaus/Gräsel 2006). Sind die Bedingungen des Lern- bzw. Entwicklungskontextes dem des Anwendungskontexts ähnlich, beeinflusst dies den Transfer positiv (Gick/Holyoak 1987) und er-
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leichtert zukünftiges Lernen (Cormier/Hagman 1987). Andere Autoren unterstreichen dagegen eine „overwhelming evidence of the paucity of transfer from one situation to another“ (Billett 1998b: 7). Transfer kann demnach nicht als einfache Übertragung von einer Situation in eine andere betrachtet werden, sondern Transfer wird vor diesem Hintergrund als eine immerfort stattfindende Interpretationsleistung diskutiert, die durch soziale und kulturelle Faktoren beeinflusst wird (ebd.; Billett 1998a). Jeglicher Transfer erzeugt insofern eine Innovation (Euler/Sloane 1998). Die räumliche Dimension ist also sowohl mit der zeitlichen als auch der Ergebnisdimension des Transfers insofern verwoben, als sie als Voraussetzung für die Qualität weiten Transfers behandelt wird. Außerdem wird hieran die Wissensbasiertheit von Transfer deutlich, als die beim Transfer zur Anwendung gelangenden situativen Deutungsmuster beeinflussen, wie eine Innovation wahrgenommen, mit Sinn ausgestattet wird und es dadurch zu einer Konstruktion von Wissen kommt. Die Frage der Distanz bzw. Ähnlichkeit spielt auch bei der kognitiven Dimension des Transfers eine Rolle: Hier wird unter nahem Transfer die Wiederholung bereits erlernter Lösungswege verstanden. In diesen Fällen ist üblicherweise von einer hohen Transferrate auszugehen (Reed 1993). Während ein Transfer von Lösungen von einem bekannten in einen als ähnlich strukturiert wahrgenommenen Kontext für leichter möglich gehalten wird, sind Akteure dagegen oft nicht ohne weiteres in der Lage, Fähigkeiten auf neue Situationen zu übertragen, d.h. einen weiten Transfer zu bewältigen. Weiter Transfer geht über eine schematische Repition hinaus und bezieht Kognitionen ein, indem z.B. Analogien zu Bekanntem gebildet werden (Subedi 2004: 593). Zur Verbesserung der Transferbedingungen wird in der kognitionswissenschaftlichen Lernforschung daher das ‚situierte Lernen’ diskutiert. Dabei wird davon ausgegangen, dass der Kontext, in dem ein für bedeutsam betrachtetes Thema be- und verarbeitet wird, eine wesentliche Rolle in Bezug auf das Lernen spielt, da in diesem sozial geteilte Deutungsmuster flottieren, mit denen Situationen wahrgenommen und interpretiert werden. Im Zentrum stehen damit nicht Kognitionen über soziale Phänomene – dies fällt in die Domäne kognitionspsychologischer Forschung –, sondern soziale Prozesse werden als Repräsentationen von kollektiven Kognitionen verstanden, insofern sie auf Konzepten beruhen, Schemata zur Anwendung kommen etc. (Resnick 1993: 2). Der Zweck sozialer Repräsentationen liegt darin, „etwas Unvertrautes … vertraut… zu machen“ (Moscovici, nach von Cranach 1995: 51; Moscovici 1995; Billett 1998b: 3; Flick 1995a; s. Abschnitt 4.2). Repräsentationen umfassen kollektiv geteiltes prozedurales und konzeptuelles Wissen, mit dem Akteure ihre soziale Wirklichkeit konstruieren. Aktualisiert werden Repräsentationen kommunikativ, mittels Sprache (Moser 2005). Spra-
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Vorstellungen von Innovationen und ihren Elementen che ist dabei ein Medium für prinzipiell unendlich viele Kombinationen, die Sinn erzeugen. Sprache kann insofern als wirklichkeitskonstituierende soziale Praxis verstanden werden (Gee/Green 1998; Denning 2005; Denning/Dunham 2006). Bezüglich der Beurteilung der Güte des Transfers (Ergebnisdimension) ist zunächst die Frage grundlegend, ob überhaupt ein Transfer stattgefunden hat, ergänzt durch die Frage, wie dieser sich auswirkt. Die erste Frage führt dazu, zwischen Null, negativem und positivem Transfer zu differenzieren (Cormier/ Hagman 1987): Von negativem Transfer wird im Zusammenhang mit individuellem Lernen in Weiterbildungskontexten dann gesprochen, wenn die z.B. neu erworbenen Kompetenzen beeinträchtigend wirken oder falsch angewendet werden; Null-Transfer ist dagegen eingetreten, wenn die in einem Lernkontext erworbenen Kompetenzen gar nicht angewendet werden, Lernen also keine Auswirkungen auf nachfolgendes Lernen oder Handeln hat. Unter positivem Transfer schließlich wird die Anwendung neuer Kompetenzen verstanden. Dabei wird dabei differenziert zwischen horizontalem Transfer und vertikalem Transfer: Die flexible Anwendung von Kompetenzen in verschiedenen Situationen wird als horizontaler Transfer bezeichnet, die Weiterentwicklung neu erworbener Kompetenzen als vertikaler Transfer (Mandl/Prenzel/Gräsel 1992). Wenngleich diese Differenzierungen v.a. im Rahmen der Kognitionsforschung erfolgen, lassen sich ähnlich konnotierte Unterscheidungen auch in der politikwissenschaftlichen Innovationsforschung auffinden, wenn dort von horizontaler und vertikaler Diffusion die Rede ist (s. Punkt 2). Die Ausführungen an dieser Stelle sind daher als Heuristik zu verstehen, die die Analyse und Interpretation von Innovationsprozessen in den Kapiteln 6 und 7 orientieren.
2.5 Zwischenresümee Wie die Ausführungen in den Abschnitten 1.2 sowie 2.1 bis 2.4 verdeutlicht haben, werden Innovationen weder einfach in einem avisierten Anwendungskontext übernommen, noch können sie bruchlos implementiert werden. Die Ausführungen zeigten vielmehr, dass ‚Innovation’ Gegenstand und Resultat von perspektivenabhängigen Zuschreibungen ist. Ein derart relativer Terminus ist damit prinzipiell explikationsbedürftig. Werden Innovationen also als Resultate von Attribuierungen verstanden, die auf akteursabhängigen Relevanzkriterien, Werten sowie auf kontextabhängigen Kriterien der strukturellen Pass- oder Anschlussfähigkeit basieren, wird deutlich, dass sie keinesfalls als ontologische Faktizitäten behandelt werden können. Sie müssen vielmehr als sozial situierte Austausch-, Veränderungs- und Entwicklungsprozesse betrachtet werden. Diese basieren nicht nur auf bereits vor-
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handenem sozialem Wissen, sondern aktivieren es auch und treiben umgekehrt Prozesse der Wissensgenerierung an. Vorstellungen eines simplen Transfers einer Innovation sind daher unangemessen. Stattdessen ist davon auszugehen, dass Innovationen unter der Bedingung der selektiven Adaption und Variation erfolgen. Insofern muss aus einer äußerlich bleibenden Perspektive, die vornehmlich Kommunikationswege, Nutzerzahlen oder Reformwege betrachtet, von der Wirkungslosigkeit zentral gesteuerter Implementationsversuche ausgegangen werden (s. Abschnitt 1.2; Wiechmann 2003): Unter der Prämisse aktiver, informationsverarbeitender kollektiver Akteure sind vielmehr – wie oben schon kurz dargestellt – komplexe Prozesse der De- und Rekontextualisierung und, damit verbunden, Vorgänge des Wissenstransfers und der Wissenstransformation anzunehmen (Oelkers/Reusser 2008: 236). Im Prozess der Kommunikation einer Innovation wird diese im potentiellen Anwendungskontext zu einer Aufforderung, die Information als neu zu erkennen, als relevant zu interpretieren und damit auf den je eigenen Handlungskontext zu übertragen. Dieser konstruktivistisch-interaktiven Sichtweise folgend, ist eine Innovation nicht nur Produkt; der Terminus kennzeichnet dann zugleich diesen Deutungs- und Sinngebungsvorgang. Lineare Vorstellungen von Innovationsprozessen, denen zufolge der Innovation eine Invention vorangeht, müssen dann rekursiven Vorstellungen von Innovationsprozessen weichen. In dieser Optik sind Innovationen ebenso wenig implementierbar wie sie von selbst diffundieren. Innovationen werden vor diesem Hintergrund im Folgenden als eine spezifische Form von Wissen bzw. als Wissenspassagen verstanden (s. Abschnitt 2.5.3). Diese Etikettierung soll zweierlei leisten: Zum einen soll der Terminus Innovation als ein ‚Bewegungsbegriff’ (Koselleck 1989) gekennzeichnet werden: Unter Bewegungsbegriffen sind inhaltlich unterbestimmte Termini zu verstehen, die diffus auf eine noch nicht eingelöste Zukunft verweisen und diese mit der Vergangenheit verschränken; Erfahrungen und Erwartungen sind also auf das Engste aufeinander verwiesen, bleiben aber different. Werden solche Bewegungsbegriffe angewandt, wird mit ihnen auch ein normativer, aber diffus bleibender Orientierungsgehalt transportiert (ebd.: 353), der das Handeln regulieren soll und somit auch als Aufforderung interpretiert werden kann. Zum anderen soll mit dieser Etikettierung auf die Wissensbasiertheit von Innovation hingewiesen werden. Dadurch wird die Aufgabe des Transfers zur entscheidenden Frage der Innovation. Wie wird das Wissen, das einer Innovation in Form von Zielen, Aufforderungen, Handlungsanweisungen etc. anhaftet, kommunikativ verbreitet, in welcher Richtung verläuft der Transfer, wer und was ist daran beteiligt und was wird wie angeeignet? Welches Wissen wird zur Interpretation einer Innovation aktiviert und welches Wissen wird als relevant anerkannt, wie erfolgt das? Wie in den vorangegangenen Abschnitten deutlich wurde, handelt es sich bei Innovationen um Phänomene, die sich einer
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vollständigen Steuerung entziehen, deren Ergebnisse ebenso wenig vollkommen vorhersehbar sind wie die Prozesse, die zu den Ergebnissen führen. Bei aller Heterogenität in Hinblick auf die Bedeutungen, mit denen der Innovationsbegriff belegt ist, herrscht im Rahmen der erziehungswissenschaftlichen Forschung zur Umsetzung von Innovationen weitgehend Einigkeit darüber, dass Innovationen aktiver Aneignungsprozesse auf Seiten der Akteure bedürfen, von denen die Realisierung der Innovation erwartet wird. Sofern sie im Rahmen von geplanten Veränderungsprozessen lanciert wurde, teilt die Kommunikation der Veränderungsabsicht Akteure in Entwickler einer Innovation auf der einen Seite und Anwender auf der anderen Seite und zerlegt damit den Innovationsprozess zeitlich in eine Entwicklungs- und eine Anwendungsphase. Angesichts der Prämisse der aktiven und selektiven Aneignung, durch die eine Innovation erst real wird, kann davon ausgegangen werden, dass es sich bei Innovationen um ko-konstruktive Prozesse handelt. Unter dieser Prämisse sind Innovationen dann auch weniger ausschließlich als Objekte oder Ergebnisse, sondern genauso als auf sozialen Praktiken aufruhende soziale Prozesse zu verstehen. Diese Sichtweise hat gleichermaßen in theoretischer wie in methodischer Hinsicht umfassende Implikationen. Bevor diese umfassende Sichtweise auf Innovationen als Prozessen und Ergebnissen skizziert wird und die daraus resultieren theoretischen wie methodischen Anforderungen aufgezeigt werden, erfolgt eine knappe Zusammenfassung der vorangegangenen Abschnitte dieses Kapitels, um auf dieser Basis in den Abschnitten 2.5.2 und 2.5.3 ein eigenes Innovationsverständnis vorzustellen. 2.5.1 Elemente von Innovation Neuheit. Eine Innovation wird erst dann zu einer Innovation, wenn das betreffliche Artefakt in einem spezifischen sozialen Kontext mit Bedeutung und Sinn aufgeladen wird, um so das weitere Denken, Wahrnehmen und Handeln zu beeinflussen. Die Neuheitsattribuierung eines Phänomens kann variieren, sie ist relativ – in zeitlicher, sachlicher, räumlicher und sozialer Hinsicht. So kann eine Innovation in Kontext A als bahnbrechene Innovation attribuiert werden, während sie in Kontext B aufgrund fehlenden Bedarfs oder weil sie bereits praktiziert wird, nicht wahrgenommen wird. Neuheit ist insofern ein Kriterium, an dem sich ‚Innovation’ entscheidet: Ohne die semantische Attribuierung von Neuheit existiert also keine Innovation. Diese Sinngebung erfolgt kommunikativ, symbolisch-vermittelt. Dabei werden Semantiken, d.h. sprachlich über soziale Einheiten, Raum und Zeit vermittelte Deutungsmuster aktiviert, die ihrerseits schon sedimentiertes Wissen in sich tragen und darüber die Wahrnehmung strukturieren. Umgekehrt ist aufgrund des Bedeutungsüberschusses, den Semantiken bereithalten (s. Abschnitt 3.3.1) ein Horizont möglicher zukünftigter Bedeutungen aufgespannt, aufgrund dessen Arte-
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fakte in der Wahrnehmung von Akteuren zu Innovationen werden. Neuheit ist somit das kommunikativ in Anschlag zu bringende Kriterium der Qualifizierung einer Beobachtung als Innovation. Innovation. Innovation ist so als Vorgang und Ergebnis von Sinnstiftung zu verstehen, in deren Zusammenhang Gegenwart eine soziale Ausdehnung erfährt (Heideloff 1998): Sinnstiftung ist sowohl ein sozialkonstitutiver Vorgang als auch ein Phänomen, das Kommunikation begleitet. Als Prozess der Sinnstiftung muss Innovation als ein komplexer Vorgang aufgefasst werden, in dem Neues in soziale Systeme eingebracht wird, aus ihnen hervorgeht und in sie zurückwirkt (Blättel-Mink 2006: 30; Sauer/Lang 1999; Braun-Thürmann 2005; Peine 2006; Aderhold/John 2006). Im Moment der Wahrnehmung und der einsetzenden Aneignung reifiziert sich das Phänomen vorübergehend als sinnhaft und Wissen transformierend. Mit dieser Rekursivität bzw. Dualität von Erzeugen und Erzeugnis (s. Abschnitt 3.1.3) ist nicht nur an eine theoretische Figur von Schütz (1974), sondern auch an Prozesse der Institutionalisierung (Berger/Luckmann 1995) erinnert: In der sozialkonstruktivistischen Tradition Bergers und Luckmanns sowie bei Schütz sedimentieren Erfahrungen zu Deutungsmustern, d.h. zu einem symbolischen Wissensvorrat, der über Sprache intersubjektiv zugänglich ist. Sprache ist eine Möglichkeit, Erfahrungen zu objektivieren und sozial verfügbar zu machen, d.h. in kommunikatives Wissen zu transformieren (Mannheim 1980). Sprachlich-kommunikativ ist es außerdem möglich, die unmittelbare Erfahrung über Raum und Zeit zu transzendieren, unterschiedliche Zonen der Alltagswelt zu überbrücken und zu einem sinnhaften Ganzen zu integrieren (Berger/Luckmann 1995: 41). Es wird noch zu präzisieren sein, inwiefern in Innovationskontexten die Anwendung von Sprache bzw. sprachliche Praktiken (Sprachspiele) zu Attribuierung oder Nicht-Attribuierung von Innovationen führen. Dies wirft Fragen auf, die sich auf die Abhängigkeit der Interpretation einer Innovation vom sozialen Kontext richten: Welches lokale Wissen, welche lokalen Deutungsmuster, Wissenssedimente bzw. Semantiken sind verfügbar und werden für die Attribuierung einer Innovation als bedeutsam aktiviert, und wie erfolgt das? Innovation ist ein Prozess, in dem mittels praktisch-kommunikativ transportierter Deutungsmuster ein in Abhängigkeit vom sozialen Wissensvorrat wahrgenommenes Phänomen mit Sinn ausgestattet wird, wodurch eine temporär gültige Ordnung des 14 Wissens stattfindet. Implementation. Implementation ist aus der soeben skizzierten Perspektive, nach der Innovation Prozess und Resultat von Sinnstiftung ist, ein Vorgang, der theoretisch haltbar ist als Form einer sprachlichen Entäußerung einer Innovations14
‚Wissensordnungen’ legen fest, wie Wissen sozial und sachlich bestimmt und arrangiert. Sie regeln unausgesprochen den Zugang und Umgang mit Wissen. Die symbolische Ordnung von Wissen kann gleichzeitig als ein Vorgang und als ein vorübergehendes Ergebnis sozialer Interaktionen verstanden werden (Huber 2007; Wehling 2006; s. Abschnitt 5.2).
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absicht bzw. -aufforderung, deren Einlösung aber angewiesen bleibt auf die beim ‚Gegenüber’ sich vollziehende Wahrnehmung und Interpretation. Wird jedoch, wie in Abschnitt 2.3.1 dargestellt, Implementation als absichtsvolle Aktivität verstanden, bei der Wissen über geeignete Wege, Adressaten, Sprache etc. eingesetzt wird, um einer Innovation zu ihrem sozialen Durchbruch zu verhelfen, kann Implementation als versuchte Sozialtechnologie bzw. als eine zumeist top-downgerichtete Steuerung entlarvt werden. In Anlehnung an Soeffner (1989) kann Implementation als ein Versuch eine erwünschte Wirklichkeit zu erzeugen beschrieben werden, bei dem „das in Zukunft erwartete Ergebnis … die Aktionen der Gegenwart“ (ebd.: 72) steuert. Mit Scheler (1947) kann dies als ‚halbiertes Wissen’ charakterisiert werden, das eingesetzt wird, um die äußeren Bedingungen von Veränderung zu beherrschen. Unter Anerkennung des lokalen Wissens, auf das die sprachlich ‚implementierte’ vorübergehend objektivierte Innovation trifft, muss dies allerdings wirkungslos bleiben, da der Prozess der Ko-Konstruktion durch Akteure im potentiellen Anwendungskontext ignoriert wird. Allenfalls kann Implementation als Kontextsteuerung gelten (s. Abschnitt 1, 3.2.1), mit der auf die lokalen Sinnstiftungsprozesse eingewirkt wird. Rückt aber statt des Interesses an der Auswahl und dem Einsatz von Steuerungsinstrumenten mehr die Übernahme einer Innovation ins Zentrum der Aufmerksamkeit, liegt der Fokus quasi außerhalb der Instanz, die die Innovation initiiert hat und innerhalb der Instanz, die die Innovation auf der Basis von in Deutungsmustern abgelegtem Vorwissen sinnhaft verarbeitet. Unterschieden wird hierbei noch zwischen einem Entwicklungs- und einem Anwendungskontext. Implementation ist als der auf asymmetrisch zueinander positionierten Akteuren beruhende Versuch der Beeinflussung sozialer Wirklichkeiten durch Kontextgestaltung zu verstehen. Die analytische Perspektive auf Implementation bleibt einer Innovation insofern äußerlich, als sie die selektiven und aktiven Aneignungsvorgänge außer Acht lässt und sich stattdessen auf die kommunikative Übermittlung von Innovationen konzentriert. Diffusion. Auch die Perspektive auf Diffusionen lässt die internen Prozesse der sinnhaften Informationsverarbeitung der mit einer Innovation konfrontierten Akteure noch weitgehend außer Acht. Sie betont stattdessen die Bedingungen einer quantitativen Verbreitung einer Innovation in einem sozialen Feld, ohne dabei jedoch eingehender nach der Qualität der Verarbeitung oder den Prozeduren selbst einzugehen. Hier wird der Vorgang der Diffusion daher neutral als ein Prozess verstanden, über den ein Angebot zur Sinnstiftung sozial verbreitet wird und insofern eine Aufforderung zur Sinnstiftung in sich trägt. Diffusion ist der kommunikative Prozess, der die Möglichkeit der Wahrnehmung und anschließenden Interpretation einer Innovation erlaubt; Diffusion kann insofern als ein Teilelement der Tätigkeit des Innovierens begriffen werden.
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Dissemination. Das Konzept der Dissemation betont das Wissen, das im Rahmen der Verbreitung einer Innovation qua Implementation eine mediierende Funktion einnimmt. Dissemination kann verstanden werden als implementationsbegleitendes Unterstützungsangebot mit dem Ziel, Erwartungen bzgl. des zukünftig Geltenden zu verändern. Dabei kommt ein Wissensgefälle zwischen den Entwicklern bzw. Implementatoren einer Innovation und den Akteuren, die für ihre Anwendung vorgesehen sind, zum Ausdruck. Während Dissemination so als Beiwerk der Implementation auf der Seite des ‚halbierten’ Wissens angesiedelt ist, wird mit dem Transfer der Fokus auf die Seite des ‚vervollständigenden’ Wissens gerichtet. Dissemination zielt darauf ab, die Wahrnehmungs- und Interpretationsvorgänge zu strukturieren; sie ist eine Variante der Tätigkeit des Innovierens durch Implementation. Transfer. Transfer kennzeichnet neutral die Übertragung von etwas in einen neuen Kontext, der Begriff markiert einen Positionswechsel der Innovation. Coburn (2003) beschreibt dies als einen Wechsel der ‚ownership’. Damit ist die Übernahme einer Innovation in das Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsrepertoire von Akteuren gemeint, die kommunikativ mit einer Innovation ‚konfrontiert’ werden. Wie bereits herausgearbeitet wurde, können Innovationen – verstanden als Vorgang und Ergebnis von Sinnstiftung – nicht losgelöst vom sozialen Kontext, dessen Wissen und Regeln platziert und ebenso wenig einfach ‚übernommen’ werden, sondern sind Resultat eines aktiven und selektiven Aneignungs- und KoKonstruktionsprozesses. In der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung besteht weitgehend Einigkeit darin, dass von Innovationen erst dann die Rede ist, wenn eine neue Idee zu einem Produkt, einer Dienstleistung oder anderen Aktivität wurde, d.h. wenn eine Idee, ein mentales Konstrukt sich durch Formen der direkten oder indirekten, ein- oder zweiseitigen Kommunikation manifestiert hat und so einer sozialen Bewertung zugänglich wird. Innovationen werden daher zum einen als Ergebnisse sozialer Urteile verstanden, die erst ex post, d.h. nach erfolgter Anwendung einer Idee, getroffen werden können (Auhagen 2003; Hauschildt/ Salomo 2007; Aderhold 2005: 5; Reinmann 2005: 53). Sie werden zum anderen als soziale Prozesse verstanden, in denen Akteure, über soziale Praktiken vermittelt, den Sinn einer Innovation aushandeln und damit neues soziales Wissen generieren. Dabei geht es um Praktiken, die nicht per se intentional sind, aber dennoch eine soziale Bedeutung haben. Diese Praktiken der sprachlichen Übermittlung sowie der Sinngebung, so viel soll an dieser Stelle vorerst genügen, ergänzen den weiter oben genannten Hinweis auf Sprache als Transmissionsriemen für die Prozessierung von Innovationen. Sie geben Aufschluss über die kontextspezifischen Implikationen einer Innovation (s. Abschnitt 4.2, 4.3). Transfer ist die selektive Wahrnehmung und Interpretation einer Innovation, wodurch diese mit Sinn ausgestattet und dadurch Wissen erzeugt wird. Wissen selbst erfährt dadurch eine Transforma-
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tion, ermöglicht neuartige Wahrnehmungen und ‚andere’ Handlungen. Analytisch gesehen, rücken mit dem Transfer differenzierende Vorgänge der Aneignung und Integration in den Vordergrund. Insofern ‚vervollständigt’ die Untersuchung von Transfer die Perspektive auf die Beobachtung des Verstehens von Innovationen, während die Untersuchung der Teilprozesse Implementation, Diffusion oder Dissemination der Innovation äußerlich bleibt und diese quasi ‚halbiert’ auf den Prozess ihrer kommunikativen Übermittlung. Der kategorial gegliederte Überblick über Elemente von Innovationen zeigt, dass der Begriff oszilliert zwischen der Bezeichung von etwas Statischem bzw. von etwas Bewegtem, zwischen Handeln und Strukturen, zwischen Vergangenheit und Zukunft. Innovation ist nicht nur ein Ding, das Ergebnis eines Prozesses oder ein Produkt. Auch der Prozess der Hervorbringung von Innovationen – das Innovieren selbst – kann als elementarer Bestandteil von Innovation aufgefasst werden. Insgesamt können Innovationen als komplexe, empirisch schwer fassbare Prozesse gelten, deren Resultate nicht im Vorhinein bestimmbar sind. Damit wird offensichtlich, dass die Annahme linearer, sequentieller, gleichsam geordnet stattfindender Innovationsprozesse theoretisch nicht eindeutig fundiert werden kann, sondern auch die kontingenten sozialen Mikrologiken des Wahrnehmens, Verstehens und Interpretierens berücksichtigt werden müssen, aufgrund derer Attribuierungen stattfinden und Innovationen schließlich hervortreten. 2.5.2
Innovation als Bewegungsbegriff und ihr sozialer Charakter als ‚Sprachspiel’ „Policy messages are not inert, static ideas, that are transmitted unaltered into local actor’s minds to be accepted, rejected or modified to fit local conditions. Rather, the agents must first notice, then frame, interpret and construct meaning for policy messages” (Spillane/Reiser/Reimer 2002: 392)
Wie in den Abschnitten 2.1 bis 2.4 deutlich wurde, handelt es sich bei den zentralen Begriffen dieser Arbeit wie schon weiter oben angedeutet um ‚Bewegungsbegriffe’ (Koselleck 1989). Solche Begriffe sind in Beschreibungen von Phänomenen in heutigen Gegenwartsdiagnosen anzutreffen, in denen das Soziale als hybride, fluide, flexibel, optional charakterisiert wird; sie bezeichnen multiple Wirklichkeitskonstruktionen, die auf der Permeabilität von (Sinn)Grenzen, der Unstetigkeit sozialer (Selbst)Zuordnung beruhen, der allgemeinen Zugänglichkeit von Wissen sowie der Neigung, Teilhabe an Wissen zu inszenieren (Gebhardt/Hitzler/Schnettler 2006). Solche Bewegungsbegriffe sind, wie weiter oben ausgeführt, grundsätzlich inhaltlich unterbestimmt in Hinblick auf das Verhältnis von Beg-
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riff/Bezeichnung und Begriffenem/Bezeichnetem. Dies liegt an der Begrenztheit der sprachlichen Darstellung von Ereignissen und den daraus gewonnenen Erfahrungen: So existieren Grenzen dessen, was überhaupt reflexiv zugänglich ist und als Erfahrung sprachlich weitergegeben werden kann (Koselleck 1989: 300; Polanyi 1985; Luckmann 2000). Die Unterbestimmtheit solcher Bewegungsbegriffe regt so die Reflexion über den Gehalt des Begriffs an. Aufgrund ihres Bedeutungsüberschusses bündeln sie Erwartungen und treiben damit mittelbar Veränderungen voran – und entziehen sich gleichzeitig ihrer eindeutigen Erfassung, lassen also systematisch einen ‚Zwischenraum’ offen zwischen Begriff und Begriffenem, Erinnerung und Erfahrung, Vergangenheit und Zukunft. Nichtsdestotrotz kann ein bewegtes Geschehen nur „im Medium der Sprache erkennbar gemacht werden“ (ebd.: 301). Diesen Schwierigkeiten zum Trotz haben Bewegungsbegriffe eine pragmatische Dimension. Mit ihrer zeitlichen Binnenstruktur stiften sie insofern eine Beziehung zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, als zu reflektieren ist, ob sie den „gemeinten Phänomenen entsprechen, ob sie die umschriebenen Phänomene erst provozieren sollen, oder ob sie auf schon vorgegebene Phänomene ... reagiert haben“ (ebd.: 344). Das bedeutet, dass solche Bewegungsbegriffe zu Steuerungsinstrumenten werden können, wenn sie zur Legitimation oder Initiierung von (politischen) Handlungen verwendet werden. In Bezug auf Innovationen verweisen diese Überlegungen auf zweierlei: einerseits auf die latente Ungenauigkeit bzw. Unvollständigkeit einer sprachlich vollzogenen Zuschreibung von Bedeutung zu Beobachtetem, andererseits auf die Möglichkeit von Sprachspielen im Horizont der in den Begriffen enthaltenen unerfüllten Sinnangebote – Innovationen können dann aufgefasst werden als Sprachspiele (Denning/Dunham 2006). Sprachspiele folgen Regeln, und umgekehrt existiert ohne Regeln kein Spiel (Lyotard 1986). Jede Aussage, mit der ein Sinnangebot, eine Aufforderung transportiert wird, hat den Charakter eines Spielzugs: sie führt zu einer Positionierung von Akteuren, ohne dass die Teilnahme am Spiel kämpferischen Charakter haben muss (ebd.: 40). Sprache hat somit grundsätzlich eine simultane Doppelstruktur: sie birgt die Möglichkeit, gleichzeitig auf einer propositionalen und einer performativen Ebene Wissen zu transportieren. Auf der propositionalen Ebene kann sprachlich eine Information übermittelt werden, die zugleich performativ einen Aufforderungscharakter in sich trägt, über die Rollenzuweisungen, Positionierungen erfolgen. Zudem weist sie eine Dualität auf: sie bietet aufgrund ihrer Geordnet- und Regelhaftigkeit Struktur an und zugleich wird sie in der Handlung des bedeutungsvollen, sinngebenden Sprechakts reproduziert (s. Abschnitt 3.3.). Bezogen auf Innovationen bedeuten diese Überlegungen 1) das Erfordernis der theoretischen Kontextualisierung des sachlichen und sozialen Gehalts von Innovationen sowie ihrer räumlichen und zeitlichen Prozessierung; sie verweisen
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2) auf die Bedeutung und systematische Berücksichtigung sprachlicher Praktiken bei der Analyse von Innovationen. 1. Die inhaltliche Unterbestimmtheit bzw. Diffusität des Innovationsbegriffs wird dadurch deutlich, dass bei der Verwendung des Terminus’ leicht aus dem Blick gerät, ob die sachliche Substanz der Innovation, der Prozess der Innovation oder aber ihr sozialer Effekt betrachtet wird – m.a.W., ob Innovation als eine unabhängige, intervenierende oder abhängige Variable konzipiert wird. Steht der soziale Effekt von Innovationen im Mittelpunkt, verflüchtigt sich in der Darstellung allzu oft der Inhalt des Bezeichneten. Geht es dagegen um die sachliche Substanz des Bezeichneten, werden soziale Effekte vernachlässigt und die soziale Dimension gerät ins Hintertreffen (Aderhold 2005). Begleitet ist dies von Definitionsversuchen, die teilweise zirkulär operieren und den Begriff mit einem Synonym, z.B. dessen deutscher Übersetzung, erklären. Der Terminus Innovation repräsentiert also nicht per se ein empirisch gehaltvolles Konzept des Begriffenen. Zunächst ist er lediglich ein leerer Signifi15 kant einer näher zu sondierenden Unterscheidung. Anders ausgedrückt haben Innovationen eine ‚fluide Identität’ (Braun-Thürmann 2005), die u.a. darin besteht, dass sie sowohl als Auslöser, Träger wie als Ergebnisse sozialer Veränderungen dargestellt werden. Wenn es aber um einen theoretisch fundierten und Empirie anleitenden Zugang zur Innovationsthematik geht, ist es erforderlich, diese Hybris des Begriffs reflexiv zu durchbrechen. Dazu ist eine Kontextualisierung der mit dem Bewegungsbegriff bezeichneten Elemente erforderlich. Wer kontextbegrifflich arbeitet, bewege sich selber in die Welt hinein, so Koch (2002: 56) in Anspielung auf die Schütz’sche Differenzierung des in der Welt Denkens und in die Welt Wirkens (Luckmann 1992: 40ff.). Der Bewegungsbegriff Innovation kann dabei als ein inklusiver Reflexionshorizont gelten, innerhalb dessen die Klärung der Beziehung der Elemente des Bezeichneten zueinander vorzunehmen und Innovation so als ein Korrelat von Prozessen, Objekten, Wissen, Akteuren, Praktiken herauszuarbeiten ist. Dabei werden „(a)ll die Prozesse und Praktiken, die jeweils als ein Aspekt dessen betrachtet werden sollen, worauf der Begriff verweist, ... gleichzeitig sichtbar gemacht, ohne ihre Divergenzen definitorisch zu nivellieren“ (Koch 2002: 54). 2. Zum anderen bedeutet die Charakterisierung von Innovation als Bewegungsbegriff sowie das damit verbundene Erfordernis ihrer sprachlich zu vollziehenden Kontextualisierung, Sprache als eine soziale Handlung aufzufassen, mit der Innovationen konstruiert werden. Statt sie als bloßes Instrument der 15
Doch diese Bestimmung trifft ebenso auf andere Phänomene und die für sie bereitstehenden Bezeichnungen zu (z.B. ‚Bildung’ oder ‚Erziehung’; Koch 2002; Ricken/Masschelein 2003) – sie ist also kein Alleinstellungsmerkmal des Innovationsdiskurses.
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Kommunikation einer Innovation aufzufassen, erhält sie aufgrund der mit ihr verbundenen Performativität den Status einer Praxis – des Einschlusses, Teilens, Auslassens, Betonens, Ausschließens etc. (s. Abschnitt 5.1). Sprache wird so als Medium verstanden, in dem über Praktiken der interpretativen Bedeutungszuschreibung Innovationsrhetoriken zu Innovationen werden, die sich Akteure als ‚sinnhaft’ angeeignet haben (s. Abschnitt 3.3). Insgesamt ermöglicht Sprache die kommunikative Übermittlung einer Information oder Intention, denen andere Akteure begegnen und die sie wiederum im Medium der Sprache interpretieren. Dabei greifen Akteure auf die in Sprache eingelassenen Deutungsmuster zurück, die Repräsentationen des Sozialen vermitteln und kontextspezifisch und situativ aktualisiert werden. Sprache ist so gesehen ein kognitives Hilfsmittel: Wie jedes Hilfsmittel ermöglicht sie „thought and intellectual progress, but also constrain and limit the range of what can be thought” (Resnick 1993: 7). Sprache ist insofern als ermöglichendes und limitierendes Hilfsmittel des Verstehens zu begreifen.16 Die Metapher des Sprachspiels verweist ihrerseits auf Spielzüge, Spieler, Regeln, die zu befolgen oder erst auszuhandeln sind (Reckwitz 2004b). Sie deutet damit des Weiteren auf den Wissensgehalt des Spiels hin: das prozedurale Wissen um Spielzüge und verhalten, das deklarative oder propositionale Wissen um Spielregeln. Das Spiel als Bewegung repräsentiert somit gewissermaßen eine Wissensordnung, gleichermaßen bestehend aus ereignis- und regelhaften Elementen, verbunden über regelhafte Praktiken, die auch festlegen, wie mit Ereignishaftigkeit umzugehen ist (s. Abschnitt 4.3) Im Zusammenhang mit Innovationen weist die Charakterisierung des Innovationsbegriffs als Bewegungsbegriff auf vorzunehmende Klärungen in zweierlei Hinsicht hin: Auf der Seite der Beobachter von Innovationen bedeutet sie eine theoretisch zu explizierende Kontextualisierung von Innovation, die auch zu leisten hat, sie – wie oben dargestellt – als Korrelat darzustellen. Für diese Beobachtung ist die Bedeutung von Sprachspielen auf der Seite der (auf welche Weise auch immer innovierenden) Akteure relevant, die im Zuge aktiver Ko-Konstruktionsprozesse stattfinden, mittels derer Innovationen prozessiert werden. Innovationen werden im Zuge ihrer sprachlichen Prozessierung mit Sinn aufgeladen, dieser Sinn kann nicht bruchlos transferiert werden; insofern hat die Beobachtung den mit einer Innovation verbundenen Sinn zu rekonstruieren, indem sich die Beobachtung auf die Akteure zu bewegt, durch deren Wahrnehmungs- und Interpretationshandeln eine Innovation zu einer solchen ‚gemacht’ wird. Im Vorgriff auf die Ausführungen in Kapitel 4 bedeutet dies auch, dass für die Beobach16
Dies gilt sowohl zur Seite der beobachteten Akteure und Prozesse hin als auch zur Seite des Beobachters.
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tung der Bewegungsfluss einer Innovation normativ unterbrochen werden muss, um deren vorübergehende Kristallisation in Sinn bzw. den Praktiken der Sinngebung empirisch zugänglich zu machen. 2.5.3 Eigenes Innovationsverständnis: Innovation als Wissenspassage Innovationen, so wurde in den vorangegangenen Abschnitten deutlich, sind sowohl in Hinblick auf ihrer Generierung als auch in Hinblick auf ihre Verbreitung wesentlich auf Wissen angewiesen. Innovationen werden daher im Folgenden als Wissensbündel verstanden. Um der Wissensbasiertheit und dem Doppelcharakter von Innovationen als Prozess und Ergebnis Ausdruck zu verleihen, werden Innovationen in der vorliegenden Schrift als Wissenspassagen konzipiert. Diese Passagen bezeichnen zeitliche Prozesse, die in symbolischen, sozial konstituierten Räume stattfinden, die zwischen Akteur und System aufgespannt sind. Sie stellen die Bedingung der Möglichkeit der sozialen, zeitlichen und räumlichen Verbreitung und Verankerung von Innovationen dar. Diese Charakterisierung wird im Folgenden in Hinblick auf 1) die These der Wissensbasiertheit von Innovationen (Wissen), 2) die Prozessdimension (Passage als zeitlicher Vorgang) sowie 3) die Kontextdimension von Innovation (Passage als symbolischer Raum) skizziert. 1. Als Wissenspassagen werden Innovationen hier betrachtet aufgrund ihres immanenten Wissensgehalts. Gleich, ob von einem asymmetrischen Akteursverhältnis i.S. von Entwicklern auf der einen Seite (Experten) und Anwendern auf der anderen Seite (Laien) oder von einem vorübergehend homogenisierenden, ko-konstruktiven Akteursverhältnis ausgegangen wird und gleich, ob es sich um manifeste, technologische Innovationen oder immanente, soziale In17 novationen handelt haftet Innovationen Wissen an (Leonard 2006). So enthalten sie z.B. deklaratives Wissen über Veränderungsabsichten, propositionales Wissen über sprachliche und soziale Regelungen sowie den Gebrauch von Begriffen, Konzepten und Instrumenten, strategisches Wissen in Hinblick auf geeignete Techniken und Kommunikationskanäle, prozedurales Wissen in Bezug auf die impliziten Wissensanteile, die motivationale, volitionale und kognitive Anteile umfassen und bei der Wahrnehmung und aktiven Verarbeitung und Prozessierung einer Innovation zum Tragen kommen (zur Unterscheidung zwischen implizitem und explizitem Wissen Ryle 1966; zur Unterscheidung unterschiedlicher Wissensarten überblicksartig Hug 2003c; zur Bedeutung impliziten Wissens Polanyi 1985; zur sozialen Bedingtheit und Bedeutung von Wissen Mannheim 1980; ferner Willke 2001; Schützeichel 2007; Thiel 2007). 17
Auch technologische Innovationen ziehen soziale Innovationen nach sich, wie dies z.B. anhand der Nutzung moderner IuK-Technologien im Rahmen von blended-learning-Angeboten deutlich wird, in denen eine Kopräsenz der Lehrenden und Lernenden nicht mehr zwingend vorausgesetzt wird und eine Individualisierung des Lernens stattfindet.
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Innovationen haben insofern mit dem expliziten Wissen und dem impliziten, prozeduralen Wissen bewusste und unbewusste Anteile. Dieses Wissen wird getragen von individuellen wie kollektiven Akteuren, es ist ebenso in Artefakten jeglicher Art enthalten – Objekten, Regeln, Sprache... – ist sozial und situativ bedingt (s. dazu Pkt. 3). Innovationen können somit als wissensbasierte Artefakte, als Erzeugnisse und als Erzeugtes verstanden werden (Schütz 1974). Anders ausgedrückt sind Innovationen ohne implizites oder explizites, deklaratives und prozedurales Wissen nicht denkbar (Senker 1993; Nonaka/ Takeuchi 1995; Beck 1996; Nickolaus/Schnurpel 2001; Hall/Hord 2001; Rogers 2003; Ortmann 2003a, b; Gräsel/Parchmann 2004; Hameyer 2005; Altrichter/Wiesinger 2005). Als Wissenspassagen werden Innovationen hier bezeichnet, um der Prozessdimension Ausdruck zu verleihen und Innovationen als Gegenstände und Resultate von Wissensarbeit zu markieren. Werden Innovationen als wissensbasierte, ko-konstruktive Vorgänge verstanden, die erst durch deren Anwendung real werden, erfährt das ihnen anhaftende Wissen die Interpretation durch verschiedene Akteure und passiert im Zuge seiner sozialen Ausdehnung Zeit und Raum (Heideloff 1998; Kehrbaum 2009). Diese Interpretationen sind ihrerseits selektiv, da sie auf Deutungsmustern beruhen und somit abhängig sind von vorgängigem Wissen. Damit wird darauf aufmerksam gemacht, dass das Innovationen anhaftende Wissen durch diesen Interpretationsvorgang eine Transformation erfährt, m.a.W.: der Sinn der Innovation entsteht erst im Prozess der situativen Aneignung, Innovationen sind immer ‚im Werden’. Wird also lediglich die in Reformabsicht kommunizierte Innovationsaufforderung als Innovation betrachtet, liegt dem ein ‚halbes’ Innovationsverständnis zugrunde. Dieses konzentriert sich auf den Sachverhalt der (kommunikativen) Verbreitung von Innovation, lässt dabei aber dessen ‚Gegenstück’, d.h. die kollektive Aneignung weitgehend unberücksichtigt. Das Innovationsverständnis, um im Bild zu bleiben, wird erst dadurch ‚vollständig’, wenn neben der kommunikativen Verbreitung auch die Praktiken der Verankerung, d.h. die aktiven Selektions- und Interpretationsprozesse als soziale Wissensgenerierungsprozesse, berücksichtigt werden (Bormann 2009b). Diese im Modus der aktiven Aneignung erfolgende Verankerung kann verstanden als Transfer des mit Innovation verbundenen Wissens. Mit der Metapher der Wissenspassage wird außerdem auf die Kontextdimension von Innovation hingedeutet. Unter der Prämisse, dass Innovationen als Wissensform betrachtet werden, die sich durch die mit den selektiven Interpretationsleistungen unterschiedlicher Akteuren einhergehenden sprachlichen Objektivationen und Praktiken sozial, zeitlich und räumlich ‚ausdehnt’, stellt sich die Frage nach den sozial konstituierten, dynamischen ‚Räumen’ und de-
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Vorstellungen von Innovationen und ihren Elementen ren Grenzen, in denen diese Wissensprozesse und Aneignungsvorgänge stattfinden (Ecarius/Löw 1997). Hier wird davon ausgegangen, dass Innovationen – sei es die kommunikative Lancierung einer Reformabsicht, die exogen Innovationsprozesse auslöst, sei es die endogene Hervorbringung von Innovationen durch deren Wahrnehmung als ‚neu’ oder sei es eine solche bottom-upInnovation, die im Zuge von Reformen legitimiert wird – symbolische Wissensräume hervorbringen, an deren Konstitution Wissen mitwirkt. Aufgrund der sprachlichen bzw. symbolischen Repräsentation von Wissen und der grundsätzlichen Universalität von Sprache und Symbolen sind diese Räume als permeabel und nicht als geschlossen zu betrachten: Wechselseitige Beeinflussungen durch kommunizierte Bedeutungen verändern das Wissen des jeweils betrachteten sozialen Raums.
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Implikationen für die theoretische Beschreibung und Analyse von Innovationen Grundsätzlich markiert ‚Transfer’ eine Bewegung, die zwischen verschiedenen Kontexten, Zeiten, Räumen und Akteuren stattfindet. Die Ressource, die dies ermöglicht, ist Wissen; das Medium, in dem dieses generiert wird, ist Sprache; der Prozess, den sie antreibt, die Aushandlung von Sinn sowie die Generierung von Wissen. Innovationen können vor diesem Hintergrund als soziale Praxis aufgefasst werden. Praktiken werden als Ensemble von Kognitionen, also Wissen, Verstehensleistungen, Wahrnehmungen etc. auf der einen Seite und Handlungen auf der anderen Seite verstanden (Greeno 1998: 17). Auch Transfer ist in diesem Sinne eine wissensbasierte soziale Praktik, die nicht allein von individuellen, sondern von kollektiven Akteuren getragen wird – die kognitive Dimension ist hier mit der sozialen Dimension verwoben (Resnick 1993; Billett 1998; Bransford/Schwartz 1999). So gesehen steht das transformative Geschehen, das im Zusammenhang mit sozialen Aneignungs- und Wissensgenerierungsprozessen abläuft, im Vordergrund. Beeinflusst ist die Performanz dieser Leistung durch die Anwendung wissensgenerierender Interpretationsschemata als ‚fernem’ kulturellem Faktor sowie durch ‚nahe’ soziale Interaktionen. Eine sozialwissenschaftlich ausgerichtete Perspektive auf Transfer und Lernen scheint in Hinblick auf die Klärung der Frage, wie sich die soziale Verbreitung und Verankerung abspielt, besonders ertragreich zu sein. Sie stellt eine Möglichkeit dar, Transfer zum einen nicht als individuelle Leistung, sondern als Vorgang zu diskutieren, der von kollektiven Akteuren getragen wird, die durch interpretative Wissensanwendung Probleme bewältigen. Zum anderen ist mit dem Hinweis auf Praktiken die Vorstellung rekursiver Prozesse verbunden. In dieser Lesart kann Transfer als ein permanent stattfindender Vorgang des Entbettens, des Interpretie-
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rens und Wiedereinbettens von Informationen betrachtet werden, in dessen Zuge Sinn gestiftet und Wissen geschaffen wird. Angesichts der vielfach monierten Wirkungslosigkeit zentral administrierter Veränderungsvorhaben im Feld von Bildung und Erziehung ist danach zu fragen, wie die kommunikativ adressierten Akteure eine intendierte Veränderungsabsicht wahrnehmen, wie die Innovation also durch die aktiven und selektiven Wahrnehmungs-, Interpretations- und Aneignungsvorgänge durch die Akteure erst ‚gemacht’ wird. Während die an exogenen Innovationen interessierte Analyse quasi inputseitig differenzerzeugende Intentionen verschiedener Steuerungsformen beobachtet und damit eine Wirkungsevaluation betrieben werden kann, beobachtet die an endogenen Innovationen interessierte Analyse die differenzerzeugenden Praktiken, die sich in der Oberfläche des Sozialen in Form von Sprachspielen, Zuschreibungen, Ereignissen, Dokumenten, aber auch Praktiken dokumentieren. Werden Innovationen von ihrer Aneignungsseite her beobachtet, wird also keine Evaluation betrieben, sondern die Prozesse der Ordnung von Wissen analysiert. Während mit der Fokussierung auf die Wirkung von Implementation eine ‚outside-in’- und mit der Betrachtung der Wirkung der in Handlungen übersetzten Aneignungsvorgänge eine ‚inside-out’-Perspektive vertreten wird (Oelkers/Reusser 2008: 111ff.; Kade/Seitter 2007), wird also eine ‚inside’-Perspektive eingenommen. Der Perspektivenwechsel besteht in der Untersuchung der Bedingungen des Wahrnehmungs-, Interpretations- und Aneignungsvorgangs, der aufgrund einer wahrgenommenen Innovationsaufforderung in Gang gesetzt wird. Das Augenmerk liegt also auf den ‚inneren’ sozialen Vorgängen, dem Innovieren, als den Prozessen, in denen mit der Interpretation und Aneignung eine wissensbasierte, soziale Generierung von Innovation und deren Integration erfolgt. Aus einer solchen Perspektive eröffnen sich folgende Fragen: Wie nehmen die Akteure die kommunizierte Innovation wahr, wie interpretieren sie diese, welches Wissen aktivieren sie dafür, wie integrieren sie diese Interpretationen der Innovation in ihr ‚kollektives Bewusstsein’, d.h. in ihre Repräsentationen von Vorgängen der Veränderung, inwiefern leiten diese sie zu Handlungen an, und zu welchen? In erster Linie zielen diese Fragen ab auf Vorgänge der Informationsverarbeitung. Der Schwerpunkt liegt hier auf dem Aspekt der Konfiguration der Innovation, d.h. ihrer kontextabhängigen ‚Übersetzung’ des ihr anhaftenden Wissens. Statt dabei eine lineare Abfolge einzelner Phasen zu unterstellen, die im Ergebnis zur Verbreitung und Verankerung einer Innovation führen, wird umgekehrt rekonstruiert, unter welchen Bedingungen eine Innovation als solche interpretiert wird und wie so mit ihr umgegangen wird, dass sie eine potentielle soziale Wirkung entfalten kann, die wahrnehmenden und interpretierenden Akteure also ‚in die Welt’ hinein wirken. Analytisch bedeutet dies das schrittweise Nachvollziehen der ‚inneren’ Verarbeitung eines von ‚außen’ initiierten, aber durch Prozesse der
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Wahrnehmung und Interpretation endogenisierten Impulses i.S. des Vorgangs der Sinnstiftung in Innovationsprozessen. Die Analyse hat dann aufzuklären, wie und warum eine Innovation auftritt (Spillane/Reiser/Reimer 2002: 319): Wie wird etwas in einem sozialen Raum als Innovationsaufforderung wahrgenommen? Wie wird diese Wahrnehmung problematisiert und gedeutet, von welchem Wissen und welchen Praktiken sind diese Interpretationen bzgl. des objektiven und subjektiven Sinngehalts der Innovation begleitet, wie und wohin wird das der Innovation anhaftende Wissen transferiert? Theoretisch und methodisch bedeutet dies, zum Zwecke des Verstehens in die inneren Zustände bzw. Ordnung dieser Räume, d.h. zu den sozialen Repräsentationen i.S. von Wissen, Werten, Ideen und Handlungsweisen vorzudringen. Zu rekonstruieren ist das Wirken und die Aktualisierung von solchen Ordnungen des Wissens im Zusammenhang mit Innovation, d.h. die jeweils verfügbaren oder aktivierten Deutungsmuster, Sinnangebote, Wissensbestände, vor deren Hintergrund eine kommunizierte Veränderungsabsicht als Bestandteil einer objektiven Wirklichkeit wahrgenommen, zu einer spezifischen Interpretationsaufgabe transformiert und aktiv angeeignet wird (Mannheim 1980; Berger/Luckmann 1995; Hitzler 1994). Nicht das bloße Feststellen von Prozessen, sondern die durch diese Wissensprozesse transportierte Bedeutung rückt damit in den Fokus dessen, was methodisch zu rekonstruieren und im Lichte des Vorwissens zu interpretieren ist.
3 Zur theoretischen Kontextualisierung von ‚Innovation’ „Unsere Denkgewohnheiten machen uns leicht geneigt, nach ‚Anfängen’ zu suchen; aber da ist nirgends ein ‚Punkt’ ... von dem man sagen könnte: Bisher war noch keine ‚Ratio’ da, und nun ist sie ‚entstanden’“ (Elias 1990: 378)
Das Ziel dieses Abschnitts ist die theoretische Kontextualisierung von Innovation. Da es in dieser Arbeit um die soziale Ausdehnung einer Innovation in Zeit und Raum geht, stellt sich die Frage nicht nach den bei individuellen, sondern bei kollektiven Akteuren ablaufenden Vorgängen der Wissensgenerierung und anwendung und den Prozessen der Ordnung von Wissen. Die Interaktionen kollektiver Akteure beruhen nicht zwingend auf der Bedingung der gleichzeitigen physischen Anwesenheit, sondern können auch mittels Medien oder Artefakten ablaufen. Daher werden Sozialtheorien auf ihre Aussagen zur Erzeugung, Prozessierung und Integration von Veränderungen und Wissen befragt, die auf das im vorigen Kapitel skizzierte Innovationsverständnis angewendet werden können. Zuvor wurden Innovationen angesichts der Diagnose der Entgrenztheit als immanente Momente des Sozialen dargestellt. Außerdem wurde die Kontextabhängigkeit der Wahrnehmung von Innovation herausgearbeitet. Vor diesem Hintergrund mag eine Paradoxie auftreten, die vordergründig in der Gleichzeitigkeit von Entgrenzung und Kontextabhängigkeit besteht. Bei dieser Paradoxie handelt es sich um einen Sachverhalt, der für eine theoretische Modellierung sowie eine Innovationsanalyse relevant ist: die Entgrenzungsthese wird auf der Makroebene des Sozialen aufgestellt (Wandel), die These der Kontextabhängigkeit der Innovationsvorstellungen dagegen analytisch auf der Mesoebene (Innovation). Beide Ebenen sollen nun aufeinander bezogen werden, indem Konzepte identifiziert werden, mittels derer die Verbreitung und soziale Verankerung von Innovationen theoretisch beschrieben und modelliert sowie empirisch beobachtet werden kann. Dabei gilt es der Herausforderung einer bislang noch unzureichenden gegenseitigen Bezugnahme von Innovationsforschung und Sozialtheorien zu begegnen (Aderhold 2005: 15). In den vorigen Abschnitten wurde zudem die Mulitvalenz des Bewegungsbegriffs ‚Innovation’ deutlich: der Innovationsbegriff wird wenig einheitlich verwendet und ist mit heterogenen Vorstellungen hinsichtlich der sozialen Reichweite sowie der Beeinflussbarkeit von Innovationen aufgeladen. Vorstellungen, die vor allem auf Innovationen als Produkte oder Technologien abzielen oder auf die
I. Bormann, Zwischenräume der Veränderung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92709-1_4, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Durchsetzung von Ideen fokussieren, also manifeste Artefakte vor Augen haben, bergen ein vereinfachtes Verständnis von Wandel in sich. Vorstellungen, in denen Innovationen als teilweise kontingente, d.h. ungewisse und nicht vollends steuerbare Prozesse betrachtet werden, die auf Wechselwirkungen interdependenter Akteure zurückzuführen sind, weiten dagegen die Komplexität aus: In ihnen erscheinen Innovationen als kleinere Einheiten von Wandel. Die größeren Einheiten sind einmal Reformen, verstanden als geplante Form von Veränderung, und einmal Wandel, verstanden als neutrale, übergeordnete theoretische Kategorie, die eine ungerichtete Veränderung markiert. Wandel ist eine zentrale, wenn nicht die wesentliche sozialtheoretische Kategorie, die jedoch gleichzeitig in der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung unterbelichtet ist (dazu Gillwald 2000; Braun-Thürmann 2005; Aderhold/John 2005). In den folgenden Abschnitten werden unterschiedliche sozialtheoretische Zugänge in Hinblick auf ihren Ertrag für die Modellierung von sozialen Innovationen sowie die Analyse ihrer Verbreitung und sozialen Verankerung hinterfragt. Dass sozialer Wandel unabhängig von einem bloßen Verstreichen der Zeit stattfindet, wird von den hier diskutierten Theorien nicht bestritten. In den Theoriegefügen bestehen aber wesentliche Unterschiede hinsichtlich der Beschreibung und Erklärung des Aufkommens und Antriebs von Wandel – ist Wandel gegenüber Stabilität ein regelbasierter Normalfall oder wird Stabilität zum Normalfall alltäglicher sozialer Reproduktion erhoben, vor dem Wandel erklärungswürdig wird? Kann in den Wandel eingegriffen werden und wenn ja, wie, von wem bzw. wodurch; welchen theoretischen Stellenwert nehmen Innovationen ein? Abhängig vom theoretischen Zugriff sind überaus unterschiedliche Antworten möglich. Wesentliche Differenzen zwischen den im Folgenden näher zu diskutierenden Sozialtheorien bestehen darin, ob Strukturen, Handlungen oder aber deren rekursive Wechselbeziehung als ordnungsstiftende Elemente des Sozialen im Vordergrund stehen. In der Systemtheorie wird Ordnung mit dem Vorhandensein von sozialen (Erwartungs)Strukturen erklärt, die den evolutionären Zufall in Grenzen halten. Diese Strukturen werden kommunikativ durch den Rekurs auf vorhandene Semantiken aufrecht erhalten. Dagegen besteht in der Feld- sowie der Strukturationstheorie eine Vorstellung von Ordnung durch Strukturierung mittels sozialer Praktiken. Da sie permanent vollzogen werden, kann Innovation als ein Normalfall betrachtet werden, als eine normale Form der Reproduktion der Sozialwelt. In diesem Abschnitt geht es darum, die bisher eher unverbunden angesprochenen Konzepte Wissen, Bedeutung und Sinn, Perspektiven der Integration und Veränderung in den unterschiedlichen Metatheorien in Hinblick auf deren Relevanz für eine gegenstandsbezogene, theoretisch fundierte Modellierung von Innovationstransfer zu diskutieren.
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3.1 Zum Verhältnis von Stabilität und Wandel Das Verhältnis von Erfahrung und Erwartung ist eines, das in den hier zu diskutierenden Sozialtheorien als Frage der Anordnung von Sozialstruktur und Semantik, d.h. der sprachlichen Darstellung der Bedeutung von Phänomenen, zum Tragen kommt: ‚Reagiert’ die Semantik lediglich auf wie auch immer vollzogene Veränderungen des Sozialen oder ist es möglich, semantische Vorgriffe auf Zukünftiges zu nehmen; läuft die Semantik mit oder initiiert sie Wandel (Stäheli 1998; Luhmann 1998; Ortmann 2003a, b)? In welchem Verhältnis stehen Stabilität und Veränderung zueinander, wie wird das Verhältnis theoretisch verortet? Exkurs 1: Institution und Organisation Wie in Abschnitt 1 bereits verdeutlicht wurde, wird Innovation hier als ein Element von Wandel verstanden. Sozialer Wandel geht einher mit der Veränderung von Institutionen. Beruht Wandel auf Institutionen bzw. umfasst Wandel Institutionen, ist auch das Verhältnis von Institution und Innovation kurz zu erläutern. Mitunter kommt es in Bezug auf den Begriff der Institution zu Unklarheiten: Obwohl Unterschiede zwischen dem Bezeichneten bestehen, werden die Begriffe Institution und Organsiation oftmals sinngleich verwendet. Unter Institutionen werden grundsätzlich relativ überdauernde Erwartungszusammenhänge verstanden, d.h. mehr oder weniger bewusste Formen geteilten Wissens bzw. teilweise formalisierte Übereinkünfte oder Regeln, deren erwartete Befolgung symbolische Ordnung und soziale Orientierung schafft. Institutionen haben kognitive, normative und regulative Elemente (Berger/Luckmann 1995; Mayntz/Scharpf 1995; Scott 2001; Kuper/Thiel 2009). Sie sind qua Sozialisation und Tradierung in Routinen in das habitualisierte Handeln und Denken der Akteure integriert, wodurch sie zu sozialer Ordnung beitragen. Während das in Institutionen enthaltene Wissen prinzipiell allgemein zugänglich ist (Luckmann 2002: 85), gilt dies nicht für das Wissen in Organisationen im engeren Sinne. Unter Organisation werden einmal Vorgänge des Organisierens (Weick 1995) und einmal prinzipiell variable, räumlich erkennbare, mehr oder weniger zielorientierte Zusammenschlüsse von Akteuren verstanden. Die Mitgliedschaft in einer Organisation im zuletzt genannten Sinn ist an Regeln gebunden, die Organisation selbst ist klar gegliedert, ihre Funktionsweise kann in Organigrammen schematisch dargestellt werden. Bei den Handlungen, die Akteure zum Zwecke des Erreichens von Organisationszielen durchführen, berufen sie sich auf Institutionen. Organisationen und Institutionen sind also in diesem Sinne miteinander verwoben. Aus dieser Perspektive gelten Organisationen als räumlich und sozial klar begrenzte, institutionell zusammengehaltene Akteurskonstellationen (Merkens 2006a; Csigo 2006). Wie sind nun Innovationen möglich, wenn relativ stabile Institutionen das Wahrnehmen, Denken und Handeln beeinflussen? Für Berger und Luckmann (1995) stellt sich diese grundsätzliche Frage anders – ihnen zufolge sind Innovationen nur vor dem Hintergrund habitualisierten Handelns überhaupt möglich (ebd.: 57). Habitualisiertes Handeln ermöglicht Innovationen, weil es von permanenter Aufmerksamkeit befreit und so Frei-
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räume für Innovationen schafft. Institutionen stehen Innovationen in dieser Lesart nicht konträr gegenüber, sondern sind zunächst der Hintergrund für Veränderung. Insofern sie diese Veränderung ermöglichen, werden sie sich im Lauf der Zeit ebenfalls wandeln: Sie entstehen durch die reziproke Typisierung von habitualisierten Handlungen (ebd.: 58). Wenn also Institutionen als relativ stabil und Innovationen als kleinere Einheiten des Wandels dargestellt werden, sind Stabilität und Wandel über den Prozess der Institutionalisierung aufeinander bezogen. Dieses Verhältnis von Stabilität und Wandel gilt es im Folgenden zu reflektieren.
Da soziale Innovationen einem nicht-linearen Verständnis zufolge (s. Abschnitt 2.2) die Möglichkeit mit sich führen, konfiguierend auf zukünftige Gegenwarten einzuwirken, ist die symbolische Aktivierung von Wissensvorräten für die Interpretation eines Phänomens, d.h. dessen Aufladung mit Sinn bzw. Bedeutungszuschreibung, dieser Zukunft gegenüber nicht gleichgültig. Vielmehr bestehen vor dem Hintergrund von Erfahrungen spezifische Erwartungen, die in die Wahrnehmung und Interpretation einer Situation hineinwirken. Erfahrung und Erwartung verhalten sich dabei wechselseitig konstitutiv zueinander: „Keine Erwartung ohne Erfahrung, keine Erfahrung ohne Erwartung“ (Koselleck 1989: 352; s. Abschnitt 2.5). Diese Denkfigur ist auf eine zyklische statt auf eine lineare Vorstellung von Innovation zurückzuführen und geht einher mit einem nicht-linearen Zeitverständnis. Diesem liegt eine Logik der immerwährenden Transformation ohne klaren Anfang und klares Ende zugrunde. Ein gegenwärtiger Moment ist einer solchen Vorstellung permanenten Wandels zufolge zugleich durchdrungen von Vergangenheit und Zukunft, er wird wahrgenommen und kann nur interpretiert werden vor dem Hintergrund von Vorwissen. Insofern den gegenwärtig vorgenommenen Zuschreibungen aus vergangenen Erfahrungen gespeiste Deutungsmuster zugrunde liegen, deren Anwendung zukünftiges Denken, Handeln und die Entstehung sozialer Strukturen beeinflusst (Giddens 1997), wird auch von einer Einlagerung von ‚Zeitsplittern der Zukunft’ in die Gegenwart gesprochen (Wimmer 2002). Auf die hier zentrale Thematik bezogen, bestehen unterschiedliche theoretische Vorstellungen hinsichtlich der ‚Machbarkeit’ bzw. ‚Möglichkeit’ von Innovation: Inwiefern bieten die Theorien ein Potential zur kategorialen Beschreibung und Beobachtung von Innovationen an? Gelten Innovationen theoretisch als zu legitimierende, bereits vollzogene Veränderungen oder als zu begründende Varia18 tionen von sozialen Strukturen und Praktiken? Ist Innovation theoretisch wahr18
Diese Fragen deuten auf Motive, die Schütz (1974) in die ‚weil’- und ‚um-zu-Motive’ unterteilt: Während weil-Motive quasi rückwärts retrospektiv bereits Vollzogenes zu begründen suchen, richten sich um-zu-Motive prospektiv auf künftige Handlungen. Beide dokumentieren, so Luckmann (2002) einen „reflexiven Sinn“ (ebd.: 57). Dieser Sinn setzt eine Relation zwischen einer abgeschlossenen Handlung und einem Deutungszusammenhang voraus; sie markiert eine
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scheinlich oder unwahrscheinlich, kann sie geplant werden oder ist sie emergent, ist sie eine abhängige oder eine unabhängige Variable? Werden Innovationen als exogen verursachte Veränderungen mit klarem Anfang und Ende oder aber als endogene, rekursive Phänomene aufgefasst? Werden Innovationen als Wissenspassagen und als endogene soziale Phänomene verstanden, erfordert deren Komplexität in methodologischer Hinsicht gewissermaßen eine ‚nachträglich-mitlaufende’ Beobachtung: Wird die Beobachtung auf endogene Innovationen gelenkt, werden mit dieser Setzung kontinuierlich andauernde Praktiken der Diskontinuierung angenommen. Weil sie permanent ablaufen und damit auch permanent Differenzen erzeugen, bezieht sich die Analyse statt auf Zeitpunkte auf Zeiträume. Um die Handhabbarkeit der Beobachtung zu gewährleisten, müssen Anfang und Ende eines Veränderungsprozesses jedoch normativ festgelegt werden. Erfolgt dies nicht, verfängt man sich – in der Tradition der Hermeneutik ausgedrückt – in einem Zirkel (Gadamer 1990; Dilthey 1900) oder man gerät, wie Ortmann (2003a) dies formuliert, in die Paradoxie des „Ursprungs ohne Anfang“ (ebd.: 271). Werden Innovationen dagegen als exogen verursachte Brüche mit dem Bisherigen aufgefasst, muss in methodischer Hinsicht eine Distanz zum Analyseobjekt aufgebaut werden, mit denen der Gegenhorizont, aus dem die Innovation erst als Bruch, als ‚konfiguierte Diskonintuität’ (Luckmann) hervortreten kann, als stabil gehandhabt wird. Die alltäglichen Regelabweichungen, Brüche, Sprünge, Widersprüchlichkeiten, Variationen etc. werden durch die analytische Fokussierung auf das Besondere allerdings nivelliert. Vorteilhaft ist daran, dass Innovation als klar umrissenes Untersuchungsobjekt handhabbar ist. Während in der einen Perspektive also Wandel als Normalfall behandelt wird (endogene Innovationen), gilt in der anderen Perspektive Stabilität als Normalfall, der mit exogenen Innovationen durchbrochen wird. Aus dem einen Blickwinkel wird damit Stabilität erklärungsbedürftig, aus der anderen Wandel. Im ersten Fall wird theoretisch und analytisch eine Sicht auf den Prozess nahegelegt, im zweiten eine an Strukturen interessierte. Beide Zugänge stellen zwei Varianten der Beobachtung des gleichen Gegenstands dar, denn auch die Kontinuität einer sozialen Struktur beruht letztlich auf Prozessen, die den beobachteten Zustand sichern (Mayntz 2005: 24f.). Das Verhältnis von Wandel und Stabilität bzw. Prozessen und Zuständen hat schon Elias (1976) beschäftigt. Sein Interesse gilt dem allgemeinen Problem des Wandels, das er anhand der Entwicklung der abendländischen Zivilisation darstellt. Er fragt sich, wie dieser Wandel möglich ist, wenn er als Ganzes weder rational geplant ist, aber auch nicht regellos und ungeordnet abläuft. Für die Beantwortung Differenz zwischen der Handlung, d.h. dem gedanklichen Entwurf und der Handlung als Tätigkeit. Durch den Rekurs auf den Entwurf wird dem Handeln sein Sinn verliehen (ebd.: 117).
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dieser fundamentalen Frage nimmt er mit seiner explizit prozesstheoretischen Perspektive eine zwischen Akteur und System vermittelnde Haltung ein. Elias geht davon aus, dass sich „aus der Interdependenz der Menschen... eine Ordnung von ganz spezifischer Art (ergibt, d.Verf.), eine Ordnung, die zwingender und stärker ist als Wille und Vernunft der einzelnen Menschen, die sie bilden“ (ebd.: 314). Diese Ordnung entsteht aufgrund der permanenten sozialen Bewegung auf ein Ziel hin. Damit bereitete Elias der in der jüngeren soziologischen Theoriebildung viel diskutierten Nebenfolgen-Debatte (Beck/Giddens/Lash 1996; Böschen/Schneider/ Lerf 2004) den Weg, überwand die Mikro-Makro-Problematik (s. Abschnitt 3.2.3) und stellte ebenso Anschlussstellen für diskurstheoretische Überlegungen bereit (s. Abschnitt 4.3; Kapitel 5): Soziale Ordnung ist weder in Form von Zuständen darstellbar, sondern nur in Beschreibungen von Prozessen. Wandel ist der soziale Normalfall – weil das Ziel, das dem Wandel eine Richtung gibt, selbst permanent im Werden begriffen ist. Dieses Ziel ist den Menschen, die diesen Wandel mittragen, innerlich: „Die ‚Umstände’, die sich ändern, sind nichts, was gleichsam von ‚außen’ an den Menschen herankommt; die ‚Umstände’, die sich ändern, sind die Beziehungen zwischen den Menschen selbst“ (Elias 1976: 377). Mit diesem Hinweis auf das dynamische Verhältnis von Kontinuität und Diskontinuität wird eine zeitliche Dimension der Innovationsthematik angesprochen. Diese ist maßgeblicher Gegenstand der Pfadabhängigkeitstheorie, die in der (ökonomischen) Innovationsforschung wurzelt und organsiationstheoretisch adaptiert wurde. Die Pfadabhängigkeitstheorie besagt, dass gegenwärtige Zustände von vergangenen Entscheidungen und Ereignissen bestimmt werden. Diese an sich unspektakuläre Grundannahme ist im Zusammenhang mit Prozessen der Innovation insofern interessant, als hier zwar vergangene, aber inhaltlich verknüpfte Ereignisse in ihrer prozessualen Bedeutung für Innovationen berücksichtigt werden. Seit einigen Jahren erfährt die Pfadabhängigkeitstheorie eine neue Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit der sozialwissenschaftlichen Erklärung und Untersuchung von Innovationen und deren Verbreitung (Peine 2006; Wetzel 2005; Blättel-Mink 2005; Braun-Thürmann 2005). 3.1.1 Innovation in Grenzen: Pfadabhängigkeitstheorie Wegweisende Arbeiten, die zur Entwicklung der Pfadabhängigkeitstheorie führten, waren die Studien von Brian W. Arthur (1983f.) und Paul A. David (1985). Beide sind Ökonomen, die die sich mit Regelmäßigkeiten der Entstehung und Verbreitung von innovativen Technologien in marktlichen Konkurrenzsituationen auseinandersetzten. Neben dieser auf ökonomischen Erklärungen beruhenden Variante (Pfadabhängigkeit i.e.S.) erfährt die Pfadabhängigkeitstheorie auch eine Auslegung, bei der das Augenmerk auf die kognitive Dimension von Innovationsprozessen gerichtet wird (Pfadabhängigkeit i.w.S.; Maytnz 2005: 27ff.).
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Pfadabhängigkeit i.e.S. Die Pfadabhängigkeitstheorie beruht auf drei zentralen Konzepten: History matters, increasing returns und lock-in. Das auf den ersten Blick trivial erscheinende Kernelement der Pfadabhängigkeitstheorie ist die Annahme der Historizität: Diese besagt, dass gegenwärtige Zustände, Strategien, Überzeugungen etc. nicht einfach entstehen oder ahistorisch zu erklären und verstehen sind. Sie gelten vielmehr als Resultate von komplexen, langfristigen Prozessen, die wiederum künftige Entwicklungen beeinflussen. Pfade entstehen der Theorie zufolge aufgrund von sich selbst verstärkenden Prozessen und Netzwerkeffekten, d.h. positiven Rückkopplungen zwischen Verbreitung und Nutzung, weil in spezifischen zeitlichräumlichen Konstellationen einzelne Technologien gegenüber anderen einen Vorsprung besitzen, der vorteilhaft ausgebaut werden kann: Dabei müssen sich nicht immer die ‚besten’ Lösungen durchsetzen, wie David (1985) am viel zitierten Beispiel der im Vergleich der Dvorak-Schreibmaschinentastatur mit der – technisch gesehen – inferioren QWERTY-Tastatur zeigt: Obwohl andere Tastenkombinationen ein schnelleres Schreiben ermöglichen, setzte sich die QWERTYTastatur dauerhaft durch und gilt heute als Standard. Dass sich eine unterlegene (inferiore) Technologie (Innovation) überhaupt durchsetzt, wird erklärt mit der Quasi-Irreversibilität von Investitionen: Hat sich erst einmal eine Technologie verbreitet, ist es mit hohen Kosten verbunden, diese zugunsten einer hinsichtlich ihrer Kompatibilität oder Nutzerfreundlichkeit unsicheren ‚neuen’ Technologie zu ersetzen. Neben Kostengründen werden Erwartungen, Lern- und Gewöhnungseffekte sowie soziale Koordinationseffekte auf Seiten der Nutzer als weitere selbstverstärkende Effekte (increasing returns) als Gründe genannt (Arthur 1994: 112f.), die dazu führen, dass eine Technologie trotz besserer oder zumindest anderer Lösungen als besonders effizient wahrgenommen wird und dominant auf dem Markt verharrt. Dieses Phänomen wird als lock-in bezeichnet und stellt die zweite Prämisse der Pfadabhängigkeitstheorie dar. Mit fortschreitender Zeit und Verbreitung einer Innovation erhöht sich der Nutzen, der durch die Beibehaltung eines einmal eingeschlagenen Pfades entsteht. Einen Pfad zu verlassen ist auch aufgrund der Kosten bzw. des Aufwands schwierig. Dadurch kann sich Inflexibilität ergeben, und eine Vielzahl einzelner Ereignisse verdichtet sich inkrementell, d.h. langsam zu einem nur noch schwer zu verlassenden Pfad. Pfadabhängige Prozesse können also aufgrund von wechselseitigen Stabilisierungen, die über gegenseitige Erwartungen, die interdependente Akteure aneinander stellen, zustande kommen. Dies ist ein Effekt von increasing returns als dritter pfadtheoretischer Prämisse. Einmal ausgebildet bleiben Pfade oftmals auch dann noch bestehen, wenn der ursprüngliche Grund, der zur Ausbildung eines Pfads führte weggefallen ist und Alternativen vorliegen (Beyer 2005). Pfade können potentiell, so Arthur (1984), von Ineffizienz
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geprägt sein – und zwar aufgrund zufälliger (technologischer) Vorsprünge, die zur Ausprägung eines Pfades führten. In dieser Variante der Pfadabhängigkeitstheorie wird die Entstehung von Pfaden vornehmlich mit ökonomischen Variablen erklärt. Die Pfadabhängigkeitstheorie i.w.S. dagegen rückt kognitive Aspekte stärker in den Vordergrund. Pfadabhängigkeit i.w.S. Dreh- und Angelpunkt der Pfadabhängigkeitstheorie im weiteren Sinne ist ebenfalls die history-matters-These. Hier konzentriert man sich jedoch weniger auf ökonomisch erklärbare Kausalitäten, sondern fokussiert mit den Wirkungen von Entscheidungen, Regeln, Denkweisen und Routinen, die ihre Wurzeln in der Vergangenheit haben, stärker auf die kognitive Seite von Innovationsprozessen. Positive Rückkopplungen werden wie in der Pfadabängigkeitstheorie i.e.S. als Hauptursache für die Entstehung von Pfaden angeführt, aber nicht auf ökonomische, sondern allgemeiner auf Variablen sozialer Interaktion zurückgeführt: Koordinationseffekte, Komplementaritätseffekte sowie Wechselwirkungen zwischen Regelungs- und Handlungsebene (Ackermann 2003). Die Grundannahme der Pfadabhängigkeitstheorie i.w.S. ist, dass auf der Basis der Aggregation einer Vielzahl von zurückliegenden individuellen Entscheidungen Pfade entstehen, in denen Probleme von Akteurskonstellationen als relevant gehandelt und denkbare Alternativen als ‚nicht opportun’ ausgeblendet werden. Somit entstehen zwar ebenfalls Pfade. Sie weisen aber Gabelungspunkte auf, die nicht genutzte Alternativen (counterfactuals) markieren und deren Verfolgung zu anderen Resultaten hätte führen können (Mayntz 2005: 28). Dosi (1982f.) als zentraler Vertreter dieser stärker auf die kognitive Dimension abzielende Variante der Pfadabhängigkeitstheorie geht mit seinem Erklärungsansatz über neoklassische ökonomische Erklärungsmuster hinaus: Er setzt sich mit Kognitionen, Erwartungen und Wahrnehmungen auseinander, die zur Etablierung von Pfaden führen. Innovationen sind demnach durch vorherige Einstellungen, Mentalitäten und Sichtweisen auf die jeweiligen Umwelt beeinflusst und begrenzt. Darüber hinaus betont er (Dosi 1988) die Rolle des Wissens in Innovationsprozessen, das sich innerhalb einer spezifischen community zu Paradigmen sensu Kuhn (1981 [1967]) verdichtet, „which guides … search and development activities, and is often shared by the entire community…” (Dosi 1988: 233). Findet eine Innovation statt, erfolgt demnach ein Pfadwechsel; dies ist ein Hinweis auf die Existenz von counterfactuals. Der Pfadwechsel bringt es mit sich, dass sich alte Akteurskonstellationen auflösen und neue entstehen: Die Innovation induziert einen Pfadwechsel, der sich sozial niederschlägt.
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Mit Dosis Arbeiten ebnete sich der Weg für neue Entwicklungen in der Pfadabhängigkeitstheorie: Zum einen wurde das Augenmerk auf die kognitive Dimension in Erklärungen des Wandels gerichtet, zum anderen rückten neben technologischen auch institutionelle Innovationen in den Blick. Es war North (1992), der die damaligen Erkenntnisse der Pfadforschung zum technologischen Wandel aufgriff und sie erstmals systematisch im Zusammenhang mit Institutionen betrachtete. North geht davon aus, dass Institutionen Kontinuität sichern. Er nimmt an, dass institutioneller Wandel nicht allein aufgrund ökonomischer Kriterien (Preise, Märkte) zustande kommt, sondern auf wertebehaftete Kognitionen und Erwartungen zurückzuführen ist: Institutionen, d.h. Normen, Konventionen, Verhaltenscodes, Erwartungen, informelle Einschränkungen regulieren, wie eine Situation wahrgenommen und inwiefern sie als veränderlich interpretiert wird, d.h. für wie frei die Wahlmöglichkeiten gehalten werden. Diese Institutionen beeinflussen, wie Organisationen agieren: Zwar geht North davon aus, dass beide, Institution wie Organisation, Ordnung in Interaktionen bringen. Aber „(w)as begrifflich zu trennen ist, sind Spielregeln und Spieler“ (ebd.: 5). Die Spielregeln stellt North dabei als Institutionen dar, die von Spielern (Organisationen) befolgt oder gebrochen werden. Ähnlich wie Dosi und i.w.S. Arthur betont North damit die Bedeutung von Kognitionen und Wissen, aber mit dem Hinweis auf das Spiel auch die Möglichkeit der begrenzten Rationalität von organisierten Akteuren (ebd.: 9). Veränderung ist damit kein Vorgang, der auf der Basis revolutionärer, diskontinuierlicher ‚Schübe’ stattfindet, sondern ein inkrementeller Prozess, in dem eine bestehende stabile Ordnung bzw. bestehende Spielregeln (Institutionen) umgestaltet werden (ebd.: 105). Stabilität und Wandel entstehen also auf der Basis von Regeln und deren (erwarteter) Einhaltung sowie aufgrund von Beschränkungen, die zu überwinden aufwendig oder kostspielig ist. In seiner Theorie geht North grundsätzlich davon aus, dass Stabilität erforderlich ist, damit Wandel überhaupt stattfinden kann (ebd.: 98ff.). Angetrieben wird der Prozess institutionellen Wandels durch komplexe Tauschhandlungen und Aushandlungsprozesse zwischen organisierten Interessengruppen, die als Spieler verstanden werden können. Explizit geht North in diesem Kontext auf die Bedeutung des Lernens und des Wissens ein (ebd.: 87ff.; Bandelow 2003). Lernen erfolge selbst unter der Prämisse der Pfadabhängigkeit und reproduziere eine Pfadabhängigkeit der Ideen und Ideologien, die wiederum in Institutionen als regelhafter Wiederholung von Spielregeln mündet. Diese beschränken die Möglichkeiten der Interaktion und basieren auf mentalen Modellen (Kognitionen, d.h. Deutungsmuster, Repräsentationen von Wissen), die North als sozial verankert versteht. Diese Institutionen wirken und entstehen aufgrund von formalen (z.B. Verträge) und informellen Regeln (z.B. Gewohnheiten), von denen nur erstere rasch und willent-
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lich verändert werden können, während letztere durch Lernpozesse tief verankert und somit schwer zugänglich und änderbar sind. Mit der Berücksichtigung von Institutionen balanciert North also die Erklärungen für Wandelprozesse zwischen einem sozialen und einem akteursbezogenen Pol aus. In Bezug auf Organisationen bedeutet Lernen die Entwicklung von Routinen, die aufgrund repetitiver Interaktionen ihrer Mitglieder entstehen (ebd.: 89). Unklar bleibt aber die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Regeln und Lernprozessen: Aufgrund welcher Züge der Spieler verändern sich die Spielregeln, wie wird bestimmt, was legitime Abweichungen von Spielregeln sind, also wie verläuft der Aushandlungsprozess, und welche systematische Rolle nimmt Lernen ein, wenn sich die Akteure an bestehenden Institutionen orientieren, und wie gestaltet sich das Lernen(Becker 2005: 10; Wetzel 2005: 15ff.)? Teilweise bietet die Theorie der Pfadbrechung bzw. -kreation Antworten auf diese Fragen an; der Sachverhalt der Aushandlung wird in Abschnitt 3.1.3 noch einmal aufgegriffen. Pfadkreation oder -brechung Seit einigen Jahren wird die Aufmerksamkeit von der Erklärung von Pfadabhängigkeit stärker weg von exogenen historischen Zufällen und hin zur Möglichkeit endogener Pfadbrechung und sogar -kreation gelenkt. Diese Variante der Pfadtheorie zielt auf die Veränderbarkeit von soziohistorisch bedingten Pfaden durch bewusstseinsfähige Akteure ab: „By stressing path creation, we draw attention to phenomena on the making“ (Garud/KarnØe 2001: 3; Schreyögg/Sydow/Koch 2003; Windeler 2003; Ackermann 2003). Statt von Pfaden auszugehen, die vornehmlich aufgrund des rationalen Handelns von Akteuren entstehen, die nach einem vermeintlichen Optimum streben, werden Akteure konzipiert, die weder vollends rational noch rein voluntaristisch agieren, aber auch nicht blind bzgl. institutioneller Optionen sind. Die Theorie der Pfadbrechung geht zwar auch von relativ überdauernden Institutionen aus, nimmt aber an, dass die soziale Welt sich in permanenter Bewegung befindet. Nicht Stabilität, sondern Veränderung gilt hier als Normalfall. Erklärt wird dieser im Rekurs auf bewusstseinsfähige Akteure, die einen absichtsvollen, bewussten Akt der ‚mindful deviation’ vornehmen können (Garud/KarnØe 2001: 6). „Mindful“ sind dabei jene Akteure, die fähig sind „to depart from … embedding structures in meaningful ways” (ebd.: 23; Giddens 1997; s. Abschnitt 3.2.3). Mit der Hinwendung zu bewusstseinsfähigen, flexiblen Akteuren, die einen vermeintlich vorgegebenen Pfad verlassen, wird die Aufmerksamkeit auf die prinzipielle Kontingenz jeglicher Innovationsprozesse gelenkt und von strukturalistisch anmutenden Vorstellungen eines ‚one best way’ (Pfade) abgerückt (Scherrer 2001; Beyer 2005). Und statt Phänomene des Wandels quasi von ‚außen’ zu betrachten, werden hier über das Konzept der ‚meaningful deviation’ Objekte, Relevanzstruk-
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turen und Zeit endogenisiert, d.h. deren Entstehung wird nicht dem historischen Zufall zugeschrieben, sondern Pfade werden verstanden als Anlässe für Innovationen, die von bewusstseinsfähigen Akteuren prozessiert werden (Garud/KarnØe 2001: 9). Im Zusammenhang mit dieser Weiterentwicklung der Pfadabhängigkeitstheorie nimmt Windeler (2003) eine strukturationstheoretische Position ein (zur Strukturationstheorie s. Abschnitt 3.3.3). Sein Interesse gilt den Prozessen, in denen Akteure zwar eine Rolle spielen, in denen sie aber weder allmächtig sind noch als rein rational handelnd konzipiert werden. Akteure sind eingebunden in für sie nicht kontrollierbare, komplexe soziale Systeme. Diese können sie kognitiv nicht vollständig durchdringen; dass dies so ist, ist ihnen dennoch reflexiv zugänglich. Vor diesem Hintergrund weist er darauf hin, dass Prozesse der Pfadbrechung immer teilweise auf reflexiven und teilweise auf nicht-reflexiven Praktiken beruhen. Der Reflexivitätsgrad der Akteure lässt sich darüber bestimmen, „inwiefern Akteure sich Regeln der Signifikation und Legitimation sowie Ressourcen der Domination im Handeln rekursiv vergegenwärtigen, sich diskursiv darüber verständigen und ihr Wissen zur praktischen Ausgestaltung der Prozesse wirksam nutzen können“ (Windeler 2003: 320). Allerdings, darauf weist Ackermann (2003) hin, kann auch neues Wissen stets nur mit bereits vorhandenen Deutungsmustern interpretiert werden. Lernen ist insofern selbst pfadabhängig, da es immer auf der Grundlage des bereits Gelernten erfolgt (ebd.: 243). In Hinblick auf die Voraussetzungen und Prozesse – die von Windeler hervorgehobenen Regeln der Signifikation und Legitimation –, die zu Veränderung beitragen, kann diese Variante der Pfadtheorie ergänzt werden um erkenntnistheoretische Betrachtungen von Fleck (1980 [1935]), die wiederum Parallelen zur Diskurstheorie Foucaults (1978ff.) aufweisen. Ergänzende wissenssoziologische Betrachtungen In die Terminologie der Pfadabhängigkeitstheorie übersetzt, kann das schon bei Fleck (1980) zentrale regelgeleitete Entstehen eines überindividuellen Wissensbestandes in der Interaktion eso- und exoterischer Kreise und die bei Foucault (2003 [1972]) aufgegriffenen diskursiven Regeln als Merkmale eines increasing return, d.h. der Institutionalisierung verstanden werden. Ein return erfolgt insofern, als durch repetitive Anwendung von Regeln und Wissen ‚Grundgewissheiten’ produziert werden, deren Geltung und Befolgung erwartet wird – Institutionen – und auf die sich die Akteure in ihrem Handeln berufen und sie damit reproduzieren. Wie es dazu kommt, arbeitet Fleck (1980) am Beispiel des Entstehens einer wissenschaftlichen Tatsache heraus. Die wesentlichen Begriffe in Flecks Erkenntnistheorie sind die des Denkkollektivs, des Denkstils und der als wahr anerkannten wissenschaftlichen Tatsache. Fleck greift dazu Überlegungen des Wissenssoziolo-
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gen Mannheim zu Denkstilen auf: Dieser wies auf die soziale Seinsgebundenheit des Denkens und des daraus resultierenden Wissens hin (Mannheim 1929: 30), weshalb kein objektiv ‚wahres’ oder individuelles Wissen existiert. Wissen hat seine Gültigkeit vielmehr in den Subjekte und Objekte relationierenden Erfahrungsräumen unter Beweis zu stellen, in denen es generiert wird. Während Mannheim auch methodologische Hinweise für das Verstehen des wissenskonstituierenden Sinns gibt – er plädiert für eine hermeneutische, interpretative Rekonstruktion des wissenskonstitutiven Sinns durch ein „Eindringen in den konjunktiven Erfahrungsraum“ (Mannheim 1980: 271ff.) –, konzentriert sich Fleck (1980) am Beispiel der medizinischen Syphilisdiagnostik und -behandlung darauf, die sozialen Mechanismen zu erklären, nach denen wissenschaftlicher Tatsachen entstehen. Auch Fleck zufolge gibt es keine objektive, allgemein und objektiv gültige Wahrheit oder Tatsachen; diese sind nicht voraussetzungslos oder ahistorisch, sondern sozial konstruiert und damit abhängig von Konventionen und Vorwissen. Er betont, dass wissenschaftliche Entwicklung auf der Basis der Anerkennung von wissenschaftlichen Tatsachen stattfindet und als ein sozialer und kumulativer historischer Prozess begriffen werden muss. Anders als Kuhn (1981), der wissenschaftlichen Fortschritt als Resultat von revolutionären Erkenntnissen verstand, den er in den engen Grenzen ‚normalwissenschaftlich’ agierender Disziplinen beobachtete, beschreibt Fleck solche Veränderungen als Resultate eines kontinuierlichen Wechselspiels bzw. Austauschs esoterischer und exoterischer Kreise (Fleck 1980: 138).19 Esoteriker sind jene, die vollständig in einen Denkstil eines Denkkollektivs eingeweiht sind, Exoteriker die, die zu ersteren in einem losen Verbund stehen und zu ihnen ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Ein Denkkollektiv ist eine „Gemeinschaft der Menschen, die im Gedankenaustausch oder in gedanklicher Wechselwirkung stehen“ (ebd.: 54). Dessen sachlich-formelle Organisation bringt eine Verstärkung des kursierenden Wissens und das, was für legitim und wahr gehalten wird (ebd.: 140), mit sich. Einen Denkstil charakterisieren demgegenüber „gemeinsame Merkmale der Probleme, die ein Denkkollektiv interessieren; der Urteile, die es als evident betrachtet; der Methoden, die es als Erkenntnismittel anwendet“ (ebd.: 130). Als den Denkkollektiven inhärente Elemente bezeichnen Denkstile eine gerichtete, auch selektive Wahrnehmung, die auf Konventionen beruht und eine Beharrungstendenz aufweist.
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Diese sind nicht gleichzusetzen mit dem systemtheoretischen ‚Innen’ und ‚Außen’, deren Differenz aufgrund der operationalen Geschlossenheit verschiedener, ausschließlicher Systeme, die allenfalls über strukturelle Kopplung miteinander verbunden sind, entsteht. Potentiell kann jeder Mitglied eines esoterischen Kreises werden, da per se eine Zugehörigkeit zum je mit diesem verbundenen exoterischen Kreis besteht, wenn nur das spezifische Wissen des esoterischen Kreises erworben wird.
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Einzelne Personen gehören gleichzeitig mehreren Kreisen und damit unterschiedlichen Denkkollektiven an. Dadurch wird ein ‚Gedankenverkehr’ möglich, durch den diese mit Ideen konfrontiert werden, die ihnen fremd sind und durch die Fortschritt erst möglich wird.20 Dieser vollzieht sich aufgrund sukzessiver Ergänzungen, Erweiterungen und schließlich Umwandlungen von Denkstilen recht langsam. Bei diesem Prozess wirken die sozialen und historischen Bedingungen gleichsam diskret auf den Fortgang der kollektiven Wissensproduktion ein (Fleck 1980: 40ff.). Fleck betont zudem, dass dieser Fortschritt, weil das „Individuum … nie oder fast nie das Bewusstsein des kollektiven Denkstils“ (ebd.: 57) habe, jedes Wissen und Erkennen mithin sozial bedingt ist, stets als ein überindividuelles Produkt zu verstehen sei. Welche Elemente dieses kollektiven Wissens- und Erkenntnisrepertoires als richtig oder falsch, passend oder unpassend attribuiert werden, ist nur angesichts der spezifischen, historisch entstandenen Denkstile in Denkkollektiven zu identifizieren, mit denen ein Wissensbestand interpretiert wird. Denkstile können durchaus sukzessive zu Denkzwängen konvertieren (ebd.: 111, 131ff., 176). Douglas (1991) greift diesen Gedanken auf und verbindet ihn mit einer Zeitund einer Raum-Komponente: Sie hält Denkkollektive für Verbünde auf Zeit, darin geltende Denkstile als implizit wirkende Kontexte für Urteile über Dinge als ‚gleich’ oder ‚ungleich’. Gleichheit ist ihr zufolge eine unbewusst, da institutionalisiert erfolgende Konstruktion (ebd.: 101, 107). Denkstile in Denkkollektiven stellen für Douglas gemeinsam ein Wissenssystem dar: In diesen erfolgt die Wissensentwicklung in Abhängigkeit von den geltenden Relevanzkriterien eines Denkkollektivs und wird reguliert durch dessen Denkstil als spezifischer Form von Interpretation (ebd.: 87). Die dem zugrunde liegenden Institutionen sind kulturell geprägt und verfügen nach Douglas über das Vermögen der Erinnerung und des Vergessens. Sie sind also keine statischen Gebilde oder manifeste Strukturen. So können auch Denkkollektive als Institutionen aufgefasst werden; sie entlasten von permanenter Reflexivität, üben aber ebenso einen gewissen Zwang aus. Die Entstehung von Denkzwängen oder pfadtheoretisch ausgedrückt: die Möglichkeit der Verriegelung wird auch deutlich bei Foucault (1981; 2003). Zwar spricht er nicht von Denkstilen und Denkkollektiven, sondern von Diskursen. Umgekehrt war zu Flecks Zeit von Diskursen noch nicht die Rede. Dennoch hat der Diskursbegriff von Foucault einige Ähnlichkeit mit dem Fleck’schen Gedankenverkehr zwischen Denkkollektiven: Fleck wie Foucault gehen davon aus, dass ‚Wahrheiten’ nur vor dem Hintergrund sozialer Überzeugungen und geteilter Annahmen hervortreten können. Beide teilen eine Skepsis gegenüber mächtigen, schöpferischen Subjekten wie z.B. bei Schumpeter. Bei Fleck wird dies anhand der 20
Der Gedankenverkehr fällt jedoch um so geringer aus, je größer die Differenz der Denkstile ist (Fleck 1980: 142).
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Denkkollektive deutlich, die das Denkbare und Sagbare quasi vorgeben, bei Foucault wird dies durch das Theorem der Subjektivierung, d.h. der Positionierung eines Subjekts kraft der Regeln des Diskurses deutlich: „Es ist immer möglich, dass man im Raum eines wilden Außen die Wahrheit sagt; aber im Wahren ist man nur, wenn man den Regeln einer diskursiven ‚Polizei’ gehorcht, die man in jedem seiner Diskurse reaktivieren muss“ (Foucault 2003: 25). Diskurse sind Foucault zufolge als spezifische historische Wissensordnungen zu verstehen, die aufgrund verflochtener, an unterschiedlichen sozialen Orten und Zeiten sowie nach gemeinsamen Regeln bzgl. der Gegenstände, Äußerungsmodalitäten, Begriffe und Strategien produzierten Aussagen entstehen (Foucault 1981). Dies ist konform mit den Fleck’schen Konventionen von Denkkollektiven, nach denen Aussagen nur legitim sind, wenn sie „im Stil des Denkkollektivs ausgedrückt“ (Fleck 1980: 133) werden. Die Fleck’schen Denkzwänge treten bei Foucault als ‚Doktrinen’ auf: diese verbieten bestimmte Aussagetypen und erlauben andere. Akteure, die diesen Doktrinen gehorchen, sich ihnen unterwerfen, grenzen sich von jenen ab, die ihnen nicht folgen und dadurch ihre legitime Teilhabe am Diskurs verlieren (Foucault 2003: 28f.). Während Foucault damit insbesondere die Macht ausdrückende und perpetuierende Differenzierung zwischen einem Innen und einem Außen betont, die sich über die Inklusion bzw. Exklusion legitimer Teilnehmer des Diskurses konstituiert, wird der Sachverhalt der Macht von Fleck nicht explizit thematisiert. Bei ihm steht statt der reglementierenden diskursiven Prozeduren vielmehr der reziproke, stabilisierende Charakter des Gedankenverkehrs im Generellen im Vordergrund. Während Fleck zwar von einer Kontinuität der Entwicklung im Rahmen des Gedankenverkehrs verschiedener Denkstile ausgeht, bestimmt Foucault Entwicklung von der Brüchigkeit, Ereignishaftigkeit bzw. Diskontinuität von Diskursen her (ebd.: 33; s. auch Abschnitt 4.1, 6.2.2). Deutlicher als Fleck, der eher unspezifisch auf ‚Beharrungstendenzen’ von Denkstilen hinweist (Fleck 1980: 140), betont Foucault dagegen die enge, ja untrennbare Verbindung von Diskursen mit Macht und den damit zum Vorschein kommenden, realitätsschaffenden Kampf um die Deutungshoheit in Diskursen (Foucault 1994: 113ff.). So verlieren Akteure, die den machtvoll durchgesetzten Doktrinen, die auch als Spielregeln für die Relevanzzuschreibung verstanden werden können, nicht folgen, ihren Zugang zum Diskurs. Foucault macht in seiner ‚Ordnung des Diskurses’ die Regelhaftigkeit deutlich, mit der Diskurse „als Ensembles diskursiver Ereignisse“ (Foucault 2003: 37) entstehen. Aufgrund dieser Regeln ist es nicht beliebig, welche Ereignisse oder Phänomene eines Diskurses als relevant betrachtet werden. Durch interne Kontrollprozeduren wie Kommentare oder den Gebrauch gängiger Kategorien, restriktive Bedingungen der legitimen Teilnahme am Diskurs oder machtvolle externe Ausschließungsprozeduren wie Verbote wird die Variation denkbarer Aussagen ver-
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mindert. Solche Kontrollprozeduren intendieren die Begrenzung von Ereignissen und Zufällen (ebd.: 10f., 18, 22) und führen zu Inklusion oder Exklusion. Festgehalten kann vorerst, dass sich Innovationen vor diesem Hintergrund in einem Zwischenraum abzuspielen scheinen, der sich zwischen variablen Handlungen und stabilen Regeln, mithin zwischen Akteur und Struktur aufspannt. Eine bestehende stabile Ordnung bringen Innovationen somit nicht zwangsläufig durcheinander. Ob sie dies vermögen bzw. eher zu Veränderung oder Stabilität tendieren, hängt ab von ihrer Form und Reichweite: Sind sie als kontextspezifische Variationen, d.h. Kopien oder Anpassungen zu verstehen oder als planvoll initiierte Impulse, mit denen eine Veränderung von Zielen und Maßnahmen angestrebt wird? Ist ersteres der Fall, dürften Innovationen dazu beitragen, einen bestehenden Pfad zu stabilisieren. Ist letzteres der Fall, werden sie die Weiterentwicklung eines Pfades unterstützen. Während das Verhältnis von Veränderung und Stabilität mit der Pfadabhängigkeitstheorie zur Seite der Stabilität hin neigt, kippt es mit der Theorie der Pfadbrechung auf die Seite der Veränderung. Hier kommen gegenüber historischen Zufällen und ökonomischen Faktoren Akteure ins Spiel, die durch ihre Reflexivität gestalterischen Einfluss auf Pfade nehmen. Der Einfluss der Akteure muss jedoch relativiert werden: Sie sind limitiert durch kontextspezifisch geltende Wissensbestände und reglementierende Praktiken der Wissensgenerierung. In der Lesart der Pfadabhängigkeitstheorie i.w.S. sowie der Pfadbrechungstheorie sind Innovationen die Resultate absichtsvoller, dabei regelgeleiteter, wissensbasierter Eingriffe in eine bestehende symbolische Ordnung. Regeln entstehen durch den repetitiven Rückgriff auf Wissen im Handeln. Bestehende Regeln verhindern – das wird in der Erkenntnistheorie Flecks und der Diskurstheorie Foucaults deutlich –, dass jegliches Wissen frei verfügbar und einsetzbar wäre. Vielmehr entstehen gewissermaßen Wissensenklaven, aus denen Innovationen prozessiert werden können, nämlich dort, wo machtvolle Akteure eines Denkkollektivs eine Wissensallokation betrieben haben, die sie in die Lage versetzt, bestehende regelhafte Pfade, verstanden als Denkzwänge, zu variieren. Nicht nur Einzelne sind dabei maßgebliche Akteure. Als Akteure im weiteren Sinne gelten, wie bei Douglas, auch die Institutionen bzw. Denkkollektive als Träger und Prozessoren von Erwartungen und Regeln. Regeln stellen dabei die stabilen Anteile, die diese Regeln produzierenden und reproduzierenden Handlungen die veränderlichen Anteile von Innovationsprozessen dar. Diese Wechselwirkungen sind es auch, aus denen Institutionen i.S. überdauernder, erkenntnis- und handlungsleitender Regelsysteme hervorgehen. Als solche können Institutionen als pfadabhängig hervorgebrachtes ‚Erbe’ der Vergangenheit verstanden werden.
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3.1.2 Spiel und Täuschung: Neo-Institutionalismus Dieser Abschnitt konzentriert sich darauf, dass Innovationen zwar in einer auf Neuheit programmierten Gesellschaft erwartet werden, diesen Erwartungen jedoch nicht immer entsprochen wird bzw. werden kann. Im Folgenden wird die Möglichkeit diskutiert, dass Innovationen mitunter nur vorgetäuscht werden. Dieses Phänomen beleuchten insbesondere Ansätze des in der Organisationssoziologie wurzelnden Neo-Institutionalismus. Neo-institutionalistische Ansätze nehmen in der Untersuchung des Verhältnisses von Stabilität und Wandel eine dynamische Perspektive ein, sie sind an den Anlässen und Regelmäßigkeiten der Entstehung und Verbreitung von Innovationen interessiert (Meyer/Rowan 1977; DiMaggio/Powell 1983; Brunsson 1989; exemplarisch zur Rezeption des Neo-Institutionalismus in der Erziehungswissenschaft: Brüsemeister 2002; Schaefers 2002; Klatetzki 2006; Fend 2008b; Kuper/Thiel 2009). Doch obwohl sich der soziologische Neo-Institutionalismus im Wesentlichen mit der Verbreitung von Innovationen in organisationalen Feldern auseinandersetzt, wird er in der Innovationsforschung bislang wenig berücksichtigt (Krücken 2005: 65). Krücken begründet dies damit, dass im Gegensatz zur Entstehung von Innovationen neo-institutionalistische Ansätze vor allem die „Diffusion bereits etablierter Ideen, Modelle und Praktiken“ (ebd.: 66) untersuchen. Allerdings vermag der Neo-Institutionalismus sowohl auf die Mechanismen der Verbreitung wie der Verankerung von Innovationen einzugehen. Neo-institutionalistische Ansätze bilden keine in sich geschlossene Theorie, sondern stellen eher eine Forschungs- und Reflexions’technologie’ dar, deren wesentlicher Schwerpunkt die Beziehung von Organisationen zu ihrer Umwelt ist. Wesentlich ist zunächst die Annahme, dass Organisationen ihre Umwelt beobachten und aufgrund dieser Beobachtungen Annahmen über zu erfüllende Erwartungen aufstellen. Grundsätzlich gilt also die Umwelt mit ihren wahrgenommenen Erwartungen als unabhängige Variable, die Organisationsstrukturen, die sich an diesen Erwartungen ausrichten, als abhängige Variable. Insofern hat der Neoinstitutionalismus eine grundsätzlich an Kognitionen ausgerichtete Basis, auf der die Erklärung der Entstehung und Veränderung von Institutionen aufruht. Mit dieser Hinwendung zu Kognitionen bzw. Wissen rückt der Vorgang der Sinngebung in den Vordergrund: Was wird als relevante Umweltveränderung wahrgenommen, auf die mittels legitimitätssichernder Performanz geantwortet werden müsste? Indem Organisationen diese sinnhafte Auseinandersetzung mit der beobachteten Umwelt zugestanden wird, können sie im Rekurs auf Berger und Luckmann (1995) als kollektive kognitive Konstruktionen bezeichnet werden (Klatetzki 2006). Neben dieser kognitiven, auf gemeinsam geteilten Überzeugungen und selbstverständlichen Grundgewissheiten (s. dazu Abschnitt 4.1.2) fußenden Säule des Neo-Institutionalismus’ unterschiedet Scott (2001), wie im Exkurs 1 bereits
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erwähnt, noch zwei weitere Säulen von Institutionen: eine regulative und eine normative. Während bei regulativen Institutionen rationale Zweckmäßigkeitserklärungen im Vordergrund stehen, sind es bei normativen Institutionen einzuhaltende Verpflichtungen. Regulative wie normative Institutionen sind verknüpft mit ihrer kognitiven Dimension: erstere beruhen auf der sozialen Verpflichtung, Normen und Werte zu akzeptieren und Regeln zu befolgen und wirken als Druck, zweitere beruhen auf der Einsicht in die Zweckmäßigkeit von Regeln und Gesetzen und wirken als Zwang. Kognitive Institutionen stellen quasi selbstverständlich kollektiv geteilte und routinehaft verwendete Deutungsmuster bereit, mit denen die anderen beiden Institutionen wahrgenommen und interpretiert werden. Im soziologischen Neo-Institutionalismus wird davon ausgegangen, dass Institutionen im oben skizzierten Sinne (Normen, Symbole, Deutungsmuster, Überzeugungen) aufgrund begrenzt rationaler Akteure sich nicht bestmöglich, sondern ‚nur’ angemessen verändern. Legitimität ist der gegenüber Rationalität geltende Erklärungshorizont für Wandel. In beiden im Folgenden knapp skizzierten Varianten, der von DiMaggio und Powell (1983) wie der von Meyer und Rowan (1977), wird davon ausgegangen, dass der Mythos der Rationalität dennoch genährt wird: einmal mit der aktiven Übernahme vermeintlich erfolgreicher Konzepte, die für den neuen Anwendungskontext mitunter nicht auf Tauglichkeit hinterfragt werden, aber durch die Übernahme eine nachahmenswerte Problemlösung suggerieren, und einmal hinsichtlich der lediglich rhetorischen Übernahme von Innovationssemantiken. Dissens besteht also darüber, wie tief die aus der Umwelt einwirkenden Impulse auf Organisationen einwirken: So gehen DiMaggio und Powell (1983) von umfassenden Angleichungsprozessen zwischen Organisationen innerhalb organisationaler Felder aus. Sie zeigen auf, dass aufgrund von wahrgenommenem Zwang, Druck oder Unsicherheit wegen gegenseitiger Beobachtung und gegenseitiger Imitation in so ge21 nannten organisationalen Feldern Prozesse der isomorphischen Angleichung 22 stattfinden: Organisationen wenden Mechanismen an, die sie in die Lage versetzen, die wahrgenommenen Erwartungen ihrer Umwelt zu erfüllen und insofern als 21
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Organisationale Felder bestehen aus unterschiedlichen, netzwerkartig miteinander gekoppelten Organisationen, die unterschiedlichen Rationalitäten folgen – z.B. Schulen, Aufsichtsbehörden, Fördervereine, Schulforschungseinrichtungen, Wirtschaftsunternehmen, die Schulprojekte fördern etc. –, und die aufgrund ihrer Kopplung gemeinsam geteilte Denk-, Erfahrungs-, Wahrnehmungs- und Handlungswelten darstellen (DiMaggio/Powell 1983; Heidenreich 1997; Scott 2001). Unter der Bedingung der Isomorphie kann tendenziell von Stabilisierung ausgegangen werden, da sich die Akteure angesichts von Unsicherheit an geltenden Leitvorstellungen (Regeln, Institutionen) orientieren. Im Idealfall können daher bei zunehmender Angleichung nur noch wenige Abweichungen beobachtet werden, die überhaupt eine Diskontinuität hervorrufen könnten (Beyer 2005; Scherrer 2001).
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legitim anerkannt zu werden. Sie nehmen an, dass diese Homogenisierung bis in die Praktiken hinein ihren Niederschlag findet (ebd.: 150ff.). Meyer und Rowan (1977) dagegen gehen von einer weitaus geringeren Reichweite dieser Angleichungsvorgänge aus. Sie stellen dar, dass auf wahrgenommene Anforderungen der Umwelt mitunter nur zum Schein reagiert wird oder diese lediglich rhetorisch bedient werden: Meyer und Rowan unterscheiden dazu eine Formalitätsebene (‚talk’) und eine nur lose auf diese bezogenen Aktivitätsebene (‚action’). Demnach können Organisationen, während sie einen legimitätssichernden ‚talk’ gegenüber ihrer Umwelt vorführen, intern aber ungestört ihre routinisierten ‚actions’ praktizieren, ihre Umwelt täuschen. Diese an das Goffman’sche Konzept des unterschiedlichen Spiels auf Vorder- bzw. Hinterbühnen (Goffman 1977: 143ff.) angelehnte theoretische Figur des Auseinanderklaffens von ‚talk’ und ‚action’ wird auch dargestellt als mythenbildende Heuchelei (Brunsson 1989). Weick (1976) reflektiert sie als Phänomen loser Kopplung (s. Abschnitte 1.1.1, 1.3.2). Durch lose Kopplung sind Neuerungen möglich, die über feste Kopplung integriert werden. Lose Kopplung ist als dialektische Beziehung auch zwischen kollektiven Akteuren vorzufinden, sofern die Akteure willens und in der Lage sind „to speak different languages to different levels“ (Orton/Weick 1990: 209). Durchaus wird loser Kopplung in Hinblick auf Innovationen eine positive Seite abgewonnen: Sie wird dafür verantwortlich gemacht, dass Innovationen überhaupt stattfinden können, da für kollektive Akteure auf dieser Basis eine größere Chance besteht, mit neue Informationen konfrontiert zu werden (Granovetter 1973; Valente 1994: 49ff.; Rogers 2003: 305ff.; Levin/Cross 2004). Vor diesem Hintergrund kann auch das Bedienen von Rationalitätsmythen, das Vortäuschen, gleich ob es auf einer rhetorischen oder auf einer praktischen Ebene vorgeführt wird, durchaus rational sein: Das ‚So-Tun-als-ob’ oder die Imitation dient einerseits der Sicherstellung von Legitimität. Andererseits kann durch das Vertrauen auf die Rationalität ‚fremder’ Lösungen eine Entlastung von Reflexivitätserfordernissen geschaffen werden, die im Zusammenhang mit (wechselseitigem) Vertrauen (Preisendörfer 1995; Buscoa/Riccabonia/Scapens 2006) oder Abkürzungsstrategien (Aronson/Wilson/Akert 2004) zur Überwindung von Unsicherheit aufgrund der ‚Lücke’ zwischen Wissen und Nicht-Wissen (Kade/Seitter 2003) reflektiert werden. Durch diese Entlastungen wiederum können Handlungsräume frei werden, die die Hervorbringung von Innovation begünstigen. Denn die handlungsbezogene Deutung einer verunsichernden Situation, eines wahrgenommenen Handlungsdrucks oder eines faktischen Zwangs wird durch die Adoption von andernorts etablierten Praktiken ohne weitere Prüfung ihrer Wirksamkeit im respektiven organisationalen Kontext bzw. Feld abgekürzt, die erforderte Interpretationsleistung wird auf ein Mindestmaß reduziert (Hasse/Krücken 2005: 77). Ein
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kumulativer Nebeneffekt davon ist der Isomorphismus organisationaler Felder (Schimank 2002: 6), der eine institutionsbildende Wirkung hat und insofern für die Aufrechterhaltung und Stabilität sozialer Ordnung elementar ist. Wenngleich die Analyse der Verbreitung von Innovationen ein zentrales Anliegen des Neo-Institutionalismus ist bzw. der Neo-Institutionalismus als eine „Theorie des Wandels“ (Hasse/Krücken 2005: 89, 66) dargestellt wird, bleiben Innovationen im hier verstandenen Sinne eine black box: Innovationen werden gleichgesetzt werden mit ihrem Diffusionsprozess. Nicht ihr Entstehen, sondern die Bedingungen ihrer sozialen Verbreitung stehen somit im Vordergrund (Krücken 2005: 66). Indem auf Mimesis und Isomorphien hingewiesen wird, die aufgrund der ‚taken for granted’-Annahmen der Akteure mehr oder weniger unreflektiert erfolgen können, wird vornehmlich auf Stabilität bzw. Re-Stabilisierung fokussiert. Offen bleibt damit, wie sich Innovationen anbahnen und – als gerade nicht selbstverständliche und legitime Formen – sozial verankern. Die Grundannahmen sowohl der Pfadabhängigkeitstheorie wie auch des NeoInstitutionalismus’ – die reproduzierende Verwendung sozial und historisch erfolgreicher Deutungsmuster und Praktiken bzw. Anpassung von Handlungen an Erwartungen aufgrund der Anerkennung ‚fremden’ Sinns – verkennt endogene kreative Leistungen im organisationalen Feld. Sie gehen von einem Primat normativer, exogener Faktoren aus, die durch die Organisationen im Feld aufgegriffen und 23 symbolisch in ihr Handeln integriert werden. Aber was wird überhaupt als Erwartung oder Norm wahrgenommen, der entsprochen werden müsste? Wie wird diese Erwartung prozessiert? Und: Wenn von ‚endogen’ und ‚exogen’ die Rede ist (s.o.), stellt sich die Frage nach den Grenzen, innerhalb oder außerhalb derer ein Einfluss als endogener oder exogener gilt, mithin die Frage nach der Wahl und Begründung eines Beobachterstandpunkts. Zu Ungunsten der Beobachtung von Prozessen konzentrieren sich neo-institutionalistische Ansätze vornehmlich von der Ergebnisseite her auf die Vorgänge, die zur Herausbildung von Institutionen geführt haben. Die Bedingungen und Formen der Prozesse selbst treten demgegenüber in den Hintergrund. Zur Überwindung dieses Bedingung-/Form- bzw. Resultat-/Prozess-Dilemmas schlägt Florian (2008) vor, nicht soziale Institutionen, sondern „soziale Institutionalisierung als einen fortlaufenden Zyklus“ (ebd.: 142; Herv. IB) zu begreifen, in denen beide Elemente analytisch in einen dialektischen Bezug zueinander gesetzt werden. Dies funktioniert aber nur, wenn Akteure als dritte Kraft theoretisch 23
Als Grundlage für eine erweiterte sozialtheoretische Fundierung des Neo-Institutionalismus, bei der endogene Entwicklungen stärker berücksichtigt werden, gelten die Feld-, Praxis- und Habitustheorie Bourdieus wie die Strukturationstheorie von Giddens. Mit ihnen ist es zudem möglich, das prinzipiell offene Konzept des Neo-Institutionalismus für Machtphänomene zu sensibilisieren (Florian 2008; Hasse/Krücken 2005: 105; s. Abschnitt 3.2.2).
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aktiviert werden und ihnen zugestanden wird, eine Funktion als Treiber dieses dialektischen Verhältnisses zu einzunehmen. Dies wiederum ist nur möglich, wenn Akteure so verstanden werden, dass sie vorgefundene Gegebenheiten eben nicht fraglos hinnehmen, sondern sie i.S. Bergers und Luckmanns (1995) oder im Sinne Giddens’ (1997) als bewusstseinsfähige Akteure und insofern als aktiv an der sozialen Konstruktion von Wirklichkeit Beteiligte begriffen werden. Diese Konzeptionen berücksichtigen, dass Akteure nicht vollkommen voluntaristisch agieren, sondern ihr Handeln und Entscheiden durch die Institutionen, auf die sie Bezug nehmen, bereits gelenkt sind (s. ausführlicher Abschnitt 3.2.2). 3.1.3 Innovation: Spiele in ausgehandelten Zonen tolerierter Differenz In den vorigen Abschnitten wurde Kontinuität auf der Seite von Pfadabhängigkeit, Diskontinuität auf der Seite der Pfadbrechung, Ordnung auf der Seite der Stabilität, Differenz als Unordnung auf der Seite der Diskontinuität verbucht. Einmal ist mit der Orientierung an Institutionen die Aufmerksamkeit auf eine Kontinuität gerichtet, die durch Innovationen brüchig wird und eine Diskontinuität erfährt, und einmal werden mit der Orientierung an Diskontinuität, die von Phasen der Stabilität abgelöst wird, einflussreiche Akteure stärker in den Vordergrund gestellt. Ein solcher Struktur/Prozess- bzw. System/Akteur-Dualismus ist jedoch vereinfachend, reproduziert einen Gegensatz zwischen Objektivismus und Subjektivismus und lässt so außer Acht, dass auch die Kontinuität von Strukturen bzw. Institutionen auf Prozessen beruht, die von Akteuren, die sich mit ihrer sozialen Umwelt auseinandersetzen, getragen wird und in denen sich vorgefundene symbolische Ordnungen situativ und kontextabhängig unter Beweis stellen müssen. Im nun folgenden Abschnitt wird eine beide Ansätze synthetisierende Herangehensweise diskutiert. Relativiert wurde der Dualismus von Stabilität und Wandel im Rekurs auf Flecks erkenntnistheoretische sowie Foucaults diskurstheoretische Überlegungen zur Wissensgenese. Diese stellen heraus, dass die Wissensproduktion durch Institutionen, d.h. Regeln, Erwartungen aber auch durch Prozeduren der Macht eingeschränkt ist, also nicht vollkommen frei, sondern im Angesicht von Erwartungen verläuft: Die Produktion von Wissen unterliegt Spielregeln, die befolgt werden müssen, damit das Ergebnis als legitim akzeptiert werden kann. Auf den ersten Blick betont so eine Darstellung noch einseitig reaktive Anpassungsvorgänge und schneidet dem Handeln seinen prospektiven Gehalt ab. Letzterer wird stärker berücksichtigt, wenn die Spielregeln selbst als veränderlich betrachtet werden. Das bedeutet, dass Regeln nicht einfach rezipiert und mimetisch angewendet, sondern immerfort interpretiert und damit mit Sinn ausgestattet werden. Weil auch die Kontexte, in denen die Institutionen – verstanden als Raum und Zeit überdauernde, denk-, wahrnehmungs- und handlungsrelevanten Regeln und Praktiken – angeru-
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fen werden, sich permanent verändern, ist der Sinn dieser Regeln aber selbst veränderlich und insofern nicht objektiv oder allgemein gültig. Ortmann (2003b) spitzt dies wie folgt zu: Erst die Anwendung einer Regel gibt darüber Auskunft, ob diese funktional ist oder nicht. D.h., ob eine Regelverletzung stattgefunden hat oder nicht, lässt sich erst nachträglich, in zeitlicher Distanz zum Geschehen beurteilen – erst mit dieser Beurteilung gewinnt die Regel ihre Geltung (ebd.: 15, 74). Diese von Ortmann dargestellte Beurteilung ist einer regelbasierten Handlung also chronologisch nachgeordnet. Insofern sich die Beurteilung auf die Passung einer durchgeführten Handlung mit ihrem regelbasierten Entwurf bezieht, ist eine Parallele zu dem von Schütz (1974) ausgeführten rekursiven Zusammenhang des Erzeugens und dem Erzeugnis anzutreffen (s. Abschnitt 2.5.1). Das Hervorbringen (Erzeugen) einer Handlung (Erzeugnis) folgt einem subjektiven Sinn. Dessen objektiver Sinn ist über das hervorgebrachte Resultat im Sinnzusammenhang des Deutenden zu rekonstruieren (ebd.: 186ff.). Erzeugnisse und Erzeugen sind beides Formen des Handelns, das einmal in der Welt und einmal in die Welt hineinwirkt (Luckmann 2002: 40ff.). Demnach können Regeln als mit objektivem Sinn zu versehende Erzeugnisse und regelbasierte Handlungen ebenso wie Interpretationen als Vorgänge des Erzeugens betrachtet werden. Regeln existieren in diesem Sinne zwar als objektiver Sinn, werden aber in ihrer Anwendung im (Denk-)Handeln zu subjektivem Sinn transformiert; damit können Regeln zugleich als Erzeugnisse und als Vorgänge des Erzeugens betrachtet werden. Regel’verletzungen’ sind in dieser Optik Normalfälle, die gleichsam beiläufig im Zuge der Anwendung von Regeln auftreten und über die erst retrospektiv und in Hinblick auf die Passung mit zugrunde liegenden Handlungsmotiven entschieden werden kann. Handlungen sind im Schütz’schen Sinne auf Motive zurückzuführen, er unterscheidet um-zu- und weil-Motive. Während um-zu-Motive sich auf die zielbezogene Handlungskonstitution beziehen, erklären weil-Motive die erlebnisbasierten Entwürfe, die dem Handeln zugrunde liegen (Schütz 1974: 118ff.). Umzu-Motive sind eher prospektiv gerichtet, aber verwurzelt in der Vorgeschichte zurückliegender Erfahrungen; weil-Motive sind eher retrospektiv gerichtet, indem sie die um-zu-Motive kontextualisieren (Schütz 1974: 125; auch Weick 1995). Diese Verwobenheit von um-zu- und weil-Motiven bringt die Einlagerung von Vergangenheit in Gegenwart sowie, vermittelt über Handeln, in die Zukunft zum Ausdruck; statt einer linearen wird eine zirkuläre Vorstellung von Zeit deutlich, die mit einem zirkulären Verständnis von Innovation konform geht (s. auch Abschnitt 2.2.1). Hinsichtlich des Befolgens oder Abweichens von Regeln und dem Grad der Bewusstheit, mit dem diese Handlungen erfolgen, gehen die theoretischen Standpunkte auseinander (s. Abschnitt 3.1.2 und 3.2.). Festgehalten werden kann an dieser Stelle, dass die Auslegung oder Interpretation einer Handlung als regelkon-
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form oder regelabweichend selbst variabel ist, weil sie sich für diese Beurteilung auf Deutungsschemata beruft, die ihrerseits kontextabhängig sind. Ortmanns Hinweis – ordnungskonstituierende Regeln können im Rahmen tolerierter Differenz verletzt werden, ohne die Ordnung zu gefährden – verweist insofern darauf, das es ‚Verhandlungssache’ ist, was als konform oder abweichend wahrgenommen und akzeptiert oder abgelehnt wird. Vollkommen beliebig bewegen sich die Akteure aufgrund ihrer wechselseitigen Beobachtung und Bezugnahme aufeinander ohnehin nicht, denn sie sind aufeinander „eingespielt“ (Ortmann 2003b: 141). Dies ermöglicht es sozialen Akteuren, die Bedingungen der Verletzung oder Befolgung ihres Regelwerks stets neu zu kreieren und damit Ordnung zu stiften (ebd.: 143). In diesem Sinne sind ordnungskonstituierende Regeln Objekte des Spiels, und Ordnung selbst kann als Gegenstand von (spiel)regelbasierten Prozessen betrachtet werden; sie ist dynamisch. Strauss (1978) geht im Rekurs auf die symbolischen Interaktionisten Mead, Blumer und Goffman und in Auseinandersetzung mit der Kritik am symbolischen Interaktionismus (dazu überblicksartig Nadai/Maeder 2008) in seinem Konzept der ‚negotiated order’ davon aus, dass jede Ordnung ein Resultat von Ver- und Aushandlungsprozessen ist, die von organisationalen Strukturen beeinflusst sind. Diese organisationalen Strukturen beeinflussen mit, wie Aushandlungsprozesse verlaufen: Sie fördern bestimmte Ordnungen und verhindern andere. Strauss geht weiter davon aus, dass in jeder Interaktion implizit oder explizit Verhandlungen stattfinden. Sie regulieren und aktualisieren jeweils gültige Ordnungen. Ordnung ist demnach kein überdauernder Zustand, sondern vielmehr ein permanenter Prozess. So halten auch Maines und Charlton (1985) fest, dass die „negotiated order perspective … the temporal and transformational nature of organizsational structure and therefore focuses on how structures evolve and are transformed through negotiations“ (ebd.: 296) hervorhebt. Doch selbst wenn Aushandlung ein grundsätzliches Prinzip sozialer Ordnung ist, ist nicht alles zu jeder Zeit aushandelbar, sondern es gibt einen Kern nicht verhandelbarer Dinge. Verhandlung ist ihm zufolge nur denkbar, wenn die Kontexte überhaupt etwas Verhandelbares zur Disposition stellen, also Merkmale loser Kopplung aufweisen. M.a.W. begrenzt der Kontext, was verhandelbar ist (ebd.: 248, 252; aus akteurstheoretischem Blickwinkel Hall/Spencer-Hall 1982; aus Governanceperspektive Schimank 2002; aus bildungstheoretischer Perspektive: Reichenbach 2000). Die Rekonstruktion dessen, wie dieser begrenzende und ermöglichende Kontext geschaffen wird und wie sich dieser Kern in den respektiven Kontexten darstellt, ist Aufgabe von Forschung. Es geht also darum, die dialektischen Prozesse der Aushandlung von Regeln der Ordnung zu analysieren. Aushandlungsprozesse sind vielmehr der Motor für die permanent erfolgende (Wieder-)Herstellung sozialer Ordnung (Strauss 1978: 234ff.). Bei aller Varietät der je aktuellen Form des
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Aushandelns geht Strauss von der universellen Gültigkeit des Prinzips der Aushandlung aus. Varianzen des Aushandelns zeigen sich aufgrund ihrer Einbettung in verschiedene soziale Kontexte, in denen unterschiedliche Regeln gelten und in denen die Akteure mit unterschiedlichen Ressourcen ausgestattet sind. Innovationen, so kann vor diesem Hintergrund festgehalten werden, sind Resultate von Aushandlungsprozessen. Je nach Kontext, in dem diese Aushandlungen stattfinden, sind andere Innovationen zwar denkbar, aber nicht machbar. Die Bedingungen der symbolischen Machbarkeit von Innovation zu rekonstruieren, ist damit eine Aufgabe der Innovationsanalyse (s. Kapitel 6).24 Unter Berücksichtigung des in Abschnitt 2.5 skizzierten Verständnisses von Innovationen als Wissenspassagen sowie mit Blick auf die Durchführung einer Innovationsanalyse sollen an dieser Stelle die Konzepte des Spiels sowie der Bühnen, auf denen unterschiedliche Rationalitäten befolgt werden, festgehalten werden. Diese Konzepte scheinen insofern aufschlussreich zu sein, als mit ihnen differenzierte Aussagen über die Entsprechung von symbolischer Ordnung und Praktiken möglich werden. Das Konzept des Sprachspiels weist auf die Variablität der sprachlichen Darstellung von Sinn ebenso hin wie auf dessen performativen Charakter als soziale Praxis. Die Bühnen-Metapher bringt komplementär die Erwartungshaltungen zum Ausdruck, mit denen sich Akteure mit unterschiedlichen Perspektiven und Erfahrungen in einem Raum begegnen. Mit der Spielmetapher wird der Fokus auf die inneren Prozesse von Akteurskonstellationen, mithin deren Mikrologiken verlagert (Crozier/Friedberg 1993; Mintzberg 1979). Spiele sind die sozialen Vorgänge, aus denen eine kontingente symbolische und soziale Ordnung hervorgeht; sie ist kontingent aufgrund der Ungewissheit des Kräfteverhältnisses der mitspielenden Akteure. Ortmann und Becker (1995) beziehen die Idee des Spiels explizit auf Innovationen. In Anlehnung an die in neo-institutionalistischen Ansätzen vorgenommene Unterscheidung verschiedener Rationalitäten differenzieren sie Innovationsspiele und Routinespiele: In Routinespielen kooperieren die Beteiligten auf der Basis anerkannter Regeln, während sie in Innovationsspielen eben diese Regeln, ihre Beziehungen zueinander in Frage stellen und (ebd.: 66ff.; Crozier/Friedberg 1993). Die Differenzierung dieser verschiedenen Spielarten ist insofern aufschlussreich, als sie als allgemeines Charakteristikum der Interaktion im Kontext von Innovationsprozessen den Versuch der Akteure herausstellen, neue Spielregeln zu etablieren. Die Abweichung von bestehenden Regeln bzw. der Regelbruch sind bei Innovationen ein Normalfall, und die damit einhergehenden „Risse im sinnhaften Auf24
Mit der Berücksichtigung auch von unterdrückten oder unterlassenen Aushandlungen werden bereits Anschlüsse für die spätere Auseinandersetzung mit Formen struktureller Macht und den makrosoziologischen Ausbau dieses Paradigmas angelegt, der in der Diskurstheorie aufgegriffen wird (s. Abschnitt 5).
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bau der sozialen Welt“ (Ortmann 2003a: 23) werden stillschweigend geduldet. Denn die Regelabweichung erfolgt nicht beliebig, sondern wird in ‚Zonen tolerierter Differenz vollzogen’ (Ortmann 2003a: 271; Ortmann 2003b: 140ff.; ausführlicher s. Abschnitt 3.2.3). Um noch toleriert zu werden, muss die Regelabweichung von den Akteuren als sinnvoll oder funktional erkannt werden. Aufgrund ihrer gegenseitigen Beobachtung und um nicht in Legitimationsnot zu geraten, neigen die Akteure tendenziell dazu, in vorweggenommener Erwartung der Bewertung ihres Handelns durch Beobachter, die praktizierte Abweichung in tolerierbaren Grenzen zu halten (Ortmann 2003a: 84, 100). Abweichungen, wie sie im Rahmen von Innovationsspielen stattfinden, sind damit als Gegenstand von Verhandlungen zu verstehen, in denen sich Spieler gegenüber stehen, die mit ungleichen Voraussetzungen hinsichtlich ihres Wissens, ihrer sozialen Position, aus der heraus sie Deutungsmacht für sich beanspruchen können, ausgestattet sind. Innovationen sind damit im übertragenen Sinne zu betrachten wie ein Spielball, der zwischen den Interessen unterschiedlicher Akteure hin und her bewegt wird und dabei jeweils vorübergehend festgehalten (angeeignet) wird, bevor weitergespielt wird. Wer mitspielt und wer nicht, und welcher Ball gespielt wird, ist Gegenstand von Aushandlungen. An diesen Aushandlungen nehmen Akteure teil, die mit unterschiedlichen Ressourcen, Verfügungsrechten und -fähigkeiten ausgestattet sind. Diese Annahme ist kongruent mit dem im Abschnitt 2.5 skizzierten Verständnis von Innovation als Bewegungsbegriff und der Vorstellung von Innovationsprozessen als Wissenspassagen. Nun kann ergänzt werden, dass das Durchschreiten dieser Passagen nicht wie auf geradlinigen, ‚besten’ Pfaden verläuft, sondern vor dem Hintergrund unterschiedlicher Angemessenheitslogiken kontingent ist. Der Weg wird von Taktiken und Strategien beeinflusst, die die einander begegnenden Spieler einsetzen, um zu ihrem jeweils intendierten Ergebnis zu gelangen. Innovationen als Wissensform sind insofern angewiesen auf die ‚spielerische’ Aushandlung von Wissen über tolerierbare Abweichungen, zugespitzt: Innovationen werden durch die permanente Wissensarbeit konstruiert. Bezogen auf Innovationen bedeutet dies, dass Erwartungen, wie sie in einer allgegenwärtigen Innovationsrhetorik zum Ausdruck kommen, als sprachlich vorweggenommene Zuschreibungen eines Handlungsergebnisses kommunikativ generiert und prozessiert werden. Hier wird davon ausgegangen, dass Sprachspiele Ausdruck für Aushandlungsprozesse sind, in denen um die Aneignung von Innovation ‚gerungen’ wird, sie also mit Praktiken verwoben sind. Wie bereits weiter oben angedeutet, ist mit dem Verweis auf das Konzept des Spiels zugleich ein semantisches Feld eröffnet, das Spielregeln und Spieler und umfasst, die performativ symbolische Ordnung schaffen.
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3.2 Wandel und Stabilität im Medium des Sozialen: Zur Ordnung des Wandels Wie bereits ausgeführt, ist die Frage der Gewichtung von Stabilität bzw. gegenüber Wandel eine Frage des theoretischen Standpunkts. Der hier angesichts der Gegenwartsdiagnose der ‚Entgrenztheit’ für angemessene gehaltene Standpunkt liegt in sozialtheoretischen Ansätzen, die Handlungen mit der Dynamik erklären, mittels derer symbolischer Wissensordnungen hervorgebracht werden, auf die sich Akteure beziehen. Diese Wissensordnungen sind nicht per se gegeben, sondern Gegenstand kommunikativer (Aushandlungs-)Prozesse, die beeinflusst werden durch historische, kontextabhängige und situative Faktoren. Sie sind Spielball in Akteurskonstellationen, die den Sozialraum konstituieren. Dieser besteht aber nicht nur aus Akteuren, sondern auch aus den Dingen, auf die sie mit Sinngebungsprozessen reagieren bzw. die sie aufgrund ihrer Wahrnehmung als sozial relevant konstituieren. Methodologisch wird mit einem kulturwissenschaftlich orientierten Ansatz ein rekonstruktiv-interpretativer Zugang zum Gegenstand nahegelegt (s. dazu Abschnitt 5.2). Im Folgenden werden die soziologische Systemtheorie Luhmanns, die Feldund Praxistheorie Bourdieus sowie die Giddens’sche Strukturationstheorie skizziert und in ihrer Bedeutung für die Formulierung eines forschungsleitenden Inno25 vationsmodells diskutiert. Weder beansprucht die Auswahl Vollständigkeit, noch ist ein expliziter und systematischer Theorienvergleich beabsichtigt. Die Theorien werden ausgewählt, weil sie die bislang herausgearbeiteten Konzepte bzw. grundsätzlichen Sachverhalte in ihren Mittelpunkt stellen. Es sind dies die Konzepte der Kommunikation – d.h. die Frage nach dem Verhältnis und der theoretisch gedachten Möglichkeit von Vermittlung bzw. Aneignung, der Wissens-, Sinn- bzw. Bedeutungsgenese und deren Verhältnis zum Handeln – das umfasst die Frage der Prozesse bzw. des Verhältnisses von Kontinuität und Diskontinuität bzw. die des Verhältnisses von Akteur und System, Handlung und Struktur, der Grenzen bzw. Entgrenztheit – dies betrifft die Frage nach der Konstitution des sozialen Raums, in dem sich Veränderung und Stabilität konstituieren. Sie werden zudem auf ihre Akteurkonzepte sowie die theoretische Möglichkeit des ‚Lernens’ befragt.
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Die Auswahl stellt keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern begründet sich in deren Konzeptualisierung des Verhältnisses von System und Akteur, Gegenwart und Zukunft, Planung und Emergenz – auf einer Metaebene sprechen sie das Verhältnis von Innovation und Wandel an (Hasse/Krücken 2005).
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Im Folgenden werden zunächst die für den Gegenstandsbereich ‚Innovation’ o.g. relevanten Konzepte aus den unterschiedlichen theoretischen Perspektiven dargestellt. Sie werden dann in Hinblick auf das Konzept von Innovationen als Wissenspassagen diskutiert. Der theoretische Grundtenor dieses integrativen Unterfangens hat symbolisch-interaktionistische und sozialkonstruktivistische Anklänge, nach denen sich Innovationen zwischen Strukturen bzw. struktureller Determiniertheit und vermeintlich uneingeschränkt wirkmächtigen, individuellen oder kollektiven Akteuren im Medium des Sozialen abspielen. 3.2.1
Systemtheorie26: Innovation ist nicht möglich „Sowohl Kontinuität als auch Diskontinuität sind möglich, und es hängt von der jeweils neuen Gegenwart ab…, ob Kontinuität oder Diskontinuität realisiert werden“ (Luhmann 1981: 85)
In Teilen der sozialwissenschaftlichen Innovationsforschung wird der bereits erwähnten Diagnose einer mangelnden sozialtheoretischen Grundlegung mit einem Rückgriff auf die Systemtheorie nach Luhmann begegnet (z.B. John 2005; Roth 2009; in der Erziehungswissenschaft z.B. Buhse 2006). Aus der Systemtheorie lassen sich, so die Argumentation, trennscharfe analytische Kategorien ableiten, die im Folgenden in Hinblick auf ihre Verwendung für die Innovationsanalyse diskutiert werden.Luhmann legt seine Systemtheorie als eine Theorie des Sozialen von großer, universal angelegter Reichweite an, die der Frage nachgeht, wie soziale Systeme entstehen und funktionieren. Die Systemtheorie postuliert, dass diese sozialen Systeme sich aufgrund ihrer Referenz auf Sinn reproduzieren bzw. stabilisieren. Sinn umfasst verschiedene Dimensionen: eine sachliche, eine zeitliche und eine soziale. Erzeugt und aktualisiert wird Sinn kommunikativ und unter Verwendung von Kommunikationsmedien. Das Evolutionsprinzip mit seinen Elementen der Variation, Selektion und Restabilisierung bestimmt das Verhältnis von Veränderung und Stabilität als ein rekursives. Ordnung durch Systeme und deren Konstitution im Medium Sinn Die Systemtheorie stellt sich in sozialer Hinsicht als Kommunikationstheorie, in zeitlicher Hinsicht als Evolutionstheorie und in sachlicher Hinsicht als eine Differenzierungstheorie dar (Treml 2004; Nassehi/Saake 2007). Sach-, Zeit- und Sozial-
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Die Begriffe der Systemtheorie sind so sehr ineinander verwoben, dass „sie im Grunde simultan dargestellt werden müssen“ (Willke 2000: 11).
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dimension sind miteinander verwoben i.d.S., dass das Soziale gedacht wird als veränderbar und konstituiert durch differenzbildende Kommunikation. Die Gesellschaft gilt in der Systemtheorie zunächst als ein Sozialsystem mit funktional differenzierten, autonomen, operativ geschlossenen Teilsystemen (Luhmann 2004a: 23). Unterschieden werden Interaktions-, Organisations- und Funktionssysteme. Diese Differenzierung ist nicht als Zerlegung eines Ganzen in Einzelteile zu verstehen, sondern vollzieht sich als Ausdifferenzierung funktionaler Subsysteme (z.B. Politik, Erziehung, Wirtschaft u.a.; Kneer 2004: 28). Unterschieden werden Interaktions-, Organisations- und Gesellschaftsysteme. Psychische Systeme stellen eine Umwelt dieser drei Systemarten dar. Während Interaktionssysteme auf der Grundlage der Kopräsenz von Individuen funktionieren, gilt dies nicht zwingend auf der Ebene der Organisationssysteme, d.h. den für die gesellschaftliche Existenz funktionalen Systemen wie der Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, 27 Erziehung, Medien etc. Systeme haben grundsätzlich die Funktion, die jeweils in ihrer Umwelt herrschende Komplexität funktional zu reduzieren. Dies erfolgt über den je systemeigenen operationalen Sinn, je eigene Operationen und relativ stabile Codes (Luhmann 2004a: 35), die ihre Existenz vor dem Hintergrund des Umgangs mit gegenwärtigen Ereignissen aufrechterhalten bzw. reproduzieren. An dieser Stelle, an der zur Identifikation der Träger solcher Erwartungen „normalerweise vom Menschen geredet wird“ (Saake 2004: 106), findet sich bei Luhmann der Sinnbegriff. Als Sinn gilt Luhmann „die Differenz von Aktualität und Potentialität“ (Luhmann 1998: 40; 2004c: 233), d.h. als eine über die Operation Kommunikation erzeugte, je nach System unterschiedlichen Möglichkeiten in sachlicher, zeitlicher und sozialer Hinsicht. Jede in einem sozialen System stattfindende Operation erfolgt im Rekurs auf Sinn (1998: 44; Luhmann 1984). Jedes soziale Teilsystem ist aufgrund eigenen Sinns operativ von anderen getrennt, über Kommunikation jedoch mit ihnen gekoppelt. Kommunikation Soziale Systeme prozessieren Sinn und konstituieren damit ihre Grenzen in sprachlich-symbolisch vermittelter Kommunikation (Luhmann 1984: 192ff.). Kommunikation nimmt damit in der Systemtheorie einen entscheidenden Stellenwert ein: Sie ist der Schlüssel zur Erzeugung von Sinn und die zentrale Operation, auf deren Grundlage Systeme sich konstituieren bzw. reproduzieren.
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Die hier mit dem Feldbegriff beschriebenen funktionalen Sozietäten sind in der Terminologie Luhmanns auf der Ebene der Organisationssysteme angesiedelt. Sie unterscheiden sich von jenen in Hinblick auf die Zusammensetzung der Akteure und ihren institutionellen Hintergründen.
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Kommunikation ist unterteilt in die selektiven Teilprozesse Information, Mitteilung und Verstehen, die über Sprache, Schrift und anderen prototypische Operationen zwischen Sender und Empfänger stattfinden. Dabei ist festzuhalten, dass in Luhmanns Perspektive Kommunikation nicht als Handlung individueller Akteure gilt, sondern als soziales Phänomen behandelt wird (Luhmann 1995: 9; Collin 2008: 104). Kommunikation wird zudem keineswegs als einfache Übertragung von Sinn konzipiert (Luhmann 1998: 194, 359). Das Gelingen von Kommunikation gilt aufgrund des Prinzips der doppelten Kontingenz als prekär: Der kommunikative Vorgang ist von einer Reihe von Selektionsleistungen begleitet – hinsichtlich der ausgewählten Information sowie der Art der Mitteilung. Prekär wird diese Selektivität der Kommunikation in Hinblick auf den Teilprozess des Verstehens der an diesem Vorgang notwendig beteiligten Systeme. Die Kontingenz der Selektivität deutet auf das systemtheoretische Axiom der Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation hin: Denn nach Luhmann kann von Kommunikation erst dann gesprochen werden, wenn auch Verstehen stattfindet. Dieses Verstehen aber erfolgt auf der Grundlage je spezifischer Systemcodes, die, als Relevanzkriterien fungierend, darüber entscheiden, welche Elemente aus der mitgeteilten (und damit selbst schon selektierten) Information selektiert werden. Sie hat außerdem eine soziale Dimension, da der Prozess aufgrund der (doppelten) Kontingenzproblematik mit Unsicherheit verbunden ist (Luhmann 2004c: 33). Vor diesem Hintergrund kann sich die mitgeteilte und mit Erwartungen an das Verstehen verbundene Information erheblich von der prozessierten unterscheiden, so können das erwartete Verstehen und die entsprechende Anschlusskommunikation ausbleiben.28 An dieser Stelle setzt Willke (2001a, 2004) mit seiner systemtheoretischen Transformationsthese an. Wie Luhmann hält auch Willke an der Unmöglichkeit des Informationsaustauschs und der Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation fest. Seiner Transformationsthese zufolge können allenfalls Daten ausgetauscht werden, die zu unterschiedlichen Informationen aufbereitet werden. Erst durch die Einbindung dieser Informationen in einen jeweiligen Praxis- und Erfahrungszusammenhang und die Aufladung der Information mit kontextspezifischer Bedeutung werden diese Informationen zu Wissen transformiert. Wissen ist das Ensemble kognitiver Schemata, mit denen Informationen wahrgenommen, interpretiert und dabei mit Bedeutung aufgeladen werden (Willke 2004; auch Schützeichel 2007): Mittels vorhandenem Wissen wird die Relevanz von Informationen 28
Um diese rigide Aussage abzuwenden, müsste eine Begrifflichkeit von ‚Sinn’ ins Spiel kommen, die diesen als gewissermaßen absolute Form und nicht als Medium darstellt. Allerdings ‚verriegelt’ Luhmann Sinn als einen „differenzlose(n, d. Verf.) Begriff. Alles, was Differenz sein könnte, kann nur sein als sinnhaft angezeigt und hat selbst wiederum Sinn“ (Luhmann 1981: 279). Der dem Sinn immanente Bedeutungsüberschuss wird also nicht aufgelöst, Sinn bleibt so ein universales Medium, das sich je konkret aktualisiert, um sich dann wieder zu verflüchtigen.
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bestimmt und darüber den Bezug eines Systems zu seiner Umwelt reguliert. Eingebettet ist dieser erfahrungsbasierte Vorgang in eine „kommunikativ konstituierte und konfirmierte Praxis“ (Willke 2004: 33). Wissen ist daher als ein flexibler, permanenter Prozess der Ordnung – ‚knowing’ –, und nicht als ein statischer Vorrat – ‚knowledge’ – zu verstehen, wodurch „Innovationen zum alltäglichen Bestandteil der Wissensarbeit werden.“ (Willke 2001a: 291; auch Polanyi 1985). Aufgrund der Kontextspezifität der Relevanzen, die darüber entscheiden, welche Information zu Wissen verarbeitet wird, kann Wissen nicht direkt beeinflusst werden. Allerdings geht Willke anders als Luhmann von der Möglichkeit der Kontextsteuerung aus (Willke 2001b): Diese wird in solchen Kontexten für probat gehalten, in denen endogene Leistungen der betrachteten Systeme eine hohe Bedeutung haben und zugleich exogene Faktoren bedeutsam sind – z.B. eine hohe Regelungsdichte, Zwang oder den Druck, etwas zu tun. Kontextsteuerung richtet sich auf die Veränderung jener exogenen Variablen, die für die gesellschaftlichen Funktionssysteme relevant sind und die sie in ihrer reflexiven Selbststeuerung beeinflussen: etwa durch die Kontrolle von Regeln und Ressourcen, durch Leitbilder, durch die Delegation von Verantwortung in Rahmen von Projekten und Arbeitsgruppen, durch monetäre oder zeitliche Mittel, Verfahrensregeln u.ä. In diesem Sinne wird der Eigengesetzlichkeit des Funktionssystems Rechnung getragen, ohne zu vernachlässigen, dass eine äußerliche Zuschreibung von Funktionen gegeben ist. Medien Kommunikation erfolgt mittels symbolisch generierter Medien – wie Macht, Erziehung, Recht, Geld. Diese haben die Funktion, die an sich unwahrscheinliche Kommunikation wahrscheinlicher zu machen (Luhmann 1998: 382). Sie können daher als unsichtbare Bereiche von loser Kopplung aufgefasst werden. In diesen herrscht nur eine lockere Verbundenheit der Elemente vor, die kommunikativ in Bereiche fester Kopplung transformiert werden kann (Luhmann 2004c: 226; 2002: 94). Medien übernehmen die Funktion der Selektion und Exklusion (Luhmann 1998: 386). Solchen Exklusionen stehen Inklusionen – von Codes, Programmen, Funktionen – gegenüber, anhand derer Systeme und ihre Grenzen beobachtet werden können. Die Konstruktionsprinzipien loser Kopplung illustriert Luhmann (2002) am Beispiel der Sprache (ebd.: 82ff.). Demnach sind Worte Elemente im Medium Sprache, deren Kombination Formen erzeugt. Aufgrund der empirisch unendlichen Kombinationsmöglichkeiten sprachlicher Elemente steht im Medium Sprache ein unendlicher Bedeutungsüberschuss bereit, der durch die je aktuelle, situative Anordnung von Wörten zu Sätzen (Formen) sinnhaft reduziert wird. Das Beispiel zeigt, dass Medien demnach stabil und überdauernd sind, Formen dagegen tempo-
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rär. Aber nur Stabiles, mithin Medien, sind anfällig für Veränderung, Formen aufgrund ihrer Fluidität und Kontingenz nicht: „Stabil ist etwas, was lose gekoppelt ist, was keine Form hat“, und „(a)lles, was Stabilität gewinnt, wird damit unsicher, prekär und temporär, es gilt für eine bestimmte Zeit“ (ebd.: 228). Ein Medium besteht demnach aus Elementen, die nur lose und potentiell auf ganz andere Weisen als die, die sich je aktuell darstellen, miteinander verbunden sind. Damit verweist der Begriff Medium darauf, dass jede gewählte oder wahrgenommene Möglichkeit nur eine unter vielen weiteren realisierbaren Möglichkeiten darstellt. Sinn gilt Luhmann als ein solches Medium. Sinn wird kommunikativ erzeugt und konstituiert die Grenzen sozialer Systeme mit. Luhmann konzipiert Sinn als eine permanente Aufforderung, spezifische Formen zu bilden. Repräsentiert wird Sinn durch kommunikable, sprachlich-symbolische Formbildungen. Diese Formen fallen, da sie ihrerseits im Medium Sprache erzeugt werden, zwangsläufig selektiv und kontingent aus. Sie sind darüber hinaus vergänglich, temporär: Das Medium Sinn „überschüttet alles, was erlebt wird, mit einer Vielzahl an Verweisungen auf andere Möglichkeiten“ (Luhmann 1981: 279; 2002: 229, 233). Diese ‚anderen’ Möglichkeiten können sich zukünftig als anschlussfähig erweisen und realisiert werden, sie sind gewissermaßen als nicht einglöste Voranpassungen zu verstehen, als ‚Potentialitäten’. Differenzerzeugung auf der Basis von Semantiken: Gedächtnis und Wissen Mit Hilfe der bereits erwähnten symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien können soziale Systeme Sinn generieren, indem sie mittels der systemspezifischen Codes kommunikativ Differenzen erzeugen. Sinn ist damit das Medium, in dem die Leitdifferenz zur Selbstbeschreibung der Systeme prozessiert wird. Damit diese Differenzen beobachtet werden können, müssen bereits differenzbezeichnende Semantiken bereitstehen. An die Seite der Flüchtigkeit von Sinn treten Semantiken. Semantiken sind zu verstehen als Medien der Selbstbeschreibung von Systemen, damit gelten sie als veränderlich. Sie bestehen aus in Bezeichnungen gespeichertem Wissen bzw. „generalisierte(r), relativ situationsabunabhängig verfügbare(r) Sinn“ (Luhmann 1980: 19). Während andere Theorien des Sozialen für diese Funktion – die Bereitstellung von Relevanzbewertungen und die Verarbeitung dieser Information – auf den 29 Kulturbegriff rekurrieren (Baecker 2001: 9; Reckwitz 1997a ), hält Luhmann den
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Wie Reckwitz (1997) verdeutlicht, ist der Kulturbegriff durchaus durch eine gewisse Geschmeidigkeit ausgewiesen: Von ‚Kultur’ ist sowohl in normativer Hinsicht zur Distinktion sozialer Ordnungen die Rede (z.B. Massenkultur, Medienkultur…), der Begriff wird ebenso totalitätsorientiert (in Hinblick auf ein konsensual geteiltes Universum von Deutungen) verwendet, kann eine bedeutungsorientierte Konnotation (bezüglich der spezifischen symbolischen Kon-
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Kulturbegriff für zu ungenau und lehnt ihn daher als Kategorie der Systemtheorie ab. Er bevorzugt stattdessen die Kategorie ‚Gedächtnis’ (Luhmann 1998: 587).30 Das Gedächtnis stellt auf der Grundlage von Semantiken Bezeichnungen bereit, mittels derer kommunikative Operationen möglich werden. Die Repräsentationen ermöglichen es, Unvertrautes an Vertrautes anzuschließen (von Cranach 1995: 51). Damit ist das Gedächtnis ein Medium, über das formbildende strukturelle Kopplungen vorgenommen werden. Es ist funktional für die Reduktion von Komplexität, für die kommunikative Schaffung einer Ordnung – mithin zur Generierung und Stabilisierung von funktional differenzierten sozialen Teilsystemen. Das Gedächtnis entsteht selbst durch die sinnaktualisierende Kommunikation von Systemen (Luhmann 1998: 583f.). Diese Kommunikation kann sich auf sinnbestimmende Quasi-Objekte wie Inszenierungen und Rituale etc. oder Materialisierungen (Häuser, Texte, Musik, Phrasen, Namen etc.) gründen, „ohne dass Zweifel darüber aufkommen, was gemeint ist und wie damit umzugehen ist“ (ebd.: 585). Bei der Klärung der Frage, was das soziale Gedächtnis in sich trägt, wird der Aspekt des Wissens berührt. Da die psychischen Systeme zur Umwelt sozialer Systeme gehören, wird notwendigerweise davon ausgegangen, dass Wissen in objektivierter Form, etwa in Gestalt von Geräten, Technologien etc. vorliegt. Wissen wird solange ‚unterstellt’, bis Zweifel am Realitätsbezug des Wissens oder Widerstände (Luhmann 2002: 99; Schulze 2003; Weber 2005: 79). Ausgedrückt wird so eine Sichtweise auf Wissen, die Wissen als etwas konzeptualisiert, das vornehmlich dann, wenn ein fehlender ‚fit’ mit der Umwelt beobachtet wird, zum Zwecke der Anpassung dynamisiert wird. Gleichwohl, so Luhmann, „ermöglicht es auch das Erkennen von Variationen, Neuheiten, Überraschungen“ (Luhmann 2002: 99). Die Operation ‚Beobachtung’ erlaubt also im Rekurs auf das Gedächtnis
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struktion von sozialer Wirklichkeit) erfahren oder differenztheoretisch (hinsichtlich funktional oder sektoriell, ggf. hierarchisch gegliederter Systeme) ausgelegt werden. Während bei Luhmann das Gedächtnis ohne psychische Gedächtnisse existiert, betont Assmann, dass kein überindividuelles Gedächtnis ohne individuelle Gedächtnisleistungen auskommt (Assmann o.J.: 1). Auch Halbwachs (1985), auf dessen Werk sich Assmann bezieht, verschränkt individuelle und kollektive Gedächtnisse ineinander. So variieren Form und Inhalt des Gedächtnisses mit dem Kollektiv, das es hervorbringt und seine Interaktionen im Rekurs auf das Gedächtnis organisiert. Es ist – wie bei Luhmann – zwar stabil, aber nichts Statisches, sondern gewissermaßen eine in der Zeit überdauernde Funktion, insofern selektiv auf die Gedächtnisinhalte zurückgegriffen wird und Erinnertes gleichsam die Zukunft, wenngleich sie kontingent bleibt, mit beeinflusst. In dieser Perspektive hat das kollektive Gedächtnis eine ähnliche Funktion wie die Luhmann’sche Semantik: Es hält Bezeichnungen parat und ermöglicht Differenzbewusstsein. Assmann differenziert das kollektive Gedächtnis in ein kommunikatives und ein kulturelles Gedächtnis: Während die wesentliche Funktion des kulturellen Gedächtnisses in der überdauernden Speicherung gesellschaftlicher Wissensvorräte bestehe, übernähme das kommunikative Gedächtnis die Funktion des Wissenstransports. Beide sind aufeinander angewiesen (Assmann 1999: 130; 1995: 182f.).
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die Bestimmung von sachlichen und zeitlichen Differenzen, die wiederum kommunizierbar sind. Allerdings ist das soziale Gedächtnis Luhmann zufolge nicht als neutrales Speichermedium einer darin erstarrten Vergangenheit zu verstehen, auf das Erinnerung sich starr bezieht. Das Gedächtnis ist vielmehr eine „immer nur gegenwärtig benutzte Funktion“ (Luhmann 1998: 578), das je aktuelle Unterscheidungen ermöglicht. Das soziale Gedächtnis ist eine „Art von Konsistenzprüfung“ (Luhmann 2004c: 102) und – in die Zukunft hinein – ein Prozessor von Kontingenz. Um diese Funktion zu erfüllen, rekurriert das soziale Gedächtnis auf die Semantik, d.h. das in Selbstbeschreibungen enthaltene ‚kulturelle’ Wissen. Vergangenheit ist somit variabel und aktualisiert sich in jeder Erinnerung durch die Semantiken je neu. Ohne dass Semantik und Sozialstruktur zwingend in Einklang stehen müssten, sind Semantik und Sozialstrukturen, den Eigenlogiken gesellschaftlicher Teilsysteme aufeinander bezogen (Luhmann 1998: 549). Aber Semantiken sind nur in unzureichendem Maße in der Lage, Neues auch mit dem Neuen adäquaten Mitteln bezeichnen zu können – sie sind notorisch zu spät: „Anscheinend operiert unsere Kultur so, dass sie in die Vergangenheit Unterscheidungen hineinliest, die dann Rahmen liefern, in denen die Zukunft oszillieren kann“ (ebd.: 592); insofern wird die Variabilität der Sozialstruktur normativ als dominant gesetzt. Doch wenngleich die Semantik gegenüber den evolutionär sich verändernden Sozialstrukturen unter Anpassungsdruck zu stehen scheint, weist Luhmann darauf hin, dass sie zugleich die „vorzeitige Fixierung von Ideen (ermöglicht, d.Verf.), die erst später sozialen Funktionen zugeordnet werden“ (ebd.: 540). Das bedeutet, dass das Theorem der (vermeintlich) chronologisch-linearen Nachträglichkeit der über das Gedächtnis verfügbaren Kombinationsfülle semantischer Formen mit dem Zweck, Systemvarianzen zu plausibilisieren und anschlussfähig zu machen, um eine Funktion der Überschussproduktion für spätere Formbildungen ergänzt wird. Damit ist die Semantik nun umgekehrt auch konstitutiv für jene Operationen, die sukzessive erst zu den sozialen Strukturen führen, die sie im Nachhinein als sinnhaft beschreiben kann. Sie ist also den evolutionär verändernden sozialen Strukturen nicht chronologisch-linear nachgeordnet – Luhmann selbst konzediert die Möglichkeit der „preadapative advances“ (ebd.: 512); als Medium hält die Semantik vielmehr die Möglichkeit zu einer Vielzahl kontingenter Formbildung bereit, über deren Sinn erst in einer zukünftigen Gegenwart zu entscheiden ist (Stäheli 1998; Stichweh 2000). Zur Machbarkeit von Reformen und Innovationen Ebenso wie ‚Kultur’ ist auch ‚Wandel’ für Luhmann ein systematisch uneindeutiger Begriff. So bleibt unklar, ob Wandel intentional herbeigeführt wird und Absichten entspricht oder zufällig geschieht und als solcher erst später beobachtet
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wird. In Hinblick auf die Beobachtung von Wandel schränkt er ein, dass diese sich analytisch nicht auf Operationen beziehen kann – diese verflüchtigen sich im Moment ihrer Kommunikation bereits wieder. Stattdessen kann Wandel ausschließlich in den Strukturen beobachtet werden, dies aber nur nachträglich: „Wandel ist immer beobachtete Änderung. … Unbeobachteter Wandel ist kein Wandel“ (Luhmann 2004b: 410). Weiter geht Luhmann davon aus, dass Strukturänderungen – „üblicherweise ‚Innovationen’ oder ‚Reformen’ genannt“ (ebd.: 411) – evolutionär verlaufen, d.h. in den Phasen Variation, Selektion und Re-Stabilisierung (Luhmann 1998: 498ff.). Aufgrund der operativen Geschlossenheit sozialer Systeme muss die Variation aus dem sozialen System selbst hervorgehen (emergieren). Mit Blick auf diese theoretische Vorrangstellung, die Luhmann der Evolution zur Erklärung von Veränderungen einräumt, muss er die Machbarkeit von Reformen – verstanden als „Vorschläge zur Änderung bestehender Strukturen“ (Luhmann 2004b: 412) – ablehnen: Er kritisiert die ‚Poesie der Reformen’. Diese Poesie besteht seines Erachtens darin, dass Reformen ihrerseits Ausdruck struktureller – evolutionärer – Dynamiken seien, wenngleich sie semantisch eine Teleologie suggerieren, die aufgrund der Kontingenz von Zukunft sowie der nur losen Kopplung zwischen Entscheidungsprämissen (Reformen) und darauf bezogene kommunikative Operationen (Entscheidungen) uneingelöst bleiben muss (ebd.: 418f., 423). Gleichwohl betont er, dass es nicht um einen Verzicht auf Reformen zugunsten von Evolution gehe (ebd.: 429). Doch schon aufgrund der Unwahrscheinlichkeit gelingender Kommunikation sind Reformsemantiken keinesfalls mit ihrem Erfolg gleichzusetzen. Der Poesie der Reformen stellt er die ‚Realität der Evolution’ gegenüber: Luhmann setzt ganz auf das Prinzip der Evolution als Triebfeder langfristiger Strukturänderungen. Evolution findet aufgrund von zufälliger Variation, Selektion und Stabilisierung statt. Evolution, so Luhmann, entzieht sich ja gerade der Prognostik und damit auch der Möglichkeit intentionaler Steuerung (Luhmann 1998: 430). Mit Reformen fände der Versuch „intentional(er, d.Verf.) Vorgriffe auf Zukunft“ (Luhmann 2004b: 430) statt. Als geplante Abweichung von Routinen müssen diese – theoretisch gesehen – jedoch selbst dem Prinzip der Evolution unterliegen: „Planung (ist, d.Verf.), wenn sie vorkommt, ein Moment der Evolution“ (ebd.: 430) – und auch Planung kann demnach nicht bestimmen, „in welchen Zustand das System infolge der Planung gerät“ (ebd.). Damit betont Luhmann einmal mehr die Übermächtigkeit des Evolutionsprinzips und imprägniert Reformen als geplante Veränderungen gegen jeden Steuerungsoptimismus. Bei Reform und Innovation, so Luhmann, denke man zu sehr an geplante Änderungen, bestimme die Ambiguität von Sinnzuschreibungen als Anlass für Innovationen oder verbinde mit ihnen hochgetriebene Rationalitätserwartungen, die das Prinzip der Evolution verkennen. Als gelenkte, geplante Verände-
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rung bieten Reformen anders als Evolution keine „natürliche… Selbstverwirklichung der Ideen“ (Luhmann 2002: 179), sie bieten zudem keinerlei Überraschungen, sind also nicht mit dem übergeordneten Evolutionsprinzip in Einklang zu bringen. So sind Reformen für Luhmann letztlich „eine Art Ersatz für Evolution, die durch die administrative Zentralisierung des Systems und durch die politische Verantwortlichkeit seiner Spitze praktisch ausgeschlossen wird“ (ebd.: 166). Als „Vorschläge zur Änderung bestehender Strukturen“ (Luhmann 2004b: 412) und als geplante, aber nicht näher bestimmte Vorwegnahme zukünftiger Selbstbeschreibungen nivellieren Reformen informationelle Unbestimmtheiten qua ‚Kontingenzformeln’ (Nassehi/Saake 2002; Luhmann 2002: 183). Diese Kontingenzformeln verweisen einerseits auf unbekannte Möglichkeitsräume, andererseits auf die diese kontingenten Möglichkeitsräume kontrollierenden Bestimmtheiten. Bestehende Möglichkeitsüberschüsse werden mittels des mit der Reform kommunizierten semantischen Apparats ausgeschöpft: So neigen geplante Reformen dazu, „Sinnüberschüsse der Semantik“ (Luhmann 2004b: 442) herzustellen. Und mit ihrem teilweise detailliert ausgearbeiteten „semantischen Apparat“ (ebd.: 419) tendieren Veränderungsabsichten dazu, sich schon im Vorhinein selbst zu beglaubigen. Da jedoch der „Härtetest“ (ebd.) von Reformen dadurch auch nicht vorweggenommen werden kann, werde aufgrund der Unbestimmbarkeit ihrer Ergebnisse ein positiv besetzter „strategischer Prozess ständigen Lernens“ (ebd.: 420) eingefordert. Dieses Lernen diene jedoch nur dem Zweck, etwaige Widerstände affirmativ zu verdecken. Getreu dem Prinzip der Evolution entscheidet also nicht die kommunikative Bereitstellung von Entscheidungsprämissen, sondern nur der evolutionäre Teilschritt der Restabilisierung über das Ergebnis von Veränderungen (ebd.: 437f.). Lernen dagegen wirkt aufgrund seiner immanent erwartungsverändernden Wirkung destabilisierend (Aderhold/John 2006: 7). Lernen als unwahrscheinliche Umstrukturierung Selbst wenn Luhmann einen Zusammenhang zwischen Systemveränderung und kognitiver Entwicklung nicht gänzlich ausschließt, beugt er etwaigen Missverständnissen vor, denen zufolge diese Anpassung im Modus des Lernens stattfinden könnte: „die These eines Bedingungszusammenhangs von Kognition, besserer Anpassung und Evolution lässt sich in dieser einfachen Fassung nicht halten“ (Luhmann 1998: 123). – Aber wie dann? Den Lernbegriff hat Luhmann bereits in seinen frühen Schriften aufgegriffen und mit dem Konzept ‚Entscheidungen’ kombiniert (Luhmann 1969): So betrachtet er am Beispiel des Rechtssystems Entscheidungen als Gegenstand der Kommunikation zwischen Entscheidern und Entscheidungsempfängern. Gelingen können diese kommunikativen Verfahren nur bei Vorliegen gemeinsamer Sinnperspekti-
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ven (ebd.: 107). In der Konsequenz bedeutet dies, dass nur solche Entscheidungen relevant werden, die bereits in Strukturen (verstanden als Erwartungen) vorgesehen sind (ebd.: 109). Lernen versteht er insofern als eine Umstrukturierung von Erwartungen (ebd.: 111), die durch Entscheidungen zustande kommen – als Anpassung, mithin als Einlösung der Erwartungserwartung. Fraglich ist für Luhmann, inwiefern dieses Lernen mit den mitgeteilten Informationen kongruent ist und inwiefern die Strukturen von Systemen ein Lernen überhaupt zulassen: „Nach allem, was wir heute über den Lernvorgang (...) wissen, müsste ein soziales System, das dies leisten sollte, ganz anders strukturiert sein. Es dürfte nicht durch invariante Vorschriften programmiert sein, müsste innerhalb gewisser Grenzen über die Möglichkeiten verfügen können, von anerkannten Werten abzuweichen, Verstöße zu tolerieren oder doch von Sanktionen abzusehen“ (ebd.: 112f.). Die Möglichkeit des Lernens in sozialen Systemen wird so gesehen zwar nicht gänzlich ausgeschlossen. Allerdings könne diese Fähigkeit (bezogen auf das gewählte Beispiel Rechtssystem) von „einem System, das primär auf Rechtsanwendung im Sinne von Programmausführung spezialisiert ist, nicht erwartet werden“ (ebd.: 113). Die Programmanwendung ist bei Luhmann aber gerade konstitutiv für jegliches soziale System und stabilisierend – wodurch die argumentativen Grenzen für die Annahme des Lernens sozialer Systeme offenkundig werden. So wie Luhmann Systeme konzeptualisiert, sind sie relativ stabil bzw. immun gegenüber Veränderungen durch Lernen, das über evolutionäre Anpassung – zufällige Variation, Selektion i.S. Herstellung von Anschlussmöglichkeiten, Stabilisierung – im Sinne der Reduktion von Komplexität, die in der Umwelt des Systems beoachtet wird, hinausgeht: Beobachtet und als relevant selektiert wird nur das, was den systemspezifischen Codes entspricht bzw. an diese anschlussfähig ist. Ebenso wie Innovationen, die Luhmann als (der Evolution unterlegene, da) geplante Strukturveränderungen darstellt, ist Lernen nur unter der Bedingung der operativen und semantischen, systemspezifischen Anschlussfähigkeit und dortiger Variation möglich. Eine grundsätzliche Möglichkeit, dass Innovationen durch Lernen entstehen, die für andere Systeme über Kommunikation und strukturelle Kopplung relevant wird, ist ausgeschlossen. Für Luhmann ist Lernen „die Bezeichnung dafür, dass man nicht beobachten kann, wie Informationen dadurch weitreichende Konsequenzen auslösen, dass sie in einem System partielle Strukturänderungen bewirken, ohne dadurch die Selbstidentifikation des Systems zu unterbrechen“ (Luhmann 1984: 158). Indem Luhmann das Erfordernis des Lernens zu entscheiden hervorhebt, ist Lernen demnach zumindest als ‚Übersetzungs- und Integrationsleistung’ denkbar. Der binäre Code Vermittlung/Aneignung wird somit zu Ungunsten der Aneignung auf Vermittlung reduziert. Offen bleibt so, welche Prozesse sich im Modus der Aneignung einer kommunikativ prozessierten Innovation abspielen (Kade 2004: 207).
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Erweiterung und Bedeutung der systemtheoretischen Überlegungen für die Beobachtung von Innovationen ‚Reform’ und ‚Innovation’ – Luhmann verwendet die Bezeichnungen synonym – sind systemtheoretisch nicht gedeckte bzw. unwahrscheinliche Fälle. Beide gelten auch in der Systemtheorie als sprachlich kommunizierte Formen. Mittels der Operation Kommunikation findet Formbildung statt. Formen dokumentieren Sinn. Da diese Formen im Medium Sprache gebildet werden, ist dieser geformte Sinn grundsätzlich kontingent. Er ist zudem flüchtig bzw. nur temporär gültig, da er sich in evolutionär verändernden Systemen und deren Kommunikationen je aufs Neue behaupten muss. Das heißt, die Realisierbarkeit von Reformen bzw. Innovationen wird von Luhmann mit Verweis auf das Prinzip der losen Kopplung zwischen Entscheidungsprämissen und kontingenten tatsächlichen Entscheidungen grundsätzlich in Frage gestellt. Innovationen sind demnach nur semantische Spielereien, die danach streben, intentional auf erst noch zu generierende sachliche und zeitliche Differenzen vorzugreifen. Da Luhmann davon ausgeht, dass mit Reformen bzw. Innovationen eine Veränderungsabsicht verbunden ist, die dazu tendiert, sich allein semantisch zu erfüllen, werden Innovationen tendenziell ontologisiert. Indem der Innovation eine gerichtete Intentionalität unterstellt wird, die von der operativen Geschlossenheit selbstreferentieller Systeme absieht, schneidet diese Perspektive den Vorgang der Attribuierung ab und betont die Seite der gewollten Vermittlung statt die der kontingenten Aneignung, obwohl letztere der Ansatzpunkt für das Argument der Machbarkeitsillusion ist. Unter der über allem schwebenden zentralen Annahme der Unwahrscheinlichkeit von Kommunikation aufgrund des Problems doppelter Kontingenz gerät die Perspektive der Aneignung also ins theoretische Hintertreffen. Die Beobachtung der Kommunikation einer Innovation bleibt somit letztlich eine rein äußerliche. Eine systemtheoretisch orientierte Innovationsanalyse erlaubt in dieser Hinsicht keine Aussagen zu den Bedingungen und Implikationen der selektiven, aktiven Auseinandersetzung mit einer Innovation im Nachgang ihrer Kommunikation, in deren Zuge neue Differenzen erzeugt werden. Indem jedoch mit Innovationen wie Reformen gleichermaßen Intentionalität unterstellt wird, wird implizit in Abrede gestellt, dass Innovationen ihrerseits kommunikativ prozessiert und somit selbst zum Gegenstand prinzipiell kontingenter Sinngebung werden. Insofern folgt die verdeckte Ontologisierungsannahme selbst einer gegenwärtigen Innovationssemantik, der zufolge die bloße Innovationsbehauptung schon ihren Wirksamkeitsbeweis in sich trägt. Diese Annahme wiederum basiert auf der nicht nur systemtheoretisch nicht haltbaren These eines problemlosen Wissenstransfers. Wie schon erwähnt, werden die Begriffe Reformen und Innovationen hier nicht synonym verwendet und insofern auch nicht als gleichwertig angenommen
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(s. Abschnitt 1). Innovationen gelten vielmehr als kleinere, dynamische soziale Einheiten der symbolischen Wissensordnung, die Reformen – verstanden als gerichtete, geplante Veränderungen – konkretisieren. Innovationen und Reformen sind zwar rekursiv aufeinander verwiesen, aber nicht deckungsgleich: Eine Innovation konkretisiert erst die Reform; die mit der Reform kommunizierte Veränderungsabsichten werden in Innovationsprozesse erst eingelöst – und sind dadurch kontingent. Innovationen werden hier als Wissensform aufgefasst, die in kontextspezifischen symbolischen Konstruktionsprozessen erzeugt wird, sie sind prinzipiell nicht steuerbar. Bezogen auf Reformen bedeutet dies, dass zwar Absichten formuliert werden können, diese jedoch als Informationen kontingenten Interpretations- und Aneignungsprozessen unterliegen. Obwohl also die Steuerungs- und Planungsskepsis mit den referierten systemtheoretischen Annahmen kongruent ist, wendet sich diese Arbeit gegen das Argument, dass dieser Prozess vollständig unkoordiniert, evolutionär verlaufe. Doch gänzlich auf das Evolutionsprinzip als Erklärung für sozialen Wandel abzustellen, scheint nicht hinreichend. So stellt auch Miller (2003) die Übermacht des Evolutionsprinzips in Frage: „bei aller berechtigten Kritik an Planungsoptimismus und Steuerungseuphorien wäre es … absurd, man würde aus dieser Kritik den Schluss ziehen, man solle jegliche Planung besser lassen und eben auf Evolution warten“ (ebd.: 154). Miller, selbst Systemtheoretiker, differenziert drei unterschiedliche Formen des Zusammenhangs von Planung und Evolution: intentionale, nicht-intentionale oder evolutionär miteinander verwobene intentional-nicht-intentionale Prozesse. Einem vollständig auf Intentionalität setzenden Modell erteilt er ebenso eine Absage wie der Möglichkeit vollständig nicht-intentionaler Prozesser, die er als strukturalistisch überdeterminiert betrachtet. Nur der dritte Fall, „für den sich keine prominenten Befürworter angeben lassen“ (ebd.: 155), in dem Intentionalität und Nicht-Intentionalität, Evolution und Planung einander gleichberechtigt sind, erkläre sozialen Wandel angemessen. Miller nimmt weiter an, dass beide – intentionale wie nicht-intentionale – Prozesse einander wechselseitig voraussetzen: So lösten auch Planungen nichtintendierte Effekte aus, auf die mit Lernen i.S. von Problemlösungshandeln reagiert werde. Umgekehrt könnten emergente Effekte ihrerseits Lern- und Planungsprozesse auch erst auslösen. Er hält es daher für möglich, dass es „von kollektiven Problemlösungsprozessen und daraus ableitbaren intentionalen, zielgerichteten Handlungen, von Planungen also, abhängen könnte, ob die soziale Evolution überhaupt weitergehen kann“ (ebd.: 156). In Hinblick auf das vorläufige Innovationsmodell, dem zufolge kommunizierte Veränderungsabsichten als Aufforderungen zu Innovations-, d.h. Wissenskonstruktionsprozessen verstanden werden, wird hier die Miller’sche Annahme geteilt, nach der Planung und Evolution gleichberechtigte Elemente von Wandel sind und Lernen zwar prinzipiell kontingente Effekte zeitigen kann, aber dennoch als je
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aktuell realisierte Form der Komplexitätsbewältigung fungiert. Sie ist kongruent mit der Gleichsetzung von Reform und Intentionalität bzw. Planung sowie mit der Vorstellung von Innovationen – ‚von außen’ beobachtet – als nicht-intentional erzeugten symbolischen Wissensordnungen. Mit der theoretischen Rekursivität von Intentionalität und Nicht-Intentionalität beschränkt Miller die quasi naturalistische Kraft, die Luhmann dem Evolutionsprinzip beimisst. Evolution legitimiert sich bei Miller also nicht durch sich selbst, sondern sie wird zugelassen und maßvoll arrangiert. Möglich ist dies durch die Einführung des Konzepts ‚Lernen’. Inspiriert durch Auseinandersetzungen mit der objektiven Hermeneutik Oevermanns (Oevermann 1973f.) sowie der Habermas’schen Diskurstheorie (Habermas 1987) rekurriert Miller dabei nur unter anderem auf das Individuum als Träger des Lernens. Miller konzentriert sich auf systemisches Lernen, als dessen Träger „soziale Gruppen …, soziale Systeme und sogar Diskurse in Betracht“ (Miller 2006: 8) kommen. Lernen basiert nach Miller auf der regelhaften Koordination von Argumenten sowie einem gemeinsamen Hintergrundwissen. Das Instrument, mit dem strukturelles Wissen erzeugt wird, ist der Diskurs, in dem sich Subjekte und Objekte auflösen. Miller modifiziert also Luhmanns Annahmen, was an dem Verzicht auf das Primat der Evolution und die Möglichkeit des Lernens sichtbar wird. Damit lassen sich Veränderungen gleichermaßen als ereignishafte wie planvolle Vorgänge darstellen. Wenngleich das systemtheoretische Amalgam Kommunikation ebenfalls rekursiv angelegt ist, wird mit der Einführung des Konzepts ‚Diskurs’ auf die permanente kommunikative Pendelbewegung als Suche nach Anschlüssen hingewiesen. Von Habermas ‚erbt’ Miller dabei eine normativ orientierte, ethisch begründete Vorstellung des Diskurses, nach der es im Diskurs vorrangig um die Bedingungen der Aushandlung dessen geht, was als geteiltes Wissen und damit als ‚wahr’ akzeptiert werden kann. Zunächst kann also festgehalten werden: Das Verhältnis von Intentionalität und Nicht-Intentionalität in Hinblick auf Wandel im Sinne Millers bietet ebenso sinnvolle Anknüpfungspunkte für die vorliegende Arbeit wie der Hinweis auf Diskursivität, der aufzeigt, das Planung und Evolution miteinander im Modus der Aushandlung verschränkt sind (zu Diskursen s. Abschnitt 4.3, Kapitel 5). Innovationen werden in der vorliegenden Arbeit zunächst ganz allgemein im Sinne der dargelegten systemtheoretischen Annahmen als eine Funktion von Kommunikation aufgefasst. Sie stehen in Zusammenhang mit Reformen oder anderweitig kommunizierten Veränderungsabsichten. Diese Annahme ist nicht gleichzusetzen mit einem verkürzten, einseitigen Verständnis von Kommunikation als einseitig gerichtetem Zweckprogramm, das zugleich eine Erfolgsgarantie beinhaltet. Das hier skizzierte Verhältnis von Innovation und Reform verweist vielmehr in seiner Rekursivität darauf, dass im Modus der Kommunikation absichtsvolle
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‚Zumutungen’ eine teils intentionale oder rationale, teils nicht-intentionale Brechung erfahren. Damit ist das eine Element des Zirkels kontingent, das andere nicht. Durch den rekursiven Bezug beider Elemente erfährt die Absicht der Reform selbst eine Irritation und wird in ihrem Ausgang für die Reformseite nicht mehr vorhersehbar. Für die Innovationsseite dagegen entscheidet sich in der Praxis, welche Prämissen wie übernommen werden. In dieser Hinsicht wird sich eine Innovationsanalyse auf Prozesse der Kommunikation und insbesondere auf das Teilelement des Verstehens richten müssen. Aus systemtheoretischer Sicht greift hier die Annahme, dass dieses Verstehen wegen der Problematik der doppelten Kontingenz in hohem Maße unwahrscheinlich ist. Mit dieser These wird jedoch implizit eine Vermittlungsperspektive eingenommen, aus der heraus ein vorgegebener Sinn nicht erwartungsgemäß übernommen und auf dieser Grundlage das ‚Scheitern’ begründet wird. Dass einfache i.S. von bruchlosen Übertragungen theoretisch nicht denkbar sind, wird hier geteilt. Die ‚Gefahr’ des Scheiterns wiegt bei einer aneignungstheoretischen Perspektive allerdings geringer, denn der Sinngebungsprozess selbst tritt ebenso hervor wie die Rationalitäten i.S. von Semantiken, mit denen einer kommunikativ prozessierten Innovation begegnet wird. Im Rahmen der Systemtheorie erfolgt eine Explikation der Bedingungen des Verstehens letztlich nur mit Verweis auf die evolutionäre Funktionalitätslogik, der zufolge nur das selektiert wird, was der – ggf. besseren – Funktionalität eines Systems zuträglich ist. Betont wird die prinzipielle Stabilität bzw. Trägheit von Systemen. Offen bleiben dabei jedoch die Bedingungen der kommunikativ prozessierten Entscheidung darüber, was überhaupt als Innovation in Frage kommen kann und in welchem Kontext eine kommunizierte Innovation zu einer relevanten Innovation wird (Aderhold 2005: 5). Während die Systemtheorie mit ihrer Negierung der Möglichkeit von Reform und Innovation das alles beherrschende Prinzip der Evolution betont, wird hier zwar ebenfalls davon ausgegangen, dass Innovationen Gegenstand von Kommunikation sind und nur durch Kommunikation ihre Form erhalten. Da diese Formbildung jedoch flüchtig ist, scheint die skizzierte Tendenz zur Ontologisierung von Innovation nicht plausibel – stattdessen wird hier aber angenommen, dass eine Innovation im Moment der Kommunikation ihrerseits zum Objekt der Sinngenerierung im Medium der Sprache wird. Als temporäre Form changiert eine Innovation zwischen ihrer sprachlichen Fixierung und empirischen Flüchtigkeit. Vor diesem Hintergrund werden die Beobachtungskategorien von Form und Medium, die die Systemtheorie bereitstellt, beibehalten. Das Verhältnis zwischen dem, was diese Kategorien bezeichnen, kann als ein dynamisches, rekursives gedacht werden: Wie bei der Bewegung eines Pendels, das an seinen äußersten Bewegungspunkten an ein ebenfalls bewegliches Hindernis stößt, das ihm die zur Bewegung erforderliche Energie zuführt, entsteht im Moment der Berührung
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(Formbildung) schon wieder ein ‚Umkehrschwung’. Der nur kurzfristige Kontakt von Pendel (Medium) und Hindernis (Systemgrenze) verflüchtigt sich und wird zu Bewegung (Kommunikation, Sinn), aus der heraus die Berührung wiederholt ermöglicht wird. Das Pendel selbst und damit auch die Möglichkeit künftiger Berührungen bleibt stabil, während die formbildende Berührung, die zur Aufrechterhaltung der Bewegung erforderlich ist, sich zwar permanent wiederholt, aber nur von kurzer Dauer bleibt. Auch das systemtheoretische Axiom eines in allen Operationen mitlaufenden, kontingenten Sinns wird hier grundsätzlich geteilt: Zugestimmt wird der Annahme, dass Sinn durch spezifische, selektive Aktualisierungen hergestellt wird, sich also im Medium des Sozialen stets aufs Neue formt. In der vorliegenden Arbeit wird davon ausgegangen, dass Dinge erst durch ihre Zuschreibung zu Innovationen werden und dass diese Zuschreibung auf Sinngebung beruht. Sinn wird also in Innovationsprozessen aktualisiert bzw. geht als Nebenprodukt aus diesen hervor. Zusammen mit der Annahme, dass durch diese Zuschreibungsprozesse sozial konstituierte Räume entstehen (s. Abschnitt 2.5), können Innovationsprozesse insofern als differenzierende Sinngenerierungsprozesse gelten. Eine wie in der Systemtheorie ontologisch konzipierte Innovation kann dann verstanden werden als Anregung zur Differenzbearbeitung, in deren Rahmen neue Differenzen erzeugt werden, die wiederum einen performativen Bedeutungsüberschuss bereitstellen. Insofern folgt Sinn einer Innovation nicht i.S. einer nachträglichen Anpassung an Gegebenheiten, sondern wird in den Semantiken immer schon für zukünftige, möglicherweise nicht realisierte Neukombinationen bereitgehalten. Hier soll danach gefragt werden, was nach der Operation Kommunikation bzw. ihres Teilelements ‚Verstehen’ geschieht. Zwar wird ebenfalls davon ausgegangen, dass Innovationen bereits sinnhaft aufgeladen sind und auch als solche kommuniziert werden. Im Mittelpunkt dieser Schrift steht aber die systemtheoretisch vernachlässigten Frage nach den Prozessen, die Innovationen auslösen, wenn sie im Zuge dieser Operation auf fremden Sinn treffen und diesen irritieren. Sinn wird hier als ein Beiprodukt von Innovationsprozessen aufgefasst: Wird Innovation aufgrund der Kontingenzproblematik, aufgrund ihrer Exogenität und der mangelnden semantischen Anschlussfähigkeit des initiierten Ereignisses als ein unwahrscheinlicher Fall deklariert, wird der Innovationstransfer hier umgekehrt als endogener Prozess der aktiven Aneignung und i.S. von Sinnkonstitution verstanden. Innovation wird insofern betrachtet als Aufforderung, Bedeutung zu schaffen. Sie gilt insofern nicht als etwas Ontologisches, dessen irritierender Gehalt semantisch nivelliert wird, sondern vielmehr als Aufforderung zur Differenzerzeugung, als Denkweise des Anderen (Briken 2006). Damit wird eine Prozessperspektive eingenommen, die die Zwischenräume zwischen System und Akteur, einem Innen und Außen überwinden möchte, indem statt ihrer kommunizierten Form die Inno-
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vation selbst als Medium der Sinngenerierung und Ordnungsbildung im Zentrum steht. Der analytische Blick wird damit auf die Prozesse des rekursiven, differenzierenden sense-making gerichtet, der in der Systemtheorie aufgrund des Primats der evolutionären, also letztlich zufälligen Prozesse der Systemstabilisierung durch die Limitierung von anschlussfähigen Alternativen versperrt bleibt. Während sensemaking in der Systemtheorie im Wesentlichen die gedächtnisgestützte Herstellung von semantischen Anschlüssen meint, rücken hier die irritierenden, diversifizierenden, interpretierenden, suchenden Sinngebungsprozesse in der Folge initialer Innovationen in den Vordergrund. Diese mehr sozialintegrativ zu verstehenden Vorgänge sind nicht Gegenstand der Systemtheorie und bleiben daher in dieser Perspektive systematisch im Dunkeln. Werden aber Ansätze zur Beantwortung der Frage ‚Was kommt nach der Kommunikation’ den Aspekt der Ermöglichung von erwarteter Folgekommunikation gesucht, können, wie in den nächsten Abschnitten gezeigt werden wird, solche Sozialtheorien mehr Auskunft geben, die ihre Aufmerksamkeit auf die Mechanismen der Sozial- und Systemintegration legen. Diesen Ansätzen zufolge, so soll gezeigt werden, kann dieser Sinngebungsprozess analytisch als Lern- bzw. Aneignungsvorgang dargestellt werden. Dieser trägt bei Luhmann aber einen teleologischen, instrumentellen und damit planvollen Charakter, der mit den Mechanismen der Evolution nicht konform geht und daher als explikativer Gegenstand der Systemtheorie abgelehnt wird. Damit wird eine analytische Perspektive eingenommen, die von einer äußerlich bleibenden Vermittlungsperspektive und einer vermeintlichen von Innovation Ontologie abrückt. Sie verlagert sich stattdessen in das ‚Innere’ des Innovationsprozesses, um Vorgänge der Aneignung zu beobachten und von diesen die Prozesse der Sinnkonstitution zu rekonstruieren, aufgrund derer die Innovation erst als Differenz entsteht und integriert werden kann. Wird ferner angenommen, dass sich Innovationen in entgrenzten sozialen Feldern vollziehen, in denen Akteurskonstellationen Einfluss haben, die sich als Netzwerke oder epistemische Gemeinschaften über die distinkten Grenzen funktional differenzierter Subsysteme hinweg erstrecken, wird auch die Frage nach den Praktiken der aktiven Auseinandersetzung mit der Innovation in Feldern heterogener Akteure virulent: Wie wird die Innovation interpretiert und warum? Wie kann von ‚invarianten Vorschriften‚ (Luhmann) abgewichen werden? Welche Perspektiven der Integration eröffnen unterschiedliche Aneignungspraktiken? Innovation gilt dann als eine im Feld erst zu verinnerlichende Reflexions- und Differenzierungsaufgabe. Die Bewältigung dieser Aufgabe kann, so wird ferner angenommen, graduell unterschiedliche – und nicht nur binär codierte – Qualitäten aufweisen.
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Die hier fraglichen Entstehungs- und Wirkungsweisen von Innovationen wurden bislang charakterisiert als symbolische oder materielle Artefakte, die unter Beteiligung von kollektiv geteiltem Wissen wahrgenommen, interpretiert und in neues Wissen übersetzt werden. Innovationen sind damit selbst eine spezifische Form des Wissens. In Innovationsprozessen erfahren diese eine räumliche, zeitliche und soziale Ausdehnung. In diesen wird die Innovation mit ihrem Aufforderungsgehalt transformiert und durchläuft Wissenspassagen. Diese Passagen bezeichnen sowohl symbolische soziale Räume, die zwischen Akteur und System aufgespannt werden, als auch den Prozess der Transformation von Wissen. Sie stellen die Bedingung der Möglichkeit der Verbreitung und Verankerung von Innovationen dar (s. Abschnitt 2.5). Selbst wenn in ihr der Institutionsbegriff nicht prominent verwendet, sondern stattdessen auf soziale Strukturen rekurriert wird, wurde die Systemtheorie auf den Prozess der Institutionalisierung sowie daraufhin befragt, wie das Verhältnis von Stabilität und Wandel konzipiert wird. Die Rezeption systemtheoretischer Annahmen verdeutlichte, dass interessengeleitete Akteure gegenüber übermächtigen evolutionären Prinzipien nahezu unbedeutend sind und als ‚Umwelt’ sozialer Systeme aus der Betrachtung der Prinzipien sozialen Wandels weitgehend ausgeschlossen werden können. Gleichwohl wurde aber aufgezeigt, dass mit den Interpretationen, die die Systemtheorie durch Willke und Miller erfährt, Intentionalität durchaus ihren Platz im Theoriegefüge einnehmen kann. Als Akteure treten in diesen Konzeptionen zwar weiterhin ‚anonyme’ Systeme auf, wodurch diese systemtheoretischen Auslegungen von interessengeleiteten Dynamiken befreit bleiben. Gleichwohl werden sowohl eine eingeschränkte Form von geplanter Intervention und Steuerung (Willke 2001b) als auch Lernprozesse (Miller 2006) für möglich gehalten. Dennoch können Akteure nicht als interessen- und willenlose Masse aufgefasst werden, über die hinweg sich soziale Systeme quasi ohne ihr Zutun ausdehnen und hinter deren Kommunikationen sie ‚verschwinden’. Akteure sind keine „Strukturdeppen“ (Hitzler 2007: [12]), sondern nehmen als Rollenträger, Gestalter, Wissenskonstrukteure, Spieler eine aktive Funktion im sozialen Wandel ein – wie dies in den Theorien von Bourdieu und Giddens auf je unterschiedliche Weise angelegt ist. Im Folgenden wird der Argumentationshorizont der Systemtheorie verlassen und die Praxistheorie Bourdieus und die Strukturationstheorie Giddens’ in Hinblick auf die Fragen ‚Was geschieht nach der Kommunikation?’ und ‚Wie werden Innovationen integriert?’ reflektiert.
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Theorie sozialer Praxis: Innovation ist habituell begrenzt „Gegenstand der Sozialwissenschaft ist eine Wirklichkeit, die alle individuellen und kollektiven Kämpfe umfasst, welche die Wirklichkeit bewahren oder verändern wollen, und besonders die, bei denen es um Durchsetzung der legitimen Definition der Wirklichkeit geht und deren symbolische Wirkung dazu beitragen kann, die bestehende Ordnung, d.h. die Wirklichkeit, zu erhalten oder zu untergraben“ (Bourdieu 1993: 258)
Die Darstellung und Diskussion der Feld- und Praxistheorie Bourdieus soll im Folgenden Aufschluss darüber geben, wie die bei Institutionalisierung sich einschaltende Intentionalität theoretisch gerahmt werden kann – ohne dass Akteure so konzipiert werden, dass sie lediglich Vorgaben aus der veränderlichen Umwelt passiv entgegennehmen, ohne an deren Interpretation und Prozessierung beteiligt zu sein. Bourdieu geht in seiner Feld-, Habitus- und Praxistheorie von prinzipiell bewusstseinsfähigen, sozialen Akteuren aus. Diese bewegen sich aufgrund ihrer erworbenen Habitus’ und den ihnen zur Verfügung stehenden Praktiken (re-)produktiv in sozialen Feldern. Felder, Habitus und Praktiken sind die zentralen Begriffe seiner Theoriearchitektur, die relational und zugleich simultan gedacht werden müssen, sie stehen in einem rekursiven Verhältnis zueinander. Ein wesentlicher Unterschied zwischen der Systemtheorie und anderen, kulturwissenschaftlich orientierten Sozialtheorien besteht darin, wie die kleinste Einheit des Sozialen jeweils konzipiert wird. Für Luhmann sind Kommunikationen die kleinsten Einheiten des Sozialen, in kulturwissenschaftlich orientierten, sozialkonstruktivistischen Ansätzen sind dies diskursive und nicht-diskursive Praktiken, d.h. sprachlich-kommunikativ oder z.B. auch über Gesten oder Gebäuden vermittelte Bedeutung (Reckwitz 2004b: 220). Strukturen sind demnach nicht selbstständig, sondern realisieren sich nur in und über Handlungen. Insofern haben Kontexte keine determinierende Wirkung, sondern diese wird von bewusstseinsfähigen Akteuren interpretiert und (re)produziert (Beckert 1997). Ein weiterer Unterschied liegt darin, wie die Frage der Grenze zwischen System und Umwelt behandelt wird. Während Luhmann individuelle Akteure als psychische Bewusstseine nur als eine Umwelt kommunikationsfähiger sozialer Systeme auftauchen lässt und zwischen den funktional differenzierten Sozialsystemen aufgrund deren Autopoiesis kaum überwindbare Sinngrenzen bestehen, ist die System-Umwelt-Grenze hier weniger eindeutig: so gilt das Soziale bereits in das Bewusstsein und das Handeln der Akteure eingelagert (z.B. über den Habitus, das praktische Bewusstsein). Zwischen den Akteuren und dem Sozialen wird also in ‚praxeologischen’, kulturwissenschaftlich orientierten Sozialtheorien eine flie-
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ßende Grenze angenommen (Reckwitz 2004b: 216). Darüber hinaus gehen kulturtheoretische Konzeptionen grundsätzlich davon aus, dass die scheinbar ‚subjektiven’ Deutungen und Praktiken immer schon in übergreifende, d.h. soziale Regelstrukturen eingebettet sind, die qua Inkorporation in das implizite Wissen der Akteure eingelagert sind. Diese agieren also keineswegs undurchschaubar und vollständig voluntaristisch, sondern sie bewegen sich innerhalb der von ihnen (re-)produzierten Strukturen i.S. von institutionalisierten Erwartungen, Deutungsmustern, Konzepten und Schemata, an denen sich ihr Handeln orientiert (Reckwitz 1997b). Zwischen den Theoriearchitekturen Luhmanns und Bourdieus im Besonderen besteht darüber hinaus ein wesentlicher Unterschied in der theoretischen Konzipierung der Gesellschaftsstruktur. Zwar geht Bourdieu ebenso wie Luhmann die parallele Existenz von gesellschaftlichen Bereichen wie denen der Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst etc. mit je eigenen Logiken und Dynamiken aus. Während Luhmann jedoch von funktional differenzierten, autopoietischen sozialen Systemen ausgeht, geht Bourdieu von sozialen Feldern aus und bringt mit diesem Konzept den Aspekt der Machtförmigkeit der Konstitution von Räumen zum Ausdruck, der bei Luhmann weitgehend unberücksichtigt bleibt. Die Theorien haben dennoch Parallelen. In formaler Hinsicht zeichnen sich beide dadurch aus, dass sie Substanzbegriffe vermeiden: Während Luhmanns Differenzen das Soziale im Modus der kommunikativen Abgrenzung gegen eine Umwelt konstituieren, bestimmt Bourdieu das Soziale über die in Praktiken zum Tragen kommenden Relationen innerhalb von Feldern (Hillebrandt 2006: 348). Außerdem haben die Theorien Luhmanns und Bourdieus mit ihrer Frage nach dem Verhältnis von Stabilität und Wandel einen gemeinsamen Analysehorizont (umfassend Nassehi/Nollmann 2004). Beide Theorien fragen danach, wie sich soziale Ordnung konstituiert. Diese vermittelt sich bei Bourdieu über an Habitus gebundene Praktiken; in Luhmanns Theoriearchitektur werden soziale Systeme und Strukturen i.S. von Erwartungen kommunikativ differenziert (Hillebrandt 2006: 337). Während Luhmann dabei auf die Kraft der sinnhaften Integration von evolutorischen Zufällen durch ‚akteursfreie’ soziale Systeme setzt, verweist Bourdieu auf die Reproduktion bestehender sozialer Strukturen durch die sozial ungleich verteilten Bedingungen zur Teilnahme von Akteuren am ‚Spiel’. Deutlicher als Luhmann ist Bourdieu hierbei an Machtfragen interessiert. Die Parallelen beider Sozialtheorien lassen sich zuvorderst in den verwendeten Kategorien identifizieren: beide rekurrieren auf Sinn und Wissen, beide auf das Element der Trägheit: Luhmann mit dem Gedächtnis, Bourdieu mit dem Habitus. Beide lassen die Genese von Wissen und Sinn an abstrakten sozialen Orten stattfinden: Luhmann in sozialen Systemen, Bourdieu in Feldern und Räumen. Insofern scheint es sich um generische Kategorien zu handeln, deren differenzielle Betrach-
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tung für die Formulierung von Eckpunkten einer Innovationstheorie als Theorie der kollektiven Aneignung sozialen Wissens aufschlussreich sein kann. Bourdieu selbst versteht seine Begriffe als heuristische Denk- und Erkenntniswerkzeuge (Bourdieu/Wacquant 1996: 196), die auf unterschiedliche empirische Gegenstände appliziert werden können und insofern, wie Luhmann, einem universalen Anspruch folgen. Mit diesem begrifflichen Instrumentarium, so die Absicht, kann das weiter oben dargestellte, Akteure einbeziehende Beschreibungsund Erklärungsvakuum der Mechanismen des Wandels, das die Auseinandersetzung mit Schriften zur soziologischen Systemtheorie hinterlassen hat, gefüllt werden. Für Bourdieu sind die Mechanismen, mithin die Bedingungen der Konstitution von sozialem Sinn aufgrund der in sozialen Feldern eingenommenen Positionen, wesentlicher Gegenstand seiner zahlreichen empirischen Studien der Alltagswelt auf seinem Weg zur Entwicklung einer Theorie der Praxis. Er befasst sich mit der Aufhebung des Dualismus zwischen Subjektivismus und Objektivismus, mithin dem Mikro-/Makro-Problem der Soziologie (Bourdieu 1993: 49). Sein Begriff des Raums und der darin relationierten Felder entschärft die Mikro-MakroProblematik (Interaktionsebene des Sozialen/geordnete Sozialität zwischen Akteuren; übergreifende Konstitution sozialer Ordnung i.S. von Gesellschaft) insofern, als es beide Dimensionen durch die Einführung des Konzepts des Habitus’ – verstanden als „strukturierte und strukturierende Struktur“ (Bourdieu 1982: 28) – miteinander verknüpft. Ordnung im sozialen Raum: Felder und Orte Bourdieu führt die Metaphorik des Raums ein, um die dynamische Verfassung der sozialen Welt beschreiben zu können. Räume sind für Bourdieu Korrelate von Unterschieden und Beziehungen (Krais/Gebauer 2002: 36; Lippuner 2005: 157; Schroer 2006: 82ff.). Soziale Räume enthalten unterschiedliche Felder. Diese sind als jeweils eigene Spielräume mit eigenen Regeln zu verstehen. Sie sind die ‚sozialen Orte’, aus denen Objektivationen hervorgehen, mit denen die Existenz von Feldern erst rekonstruiert werden kann – und nicht zwangsläufig gegenständliche Orte i.S. einer geographischen Lokalisierbarkeit, wie ein erstes Verständnis des Begriffs vermuten ließe (Bourdieu/Wacquant 1996: 296). Ein Feld gilt Bourdieu als ein dynamisches System von Beziehungen, die als objektivierte und objektivierende Produkte des Sozialen in Sachen oder Mechanismen eingehen (inkorporiert werden) und von dort eine eigene Realität entfalten (Bourdieu/Wacquant 1996: 160). Die Struktur eines Feldes ist in dessen Geschichte begründet und kann gewissermaßen als ein historisches Sediment von Prozessen sozialer Wissensordnung betrachtet werden (Rieger-Ladich 2006: 162). Felder wirken dadurch gleichermaßen ordnend wie stabilisierend.
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Felder i.S. Bourdieus sind nicht gleichzusetzen mit dem neo-institutionalistischen Verständnis von Netzwerken (Florian 2008: 138): Statt netzwerkartige Beziehungen zwischen Organisationen stellen Felder bei Bourdieu die mehrdimensionalen, d.h. sowohl vertikal als auch horizontal strukturierten, relationalen Orte dar, an denen Akteure mit unterschiedlichem Kapitaleinsatz und unterschiedlichen Strategien ‚Spiele’ um die einzunehmenden Positionen und Relationen führen (Bourdieu 1993: 122ff.). Vertikal differenziert sind soziale Felder nach gesellschaftlichen Positionen, über die Akteure aufgrund ihres Kapitals verfügen. Dieses Kapital unterscheidet Bourdieu in ökonomisches (‚einzahlbares’), kulturelles und soziales (insofern symbolisches, d.h. ‚nicht-einzahlbares’) Kapital, wobei diese Kapitalarten teilweise ineinander transformierbar sind (Bourdieu 1992: 70ff.). Die Fähigkeit zur Transformation des Kapitals bestimmt mit darüber, welche soziale Position eingenommen werden kann. Bourdieu zufolge greift dabei der als Matthäus-Prinzip bekannte Mechanismus: Wer bereits über einen umfangreichen Kapitalstock verfügt, dem fallen Umwandlung und Einsatz von Kapital auch leichter, bestehende Ungleichheiten perpetuieren sich (stellvertretend für die umfangreiche Debatte zur Ungleichheitsthematik: Ecarius/Wigger 2006; Engler 2004; Böttcher 2005). Innerhalb der vertikalen Struktur des sozialen Feldes wirken die quasi einsozialisierten Einstellungen horizontal differenzierend; d.h. innerhalb einer gesellschaftlichen hierarchischen Rangfolge von Positionen fächern sich unterschiedliche Objektivationen dieser Positionen in Form von sozialen Gruppen, Lebensstilen, Milieus auf, die einen gemeinsamen Habitus teilen (Bourdieu 1993: 113). Die in so dimensionierten sozialen Feldern stattfindenden Spiele stellen sich dar als Kämpfe um Macht, Einfluss, Ressourcen, Definition von Bedeutung etc. Sie erfordern den Einsatz von ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital. Die Position im Feld hängt also nicht von der Kapitalart an sich ab, sondern von dem Vermögen, das Kapital in den Spielen statuserhaltend einzusetzen. Der Habitus vermittelt zwischen der vertikalen und der horizontalen Achse, zwischen denen sich das Feld aufspannt. Felder begreift Bourdieu so als relationierende Räume sozialer Praktiken, die je eigenen Funktionsgesetzen folgen, die über den Einsatz von Kapital zu einer Objektivierung des Sozialen führen und die zugleich den praktischen Möglichkeiten der Akteuren gegenüber einer frei gewählten sozialen Platzierung Grenzen setzen: Nicht alle Akteure haben die gleichen Chancen auf Realisierung ihrer Erwartungen, Wünsche, Vorstellungen. Vielmehr vermittelt das Feld die Platzierung (den Ort), indem es diese über die habituell geregelten, unausgesprochenen Einsatzmöglichkeiten des Kapitals reguliert. Felder sind so als Kräftefelder zu verstehen (Bourdieu 1970: 75ff.), in denen gleichsam mit verdeckten Karten gespielt wird und in denen sich erst entscheidet, welche einverleibten (interiorisierten) Schemata zur Deutung angelegt und zur (exterioren) Geltung kommen (Bour-
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dieu 1993: 102). Daher können die Ausgänge von Spielen nicht im Vorhinein festgelegt werden, soziale Felder sind insofern dynamisch. Der Sinn dieser Dynamik besteht nach Bourdieu in der symbolischen (Re)Produktion sozialer Ordnung. Bourdieu differenziert politische, ökonomische, kulturelle und soziale Felder, die durch Formen der Herausbildung und Anwendung von Regeln hervorgebrachte Erwartungs- und Ordnungsstrukturen – Institutionalisierung – voneinander abgegrenzt sind und je eigene Praxis-Logiken aufweisen. In den Feldern spielen sich in den Begegnungen von Akteuren spezifische machtvolle Praktiken ab. Die Akteure begegnen sich aber nicht etwa auf Augenhöhe, sondern sind mit unterschiedlichen Ressourcen (Kapital) ausgestattet, die sie – und in letzter Konsequenz damit auch sich selbst – in ihrer interessensbasierten Interaktion in unterschiedlichem Maße zur Geltung bringen und damit sich selbst als feldzugehörig (oder eben nicht) darstellen und positionieren können. Somit sind die Grenzen sozialer Felder und die Kriterien der Mitgliedschaft von Akteuren zu Feldern nicht eindeutig geklärt (Rieger-Ladich 2006: 170). Vor dem Hintergrund der durch soziale Praktiken geschaffenen Kulisse von Objektivationen nehmen diese Begegnungen unterschiedliche Verläufe. Wie sich diese ausformen, hängt nicht allein von vorgefundenen sozialen Strukturen ab, sondern ebenso von den habituellen Dispositionen, mit diesen Strukturen umzugehen. Diese Dispositionen sind gesellschaftlich ungleich verteilt sowie sozial und geschichtlich manifestiert in Klassen, Lebensstilen, Milieus (Bourdieu 1982; 1993: 113). Wenngleich Bourdieu selbst kein systematisches Institutionsverständnis darlegt, kann dieses relationale Gefüge zwischen Raum, Feld, Praktiken und Habitus gelesen werden als ‚Institution’. Institutionen können interpretiert werden als spezifische Formen sozialer Praxis, die Feld und Habitus relationieren. Da im Feld dauerhafte Regeln gelten, die im Habitus verankert sind, werden diese Regeln durch habituell reguliert aufgeführte Praktiken auf Dauer gestellt – kurz: zu Institutionen. Solche Habitus-Feld-Relationen sind zu verstehen als dauerhafte Prozesse (Florian 2008: 144ff.). Praktiken und Habitus’ als praktischer Sinn Die Sozialwelt stellt sich als der Ort dar, an dem „’Bastard’-Kompromisse zwischen Ding und Sinn, die den ‚objektiven Sinn’ als dinggewordenen Sinn und die Dispositionen als leibgewordenen Sinn definieren“ (Bourdieu 1993: 82), geschlossen werden. Es sind also weder etwaige objektive Strukturen, denen sich Akteure zu unterwerfen haben, noch sind es mit wirkmächtiger Intention ausgestattete Akteure, die sich über solche Strukturen oder soziale Mechanismen der Zuweisung hinwegsetzen oder diese zumindest leicht verändern könnten, die Bourdieu ins Zentrum seiner Theorie stellt (ebd.: 246ff.). Es sind die sozialen Praktiken, die er als eine zwischen Subjektivismus und Objektivismus vermittelnde ‚Instanz’ ein-
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führt. Praktiken, d.h. Verhaltens- und Handlungsweisen, basieren auf den im Habitus angelegten Dispositionen, die sich in einer Praxiswelt als System bereits realisierter Zwecke und Objekte als funktional erweisen (Bourdieu 1993: 100). Der praktische Sinn ist es, der zwar ‚auswählt’ und Relevantes vom Irrelevanten unterscheidet (ebd.: 163), gleichzeitig ist er jedoch „gefangen von dem, um was es geht“ (ebd.: 165). Die Differenz Relevanz/Irrelevanz markiert eine Grenze, an der „die Ordnung der Dinge umschlägt“ (ebd.: 406). Diese Grenzen sind Gegenstand von Aushandlungen oder gar Kämpfen (ebd.: 398), die wiederum auf der Grundlage spezifischer Ressourcen (Kapital) stattfinden. Werden die Grenzen überschritten, beginnt „eine Zeit der Ungewissheit“ (ebd.: 422), ein ritualisierter Neuanfang. Die Grenzen konstituieren sich symbolisch und können zwischen und in den jeweiligen Feldern differenziell variieren. Diese grenzkonstituierenden Praktiken vollziehen sich auf der Grundlage des jeweils erworbenen Habitus’. Mit dem Habitus-Konzept bringt Bourdieu das dem Individuum quasi anhaftende, von ihm verkörperte Soziale zum Ausdruck: Der Habitus erlaubt den Akteuren einerseits ein präreflexives Handeln, welches im Einklang steht mit verinnerlichten kollektiven Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsschemata. Andererseits wirkt er in seiner praxisgenerierenden Funktion als sozialkonstitutiv. Im Rekurs auf Chomskys generative Grammatik definiert Bourdieu diese Doppelfunktion des Habitus als ein „System verinnerlichter Muster…, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen – und nur diese“ (Bourdieu 1970: 143; 40, 125ff.). Als System verinnerlichter Muster birgt der Habitus zahllose Schemata in sich, die in Bezug auf das Handeln in Einzelfällen eingesetzt werden. Insofern vermittelt der Habitus zwischen den Strukturen und den Handlungen – er geht aus den Strukturen hervor und ist insofern strukturiert. Indem sich das (re-)produzierende Handeln auf den Habitus bezieht, wirkt dieser gleichsam strukturierend: „Mit dem Habitus (können, d.Verf.) alle Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen, und nur diese, frei hervorgebracht werden, die innerhalb der Grenzen der besonderen Bedingungen seiner eigenen Hervorbringung liegen“ (Bourdieu 1993: 102). Der Habitus ist also gleichermaßen Produkt und Motor der Erzeugung sozialer Praktiken: Als „System kognitiver und motivierender Strukturen“ (Bourdieu 1993: 100) umfasst der Habitus dauerhafte und übertragbare Dispositionen (ebd.: 98) des Denkens, Wahrnehmens und Handelns, so dass gleichsam mit der Kenntnis feiner Unterschiede ein Bewusstsein unsichtbarer sozialer Grenzen entsteht. Der Habitus ist aber keine ‚Parallelinstanz’ des Bewusstseins. Vielmehr ist er den Akteuren, denen er anhaftet, unbewusst – aufgrund der inkorporierten Schemata, die durch geschichtliche Erfahrungen mit sozialen Objektivationen etc. gemacht wurden. So prägt er gleichermaßen die Möglichkeitsbedingungen gegenwärtiger Praktiken und die der Zukunft: Der Habitus beeinflusst, ob und wie der Aufforderungs-
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gehalt von Dingen und Situationen wahrgenommen werden kann, wie Interaktionen im Feld gestaltet und welche Positionen dadurch im Feld eingenommen werden können. Er ist gleichzeitig Ausdruck eben dieser Positionierung im Feld. Die im Habitus gespeicherten, einverleibten (d.h. inkorporierten) Dispositionen (ebd.: 98) können „objektiv an ihr Ziel angepasst sein..., ohne jedoch bewusstes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv ‚geregelt’ und ‚regelmäßig’ sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deshalb kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden Handeln eines Dirigenten hervorgegangen zu sein“ (ebd.: 99). Neben diese Voranpassungen tritt eine Funktion des Habitus, die Bourdieu als amor fati bezeichnet – man mag, was man hat. Während die Voranpassung gewissermaßen prospektiv funktioniert, wirkt die amor fati gleichsam im Bewusstsein des anderen gegenwartsverhaftet. Bourdieu beschreibt den Habitus vor diesem Hintergrund als eine strukturierte und gleichzeitig strukturierende Struktur (Bourdieu 1970: 139ff.; 1982: 280), d.h. dass die Struktur einen Habitus produziert, der seinerseits Praktiken evoziert, die ihrerseits Strukturen reproduzieren. Analytisch gesehen hat der Habitus insofern zwei unterscheidbare, aber rekursiv aufeinander bezogene Seiten: der Habitus ist einmal opus operatum, d.h. ein Ergebnis sozialer Lebensformen bzw. von Erfahrungen und einmal modus operandi (Bourdieu 1970: 126), d.h. eine spezifische Art des Handelns. Im Habitus als opus operatum sind also bereits kollektive Denk-, Wahrnehmungs-, Handlungs- und Deutungsmuster interiorisiert. In dieser Hinsicht ist der Habitus strukturiert. Der Habitus wirkt aber außerdem strukturierend: Er vermittelt zwischen Struktur und Praxis, indem er symbolisch das individuell und kollektiv Unbewusste in sich beherbergt, das im Denken und in den Praktiken der Akteure als modus operandi – den generativen Erzeugungsprinzipien der Praxis – wirksam wird. Über den Habitus wird der Zugang zu einem sozialen Ort, d.h. der Position der Akteure im Feld, und zugleich die Möglichkeiten der Entfaltung ihrer Dispositionen zur Bestimmung eben dieser Positionen reguliert (Rieger-Ladich 2006: 158). Bei dem Habitusbegriff handelt es sich um einen Relationsbegriff, dessen Substrat in der dialektischen Beziehung zwischen Handlungspraxis und Erzeugungsweise besteht. Eine Verkürzung der Funktionen des Habitus auf die bloße Reproduktion gegebener Schemata greift damit also zu kurz. Auch aufgrund der Inkorporation des Sozialen und der demnach nicht zwingend bewussten Ausführung von sozialen Praktiken ist der Habitus nicht gleichzusetzen mit der Erzeugung stets normorientierter oder intentionaler Handlungen (Lash 1996: 267; Hillebrandt 2006: 349). Weil diese Inkorporation oder Interiorisierung des Exterioren (Bourdieu 1993: 102) unbewusst abläuft, ist der Habitus unabhängig von situativen äußeren Anforderungen (ebd.: 107) und kann insofern auch nicht gewissermaßen
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strategisch ‚eingesetzt’ werden. Der Habitus muss vielmehr in seiner simultanen ‚Doppelheit’ betrachtet und auch in seiner Funktionalität als generatives Erzeugungsprinzip berücksichtigt werden (Krais/Gebauer 2002: 31f.; Ricken 2006: 108f.). Der Habitus ist vielmehr als ein praktischer Sinn zu verstehen, der sich nur in Relation zu den sozialen Praktiken, mit denen er aufgeführt wird, erschließen lässt. Der Habitus ist gewissermaßen ein Speichermedium, das dem semantischen Gedächtnis der Systemtheorie ähnlich ist (Saake 2004). In dieses Medium schreiben sich Erfahrungen in Form von „Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata“ (Bourdieu 1993: 101) ein, die sich als solche in der Gegenwart durch das generierende Prinzip des Habitus in sozialen Praktiken aktualisieren und über diese in die Zukunft hineinwirken. Der Habitus ist also ein Produkt der erfahrenen Geschichte im Feld; er interiorisiert Exteriores. Dieses Inkorporierte wiederum findet über Praktiken seinen Weg in die soziale Welt zurück. Vollkommen frei können die Dispositionen, die im Habitus gespeichert sind, aufgrund der feinen sozialen Unterschiede, die über die Beherrschung von Praktiken bw. über Legitimität bestimmen, aber in den Praktiken auch nicht zur Geltung gebracht werden. Dadurch, dass nur das wahrgenommen, gedacht, getan werden kann, was homolog zu den Praktiken ist, die den Habitus konstituieren, muss dieser als relativ überdauernd, träge und stabil gedacht werden: Ähnlich wie die Form/Medium-Unterscheidung der Systemtheorie kann der Habitus somit als ein stabiles Medium betrachtet werden, das seine Form in den sozialen Praktiken gewinnt. Rekursivität und Reflexivität Anhand des Habituskonzepts wird deutlich, dass Bourdieu nicht primär auf subjektive Interessen fokussiert, sondern darauf, wie Interessen im sozialen Feld praktisch zur Geltung gebracht werden können. Über die Praktiken schließt er auf symbolische Wissensordnungen und Deutungsschemata, die Zeit und Raum in Form unterschiedlicher, feldbedingter Habitusformen oder auch Artefakte überdauern. Insofern sind zwar mit dem Habituskonzept Feld (Struktur) und Handlung (Praxis der Akteure) miteinander verwoben; dennoch scheint von einem Primat der Struktur auszugehen zu sein, da Bourdieu von einer nur langsamen – nachträglichen – Anpassung des Habitus an veränderte Umstände ausgeht und die Option einer Innovationsquelle außerhalb des Habitus ausschließt: „Über den Habitus regiert die Struktur, die ihn erzeugt hat, die Praxis, und zwar nicht in den Gleisen eines mechanischen Determinismus, sondern über die Einschränkungen und Grenzen, die seinen Erfindungen von vornherein gesetzt sind“ (Bourdieu 1993: 102f.). Der Habitus macht „die Praktiken relativ unabhängig von den äußeren Determiniertheiten der unmittelbaren Gegenwart“ (1993: 105, Herv.i.O.). Umgekehrt bedeutet das, dass er somit grundsätzlich ‚träge’, m.a.W. nur in geringem Maße
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anfällig für Manipulation durch aktuelle Reize des sozialen Felds ist: Denn Reize wirken „nur..., wenn sie auf Handelnde treffen, die darauf konditioniert sind, sie zu erkennen“ (ebd.: 99, 85). Aber in der ‚Welt der Möglichkeiten’ wird mittels des Habitus’ nur selektiv rezipiert – nämlich das, was bereits bekannt ist (ebd.: 120). Gerade weil er relativ unabhängig von historischen Episoden oder vorübergehenden Moden ist und weil er gewissermaßen ‚immer schon’ da ist (Nassehi 2004: 156), entzieht sich schon die Konstitution des Habitus’ eines reflexiven Zugangs. Einer intendierten Veränderung ist er daher schlecht zugänglich. Der Habitus ist also recht stabil und wirkt auf sich selbst konservierend zurück, indem er über die von den „Ersterfahrungen dominierte Aufnahme von Erfahrungen“ (Bourdieu 1993: 113) selegierende Praktiken bestimmt, mittels derer neue Erfahrungen ermöglicht – oder eben ausgeschlossen – werden.31 Daher wird – ebenso wie in der Systemtheorie oder in der Strukturationstheorie – auch nicht regulär davon ausgegangen, dass Akteure vollkommen informiert oder vollständig rational handeln können (ebd.: 118). Neben einer Selbststabilisierung bedeutet dies zur Seite der Praxiswelt hin, dass „der Habitus als praktischer Sinn“ (ebd.: 107) auch auf die Sozialwelt eher bekräftigend als verwandelnd einwirkt. Mit dem Habitus als erlebter, in Dispositionen gespeicherter und einverleibter Geschichte, als Produkt von Prägung und Aneignung, bleiben auch die Institutionen dauerhaft, auf die er sich beruft. Denn der Habitus ist vorangepasst an die Bedingungen seiner Erzeugung. Als solcher ist er ‚objektiv’, d.h. durch den im geschichtlichen Prozess objektivierten Sinn der Alltagswelt bestimmt und wirkt umgekehrt auf diesen ein: Dennoch ist er nicht vollständig determiniert, sondern ebenso zwingt er den Institutionen rekursiv „Korrekturen und Wandlungen auf…“ (ebd.: 107, 120). Weder geht der Habitus den Praktiken voraus, noch bestimmen die Praktiken ihn. Praktiken und Habitus stehen vielmehr in einem wechselseitig konstitutiven Verhältnis. In dieser reaktivierenden Aneigung des Feldes verschmelzen objektiver und praktischer Sinn. Durch Beobachtung und Erfahrung wird eine „Welt des Alltagsverstands geschaffen“ (ebd.: 108), in der jedoch ohne direkte Interaektionen und ohne eine direkte Abstimmung eine „Homogenisierung der Habitusformen“ (ebd.) stattfindet. Der Habitus ist aber auch ‚subjektiv’, da er als praktischer Sinn die Wahl individueller Handlungsstrategien im Umgang mit Institutionen erlaubt. So kann er als ein Motor sozialer Praxis verstanden werden, der nach einem Prinzip stillschweigender, handlungspraktischer Bedeutung die Zukünfte vorwegnimmt, die in einer Gegenwart enthalten sind und Entwicklung vorantreibt. Der praktische Sinn wirkt insofern mit seiner Ambition auf Bedeutungsherstellung richtungswei31
Luhmanns (1998) analytisches Kalkül zielt an dieser Stelle auf die Frage, warum diese Unterscheidungen und keine anderen beobachtet werden (ebd.: 577).
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send – selbst wenn „die Handelnden nie ganz genau wissen, was sie tun, hat ihr Tun mehr Sinn, als sie selber wissen“ (ebd.: 127; auch Polanyi 1985; Mannheim 1980). Lernen als Gewöhnung Wenngleich Bourdieu sich eingehend mit Bildung als institutionell geregelter Anleitung zur Habitusbildung als „Verinnerlichung des Entäußerlichten“ (Bourdieu 1970: 41, 192f.) beschäftigt, äußert er sich zum Konstrukt des Lernens eher sparsam. Zwar spricht er von Inkorporation, von Einverleibungsprozessen, deren Resultate in Schemata bestehen können, die nachgeahmt werden können. Diese Habitusausbildung muss aber nicht auf dem „Weg über Diskurs und Bewusstsein“ (Bourdieu 1993: 136) erfolgen und auch nicht über mechanische Lernprozesse i.S. des behavioristischen trial-and-error-Prinzips. Durchaus lässt er damit die Möglichkeit des Lernens anklingen. Indem er diesen Einverleibungsprozess als einen Vorgang versteht, der ohne Beteiligung des Bewusstseins, ohne Reflexion und Wissen auskommt, imprägniert er seine Sozialtheorie gegen eine psychologische Ergänzung durch kognitive Lernkonzepte. Bourdieu konzipiert Lernen gemäß seiner Habitustheorie konsequent als Funktion unbewusst und en passant ablaufender Sozialisationsprozesse: „Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man“ (ebd.: 135). Wissen, so wird hier deutlich, ist zwar auch bei Bourdieu in gewisser Weise mit Lernen verknüpft. Es handelt sich aber um ein körperliches, implizites Lernen, ein Erfahrungslernen. Die Habitusbildung selbst, verstanden als Form des Wissenstransfers, ist nur bedingt auf expliziertes oder explizierbares Wissen angewiesen. So diskutiert Bourdieu Lernen zwar als Strukturübungen, z.B. in Form von Wetten, Herausforderungen, Kämpfen, dem ‚So-tun-als-ob’. Lernen erfolgt ihm zufolge aber durchaus auch als schlichte Gewöhnung an explizite übertragene Vorschriften und Regeln (ebd.: 138). So gesehen ist Lernen bei Bourdieu ein Prozess, bei dem es eher um eine beiläufige denn ein explizite, mehr um eine nicht-teleologische als eine intentional-zielgerichtete Interiorisierung des Exterioren (ebd.: 102) geht. Diese vermeintliche Leerstelle in Bezug auf Lernen besteht aufgrund der gesamten Anlage der Bourdieu’schen Sozialtheorie zwangsläufig. Sie überrascht nicht, da sein Hauptinteresse ein rein soziologisches ist und den Mechanismen der (Re-)Produktion von sozialer Ungleichheit gilt – u.a. am Beispiel des Bildungssystems (Bourdieu/ Wacquant 1996). Zwar ist der Habitus gewissermaßen Ergebnis von Lernprozessen; diese werden aber zugunsten des Habituskonzepts, das in Bourdieus Werk einen zentralen Stellenwert einnimmt, nicht differenzierter reflektiert. Und wenn der Habitus als inkorporierte Geschichte konzipiert wird und als eine die Praktiken ‚bewusstlos’ steuernde, zwischen Akteur und Struktur bzw.
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System wirkende intermediäre Instanz, muss auch Lernen als habituell geprägter – und damit impliziter – Prozess behandelt werden. Lernen wird gewissermaßen durch den Habitus ‚verschluckt’ bzw. überdeckt – was im latent strukturalen Bias der Bourdieu’schen Konzeption von Wissensordnung begründet ist. Bedeutung der feld- und praxistheoretischen Überlegungen für die Beobachtung von Innovationen Bourdieu stellt die relationale Trias aus Feld, Habitus und Praktiken in das Zentrum seiner theoretischen Ausführungen. Mit ihr zielt er darauf ab, das Verhältnis zwischen sozialer Stabilität und Wandel zu klären. Hinsichtlich des kapital- und habitusgebundenen Spielraums, der für die Performanz sozialer Praktiken zur Verfügung stehe, kann auch hier nicht davon ausgegangen werden, dass es zu ‚einfachen’ Übernahmen oder simplen Kopien kommen kann. So bleibt es angesichts der ‚Trägheit’, mit dem der Habitus ausgestattet ist, offen, wie gesellschaftlicher Wandel mit dem Habituskonzept überhaupt erklärt werden kann (z.B. Liebsch 2007; Florian 2008: 136). Zugleich wird Bourdieus Werk als das eines strukturalistischen Konstruktivisten diskutiert (exemplarisch Friebertshäuser/Rieger-Ladich/ Wigger 2006) und teilweise als deterministisch kritisiert (Sewell, nach Hasse/ Krücken 2005: 93). Gleichwohl bietet es mit seinen Kategorien und deren Relationierung zueinander eine theoretische Option an, mit der ein empirisch-mikrosozialer Zugang auf der einen Seite mit einem gesellschaftsorientierten bzw. makrosozialen Zugang auf der anderen Seite miteinander in Beziehung gesetzt und gesellschaftliche sowie historische Kontexte der Entstehung bzw. Konstruktivität sozial geordneter Strukturen simultan berücksichtigt werden können (Keller 2005). Ungeklärt bleibt allerdings der Aspekt der Entstehung von Wertigkeiten, die der Dynamik der Ordnungsprozesse ihren Antrieb verleihen (Diaz-Bone 2005). Was also ist mit der Feldtheorie für die Beschreibung und Analyse von Innovationsprozessen gewonnen? Bourdieu verweist auf die symbolische Konstruktion von Wirklichkeiten, bei der Wissen aktiviert wird, das sich der sprachlichen Repräsentierbarkeit aber teilweise entzieht. Dieses erfahrungsgenerierte und -gesättigte Wissen ist in einer symbolisch-interaktionistischen Sichtweise aufgrund seiner Voraussetzung für Prozesse des Verstehens der Praxiswelt handlungsleitend und von grundsätzlich veränderndem Potential: Wenn die Sozialwelt mit ihren Anforderungen, Erwartungen etc. von den Akteuren verstanden wird, können sie ihr Bedeutung und Relevanz beimessen, die als symbolische Handlungs’antriebe’ fungieren. Vordergründig ist damit eine Nähe zu Luhmanns dreigliedrigem Kommunikationskonzept aufgebaut. Hier ist Verstehen allerdings nicht das Ende sozialer Operationen, sondern der Anfang sozialer Praktiken in dem Sinne, dass erst in den Praktiken Verstehen zum Ausdruck kommt. Allerdings endet der Kommunikations-
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prozess hier nicht wie bei Luhmann mit dem Schritt des Verstehens. Dieser Teilprozess wird als voraussetzungs- und folgreiches Element konzeptualisiert, an den sich ein Interpretationsprozess anschließt, der prinzipiell Brüche evozieren kann. Werden Innovationen in Anlehnung an Bourdieu als soziale Praktiken verstanden, ist anzunehmen, dass sich diese mehrfach hinsichtlich ihrer Funktionen, Normen, des spezifischen sozialen Orts der Innovation differenzieren: Ungewissheit stellt sich zunächst hinsichtlich der differenzerzeugenden Deutung der Innovation bzgl. Relevanz/Irrelevanz ein. Der Vorgang der Zuschreibung löst dieses Dual auf und überführt es in eine Dualität (s. dazu Abschnitt 3.3.3). Die Zuschreibung ist sowohl als eine Positionierung der Innovation im Feld, als auch als eine soziale Positionierung der zuschreibenden Akteure zu verstehen: Das Objekt wird durch dessen Relationierung positioniert. Die Akteure positionieren sich auch, und zwar indem sie diese Relationierung mit Sinn belegen, die gegenüber alternativen Bezügen plausibel gemacht werden muss. Während Luhmann eine solche Ungewissheit als Moment der ZweiseitenForm Wissen/Nichtwissen definiert (s.u.) und sich in Momenten struktureller Kopplung in Form eines ‚Entweder-Oder’ entscheidet, wohin diese Form ‚kippt’, betont Bourdieu dagegen stärker die transformierende Seite der Grenzüberschreitung: Übergänge selbst werden bei Bourdieu getragen vom „performativen Symbolismus des Rituals“ (Bourdieu 1993: 423). Während sich bei Luhmann angesichts des Theorems ‚Unwahrscheinlichkeit der Kommunikation’ Wissen gegen Nichtwissen als unhintergehbare, systemkonstituierende und -erhaltende Differenz ausgespielt wird, überwindet Bourdieu „die rituelle Alternative zwischen Bruch und Teilhabe“ (ebd.: 191) zu einem ‚Sowohl-Als auch’. Übergänge sind zwar dann immer noch nicht fließend, aber sie sind gestaltungsoffen. Der Übergang selbst vollzieht sich im Horizont des Wissens um wirkungsvoll gestaltbare Performativität von Praktiken. Mit diesen Hinweisen auf Performation und Inszenierung sind Momente angesprochen, die in Goffmans Konzept der Vorder-/Hinterbühne (Goffman 1969) eine zentrale Rolle einnehmen und sowohl in Systemtheorie und Neoinstitutionalismus als auch in der Feld- und Strukturationstheorie bedeutsam sind: Aufgrund von ‚einsozialisierten’ Schemata – primären sozialen Rahmen (Goffman 1974: 32) – werden Situationen auf der Basis von subjektivem und kollektivem Wissen sinnhaft definiert. Rahmen bieten Interpretationen an, mittels derer Situationen ein handlungsauffordernder, aktueller Sinn zugeschrieben wird. Mittels der Interpretation wird auf implizite Rollenanweisungen geschlossen, die als „orientierte Handlungen“ (ebd.: 33) auf einer Vorderbühne inszeniert und dort der sozialen Beurteilung zugänglich werden. Akteure treten auf dieser Bühne also sozialen (Rollen)Erwartungen gegenüber, die sie routiniert und im Rekurs auf gestische, sprachliche, mimische Verhaltensweisen ‚bedienen’. Die zur Schau gestellte Fassade
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kann gleichwohl unterschiedlich sein von den subjektiv wahren, für die Interaktionspartner nicht direkt erschließbaren, Beweggründen. In Bezug auf die Analyse von Innovationen gibt Bourdieus Theorie Aufschluss darüber, die prägende Kraft von sozialen Feldern zu berücksichtigen, in denen Akteure in (Sprach)Spielen um die (Be)deutung verhandeln. Sie verweist des Weiteren auf die Notwendigkeit, die Dimension Zeit zu reflektieren: Um Innovationen nicht zu ontologisieren und um nachvollziehen zu können, wie sie transportiert und von den jeweils beteiligten Instanzen mit Sinn und Bedeutung aufgeladen werden, bedarf es im Sinne Bourdieus einer analytischen Haltung, die quasi mitlaufend in das Innere der Innovation verlagert ist. Damit Verstehen möglich ist, hält er es für erforderlich, sich in quasi ethnologischer Tradition in größte Nähe zum Gegenstand zu begeben. Er plädiert für einen Perspektivenwechsel, für den es notwendig ist, sich gedanklich an den Ort des Befragten zu versetzen, den dieser im Sozialraum einnimmt (Bourdieu 1997: 779; Friebertshäuser 2006; Ecarius/Löw 1997). Dieses Verstehenskonzept stellt an den Forscher hohe Anforderungen. Der Forscher ist aufgefordert, die Wechselwirkung zwischen dem physischen und dem sozialen Raum zu berücksichtigen. Der physische Raum ist als „angeeigneter … Raum immer schon ein sozial konstruierter Raum“ (Schroer 2006: 87). Das hat Auswirkungen auf die Anforderungen an Reflexivität: Da der Forscher selbst in einem sozialen Feld und Raum positioniert ist, das mit seinen eigenen Denk-, Wahrnehmungs- und Bewertungsschemata ausgestattet ist, ist auch sein Verstehen durch diese zugleich limitiert und ermöglicht. Daher ist in jede Beobachtung eine Reflexion der Bedingungen des Verstehens einzuschließen (Friebertshäuser 2006). Dieser Hinweis umfasst weit mehr als die Information über summative oder formative Forschung. Er ist begleitet von grundsätzlichen Unterschieden hinsichtlich des Zeitverständnisses, das insbesondere Bourdieu zuspitzt auf die Zeit des Analytikers auf der einen Seite und die Zeit des Praktikers auf der anderen Seite. Praktiker sind in einen ununterbrochenen Handlungsstrom eingebunden, der einen permanenten Handlungsdruck erzeugt und in dem zukunftsweisende Entscheidungen zu treffen sind. Diese fallen aber unter die Bedingung der Ungewissheit und sind nicht immer vollständig rational oder reflexiv. Sie sind daher angewiesen auf die illusio, die Annahme, dass das Handeln, die Entscheidung eine Resonanz erzeugt, an der sich das soziale Miteinander wieder aufbauen kann. Diese Überlegung hat Ähnlichkeit mit der Problematik der doppelten Kontingenz bei Luhmann (s. Abschnitt 3.2.1). Der Analytiker oder Theoretiker dagegen – obwohl in derselben Weltzeit verhaftet wie der Praktiker und ebenfalls in (s)einen kontinuierlichen Handlungsstrom verstrickt –, ist den in dem beobachteten Feld bestehenden Unsicherheiten etc. enthoben. Er ist auch der dort geltenden Zeit enthoben. Er vermag es, dank einer zeitbindenden Aktivität, die Vielschichtigkeit und Konsekutivität
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des Handelns in nur einem Augenblick zu überblicken, die soziale Praxis zu totalisieren (Bourdieu 1993: 149). Dabei besteht aber die Gefahr, dass er Antworten auf analytische Fragen sucht, die im Feld in dem Sinne gar keine Rolle spielen, da sie nicht explizit reflektiert werden, sondern schon im habituellen Handeln verborgen sind (ebd.: 155). Diese Form sozialer Ungleichheit zwischen Forschern und Beforschten aber müsse Bourdieu zufolge aufgehoben werden, damit Forschung gerade nicht ins Leere läuft, sondern ihre soziale Relevanz sicherstellt. Während die Systemtheorie als habituell distanziert „gegenüber den methodologischen Fragen der Sozialforschung“ (Vogd 2005: 28) gilt, plädiert Bourdieu klar für eine große Nähe zum Beobachtungsgegenstand im Feld. In methodischer Hinsicht verlagert Bourdieu die empirische Analyse in die zu beobachtende Lebensund Sinnwelt. So hält er es für möglich zu beobachten, wie Epistemologien, also sozial organisierte Wahrnehmungen und Wissen, sowohl die Lebenswelt als auch deren Analyse beeinflussen. Nachdem im vorigen Abschnitt die Möglichkeit der begrifflichen Erfassung von Innovation aus systemtheoretischer Perspektive disktuiert und herausgearbeitet wurde, dass der Prozess der Aneignung von Innovationen nicht hinreichend mit dem Luhmann’schen Dreischritt der Kommunikation beschrieben werden kann, zeigt sich mit der Theorie der Praxis von Bourdieu die Möglichkeit einer Terminologie für die prozessuale Darstellung von Innovationen. Diese quasi nach-kommunikativen Prozesse der Bedeutungs- und Wissensgenerierung zum Gegenstand theoretisch gestützter Beschreibung und Analyse zu machen ist möglich, weil bei Bourdieu die Subjekte nicht verschwinden. Dennoch liegt kein individualistischer Bias vor, weil mit dem Habituskonzept bzw. der Konzeption habitualisierter Praktiken der Sinn- und Bedeutungsgenerierung die Dimension des Sozialen neben die des Individuellen tritt. Mit Bourdieu kann die Sozialwelt als ein Ergebnis „kollektiv-kognitivsymbolischer Regeln der Sinnzuschreibung, Codes, Diskurse, Wissensordnungen, Typisierungsregeln, Repräsentationssysteme“ (Reckwitz 2004b: 217) betrachtet werden, deren Anwendung zu einer kontingenten Ordnung führt. Nicht Kommunikationen wie bei Luhmann, sondern Praktiken sind damit die kleinsten Einheiten des Sozialen, sie sind der „Ort des Sozialen und des Wissens“ (Reckwitz 2004b: 220; 2004a: 306) und ihrerseits in symbolische Wissensordnungen eingebettet (Reckwitz 2004a: 320). Diese Ordnungen sind allerdings nicht starr, sondern auf der Basis von Ver- bzw. Aushandlungen veränderlich (Reckwitz 2004b: 229). Zwar schlägt Bourdieu theoretisch einen Weg ein, der zwischen System- und Handlungsperspektive vermittelt. Allerdings kann er „die potentiell innovative und kontextsensible Produktion von Strukturen nicht wirklich integrieren“ (Reckwitz 1997b: 90) und nimmt einen „Bias zur Sozialintegration auf Kosten der Systemintegration“ (ebd.: 92) in Kauf, weil er dem Modell der Strukturreproduktion tenden-
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ziell verhaftet bleibt. Es bleibt insofern eine konzeptuelle Nähe zur Stabilitätsprämisse bestehen, die grundsätzlich auch bei Luhmann vorgefunden wird: Beide gehen von einer prinzipiellen Trägheit von Systemen bzw. Feldern aus. Bei Luhmann besteht diese aufgrund der Semantiken als gespeichertem ‚kulturellen’ Wissens, das in systemspezifischen Operationen angewendet und durch Variation, Selektion und Stabilisierung in der Systemevolution wirksam wird. Bei Bourdieu entsteht sie aufgrund des Habitus als inkorporierter Geschichte, als ‚strukturierender Struktur’, der mit dem ihm innewohnenden praktischen Sinn Praktiken repetitiv hervorbringt und dadurch tradiert. Insgesamt bietet die Bourdieu’sche Praxistheorie eine Perspektive auf inkrementelle Veränderungen an. Als Motor von Veränderungen werden soziale Spiele identifiziert, die unter Einsatz von Macht stattfinden. Diese ist in den jeweiligen Feldern asymmetrisch verteilt und wird aufgrund ungleich verteilter Dispositionen auch asymmetrisch eingesetzt – eine Prognose des Ausgangs der Spiele ist daher unmöglich. In Bezug auf Innovationsanalysen verweist die Feld- und Praxistheorie Bourdieus auf die Bedeutsamkeit quasi subkutan wirkender Machtdynamiken im Gefolge der Zuschreibungen von Deutungen zu Innovationen (Interpretation). 3.2.3
Strukturationstheorie: Innovation ist eine dauerhafte Realität sozialer Dynamik „Die Terminologie der Theorie der Strukturierung sollte man… als sensibilisierendes Behelfsmittel für mannigfaltige Forschungszwecke betrachten, mehr nicht.“ (Giddens 1997: 383)
Die Ausgangsfrage dieses Abschnitts lautet, welche Reflexionsmöglichkeiten Sozialtheorien bereit halten, um das Verhältnis von Stabilität und Wandel, Planung und Evolution bestimmen zu können. Während mit der Reflexion systemtheoretischer Konzepte ein funktionalstruktureller Blick auf das Innovationsphänomen gerichtet wurde, eröffnen sich mit Bourdieus und Giddens’ Ansätzen praxistheoretische Perspektiven. Im Gegensatz zu Bourdieu, dessen Theorie tendenziell strukturalistisch erscheint, ist die Strukturationstheorie von Giddens (1997) darauf ausgerichtet, den in der soziologischen Theoriedebatte konstatierten, als ‚Subjektivismus-Objektivismus’- bzw. ‚MikroMakro-Problem’ bezeichneten Dualismus von Handeln bzw. Akteuren einerseits und Strukturen bzw. Sozialem zu überwinden. Weder der einzelne Akteur32 noch 32
Giddens verwendet die Begriffe ‚Handelnde’ und ‚Akteure’ synonym (Bourdieu 1993: 36).
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der gesellschaftliche Überbau sind alleiniger Ausgangspunkt dieser Theorie; Strukturen sind ebenso wenig deterministisch und statisch gedacht wie Akteure als übersozialisiert gelten (Reckwitz 2003: 283). Giddens’ Ziel ist es, das Mikro-MakroProblem der eindimensionalen Verortung der Handlung und Struktur erzeugenden Instanzen in ein reziprokes Verhältnis aufzulösen und sich somit gegen „einen Imperialismus des Subjekts“ (Giddens 1995: 52) interpretativer Soziologien und gleichzeitig gegen einen „Imperialismus des gesellschaftlichen Objekts“ (ebd.) zu positionieren, wie er im Funktionalismus und Strukturalismus entwickelt wird. In seiner Strukturationstheorie bricht Giddens mit einem statischen Konzept von Sozialität und dynamisiert das Denken über soziale Strukturen. Das zentrale Konzept der Strukturation trägt eine doppelte Bedeutung: Handlungen sind strukturiert und wirken strukturierend; bei Strukturen handelt es sich zugleich um Prozesse bzw. Medien und Resultate. Struktur steht Handlung nicht unversöhnlich gegenüber, sondern ist mit dieser verwoben. Giddens bezeichnet diese Eigenschaft als Dualität von Struktur. Dieses verzahnt er mit einem Stratifikationsmodell des Bewusstseins von Akteuren: Handelnd, aber nicht immer ‚bei vollem Bewusstsein’ rekurrieren Akteure auf Strukturen, die sie durch ihr Handeln reproduzieren und variieren. Diese Strukturen ermöglichen und restringieren ihr struktur(re)produzierendes Handeln gleichermaßen. Auf dieser Basis der Einführung bewusstseinsfähiger Akteure, die rekursiv die Strukturen hervorbringen, in denen sie handeln, gelingt Giddens eine Verknüpfung von mikro- und makrosozialen Prozessen. Während die Systemtheorie und die Feld-, Habitus- und Praxistheorie eher zur Seite der Stabilität hin neigen, nimmt die Strukturationstheorie eine das Verhältnis von Akteur und System explizit dynamisierende Position ein: Die Systemtheorie nach Luhmann geht vom Evolutionsprinzip aus, dem auch jegliche Planung unterworfen ist. In zeitlicher Hinsicht ist daher von einer Kontinuität des Wandels auszugehen. In Bezug auf die sachliche Dimension sind Systeme jedoch bestrebt, sich über grenz-erhaltende, sinnbasierte und selektive Operationen mit sich selbst ähnlich zu halten, also stabil zu bleiben. Auch Bourdieus Theorie tendiert mit ihrem Habituskonzept stärker zur Seite der Stabilität. Anders als Luhmann geht Bourdieu zwar von der Relevanz individueller Akteure aus. Er konzipiert sie aber mittels des Habituskonzepts als sozial konstituierte ‚Inhaber’ von Positionen im sozialen Feld. Weil das einverleibte Soziale den Akteuren aufgrund des praktischen Sinns des Habitus’ unbewusst ist bzw. nicht reflektiert wird, kann weder der Habitus noch der soziale Raum intentional verändert werden. Insofern beschreibt Bourdieus Theorie eher stabilisierende Bedingungen denn Mechanismen des Wandels. Hinsichtlich der Frage der Intentionalität und bewussten Steuerung von Veränderungen nimmt Giddens (1997) gegenüber Bourdieu eine konträre Position ein:
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Er entwirft ein stratifikatorisches Bewusstseinskonzept, in dem es bewusstseinsfähige und interessengeleitete Akteure gibt. Diese sind jedoch – wenngleich sie mit Intentionalität ausgestattet sind – auch nicht allmächtig, sondern müssen mit den nicht-intendierten Folgen ihres Handelns leben. Intentionalität bezieht sich daher auf die reflexive Handlungsplanung, auf die Absichten von Akteuren, Differenzen herzustellen. Sie kann sich nicht auf tatsächliche Handlungsfolgen beziehen – diese sind, wenngleich sie auf Regeln und Ressourcen basieren, aufgrund sozialer Kontingenz nicht vollständig beeinflussbar und planbar. An diese Stelle tritt bei Giddens das Konzept der Struktur. Dieses Konzept ist hinsichtlich der sozialen Funktion, die es im Theoriegefüge einnimmt, dem Gedächtniskonzept Luhmanns und dem Habituskonzept Bourdieus ähnlich. Während Habitus und Gedächtnis jedoch durch Trägheit gekennzeichnet sind (Saake 2004: 89), dynamisiert Giddens diese Funktion: Struktur ist ein System transformativer Regeln. Wandel rückt insgesamt stärker in den analytischen Vordergrund der Strukturationstheorie; diese wird im Folgenden dargestellt und in ihrer Bedeutung für die Beobachtung von Innovationen diskutiert. Dualität von Handlung und Struktur: Strukturation Die Theorie der Strukturation bezieht sich sowohl auf die Entstehung als auch die Veränderung sozialer Tatbestände. Der Terminus ‚Strukturation’ bestimmt zwei Bedeutungen von Strukturen: sowohl den Aspekt der Reproduktion sozialer Strukturen (durch Handeln) als auch deren Ergebnis (Strukturen). ‚Strukturen’ bezeichnen die Relationen zwischen Regeln und Ressourcen, während unter ‚Struktur’ die Menge der an der sozialen Reproduktion mitwirkenden Regeln und Ressourcen verstanden wird. ‚Strukturierung’ kennzeichnet demgegenüber die Bedingungen des Wandels bzw. der Stabilität von sozialen Systemen (Giddens 1997: 77). Strukturen werden Giddens zufolge durch die permanente Bezugnahme von Akteuren immer wieder aktualisiert; sie ermöglichen und beeinträchtigen das Handeln der Akteure: „Struktur darf nicht mit Zwang gleichgesetzt werden; sie schränkt Handeln nicht nur ein, sondern ermöglicht es auch. Dennoch kann man sagen, dass die strukturellen Momente sozialer Systeme so weit in Raum und Zeit ausgreifen, dass sie sich der Kontrolle eines jeden individuellen Akteurs entziehen“ (ebd.: 78). Für Giddens sind Strukturen ein System transformativer Regeln. Sie werden fortlaufend reproduziert über Praktiken, d.h. das Handeln der Akteure. Die Akteure rekurrieren dabei ihrerseits auf Regeln und Ressourcen, allerdings nicht vollständig bewusst. Da also Praktiken nicht vollends intentional sind, ist Struktur ein Phänomen, das bei den Akteuren nur in Form von Erinnerungsspuren existiert. Darüber hinaus überdauern sie aufgrund des repetitiven Charakters von Praktiken Zeit und Raum und können sich so zu (reversiblen) Institutionen verdichten (ebd.: 69; 77f.). Durch ihre strukturschaffenden wie -geprägten Handlungen wirken die
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Akteure bewusst oder unbewusst, zumindest jedoch aktiv an der (Re-)Produktion institutionell regulierter sozialer Ordnung mit. Im Sinne des Reziprozitätstheorems determinieren Strukturen das Handeln der Akteure nicht, sondern sind rekursiv mit den Praktiken, die sie hervorbringen, verwoben. Vollkommen beliebig sind deren Praktiken aber nicht, da Struktur – Regeln und Ressourcen – den Akteuren „inwendig“ (1997: 78) ist: Zwar existiert Struktur außerhalb von Raum und Zeit und ist nicht auf Subjekte angewiesen. Sie ist ihnen aber auch „nicht ‚äußerlich’“ (ebd.: 79), sondern existiert – ähnlich wie bei Bourdieu im Habitus – durch und wegen des impliziten Wissens bzw. praktischen Bewusstseins der Akteure, das in ihren regel- und ressourcenbasierten Handlungen zur Anwendung kommt. Praktisch erzeugter Sinn als Strukturdimension sozialer Systeme Soziale Systeme sind nach Giddens reproduzierte soziale Praktiken. Diejenigen Praktiken, die die größte räumlich-zeitliche Ausdehnung erfahren, werden als Institutionen bezeichnet (Giddens 1997: 69). Institutionen sind demnach praxisbasiert und beziehen sich auf eine Handlungsebene. Sie sind veränderlich. Der Begriff der Institution markiert aber mit dem Hinweis auf die Bedingungen ihres Entstehens ebenso eine strukturelle Ebene: Als potentiell sich zu Institutionen verdichtende Momente des Sozialen tragen Praktiken so genannte Strukturmomente (Regeln und Ressourcen) in sich (ebd.: 67). Strukturmomente sind „sowohl Medium wie Ergebnis der Praktiken, die sie rekursiv organisieren“ (ebd.: 77). Akteure beziehen sich in ihren Praktiken auf diese Regeln und Ressourcen und bringen sie dadurch wieder zur Geltung. Strukturmomemente gelten als institutionalisierte Aspekte der Reproduktion sozialer Systeme (ebd.: 240, 246). Sie wirken gleichsam diskret. Während Praktiken die aktuellen Ausdruckformen sozialer Ordnung kennzeichnen, gelten Institutionen als die dauerhafteren Merkmale des sozialen Lebens (ebd.: 76), die Giddens in Anlehnung an Schütz auch als longue durée bezeichnet. Institutionen sind dem Handeln weder chronologisch vorausgesetzt, noch sind sie ein Aggregat von Handlungen; sie sind vielmehr Zeit und Raum überdauernde Praktiken, die den Alltag strukturieren. Institutionen entstehen aus den repetitiven Interaktionen des Alltagslebens (durée), die Sinn stiften (ebd.: 79; Berger/Luckmann 1995; Viehöver 2005: 207). Sinn bzw. die Konstitution von Sinn (Signifikation) ist in der Theorie der Strukturierung neben Herrschaft und Legitimation eine Dimension sozialer Struktur; alle drei sind rekursiv aufeinander bezogen (Giddens 1997: 84). Zwischen diesen Strukturdimensionen und den Interaktionen – Kommunikation, Sanktionierung, Macht – stehen Strukturierungsmodalitäten, sie vermitteln zwischen Praktiken und Strukturen. Die Modalitäten der Strukturierung bestehen in interpretativen Schemata, Fazilität und Normen (ebd.: 81). D.h., unter Anwendung von Interpreta-
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tionsschemata (Modalität) wird Sinn (Struktur) mittels Kommunikation (re)produziert (Interaktion). Die Zuschreibung von Sinn erfolgt abhängig von den im jeweiligen Kontext verteilten Ressourcen in Form von Herrschaftsstrukturen sowie den jeweils geltenden Legitimationsmustern. Akteure reproduzieren in ihren Praktiken nicht nur Strukturmomente, sondern sie folgen in ihren Interaktionen auch den Strukturierungsmodalitäten. Signifikation als strukturelle Dimension des Sozialen basiert auf Regeln, auf die die Akteure in ihrer Kommunikation von Sinn bewusst oder unbewusst zurückgreifen. Die kommunikative Konstitution von Sinn erfolgt – bezogen auf die Handlungsebene – über bewusst oder unbewusst eingehaltene Regeln der Kommunikation von Sinn und resultiert – in Bezug auf die strukturelle Ebene – in Signifikation (ebd.: 82). Signifikation und Legitimation weisen auf das Verhältnis von Handeln, Deuten und Begründungen von Handlungen, Macht auf das Verfügen über Regeln und Ressourcen, die auch bei Signifikations- und Legitimationspraktiken zum Einsatz gelangen. M.a.W. basiert die Anerkennung von Sinn auf institutionell geregelten 33 kommunikativen Praktiken. Die Konstitution von Sinn wird interaktiv geordnet. Dabei werden interpretative Schemata angewendet, mit denen die Definition sozialer Situationen ausgehandelt wird (ebd.: 73). In der alltäglichen, regelhaften Interaktion findet eine Anwendung dieser diskursiv geschaffenen und sprachlich repräsentierten Bedeutungen und Interpretationsschemata statt. Soweit die Regeln, denen die praktische Anwendung dieser Modalitäten folgen – Sprach- und Verfahrensregeln – und formalisiert sind, ist das darauf bezogene Handeln legitimierbar oder deren Nicht-Befolgung ggf. sanktionierbar. Die Anwendung dieser Modalitäten und die Interaktionen selbst erfolgen allerdings nicht zwingend unter Beteiligung des (diskursiven) Bewusstseins, sondern können durchaus in einem praktischen Bewusstsein oder sogar unbewusst stattfinden i.d.S., dass der Handelnde diese Bedeutungen erinnert, „ohne dass er jedoch sagen könnte, was er eigentlich ‚weiß’“ (ebd.: 100; Polanyi 1985: 14, 27). Stratifikationsmodell: Handlung und Bewusstsein Die strukturationstheoretische Erklärung von Wandel bezieht neben den Faktoren Raum und Zeit maßgeblich die Akteure ein. Denn Kontexte, so Giddens, beinhalten die von „den Handelnden bewusst betriebene Steuerung der Bedingungen, unter denen sie ‚Geschichte machen’“ (Giddens 1997: 301). Diese intentionale, reflexive Steuerung wird jedoch begrenzt durch das ebenfalls an Handlungen mitwirkende praktische Bewusstsein sowie das Unbewusste: Die reflexive Steuerung 33
Dies erfolgt im Diskurs. Diskurse sind Mittel, mit denen eine räumliche und zeitliche Vergrößerung des Abstands zwischen Interaktionspartnern stattfindet (Giddens 1995: 37). Diskurse tragen so zu einer Sozial- und Systemintegration sowie einer Ausdehnung von Systemen bei.
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konzipiert er durchaus im Bezug auf „unbewusste Quellen der Kognition und Motivation“ (ebd.: 94). Die regelhaften sozialen Praktiken, das soziale Handeln, welches die strukturellen Dimensionen – Signifikation, Herrschaft, Legitimation (ebd.: 83) – sozialer Systeme manifestiert, basieren wesentlich auf einem sog. praktischen Bewusstsein. Im Giddens’schen Stratifikationsmodell des Bewusstseins wird dieses praktische Bewusstsein als ‚mittlere Form’ von einem diskursiven Bewusstsein und einem Unbewussten begleitet. Das diskursive Bewusstsein ermöglicht es den Akteuren, Sachverhalte wie z.B. erinnerte Geschichte verbalisieren zu können (ebd.: 95, 99). Vom praktischen Bewusstsein unterscheidet es sich allein durch seine sprachliche Explizierbarkeit. Auf der Ebene dieses diskursiven Bewusstseins spielt sich die bewusste und reflexive Steuerung des Handelns ab. Dabei verweist Giddens auf die alltäglich zu beobachtende Möglichkeit, dass „Gründe, die Akteure diskursiv für ihr Tun anbieten, von der Rationalisierung des Handelns divergieren können, wie sie wirklich im Verhaltensstrom dieser Akteure eingelagert sind“ (ebd.: 54). Damit macht Giddens auf die bereits in Abschnitt 3.1.2 besprochene Möglichkeit bewusster, d.h. rationaler Täuschung aufmerksam. Das praktische Bewusstsein besteht aus dem propositionalen Wissen über Regeln und Taktiken des über Raum und Zeit sich immer wieder neu aufbauenden Alltagslebens (ebd.: 144) und schlägt sich in den Handlungen nieder. Es „bezieht sich auf Erinnerungen, die dem Handelnden in der durée des Handelns zugänglich sind, ohne dass er jedoch sagen könnte, was er eigentlich weiß“ (ebd.: 100; auch Polanyi 1985). Demnach verstehen die Akteure zwar, was sie tun. Allerdings ist ihnen nicht alles, was sie tun, reflexiv zugänglich. Während Akteure üblicherweise 34 Gründe für ihr Handeln darlegen können, ist dies in Hinblick auf ihre Motive mitunter nicht der Fall. Damit entzieht sich ein Teil des Antriebs für den kontinuierlichen Verhaltensstrom der reflexiven Steuerung (Giddens 1997: 55ff., 94). Auf der Ebene des Unbewussten sind die Motive und Gründe für Handeln angesiedelt (ebd.: 54). Das Unbewusste bezieht sich „auf Erinnerungsweisen, auf die der Handelnde keinen direkten Zugriff hat, weil irgendeine negative ‚Barriere’ ihre unvermittelte Einbeziehung in die reflexive Steuerung des Verhaltens, oder genauer: in das diskursive Bewusstsein verhindert“ (ebd.: 100). Die Erinnerungen, auf die sich das Unbewusste in seiner handlungskoordinierenden Funktion bezieht, sind sprachlich nicht ‚veräußerbar’, sondern die Regeln, auf denen die Handlungen des Akteurs beruhen, sind diesem implizit. Diese Bewusstseinsformen prägen sich über deren repetitive Anwendung in Strukturen ein. Das stratifikatorische Bewusstseinskonzept Giddens’ zeigt, das 34
Zur Unterscheidung von Motiven (psychophysische Dispositionen) und Motivationen (graduell unterschiedlichen Zuständen des Motiviert-Seins) sowie der Beteiligung von Emotionen und Kognitionen daran: Heckhausen 2003.
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Akteure zwar versuchen können, ihr Handeln reflexiv zu steuern, ihre Praktiken aber aufgrund der Beteiligung des praktischen Bewusstseins sowie des Unbewussten nicht intendierte Folgen haben können. Soziale Strukturen können vor diesem Hintergrund nicht als vollständig intentional herbeigeführt gelten. Aus diesem nicht zwingend diskursiven, sondern ‚nur’ praktisch bewusstseinspflichtigen Rekurs von Akteuren auf soziale Regeln und Ressourcen ergibt sich die zentrale Figur der Reziprozität von Handlung und Struktur: Regeln sind dabei als sinnkonstituierend sowie sanktionslegitimierend zu verstehen. Angewendet werden Regeln in der (Re-)Produktion sozialer Praktiken, indem sie Hilfen für die Interpretation routinemäßiger Situationen in Form von Sprach- oder Verfahrensregeln bereitstellen. Diese Regeln werden von Individuen – ähnlich dem Bourdieu’schen Habitus (s.o.) – einverleibt und wirken, routinehaft angewandt, entlastend. Die Anwendung von Regeln ist an Ressourcen geknüpft. Mit Ressourcen sind soziale Möglichkeiten und Positionen bezeichnet, von denen aus die Akteure regelbasiert handeln. Während der Einsatz autoritativer Ressourcen zu Herrschaft über andere Akteure führen kann, bedeutet der Rückgriff auf allokative Ressourcen die Kontrolle über sachliche Mittel (ebd.: 86). Lokalisierung von Wissen Diese drei Bewusstseinsformen, und hieran wird das Konzept der doppelten Hermeneutik (s.u.) von Räumlichkeit und Zeitlichkeit der Giddens’schen Strukturationstheorie deutlich, werden aktualisiert und situiert an ‚Orten’. Orte werden erst durch Interaktionen, durch aktives, auf Ressourcen basierendes Organisieren (‚spacing’) zu dem, was sie sind (Giddens 1997: 129) – und sind der Bezugsrahmen für Interaktionen (ebd.: 170); m.a.W.: sie sind sozial konstruiert. Diese Konstruktionen basieren auf Regeln und Ressourcen und können daher als relationale Konstrukte verstanden werden, die sich im Laufe der Zeit verändern. Orte differenziert Giddens von den Räumen. Räume gelten ihm als konstituiert durch die dynamische symbolische Ordnung des auf Regeln und Ressourcen rekurrierenden Handelns der Akteure (Löw 2008: 43; Schroer 2006: 115). Giddens entscheidet sich in seinen theoretischen Ausführungen explizit für den Begriff des Orts: Orte bergen die bereits sozial integrierten Strukturen in sich, in denen gehandelt wird, d.h. in Orten wird das Abwesende, jedoch im praktischen Bewusstsein Anwesende, integriert (Giddens 1995: 30). Orte sind somit die kleineren Einheiten von Räumen; an Orten gilt das Prinzip der Kopräsenz der Akteure, während es in Räumen aufgrund der Zeit und Raum überdauernden Strukturiertheit des Handelns aufgehoben ist. Giddens lehnt sich mit seinem Konzept des Orts an Goffmans Konzept der Regionalisierung von Vorder- und Hinterbühnen an, auf denen im Rekurs auf Abwesendes sozial legitimierter Sinn kommunikativ zur
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Schau gestellt wird.35 Innerhalb dieser Interaktionssituationen und -orte können zudem Zentren und Peripherien unterschieden werden, in denen Entwicklungen in ungleichem Tempo vollzogen werden oder ungleiche Bedeutungen haben (Giddens 1997: 171ff., 39). Bei den Orten kann es sich ebenso um territorial begrenzte Nationalstaaten wie um eine Straßenecke handeln (ebd.: 170). Selbst wenn es sich also um unterschiedlich ‚große’ Bezugsrahmen „von und für Interaktion“ (ebd.: 39; 46) handeln kann, sind sie doch universell darin vereint, dass in ihnen spezifische Regeln der Begegnung gelten, die sie relational zu ihrer Umgebung prozessieren: Schule z.B. ist als Ort ein ‚Behälter’, in dem disziplinierende Macht aufgeführt wird, während Macht ‚als solche’ relativ unabhängig von den Praktiken dieses spezifischen Orts zum Tragen kommt (ebd.: 192; zur Macht s.u.). Die routinemäßige Anwendung von Regeln (Praktiken) führt zusammen mit dem Einsatz von Ressourcen zur Reproduktion von Strukturen (ebd.: 69f.). Diese Strukturen sind unabhängig von Zeit und Raum. In die Praktiken sind bereits historisch bedeutsame Sinnelemente eingelassen, die sich durch die Aktualisierung und Situierung, ggf. modifiziert, in die Zukunft prolongieren. Weder Strukturen noch Handlungen gehen insofern dem jeweils anderen voraus, sondern sie reproduzieren bzw. modifizieren sich im selben raumzeitlichen Moment. Soziale Praktiken sind durch die moderne Raum-Zeit-Ordnung sozialer Systeme immer ‚dis-embedded’ und wirken ‚re-embedding’ (Giddens 1995: 28; von Cranach 1995; s. auch Abschnitt 1.3.2 und 3.1.1). Diese Figur des Abrufens und Verankerns von gemeinsamem Wissen lässt die Frage nach dem Gedächtnis oder Speicher aufkommen, von dem aus es abgerufen oder in den hinein es verankert wird. Diese Frage beantwortet Giddens im Rekurs auf Strukturen und Institutionen: „Wissen bleibt der fortwährenden Strukturierung des sozialen Lebens nicht äußerlich, sondern fließt integral darin ein“ (Giddens 1997: 78). Stillschweigend beziehen sich die Akteure in ihren Interaktionen auf sozial geltende Regeln und Ressourcen, um die „Sinnhaftigkeit ihrer kommunikativen Handlungen“ (ebd.: 39, 125) zu konstituieren. Dabei reproduzieren sie auch die Bedingungen, unter denen ihnen Handeln möglich ist und perpetuieren das in den Strukturen eingelagerte Wissen. Selbst wenn Giddens den Akteuren zutraut, dieses Geschehen unter Zuhilfenahme von Interpretations- bzw. Deutungssschemata reflexiv zu steuern (ebd.: 82), wird Sinn im Zuge der Systemintegration auch ohne diese reflexive Bezugnahme auf das strukturell inkorporierte Wissen und auch ohne die direkte Begegnung in „situationsspezifischen Interaktionskontexten“ (ebd.: 116) in Strukturen und Systeme eingelagert und so für soziale Reproduktion
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Hier ist eine Parallele zur Diskrepanz zwischen ‚talk’ und ‚action’ vorzufinden (s. Abschnitt 3.1.1).
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und symbolische Ordnungsprozesse verfügbar. Wissen und Sinn, so lässt sich nun festhalten, verbirgt sich in den struktur- und systemreproduzierenden Praktiken. Ordnung durch Strukturation Die wesentliche Frage in Bezug auf das „Problem der Ordnung“ besteht für Giddens darin, „wie es kommt, dass soziale Systeme Zeit und Raum ‚binden’, indem sie Gegenwärtiges und Abwesendes aufeinander beziehen und integrieren“ (Giddens 1997: 235). Fraglich ist also, wie die Wiederholung von Handlungen über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg gewährleistet werden kann, m.a.W. wie diese Handlungen zu Praktiken und diese zu Ordnung stiftenden Institutionen werden. Die strukturationstheoretische Antwort auf diese Frage besteht im reziproken Verhältnis von Handlung und Struktur. Durch den Verbund von Handlungen bzw. Praktiken und Wissen entsteht Ordnung i.S. von Institutionen insofern en passant, als die Praktiken in einem regelgeleiteten Zugriff auf Ressourcen aufgeführt werden. Ordnung kann vor diesem Hintergrund als etwas angesehen werden, das in der andauernden Interaktion verschiedener, durchaus asymmetrisch zueinander positionierter Akteure hervorgebracht wird, die insbesondere unter Einsatz der Ressource Macht und mit Mitteln der Kommunikation darum bemüht sind, über ihre Praktiken objektive Faktizitäten (Strukturen, also Regel-RessourcenKomplexe) zu erzeugen (Ivanyi 1999: 159). Ausgangspunkt von Wandel ist also eine reflexive Beeinflussung eines Prozesses oder Zustands. Giddens geht es darum, die ‚Gemachtheit’ dieser praktisch erzeugten Unterschiede aufzuzeigen: Sie sind Produkt der Rekursivität und nicht nachlaufendes Moment sozialer Ordnung. Diese Fähigkeit, in ein Geschehen einzugreifen, anders – und das heißt regelabweichend – zu handeln (Giddens 1997: 65) und dadurch „einen Unterschied herzustellen“ (ebd.: 66), bezeichnet Giddens als Macht. Diese Macht, so betont Giddens, drückt sich aber nicht zwingend in Konflikt, Dominanz oder Unterdrückung aus (ebd.: 314). Macht wird vielmehr durch die Anwendung von Regeln und Ressourcen gleichzeitig sozial eingeräumt wie auch eingeschränkt. Sie ist insofern nicht strukturell fixiert wie etwa bei Bourdieu, sondern dynamisch, interaktiv. Macht gilt Giddens ganz neutral als eine „Fähigkeit, Ergebnisse herbeizuführen“ (ebd.: 314) und wird als Modalität, d.h. als Mittel der Übertragung von Herrschaftsstrukturen konzipiert. Da diese Strukturen – wie auch Legitimation und Signifikation – rekursiv produziert werden, wird Macht als Interaktionsform auch rekursiv von den Akteuren praktiziert: Herrschaftsstrukturen existieren i.d.S. nur, wenn Akteure durch ihre Interaktionen Orte konstituieren, in denen sie eine Macht ausüben, die ihnen von anderen Akteuren verliehen wurde. Als ausschließliches Movens von Macht und damit die zwingende Beteiligung des diskursiven Bewusstseins als dessen konstitutives Element lehnt Giddens
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Intentionalität jedoch ab: Aus seiner dialektischen Perspektive ist Macht etwas Relationales, da die Fähigkeit, einen Unterschied herzustellen als Merkmal sozialer Interaktion darauf angewiesen ist, dass andere Akteure ursprüngliche Intentionen in ihrem Handeln auch verwirklichen (Ivanyi 1999: 152; Löw 2008). Macht kann also im Rahmen der Strukturationstheorie nicht als exklusive Ressource zur Durchsetzung partikularer Interessen verstanden werden, sondern ist vielmehr eine Form der Interaktion, die sich vor dem Hintergrund von Herrschaftsstrukturen abspielt (Giddens 1997: 81): Macht wird verliehen, eingeschränkt und ausgeübt. Um sie auszuüben, bedienen sich die Akteure sozialer Regeln und greifen auf Ressourcen zurück.36 So gesehen sind die in Praktiken prozessierten, sozial geteilten Regeln und Ressourcen die Medien, durch die Macht erst entsteht und in Form von Herrschaft als Strukturdimension des Sozialen zum Ausdruck kommt. Vor dem Hintergrund der grundlegenden Dualitätsthese der Strukturationstheorie ist Ordnung selbst als etwas Dynamisches – und nicht als ein Zustand – zu verstehen. Über Routinen gelangt Ordnung in diese Dynamik. Die Routinen bleiben auch in Situationen des Wandels weitgehend erhalten, selbst wenn sie in Zeiten revolutionären Umbruchs erschüttert werden. Routinen erklärt Giddens im Rekurs auf Goffman mit dem Vorhandensein von Rahmen, d.h. Regelgefügen, die die spezifischen Interaktionen an sozialen Orten regulieren (ebd.: 141). Diese Bezugsrahmen gelten also zum einen ortsspezifisch und unter der Bedingung von Kopräsenz. Als solche wirken sie sozialintegrativ (ebd.: 116). Die Bezugsrahmen sind zum anderen räumlich-zeitlich überdauernd, da sie sich durch ihre im praktischen Bewusstsein erfolgende, routinehafte, repetitive Anwendung ins Soziale einschreiben und insofern Raum und Zeit überdauern. Als solche wirken sie aufgrund der Dualität von Struktur systemintegrativ (ebd.: 343; 81). Das Soziale ist bei Giddens ein Gefüge, das aufgrund von Paradoxien, Kontingenz und allein aufgrund des irreversiblen Verstreichens der Zeit permanent in Bewegung ist, dabei aber gewissermaßen auf dem Fundament von Handlungsroutinen einen sozial geordneten und verlässlichen Rahmen behält, der seinerseits reversibel ist – kurz: der Wandel ist geordnet. Strukturierung ist dabei der ‚Modus’, der darüber bestimmt, inwiefern und wie soziale Systeme sich wandeln oder wieder stabil werden. Strukturierung kann damit als Chiffre für diskret und kontinuierlich ablaufende soziale Ordnungsprozesse i.S. der Aufrechterhaltung oder Wiederherstellung von Stabilität im sozialen Wandel verstanden werden. „Paradoxe Effekte… sind kontingente Ergebnisse, die unter den Bedingungen strukturellen Widerspruchs hervorgebracht werden können“ (ebd.: 374). Die unter Einschaltung des diskursiven Bewusstseins hervorgebrachte Einsicht in das Wesen von Wider36
Hier besteht eine Analogie zu Bourdieus Ausführungen zu Kapitalarten und deren Transformierbarkeit (Bourdieu 1970).
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sprüchen kann zu Handeln führen, das auf die Überwindung eben dieser Widersprüche zielt. Widersprüche sind also als Quelle sozialer Dynamik anzusehen. Giddens setzt sie nicht in eins mit Konflikten (ebd.: 366), womit eine Parallele zu Millers Ausführungen über den Dissens als Dynamiken auslösendes Moment gegeben wäre (s. Abschnitt 3.2.1), sondern bezeichnet Widerstände vielmehr als strukturell unbeabsichtigte Handlungskonsequenzen. Diese werden in der ‚Struktur’ als Medium sozialen Handens sinnhaft kommuniziert. Dies erfolgt auf der Basis des diskursiven Bewusstseins und führt symbolische Ordnung herbei. Zwar hält Giddens „die Suche nach einer Theorie des sozialen Wandels … (für, IB) vergebens“ (ebd.: 42) und entzieht damit den etwa in der Systemtheorie verankerten Evolutionsmechanismen Variation-Selektion-Restabilisierung argumentativ explizit ihre sozialtheoretische Berechtigung. Seine Einwände beziehen sich neben der Kritik an der „Illusion moralischer Überlegenheit“ (ebd.: 295) auf die unilineare und homologe Verkürzung evolutionär orientierter Theoretiker sowie auf den Aspekt der Zeitkonfusion: Als unilineare Verkürzung bezeichnet Giddens die Tendenz zu nicht hinreichend fundierten, induktiven Schlüssen. Mit homologer Verkürzung bezeichnet er die Neigung, persönliche Entwicklungsphasen in den Stadien der sozialen Evolution wieder auffinden zu wollen (ebd.). Schließlich diskutiert er mit dem Aspekt der Zeitkonfusion ein Thema, das in ähnlicher Weise auch Luhmann beschäftigt hat (s.o.): Giddens kritisiert die evolutionstheoretischen Autoren zugeschriebene Annahme einer fließenden Zeit, deren alleiniges Dahinschwinden schon substantiellen Wandel anzeigen könne (ebd.: 298). Ebenso distanziert er sich von einem Geschichtsverständnis, nach dem sozialer Wandel bloß als Repetition sozialer Ereignisse statt als bewusste Einflussnahme von Akteuren erklärt wird. Stattdessen plädiert Giddens für die Differenzierung von Geschichte und Historizität (ebd.: 259): Während er Geschichte einmal als Beschreibung von Ereignissen und damit als gewissermaßen erinnerte Vergangenheit bezeichnet, bezeichnet er Geschichte in ihrer zweiten Bedeutungsvariante als Ereignisse in ihrer Dauer – Geschichtlichkeit (ebd.: 41f.). Damit ist gemeint, dass Ereignisse in Hinblick auf ihre Serialität zwar eine Richtung haben. Doch mit Blick auf Zeit und Raum überdauernden Institutionen, auf die rekursiv Bezug genommen wird, verliert sich diese eindeutige Wirkungsrichtung. Diese Historizität konzeptualisiert Giddens dreifach: einmal als longue dureé, verstanden als reversible institutionelle Zeit, die gleichzeitig Ergebnis und Bedingung sozialer Praktiken ist, einmal als dureé, verstanden als Alltagsleben, als im praktischen Rekurs auf Institutionen sinnhaft gestaltete Zeit und schließlich als irreversible, quasi biologische Zeit (ebd.: 89; 256). Zusammen mit seinem Entwurf bewusstseinsfähiger Akteure ist dieses Zeit-Raum-Konzept anschlussfähig an die Überlegungen zur Pfadbrechung bzw. -kreation.
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Lernen als Modus der Integration Versteht man Lernen als Aneignung von Wissen, das in der Anwendung von Schemata und in der Ausführung von sozial legitimierten Interaktionen zur sinnhaften Gestaltung einer spezifisch interpretierten Sozialwelt zum Ausdruck kommt, kann Reflexivität als fundamentaler Bestandteil von Lernen betrachtet werden. Reflexivität stellt einen Grundpfeiler der Giddens’schen Strukturationstheorie dar. Sein Konzept der Integration, zusammen mit seinem Entwurf bewusstseinsfähiger Akteure, übernimmt eine in dem oben nur äußerst grob skizzierten Verständnis von Lernen eine ähnliche Funktion ein wie die sinnhafte Umstrukturierung von Erwartungen (Strukturen) bei Luhmann bzw. das Inkorporationsgeschehen bei Bourdieu. Ohne „die Bedeutsamkeit unbewusster Quellen der Kognition und Motivation“ (ebd.: 94) zu diskreditieren, betont Giddens die Bedeutsamkeit von reflexiver, d.h. unter Beteiligung des diskursiven Bewusstseins stattfindender Steuerung. Gesteuert wird schon die Wahrnehmung der Sozialwelt: In der selektiven Aufmerksamkeit der Akteure kommt bereits eine „aktive Auseinandersetzung der Handelnden mit ihrer Umwelt zum Ausdruck“ (ebd.: 98). Giddens unterstellt den Akteuren also nicht nur die Fähigkeit zur reflexiven, selektiven Wahrnehmung, sondern auch zur reflexiven Steuerung ihres Handelns in sich verändernden Kontexten (ebd.: 55). Mit Verweis auf sein Stratifikationsmodell des Handelnden geht Giddens – wie Luhmann und Bourdieu – allerdings nicht von der Möglichkeit einer vollends intentionalen Steuerung aus: zum einen, da die Akteure selbst sich ihres Handelns nicht vollständig bewusst sind, und zum anderen, da sich ihnen das handlungsleitende praktische Bewusstsein anderer Ak37 teure ihrem eigenen diskursiven Bewusstsein entzieht. Insofern ist reflexive Steuerung bzw. Kontrolle allenfalls in „unmittelbaren Handlungs- und Interaktionskontexten“ (ebd.: 62) möglich, d.h. in Situationen der Kopräsenz, in denen von den Akteuren darauf gezielt wird, wechselseitig „die Bedingungen des Handelns anderer zu beeinflussen“ (ebd.: 337).38 Der gelungene Versuch, der Kontingenz dynamischen Wandels in den sozialen Begegnungen Einhalt zu gebieten, beruht auf der Macht, eine Differenz erzeugen zu können. Diesen rekursiven Bezug zwischenden Handlungsbedingungen und den diese Bedingungen beeinflussenden Akteuren bezeichnet Giddens auch als Sozialintegration (ebd.: 81). Diese kann nur unter der Bedingung der Kopräsenz unterschiedlich positionierter Akteure stattfinden. Eine Systemintegration dagegen erfolgt über größere Raum-Zeit-Spannen hinweg. Sie ergibt sich gerade nicht aus der Bedingung der Kopräsenz der Akteure, sondern basiert auf ihren in Zeit und Raum ausgreifenden, wissensbasierten Praktiken und Institutionen. In den Interaktionen 37 38
Bei Luhmann firmiert diese Figur als ‚doppelte Kontingenz’. Diese Annahme hat Ähnlichkeit mit dem Konzept der Kontextsteuerung nach Willke (s. Abschnitt 3.2.1).
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kopräsenter Akteure ist also immer schon Systemintegration angelegt, als sie in ihren Interaktionen selbst schon auf Regeln zurückgreifen, die Zeit und Raum überdauern (ebd.: 143). Der Giddens’sche Dualismus von Handlung und Struktur kann so auch als dynamisches Verhältnis von Differenzierung und Integration beschrieben werden: Differenzierung erfolgt über die aufgrund von Machtverhältnissen kontingente Anwendung interpretativer Schemata. Integration erfolgt vor dem Hintergrund reflexiver Handlungsplanung. Reziprok aufeinander verwiesen sind Differenzierung und Integration, als im Handeln immer schon auf bereits integrierte, durch Handlungen differenziert hervorgebrachte Schemata rekurriert wird. Selbst wenn Giddens selbst nicht explizit von der Möglichkeit des Lernens spricht, kommt in seinem Konzept deutlich eine kognitive Komponente des Wandels zum Ausdruck: Seine reflexiven, bewusstseinsfähigen und selektiv wahrnehmenden Akteure sind imstande und bestrebt, im Rahmen ihrer institutionellen Möglichkeiten aktiv und differenzierend in das Geschehen in Zeit und Raum einzugreifen und einen Unterschied herzustellen, der sich über seine Sozial- und Systemintegration in Zeit und Raum fortsetzt. Bedeutung der strukturationstheoretischen Überlegungen für die Beobachtung von Innovationen Die Ausführungen der Abschnitte 3.2.1 bis 3.2.3 können gelesen werden, als repräsentierten sie in zunehmendem Maße theoretische Möglichkeiten der intentionalen und reflexiven Beeinflussung von Wandel. In Giddens’ Strukturationstheorie ist Wandel ein sozialer Normalfall, dem das theoretische Hauptaugenmerk gilt. Dieser zunächst recht pauschale Hinweis allein hebt die Strukturationstheorie jedoch noch nicht von den zuvor diskutierten Sozialtheorien ab. Schließlich ist Wandel aufgrund des Evolutionsprinzips in Hinblick auf die zeitliche Dimension in der Systemheorie ein Normalfall. Ebenso ist die Kategorie des Wandels bei Bourdieu zentral. Aufgrund der Bedeutung, die das Habituskonzept in seiner Theorie einnimmt, wird die prinzipielle Wandlungsfähigkeit des Sozialen allerdings von habitueller Beharrlichkeit überlagert, wodurch die bourdieu’sche Sozialwelt weniger dynamisch erscheint. Ähnlich verhält es sich bei der Systemtheorie in Hinblick auf deren soziale Dimension: Kommuniziert wird, was sinnhaft anschlussfähig ist. In sachlicher Hinsicht verfestigen sich damit funktional differenzierte soziale Systeme, die durch sinnhafte kommunikative Operationen zusammengehalten werden. Wie diese Operationen genau ablaufen, bleibt jedoch eine black box (Saake 2004: 109). Diese black box wird auch von der Feld-, Praxis- und Habitustheorie Bourdieus nicht näher beleuchtet, denn hier steht mit dem Habitus eine strukturierte und strukturierende Struktur im Mittelpunkt, die den Akteuren, denen der Habitus quasi anhaftet, intentional unzugänglich bleibt. Giddens dagegen kombiniert Struktur und Hand-
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lung miteinander und dynamisiert diese Relation mittels des Konzepts der Dualität. Hinzu kommt, dass in der Strukturationstheorie Akteure als bewusstseinsfähig, reflexiv konzipiert werden. Solche Akteure sind in der Systemtheorie nach Luhmann nur als Umwelt vorgesehen und bei Bourdieu erscheinen sie als Träger von sozial vorgeprägten Habitus’. Mit der Einführung von reflexiven Akteuren entkräftet Giddens das systemtheoretische Evolutionsprinzip sowie die Steuerung der Praktiken individueller Akteure durch den Habitus: die Strukturationstheorie sieht durchaus die Möglichkeit eines intentionalen Eingriffs in den Lauf der Dinge vor. Innovationen, so lässt aus strukturationstheoretischer Perspektive festhalten, entstehen auf der Basis organisierten, d.h. strukturierten Handelns der Akteure. Aufgrund ihrer Reflexivität ‚unterbrechen’ sie den Lauf der Dinge, halten inne, nehmen Deutungen und Zuschreibungen vor, bewerten etwas und machen einen Unterschied, indem sie dieses für sie Bedeutungsvolle, Sinnhafte in ihrem Handeln aufgreifen (Ortmann/Sydow/Windeler 1997; Heideloff/Radel 1998; Holtgrewe 2000). Die theoretischen Prämissen der Strukturationstheorie haben vor diesem Hintergrund eine nicht unerhebliche Bedeutung für die Konzeption und Beobachtung von Innovationsprozessen. Ihre Bedeutung beruht im Wesentlichen auf den folgenden drei Aspekten: i) der Überwindung eines individualistischen Bias’, ii) dem theoretischen Fundament, das eine Überwindung linearer Konzeptionen von Innovationen anbietet sowie iii) der Differenziertheit, mit der die soziale Reichweite und Integration von Innovationen betrachtet werden kann. Im Einzelnen: i. Wenngleich Giddens mit seinen reflexiven Akteuren das Augenmerk auf individuelle Akteure richtet, schränkt er deren Wirkmächtigkeit insofern ein, als deren Handlungserfolge sich im Medium sozialer Interaktionen zu bewähren haben. Für die Beobachtung von Innovationen bedeutet dies, Akteure in ihren sozialen Relationen zu beobachten und dabei die Möglichkeiten zu berücksichtigen, die sie in diesen Kontexten aufgrund der Verfügbarkeit von manifesten oder symbolischen Ressourcen haben. Da es sich bei diesen Ressourcen um eine Wissensform handelt, können die auf ihnen basierenden Praktiken „als unterschiedlich erfolgreiche bzw. problemadäquate Mittel des Eingriffs … in die Welt thematisiert werden“ (Ivanyi 1999: 146). Die Praktiken sind dann als strukturell beeinflusste, wissens- und interessengeleitete Eingriffe in den Lauf der Dinge zu verstehen. Zwar führen individuelle Akteure Handlungen aus, sie werden aber durch die Praktiken anderer Akteure strukturell beeinflusst und in ihrer Wirkmächtigkeit beschränkt. Insofern ist das Handen sozialer Akteure immer relational und in diesem relationalen Kontext zu untersuchen: Im Sinne der Strukturationstheorie ist „Innovieren kein isolierbares Phänomen“ (Vordank 2005: 39), sondern der Innovationsprozess ist „einge-
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bettet in die Reproduktion sozialer Systeme“ (ebd.). Anders zu handeln, d.h. auch: zu innovieren, ist nach Giddens mit Macht verbunden, die Akteure nicht einfach ‚besitzen’, sondern die ihnen ebenso verliehen oder zugestanden werden muss. – Nicht der einzelne Akteur, sondern eine Akteurskonstellation, ein Netz von Akteuren ist dann die Beobachtungseinheit, die in einer strukturationstheoretischen Beobachtung der Bedingungen und Formen von Wandel in den Blick rückt. Die den Aktivitäten zugrunde liegende diskursive oder praktische Intentionalität kann im Rahmen einer Innovationsanalyse im Anschluss an empirische Ansätze der Wissenssoziologie rekonstruiert werden (s. Abschnitt 4.3, 5). ii. Mit der Strukturationstheorie ist es möglich, Innovationen in die andauernde Reproduktion des Sozialen einzubetten. Wenn Wandel aufgrund der dauerhaften Realität sozialer Dynamik stattfindet und wenn soziale Innovationen als kleinere soziale Einheiten von Reform und Wandel gelten, kann mit der Strukturationstheorie eine theoretisch begründete Prozessperspektive eingenommen werden. Als kognitive Vorwegnahme bzw. Entwürfe haben Innovationen einen Doppelcharakter, der im Modus linearer Innovationsvorstellungen nicht ausgewiesen werden kann. Die fragliche Integrationsleistung sozialer Systeme, die die Strukturationstheorie untersucht, besteht darin, wie soziale Systeme den Bezug zwischen Abwesendem und Gegenwärtigem herstellen und diesen in Zeit und Raum integrieren. Mit dieser Frage wird in der Strukturationstheorie ein zentrales Merkmal von Innovationen berührt: ihrem Mittlerzustand zwischen Vergangenheit und Zukunft, der Konstruktion eines ‚immer schon’ und einem ‚noch nicht’. Innovationen können der Strukturationstheorie zufolge zunächst als ‚andere’ Praktiken verstanden werden, die einen auf der Basis von Macht initiierten Unterschied zum Bisherigen darstellen und in den Lauf der Dinge eingreifen (Giddens 1997; Vordank 2005). Dabei ist es unerheblich, ob dieses andere Handeln bewusst, intentional oder unbewusst, nicht intentional stattfindet. Die Andersartigkeit des Handelns und damit dessen per se gegebene Innovativität ergibt sich schon aus dem Verstreichen der Zeit – Innovation als Herstellung einer Differenz zum Bisherigen ist damit etwas, was kontinuierlich stattfindet. Innovation ist angesichts reflexiver Akteure als konfigurierte Diskontinuität darstellbar (auch Luckmann 2002). Als Prozess ist sie gerade kein unwahrscheinlicher Sonderfall; als Ergebnis i.S. einer intentional angestrebten Integration einer Differenz dagegen schon. Denn Differenzen tauchen nicht arbiträr auf, sondern finden statt in institutionell regulierten, quasi routinehaften „Zonen tolerierter Differenz“ (Ortmann 2003a: 271). Diese Zonen können auch gelesen werden als Entlastungen, die strukturell Handlungsspielräume induzieren. Holtgrewe (2000) hebt angesichts dessen hervor, dass mit der Struktu-
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rationstheorie sich wechselseitig ermöglichende Steigerungsverhältnisse zwischen Routine und Innovation denkbar werden: Zum einen können Routinen Auslöser für Innovationen sein, zum anderen kann Innovation eine entlastende Routine ermöglichen. Innovation und Routine greifen über die Repetition als Voraussetzung für die Wahrnehmbarkeit dessen, was zu einer Innovation wird, über Wahrnehmung und Interpretation ineinander. Holtgrewe bedient sich hier der strukturationstheoretischen Grundfigur der Rekursivität. Hiermit wird in zeitlicher und sachlicher Hinsicht der Doppelcharakter von Innovation als Prozess und Produkt, als Erzeugen und Erzeugnis, deutlich: in sachlicher Hinsicht sind Innovationen dem Diktum der Linearität unterworfen, in zeitlicher Hinsicht sind Innovationen reversible und temporäre Phänomene. iii. Dieser oben geschilderte Doppelcharakter der Handlungs- und Strukturrelevanz von Innovation besteht auch in der Gleichzeitigkeit von Differenzierung und Integration, einem Begriffspaar, mit dem die Bedingungen der Konstruktion sozialer Wirklichkeiten beschrieben werden (Rehberg 1997; Bublitz 2006). Während Bourdieus relationale Felder mittels habituell regulierter Praktiken v.a. auf die Integrationsleistung von Praktiken zielen und Luhmanns kommunikative Operationen Sinn-Differenzen zwischen sozialen Systemen reproduzieren, denkt Giddens Differenzierung und Integration synchron. Diese Gleichzeitigkeit ergibt sich bei Giddens aufgrund des Aufforderungsgehalts, der einer Innovation theoriekonform als interaktiv prozessierte Differenz zugeschrieben werden kann: Die Wahrnehmung der Innovation macht aufgrund der je kontextabhängig verwendeten interpretativen Schemata einen Unterschied, der sich mittels Signifikation der Innovation strukturell niederschlägt. Akteure werden symbolisch aufgefordert, der Differenz einen Sinn zu verleihen, der, sobald er sozial in Praktiken integriert ist, das Potential auf Systemintegration hat. Sozial- und Systemintegration können selbst als zwei Varianten ein und desselben Prozesses – allerdings mit unterschiedlich weit in Zeit und Raum ausgreifender Bedeutung – aufgefasst werden: als regelbasierte Anwendung von Praktiken mit dem Ziel, Differenzen zu integrieren. Prozesse der Sozialintegration finden statt unter der Bedingung der Kopräsenz der Akteure. Mit Blick auf die Beobachtung von Innovationen heißt dies, Kommunikationen zwischen physisch, räumlich gleichzeitig anwesenden Akteuren daraufhin zu rekonstruieren, welchen Sinn sie einer wahrgenommenen Innovation beimessen und wie sie dies mit ihren Praktiken untermauern. Systemintegration dagegen findet in komplexeren sozialen Entitäten statt. Sie erfolgt zwischen gegenwärtig anwesenden und physisch und zeitlich abwesenden Akteuren. Systemintegration ist darauf angewiesen, dass in der Gegenwart zukünftig sinnvolle Praktiken vorweggenommen werden bzw. in der Gegenwart in der Vergangenheit institutionell legitimierte Praktiken angewendet werden. Bei
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Luhmann übernehmen Semantiken diese Funktion, Schütz löst dieses Problem im Zusammenhang mit Handlungsmotiven mit der Figur der ‚Vorerinnerung’, während bei Bourdieu der Habitus den Charakter der Vorangepasstheit trägt. Solche systemintegierten Praktiken – Institutionen – tragen ihrerseits das Potential in sich, zu zeitlich und räumlich distanziert aufgeführten Differenzierungspraktiken aufzufordern. Wandel kann strukturationstheoretisch als von Faktoren beeinflusst beschrieben werden, die „an einem Ort oder zu einem bestimmten Zeitpunkt oder für eine besondere Konstellation“ (Giddens 1997: 382) besonders wichtig sind – die aber „anderswo unter veränderten Bedingungen relativ unbedeutend werden“ (ebd.) können. Nach der Strukturierungstheorie ist ‚Wandel’ also als ein relatives und relationales Produkt von Zuschreibungen zu verstehen. Innovationen als kleinere Einheiten des Wandels entstehen in dieser theoretischen Lesart durch Vorgänge der orts- und zeitspezifischen Anerkennung von Regeln – und nicht als Anpassung an externe Vorgaben etwa i.S. eines erwartungs und sinnkonformen ‚talks’, wie er in systemtheoretischen und neoinstitutionalistischen Konzepten angenommen wird. Durch die Einbeziehung der Konstrukte von Raum und Zeit wird eine differentielle bzw. vergleichende Betrachtung von Relevanzzuschreibungen und sozialen Innovationsstilen i.S. von Integrations- oder Aneignungsformen möglich. Nichtsdestotrotz steht auch eine an der Strukturationstheorie orientierte Forschung vor dem Problem des ‚ursprungslosen Ursprungs’ (Ortmann): Es werden „Phänomene (erforscht, d.Verf.), die bereits sinnhaft konstituiert sind“ (Giddens 1997: 338). Giddens reflektiert dieses Problem als doppelte Hermeneutik, mit der dem Problem des epistemologischen Bruchs (Schütz 1974) begegnet werden soll: Weil Forscher etwas beobachten, was für die Akteure, die sie beobachten, bereits sinnhaft konstituiert ist, sind Forscher aufgefordert, die Bedeutungssysteme, an denen die Akteure ihr Handeln ausrichten, zu rekonstruieren. Beobachtete wie Beobachter greifen dabei auf je unterschiedlich kontextualisierte Kategorien zurück, die in der Sozialwie in der Wissenschaftswelt ihren je eigenen Sinn haben (ebd.: 338ff.). Aufgabe 39 der Forscher ist es, sich das anzueignen, was die Beobachteten schon wissen. Gemeint ist die Interpretationsleistung, die in der alltäglichen Nutzung oder Darbietung von Artefakten, sozialen Praktiken etc. immanent ist und die sich in der Rezeption durch Dritte erneut vollzieht. 39
Mit seinem Konzept der doppelten Hermeneutik greift Giddens eine Figur auf, die ähnlich auch bei Schütz (1974) als Konstruktionen erster und zweiter Ordnung, bei Weniger (1990) als Theorien 1., 2. oder 3. Grades, bei Bourdieu im Licht der Dimension Zeit - Zeit der Praktiker, Zeit der Analytiker (s. Abschnitt 3.2.2) oder bei Luhmann als Beobachtung 1. und 2. Ordnung verarbeitet ist (s. Abschnitt 3.2.1).
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3.3 Gegenstandsbezogene Zusammenfassung und Präzisierung von Forschungsfragen Wenngleich es nicht um einen Theorievergleich i.e.S. gehen soll, werden die in den Abschnitten 3.2.1 bis 3.2.3 dargestellten Sozialteorien nun in Hinblick auf die Innovationsthematik reflektiert. Die Aufgabe dieses Abschnitts ist es, Übereinstimmungen und Abweichungen, die die Theorien in Hinblick auf die Beschreibung und Erklärung von Innovation zeigen, herauszuarbeiten. Die hier diskutierten Sozialtheorien gelten teilweise als inkommensurabel; Theorienvergleiche, insbesondere der Systemtheorie und der Bourdieu’schen Sozialtheorie, bescheinigen ihnen allerdings durchaus eine gewisse grundsätzliche Nähe (Hillebrand 2006; Florian 2008). Der kleinste – und trivialste – gemeinsame Nenner kann darin gesehen werden, dass sie darauf abzielen, die Wandelbarkeit des Sozialen zu erklären. Nollmann (2004) geht so weit zu sagen, dass die Werke von Luhmann und Bourdieu „nicht als Alternativen zu sehen (sind, d. Verf.), zwischen denen man wählen muss“ (ebd.: 119). Statt dessen zielen die Theorien darauf, die Konditionen zu beschreiben, unter denen sich gegenwärtige Ordnungen konstituieren und aufgrund derer zukünftige Gegenwarten eingelöst werden. Beide, Luhmann und Bourdieu, sind sich – wenn auch mit unterschiedlichem Vokabular – grundsätzlich darin einig, dass es „eine Frage der Praxis“ (Saake 2004: 112) ist, wie die die in einer Gegenwart herrschenden Kontingenzen bewältigt werden: Sie treffen sich hier mit Giddens, der prinzipiell von einer Dynamik des Sozialen ausgeht. In dieser Hinsicht wird hier von einer grundsätzlich gemeinsamen Fragestellung der Theoriefamilien ausgegangen, die unterschiedlich beantwortet wird und einige im Folgenden zu reflektierende Anschlüsse für die Analyse von Innovationsprozessen anbietet. Die Reflexion orientiert sich an den differenten Antworten der Theorien in Hinblick auf die gemeinsame Fragestellung. Es sind dies der Aspekt 1) der sachlichen Dimension bzgl. dem, was als Innovation gelten kann, 2) der räumlichen Dimension bzgl. der ‚Orte’, an denen sich Innovationen abspielen, 3) der sozialen Dimension bzgl. der Träger von Innovationen, 4) der zeitlichen Dimension bzgl. der implizit zum Ausdruck kommenden Vorstellungen des Innovationsprozesses und 5) der kognitiven Dimension bzgl. der Prozesse der aktiven Beund Verarbeitung einer Innovation. 3.3.1 Sachliche Dimension: Was gilt als Innovation? Nach der Luhmann’schen Fassung der Systemtheorie, wie in Abschnitt 3.2.1 ausgeführt, gelten Innovationen als ein ‚ontologisches Unding’ (Aderhold/John 2006). Sie sind zum einen unwahrscheinlich aufgrund des Problems der doppelten Kontingenz. Zum anderen werden sie von Luhmann mit Reformen gleichgesetzt, die er als geplante und als solche zum Scheitern verurteilte Eingriffe in das übergeordne-
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te Prinzip der Evolution versteht. Innovation ist so bei Luhmann kein theoriefähiger Gegenstand. Grundsätzlich aber ist aus der Systemtheorie der analytische Hinweis zu gewinnen, dass Differenzierungen kommunikativ prozessiert werden. Kommunikative Operationen basieren ihrerseits auf in Semantiken gespeichertem Wissen. Innovationen sind damit kontingente Phänomene, d.h. es ist nicht planbar, welche sinnhaften Anschlüsse soziale Systeme mittels einer zukünftigen Operation herstellen werden – in dieser allgemeinen Aussage wird die systemtheoretische Perspektive geteilt. Da hier jedoch Innovationen als rekursive Wissenspassagen beschrieben werden (s. Abschnitt 2.5), rücken gegenüber den von Luhmann betonten Aspekten der Unmöglichkeit von Planung und Einflussnahme solche Fragen in den Mittelpunkt, mit denen statt von der (theoretischen) Ausgrenzung von der sozialen Machbarkeit von Innovationen ausgegangen wird: Wodurch sind Innovationen möglich? Diese Perspektive beleuchten die systemtheoretischen Re-Interpretationen von Miller und Willke. Willke (2001b) entkräftet das alles überdeckende Evolutionsprinzip, indem er die Möglichkeit der Kontextsteuerung annimmt, die auf Wissen als Steuerungsmedium zurückgreift. Per Kontextsteuerung kann symbolisch auf die Bedingungen der endogenen Prozessierung von Wissen und Sinn eingewirkt werden, etwa über Druck oder Zwang (s. auch Abschnitt 3.1.2). Übertragen auf Innovationen als Wissenspassagen bedeutet dieser Gedanke, dass es eine Instanz gibt, die Gelegenheiten bereitstell und eine sachliche Komplexitätsreduktion zu einem anschlussfähigen Problem erfolgt, in deren Zuge ‚Aufgaben’, möglicherweise auch zu erfüllende Funktionen, erkennbar werden. Hier setzt Miller an und benennt den Diskurs als Mechanismus, der diese Beeinflussung zu erreichen vermag. Allerdings geht Milller in objektiv-hermeneutischer Denktradition und in Anlehnung an die diskursethischen Darlegungen von Habermas davon aus, dass diese Diskurse insofern rational sind, als sie schließlich mit der Anerkennung des besten Arguments ein konsensual geteiltes Ergebnis hervorbringen. Mit Bewusstsein ausgestattete Akteure kommen bei ihm auch nicht vor. So bleiben auch etwaige Asymmetrien zwischen den am Diskurs beteiligten Akteuren im Dunkeln. Asymmetrien, z.B. aufgrund des ungleichen Zugangs zu Ressourcen, die sich in Praktiken objektivieren, sind Gegenstand kulturwissenschaftlich orientierter, praxeologischer Sozialtheorien. Wie stellt sich Innovation in deren Licht dar? Wenngleich Bourdieu nicht explizit von ‚Innovation’ spricht, so illustriert doch das Konzept der Interiorisierung des Exterioren, dass Impulse aus der Sozialwelt habituell integriert und über habituelle Praktiken auch wieder entäußert werden können. Luhmann sieht diese Funktion grundsätzlich auch vor, knüpft sie aber an kommunikative Operationen, in deren Zuge sich herausstellt, ob eine Irritation an den in einem sozialen System herrschenden Sinn anschlussfähig ist oder
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nicht. Anders als Luhmann geht Bourdieu hier nicht von einer quasi anonym vollzogenen, binär codierten und kommunikativ prozessierten Entscheidung über die Anschlussfähigkeit aus, über die sich die Grenzen eines Systems reproduzieren. Er verbindet stattdessen die Möglichkeit der habituell beeinflussten Integration von Impulsen der Sozialwelt mit der grundsätzlichen Fähigkeit von Akteuren, diese zu reflektieren, zu verstehen und symbolisch ihr Handeln darauf zu beziehen. Nicht nur existieren Akteure in dieser Theorie an prominenter Stelle, sie können ihr Handeln auch auf Ziele richten, z.B. die Allokation von Kapital, das sie in die Lage versetzt, von einer anderen Feldposition aus Einfluss zu nehmen auf den Lauf der Dinge. Die Realisierung dieser Ziele allerdings ist selbst gebunden an die habituell verfügbaren Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsoptionen des respektiven sozialen Feldes. Im Sinne der Bourdieu’schen Theorie können als Innovationen dann habituell regulierte Prozesse gelten, in denen Impulse aus der wahrgenommenen Sozialwelt verarbeitet werden, ohne dass diese – aufgrund der Möglichkeiten des Wahrnehmens, Denkens und Handelns, die der Habitus als praktischer Sinn bereit hält – vollständig rational oder intentional verlaufen müsste. Als durch Praktiken angetriebene Wissenspassagen lassen sich Innovationen, wie sie in Abschnitt 2.5 dargestellt wurden, in theoretischer Hinsicht mit den Konzepten der Strukturationstheorie am ehesten fundieren. Zwar spricht Giddens nicht direkt von Innovation, aber in seiner Strukturationstheorie ist das Moment des Innovierens zentral. Die Tätigkeit des Innovierens fällt aufgrund der zentralen Annahme der Strukturationstheorie, der Dualität von Struktur, mit ihrem Ergebnis zusammen. Innovationen machen einen Unterschied im Wahrnehmen, Denken und Handeln, aber auch in Bezug auf die Strukturen, auf die sich das Denken und Handeln bezieht. Bei Bourdieu vermittelt der Habitus zwischen dem Akteur und dem Sozialen, bei Giddens werden die Funktionen der Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsorientierung vermittelt über die Strukturationsmodalitäten Deutungsschemata, Normen und Ressourcen. Während der Habitus bei Bourdieu relativ träge ist (Krais/Gebauer 2002), treten die Modalitäten der Vermittlung zwischen Akteur und System als Objekte von Beobachtung, Beeinflussung, Verhandlung hervor: Sie beruhen selbst auf früheren Entscheidungen, Handlungen und Wissen. Die Modalitäten sind also keine ontologischen Faktizitäten, sondern ihrerseits Gegenstand von Bedeutungszuschreibung. Innovationen sind insofern soziale Konstrukte und als solche auf der Ebene der Modalitäten angesiedelt (Vordank 2005: 46). Das Reziprozitätstheorem verdeutlicht, dass Innovationen als kleinere Einheiten von sozialem Wandel darstellbar sind, insofern sich Innovationen in der longue durée der institutionellen Zeit zu beobachtbarem Wandel ‚aufschichten’. Bewusstseinsfähige Akteure sind in der Lage, Dinge (Innovationen) wahrzunehmen, sie zu
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entbetten, zu interpretieren, ihren normativen Gehalt zu erkennen, Ressourcen für deren Prozessierung zu aktivieren und in ihren Interaktionen wieder sozial einzubetten (Rammert 1997). Die Regelhaftigkeit und Ordnung, in der sich Wandel vollzieht, entsteht sowohl aus repetitiven, ggf. routinehaften und nur praktisch bewusst beeinflussten Praktiken von Akteuren als auch deren reflexiv gesteuerten, d.h. auf ein Ziel hin ausgerichteten Handlungen, in denen allokative oder autoritative Ressourcen eingesetzt werden, um ein Ergebnis zu erzielen. Aber auch durch Regelverletzungen wird nur eine Unordnung in tolerierten Maßen geschaffen. So entwickelt sich Unruhe stets zur Ordnung hin und aus Ordnung heraus. Unordnung und Ordnung sind insofern aufeinander angewiesen, Unordnung ist ein unerlässliches Pendant von Ordnung. Innovation ist vor diesem strukturationstheoretischen Hintergrund als ein rekursiv organisierter Prozess zwischen Handlung und Struktur, Akteur und System darstellbar – Innovation spielt sich in einem sozialen und zeitlichen ‚Zwischenraum’ ab. Wie deutlich wurde, handelt es sich bei der sachlichen Dimension von Innovation um eine grundlegende Kategorie. Angesichts der in den vorigen Abschnitten reflektierten heterogenen theoretischen Kontextualisierungen von Wandel, muss eine normative Entscheidung über die Begriffe und Konzepte getroffen werden, mit denen Innovation dargestellt werden soll. Dies erfolgt hier im Rekurs auf die Angebote, die die praxeologischen Sozialtheorien bereit halten. Mit diesen ist es möglich, systematisch sozialintegrative und gleichsam Bedingungen der systemintegrativen Praktiken im Zusammenhang mit Innovation zu reflektieren. In methodischer Hinsicht wirft die theoretisch dargelegte sachliche Dimension von Innovation die Frage auf, was Akteure als Innovation wahrnehmen und interpretieren und wie sie ihr Handeln darauf beziehen: Was wird als Innovation prozessiert? Wie konstituieren Akteure durch ihr Wissen und ihre Wahrnehmung eine Innovation; was gilt ihnen als relevant und vor welchem Hintergrund? 3.3.2 Räumliche Dimension: Wo findet Innovation statt? In Kapitel 1 wurde für die Makroebene vor dem Hintergrund der Entstehung neuer Akteurskonstellationen zur Bewältigung gesellschaftlicher Aufgaben eine Entgrenzungsthese skizziert. Während die systemtheoretisch gedachten klaren Grenzen von sozialen Systemen eine formale Ordnung repräsentieren und zugleich den symbolisch umgrenzten ‚Ort’ markieren, in dem Wandel sich vollzieht, muss räumlich geltende Ordnung angesichts der Entgrenzungsthese mit anderen begrifflichen und theoretischen Mitteln erklärt werden. Wo, d.h. in welchen sozialen ‚Räumen’ findet Innovation statt; wie werden diese Räume konstituiert und wie lassen sich diese Konstitutionen theoretisch beschreiben? Zur Klärung dieser Frage kann auf die praxeologischen Konzepte der Regeln und Praktiken rekurriert werden.
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Gemeinsam ist den in den Abschnitten 3.2.1 bis 3.2.3 diskutierten Theorien grundsätzlich die Bedeutung der Kategorie des Raums. Während Luhmann den ‚Raum’ des Sozialen als Ensemble operativ voneinander abgegrenzter, aber strukturell, d.h. in Bezug auf die gegenseitigen Erwartungen an die Anschlussfähigkeit kommunikativer Operationen gekoppelter sozialer Systeme versteht, entwerfen Bourdieu und Giddens relationale Räume, in denen Akteure ‚spielerisch’, im Rekurs auf Regeln und Ressourcen und mit spezifischen Praktiken kämpfen – um Deutungshoheit, Positionen, Zugang zu Ressourcen, Teilhabe an sozialen Praktiken, d.h. prinzipiell: um die Regulierung der Durchlässigkeit des sozialen Raums. Auf dieser Basis bedeutet Entgrenzung, dass sie nicht vollkommen regellos verläuft; Regeln existieren in Hinblick auf die Prozesse der symbolischen Ordnung: die Akteure sind mit ungleichen Ressourcen ausgestattet, die sie angesichts ihrer sozialen Positionen ungleich ‚wirkungsvoll’ einsetzen; d.h. es kann angenommen werden, dass ihre Handlungen unterschiedliche soziale Reichweiten entfalten können, je nachdem welches Wissen über geltende Regeln oder bzgl. des Einsatzes von Praktiken und Ressourcen eingesetzt werden kann. Abgesehen davon geht mit der sozialen Entgrenzung grundsätzlich die Konstitution ‚neuer’, ebenfalls funktionaler Akteurskonstellationen einher; zu erwarten sind Praktiken und Regeln der Inklusion und Exklusion. Deren theoretische Beschreibung scheint allerdings weniger mit dem analytischen Instrumentarium der Systemtheorie als mit dem der Sozialtheorien von Bourdieu und Giddens machbar. Der wesentliche Unterschied zwischen diesen und der Systemtheorie besteht in den jeweiligen Antworten auf die Frage nach den Grenzen eines sozialen Systems. Bourdieu und Giddens konstituieren ihre Sozialtheorien explizit auf einem Konzept wissensbasierter sozialer Praktiken und unter Verzicht auf enge Grenzziehungen zwischen einem Innen und einem Außen, wie sie in der konstruktivistischen Systemtheorie leitend ist. Luhmann dagegen setzt seinen Systemen enge Sinngrenzen, außerhalb derer sie nicht funktional operieren können (Reckwitz 1997a: 318). In Bezug auf Innovationen als Wissenspassagen scheint der übergeordnete Feldbegriff ein theoretisch probates Konzept zu sein. Grundsätzlich erlaubt es der Feldbegriff, die in einem Feld handelnden individuellen und kollektiven Akteure zu betrachten, die Themen mittels interpretativer Operationen einen Sinn verleihen, also Wissen generieren und dabei auf Vorwissen, Semantiken, Deutungsmuster rekurrieren. Das in Abschnitt 2.5 skizzierte Verständnis von Innovationen als Wissenspassagen hat auf diesen Sachverhalt der Variabilität der Relevanz des Themas, der Fluidität seiner Bearbeitung aufmerksam gemacht und dabei auf exakte räumliche oder soziale Grenzen verzichtet. Damit kann eine Nähe zu den in den Abschnitten 3.2.2 und 3.2.3 reflektierten Sozialtheorien und den dort entfalteten Vorstellungen von Feldern und deren auf Innovationen wirkenden Faktoren festgestellt werden.
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Während sich Funktionssysteme relativ stabil reproduzieren und durch die für die Bearbeitung einer sachlichen Funktion sinnhaften binären Codes voneinander abgrenzen, sind die ‚Grenzen’ von Feldern vage (Hillebrandt 1999: 22). Felder im Bourdieu’schen Sinne haben keine feststehenden Grenzen, sondern sie sind aufgrund des ungleichen Kampfes um Zugangsrechte, Mitgliedschaft etc. von einer Fluidität gekennzeichnet. Unausgesprochen sind sich die Akteure einig darin, dass das, worüber sie miteinander in Verhandlung treten, einen Wert hat, um den es sich zu kämpfen lohnt (Rieger-Ladich 2006: 160). Die perspektivische Möglichkeit, in einem Feld vorhandene Ressourcen zu nutzen, um in zeitlicher und sozialer Hinsicht einen Unterschied zu erzeugen, etwas in Gang zu setzen, tritt auch in Giddens’ Strukturationstheorie im Konzept der Strukturmodalitäten auf. Mit Giddens kann die räumliche Dimension von Innovation zudem als etwas betrachtet werden, was durch die Interaktionen der Akteure konstituiert wird. Diese Interaktionen beruhen aber nur teilweise auf dem praktischen Bewusstsein der Akteure (Giddens), sie sind teilweise habituell reguliert (Bourdieu). In erkenntnistheoretischer Hinsicht beschreibt Gurwitsch (1975) Felder als Bewusstseinsfelder, die sich aufgrund der Bearbeitung eines Themas konstituieren, dadurch verschiedene thematische Felder ausbilden, die die „Gesamtheit jener mit dem Thema kopräsenten Gegebenheiten, die als für das Thema sachlich relevant erfahren werden“ (ebd.: 47), darstellen und über Ränder verfügen. Diese Ränder dienen der Beschreibung von thematischen Zentren und Peripherien. Gurwitsch macht mit diesem Konzept darauf aufmerksam, dass Themen innerhalb des sozialen Raums flottieren, dort aber je nach „Perspektive, Orientierung, Beleuchtung“ (ebd.: 289; Meyer-Drawe 1999), mit der das Thema bearbeitet wird, eine stärkere oder schwächere Relevanz besitzen, ohne aber vollständig zu verschwinden. Dieses Konzept verweist grundsätzlich auf die unterschiedliche Bedeutung, die ein Thema in einem Feld einnehmen kann und die sich in der Art seiner Wahrnehmung und Bearbeitung zeigt. Die Vorstellung, dass sich das Soziale in Form von Zentren und Peripherien repräsentiert, ist ihrerseits kongruent mit der Darstellung von Innovation als Bewegungsbegriff bzw. von Innovationen als Wissenspassagen: Ausgehend von einem Zentrum passiert eine Innovation bestehendes Wissen, die von der situativen und kontextabhängigen Auslegung von Regeln beeinflusst wird. Die räumliche Dimension von Innovation kann vor diesem Hintergrund als gleichsam durch Regeln, Ressourcen und Praktiken, die die Zugehörigkeit zu einem relevanten Raum bestimmen und als diskretes Merkmal von Innovation beschrieben werden. Diese Überlegungen verdeutlichen insgesamt, dass die in einem sozial konstituierten Kräfte‚raum’ erfolgende Wahrnehmung eines Themas, die mit einem Thema verbunden Interessen sowie die Bearbeitung eines Themas verwoben ist mit einer
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sozialen und einer kognitiven Dimension, wie sie in der Konzeption von Innovation als Wissenspassage bereits kurz verdeutlicht wurde (s. Abschnitt 2.5). Anders als im systemtheoretisch geschulten Denken in Kategorien von Innen und Außen argumentieren Bourdieu und Giddens gleichermaßen gegen eine den Subjekten äußerlich bleibende Sozialität und eine dem Sozialen äußerlich bleibendes Individuum (Reckwitz 1997a). Zwar muss eine soziale Außenwelt und eine subjektive Innenwelt unterschieden werden, da sonst das Subjekt seine theoretische Substanz verlöre. Beide Welten tragen aber durch ihre rekursive Abhängigkeit voneinander das jeweils andere schon in sich: Bei Bourdieu vermittelt durch den Habitus, bei Giddens vermittelt durch wissensbasierte, sozial geteilte, inkorporierte Regeln (ebd.: 329), deren Anwendung sie erst konstitutiert und gleichzeitig Regelbrüche impliziert (s.o.). Damit bringen beide Konzepte, Habitus wie Regeln, die Wissensgeleitetheit und relative Stabilität sozialer Praktiken zum Ausdruck (ebd.: 321). Das Soziale steht insofern dem Subjekt nicht gegenüber, sondern gilt als gleichermaßen praxisdisponierende und -restringierende Struktur. Werden Innovationen im Rekurs auf die hier reflektierten Sachverhalte als durch Merkmale des spezifischen Raums (Regeln, Ressourcen, Interessen, Relevanzen, Wissen, Bewusstsein etc.) beeinflusste Prozesse und Resultate der Wissensordnung aufgefasst, muss eine Innovationsanalyse auch auf die Konstitution und Verfasstheit des Raums eingehen, in dem etwas als relevant wahrgenommen, praktisch sowie diskursiv ver- und bearbeitet wird. Welche thematischen Felder mit welchen in ihnen geltenden Regelmäßigkeiten der Relevanzzuschreibung lassen sich auffinden, welche Praktiken lassen sich identifizieren? Welche Beziehungen zu Akteuren und Praktiken anderer thematischer Felder bestehen? Welche soziale Reichweite entfalten die Handlungen der Akteure eines thematischen Feldes? 3.3.3 Soziale Dimension: Wer oder was trägt Innovation? Die in den Abschnitten 3.2.1 bis 3.2.3 diskutierten Theorien unterscheiden sich hinsichtlich der Träger dieser Prozesse gravierend. An die Stelle von funktional differenzierten Systemen treten bei Bourdieu der Feld- und Kapitalbegriff, bei Giddens die Dualität von Struktur durch Regeln und Ressourcen, wodurch das Handlungs-/Struktur- bzw. Mikro-Makro-Problem, das in der soziologischen Systemtheorie durch die Exklusion des psychischen Systems nicht virulent ist, tendenziell gelöst und dynamisiert wird (Heidenreich 1998: 247). Diese sozialtheoretischen Ansätze betonen Aspekte der Macht, Fragen der Positionierung und Praxisformen der legitimierten Einflussnahme auf Veränderungen in Systemen als (re)produzierende Handlungen. Die dynamische Komponente, d.h. das Kräftespiel und die Möglichkeiten, die durch Handlungen entstanden sind, werden überindividuell wirksam, durch Regeln hervorgebracht und stabilisiert und fokussiert das transformierende Geschehen in Systemen, in denen sich Innovationen abspielen.
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Die Systemtheorie in der Luhmann-Variante sieht keine Akteure, sondern nur soziale Systeme vor, Handlungen ‚lösen’ sich in Funktionen folgenden Strukturen auf. Die Theorien Bourdieus und Giddens’ setzen dagegen auf sozial ‚durchdrungene’ und sozialkonstituierende Akteure. Diese sind prinzipiell mit der Fähigkeit ausgestattet, ihre Handlungen reflexiv zu steuern. Während bei Bourdieu die Intentionalität der Akteure durch den das Exteriore interiorisierenden Habitus ‚abgepuffert’ wird, stattet Giddens seine Akteure nicht nur mit einem praktischen Sinn aus, sondern setzt in stärkerem Maße auf ihr diskursives, reflexives Bewusstsein, über das sie außerdem verfügen. Eher als die Bourdieu’schen Subjekte sind die Giddens’schen Akteure in der Lage, ‚mindful deviations’ (Garud/Karnoe 2001) vorzunehmen, d.h. routinierte Pfade zu erkennen und zu verlassen. Innovationen ‚passieren’ oder emergieren dann nicht in einem systemtheoretisch-evolutionären Sinne, und Akteure werden von ihnen nicht ‚betroffen’ oder ‚erleiden’ sie, sondern es sind die Akteure, die eine Innovation durch ihre Wahrnehmungs- und Interpretationsleistungen hervorbringen und auf diese in ihren Praktiken und Interaktionen Bezug nehmen. Bei Bourdieu sind die Akteure mit ihrer sozialen Position verhaftet, den sie aufgrund des praktischen Sinns des Habitus tendenziell reproduzieren. Bei Luhmann handeln nicht Akteure, sondern es kommunizieren Systeme; als psychische Systeme kommen Akteure nur als Umwelt sozialer Systeme vor und sind für deren Reproduktion nicht maßgeblich. Abgesehen davon, dass Innovationen systemtheoretisch nicht gedeckt sind, bietet die Systemtheorie zur Frage nach der sozialen Dimension mit den Konzepten der Semantik und der kommunikativen Operationen nur Einsichten bzgl. systemintegrativer Vorgänge. M.a.W.: Während mit den Theorien Giddens’ und Bourdieus Modi der sozialen Integration dargestellt werden, konzentriert sich die Systemtheorie auf die Modalitäten der Systemintegration. Die Modalitäten der Sozialintegration können im Gegensatz zur Luhmann-Fassung der Systemtheorie bei den praxeologischen Theorien – systemtheoretisch gesprochen – auch bezogen werden auf ‚grenz’-, d.h. funktionssystemübergreifend sinnhafte konstituierte Akteurskonstellationen. Die Beobachtung von Innovationen, die sich in solchen Konstellationen abspielen, muss sich somit nicht in den Grenzen einzelner, mit anderen nicht kompatiblen Funktionssystemlogiken oder -semantiken bewegen. Hinsichtlich der oben skizzierten Vorstellung von Innovationen als Wissenspassagen bedeutet dies, dass Innovationen von sozialen Akteuren getragen werden. Durch ihre repetitiven Praktiken im Modus der Kopräsenz (Sozialintegration durch Praktiken) sind sie in der Lage, eine Innovation über Raum und Zeit auszudehnen (Systemintegration durch Institutionalisierung). Das wiederum bedeutet, dass Innovationen als Wissensform medial transportiert werden. In Bezug auf das, was in bzw. mit diesem Medium transportiert wird, sind sich die reflektierten Theorien weitgehend einig: es ist die Kategorie des Sinns bzw. der Semantik, die dies leistet.
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In Bezug auf das Medium und die Prozesse, in denen Sinn und Semantik zum Tragen kommen, unterscheiden sie sich jedoch: Luhmann geht von kommunikativen Operationen sozialer Systeme aus, Bourdieu vertraut auf den praktischen Sinn des Habitus’ und Giddens geht davon aus, dass reflexive Akteure ihr Handeln diskursiv darzulegen vermögen. Diese Konzepte verweisen auf eine unterschiedliche soziale Verortung kommunikativer und nicht-kommunikativer Praktiken. Grundsätzlich wird hier, zusammen mit den Ausführungen in Abschnitt 3.3.2, deutlich, dass es bei einer Innovationsanalyse weniger darum geht, klare Grenzen zu identifizieren, hinter denen eine Innovation nicht mehr als Innovation gilt, sondern darum, Zentren und Peripherien der Innovation zu identifizieren: Von wo nach wo wird das einer Innovation anhaftende Wissen prozessiert; durch welche Akteure; wer trägt das der Innovation anhaftende Wissen? Welche Akteure werden in deren Be- und Verarbeitung ein-, welche ausgeschlossen, und auf welche Weise geschieht dies? Welcher Mittel bedienen sich Akteure, um eine Innovation in Raum und Zeit auszudehnen? Bezüglich der Beobachtung von Innovation weisen die referierten Sozialtheorien grundsätzlich allesamt auf den für das Verstehen sozialer Phänomene relevanten sozialen Unterschied zwischen Beobachtetem und Beobachtern hin. Luhmann fasst diesen Unterschied in Hinblick auf das kontrollierte Verstehen als Beobachtung zweiter Ordnung. Diese ist begleitet von der Selektivität hinsichtlich dessen, was überhaupt beobachtet werden kann. Dieser blinde Fleck besteht zwangsläufig aufgrund der operationalen Geschlossenheit sinnhaft konstituierter Systeme, die einander nicht ‚durchschauen’ können. Erneut abgesehen davon, dass Innovationen in der Systemtheorie aus den genannten Gründen keinen Platz finden, stellt dieses Theorem grundsätzlich in Frage, dass Phänomene außerhalb eines respektiven sozialen Systems überhaupt beobachtet werden können: Nach Luhmann sind nur soziale Systeme in der Lage, sich zu beobachten. Diese Differenz zwischen Beobachteten und Beobachtern rahmt Bourdieu zweifach: als sozialen Unterschied, der auf einem zeitlichen Unterschied beruht. Praktiker sind demnach eingelassen in einem andauernden Handlungsstrom und permanent dazu gezwungen, sich zu ihrer Sozialwelt zu verhalten. Analytiker erleben diesen permanenten Handlungsdruck zwar ebenfalls, aber bezogen auf die Beobachtung zweiter Ordnung (der Beobachtung von Praktikern) verfügen sie über die Möglichkeit, zu ‚totalisieren’, d.h. die Gründe, Verläufe und Konsequenzen deren Handelns auf einen Blick zu erfassen. Für das Verstehen des praktischen Sinns hält Bourdieu es daher für erforderlich, sich in größtmögliche Nähe des Feldes zu begeben. Giddens weist mit seinem Konzept der doppelten Hermeneutik darauf hin, dass Beobachter immer nur bereits sinnhaft vorstrukturierte Daten und Informationen vorfinden. Ihre Aufgabe ist es daher, sich das Wissen um die Interpretation
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von Regeln, Ressourcen, Praktiken, die in einem beobachteten ‚Raum’ gelten, verfügbar sind bzw. vorgeführt werden, anzueignen: Welchen Akteuren, Informationen und Sachverhalten wird Relevanz beigemessen, und wieso? Welchen Wissens, welcher Praktiken, welcher Ressourcen bedienen sich Akteure, um Bedeutung zu erzeugen, woran ist das erkennbar? Wie, durch was oder wen werden sie darin ggf. beeinflusst? 3.3.4 Zeitliche Dimension: Wie verläuft Innovation? Die Dimension ‚Zeit’ ist selbst eine konstruierte Unterscheidung in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft: Aus der fließenden Zeit des ununterbrochenen Handlungsstroms wird durch die Ablagerung von Wissen in Routinen, Normen, Artefakten eine Vergangenheit, der eine ungewisse Zukunft gegenübersteht. Traditionell wird der Zeitbegriff wird mit dieser Vorstellung in eine ‚flüchtige Gegenwart’ und eine unbewegte, ‚dauernde Ewigkeit’ zerschnitten (Luhmann 1998: 1009f.). Diese Dualitätsvorstellung setzt allerdings voraus, dass es einen Speicher gäbe, in dem Vergangenheit starr abgelegt würde und die zu jedem Zeitpunkt unverändert abrufbar wäre – und ignoriert dabei, dass auch Vergangenheit wegen der sinnkonstituierenden Funktion des sozialen Gedächtnisses etwas Bewegliches ist, in dem Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gleichsam in den Operationen kulminieren (Baecker 2001: 176). Wegen der im sozialen Gedächtnis verfügbaren Semantiken (Luhmann), der zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft vermittelnden Habitus (Bourdieu) oder Strukturdimensionen, Regeln und Ressourcen (Giddens) kann Zeit daher eher als Daueraktualität, als andauernde Gegenwart betrachtet werden. Eine solche zirkuläre Perspektive geht einher mit einer andauernden Prozessierung von Problemen, deren Lösungen neue Probleme erzeugen – Intentionen werden von ihren Wirkungen durchkreuzt, Ergebnisse sind kontingent; und weil dies gewusst wird, sind in der Gegenwart immer schon „Zeitsplitter der Zukunft“ (Wimmer 2002: 66) vorzufinden. Dies kann ohne weiteres übertragen werden auf Innovationen: Die Wahrnehmung und sinnhafte Prozessierung von Innovationen führt zu deren Differenzierung, die für andere, zeitversetzt an anderen Orten zu einer Aufgabe der Be- und Verarbeitung wird, die im Rekurs auf sedimentiertes Wissen und im Wissen über Kontingenz bewältigt wird. Insofern ist diese Perspektive verzahnt mit einer kognitiven Dimension, in der die prinzipielle Unbestimmtheit allen Wissens und Unentscheidbarkeit allen Handelns betont wird. Ich komme weiter unten darauf zurück. Die Ausführungen der Abschnitte 3.2.1 bis 3.2.3 verdeutlichten, dass letztlich die theoretische und analytische Perspektive bzw. der soziale Standpunkt entscheidet, wohin das Verhältnis von Stabilität bzw. Kontinuität und Wandel ‚kippt’: In der longue durée der erinnerten Geschichte steht die Zeit – anders als in der reversiblen duree, dem ununterbrochenen Handlungsstrom des Alltags der Praktiker – nicht
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still und ist auch nicht flüchtig. Wandel ist insofern ein diskretes, aber kontinuierliches Merkmal der Praxis. Der Analytiker allerdings hat die Macht, souverän und ohne den permanenten Handlungsdruck des Praktikers zu totalisieren, d.h. die Welt auf einen Blick zu erfassen – und damit ihre Stabilität zu konstruieren. Diskontinuitäten lassen sich somit zum ‚Preis’ einer großen Distanz zum Beobachteten erschließen und als revolutionäre Umbrüche i.S. der Unterbrechung von Kontinuität stilisieren, während im alltäglichen Handlungsstrom kontinuierlich Diskontinuitäten erfahren werden. Die Erfahrung dieser Anforderung schichtet sich sukzessive zu einer Kontinuität auf (ähnlich Luckmann 2002), sie verdichtet sich zu Wissen, das sedimentiert (Berger/ Luckmann 1995) und in den individuellen oder kulturellen impliziten Wissensbestand eingeht. Angesichts des in Abschnitt 3.1 skizzierten dynamischen Verhältnisses zwischen Kontinuität bzw. Stabilität und Diskontinuität sowie der in Abschnitt 2.5 dargelegten Vorstellung von Innovationen als Wissenspassagen werden bei der Beobachtung die Prozesse zum zentralen Gegenstand von Innovationsanalysen. Solche Prozesse können aus unterschiedlichen Zeitperspektiven betrachtet werden: entweder werden Kontinuitäten oder aber Diskontinuitäten als explanandum gewählt (Rammert 1997). Wird Innovation als zu erklärender Sonderfall betrachtet, wird tendenziell eine Implementationsperspektive eingenommen, bei der eine in einem Entwicklungskontext konzipierte Innovation auf ihrem Weg in einen Anwendungskontext begleitet – und damit tendenziell ontologisiert – wird. Wird eine Innovation dagegen als Normalfall betrachtet, stellt sich die Frage nach den Regeln, Ressourcen und Praktiken, mittels derer Unterschiede zugelassen und hervorrufen werden. Zum einen kann also die Pfadabhängigkeit von Wandel beobachtet werden, indem der Vergangenheit eine entscheidende Bedeutung für die Erklärung gegenwärtige Zustände beigemessen wird. Zum anderen kann Wandel aus der Perspektive der Pfadbrechung oder -kreation beobachtet werden; die Beobachtung richtet sich dann mehr auf die oben dargestellte soziale Dimension. Diese Perspektive bedarf angesichts der Kontinuität des Handlungsstroms bzw. der durée eines normativ gesetzten, zeitlichen, räumlichen und sozialen Ausschnitts, in dem diese Regeln und Praktiken stattfinden und aufgrund ihrer sprachlichen Objektivationen für die empirische Rekonstruktion zugänglich sind. In inhaltlicher Hinsicht bedeutet dies, danach zu fragen, wie die Akteure eines ausgewählten sozialen ‚Raums’ in einem ausgewählten Zeitfenster eine Innovation prozessieren: Inwiefern kommt eine lineare oder aber eine zyklische Veränderungslogik zum Ausdruck? M.a.W.: Inwiefern lassen sich in den Objektivationen ihres Handelns eine Steigerungs- bzw. Verbesserungslogik rekonstruieren, durch die Innovationen auf Episoden mit einem Anfang und einem Ende reduziert werden? Oder inwiefern lassen sich umgekehrt Entwicklungslogiken unter der Inkaufnahme und der Bewältigung von Kontingenz feststellen, bei der auch eine Trans-
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formation von Zielen nicht ausgeschlossen ist (zur Gegenüberstellung linearer und zyklischer Zeitvorstellungen Schulze 2003)? In methodischer Hinsicht erfolgt die Beobachtung einer Innovation in beiden Fällen aus einer zeitlichen Distanz zum Geschehen. Da hier jedoch die Kontinuität von Diskontinuität und ein zyklisches Innovationsverständnis zugrunde gelegt werden, bedeutet dies die symbolische Verlagerung des Beobachterstandpunktes quasi in das „Innere“ der Innovation. Es ist banal zu sagen, dass Zeit in der sozialen Welt per se unumkehrbar ‚abläuft’ und jegliche wissenschaftliche Beobachtung die Flüchtigkeit eines sozialen Geschehens fixiert, also die verstreichende Zeit arretiert. Sofern jedoch die zeitliche Dimension weniger als Historizität, sondern als Prozessualität in die Bebachtung eingeführt wird, werden stärker als in einer zur Linearisierung neigenden retrospektiven Beobachtungshaltung nicht-linear auftretende Brüche, Sprünge, Diskontinuitäten sichtbar, die der Konzeption von Innovation als Wissenspassagen eher gerecht werden. Wird nach dem sinnhaften Ablauf eines Geschehens gefragt, löst sich dessen Stabilität auf: „In dem Maße ..., in dem wir ... die immer spezialisierendere, immer genauer sehende Funktion des Erkennens üben, zerfällt sie in lauter Diskontinuitäten, deren jede einzelne zunächst wieder als kontinuierliche Dauer gemeint ist“ (Simmel, nach Bergmann 1985: 316; Mayntz 2005: 25; Rammert 2002b: 13). Innovation kann insofern als daueraktueller Prozess verstanden werden, der für verschiedene Akteure unterschiedliche Bedeutungen hat und der nur normativ zum Zwecke der Untersuchung eben dieser Sinngenerierung eine Eingrenzung in Anfang und Ende erfahren kann. Angesichts von Innovationen als Wissenspassagen stellen sich vor diesen Hintergründen Fragen, die auf die Konstitution unterschiedlicher zeitlicher Reichweiten von Innovationen zielen: Wie oder wodurch gelingt es, dass sich Innovation als Wissensform kurzfristig oder perspektivisch langfristig ausdehnen kann? Was kommt nach der Kommunikation einer Innovation? 3.3.5 Kognitive Dimension: Wie werden Innovationen verankert? In den vorangegangenen Abschnitten wurde deutlich, dass Innovationen nicht als vollständig zufällige Prozesse darstellbar sind, die von per se reflexiven Akteuren gestaltet werden, sondern dass es sich um kontingente Prozesse handelt, bei denen auch der Kontext mit über die Richtung und Reichweite ihrer Prozessierung bestimmt. In Bezug auf die Kontexte, d.h. die räumliche Dimension wurde festgehalten, dass es sich hier um soziale Felder handelt, die über ein Zentrum und eine Peripherie, aber nicht um distinkte (Sinn-)Grenzen verfügen. In Bezug auf die soziale Dimension wurde konstatiert, dass es soziale Akteure sind, die eine Innovation sozial integrieren und perspektivisch eine Systemintegration vorbereiten, deren Erklärung auf der Basis weiterer theoretischer Kategorien als allein auf denen
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praxeologischer Sozialtheorien erfolgen sollte. In Hinblick auf die zeitliche Dimension wurde analog zum strukturationstheoretischen Konzept des Dualismus ein zyklisches Zeitverständnis von Innovationen als Wissenspassagen dargestellt, insofern das Durchlaufen einer Passage nicht nur zu einer Transformation der Innovation führt, sondern dadurch auch zu einer Transformation der Passage, die in zeitlicher Hinsicht neue Akteurskonstellationen evoziert. Zudem war in den vorigen Abschnitten von Innovationen als Aufforderung zur aktiven Selektion, Be- und Verarbeitung die Rede, und es wurde herausgearbeitet, dass es sich bei Innovationen um eine Wissensform handelt, die wissensbasiert prozessiert wird, so dass sich die Frage nach der an diesen Prozessen beteiligten kognitiven Dimension stellt, d.h. nach den Bedingungen der Be- und Verarbeitung eines Phänomens. In der Systemtheorie nach Luhmann ‚wohnen’ Kognitionen in den sozialen Systemen; Probleme der Kognition werden von ihnen mittels der Autopoiesis gelöst, durch das deren operative Schließung bewirkt und über die Relevanz dessen bestimmt wird, was einem System in seiner Umwelt begegnet. Diese Perspektive untersagt die Annahme, soziale Systeme könnten direkt gesteuert und so in ihren Operationen beeinflusst werden. Wenngleich Willke Selbststeuerung für „angemessener und produktiver“ (Willke 2001b: 35) hält als Formen externer Steuerung, schließt er deren Möglichkeit nicht vollständig aus: Mittels Kontextsteuerung kann es ihm zufolge gelingen, die Selbststeuerung von Systemen zu beeinflussen und damit deren kognitive Prozesse zu irritieren, d.h. in die Bedingungen der Wissensproduktion einzugreifen; Miller beschreibt diesen Vorgang als systemisches Lernen im Modus des Diskurses (s. Abschnitt 3.1.3, 4.2). Bei Bourdieu sind die Kognitionen im Habitus verankert und bestimmen die Weisen des Denkens, Wahrnehmens und Handelns. Die Habitus unterscheiden sich hinsichtlich z.B. der symbolischen Ressourcen, die seinen Trägern an einem sozialen Ort zugänglich und verfügbar sind. Insofern bestimmt der Habitus, d.h. die mit ihm transportierten, sozial mitstrukturierten Schemata darüber, was als Innovation erkannt und wie es bearbeitet wird – wird eine Innovation als Chance zur Überwindung von Ungleichheit wahrgenommen, zum Ausbau einer günstigen sozialen Position etc.? In der Strukturationstheorie wirken Kognitionen als Modalitäten (Deutungsmuster, Normen und Ressourcen) an der Schnittstelle von Strukturdimensionen und Interaktion. Sie regulieren die Spannung zwischen der Intentionalität und Reflexivität des Handelns und der Strukturen, in denen gehandelt wird, d.h. wie wahrgenommene Strukturen symbolisch geordnet und dadurch handlungsrelevant werden. Sie beeinflussen damit mittelbar auch, welchen Strukturen Akteure durch ihre eigenen Handlungen wieder begegnen (Beckert 1997: 34).
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Im Kontext von Innovationsprozessen kommen die Überlegungen zur kognitiven Dimension insofern zum Tragen, als mit der Vorstellung von Innovationen als Wissenspassagen darauf aufmerksam gemacht wurde, dass es sich bei Innovationen um wissensbasierte, transformierende und transformierte Artefakte handelt, deren Wahrnehmung Akteurskonstellationen evoziert, die sich aufgrund gemeinsamer Deutungsschemata, Überzeugungen etc. konstituieren und deren Handlungen die soziale Innovation erst empirisch sichtbar werden lassen. Dabei spielt nicht-reflektiertes bzw. reflexiv unzugängliches, implizites Wissen eine wichtige Rolle (Paavola/Lipponen/Hakkarainen 2004: 565; Nonaka/Takeuchi 1995) – über Praktiken findet es Eingang in die Interaktionen und kann sich institutionalisieren. In Hinblick auf die zeitlich und räumlich differenzierenden Bedingungen wird hier davon ausgegangen, dass es Diskurse sind, die Kognitionen sowohl in Kontexten der Kopräsenz als auch unter Abwesenheit von Kopräsenz transportieren können. Diskursive und nicht-diskursive Praktiken rekurrieren gleichermaßen auf Ressourcen der Signifikation, Legitimation und Herrschaft und nehmen so Einfluss auf die in einem normativ gewählten Zeitraum zu beobachtenden Innovationsprozesse. Zusammen mit den zuvor dargelegten Überlegungen dieses Abschnitts kann festgehalten werden, dass die in diesen Akteurskonstellationen vorhandenen Kognitionen i.S. von zur Verfügung stehenden Ressourcen, Schemata etc. in Bezug auf die sachliche Dimension sowie kontextspezifisch variieren und die Resultate der Be- und Verarbeitung eines Phänomens daher unterschiedliche räumliche und zeitliche Reichweiten entfalten. Fragen, die sich an diese These anschließen, lauten etwa: Wie wird innerhalb einer Akteurskonstellation auf das Wissen anderer Bezug genommen, was wird als Wissen anerkannt und zur Be- und Verarbeitung einer Innovation herangezogen? Welche Abweichung wird noch toleriert, welche nicht? Welches Wissen ist verfügbar, mit welchen Deutungsschemata wird einer Innovation begegnet, welche Ressourcen werden für deren Be- und Verarbeitung aktiviert? Während in der Luhmann’sche Variante der Systemtheorie diese Fragen weitgehend in einer black box verbleiben (Saake 2004: 109) und Willke die grundsätzliche Möglichkeit der Kontextsteuerung andeutet, benennt Miller den Mechanismus, mit dem diese Transaktionen und Transformationen prozessiert werden: das diskursive Lernen (s. Abschnitt 4.3). Die Vorstellung von Innovationen als Wissenspassagen wird dadurch insofern konkretisiert, als angenommen werden kann, dass in diesen Wissenspassagen Lernen, mithin Transformation erfolgt. Im Modus des Diskurses ist dieses sowohl zwischen kopräsenten Akteuren darstellbar, als auch unter zeitlich-räumlich versetzt agierenden Akteuren, d.h. das hier zum Tragen kommende Lernen hat einen sozialen Impetus, die Verbreitung und Verankerung einer Innovation in Raum und Zeit kann ausgeleuchtet werden zur Seite kollektiver Akteure. Neben dieser kognitiven, der zeitlichen und räumlichen Dimension ist auch eine soziale Dimension
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insofern tangiert, als mit dem Hinweis auf die Diskursivität dieses kognitiven Prozesses Aspekte der Ungleichheit hinsichtlich der zur Verfügung stehenden oder genutzten Ressourcen jeglicher Art angesprochen sind. Werden also Innovationen als zeitliche, räumliche und soziale Wissenspassagen betrachtet und diese in die Gegenwart eingelagert, die ihre Merkmale aufgrund der spielerisch-kämpferischen Interaktion der Akteure in Bezug auf ihre Positionen, Deutungen, Ressourcen etc. erhält, kann in Hinblick auf die kognitive Dimension nun ergänzt werden, dass Innovationen als Wissenspassagen angetrieben sind durch einen fortlaufenden, zwischen Handlung und Struktur vermittelnden Prozess des Lernens (ähnlich Blättel-Mink/Renn 1997: 25). In Hinblick auf Innovationen als Wissenspassagen kann nun festgehalten werden, dass im Zuge dieses Lernens im Modus des Diskurses die Aneignung stattfindet, von der insbesondere in Abschnitt 2.4 bereits die Rede war. Im nächsten Abschnitt wird auf dieser Basis zu klären, sein 1) wie die lernfähigen Akteurskonstellationen konzipiert werden müssen und 2) wie deren Aneignungsprozesse zu erschließen sind.
4 Theoretisch-konzeptionelle Dimensionen der Analyse von Innovationen und ihrem Transfer Das Ziel dieses Kapitels ist es, mit Blick auf die Innovationsanalyse theoretischkonzeptionelle Elemente des Innovationstransfers zu erörtern. Nachdem in den vorigen Abschnitten zunächst im Rekurs auf soziologische Gegenwartsdiagnosen der soziale Kontext charakterisiert wurde, in dem sich soziale Innovationen abspielen (Kapitel 1), und anschließend der Innovationsbegriff selbst durchleuchtet sowie ein vorläufiges Konzept von Innovationen als Wissenspassagen skizziert wurde (s. Abschnitt 2.5.3), ging es in Kapitel 3 darum, dieses Konzept hinsichtlich dessen sozialtheoretischen Anschlussmöglichkeiten abzusichern. Innovationen und ihr Transfer, so wurde herausgearbeitet, sind keine Folge singulärer individueller Aktivitäten, sondern vielmehr Gegenstand und Resultat der Interaktion verschiedener kollektiver Akteure. Und nachdem bereits ausgeführt wurde, dass Transfer ein kritisches Element der Innovation ist, das statt als Vorgang einer quasi (sozio)technischen Übertragung, die nicht mit den Eigenlogiken sozialer Systeme rechnet, eher als Wissensarbeit und damit als komplexe, selektive und aktive Interpretationsleistung aufzufassen und aus einer Aneignungsperspektive zu untersuchen ist, geht es im folgenden Abschnitt darum, theoretischkonzeptionelle Kategorien zu explizieren, die die Analyse des so verstandenen Transfers sozialer Innovationen orientiert. Somit ist hier der Gegenhorizont einer atheoretisch-affirmativen Verwendung des Innovationsbegriffs, nämlich der reflexive Pol sozialer Innovation von zentralem Interesse: Es geht um die Praktiken, mittels derer eine Innovation prospektiv und reflexiv mit Sinn aufgeladen wird und als Wissensform prozessiert wird. In den vorigen Kapiteln wurde im Zusammenhang mit der Gegenwartsdiagnose der ‚Entgrenztheit’ bereits auf die Existenz lose gekoppelter, netzwerkförmiger Akteurskonstellationen hingewiesen, die anstelle funktional differenzierter Teilsysteme soziale Aufgaben übernehmen. Dabei wird darauf hingewiesen, dass das Wissen, das von ihnen für die Veränderung des Sozialen mobilisiert wird, in einem Zustand loser Verteiltheit vorliegt, d.h. von unterschiedlichen Akteuren und an verschiedenen Orten gleichzeitig erzeugt wird. Angesichts dessen wird auf die Relevanz der gemeinsamen Wissensarbeit und des Wissenstransfers hingewiesen. Mit dem Strukturmerkmal ‚lose Kopplung’ ist auch verbunden, dass weder Problemwahrnehmungen, Absichten, Interventionen und avisierte Ziele fraglos gegeben sind, noch dass lineare, kausale Bezüge zwischen diesen darstellbar sind, sondern diese zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen über legitime Bedeutungen und Interpretationen werden. Diese Aushandlungen haben die Funktion, eine symbolische Ordnung von Wissen zu erzeugen. Diese Ordnung wurde als Vorgang und
I. Bormann, Zwischenräume der Veränderung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92709-1_5, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Resultat betrachtet und in Verbindung gebracht mit symbolischen Räumen, die im Zuge der Wissensarbeit generiert werden und durch die das mit Innovationen verbundene Wissen in der Interaktion verschiedener Akteure ‚passiert’. Innovationen wurden vor diesem Hintergrund als mehrdimensionale Konstrukte dargestellt, die Wissenspassagen durchlaufen. Wenn Innovationen als ko-konstruierte und ko-konstruktive Passagen von Wissen durch Zeit und Raum verstanden werden, die sich im Moment der Beobachtung als Ordnungen von Wissen darstellen (s. Abschnitt 2.5), und wenn das Interesse gleichzeitig der sozialen Verbreitung und Verankerung gilt, stellt sich zunächst die Frage, wie kollektive Akteure zu konzipieren sind, denen zugeschrieben werden kann, Aushandlungsprozesse sowie eine aktiv-interpretierende Wissensarbeit tragen zu können. Dazu wird zunächst auf Konzepte kollektiver Akteure und anschließend auf die von ihnen getragenen Aneignungsprozesse eingegangen. Danach wird dargestellt, in welchem Modus diese Prozesse ablaufen. Schließlich werden die in den vorigen Abschnitten entfalteten Überlegungen zusammengefasst, um so die später vorgestellte empirische Analyse zu informieren.
4.1 Kollektive Akteure: Träger und Prozessoren von Innovationen und ihrem Transfer Kollektive Akteure können in zweierlei Hinsicht konzipiert werden: einmal als Kollektive, in denen die Akteure ein konkretes ‚Gegenüber’ haben, mit dem sie z.B. in organisierten Arbeitszusammenhängen gemeinsame Routinen und gemeinsames Handlungswissen entwickeln und einmal als netzwerkartig organisierte Akteurskonstellationen, die aufgrund eines gemeinsamen Anliegens, Themas oder Problems entstehen, das sie als für sich relevant ansehen. Der Terminus ‚kollektiver Akteur’ wird hier in Anlehnung an von Cranach (1995) und Scharpf (2000: 100ff.) verwendet als ein umfassender Oberbegriff für unterschiedliche Konstellationen von Akteuren, die sich aufgrund von gemeinsamen Interessen, Zielen oder Handlungsressourcen konstituieren, z.B. Verbände, soziale Bewegungen, Clubs oder Cliquen und Koalitionen. Diese kollektiven Akteure unterscheiden sich bzgl. ihrer Organisationsform sowie ihrer Art, zu Entscheidungen zu gelangen, hinsichtlich der Freiwilligkeit der Mitgliedschaft sowie des Zugangs zu und Verfügung über Ressourcen. Gemeinsam ist ihnen, dass sie als Sub-Akteure ‚offizieller’ politischer Entscheidungsträger fungieren. Im Folgenden werden solche kollektiven Akteure genauer betrachtet, die – analog zur Entgrenzungsthese – auf der Grundlage freiwilliger Mitgliedschaft bestehen, in denen in Bezug auf ein sie verbindendes Thema oder Anliegen durchaus konflikthaft inter-
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agiert, die Regeln dafür ausgehandelt und über diese Praktiken Wissen prozessiert wird: Koalitionen. Diese Akteure werden als Träger und Prozessoren der Innovation betrachtet, die in der Lage sind, aufgrund ihrer losen Kopplung weitere Akteure zu affizieren und damit die Verbreitung und Verankerung der Innovation zu unterstützen. Kollektive Akteure entstehen, weil Akteure eine Innovation hinsichtlich ihrer Überzeugungen, ihres Wissens oder ihrer Praktiken reflexiv oder praktisch bewusst als relevant und (denk-)handlungsauffordernd wahrnehmen und interpretieren. Im Folgenden wird kurz auf a) Netzwerke, b) advocacy coalitions sowie c) communities of practice als kollektive Akteure eingegangen, die sich in Hinblick auf ihre Form und Größe unterscheiden. Die Darstellung erfolgt auf der Grundlage eines angenommenen Kontinuums: Über Netzwerke, so die heuristische Annahme, erfolgt Systemintegration, über communities of practice wird Sozialintegration vorbereitet; advocacy coalitions sind dazwischen angesiedelt. Mehrere communities of practice konstituieren gemeinsam eine advocacy coalition; miteinander verbunden sind sie über Diskurse. 4.1.1 Netzwerke In Abschnitt 1.3 wurde bereits kurz auf Netzwerke als Akteurskonstellationen eingegangen, die den fragmentalen Charakter des Sozialen kompensieren. Vor dem Hintergrund der Diagnose der Entgrenztheit und Fragmentarisierung können sie als soziale und funktionale Äquivalente von funktional differenzierten sozialen Systemen betrachtet werden. Durch ihre prinzipielle Offenheit erbringen sie Integrationsleistungen, die in hierarchisch organisierten Akteurskonstellationen oder in marktlichen Konkurrenzkonstellationen oftmals nicht geleitstet werden. Zu den Verdiensten von Netzwerken werden insbesondere Innovationen gezählt (Powell 1990; Rammert 2002; Holzer 2007; s. Abschnitt 1.3). Die Netzwerktheorie geht davon aus, dass sich verschiedene Akteure aufgrund eines gemeinsamen Interesses oder Anliegens zusammenfinden, aber ihre Autonomie beibehalten (Jansen 2003). Netzwerke bestehen aus losen, nicht zwingend formell geregelten Verknüpfungen von (hinsichtlich ihrer funktionslogischen Verortung) heterogenen, wissenschaftlichen wie nicht-wissenschaftlichen, öffentlichen wie privaten Akteuren zum Zwecke der transdisziplinären und lösungsorientierten Bearbeitung sozialer Aufgaben und Themen, Ziele oder Probleme. Die Zugehörigkeit zu einem Netzwerk reguliert sich kommunikativ i.d.S., dass ein gemeinsames inhaltliches Anliegen (policy) verschiedene Akteure dazu führt, miteinander in Interaktion zu treten und Ressourcen, d.h. auch Wissen, miteinander zu tauschen bzw. über die Bedingungen für den Tausch dieser Ressourcen zu verhandeln, um das Anliegen be- und verarbeiten zu können (Peine 2006: 22ff.; Kissling-Näf/Knoepfel 1998: 259; Jansen 2003: 71f.). Netzwerke konstituieren sich
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durch „selektive Verbindungen zwischen Elementen“ (Holzer 2007: 2) und können prinzipiell überall vorgefunden werden. Wenngleich selektiv, sind sie durch stabile und erwartbare Beziehungsmuster gekennzeichnet, in denen Akteure aufgrund gegenseitig aneinander gerichteten Erwartungen miteinander in Beziehung treten (ebd.: 9f.). Anders ausgedrückt konstituieren sie sich aufgrund von symbolisch generierten und kommunikativ vermittelten, Zeit und Raum überdauernden Überzeugungen, Zielstellungen, Praktiken. Zugleich wird aufgrund der dabei in Anschlag gebrachten, möglicherweise konkurrierenden Deutungsmuster40 oder einander widersprechender Zuschreibungen zwecks Reduktion von Unsicherheit der Bedarf zur Generierung neuen Wissens geschaffen (s. Abschnitt 1.3). Das schließt ein, dass in Netzwerken gemeinsame zentrale Ziele nicht zwingend harmonisch verfolgt werden: Da Akteure sich aufgrund eines Inhalts oder Themas in Netzwerken wiederfinden, ist davon auszugehen, dass die an Netzwerken beteiligten Akteure durchaus unterschiedliche Ziele verfolgen, darüber hinaus mit unterschiedlichen materiellen und immateriellen Ressourcen, autoritativen und allokativen Verfügungsrechten und -fähigkeiten in Bezug auf das Erreichen ihrer Ziele ausgestattet sind (Holzer 2006; Krücken 2005: 68; Altrichter/Heinrich 2007; Böttcher 2007). Zusammengehalten werden Netzwerke durch die Be- und Verarbeitung des Anliegens der Akteure und des in einem Netzwerk verfügbaren Wissens, also gerade nicht über eindeutige, reglementierte und ein für allemal stabile Grenzen (s. Abschnitt 1.3). Baecker (2008) bezeichnet Netzwerke daher als Verbindungen aus aktuellen und aktualisierbaren, möglichen Verbindungen (ebd.: 91). Netzwerke sind daher selbst Ressourcen, und in Bezug auf die Mitglieder eines Netzwerks ergänzt Baecker, dass diese ein „Netzwerk als Ressource“ (ebd.: 91) betrachten. Mit Weick und Orton (1990; Weick 1976; Weick 1988) können Netzwerke daher auch als lose gekoppelte soziale Systeme bezeichnet werden. Wie bereits in Abschnitt 1.3 erörtert, bringt das Konzept der losen Kopplung zum Ausdruck, dass die Elemente eines sozialen Systems eher sporadisch und plötzlich denn kontinuierlich, eher indirekt als direkt sowie eher inkrementell denn sofort aufeinander einwirken. Diese lose Kopplung ist allerdings gerade kein Nachteil, sondern in Hinblick auf die Funktion flexibler Problemlösung und Innovativität von Netzwerken deren wesentliche Stärke. Denn je schwächer die Beziehungen zwischen den Akteuren untereinander, desto höher ist die Chance, ‚neue’ Informationen weiträumig sozial zu verbreiten und für die Be- und Verarbeitung einer Situation zu nutzen. So sind Netzwerke zwar von einer geringeren Kohäsion als etwa Organisationen gekennzeichnet, sind aber – z.B. in Innovationskontexten – als polyzentri40
Deutungsmuster werden als eine ‚Formkategorie sozialen Wissens’ verstanden; sie orientieren Wahrnehmungs- und Interpretationsvorgänge und ermöglichen intersubjektive Verständigung (Plaß/Schetsche 2001: 512; ausführlicher s. Abschnitt 2.1.1; auch Fußnote 76).
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sche, lose Konstellationen von Akteuren trotzdem funktional, weil sie in der Lage, endogenen Sinn zu integrieren (Granovetter 1973; DiMaggio/Powell 1983; Rogers 2003; Levin/Cross 2004; Kuper 2004c; Weber 2004; Häußling 2005; Wiesenthal 2005). Kommen also unterschiedliche Akteure mit unterschiedlichen Rationalitäten zusammen, die auch in Hinblick auf den Umgang mit einem sie verbindenden Problem durchaus unterschiedlichen Interessen folgen können, wird Handlungskoordination erforderlich. Netzwerke stellen aus governance-theoretischer Perspektive eine solche Form der Handlungskoordination dar (Lange/Schimank 2004; Kussau/Brüsemeister 2007), die, so kann im Rekurs auf Rammert (2002b: 8) konkretisiert werden, sich auf die Erzeugung und Organisation bzw. Ordnung von Wissen bezieht. So gesehen stellen Netzwerke eine Form von Governance-Strukturen dar, die insbesondere in Zusammenhang mit solchen Gegenwartsdiagnosen referiert werden, die Tendenzen der Dezentralisierung und Fragmentarisierung beschreiben und zugleich von reziproken Interaktionen sowie horizontalen, formal nur gering institutionalisierten Wissensflüssen zwischen privaten und öffentlichen Akteuren ausgehen (de Leon/Varda 2007; Hajer/Wagenaar 2003). Insofern werden Netzwerke als „policy subsystems“ (Adam/Kriesi 2007: 129) verstanden, die durch ihre regelmäßige Kommunikation und Verhandlung gegenseitiger Ansprüche und Interessen den Verlauf, Formen und Reichweite von Wandel beeinflussen (ebd.: 132). 4.1.2 Advocacy coalitions Zwischen dem Konzept der in Zeit und Raum ausgedehnten sozialen Netzwerke als policy subsystems und kopräsenten kollektiven Akteuren wie den communities of practice (s. Abschnitt 4.1.3) steht das Konzept der advocacy coalitions. Dieses wurde maßgeblich von Sabatier und Jenkins-Smith entwickelt und fortlaufend revidiert (Sabatier 1988; Jenkins-Smith/Sabatier 1993a, b; Sabatier/Jenkins-Smith 1993; Sabatier/Weible 2007; Weible/Sabatier 2009; Weible/Sabatier/McQueen 41 2009). Während Powell (1990) noch feststellte, dass in Bezug auf Netzwerke noch klärungsbedürftig sei, „how information is processed through networks and how learning is sustained“ (ebd.: 328), kann das Advocacy Coalition Framework (ACF) als ein Angebot zur Schließung dieser Forschungslücke angesehen werden. Es geht explizit auf das policy-orientierte Lernen von advocacy coalitions ein, um das Entstehen von Wandel zu erklären.42 Durch policy-orientiertes Lernen, so die 41 42
Das ACF kann Jenkins-Smith und Sabatier (1993) zufolge auf alle „policy areas“ (ebd.: 225) angewendet werden. Sabatier (1988) unterstreicht, dass der Zeitraum für die Analyse von Wandel mindestens eine Dekade umfassen sollte. Im Vorgriff auf die Kapitel 5f. soll an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen sein, dass es in der vorgelegten Schrift nicht um eine Wirkungsevaluation geht,
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Annahme des ACF, findet eine Veränderung des Denkens oder von Handlungsintentionen statt, die relativ stabil sind. Mit dem Lernkonzept beabsichtigt das ACF, theoretische Unzulänglichkeiten von Phasenmodellen im Zusammenhang mit Innovationen zu überwinden. Sabatier u.a. beabsichtigen zu klären, was in theoretischer Hinsicht als ‚Vehikel’ des Wandels gelten kann und wollen die integrierenden Mechanismen des Wandels beschreiben. Dazu betonen sie die Rolle von Informationen, die in verschiedenen Akteurskonstellationen unterschiedliche Bedeutungen erhalten – also nicht unverändert und fraglos übernommen, sondern vielmehr im Zuge aktiver Aneignungsprozesse diversifiziert werden. Im Zentrum des ACF stehen die kleineren Einheiten von Netzwerken bzw. policy subsystems, die advocacy coalitions: Diese sind es, denen im ACF zugeschrieben wird, den in einem Netzwerk flottierenden Informationen aufgrund ihrer Überzeugungen unterschiedliche Bedeutungen beizumessen, und durch deren Interaktionen spezifische, inhaltlich konstituierte Netzwerke zu erzeugen und inkrementellen Wandel anzustoßen. Wandel ist dem ACF zufolge ein Resultat des Zusammenwirkens a) der Interaktion konkurrierender advocacy coalitions innerhalb eines policy subsystems, b) 43 Änderungen innerhalb des Feldes , in dem die aus advocacy coalitions bestehenden policy-subsystems agieren sowie c) relativ stabilen Parametern wie sozialen Strukturen und Regeln (Jenkins-Smith/Sabatier 1993a: 5). Advocacy coalitions sind diejenigen sozialen Einheiten, die nach Innovation streben und diese vorantreiben. Sie bestehen aus “actors from a variety of public and private institutions at all levels of government who share a set of basic beliefs“ (Jenkins-Smith/Sabatier 1993b: 225; ähnlich Grossback/Nicholson-Crotty/Peterson 2004). Diese geteilten Überzeugungen (core beliefs) beziehen sich auf Werte, grundlegende Überzeugungen sowie die Art und Weise, wie Phänomene der Sozialwelt wahrgenommen und in Handeln integriert werden; sie bilden das relativ stabile Zentrum von advocacy coalitions. Diese geteilten Überzeugungen können so auch als symbolische Ordnung (der Praktiken) des Ein- und Ausschlusses von alternativen Überzeugungen und als Wissensordnung verstanden werden. Innerhalb eines Netzwerks (inter)agieren mehrere advocacy coalitions, die sich hinsichtlich ihrer Grundüberzeugungen (core beliefs) und zwar hinsichtlich ihrer sekundären Überzeugungen (secondary beliefs) unterscheiden. Die Grund-
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sondern um die prozessbezogene Analyse von Innovationen als Praktiken der sozialen Wissensgenerierung. Dies ist kongruent in Bezug auf die Dimension des sozial konstituierten symbolischen Raums: Insbesondere die Auseinandersetzung mit der Bourdieu’schen Feld- und Praxistheorie zeigte, dass Felder anhand der von unterschiedlichen Akteuren geteilten Interessen, genutzten Ressourcen und den sich an einem Gegenstandsbereich orientierten Auseinandersetzungen idenitifiziert werden können (Rieger-Ladich 2006: 159; s. Abschnitt 3.2.2).
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überzeugungen gelten als wenig veränderlich; sie umfassen basale, in einer spezifischen Akteurskonstellation als grundlegend anerkannte Werte und Normen. Die ‚policy core beliefs’ umfassen Überzeugungen in Bezug auf Positionen zu einem Thema in einem spezifischen sozialen Feld. Über diese konstituieren sich verschiedene Koalitionen, d.h. dass die policy core beliefs zwischen verschiedenen Koalitionen variieren; sie sind relativ stabil, aber nicht vollkommen unveränderlich. Die ‚secondary beliefs’ dagegen schließen instrumentelle Überzeugungen, Deutungsmuster, Kausalitätswahrnehmungen etc. ein, also die die Wissensprozesse begleitenden und berührenden Überzeugungen bzgl. einzusetzender Denk- und Handlungsstrategien; durch diese sind spezifische Koalitionen charakterisierbar. Diese secondary beliefs sind am ehesten veränderlich und können daher zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen werden. Diese unterschiedlich stabilen Überzeugungen werden in den Interaktionsformen der advocacy coalitions deutlich, die sich auf einem Kontinuum zwischen den Polen ‚Abgrenzung gegenüber ‚Gegnern’’ und ‚Abstimmung gemeinsamer Ziele und Handlungen’ ansiedeln (Weible/Sabatier/McQueen 2009; Weible/Sabatier 2009). Überzeugungssysteme (belief systems) sind als Ensembles hierarchisch angeordneter, unterschiedlich flexibler Überzeugungen zu verstehen. Belief systems halten sich nicht an geographisch definierte Räume, sondern sind sozial verankert und lassen sich sowohl in staatlichen als auch lokalen Überzeugungsprogrammen wiederfinden (Jenkins-Smith/Sabatier 1993b). Übertragen auf die Vorstellung von Innovationen als Wissenspassagen und das Konzept ko-konstruierender Akteure (s. Abschnitt 2.5) kann das ACF als Heuristik herangezogen werden, um aufzuzeigen, mit welchen Überzeugungen Akteure an ein in der Sozialwelt wahrgenommenes Phänomen herantreten, wie sie also die Innovation konstituieren und auch, mit welchen Strategien und Allianzen sie versuchen, ihre Bedeutungszuschreibungen sozial zu verbreiten. Quer zu Organisationsgrenzen bzw. den Grenzen funktional differenzierter Systeme wird in advocacy coalitions Wissen und Wissensarbeit vergemeinschaftet (Nullmeier 2006: 297). In diesem Zusammenhang weist das ACF auf die Bedeutung von Lernprozessen hin. Wenngleich das ACF mit den belief systems von relativ stabilen Rahmenbedingungen des Handelns von Akteuren ausgeht, sieht es Wandel explizit vor: Den kollektiven Akteuren adocacy coalitions wird die Fähigkeit des policy-oriented learning zugeschrieben (Jenkins-Smith 1993b; Sabatier/Jenkins-Smith 1993; Sabatier/Weible 2007). Im ACF wird dieses policy-orienierte Lernen definiert als „relatively enduring alternations of thought or behavioral intentions” (Sabatier/Weible 2007: 198), das vorrangig “changes over time in the distribution of beliefs of people within a coalition or within the broader policy subsystem“ (Jenkins-Smith/Sabatier 1993b: 42, 48) evoziert. Vor allem die secondary beliefs warden durch Lernen verändert. Durch dieses inkrementelle Lernen verändern sich vornehmlich die
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weniger stabilen sekundären Aspekte des belief systems, also die Wahl von Mitteln zur Erreichung eines als relevant wahrgenommenen und interpretierten Phänomens. Dieses Lernen basiert auf dem Kontakt mit anderen Mitgliedern der eigenen Koalition. Es findet dann statt, wenn verschiedene Akteure miteinander konkurrieren oder ein besonderer Problemdruck herrscht (Bandelow 2003: 109ff.). 4.1.3 Communities of Practice In der stärker pädagogisch-psychologisch ausgerichteten Forschung werden so genannte Communities of Practice (CoP) als lernfähige und Wissen generierende kollektive Akteure diskutiert. Sie gelten nicht nur als wichtige Instanzen, um Innovationen zu generieren, sondern auch als Instanzen, über deren Lernen die horizontale Verbreitung und Verankerung von Innovationen stattfindet (Leonard 2006). Das maßgeblich von Lave und Wenger entwickelte Konzept der CoP überwindet im Rekurs auf die Sozial- bzw. Praxistheorien Bourdieus und Giddens’ (s. Abschnitt 3.2) solche Ansätze, nach denen Personen auf individuelle Kognitionen reduziert, mentale Prozesse als rationale Wahl interpretiert und Lernen als bloße Aufnahme von Wissen konzipiert werden. Stattdessen wird die Interdependenz zwischen Akteuren, Sozialwelt, Bedeutung, Wissen und Lernen sowie der „inherently socially negotiated character of meaning“ unterstrichen (Lave/Wenger 1996: 145; Lave 1993; Lave/Wenger 1991f.; Wenger 1998, 1999; Billett 1998 a, b; Mandl/Winkler 2004). Wissen wird demnach über die Ausübung von und Teilhabe an sozialen Praktiken in CoP angeeignet, Akteure lernen aufgrund ihrer Mitgliedschaft in einer CoP von anderen. Dies erfolgt eher beiläufig und i.S. einer inkrementellen Enkulturation. Wesentlich für das Konzept der CoP ist die Differenzierung von physischer (kopräsenter) und sozialer Anwesenheit der Akteure: Nach Lave und Wenger findet Lernen aufgrund der Mitgliedschaft in einer CoP und über die sog. legitimate peripheral participation in ihr statt und erfolgt nicht zwingend unter der Prämisse der Kopräsenz der Akteure. In Auseinandersetzung mit Vygotskys Werk und dem dort entfalteten Konzept der „zone of proximal development“ (Vygotsky 1978: 84ff.; s.u.) stellen Lave und Wenger mit dem Konzept der legitimate peripheral participation eine konzeptuelle Brücke zwischen Akteur und Sozialwelt her. Demnach wird über die Teilhabe an den in solchen symbolischen sozialen Räumen der CoP praktizierten Gewohnheiten, Kommunikationsstilen, Konventionen, Deutungsmustern gelernt. Communities of practice haben grundsätzlich konzeptuelle Ähnlichkeiten mit advocacy coalitions. Das ACF zielt v.a. auf Kognitionen i.S. von Überzeugungen über soziale Sachverhalte als Kernmoment des Zusammenhalts kollektiver Akteure ab. Diese Überzeugungen oder geteilten Werte regeln ebenfalls den Zusammenhalt von CoP. Allerdings hebt der CoP-Ansatz diese als Wissensgemeinschaften dar und stellt den Aspekt der Wissensgenerierung stärker hervor – soziale Prozesse
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und Praktiken werden als eine Form von Kognition betrachtet. Während im ACF Überzeugungen als Voraussetzung und kleinste Einheit gemeinsamer Wissensarbeit gelten können, steht in der CoP-Forschung im Zentrum, wie sich diese konstituieren. Beide, ACF und CoP, rekurrieren auf soziales Lernen, d.h. ein Lernen, das nicht ausschließlich von individuellen Akteuren vollzogen wird: das ACF in Form des policy-oriented learning, d.h. eines auf spezifische Inhalte oder Fakten gerichteten Lernens, der CoP-Ansatz in Form des diskursiven Lernens, einem durch unterschiedlich intensive Formen der Teilhabe erfolgendes bedeutungsgenerierendes Lernen. Unter Lernen wird im CoP-Ansatz dabei die Fähigkeit verstanden „to negotiate new meanings” (Wenger 1999: 226, 52ff.). Diese Aushandlungsprozesse über legitime Bedeutungen erfolgen über Praktiken. Diese Praktiken wiederum sind – obwohl sie auf teilweise implizitem Wissen bzw. praktischem Bewusstsein 44 beruhen – nicht abstrakt, sie existieren vielmehr in den Handlungen der Akteure: „Practice resides in a community of people and the relations of mutual engagement by which they can do whatever they do“ (Wenger 1999: 73, 84ff.). CoP entstehen grundsätzlich aufgrund freiwilliger Teilnahme und existieren als informelle Zusammenschlüsse über einen längeren Zeitraum hinweg. CoP sind zu verstehen als Träger bzw. Akteure der Generierung von sozialem Wissen. Sie können dabei gleichermaßen als Zusammenschlüsse kopräsenter Akteure, wie dies z.B. an Arbeitsplätzen der Fall ist (Schnurer/Mandl 2002), als auch als Interaktionsgefüge mit virtuellem Charakter aufgefasst werden (Mandl/Winkler 2004: 111; Reinmann-Rothmeier/Mandl 1998; North/Franz/Lembke 2004: 41ff.). Gleich, ob in virtuellen oder realen CoP – explizite Mitgliedschaftsregeln bestehen ebenso wenig wie einzelne Akteure exklusiv nur in einer CoP Mitglied sind. Die Zugehörigkeit zu einer CoP wird vielmehr reguliert über Engagement, d.h. das Ausmaß der Beteiligung, über Imagination, d.h. die Vorstellungen der Akteure über die CoP und ihre Stellung darin sowie über Koordination, d.h. die Abstimmung, Anpassung bzw. Orientierung von Praktiken an implizit geltenden Normen der CoP. Nicht die community bestimmt Anliegen und Mitgliedschaft, sondern umgekehrt: ein Anliegen, für das sich verschiedene Akteure engagieren, lässt eine community über die aufeinander verweisenden Praktiken der Akteure als solche erkennbar werden. Der Terminus ‚community’ bedeutet also weder notwendigerweise die Kopräsenz ihrer Mitglieder noch setzt er über Zeit und Raum hinweg klar definierte soziale Grenzen der community voraus. Dies ergibt sich auch daraus, dass jeder Akteur gleichzeitig Mitglied in verschiedenen CoP, in diesen aber unter-
44
Dieses implizite Wissen bzw. praktische Bewusstsein wird im Zusammenhang mit Innovationen für eine wichtige Ressource gehalten (Senker 1993; DeLong 1999; Rammert 1997; Gourlay 2006).
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schiedlich positioniert ist: in einigen im Zentrum, in anderen eher peripher (Lave/ Wenger 1991; Lave 1993; Wenger 1998f.)45. In Bezug auf das Erreichen eines gemeinsamen Ziels bzw. der Be- und Verarbeitung eines Anliegens sind die Akteure einer CoP gegenseitig voneinander abhängig. Dabei greifen sie auf Artefakte – d.h. Routinen, Geschichten, Überzeugungen, Werkzeuge etc. – zurück, die jedoch nicht objektiv gegeben sind i.d.S., dass sie für alle CoP eine gleiche Bedeutung besitzen. Vielmehr besteht in CoP das Erfordernis, die spezifischen Absichten und Strategien und ihr Wissen in Bezug auf ihre Ziele bzw. das gemeinsame Anliegen zu koordinieren (Billett 1998a: 26; 1998b: 11). Einzelne CoP unterscheiden sich somit hinsichtlich des Anliegens oder Anlasses, aufgrund dessen sie sich konstituieren, der Artefakte, die sie herausbilden und der Praktiken, in denen sie diese anwenden, um das sie verbindende Anliegen zu be- und verarbeiten. Dieses bisher unterbestimmte ‚Herausbilden’ erfolgt auch dem CoP-Ansatz zufolge als Lernen. Lernen ist dabei keine simple Übernahme von Wissen, sondern erfolgt über die Partizipation in sozialen Situationen. Diese sind vom Erfordernis der Koordination zwischen den Akteuren einer CoP geprägt: Bedeutungen sind nicht gegeben, sondern werden in CoP ausgehandelt. Dadurch, so Lave (1993), ermöglichen CoP „certain kinds of transformations of understanding… not only changes of a quantitative sort“ (ebd.: 81). An dieser Stelle tritt das nicht-lineare Wissenskonzept des Ansatzes hervor: In Bezug auf die Frage, wie diese Wissensgenerierung stattfindet, nehmen Praktiken eine wichtige Rolle ein. So wird davon ausgegangen, dass in den Praktiken der an einer CoP partizipierenden Akteure Wissen enthalten ist und durch deren Praktiken kontinuierlich (neu) geschaffen wird: „’Knowledge’ is a tricky word… every practice is in some sense a form of knowledge, and knowing is participating in the practice“ (Wenger 1999: 141; Billett 1998a, b). Doch nicht allein über Praktiken, auch durch Diskurse entsteht das Wissen, das in einer CoP flottiert: Mit der Einführung des Konzepts des Diskurses wird mit einer individualistischen Vorstellung von Lernen gebrochen: „Learning is a process that takes place in a participation framework, not in an indivdual mind. (…) Learning is … distributed among coparticipants, not a one-person-act“ (Hanks 1991: 15; Greeno 1998: 6). Im Rahmen der Partizipation am Diskurs wird das verhandelt, was in einer CoP überhaupt als Wissen anerkannt wird. Diskurse sind demnach die ‚Modi’, mittels derer sich praktisch entscheidet, an welchem Wissen in einer CoP partizipiert wird; über Praktiken wird dieses teilweise implizite Wissen aufgeführt (Lave/Wenger 1991: 105ff.; Wenger 1999: 141). Ebenso wenig wie 45
Hier wird eine Parallele zu Flecks (1980) eso- und exoterischen Kreisen der Denkkollektive deutlich (s. Abschnit 3.1.1).
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CoP über explizite, formelle Mitgliedschaftsregeln verfügen, haben Diskurse distinkte Grenzen. Vielmehr konstituieren sich Diskurse über Partizipation. Im Gegensatz zu direkter Instruktion stellen Diskurse Kontexte peripherer Partizipation dar, in denen gelernt wird. Durch diese Interaktionen werden die Sinnstiftungsprozesse der Akteure insofern unterstützt, als diese „insights and perspectives to the surface“ bringen, „that otherwise might not be made visible to the group" (Spillane/Reiser/Reimer 2002: 406). Als Medien der über (Sprach)Praktiken repräsentierten und vollzogenen Sinnstiftung übernehmen Diskurse die Organisation von „distributed cognition“ bzw. „socially shared cognition“ (Hutchins 1993; Wertsch 1993). Graduell gestufte Formen der Partizipation gelten dabei als Antrieb von Lernprozessen in CoP. Diese nach Direktheit der Interaktion zwischen Akteuren abgestuften Formen der Partizipation repräsentieren den Übergang zwischen Sozialintegration (direkte Instruktion) und Systemintegration (periphere Partizipation im Diskurs; s. Abschnitt 4.3). In Zusammenhang mit dem zugrunde liegenden Innovationsverständnis wird hier angenommen, dass Innovationen in netzwerkartigen Konstellationen kollektiver Akteure be- und verarbeitet werden, die sich aufgrund ihrer Teilhabe an der Konstitution bzw. Deutung des ‚Ereignisses’ Innovation und ihren dabei spielerisch verhandelten Beziehungen zueinander, Interessen und Positionen zur Innovation entwickeln (zu ‚Ereignissen’ Abschnitt 3.1.1, 6.2.2). Da Netzwerke als Zusammenschlüsse heterogener Akteure gelten, die aufgrund ihrer prinzipiellen Offenheit über die Chance eines sozial weiträumigen Transfers von Informationen verfügen, wird hier ferner davon ausgegangen, dass Netzwerke das Potential zur Systemintegration einer Innovation haben. Unter Systemintegration ist nach Giddens (s. Abschnitt 3.2.3) ein Effekt der Verbindung von Akteuren über Raum und Zeit hinweg zu verstehen. Diese Verbindungen entstehen dem ACF zufolge aufgrund gemeinsam geteilter Überzeugungen, die heterogene kollektive Akteure bzgl. sozialer Phänomene haben. Diese Überzeugungen können im Zuge policyorientierten Lernens inkrementell verändert werden. Vor dem Hintergrund des CoP-Ansatzes kann ergänzend hinzugefügt werden, dass diese Überzeugungen eine Voraussetzung für die Partizipation in CoP sind. CoP entstehen aufgrund der spezifischen Praktiken der Akteure, die eine gemein46 same Überzeugung bzgl. eines Phänomens teilen . Zwischen CoP, die zwar gemeinsame Ressourcen teilen, können aber Unterschiede hinsichtlich ihrer Interessen, der Allokation von Ressourcen, dem Mitteleinsatz o.a. bestehen. In diesen CoP kann Lernen sowohl zwischen kopräsenten Akteuren (Sozialintegration über Formen direkter Interaktion) als auch diskursiv erfolgen (Systemintegration über periphere Partizipation). 46
Dies entspricht den secondary beliefs des ACF.
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Wenn ein gestuftes Modell kollektiver Akteure und unterschiedliche Formen ihres Lernens angenommen werden, kann nun Folgendes festgehalten werden: Innovationen in fragmentalen Kontexten werden in Netzwerken (policy subsystems) prozessiert, die aus verschiedenen advocacy coalitions bestehen, die sich wiederum aus unterschiedlichen communities of practice zusammensetzen. Netzwerke stellen die grundlegenden Ressourcen bereit, zu denen die advocacy coalitions unterschiedlichen Zugang haben und mit denen sie auf spezifische Weise umgehen. Je nachdem, wie diese Zugänge reguliert sind und mittels welcher Praktiken die Verfügung über diese Ressourcen zur Geltung gebracht werden, formen sich in den advocacy coalitions CoP, die gemeinsame Anliegen mit gemeinsamen Mitteln verfolgen. Ein gemeinsames Verständnis des Anliegens, die Sichtweise darauf und der Umgang damit entsteht über Partizipation, die wiederum auf gemeinsamen Basis-Überzeugungen beruht. Während diese relativ stabil sind, sind Überzeugungen zur Wahl der Mittel (sekundäre Aspekte) im Laufe der Zeit über Lernprozesse veränderbar. Dies erfordert einen langfristigen Modus der Interaktion: den Diskurs. Netzwerkaktivitäten, so kann angenommen werden, können auf diese Weise perspektivisch auch für nicht beteiligte Akteure insofern Auswirkungen haben, als diese von den im Netzwerk zwischen konkurrierenden CoP und aus verschiedenen CoP bestehenden AC ausgehandelten Bedeutungen und Zuschreibungen affiziert werden und sich zu diesen – wiederum interpretativ – verhalten müssen. Die Wahrnehmung einer Innovation eint somit kollektive Akteure zunächst (policy subsystems / Netzwerk). Innerhalb dieses Netzwerks gemeinsam affizierter Akteure differenzieren sich jedoch kontextspezifisch verschiedene Gruppierungen hinsichtlich ihrer Interpretationen, Interessen und Handlungen in Bezug auf die Innovation (Spillane/Reiser/Reimer 2002) oder den Ressourcen, über die sie zu ihrer Be- und Verarbeitung verfügen können. Dadurch entfalten ihre Aktivitäten unterschiedliche soziale und zeitliche Reichweiten – abhängig davon, wie zentral oder peripher die CoP im Netzwerk positioniert ist. Die Untersuchungsperspektive richtet sich damit auf Innovationsnetzwerke, 47 darin (inter)agierende Gruppen und deren Aneignungspraktiken. Erforderlich ist es jedoch nicht nur, ein Ereignis zu identizifieren, dass (normativ) als Innovationsereignis bzw. als Innovationsaufforderung klassifiziert werden kann. Um Aussagen bzgl. des Transfers von Innovationen treffen zu können, ist es darüber hinaus zentral, die Relationen der Akteure im Netzwerk zu beobachten, um komparativ Aussagen über ihre Rolle und ihren Einfluss auf die Prozessierung der Innovation treffen zu können (s. Kapitel 5f.): Inwiefern und wodurch gibt es Zentren und 47
Mit der Betonung der Partizipation an Netzwerken sind sowohl Akteurskonstellationen eingeschlossen, die unter der Bedingung der Kopräsenz handeln als auch solche, bei denen dies nicht der Fall ist, die also trotz ‚Abwesenheit’ hinsichtlich ihrer auf ein Thema bezogenen Praktiken miteinander über Raum und Zeit verbunden sind.
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Peripherien innerhalb der Akteurskonstellation, d.h. welche Akteure stehen im Zentrum, welche Akteure befinden sich in der Peripherie; und über welche Ressourcen verfügen sie, die sie in die Lage versetzen, sich so zu positionieren bzw. positioniert zu werden? Mittels welcher Praktiken wird reguliert, inwiefern das von kollektiven Akteuren prozessierte Wissen zentral oder peripher positioniert ist?
4.2 Praktiken der Ordnung von Wissen: Lernen und Aneignung Innovationen erfordern, wenn sie nicht oberflächliche Episoden bleiben sollen, eine soziale Verankerung. Der folgende Abschnitt behandelt den Vorgang der Aneignung einer Innovation unter der Prämisse, dass die Innovation nicht allein durch ihre Verbreitung, sondern durch ihre soziale Verankerung ‚wirksam’ wird. Soziale Verankerung, so wird weiter argumentiert, erfolgt über die Lern- bzw. Aneignungsprozesse kollektiver Akteure: Durch deren aktive und selektive Aneignung vollzieht sich der Innovationstransfer i.S. ihrer sozialen, räumlichen und zeitlichen Ausdehnung. Transfer wird in dieser Hinsicht betrachtet als das Moment, das eine Innovation zu einer vollständigen Innovation ‚raffiniert’. Dieser Vorgang übersteigt die erfahrungsbasierten kognitiven Leistungen individueller Akteure, selbst wenn er auf die aus diesen Vorgängen ‚sedimentierten Wissensvorräte’ (Luckmann) rekurriert. Hier wird in Anlehnung an das Konzept des situierten Lernens sowie soziokultureller Lerntheorien davon ausgegangen, dass dieser Vorgang von kollektiven Akteure in situierten Kontexten getragen wird (Greeno 1998; Lave 1991; Lave/Wenger 1991f.; Wenger 1998f.; i.w.S. Bandura 48 2006) : Diese Verankerungsvorgänge, so wird hier angenommen, erfolgen in den in Netzwerken mit grundsätzlich gemeinsam geteilten Überzeugungen angesiedelten advocacy coalitions, die wiederum aus einzelnen communities of practice bestehen, die sich hinsichtlich ihrer sekundären Aspekte unterscheiden. Communities of practice erlauben eine periphere, d.h. nicht zwingend auf direkter Interaktion beruhende Partizipation; dies ist möglich aufgrund von Wissen repräsentierenden (Sprach)Praktiken bzw. manifestierten Formen von Kommunikation. Die soziale, räumliche und zeitliche Ausdehnung von Innovationen ist, wie im vorigen Abschnitt deutlich wurde, ein Thema, das in den letzten zwei Jahrzehnten auch in der politikwissenschaftlichen Forschung Resonanz erfahren hat: Seit 48
Sowohl Greeno (1988) als auch Lave (1991) vertreten das Konzept des situierten Lernens; unterschiedliche Positionen haben sie aber hinsichtlich der Frage der Möglichkeit des Wissenstransfers: Greeno geht von der Möglichkeit des Wissenstransfers aus, Lave dagegen lehnt diese Option ab. Greeno nimmt an, dass Wissenstransfer möglich ist, weil Wissen an Akteure gebunden ist. Lave dagegen nimmt an, dass jede Situation neuartig ist und Wissen daher nicht transferiert, sondern stets aufs Neue geschaffen werden muss.
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der ‚lerntheoretischen Wende’ der Politikwissenschaft (Maier/Hurrelmann/Nullmeier u.a. 2003) wird auf die sozialen und kognitiven Bedingungen eingegangen, unter denen kollektive Akteure lernen und zu Wandel beitragen. ‚Lernen’ gilt hier als Sammelbegriff für den Rückgriff auf Ideen aus anderen zeitlichen, räumlichen oder sozialen Kontexten49, als Vorgang des Politiktransfers bzw. als Form der Beteiligung von Akteuren an politischen Entscheidungen. Das Hauptaugenmerk richtet sich Bandelow (2003) zufolge dabei entweder auf Lernen als Ursache für die veränderte Umsetzung bestehender Ziele oder aber auf Lernen als Form der grundlegenden Veränderung politischer Programme (ebd.: 113). Ein Desiderat stellen derzeit Ansätze zur Analyse des Lernens kollektiver Akteure dar (Maier/ Leonhardt/Hurrelmann u.a. 2003: 14). In der sich entwickelnden erziehungswissenschaftlichen Governanceforschung ist eine solche Forschungsrichtung bislang ebenfalls noch wenig berücksichtigt. 4.2.1 Lernen Im Allgemeinen wird Lernen neutral als individueller, kognitiver Vorgang beschrieben, bei dem Erfahrungen verarbeitet werden, und der zu beobachtbaren Veränderungen führt (Weidenmann 1989; Mazur 2004: 12). Diese Veränderung bezieht auf die Rezeption einer Situation bzw. auf die kognitiven Werkzeuge, mit denen eine Situation wahrgenommen wird. Wenn die Umwelt auf der Basis vorhandener Schemata wahrgenommen und verarbeitet wird, ohne dass diese Schemata hinterfragt werden, Wahrgenommenes also in vorhandene kognitive Schemata und Konzepte eingeordnet wird, ist von Assimilation die Rede. Von Akkomodation wird dann gesprochen, wenn ein erlerntes Schema in einer veränderten Umwelt nicht mehr ‚passt’ und daher selbst geändert werden muss – Wahrnehmungsmuster und Konzepte werden revidiert, es wird also neues Wissen und eine neue Ordnung 50 von Wissen generiert (Piaget 1976). Diese beiden Strategien des Lernens, Assimilation und Akkomodation, streben auf je spezifische Weise nach Integration. Es differiert die Richtung und das Ausmaß dessen, was bzw. wie integriert wird: Assimilation ist ein eher konservierender Prozess, insofern danach gestrebt wird, Unvertrautes auf der Basis vorhandener kognitiver Schemata, Konzepte, Deu49 50
Unter der Terminus des ‚borrowing’ lässt sich dieses Verständnis von Lernen auch im Kontext der Diffusionsforschung wiederfinden (Berry/Berry 2007). Diese Lernmodi werden in organisationstheoretischen Arbeiten in Verbindung gebracht mit Qualitäten des Lernens: So differenzieren Argyris und Schön (1999) drei Lernebenen: 1) single loop-Lernen, bei dem Fehler korrigiert, Ziele jedoch nicht hinterfragt werden, 2) double loopLernen, bei dem Rahmenbedingungen optimiert, Ziele jedoch nicht hinterfragt werden, 3) deutero-Lernen, bei dem das Lernen selbst gelernt wird und das mit einer Revision von Zielen und Handlungsstrategien einhergeht (Bormann 2002: 67ff.; Maier/HurrelmannNullmeier u.a. 2003a; Bandelow 2003).
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tungsmuster als etwas Vertrautes wahrzunehmen; bereits vorhandenes Wissen und Ordnungen des Wissens werden also beibehalten. Akkomodation ist dagegen ein schöpferischer Prozess, bei dem bestehende Schemata an veränderte Wahrnehmungen angepasst werden51 Diese Strategien werden nicht nur auf das policy-orientierte Lernen von kollektiven Akteuren, sondern auch auf Innovationen übertragen (Hameyer 1978: 35ff.): Während Routinen sich im Rahmen von Assimilationen stabilisieren und womöglich zur Ausbildung von Pfaden führen, entstehen aufgrund von Akkomodation Innovationen – d.h., wenn eine Situation als ‚anders’ oder ‚neu’ und relevant wahrgenommen wird. Entweder erfolgt eine Anpassung der Realitätswahrnehmung an vorhandene Ideen und Konzepte (Assimilation), oder aber es erfolgt eine Anpassung der Ideen und Konzepte an eine wahrgenommene Realität (Akkomodation).52 So kann es bspw. zu einer reflexiven Änderung der sekundären Aspekte (s. Abschnitt 4.1), also der Intentionen oder der Wahl oder Anordnung von Steuerungsinstrumenten kommen (Bandelow 2003). Kollektives Lernen wird grundsätzlich als Veränderung überindividueller Strukturen und Wissensbestände und -ordnungen bzw. -konstruktionen aufgefasst, die u.a. in veränderten Regeln, Strukturen, Normen zum Ausdruck kommen. Dies geht konform mit der Vorstellung von Innovationen, nach der sich Wandel durchaus inkrementell und im Wesentlichen nicht aufgrund revolutionärer Umbrüche oder Schocks oder allein aufgrund totalitärer evolutionärer Prinzipien abspielt. Obwohl der Lernbegriff originär in der pädagogischen Psychologie verankert und für individuelle Prozesse der kognitiven Entwicklung reserviert war, ist dessen Rezeption von Lerntheorien seit dem ‚cognitive turn’ Mitte der 1980er Jahre v.a. in der Soziologie, insbesondere der Organisationssoziologie (exemplarisch Tompkins 1995; Argyris/Schön 1998; Kissling/Näf 1998; Argyris 2004), aber auch in an51
52
In Anlehnung an eine in der Kognitionswissenschaft übliche Differenzierung kann Assimilation als eine Oberflächenstrategie, Akkomodation als eine Tiefenstrategie der Elaboration (Lind/Sandmann 2003) gelten, mit der ‚Neues’ möglich wird. Oberflächenstrategien zielen auf ein rasches, konzeptuelles Erfassen des Neuen (Gick/Holyoak 1987); Tiefenstrategien ermöglichen unter Aktivierung von Vorwissen und der Unterdrückung irrelevanter Informationen eine Integration des sinnhaft verstandenen Neuen in bestehende Wissensbestände – die sich durch diese Integration verändern, reorganisiert werden und künftige Wahrnehmungs- und Interpretationsprozessen also auf veränderte Weise anleiten. In Bezug auf das Individuum werden diese kognitiven Vorgänge auch als Lernstrategien bezeichnet. Obwohl diese Strategien im Kontext der Modellierung individueller Strategien von Experten und Laien angesiedelt sind, scheint es plausibel, diese Differenzierung auch in Hinblick auf soziale Vorgänge aktiver Aneignung auszudehnen. In diesem Fall wird zu untersuchen sein, inwiefern kollektive Akteure eine Innovationsaufforderung als Anlass zum Elaborieren nehmen. In Hinblick auf die Applikation dieser beiden Strategien für Formen der Integration wird danach zu fragen sein, welche Strategie welchen Integrationsmodus unterstützt – eher eine Sozialoder eine Systemintegration.
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grenzenden Disziplinen der Soziologie und Geschichtswissenschaft (z.B. Eder 1985; Mitterbauer/Scherke 2005), der Politikwissenschaft (Maier/Nullmaier/Pritzlaff u.a. 2003) oder der Regional- und Stadtentwicklung (Antonelli/Quéré 2002; Kissling-Näf/Knopefle 1998) vorangeschritten und hat dort nunmehr einen festen Platz eingenommen. Grundsätzlich stellt sich die Frage, wie kollektives Lernen jenseits eines genetischen Apparates überhaupt denkbar ist. Mit diesem Aspekt setzt sich Eder auseinander (1985f.), der eine eigenständige Lernfähigkeit kollektiver Akteure annimmt, die von individuellen Lernprozessen verschieden ist. Sein Konzept kollektiven Lernens kann als eine lerntheroetische Reformulierung des systemtheoretischen Prinzips der Selbstorgansiation verstanden werden. Eder (1985) betont, dass die Gesellschaft nicht wie ein Subjekt handle und daher als eine epistemisch eigenständige Entität aufzufassen ist. Für seine (positive) Antwort – kollektive Akteure sind grundsätzlich lernfähig – rekurriert er auf Piaget, der in seinem Werk die Wechselseitigkeit der Entwicklung von genetischem Apparat, Selbstregulation und Umwelt entfaltet, lehnt aber dessen Primat internalisierter sozialer Strukturen, an die Entwicklungsprozessse teleologisch orientiert seien, ab (ebd.: 21). Aber unter Verzicht auf das Primat der Anpassung und ebenso auf ein strenges Prinzip ‚blinder’ evolutionärer Variation entwickelt Eder ein Konzept soziokulturellen Lernens: demnach mobilisiert die Gesellschaft die Lernfähigkeit ihrer Mitglieder und ist selbst der Effekt von deren Lernfähigkeit (ebd.: 31). Diese Perspektive macht deutlich, dass kollektives Lernen auch nicht über Instruktionen in dem Sinne erfolgen kann, dass von anderen, die schon etwas wissen, gelernt wird (Eder 2000: 229). Insofern besteht hier eine Ähnlichkeit mit dem Konzept der legitimate peripheral participation (s. Abschnitt 4.1.3). Diese Ähnlichkeit wird unterstrichen durch die Annahme, dass kollektives Lernen in sozialen Begegnungen stattfindet, die – selbst regelhaft strukturiert – begrenzte Freiräume für kollektives Lernen schaffen (ebd.: 149). Nach Eder gibt es unter der Annahme von mit Kognition ausgestatteten sozialen Entitäten eine wechselseitige Beziehung zwischen Lernprozessen und Lernumgebungen, innere und äußere Realitäten stehen so in einem Verhältnis. Demnach wird die „Landschaft, in der gelernt wird, selbst zum Gegenstand von Lernprozessen“ (Eder 1985: 28). Er hebt hervor, dass in diesen Landschaften bzw. Kontexten Aushandlungsprozesse stattfinden; es wurde bereits erörtert, dass die Kontexte bestimmen, was dabei überhaupt zur Disposition steht (s. Abschnitt 3.1.3). Diese Aushandlungsprozesse stellt Miller als grundlegende Funktionen soziokultureller Prozesse dar – und beugt damit einer verengten Sichtweise auf ausschließlich individuelle Lernprozesse vor. Zugleich entwirft er ein gemäßigtes Prinzip von Evolution: „Nicht die Absichten einzelner Akteure setzen sich durch. Diese Absichten sind vielmehr einem internen Evolutionsprozess unterworfen. Gemeinsame Absichten stellen sich nicht aus der Aggregation der Einzelabsichten zu
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einer Gesamtabsicht her. Die Einzelabsichten haben vielmehr kollektive Effekte, die von den Individuen nicht intendiert sind. Andererseits können aber die beteiligten Akteure aus den kollektiven Folgen lernen“ (ebd.: 28). Aus dieser Perspektive gehen Lernprozesse also sozialen Veränderungen gleichsam voraus wie sie auch deren Ergebnis sind; Lernprozesse sind also nicht lediglich nachträgliche Anpassungen an Veränderungen (Akkomodation), sondern sind auch als Voranpassungen (Assimilation) an künftige Veränderungen zu verstehen. Wie Eder (und Luhmann, s. Abschnitt 3.2.1) erteilt auch Miller einem „Planungsoptimismus und Steuerungseuphorien“ (Miller 2003: 154) eine Absage. Millers Werk ist als eine theoretisch-konzeptionelle Grundlegung einer soziologischen Lerntheorie zu verstehen. Mit Eder teilt Miller ein Verständnis gemäßigter, i.S. einer strukturierten und strukturierenden – eben nicht: blinder – Evolution und stellt dieses als übergeordnetes Prinzip sozialen Wandels heraus: Er geht er davon aus, dass Lernprozesse „den sozialen Wandel zumindest phasenweise entscheidend beeinflussen können.“ (Miller 2006: 156). Planung und Evolution stehen einander also nicht gänzlich unversöhnlich gegenüber. Beide – intentionale wie nichtintentionale – Prozesse setzen sich vielmehr gegenseitig voraus (Miller 2003: 155): So initiieren auch Planungen nichtintendierte Effekte, auf die mit Lernen i.S. von Problemlösungshandeln reagiert werde. Umgekehrt könnten emergente Effekte Lern- und Planungsprozesse auch erst auslösen. Miller geht somit von der grundsätzlichen Option taktischer Irritationen aus. Möglich ist ihm dies, weil er von einer weiteren Instanz ausgeht, die auf Evolution einwirkt: Diskursen. „Diskurse ... sind eine notwendige Voraussetzung für die Emergenz des Neuen“ (Miller 2006: 9). Deutlicher als in seinen Ausführungen zum kollektiven Lernen, die er Mitte der 1980er Jahre veröffentlichte (Miller 1986), differenziert Miller zwei Dekaden später Anlass, Prozess und Träger des kollektiven Lernens: Inzwischen geht Miller davon aus, dass kollektives Lernen aufgrund von Dissens (Anlass) emergiere und in einem Diskurs (Prozess) systemisch (Träger) ausgetragen werde. Diskurse gelten ihm als der Modus, der soziale Mechanismen und Prozesse des Lernens repräsentiert: Lernen findet in Diskursen statt (Miller 2006: 8). Ebenso lernen aber auch Diskurse: Als Träger bzw. Rahmen solcher Lernprozesse kommen neben Individuen, Gruppen und sozialen Systemen auch Diskurse selbst in Betracht. Im Diskurs entscheidet sich Miller zufolge, unter welchen sozialen Bedingungen die Mechanismen ablaufen, die „Institutionen … schaffen, welche die Normalisierung des Unwahrscheinlichen ermöglichen – und das heißt: die soziokulturelle Evolution weiterlaufen lassen“ (Miller 2003: 165). Gemäß dem zugrunde liegenden nicht-linearen Wissenskonzept kann ferner angenommen werden, dass ein solcher von kollektiven Akteuren im Rahmen des Innovationstransfer vollzogener Lernvorgang nicht als wie auch immer geartete
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technische Übermittlung der Information über eine Innovation, sondern vielmehr als Vorgang der aktiven Ko-Konstruktion zu betrachten ist. Kumpulainen und Renshaw (2007) bringen dies aus der Perspektive soziokultureller Lerntheorie wie folgt auf den Punkt: „Learning is … regarded … as a contested process through which cultural resources are distributed within specific local groups of learners or more broadly throughout society“ (ebd.: 111; Salomon/Perkins 1998). Diese prozessorientierte Konzeption bezieht sich somit sowohl auf kopräsente Akteure und deren direkte Interaktion als auch auf abwesende kollektive Akteure, sie bezieht so gleichermaßen das über Lernen vermittelte Ergebnis der Sozialintegration wie das der Systemintegration ein (s. Abschnitt 3.2.3). Rogoff hebt aus einer ebenfalls prozessorientierten Perspektive die prinzipielle Unabgeschlossenheit dieses Vorgangs hervor: Dieses Lernen findet statt im Modus der aktiven Aneignung. Bei Aneignung handelt es sich um einen permanenten Prozess, einen „process of becoming rather than acquisition“ (ebd.: 142; Greeno 1998). Diese Position hebt sich somit deutlich ab von einer Lernkonzeption, die auf die bloße Übernahme von Wissen abzielt. Aus einer solchen Perspektive sind Lernen, Transfer und Innovation rar und Scheitern ein Normalfall. Die oben dargestellte Konzeption beruht vielmehr auf der Theorie des situierten Lernens und stellt Lernen als eine Angelegenheit dar, die sich auf der Basis von Partizipation abspielt; diesem Ansatz zufolge ist Wissen in den Praktiken enthalten und kann daher nur über Partizipation ‚erlernt’ werden. In einer dritten Perspektive wird Lernen als kreativer Prozess der Wissenskonstruktion betont und die Aufmerksamkeit v.a. auf die „progressive development of these practices and artifacts through mediated activities” (Paavola/Lippunen/Hakkarainen 2004: 570; Bormann 2009b) gerichtet. Aus der Perspektive soziokultureller Lerntheorien ist Lernen also ein reflexiver, aktiver und produktiver Vorgang, der von kollektiven Akteuren getragen wird. 4.2.2 Aneignung Vor dem Hintergrund soziokultureller Lerntheorien kann die aktive Konstruktion von Wissen als Prozess der Aneignung verstanden werden. ‚Aneignung’ ist ein Konzept, das der Erziehungswissenschaft in unterschiedlichen Konnotationen durchaus vertraut ist. Schon in den Anfängen der wissenschaftlichen Pädagogik, spielte das Konzept eine zentrale Rolle – etwa bei Humboldt als Funktion der schöpferischen, reflexiven Auseinandersetzung mit der Sozialwelt, aber auch bei Schleiermacher (i.S. einer produktiven, auch sprachlich verarbeiteten Auseinandersetzung mit der Welt), Herbart (i.S. des Erwerbs und der Entfaltung von Wissen, Haltungen und Tugenden), Litt (i.S. der Erzeugung eines geordneten des Selbstund Weltverhältnisses) oder Fröbel (i.S. einer handelnden Auseinandersetzung mit der Welt).
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Aufgegriffen wurde das Konzept der Aneignung zunächst in soziokulturellen Lerntheorien (Rogoff 1995; Billett 1998a, b; Greeno 1998; Shayer 2003; Daniels 2006; Kumpulainen/Renshaw 2007). Lernen wird in diesen als Vorgang der aktiven Aneignung von sozialem Wissen beschrieben, wodurch im Rekurs auf soziale und kulturelle Ressourcen neues Wissen geschaffen wird. Die Entwicklung einer auf Aneignung fokussierenden soziokulturellen Lerntheorie erfolgte insbesondere in der Auseinandersetzung mit dem Werk des russischen Psychologen Vygtosky. Vygotsky (1978f.) betont die Selbsttätigkeit des Subjekts in der aktiven Auseinandersetzung mit der Welt, durch die nicht eine Anpassung erfolge, sondern vielmehr eine Differenzierung. Vygotsky beschäftigt sich v.a. mit der kindlichen Sprachentwicklung. Er arbeitet die elementare Bedeutung des soziohistorischen Kontexts und die Gebundenheit von Wissen in Bezug auf das (individuelle) Lernen sowie die Rolle der Sprache und anderer symbolischer Systeme als Mittel heraus, die zwischen Handlungen und Denken vermitteln. Lernen wird vor diesem Hintergrund nicht als Übernahme vorhandenen Wissens, sondern als sozial vermittelter Erwerb von sprachlich repräsentierten Deutungsmustern, Konzepten, Schemata verstanden, die in den Interaktionen erfahrenen sozialen Kontexten verwendet werden. Seine zentrale These besteht darin, dass diese Entwicklungsprozesse nicht willkürlich, sondern in sog. Zonen proximaler Entwicklung (zone of proximal development, ZPD; Vygtosky 1978: 84ff.) stattfinden, d.h. in einem Spannungsfeld zwischen aktuell ausgeschöpften und potentiell möglichen Entwicklungsständen. Diese ZPD umfassen neben Akteuren auch Artefakte wie Bücher, (Denk-)Werkzeuge, Symbole und v.a. Sprache, über die eine Vermittlung zwischen sozialen und individuellen Prozessen erfolgt (John-Steiner/Mahn 1996: 198; Wertsch 1993). ZPD entstehen nach Vygotsky erst durch Lernen; Entwicklung und Lernen sind also nicht gleichzusetzen: „learning is not development“ (ebd.: 90) –, sondern Lernen ist die Voraussetzung für Entwicklung. Symbolisch markieren die ZPD die „distance between the actual developmental level as determined by independent problem solving and the level of potential development as determined through problem solving under adult guidance or in collaboration with more capable peers“ (ebd.: 86). Insofern verweist das Konzept der ZPD sowohl auf die Dynamik eines gegenwärtigen Zustands als auch auf mögliche Richtungen zukünftiger (kognitiver) Entwicklung: „The zone of proximal development defines those functions that have not yet matured but are in the process of maturation…” (ebd.). Einzelne Entwicklungszustände können nur aufgrund der Differenz zwischen den beteiligten Levels, d.h. einem aktuellen Entwicklungsstand und der Zone proximaler Entwicklung, festgestellt werden (ebd.: 87). Entwicklungsfortschritte werden erzielt über die aktive, interpretative Auseinandersetzung mit Anlässen in der äußeren Welt. Damit Entwicklungsfortschritte stattfinden, müssen solche Anlässe als mit einem Aufforderungsgehalt ausgestattet
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wahrgenommen werden. Eine solche Wahrnehmung ist der Beginn eines möglichen Aneignungsprozesses (Bereiter 1985f.). Die interpretative Aneignung des Wahrgenommenen erfolgt über die selektive und aktive Auseinandersetzung mit dem als ‚neu’ wahrgenommenen Phänomen (s. Abschnitt 2.1). Das Überschreiten einer ‚Wahrnehmungsschwelle’ ist somit eine Voraussetzung für Interpetation und Aneignung. Interpretation und Aneignung selbst sind beeinflusst durch die Kontexte, in denen sie sich abspielen, und die Ressourcen und Positionen, über die die Akteure in diesen verfügen bzw. einnehmen und mit denen sie Relevanz und Bedeutung aushandeln (s. Abschnitt 3.1, 4.3). Im Zuge der andauernden Aneignungsprozesse mittels Lernen wird Wissen also nicht als etwas Ontisch-Äußerliches internalisiert, sondern es wird vielmehr erst geschaffen (Paavola/Lipponen/Hakkarainen 2004). In der Folge dieser Wissensgenerierung kann es aufgrund von Akkomodation zu einer veränderten Situationswahrnehmung kommen. Insofern ist von einer reziproken Beeinflussung von Akteur und Kontext auszugehen: Akteure und die soziokulturellen und institutionellen Kontexte, in denen sie sich bewegen und die ihnen Wissen, Deutungsmuster, Bezeichnungen, Handlungsmöglichkeiten etc. anbieten, stehen insofern in einem Verhältnis gegenseitiger Modellierung (Rogoff 1995; Billett 1998a, b; auch Giddens 1997). Lernen ist demnach ein „contested process through which cultural resources are distributed within specific local groups of learners and more broadly throughout a society” (Kumpulainen/Renshaw 2006: 111). In der neueren empirischen Bildungsforschung spielt das Konzept der Aneignung vor allem dann eine Rolle, wenn es um die Untersuchung der Wirkungen von Interventionen geht. Sowohl im Kontext erwachsenenpädagogischer Kommunikation (Kade 1993f.; Kade/Seitter 2003f.; Seitter 2003; Hartz 2007) als auch in Zusammenhang mit Forschungen zur Medienrezeption (Bohnsack 2009) wird das Konzept der Aneignung herangezogen, um zu erklären, wieso es trotz sorgfältig geplanter Vermittlungsarbeit zu weder vorhersehbaren noch vollends steuerbaren, gewissermaßen eigensinnigen Ergebnissen des Verstehens kommt. Während Kade und Seitter das systemtheoretische Axiom der Unwahrscheinlichkeit gelingender pädagogischer Kommunikationen betonen und auf die Kontingenz der Aneignung hinweisen, integriert Bohnsack den Vorgang Aneignung in den Vorgang der Rezeption: Auf der Basis des interpretativen Paradigmas differenziert Bohnsack (2009) den Vorgang der Rezeption zweifach: in Verstehen bzw. Aneignung und Interpretieren. Entscheidend bei dieser Differenzierung ist die in der Mannheim’schen Wissenssoziologie verankerte Unterscheidung zwischen dem unmittelbaren Verstehen (konjunktives Verstehen) auf der einen Seite und der kommunikativen Verständigung auf der anderen Seite bzw. zwischen selbst erworbenem und vermitteltem Verständnis. Interpretieren ist demnach ein kognitiver Prozess, Aneignung dagegen einer, der Verstehen voraussetzt und an das in kon-
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junktiven Erfahrungsräumen geteilte Wissen gebunden ist. Allerdings führen Prozesse des Verstehens nicht zwangsläufig zu einer Aneignung und können zudem unterschiedliche Qualitäten aufweisen. Eine Aneignung bleibt Bohnsack zufolge aus, wenn das Verstehen nicht auch in einer Integration des Verstandenen in die Praktiken mündet. Findet aber eine Integration in die Praktiken statt, kann dies entweder in einer reproduktiv, d.h. in einer bejahenden oder unkritischen oder aber in einer produktiven, d.h. in einer modifizierenden und kreativen Aneignungsform geschehen (ebd.: 129ff.). Vor den bisher in diesem Abschnitt dargestellten Hintergründen wird nun festgehalten, dass kollektives Lernen als Vorgang der Wissensgenerierung und ordnung aufgefasst werden kann, die durch die interpretative Aneignung des Sozialen gekennzeichnet ist. Kollektives Lernen findet statt im Medium diskursiver Partizipation. Diskurse entwickeln sich aufgrund eines Themas und involvieren Akteure, die unter Verwendung ihres Wissens mit anderen Akteuren, deren Wissen und Interpretationen sowie damit relationierten Handlungen in eine interaktive Beziehung – direkt oder indirekt, zentral oder peripher – treten und dem Thema, von dem sie gemeinsam affiziert sind, eine neue Bedeutung verleihen. Diskursive Vorgänge sind (sprach-)praktisch vermittelt und aufgrund der Zeit- und Raumlosigkeit der mittels Praktiken transportierten Semantik grundsätzlich unabhängig von der Kopräsenz der Akteure denkbar. Lernen drückt sich aus in der Anwendung von (Sprach-)Praktiken und wirkt so gleichermaßen auf soziale Strukturen und Handlungen wie auf grundlegende Muster der Bedeutungszuschreibung zurück. Da Sprache ein Medium ist, das kontingente Deutungen ermöglicht und zulässt (s. Abschnitt 3.2), und Innovationen als Sprachspiele gelten können (s. Abschnitt 2.5), kann nun festgehalten werden, dass im Diskurs ein umfassendes Reservoir an Bedeutungsoptionen vorliegt, aus dem aber jeweils nur ein kleines Repertoir an Aktualisierungen realisiert wird; Innovationen repräsentieren damit kontingente und nur temporär gültige Wissensordnungen (zu Reservoir und Repertoir: Bernstein 1999). Der Rekurs auf das Konzept des Lernens verdeutlicht, dass und wie der wahrgenommenen Sozialwelt Sinn verliehen und sie dadurch innoviert, transformiert wird. Damit wird ein Bezug zwischen Innovation und Lernen hervorgehoben: Innovationen basieren auf Wissen, und der Prozess der Innovation setzt seinerseits Wissen voraus. Dieses Wissen wird im Zuge von Lernprozessen auf der Grundlage von Vorwissen bzw. vorhandenen Schemata und Konzepten aktiv und selektiv angeeignet und weiterentwickelt. Lernen kann somit sowohl als Aneignung durch Sinngenerierung als auch als Transformation verstanden werden. Die kognitivistische Grundorientierung im Zusammenhang mit dem oben dargestellten Akteurskonzepts wird durch eine soziokulturell fundierte Vorstellung von Lernen ergänzt: Demnach sind auch die (symbolischen) Ressourcen, die den
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kollektiven Akteuren zur Be- und Verarbeitung einer Innovation, mithin deren Transfer zur Verfügung stehen bzw. allokiert werden können, für kollektives Lernen entscheidend. Über diese Ressourcen wird in Diskursen verfügt. Im folgenden Abschnitt wird herausgearbeitet, dass Diskurse nicht nur ‚Orte’ sind, an denen partizipierend gelernt wird, sondern auch ‚Modi’, die mit darüber bestimmen, welche Akteure Zugang zu Ressourcen – etwa Informationen, Macht, andere Akteure – haben, die für deren Lern- und Aneigungsprozesse entscheidend sind.
4.3 Diskurs als Modus der Ordnung von Wissen "In the past two decades, the study of discourse has become an important theoretical perspective for those concerned with the study of learning in social settings" (Gee/Green 1998: 119)
In den vorigen Abschnitten wurde Transfer nicht nur als kritisches Element von Innovationen, sondern Innovationen auch als Wissenspassagen dargestellt, in der die von kollektiven Akteuren für legitim gehaltene Ordnung des Wissens ausgehandelt und angeeignet wird. Wird Aneignung als das kritische Moment der sozialen Verankerung von Innovationen betrachtet, ergibt sich die Frage nach dem Modus, in ddemdie Aneignung stattfindet. Insbesondere in Abschnitt 2.4.1 wurde darauf hingewiesen, dass im Rahmen dieser Arbeit der individualistische Bias der Innovationsforschung umgangen werden soll, indem hier kollektive Akteure als Träger von Aneignungsprozessen verstanden werden. Und wenngleich in Kapitel 3 ausgeführt wurde, inwiefern soziale Systeme, verstanden als kollektive Akteure, über eine Gedächtnisfunktion verfügen, können individuelle Lern- bzw. Aneignungsprozesse nicht bruchlos auf kollektive Akteure übertragen werden. In den beiden vorangegangenen Abschnitten wurde in Hinblick auf eine Innovationsanalyse diskutiert, wie kollektive Akteure und deren Lernprozesse konzipiert werden können. Im Rekurs auf soziokulturelle Lerntheorien wurde deutlich, dass das Lernen kollektiver Akteure im Modus des Diskurses erfolgt. Dadurch kann die interpretative Schaffung und Anwendung von Wissen als ein aktiver und selektiver Aneignungsvorgang betrachtet werden, der ebenso durch ‚nahe’ soziale Interaktionen wie ‚ferne’, situierte soziale und kulturelle Kontexte und Ressourcen beeinflusst ist. Akteur und System stehen i.S. eines situierten soziokulturellen Kontextes in Hinblick auf Handlung, Lernen und Denken in einem dynamischen Wechselwirkungsverhältnis.
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Prozesse der Aneignung finden damit in einem Zwischenraum der Veränderung statt: sie stehen vermittelnd zwischen individuellen Akteuren und dem sozialen System, zwischen Handlung und Strukturen. Gefüllt wird dieser Zwischenraum mit Diskursen. Diskurse gelten hier zunächst als Modus, durch den Akteurskonstellationen aufgrund eines gemeinsam für relevant erachteten Phänomens miteinander in Beziehung treten und in Bezug auf dieses gemeinsam Verbindende auf der Basis unterschiedlicher Rationalitäten legitime Bedeutungen und Umgangsweisen aushandeln. 4.3.1 Was ist ein Diskurs53 Als theoretische und analytische Gegenstände haben Diskurse inzwischen eine lange sozialwissenschaftliche Tradition. Insofern ist es nicht verwunderlich, dass auch der Diskursbegriff unterschiedlich konnotiert ist und seine derzeitige Attraktivität gerade aufgrund seiner „schillernden Semantik“ (Bublitz 2003: 9) erhält. Die Vielfalt der Diskursbegriffe kann zunächst in zwei Kategorien dargestellt werden. Ihr wesentlicher Unterschied besteht darin, ob Diskurse auf der Grundlage der Anwesenheit oder aber auf der Grundlage der Abwesenheit von Akteuren konzipiert werden. In diesem Sinne können folgende zwei, heute üblichen Bedeutungsvarianten differenziert werden: So gilt der Diskurs einmal als konkretes Sprechereignis, Gespräch oder eine Rede unter Anwesenden und einmal als wissenschaftlich rekonstruierte, „inhaltlich-thematische bestimmte, institutionalisierte Form der Textproduktion“ (Keller 1997: 310) zwischen physisch nicht anwesenden Teilnehmern, über den Wissen produziert und transportiert wird und der den Effekt der kollektiven Konstituierung von Wirklichkeitsvorstellungen hat (auch Keller/Hirseland/Schneider u.a. 2006: 10; Jäger 2004: 23). Unter Einbeziehung beider Varianten können Diskurse ganz allgemein als kommunikative Prozesse verstanden werden. Doch während die erste Variante vornehmlich sprach- und kommunikationstheoretisch verwurzelt ist und unmittelbare Kommunikationsprozesse bzw. Argumentationen analysieren will, betont die zweite Variante mehr die sozialen Voraussetzungen und Funktion von Diskursen als Ordnung und Geordnetheit von sozialem Wissen: Dieser Variante zufolge dienen Diskurse allgemein ausgedrückt der „Aufrechterhaltung und Veränderung gesellschaftlich relevanter Themen und Formen“ (Knoblauch 2006: 209). In Hinblick auf die gesellschaftliche Bedeutung kann die Definition von Diskursen wie folgt ergänzt werden: „Diskurse (sind, d.Verf.) themenbezogene, disziplin-, bereichs- oder ebenenspezifische Arrangements von (Be)Deutungen..., in denen je spezifische Handlungsvoraussetzungen
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Da in Kapitel 5 ausführlicher auf diskurstheoretische Grundlegungen eingegangen wird, soll an dieser Stelle zur Synthese der beiden vorigen Abschnitte nur kurz in das Diskursverständnis eingeführt werden.
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und -folgen (Institutionen, Praktiken) impliziert sind. Sie sind Ausdruck und Konstitutionsbedingungen des Sozialen zugleich“ (Keller 1997: 317). Solche Ansätze, die Diskurse rekursiv als strukturierte und strukturierende Vorgänge mit durchaus irrationalen Einschlägen beschreiben, die ereignishaft und unkontrolliert verlaufen können und in denen nicht alles rational verhandelbar ist, beziehen sich in ihren theoretischen und methodologischen Ausführungen i.d.R. auf das Werk Foucaults (1978f.). Diskurse sind nach Foucault „als Praktiken zu behandeln, die systematisch die Gegenstände bilden, von denen sie sprechen“ (Foucault 1981: 74). Nicht subjektive Akteure nehmen Einfluss auf den Diskurs, sondern Diskurse bestimmen umgekehrt, wie sich Akteure zu den Gegenständen positionieren können, was aber von jenen nicht objektiv und frei wählbar ist, weil der Diskurs machtvoll Ein- und Ausschlussmöglichkeiten bereithält: „Der Diskurs ist immer nur ein Spiel“ (2003: 32). Das Habermas’sche Verständnis von Diskursen als Form herrschaftsfreier Kommunikation zwischen subjektiven Akteuren (Habermas 1987) findet in dieser Variante also keinen Platz. Denn bei Foucault ‚verschwindet’ das Subjekt hinter den Modalitäten ihrer Aussagemöglichkeiten, den historischen Bedingungen des legitim Sagbaren bzw. Nicht-Sagbaren. Dieser Vorstellung folgend sind Diskurse etwas anderes als der Austausch von Argumenten, über die eine vernünftige Entscheidung herbeigeführt wird: Sie sind Ensembles, in denen Wissen, Sprache und Macht mittels Praktiken miteinander verschränkt sind (Bublitz 2003: 55; Keller 2004: 64; Truschkat 2008). Diese Komplexe entspinnen sich aufgrund der Aktualität und Potentialität von Themen, zu denen unterschiedliche Aussagen anzutreffen sind (Link 1999: 152f.); diese Themen haben gewissermaßen einen Ereignischarakter, der mittels diskursiver, d.h. Formen der Erzeugung von Aussagen, und ebenso mittels nicht-diskursiver Praktiken, d.h. mittels Handlungen, Gesten, des Einsatzes von Artefakten, bearbeitet und bedeutsam gemacht wird. Der Diskurs bringt darüber soziale Tatsachen hervor, weil er bedeutungsvolle Verbindungen von Praktiken mit sozialem Wissen knüpft. Als regelhafte Praktiken, mit denen diese Tatsachen erzeugt werden, generieren Diskurse gleichzeitig selbst „symbolische 'Überschüsse', die Veränderungs- und Transformationsprozesse sozialer Wirklichkeit in Gang setzen können“ (Bublitz 2006: 233, 2001: 227). In einer solchen Perspektive bestehen Diskurse aus Praktiken: Diskurse materialisieren sich in Praktiken. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive jedoch haben Diskurse und Praktiken unterschiedliche und nur teilweise miteinander harmonierende theoretische Wurzeln. Zudem wird die Frage nach den kleinsten Einheiten des Sozialen unterschiedlich beantwortet: einmal, wie Bourdieu, mit der Antwort ‚Praktiken’ und einmal, wie Foucault, mit ‚Diskursen’ (Reckwitz 2008: 188). Geht es in der praxeologischen Perspektive um die Rekonstruktion impliziten Sinns, der über seine Materialisierungsformen zu erschließen ist, geht es in der
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diskurstheoretischen Perspektive um die machtvoll realisierten Formen der Signifikation (ebd.: 191). Und während in der Optik praxeologischer Ansätze eine Basis und ein Überbau existieren, ist diese analytische Trennung aus der Perspektive diskurstheoretischer Ansätze haltlos: das Soziale ist schon in den Praktiken enthalten. Diese unterschiedlichen theoretischen Fundamente schlagen sich nicht zuletzt in der jeweiligen Methodologie nieder: zwar sind beide auf (zumeist textliche) Objektivationen54 der Praktiken bzw. Diskurse angewiesen, da beide kein empirisch unmittelbar greifbares Pendant haben; beide Analyseformen müssen daher notorisch ‚zu spät’ kommen. Der entscheidende Unterschied besteht im Material: den Diskurstheoretikern stellt sich angesichts des zumeist vorliegenden historischen Materials das Problem der Datenselektion, den Praxeologen das der Datenerhebung (ebd.: 195ff.). Diese strikte Gegenüberstellung von Diskursen auf der einen Seite und Praktiken auf der anderen Seite löst sich mit dem o.g. Verständnis von Diskursen als Ensembles von Praktiken, mittels derer für einen Gegenstandsbereich Bedeutungen (re)produziert und Wissen geschaffen und geordnet wird, jedoch auf: Die wissenssoziologische Auslegung des Diskursbegriffs nach Keller ist, so Knoblauch (2008), eine Brücke zwischen den theoretischen Ansätzen und ihren Hervorhebungen entweder von Diskursäußerungen oder von eigenlogischen Praktiken, die auf einen Diskurs schließen lassen (ebd.: 221). Zurück zu den eingangs genannten Kategorien: Die erste der beiden o.g. Bedeutungsvarianten von Diskursen (Diskurs als interaktives Sprechereignis bzw. Gespräch unter kopräsenten Akteuren) bezieht sich auf Sozialintegration, die zweite (institutionalisierte Form der Textproduktion) auf Systemintegration. In Hinblick auf die hier zugrunde liegende Fragestellung sind somit beide Bedeutungsvarianten relevant – der These zufolge geben die Praktiken der Sozialintegration Hinweise auf die perspektivische Systemintegration (s. Abschnitt 1.3, 3.2.3). Ganz in diesem Sinne kann Bublitz’ (2003) Beschreibung von Gesellschaft als ‚Raum der Streuung’ verstanden werden, in denen Diskurse wirken: „Diskurse sind konstitutiv für das Soziale und die Gesellschaft“ (ebd.: 81). Damit wird deutlich, dass Diskurse kein direktes oder objektives empirisches Pendant haben, sondern in „mehr oder weniger anonymisierten Kommunikationsprozessen“ (Keller 2004: 67) flottieren. Erst durch den analytischen Blick manifestieren sich Diskurse, sie sind also wissenschaftliche Konstrukte (Keller 1997: 327; Foucault 2003). Diskurse werden hier zum einen verstanden als Ensembles von Akteuren, von deren Praktiken, Ausdrucksformen bzw. Darstellungsweisen und genutzten Medien etc. Sie können so einerseits als ‚Orte’ bezeichnet werden, an denen – prak54
Objektivationen sind nach Schütz (1974) „konstituierte Handlungsgegenständlichkeiten (vollzogene Bewegungen, Gesten oder Handlungsresultate) oder Artefakte (Zeichen im engeren Sinne oder produzierte Gegenstände der Außenwelt, Geräte, Denkmäler usw.)“ (ebd.: 186).
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tisch vermittelt – kollektives Lernen stattfindet, insofern Bedeutung generiert und Wissen geschaffen wird. Ganz in diesem Sinne umschreibt Jäger (2004) Diskurse als ‚Flüsse von Wissen durch Raum und Zeit’ (ebd.: 23). Insofern können Diskurse auch als Motor des Wissenstransfers aufgefasst werden (Stenschke 2004). Da dieser regelhaft und praktisch basiert verläuft, kann der Diskurs andererseits als Modus beschrieben werden: Die wissensbasierte Konstruktion einer sozialen Wirklichkeit wird über diskursive und nicht-diskursive Praktiken reguliert (Keller/Hirseland/Schneider u.a. 2005). 4.3.2 Wer und was ‚macht’ den Diskurs Diskurse sind permanent und auf je unterschiedliche Art und Weise vorhanden: Sie sind als Aggregrate einzelner Äußerungen, d.h. Veröffentlichungen, Reden, Artefakten etc. zu Aussagen zu verstehen, denen mittels diskursiver und nichtdiskursiver Praktiken Geltung verschafft wird. Im Rekurs auf Foucaults diskurstheoretisches Werk gelten Diskurse als „Komplexe von Aussageereignissen und darin eingelassenen Praktiken, die über einen rekonstruierbaren Strukturzusammenhang miteinander verbunden sind und spezifische Wissensordnungen der Realität prozessieren“ (Keller 2008: 235; Bublitz 2003). So konzipiert, werden Diskurse nicht von einzelnen Akteuren und ihrem individuellen Wissen betrieben oder ausgehandelt, sondern von den im sozialen Wissen enthaltenen Deutungsmustern angetrieben (Link 1999, 2005). Inzwischen ist deutlich geworden, dass i.S. der in Abschnitt 4.3.1 skizzierten zweiten Bedeutungsvariante von Diskursen nicht individuelle Akteure rein willentlich einen Diskurs bestreiten. Zum einen sind ebenso Artefakte Elemente von Diskursen, z.B. die Materialisierungsformen selbst und die Infrastruktur, die in einem Diskurs zur Verfügung steht oder nutzbar gemacht wird. Zum anderen konstituieren sich Diskurse über Praktiken beteiligter (kollektiver) Akteure: Akteure beziehen sich in ihren Praktiken auf einen (oder mehrere) Diskurse und nehmen dadurch spezifische Positionen ein. Aufgrund der in unterschiedlichem Maße verfügbaren Ressourcen und dem, was von einer Position aus sagbar oder nicht-sagbar ist, entstehen innerhalb von Diskursgemeinschaften einzelne Diskurskoalitionen (Schwab-Trapp 2006; Viehöver 2006).55 Weder beruhen Diskurse also auf den Interventionen oder Intentionen einzelner wirkmächtiger subjektiver Akteure, noch 55
Solche von Dynamik gekennzeichneten soziale Entitäten als „composite actors“ (Altrichter/Heinrich 2007: 57) zu bezeichnen, betont zu sehr die funktionalen, adhäsiven Kräfte gemeinsamer Zielorientierung und verdeckt demgegenüber, dass hinsichtlich der Ziele oder wie sie erreicht werden sollen, durchaus um Anerkennung konkurrierende Vorstellungen existieren können. Schimank (2000) betont dagegen, dass jeder überindividuelle Akteur ein composite actor ist: „Kollektive Akteure kommen … ohne bindende Vereinbarungen aus. Korporative Akteure hingegen definieren sich genau dadurch, dass sie mittels bindender Vereinbarungen intentional produziert und reproduziert werden“ (ebd.: 306).
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gehen sie aus dem sozial Unbewussten einfach ‚hervor’. Sie werden vielmehr von diskursiven Gemeinschaften erzeugt und getragen (Knoblauch 2006: 217). Solche diskursiven Gemeinschaften bestehen aus konkurrierenden Koalitionen von Diskursakteuren (Keller 2008: 249; Viehöver 2005).56 Sie sind vollziehen eine gemeinsame Praxis der Bedeutungszuschreibung und Wissensgenerierung und konventionalisieren Deutungen durch deren Integration in Wissensordnungen. Diskurskoalitionen können als diskurstheoretisches und -analytisches Pendant zu den advocacy coalitions bzw. communities of practice verstanden werden (s. Abschnitt 4.1). Diskurskoalitionen dominieren den symbolischen Raum um ein Problem und institutionalisieren legitime soziale Praktiken der Problembearbeitung. Sie sind in der Lage, gegen andere Darstellungen gemeinsame Deutungen von Thema, Situation oder Problem, dessen Bedingungen sowie Strategien des Umgangs nicht nur zu erzeugen, sondern auch durchzusetzen (Viehöver 2006: 189; Hajer 2006; Keller 2008: 249). Eine Diskurskoalition ist also zu verstehen als eine „Gruppe von Akteuren, deren Aussagen demselben Diskurs zugerechnet werden können“ (Keller 2008: 235). Diese Diskurskoalitionen existieren unter der Bedingung der teilweisen Kopräsenz ihrer Akteure, d.h. es gibt einen Kern immer wieder zusammentreffender Akteure, während andere fluktuieren. Sie sind die sozialen Einheiten des Diskurses, in denen kollektive Erfahrungen im Umgang mit der Innovationsaufforderung gemacht werden. Sie sind die sozialen Entitäten der Artikulation und Objektivation von Erfahrungen und Wissen. Verbunden sind diese Entitäten durch einen Diskurs um ein ‚Gemeinsames’, in dem heterogene Bedeutungen flottieren, in dem über die dabei angewendeten Praktiken Wissen transportiert und in dem praktisch um deren Geltung gerungen wird. Doch wie werden diese Diskursgemeinschaften bei aller Heterogenität des Wissens, der Bedeutungen und der einsetzbaren Praktiken zusammengehalten? Hierzu kann auf die bereits referierte Ortmann’sche Figur der Zonen tolerierter Differenz verwiesen werden (s. Abschnitt 3.1.3): Das vom Gewohnten Abweichende, das in Momenten der Desintegration oder eben auch Innovation besteht, ist ein immanentes Merkmal der diskursiv konstruierten sozialen Wirklichkeit: Abweichungen von Regeln sind normal, und in gewissem Maße werden sie sogar stillschweigend vorausgesetzt. Unter Regeln sind nicht nur formale, formalisierte, sondern auch praktisch etablierte zu verstehen, die sich im alltäglichen Miteinander zeigen (Ortmann 2003a: 254). Da Praktiken nicht als vollkommen rational, intentional oder reflektiert angesehen werden können, birgt jede Praktik auch das Potential der Regelabweichung in sich. Doch keinesfalls folgen Akteure ausschließlich ihren eigenen 56
Schwab-Trapp (2006) versteht unter Diskursgemeinschaften das Ensemble mehrerer konfligierender Diskurse. Statt auf Akteure stützt er sich mit seiner Definition der Diskursgemeinschaft mehr auf die sozialen Prozesse, die sie hervorbringen (ebd.: 270).
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Interessen, sondern sie sind an den Abweichungen anderer sowie an Institutionen, also den geltenden Ordnungsregeln des Sozialen, ausgerichtet. Abweichungen von solchen formalen wie praktischen Regeln werden stillschweigend als funktional anerkannt, sofern sie sich in den Zonen tolerierter Differenz bewegen: Die „Inklusion des Chaos in das Reich der Ordnung stabilisiert die Ordnung“ (ebd.: 189), trägt also zu deren Selbsterhalt bei. Nicht ausschließlich die treue Befolgung einmal geschaffener Regeln konstituiert demnach ein Kollektiv, sondern auch die Schaffung von Regeln, die auf unterschiedliche Sichtweisen entstehen, und nicht Abweichung und Regelverstoß, sondern Toleranz von Varietät, Differenz in Hinblick auf Relevanzzuschreibung, Selektionen, alternative Interpretationen sind konstitutierende Momente von Akteurskonstellationen. Der Verstoß gegen Regeln hat dann gerade nicht Exklusion zur Folge, die inkludiert werden müsste, damit sie legitim ist. Eine Exklusion oder Inklusion hat Legitimität zur Voraussetzung und ist ihre Folge (ebd.: 256). Somit stellt sich die Frage, wie Legitimität, d.h. eine Akzeptanz für Regeln bzw. Regelabweichung organisiert wird, die konstitutiv für Akteurskonstellationen wirkt? Eine Antwort kann lauten: über Diskurse. Die Hervorbringung ebenso wie die Abweichung von Regeln können als konstitutive Elemente von Diskursen betrachtet werden: Diskurse entstehen aufgrund von Praktiken, diese folgen Regeln. Werden diese Regeln nicht befolgt, kommt es zu Abweichungen, zu diskursiven Ereignissen – auf die wiederum regelhaft ‚geantwortet’ wird. Da auch die Regeln diskursiv ausgehandelt werden, hat insofern auch jedes Ereignis seine Wurzeln in Diskursen (Link 1999; Jäger 2006). Diskurse integrieren insofern beides, die praktische Regelerzeugung wie die praktisch in regulierten, tolerierten Grenzen aufgeführte Regelabweichung: Der Diskurs ‚bestimmt’, was als Abweichung gilt. Rekonstruierbar wird diese über die dazu aufgeführten Praktiken der Wissensordnung und Bedeutungszuschreibung. 4.3.3 Wo ist der Diskurs Wie bereits im vorigen Abschnitt angesprochen, spielen sich Diskurse in unterschiedlich dimensionierten Öffentlichkeiten ab – als Spezial- oder als Interdiskurse. Spezialdiskurse verlaufen in wissenschaftlichen communities auf der Basis klarer Regeln, die z.B. die Zugehörigkeit zur communitiy und legitime Formen von Äußerungen und Aussagen regulieren. Einmal generiert, ist das in Spezialdiskursen zirkulierende Wissen aktuellen Gegenwartsdiagnosen zufolge allerdings nicht mehr ausschließlich und exklusiv an diese Spezialdiskurse gebunden, sondern wird in Interdiskursen aufgegriffen. Interdiskurse – alle nicht-wissenschaftlichen Diskurse – sind die alltäglichen Diskurse, in die wissenschaftliches Wissen einfließt. Sie sind nicht nur dadurch gekennzeichnet, dass sie mehrfach adressiert sind, sondern auch dadurch, dass sie mehrdeutig, mehrfach konnotiert sind (Jäger 2004,
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2006: 98; Link 2006; Link 1999). Darüber tragen sie dazu bei, dass Wissen popularisiert, ‚normalisiert’ (Link) wird und Innovationen ‚ver-alltäglicht’ (Blättel-Mink 2006: 77ff.) werden. Diese Mehrdeutigkeit zu reduzieren ist grundsätzlich Anlass und Ziel von Diskursen. Dazu werden in beiden Diskursformen Auseinandersetzungen oder Kämpfe – hier neutraler als ‚Aushandlungsprozesse’ bezeichnet – ausgetragen, die in einer Arena strukturierender und (vor)strukturierter diskursiver Felder stattfindet. Innerhalb dieser Felder werden durch Verwendung spezifischer Logiken bzw. Spielregeln, diskursive und nicht-diskursive Praktiken „Konsens und Dissens produziert sowie Koalitionen und politische Lager gebildet“ (Schwab-Trapp 2006: 271; Wrana/Langer 2007: [7]). Aufgrund dieser Aushandlungen, deren normativ angenommene Existenz bereits ein Spannungsverhältnis zwischen den Akteuren unterstellt, können explizit oder implizit ausgetragen werden und müssen keineswegs immer zu einer harmonischen Einigung führen (Nadai/Maeder 2008: [12]). Ausgehandelt wird der Zugang zum Diskurs und mit diesem das symbolische Gewicht, das die diskursiven Praktiken der einzelnen Diskursakteure bzw. koalitionen in der Diskursgemeinschaft einnehmen. Resultat solcher Aushandlungen sind nicht zwingend feste Grenzen, Institutionalisierungen oder gar Organisationen. Resultate sind stattdessen diskursive Regeln und Strategien (Schwab-Trapp 2006: 275f.), deren flexible Anwendung es erlaubt, dass diskursive Beiträge auch bei ‚anderen’ Diskursakteuren bzw. –koalitionen im Feld Resonanz finden, um dort im Sinne der Systemintegration weitere sozialintegrative Prozesse anzustoßen. Diskursive Felder können als ‚Ort’ und die nächstgrößere Einheit verstanden werden, die die Gemeinschaft der Diskurskoalitionen zusammenhält. Sie repräsentieren die diskursiv vertretenen Perspektiven auf ein Thema, das die Diskurskoalitionen auf unterschiedliche, auch konkurrierende Weise bearbeiten und dabei aufgrund unterschiedlicher Positionen und Dispositionen in unterschiedlichem Maße dazu in der Lage sind, einen Unterschied herzustellen (Giddens 1997: 65). Mit diesem Hinweis auf diskursiv repräsentierte Asymmetrien und Machtverhältnisse wird noch einmal deutlich, dass Diskurse nicht diskursethisch im Sinne der Habermas’schen Theorie kommunikativen Handelns aufgefasst werden und also nicht die klar verortbare und von klar adressierbaren Akteuren ausgetragene Debatte über ein Problem (Habermas) im Zentrum steht, sondern dass Diskurse vielmehr als „geregelte Redeweise mit Machteffekt in einem beschränkten Sagbarkeitsraum“ (Link 2006: 407; Link 1999) gelten, in den sich unterschiedliche Akteure einblenden können und – je nach analytischer Perspektive und Fragestellung – als relevant berücksichtigt werden. Dieses diskursive Feld ist zu verstehen als eine „Arena, in der verschiedene Diskurse um die Konstitution bzw. Definition eines Phänomens wetteifern“ (Keller 2008: 234). D.h., Diskurse spielen sich in der Öffentlichkeit ab, sind aber nicht
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prinzipiell allen Akteuren zugänglich, so dass es zu einer Teilung in Arena (Diskurs) und Publikum kommt (Stenschke 2004). Die Lokalisierung bzw. soziale Spannbreite der Beteiligung an einem Diskurs gibt auch über die Ressourcen Auskunft, auf die der Diskurs zurückgreift: werden diskursive Aussagen über Massenmedien verbreitet oder über Gesetzestexte, finden Demonstrationen oder Fachkongresse statt etc.? Spielen sich Diskurse ‚vor den Augen’ und unter potenzieller Teilhabe der Öffentlichkeit ab, handelt es sich um mehrfach adressierende Interdiskurse; werden sie in Teilöffentlichkeiten ausgetragen, handelt es sich um Spezialdiskurse (z.B. Wissenschaft; Jäger 2006: 98; Stenschke 2004). Interdiskurse treffen auf eine weitgehend unstrukturierte, vorwiegend rezeptiv tätige Öffentlichkeit mit geringen eigenen Diskursanteilen. Aufgrund ihrer semantischen Offenheit, d.h. ihrer grundsätzlichen Mehrdeutigkeit haben sie nach Waldschmidt u.a. das Potential, in den Alltag zu ‚diffundieren’, sich dort zu normalisieren und normalisierend zu wirken (Waldschmidt/Klein/Korte/Dalman-Eken 2007: [16]). Im Rekurs auf die weiter oben genannte zweite Bedeutungsvariante des Diskursbegriffs lässt sich hier festhalten, dass Diskurse – verstanden als sozial wirkmächtige Artefakte – sich identifizieren lassen aufgrund eines Themas bzw. als zu einem Thema zugehörig erkannte Äußerungen und Praktiken. ‚Im’ Diskurs befinden sich diejenigen Akteure, diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken, Strukturen, die einen Bezug zum Diskursgegenstand und mit diesem verbundenen Ereignisse haben; ‚außerhalb’ befindet sich das Publikum, den ein Diskurs adressiert (Keller 2004: 64). Dieser Zuschnitt eines Innen und eines Außen bezieht sich auf die Teilhabe am Diskurs. Foucault (2003) bestimmt drei Praktiken, mittels derer ein Diskurs geordnet wird. Dazu gehören i) die inneren Diskursbeschränkungen, die auf Kontrollprozeduren wie z.B. Kommentaren oder spezifischen Regeln der Disziplin beruhen und mittels deren wiederholter Anwendung diskursiv(e) ‚Wahrheiten’ produziert werden, ii) Verknappung, d.h. Praktiken, mittels derer der Zugang zum Diskurs reguliert – also der Zugang zu Arena oder Publikum vorstruktriert – wird, z.B. mittels formaler Auflagen wie Titeln, die zur Teilhabe an Spezialdiskursen berechtigen, iii) Ausschließungsprozesse, mittels derer Aussagen tabuisiert und zum Bereich des Nicht-Sagbaren zugeordnet werden (ebd.: 38). Diese Ein- bzw. Ausschlüsse finden jedoch im Medium des Diskurses statt, stellen also i.e.S. keine Grenzen des Diskurses selbst, sondern Grenzen der Teilhabe am Diskurs dar. Weil Diskurse spezifische Praktiken sind und diese Praktiken immer schon das Soziale interiorisieren und weil Diskurse dualistisch als gleichsam strukturiert und strukturierend, also als Praktiken und Strukturen miteinander verschränkend gelten, können keine Grenzen, kann kein Innen und kein Außen i.S. funktionalistischer, systemtheoretischer Argumentationen aufgezeigt werden.
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Vielmehr entspricht das, was „’außen’ wirklich ist, … dem, was ‚innen’ wirklich ist“ (Keller 2008: 45; ähnlich Bublitz 2003: 95). 4.3.4 Was macht und wie wirkt Diskurs Wenngleich Diskurse stets thematische oder inhaltliche Foki haben und die Auseinandersetzung darüber spezifische soziale Funktionen erfüllt, sind sie doch über mehr Kriterien als bloß über Thema und Funktion zu erschließen: Aus wissenssoziologischem Blickwinkel werden Diskurse verstanden als Ergebnisse und Medien der sozialen Produktion von Wissen und Bedeutungsensembles, die durch differenzerzeugende diskursive und nicht-diskursive Praktiken sozialer Akteure prozessiert und distribuiert werden. Sie sind gerade keine bloße Ansammlung von Gesprächsbeiträgen (Äußerungen), Bildern und insbesondere Texten. Vielmehr sind sie ein System sowohl von Ereignissen als auch regelhaft aufeinander bezogenen Aussagen, die nach bestimmten, analytisch zu rekonstruierenden Regeln der Praxis produziert werden und auf sich selbst zurückwirken. Diskurse repräsentieren soziale Wirklichkeiten und stellen diese gleichsam – über die Grenzen funktional differenzierter Systeme hinweg – her. Diskurse repräsentieren nicht nur, sondern haben auch eine Konstruktionsfunktion, sie sind zugleich Träger und Repräsentanten als auch Medium sozialen Wandels (Keller/Hirseland/Schneider u.a. 2005; Fairclough 1994). In Anlehnung an Brauner (2006) können Diskurse als transaktive Wissenssysteme betrachtet werden (ähnlich Wegner 1987). Solche transaktiven Wissenssysteme bestehen Brauner zufolge aus individuellem und sozial geteiltem Wissen und haben die Funktion der Steuerung und Offenbarung von Wissen sowie die Aufgabe, den Zugriff auf Wissen zu regulieren. Wenngleich Brauner sich in ihren Ausführungen auf reale Kommunikationsprozesse kopräsenter individueller Akteure bezieht, kann diese Beschreibung grundsätzlich auch auf Diskurse übertragen werden: Individuelle wie kollektive Akteure verfügen über ihre (gleich ob zentrale oder periphere) Teilnahme am Diskurs über Wissen. Die „kognitive Interdependenz in sozialen Systemen“ (ebd.: 100), die Brauner für die transaktiven Wissenssysteme herausstellt und die über kommunikative Prozesse konstituiert wird, trifft ebenso für Diskurse zu. Diese sind zudem transformational, insofern mittels diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken soziale Tatsachen i.S. von Bedeutungen geschaffen werden, die strukturiert sind und strukturierend wirken (s. Abschnitt 5.1). Diskurse gelten hier in Hinblick auf ihr praktisches Fundament gleichsam als Modi der praktisch vermittelten sozialen Ausdehnung eines diskursiv ver- bzw. ausgehandelten Phänomens in Zeit und Raum, d.h. Diskurse wirken zum einen systemintegrativ, zum anderen – im Rekurs auf die in Abschnitt 4.3.1 eingeführte erste Bedeutungsvariante – sozialintegrativ. Diese Integrationsleistung wird begleitet von Differenzierungsleistungen, die aus den verschiedenen Praktiken der Aus-
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handlung von Bedeutung und Wissen resultieren. Diskurse sind als ein relationales Netz von Aussagen und Praktiken zu verstehen. Ebenso wenig wie das in ihnen zirkulierende Wissen sind Diskurse vollkommen abhängig oder beeinflussbar von einzelnen Akteuren; insofern kann Wissen hier als kollektives Wissen verstanden werden, auf das Akteure aufgrund unterschiedlicher Interessen zugreifen und es mittels unterschiedlicher Praktiken im diskursiven Spiel der Aushandlung von Bedeutungen anwenden, es durch ihre Anwendung sowohl reproduzieren als auch variieren und dadurch vermittelt wieder in den Diskurs einspeisen, der sich dadurch stabilisiert. So wird deutlich, dass zwischen Diskurs – als Modus – und dem Sozialen ein dialektisches Verhältnis besteht (Angermüller 2001). Diskurse sind nicht nur eine „gesellschaftliche und Gesellschaft bewegende Macht“ (Link 2004: 23), sondern über die in den Praktiken eingelassenen Bedeutungen gleichsam selbst gesellschaftlich mitgeprägt: als „themenbezogene, disziplin-, bereichs- oder ebenenspezifische Arrangements von (Be)Deutungen“ sind in Diskurse schon „je spezifische Handlungsvoraussetzungen und -folgen (Institutionen, Praktiken) impliziert… Sie sind Ausdruck und Konstitutionsbedingungen des Sozialen zugleich“ (Keller 1997: 317). Nach dem bisher Gesagten kann festgehalten werden, dass Diskurse als soziale konstituierte und sozial wirkende Artefakte aufgefasst werden können: Diskurse sind Modi der sozialen Ausdehnung eines Phänomens in Zeit und Raum. Keller, Hirseland, Schneider und Viehöver (2006) drücken dies in klarer Anlehnung an Berger und Luckmanns (1995) Konzept der gesellschaftlichen Konstruktion von Wirklichkeit wie folgt aus: Diskurse werden von ihnen begriffen als „Grundlage einer Perspektive, aus der Kommunikationen sowie die Entstehung, Zirkulation und Distribution von Wissen als kontingente Effekte ‚überindividueller’, sozial strukturierter Praktiken“ (Keller/Hirseland/Schneider u.a. 2006: 8) beobeachtet werden können. Die diskursive Konstruktion von Wirklichkeit vollzieht sich über diskursive Praktiken, d.h. Praktiken wie Verfahren der Wissenssammlung, verarbeitung durch legitimierte Sprecher und Institutionen. Diskurse und ihre jeweiligen Praktiken bilden eine diskursive Formation, durch die sie sich von anderen Diskursen unterscheiden. Diskurse sind eine spezifische Praxis der Wissensund Bedeutungsordnung. Diese Praktiken können funktional beschrieben werden als Aushandlungsprozesse: Strauss (1978 Negotiations), der den Terminus der sozialen Ordnung in einem weiten Sinn verwendet, nimmt implizit eine diskurstheoretische Haltung ein, wenn er davon ausgeht, dass sich soziale Ordnung über Prozesse der Aushandlung von Sinn entwickelt, die ihrerseits unter spezifischen soziohistorischen Gegebenheiten ablaufen. Doch gerade wenn diese Aushandlungen als elementare Bestandteile sozialer Ordnung betrachtet werden, sollten sie, so Strauss (ebd. 12.f), nicht einfach vorausgesetzt werden, sondern verdienen eine eingehende Analyse in Hinblick auf die ihr innewohnende Dynamik. Übereinkünf-
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te, die aufgrund von Aushandlungen erzielt wurden, können keineswegs als zeitlich überdauernd gelten. Mit ihren auch unerwünschten Konsequenzen und neu erzeugten Kontingenzen wirken sie differenzerzeugend – und werden als Zwischenprodukte unabgeschlossener sozialer Ordnungsbildung immer wieder zum Gegenstand neuer Aushandlungen (115). Aus dieser Perspektive münden Ergebnisse von Aushandlungen also nicht in Strukturen, die eine deterministische Wirkung entfalten, sondern können als strukturgebende Rahmung der diskursiven Hervorbringung von Sinn gelten Das bedeutet, dass Diskurse, ihre Inhalte, Praktiken und jeweilige Materialisierung immer kontextualisiert sind, d.h. Diskurse sind immer im Ensemble mit den Bedingungen ihrer Produktion im gesellschaftlichen Kontext und inhaltlich zu rekonstruieren. Einzelne Texte als wirklichkeitsdokumentierende Dokumente sind daher stets Fragmente, die ihre Bedeutung auch außerhalb des inhaltlich begrenzten Diskurses im soziohistorischen Kontext erhalten und entfalten (ebd.: 318). Daneben haben Diskurse auch Folgen, die aus ihren diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken hervorgehen. Diese werden als Dispositive bezeichnet: Dispositive sind Ensembles von materiellen und ideellen, quasi verselbstständigten Infrastrukturen, z.B. Entscheidungen, Regelwerke, Zuständigkeiten, Werkzeuge, Gesetze, aber auch architektonischen Einrichtungen etc., die durch Diskurse hervorgebracht werden und auf diese gleichsam zurückwirken. Sie sind die Nahtstellen zwischen Diskursen und Praxisfeldern. Dispositive sind Formen der als legitim anerkannten Objektivationen von Wissen – Artefakte also, die sowohl ideell als auch materiell als Verknüpfungen von Wissen mit Macht in den sozialen Infra57 strukturen wirken und insofern als Bestandteile von Diskursen gelten (Foucault 1978; Schneider/Hirseland 2005: 253; Jäger 2006; Keller 2008: 230, 253ff.; Kajetzke 2008: 82; Truschkat 2008). Durch ihre Materialisierung, die z.B. über die Festlegung von Verantwortlichkeiten, Gesetzestexten, schriftlichen Empfehlungen o.ä. erfolgt, schreiben sich Dispositive aber auch in die soziale Realität, in das Denken und Handeln von Akteuren ein und wirken somit auf Diskurse ein. Sie können somit als Infrastrukturen aufgefasst werden, deren Nutzung eine differenzerzeugende Wirkung entfalten kann. Insofern sind Dispositive in Diskurse eingelassene Bestandteile derselben, überdauern diese jedoch aufgrund ihrer Materialität und stellen unabhängig vom je aktuell diskursiv (re)produzierten Sinn ein potentielles Reflexionsmoment nachfolgender Phasen von Diskursen dar. Sie stellen eine Verbindung zum gesellschaftlichen Alltag her (Bührmann/Schneider 2007f.). 57
Umgekehrt betrachten Bührmann und Schneider (2007f.) Diskurse alsl Bestandteile von Dispositiven, indem sie die diskursstrukturierende Wirkung von Dispositiven betonen: Dispositive nehmen ihnen zufolge Einfluss auf das Denk- und Sagbare und stecken gewissermaßen den Möglichkeitsrahmen ab, in dem sich diskursive Praktiken abspielen (Bührmann/Schneider 2008: 80, 92ff.).
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Sie können Diskursen eine neue Richtung verleihen bzw. neue Diskurse initiieren. Insofern haben Dispositive einen ereignisstimulierenden Charakter. Bührmann und Schneider betrachten Diskurse daher umgekehrt als Bestandteile von Dispositiven. Grundsätzlich soll festgehalten werden, dass Dispositive und Diskurse aufeinander bezogen sind, und die analytische Perspektive über die Über- bzw. Unterordnung beider Konstrukte entscheidet. In dieser Arbeit sind Dispositive insofern von Interesse, als angenommen wird, dass sie Auskunft geben über die Modi der Integration von Wissen: So können Dispositive im Rahmen der Sozialintegration etwa die Form von Ritualen der Interaktion, Sprachregelungen, Zielsetzungen o.ä. annehmen und protokollarisch festgehalten werden. Im Zusammenhang mit einer (perspektivischen) Systemintegration erreichen Dispositive in Form von Gesetzen, politischen Beschlüssen, Lehrwerken o.ä. eine potentiell größere Öffentlichkeit. Als Erwartungshorizonte wirken beide Modi – möglicherweise limitierend – auf die diskursiven Strategien der Aussagenproduktion zurück (s. Kapitel 6 und 7). Diskurse, ihre Voraussetzungen, Gegenstände und Resultate sind angesiedelt zwischen Akteuren und System, zwischen Wandel und Kontinuität. Sie repräsentieren ein Spannungsfeld aktueller und potentieller Möglichkeiten. In Anlehnung an soziokulturelle Theorien können sie so gewissermaßen als Zonen proximaler Entwicklung verstanden werden: nicht alles, was diskursiv oder nicht-diskursiv praktiziert wird, wird instant aufgegriffen; vielmehr sind Diskurse v.a. durch ihre Brüchigkeit, Praktiken der Umdeutung, Unterbrechungen, ihr „Wuchern“ (Bublitz/ Bührmann/Hanke u.a. 1999) charakterisierbar. D.h. Diskurse produzieren ‚Überschüsse’ von semantischen Anschlussmöglichkeiten. Diskurse werden hier deshalb als sozial konstituierte und sozial konstituierende Elemente des ‚Zwischenraums’ verstanden, das die soziale Dimension des Verständnisses von Innovationen als Wissenspassagen erhellt. In funktionaler Hinsicht kann ein Diskurs mit Vygotsky als eine Zone der proximalen Entwicklung verstanden werden: Über die Teilhabe am Diskurs werden die Regeln des Diskurses ‚erlernt’ bzw. angeeignet, und dadurch wird die Möglichkeit zur Entwicklung geschaffen. Weiter oben wurden drei unterschiedliche Vorstellungen von Lernen skizziert: Lernen als Übernahme, Lernen als Partizipation und Lernen als Prozess der Wissensschaffung. Vor dem Hintergrund der Ausführungen in diesem Abschnitt wird davon ausgegangen, dass sich die beiden letzten Varianten komplementär zueinander verhalten: Über die Teilhabe am Diskurs wird lernend Wissen geschaffen.
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4.4 Zusammenfassung und Implikationen für die Analyse von Innovationen und ihrem Transfer Innovationen, so in den vorigen Abschnitten herausgearbeitet, haben dadurch die Chance, sozial verbreitet und verankert zu werden, dass sie nicht nur rezipiert, sondern auch aktiv angeeignet werden. Die aktive Aneignung der Innovation setzt voraus, dass Akteure die Innovation als Aufforderung begreifen und sich durch sie dazu berufen sehen, aus ihr einen Aneignungs‚auftrag’ abzuleiten. Im Rahmen der aktiven Aneignung erfährt die Innovationsaufforderung eine Hybridisierung, d.h. die Innovation erfährt in Bezug auf ihre sachliche Dimension eine Transformation – das Innovationsobjekt wird zum Transfergegenstand, wird dabei durch die aktiven Aneignungsprozesse (selbst)affizierter Akteure transformiert, sie verliert dadurch seine ursprüngliche Form: Die Kommunikation einer Innovationsaufforderung induziert eine Differenz zum Bisherigen, setzt Wissen voraus, mit dessen Hilfe sie erkannt sowie be- und verarbeitet werden kann, wodurch wiederum neues Wissen generiert wird. Unter der Annahme, dass Innovationen gleichermaßen als Produkte bzw. Formen und Medien wissensbasierter Prozesse zu verstehen sind, die in modernen fragmentarisierten Gesellschaften von heterogenen Akteuren mit unterschiedlichen institutionellen Hintergründen (Rationalitäten), mit ungleich verteilten Zugängen zu Ressourcen und mit heterogenem Wissen ko-konstruiert werden, können diese im Feld von Bildung und Erziehung nicht allein kollektiven politischadministrativen Akteuren oder gar individuellen Akteuren zugeschrieben werden. Stattdessen liegt die Aufmerksamkeit auf den ko-konstruktiven Prozessen kollektiver Akteure – und nicht auf der quantitativen Verbreitung einer Innovation. Die Verbreitung und Verankerung von Innovationen ist damit keine Frage aggregierter individueller Lern- und Aneignungsleistungen, sondern Gegenstand in den Interaktionen kollektiver Akteure. Deren Lern- und Aneignungsprozesse stehen analytisch gesehen im Mittelpunkt. Betrachtet werden diese als Prozesse endogener Innovation – im Gegensatz zu Prozessen exogener Innovation, bei der die Aufmerksamkeit auf den Intentionen, den Wegen und Instrumenten liegt, mit denen eine Innovation ‚durchgesetzt’ wird. Kollektive Akteure sind somit die Träger und Prozessoren von Innovationen, die keinesfalls geschmeidig verlaufen, sondern durchaus von Widerständen und Konflikten begleitet oder brüchig sind. Die Art, wie diese kollektiven Akteure Innovationen prozessieren und sie durch ihre Interaktionen Gestalt annehmen lassen, ist daher Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse – und nicht etwa individuelle Wahrnehmungs-, Denk- oder Lernvorgänge. Insofern sind nicht die „‚die ‚inneren’ kognitiven Strukturen und Prozesse und deren ‚Konstruktion’ einer ‚äußeren’ Wirklichkeit“ (Reckwitz 2004a: 319) als Orte des Sozialen im Fokus der
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Analyse, „sondern die einzelnen sozialen Praktiken“ (ebd.), die diese Wirklichkeit gleichsam repräsentieren und hervorbringen. Ihre interpretative Rekonstruktion gibt Auskunft darüber, ob und inwiefern eine Innovation sie aktiv und selektiv beund verarbeitet wird und Akteure sie also in ihr Denken, Wahrnehmen und Handeln der affizierten Akteure integrieren. Über die Analyse sozialer Praktiken, so wird weiter angenommen, wird ein solcher ‚shift in ownership’ rekonstruierbar: Über die Partizipation an den Praktiken kollektiver Akteure, so die in soziokulturellen Lerntheorien fundierte Annahme, findet Lernen bzw. Wissensaneignung statt. Dieses repräsentiert die ‚Übernahme’ einer Innovation, d.h. ihren erfolgten Transfer – und eben nicht allein ihre quantitativ definierte Diffusion, sondern ihre Qualität. In Anlehnung an kognitionswissenschaftliche Kategorien kann danach gefragt werden, ob und inwiefern in den Praktiken kollektiver Akteure Hinweise auf oberflächliche oder Tiefenstrategien der Elaboration auffindbar sind, ob und inwiefern eine Innovation assimiliert oder akkomodiert wird, welches Wissen diskursiv und nicht-diskursiv als relevant und legitim zur Interpretation einer Innovation ausgehandelt wird. Im Zuge dieses Aushandelns, so wird hier angenommen, wird eine Innovation mit Bedeutung ausgestattet. Dieser Vorgang kennzeichnet den Transfer einer Innovation – also nicht die simple kommunikative Übertragung einer Innovation an eine black box, sondern gerade die Prozesse des Verstehens, d.h. sowohl der Entschlüsselung, aber wesentlich auch der Interpretation und Auslegung des Phänomens, durch die es Akteuren zu eigen wird, durch die sie es sich aneignen. Transfer kann verstanden werden als ein Prozess sozialer Aneignung, er ist also weder allein rückführbar auf individuelle Kognition noch ausschließlich auf soziale Strukturen: Unter Aneignung wird ein sozial eingebetteter, interpretativer Vorgang der Wissensgenerierung bzw. –konstruktion verstanden, der auf früherem sozialem Wissen beruht. Dieses frühere Wissen kann entweder über das diskursive Bewusstsein als explizites Wissen zugänglich sein oder aber implizit vorhanden und im praktischen Bewusstsein abgelagert sein. Diese Wissensaneignung bzw. Wissensgenerierung kann entweder formalisiert und mehr oder weniger erzwungenermaßen oder zufällig und freiwillig stattfinden. Wird die Organisationsform der Aneignung betrachtet, wird von einem Kontinuum ausgegangen. Dessen Pole können markiert werden als ‚Instruktion’ auf der einen Seite und ‚Partizipation’ auf der anderen Seite. Die Partizipationsmetapher fokussiert eher auf Aktivitäten der sozialen Teilhabe als auf deren Ergebnisse. Das damit verbundene Wissensverständnis lässt sich zusammenfassen als ‚Wissen als Prozess’ (statt als ‚Wissen als statischer Vorrat’). Wissen existiert demnach weder als etwas OntologischEigenständiges, noch ist es Resultat individuellen Denkens, oder als Inhalt eines individuellen Verstandes ein individueller ‚Besitz’. Wissen hat vielmehr eine originär soziale Seite und kommt als Teilhabe an Praktiken, Diskursen bzw. commu-
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nities of practice zum Ausdruck. Generiert wird dieses Wissen über soziokulturelle Lernprozesse. In diesen sind weder ausschließlich situierte Kognitionen von Individuen noch ausschließlich soziale Praktiken ausschlaggebend als deren wechselseitige Interaktion. Transfer kann vor diesem Hintergrund als ein voraussetzungsreicher Prozess des disembedding und reembedding verstanden werden, in dessen Rahmen eine Innovation ko-konstruiert wird. Für die Erzeugung des dafür eingesetzten Wissens (Innovation) wird selbst immer schon Wissen (Be- und Verarbeitung) bemüht; dem so konzipierten Innovationsprozess liegt somit ein nicht-lineares Wissenskonzept zugrunde. Dieses ist konform mit der Vorstellung rekursiver Innovation, die Innovation zugleich als Medium wie als Resultat aktiver, selektiver Aneignungsprozesse konzipiert, bei denen soziale, historische und räumliche Kontexte mit über dessen Verlauf und Ausprägung bestimmen. Aus theroetischer Perspektive finden diese Praktiken im Medium des Sozialen statt und erfolgen im Modus des Diskurses: Mit Innovationen steigt die Ungewissheit (Simonis 1999: 149) – und mit der Ungewissheit nehmen auch diskursive Aktivitäten zu (Hall/Spencer 1982). Diskurse können daher als untrennbar mit Innovationen verbundene „Weise(n der, d.Verf.) Bearbeitung, Entfaltung und Eindämmung“ (Ortmann 1999: 258) von Paradoxie in „zeitlicher, räumlicher und sozialer Hinsicht“ (ebd.) betrachtet werden. Gegenstand von Diskursen ist die Aushandlung von Bedeutung und Relevanz. Diskurse reduzieren die Komplexität der mit Innovationen einhergehenden Differenzierungen; sie finden statt in den Arenen inhaltlich-thematisch strukturierter sozialer Felder. Diskurse umspannen interagierende, teils konkurrierende, teils konvergierende Koalitionen, die aufgrund des sie gemeinsam berührenden Anliegens miteinander interagieren und dadurch das policy subsystem konstituieren. Dieses nimmt Einfluss auf die Gestaltung, Akzeptanz und den Verlauf von Innovationen – kurz: auf deren soziale Verbreitung und Verankerung. Umgekehrt formuliert verweist die Gegenwartsdiagnose der Entgrenztheit bzw. Entgrenzung auf Diskursivierungen an gesellschaftlichen ‚Scharnieren’, d.h. Schnittstellen zwischen Wissenschaft, Politik, Wirtschaft: Unter den Augen und unter Beteiligung der Öffentlichkeit werden Umgangsweisen mit sowie Deutungen von sozialen Phänomenen zwischen verschiedenen Akteuren ausgehandelt. Diese Diskursivierung zeigt sowohl die Verteiltheit des für den Umgang mit einem Phänomen aktivierten Wissens als auch die Verteilung von Verantwortung und Zuständigkeiten: Im Diskurs werden Positionen ausgehandelt, die auch über das Potential des Einflusses auf den Umgang mit einem Phänomen Auskunft geben. Diese diskursiven und nicht-diskursiven Verteilungs- bzw. Positionierungspraktiken basieren auf Semantiken, d.h. den Bedeutungen, die Phänomenen gemäß den situierten Konventionen der Bedeutungszuschreibung zuteil werden. Praktisch
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kommen Semantiken in sprachlichen Interaktionen oder deren zumeist schriftlich objektivierten Formen zur Geltung: Sprache ist ein Modus sozialer Interaktion, über den Bedeutung erlernt und verteilt wird – und voraussetzt, dass die interagierenden Akteure diese Bedeutungen zu interpretieren in der Lage sind. In Bezug auf Innovationen kann in diesem Sinne festgehalten werden, dass diese interaktiv mit Sinn ausgestattet werden. Semantiken haben zudem eine performative Seite i.d.S., als sprachliche ‚Aufführungen’ zusammen mit der Position des sprechenden Akteurs betrachtet als Akte der Positionierung zu verstehen sind, in denen Sprache ein spielerisch eingesetztes Mittel zum Zweck der Verteilung nicht von Bedeutung, sondern von Geltungspotentialen ist. In dieser Hinsicht kann umgekehrt und in Bezug auf Innovationen konstatiert werden, dass Innovationen sich als Sprachspiele darstellen. Beide Seiten, die performative wie die praktische, schließen einander nicht aus. Gemäß der strukturationstheoretischen Dualitätsthese kann davon ausgegangen werden, dass sie vielmehr rekursiv aufeinander bezogen sind. In Bezug auf Innovationen ausgedrückt: In Innovationsdiskursen finden zum einen Praktiken der Zuschreibung von Bedeutung zu einem Phänomen statt, zum anderen wird diskursiv auf diese – als Inszenierungen von Bedeutung – Bezug genommen: Nicht nur dass, sondern auch wie und durch welche Akteure eine Innovation ‚gemacht’ wird, oder ob dies legitim ist, kann diskursiviert werden. Allgemein ausgedrückt, sind Diskurse einerseits die symbolischen Kontexte, in denen Akteure interagieren. Sie verbinden Akteure und Akteurskonstellationen, die gemäß der Situiertheitsthese mit je differenten Deutungsmustern ausgestattet sind und daher ein ‚gleiches’ Phänomen unterschiedlich interpretieren. Diskurse sind somit die Arenen, in denen Akteure in Bezug auf ein sie verbindendes Phänomen mit differenten Positionen gegeneinander antreten, Positionen harmonisieren, ausdifferenzieren, diskursiv oder nicht-diskursiv zur Geltung bringen. Diskurse können so andererseits als sozial koordinierende und koordinierte Modi der Ordnung von Wissen betrachtet werden. Diskurse, so kann nun zusammengefasst werden, sind die Möglichkeitsbedingungen von Innovationen und repräsentieren die sozialen Felder, in denen Akteure mit unterschiedlichen Rationalitäten aufeinandertreffen und in dynamischer Interaktion die impliziten und expliziten Regeln ihrer Interaktion in Bezug auf die Konstitution der Wissenspassage, als die Innovationen hier betrachtet werden, aushandeln. Verhandelbar ist dabei jedoch nicht alles, sondern allenfalls die sog. sekundären Aspekte, also die Deutungsmuster. Das bedeutet, die heterogenen Rationalitäten der Akteure (policy core beliefs) bleiben bestehen, aber der Modus ‚Diskurs’ reguliert, inwiefern die um das gemeinsame Anliegen herum gruppierten secondary beliefs, d.h. Überzeugungen z.B. in Bezug auf Deutungen oder Umsetzungsformen harmonisiert werden können, inwiefern diese miteinander konkurrieren oder inwiefern Kompromisse eingegangen werden können.
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Diskurse können somit als der Modus angesehen werden, in dem die Lern- bzw. Aneignungsprozesse der an ihm praktisch partizipierenden kollektiven Akteure stattfinden. In analytischer Hinsicht materialisieren sich ihre Interaktionen in diskursiven oder nicht-diskursiven Praktiken. Diese in Situationen der Kopräsenz oder über Zeit und Raum sich erstreckenden Interaktionen können – textlich / schriftlich repräsentiert – zum Ausgangspunkt für die Analyse von Wissensprozessen bzw. der Ordnung von Wissen werden, über die rekonstruiert wird, wie Akteure eine Innovation wahrnehmen und interpretieren, d.h. wie sie diese wissensbasiert und im Rekurs auf die jeweiligen situierten Deutungsmuster mit ungleichem Sinn ausstatten. Untersuchungsgegenstand ist damit die diskursiv regulierte wissensbasierte Sinnstiftung in Innovationsprozessen, durch die diese erst sozial sichtbar werden. Im Rekurs auf Diskurs- und soziokulturelle Lerntheorien werden hierfür in theoretischer Hinsicht zum einen bottom-up- und top-down-Modelle der Innovation integriert, d.h. weder wird eine der Innovation äußerlich bleibende Implementationsperspektive eingenommen, deren Aufmerksamkeit sich auf die Effekte von Innovationen richtet, noch wird eine individualistisch-verkürzte Betrachtung des Innovationsprozesses vorgenommen, bei dem individuelle Akteure und ihr Einsatz von Kognitionen als vorrangig ausschlaggebend für Innovativität betrachtet werden. Stattdessen werden Kognitionen als situativ und kontextuell eingebettete betrachtet, wodurch sie auch kollektiven Akteuren zugeschrieben werden können. Um die Praktiken der Aneignung von Innovation und damit deren Transfer untersuchen zu können, bedarf es einer Verlagerung der Beobachterperspektive quasi in das Innere der Innovation. Dann werden die Brüche und Inkonsistenzen der Aneignung deutlich, die bei einer distanzierten Analysehaltung, wie sie im Zusammenhang mit der Untersuchung der Verbreitung einer Innovation qua Implementation vorzufinden ist, undeutlich bleiben. Analytisch quasi in das Innere einer Innovation vorzudringen bedeutet nicht nur, den oder die Auslöser des Innovationsprozesses zu identifzieren. Es bedeutet v.a. zu untersuchen, wie eine Innovation als Aufforderung wahrgenommen wird, vor welchem Wissenshorizont diese als Aufforderung interpretiert wird und wie die Aneignung stattfindet, es umfasst die Untersuchung, wie Akteure einer Innovation im Zuge ihrer Aneignung Sinn zuschreiben und in welcher Qualität sie diese sozial oder im Feld zu integrieren beabsichtigen. Forschungslogisch bedeutet die Übernahme einer Aneignungsperspektive eine veränderte Konzeption von Adressaten – als Ko-Produzenten bzw. Ko-Konstrukteure. Aus Adressaten werden analytisch betrachtet Akteure. Methodologisch impliziert dieser Anspruch die Unzulänglichkeit der Erhebung von Daten, die nur über einen Zeitpunkt Auskunft geben: so würde nur ein unzureichender Schnappschuss eines komplexen und längerwierigen Vorgangs aufgenommen. Ein längsschnittliches Untersuchungsdesign scheint dagegen eher geeignet, den Pro-
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zess der Generierung von Wissen und Wissensordnung zu rekonstruieren. Dazu bieten sich Diskursanalysen an, die sowohl die strukturellen als auch die kognitiven und praktischen Aspekte von Transfervorgängen berücksichtigen (Scherrer 2001: 8; Hajer 2003). Diskursanalysen gehen über den sprachlichen Gehalt von Äußerungen hinaus und betrachten die Praktiken und Effekte der Aussagenproduktion selbst.58 Diese werden in machtdurchdrungenen sozialen Kontexten hervorgebracht, die selbst „nicht als präexistente Gegebenheiten vorausgesetzt“ (Bublitz 2003: 55) werden. Das in Diskursen generierte oder zirkulierende Wissen gilt als nicht ahistorisch und per se ‚wahr’ und für alle Akteure, an jedem Ort und zu jeder Zeit gleichermaßen gültig: Demnach entscheiden die lokalen Praktiken der diskursiven Aneignung und Aushandlung darüber, wie die Innovation mit Bedeutung aufgeladen wird. Die Prozesse der Wissensaufnahme und -generierung und verwendung, d.h. die Vorgänge des disembedding, transforming und reembedding von Wissen in Innovationsprozessen, das sie betreiben, stehen im Zentrum des Interesses (von Cranach 1995: 26; Billett 1998a, b). Somit bilden Diskurse auch keine ‚wirkliche’ Welt ab, sondern „konstituieren Realität in spezifischer Weise“ (Keller 2004: 63; Keller/Hirseland/Schneider u.a. 2005). Diskursanalysen nehmen einen rekonstruktiv-interpretativen Zugriff auf die Regel- und Ereignishaftigkeit einer diskursiv konstruierten sozialen Wirklichkeit (Bublitz 2003). Diese Vorgänge zu rekonstruieren ist Aufgabe und Gegenstand einer auf der Basis der wissenssoziologischen Diskursanalyse vorgenommenen qualitativen Rekonstruktion eines ausgewählten Innovationsdiskurses (s. Kapitel 5 und 6).
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Damit wird von individuellen Akteuren abstrahiert, ohne sie jedoch in ihrer Bedeutung als sozial situierten ‚Produzenten’ von Äußerungen zu negieren.
5 Methodologie und ‚Methode’: Diskursanalyse Im vorigen Kapitel wurde herausgearbeitet, dass Innovationen im Medium des Sozialen und im Modus des Diskurses sowohl generiert als auch transferiert werden. Damit wird angenommen, dass Transfer und Lernen bzw. Aneignung diskursiv erfolgen. Um diesen diskursiv erfolgenden Aneignungsvorgang und Wissensordnungsprozess zu rekonstruieren, ihn zu interpretieren und um auf dieser Basis theoretische Aussagen mittlerer Reichweite zu gewinnen, bedarf es des Einsatzes von grundsätzlich reproduzierbaren Verfahren eines methodisch kontrollierten und nachvollziehbaren Verstehens der sozialen Praktiken (Bohnsack 2005). Interpretativ-rekonstruktive Methoden der qualitativen Sozialforschung erlauben es, die Sinn- und Relevanzsysteme der ‚Beforschten’ nach intersubjektiv nachvollziehbaren Verfahren zu entschlüsseln, zu beschreiben und zu verstehen. Nicht pure Inhalte, sondern Wissen repräsentierende Praktiken sind ihr zentraler Gegenstand. Gegenüber hypothesentestenden Zugängen räumen sie den spezifischen Besonderheiten des kommunikativen oder sozialen Kontexts, in dem die untersuchten Relevanzen wirksam werden, den Vorrang ein (Bohnsack 2003: 22; Lamnek 2005: 23f.). Das Forschungsprogramm der wissenssoziologischen Diskursanalyse (Keller 1997ff.), das in Abschnitt 5.3 genauer vorgestellt wird, kann zur Familie der rekonstruktiven, qualitativ-empirischen Sozialforschung gezählt werden. Das Interesse an der Analyse der Entstehung und sozialen Wirkung von Diskursen sowie den Bedingungen ihrer Konstitution boomt seit einigen Jahren (Jäger 2007; Angermüller 2001ff.; zu Diskursanalysen in der Erziehungswissenschaft Schriewer 2000; Koller/Lüders 2004; Wrana 2005; Höhne 2006; Truschkat 2008). Grundsätzlich ist dies auf folgende drei Ursachen zurückzuführen (Keller/Hirseland/Schneider u.a. 2006: 8f.): a) auf den Beginn einer post-positivistischen Sozialwissenschaft nach der kulturellen Wende in den 1980er Jahren (dazu z.B. Reckwitz 1997a), b) auf die Konzepte einer reflexiven Modernisierung und die damit verbundene Aufmerksamkeit in Bezug auf Wissensordnungen (z.B. Beck/ Giddens/Lash 1996) sowie c) auf den zunehmenden Einsatz symbolischer Formen gouvernementaler Regulierung bzw. Kontrollausübung (Pongratz 2004; Rieger-Ladich 2004; Höhne 2005; Weber/Maurer 2006; Liesner 2007). Diskurse wurden in Abschnitt 4.3 beschrieben als ein Modus der sozialen Wissensgenerierung. Diskursanalysen befassen sich mit den regel-, aber auch den ereignishaften Praktiken der Wissensgenerierung, den Strukturen von Diskursen, den an ihnen beteiligten Akteuren, ihren Positionen sowie den gesellschaftlichen Ebenen, die in einen Diskurs ein- oder ausgeschlossen sind. Sie sind Formen einer methodisch kontrollierten, sozialwissenschaftlich-hermeneutischen Analyse und Interpretation von kommunikativen Situationen, die weder die Kopräsenz der daran beteiligten Akteure voraussetzen noch ausschließlich auf verbale oder textliche
I. Bormann, Zwischenräume der Veränderung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92709-1_66, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Kommunikationen abzielen, sondern auch die diskursiven Wirkungen materieller Artefakte einbeziehen. Diskursanalysen bieten sich an, wenn soziale Phänomene untersucht werden sollen, die „ursächlich mit diskursiven Praktiken oder diskursiven Strukturen zusammenhängen“ (Diaz-Bone 2005: 179). Sie sind eher als eine methodologische Haltung oder Perspektive denn als eine abschließend entwickelte Methode zu verstehen – es gibt keinen ‚Königsweg’ (Jäger 1999; Keller 1997: 327). Das in Diskursanalysen verwendete Material wird in seinem jeweiligen sozialen und historischen Entstehungskontext, seiner immanenten Performativität und Intention betrachtet – erst durch die gemeinsame Betrachtung dieser Elemente lassen sich Diskurse erschließen: Diskursanalysen kontextualisieren den inhaltlichen und praktischen Gehalt von wirklichkeitskonstituierenden Diskursen in Hinblick auf deren gesellschaftliche Voraussetzungen und Implikationen. Analytisch wird dabei sowohl eine synchrone als auch eine diachrone Perspektive eingenommen, d.h. sowohl die zu einem Zeitpunkt typischen Aussagengehalte und praktiken (synchrone Analyse) als auch deren Veränderung im Laufe der Zeit sowie deren Ursachen und Implikationen beobachtet (diachrone Analyse; Jäger 2006: 99). Mit ihrer Zielstellung gehen Diskursanalysen über Inhaltsanalysen (Mayring 2007) hinaus, da sie durch die soziohistorische Kontextualisierung des Analysierten darauf abzielen, die Praktiken, die den Diskurs hervorbringen, in die Analyse maßgeblich einzubeziehen. Daneben sind sie auch nicht als Konversationsanalysen (Schütze 1986) zu begreifen, da anders als bei diesen nicht die konkreten situationalen Bedingungen der Interaktionsgestaltung kopräsenter Akteure untersucht werden. Sie unterscheiden sich auch von Leitbildanalysen (de Haan 2002; Giesel 2007): Während jene sich vornehmlich auf die Rekonstruktion wahrnehmungs-, denk- und handlungsorientierter kollektive Leitbilder an sich konzentrieren, fragen Diskursanalysen nach dem Zustandekommen und Wirken solcher, aber auch anderer symbolischer Artefakte wie Deutungsmuster und Praktiken, sie konzentrieren sich stärker auf Prozesse. In Diskursanalysen wird von größeren Raum-ZeitEinheiten ausgegangen, in denen diskurskonstitutierende Interaktionen stattfinden. Diskursanalysen fragen nach den historischen, sozialen, institutionellen und formalen Bedingungen und Begleiterscheinungen dieser Prozesse (Knoblauch 2006). Mit der Dokumentarischen Methode (Bohnsack 1997, 2009; Bohnsack/NentwigGesemann u.a. 2001; Nohl 2001; Bittner 2008) teilen Diskursanalysen die Prämisse der sozialen und historischen Kontextuiertheit der zu rekonstruierenden Äußerungen. Beide untersuchen diskursive und nicht-diskursive Praktiken und zielen auf die Rekonstruktion der Wissensgenerierung, -anwendung und der Sinnkonstruktion. Dokumentarische Methode und Diskursanalyse unterscheiden sich aber hinsichtlich ihrer Diskursbegriffe: während bei der Dokumentarischen Methode davon ausgegangen wird, dass Individuen sich über subjektiv wahrgenommene
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Diskurse äußern, interessiert sich die Diskursanalyse weniger für subjektive Aussagen über etwas, sondern richtet ihr Augenmerk auf die Rekonstruktion von aus dem Diskurs hervorgegangenen, kollektiv bedeutsamen Äußerungen. Die theoretischen Wurzeln und analytischen Zugriffe von Diskursanalysen i.w.S. unterscheiden sich teilweise beträchtlich hinsichtlich ihrer Gegenstände und Intentionen. Sie reichen von a) linguistischen (Wichter 2004) und ethno-methodologischen Konversations- und Narrationsanalysen (Bohnsack 1997f.; Schütze 1983), über b) Untersuchungen zur Konstitution idealer, herrschaftsfreier Sprechsituationen, die der Kraft rational überzeugender Argumente das Primat vor Autorität einräumt und so von einer Wahrheit des Diskurses ausgeht (Habermas 1987). Sie knüpfen c) an den französischen Sozialphilosophen Foucault an, der eine poststrukturalistisch begründete Analyse der machtförmigen Konstitution von Wissensordnungen gesellschaftlicher Wirklichkeiten vornahm, ohne jedoch eine dezidierte Methodik der Diskursanalyse darzulegen (Foucault 1978ff.); oder sie führen d) handlungstheoretisch untermauerte Analysen von Prozessen der Sinnerzeugung durch (zum Überblick Angermüller 2001ff.; Keller 2004; Keller/Hirseland/Schneider u.a. 2006: 11f.). Die beiden zuletzt genannten Varianten weisen eine grundlegende Übereinstimmung mit dem Verständnis von Innovationen als Wissenspassagen (s. Abschnitt 2.5) sowie deren Dimensionen (s. Abschnitt 3.3) auf: Danach ist zum einen mit der Berücksichtigung der raum-zeitlichen und sachlichen Bedingungen der ‚Möglichkeitsraum’ des Wissens der Akteure abgesteckt und die strukturelle bzw. institutionelle Bedingtheit und ‚Gemachtheit’ von Wissen hervorgehoben. Zum anderen ist mit der an den Aussageinhalten, den implizit und explizit geäußerten diskursiven Aussagen sowie ihren Produktionsbedingungen interessierten diskursanalytischen Perspektive auf die Akteurskonstellation die handlungstheoretische Dimension der Giddens’schen Strukturationstheorie berücksichtigt, nach der das Handeln der Akteure einer Struktur weder kausal vor- noch nachgelagert ist, sondern beide in einem rekursiven Verhältnis zueinander stehen. Diese beiden zuletzt genannten Ansätze stellen wesentliche theoretische Grundlagen des Forschungsprogramms der wissenssoziologischen Diskursanalyse (im Folgenden auch WDA) dar. Mit Blick auf die in den Abschnitten 2.5, 3.3 und 4.4 zusammengefassten innovationstheoretischen und -analytischen Überlegungen wird die Wissenssoziologische Diskursanalyse nach Keller (1997ff.; Keller/Hirseland/Schneider u.a. 2005f.; Diaz-Bone 2005; Angermüller 2001f.; zur kritischen Diskursanalyse Jäger 1999ff.; Link 1999ff.) die in diesem Kapitel vorzuführende Untersuchung anleiten.
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5.1 Theoretische Bezüge der wissenssoziologischen Diskursanalyse (WDA) Wie oben bereits erwähnt, existierte bis in die 1990er Jahre hinein kein striktes Verfahren und keine Methoden für die Durchführung von Diskursanalysen. Inzwischen liegen insbesondere mit den Arbeiten von R. Keller elaborierte Ansätze zu einem wissenssoziologisch begründeten Forschungsprogramm zur methodisch kontrollieren Interpretationsarbeit sowie eine sozialtheoretische Rahmung bzgl. der Wirkungen und Bedingungen von Diskursen vor (Keller 1997ff.). Doch auch Keller versteht die wissenssoziologische Diskursanalyse nicht als Methode i.e.S., sondern konzipiert seine Ausführungen vielmehr als Programm, als Umriss einer theoretisch begründeten, wissenschaftlichen Haltung im Umgang mit dem Material, als „orientierende Hilfestellung“ (Keller 2004: 61). Eine theoretisch begründete Verzahnung des Programms mit einer expliziten Methode befindet sich demnach noch in den Anfängen (Schwab-Trapp 2006). Wissenssoziologische Diskursanalysen fußen auf der Annahme, dass gesellschaftliche Wirklichkeiten diskursiv konstruiert werden (Keller/Hirseland/Schneider u.a. 2006; Potter/Wetherell 1995; Fairclough 1994). Sie interessieren sich für die Bedingungen, Verläufe und folgen der Verankerung und Objektivierung kollektiv hervorgebrachter Wirklichkeitsauffassungen. In der WDA geht es darum, über die materialisierten Ergebnisse diskursiver Praktiken, z.B. Vorträge, Diskussionen und deren schriftlich fixierte Protokolle, das Schreiben selbst, Artikel und seit geraumer Zeit auch Objektivierungen in Form von Gebäuden, Räumen, Bildern etc., zu rekonstruieren, wer wo etwas sagen ‚darf’, wie dies geregelt wird. Sie untersucht und rekonstruiert auch, was nicht gesagt wird und wie Akteuren soziale Positionen zugewiesen werden, von denen aus sie sich am Diskurs beteiligen, etwas sagen oder eben nicht sagen. Für diese Materialisierungen bzw. Vergegenständlichungen wird in der Diskursanalytik der Dispositivbegriff gehalten; Dispositive befinden sich an der ‚Nahtstelle’ zwischen Diskursen und Praxisfeldern (s. Abschnitt 4.3). Die WDA versteht sich als eine in der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik 59 wurzelnde, empirisch ausgerichtete Forschungshaltung (Keller 2004: 59, 73; Diaz-Bone 2005: 179; Reichertz 2005). Sie zielt ab auf die Rekonstruktion des Entstehens von Wissenskonfigurationen in institutionell, organisational und von kollektiven Akteuren durchwirkten sozialen Feldern und – je nach Schärfentiefe der Analyse – ihren strukturreproduzierenden und -transformierenden Wirkungen (Keller o.J.: 8). Sowohl die Entstehung als auch die Verbreitung und Verankerung sozialen Wissens sind wissenssoziologisch-diskursanalytisch rekonstruierbar.
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Keller hebt hervor, dass es sich bei der wissenssoziologischen Diskursanalyse nicht um eine Methode, sondern um ein Forschungsprogramm handelt (Keller 2008).
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Damit eignet sich die WDA dazu, Phänomene im Rahmen sozialen Wandels zu untersuchen. Welche theoretischen Wurzeln hat die wissenssoziologische Diskursanalyse? In der hier geteilten Variante von Diskursanalysen, dem Programm der wissenssoziologischen Diskursanalyse, werden Diskurse verstanden als intersubjektiv getragene Prozesse, die Sinn und symbolische Wissensordnungen und somit gesellschaftliche Wirklichkeiten konstituieren. Möglich ist dies aufgrund der Bedeutung, die den Dingen in der belebten und unbelebten Sozialwelt von Akteuren im Diskurs beigemessen wird. Durch deren diskursive Bearbeitung dieser Bedeutungen werden diese erst sozial relevant. Hermeneutische Wissenssoziologien (Soeffner 1989; Hitzler/Honer 1997; Hitzler/Reichertz/Schröer 1999) heben gegenüber poststrukturalistischen Varianten der Diskursanalyse stärker die Subjektivität von orientierungs- und handlungsleitenden Praktiken der Sinnkonstitution hervor, aus denen soziale Wirklichkeiten hervorgehen (zur Gegenüberstellung Angermüller 2001). Sie betonen die soziale und historische Eingebundenheit des Subjekts in Wissensformationen, aus denen sich die Interpretationen speisen. Aufgrund einer solchen sozialisatorisch begründeten Verwobenheit mit teils unbewussten Deutungsmustern sind diese Interpretationen vor-urteilsbehaftet (Gadamer). Doch das Subjekt wird nicht als passiver oder willenloser Träger gesehen, das diese Muster schematisch anwendet: es gilt insoweit auch als Konstrukteur, als die einsozialisierten Muster, Schemata und Routinen immer auch Resultate selektiver Aneignungen sind. Diese Formen kollektiven Wissens werden somit nicht bruchlos übertragen, sondern modifiziert. Sie wirken in dieser Optik auch modifizierend auf die Wissensformation, aus der sie hervorgehen. Methodologisch nimmt die Forschungshaltung der WDA eine vermittelnde Position zwischen einem methodologischen Individualismus und einem methodologischen ‚Kollektivismus’ ein. Sie ist einerseits an der symbolisch-interaktionistischen Wissenssoziologie Bergers und Luckmanns und ihrer Rezeption des interpretativen Paradigmas (1995) im Anschluss an die Schütz’sche Phänomenologie orientiert (1974). Andererseits ist sie an der Diskurstheorie Foucaults (1978ff.) ausgerichtet, der über hermeneutisches Fallverstehen hinaus auf die Offenlegung des sozialen Zusammenhangs von Wissen, Praktiken und Macht abzielt. Berger und Luckmann In ihrem Werk geht es Berger und Luckmann (1995) um die Art und Weise, wie Akteure aufgrund ihrer Wahrnehmung und Interpretation von Objekten eine sinnhafte soziale Wirklichkeit hervorbringen und wie sie auf diese Konstruktionen handelnd Bezug nehmen. In dieser Wissenssoziologie ist Sinn eine Dimension des Gesellschaftlichen. Zentral ist für Berger und Luckmann der dynamische Prozess der Konstitution von Bedeutung, der sich in der dialektischen Beziehung des sub-
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jektiven Sinns auf der einen und dem konstruierten objektiven Sinn – der Wirklichkeit der subjektiv sinnhaft erfahrenen Alltagswelt (Berger/Luckmann 1995: 21ff.) – auf der anderen Seite abspielt. Die von den Akteuren geschaffenen Institutionen und Objektivitäten gelten ihnen als bedeutsame Wissensordnung, in der sie sich bewegen und die sie ständig neu interpretieren. In Institutionen ‚abgelagertes’ soziales Wissen wird durch die ungleiche Bezugnahme in gesellschaftlichen Handlungs und Deutungspraktiken je neu aktualisiert. Durch diese dialektische Relation zwischen Wissen und Handeln befindet sich die Wissensordnung in einem Prozess ständiger Transformation. Das ‚einsozialisierte’ Wissen ist somit keine statische Größe, sondern birgt gewisse Freiheitsgrade hinsichtlich Umgang und Aneignung. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist demnach nicht nur eine (sowohl von den Akteuren als auch von den Beobachtern) konstruierte, sondern auch eine dynamische, in Überlappungen verschiedener Sinnwelten sich permanent weiterentwickelnde. Sinn ist Berger und Luckmann zufolge im Medium semantischer Felder eine sprachlich erzeugte Ordnung erfahrungsgesättigten Wissens, das über sprachlich vermittelte Deutungen und Handlungen sozial verfügbar wird. Einen überindividuellen und überdauernden Charakter hat dieses Wissen, da es über Prozesse der kontinuierlichen Institutionalisierung im gesellschaftlichen Wissensvorrat sedimentiert und legitimiert (Berger/Luckmann 1995: 56ff.): Diese Institutionalisierung erfolgt über habitualisierte Handlungen von Akteuren, deren Handeln bereits über vorgängigen Institutionen vorstrukturiert ist. Durch ihr Handeln externalisieren sie sprachlich oder nicht-sprachlich ihre Situationsdeutungen und eröffnen somit anderen Sinn- und Deutungsangebote, auf die interaktiv Bezug genommen werden kann. Werden diese Angebote aufgegriffen und wiederholt, kann es zu Typisierungen intersubjektiver, wiederholter und wiederholbarer Erfahrungen kommen, die sich in der Folge verfestigen, objektivieren, zu Institutionen werden. Diese Institutionen weisen, wenn „sie erst einmal entstanden (sind, d.Verf.), eine Neigung zur Dauerhaftigkeit“ (ebd.: 86) auf. Als Form überdauernden Wissens erlangt eine Institution den Charakter einer „relativ autonomen Subsinnwelt“ (ebd.: 92), die reziprok auf die sozialen Prozesse ihrer Entstehung zurückwirkt. Sie ist dazu in der Lage, weil sie als dauerhafte Lösungen von dauerhaften Problemen (ebd.: 74) anerkannt wird und somit bestimmtes Handeln vorstrukturiert und legitimiert – und umgekehrt Handeln, das sich nicht am institutionell geordneten Sinn orientiert, als nicht legitim ausschließt. Institutionen reproduzieren sich also aus der symbolischen Wiederholung, in die die Anerkennung ihrer Legitimität eingelagert ist (ebd.: 98ff.). Diese über Institutionalisierung erzeugte Wissensordnung bleibt so lange stabil, wie das in ihr gespeicherte Wissen in der Alltagswelt funktioniert und für relevant gehalten wird (ebd.: 36ff.), also zur Lösung alltagsweltlicher Probleme oder
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zur Ausführung alltäglicher Handlungen geeignet ist. Sprachlich vergegenständlichte Erfahrung lagert sich sedimentartig ab und wird so „Fundament und Instrument eines kollektiven Wissensbestandes“ (72f.), mit dem neue Erfahrungen eingegliedert und tradiert werden. Die Annahme dieser Sedimentierung, Ablagerung verweist also auf die Überbleibsel von Vergangenem. Daher sind „(d)ie Daten der Sozialwissenschaft ... wesentlich historische Daten“ (Luckmann 2002: 209). Der in Bezug auf das Alltagswissen bestehende „mikrosoziologisch-situative Bias“ (Keller 2004: 58) des am symbolischen Interaktionismus geschulten, interpretativen Paradigmas nach Berger und Luckmann wird im Forschungsprogramm der WDA ausgeglichen durch den Rekurs auf die Foucaultsche Diskurstheorie. Damit wird komplementär zu jenem auf die soziale Bedingtheit von Aussagen und Aussagemöglichkeiten hingewiesen, ohne dass eine problemlose Harmonie beider Theorien behauptet wird (Keller 2008: 321). Während Berger und Luckmann die Möglichkeit einer allgemeinen Partizipation am Alltagswissen annehmen, macht der diskurstheoretische Rekurs deutlich, dass Akteure sich nur am Diskurs beteiligen können, wenn sie auch in der Lage sind, dessen implizite Regeln zu erkennen und zu beherrschen. Foucault In der Konzeption Foucaults ist das Individuum den in wirkmächtigen Diskursen herrschenden Regeln eher bei- oder gar untergeordnet: „Niemand kann in die Ordnung des Diskurses eintreten, wenn er nicht von vornherein dazu qualifiziert ist“ (Foucault 2003: 26). Sein Hauptaugenmerk liegt auf den Subjektivierungsweisen, also der Frage, welche Rollen Diskurse bereit halten, wie diese eingenommen werden, was von welchen Akteuren gesagt werden darf und was nicht – m.a.W.: wie Subjekte von Diskursen geschaffen werden. Foucault umschreibt sein Verständnis von Diskurs mehr, als dass er es eindeutig definiert. Diskurse konzipiert er als etwas, das „Beziehungen... zwischen Institutionen, ökonomischen und gesellschaftlichen Prozessen, Verhaltensformen, Normsystemen, Techniken, Klassifikationstypen und Charakterisierungsweisen“ (Foucault 1981: 68) herstellt. Diese Beziehungen allerdings sind weder als direkte Beziehung zwischen Sätzen zu beobachten, die dadurch „dem Diskurs... innerlich“ (ebd.: 69) wären, noch sind sie ihm äußerlich und könnten „ihn beschränken oder ihm bestimmte Formen auferlegen“ (ebd.: 70). Verborgen bleibt eine eindeutige Lokalisierung der Beziehungen, die ihn interessieren – sie „befinden sich irgendwie an der Grenzen des Diskurses“ (70), dort, wo das Gesagte sich zu Praxis verdichtet und so den Diskurs konstituiert. Diskurse sind ihm zufolge Ausdruck von Praktiken, die in der Lage sind, Wahrheit zu schaffen und Wirklichkeiten zu konstituieren. Dies vollzieht sich aber keinesfalls evolutionär bzw. zufällig, denn schon die Teilnahme am Diskurs ist
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durch spezifische Prozeduren, etwa Formen der internen und externen Kontrolle reglementiert (Foucault 2003: 14f., 17). Der Diskurs entsteht durch die Dinge und Ereignisse, die er reflektiert, durch diskontinuierliche, geregelte Serien (ebd.: 37f.). Diskurse speichern und prozessieren regelhaft sinnhafte Ordnung, wodurch die Dinge, von denen der Diskurs spricht, erst konstituiert werden. Foucault geht es um die Frage, wie machtvolle diskursive Praktiken zur Entstehung intersubjektiv geteilter Wissensordnungen beitragen und nach welchen inkludierenden oder exkludierenden Regeln die Produktion von Bedeutung stattfindet, wie Macht und Wissen also ineinander verwoben sind. Diskursive Praxis gilt Foucault nicht als willentliches, rationales Sprechen oder ein rein expressives Tun. Vielmehr ist die diskursive Praxis „die Gesamtheit von anonymen, historischen, stets im Raum und in der Zeit determinierenden Regeln, die in einer gegebenen Epoche und für eine gegebene soziale, ökonomische, geographische und sprachliche Umgebung die Wirkungsbedingung der Aussagefunktion definiert haben“ (Foucault 1981: 171). Von besonderem Interesse ist für Foucault die historische Dimension von Wissensordnungen. Methodisch bedeutet dies, neben einer synchronen Analyse von Themen die Notwendigkeit, die diachrone ‚Gewordenheit’ einer symbolischen Wissensordnung und ihre Auswirkungen auf das historisch Sagbare zu untersuchen. Insgesamt nimmt Foucault eine letztlich sozialkonstruktivistische Perspektive ein, indem er sich dem sozialen Phänomen Wissen so nähert, dass es ihm als gesellschaftlich ‚mit’konstruierte Konstruktion erscheint. Wissen ist nicht etwas objektiv Wahres und subjektiv Verfügbares, sondern etwas, das in den jeweiligen soziohistorischen, dynamischen und machtvollen Akteurskonstellationen als gültiges Wissen anerkannt, ausgehandelt wird. Was dabei als gültig anerkannt wird, ist abhängig von soziohistorischen Gegebenheiten. Auch sprachliche Äußerungen versteht er als institutionell geprägt und daher nicht vollkommen kontingent. Insofern erscheint sein Werk vom Subjekt befreit. Statt Subjekten sind es machtförmi60 ge Strukturen der Wissensordnung, die die Wirklichkeit konstituieren. Die WDA zielt auf eine auch historische Kontextualisierung diskursiver Aussagen und der sozialen Aussagepraxis. Sie ist bestrebt, den deklarativen Gehalt sowie die performative Darbietung von Äußerungen in ihrer Bedeutung für die Wissenskonstitution zu rekonstruieren. Weder sind damit individuell-subjektive, singuläre Äußerungen, noch einzelne Gespräche, Vorträge o.ä., die mitunter eben60
Vor diesem Hintergrund muss ihm auch jegliche hermeneutisch-verstehende Analyse von Diskursen unbewusst ‚durchtränkt’ von bestehenden Wissensformationen gelten, die gewissermaßen unter der Hand bestimmte Interpretationen vorgeben und andere ausschließen. Verstehen ist damit gewissermaßen Produkt diskursiv ‚regierten’ Denkens und immanent ‚blind’ gegenüber den konstituierenden Praktiken, die dem zu rekonstruierenden Wissen schon zugrunde liegen (Reichertz 2007).
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falls als ‚Diskurse’ bezeichnet werden, isolierte Gegenstände von WDA, noch wird im Rahmen des Forschungsprogramms der WDA angenommen, dass die Diskurse die Akteure determinieren. Im Zentrum stehen vielmehr Fragen nach dem Zustandekommen diskursiver Aussagen, deren Bedeutung angesichts einer sozialen Wissensordnung, die die Praktiken im untersuchten Diskursfeld strukturiert und wiederum von ihnen beeinflusst ist, rekonstruiert wird. Die zu untersuchenden diskursiven Prozesse werden also nicht auf einzelne Akteure, sondern auf den strukturierenden Effekt kollektiven, unter Konkurrenz und Macht stattfindenden Handelns zurückgeführt, der durch den Anschluss an frühere Kommunikationen entsteht. Diskurse führen so zur Herausbildung von Artefakten, Objekten, Deutungsmustern, Werten, Normen etc., die jedem Handeln inhärent, oftmals implizit bewusst, aber keineswegs irreversibel sind. Sie konstruieren und repräsentieren somit gleichermaßen ‚Wirklichkeiten’ (Keller/Hirseland/Schneider u.a. 2005). Dazu werden theoretische Kategorien von Foucault entliehen: die diskursive Aussage, die diskursive Praxis, die Diskursformationen u.a. (Keller 2005: 63). Die WDA bricht die an Bergers und Luckmanns wissenssoziologisch-hermeneutischem Programm kritisierte Engführung auf das Jedermannswissen des ‚Mannes auf der Straße’ (Berger/Luckmann 1995: 19) auf, indem sie sich „mit Prozessen und Praktiken der Produktion und Zirkulation von Wissen auf der Ebene der institutionellen Felder (wie bspw. Wissenschaften, Öffentlichkeit) der Gegenwartsgesellschaften“ (Keller 2004: 59) auseinandersetzt. Sie übernimmt aber auch nicht vollständig das Konzept eines freischwebenden, subjektfreien Wissens, wie dies die Diskurstheorie Foucaults nahelegt. Statt einer Wissenskonstruktion, die qua Sozialisation, Institutionalisierung, Repetition und Kommunikation erfolgt, stehen die diskursiv vermittelten, hinter bzw. unter dieser Oberfläche ablaufenden Bedeutungszuschreibungs- und Aneignungsprozesse im Mittelpunkt der WDA. Analytisch setzt die WDA somit dort an, wo Kommunikation endet – und erlaubt eine analytische Rekonstruktion der daran anschließenden Rezeptions- und konstruktiven sozialen Aneignungsvorgänge. Aber was ist unter Wissen zu verstehen, wenn es weder Subjekten zuschreibbar ist, noch ausschließlich Strukturen und Artefakten innewohnt oder sozial ‚sedimentiert’ ist – und wie soll es mit dem Forschungsprogramm der WDA entschlüsselt werden?
5.2 Wissen und Diskurs In Abschnitt 4.3 wurden Diskurse bereits grundsätzlich und bildlich als ‚Flüsse von Wissen durch Zeit und Raum’ (Jäger) skizziert. Diese Vorstellung von Diskursen ist nicht nur kongruent mit der Darstellung von Innovationen als Wissenspassagen.
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Sie zeigt auch auf, dass Wissen nicht nur der ‚Stoff’ ist, aus dem Diskurse entstehen, sondern auch, dass aus Diskursen Wissen hervorgeht: So ist Wissen einmal zu verstehen als „Bedingung der Möglichkeit von Diskursen“ (Kajetzke 2008: 31); und einmal führen Diskurse „im Laufe der Zeit zur Herausbildung und Verfestigung von ‚Wissen’“ (Jäger 2004: 169). In der vorliegenden Arbeit werden Diskurse als objektivierte Formen sozialer Praktiken verstanden, die Wissen enthalten, mit denen Wissen in Form von Deutungsmustern transportiert und in denen selbst auch Wissen erzeugt und beglaubigt wird. Diskurse können so als Orte der Erzeugung, Nutzung und Legitimation von Wissen betrachtet werden (Oelkers/Tenorth 1991). Anders ausgedrückt wird Wissen in Anlehnung an Giddens (1997) als Medium und Resultat von Diskursen und somit als etwas Dynamisches aufgefasst. Diese theoretischen Wurzeln stehen in Einklang mit dem Wissensverständnis der WDA. Bei Foucault ist Wissen ein Resultat von Diskursen, die wiederum aus Praktiken bestehen (Foucault 1981: 241), die durch Macht beeinflusst sind – und somit kein Resultat individueller kognitiver Anstrengungen. Diskursive, d.h. machtvolle Praktiken führen stattdessen dazu, dass Arenen des Nicht-Wissens bzw. des NichtGesagten und Nicht-Sagbaren entstehen. Aufgrund sozial konventionalisierter Bedeutungen bestimmt Sprache, was einem einzelnen Akteur zu sagen möglich ist. So führt er in „Die Ordnung des Diskurses“ (2003) aus, dass Diskurse über spezifische Prozeduren – Ausschließung, interne Prozeduren sowie die Verknappung der sprechenden Subjekte – die potentielle Eigenmächtigkeit von Diskursen kontrollieren, selektieren, organisieren und kanalisieren. Diskurse finden demnach in mehr oder weniger explizit reglementierten Arenen statt; diese Arenen sind expliziter Gegenstand von Diskursanalysen, für die er in seiner Archäologie des Wissens methodische Hinweise darlegt (Foucault 1981). Bei Berger und Luckmann (1995) steht allerdings das Jedermannswissen, das symbolische Sinnwelten konstituiert, im Zentrum der Betrachtung: Ihnen gilt all das als Wissen, was sich in der subjektiv erlebten Alltagswelt als funktional erweist und gesellschaftlich als wirklich behandelt wird und das Handeln anleitet (Berger/Luckmann ebd.: 45): von wissenschaftlichen und subjektiven Theorien, Zeichen, Symbolen, Faktenwissen über Glaubenssätze bis hin zu inkorporierten Deutungsmustern und Handlungsroutinen. Wissen ist nach Berger und Luckmann ein Produkt sozialer Interaktionen, Prozesse und Strukturen, die die Akteure qua Sprache sowohl internalisieren als auch aktualisieren. Sprache ist somit das Medium, in dem temporäre Objektivationen von Sinn (Weick 1995; Seligman 2006; Bohnsack 2009: 136) geschaffen werden. Wissen gilt in der WDA als etwas, das im Rekurs auf Deutungsschemata erzeugt wird; in Diskursen objektiviert sich dieses Wissen und wird mittels diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken symbolisch geordnet (Keller 1997: 315). Die
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WDA geht davon aus, dass die Produktion von Wissen grundsätzlich auf der Ebene des praktischen Bewusstseins stattfindet und symbolische Gehalte haben kann, und insofern nicht zwingend unter Beteiligung des diskursiven Bewusstseins verlaufen muss. Anders ausgedrückt: ‚Wissen’ ist schon in diskursiven und nichtdiskursiven Praktiken enthalten. Diese binden Giddens (1997) zufolge Zeit und Raum und stellen „Transformationspunkte“ (ebd.: 45) zwischen Handlungen und Strukturen dar (Foucault 1981: 244f., 298). Das Wissenskonzept der WDA kommt demnach dem dynamischen Wissenskonzept von Polanyi (1985) nahe: Nach Polanyi ist nicht die mentale Repräsentation impliziten Wissens zentral, sondern die Dynamik der Wissensbildung – die durchaus aufgrund impliziter Informationsverarbeitungsprozesse, also in der Giddens’schen Terminologie: im Modus des praktischen Bewusstseins oder auch unbewusst ablaufen (Giddens 1997). Polanyi geht es nicht um das Wissen selbst, sondern darum, wie es integriert wird. Nicht die diskursiv geäußerten Wissensinhalte sind in dieser Perspektive zentral, sondern Bedingungen und Form der Wissensgenerierung. Dieser Sachverhalt wird in der WDA insofern berücksichtigt, als diese in diachroner und synchroner analytischer Perspektive quasi ‚zwischen den Zeilen’ das diskursiv prozessierte Wissen, dessen Performation sowie dessen Wirkung untersuchen (Keller 2004: 59). Wissen wird durch die die synchrone ergänzende diachrone Perspektive auf das Material nicht als eine statische Reserve, als ein endlicher, erschöpflicher Wissensvorrat verstanden, sondern vielmehr als eine sich in den jeweiligen Bedeutungszuschreibungen innerhalb diskursiver Felder stets wandelnde und aktualisierende, also dynamische Größe. Wissen kann somit als ein Gegenstand beschrieben werden, der sich im Diskurs als sozialem und historischem ‚Ort’ entfaltet und diesem gleichsam zugrunde liegt. Bei Wissen handelt es sich demnach nicht um eine statische Reserve, sondern es ist vielmehr ein aktiver, relationaler Prozess, der einer permanenten Dynamik unterliegt. Damit werden solche Wissenskonzeptionen aufgegriffen, die Wissen als stetig zu erneuernde ‚Ressource’ konzipieren: Nicht einzelne Gegenstände oder Inhalte sind relevant, sondern die Beziehungen zwischen diesen und den Praktiken, mit der sie zu unterschiedlich stark ausgeprägter sozialer Geltung gelangen.
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5.3 Methodologische Elemente der wissenssoziologischen Diskursanalyse Im Folgenden werden die Elemente der wissenssoziologischen Diskursanalyse nach Keller (1997ff.) dargestellt. 5.3.1 Interpretative Methodik in der wissenssoziologischen Diskursanalyse Diskursanalysen sind, so Keller (2004), „immer und notwendig ein Prozess hermeneutischer Textauslegung“ (ebd.: 67), die eine interpretative Analytik erfordern (Keller 2007). Sie zielen auf eine „Rekonstruktion der Produktion, Stabilisierung und Veränderung kollektiver Wissensvorräte“ (Keller 2004: 86). Aus der Perspektive einer wissenssoziologischen Hermeneutik bedeutet hermeneutische Arbeit, die Konstruktionen wie Sinn und Bedeutung, methodisch kontrolliert zu rekonstruieren, das Verstehen zu verstehen; diese Rekonstruktion sind Interpretationen (Hitzler 2002). Im Spektrum qualitativer sozialwissenschaftlicher Forschungsmethoden sind Diskursanalysen insofern einzuordnen in das Feld der rekonstruktiven Methoden einer interpretativen Sozialforschung. Diese beabsichtigt die Entwicklung typisierender Generalisierungen, die vom Einzelfall abstrahieren und die die Formulierung von gegenstandsbezogenen Theorien erlauben (Bohnsack 2003; Lamnek 2005; Flick 1995b, 2000; Rosenthal 2008). Das interpretative Paradigma besagt gegen positivistische Annahmen, dass Sinn und Bedeutung sich latent in kontextspezifischem, athoretischem Wissen repräsentieren, das über sprachliche und nicht-sprachliche Symbole vermittelt wird und eine (spezifische) soziale Wirklichkeit erzeugt. Dieses Wirklichkeitskonzept hat die methodologische Konsequenz, dass auch die Theoriebildung interpretativ erfolgt: Die Analyse dieses überindividuellen Sinns bzw. der den sozialen Handlungen zugrunde liegenden Bedeutungen greift auf Material eines Wirklichkeitsausschnitts zurück, in dem sich dieses Wissen objektiviert. Die sozialwissenschaftliche Interpretation dieses Materials selbst unterscheidet sich von den alltäglichen, wirklichkeitskonstituierenden Interpretationen insoweit, dass sie explizit, reflektiert und regelgeleitet erfolgt. Interpretative Sozialforschung ermöglicht so, anhand von Einzelfällen komplexe Handlungsstrukturen zu untersuchen. Sie gelangt darüber zu gegenstandsbezogenen Aussagen mittlerer Reichweite. Diese sind zu verstehen als sozialwissenschaftlich-theoretische Konstruktionen (zweiter Ordnung) von atheoretischen Konstruktionen (erster Ordnung). Sie dokumentieren einen systematischen Verstehensprozess, der mit dem alltäglichen Verstehen und sinnhaften Handeln bricht, es wird ein ‚epistomologischer Bruch’ erzeugt.
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Exkurs 2: Epistemologischer Bruch, Verstehen und Interpretieren „Erst durch die Motivation der Fragestellung konstituiert sich überhaupt Thema und Gegenstand der Forschung“ (Gadamer 1990: 289) „was wir... nicht ‚verstehen’, können wir in seiner Besonderheit weder beschreiben noch ‚erklären’“ (Hitzler 1993: 233).
Der Terminus des ‚epistemologischen Bruchs’ verweist – ganz allgemein gesagt – auf die Frage, wie Wissen zustande kommt, er thematisiert den Unterschied zwischen Beobachtern und Beobachteten, zwischen Subjektivität und Objektivität, zwischen Materialisierungen von Wissen und dem Wissen, das für die Interpretation dieser Materialisierungen erforderlich ist. Der epistemologische Bruch ist ein maßgeblicher Gegenstand von Hermeneutik sowie von geistes- und sozialwissenschaftlichen Theorien, denen es um einen methodisch nachvollziehbaren Prozess des Verstehens und Interpretierens geht. Gemeinsam ist ihnen der Bezug auf die Bedingungen der analytischen Trennung von unmittelbarer Erfahrung und Verstehen als unterschiedlichen Wissensarten und -leistungen. Angestrebt wird eine methodisch kontrollierte, reflektiertdistanzierte Dekomposition von Gegenstand und Erkenntnis bzw. Methode. Epistemologischer Bruch In der Tradition geisteswissenschaftlicher Hermeneutik wurde der epistemologische Bruch bereits von Dilthey (1900) thematisiert, von Gadamer (1990) wurde er aus der Perspektive der philosophischen Hermeneutik reflektiert, Mannheim (1980) thematisierte den Unterschied von konjunktivem, d.h. unmittelbarem Verstehen in gemeinsam geteilten Erfahrungsräumen und kommunikativer Verständigung, die die Basis für eine bewusste, über diese Erfahrungsräume hinweg stattfindende Interpretation ist. Aus wissenssoziologischer Perspektive gehen Berger und Luckmann (1995) und in sozialphänomenologischer Tradition Schütz (1974) und Schütz/Luckmann (1979) auf die Verschiedenartigkeit von Wissensformen und das Erfordernis ihrer methodisch kontrollierten ‚Übersetzung’ ein. Neuere Konzepte der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik (Soeffner 1989; Hitzler/Reichertz/Schröer 1999; Hitzler/Honer 1997), die sich auf diese Wurzeln berufen, verstehen es als ihre Aufgabe, die Akteure und ihre wirklichkeitskonstituierenden Handlungen zu verstehen und zu erklären, den Prozess des wissenschaftlichen Fremdverstehens und Deutens zu explizieren und methodisch zu elaborieren. Ebenso ist der epistemologische Bruch Thema in den in Abschnitt 3.3 referierten Sozialtheorien: Die Differenz von Wissensarten bzw. die Voraussetzungen von Erkenntnis sind ebenso Gegenstand der Systemtheorie Luhmanns, wo dieser
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Methode und Methodologie: Diskursanalyse kategorial mit den Termini der Beobachtung erster und zweiter Ordnung erfasst wird. Auch Bourdieu geht in seiner Feld- und Habitustheorie auf die divergierenden Handlungsnotwendigkeiten und Zeitperspektiven unterschiedlicher Akteure (Praktiker und Analytiker) ein. In der Strukturationstheorie wird dieser Sachverhalt unter dem Terminus der doppelten Hermeneutik reflektiert (Giddens 1997; s. Abschnitt 3.2). Die mit der Thematisierung des epistemologischen Bruchs verbundenen Zentralkategorien sind die der Kontextabhängigkeit sowie die der Zeitlichkeit von Wissen. Verschiedene Wissensarten werden demnach an unterschiedlichen sozialen Orten und unter jeweils eigenen zeitlichen Bedingungen erzeugt. Verantwortlich für die unterschiedlichen Wissenskonstruktionen sind die Kontexte, in denen sich die Akteure bewegen und deretwegen sie unterschiedliche „kognitive Stile“ (Soeffner 1989: 32) hervorbringen: So befinden sich die Akteure der Alltagswelt in einer Situation permanenten Handlungsdrucks, in der sich ihr Handeln stets auf unmittelbare Sinnhorizonte des Möglichen richtet. Anders die Wissenschaftler: ihr kognitiver Stil kann analytisch-rekonstruktiv sein, weil sie immer schon abgeschlossene Handlungen und den darin enthaltenen Sinn enthoben von zeitlichen Restriktionen reflektieren (ebd.: 38, 67).61 Wie in Abschnitt 3.3 schon kurz angesprochen, werden hierbei die Wissenskonstruktionen erster Ordnung, über die die Handelnden im Sozialfeld verfügen, zum Gegenstand von Konstruktionen zweiter Ordnung, sobald sie wissenschaftlich rekonstruiert werden. Diese Konstruktionen sind als Konstruktionen zweiter Ordnung methodisch kontrollierte, verstehende Rekonstruktionen der Konstruktionen erster Ordnung, sie sind theoretischwissenschaftlich fundierte Rekonstruktionen atheoretischen Wissens (Bohnsack 2005). Konstruktionen und Zweifel Grundlage eines solchen wissenschaftlichen Verstehens und Interpretierens der Wissensart ‚Konstruktion erster Ordnung’ ist i.d.R. die textförmige Materialisierung der Handlung, in der sich dieses Wissen objektiviert und dokumentiert. Nur so hat der Interpret die Möglichkeit, „frei vom Handlungsdruck konkreter Interaktion (zu, d.Verf.) interpretieren“ (Soeffner 1989: 38) und dabei alternative, gedan-
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Mit Blick auf dieses ‚Verschwinden des Subjekts’ und der deutlichen Betonung von Macht wird Foucaults späterem Werk eine Hinwendung zum Strukturalismus attestiert, „der den Menschen als das Subjekt des Denkens aufhebt und stattdessen die Sprache zum Subjekt macht“ (Collin: 98). So fehle auch „ein weitreichendes Erklärungsmodell für die aktive Teilhabe der Akteure an gesellschaftlicher Strukturbildung“ (Kajetzke 2008: 78). Kritisiert wird auch, dass Diskursanalysen, die sich auf Foucault berufen, sich im Wesentlichen auf die scheinbar unhintergehbare, omnipräsente Anwesenheit von Macht und die auf Macht bzw. Machterhalt ausgerichtete Form der Generierung und Verwendung von Wissen richten (Foucault 1981) – und die somit eine immer schon bestehende Macht unterstellen, die ‚lediglich’ zu entlarven sei. Darüber hinaus wird beanstandet, dass Foucault lediglich eine rudimentär elaborierte Methodologie der Diskursanalytik ausgearbeitet habe (Knoblauch 2006: 214; Pongratz 1989: 140).
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ken-experimentelle Deutungsangebote zu entwerfen. Das für die Untersuchung herangezogene Material repräsentiert dabei nicht die Wirklichkeit, sondern gilt als Teil sozialer Wirklichkeit. Bei ihrer Verschriftung gehen ursprüngliche „Ordnungs- und Wahrnehmungsstrukturen“ (ebd.: 84) teilweise verloren oder werden von neuen überlagert. Interpreten und die von ihnen beobachteten Akteure sind trotz sorgfältigster Analysen daher nicht in der Lage, zu einem Wirklichkeitsverständnis vorzudringen, das sie unmittelbar mit den Akteuren des beobachteten Sozialfelds teilen (ebd.: 32). Dies bedeutet umgekehrt die immanente Aufforderung zu permanenter Wissensarbeit, zu Interpretationen des per se ‚Anderen’ bzw. ‚anders’ Bleibenden. Ein weiterer Grund dafür ist das Prinzip des wissenschaftlichen Zweifels: Als Form reflexiver Aufmerksamkeit wird er im Alltag unterdrückt und weicht implizitem Wissen und unmittelbarem Verstehen, das erforderlich ist, um handlungsfähig zu bleiben (Polanyi 1985; Mannheim 1980). Für die Güte einer wissenschaftlichen Analyse dagegen sind Reflexivität und Zweifel unerlässliche, methodische kontrolliert einzusetzende Voraussetzungen einer interpretativen Sozialforschung (Hitzler 2002: 461; Soeffner 1989: 94; Schulze 2003). Während diese Explikation des durch Zweifel angetriebenen Verstehensprozesses als Kern wissenschaftlichen Verstehens gilt, sieht Polanyi (1985) in der Explikation eine Gefahr für das Verstehen: „ungetrübte Klarheit (kann, d.Verf.) unser Verstehen komplexer Sachverhalte zunichte machen... Betrachten Sie die einzelnen Merkmale einer komplexen Entität aus zu großer Nähe, so erlischt ihre Bedeutung, und unsre Vorstellung von dieser Entität ist zerstört“ (ebd.: 25). So wird an der methodischen Prämisse des Zweifelns die Differenz unterschiedlicher Verstehensprozesse deutlich: Zwar muss sich der Forscher der Erlebniswelt der Beobachteten annähern, um verstehen zu können, wie ein Akteur die von ihm als real erkannte Welt beurteilt (Flick 2002: 30). Gänzlich mit dieser Weltsicht verschmelzen kann der Forscher jedoch aufgrund seines gewissermaßen distanzierteren Wissens über das Zustandekommen der beobachteten ‚alltäglichen’ Weltsicht aus dieser Perspektive jedoch nicht (dazu auch objektiver und subjektiver Sinn bei Schütz 1974, die Bedingungen subjektiven und objektiven Sinns bei Schütz/Luckmann 1979 bzw. Sinnwelten bei Berger/Luckmann 1995; Soeffner 1989). Vor-Urteile und die Differenz von Verstehen und Interpretieren Wissenschaftliches Verstehen hat die Aufgabe, alltägliches Verstehen in seiner Kontextualisiertheit über Konstruktionen von Konstruktionen zu erfassen. Das wissenschaftliche Verstehen beobachtet dazu alltäglichen Verstehensprozesse und ist von ihnen aufgrund der theoretischen Einstellung zur Wirklichkeit grundsätzlich verschieden (Hitzler 1993): Der Beobachter verfügt, sozial bedingt, über ‚anderes’ Wissen, Konzepte, Kategorien, Theorien, mit dem bzw. denen er an das wissenschaftliche Verstehen der alltäglichen Verstehensleistungen der Beobachteten herantritt und diese beurteilt. Wissenschaftliches Verstehen ist vom alltägli-
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Methode und Methodologie: Diskursanalyse chen Verstehen, das es rekonstruiert, in Hinblick auf seine Zielsetzung, Organisation und das verwendete Wissen verschieden (Hitzler/Honer 1997). Die Ursachen für die aus dieser Perspektive als unauflösbar angesehene Differenz liegt zum einen darin, dass der Interpret die textlich fixierte, schon abgelaufene Performation von Wirklichkeit immer nur bereits vorstrukturiert erhält und diese niemals erleben und erfahren kann: „Anders nun als die Daten des szientistisch geprägten Naturwissenschaftlicher sind die Daten des Sozialwissenschaftlers vorinterpretiert. Seine Konstruktionen sind Konstruktionen von Konstruktionen“ (ebd.: 7; Soeffner 1989: 84). Eine weitere Ursache für die Differenz ist darin zu sehen, dass sich Beobachter und Beobachtete in unterschiedlichen Erfahrungsräumen bewegen, in denen je unterschiedliches Wissen zur Verfügung steht: Mannheim (1980) beschreibt dies als die Seinsgebundenheit des Wissens, aufgrund dessen Erfahrung nur vor dem Hintergrund der jeweiligen Bedeutungszusammenhänge machbar und verstehbar ist (ebd.: 242, 271ff.). Diese durch die soziale Gebundenheit bzw. Bedingtheit von Wissen bedingte Vor-Urteilshaftigkeit allen Verstehens steht im Mittelpunkt der Gadamer’schen Hermeneutik. Gadamer (1990) plädierte dafür, das Vorurteil entgegen den Prämissen der Aufklärung als erkenntnisorientierendes ‚Vor-Urteil’ zu rehabilitieren. Er wies damit auf die Historizität und soziale Gelenktheit allen Wahrnehmens und Verstehens hin: „Das Verstehen ist selber nicht so sehr als eine Handlung der Subjektivität zu denken, sondern als Einrücken in ein Überlieferungsgeschehen, in dem sich Vergangenheit und Gegenwart beständig vermitteln“ (Gadamer 1990: 295, i.O.herv.; Resnick 1993; aus methodischer Perspektive Bergmann 1985; aus diskursanalytischer Perspektive Gee/ Green 1998: 121; Angermüller 2005; DiazBone 2007; Bührmann/Schneider 2008: 83ff.). Die Möglichkeit eines vollständigen Aufgehens oder Verschmelzens des Beobachters mit dem beobachteten Sozialfeld wird allerdings unterschiedlich gesehen: so ist es in ethnographischen Studien ein durchaus erklärtes Ziel, etwa über teilnehmende Beobachtungen in die an sich fremden Erfahrungsräume einzudringen und diese zu verstehen, indem das dort flottierende lokale Wissen praktisch aufgenommen und in ‚dichten Beschreibungen’ fixiert wird (Geertz 1987). Als solche sind sie Resultat und Material wissenschaftlicher Reflexion. In der Tradition ethnographischer Forschung haben sie eine eigenständige wissenschaftliche Qualität, in hermeneutisch-wissenssoziologischer Tradition wird demgegenüber die Leistung des methodisch kontrollierten Fremdverstehens und Interpretierens stärker betont, die sich an diese Form der Datenerhebung anschließt (Hitzler 1993: 230). Das ‚richtige’ Sinnverstehen der Beobachteten kann daher grundsätzlich nicht gänzlich sichergestellt werden. Dies liegt an den unterschiedlichen Repräsentationen von Wissen: unmittelbare Erfahrungen müssen erst berichtet und diese medial fixiert werden, damit sie für wissenschaftliche Verstehensleistungen zugänglich werden. Dies ist nicht nur ein in hohem Maße selektiver Vorgang – die oftmals verschrifteten Darstellungen bleiben auch systematisch verschieden von
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unmittelbaren Erfahrungen (ebd.; Gertel 2005).62 Hieran wird die von Mannheim (1980) beschriebene Differenz von Verstehen und Interpretation deutlich: Verstehen bezieht sich auf ein vorreflexives Erfassen, Interpretation dagegen auf ein theoretisch-begriffliches Erfassen, eine Explikation des Verstandenen (ebd.: 272). Die Verschiedenartigkeit der Organisation, Ziele und Voraussetzungen des Verstehens muss jedoch nicht zu einer Konzeption gänzlich voneinander unterschiedlichen Wissens führen – schließlich teilt der Beobachter mit den Beobachteten die gleiche Alltagswelt, in der er mit den gleichen Institutionen umzugehen hat, und er bewegt sich so „permanent in dem Dilemma, zugleich Mitwirkender, Zuschauer und Berichterstatter der gesellschaftlichen Wirklichkeitskonstruktion(en) zu sein“ (Hitzler 1993: 229). Gerade dies stellt die Chance für eine Verschränkung des wissenschaftlichen Wissens mit dem Alltagswissen dar (ebd.). Selektive Materialisierung von ‚Wirklichkeit’ Jede textförmige Fixierung sozialer Wirklichkeit ist vor diesem Hintergrund nicht nur zwingend selektiv hinsichtlich des Fixierten, sondern auch hinsichtlich des Beobachteten bzw. Beobachtbaren (Bergmann 1985): Materialisierungen von Momenten sozialer Wirklichkeit sind damit bereits selbst Konstruktionen zweiter Ordnung. Methodisch gesehen ist daher der hermeneutisch arbeitende Interpret gehalten, zu differenzieren zwischen Aussagen über Texte einerseits, d.h. ihre Entstehensbedingungen, und andererseits Aussagen über die in Text übersetzten sozialen Sachverhalte (Soeffner 1989: 91). Die Differenz zwischen den Prämissen und Handlungslogiken der Alltagspraktiker und denen der wissenschaftlichen Interpreten bleibt damit letztlich unüberbrückbar (Soeffner 1999: 42; Luckmann 1992: 48). Doch die kognitiven Stile des Alltagsverstands und der wissenschaftlichen Haltung gelten nicht als Motoren komplett voneinander abgeschirmter Sinn- und Wissenswelten. Die in Alltag und Wissenschaft jeweils zugrunde liegenden Verstehensleistungen an sich gelten vielmehr als grundsätzlich ähnlich (Soeffner 1999: 42f.). Sie sind zudem aufeinander verwiesen und stehen in einem die Autonomie des jeweiligen kognitiven Stils anerkennenden Verweisungs- und Begründungszusammenhang (Soeffner 1989: 37f.). Darüber hinaus gilt jegliches Handeln, gleich welcher kognitive Stil ihm zugrunde liegt, als sozial relevant, beide repräsentieren ein ‚Denken in der Welt’ und ‚wirken in die Welt’ (Luckmann 1992: 35ff.).
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Diese soziale Bedingtheit von Wissen wird auch mit dem Aspekt der Macht versetzt (z.B. bei Foucault; s. auch Weber/Maurer 2006; Höhne 2005). In einer solchen Optik verhalten sich Beobachtung und Realität relational zueinander. Beobachtung ist demnach selbst ein Resultat unterschwellig wirkender sozialer Praktiken und Prozeduren, die schon die Aufmerksamkeit, die Wahrnehmung von sozialen Sachverhalten und ebenso deren Interpretation lenken. Weil Konstruktionen erster und zweiter Ordnung miteinander verwoben sind, haben die Konstruktionen zweiter Ordnung das Potential, eine Faktizität zu entfalten, die dominante Modi der Beschreibung von Realität perpetuiert (Ivanyi 1999).
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Methode und Methodologie: Diskursanalyse Mit der Anerkennung der Autonomie unterschiedlicher kognitiver Stile bleibt der epistemologische Bruch also letztlich eine unhintergehbare Bedingung der wissenschaftlichen Rekonstruktion und Interpretation der Vorgänge in einer partiell gemeinsam geteilten Sozialwelt. Alltagsverstand und wissenschaftliche Haltung bringen nicht nur je eigene kognitive Stile hervor, sondern sind auch je eigene soziale Praktiken mit spezifischen Regeln. Die wissenschaftliche Analyse kann allerdings ex post die Bedingungen, Gründe und Wirkungen des beobachteten Handelns aufklären helfen, indem sie im Handeln enthaltene Sinnentwürfe intersubjektiv nachvollziehbar macht. Eine unmittelbare Verwertbarkeit des wissenschaftlichen Wissens für Interventionen in den beobachteten Alltag wird damit ausgeschlossen: Eine Wissenschaft, die die soziale Konstitution von Erfahrung und gesellschaftlicher Wirklichkeit zu rekonstruieren beabsichtigt kann ihrer Aufgabe, so Soeffner (1989), nur als eine verstehende, d.h. hermeneutisch-rekonstruktive Wissenschaft nachkommen. Sie bleibt darauf angewiesen, das ‚Verstehen des Verstehens selbst’ zu explizieren (ebd.: 43). Diese Distanz zum Geschehen ermöglicht die analytische Sequenzierung eines an sich fortlaufenden Vorgangs. Umgekehrt macht eine solche Sequenzierung erst Kontinuitäten bzw. Diskontinuitäten sichtbar, die sich im alltäglichen Handlungsstrom nivellieren. Eine methodologische Haltung, die ihren rekonstruktiven wie dekonstruierend-interpretativen Analysefokus auf die Wissensbasiertheit dynamischer sozialer Prozesse sowie die Praktiken der Wissensgenerierung richtet und auch die Problematik des epistemologischen Bruchs bzw. der Asymmetrie wissenschaftlichen und alltäglichen Wissens reflektiert, ist die wissenssoziologische Diskursanalyse.
Mit ihrer Orientierung am interpretativen Paradigma kann die WDA als ein Forschungsansatz verstanden werden, dem es um die Rekonstruktion dokumentierten Sinns geht, der sich vor dem Hintergrund spezifischer soziohistorischer Bedingungen materialisiert (Keller 2007: [11]; Bohnsack 2003; Hitzler/Honer 1997; Hitzler 2002). So intendieren WDA weder eine inhaltsgetreue Wiedergabe geäußerten Wissens, noch beabsichtigen sie eine Rekonstruktion objektiven oder subjektiven gemeinten Sinns. Mit der WDA wird eine reflexive Forschungshaltung i.S. der sozialwissenschaftlichen Hermeneutik (Hitzler/Honer 1997) eingenommen, die an das interpretative Paradigma der qualitativ-rekonstruktiven Sozialforschung anschließt, ohne auf die Prämissen der objektiven Hermeneutik zu setzen (Keller 2007: [37]). Mit hermeneutischem Arbeiten hat das Forschungsprogramm der WDA das Prinzip der Offenheit sowie der Anerkennung der Vorurteilshaftigkeit (im Gadamer’schen Sinne) gemein. WDA zielen auf eine genetische, d.h. eine theoretisch orientierte Interpretation.
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Dieser Hinweis eröffnet eine Differenz zwischen den mitunter synonym verwendeten Begriffen ‚Verstehen’ und ‚Interpretation’ (s. auch Abschnitt 4.2). Diese Differenzierung ist insbesondere von Mannheim (1980) entfaltet worden: Er grenzt schlichtes Verstehen von einem szientistischen Interpretieren ab. Während Verstehen in diesem Sinne auf vorreflexivem Erfassen des Vorgefundenen beruht, besteht die Interpretationsleistung in einem theoretisch-begrifflichen Erfassen und einer präzisen Explikation des Verstandenen. Verstehen und Interpretieren fallen nur dann zusammen, wenn es nicht um ein alltägliches Verstehen geht, sondern um ein wissenschaftliches: In hermeneutischer Tradition ist dieses als eine Kunstlehre (Dilthey 1900) zu verstehen, und nur über ein solches wissenschaftliches Verstehen ist die Rekonstruktion von Sinn möglich. Dieses ist zugleich die Voraussetzung für Beschreibungen und Erklärungen des Alltäglichen (Hitzler 1993). Für ein solches theoretisch-begriffliches Erfassen, also Interpretieren, beruft sich die WDA zum einen auf die bereits dargestellten theoretischen Modelle der symbolisch-interaktiven Konstruiertheit von Wissen und Bedeutung. Zum anderen wird die Orientierung an der Grounded Theory Methode nahegelegt, bei der u.a. über das Verfassen von Memos und Kommentaren bereits eine Vorstufe des Interpretierens vollzogen wird (ausführlicher s.u.). Während die Orientierung am interpretativen Paradigma noch keine zwingend zu befolgenden Ablaufschemata vorgibt (Diaz-Bone 2005), liegt mit dem an der Grounded Theory orientierten Forschungsprogramm ein Vorschlag für ein variabel einzusetzendes, methodisches Procedere vor, um WDA durchzuführen (Keller 2004; Truschkat/Kaiser/Reinartz 2005; Keller 2008). 5.3.2 Die Grounded Theory in der WDA Alle neueren Verfahren der interpretativ-rekonstruktiven Methodenfamilie sind „unmittelbar an die Praxis des Vergleichens gebunden“ (Nohl 2001: 253). Das Prinzip des Vergleichs ist ein wesentliches Moment der Grounded Theory Methodologie (GTM), an der sich auch der Forschungsprozess der WDA orientiert. Die Grounded Theory wurde in den 1960er Jahren in kritischer Auseinandersetzung und Distanzierung mit dem bis dahin vorherrschenden, an naturwissenschaftlichen Formen des Erkenntnisgewinns ausgerichteten hypothetisch-deduktiven Forschungsparadigma von Glaser und Strauss (1967a, b) entwickelt. Glaser und Strauss hielten dieses Paradigma für eine ungeeignete Grundlage, um gesellschaftliche Phänomene angemessen beschreiben und erklären zu können: „Most writing on sociological method has been concerned with how accurate facts can be obtained and how theory can be thereby be more rigorously tested“ (ebd.: 1). Das von ihnen entwickelte Forschungsparadigma der GTM zielt darauf ab, durch induktiv und regelgeleitet aus dem Material gewonnenen Kategorien gegen-
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standsbezogene Theorien zu formulieren, auf deren Basis formale Theorien mittlerer Reichweite generiert werden können. Statt auf theorieprüfenden und hypothesentestenden Verfahren beruht Forschung nach der GTM auf dem Prinzip des permanenten Vergleichs kontrastierender Fälle (komparative Analyse), über die immer weiter abstrahiert wird und schließlich verallgemeinernde Aussagen getroffen werden. Bald nach der Publikation ihrer ‚Discovery of Grounded Theory’ arbeiteten Glaser und Strauss getrennt voneinander an der Elaboration ihrer ursprünglich gemeinsamen Theorie. Dabei entwickelten sie zuletzt sehr unterschiedliche Standpunkte hinsichtlich des Konzepts der theoretischen Sensibilität und deren Auswirkung auf den Kodiervorgang: Strauss und Corbin (1990) betonten die Anerkennung des Vorwissens, mit dem an das Material herangetreten wird. Sie teilten grundsätzlich auch weiterhin die kritische Einschätzung von sozialwissenschaftlicher Forschung, die sich am naturwissenschaftlichen Paradigma orientierte, und hielten auch am Prinzip des permanenten Vergleichs fest, relativierten aber bei der Revision der GTM die Position zur Frage nach der theoriefreien Annäherung an das Datenmaterial. Die Annahme einer vollkommenen Unvoreingenommenheit gegenüber dem Feld, dessen Konstitutionsbedingungen und dem Material, das im Forschungsprozess analysiert bzw. hervorgebracht wird, wurde von Strauss und Corbin verworfen. Sie räumten dagegen dem theoretischen Vorwissen im gesamten Forschungsprozess eine wesentliche Bedeutung ein (ebd.:75ff.). Dieses theoretische Vorwissen beeinflusst jeden Schritt der Untersuchung und muss deshalb offengelegt werden, um die Interpretationen intersubjektiv nachvollziehbar zu machen. Gegenüber Glaser plädierten Strauss und Corbin damit deutlich für ein stärker auch theoretisch strukturiertes und sensibilisiertes Vorgehen im Forschungsprozess: Statt eines theoretischen Kodierens mit Kodes, die streng induktiv und ausschließlich aus dem Material heraus gewonnen werden, sehen Strauss und Corbin das offene Kodieren vor. Durchaus kann die Analyse durch einzelne, auch theoretisch generierte Hypothesen zum beobachteten Phänomen angeleitet werden. Diesem offenen Kodieren folgt der Vorgang des axialen Kodierens, der an einem heuristisch-analytischen, handlungstheoretischen Modell orientiert erfolgt und darauf abzielt, kausale Zusammenhänge zwischen Strategien, Handlungen und Kontext herauszuarbeiten (Strauss/Corbin 1990: 158ff.; für die WDA Keller 2004: 108). Es werden Hypothesen über Zusammenhänge zwischen den Kategorien formuliert, die an den Daten verifiziert werden. Das selektive Kodieren schließlich dient der Verfeinerung der im Zuge des axialen Kodierens gewonnenen vorläufigen Theorie. Während Strauss und Corbin mit diesem Schritt also die Verifikation und Falsifikation von Theorien intendieren, ist er bei Glaser mit dem theoretical sampling
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und der gegenstandsbezogenen Kodierung verzahnt, also von der Theoriebildung noch entfernt (Kelle 1994: 332). Ein an der GTM nach Strauss und Corbin orientierter Forschungsprozess ist in forschungspragmatischer Hinsicht insofern ‚sparsamer’, als nur Daten gesammelt werden, die zur Überprüfung von im Forschungsprozess gewonnenen Hypothesen geeignet erscheinen (1990; ausführlicher zur Kontroverse z.B. Historical Social Research 2007, darin v.a. Kelle 2007; Kelle 1994). ’Grounded’ vorzugehen bedeutet in dieser Weiterentwicklung der GTM also keineswegs eine atheoretische Forschung i.d.S., dass die Elemente der zu generierenden Theorie vollständig voraussetzungslos aus dem im Forschungsprozess erschlossenen Material hervorgehen würden, ohne dass theoretische Vorannahmen eine Rolle spielen würden, wie dies noch von Glaser und Strauss formuliert wurde (Glaser/Strauss 1967a: 37). Stattdessen erfährt das Material im Lichte von theoretischen Vorannahmen und gegenstandsbezogenen Theorien eine Interpretation, mittels derer in die Tiefe des im Material vorgefundenen gemeinten Sinns, dessen Entstehensbedingungen und Implikationen vorgedrungen wird. Insofern fließen schon in den Sampling- und erneut in den Interpretationsprozess theoretische Vorannahmen ein (Strauss/Corbin 1990: 56; Kelle 1994: Kap. 14). Die Annahmen der GTM orientieren die methodische Ausgestaltung der im Folgenden dargestellten Forschungshaltung der WDA (Keller 2005; Diaz-Bone 2005). Grundsätzlich durchläuft eine WDA die folgenden an der GTM nach Strauss und Corbin orientierten Schritte. Demnach wird zunächst eine Fragestellung formuliert, einschlägige Literatur gesichtet und ein Zugang zum Untersuchungskontext bzw. Feld hergestellt. Erstes Material wird gesichtet, und es wird in einem offenen Kodiervorgang werden erste Kategorien festgehalten, nach denen das weitere Sampling, das dem Prinzip des minimalen und maximalen Kontrastierens folgt, vorgenommen wird. Während des axialen Kodiervorgangs werden empirische Zusammenhänge zwischen den Kategorien erschlossen, die durch selektives Kodieren in ein theoretisches Modell integriert, d.h. es werden systematisch Zusammenhänge zwischen Bedingungsfaktoren, Strategien und Handlungen rekonstruiert (Keller 2004; ähnlich Jäger 1999, 2004: 173ff.). Mit der Ausrichtung der interpretativen Analytik der WDA an der Forschungslogik der Grounded Theory ist eine Anerkennung der grundsätzlich induktiven Forschungs- und Interpretationslogik des wissenschaftstheoretischen Pragmatismus’ verbunden (Truschkat/Kaiser/Reinartz 2005; Nohl 2001). Dabei wird unter Einsatz des dargelegten theoretischen Vorwissens sukzessive eine allgemeine, gegen-standsbezogene, d.h. materiale Theorie von mittlerer Reichweite formuliert. Die Orientierung an der Grounded Theory verleiht dem Forschungsprozess der WDA damit den Charakter einer ‚gelenkten Offenheit’: Theoretisch sensibilisiert gelingt es den Forschern im besten Fall, eine gegenstandsbezogene Theorie zu generieren, die kategorial Anschluss findet an formale Theorien.
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Der Analysefokus der im Folgenden in methodologischem Ansatz, Sample und Ergebnissen darzustellenden und zu diskutierenden WDA liegt auf den Wissenskonstruktionsprozessen in einer ausgewählten Diskursgemeinschaft. Unter Diskursgemeinschaften werden die innerhalb eines Feldes miteinander um Deutungshoheit, Ressourcen etc. konkurrierenden Akteure verstanden, die über gemeinsame diskursive Wurzeln, Themen bzw. Inhalte und Praktiken verfügen (Schwab-Trapp 2006: 272; Knoblauch 2006: 224; zu Diskursgemeinschaft s. Abschnitt 4.3); das Feld, dessen Regeln und die im Feld stattfindenden, diskursiv getragenen und evozierten Ereignisse kann gewissermaßen als Arena ihrer Interaktionen verstanden werden. Ziel und Gegenstand der Untersuchung ist die Rekonstruktion des in diesen Arenen von den Akteuren je unterschiedlich verwendeten und konstruierten Wissens, verstanden als das im Diskurs enthaltene nicht Gesagte, Implizite, aber dennoch diskursiv Wirksame. Es manifestiert sich in den im Material zu rekonstruierenden Praktiken und Aussagen. 5.3.3 Sampling und Kodieren in der WDA Das Sampling, also die Korpusgenerierung für die Feinanalyse, und das Kodieren stehen in einer engen Verbindung, die sich aus dem Kodierparadigma und der induktiven Forschungslogik der Grounded Theory ergibt. Nicht nur die Analyse, sondern bereits die Erstellung eines Material- und später eines Analysekorpus’ bedient sich theoriegeleiteter Kriterien und verläuft quasi als ‚Pendelbewegung’ zwischen Theorie und Empirie. Unterschieden werden theoretisches und statistisches Sampling. Umfang der Grundgesamtheit sowie deren Merkmale sind beim theoretischen Sampling vorab nicht bekannt. Beim statistischen Sampling dagegen ist der Umfang der Grundgesamtheit bekannt und die Merkmalsverteilung abschätzbar. Auch die Stichprobenziehung differiert: während die Stichprobe beim statistischen Sampling einmalig und nach Plan gezogen wird, findet sie beim theoretischen Sampling mehrmals und nach jeweils neuen Kriterien statt, die Stichprobengröße ist also vorab nicht bekannt und das Sampling erst beendet, wenn eine theoretische Sättigung eingetreten ist. Das statistische Sampling hat eine vorab festgelegte Stichproboengröße zum Ziel und ist beendet, wenn die Stichprobe untersucht ist (Wiedemann 1995: 441). Gemäß der Grounded Theory bedarf es, um zu Daten zu gelangen, die im Rahmen der WDA eine Interpretation erfahren sollen, einer eingangs noch recht offenen Fragestellung. Die offene Fragestellung, der erste Kontakt mit dem Material aus dem Feld sowie die Hinzuziehung weiterer Informationsquellen dienen dazu, die analytische Aufmerksamkeit zu kanalisieren (Kelle 1994: 326). Aus der Fragestellung erschließen sich erste Kategorien und es wird ersichtlich, nach welchen Kriterien das Sample nach dem Konzept der theoretischen Sensibilität (Strauss/Corbin 1990: 75f.; Kelle 1994: 313ff.) weiter ausgebaut wer-
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den kann, damit über die Beschreibung des Materials hinaus Antworten auf die Forschungsfrage gefunden werden. Das Sampling muss nicht zwingend offen sein, sondern kann durchaus aus dem Material vorab festgelegter Gruppen erfolgen (Brüsemeister 2008: 172). Die Analyse beruht dann auf Material, von dem theoretisch begründet angenommen wird, dass es die Dimensionen der Fragestellung illustrieren kann. Das nachfolgende Sampling beruht dann auf den theoretischen Kategorien, die in einem ersten Analysedurchgang an das Material herangetragen wurden (Flick 1995b). Die WDA ist insbesondere hinsichtlich des Kodierparadigmas an der GTM orientiert (Keller 2007): Kodiert wird, indem Textstellen Kodes zugewiesen werden, die vor dem Hintergrund der intensiven Lektüre des Materials und ebenso durch theoretisches Vorwissen vorläufig als sozial typisch gelten können. Diese Kodes werden weiteren Materialdurchgängen zugrunde gelegt, mit dem Ziel, die Kodes durch Zuordnung von Textstellen (Kodings) aufzufüllen, bis eine inhaltliche Sättigung eintritt. Die Einteilung in die verschiedenen Kodierprozeduren ist als eine idealtypische zu verstehen, der im tatsächlichen Forschungsprozess nicht immer gefolgt werden kann. Beim Vorgang des axialen Kodierens werden, durchaus deduktiv angeleitet, empirische Beziehungen zwischen den Kategorien hergestellt. Strauss und Corbin (1990) schlugen für den axialen Kodiervorgang vor, das in Bezug auf ein Phänomen oder eine Fragestellung ausgewählte Material systematisch auf folgende Kategorien zu untersuchen: Ursachen für das Phänomen, Konsequenzen, Handlungen zur Bewältigung im Umgang mit dem Phänomen (d.h. Ziele, Ursachenzuschreibungen, Bewältigung) sowie Kontextbedingungen (z.B. Zeit, Ort, Dauer und soziales Umfeld; Strauss/Corbin 1990: 158ff.). Beim axialen Kodiervorgang geht es demnach darum, Bedingungen, Problemwahrnehmungen oder konstruktionen, Strategien im Umgang mit dem Phänomen zu identifizieren (Truschkat/Kaiser/Reinartz 2005: [32]). Anschließend erfolgt das selektive Kodieren, bei dem es um die Zuordnung von Textstellen geht, die Aufschluss darüber geben, welche Kategorien aus welchen Gründen bedeutsam sind. In der WDA entspricht dies der Rekonstruktion der narrativen Struktur, des symbolischen roten Fadens des Diskurses. Während dieser Kodiervorgänge werden Forschungsnotizen verfasst. Memos enthalten Beispiele oder Merkmale der Kodes und erläutern Regeln, nach denen die Zuordnung von Textstellen zu Kodes stattfindet. Kommentare umfassen erste theoretische Reflexionen, die neben Memos zur späteren Interpretation herangezogen werden. Dem Kodierparadigma der Grounded Theory entsprechend kann sich herausstellen, dass das Korpus für die weitere Analyse zu erweitern ist, um zusätzliche Kategorien zu gewinnen oder sie inhaltlich füllen zu können und das Sampling
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daher fortgesetzt werden muss. Neben der grundsätzlichen Verfügbarkeit der Daten, der Frage nach der möglichen Selektivität ihrer Quellen spielt im SamplingProzess bzw. bei der Korpusbildung die Frage eine Rolle, inwiefern eine Passung der Daten zur Fragestellung gegeben ist (Keller 2004: 84ff.; Lamnek 2005: 117). Das dargelegte theoretische Vorwissen (s. Kapitel 2 und 3) dient in der hier vorzuführenden WDA als heuristischer Rahmen für den Forschungsprozess. In der Konzeption der Grounded Theory nach Strauss und Corbin (1990) ist das Studium formaler und materialer Theorien, sind Gespräche mit Experten oder persönliche Beobachtungen im Untersuchungskontext bereits von der Phase des Samplings an hilfreich, um zu entscheiden, wie das Sample aufgebaut sein soll. „Im Anschluss an die Formulierung der Fragestellungen und die Sichtung einschlägiger wissenschaftlicher Literatur erfolgt in der Regel eine an heuristischen Kriterien orientierte Zusammenstellung des Datenkorpus. Diese kann gegebenenfalls im Fortgang der Analyse korrigiert, also bspw. erweitert werden“ (Keller 2007: [31]). In den nachfolgend dargestellten Analyseschritten hilft die theoretische Sensibilität beim Sampling und den Kodierschritten.
6 Die Innovationsanalyse Gegenstand der in diesem Kapitel vorzuführenden Analyse ist die Aktivierung, Generierung und Integration von sozialem Wissen im Zuge der Rezeption einer Innovationsaufforderung. Damit wird die analytische Aufmerksamkeit also auf den konstruktiven Aneignungsprozess einer Innovationsaufforderung gerichtet. Mit dieser Untersuchung symbolischer Wissensordnungen erfolgt ein Perspektivenwechsel gewissermaßen auf soziale Praktiken der Innovation, die diese hervortreten lassen. Fraglich ist, inwiefern die jeweilige Qualität des Aneignungsvorgangs mit diskursiven Praktiken in Zusammenhang steht: Inwiefern weisen diskursive und nicht-diskursive Praktiken auf differente Aneignungsstile hin? Präjudizieren bestimmte Aneignungsstile die Art und Weise des Innovationstransfers? Welche Muster der Handlungskoordination können vorgefunden werden?
6.1 Was die Wissenssoziologische Diskursanalyse leisten soll Mit der hier zugrunde liegenden Vorstellung von Innovation ist aus analytischer Perspektive das Erfordernis verbunden, den unterstellten ununterbrochenen Handlungsstrom des Innovationsprozesses reflektiert zu durchbrechen. Im Sinne einer Überwindung unmittelbaren, d.h. atheoretischen Verstehens zugunsten einer reflexiven Forschungshaltung wie sie der WDA zugrunde liegt, wird mit der WDA ein ‚epistemologischer Bruch’ erzeugt. Aufgabe der wissenssoziologischen Diskursanalyse wird es sein, exemplarisch ausgewähltes Material daraufhin zu untersuchen, inwiefern, wie und in welcher Qualität Aneignungsprozesse stattgefunden haben, welche soziale Reichweite sie perspektivisch anstreben und woran dies liegen kann. Wie bereits in Abschnitt 2.2.1 und im Rekurs auf das hier zugrunde liegende Innovationsverständnis (s. Abschnitt 2.5) ausgeführt, muss sich die Analyse auf einen normativ gesetzter und kriterial bestimmter Ausschnitt eines längerwierigen, komplexen Innovationsprozesses beziehen. Sie stilisiert somit ein Anfang und ein Ende, ein Innen und ein Außen von Innovation. Die Ergebnisse der Diskursanalyse werden dazu herangezogen, eine gegenstandsbezogene, empirisch untermauerte Theorie des Innovationstransfers zu entwerfen. Damit dies geschehen kann, ist das Kriterium des Vergleichs zu erfüllen (Wiedemann 1995), aufgrund dessen erst Theorien mittlerer Reichweite formuliert werden können. Im abschließenden Kapitel 7 werden die Ergebnisse in einem Modell diskursiver Innovation zusammengefasst und diskutiert.
I. Bormann, Zwischenräume der Veränderung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92709-1_7, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Unter der Prämisse, dass Innovationen als Passagen von Wissen zeitliche, soziale, sachliche und räumliche Differenzen erzeugen und die diskursive Prozessierung von Innovation in der Diskursgemeinschaft qualitativ differente Ausprägungen zeigen wird, erfolgt der Zugang zum Material mittels der analytischen Annahmen und Fragestellungen der WDA. Diese soll über die unter der Bedingung der Kopräsenz stattfindenden Interaktionen von Akteuren im Innovationsprozess und deren Beitrag zur diskursiven Wissens- und Bedeutungsproduktion Auskunft geben. Die grundlegende Annahme der hier vorzuführenden Innovationsanalyse lautet: Die Verbreitung und Verankerung von Innovationen (Systemintegration) ist nicht auf die Bedingung der Kopräsenz angewiesen. Systemintegration verläuft u.a. über Diskurse, aber nicht ausschließlich im diskursiven Bewusstsein. Diskurse sind Medien und gewissermaßen soziale Modi, durch die Wissen erzeugt, angewendet und transferiert wird, also spezifische Wirklichkeiten diskursiv repräsentiert und konstruiert werden. Durch eine wissenssoziologische Diskursanalyse ist es möglich, neben den Inhalten und Wegen des wirklichkeitskonstruierenden Wissens auch dessen diskursive Verankerung zu analysieren. Im Einzelnen werden in der hier vorgenommenen Untersuchung die folgenden Perspektiven und Fragestellungen an das Material herangetragen. 1. Wahrnehmung und Verständnis der Innovation: Wie wird die Innovation ‚gemacht’? Die analytische Betrachtung eines Innovationsprozesses verlangt aus Gründen der Praktikabilität einen normativ gesetzten Ausschnitt aus einem zeitlich, sozial und räumlich weitaus komplexeren Feld. Damit wird in zeitlicher Hinsicht ein ‚Davor’ und ein ‚Danach’, in räumlicher Hinsicht ein ‚Hier-und-nicht-woanders’ sowie in sozialer Hinsicht eine ‚vondiesen-und-nicht-von-anderen-Akteuren’ getragene Sicht auf Innovation evoziert. Dies ermöglicht zugleich einen analytischen Zugriff, bei dem der Frage nachgegangen werden kann, wie eine zu einem Zeitpunkt tX im Diskurs platzierte Innovationsaufforderung – die in zyklologischer Perspektive (Jäger 2006: [43]) selbst ein aus dem kontinuierlichen Diskurs hervorgehendes Ereignis ist – in einer Akteurskonstellation wahrgenommen, verstanden und interpretiert wird und wie dadurch ein neuer Diskurs angestoßen wird. 2. Aneignung der Innovation: Welches Wissen wird bei der Prozessierung der Innovation angewendet und generiert? Eine ‚halbe‘ Perspektive auf Innovationen endet mit der Betrachtung des kommunikativen Dreischritts Information-Mitteilung-Verstehen. Eine ‚vervollständigende’ Perspektive dagegen fokussiert den Aneignungsvorgang und stellt Fragen, die darauf zielen, was nach der kommunikativen Verbreitung einer Information geschieht: Wie interpretieren die Diskurs-
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akteure ein diskursives Ereignis und ‚machen’ es dadurch zu einer Innovationsaufforderung, auf die sie mit ihren Praktiken Bezug nehmen, d.h. wie eignen sich ein diskursives Ereignis an? Innovationstransfer schließt den aktiven, selbst wissensbasierten Aneignungsprozess des in Innovationen inkorporierten Wissens ein. Wissen ist aber asymmetrisch verteilt, folglich werden auch die Aneignungsprozesse nicht homolog verlaufen. Auf welches Wissen wird rekurriert? Welche Praktiken der Wissensgenerierung und -verwendung lassen sich identifizieren? Welche unterschiedlichen Qualitäten haben diese Aneignungsprozesse? Wie wirkt sich das auf die Verbreitung von Innovationen aus? Wenn es um Verbreitung und Verankerung von Innovationen geht, geht es nicht um einzelne Individuen, sondern um communities of practice und diskursive Koalitionen, d.h. kollektive Akteure. Welches Wissen welcher Akteure spielt in diesen Aneignungsprozessen eine Rolle, durch welche Praktiken wird Wissen relevant? Wie positionieren die Akteure sich bzw. wie werden sie positioniert? An welche Praktiken findet die Innovation in der Diskursgemeinschaft Anschluss, welche Integrationsformen sind perspektivisch vorgesehen?
Die im vorigen Kapitel dargelegten Dimensionen von Innovation als Wissenspassage spiegeln sich in der hier gewählten methodischen Herangehensweise. Die sachliche Dimension von Innovation ist in der Auswahl des ‚Themas’ zu sehen, das für die Analyse herangezogen wird. An diese kriterial gestützte Auswahl schließt sich die Frage nach der diskursiven ‚Gemachtheit’ der betrachteten Innovation an; in der Analyse verschränken sich so sachliche, kognitive und soziale Dimension von Innovation. Die räumliche Dimension der untersuchten Innovation erstreckt sich, wie noch gezeigt werden wird, auf unterschiedliche Handlungsfelder von Bildung und Erziehung. Die Erfassung der zeitlichen Dimension von Innovation wird methodisch so eingelöst, dass das ausgewählte Material sowohl in synchroner als auch in diachroner Absicht untersucht und interpretiert wird. Die im Folgenden vorzuführende WDA soll also aufklären, wie die diskursive Verbreitung einer Innovation und ihre Verankerung über Transfer in der ausgewählten Diskursgemeinschaft stattfindet. Dazu wird zunächst homolog, d.h. fallintern verglichen, um den typischen Gehalt der diskursiven Aneignung einer Innovationsaufforderung rekonstruktiv-interpretativ zu erschließen. In heterolog vergleichender Perspektive, d.h. durch den fallübergreifenden Vergleich soll aufgezeigt werden, wie die Innovation prozessiert wird, welche Praktiken dabei identifizierbar, entlang welcher Themen diese auffindbar sind und nach welchen Regeln der ausgewählte Diskurs organisiert ist (zur Fallkonstitution s. Abschnitt 6.3.1).
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Die theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zu Innovationen und ihrer Prozessierung durch Vorgänge des Transfers dienen als heuristischer Rahmen der sozialwissenschaftlich-hermeneutischen Untersuchung.
6.2 Zur Darstellung und Begründung der Feldauswahl Für die Entscheidung, was im Rahmen dieser Untersuchung als prozesshaft zu untersuchende Innovation gilt, werden die bereits in Abschnitt 2.2.1 dargelegten heuristischen Kriterien nach Gillwald (2000) herangezogen. Demnach gilt als Innovation, was im Untersuchungsfeld eine relative Neuheit darstellt, sich nachweislich sozial verbreitet und dabei mehr als nur eine vorübergehende Episode ist. Treffen die drei Kriterien nicht zu (z.B. Projekte oder Vorhaben, die sich auf einzelne Organisationen beschränken), scheidet das Untersuchungsfeld aus. Aus forschungsökonomischen Gründen wird außerdem das Kriterium der Zugänglichkeit und Verfügbarkeit von Material angelegt. Die Kriterien verweisen auf soziale Konstellationen, in denen ggf. verunsichernde, von Ambiguität begleitete Veränderungen stattfinden und die sich (noch) in einem Zustand niedriger Institutionalisiertheit befinden (Hall/Hall-Spencer 1982). Deren Beobachtung auf der Interaktionsebene bietet sich solange an, bis die Institutionalisierung abgeschlossen ist und Organisationen gebildet sind (Nadai/Maeder 2008: [52]; Heidenreich 1997; s. Exkurs 1). In der weiter unten dargestellten WDA werden die diskursiven Prozesse mit dem Ziel der Verankerung, d.h. ihrer Sozial- und Systemintegration, untersucht. Zunächst ist darzulegen, welches Feld für die Analyse ausgewählt wird, wer darin agiert und inwiefern im ausgewählten Feld Innovationen erwartbar sind. Anschließend wird es in Abschnitt 6.3 um die Rekonstruktion des Innovationstransfers durch explizite und implizite Aneignungsprozesse gehen, um zu Aussagen zu gelangen, wie der symbolische Raum konstitutiert wird, den das Wissen ‚passiert’. 6.2.1 Was ist hier das Feld und wer agiert darin? Das hier exemplarisch untersuchte diskursive Feld wird durch die Aktivitäten im Rahmen der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ konstituiert. In Reaktion auf das vergleichsweise schlechte Abschneiden des deutschen Bildungssystems bei PISA hat die Kultusministerkonferenz 2001 die Durchführung von Maßnahmen in den sieben Handlungsfeldern der Verbesserung von Sprachkompetenz, der Verzahnung von Vorschule und Grundschule, der Grundschulbildung, der besseren Integration von Bildungsbenachteiligten, der Qualitätssicherung, der Lehrerprofessionalität sowie im Feld der Ganztagsangebote verabschiedet (KMK 2001).
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In diesen Handlungsfeldern war ein Großteil des deutschen Bildungssystems jedoch insofern ausgeblendet, als sich die Maßnahmen vorrangig auf das Schulsystem beziehen. Um Abhilfe zu schaffen, wurden in der Folge Innovationsbereiche klassifiziert, die weniger als formal-institutionelle denn als bildungsbereichs- und institutionenübergreifende Handlungsfelder verstanden werden, „in denen konkrete und ausdifferenzierte Reformvorhaben ansetzen und greifen können“ (Innovationsportal 2009). Einer der insgesamt 30 Innovationsbereiche ist ‚Bildung für nachhaltige Entwicklung’. Dies ist ein Innovationsbereich, so heißt es im Innovationsportal, „der von verschiedenen Seiten eingebracht (und von der Vollversammlung der Vereinten Nationen als Motto der Weltdekade für die Jahre 2005 bis 2014 ausgerufen) wurde. Er klassifiziert Projekte, deren Schwerpunkt in der Vermittlung von Kompetenzen und Einstellungen liegt, die gewährleisten, dass auch künftige Generationen eine lebenswerte Welt vorfinden, und bezieht explizit auch das Thema Umweltbildung mit ein. Dabei geht es nicht nur um Wissensvermittlung, sondern um handlungsorientiertes politisches Lernen“ (ebd.). Die Analyse bezieht sich auf die deutschen Aktivitäten zur Umsetzung der o.g. Weltdekade Bildung für nachhaltige Entwicklung: Im Jahr 2002 haben die Vereinten Nationen bei ihrer Vollversammlung in Johannesburg für die Jahre 2005 bis 2014 die Weltdekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ ausgerufen. Der UNESCO wurde die Federführung bei der Umsetzung der UN-Dekade übertragen. Nachdem der deutsche Bundestag 2004 beschlossen hatte, dass Deutschland zur Umsetzung der UN-Dekade beiträgt, wurde die deutsche UNESCO-Kommission damit beauftragt, die Koordination der Aktivitäten zu übernehmen (Hamburger Erklärung 2003; Drucksache 2004). Um die Dekade-Ziele zu erreichen, wurden auf nationaler Ebene vier Ziele formuliert, die die Aktivitäten orientieren sollen: 1. die Verbesserung, Bündelung und der Transfer von Beispielen guter Praxis, 2. die Vernetzung der Akteure der Bildung für nachhaltige Entwicklung, 3. die Verbesserung der öffentlichen Wahrnehmung von Bildung für nachhaltige Entwicklung sowie 4. die Stärkung der internationalen Kooperation im Zusammenhang mit Bildung für nachhaltige Entwicklung (Nationaler Aktionsplan 2005, 2008). Seit 2005 arbeiten Politik und Verwaltung gemeinsam mit Vertretern aus Medien, Wirtschaft und Wissenschaft sowie zivilgesellschaftlichen Akteuren daran, die Ziele der UN-Dekade zu realisieren. Für die Planung, Steuerung und Durchführung der auf die o.g. strategischen Ziele gerichteten Dekade-Aktivitäten in Deutschland wurden unterschiedliche Gremien ins Leben gerufen: Nationalkomitee, Runder Tisch und mittlerweile insgesamt neun Arbeitsgruppen, die jeweils mit Akteuren
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aus verschiedenen Organisationen besetzt sind, die somit teilweise recht unterschiedliche institutionelle Hintergründe haben und differente Rationalitäten verfolgen. Die folgende Abbildung illustriert die Organisationsstruktur der Umsetzung der UN-Dekade-Ziele. Mit ihrer losen, netzwerkartig-polyzentrischen Struktur zielt sie auf horizontale Differenzierungs- und Integrationsformen (Weber 2004: 255; Häußling 2005; Mandl/Winkler 2004). AG 1 AG 8
AG 7
RT NK
AG 2
AG 3
AG 4
AG 6 AG 5
Abb. 1: Organigramm der UN-Dekade-Akteure (eigene Darstellung)
Die Gremien sind in unterschiedlichem Maße mit der Verarbeitung, Verbreitung, Prozessierung und Verwaltung der Innovationsaufforderung befasst, so dass von unterschiedlichen ‚Zentren der Verantwortung’ (Kuper in Böttcher 2004: 244) gesprochen werden kann. Aufgrund ungleich verteilten Wissens entwickeln solche netzwerkartig strukturierten sozialen Entitäten eigene Wissenskulturen und weisen eine hohe Dynamik auf (Häußling 2005: 269; Peine 2006: 27). Diese Dynamik vollzieht sich als „Zentralisierung und Peripherisierung von Wissensteilen... und wird durch die Entwicklung alternativer Deutungs- und Handlungsmodelle bestimmt“ (Schulz 2005: 85). Zwischen diesen Gremien besteht formal kein hierarchisches Gefälle, das durch Weisungsbefugnisse o.ä. manifestiert wäre. Vielmehr weist das Gefüge die Struktur eines polyzentrischen Verbundes, mithin eines Netzwerks auf (s. Abschnitt 4.1.1). Das Nationalkomitee pflegt die Nähe zu politischen Entscheidungsinstanzen. Der Runde Tisch ist ein Gremium, das über die strategische Ausrichtung der Dekade-Aktivitäten berät und sowohl die Arbeitsgruppen als auch das Nationalkomitee unterstützt. Die Arbeitsgruppen – weisen dabei die größte Nähe zu den operativen Akteuren des Felds auf. Sie sind damit betraut, Maßnahmen zu planen und umzusetzen, mit denen die Innovation in das Feld von Bildung und Erziehung integriert wird. Zusammengehalten werden die Gremien durch basale Modi der Handlungskoordination: Beobachtung, Beeinflussung und Verhandlung (dazu Lange/Schimank 2004; Wiesenthal 2005; Kussau/Brüsemeister 2007: 21f.).
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Zwischen diesen Gremien gibt es auch insofern Überschneidungen als z.B. einzelne Mitglieder als Abgesandte der AGs am Runden Tisch teilnehmen. Umgekehrt sind aber nicht alle Teilnehmer des Runden Tisches auch Mitglieder von AGs. Der Informationsfluss wird durch ein gemeinsames Internetportal sichergestellt, auf dem die aus den jeweiligen Gremien hervorgehenden Arbeitsdokumente sowie Verweise auf weitere, für relevant gehaltene Dokumente öffentlich zugänglich eingestellt werden. Diese Dokumente sind die Grundlage der weiter unten vorzuführenden WDA. Die Gremien sind interdependent, insofern sie ohneeinander jeweils dysfunktional wären. Gleichzeitig sind sie nur lose miteinander gekoppelt: i.d.R. erfolgen weder direktive Eingriffe in das operative Geschehen der AGs, noch sind von ihnen Weisungen zu befolgen (zur losen Kopplung s. Abschnitt 1.3.2, 3.1.2). Statt Strukturen fester Kopplung zu schaffen, werden in der Organisationsstruktur der UN-Dekade wechselseitig aneinander gerichtete Erwartungen oder Wünsche aus63 gesprochen, also im Modus von soft governance interagiert (s. Abschnitt 1.3.2). 6.2.2 Wieso ist hier Innovation erwartbar? Die Liste weiterer, für die Untersuchung in Frage kommender diskursiver Felder ist denkbar lang. Denkbar ist auch die Untersuchung diskursive Felder, wie sie etwa anlässlich der Einführung der Ganztagsschule, der Einführung eines neuen Unterrichtsfaches wie Lebenskunde – Ethik – Religion in Berlin und Brandenburg, der Gesamtstrategie von Bund und Ländern zum Bildungsmonitoring, der Exzellenzinitiative an den Hochschulen, dem Bologna-Prozess und der damit einhergehenden Modularisierung der Studiengänge und ihre Umstellung auf Bachelor- und Master-Abschlüsse, der Einführung von Bildungsgutscheinen für Kindertagesstätten oder aber der Entscheidung, den Unterricht in Berufsbildenden Schulen statt nach Fächern nach Lernfeldern strukturiert durchzuführen o.ä., entstehen. In dem ausgewählten diskursiven Feld können insofern Innovationsprozesse erwartet werden, als Bildung für nachhaltige Entwicklung als ein umfassendes, orientierendes Konzept für die Modernisierung im Feld von Bildung und Erziehung verstanden wird (de Haan u.a. 1998; Bormann/Michelsen 2008). Zu dessen Realisierung werden unterschiedliche zivilgesellschaftliche, wirtschaftliche, politische und wissenschaftliche Akteure aktiviert. Die UN-Dekade und die Zusammensetzung ihrer Gremien bieten, verbunden mit der (bildungs)politischen Aufmerksamkeit, die das Thema national und international dadurch erfährt, einen interdis-
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Dies erfolgt über einen oftmals bei den AG-Treffen anwesenden Vertreter des Nationalkomitees. Dessen Funktion besteht im Wesentlichen darin, die AGs mit Informationen zu versorgen, ihre Unterstützungsbedarfe aufzunehmen und an das Nationalkomitee weiterzuleiten oder umgekehrt Wünsche des Nationalkomitees an die AGs zu übermitteln.
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kursiven Möglichkeitsrahmen für umfassende Innovationsprozesse, die eine Differenz in sachlicher, sozialer, räumlicher und zeitlicher Hinsicht erzeugen. Der Gegenstand selbst, um den es im hier zu untersuchenden Diskurs geht – Bildung für nachhaltige Entwicklung –, kann anhand der o.g. nochmals dargestellten Kriterien als Innovation (s. Abschnitt 2.2.1, 6.2) verstanden werden: Relative Neuheit: Während Vorläufer dieses Bildungskonzepts ebenfalls Unterstützung durch regionale, nationale und internationale, supranationale Gremien wie Landes- und Bundesbildungsministerien, OECD und UNESCO erhalten haben, stellt der Ausruf der Dekade durch die Vollversammlung der Vereinten Nationalen eine Neuheit dar. Bildung für nachhaltige Entwicklung ist zwar ein seit Mitte der 1990er Jahre in Wissenschaft und Praxis intensiv diskutiertes Konzept. Es entspricht dennoch dem Kriterium der ‚relativen Neuheit’, als es sich einerseits aus dem Kanon formaler Fachlichkeit löst und andererseits den Anspruch auf kategoriale Gültigkeit über alle Bildungsstufen hinweg erhebt (Harenberg/de Haan 1999). Somit ist Bildung für nachhaltige Entwicklung ein umfassendes Modernisierungskonzept, das sich nicht allein auf inhaltliche, sondern auch auf strukturelle Aspekte seiner Organisation erstreckt. Bildungstheoretisch lehnt es sich dabei durchaus an Überlegungen der klassischen Bildungsidee Humboldts, Klafkis oder von Hentigs bzw. zu Konzeptionen zur Zweiten Moderne an (Harenberg 2005; de Haan 2008) und orientiert sich mit den diversen Kompetenzkonzepten empirisch an aktuellen Überlegungen zu outputorientierten (Leistungs-)Vergleichsstudien (überblicksartig Bormann/de Haan 2008). Keine vorübergehende Episode: Die Umsetzung der UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung wird hier schon deshalb als längerfristig verstanden, weil die Aktivitäten für die Jahre 2005 bis 2014 ausgelegt sind. Außerdem ist es das erklärte Ziel der Dekade, das Konzept Bildung für nachhaltige Entwicklung in diesem Zeitraum fest und bildungsbereichsübergreifend in den jeweiligen nationalen Bildungssystemen zu verankern. Es ist zudem ein überdauerndes Konzept, das diverse Reformulierungen erfahren hat. Bildung für nachhaltige Entwicklung hat sich in Auseinandersetzung mit dem Konzept der Umweltbildung, der Konzepte der Ökopädagogik sowie der Umwelterziehung, dem globalen Lernen und der entwicklungspolitischen Bildung (Scheunpflug 1996; de Haan 1997; Seitz 1997) in den vergangenen Jahren zu einem Bildungskonzept entwickelt, dessen Realisierung bildungspolitisch im Rahmen von bundesweit angelegten Modellprogrammen mitgetragen wurde (BLK 2005; Transfer 21; de Haan 2008) sowie in Empfehlungen der Kultusministerkonferenz verankert wurde (KMK/BMZ 2007; KMK/DUK 2007). Insofern kann Bildung für nachhaltige Entwicklung als
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Re-Innovation vormaliger Konzepte von Umweltbildung, Ökopädagogik und Umwelterziehung betrachtet werden (de Haan/Jungk/Kutt u.a. 1997; de Haan 2008). Soziale Verbreitung: Der Ausruf der UN-Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung verleiht dem Bildungskonzept zum einen international Nachdruck. Zum anderen werden im Rahmen der deutschen Umsetzung der Dekade-Ziele verschiedenste Akteure in die Diskussion, Entwicklung, Umsetzung und Evaluation von Dekade-Zielen und -Aktivitäten eingeschlossen: Beteiligt sind neben Wissenschaftlern, Politik, Verwaltung und Gewerkschaften auch Vertreter von Vereinen und Verbänden, aus der Wirtschaft und den Medien. In verschiedenen Gremien (Nationalkomitee, Runder Tisch, Arbeitsgruppen) entwickeln sie miteinander Strategien, die dabei helfen sollen, das Bildungskonzept in die verschiedenen formellen pädagogischen Handlungsbereichen zu integrieren. Darüber hinaus kann beobachtet werden, dass sich das Konzept zumindest im Feld der formalen Bildung und Erziehung verbreitet. Nicht zuletzt die von Bund und Ländern getragenen Modellprogramme haben in den Jahren 1999 bis 2008 zu einer Integration des Konzepts in mehr als 10% allein der allgemein bildenden Schulen geführt (Transfer 21).
In Kapitel 1 wurden Innovationen als kleinere Einheiten von Reform, und diese als kleinere Einheiten von Wandel diskutiert. Wandel, so heißt es bei Kern (1998), findet nur statt, wenn Ereignisse mit Lösungsansätzen zusammentreffen, die von Akteuren praktisch aufgegriffen werden (ebd.: 6). Wie diese Koordination von Ereignis, Lösungsansatz und Praktiken koordiniert wird, bleibt bei Kern allerdings offen. Diskurstheoretisch lässt sich diese Leerstelle überbrücken. Als Ereignisse gelten solche Phänomene, die diskursiv bearbeitet werden: „Als diskursive Ereignisse sind ... Ereignisse zu fassen, die politisch, und das heißt in aller Regel auch durch die Medien, besonders herausgestellt werden“ (Jäger 2006: 100). Aus diskurstheoretischer Perspektive bedeutet das, dass Ereignisse von einzelnen Akteuren zwar durchaus intentional angestrebt werden können, doch ob sie über den Moment hinaus soziale und historische Implikationen entfalten, entscheidet sich diskursiv. Ebenso wird ein Ereignis aus dieser Warte nicht als Resultat einer ausschließlich individuell zu verantwortenden Handlung verstanden, es ist vielmehr Gegenstand von Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsprozessen, die bereits diskursiv vorstrukturiert sind. Zudem wird angenommen, dass jedes Ereignis bereits „diskursive Wurzeln“ (Jäger 2006: 100; Link 1999; Schwab-Trapp 2006: 175) hat – Ereignisse gehen aus einem Diskurs hervor und gliedern sich in einen Diskurs ein. Damit sind Ereignisse gewissermaßen darauf angewiesen, dass sie in einem geeigneten diskursiv konstituierten ‚Gelegenheitsfenster’ als solche wahrgenommen und diskursiv zu Ereignissen ‚gemacht’ werden.
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Auch Innovationen sind somit, um real zu werden, auf Diskurse angewiesen, in denen ein Phänomen als Aufforderung oder Problem wahrgenommen wird. Die analytischen Kategorien von Kern lassen sich diskurstheoretisch dann so fassen: Innovationen werden diskursiv ‚gemacht’, und wie, durch wen und mit welchen Implikationen dies geschieht, ist eine Frage des Diskurses und seiner Akteure und ihren Praktiken sowie den Positionen, die darin eingenommen werden können. idea
diskursives Ereignis event
institution
Abb. 2: Diskursives Ereignis als Verbund von idea, event, institution (eigene Darstellung)
Die Initiierung der UN-Dekade lässt sich mit den Kategorien der idea, event und institution sowie dem Konzept der losen Kopplung als ein diskursives Ereignis verstehen (s. Abschnitt 3.1.1): Die im Folgenden skizzierten Elemente Idee, Ereignis und Institution werden im Fall eines diskursiven Ereignisses miteinander gekoppelt und stellen für den Moment eine Lösungsoption für ein Problem oder Situation dar. Idea: Ein als Problem erkanntes Phänomen (nicht-nachhaltige Entwicklung) wurde von mit symbolischer Macht ausgestatteten Akteuren mit der Intention aufgegriffen, einen Lösungsansatz anzubieten (weltweites Ausrufen der Dekade Bildung für nachhaltige Entwicklung durch die Vollversammlung der Vereinten Nationen). Die Idee war, den in einigen Weltregionen bereits bestehenden, in anderen erst beginnenden Aktivitäten einen Rahmen zu geben, in dem Akteure sich austauschen können. Event: Auf nationaler Ebene wurde mit der UNDekade die Idee verbunden, den bereits begonnenen Implementierungsprozess von Bildung für nachhaltige Entwicklung weiter zu forcieren. Die Idee wurde von den jeweiligen nationalen Regierungen aufgegriffen; in Deutschland wurden politische Beschlüsse gefasst, auf deren Basis legitimierte Beiträge zur Bewältigung der Aufgabe stattfinden konnten (Deutscher Bundestag 2004). Institution: In der Folge wurde eine Reihe weiterer Aktivitäten ausgelöst (s. dazu Hamburger Erklärung 2005; Nationaler Aktionsplan 2005, 2008), die dazu dienten, Aktivitäten zur Verankerung des Bildungskonzepts im deutschen Bildungssystem zu initiieren.
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In Bezug auf das hier gewählte Feld basiert das Ereignis z.B. in politischer Hinsicht auf einer Reihe vorangegangener Beschlüsse, die in der gemeinsamen Idee der Nachhaltigkeit wurzeln und zu Beginn der 1990er Jahre in der internationalen Staatengemeinschaft in der Agenda 21 festgehalten wurde (BMU o.J.). In der Agenda 21 wurde Bildung für nachhaltige Entwicklung als maßgebliche Tätigkeit zur Realisierung der Idee markiert (ebd.: Kap. 36). Das Makroereignis ‚Weltdekade’ sowie der nationale Beschluss, dieses Ereignis zu unterstützen, rahmt ein Innovationsspiel heterogener Akteure ein, die das allgemeine Ziel der Institutionalisierung von Bildung für nachhaltige Entwicklung gemeinsam verfolgen. Der thematische Bezugspunkt des sich um das Thema herum entwickelnden Feldes ist also seit langem diskursiv verankert, wenngleich er erst mit dem Einsetzen der Aktivitäten im Zusammenhang mit der UN-Dekade einen Aufschwung und öffentliche Präsenz erfährt. Die in Abschnitt 3.3 diskutierten Dimensionen zur Beschreibung von Innovationen lassen sich bezogen auf das ausgewählte Feld wie folgt darlegen. 1. Das diskursive Ereignis „UN-Dekade“ und die damit zusammenhängende Mandatierung von Arbeitsgruppen zur Implementierung von Bildung für nachhaltige Entwicklung erzeugt eine sachliche Differenz. Im Medium des Diskurses wird ein semantisch gesehen unscharfes Konzept (Siemer 2007) sachlich vom namensgebenden inhaltlichen Kern (Bildung) auf eine politische Aufgabe umverlagert, die von heterogenen, nicht nur aus dem Feld von Bildung und Erziehung stammenden Akteuren geleistet wird. Indem sie mandatiert werden, sich für ihre Verbreitung einzusetzen, werden diese zugleich zu informellen Agenten der Sache. Statt ausschließlich Sache von Akteuren aus dem Bildungs- und Erziehungssystem zu bleiben, erzeugt die Diskursivierung des Gegenstands BNE somit sachlich eine Differenz gegenüber anderen Konzepten, die diese Unterstützung nicht erfahren. 2. Daneben wird eine soziale Differenz erzeugt: Mandatiert werden heterogene Akteure, denen durchaus unterschiedlichen Rationalitäten unterstellt werden können. Diese ‚zwingen’ sie dazu, die Innovation in Hinblick auf einen Nenner gemeinsamen Wissens zur Prozessierung der Innovation zu übersetzen und (s. Abschnitt 1.3). Performativ erfährt das Konzept der Bildung für nachhaltige Entwicklung durch die internationale und nationale politische Unterstützung zudem eine inhaltliche Bedeutung, die es gegenüber anderen Innovationen im gleichen Feld aufwertet. 3. Eine räumliche Differenzierung findet statt in dem Sinne, dass ein heterogenes Ensemble unterschiedlicher Akteure durch das diskursive Ereignis als Akteure eines gemeinsamen Feldes erkennbar werden: Ein sozialer Zuschnitt von Innen und Außen kann sich statt an legitimen Funktionen an gemeinsamen Aufgaben orientieren. Durch die Mandatierung heterogener Akteure wird ein legi-
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4.
5.
Innovationsanalyse timiertes Feld konstituiert, das sich im geographischen Raum Deutschlands und darin: in den Räumen unterschiedlicher pädagogischer Handlungsfelder (Hochschule, außerschulische und Weiterbildung, Schule, Verbraucherbildung etc.) bewegt. Darüber hinaus erfolgt mit dem diskursiven Ereignis „UN-Dekade“ eine zeitliche Differenzierung: Der in der Vergangenheit eingeschlagene Weg hat dazu geführt, dass eine Prozessierung der Innovation bis zu einem in der Zukunft liegenden Zeitpunkt und möglicherweise darüber hinaus legitimiert ist. Der Diskurs kann zum einen in ein ‚vor’ und ‚nach’ dem Ereignis differenziert werden. Mit dem Ereignis findet eine Verlängerung der zeitlichen Differenz statt, die es verursacht: durch die Intention, weitere sachliche, soziale und räumliche Unterschiede zu konstituieren, perpetuieren sich die Optionen, zeitliche Differenzen zu erzeugen. Kognitive Differenzierung erfolgt in dem Sinne, dass bei der Realisierung der Ziele der UN-Dekade unterschiedlichste Akteure zusammentreten, die einander bei der Kommunikation und Aushandlung von Zielen und Wegen ihrer Umsetzung mit je eigenen Deutungsschemata und Überzeugungen begegnen, die bei ihrer Interaktion ‚gebrochen’ werden. Diese Kognitionen wirken sich auf die Modi der Integration aus, da sie zwischen Strukturen und Handlungen gelagert sind (s. Abschnitt 3.3).
Im Zusammenhang mit dem hier untersuchten Diskurs kann erwartet werden, dass die Innovation sich auf bislang weniger einbezogene, d.h. insbesondere außerschulische Akteure ausdehnt. Dafür spricht, dass in der Diskursgemeinschaft heterogene Akteure mit heterogenem Wissen integriert sind (zur Funktion von Interdiskursen s. Abschnitt 4.1.1). Innovationstransfer kann auch insofern erwartet werden, als die Diskursgemeinschaft zwar mit einem Auftrag und Mandat ausgestattet, dieser jedoch durchaus gestaltungs- und ergebnisoffen ist. Wie die Innovationsaufforderung von unterschiedlichen Akteuren prozessiert wird, d.h. wie diese interpretiert, angeeignet und schließlich integriert werden, welches Wissen dabei aktiviert wird, wie und warum dies erfolgt, wird mittels der WDA anhand ausgewählten Materials der Diskursakteure der UN-Dekade untersucht.
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6.3 Wissenssoziologische Diskursanalyse von Innovation
6.3.1 Vorgehen im Allgemeinen Diskursanalytiker haben, anders als Praxeologen, statt eines Erhebungs- ein Selektionsproblem (Reckwitz 2008: 198f.): Weil schon ein synchroner Schnitt bereits „Hunderte von Diskursfragmenten“ (Jäger 2004: 170f.) enthalten kann, ist zum Zweck einer analytisch präzisen Bearbeitung eine Selektion des Materials eine begründete Reduktion des Materialkorpus’ angezeigt. Daher wurde zwischen Sampling und Feinanalyse ein vermittelnder Schritt vollzogen: die Grobanalyse des Materialkorpus’ bereitet die reflektierte Auswahl von Material für den Analysekorpus vor, der der Feinanalyse zugrunde liegt. Die Analyse wurde computerunterstützt mit einer Software für qualitative Analysen – hier: maxQDA (Kuckartz 2007) – durchgeführt. Dazu musste zunächst das Material aufbereitet werden: Die im Internet als postscript-Dateien verfügbaren Dokumente der AGs wurden manuell kopiert und die Inhalte jeweils als rtfDateien gespeichert. In diesem Format können sie in maxQDA eingelesen werden und erhalten eine automatische Zeilennummerierung. Die im Folgenden genauer dargestellte Auswertung erfolgte in zwei Schritten: einer Grobanalyse des umfangreichen Materialkorpus’ mit dem Ziel der Erstellung eines handhabbaren Korpus’ für die Feinanalyse. Die Grobanalyse wird hier nur knapp als ein Schritt zur Reduktion des Materialkorpus auf ein handhabbares Analysekorpus vorgestellt. Der sich daran anschließenden interpretativen Feinanalytik wird mehr Raum gegeben: Die Ergebnisse der Feinanalyse werden zunächst fallweise und in Anlehnung an die formulierende und reflektierende Interpretation der Dokumentarischen Methode präsentiert. Während der erste Interpretationsschritt beabsichtigt, die im Material der einzelnen Fälle vorgefundene Ordnung von Wissen interpretierend zusammenzufassen, geht es im zweiten Interpretationsschritt darum, die Eigenarten der jeweiligen diskursiven Ordnung darzustellen. Die fallübergreifende, komparative Interpretation schließlich möchte systematisch Gemeinsames und Unterscheidendes mit dem Ziel der Typisierung von Aneignungsstilen herausarbeiten (zur Fallkonstitution s. Abschnitt 6.3.2.2; zu diesen Schritten der Interpretation Bohnsack 1997; Bohnsack/Nentwig-Gesemann/Nohl 2001; aus 65 diskursanalytischer Perspektive Schwab-Trapp 2006: 182f.). 64
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Ich danke meinen Kolleginnen und Kollegen aus dem Arbeitsbereich Erziehungswissenschaftliche Zukunftsforschung sowie den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus den Forschungswerkstätten und -kolloquien, an denen ich teilgenommen habe, für konstruktive Diskussionen im Zusammenhang mit der Durchführung der Diskursanalyse bzw. den Interpretationen. Eine detaillierte Diskussion der Synthese von Dokumentarischer Methode und wissenssoziologischer Diskursanalyse wird hier nicht angestrebt (dazu Schwab-Trapp 2006; Bittner 2008 und die Rezension von Bittners Ansatz von Wischmann/Münte-Goussar 2009). Angesichts des Um-
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6.3.2 Grobanalyse 6.3.2.1 Das Materialkorpus66 Für die Analyse stehen Dokumente der unterschiedlichen Akteure auf dem so genannten BNE-Portal (www.bne-portal.de) im Internet zur Verfügung. Das BNEPortal wurde anlässlich der UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ im Jahr 2007 installiert. Mit den Dokumenten der verschiedenen nationalen und internationalen Gremien ist das Portal eine umfassende Ressource, um einen auch empirisch klar abgrenzbaren Korpus für die Untersuchung zu erstellen. Das Portal ermöglicht es, über die Protokolle verschiedener Gremien, Publikations- und Veranstaltungshinweise, Projektdarstellungen etc. Einsicht zu nehmen in einen Diskurs, der 2005 unter Beteiligung von Regierungsstellen aus Bund und Ländern, Wissenschaftlern, Vertretern aus Politik und Wirtschaft, zivilgesellschaftlichen Akteuren – durch einen Bundestagsbeschluss legitimiert – offiziell in Gang gesetzt wurde.67 Neben solchen Dokumenten, die die Aktivitäten zur UN-Dekade legitimieren (z.B. Bundestagsbeschlüsse, Beschlüsse der Kultus- und Umweltministerkonferenz, Dokumente supra-/internationaler Organisationen wie UNESCO und UNECE etc.), sind im BNE-Portal auch solche Dokumente abgelegt, die die Aktivitäten zivilgesellschaftlicher Gruppierungen / Organe repräsentieren, die in Deutschland die Aktivitäten der UN-Dekade tragen (Arbeitsgruppen, Runder Tisch, Nationalkomitee). In die Analyse einbezogen wurden die Dokumente, die im Sommer 2008 zur Verfügung standen. Da das Material auf dem Server des BNE-Portals gespeichert und jederzeit verfügbar ist, ist die Grundgesamtheit des Materials bekannt. Daher ist ein systematisches Sampling möglich (Wiedemann 1995; Brüsemeister 2008). Um den Umfang des Materials für die Feinanalyse auf ein handhabbares Maß zu reduzieren, wird zunächst eine kriteriengeleitete Grobanalyse durchgeführt, die
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fangs des analysierten Materials – anders als bei der sequentiell und an kleinen Ausschnitten des Materials vorgehenden formulierenden Interpretation nach der Dokumentarischen Methode – werden Argumentationen vorgestellt, die sich über einzelne Dokumente hinweg erschließen lassen. Zum Umfang des für Sequenzanalysen verwendeten Materials führt Keller (2004) aus, dass „es sich um mehrere zusammengehörige Sätze, um Abschnitte, Kapitel oder ganze Texte handeln“ (ebd.: 105) kann. Das verwendete Material befindet sich im Anlagen-Band dieser Schrift. Es handelt sich dabei um Ausdrucke der im Internet verfügbaren Dokumente. Weil es sich bei den Protokollen um öffentlich verfügbares Material handelt, kann davon ausgegangen werden, dass sich das Moment der sozialen Erwünschtheit in Bezug auf die Darstellung von Diskussionsergebnissen widerspiegelt. In der Diskursanalyse kann das dazu führen, dass Nicht-Dokumentiertes als ‚Nicht-Sagbares’ missinterpretiert wird: Nicht erwähnt werden ggf. Konflikte, Widersprüche oder abgebrochene Debatten. Ebenso kann auf der Basis der Protokolle z.B. nicht systematisch Auskunft gegeben werden über einzelne dominante Sprecher oder den Zeitanteil, den einzelne Themen für sich beanspruchen.
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über die Verteilung theoriegeleitet selektierter Merkmale Auskunft gibt und auf deren Basis das Analysekorpus zusammengestellt wird. In das Materialkorpus wurden zunächst die Dokumente der acht68 Arbeitsgruppen einbezogen. Sie sind diejenigen Gremien, die als dezentrale Zentren des Netzwerks und aufgrund ihrer Aufgaben am ehesten mit den operativen Akteuren des Felds interagieren. Das Materialkorpus umfasst unterschiedliche Textsorten, die diese AGs hervorgebracht haben: Für den Zeitraum von 2005 bis Anfang 2008 sind dies 33 Protokolle der AG-Treffen, sechs Grundsatz-, Positions- bzw. Selbstverständnispapiere sowie drei Interviews69, die die Anliegen und Arbeitsweise der Gruppierung in allgemein verständlicher Sprache verdeutlichen. Somit hat das Korpus einen Umfang von insgesamt 42 unterschiedlich umfangreichen Dokumenten unterschiedlicher Textsorten. Die Grobanalyse des Materialkorpus’ erfolgte hier analog der von Strauss und Corbin (1990) vertretenen Variante der GTM in einem axialen Kodierprozess mit dem Ziel, typische Muster von Ursachenzuschreibungen, Strategien und Handlungen zu rekonstruieren. Um zunächst einen groben Überblick hinsichtlich der Frage zu gewinnen, welches Wissen über die Innovation von welchen Akteuren generiert oder angewendet wird und auf welche Weise dieses diskursiv integriert wird, wurde das Material in der Grobanalyse zunächst unter Rückgriff auf die in den Abschnitten 2.4.1 und 2.5 genannten Kategorien ‚Wissensrichtung’ und ‚Wissensträger’ kodiert. Die beiden Kodes haben die Subkategorien ‚innen-außen’ bzw. ‚außen-innen’ (Wissensrichtung) und ‚individuell-innen’, ‚individuell-außen’, ‚kollek70 tiv-innen’ und ‚kollektiv-außen’ (Wissensträger). Auf dieser Grundlage wurden nach dem Prinzip des minimalen und maximalen Kontrastierens Fälle ausgewählt, deren Material für die Feinanalyse herangezogen wurde (s. Abschnitt 6.3.3). Das Korpus für die Feinanalyse wird also nicht auf der Basis eines thematischen Vergleichs zusammengestellt, sondern mittels einer vom theoretischen Vorwissen orientierten und sensibilisierten Suchstrategie, die auf einen Vergleich von Oberflächenmerkmalen abzielt. Bei der Übernahme von Texten aus dem Material- in das Korpus für die Feinanalyse ist das Prinzip des systematischen Vergleichs (s. Abschnitt 5.3.2) wesent68
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Im Frühjahr 2009 entstand eine neunte Arbeitsgemeinschaft (AG Biodiversität), die aber nicht mehr in die Analyse einbezogen wurde. Inzwischen hat außerdem eine der zum Untersuchungszeitpunkt existierenden Arbeitsgemeinschaft ihre Arbeit eingestellt. Keines der Interviews wurde persönlich, sondern alle wurden schriftlich durchgeführt (mdl. Auskunft von C. Caspari, wissenschaftliche Referentin der UN-Dekade am 13.6.2008): Die Interviewten haben die Fragen in schriftlicher Form erhalten und diese in Absprache mit den Mitgliedern ihrer Arbeitsgruppe schriftlich beantwortet. Die Grobanalyse folgt somit an dieser Stelle noch nicht dem Prinzip des Paradigmas interpretativer Rekonstruktion, sondern wird eher subsumtionslogisch durchgeführt (dazu Rosenthal 2008: 56ff.).
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lich. So ist z.B. zu klären, welchen Detaillierungsgrad die WDA anstrebt. Davon hängt nicht nur ab, wie stark die Ergebnisse generalisiert werden können, also welche Reichweite die Aussagen haben. Von der in der Fragestellung implizierten Schärfentiefe der Analyse bzw. der angestrebten Aussagen wird auch der Umfang des Korpus’ bestimmt: Welche der zu diesem Zeitpunkt denkbaren Akteure, Positionen, Felder, Praktiken und Materialisierungsformen etc. des Diskurses sind in Bezug auf die Fragestellung zu berücksichtigen (Keller 2004: 86ff.)? Die hier vorgeführte Innovationsanalyse zielt darauf ab, anhand des in der Fallstudie einbezogenen Materials typische Muster der diskursiven Ordnung von Wissen im Zusammenhang mit Innovationen zu rekonstruieren, um auf dieser Basis in einem weiteren Interpretationsschritt zu einem Modell diskursiver Innovation zu gelangen. Einbezogen werden daher systematisch ausgewählte Fälle, deren Vergleich zu Aussagen mittlerer Reichweite führen soll (s. auch Abschnitt 7). 6.3.2.2 Die Konstitution von Fällen71 Als zum ‚Fall’ zugehörig gelten auch die anderen von einer AG veröffentlichten Dokumente (Protokolle, Interviews, Selbstverständnis- bzw. Positionspapiere) und werden in die Feinanalyse einbezogen. Für die Grobanalyse wurden jedoch nur die Protokolle der AG-Treffen verwendet, da es sich dabei um eine Textsorte handelt, die von allen AGs produziert wurde: Diskursive Aussagen und Praktiken können so vor dem Hintergrund der Funktion dieser einen Textsorte interpretiert werden. Diese Protokolle dokumentieren die jeweiligen AG-Sitzungen über den Zeitraum von ca. zwei Jahren (2005-2007). In ihrer AG-spezifischen Gesamtheit konstituieren sie einen Fall. Für die interpretative Analyse bedeutet dies, das Material eines Falls in Hinblick auf seine jeweils eigene Sinnhaftigkeit zu rekonstruieren. Dies erfolgt zunächst fallimmanent. In die Grobanalyse eingegangen ist somit zunächst das Material einer ausgewählten Diskursebene (öffentlich von heterogenen Akteuren ausgetragene Formen der politischen Mitbestimmung im Feld von Bildung und Erziehung) eines be72 stimmten Diskursstrangs (thematisch eingegrenzt auf Bildung für nachhaltige 71
72
Die folgende Analyse der ausgewählten Fälle erfolgt in Bezug auf das hier dargelegte Verständnis von Innovationen als Wissenspassagen. Die Darstellung verfolgt keine evaluativen Zwecke i.e.S. (dazu Abschnitt 7.2). Diskursstränge werden allgemein als Themen von Diskursen verstanden (Jäger 2004: 171; 2006: 99). Sie erscheinen auf unterschiedlichen Diskursebenen, d.h. sie haben unterschiedliche soziale Erscheinungsorte, wie z.B. Politik, Medien, Geschäftsleben etc., von denen sich Akteure in Diskurse einblenden (Jäger 2006: 101). Die verschiedenen Diskursebenen sind durchaus miteinander verschränkt, d.h. die dortigen Wissensordnungen weisen Elemente des Wissens anderer sozialer Bereiche auf (s. Exkurs 2; s. Abschnitt 1.3), indem sie sich aufeinander beziehen, einander nutzen, aber auch: ausblenden etc. Diskurse halten somit ein Repertoire möglicher Themen bereit, die aber je unterschiedlich aktualisiert werden. Diskurse und Diskurssträn-
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Entwicklung) auf der Basis einer ausgewählten Textsorte (AG-Protokolle). Andere Textsorten wurden, um ‚textsortenrein’ zu arbeiten, in der Grobanalyse nicht berücksichtigt. Nach der auf der Grobanalyse erfolgten Auswahl von Fällen für die Feinanalyse wurden auch die Interviews sowie die Selbstverständnis- bzw. Positionspapiere der AGs herangezogen. Beim ersten offenen Lesen des Materials, das vornehmlich in Form von Protokollen vorliegt zeigte sich, dass in einigen AGs v.a. die eigenen AG-Mitglieder für die Einspeisung von Informationen sorgen, während andere sich dazu auf externe Akteure berufen. Manche AGs schienen eher informationssuchend und integrativ, andere eher ‚sendungsbewusst’ und explorierend. Nach dem Prinzip der Kontrastierung sollten für die Feinanalyse sowohl solche ‚Fälle’ ausgewählt werden, die sich bzgl. ihres Umgangs mit dem Wissen bzw. der Innovationsaufforderung maximal ähnlich sind als auch solche, die sich maximal unterscheiden. Die Auswahl der Fälle beruhte in der hier vorgestellten WDA auf einem systematischen, inhaltsanalytischen Schritt (Lamnek 2005: 493ff.), der sich an Oberflächenmerkmalen orientiert. Dieser quantifizierende Schritt wurde vorgenommen anhand der Identifikation von ‚Mustern’ des Umgangs mit Wissen in der Grundgesamtheit der 33 AG-Protokolle.73 Für einen ersten Kodierdurchgang aller Protokolle wurden im Rahmen der Grobanalyse die schon theoretisch begründeten Kategorien (Träger des Wissens und Richtung des Wissens) mit ihren Subkategorien (individueller bzw. kollektiver Träger; von innen nach außen bzw. von außen nach innen kommuniziert) verwendet. Hierfür musste jede in Frage kommende Textstelle des schriftlichen Materials doppelt kodiert, also den Subkodes beider Kategorien zugeordnet werden. Auf diese Weise ist eine Darstellung mittels des von der Software maxQDA angebotenen Code-Relations-Browsers möglich (Kuckartz 2007; zum Software-Einsatz in Diskursanalysen Angermüller 2005; Diaz-Bone/Schneider 2004): ‚Gezählt’ wird die Frequenz der Kodings für jedes Feld der resultierenden Matrix, der Browser zeigt also an, wie stark die einzelnen Matrixfelder besetzt sind.
73
ge stehen somit in einem Verhältnis von Wissensreservoir und aktualisiertem Wissensrepertoire zueinander (s. dazu Abschnitt 4.2). Im Vergleich zum fallvergleichenden Vorgehen in der Dokumentarischen Methode verläuft dieses Verfahren aufgrund der theoretischen Absicht der Untersuchung quasi in umgekehrter Richtung: Dort wird im Rahmen der formulierenden Interpretation der immanente Sinngehalt und anschließend die Bearbeitungsvarianz des gemeinsamen Themas ermittelt (Nohl 2001: 266f.). Hier erfolgt die fallinterne und schließlich -externe Elaboration, aufgrund der an theoretisch begründeten Oberflächenmerkmalen erfolgenden Auswahl von Fällen, die verglichen werden sollen, weil der gemeinsame Rahmen der Fälle als Kontext verstanden wird, der zur Innovation auffordert (Integration von BNE in die verschiedenen pädagogischen Handlungsfelder). Es wird analysiert, wie mit dieser umgegangen wird. Ausgegangen wird also von einem gemeinsam erfahrenen Impuls, der jedoch unterschiedliche Deutungen erhält, an die sich heterogene Umgangsweisen anschließen.
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Durch die Grobanalyse ergab sich ein Bild, nach dem sechs der acht AGs v.a. ‚wissensintegrativ’ sind, wobei im Wesentlichen individuelle Akteure aus den Reihen der Dekade-Gremien – v.a. der eigenen AG – diese Informationen beisteuern. Aufgrund der relativen Häufigkeit dieses Musters im Materialkorpus wird dieses Muster als prototypisch betrachtet. Für die nun vorzunehmende Auswahl weiteren Materials für die Feinanalyse, mit der latente Aussagen und Strukturen eines Diskurses rekonstruiert werden sollen, dient es als Kontrast. 6.3.2.3 Das Korpus für die Feinanalyse Für die im Folgenden dargestellte Feinanalyse wurden aus dem Spektrum der Diskursgemeinschaft nach dem Prinzip der minimalen und maximalen Kontrastierung folgende vier Fälle ausgewählt. 1. Die AG 1 (Außerschulische und Weiterbildung) gilt hier als prototypisch – sie hat vier Protokolle veröffentlicht, in denen im quantifizierenden inhaltsanalytischen Schritt im Rahmen der Grobanalyse ein wissensintegratives Muster deutlich wurde. Aus der Gruppe der Fälle mit diesem Muster wurde diese AG ausgewählt, weil von ihr das umfangreichste Material vorlag.
Beispiel eines Kodings: „Herr RS legte dar, dass der Bildungsbereich der Außerschulischen und Weiterbildung sowohl im Bericht der Bundesregierung zur BNE als auch in den internationalen Referenzen (UNESCO: Draft IIS, UNECE: Draft UNECE Strategy) als ein Bildungsbereich für die Bildung für nachhaltige Entwicklung festgehalten ist und daher auch am deutschen Runden Tisch Berücksichtigung finden sollte.“ (1/2005a: 23-27).
2.
Eine AG, die ebenfalls vier Protokolle veröffentlicht hat, das o.g. Muster teilt, darüber hinaus aber auch öffentlichkeitsorientiert und daher in Hinblick auf die Wissensrichtung ausgewogen erscheint, ist die AG 4 (Hochschule).
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257
Beispiel eines Kodings: „Herr VW regt an, für die weitere Arbeit auch internationale Hochschulpartnerschaften in den Fokus zu nehmen.“ (4/2006: 45-46).
3.
Eine weitere AG hat doppelt so viele Protokolle wie die als Prototyp geltende veröffentlicht und weist darin ein ‚sendungsbewusstes’ Muster mit Anteilen der Wissensintegration auf (AG 5 / Informelles Lernen).
Beispiel eines Kodings: „Nach einer längeren Aussprache kommt die Arbeitsgruppe zu dem Schluss: dass es prinzipiell interessant und denkbar ist, (das geplante Buch, d.Verf.) im Rahmen der geplanten UN-Dekade-Reihe zu veröffentlichen. Der Band kann aber auch als eigenständige Publikation außerhalb dieser Reihe erscheinen. Dass eine englische Übersetzung des Bandes verfolgenswert erscheint. Dass der Band nach Möglichkeit bis zum Runden Tisch 2007, d.h. bis November, fertig gestellt sein sollte.“ (5/2007b: 36-39).
4.
Die vierte AG (AG 7 / Schule) schließlich hat vier Protokolle veröffentlicht, die ein ebenfalls ‚sendungsbewusstes’ Muster in Kombination mit Wissensintegration aufweisen; auf diese AG wird in nahezu allen AGs lobend hingewiesen.
Beispiel eines Kodings: „Es soll ein KMK-Beschluss zum BNE-Leitbild herbeigeführt werden (als freiwillige Selbstverpflichtung der KMK). Dazu will die AG Schule eine Vorlage entwickeln, mit der auf die KMK entsprechend eingewirkt werden kann.“ (7/2005_: 54-58).
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6.3.3
Feinanalyse „Man kann sich nicht damit begnügen, die Oberfläche zu systematisieren..., sondern muss die Basisregeln... rekonstruieren“ (Müller 1978: 136)
Die Feinanalyse ist ein interpretativer Akt und stellt den Kern der WDA dar. Wie oben dargestellt, wurde bei der Zusammenstellung des Korpus’ für die Feinanalyse der methodologischen Haltung des interpretativen Paradigmas folgend schrittweise und nach dem Prinzip des systematischen Vergleichs vorgegangen (Keller 2004: 87; Diaz-Bone 2005). Gegenstand der hier vorgeführten Feinanalyse ist die Rekonstruktion der verwendeten Regeln und allokativen und autoritativen Ressourcen bzw. wahrgenommenen und ausgeschöpften Verfügungsrechten, -möglichkeiten und -fähigkeiten (s. Abschnitt 1.3), die konstitutiv sind für das Zustandekommen von sozialen Interaktionen und Ausdrucksformen und die sich hinter der Oberfläche des Diskurses ‚verstecken’. Das Ziel der WDA ist die Explikation dieser Regeln im Verbund mit den sozialen und historischen Kontextbedingungen, der Aussagenstruktur und den in sie eingelassenen Phänomenen und Deutungsmustern. Begonnen wird die Feinanalytik mit der intensiven Lektüre der ausgewählten Dokumente, wobei gemäß der GTM Kommentare und Memos verfasst sowie erste Textstellen codiert werden. Die Feinanalyse in der WDA erfolgt in den im Folgenden nur grob genannten Schritten. 6.3.3.1 Situiertheit und Kontextualisiertheit des Materials Die Situiertheit und Materialität der Aussagen wird berücksichtigt, weil angenommen wird, dass die Aussageproduktion an historische Gegebenheiten anschließt und von der je aktuellen sozialen Situation, dem organisationalen Entstehenskontext und der Position des Sprechers beeinflusst ist. Die Ausprägungen dieser Kontextvariablen können analytisch als dispositiv oder restringierend rekonstruiert werden. Die Form der medialen Fixierung bedeutet zudem unterschiedliche Verbreitungsmöglichkeiten, d.h. unterschiedliche Adressaten und soziale Reichweiten, die bei der Aussageproduktion und ihrer Darstellung eine Rolle spielen können (Keller 2004: 95f.). Die Leitfragen dieses Analyseschritts lauten dementsprechend: Für wen wird von wem auf welche Weise eine Äußerung produziert und wem ist sie wo zugänglich? In welchem institutionellen Umfeld oder zu welchem Anlass finden die Äußerungen statt?74 74
Die folgenden Ausführungen verdeutlichen die Orientierung des Forschungsprogramms der WDA an Foucaults Werk. In seinen Ausführungen zur Formation der Äußerungsmodalitäten notiert Foucault, dass es für das Verständnis des Diskurses elementar sei festzuhalten, wer
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Das Material… Um die Ergebnisse einer WDA hinsichtlich ihrer Reichweite einschätzen zu können, ist es erforderlich, zunächst den Entstehenszusammenhang der in die Analyse einbezogenen Dokumente darzulegen. Dies erfolgt unter der Annahme, dass die sozialen Bedingungen der Aussagenproduktion die mittels der WDA aufgespürten Prozesse der Bedeutungs- und Sinnkonstruktionen beeinflussen, weil angenommen wird, dass in unterschiedlichen sozialen Kontexten auch unterschiedliche Wissensrepertoires verfügbar sind (Keller 2004: 95). In den an der Diskursgemeinschaft beteiligten communities of practice entwickeln sich innerhalb des gemeinsam verbindenden Diskurses ggf. verschiedene Subdiskurse heraus. Analysiert wird hier, welche Deutungsstrukturen und Aneignungsprozesse im Diskurs ablaufen, ob sich die Thematisierungsformen verändern, inwiefern sie sich stabilisieren, andere Subdiskurse und / oder diskursive Akteure inkludieren oder exkludieren, inwiefern dies von der Positionierung im Diskursfeld beeinflusst ist etc. Die Zwischenergebnisse der Analyseschritte laufen in der grundlegenden Frage zusammen, inwiefern diese unterschiedlichen Verläufe Rückschlüsse auf verschiedene Aneignungsqualitäten zulassen. Die in der hier vorgestellten WDA untersuchten Protokolle werden i.d.R. nach Zustimmung durch AG im Internet als postscript-Dokumente veröffentlicht. Dadurch können sie eine größere, prinzipiell weltweite, nicht kopräsente Öffentlichkeit erreichen, können so die Deutungsangebote transportieren, die in den Protokollen enthalten sind und so zur Institutionalisierung des Diskurses beitragen.75 ...als Vergegenständlichung eines Interdiskurses Die ‚Summe’ der Ausprägungen des sozialen und historischen Kontexts, … Die Dokumente entstehen im sozialen bzw. historischen Kontext des nationalen Beitrags zur weltweiten UN-Dekade, die für die Jahre 2005 bis 2014 ausgerufen und in Deutschland bereits im Herbst 2004 mit ersten Vorbereitungstreffen informell gestartet wurde.
75
spricht, von welchem institutionellen Ort aus dies geschieht und wie dadurch Subjektpositionen konstruiert werden (Foucault 1981: 75ff.). In den hier untersuchten Dokumenten werden mitunter Verweise vorgenommen, die teilweise nicht ohne Hintergrundwissen nachvollziehbar sind. So dürfte z.B. die Abkürzung UNESCO Draft IIS (AG Außerschulische und Weiterbildung 2005a: 25) nur wenigen unbeteiligten Akteuren und womöglich auch einigen involvierten Akteuren nicht geläufig sein. Obwohl sie Teil eines Interdiskurses sind, können solche Elemente daher exkludierend wirken. Außerdem werden Konflikte mit anderen kollektiven Akteuren innerhalb der Diskursgemeinschaft mitunter nicht deutlich hervorgehoben. Die hier untersuchten Protokolle sind oftmals eine Mischform aus Verlaufs- und Ergebnisprotokoll. Entsprechend wird in einigen Dokumenten nur das Ergebnis eines Konfliktlösungs- oder Einigungsprozesses festgehalten, in anderen Dokumenten jedoch weitaus deutlicher auf konfligierende Standpunkte hingewiesen.
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Das hier zu untersuchende Material stammt aus dem Zeitraum 2005 bis Anfang 2008 und erlaubt insofern einen Einblick in die beginnende Umsetzung der Dekade-Ziele, die in Deutschland mit einer Vielzahl von Akteuren, die vom Nationalkomitee zur Mitwirkung in den AGs aufgerufen wurden, realisiert wird. Die Protokolle dokumentieren die Zusammenkünfte der heterogen zusammengesetzten, teilweise starker personeller Fluktuation unterworfenen AGs, bei denen es um die Planung von Aktivitäten zur Realisierung der o.g. Dekade-Ziele für das jeweilige pädagogische Handlungsfeld geht. … des institutionellen Kontexts und … Die Daten sind in einem breiten institutionell-organisatorischen Kontext zu verstehen, der in die Deutungen der kollektiven Akteure hineinwirkt. Die UN-Dekade „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ findet weltweit statt und erfährt in den jeweiligen nationalen Umsetzungen ihre Konkretisierung. In Deutschland werden die Aktivitäten unterstützt von Regierungsstellen, Vertretern aus Politik und Wirtschaft, Wissenschaftlern und zivilgesellschaftlichen Organisationen, deren Vertreter auch in den AGs mitwirken. Bei den AG-Treffen ist oftmals ein Abgesandter des Nationalkomitees anwesend und bringt aktiv Themen und Aufgabenstellungen in die Sitzungen hinein, er fungiert in der Gegenrichtung ebenso als Sprachrohr für die Anliegen der AGs zu den Vertretern des Runden Tisches oder dem Nationalkomitee hin und kann insofern als personelle Schnittstelle zwischen den horizontal angeordneten Gremien betrachtet werden. Die Mitglieder der AGs wurden zu Beginn der Dekade-Aktivitäten vom Nationalkomitee berufen; die AGs konnten während ihres zweiten Arbeitsjahres selbst über Neuaufnahmen entscheiden. … des situativen Kontexts… Der situative Kontext, in dem die Dokumente entstehen, ist wie folgt darstellbar: In den verschiedenen Gremien wirken Akteure aus Wissenschaft, Interessensverbänden, zivilgesellschaftlichen Organisationen, Wirtschaft, Ministerien etc. mit. Die Dokumente werden im Anschluss an die jeweiligen Sitzungen als Mischform zwischen Verlaufs- und Ergebnisprotokoll verfasst. Nicht jedes Protokoll enthält Angaben über die jeweiligen Teilnehmer der Sitzungen. Die Verfasser der Dokumente sind zwar meistens, aber nicht immer benannt und sind in Bezug auf die AGProtokolle auch nicht immer dieselben. In manchen Gruppierungen rotiert die Aufgabe des Protokollierens. Daher sind die Dokumente in ihrem Umfang und mitunter in ihrer Präzision von unterschiedlicher Qualität und wechselndem Umfang. Die Verfasser der AG-Protokolle sind stets aktive Mitglieder der AGs, teilweise ist es auch der Abgesandte der Arbeitsstelle beim Vorsitzenden des Nationalkomitees.
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...konstituieren gemeinsam: Interdiskursivität Aufgrund des institutionell heterogenen Hintergrunds der einbezogenen Akteure sowie des prinzipiell breiten, über das Internet angesprochenen Publikums kann das hier einbezogene Material auf der Ebene eines Interdiskurses angesiedelt werden. Interdiskurse sind dadurch gekennzeichnet, dass sie das spezielle Wissen von Spezialdiskursen entdifferenzieren und horizontal reintegrieren: sie vermitteln zwischen Spezialdiskursen und Öffentlichkeit (Link 2006: 412). In solchen Interdiskursen zirkuliert weder ausschließlich wissenschaftliches Wissen, wie dies in einem zwar in der Öffentlichkeit stattfindenden, nicht-wissenschaftliche Akteure jedoch exkludierenden Spezialdiskurs erfolgt, noch sind die Diskursakteure exklusiv in dem Sinne, dass ihre Zusammenkünfte geheim oder an explizite, besondere, die Mitgliedschaft regelnde Attribute o.ä. gebunden wären. Vielmehr handelt es sich um einen integrativen, transdisziplinären Interdiskurs, der im hier vorliegenden 76 Fall im prinzipiell öffentlich zugänglichen Raum des Internets dokumentiert ist. Solche Interdiskurse haben immer verschieden Adressaten bzw. Akteure und treffen auf eine weitgehend unstrukturierte, vorwiegend rezeptiv tätige Öffentlichkeit mit geringen eigenen Diskursanteilen. Nichtsdestotrotz haben Interdiskurse nach Waldschmidt u.a. das Potential, in den Alltag zu „diffundieren“ (Waldschmidt/Klein/Korte u.a. 2007: [16]). Sie können dort aufgrund ihrer semantischen Offenheit, d.h. grundsätzlichen Mehrdeutigkeit popularisiert werden und möglicherweise normbildend, normalisierend wirken. Insofern bieten Interdiskurse ein subjektivierendes Potential: Es geht (in) ihnen v.a. um die symbolische Verknüpfung von Verhaltensempfehlungen, Deutungsmustern etc. mit hegemonialem, auf einem Gefälle beruhenden, also gerade nicht populärem Allgemeinwissen (ebd.: [17]). Die Merkmale von Interdiskursen fassen Waldschmidt u.a. wie folgt zusammen: Sie sind mit diffuser Bedeutung aufgeladen, haben unscharfe Grenzen, sind hybride und oftmals bildhaft. 6.3.3.2 Formale Struktur des Materials Wie detailliert die vorgefundene Struktur der Aussagen in die Analyse einbezogen wird, hängt vom jeweiligen diskursanalytischen Zugriff ab. So werden linguistische Diskursanalysen noch weitaus mehr Wert auf die Rhetorik, Metaphorik und Sprachstile legen als dies bei WDA der Fall ist. Einbezogen wird die Struktur der Aussagen unter der Annahme, dass das jeweilige Trägermedium Fixierungskonventionen bereithält, die die vorgefundenen Aussageformen und -inhalte, mithin das (Nicht)Sagbare beeinflussen (Keller 2004: 96f.; Foucault 2003).
76
Damit weist die Performanz des untersuchten Diskurses die Charakteristika der mode-2Wissensproduktion auf (s. Abschnitt 1.3)
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Leitfragen dieses Analyseschritts beziehen sich auf die formale Struktur der protokollarisch festgehaltenen Aussagen und lauten: In welcher Form sind die Aussagen verfügbar, welche Restriktionen sind mit dem Format verbunden, an wen sind sie adressiert und welche Funktion hat das Material? Jede wie auch immer verbreitete Textsorte hat ihre eigenen Limitierungen hinsichtlich ihrer formalen und sprachlich-rhetorischen Struktur, die aus den an sie gerichteten Erwartungen bzgl. der Einhaltung der für diese Textsorte üblichen Konventionen resultieren (Stenschke 2004). Das für die Analyse überwiegend verwendete Material richtet sich an ein breites, nicht näher spezifiziertes Publikum – es handelt sich, wie oben schon deutlich wurde, überwiegend um Material der Textsorte ‚Protokoll’. Es ist über einen Internetserver unbeschränkt öffentlich zugänglich. Darüber hinaus wurden verschriftlichte Interviews sowie Selbstverständnispapiere der AGs hinzugezogen. Insbesondere die beiden zuletzt genannten Textsorten erlauben es Akteuren, anderen einen Eindruck über Deutungen, Wissen, Einstellungen, Ziele und Absichten zu vermitteln, sie stellen Identifikations- bzw. Anschlussmöglichkeiten dar. Protokolle dokumentieren vergangene Handlungen oder Beschlüsse und dienen der strukturierten Information der dabei Anwesenden oder Dritter. Dazu ‚arretieren’ Protokolle die Verläufe und / oder Ergebnisse konkreter sozialer Interaktionen (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005; Bergmann 1985). Als Verlaufs- und / oder Ergebnisprotokoll können sie unterschiedliche Formen haben und sich auf verschiedenste soziale Situationen beziehen (z.B. auf Prüfungen, Verhöre, freiwillige Zusammenkünfte oder in Form von ‚Empfangsprotokollen’ für Staatsbesuche auf zukünftige Ereignisse). Funktional sind sie nur, wenn es eine Weiterverwendung für sie gibt (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005: 14). Protokolle entstehen in der Arena von Akteurskonstellationen. Sie dokumentieren dortige Geschehnisse und deren Ergebnisse; sofern sie zugänglich sind, adressieren sie eine ‚Galerie’, ein nicht direkt beteiligtes Publikum. Bei diesem Publikum handelt es sich um eine wenig strukturierte Öffentlichkeit, die v.a. rezeptiv tätig ist (Stenschke 2004: 48). Mit der Veröffentlichung der Protokolle im Internetportal wird somit prinzipiell eine begrenzte Inklusionsoption eröffnet: Das Publikum kann sich über Inhalte, Abläufe und Strukturen informieren. So haben die Protokolle vorrangig einen doppelt performativen Charakter: zum einen dokumentieren sie Verläufe und Ergebnisse von Sitzungen, sie zeigen, welche Themen besprochen werden, in welcher Reihenfolge dies geschieht. Was allgemein zugänglich veröffentlicht wird, unterliegt der Entscheidung des jeweiligen Gremiums, die Protokolle sind somit Gegenstand eines Aushandlungsprozesses über das, was als Verlauf und Ergebnis mitgeteilt wird und wie dies erfolgt. Zum anderen sind sie ein essentieller Bestandteil des untersuchten Gesamtdiskurses, der – neben weiteren Publikation und Aktivitäten – auch durch die sukzessive
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Veröffentlichung der Protokolle sichtbar wird, durch die Vielzahl von Sprechern bzw. Akteuren eine performative Wirkung entfalten, d.h. eine dynamische, symbolische Wissensordnung erzeugen kann. Kognitive Dimension von Protokollen Protokolle gelten als eine kognitive Textsorte (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005). Die Verschriftlichung von Gedanken, gleich in welcher Textsorte, erfordert eine hohe Abstraktionsleistung. Schreiben, bzw. die Praktik der Produktion eines für Dritte bestimmten oder zumindest zugänglichen Textes stellt auch für Vygotsky (2002) eine vollkommen eigenständige Sprechfunktion (ebd.: 316) dar: Die potentiellen Rezipienten des Textes müssen dabei gleichsam konstruiert, imaginiert werden. Verschriftete Äußerungen beziehen sich somit auf die inkorporierte soziale Konstruktion von Adressaten, ihrem (Vor)Wissen, ihren Erwartungen und Überzeugungen. In Protokollen fallen reelle Praxis und Aussage auseinander, da sie i.d.R. nach einer Interaktion angefertigt und mit Erinnerungen versetzt werden. Die AG-Protokolle des Korpus’ werden teilweise von unterschiedlichen AGMitgliedern verfasst. Auch nicht-biographische Texte wie Protokolle sind i.d.R. das Arbeitsprodukt einzelner Akteure. Eingewendet werden kann insofern, dass es sich bei einer solchen Textsorte um subjektives Material handelt und daher die schriftsprachliche Kompetenz des Verfassers bei der Analyse berücksichtigt werden müsste, weil mit ihr der analytische Gehalt der Dokumente variiert: Die rekonstruierten Äußerungen und Deutungsmuster könnten nur dem schreibenden Subjekt zugeschrieben werden und würden gerade nicht generalisierend für das soziale Wissen in Diskursen stehen. Doch mit Blick auf die Funktionen der Textsorte ‚Protokoll’ tritt der „Protokollant nicht als Autor in Erscheinung (tritt), sondern als schreibende Instanz“ (Niehaus/Schmidt-Hannisa 2005: 16). Die Aufgabe dieser ‚Instanz’ liegt in der hohe Abstraktionsleistungen erfordernden neutralen Transformation von Sprache in Text. Auch im Rahmen von Diskursanalysen werden die Dokumente nicht als individuelle Leistungen betrachtet und auf die Absichten ihrer Verfasser hinterfragt. Vielmehr werden die Dokumente in Hinblick auf ihre diskursive Wirkung und die Gründe dafür untersucht. Die Intentionen der Verfasser dienen allenfalls „dem Zweck, Wirkungen des Diskurses insgesamt zu erfassen" (Jäger 2004: 173). Ähnlich betont Keller für die WDA, dass es nicht primär um eine Sinnattribuierung durch einzelne Subjekte geht. Im Zentrum stehen vielmehr die „situativen Sinngehalte im direkten Äußerungszusammenhang“ (Keller 2004: 97f.): Die Rekonstruktionsabsicht der WDA zielt „letztlich auf den allgemeinen Inhalt, wie er als typischer im Rahmen eines sozialen Kollektivs beschrieben werden kann“ (ebd.). Zwar vollziehen Akteure die Akte, durch die ein Diskurs zustande kommt, aber sie agieren eben vor dem Hintergrund des Diskurses und „aus dem Diskurs heraus“ (Keller
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2006: 135). So können Diskursstränge von unterschiedlichen kollektiven Akteuren mit unterschiedlichen Aussagen hinsichtlich kausaler Annahmen, Folgen etc. belegt werden, ohne dass dabei individuelle Ansichten zu diskriminieren wären (auch Link 2005). Soziale Dimension von Protokollen Protokolle können darüber hinaus als eine soziale Textsorte aufgefasst werden: Verschriftungen über Praktiken können zwar nicht gleichgesetzt werden mit Praktiken (Reckwitz 2008: 196f.). Sie erlauben jedoch eine interpretative Rekonstruktion von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken und dem mit ihnen verbundenen Wissen. Nicht das mehr oder weniger kompetent zum Ausdruck gebrachte individuelle Wissen ist Gegenstand der diskursanalytischen Untersuchung. Vielmehr stehen die im Material dokumentierten sozial wirksamen diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken im Vordergrund, d.h. das Dokument ist objektiviert und manifestiert die sozialen Interaktionen, von denen es spricht und bietet sich zugleich als Gegenstand daran anschließender Interaktionen an. Diskursanalytisch gesehen ist es nicht als Träger einer Aussage relevant, sondern als Bestandteil einer Äußerung, als Element eines sozialen, historischen, institutionellen Netzes von Verweisen und Anleihen. In diesem wird es auch untersucht. Zeitliche und räumliche Dimension von Protokollen Außerdem können Protokolle als eine Textsorte aufgefasst werden, bei der die Dimensionen Zeit und Raum eine Rolle spielen: Der Zugriff auf ein Protokoll informiert unabhängig von Zeit und Ort der Rezeption über ein vergangenes Geschehen. Protokolle dokumentieren Wissen, Praktiken oder können räumlich sich ausdehnende dispositive Wirkungen entfalten, sofern sich Akteure sich in ihren Praktiken bspw. auf darin enthaltene Handlungslegitimationen beziehen. Protokolle stellen zudem eine zeitlich prinzipiell unbegrenzte soziale Repräsentation von Wissen und geschehenen Ereignissen dar und können damit ein Mittel sein, um soziale Kontinuität und Kohärenz nach innen und außen herzustellen. In ihrer Schriftlichkeit sind Protokolle ein Medium der Verewigung und eine Gedächtnisstütze (Assmann 1999: 181ff.). Grundsätzlich können sie mit Halbwachs (1985) als inhaltstragende Elemente eines vom individuellen Gedächtnis nur graduell unterschiedenen kollektiven Gedächtnisses verstanden werden, das von einer „zeitlich und räumlich begrenzte(n) Gruppe“ (ebd.: 73) getragen wird und dem sie eine Form geben. Während also die Ereignisse zwangsläufig in der Echtzeit verschwinden, in der sie entstehen, dokumentieren und erinnern Protokolle an ihre Existenz. Ereignisse lösen sich also nicht einfach auf, sondern werden über die verschiedenen, auch in der rekonstruktiven, interpretativen Forschung praktizierten Lösungen bzgl. des Umgangs mit Vergänglichkeit zu einem „geschehenen Ereignis“ (Berg-
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mann 1985: 304). Protokolle erlauben es auch jenen, den inhärenten Sinn von und das Wissen in Ereignissen zu rekonstruieren, die bei den Ereignissen, die sie dokumentieren, nicht anwesend waren. Nicht zuletzt stellen Protokolle gleichzeitig Medien der Instrumentalisierung dar, indem sie Strittiges oder Unvorteilhaftes beschönigen, nivellieren oder auslassen – zum Zwecke der Überzeugung oder Betonung (zum Aspekt des Auslassens: Wrana/Langer 2007: [32]). Allerdings scheint die Betrachtung eines Gedächtnisses als ein statisches Speichermedium eindimensional. Berücksichtigt werden müssen auch die unter Beteiligung eines Gedächtnisses ablaufenden Prozesse der Wissenskonstruktion in sozialen Systemen (Cranach 1995). Zwei andere Funktionen sozialer Gedächtnisse bestehen darin, dass Wissen zunächst in einer spezifischen Form aufzunehmen (zu enkodieren) und dieses außerdem wieder herauszugegeben (zu dekodieren), d.h. die Wissensarbeit der AG-Sitzung zu verstehen und diese komprimiert und nachvollziehbar zu verschriftlichen. Durch diese Funktionalität greifen Gedächtnisse in soziale Wissensgenerierungsprozesse ein, da sie als „Prozesse der Verarbeitung und damit auch der Veränderung des Wissens" (ebd. 1995: 26) betrachtet werden können. Sie beherbergen und schaffen das Wissen sozialer Systeme (ebd.: 40ff.). So gesehen, haben soziale Gedächtnisse mit materialisierten Diskursen vergleichbare Qualitäten. Dies verdeutlicht Jäger (2004), dem zufolge ein Diskurs ein „Fluss von sozialen Wissensvorräten durch die Zeit“ (ebd.: 23; 2006: [43]) ist. Zu ergänzen wäre, dass diskursives Wissen, z.B. in Form von Protokollen, mit dem Fluss durch die Zeit gleichzeitig auch durch den Raum ‚fließt’, dabei eine Sache ‚transportiert’ und diese in Raum und Zeit ‚distribuiert’. Sachliche Dimension von Protokollen Schließlich verfügt die Textsorte ‚Protokoll’ in sachlicher Hinsicht über ein Veränderungspotential. Vor dem Hintergrund ihrer potentiellen zeitlichen und räumlichen Wirkungen sind Protokolle insofern auch als Medien der Veränderung zu verstehen, da sie sozial performativ wirken: Sie sind ein Wissensspeicher, auf den sich Akteure berufen, sie erfüllen eine Selbstkontroll- und Erinnerungsfunktion und extemporieren kontinuierliche Handlungsströme i.S. einer asynchronen Verstetigung des Gewesenen. Darüber hinaus können sie durch Auslassungen etc. die Funktion der Rationalisierung irrationaler Aushandlungen, Konflikte, Sitzungsverläufe etc. einnehmen. Außerdem können sie der Rechenschaftslegung dienen. Schließlich bergen Protokolle eine Inklusionsoption, weil sie – sofern sie zugänglich sind – Akteuren Deutungsmöglichkeiten unabhängig von Raum und Zeit ermöglichen. Insgesamt können Protokolle somit auch nur vordergründig als eine monologische Textsorte betrachtet werden. Innerhalb des Diskurses, aus dem sie hervorgehen, sind sie Ergebnis und potentieller Anstoß diskursiven Wissenstransfers
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(Stenschke 2004: 45). Nicht nur, dass durch die Form, die ihnen gegeben wird, implizite Erwartungen eingelöst werden, die bzgl. der für diese Textsorte üblichen Konventionen gelten. Auch das Protokollieren selbst ist eine diskursive Praxis der Aussagenproduktion (Wrana 2005). Den über das Dokument hinausreichenden sozialen Verweisungszusammenhang heben auch Niehaus und Schmidt-Hannisa (2005) hervor: Protokolle sind ihnen zufolge nur funktional, wenn ihre Weiterverwendung vorgesehen ist: Insbesondere Ergebnisprotokolle enthalten „explizit performative Formeln, auf die die Beteiligten festgelegt werden“ (ebd.: 13).77 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass Protokolle Resultate und Gegenstände von Diskursen sind. Sie sind einerseits Ergebnis einer spezifischen Symbolisierungspraktik sowie andererseits Mittel und Ausdruck diskursiver Wissensordnung, die sie raum-zeitlich transzendieren. Als solche repräsentieren sie symbolisch stattgefundene Aneignungsprozesse und nehmen für zukünftige Handlungen eine Vermittlungs- und Erinnerungsfunktion ein. Als materialisierte Artefakte flüchtiger Diskurse wirken sie in zweifacher Hinsicht ordnend: sie strukturieren zeitliche Abläufe in ein ‚Davor’ und ein ‚Danach’ und sie strukturieren in sachlicher Hinsicht, indem sie Auf- und Abwertungen enthalten, Sachverhalte betonen, differenzieren, auslassen, gliedern etc. und ihnen somit symbolisch eine Position zuweisen. Das Material ermöglicht eine wissenssoziologisch-diskursanalytische Rekonstruktion von Diskursen, d.h. die Analyse spezifischer Aneignungsformen und ihrer Bedingungen, die Identifikation ggf. unterschiedlicher Subdiskurse innerhalb eines gemeinsamen Diskurses, ihres Auftauchens und ihrer Verläufe. Durch die nicht nur fallimmanente, sondern auch fallübergreifend-komparative Interpretation der analysierten Subdiskurse können Möglichkeitsräume von Wissen sowie Wissensordnungen aufgedeckt werden. 6.3.3.3 Die interpretative Feinanalytik Die interpretative Feinanalyse kann den im Folgenden dargestellten Schwerpunkten einzeln oder kombiniert folgen. Sie zielt auf die Rekonstruktion der typisierbaren kollektiven Wissensvorräte als „Deutungsbausteinen eines Diskurses“ (Keller 2004: 94). Phänomenstruktur Zunächst erfolgt in der interpretativen Analyse die Rekonstruktion der diskursiven Phänomenstruktur (Keller 2004: 99ff.). Dabei geht es darum, die Dimensio77
Latour (2001) weist in seinem Werk „Das Parlament der Dinge“ auf den strittigen Gehalt und die potentiell konfliktauslösende Wirkung von ‚Dingen’ hin, die sie allein aufgrund ihrer Existenz entfalten: Aufgrund ihrer Strittigkeit haben sie einen Aufforderungscharakter, der Kollektive auffordert, sich zu diesem zu verhalten bzw. zu positionieren (s. Fußnote 7).
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nen des Phänomens im Material zu identifizieren und mit formalen Kategorien zu belegen. Die Phänomene sollen in ihrer spezifischen Aufgeladenheit mit Sinn nachkonturiert werden, indem diskursive Wirkannahmen, Wertungen, Handlungsmöglichkeiten und wahrgenommene -aufforderungen, Verantwortlichkeiten etc. rekonstruiert werden. Erschlossen wird die Phänomenstruktur synchron und diachron, d.h. sowohl in Hinblick auf die inhaltlichen Dimensionen des Phänomens, die Sprecher, ihre Positionen und Signifikationen als auch diachron, also hinsichtlich des Wandels dieser Aspekte. Die Phänomenstruktur wird analysiert, um etwas über die Bedingungen der diskursiv hergestellten Macht bzw. Autorität aussagen zu können, die wiederum Wissenskonstruktionen ermöglicht oder erschwert bzw. das Sagbare und Nicht-Sagbare und somit die Fortentwicklung diskursiver Konstellationen beeinflusst. Übertragen auf die grundlegende Zielstellung dieser Schrift bedeutet dies, dass nach der Wahrnehmung und Interpretation eines diskursiven Ereignisses gefragt wird, das Innovationsprozesse in Gang setzt. Außerdem wird der Modus der daran anschließenden Aneignung untersucht. Narrative Struktur Hier geht es um die Ermittlung des symbolischen roten Fadens, der die unterschiedlichen Deutungsbausteine miteinander verknüpft. Dieser Interpretationsschritt wird im Rahmen der komparativen Interpretation vorgenommen, bei der eine Darstellung von Diskurstypen angestrebt wird. Deutungsmuster und Klassifikationen Deutungsmuster beherbergen den Annahmen der WDA zufolge den typischen, ggf. temporären sozialen Sinn einer Aussageeinheit (Keller 2004: 104). Sie sind daher nicht als Konzepte zu verstehen, die aus einer ‚totalitär’ verstandenen Kultur (Reckwitz 1997a) als überdauernde und allseitig geltende, objektive Tatsachen 78 hervorgehen. Anders als bei einem an der Oevermann’schen (1973) Objektiven Hermeneutik orientierten, strukturalistischen Verständnis von Deutungs-mustern wird in der Diskursanalyse angenommen, das Deutungsmuster Diskurs und Interaktionen verbinden: Sie aktualisieren sich über diskursive und nicht-diskursive Praktiken und sind an sich relativ stabil (Truschkat 2008; Wrana/ Langer 2007). 78
Oevermann hat als Begründer der objektiven Hermeneutik den Begriff der Deutungsmuster geprägt (1973). Ihm zufolge sind die anhand von individuellen Aussagen oder nichtsprachlichen Äußerungen rekonstruierbaren Deutungsmuster gewissermaßen als verkleinerte und inkorporierte ‚Abbilder’ gesellschaftlicher Praktiken zu verstehen. Individuen können demnach nur in den Grenzen verfügbarer gesellschaftlicher Deutungsmuster handeln. Sie sind damit strukturell determiniert, in ihrem Handeln an die ihnen bekannten gesellschaftlichen Konventionen gebunden (auch Fußnote 40).
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Lüders und Meuser (1997) verstehen Deutungsmuster als einen sozialen Wissensvorrat, der subjektiven Schemata zwar vorgängig, aber dennoch nicht unabhängig von jenen ist (ebd.: 62). Deutungsmuster beziehen sich auf praktisches Wissen oder Unbewusstes (Giddens 1997), liegen also in einer tieferen Sinnschicht (Soeffner 1989). Sie „gehören einer Ebene des Wissens an, die jenseits oder unterhalb dessen liegt, was den Akteuren als Handlungspläne, Einstellungen, Meinungen intentional verfügbar ist“ (Lüders/Meuser 1997: 64; Keller 2007: [18f.]). Lüders und Meuser (1997) gehen außerdem davon aus, dass die Gültigkeit neuer Deutungsmuster Gegenstand von sozialen Aushandlungsprozessen ist (ebd.: 73). Hier setzen Plaß und Schetsche (2001) an und ergänzen: Damit ein Kollektiv entsteht, das die Gültigkeit eines auszuhandelnden Deutungsmusters anerkennt, ist individueller Austausch erforderlich. Und damit sie sozial gültig und kollektiv handlungswirksam werden, wird die kommunikative Verbreitung von Deutungsmustern für unabdingbar gehalten (ebd.: 523f.). Demnach sind Deutungsmuster die aus variablen sozialen (Interpretations)Praktiken hervorgegangenen Entwürfe, die das Denken, Handeln, Verstehen lenken und im Medium des Diskurses potentiell einer ständigen Revidierbarkeit unterworfen sind (ebd.: 525ff.). Die drei Basisannahmen, die Plaß und Schetsche in Bezug auf Deutungsmuster formulieren (Deutungsmuster als sozial handlungsanleitende Repräsentation sozialen Wissens, individuelle Anerkennung von Deutungsmustern als Voraussetzung für deren kollektive Geltung sowie Verbreitung von Deutungsmuster über Medien) sowie die komplexitätsreduzierenden und Verständigung erleichternden Funktionen, die Deutungsmuster demnach haben, sind zunächst normative Annahmen. Um Deutungsmuster zu identifizieren und die Annahmen über sie zu validieren, ist ein „Perspektivenwechsel“ (ebd.: 530) erforderlich: Der theoretische und empirische Blick soll sich auf die Prozesse der Entstehung und „Verbreitung sozialer Wissensformen“ (ebd.) richten. Zu untersuchen sind dazu nach Plaß und Schetsche solche Dokumente und Medien, die gut zugänglich sind und eine hohe Streuwirkung erzielen. Unter Klassifikationen werden Modelle der Wirklichkeitskonstitution, mithin typisierende und typische Unterscheidungen bzgl. der Wahrnehmung und Interpretation von Wirklichkeit verstanden (Keller 2007). Klassifikationen umfassen Bewertungen von sozialen Phänomenen, die auf wissensabhängige Entscheidungen über die Zuordnung eines Phänomens zu einer Klassifikation schließen lassen und darüber hinaus eine performative Wirkung i.d.S. entfalten, dass sie die Selbstbeschreibungen, Erfahrungen, Wahrnehmungen und Deutungen beeinflussen (Keller 2008: 243ff.). Klassifikationen können somit als ‚Formkategorien sozialen Wissens’ aufgefasst werden (Plaß/Schetsche 2001). Sie werden hier als nicht gesondert zu identifizierende Elemente von Deutungsmustern verstanden. Methodisch rekonstruiert werden Deutungsmuster durch die an der Grounded Theory orientierten
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Analyseschritte (s.o.) der zunehmenden Verdichtung von Codings/Textfragmenten zu formalen Kategorien. Ebenso werden Metaphern79 in die Analyse einbezogen sowie untersucht, welche Bezüge zu anderen Themen oder Diskursen aufgebaut werden.
6.4 Fälle im Feld: Differente Aneignungsstile eines ausgewählten Innovationsdiskurses „alles spielt sich so ab, als ob…“ (Bourdieu 1993: 56)
Die Ergebnisse der wissenssoziologischen Diskursanalyse werden hier als komplementär zu dem im theoretischen Abschnitt vorläufig entwickelten Verständnis von Innovationstransfer in einem ausgewählten sozialen Feld von Bildung und Erziehung verstanden. Mit dieser Komplementaritätsannahme wird somit explizit keine Hierarchisierung im Sinne eines asymmetrischen Abhängigkeitsverhältnisses zwischen wissenschaftlich-theoretischem Wissen auf der einen Seite und alltäglich verwendetem Wissen auf der anderen Seite aufgebaut (Berger/Luckmann 1995). Vielmehr wird ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Theorie und Empirie intendiert, also weder eine theorielose Empirie noch eine empirielose Theorie angestrebt (Vogd 2005; Bohnsack 2005). Das in den Abschnitten 2.5 und 3.3 skizzierte Verständnis von Innovationen als Wissenspassagen wird ergänzt durch die interpretativ gewonnenen Rekonstruktionen von Aussagen und Praktiken im Innovationsprozess; diese sind selbst Konstruktionen zweiter Ordnung. Zusammengefügt entsteht eine ‚neue’ Konstruktion zweiter Ordnung, eine gegenstandsbezogene Theorie mittlerer Reichweite. So sind beide ‚Theorien’ Ausfluss von Reflexion, komplexitätsreduzierender Akzentuierung, von Interpretation. Die bereits dargelegten theoretisch-konzeptionellen Überlegungen zu Innovationen und ihrem Transfer dienen dabei als heuristischer Rahmen der im Folgenden vorgeführten Untersuchung.
79
Metaphern repräsentieren komplexe, abstrakte Sachverhalte: Sie heben einige Dimensionen eines komplexen Wissensbereichs hervor, blenden andere aus, betten Sachverhalte, Bedeutungen, Begriffe in andere Kontexte ein. Sie lenken die Aufmerksamkeit von Adressaten, bringen aber auch die Aufmerksamkeitsrichtung derer zum Ausdruck, die sie verwenden. Auf diese Art wird (implizites) Wissen so aufbereitet, dass ein Erkennen von etwas als relevant möglich wird und Bedeutungszuschreibung stattfinden kann (Polanyi 1985: 20). Die Verwendung von Metaphern ist als eine – zumeist unbewusst erfolgende – komplexitätsreduzierende Strategie zu verstehen, die Rückschlüsse auf mentale Modelle zulässt, die für den Erwerb neuen Wissens zentral sind (Moser 2003; Karl 2007).
270
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Im Rahmen der Diskursanalyse wird zunächst analysiert, wie die Auseinandersetzung mit der Innovationsaufforderung eine soziale Wissensaktivierung, -generierung, -anwendung und -integration abläuft und ob und inwiefern Unterschiede dabei zwischen den verschiedenen kollektiven Akteuren zu beobachten sind. Im folgenden Abschnitt geht es um die Darstellung der interpretativ-rekonstruktiven Analyse der ausgewählten Fälle. 6.4.1 Fallbezogene interpretative Rekonstruktion Zunächst wird das Material fallweise interpretiert, um die Charakteristika der unterstellten Aneignungsprozesse als kohärente Anordnungsmuster von Merkmalsausprägungen herauszuarbeiten, die bei der fallübergreifend-komparativen Interpretation erneut herangezogen und weiter dimensionalisiert werden. Im Folgenden wird rekonstruiert, ob und inwiefern von heterogenem Wissen gespeiste, gleichsam subkutan affizierte Diskursstränge zustande kommen: Unter der Oberfläche der leicht auffindbaren, weil explizit benannten Themen spielen sich jene diskursiv und nicht-diskursiv praktizierten Aushandlungen statt, von denen schon die Rede war (s. Abschnitt 3.1.3). Die Rekonstruktion solcher Praktiken, d.h. die Ermittlung von Merkmalskombinationen wird schließlich zur Identifikation von Diskurstypen führen (Kluge 2000; s. Abschnitt 6.4.2). Die Rekonstruktion erfolgt in Anlehnung an die formulierende Interpretation der Dokumentarischen Methode: zuerst wird eine paraphrasierende Rekonstruktion der im Material dokumentierten Themen vorgenommen. Dazu wurde in diachroner Perspektive, sequentiell80 untersucht, welche Themen in den Protokollen aktualisiert, behandelt und erschlossen wurden bzw. wie die Innovationsaufforderung wahrgenommen und verarbeitet wurde. Der Terminologie des Forschungsprogramms der WDA zufolge leistet dieser Schritt die Rekonstruktion der narrativen Struktur, in der einzelne Aussagen zu einer ‚Geschichte’ verknüpft werden (Keller 2004: 106ff.). Die formale Orientierung an der Zielstellung der Dokumentarischen Methode erscheint hierfür als eine sinnvolle Hilfe, um bei der fallweisen Analyse für wiederkehrende Themen sensibilisiert zu sein. Die synchrone und diachrone Betrachtung der AG-Protokolle zeigt sowohl einige wiederholt behandelte Themen als auch solche, die offenbar eine untergeordnete Rolle spielen. Wenngleich nicht alle AGs die Diskursstränge (s. Fußnote 68) im gleichen Umfang behandeln, sind die bearbeiteten Themen weder beliebig, noch zerfällt die Diskursgemeinschaft, obwohl offenbar heterogene Inhalte und daran geknüpfte Interessen verfolgt werden.
80
Zum Umfang des für Sequenzanalysen verwendeten Materials führt Keller (2004) aus, dass „es sich um mehrere zusammengehörige Sätze, um Abschnitte, Kapitel oder ganze Texte handeln“ (ebd.: 105) kann.
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271
6.4.1.1 AG 1: Außerschulische und Weiterbildung Die AG Außerschulische und Weiterbildung scheint in Hinblick auf ihre Interaktionsfrequenz, Zusammensetzung und verhandelte Themen ein prototypischer Fall in der hier untersuchten Diskursgemeinschaft zu sein. Sie wurde aufgrund des quantifizierenden Schritts in der Grobanalyse als kontrastierender ‚Normal’fall in den Analysekorpus aufgenommen. In die Untersuchung einbezogen wurden vier Protokolle sowie zwei Varianten eines Positionspapiers dieser AG. An den vier dokumentierten AG-Sitzungen nahmen insgesamt 19 Personen teil, von denen ca. ein Drittel bei mindestens drei Treffen anwesend war, zwei Personen waren an allen vier Treffen beteiligt. Worum geht es in der AG, was sind die zentralen Themen, wie werden sie behandelt und erschlossen? Die Themen, die in den jeweils nachfolgenden Sitzungen wieder aufgegriffen werden und durch ihre Fortsetzung für einen roten Faden der Diskussion sorgen, beziehen sich in dieser AG auf zwei interne Organisationsund Koordinationsgremien der UN-Dekade (Runder Tisch und Nationalkomitee) sowie andererseits auf Aspekte der Verbreitung (Dekade-Projekte) und Evaluation (Qualitätskriterien, Zertifizierung). Von lediglich untergeordneter Bedeutung sind die Halbzeitkonferenz im Jahr 2009, mit der die Aktivitäten eine internationale Sichtbarkeit erfahren, sowie der Nationale Aktionsplan. Die AG bearbeitet somit nahezu das gesamte im Diskurs entfaltete Themenspektrum, d.h. sie bedient sich nahezu aller im untersuchten Ausschnitt der Diskursgemeinschaft kursierenden Themen; sie aktualisiert somit kein spezifisches Repertoire. Im Laufe der vier AG-Treffen scheint sich die AG von einer problembewussten über eine suchende bis zu einer blockierten community zu entwickeln. In den Protokollen werden keine konkreten Arbeitsziele benannt, diese sind vielmehr in den beiden Fassungen des Grundsatzpapiers dokumentiert. Thema / Zeitpunkt
2005a
2005b
2006
2007
Runder Tisch
x
x
x
x
Nationalkomitee
x
x
x
x
Nat. Aktionsplan
x
Dekadeprojekte
x
x
x
Positionspapier
x
x
x
x
x
Portal Halbzeitkonferenz
x
x
Jahresthema
x
x
Qualitätskrit, Zert.
x
x
Tab. 1: Diskursstränge der AG 1
x x
x
272
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Formulierende Interpretation Zunächst stellt sich die AG 1 in ihren Protokollen als problembewusst und proaktiv dar, und in den Protokollen werden herausfordernde Aufgaben ebenso wie Unzufriedenheiten mit den organisatorischen Strukturen im nationalen Verbund der UNDekade angesprochen. Im Lauf der Zeit verschiebt sich dieses Bild jedoch von einer v.a. symbolischen Proaktivität zu einer Diagnose von Problemen, die sich auf die eigene Produktivität negativ auswirken. Im verbalisierten Selbstkonzept der AG als Akteurskonstellation, die das gemeinsam verbindende Thema auf „zukunftsweisende Bahnen lenkt“ (Grundlagenpapier 1/2005; 2006), dabei auf Anforderungen flexibel reagiert und innovativ wirkt, werden Semantiken verwendet, die mit den in den Protokollen dokumentierten Aktivitäten wenig gemein haben. Dort wird schon zu Beginn die Grundsatzfrage nach der weiteren Existenz der AG gestellt (1/2005a: 21), es wird problematisiert (1/2005b: 23ff.; 1/2006: 19ff.), es werden unverbindlich bleibende Arbeitsvorschläge unterbreitet (1/2005b: 66ff.; 1/2007: 137, 200ff.) oder umgekehrt organisationale Verbesserungen eingefordert (1/2005b: 32; 1/2006: 76f.; 1/2007: 314). Die in den beiden „Grundsatzpapieren“ (2005; 2006) dokumentierten Intentionen der AG bestehen darin, bereits existierende Initiativen miteinander zu vernetzen, sie für das Thema BNE zu sensibilisieren und zu unterstützen bei der Planung und dem Ausbau ihres Angebots im Zusammenhang mit BNE (Grundlagenpapier 1/2005: 25-26, 38-46). Doch weder wird hier die tatsächliche Unterstützungsleistung näher benannt, noch soll sie bedingungslos erfolgen. Sie ist an Voraussetzungen geknüpft (Grundlagenpapier 1/2005: 27-37). Dabei orientiert sich die AG an einem „guten Beispiel“ (1/2007: 126), nach dem die als unterstützungswürdig identifizierten Einrichtungen eine kriterial klar definierte Schwelle bereits überschritten haben müssen (1/2007: 127-150). Unklar bleibt, ob die Einrichtungen an die AG herantreten sollen oder umgekehrt die AG auf die Einrichtungen zugeht, um eine Unterstützungsbeziehung aufzubauen. Das erste Protokoll enthält die Themen, die in den folgenden Dokumenten wiederkehren. Im Protokoll wird eine Unsicherheit bzgl. des Verhältnisses von fremd- und selbstbestimmter Aufgabendefinition geäußert. Konkret beziehen sich Unsicherheit und Unklarheit auf die erwünschte Zuarbeit der AG zum Runden Tisch (1/2005a: 16-17). Der großen Unzufriedenheit, die aus dieser Unsicherheit resultiert, wird durch die Frage nach der Auflösung der AG Nachdruck verliehen (1/2005a: 20-21). Der anwesende Vertreter des Nationalkomitees greift dies auf und wendet die potentiell drohende Beendigung der AG dadurch ab, dass er einerseits die Rahmenbedingungen als Ursachen für die Situation der AG anerkennt und zudem auf internationale policy-Dokumente hinweist, die die Bedeutung des von ihr behandelten Bildungsbereichs unterstreichen (1/2005a: 27-32). Zugleich fordert
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273
er die AG auf, die als unbefriedigend wahrgenommene Situation mittels eigener Beiträge zu verbessern (1/2005a: 44-46). Statt den wiederholt betonten, explizit gewährten Handlungsspielraum (1/2005a: 21ff.; 1/2006: 58-60) auszuschöpfen, wird die Innovationsaufforderung wietergereicht. Weder werden die antizipierten Anforderungen und Anstrengungen aufgenommen, die bei der Bewältigung der selbst gestellten Aufgabe auftreten, sondern diese werden nach erkanntem Aufwand eingestellt und stattdessen an die Aktivitäten anderer ‚angedockt’ (1/2006: 16-24). Noch erfolgt eine eigenständige Lösung der Probleme, die von der AG als den eigenen Erfolg hemmend dargestellt werden. Damit besteht ein Widerspruch zwischen der symbolischen Proaktivität und praktischen und symbolischen Inklusion auf der einen Seite und der Exklusion derer, die die kognitive Hürde der BNE-Rezeption noch nicht übersprungen haben, auf der anderen Seite. Statt der Unterstützung von ‚Entwicklungsarbeit’ findet also perspektivisch eine ‚Eliteförderung’ statt. Darüber hinaus wird seitens der AG auf Lösungen gesetzt, von denen – trotz der Aufforderung, die Bewältigung der potentiellen Defizite selbst in die Hand zu nehmen (1/2005a: 29ff.; 2006: 53ff.) – erwartet wird, dass sie der Runde Tisch bzw. das Nationalkomitee beisteuern. Dies bezieht sich zum einen auf die Planung, Zielsetzung und Durchführung des Runden Tisches (1/2005b: 31-34) und zum anderen auf die Lösung inhaltlicher Schwierigkeiten: „Es wird der Vorschlag gemacht, schwierige Projekte zu sammeln und dem Nationalkomitee Informationen darüber weiter zu geben“ (1/2007: 233-234). Anregungen aus umgekehrter Richtung werden dagegen teilweise skeptisch diskutiert, mit Kritik bedacht oder vorerst abgewehrt (1/2007: 215-220). Vor diesen Hintergründen stellt sich das metaphorisch untermalte Innovationsverständnis als plausibel dar, nach dem es ein mühsames Unterfangen ist, den protokollarisch festgehaltenen, in vielerlei Hinsicht bestehenden Schwierigkeiten konstruktiv zu begegnen und diese zu überwinden (1/2005a: 12; 1/2006: 16-24; 1/2007: 36-40). Es fehlt gewissermaßen das passende Werkzeug (z.B. Klarheit über konkrete Aufgabe 2005a: 16; „fachlicher Input“ 2005b: 23), um die Arbeit der AG erfolgreich auf die in Richtung der „zukunftsweisenden Bahnen“ (Grundlagenpapier 1/2005: 8) gestellten Weichen zu lenken, um später auch „zu Ergebnissen (zu) kommen“ (1/2007: 320) – zumal anerkannt wird, dass diese Ergebnisse vom Nationalkomitee erwartet werden (1/2006: 94-96). Die Ursachen für diese Unbill werden external attribuiert und gegen die beschränkte eigene ‚Macht’, positiv darauf einzuwirken, imprägniert: Wenngleich der Runde Tisch anders als im ersten Protokoll im letzten AG-Protokoll „positiv beurteilt“ (1/2007: 175) wird, wird er bzgl. der zunächst wenig präzisen Vorstellungen zur Einbindung der AGs (1/2005a: 15-18, 2006: 75f.) sowie hinsichtlich der Verwendung dessen Ergebnissen (1/2007: 222-223) weiterhin kritisiert. Gleichzei-
274
Innovationsanalyse
tig wird auf zahlreiche „zusätzliche“ Termine verwiesen, die wahrgenommen werden „müssen“ (1/2007: 294). Die Themen, die sich wie ein roter Faden durch die Protokolle der AG ziehen, fokussieren wie gesagt, organisationale, evaluative und verbreitungsbezogene Aspekte. Über das Thema „Dekade-Projekte“ wird letzteres zwar regelmäßig angesprochen, erfährt aber – über die bereits benannte evaluative Dimension hinaus – keine dimensionale Auffächerung. Die Dimensionen Evaluation und Verbreitung von Innovation fallen hier also weitgehend zusammen und erhalten einen problematisierenden Tenor (1/2007: 216, 227, 231). Grund ist zum einen die bereits genannte, nur mit einem von der AG als nicht vertretbarem Aufwand zu überwindende Ernüchterung bei den stichprobenartigen Recherchen auszeichnungswürdiger Projekte (1/2006: 16). Ursächlich scheint zum anderen die Unklarheit bzgl. der vom Runden Tisch und dem Nationalkomitee erwünschten Zuarbeit durch die AG zu sein (s.o.). Dem entspricht auch, dass die AG vorschlägt, die Lösung des Problems an das Nationalkomitee zurückzudelegieren (1/2007: 233). In das Schema ‚Bestehendes stärken und nutzen’ passt auch, dass die AG bestrebt ist, die von der AG Evaluation zu entwickelnden Kriterien zu verwenden, um „Auftrags- und Geldgebern Anregungen zu geben“ (1/2007: 244). Gleichwohl entscheidet die AG schließlich die Durchführung einer Tagung, bei der ein eigenes Thema intensiver bearbeitet werden kann (1/2007: 315ff.). Reflektierende Interpretation Hinsichtlich des Innovationstransfers zeigt die AG ein forderndes Bearbeitungsmuster: die AG ringt um die Erfüllung der Innovationsaufforderung. Sie macht sich dabei abhängig von Strukturen sowie den Erwartungen und Impulsen anderer und bleibt damit insgesamt defensiv. Offenbar wird ein ‚leichter’ Innovationsweg gewünscht. Die Aufmerksamkeit richtet sich mehr auf die Diskursgemeinschaft als auf das potentielle Rezeptionsfeld. Nicht Transfer durch Einbeziehung bislang nicht erschlossener Akteure im Rezeptionsfeld, sondern die Intensivierung bestehender Initiativen ist das Ziel der AG. Perspektivisch, so kann angenommen werden, trägt die AG somit eher zu einer Stabilisierung und Verfestigung von Regeln und Praktiken bei als dass sie eine große Breitenwirkung entfaltet. Die AG scheint geradezu prototypisch einem Innovationsverständnis zu entsprechen, das mit der Kommunikation einer Innovation endet – die AG präsentiert sich in dieser Optik als ‚Ort’, an dem die Innovation zunächst endet. Das implizite Handlungsmodell ‚Bestehendes stärken’ verweist nicht auf substanzielle Innovation in dem Sinne, dass über kommunikative Akte hinaus Aktivitäten zur Verankerung eingeleitet werden. Vielmehr scheint es der AG um eine Verbreitung der Innovation zu gehen, ohne dass sie aber Verankerungsaspekte näher thematisiert. Symbolisch werden wahrgenommene bestehende Barrieren aufrechterhalten, in-
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275
dem sie wiederholt thematisiert und damit je aufs Neue aktualisiert werden. Die Konstruktion einer eigenen Wissensordnung verbleibt damit in einem Schwebezustand zwischen der Annahme und Ablehnung von Verantwortung. Die AG, so könnte das zugrunde liegende Deutungsmuster umschrieben werden, verspricht sich einen ‚leichten’ Innovationsweg, bei dem sie erhofft offene Türen anzutreffen: Würde nur klar benannt, was Runder Tisch und Nationalkomitee von den AG erwarten, kämen die Aktivitäten der AG auch in Gang und der Innovationsaufforderung könnte nachgekommen werden. Doch angesichts des Fehlens dieser symbolischen Unterstützung kann dieser Weg trotz vorhandenem Willen nicht beschritten werden. Kurz: Die AG positioniert sich selbst als ein Opfer widriger Umstände, die von anderen verursacht wurden. Die Wissenskonstruktion verläuft, wie gezeigt wurde, also anhand der Auseinandersetzung mit kollektiven ‚Anderen’: dem Runden Tisch, dem Nationalkomitee, anderen Initiativen, den zu erreichenden Praxispartnern. Passiv wird zugelassen, dass ein selbst initiiertes Vorhaben – Fortbildung/Ausbildungscurriculum – (1/2005b: 81-86) in der nächsten Sitzung ‚einkassiert’ und in eine andere Aufgabe – nämlich die Entwicklung von Qualitätskriterien und eines Zertifizierungssystems – umgedeutet wird (1/2006: 32-40). Innerhalb der Diskursgemeinschaft existieren faktisch für alle Diskursakteure die gleichen Freiheitsgrade; diese werden in der AG jedoch als Beschränkungen inszeniert. Diese Beschränkungen sind Teil des Spiels, das die AG spielt; sie sind aber nicht Teil des hier untersuchten Ausschnitts der Diskursgemeinschaft. Umgekehrt stellt es sich so dar, als lerne die AG noch die Spielregeln der Diskursgemeinschaft. Die Hoffnung darauf, einen ‚leichten Weg’ der Innovation (Gräsel/Parchmann 2004) beschreiten zu können, wird dadurch nicht eingelöst. Zwar investiert die AG in die Koordination mit anderen Gremien der Diskursgemeinschaft, mit dem Ziel ihr Wissen lernend zu ‚vervollständigen’, das als handlungsprogrammatisch um den sich an die Kommunikation der Innovation anschließenden Vorgang der Aneignung angesehen wird. Durch diese Praxis entsteht aber ein Pfad, auf dem die AG aufgrund der Verlaufsabhängigkeit von Entwicklungsmöglichkeiten den o.g. leichten Weg der Innovation zunehmend verfehlt. Das durch Abkürzungen und unsystematische Thematisierung auffallende Aneignungsmuster dieser AG entspricht einem heuristischen Modell der Elaboration (Aaronson/Wilson/Akert 2004: 238ff.; Erb/Büscher/Bohner u.a. 2005), einer bedeutungsorientierten Strategie, bei dem das Deutungsangebot solcher Akteure übernommen wird, denen Kompetenz und Verantwortung zugeschrieben wird. Diese AG changiert gleichsam zwischen dieser ‚tiefen’ Bedeutungsorientierung und einer ‚oberflächlichen’, immer wieder abgelenkten Aufgabenlösungsorientierung. Die Praktiken der Wissensordnung dieser AG dagegen zeigen einen in sich ‚verknoteten’ Diskurs: Die AG pendelt zwischen einer metakommunikativen Ab-
276
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wehr ihrer Selbstpositionierung und ihrer durch andere Gremien vorgenommenen Positionierung. Dem wahrgenommenen Gestaltungsdruck wird begegnet, indem der Versuch unternommen wird, diese Gremien als Instanzen zu positionieren, die eine arbeitsteilige Komplexitätsreduktion im Zusammenhang mit der Innovationsaufforderung anstrengen. Vor diesem Hintergrund kann eine Selbstpositionierung als Ausführungsgehilfe erfolgen. Möglich wird dies dadurch, dass die AG eine dislozierende Zuschreibung der symbolisch-autoritativen Ressource ‚Sinn’ vornimmt, wodurch ein Gefälle, eine Asymmetrie konstruiert wird und den fraglichen Instanzen Autorität verliehen wird: So werden diese von einer symbolischen Peripherie des polyzentrischen Netzwerks als verantwortliche Akteure ins Zentrum gerückt. Die Handlungskoordination dieser AG ist hybride und mischt Beobachtung und Verhandlung mit dem instrumentellen Motiv, symbolische Ressourcen für die Konstitution von Sinn zur Verfügung gestellt zu bekommen, um die übertragene Aufgabe bewältigen zu können. Die stets ausführlichen Darstellungen und Kommentierungen anderer Gremien der Diskursgemeinschaft verdeutlichen, dass sich diese AG in eine Position der Abhängigkeit vom Wissen anderer begibt. Gleichwohl gibt sie sich als Instanz der bereitwilligen Unterstützung, scheint sich aber konkret dazu auffordern lassen zu wollen und fordert umgekehrt das Angebot von Wissen ein, das durch die Selbstpositionierung der AG den Impetus eines ihr strukturell vorenthaltenen Wissen für die Lösung des wahrgenommenen Problems erhält. Strukturdimension
inhaltliche Auffüllung der Dimension
Wahrnehmung / Deutung des Problems
Kritik an Zielsetzungen und Rahmenbedingungen für die Lösung der ‚Aufgabe’
Ursache dieser Wahrnehmung; Verantwortungszuschreibung
erwartete Ergebnisse sind voraussetzungsreiche Wirkungen gelungener Interaktion in Diskursgemeinschaft, aber: Behinderung durch Unklarheiten und mangelndes Wissen Fremdpositionierung: Verursacher/Verantwortliche für defizitäre Situation Selbstpositionierung: Opfer widriger Umstände
Handlungs- und Ergebnisorientierung
Zuständigkeit für Abhilfe dieser Situation wird anderen Gremien zugeschrieben Proklamiert: Bestehendes stärken, Defizite aufdecken, Unterstützung bereitstellen Praktiken: Forderungen; Kritik; Rückdelegation; Immunisierung
Tab. 2: Phänomenstruktur der AG 1 Gemeinsam mit dem im Rahmen der Grobanalyse identifizierten Muster, dass die Praktiken als binnenorientiert und das Wissen individueller Akteure integrierend charakterisiert, ist das Bild, das sich aus dieser Feinanalyse ergibt, durchaus kon-
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gruent: Durch die Einforderung und das Einholen von Informationen durch Dritte offenbart diese AG zum einen Hierarchisierungspraktiken, durch die sie sich in scheinbare Abhängigkeiten vom Wissen und einer eingeforderten Auskunftsbereitschaft anderer begibt, die sie zum anderen jedoch durch Widerständigkeit reflexiv zu durchbrechen beabsichtigt. Der Innovationsaufforderung begegnet sie, indem sie nach der Generierung prozeduralen Wissens strebt; die Art und Weise der Aneignung selbst steht im Vordergrund, ist aber bestimmt durch eine Orientierung an deklarativem Wissen. Insgesamt betrachtet, zeigt die AG einen rekonstruktiven Aneignungsstil, den sie jedoch aufgrund ihrer zwischen Widerstand und Forderungen pendelnden und somit indifferenten Praktiken nicht einlöst. Der Innovation begegnet die AG in einem Modus instrumentellen Lernens. 6.4.1.2 AG 4: Hochschule Die AG Hochschule dokumentiert für den untersuchten Zeitraum vier Treffen, die mit einem Jahr Verzögerung einsetzten und zwischen November 2006 und November 2007 stattfinden. An den vier dokumentierten AG-Treffen nahmen insgesamt 18 Personen teil, elf Mitglieder waren an mehr als drei Treffen anwesend; davon nahmen drei an jeder AG-Sitzung teil. Das untersuchte Material besteht aus insgesamt vier Protokollen sowie einem Positionspapier. Worum geht es in der AG, was sind die zentralen Themen, wie werden sie behandelt und erschlossen? Diese AG entwickelt aus dem Reservoir des Möglichen ein eigenes Wissensrepertoire: Ebenso wie in den AGs 1 und 7 genießt das Organisationsthema hier eine große Aufmerksamkeit. Während die Halbzeitkonferenz – wie bei allen anderen hier analysierten AGs – und die Jahresthemen keine Rolle spielen, werden die Dekadeprojekte, das Portal sowie zu entwickelnde Qualitätskriterien diskutiert. Darüber hinaus gewinnt in dieser AG 4 die Durchführung eines eigenen Forschungsprojekts zunehmend mehr Aufmerksamkeit; erwogen werden später auch Publikationen und Workshops. In der weiter oben beschriebenen Grobanalyse zur Vorauswahl der zu untersuchenden Fälle zeigte sich für AG 4 Folgendes: Die Informationen, die in dieser AG verarbeitet werden, werden überwiegend von individuellen Akteuren getragen. Diese individuellen Akteure berichten sowohl von Aktivitäten und Ereignissen als diese auch Ergebnisse und Anliegen der AG an andere Gremien übermitteln. Die AG hat sich zum Ziel gesetzt, ein policy-Papier zu lancieren, das Hochschulen eine Orientierung bei der Verankerung des Leitbilds Bildung für nachhaltige Entwicklung anbieten soll. Dieses wird aus einem Papier zur Selbstverständnisklärung der AG generiert. Nachdem dieses von der AG verabschiedet wurde (und dann als „Memorandum“ bezeichnet wird), wenden sich die Akteure mit der Konzeption eines Workshops sowie einer Ideensammlung zu Nachhaltigkeit an Hochschulen, Publikationen, Projekten und Workshops weiteren Aktivitäten zu.
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Die AG stellt sich als eine zielorientiert arbeitende community dar, die stringent und ergebnisorientiert agiert. Thema / Zeitpunkt
2006 2007a
Runder Tisch
x
x
x
x
Nationalkomitee
x
x
x
x
Nat. Aktionsplan Dekadeprojekte
x
Positionspapier
x
Portal
x
2007b
2007c
x
x
x
x x
x
Halbzeitkonferenz
x
Jahresthema Qualitätskrit, Zert.
x
x
x
Tab. 3: Diskursstränge der AG 4 Formulierende Interpretation Das Memorandum der AG ist von einer naturalistischen, kraftvollen Metaphorik getragen, in dessen Problemaufriss Begriffe wie ‚Fluss’, ‚Strom’, ‚Explosion’ und ‚Kluft’ enthalten sind (Memorandum 4). Dadurch wird symbolisch ein beunruhigendes Gefährdungsszenario gezeichnet, das zunächst unkontrollierbaren Wechselwirkungen von eng miteinander verknüpften und einander überlagernden Ereignissen zugeschrieben wird. Dieses Szenario allerdings wird als gestaltbare Herausforderung umgedeutet, und die AG selbst setzt sich als Gegenbewegung zu dieser Dynamik in Szene. Nicht Pessimismus, sondern aktive Gestaltung ist gefragt: Es erfordert mutige und ‚zukunftsorientierte Kräfte’, die sich entschieden in den Strom des Ungewissen stellen und durch ein überlegtes, vielseitiges Vorgehen und gebündelte Kraft einen Gegenpol bilden. Das erste AG-Protokoll, das erst ein Jahr nach Beginn der Dekade-Aktivitäten veröffentlicht wird, vermerkt den Wunsch des Nationalkomitees, die „Arbeitsfä81 higkeit der AG wiederherzustellen“ (4/2006: 22-23). Die Verantwortung dafür wird außerhalb der AG verortet, und die AG kommt dem deutlich vorgetragenen Wunsch zum einen nach, indem im Anschluss an die mahnende Eröffnung symbolisch Einigkeit demonstriert wird („persönliche Begrüßung“, „Einigkeit“, „gemeinsam“, 4/2006: 24ff.) und das Protokoll mit Verweis auf die „rege Diskussion in angenehm konstruktiver Atmosphäre“ (4/2006: 165f.; 4/2007a: 8) schließt. 81
Frühere Aktivitäten der AG sind nicht dokumentiert.
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Wie die Arbeitsfähigkeit herzustellen ist, wird in der AG ambivalent gesehen. Auf der einen Seite wird für eine klein bleibende AG plädiert. Dieser Wunsch konkurriert jedoch mit dem Anliegen, die AG möglichst repräsentativ für das Handlungsfeld Hochschule zu besetzen (4/2006: 72-80) und jene zu integrieren, die bislang isoliert an ähnlichen Themen gearbeitet haben (4/2006: 75-77). Diese Ambivalenz wird in den folgenden Sitzungen nicht aufgelöst. Zum anderen kommt die AG dem Wunsch nach Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit durch eigene operative Zielsetzungen nach: Die AG nimmt sich vor, ein Memorandum sowie darüber hinaus ein Papier zu verfassen, das von KMK und HRK verabschiedet werden soll (4/2007b: 37). Während noch vier weitere Arbeitsschwerpunkte vorgeschlagen werden, fällt diese operationale Zielsetzung schon dadurch auf, wie sie platziert wird: Sie steht zwar neben einer Reihe anderer Themen, die als Vorschläge für künftige Zielsetzungen der AG vorgetragen werden, wird jedoch protokollarisch keineswegs als Vorschlag, sondern als erstes Thema in einer Art vermerkt, die es als unumgängliches Thema markiert: „Notwendigkeit der hochschulpolitischen Positionierung“ (4/2006: 37; Herv. IB). Die anderen Vorschläge werden ohne solche prädeterminierenden Deutungen und stattdessen in Verbindung mit Konjunktiven („wäre auch“, „sollte“) oder Adjektiven („denkbar“) fixiert, wodurch sie als Möglichkeiten markiert werden, die aber unverbindlich, vage bleiben. Um die so als notwendig markierte Aufgabe erfolgreich umsetzen zu können, findet zunächst eine thematische und operative Konzentration auf die Form der Umsetzung des eigenen Vorhabens statt: Es wird eine Strategie, bestehend aus topdown-Elementen (avisierte Implementation eines policy-Papiers) und bottom-upElementen (Durchführung von Projekten) (4/2006: 96-98) vorgeschlagen und sprachlich mit kausallogischen, deduktiven Argumenten untermalt („vor diesem Hintergrund“, „von daher“, „also“, „dazu“; 4/2006: 87ff.). Verfolgt wird zunächst das top-down-Element, bevor in den kommenden Sitzungen auch die Realisierung der bottom-up-Elemente und Projekte diskutiert wird. An dem prioritären AG-Vorhaben, BNE bildungspolitisch an Hochschulen zu verankern, sollen sich alle anderen Aktivitäten der AG ausrichten (4/2006: 88f.). Die protokollarische Darstellung der profilierenden Arbeit an dem hochschulpolitischen Papier erfolgt in knapper, nüchterner Form, welche die systematische und formale Korrektheit des Vorgehens in der AG unterstreicht: Die technische Unterstützung wird bei der Diskussion ebenso erwähnt wie Stellungnahmen nicht anwesender AG-Mitglieder berücksichtigt werden (4/2007a). In Bezug auf die operative Umsetzung der beabsichtigten hochschulpolitischen Positionierung findet eine Orientierung am lobend hervorgehobenen Beispiel der AG 7 statt (4/2006: 107; 4/2007b: 48-50). In diesem Zusammenhang wird auch erwogen, ob eine engere Kooperation mit anderen AGs sinnvoll wäre (4/2007b: 53-54) und im eigenen,
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noch zu lancierenden Papier einen Verweis auf das erfolgreiche Vorhaben der AG 7 einzufügen (4/2007b: 68-69). Das policy-Papier tritt schließlich gegenüber Berichten von weiteren Aktivitäten im Hochschulfeld sowie der Erwägung eigener, weiterer Vorhaben in den Hintergrund, nachdem es von den angesprochenen Instanzen als veröffentlichungswürdig diskutiert wurde (4/2007c: 89). Nun wird die Aufmerksamkeit auf Publikationen, Recherchen, Projekte und Workshops gerichtet und das Spektrum möglicher Vorhaben ausgeweitet. Reflektierende Interpretation Wie in der weiter unten dargestellten AG 7 materialisiert sich in den Protokollen dieser AG 4 ein ‚vollständiges’ Innovationsverständnis – mit dem Unterschied in Bezug auf die Vorgehensweise, die hier symbiotisch erfolgt, d.h. es wird angestrebt, auf unterschiedlichen Kanälen für die Idee BNE zu werben. Gleichwohl genießt die legitimationssichernde Strategie dabei den höchsten Stellenwert. Der Aneignungsmodus, den die AG 4 zeigt, kann umschrieben werden mit dem Terminus der ‚stellvertretenden’ Aneignung. Das zugrunde liegende Deutungsmuster scheint der Vorstellung einer linearen Durchsetzung von Innovation zu entsprechen. Die AG tritt auf als autonom agierende Gruppierung, die sich der Innovationsaufforderung stellt und das ihr verfügbare soziale Metawissen aktiviert, um zunächst auf das als bedrohliches Gefährdungsszenario erkannte globale Problem im eigenen Handlungskontext aufmerksam zu machen. Die AG präsentiert sich dabei als ‚agenda-setter’, die aufrütteln möchte und die nötigen Schalthebel im bildungspolitischen und Hochschulsystem bewegen möchten. Der organisationale Rahmen der UN-Dekade wird dabei als nützliches Beiwerk angesehen, das dem eigenen Wirken Chancen auf Erfolg verleiht. Ähnliches gilt für einen Teil der diskursiven Praktiken der AG, wenngleich es ihr im beobachteten Zeitraum nicht gelungen ist, ihr oberstes Ziel zu erreichen. Im Unterschied zur AG 7 wird hier legitimierend auf die Verknüpfung von Gesellschaft und Natur verwiesen: Es wird eine klassische Interpretation des Problemhorizonts als anthropogen verursachtes Gefährdungspotenzial vorgenommen, dem durch verantwortungsbewusstes Handeln Einhalt geboten werden kann: Die scheinbar entglittene Dynamik der Natur hin zu einem labilen Gleichgewicht wird ökonomie-kritisch und mit zügellosen Praktiken der Weltgesellschaft begründet. Die resultierende Ungewissheit wird jedoch dargestellt, als sei sie nach den Regeln der wissenschaftlichen Vernunft auf eine beherrschbare Komplexität reduzierbar. Um den Erfolg des selbst gesetzten Vorhabens sicherzustellen, verfolgt die AG eine Strategie der gezielten Inklusion und kontrollierten Exklusion. Zum einen wird das Nationalkomitee in die Pflicht genommen (4/2006: 40). Damit wird ein wechselseitiges Verhältnis zum Nationalkomitee aufgebaut, indem ihm einerseits
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Autorität eingeräumt und dem mahnenden Wunsch, die Arbeitsfähigkeit wiederherzustellen, nachgegangen wird. Andererseits werden dessen ihm zugeschriebenen politischen Indossierungsmöglichkeiten instrumentell genutzt. Gleichwohl ist die AG nicht abhängig vom Nationalkomitee, sondern verfügt über eigene allokative und autoritative Ressourcen bzw. das Recht und die Fähigkeit über diese zu verfügen, um Öffentlichkeitswirksamkeit herzustellen (4/2007b: 78f.; 4/2007c: 79f.). Die Inklusion bzw. Kooptation so zu konnotieren, erscheint daher als symbolischer Tribut an das Nationalkomitee: Es wird gleichermaßen als ‚dezentrales Zentrum’ anerkannt wie damit auch die Autonomie der AG hervorgehoben wird. AG und Nationalkomitee bleiben offenbar nur lose aneinander gekoppelt. Zum anderen werden innerhalb der AG einige der von den Mitgliedern angeregten Themen diskursiv und nicht-diskursiv abgewiesen: So wird der Vorschlag, einen zweiten Stellvertreter der AG zu wählen, zwar in einem Protokoll als Tagesordnungspunkt für das Folgetreffen notiert (4/2006: 135), beim Folgetreffen taucht dieser Vorschlag aber nicht mehr auf der Tagesordnung auf. Ebenso verhält es sich mit dem Wunsch eines Mitglieds, ein weiteres Thema (4/2007a: 8) auf die Tagesordnung zu setzen. Ein weiteres Anliegen desselben Mitglieds wird mit Verweis auf andere Aufgaben vorerst zurückgestellt (4/2006: 162-164). Dieses Vorgehen des Vertagens und anschließenden Ignorierens tritt noch ein weiteres Mal auf (4/2007a: 53-54). Diese ‚invisibilisierende’ Praxis kann zugunsten der Konzentration auf eine zentrale Aufgabe als thematische Exklusionsstrategie bzw. als Kontrolle über die effektive und effiziente Bearbeitung der damit als relevant markierten Themen interpretiert werden. Dieses Kontroll-Muster zeigt sich ebenfalls in Hinblick auf die Frage, welches Wissen wie in die Öffentlichkeit gelangen soll (4/2007a: 105ff.; 4/2007b: 32; 4/2007c: 30ff.). Darüber hinaus wird verwiesen auf die erfolgreichen Aktivitäten einer anderen AG. Nicht nur wird deren Strategie übernommen; es wird auch erwogen, ob in dem eigenen policy-Papier auf die Aktivitäten AG 7 hingewiesen werden sollte. Darin scheint sich eine erwünschte Assoziation mit der von ihr als erfolgreich dargestellten AG 7 zu dokumentieren, die über das prozedurale Wissen der Indossierung eines solchen Papiers verfügt. Zwar werden Möglichkeiten wahrgenommen, bei denen die AG über Workshops und Projekte unter Nutzung von Synergien zur Verbreitung des Diskurses beitragen kann (4/2007b: 137, 149ff.; 4/2007c). Bis das eigene Vorhaben jedoch nicht in wirkungsvolle politische Kanäle eingebracht ist, wird die Erwägung weiterer Aktivitäten jedoch mit Konjunktiven und inkludierenden, aber wenig verbindlichen Sprachformeln verbunden („könnte“, „bietet sich an“). So bleibt unklar, ob, wie und von wem Entscheidungen letztlich getroffen werden. Klarheit wird dagegen im Zusammenhang mit der Nutzung des BNE-Portals hergestellt: Zwar
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wird das BNE-Portal in seiner Bedeutung und insgesamt als nützliche Möglichkeit der Dissemination wahrgenommen (4/2007b: 101). Die Entscheidung darüber, was aus der AG in die Öffentlichkeit gelangt, soll jedoch bei der AG verbleiben. Zur Innovationsaneignung der AG 4: Die AG präsentiert in ihrem Memorandum ein vielschichtiges Innovationsverständnis, nach dem Innovationen auf unterschiedlichen Kanälen und mit unterschiedlichen Themen platziert werden sollte. Tatsächlich umgesetzt wird aber zunächst ein traditioneller Weg, bei dem ein Empfehlungspapier verfasst wird, das auf dem Weg über bildungspolitische Instanzen an das Handlungsfeld herangetragen wird. Die Aneignung der an die AG gerichteten Innovationsaufforderung selbst erfolgt in einer imitierenden Art: Die erfolgreiche Vorgehensweise der AG 7 gilt als Vorbild, das nachgeahmt werden kann. Während allerdings jene AG auf prozedurale Expertise und Unterstützung von außen angewiesen ist, ist diese in den Reihen der Mitglieder dieser AG bereits vorhanden: Sie liegt bei einem Mitglied der Gruppe, das auch anbietet, die persönlichen Beziehungen zu zentralen Entscheidungsträgern auf Seiten der DUK einzusetzen, um dem Anliegen der Gruppe den nötigen Schub zu verleihen; darüber hinaus wird auch die Hochschulrektorenkonferenz einbezogen (4/2007b: 69-71, 77-79; 4/2007c: 79ff.). Kurz: Die Verantwortung für und auch die Kontrolle des weiteren Gelingens, also der Ausdehnung der geplanten Innovation in Raum und Zeit liegt hier gebündelt in den Händen einer Person vor, die als durch das Anliegen der AG legimitierte intermediäre Instanz zu der zu diesem Zeitpunkt für wirkungsvoll erachteten kollektiven Akteuren anderer Diskursebenen auftritt. Vor diesem Hintergrund positioniert sich die AG als souveräne Gestalterin. Dies erfolgt auf zwei Wegen: Einmal sozialintegrativ in der primären community of practice über die diskursiven Praktiken der Disziplinierung und des Ausschlusses und einmal perspektivisch systemintegrativ in der Fläche. Mit Verweis auf aktuelle politische Reforminitiativen und innovativen Ansätzen im Rezeptionsfeld (4/2006: 59; 4/2007b: 48f., 60, 70, 73f., 100ff., 132ff., ) wird der eigene Diskurs performativ mit einem vielgliedrigen, anderen Innovationsdiskurs in legitimierender Absicht verschränkt. Die Praktiken, an die symbolisch angeschlossen wird – Wettbewerb, Exzellenzinitiative, öffentliche Rechenschaftspflicht, Zielvereinbarungen etc. – versprechen im Umgang mit der Herausforderung per sanftem Druck oder auch normativem Zwang (Hasse/Krücken 2005) eine Unterstützung bei der Realisierung der eigenen Ziele. Illustriert wird dies auch an dem Aufgebot von Verweisen auf weitere nationale und internationale politische Dokumente, die die Notwendigkeit der Innovationsaufforderung untermauern und der AG und ihren Aktivitäten Dringlichkeit und Legitimation verleihen. Dieser lenkende und disziplinierende Druck, der stellvertretend von einflussreichen Akteuren ‚von oben’ erzeugt wird, wird flankiert durch Maßnahmen, die
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an der operativen ‚Basis’ wirken. Insgesamt wird von der AG eine umfassende Strukturierung angestrebt, ein Eingriff in die über Raum und Zeit hinweg bestehende Ordnung von Beziehungen (Giddens 1997) in einer Rezeptionsarena, deren Teil auch die community of practice ist. Dem Entwurf nach erfolgt dies wie eine transparent gemachte Aufklärung von ‚innen’. Akteur dieses Vorgangs ist die AG, die kraft ihres diskursiven Bewusstseins auf die Institutionen und damit mittelbar das praktische Bewusstsein anderer Akteure einwirkt. Der Erwartungshorizont (Koselleck 1989) ist dabei am instrumentell Machbaren orientiert: Mit der im Handlungsplan vorgesehenen Situierung der symbolischen Innovation wird auf eine mittelbare Beeinflussung des Rezeptionsfeldes gezielt, die über die legitimierten Mittel anderer Instanzen erfolgen und somit die Innovation im ‚Schlepptau’ anderer Vorhaben mittransportiert werden soll. Ähnlich wie in der AG 7 wird hier das aus dem Neo-Institutionalismus bekannte Muster der organisationalen Isomorphie deutlich – und zwar auf der Ebene der Praktiken. Prozessiert wird hier prinzipiell übertragbares abstraktes Wissen bei Suspendierung der aktuell für irrelevant erachteten Informationen und unter Aktivierung vorhandenen prozeduralen Wissens. Bei dieser systematischen Praxis tritt das propositionale Wissen performativ, also auf der Ebene der argumentativen und rhetorischen Strategien zunächst hinter das prozedurale Wissen zurück bzw. wird ausgeblendet. Strukturdimension
inhaltliche Auffüllung der Dimension
Wahrnehmung / Deutung des Problems
Gefährdung der Menschheit durch dynamisch und unheilvoll voranschreitende, in ihren Auswirkungen nahezu unkontrollierbare Vernetztheit verschiedener Problemdimensionen von Experten durch Rationalität und Reflexivität handhabbares Problem
Ursache dieser Wahrnehmung; Verantwortungszuschreibung
wenig Sensibilität und Ignoranz Dritter für die Herausforderung, sich dieser Entwicklung zu stellen Fremdpositionierung: wenig verantwortungsbewusst, weil wenig aufgeklärt, Rezeptionsfläche; nützliche Instanzen Selbstpositionierung: aktive, realistisch-optimistische Gestalter, Zielorientierung, verantwortungsvoller Einsatz eigener Problemlösungsfähigkeit
Handlungs- und Ergebnisorientierung
die Verantwortung, die Herausforderung anzunehmen, muss eingelöst werden Lancierung eines Papiers mit appellativem Charakter sowie eines politischen Papiers Praktiken: Wiederholung; Hierarchisierung; Strukturierung; Hegemonialisierung
Tab. 4: Phänomenstruktur der AG 4 Auch diese AG positioniert sich vor dem Hintergrund ihrer ausgeprägten Machbarkeitsorientierung als souveräne und autonome Gestalterin, die im eigenen Wirkungsbereich Ton und Weg der Veränderung angibt. Über relevantes Wissen, das
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zur Bewältigung des wahrgenommenen Problems erforderlich ist, verfügt die AG selbst. Sie zeigt sich in der Lage, Informationen auszuwählen, zielorientiert aufzubereiten und gezielt kanalisiert zu verbreiten. Ihre Strategie der selektiven Inklusion schlägt sich in den diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken der AG nieder. Die Grobanalyse zeigte für diese AG ein ausgewogen wissensintegratives und sendungsorientiertes Muster, bei dem individuelle Wissensträger bedeutsam sind. Die Feinanalyse ergänzt dieses Bild insofern, als die Praktiken der AG darauf hinweisen, dass sie sich selbst als ‚Expertin’ positioniert und vor dem Hintergrund dieses Status mit asymmetrischen bzw. asymmetrisierenden Mitteln operiert: Das Innovationsverständnis der AG scheint ein solches zu sein, das auf der Kommunikation einer Aufforderung aufruht und das sie (zwar zusammen mit wirkmächtigeren Dritten und deren Instrumenten) selbst als aufgeklärt und politisch handlungsfähig insofern darstellt als sie über das erforderliche prozedurale Wissen verfügt, wie die Innovation an entscheidende Instanzen durchgeleitet werden kann. Die Asymmetrisierungspraktik vollzieht sich auch in den disziplinierenden Interaktionen der AG selbst. Insgesamt zeigt diese AG einen Aneignungsstil, bei dem für das Handlungsfeld übliche Innovationspraktiken insofern übernommen werden als eine Orientierung an Instrumenten und Wegen der Innovation in den Vordergrund rücken. Gleichwohl tritt eine Elaborationspraxis hervor, die auch eine reflexive Auseinandersetzung mit der Innovation dokumentiert. Die Wahl der Mittel bleibt jedoch traditionellen Mustern verhaftet. So scheint sich die AG der Innovation im Modus der Reproduktion zu nähern. 6.4.1.3 AG 5: Informelles Lernen Die AG fällt durch ihre hohe Interaktionsfrequenz auf. Die Mitglieder der AG treffen sich doppelt so häufig wie die anderer AGs und dokumentieren im Sommer 2008 insgesamt neun AG-Sitzungen. Außerdem schöpft die AG sämtliche Möglichkeiten des öffentlichen Auftritts im Rahmen des BNE-Portals aus: Sie stellt nicht nur ihre Protokolle ins Internet, sondern macht zusätzlich ein Interview sowie zwei Grundlagenpapiere im Internet verfügbar. An den neun dokumentierten AGTreffen nahmen insgesamt 32 Personen teil, aber nur sieben Mitglieder waren an mehr als der Hälfte der Treffen anwesend und keines nahm an jeder Sitzung teil. Worum geht es in der AG, was sind die zentralen Themen, wie werden sie behandelt und erschlossen? Auch diese AG entwickelt ein eigenes Repertoire. Dies wird daran deutlich, dass bei den Treffen das Organisationsthema eine besondere Aufmerksamkeit genießt, insbesondere durch Thematisierung des Runden Tisches. Dieses Thema zieht sich wie ein roter Faden durch die Protokolle. Die Themen, die mit den „Dekadeprojekten“ v.a. auf Aspekte der Verbreitung der Innovation abzielt, sind ebenfalls von großem Interesse.
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Das Positionspapier erfährt eine starke Aufmerksamkeit, nach dessen Fertigstellen hat es aber keine Bedeutung mehr. Gar keine Rolle spielt die Halbzeitkonferenz, und von mäßigem Interesse begleitet sind das BNE-Portal sowie die Jahresthemen. Wiederkehrende Themen beziehen sich auf die Selbstklärung und gleichzeitig auf die Beeinflussung ihrer eigenen Außenwirkung. Beide Ebenen werden zunehmend miteinander verknüpft: Das Produkt der Selbstklärung soll als Buch publiziert werden und so zur öffentlichen Sichtbarkeit der AG beitragen. Das Material der AG dokumentiert ihr Bestreben, Aufgabe und Arbeitsform zu klären. Nachdem es zunächst scheint, als seien grundlegende Prämissen eines gemeinsamen Verständnisses von informellem Lernen nicht geklärt, stellen sich die Klärungsversuche als Form dar, in die auch weitere Akteure einbezogen werden sollen. Thema / Zeitpunkt
2005a
2005b
2005c
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Nationalkomitee
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Tab. 5: Diskursstränge der AG 5 Formulierende Interpretation Mit Begriffen wie „fließend’“, „natürlich“, „ausschöpfen“, „vernetzen“, „fruchtbar“, „Ressource“ etc. wird in dieser AG eine technisch-naturalistische Metaphorik verwendet, in der Fluidität, Wechselseitigkeit, Gleichzeitigkeit, aber auch Widersprüchlichkeit neben bewusster Nutzung der Ressourcen ihren Platz haben können (Interview 5): Lernen hat demnach kein Anfang und kein Ende, bleibt im Kreislauf, kann anderes überdecken, Ergebnisse können sich sedimentartig ablagern, um später – gezielt – wieder genutzt zu werden. Informelles Lernen wird nur erkennbar vor dem Gegenhorizont seiner Explikation; diese jedoch muss noch durch Forschung beherrschbar werden. Dies bedeutet die Entzauberung des Mythos’ ‚Informelles Lernen’, eine intendierte Umwandlung von gewusstem Nichtwissen in Wissen, ein Ringen um die Auflösung von Gegensätzen.
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Innovationsanalyse
Zwischen den Aussagen in Interview, Protokollen und Grundlagenpapier sind Gegensätze auszumachen. Zwar wird dem Begriff informelles Lernen eine hohe Diffusität und geringe Aussagekraft zugeschrieben (Grundlagenpapier 5/2005). Diese Situation soll mit wissenschaftlichen Erklärungsversuchen überwunden werden. Dazu formuliert die AG in ihrem Grundlagenpapier Fragen, die die eigene Arbeit anleiten und strukturieren sollen: „Wie läuft informelles Lernen ab? Wen betrifft es?“ (Grundlagenpapier 5/2005: 44). Das informelle Lernen stellt sie darüber hinaus als Weg der eigenen explorierenden Auseinandersetzung mit der Aufgabe dar: „wir tauschen uns… aus und lernen voneinander“ (Grundlagenpapier 5/2005: 49ff.), schließlich soll sich die ehrenamtliche Arbeit auch „lohnen“ (Grundlagenpapier 5/2005: 82). In ihrem zweiten, systematisch gegliederten und mit einem umfangreichen Verzeichnis wissenschaftlicher Literatur hinterlegten Grundlagenpapier (Grundlagenpapier 5/2006) nähert sich die AG dem Begriffsverständnis. Bei dem Versuch, zu einer substanziellen Klärung des Begriffs beizutragen, wird informelles Lernen allerdings eher in Negativformeln und in Abgrenzung von anderem umkreist: „wenig aussagekräftig“, „keine Lehrpläne“, „ohne Abschluss“, „ungezielt“; es heißt aber auch, informelles Lernen finde „selbstgesteuert“ statt, baue auf „Interessen“ und „Motivationen“ sowie „Lernbereitschaft“ auf (Grundlagenpapier 5/2005, 5/2006). Widersprüche werden nicht aufgelöst – so ist informelles Lernen einmal beiläufiges Lernen, mal ein teleologisches Lernen, „um etwas zu erreichen, auf dem Weg zu einem selbstgesteckten Ziel“ (Grundlagenpapier 5/2005: 21ff.). Trotz der Unklarheit wird die Bedeutung informellen Lernens mit einem Verweis auf eine wissenschaftliche Studie objektiviert und sogar der Anteil informellen Lernens beziffert: Informelles Lernen umfasse 6070% des gesamten menschlichen Lernens (Grundlagenpapier 5/2006). Die AG beschreibt sich selbst als forschungsorientiert, hält diese Haltung jedoch für riskant, weil diese exkludierend sei (5/2007c: 40). Diese AG sieht sich vor der Herausforderung, sich mit dem Thema des informellen Lernens über einen generellen, kontingenten Vorgang auseinanderzusetzen, der institutionell nicht eindeutig lokalisierbar ist. Diese Feststellung wird im ersten Protokoll festgehalten (5/2005a: 28-29) und mit dem Angebot von Unterstützung und Anregung verknüpft (5/2005a: 30-40). Der Wunsch nach Unterstützung, überwiegend finanzieller oder struktureller, wird in der AG wiederholt geäußert und verknüpft sich zunehmend mit dem Wunsch nach Profilierung und Öffentlichkeitswirkung. Ansonsten besteht eine distanzierte Haltung zum Runden Tisch und dem Nationalkomitee, was sich darin niederschlägt, dass im Zusammenhang mit diesen Gremien oftmals negativ wertende Adjektive und Adverben verwendet werden: „unklar, wie man... besser an den Diskussionen und Abläufen der UNDekade … partizipieren kann“, es solle „nicht nur informiert, sondern auch nachgefragt werden“ und „häufigere Treffen“ stattfinden (5/2005a: 59ff.), der „An-
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spruch, den Sprung mit dem Thema BNE in die gesamte Gesellschaft zu erreichen, (werde, IB) nicht erfüllt“ (5/2007d: 44). Die Beibehaltung semantischer Unschärfen in Bezug auf das Handlungsfeld der AG und die offen bleibenden Fragen in Bezug auf Handlungsmöglichkeiten deutet sich als eine Inklusions-Strategie an, bei der scheinbar beliebige Interpretationen zugelassen werden und dadurch eine starke (auch öffentliche) Resonanz und Bedeutsamkeit des Themas gewährleistet werden kann: „wer will, der/die darf“ (5/2007a: 59). Für den als dringend wahrgenommenen grundsätzlichen Klärungsprozess wird eine externe Legitimationsinstanz angerufen: Ein exklusiver, nämlich mit „handverlesenen“ (5/2006a: 62) Teilnehmern stattfindender, d.h. geschlossener Expertenworkshop soll helfen, Klarheit über informelles Lernen zu schaffen (5/2005b: 84; 5/2005c: 13; 5/2006a: 50ff.). Diese Exklusivität wird insofern betont, als zuvor über die Entscheidung des Runden Tisches berichtet wurde, nach der die AGs nun für beliebige weitere Interessierte geöffnet seien (5/2006a: 36). Gegenüber den Leistungsvorstellungen des Runden Tisches oder des Nationalkomitees positioniert sich die AG kritisch-distanziert bzw. hilflos: „Können wir diese Fragen überhaupt mit unserem Wissensstand schon beantworten?“ (5/2007a: 72). Insgesamt verfolgt die AG einen Weg, auf dem sie sich von anderen Gruppierungen innerhalb der Diskursgemeinschaft, dem gemeinsamen Kontext abgrenzt. Deutlich wird dies z.B. am Umgang mit der Frage nach der Mitgliedschaft bzw. Öffnung der AG für weitere Interessenten, an der Abwägung, ob das Buch der AG als Dekade-Publikation veröffentlicht wird, aber auch an dem Verweis auf ein „Schwesterportal“ (5/2007a: 74) als tatsächlich genutzte Alternative zum alleinigen Auftritt auf dem gemeinsamen BNE-Portal. Gleichzeitig allerdings zeigt man sich ratlos – und dem aufgeregten Duktus unvollständiger Sätze nach nahezu fassungslos darüber –, dass die Offerten der AG bei anderen Organisationen auf wenig Resonanz stoßen: „Netzwerk21-Kongress zur LA21 in Berlin – warum keine Verbindung zwischen UN-Dekade und Kongress (BMU als Geldgeber, IZT als Mitorganisator) und schlecht organisierte Workshops mit wenig Diskussionsmöglichkeit, aber iL stößt auf größtes Interesse. Warum der Vorschlag nicht aufgenommen wurde, dass wir einen Workshop gestalten, wissen wir nicht“ (5/2007c: 68). Reflektierende Interpretation Während eine hohe Interaktionsfrequenz der Mitglieder dazu beitragen könnte, den erkannten Klärungsbedarf zu beheben, scheint eine umgekehrte Interpretation angebracht: In diesem Fall scheint die Interaktionshäufigkeit vielmehr abhängig von der Komplexität des Gegenstands zu sein, ohne dass diese Komplexität reduziert würde: Die Protokolle der (im Vergleich mit anderen AGs) überaus häufigen Treffen dokumentieren ein bleibendes Bild voller Widersprüche.
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In Hinblick auf ihre eigenen Intentionen geht die AG von einem zirkulären Innovationsprozess aus, das nicht mit der Kommunikation endet, sondern die Adressaten als Akteure einbinden möchte. Dies lässt sich an der präferierten Form der Herstellung von Sichtbarkeit und „Publizität“ (5/2007c: 69) illustrieren: Intendiert wird die Publikation eines selbst herausgegebenen Sammelbandes, eine eigene Website, ein exklusiver Expertenworkshop, der Start eines eigenen Forschungsprojekts mit dem Ziel der Identifikation von förderlichen Rahmenbedingungen informellen Lernens, die dann instrumentell ausgeschöpft werden können. Der Innovationsaufforderung wird in der AG „Informelles Lernen“ mit der Reflexivierung eines prozesswirksamen Inhalts begegnet. Das bei dieser AG rekonstruierbare Deutungsmuster kann umschrieben werden als Repräsentation einer symbiotischen Innovationsvorstellung. Wenngleich dies nicht zu einer Komplexitätsreduktion der Aufgabe führt, sondern eher zu einer Offenbarung der dilemmatischen Situation, in der sich der paradoxe Charakter der wahrgenommenen Aufgabe spiegelt, hilft dies bei der Aneignung der Innovation innerhalb der eigenen community of practice – quasi als eine Transferleistung. Die Paradoxie besteht in der Beeinflussung des Nichtbeeinflussbaren, was im Fall dieser AG zu einer vorweggenommenen, reflexiven Positionierung zur Aufgabe und zu anderen Akteuren führt. Der Zugang zur Innovationsaufforderung erfolgt im Modus der Fachlichkeit. Trotz des erkannten, bisher noch dünnen Fundaments solider wissenschaftlicher Forschung (Interview 5: 19), trotz des Klärungsbedarfs und aller Widersprüche stellt sich die AG allerdings als äußerst öffentlichkeitsorientiert und sendungsbewusst dar: Sie möchte Konzepte und hilfreiche Ratschläge für andere erarbeiten, z.B. in Form einer Checkliste, mit der Projektträger informelles Lernen bewerten können (5/2007a: 37, 59). Ebenfalls in dieses Muster passt die Buchpublikation der AG, die in den Protokollen wiederholt einen breiten Raum einnimmt. Diffus und noch unabgeschlossen ist vor den hier dargelegten Hintergründen auch das Selbstkonzept der AG. Ihre Wille zur Selbstentwicklung zeigt sich etwa darin, dass ihre Protokolle durchweg eine Vielzahl ausformulierter Fragen enthalten, die dadurch anregend, aktivierend wirken und eine Situation des symbolischen Gesprächs schaffen: „Was gehört zu unserem Feld?“ (5/2005a: 106), „Was meint informelle Bildung für nachhaltige Entwicklung?“ (5/2005b: 27) etc. Die Protokolle selbst erscheinen in Hinblick auf die Zuordnung von Überschriften und verhandelten Sachverhalten unstrukturiert und unübersichtlich. Das diffuse Selbstkonzept der AG wird auch inhaltlich deutlich, insofern informelles Lernen zwar einerseits als zweckfreier, beiläufig ablaufender und nicht steuerbarer Vorgang beschrieben wird, bei dem grundsätzlich von einer hohen intrinsischen Motivation ausgegangen werden kann. Gleichzeitig aber setzt sich die AG mit dem Wunsch nach der systematischen Erforschung dessen, wie informelles Lernen durch den Aufbau geeigneter nachfrageorientierter Rahmenbedingungen gezielt unterstützt werden kann
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(5/2005a: 88, 112; 5/2005c: 25-28; 5/2006a: 51), den selbst definierten Eigenarten informellen Lernens geradezu widersprüchliche Ziele. Dieser Widerspruch wird erkannt, und im Zuge seiner Benennung werden die inkohärenten Grundlagen und Ansprüche imprägniert, indem jenen, die meinen, die AG wolle letzte Optimierungspotentiale des Lernens ausschöpfen, eine „falsche Interpretation“ (Interview 5: 14) unterstellt und in einer dieses Missverständnis erklärenden Absicht auf die fließenden Grenzen zwischen formellem und informellem Lernen verwiesen wird. Durch die beobachtende Bezugnahme werden die Spielregeln der Diskursgemeinschaft adaptiv erlernt und gleich gespielt – sie zielen auf die Brechung eines Pfades, auf dem sich die Auseinandersetzung mit dem Gegenstand ‚Informelles Lernen’ offenbar befunden hat: einem abseitigen, wenig beachteten Pfad, der jedoch für das gemeinsame Anliegen der Diskursgemeinschaft von der AG als zielführend präsentiert wird. Diese AG pendelt quasi zwischen Verwissenschaftlichung und Vergemeinschaftung: Um die Möglichkeit einer gesellschaftlichen Kontextualisierung / Systemintegration zu leisten, gefährdet sie ihre eigene Grundlage, nähert sich ihrem Gegenstand aber gleichzeitig in einer diskursiven Praxis der Wissenschaftlichkeit. Dadurch ist ein Druck induziert, der in der AG selbst abgefedert und bei der die Aufgabenbewältigung nicht weitergereicht wird. Nicht nur die Innovationsaufforderung selbst, auch die Positionierung zu dieser Aufgabe wird so zu einer Paradoxie, der die AG die Grenzen ihres Gegenstands entgegensetzt: der konfigurierten Diskontinuität (Luckmann 1992: 59) des Anliegens wird mit der Repetition von Praktiken des Möglichkeitsraums ‚Forschung’ geantwortet. Im Zuge des Umgangs mit der komplexen Aufforderung erarbeitet sich die AG erst noch das Wissen, das für einen anspruchsvollen Lösungsprozess erforderlich scheint. Diese elaborierende Tiefenstrategie kostet Zeit und ist auf Korrektive angewiesen, die sich die AG im Modus der Beobachtung anderer Gremien der Diskursgemeinschaft verschafft. Die Innovationsaneignung der AG 5 kann als eine habitualisierte Reflexion interpretiert werden, bei der der Aneignungsprozess kontinuierlich aufrecht erhalten wird und selbst zum Gegenstand gemacht wird. Die AG vollzieht an sich selbst einen aktiven Aneignungsprozess in Form der Konstruktion spezifischen Wissens. Dieser Prozess verläuft streckenweise chaotisch, zufällig und mitunter wenig strukturiert, aber am Ende durchaus reflexiv, wenn nämlich danach gefragt wird, ob die diskursiven Praktiken der AG möglicherweise exkludierend wirken. Diese AG sucht nach der Klärung ihrer eigenen inhaltlichen Substanz, auf deren Grundlage sie der Innovationsaufforderung ihrer Meinung nach angemessen begegnen kann. Gerade wegen ihres Gegenstands ‚informelles Lernen’ wurde allerdings zur Konstitution der AG aufgefordert; eine umfangreiche Selbstklärung dürfte also nicht den Erwartungen des Nationalkomitees entsprechen. Im letzten
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berücksichtigten Protokoll des Analysekorpus’ ist genau dies Gegenstand der reflexiven Frage, ob informelles Lernen nicht auch in dieser AG stattfinde (5/2007c: 48-52). Damit findet der bereits zu Beginn der Treffen geäußerte Hinweis, dass es diese AG thematisch und strukturell im Vergleich zu den anderen AGs besonders schwierig habe (5/2005a: 28-29), zwar seine Abrundung, keineswegs aber seine Auflösung. Die Handlungskoordination verläuft im Modus der Beobachtung und folgt einem um-zu-Motiv (Schütz 1974): Andere Gremien der Diskursgemeinschaft werden beobachtet, um an deren Entwicklungen zu partizipieren und sich des eigenen Wegs zu vergewissern; Anregungen aus der Diskursgemeinschaft werden aber nur bedingt verfolgt. Durch die parallele Bezugnahme auf das Diskursfeld ‚Forschung und Wissenschaft’ wird ein Horizont von Möglichkeiten und Erwartungen (Koselleck 1989) eröffnet, der sich mit der der Selbstpositionierung und den Praktiken der AG verschränkt: Die AG konstituiert sich ihren Gegenstand primär auf analytische Weise. Die autoritative Ressource der Signifikation wird insofern auch nicht anderen überlassen, sondern selbst beansprucht. Diese AG positioniert sich vor dem Hintergrund einer reflexiven Problematisierungsperspektive: diskursiv und nicht-diskursiv bringt sie ihre Bereitschaft zum Ausdruck, sich der komplexen, als ambivalent und dadurch auffordernd wahrgenommenen Aufgabe zu stellen. Die autoritativen Ressourcen für die Bewältigung dieser Aufgaben sieht sie bei sich selbst – und kopiert diese Deutung in ihre Innovationsstrategie hinein: Diese ist durch ein deliberatives Sendungsbewusstsein gekennzeichnet, nach die Reflexivität in den Reihen der eigenen AG diskursiv in das adressierte Feld ausgedehnt wird. Dieses wird nicht als passives Rezeptionsfeld, sondern quasi als Feld gleichberechtigter Interaktionspartner im Innovationsprozess betrachtet. Bei der Grobanalyse zeigte sich für diese AG ein sendungsorientiertes Muster, bei dem individuelle Wissensträger zur Generierung von gemeinsam zu veräußerndem Wissen beitragen. Mit der Feinanalyse kann nun ein Aneignungsstil nachgezeichnet werden, der die AG sowohl in Hinblick auf die Generierung von deklarativem wie auch prozeduralem Wissen als reflexiv-elaborierend darstellt: Die Innovation wird dekonstruiert und auf ihre Bedeutung für die Wissensarbeit hinterfragt. Dieser Aneignungsstil geht mit gewissermaßen pendelnden Vergewisserungspraktiken einher, durch die die AG die eigene Wissensarbeit als Aufforderung und Angebot auf weitere Akteure zu übertragen scheint, die dadurch quasi auf einer gemeinsamen Augenhöhe mit ihnen agieren; sie positioniert sich somit als Partnerin in einem unabgeschlossenen Entwicklungsprozess. Insgesamt dokumentiert sich in den Praktiken der AG damit ein Verständnis von Innovation, nach dem diese eine auch an sie gerichtete Aufforderung zu anhaltender Wissensarbeit ist,
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der sie selbst im Modus umfassenden Lernens begegnet und somit antizipativ erfährt, was sie anderen ‚zumutet’. Strukturdimension
inhaltliche Auffüllung der Dimension
Wahrnehmung / Deutung des Problems
informelles Lernen ist der passende Schlüssel, um BNE zu verankern, bleibt aber schwer zugänglich, zahlreiche ungelöste Forschungsfragen: umfangreiches Nichtwissen Nutzung der Ressource Informelles Lernen, ohne sie zu verschleißen
Ursache dieser Wahrnehmung und Verantwortungszuschreibung
Nichtbeachtung bei gleichzeitiger Bedeutsamkeit Fremdpositionierung: aufzuklärende Öffentlichkeit Selbstpositionierung: Agenten eines wichtigen Themas, Selbstvergewisserung und Gestaltung durch Forschung
Handlungs- und Ergebnisorientierung
multimodale Verbreitungsvorstellungen: Verbreitung über Fachpublikation und aktivierende Workshops Überwindung deklarativen und prozeduralen Nichtwissens mittels Forschung reflexiver Umgang mit Widersprüchen und offenen Fragen Praktiken: Authentifizierung; Inklusion
Tab. 6: Phänomenstruktur der AG 7 6.4.1.4 AG 7: Schulische Bildung Die AG dokumentiert ihre Arbeit mittels vier öffentlich verfügbarer Protokolle sowie eines Positionspapiers82. In Anbetracht der vier dokumentierten AG-Treffen ist sie so aktiv wie die AG 1. ‚Gemessen’ an den zahlreichen positiven und lobenden Verweisen auf ihre Vorgehensweise und das Ergebnis ihrer Arbeit – wird die AG „Schule“ zu einem nachahmenswerten Erfolgsmodell. An den dokumentierten AG-Sitzungen nahmen insgesamt 18 Personen teil, von denen sieben bei mindestens drei Treffen anwesend waren, von diesen waren fünf Personen an allen vier Treffen beteiligt. Worum geht es in der AG, was sind die zentralen Themen, wie werden sie behandelt und erschlossen? Bei den Treffen wird eine begrenzte Anzahl verschiedener Tagsordnungspunkte diskutiert, so dass auch hier die Entwicklung eines spezifischen Repertoires deutlich wird: Diese AG bezieht sich vornehmlich auf die Diskussion der Aktivitäten des Runden Tisches sowie des Nationalkomitees. Das Positionspapier spielt nur in den ersten Sitzungen eine Rolle und wird nach dessen Fertigstellung und Veröffentlichung nicht mehr diskutiert. Von nachrangigem Interesse sind der Nationale Aktionsplan, die Dekadeprojekte, die Jahresthemen sowie die Entwicklung von Qualitätskriterien. Nicht angesprochen werden
82
Sie hat außerdem eine gemeinsame Empfehlung der Kultusministerkonferenz und der Deutschen UNESCO-Kommission zur Verankerung von BNE in Schulen herbeigeführt.
292
Innovationsanalyse
die Halbzeitkonferenz und das gemeinsame Internetportal als Mittel, über das eine nationale und internationale Sichtbarkeit der Aktivitäten erzielt werden kann. Dadurch, dass die AG künftige Maßnahmen explizit ausweist und diese stringent verfolgt, reiht sich die AG als aktive Protagonistin in die bereits existierenden Aktivitäten zur Verankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung im Bildungssystem ein. Thema / Zeitpunkt
2005
2006a
2006b
2006c
Runder Tisch
x
x
x
x
Nationalkomitee
x
x
x
x
Nat. Aktionsplan
x
Dekadeprojekte Positionspapier
x x
x
Portal Halbzeitkonferenz Jahresthema Qualitätskrit, Zert.
x x
Tab. 7: Diskursstränge der AG 7 Formulierende Interpretation Das Grundsatzpapier der AG 7 verweist auf bereits vorhandene internationale bildungspolitische Dokumente, die das Ziel der Verankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung teilen. Die Beschreibung der Dokumente erfolgt in einem programmatischen sprachlichen Duktus, der auf die aufwendige Tätigkeit des Vermittelns, Herstellens, Aufgabenlösens, Verbreitens, Verankerns verweist (Positionspapier 7: 12, 20, 37, 58, 69). Die Schwierigkeit einer bildungspolitischen Umsetzung der Aufgaben wird begleitet von der Notwendigkeit, die Mittel, die dies leisten können, neu zu erfinden (Positionspapier 7: 28, 102). Vor diesem Hintergrund legt die AG ihre eigenen Ziele und Vorgehensweisen dar. Dabei wird auf bereits bestehende Programme verwiesen, aus denen Strukturen und Materialien hervorgegangen sind und deren Nutzung, Weiterentwicklung und Verbreitung die AG anstrebt – im Verbund mit anderen Akteuren und auf allen Ebenen des Bildungssystems (Positionspapier 7: 76, 7/2005_: 69ff., 154; 7/2006c: 17f., 36). Auffällig ist neben dem tabellarischen Querformat, in dem das erste Protokoll verfasst ist, dass mit zunächst interpretationsoffenen, Slogan-artigen Satzfragmenten und mathematisch-logisch anmutenden Formeln gearbeitet wird: „Inhalt + Organisation + Kooperation sollte an Schulen einen ‚Dreiklang’ bilden“ (7/2005_: 33-34) oder „Bildung Wissen“ (7/2005_: 41). Die übersichtliche Darstellung in
Innovationsanalyse
293
Ziele auf der einen Seite und konkrete, d.h. zeitlich fixierte und mit Zuständigkeiten versehene Maßnahmen auf der anderen Seite illustriert die von Beginn an vorhandene Zielorientierung der AG. Die AG dokumentiert schon im ersten Protokoll den festen Vorsatz, ein Papier zu verfassen, mit dem auf die KMK eingewirkt werden, mit dem Ziel einen Beschluss der KMK zur BNE herbeizuführen (7/2005a: 54ff.). Die Mitglieder treffen sich ergebnisorientiert und in schneller Abfolge. Die Veröffentlichung von Protokollen ihrer Treffen endet, nachdem das avisierte Ziel erreicht ist. Bei der Umsetzung dieses Vorhabens agiert die AG fokussiert und äußerst strategisch in einer Art konzertierten Aktion. Deutlich wird dies auch an der in den Protokollen enthaltenen Ordnungs- und Ermöglichungsmetaphorik, die sich u.a. mit Begriffen wie ‚einräumen’, ‚intensiv anstrengen’, ‚befördern’, ‚in den Blick nehmen’, ‚fokussieren’, ‚weiterentwickeln’, ‚herbeiführen’ und ‚ermöglichen’ erschließen lässt. Die AG stellt sich damit als eine aktiv-gestaltende, proaktive, zielstrebige Gruppierung dar, die ihre Aufgabe darin sieht, durch effiziente Arbeitsabläufe systematische Aufräum-, d.h. Ordnungsarbeiten strukturierte Handlungsspielräume für sich und andere zu schaffen. Die Protokolle illustrieren den deutlichen Gestaltungswillen der AG, der dank des strategischen Vorgehens auch eingelöst wird: Ein teilweise straffer sprachlicher Duktus, der in den Protokollen vorgefunden wird, erinnert an die Erteilung von Hausaufgaben (7/2005a: 47-48), die zu erledigen sind: „Es ergeben sich folgende konkrete Aufträge bis spätestens 3.5.2006 per e- mail an Frau A.“ (7/2006b: 60-61) oder „Als Mitglied des Redaktionsteams die in der Sitzung besprochenen Veränderungsvorschläge in den Entwurf der KMK/DUK-Empfehlung einarbeiten. Mit den übrigen Mitgliedern des Redaktionsteams den Ort für das Treffen am 30. März klären. Bis Mitte April das KMK-Papier überarbeiten“ (7/2006a: 158-161). Dabei wird effizient vorgegangen, z.B. indem aufwendige Tätigkeiten entweder mit Verweis auf Effizienz und Effektivität organisatorisch aus den AG-Treffen verlagert werden (z.B. „spart lange Vorstellungsrunden in den AG-Treffen“ 7/2005a: 117) oder aber angesprochene Themen zwar protokollarisch erfasst, aber nicht weiter vertieft werden (7/2005a). Wie das avisierte Ziel der Institutionalisierung von BNE im Schulbereich zu erreichen ist, darüber scheint in der AG ein Konsens zu bestehen, der gegenüber einem neuen, die Reichweite des Vorhabens vergrößernden Vorschlag (7/2006a: 98-100) verteidigt wird: Die Beschlüsse zu Inhalt und Zielgruppe des KMK/DUKPapiers, das einen verbindlichen Charakter für Akteure im Schulwesen haben sowie eine politische Legitimation der BNE-Thematik liefern soll, korrespondieren mit der strategischen Einbeziehung von externen Wissensträgern (7/2006b: 13-17), die parallel an einem ähnlichen Vorhaben arbeiten. Die eingeladenen externen Wissensträger treten in diesem Zusammenhang bereitwillig als Informanten auf,
294
Innovationsanalyse
die ihr know-how teilen und zahlreiche Hinweise geben, deren Berücksichtung und Integration der eigenen Initiative Erfolg verheißen (7/2006b: 36-37). Die gleichzeitig stattfindenden Aktivitäten werden nicht als konkurrierend ausgedeutet, sondern als komplementär betrachtet. Den Empfehlungen folgt man gern (2006b: 45-98). Ihr Votum fließt auch ihrer in Abwesenheit in die Diskussion ein (7/2006a: 94). Neben dem selbst gesetzten, übergeordneten Ziel werden von dieser AG nur wenige Themen wiederholt angesprochen, diese aber ziel- und umsetzungsorientiert, d.h. zumeist mit konkreten, namentlich benannten Zuständigkeiten und Fristen. Um andere Dekade-Gremien geht es allenfalls stichwortartig (7/2005_: 69f., 72ff.; 7/2006a: 128, 140; 7/2006c: 7, 24). Dennoch äußert die AG, auch über die Arbeit anderer etwas erfahren zu wollen (7/2005_: 119-120). Mit dem auch in anderen AGs geäußerten Wunsch nach Kooperation mit den verschiedenen Dekade-AGs wird Interesse an den Beiträgen anderer zum gemeinsamen Ziel demonstriert und gleichzeitig eine Möglichkeit zum Vergleich mit anderen avisiert, also Potentiale zur Differenzwahrnehmung aktiviert. Gleichzeitig wird allerdings darauf hingewiesen, dass, obwohl Überschneidungen mit dem Vorhaben einer anderen AG bestehen, sie aus „Effizienzgründen“ (7/2006a: 129) weiterhin allein am KMK-Papier arbeiten will. Dies kann darauf hindeuten, dass die AG 7 den auf ihren eigenen Anstrengungen beruhenden, erhofften Erfolg für sich beanspruchen möchte und die angesprochene AG sich zu diesem Zeitpunkt offenbar ihre Treffen bereits eingestellt hatte (7/2005a-2005d). Spätere Protokolle sagen nichts mehr über die Kontaktaufnahme mit der AG Berufsbildung aus. Reflektierende Interpretation Die Protokolle der AG lassen einen stellvertretenden Innovationstransfer rekonstruieren. Mit dem KMK-Beschluss strebt die AG – stellvertretend – die Überwindung der Begrenztheit von Raum und Zeit ihres sachlichen Wirkens an. Die zu diesem Zweck erfolgende aneignende Wissenskonstruktion verläuft dabei adaptiv: Soziales Metawissen wird eingesetzt, um bestehende Lücken hinsichtlich eines prozeduralen Wissens zu schließen. Angezielt wird eine Exteriorisierung der eigenen Anliegen, unter gezielter Zuhilfenahme externer Wissensträger. Das diskursive Verhalten der AG scheint sich somit zweifach zu transformieren: von einem Interdiskurs in einen zeitweiligen Spezial- und dann in einen avisierten Interdiskurs, der außerhalb der eigenen Beeinflussung abläuft. Damit wird die Verantwortung für den Transferprozess aktiv übernommen und zugleich wird im Wissen um die auch andernorts zu erbringende Transferleistung die Dislozierung von Verantwortung legitimativ vorbereitet: andere Gremien werden als Träger und Medien ‚benutzt’, um die eigenen Anliegen tatsächlich weiter zu verbreiten. Gleichzeitig offenbart die AG eine reflexive Grundhaltung,
Innovationsanalyse
295
indem sie bereits vor der Beschlussfassung über die Einbindung weiterer Akteure zwecks Umsetzung des Beschlusses nachdenkt. Das Deutungsmuster, das aus den Praktiken dieser AG rekonstruiert werden kann, repräsentiert demnach eine lineare Vorstellung von Innovation und ihrer Durchsetzung. Insgesamt reproduziert die AG damit einen Interaktionsstil, mit dem ihr auch begegnet wurde: Sie ist zwar die agency, der Promotor, ein tragendes Gremium, das Themen strategisch platziert, das fundamentelle Lernen aber soll andernorts aufgrund einer unter Ausnutzung hierarchischer Strukturen lancierten Empfehlung erfolgen. Man bedient sich eines anderen Gremiums, das dem eigenen Anliegen in einem top-down-Prozess Gehör verschaffen kann. Insofern kann die AG als assimiliert i.S. der Verwendung von ‚Sprach- und Machtspielen’ betrachtet werden. Insgesamt wirkt die AG, mit einer Metapher Bourdieus wie ein Zug, der seine eigenen Schienen mitführt: Das Zugpersonal entscheidet, wohin die Reise geht und wer zusteigen darf. Auf am Wegesrand befindliche Sehenswürdigkeiten wird zwar hingewiesen, aber schnell vorüber gefahren, angehalten wird nicht. Der Umgang mit der Innovationsaufforderung zeigt damit eine aktive Aneignung der Aufgabe. Die Aufgabenerfüllung ist dabei allerdings riskant, da sie auf nicht direkt beeinflussbar andere Akteure übertragen wird und so gleichzeitig eine soziale, räumliche und zeitliche Verlagerung erfährt. Durch die lobenden Verweise verschiedener communities of practice bzw. akteure auf die Aktivitäten einer anderen wird die AG 7 ohne ihr Zutun zu einem Vorbild gemacht und ihr Vorgehen zur Nachahmung lizenziert. In der Tat erweist sich diese AG als relativ geschlossen gegenüber den Aktivitäten der anderen und konzentriert sich auf ihr eigenes Vorhaben statt nach Kooperationen und Vernetzung innerhalb der Diskursgemeinschaft zu streben. Das ist angesichts des Vorhabens auch nicht erforderlich: So ist sie in der Lage, ein Ereignis zu schaffen, das die Wissensordnung anderer kollektiver Akteure berührt. Die AG strebt einen Flächentransfer an, wählt dafür jedoch den tradierten Weg der Implementation über einen mit der autoritativen Ressource ‚administrative Macht’ ausgestattete Mittler. Damit reproduziert, ja kopiert die AG geradezu eine diskursive Praxis, die sie selbst als dominant in ihrem Handlungsfeld vorfindet. Das professionelle Alltagswissen mündet in eine Grammatik professionell-folkloristischer Distribution: Die durch die Innovationsaufforderung aus dem Lot geratene Normalitätserwartung wird weitergereicht und stellvertretend auf dem Weg der Kooptation einer Normalisierungsinstanz wieder hergestellt. Eine differentielle Betrachtung des breiten Rezeptionsfeldes findet nicht statt, stattdessen ist der Hauptadressat ein kollektiver Akteur, der als Scharnier, Sprachrohr bzw. Medium zwischen der AG und der Fläche steht: Über ihn findet perspektivisch eine gesellschaftliche Kontextualisierung des von der AG für transferwert befundenen Wissens statt. Er wird somit zu einem riskanten Garanten der Erfüllung der handlungsmotivierenden
296
Innovationsanalyse
‚praktischen Utopie’ (Luckmann 2002: 59), die in der Zielsetzung der AG enthalten ist. Über ihn lässt die AG ‚ihre’ Innovation real werden. Die AG präferiert dabei einen Modus der Handlungskoordination, der auf die Beeinflussung anderer zielt: zum einen auf den kollektiven Akteur, der im Rahmen des primären Transfers als Medium der Veränderung dient, zum anderen über die Möglichkeiten der Handlungskoordination, die dieses Medium in der Fläche hat. Um diese Beeinflussungsmöglichkeit zu erreichen, wird strategisch verhandelt. Das diskursive Spiel wird in einer Arena ausgetragen, deren Regeln der nichtdiskursiven Praktiken der Systemintegration der AG bekannt sind bzw. gezielt erlernt werden. Die Spielregeln selbst bleiben unverändert, es kommt angesichts eines scheinbar als verknappt wahrgenommenen Möglichkeitsraums zu einer Wiederholung desselben (Foucault 2003: 22, 35). Diese diskursive Praktik lässt sich als Indiz für die mimetische Bewältigung einer Unsicherheitssituation interpretieren. Aus diskursanalytischer Perspektive wird daran die historisch gewordene, pfadabhängige strukturierende und strukturierte Wirkung des Diskurses deutlich: Die AG bleibt auf ihrem einmal eingeschlagenen Weg und nimmt eine Elaboration von prozeduralem Wissen vor. Hierbei handelt es sich um eine Elaborationsstrategie, bei der vorhandenes Wissen in bestehende Strukturen integriert wird; das propositionale Wissen aber bleibt abstrakt, es wird nicht aufwendig abstrahiert. Aktiviert wird fundiertes domänenspezifisches, prozedurales Wissen, hinter welches das propositionale Wissen zurücktritt. Insgesamt positioniert sich die AG vor dem Hintergrund einer von ihr vertretenen quasi managerialen Machbarkeits- und Kontrollorientierung – schon vorhandene Kompetenzen werden unter Ausnutzung des inhaltlichen Gestaltungsspielraums gezielt durch von außen eingeladene autoritative Ressourcen ergänzt, wodurch die Verfügung über eigene allokative Ressourcen (Giddens 1997) untermauert wird. Strukturdimension
inhaltliche Auffüllung der Dimension
Wahrnehmung / Deutung des Problems
nicht Problem, sondern Aufgabe: Institutionalisierung von BNE
Ursache dieser Wahrnehmung und Verantwortungszuschreibung
keine Problem-, sondern Aufgabenverantwortung: proaktive eigene Verantwortungsübernahme Fremdpositionierung: nützliche Instanzen Selbstpositionierung: aktive Gestalter, strenge, strategische Zielorientierung mit gezielter Organisation von Unterstützung
Handlungs- und Ergebnisorientierung
geplante und zielorientierte Kooptation anderer Instanzen detaillierte und verbindliche Umsetzungsplanung Praktiken: Hierarchisierung; Strukturierung; Hegemonialisierung
Tab. 8: Phänomenstruktur der AG 7
Innovationsanalyse
297
Das in der Grobanalyse identifizierte Muster, das diese AG als einen gezielt wissensintegrativen und stark sendungsorientierten Akteur charakterisiert, wird im Rahmen der Feinanalyse weiter untermauert. Die AG zeigt einen zweckorientierten Aneignungsstil, der mit einer breitenwirkungs- bzw. machtorientierten Form der Inanspruchnahme weiterer Akteure Hand in Hand geht, bei der die Innovation stellvertretend durch kooptierte Dritte top down zu implementieren beabsichtigt wird. Die AG selbst stellt sich somit symbolisch als sozialer Ort dar, durch den die Innovationsaufforderung durchgeleitet und in die Kommunikationskanäle eines wirkmächtigeren Akteurs umgelenkt wird. Durch die Instrumente, über die dieser Akteur verfügt, wird ein (lineares) Innovationsverständnis deutlich, bei dem ihr Inhalt in den Hintergrund tritt und stattdessen die Wege der Kommunikation im Vordergrund stehen, auf denen sie die Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsspielräume anderer beeinflussen können. Zielorientiert generiert sie dazu das ihr fehlende prozedurale Wissen. Insgesamt zeigt diese AG einen Aneignungsstil, bei dem für das Handlungsfeld übliche Innovationspraktiken reproduziert werden; die Elaboration der Innovation selbst tritt gegenüber der Orientierung an Instrumenten und Wegen der Implementation in den Hintergrund. Der Innovation scheint sich die AG in einem reproduktiven Modus zu nähern. 6.4.2 Fallübergreifende, interpretative Typisierung Das nach dem Schritt der fallbezogenen Analysen vorliegende Ergebnis ist nur ein Zwischenergebnis. Der an der reflektierenden Interpretation der Dokumentarischen Methode orientierte zweite Schritt der Feinanalyse bestand darin, die Ergebnisse der Grobanalyse vor dem Hintergrund des theoretischen Vorwissens über Innovationen zu verdichten und die Besonderheiten der ausgewählten Fälle systematisch als spezifische diskursiv konstituierte Phänomenstrukturen herauszuarbeiten. Dazu erfolgt nun eine fallübergreifend-komparative Interpretation. Sie abstrahiert von den Einzelfällen sowie von einzelnen Aussagen i.S. einzelner Protokollsätze; stattdessen stehen Äußerungen, d.h. über die Dokumente hinweg vorgefundene, wiederkehrende Problemdeutungen, Verantwortungszuschreibungen, Handlungs- und Ergebnisorientierungen im Vordergrund. Dabei geht es darum, typische Verknüpfungen von Merkmalsausprägungen (hier: inhaltliche Auffüllung der Strukturdimension) zu rekonstruieren. Dieser Interpretationsschritt zielt ab auf die Identifikation von Typen der diskursiven Aneignung von Innovation (Kluge 2000).83 83
Die Typisierung ist auch Ziel der Dokumentarischen Methode: Ihr geht es darum, durch eine komparative, fallübergreifende, aber ebenso auch eine fallweise Analyse Muster des Umgangs mit einem Phänomen zu rekonstruieren, d.h. systematisch und deutlich voneinander unterscheidbare Typen zu identifizieren. Ebenso zielt die WDA darauf ab, typische diskursive Muster der Ordnung von Wissen zu erschließen – ohne dass dafür jedoch im Forschungsprogramm
298
Innovationsanalyse
Nun werden die in Abschnitt 6.4.1 herangezogenen Kategorien hinsichtlich ihrer Merkmalsausprägungen untersucht. Diese umfassen die jeweilige Problemwahrnehmung/-deutung und Ursachenzuschreibung sowie den diskursiven Umgang mit dem wahrgenommenen Problem. Dabei zeigen sich zwei Typen von Innovationsdiskursen: ein geltungs- und ein bedeutungsorientierter Typ. Aus der Governanceperspektive wird im Anschluss an die Darstellung dieser beiden Diskurstypen des weiteren danach gefragt, ob und wie die Diskursakteure aufeinander Bezug nehmen, d.h. ob und inwiefern es in den Interaktionen ein Zentrum und eine Peripherie gibt, wie die Akteure sich in dieser Konstellation positionieren und wie diese Positionen möglicherweise die Praktiken der Akteure berühren. Dabei zeigen sich jeweils spezifische Deutungs-Praxis-Integrations-Konstellationen, die den geltungsorientierten Typ als einen perspektivisch systemintegrativen und den bedeutungsorientierten als einen sozialintegrativen Typ erkennen lassen. 6.4.2.1
Innovation im Diskurs – Zwischen geltungsorientierter Regulation und bedeutungsorientierter Elaboration Schon im vorigen Abschnitt wurde die Unterschiedlichkeit der einzelnen Fälle herausgearbeitet. Die hier vorgestellten Ergebnisse der komparativen Analyse zeigen zwei verschiedene Merkmalskonstellationen: Demnach stellt sich die Aneignung der Innovation im einen Diskurs als ‚geltungsorientiert-regulierende Institutionalisierung’ und im anderen Diskurs als ‚bedeutungsorientiert-elaborierende Innovation’ dar. Geltungsorientiert-regulierende Institutionalisierung (Typ A) Im geltungsorientierten Typus wird die Innovation als drängender Imperativ interpretiert – aufgrund des alarmierenden Umweltzustands bzw. internationaler politischer Konventionen. Die Sache, um die es formal in der gesamten Diskursgemeinschaft geht, tritt im geltungsorientierten Diskurstyp als ‚verwaltete Innovation’ auf. Das Phänomen wird hier als ein diskursives Ereignis konstruiert, aus dem eine allfällige Aufforderung zum Handeln resultiert: Einmal wird das grundlegende Phänomen als ein mittels rationaler, konzertierter politischer Aktionen beherrsch-
eine spezifische methodische Vorgehensweise vorgesehen ist. Für das Ziel, typische diskursive Muster zu erschließen, war auch hier die Auswertungslogik der Dokumentarischen Methode im Hinblick auf den Umgang mit den analytischen Kategorien maßgeblich: Voneinander abgegrenzt werden die rekonstruierten Typen über die schon zuvor benannten analytischen Kategorien (Wahrnehmung/Deutung des Problems etc.) – hier sind sie vorgegeben, während sie in der Dokumentarischen Methode als Vergleichshorizonte aus dem Material heraus erschlossen werden. Die Anwendung dieser Kategorien kommt insofern der Rekonstruktion von Kommunikations- und Sinnhorizonten im Rahmen der Dokumentarischen Methode nahe.
Innovationsanalyse
299
bares, menschlich beeinflusstes Naturereignis gedeutet, einmal als ein auf der internationalen Bühne inszeniertes Politikereignis, auf das national zu reagieren ist. Die so charakterisierte Problemkonstitution wird bei diesem Typ verbunden mit einer Positionierung, bei der die Akteure als aufgeklärte Experten hervortreten, die über geordnetes Wissen verfügen, dessen kanalisierte Verbreitung zur effizienten und effektiven Lösung des Problems beizutragen verspricht. Dabei vertrauen die Diskursakteure auf die Unterstützung bildungspolitisch ‚mächtiger’ Dritter, durch die sie der ‚Sache’ zur Geltung verhelfen wollen und ihre Legitimität hervorheben. Gleichzeitig tragen sie damit zu ihrer eigenen Positionierung als kompetente Instanz bei, die in der Lage ist, wirkungsvolle Allianzen nicht nur zu planen, sondern auch einzugehen: Verfügungsfähigkeiten werden im Dienste der Sache mit der Entleihung bzw. Inanspruchnahme von Verfügungsrechten kombiniert. Diese Selbstpositionierung erlaubt die stellvertretend praktizierte Fremdpositionierung anderer als Laien, die im Dienst der Sache aufzuklären und zu instruieren sind. Die Wahl der dafür gewählten Mittel ist dabei vergleichsweise traditionell: Sowohl die ‚administrative Einflussnahme’ als auch die verwendeten Kommunikationsmedien (Memorandum; Positionspapier) untermauern die Selbstpositionierung der Akteure dieses Diskurstyps. Mit der Wahl dieser Medien und der Kooptation Dritter ‚leihen’ sich die Akteure zum einen die Legitimation anderer. Sie sind so in der Lage, ein Dispositiv zu erzeugen, das das Potential hat, sich in künftige Diskurse einzuschreiben. Mit dieser instrumentellen Objektivation des Legitimen geht zum anderen eine Konstitution asymmetrischer Beziehungen einher, wie sie im betrefflichen sozialen bzw. organisationalen Kontext im Einklang mit der Gewährung lokaler Interpretations- und Handlungsautonomie angetroffen wird. Instrumentell und medial reguliert vollzieht sich dadurch zwar eine Inklusion – über den Einschluss wirkungsvoller Dritter wird die Position der Akteure dieses Diskurstyps quasi verdoppelt. Allerdings wird damit auch ein unidirektionaler Interaktionsmodus ratifiziert, der die Praktiken als zweckrationale und ergebnisorierientierte Instruktionen und die Adressierten damit als in ihrer Autonomie zu regulierende Akteure erscheinen lässt. Dadurch wird zugleich eine Exklusion vollzogen, die der Komplexitätsreduktion auf einen ‚best way’ dient: Es findet eine Konzentration auf einige wenige Themen, klar benannte Ziele und eindeutige Wege der Kommunikation statt. Die Exklusionspraktik lässt sich auch in den protokollarisch dokumentierten Interaktionen wiederfinden. Die in diesem Typ repräsentierte Botschaft, nach der Innovation als regulierbare Aufgabe erscheint, spiegelt die Institutionalisiertheit des betrefflichen Kontexts wider und führt diesen als symbolischen sozialen Raum mit gering modifizierbaren Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsspielräumen vor, in dem auch Innovation mimetisch prozessiert, d.h. in routinisierten und habitualisierten Praktiken ‚verwaltet’ und gesteuert wird.
300
Innovationsanalyse
In Hinblick auf das Verständnis einer Innovation als Wissenspassage werden von diesem Typ klare Vorstellungen darüber repräsentiert, welche Akteure die Passage konstituieren und welches Wissen diese Passage wie passieren soll: Der Prozess der Innovation wird als unidirektionaler Kommunikationsprozess mit hoher sozialer, zeitlicher und räumlicher Reichweite organisiert, bei der die Innovationsaufforderung mit Hilfe einer intermediären Instanz an weitere Adressaten weitergeleitet wird, die dadurch zu eigener Wissensarbeit aufgefordert sind. Bedeutungsorientiert-elaborierende Innovation (Typ B) Dagegen wird Innovation im bedeutungsorientierten Typ als eine anspruchsvolle Aufgabe interpretiert, die selbst zu leisten und nicht anderen zu überlassen ist. Die diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken spiegeln dies insofern, als bei diesem Typ die Anstrengungen deutlich werden, die mit der Erfüllung des so konstituierten Problems verbunden sind. In diesem Typ lassen sich zwei Subdiskurse auffinden, deren einer grundlegend als verständnisorientiert (Typ B 1) und deren anderer als verständigungsorientiert (Typ B 2) skizziert werden kann. Während die Praktiken im ersteren einen explorierenden und gleichzeitig Unterstützung und Orientierungsangebote fordernden Duktus aufweisen, weisen die Praktiken des anderen Subdiskurses Merkmale zunehmender Souveränität und Kreativität auf. Verbunden sind beide Subdiskurse durch die Elaborationspraktiken, die in Bezug auf die ebenfalls geteilte Konstitution des Phänomens als eine zwar anspruchsvolle, aber machbare Aufgabe erkennbar sind. Die Praktiken der Bedeutungsgenerierung und Elaboration beider Subdiskurse zeigen einen authentischen Umgang mit der wahrgenommenen Herausforderung: diese wird als eine an die eigene Adresse gerichtete Reflexionsaufgabe behandelt. Zu dieser Aufgabe positionieren sich die Akteure jedoch in unterschiedlicher Weise: im verständnisorientierten Subdiskurs (B 1) werden nicht nur Forderungen nach Unterstützung, sondern auch Kritik an der Interaktion in der Diskursgemeinschaft geäußert, der verständigungsorientierte Subdiskurs (B 2) zeigt eine aktive und aktivierende, (selbst)reflexive Suchhaltung, mit der der Aufgabe begegnet wird. Der verständnisorientierte Subdiskurs (B 1) geht dabei mit einer exkludierenden Selbstpositionierung einher: Die Subjektivierungspraktiken anderer werden kritisiert und (im Vergleich zum verständigungsorientierten Subdiskurs (B 2) sowie dem geltungsorientierten Diskursytyp (A)) wird ein Struktur und Regeln fordernder Gegendiskurs installiert, durch die die Sache, um die es in den anderen (Sub-)Diskurstypen geht, in den Hintergrund tritt. Das Risiko eines souveränen Innovierens wird abgelehnt. Stattdessen wird durch Praktiken der Hierarchisierung und Rückdelegation eine Fremdpositionierung vorgenommen, an der die subdiskursiven Praktiken der Aneignung interpretiert werden können: Die Konzentration auf ein scheinbar ungeklärtes Binnenverhältnis der Interaktion korrespondiert mit
Innovationsanalyse
301
den Such- und Systematisierungsstrategien, über die eine Selbstpositionierung als Suchende erfolgt und die über Kritik an fehlender Unterstützung und vorenthaltenen Deutungsangeboten plausibilisiert wird. Die Objektivationen, die in diesem Subdiskurs hervorgebracht werden (zwei Varianten eines Grundsatzpapiers) illustrieren diese öffentlich inszenierte Suche nach einer Rolle oder ‚Identität’, die noch im Werden begriffen ist. Nicht sich selbst heben die Akteure dieses Subdiskurses durch ihre Praktiken damit hervor, sondern andere Akteure der Diskursgemeinschaft. Das Anrufen dieser anderen Gremien und die Orientierung an ihnen umarmt diese symbolisch als Ko-Konstrukteure der Innovation. Gleichzeitig befreit dies die Akteure dieses Subdiskurses von der zugeteilten, hier als Zumutung sich einblendenden Verantwortung für die souveräne Gestaltung der Innovation, deren Reichweite sich dadurch außerdem zunächst nur in den Grenzen der Diskursgemeinschaft entfaltet. Anders als im anderen Subdiskurs (B 1) fällt Kritik bei diesem Subdiskurs (B 2) in den Bereich des Sagbaren – es wird eine tendenziell selbst exkludierende, zumindest neutralisierende Position eingenommen, von der aus diese Kritik vertretbar ist. Im verständigungsorientierten Subdiskurs (B 1) erscheint Innovation als Weg und zugleich als Ziel. Dieser Subdiskurs präsentiert Formen der reflexiven Strukturation, in deren Rahmen multimodale Formen und Wege der Inklusion praktiziert werden. Anders als im verständnisorientierten Subdiskurs werden hier zwar ebenfalls Suchpraktiken offenkundig. Allerdings wenden sich diese nicht fragend an Dritte als Auskunftsinstanz, sondern sind vorrangig selbstreflexiv und werden auf verschiedenen Wegen i.d.S. auf Dritte ausgedehnt, als diese zur Reflexion angestiftet werden sollen. Durch diese Übertragung und Erweiterung des für den bedeutungsorientierten Diskurstyp charakteristischen Suchmodus’ wird in diesem Subdiskurs die Verantwortung für die souveräne Gestaltung der Innovation nicht delegiert, sondern geteilt. Damit wird eine Fremdpositionierung vorgenommen, durch die die potentiellen Adressaten in den Findungsprozess involviert werden – statt diese hierarchisierend als Weisungsempfänger, Erfüllungsgehilfen oder Auskunftei zu adressieren. Das diskursive Ereignis wird so zu einem Anlass für Wissensgenerierung, in die möglichst viele weitere Akteure einzubeziehen sind. Dies korrespondiert damit, dass alle verfügbaren Medien der Diskursgemeinschaft ausgeschöpft werden. Zudem wird über weitere, souverän und autonom initiierte Aktivitäten berichtet. In Hinblick auf das Verständnis einer Innovation als Wissenspassage werden im bedeutungsorientierten Diskurstyp und seinen jeweils dargestellten unterschiedlichen Ausprägungen klare Vorstellungen darüber repräsentiert, wie das für erforderlich gehaltene Wissen generiert werden soll, dass die symbolischen Passagen durchlaufen soll und welche Akteure dabei zu involvieren sind: Der
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Prozess der Innovation wird im Dialog (B 2) bzw. diskursiv (B 1) organisiert und hat unterschiedliche soziale, zeitliche und räumliche Reichweiten. Die initiale Konstitution des Phänomens beruht auf der jeweils typischen Deutung der Ursachen für die Situation: während es im Typ Geltungsorientierung (A) vernetzt und weiträumig wirkende anthropogene Folgen von Misswirtschaft und Verantwortungslosigkeit sind, wird das Problem im Typ Bedeutungsorientierung (B) als Folge von weitaus kleinräumigeren, teils als unbefriedigend, teils als ausbaufähig wahrgenommenen Interaktionen verstanden. Und während dem geltungsorientierten Typ (A) ein Deutungsmuster zugrunde liegt, vor dessen Hintergrund die wahrgenommene Situation die ‚soziotechnische Gestaltung’ von Innovation und die Anwendung des dafür erforderlichen prozeduralen Wissens zu erlauben scheint, basiert der bedeutungsorientierte Subdiskurs (B) auf einem differenzierten Deutungsmuster der reflexiv internalisierten Verantwortung, Wissen über die Innovation und den Innovationsprozess zu generieren. Während der geltungsorientierte Typ (A) durch die wahrgenommenen Verfügungsrechte und proaktive Ausübung von Verfügungsfähigkeit gekennzeichnet ist, stellt sich der bedeutungsorientierte Typ (B) in dieser Hinsicht als vergleichsweise indifferent dar: Er ist zwar durch den Willen zur Präzisierung der zu übernehmenden Aufgabe charakterisiert, der sich allerdings an der Fähigkeit bricht, diesen Auftrag zu übersetzen in einen Innovationsprozess mit hoher sozialer, zeitlicher und räumlicher Reichweite (B 2). Dagegen zeigt sich im verständigungsorientierten Subdiskurs (B 1) durchaus der Wille und die Fähigkeit, einen Unterschied außerhalb der Grenzen der Diskursgemeinschaft zu produzieren. 6.4.2.2
Governance im Diskurs – Wissen, Handlungskoordination und Integration Wie schon in Abschnitt 1.3.3 ausgeführt, stellen Beobachtung, Beeinflussung und Verhandlung die basalen Modi der Handlungskoordination dar. Handlungskoordination, so war die Annahme, stellt eine grundsätzliche strukturelle Randbedingung für die Generierung, Aktivierung und Anwendung von Wissen im Innovationsprozess dar. Nun gilt es, diese Annahme zu präzisieren und die Frage aufzugreifen, wie Koordinationsmodus, Wahrnehmung bzw. Deutung und Praktiken zueinander in Bezug stehen. Das Material wird nun also aus einer Governanceperspektive reflektiert. Um die komparative Interpretation zu ergänzen und zu Aussagen bzgl. einer diskursiven Governance von Innovation zu gelangen, wird der Frage nachgegangen, ob und wie die einzelnen Diskursakteure miteinander interagieren und aufeinander Bezug nehmen. Dazu werden in der Suchmaske der Software maxQDA jeweils im Material eines Falls die Namen der jeweils anderen AGs eingegeben. Die im Ergebnisfenster von maxQDA ausgegebenen Kodings werden eingehender
Innovationsanalyse
303
untersucht hinsichtlich der Art und Weise, wie der Bezug hergestellt (direkt / indirekt) und der Konnotation, mit der auf die jeweilige AG Bezug genommen wird (neutral / positiv / negativ): Nehmen die Akteure direkt oder indirekt aufeinander Bezug, wie ist deren Bezugnahme konnotiert? Abbildung 3 veranschaulicht die Verschränkungen der AGs untereinander.
AG 1 außer AG 2 AG 8
AG 7 Schul
RT
NK
AG 3
AG 4 Hoch
AG 6 AG 5 inform
Legende
___
im Material direkt erwähnt; _ _ _ im Material indirekt erwähnt schwarz: in die Grobanalyse einbezogenes Fallmaterial grau: in die Grobanalyse nicht einbezogenes Fallmaterial
Grobanalyse
konzentrische Erhellung nach außen: ‚sendungsorientiert’ und wissensintegrativ konzentrische Erhellung nach innen: wissensintegrativ asymmetrische Schattierung: ausgewogen Der Pfeil zeigt jeweils die Richtung der Bezugnahme an.
Abb. 3: Verschränkungen innerhalb der untersuchten Diskursgemeinschaft Das Ergebnis bestätigt zunächst einmal, dass innerhalb der Diskursgemeinschaft eine Gleichzeitigkeit von Formen der Inkludierung und Exkludierung aufzufinden ist. Es zeigt sich, dass es offenbar ein Zentrum innerhalb der Diskursgemeinschaft gibt: Mit einem durchweg lobenden Impetus werden die Aktivitäten der AG 7 von
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den anderen Mitgliedern der Diskursgemeinschaft positiv hervorgehoben. Wie die Analyse allerdings auch zeigt, kopiert AG 7 die Vorgehensweise von AG 4 weitgehend: ihre Aktivitäten beginnen erst, nachdem AG 4 ihre Aktivitäten schon eingestellt hat bzw. nicht mehr dokumentiert. Auf die bereits frühzeitig aktiv gewordene AG 7 wird ebenfalls häufig und durchweg lobend rekurriert. Die AGs 4 und 7, die sich die Innovation als Aufforderung zur Implementation aneignen und damit systemintegrativ wirken wollen, sind offenbar hinsichtlich der Vorgehensweise und Ergebnisse attraktive Vorbilder für die beiden anderen hier untersuchten AGs, die eher zu sozialintegrativen Aneignungsstilen tendieren. Gleichwohl weisen diese keine Tendenzen auf, deren Praktiken zu kopieren. Umgekehrt wird von den anderen AGs lediglich indirekt bzw. unverbindlich auf AG 1 und AG 5 hingewiesen. Konfiguration von Diskurstyp und Modi der Handlungskoordination Um die zuvor anhand der diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken herausgearbeiteten Diskurstypen inhaltlich weiter anzureichern und um festzustellen, inwiefern spezifische Konfigurationen der Handlungskoordination auftreten, werden die Diskurs in Beziehung gesetzt mit den Modi der Handlungskoordination (s. Abschnitt 1.3).
Geltungsorientierter Diskurstyp: Umfassende Realisierung der Modi von Handlungskoordination Die Analyse der diskursiven Verweise der AGs aufeinander zeigt, dass sich die Akteure direkt und in neutraler bis positiv konnotierter Art und Weise aufeinander 84 beziehen (4/2006: 107ff.; 4/2007b: 48ff., 68ff.; 7/2006c: 7). AG 1 und AG 5 werden von AG 4 indirekt als Akteure erwähnt, in deren Handlungsfeldern nachahmenswerte Praktiken und Instrumente existieren (4/2007b: 120; 4/2007c: 154). Ähnlich wie AG 4 bezieht sich AG 7 in ihren Planungen u.a. auf das Betätigungsfeld von AG 5 – ohne diese jedoch als Kooperationspartner in Betracht zu ziehen (7/2005_: 26, 92, 99). Bei der Analyse wird auch deutlich, dass AG 4 und AG 7 – also die Akteure, die den geltungsorientierten Diskurstyp (A) konstituieren – diskursive Verschränkungen mit weiteren, bildungspolitischen Diskursen eingehen, die außerhalb der Diskursgemeinschaft im jeweiligen Handlungsfeld eine Rolle spielen (z.B. neue Formen der Hochschulsteuerung, Bologna-Prozess, Schulinspektionen). Bei diesem Diskurstyp lassen sich alle drei Modi der Handlungskoordination auffinden: Durch die Beobachtung von parallelen Diskursen im Feld von Bildung 84
Wie bereits erwähnt ist hierbei zu beachten, dass die AG 4 ihre Arbeit zu einem Zeitpunkt aufgenommen hat, als AG 7 ihr Ziel bereits erreicht und seitdem keine Protokolle mehr veröffentlicht hat.
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und Erziehung werden die eigenen Aktivitäten mit anderen, bildungspolitischen Diskursen verknotet. Damit wird in diesem Typ auch der sachliche Gehalt der Innovation – die Verankerung von Bildung für nachhaltige Entwicklung im Bildungssystem – auf vielfältigste Art und Weise zusätzlich mit Legitimation aufgeladen. Zudem werden von diesen Diskursen Rückschlüsse auf eigene Möglichkeiten der Beeinflussung und Verhandlung gezogen, die hier mit einem (avisierten) Mittel der Kontextsteuerung instrumentell-reproduktiv und kontext-adaptiv realisiert werden.
Bedeutungsorientierter Diskurstyp: Eingeschränkte Realisierung der Modi von Handlungskoordination Die verschiedenen Formen der Handlungskoordination werden von den AGs 1 und 5 – also den Akteuren, die den bedeutungsorientierten Diskurstyp (B) konstituieren – in lediglich eingeschränktem Maße praktiziert. Innerhalb dieses Diskurstyps stellt nur AG 1 einen einseitigen Bezug zu AG 5 her, und zwar indem sie auf diesen Akteur als möglichen Kooperationspartner reflektiert (1/2005b: 91). Umgekehrt erwähnt AG 5 die Akteure oder Maßnahmen der AG 1 in ihren Protokollen nicht. Auf die Akteure des geltungsorientierten Diskurstyps (A) rekurrieren die beiden AGs des bedeutungsorientierten Typs in neutraler bzw. positiver Art (5/2005a: 34, 5/2007a: 49, 5/2007b: 20, 21; 1/2005b: 92). Insgesamt wird in diesem Diskurstyp die Verbreiterung der sozialen Wissensbasis über die Innovation produktiv und reflexiv ‚gesteuert’. Während im geltungsorientierten Typ durch die Verschränkung mit anderen Diskursen sowie dem Import von aus top-down-Strategien entlehnten Instrumenten sowohl diese Instrumente als auch bekannte Wege und Akteurskonstellationen ratifiziert werden und die Akteure sich dadurch als Instanz der Beeinflussung und als Verhandlungspartner positionieren, praktizieren AG 1 und AG 5 solche Strategien nicht: Bei diesem Typ verläuft die Handlungskoordination zwar auch im Modus der Beobachtung und der Beeinflussung. Die Akteure dieses Diskurstyps versetzen sich aber – obwohl sie formal mit der gleichen Legitimation ausgestattet sind wie Akteure des anderen Diskurstyps – nicht in die Lage, im Koordinationsmodus Verhandlung mit anderen Akteuren zu interagieren. Die Praktiken dieses Diskurstyps zeigen vielmehr, dass sich die Akteure eher verständnisorientiert auf die Diskursgemeinschaft beziehen, wodurch andere Akteure zunächst exkludiert und die Aufgabenkomplexität reduziert wird (AG 1) bzw. eher verständigungsorientiert sind und auf eine hierarchiefreie, horizontale soziale Ausdehnung unter reflexiven Akteuren auch außerhalb der Diskursgemeinschaft abzielen, wodurch diese in den Diskurs inkludiert werden (AG 5).
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Durch diese Praktiken der Aneignung bleiben die zu diesem Diskurstyp zugeordneten Akteure gleichsam sichtbar, während im geltungsorientierten Diskurstyp die Akteure gewissermaßen hinter den avisierten Instrumenten verschwinden. Konfiguration von Diskurstyp und Koordinationsmechanismen Um festzustellen, über welches Repertoire an Praktiken der Ordnung von Wissen die jeweiligen Akteure verfügen, werden die oben aufgezeigten diskurstypischen Kombinationen von Koordinationsmodi (Beobachtung, Beeinflussung, Verhandlung) mit den strukturellen Rahmungen der Handlungskoordination bzw. den Koordinationsmechanismen (Markt, Gemeinschaft, Hierarchie) in Beziehung gesetzt. Dabei zeigt sich, dass das Auftreten dieser governanceanalytischen Kategorien systematisch mit dem jeweiligen Subdiskurs, also den jeweiligen Praktiken der Wissensordnung, variiert. Wie gezeigt wurde, geht es im geltungsorientierten Diskurstyp offenbar um die möglichst effiziente und effektive Organisation der Sache. Es kommt zu einer Beteiligung weiterer Akteure, die das diskursiv konstruierte Anliegen stellvertretend und wirkungsvoll unterstützen können. Durch deren eigene Praktizierung werden hierarchischer bzw. hierarchisierender Interaktionsformen ratifiziert: es werden Akteure überzeugt und in Anspruch genommen, die in der Lage sind, das Anliegen über ihnen mögliche, hierarchische Handlungsformen breit zu streuen. Die Diskursakteure exekutieren stellvertretend eine Rückkehr zu einer konditionalen Handlungsrationalität, die im Moment der Lancierung eines diskursiven Ereignisses aufgehoben war. Insgesamt wird ein vertikaler Diskurs praktiziert (Bernstein 1999). Er ist durch die professionelle Verknüpfung mit den Praktiken und Prozeduren anderer Diskursakteure charakterisiert, die es erlauben, den Diskurs auch zeitlich und räumlich auszudehnen. Im bedeutungsorientierten Diskurstyp geht es vorrangig um das Verstehen der Sache – einmal unter Einforderung konkreter Unterstützung, wodurch es zu marktähnlichen Mechanismen der Subjektivierung kommt: getauscht wird Unterstützung (Realisierung der wahrgenommenen Intention einer anderen Instanz) gegen Unterstützung (Elaboration der Aufforderung). Und einmal unter Beteiligung weiterer Akteure im Medium des Diskurses mit dem Ziel der gemeinsamen Wissensarbeit. Dieser Subdiskurs folgt insofern eher den egalitären und vertrauensbildenden Mechanismen, wie sie in Gemeinschaften vorzufinden sind. Insgesamt wird ein horizontaler Diskurs praktiziert (Bernstein 1999), der durch eine in kontexttypischer Weise erfolgende Einbettung von neu konstituiertem Wissen in kontinuierliche Praktiken gekennzeichnet ist. Die erneute Betrachtung der für die Diskurstypen charakteristischen Praktiken bestätigt diese Zuordnungen: So geht der bedeutungsorientierte Diskurstyp mit dem Koordinationsmodus Beobachtung und Beeinflussung einher; der verständnisorientierte Diskurstyp ist strukturell marktförmig orga-
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nisiert, der verständigungsorientierte gemeinschaftsbildend. Der geltungsorientierte Diskurstyp korrespondiert mit dem Koordinationsmodus Beeinflussung und Verhandlung; er funktioniert nach den Mechanismen formaler Organisation bzw. Hierarchie und zeigt deutliche Regelungsstrukturen (wie kann etwas wirkungsvoll realisiert werden?). Der bedeutungsorientierte Diskurstyp ist dagegen stärker auf Leistungsstrukturen ausgerichtet (was soll wie und mit wem realisiert werden?). Während im geltungsorientierten Diskurstyp Bedeutung nicht generiert, sondern transportiert wird, verhält sich dies im des bedeutungsorientierten Diskurstyps umgekehrt: hier wird nach Wegen und Instrumenten gesucht, um Bedeutung überhaupt erst herzustellen. Governance: Wissensdistribution Diese Ausführungen können gelesen werden als unterschiedliche Modi der Ordnung von und des Umgangs mit Wissen. Wie schon in Abschnitt 1.3 dargelegt wurde, wird Wissen ebenso für Governanceprozesse benötigt, wie es in diesen generiert wird (Straßheim 2008; Schuppert 2008; van Buuren 2009): Jegliche Ausprägung von Governance ist beeinflusst von Deutungsmustern und Leitbildern, die auf die Balancierung von Inhalten, Praktiken, Prozessen und Strukturen einwirken. Sind also Governance und Wissen miteinander verknüpft, wird durch Governanceprozesse bestimmt, welche Reichweite und Effekte dieses Wissen entfaltet, und unter Berücksichtigung der Annahme, dass soziales Wissen im Modus des Diskurses generiert und diskursiv zur Geltung gelangt, kann auch von unterschiedlichen Governancetypen ausgegangen werden: Bei den oben vorgestellten Diskurstypen kommt Wissen einmal als ‚Wissen über die Innovation’ und einmal als ‚Wissen über den Vorgang der Implementation einer gegebenen Innovation’ zum Ausdruck. Darin spiegeln sich die Positionen, die die Akteure im Feld einnehmen und vor deren Hintergrund die jeweiligen Wissensordnungen ihre diskursive Geltung erhalten. Aus der Perspektive der Governanceforschung können diese Wissensordnungen einmal als Governance von Wissen (knowing) und einmal als Governance durch Wissen (knowledge) dargestellt werden (s. Abschnitt 1.3); sie illustrieren gleichsam die innovationsbezogenen und diskursiv repräsentierten Rationalitäten der Akteure. Diese beiden Governancetypen korrespondieren mit den im vorigen Abschnitt vorgestellten Diskurstypen: Der geltungsorientierte Diskurstyp (A) ist jener, der ‚Governance durch Wissen’ und der bedeutungsorientierte Diskurstyp (B) ist einer, der ‚Governance von Wissen’ praktiziert.
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Geltungsorientierter Diskurstyp: Governance durch Wissen Die Komponente ‚Governance durch Wissen’ deutet auf die regulierende Kraft von sozialem Wissen und seinen Anwendungen hin – in Form von Recht, Praktiken, Institutionen, Deutungsmustern (Straßheim 2008). Die Akteure des geltungsorientierten Diskurstypus’ verfügen über ein breites Repertoire an deklarativem und prozeduralem Wissen, das sie gezielt einsetzen, um der Sache, um die es geht, Geltung zu verschaffen. Die Akteure verschaffen dadurch nicht nur der Sache, sondern auch sich selbst Geltung: Sie führen einen Expertendiskurs vor, der ihre Position zu anderen Akteuren untermauert. Zusätzlich abgestützt wird dies durch ihre Praktiken der zentralisierenden und instrumentellen (perspektivischen) Systemintegration der Innovation, durch die sie den von ihnen getragenen Innovationsdiskurs ausdehnen. Innovation erscheint beim Typus ‚Governance durch Wissen’ als vorübergehend übernommene Verantwortung für einen voraussetzungsreichen Prozess, der aber durch eine gezielte Inanspruchnahme des Wissens Dritter realisiert wird. Bedeutungsorientierter Diskurstyp: Governance von Wissen Die Komponente ‚Governance von Wissen’ verweist auf die generative Kraft von kollektiver Wissensarbeit. Sie verdeutlicht, dass durch dynamische Governanceprozesse strukturelle Rahmenbedingungen geschaffen werden, in denen Wissen unter dem Aktualisierungsvorbehalt seiner situativen und kontextuellen Gültigkeit diskursiv generiert, angewendet und verbreitet wird (Schuppert 2008). Im Fall des bedeutungsorientierten Diskurstyps wird der Typ ‚Governance von Wissen’ anhand der suchenden Wissensgenerierung der Akteure deutlich. Damit bringen die Akteure dieses Typus’ nicht nur ihre Form der Aneignung der Innovation zum Ausdruck, sondern übertragen diese auch diskursiv auf den Innovationsdiskurs, den sie – mit unterschiedlichen Reichweiten – in einer sozialintegrativen Weise vorantreiben. Ihren eigenen Reflexionsbedarf dehnen die Akteure des bedeutungsorientierten Diskurstyps somit auf den Innovationsdiskurs aus. Die Verantwortung für den Prozess der Innovation verbleibt bei der ‚Governance von Wissen’ bei den Akteuren dieses Diskurstyps und wird durch die Einbeziehung von Dritten gleichzeitig reflexiv erweitert. Anhand dieser Diskussion wird deutlich. Dass das Verhältnis von Wissen, Innovation und Koordinationsmodi und -mechanismen in typischer Weise jeweils anders arrangiert wird und unterschiedliche Integrationsqualitäten hat. Stehen Prozesse (politics) der Sinnstiftung bzgl. Inhalten (policies) im Vordergrund, rückt das innovative Potential in Hinblick auf die symbolischen sozialen Räume, die diskursiv erreicht werden, eher in den Hintergrund (Typ B) als wenn demgegenüber Prozesse (politics) mit dem Ziel der Schaffung von Strukturen und Institutio-
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nen (polity) im Vordergrund stehen (Typ A). Abbildung 4 illustriert diese spezifischen Konfigurationen. Theoretisch wäre auch noch eine dritte Konfiguration von Diskurstyp, Modi und Mechanismen der Koordination zu erwarten, nämlich die Kopplung von polity und policies, also von Strukturen und Institutionen auf der einen Seite und Inhalten auf der anderen Seite. Während Typ A eine intendierte Institutionalisierung und Typ B eine Elaboration repräsentiert, würde bei einem solchen Diskurstyp die Formalisierung von Wissen im Vordergrund stehen. Dass dieser Typ nicht auftritt, kann mit dem Diskursgegenstand plausibilisiert werden: Die Formalisierung einer Innovation ist ein Widerspruch in sich und würde zu einem Abbruch von Diskurses führen, durch die die Innovation überhaupt erst ‚real’ werden kann. Regulierung, Institutionalisierung
Elaboration, Innovation
Geltungsorientierung Governance durch Wissen ausgeschöpfte Modi der Handlungskoordination systemintegrativ
Bedeutungsorientierung Wissen von Governance eingeschränkte Modi der Handlungskoordination sozialintegrativ
Prozesse
Governance Inhalte
Strukturen
Abb. 4: Diskurstypen, Modi der Handlungskoordination und Koordinationsmecha nismen
6.5
Zusammenfassung in Thesen
Im Rahmen der Feinanalyse wurden die im ersten Analyseschritt aufgefundenen Muster systematisch verfeinert und um die Identifikation diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken erweitert. Die fallbezogene und die komparative Interpretation der vorangegangenen beiden Abschnitte hatte zum Ziel, über die Rekonstruktion von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken Erkenntnisse über unterschiedliche Qualitäten der Aneignung im Innovationsprozess zu gewinnen. Diese werden im nun folgenden Abschnitt thesenartig zusammengefasst, bevor sie im nächsten Kapitel für die Modellierung eines theoretisch gesättigten und empirisch fundierten Modells diskursiver Innovation herangezogen werden, das seinerseits unter governanceanalytischer Perspektive diskutiert wird.
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Der ausschnitthaft und exemplarisch untersuchte Innovationsdiskurs lässt sich auf der Basis der Ausführungen in den vorigen beiden Abschnitten zusammenfassend und mit folgenden generalisierenden Thesen beschreiben: 1. Diskursive Ereignisse sind nicht für alle Akteure gleich, sondern werden aufgrund von ungleichen Deutungen, Positionen und Praktiken zu solchen ‚gemacht’. 2. Der Innovationsdiskurs ist gekennzeichnet durch die Gleichzeitigkeit von Praktiken der Inklusion und der Exklusion. 3. Der Diskurs weist einander überlappende Konstruktionen von Grenzen der Innovation auf. 4. Allokative und autoritative Ressourcen werden von den Akteuren in diskurstypischer Weise erschlossen bzw. genutzt. 5. Der Innovationsdiskurs ist durch eine Parallelität unterschiedlicher Wissensordnungen gekennzeichnet, die mit Unterschieden in Bezug auf die Praktiken der symbolischen Integration der Innovation korrespondieren. Zu den Thesen im Einzelnen. 1. Ungleiche Deutungen eines diskursiven Ereignisses Die Deutungsmuster der jeweiligen Subdiskurse zeigen unterschiedliche Aneignungsstile insofern, als die Innovation im Typus der Geltungsorientierung (A) als politisch regulierbarer Implementationsauftrag ausgedeutet wird. Zu dessen Bewältigung werden Praktiken der gezielten Inklusion angewendet, mit deren Hilfe eine hoch generalisierende und weit reichende Normierung und Institutionalisierung erfolgen kann. Im Vergleich zum bedeutungsorientierten Typ (B) ist dieser Typ durch eine enggeführte, ergebnisorientiert-prozedurale Wissensarbeit charakterisierbar, bei der die Innovation selbst als deklaratives Wissen in einem vertikalem Diskurs transportiert wird. Der bedeutungsorientierte Diskurstyp (B) dagegen ist dadurch gekennzeichnet, dass hier ein stärkerer Akzent auf der umfassenden Problemelaboration und Wissensarbeit liegt. Gleichwohl lassen sich innerhalb dieses Diskurstyps mit dem verständnis- (B 2) und dem verständigungsorientierten Subdiskurs (B 1) unterschiedliche Wissens-Praxis-Komplexe rekonstruieren: Der verständnisorientierte Typ lässt eine vom wahrgenommenen Erwartungsdruck getriebene Suche nach orientierendem Wissen über Ziele, Wege und Mittel der Innovation deutlich werden. Der verständigungsorientierte zeigt umgekehrt eine orientierungssuchende Erwartungshaltung gegenüber einer selbst zu initiierenden, aktivierenden und in einem horizontalen Diskurs zu verbreitenden Innovation. Während ersterer (B 2) zu lediglich gering generalisierenden Aktivitäten in der Lage ist, elaboriert letzterer (B 1) Mittel und Wege der aktivierenden Integration.
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2. Gleichzeitigkeit von Praktiken der Inklusion und Exklusion Mit den unterschiedlichen Deutungen dessen, was in den beiden Diskurstypen zum Objekt des Diskurses bzw. zum diskursiven Ereignis ‚gemacht’ wird, korrespondieren grundsätzlich die aufgeführten Praktiken: Durch die Praktiken der Wiederholung, der ergebnisorientierten Wissensintegration und der gezielt praktizierten In- und Exklusion blendet sich im geltungsorientierten Typ eine effizienzbetonende Leistungsorientierung ein – im Vordergrund stehen vergleichsweise rasch einsetzbare Instrumente und Techniken, mit denen wirkungsvolle Wege der Innovation beschritten werden können. Gelingt dies, werden Regeln und Regularien implementiert, die die Handlungsspielräume anderer weiträumig beeinflussen, indem sie Anlässe und Legitimationen des Entscheidens auch zukünftig regulieren. Die Praktiken dieses Diskurstyps sind insofern als systemintegrative charakterisierbar. Durch die Praktiken der inkludierenden Reflexivierung im bedeutungsorientierten Typ dagegen wird die Exploration der Innovation zum elementaren Ziel, das im Rahmen des Innovationsprozesses von anderen nachzuvollziehen ist bzw. nur gemeinsam mit anderen realisiert werden kann: Die teilweise widerständigen Praktiken der aufwendigen, adaptiven Elaboration des Innovationsziels selbst stellen den anderen Pol des bedeutungsorientierten Diskurstyps dar. Insgesamt stehen die Prozesse der Wissensgenerierung und des aktiven und aktivierenden Wissenstransfers im Vordergrund. Der bedeutungsorientierte Diskurstyp (B) ist insofern durch eher sozialintegrative Praktiken charakterisierbar. 3. Diskursiv unterschiedlich konstruierte Grenzen der Innovation Die Diskurstypen stehen einander gegenüber als spezifische Konstellationen von Deutungen, Praktiken und Positionen, die auch auf unterschiedlichen Konzeptionen diskursiver Grenzen aufruhen. Der geltungsorientierte Typ kann sich deshalb als solcher realisieren, weil er durch seine Praktiken ein ‚Innen’ und ein ‚Außen’ konstituiert: im Inneren befindet sich die institutionell ausgedehnte Diskurskoalition, das Außen ist ein vergleichsweise undifferenziertes Ensemble von untergeordneten Akteuren. Der bedeutungsorientierte Typ realisiert sich als Nebeneinander eines begrenzten und eines potentiell entgrenzenden Subdiskurses: Der verständnisorientierte Subdiskurs ist insofern indifferent, als er mit seinen teilweise widerständigen Praktiken der Elaboration noch um die Bedeutung ringt, die – auf welche Weise auch immer – erst noch zu transportieren ist. Der verständigungsorientierte Subdiskurs kann insofern als entgrenzt, d.h. ohne ein klar reguliertes Innen und Außen, gelten, als er unterschiedlichste Wege nutzt, um Bedeutung zu generieren und zu transportieren.
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4. Diskurstypischer Umgang mit allokativen und autoritativen Ressourcen Die Ressourcen für die praktische Bewältigung der wahrgenommenen Innovationsaufforderung werden von den Akteuren der beiden Diskurstypen unterschiedlich lokalisiert. Im geltungsorientierten Diskurstyp werden autoritative Ressourcen bei solchen Instanzen gesehen, die nicht im engeren Sinne zur Diskursgemeinschaft gehören und erst eingebunden werden müssen; sie ermächtigen sich selbst, sich den Einfluss Dritter für die Durchsetzung ihres Anliegens zu ‚leihen. Das Vermögen einen Unterschied herzustellen, sehen auch die Akteure des bedeutungsorientierten Diskurstyps (B) bei sich selbst. Diskurstyp A und B verfolgen dabei allerdings unterschiedliche Strategien – einmal regulative (A), einmal elaborative (B). Die mit dem Einsatz von allokativen Ressourcen verbundenen autoritativen Ressourcen werden im verständigungsorientierten Subdiskurs (B 1) ebenso wie im geltungsorientierten Diskurstyp (A) bei den Akteuren selbst gesehen. Dagegen werden die autoritativen Ressourcen im verständnisorientierten Subdiskurs (B 2) zwar auch innerhalb der Diskursgemeinschaft lokalisiert, dabei aber zunächst nicht bei den diesen Subdiskurs tragenden Akteuren angesiedelt. 5. Korrespondenz von Wissensordnungen und Integrationspraktiken Im geltungsorientierten Typ (A) spielt die Generierung und effiziente Anwendung von problemlösungsorientiertem Wissen eine wesentliche Rolle: Die Akteure dieses Diskurstyps positionieren sich gegenüber anderen als Experten und positionieren diese durch ihre avisierten Normierungspraktiken zu Adressaten von topdown-implementierten bzw. zu implementierenden Empfehlungspapieren. Sie etablieren damit zu jenen ein hierarchisches, unidirektionales Wissensgefälle. Statt die Innovation zu elaborieren, werden diskursive Praktiken angewandt, mit denen die inhaltliche Durchdringung der Sache selbst in den Hintergrund tritt und die temporäre Geltung, die sich die Diskurskoalition mit Unterstützung kooptierter Dritte stellvertretend leiht, in den Vordergrund gerückt. Damit demonstrieren die Akteure ihre Kompetenz, über Handlungs- und Wissensressourcen für die Lösung der Aufgabe zu verfügen. Indem der Innovationsdiskurs außerdem mit weiteren Diskursen verschränkt wird, wird Geltung nicht nur für die Sache, sondern auch für die im Dienste der Sache erfolgenden Praktiken beansprucht. Prozessiert wird die Innovation als Aufforderung zur Selbstpositionierung mit dem Ergebnis weitreichender Subjektivierungspraktiken und Objektivationen. Im Strang des bedeutungsorientiert-elaborierenden Innovationsdiskurses (B) dagegen spielt die Generierung der notwendigen Handlungsressource, d.h. von problembezogenem Wissen eine zentrale Rolle. Während im verständnisorientierten Subtypus (B 2) die Elaboration des Problems als Voraussetzung für dessen Lösung gehandelt wird, weisen die diskursiven Praktiken des verständigungsorientierten Subtypus’ (B 1) darüber hinaus auf das Erfordernis hin, diese Elaborati-
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onspraxis auszudehnen und weitere Akteure bzw. deren Aktivitäten zu inkludieren. Prinzipiell ähnelt dieser Subdiskurs damit dem geltungsorientierten Diskurstyp (A). Doch im Gegensatz zu jenem weisen die Praktiken dieses Diskurstyps auf eine suchende Auseinandersetzung mit den relevanten Verfügungsrechten und noch zu erschließenden -möglichkeiten hin. Anhand dieser Beobachtungen lässt sich festhalten: Der Verständnis- und verständigungsorientierte Aneignungsstil des bedeutungsorientierten Diskurstyps geht einher mit Praktiken der Sozialintegration. Der geltungsorientierte Aneignungsstil geht einher mit Praktiken der Systemintegration. Wie gezeigt werden konnte, scheinen im hier ausschnitthaft untersuchten Innovationsdiskurs alles in allem zwei Aneignungsstile aufzutreten. Diese Diskurstypen weisen dabei jeweils differente Praktiken der Wissensordnung im Umgang mit der symbolischen Unordnung auf, die die Innovationsaufforderung als diskursives Ereignis ausgelöst hat. Während die Praktiken im geltungsorientierten Diskurstyp (A) als instrumentenbasierte, formalisierende und zentralisierende Formen der vertikalen Systemintegration gruppiert werden können, können die Praktiken im bedeutungsorientierten Diskurstyp (B) als weiche, nicht instrumentell vermittelte Konfigurationspraktiken horizontaler Sozialintegration zusammengefasst werden. Tabelle 9 fasst die Merkmalskombinationen der Diskurstypen zusammen.
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Dimensionen der Phänomenstruktur
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inhaltliche Auffüllung der Dimensionen geltungsorientiert-regulierender Institutionalisierungsdiskurs
Wahrnehmung / Deutung des Phänomens
qua Institutionalisierung zu lösendes Problem des aufgeklärten, verantwortungsbewussten und rationalen Umgangs mit Komplexität
Ursache und Verantwortungszuschreibung
anthropogen verursachte, global wirkende und von Experten rational zu bewältigende Situation
bedeutungsorientiert-elaborierender Innovationsdiskurs qua Reflexivität und Lernen zu lösendes Problem des Nichtwissens
Externalisierung
Umgang / Bewältigung
Praktiken der...
Lokalisierung von Ressourcen
Grenzen Governancetyp Diskurstyp
durch gezielte nationale Anstrengungen zu bewältigende, international politisch legitimierte und zu realisierende Aufgabe
zielorientierte Wissensgenerierung und anwendung konzentrierte Aufklärungs- und Aufgabenverantwortung
konzentrierte Aufgabenverantwortung
Internalisierung noch weiter zu elaborierendes und zu kommunizierendes gesellschaftliches Wissen
... ergebnisorientierten Kontextsteuerung; geltungsorientiert
kritikwürdiges, kommunikativ begründetes Problem mangelnden Wissens und Wissenstransfers
reflexive, suchende Wissensgenerierung selbstreflexive Wissensgenerierung und integrativer Wissenstransfer
...instrumentell vermittelten, formalisierenden und zentralisierenden Systemintegration ... zweckrationalen, ergebnisorientierten Kontextsteuerung; geltungsorientiert
in mangelnder Exaktheit begründetes konkretoperatives Problem
(über)fordernde Elaboration und Reflexion vorhandenen Wissens
...konfigurierenden Sozialintegration ...aktivierenden und reflexiven Inklusion; verständigungsorientiert
... Forderung und Rückdelegation; Informationssuche; verständnisorientiert
allokative Ressourcen: intern autoritative Ressourcen: intern und extern
autoritative Ressourcen: intern, zur externalisieren; allokative Ressourcen: extern, zu internalisieren
autoritative und allokative Ressourcen: dezentriertintern
manifestiert
aufgehoben
binnenorientiert
Governance durch Wissen Typ A
Tab. 9: Darstellung der rekonstruierten Diskurstypen
Governance von Wissen Typ B 1
Typ B 2
7 Zwischenräume der Veränderung ‚revisited’ – Ein Modell diskursiver Innovation Ziel des Kapitels 7 ist es, die Befunde der Innovationsanalyse theoretisch zu rekontextualisieren. Dazu werden die in Kapitel 6 berichteten systematisch unterschiedlichen Aneignungsstile zu einem transaktionalen und transformationalen Modell diskursiver Innovation85 zusammengefasst. Das Kapitel wird mit einem Resümee über die Erträge der Untersuchung und einem Ausblick auf weitere Forschungsfragen abschließen.
7.1 Wissenspassagen – ein transaktionales und transformationales Modell diskursiver Innovation Im vorangegangenen Kapitel 6 wurden unterschiedliche Formen der diskursiven Wissensgenerierung und -anwendung im Zusammenhang mit einer exemplarisch ausgewählten Innovation im Feld von Bildung und Erziehung rekonstruiert. Die präsentierte Fallstudie fokussierte die Wissensprozesse von Akteuren, die an Innovationsprozessen beteiligt sind. Dabei wurde deutlich, inwiefern eine formal gleiche Innovationsaufforderung innerhalb einer Diskursgemeinschaft systematisch und qualitativ in unterschiedliche Praktiken der Aneignung übersetzt wird, d.h. wie aus dem kontingenten symbolischen Raum bzw. Reservoir möglicher Bedeutungen diskurstypische Wissensrepertoires und Ordnungen von Wissen entstehen. Diese systematischen Unterschiede umfassen die konstituierende Rezeption einer Situation als diskursives Ereignis sowie die Praktiken, die sich auf diese unterschiedlichen Interpretationen beziehen, und sie schlagen sich schließlich in den resultierenden Wissensordnungen nieder. Auf der Basis der Ergebnisse der wissenssoziologisch-diskursanalytischen Fallstudie sowie der theoretischen Überlegungen wird im Folgenden ein Modell diskursiver Innovation vorgestellt (s. Abb. 5). Innovation hat im Sinne des Modells keine Adressaten, sondern Akteure, und Innovation ist kein Produkt, sondern eine andauernde soziale Praxis: Das Modell fokussiert die Prozesse, die sich im Anschluss an die Konstituierung eines diskursiven Ereignisses abspielen. Einbezogen werden (analytisch getrennt) externe und interne Faktoren. Die externen Faktoren des Modells umfassen folgende Elemente: a) Diskursfeld und Diskurskoalition I sowie b) Diskursakteure und Diskurskoalition II. Die internen Faktoren umfassen 85
Trotz der begrifflichen Nähe zu Personalführungstheorien werden hier mit diesen Begriffen Eigenschaften des Diskurses hervorgehoben und nicht etwa Führungsqualitäten einzelner Akteure.
I. Bormann, Zwischenräume der Veränderung, DOI 10.1007/ 978-3-531-92709-1_8, © VS Verlag für Sozialwissenschaften | Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH 2011
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Zwischenräume der Veränderung – ‚revisited’
die Elemente c) Bedingungen des ‚Machens’ eines diskursiven Ereignisses sowie die d) Aneignungsstile. Diese Elemente stehen in einem Verhältnis dynamischer Interdependenz zueinander.
Abb. 5: Modell diskursiver Innovation
7.1.1 Externer Faktor und dessen Elemente a. Diskurskoalition I im Diskursfeld Diskurse existieren nicht aufgrund der Erfindung oder Intention einzelner wirkmächtiger Akteure, sondern werden im Rahmen von konkreten und symbolischen Interaktionen in Diskursfeldern durch die Wahrnehmung eines diskursiven Ereignisses erst zu solchen ‚gemacht’. Diskursfelder stellen Arenen dar, in denen um Aufmerksamkeit, die Definition von Bedeutung und deren Durchsetzung gerungen wird. In Diskursfeldern können Konstellationen von Diskursen (Diskurskoalitionen I) neuartige Interaktionsbedingungen schaffen, die zum Gegenstand von Folgediskursen werden. Diese Folgediskurse entwickeln sich aufgrund spezifischer, lose gekoppelter Konstellationen von Ideen, Ereignissen und Lösungsansätzen. Die auf dieses Ereignis rekurrierenden Diskurse stellen den symbolischen Modus dar, durch den diese Ereignisse ihre Relevanz erhalten. Übertragen auf Innovationen bedeutet dies, dass diese in zweierlei Hinsicht eine Vorgeschichte haben: einmal in Hinblick auf die Konstitution eines kommunizierbaren diskursiven Ereignisses, das als Effekt einer Koalition unterschiedlicher Diskurse (Diskurskoalition I) verstanden werden kann, und einmal in Hinblick auf die Rezeption des Ereignisses: Dessen Wahrnehmung ist wiederum angewiesen auf diskursiv konstruiertes Wissen, ist also mit anderen, d.h. vorangegangenen oder parallelen Diskursen verschränkt. Die Wahrnehmung eines Ereignisses als relevant ist nicht per se gegeben, sondern wird diskursiv ausgehandelt – die Innovation ist somit nicht ontologisch gegeben, sondern verhandelbarer Gegenstand
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und Ergebnis sozialer Praktiken der Wissensgenerierung und -aneignung. Resultat einer solchen Aushandlung mittels diskursiver und nicht-diskursiver Praktiken ist die Konstruktion eines folgenreichen ‚Effekts’. Beides, Effekt und dessen Wahrnehmung, sind aufeinander angewiesen: Schon wie ein Ereignis wahrgenommen wird, beeinflusst dessen weitere Verarbeitung. Innovationen tauchen insofern nicht als plötzliche Erfindungen auf, sondern werden diskursiv zu solchen verarbeitet. b. Diskurskoalition II: Diskursakteure Je nachdem, wie das Zusammentreffen von Idee, Ereignis, Lösungsansatz zu einem diskursiven Ereignis ‚gemacht’ wird, entstehen neuartige Akteurs-DiskursKonstellationen (Diskurskoalition II): Innovationen entwickeln sich aus einer Verknotung verschiedener Diskurse (Diskurskoalitionen I), und werden in den sich an ein diskursives Ereignis anschließenden Diskursen aufgrund der typischen Praktiken der Wissensordnung der beteiligten Akteurskonstellationen (Diskurskoalition II) differenziert. Innovationen und ihr immanenter Aufforderungsgehalt werden im diskursiven Spiel zwischen unterschiedlich positionierten Diskursakteuren (Diskurskoalitionen II) aktualisiert. Innovationen, die in einem Diskurs als solche behandelt werden, werden so zu diskursiv vermittelten Informationen über Ereignisse, die sich konstitutiv in einen anderen Diskurs einblenden, dort in diskurstypischer Weise mit Bedeutung belegt und so zu Wissen verarbeitet. Dadurch führen sie zur Konstitution von Diskurskoalitionen (II). Eine durch ein- und dieselbe Diskurskoalition (I) evozierte Innovation wird im Rahmen ihrer diskursiven Be- und Verarbeitung integriert und differenziert. 7.1.2 Interner Faktor und dessen Elemente c. Rezeption einer Situation als diskursives Ereignis Wie bereits deutlich wurde, können diskursive Ereignisse als Interpretationen von Situationen verstanden werden. Diese Interpretationen sind beeinflusst vom jeweiligen diskursiven Wissen, d.h. den symbolischen, sprachlichen und praktischen Repräsentationen und Ordnungen von Wissen, die in einem Diskurs zur Geltung kommen. Geltung erfährt das Wissen, weil es Gegenstand von diskursiven und nicht-diskursiven Praktiken ist, mittels derer es als relevant oder irrelevant ausgehandelt wird. Aufgrund der diskursiven Wissensordnung, d.h. aufgrund der Besonderheiten der Positionen von Akteuren und dem über die Positionen vermittelten Praktiken zur Geltung gelangenden Wissen einer Diskurskoalition (I), werden also diskursive Ereignisse differenziert, sie existieren nicht für sich und wirken nicht auf alle Diskursakteure gleichermaßen. Gegenstände, die in einem Diskurses als Innovation gelten, können, müssen aber nicht zu Innovationsaufforderungen in einem anderen Diskurs werden, wo sie wiederum ggf. differenzierend verarbeitet
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werden: Eine kommunizierte Innovation kann, muss aber nicht, durch diese diskursiven Verarbeitungsprozesse zu einer Innovation zweiten Grades werden (s. Abb. 6). d. Aneignungsstile Die sich an die Konstruktion eines diskursiven Ereignisses anschließenden Folgediskurse repräsentieren unterschiedliche Aneignungsstile. Diese sind davon abhängig, wie ein diskursives Ereignis qua ausgehandelter Interpretation oder Praktiken in einen Diskurs integriert wird. Da Akteure in Diskursen mit unterschiedlichem Wissen und ungleichen Ressourcen ausgestattet sind und über Positionen verfügen, sind auch ihre Praktiken qualitativ und in ihren diskursiven Effekten unterschiedlich: Schon die Konstitution des diskursiven Ereignisses beeinflusst die symbolische Konstruktion des sozialen Raums, in dem der diskursive Aneignungsprozess stattfindet und auf den er sich perspektivisch richtet. Aufgrund der diskreten Kontinuität des Diskurses ist auch dieser symbolische Raum zwar fluide und permanent im Werden begriffen, kann jedoch zu einem gegebenen (Untersuchungs-) Zeitpunkt als unterschiedlich weit in Zeit und Raum ausgreifend dargestellt werden: Beziehen sich die Praktiken vornehmlich darauf, Wissen zu generieren und eine diskursinterne Geltung zu verschaffen, kann von einer geringen zeitlichen, sozialen und räumlichen Ausstrahlung des diskursiv Verhandelten ausgegangen werden. Blendet sich der Diskurs, vermittelt durch die Praktiken, selbst in andere Diskurse ein (Diskurskoalition I), kann eine größere zeitliche und sozialräumliche Ausdehnung des diskursiv Verhandelten angenommen werden. Die jeweiligen Praktiken stehen sowohl mit dem Innovationsgegenstand in Verbindung als auch mit der Diskurskoalition (II). Einer Innovation wird demnach nur soviel Potential zur zeitlichen und sozialräumlichen Ausdehnung verliehen, wie eine spezifische Akteurskonstellation in der Lage ist, das dafür erforderliche Wissen zu generieren und anzuwenden. Wie sich in der Fallstudie zeigt (s. Abschnitt 6.5, Tab. 9), werden zwei Diskurstypen vorgefunden, die sich hinsichtlich der Rezeption, in Bezug auf Koalitionen, die sie mit anderen Diskursen und Akteuren eingehen, sowie hinsichtlich ihrer Praktiken voneinander unterscheiden: ein geltungsorientierter (Typ A) und ein bedeutungsorientierter Diskurstyp (Typ B). Wird das diskursive Ereignis als eine Aufforderung zur Gestaltung rezipiert (Typ A), können regulierende Praktiken der Kontingenzreduktion beobachtet werden, mit denen der Diskurs instrumentell verlängert, verlagert und ausgeweitet wird. Der Innovation wird Geltung verschafft, und es findet eine tendenzielle Systemintegration der Innovation statt. Wird das diskursive Ereignis als Aufforderung wahrgenommen (Typ B) propositionales Wissen zu generieren, kommen Praktiken der Elaboration und Bedeutungsgenerierung zum Tragen. Sie führen tendenziell zu einer Sozialintegration der Innovation: Die mit der Innovation verbundene Wissensarbeit wird v.a. in sozialer
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Hinsicht ausgedehnt und die Verantwortung für bzw. Teilhabe an der Innovation sozial geteilt. Der geltungsorientierte Diskurstyp (Typ A) kann auf den ersten Blick als einer gelten, der in der Lage ist, einer Innovation effektiv und effizient zum Durchbruch zu verhelfen und die Innovation dauerhaft im System zu integrieren. Da der Diskurstyp allerdings auch dadurch gekennzeichnet ist, dass die Priorität zunächst auf hierarchisierenden Praktiken liegt, kann ebenso angenommen werden, dass er womöglich nur kurzfristig in der Lage ist, einen diskursiven Effekt zu erzielen: Reproduziert werden von diesem Typus solche Praktiken, die in der Forschung zum Transfer von Innovationen in der Vergangenheit als wirkungsarm identifiziert wurden. Der bedeutungsorientierte Diskurstyp (Typ B) dagegen könnte zunächst als ein weitgehend selbstbezüglich operierender Typ verstanden werden: Es wird eine intensive Auseinandersetzung mit der Innovation und dem Umgang mit der Innovation betrieben, und zugleich stellt sich diese diskursinterne Auseinandersetzung als eine Praxis dar, mit der die Innovation eine zeitliche, räumliche und soziale Ausdehnung erfährt. Bei einer Beurteilung der Ergebnisse der Innovationsanalyse stellt sich heraus, dass die Diskurspraktiken und die perspektivisch realisierte Integration der Innovation in einem umgekehrten Verhältnis zueinander zu stehen scheinen: So stellt sich der bedeutungsorientierte Diskurstyp (Typ B) zunächst als der weniger weitreichendere, der geltungsorientierte Diskurstyp (Typ A) hingegen als der wirkungsvollere dar. Allerdings stellt sich die Frage nach dem Betrachtungszeitraum, innerhalb dessen die Wirkungen beider Diskurstypen beurteilt werden. Der bedeutungsorientierte Diskurstyp ist durch die Vervielfältigung der auf unterschiedlichen Wegen angesprochenen Akteure potentiell dazu in der Lage, den geltungsorientierten Diskurstyp zu überdauern. Zudem kann es ihm ggf. eher gelingen, affirmative Folgediskurse zu initiieren, da der geltungsorientierte Diskurstyp von dem Risiko bedroht ist, auf Widerstand zu treffen, der schließlich zu einem Diskursabbruch führen kann. Beide Diskurstypen, der geltungs- und der bedeutungsorientierte, sind allgemein gesehen insofern kongruent, dass sie beide Inklusionspraktiken ausüben und beide Koalitionen im Sinne der Innovation eingehen. Sie unterscheiden sich jedoch hinsichtlich der Bedingungen und Konsequenzen dieser Praktiken: einmal ermöglichen die strukturellen Bedingungen erst die Ausübung dieser Praktiken (Typ A), einmal sind es die Bedingungen strukturell erschwerter Kommunikation, die mit diesen Praktiken im Sinne der Innovation überwunden werden sollen (Typ B). Auch in Hinblick auf die Konsequenzen unterscheiden sich beide Diskurstypen: im geltungsorientierten wird Innovation zu einer Tradierungspraktik, im bedeutungsorientierten Diskurs zu einer Selbstpraktik.
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Entscheidend für die Ingangsetzung der vorgefundenen Praktiken ist offenbar nicht die Kommunikation der Innovationsaufforderung; diese ist formal für alle gleich. Die Diskurstypen sind vielmehr verschränkt mit den Positionen, die die zugehörigen Akteure im Feld einnehmen. Handelt es sich um Akteure, die in einem formal organisierten Handlungsfeld agieren (Typ A), verfügen sie über Strukturen und Ressourcen, mit denen sie der Innovation Geltung verschaffen können. Handelt es sich umgekehrt um Akteure, die in einem eher diffus organisierten Handlungsfeld agieren (Typ B), über das schwerlich ein Überblick über Strukturen, Arbeitsweisen, gemeinsame Grundlagen und Zuständigkeiten gewonnen werden kann, konnte beobachtet werden, dass eher solche Koalitionen angestrebt werden, mit denen die wahrgenommene Komplexität der Innovation handhabbarer gemacht werden soll. Mit diesen der Diskurstypen geht eine je spezifische Leistung der Übersetzung von Wissen einher: Im geltungsorientierten Diskurstyp (Typ A) wird die Innovation in Formen der ‚hard governance’ übersetzt. Die Praktiken dieses Diskurstyps, so kann zusammengefasst werden, kanalisieren und manifestieren den Diskurs, sie begrenzen durch die Koalitionsbildung mit funktionalen Entscheidungsträgern die vorgefundene Entgrenzung. Im bedeutungsorientierten (Typ B) wird die Innovation dagegen in Formen der ‚soft governance’ übersetzt. Die Praktiken dieses Diskurstyps zeigen, dass Entgrenzung tendenziell akzeptiert und konstruktiv genutzt wird. Das Modell ergänzt das in Abschnitt 2.5 dargelegte theoretische Konzept von Innovationen als Wissenspassagen mit seinen Elementen ‚Wissen’, ‚Passage als Raum’ sowie ‚Passage als zeitlicher Vorgang’ und dessen in Abschnitt 3.3 theoretisch präzisierten Dimensionen. Innovationen können nun als diskursiv aktualisierte und in symbolisch konstituierten sozialen Räumen situierte, dynamische Repräsentationen von Wissen aufgefasst werden. Innovationen werden durch und aufgrund diskursiven Wissens erzeugt. Diese Innovationsvorstellungen bzw. Repräsentationen werden von Diskursakteuren geteilt bzw. sind Gegenhorizont von Innovationsvorstellungen bzw. Wissensrepräsentationen anderer Diskurse; Innovationswahrnehmungen ziehen gewissermaßen spezifische Akteure an und gelten anderen als nicht teilbar. Durch die Konstellation von Akteuren, die eine Innovation auf spezifische Weise wahrnehmen, entstehen symbolische Wissensräume, in denen Innovationen be- und verarbeitet werden; diese Räume sind aufgrund der differenzierten Ereigniswahrnehmung analytisch voneinander getrennt, wenngleich sie durchaus Verbindungen, z.B. in Bezug auf gemeinsame Praktiken, zueinander aufweisen können. Die Innovation bzw. das Wissen erfährt im diskursiven Spiel Transformationen: Insofern die Akteure mit unterschiedlichem Wissen ausgestattet sind und über unterschiedliche Positionen und Ressourcen verfügen, sind sie auch in unterschiedlichem Maße in der Lage, Relevanzen auszuhandeln, die zukünftige diskursive Pfade beeinflussen.
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Aus der Annahme, nach der eine kommunizierte Innovation in einem Diskurs über ihre spezifische Rezeption zu einem Ereignis in einem anderen Diskurs wird, also in den diskursiven Aneignungsprozess dieser spezifischen Akteurskonstellationen eingeht, wo wiederum neue Elemente diskursiver Ereignisse (Ideen, Ereignisse, Lösungsansätze) erzeugt werden, folgt, dass Innovationsprozesse als kaskadisch aufeinander bezogene, zeitlich, sozial und räumlich lose miteinander verbundene Ereignisketten der De- und Rekontextualisierung verstanden werden können. Abbildung 6 auf der folgenden Seite ergänzt die vorige Abbildung 5 um die Aspekte der Transaktionalität und Transformation und stellt das Modell diskursiver Innovation als einen kaskadischen Prozess dar. 7.1.3 Transaktion und Transformation In einem weiter generalisierenden Schritt kann das Modell diskursiver Innovation beschrieben werden als ein transaktional-transformationales Modell. Die transaktionale Komponente des Modells weist darauf hin, dass dessen Elemente miteinander in einer substantiierenden Beziehung stehen: Die in einem Ursprungsdiskurs verhandelte und in einem diskursiven Ereignis kulminierende Innovation, ist, um real zu werden, ihrerseits auf sich anschließende Diskurse angewiesen. In diesen wird die Innovation als Information wahrgenommen, durch diese Rezeption in den Diskurs integriert und durch praktische Aushandlungsprozesse zu Wissen transformiert. Die Transaktionalitätsthese bezieht sich auf die Konfiguration der Modellelemente; diese müssen aufgrund ihrer Interdependenz koordiniert werden. Resultat dieser Koordination ist eine spezifische Wissensordnung – bzw. auf die Innovation bezogen: eine Innovation zweiter Ordnung. Da das diskursive Ereignis im Ganzen gesehen sowohl Effekt als auch Voraussetzung von Diskursen ist, gilt auch für die Innovation, dass sie zugleich als Ergebnis des einen und Auslöser eines anderen Diskurses gelten kann. Das muss nicht zwingend zeitlich konsekutiv erfolgen, sondern sie kann aufgrund der heterogenen Wahrnehmungen vernetzter Diskursakteure simultan in weitere, zeitlich parallel stattfindende Diskurse integriert werden. Die Transformationalitätsthese besagt, dass die Wahrnehmung einer Innovation als diskursives Ereignis den Diskurs auslöst, indem sie zu seinem Gegenstand wird und in dessen Verlauf sie auf diskurstypische Weise ‚übersetzt’ wird. Die transformationale Komponente des Modells besteht also darin, dass mit der Aktualisierung des immanenten Aufforderungsgehaltes eines wahrgenommenen diskursiven Ereignisses eine Verbindung hergestellt wird zwischen einem Ereignis, das einen Unterschied macht, indem es eine Ordnung des Wissens irritiert oder in vor übergehende Unordnung versetzt, und der nachfolgenden diskursiven Neuordnung von Wissen. Dessen Resultat stellt perspektivische Anschlussstellen für Folgeereignisse und -diskurse bereit. Die transformationale Komponente des Modells be-
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Innovation n-ter Ordnung
Innovation 2zweiter Ordnung
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Abb. 6: Kaskadenmodell diskursiver Innovation
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bezieht sich somit auf den diskursiven Aneignungsprozess und verweist auf die Konstitution eines symbolischen sozialen Wissensraums, der aufgrund der Verarbeitung der in einem diskursiven Ereignis innewohnenden Information zu einer im Diskurs relevanten ‚Sache’ wird. Diese Verschränktheit von Transformation und Transaktion kann kritisch betrachtet werden als ein hermeneutisches Dilemma, als ‚Ursprung ohne Anfang’ (Rammert). Ebenso kann es aber, wie schon in Abschnitt 3.2.3 diskutiert – strukturationstheoretisch als wechselseitige Angewiesenheit von (strukturierten) Handlungen und Strukturen (als sedimentierten Handlungsergebnissen) verstanden werden, in denen die Anfänge je situativ interpretiert werden als eben gerade nicht mehr unhinterfragt akzeptierbares Verlassen der Zonen tolerierter Differenzen (Ortmann). Anders ausgedrückt, ist die Innovation darauf angewiesen, dass sie als solche wahrgenommen wird – sie ist nicht exogen, d.h. sie kommt nicht von außen in die Welt, sondern wird endogen zu einer solchen gemacht. Dies erfordert eine Entscheidung über tolerierbare Abweichungen. Dabei wird zugleich ausgehandelt, von welcher Normalitätserwartung überhaupt abgewichen wird. Die Grenze des stillschweigend Tolerierbaren konstituiert sich in Momenten der Wahrnehmung diskursiver Ereignisse, in denen Ideen, Lösungen und Institutionen zusammentreffen, die vor dem Hintergrund der spezifischen Rationalität und Ereignishaftigkeit von Diskursen situativ bedeutsam und in Diskurse integriert werden. Diese Diskurse können unterschiedliche Reichweiten haben, d.h. sie sind in zeitlich, räumlich, sachlich und sozial unterschiedlichem Maße dazu in der Lage, Unterschiede in den Ordnungen von Wissen herzustellen. 7.1.4 Dekontextualisierung und Rekontextualisierung Mit seiner wissenssoziologisch-diskursanalytischen Fundierung geht das Modell diskursiver Innovation einerseits über solche Modelle hinaus, in denen – von starken, machtvoll lenkenden Akteuren oder Theorien rationaler Wahl ausgehend – eine simplifizierende Linearität von Innovation bzw. die Existenz klar Innovationsphasen suggeriert und Innovation als Ereignis dargestellt wird, das sich im Modus hierarchischer Koordination realisiert. Es konkretisiert andererseits komplexe zirkuläre Modelle, indem es die mehrdimensionale Simultaneität von Innovation hervorhebt. Mit seinem kaskadenhaften Aufbau und dem diversifizierenden Ineinandergreifen von De- und Rekontextualisierung betont das Modell die für Innovation charakteristische zeitliche Kontinuität von symbolischer Diskontinuität, die sich sachlich zu einer sozialräumlichen Wissenspassage transformiert. Das Modell diskursiver Innovation hat formale Ähnlichkeiten mit dem Rekontextualisierungsmodell von Fend (2008a). So wird sowohl im Modell diskursiver Innovation als auch im Fend’schen Rekontextualisierungsmodell davon ausgegangen, dass Akteure gegenüber Kontexten handeln. Ebenso werden die jeweiligen
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Wirklichkeitskonstruktionen betont, die die Akteure vornehmen. Darüber hinaus wird in beiden Modellen von einem kontinuierlich sich fortsetzenden Prozess der Veränderung ausgegangen. Doch es bestehen auch Unterschiede hinsichtlich der theoretisch unterstellten Struktur des Sozialen sowie der ‚Architektur’ der Ordnung von Wissen. Während sich das Modell von Fend an der Stratifikationslogik orientiert und jede Ebene des Bildungssystems als normativ wirkenden, strukturellen Kontext der darunter liegenden Ebene versteht und es insofern einer implizit strukturalistischen Argumentation folgt, ist das Modell diskursiver Innovation strukturationstheoretisch angelegt. Während das Rekontextualisierungsmodell die relevanten Kontexte als normative Rahmen auffasst, konzipiert das Modell diskursiver Innovation diese als symbolische Wissensräume, die von heterogenen Akteurskonstellationen ‚spielerisch’ konstituiert werden. Während das Modell von Fend besonders den Rekontextualisierungsvorgang betont, umfasst das hier dargestellte Modell zusätzlich den Dekontextualisierungsvorgang. Statt zu modellieren, wie eine spezifische Information bzw. ein spezifisches Handlungsergebnis von den jeweiligen Adressaten verarbeitet wird, zeigt das Modell diskursiver Innovation auf, dass die spezifische Information sich zusammen mit anderen Informationen zu einem diskursiven Ereignis vermengt, das in Diskursen von Akteuren aufgegriffen wird. Das Rekontextualisierungsmodell ist also im Wesentlichen auf formal geltende Regeln und institutionalisierte Aufgabenerfüllung bedacht. Während es auf die Implementation einer Innovation und insbesondere auf die strukturellen Bedingungen ihrer Verzerrung auf ihrem Weg von der Handlungsebene ‚Gesellschaft’ bis hin zur Handlungsebene ‚Individuum’ fokussiert, ist das Modell diskursiver Innovation auf die Elemente des initiierenden Rezeptionsprozesses konzentriert und an der Schnittstelle zwischen gesellschaftlicher Makro- und organisationaler Mesoebene angesiedelt. Ein wesentlicher Unterschied besteht zudem im theoretischen ‚Zuschnitt’ von Akteuren: Im Rekontextualisierungsmodell werden die maßgeblichen Akteure als Repräsentanten von hierarchisch angeordneten Bildungsinstitutionen angesehen. Im Modell diskursiver Innovation wird vor dem Hintergrund der Entgrenztheitsthese von Akteuren ausgegangen, die situativ durch gemeinsame Themen, Interessen, Absichten, Ressourcen etc. zusammentreten. Statt davon auszugehen, dass kollektive Akteure über gemeinsam geteilte Überzeugungen, Interessen etc. verfügen, wird hier – durchaus abweichend von dem Akteursverständnis, das der Educational Governanceperspektive zugrunde zu liegen scheint (Fischbach/Bormann/Krikser 2010) – angenommen, dass solche Überzeugungen gewissermaßen quer zu institutionellen Zugehörigkeiten vorzufinden sind. Fehlinterpretationen oder Missverständnisse, die im Rahmen von Vorgängen der Übersetzung von Innovationsbedarfen in Interventionen oder Programme auftreten, sind in der Perspektive des Modells diskursiver Innovation vor diesem Hintergrund
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nicht das vorrangige Ziel der Interpretation – eine äußerlich bleibende, quasi deduktive oder evaluative Sichtweise auf eine ‚korrekte’ Implementation einer Innovation ist mit diesem Modell nicht vorgesehen. Vielmehr beabsichtigt dieses Modell, schematisch die Bedingungen und Formen des Aneignungsprozesses kollektiver Akteure im Modus des Diskurses festzuhalten.
7.2 Resümee und Ausblick Das Thema der vorgelegten Arbeit, Innovationen und ihr Transfer, wurde mit der Metapher des Zwischenraums eingeleitet. Dieser Zwischenraum entfaltet sich zwischen verschiedenen Spannungsverhältnissen – zwischen Differenzierung und Integration, Akteur und System, Vermittlung und Aneignung. Die Mehrdimensionalität dieses Zwischenraums wurde aus theoretischer und analytischer Perspektive herausgearbeitet und präzisiert. Es wurde angenommen, dass Wissen als Element begriffen werden kann, das diesen Zwischenraum füllt und zusammenhält. Mit Blick auf die Komplexität des hier verhandelten Gegenstands wurde von der Annahme ausgegangen, dass Innovationen und Transfer auf der Grundlage von Wissen und Handlungskoordination zustande kommen. Diese Koordination erfolgt nicht zwingend intentional, und Innovationen können daher als symbolische, diskursiv koordinierte Wissensprozesse verstanden werden. Innovationen können demnach nicht einfach übertragen werden, sondern werden im Zuge von Aneignungsprozessen kollektiver Akteure differenziert und in Diskurse integriert. Ein Transfer in die Fläche des Bildungssystems kann nicht ausschließlich von einzelnen individuellen Akteuren geleistet werden, sondern bedarf des gleichzeitigen Mitwirkens vieler verschiedener Akteure. Entsprechend lag der Fokus auf den kollektiven Vorgängen, die zu dieser Verbreitung von Innovationen beitragen. Nicht die den Transfer einer Innovation erschwerenden oder förderlichen strukturellen Bedingungen wurden betrachtet, sondern die von Akteuren symbolisch geschaffenen Bedingungen, unter denen sie sich mit einer Innovation auseinandersetzen und diese ‚real’ werden lassen. Angesichts eines Verständnisses der sozialen Konstruktivität von Innovation, nach dem Innovationen als komplexe, wissensintensive Vorgänge aufgefasst werden, wurde nach den Voraussetzungen und Verläufen der Wissensarbeit kollektiver Akteure gefragt: Statt einer Vermittlungsperspektive stand eine Aneignungsperspektive im Mittelpunkt dieser wissenssoziologisch-diskursanalytisch ausgerichteten Arbeit. Das Innovationen anhaftende Wissen kann einer solchen Forschungsperspektive und -haltung entsprechend nicht einfach unhinterfragt und voraussetzungslos in andere soziale, zeitliche und räumliche Kontexte übertragen werden. Es wird vielmehr zum Gegenstand von Aushandlungsprozessen. In den Aushandlungsprozessen der beteiligten Akteurskons-
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tellationen werden Relevanzen erzeugt, die zum einen das der Innovation anhaftende Wissen differenzieren, und die zum anderen über die selektive Aneignung entscheiden. Die differenzierende Aneignung von Innovationen findet somit im Modus des Diskurses statt; dieser entscheidet darüber, wie sich Innovationen realisieren. Der hier präsentierte, in einer Gegenwartsdiagnose der Entgrenztheit eingebettete Entwurf von Innovationen als Wissenspassage, die theoretische Kontextualisierung von Innovationen und Wandel, die vorgeführte Innovationsanalyse sowie das Modell diskursiver Innovation sollen einen Beitrag für das theoretische Verständnis von Innovation sowie die Konzeption und Durchführung von empirischen Innovationsanalysen leisten. Die vorgelegte Arbeit hat unterschiedliche theoretische und methodische Ansätze und Konzepte verknüpft und möchte in Hinblick auf die Innovations- und Transferforschung, die Diskursforschung sowie die Governanceforschung im Feld von Bildung und Erziehung zu Reflexionsgewinnen beitragen, gleichzeitig eröffnen sich weitergehende Forschungsperspektiven. Innovations- und Transferforschung. Zur Seite der Innovationsforschung kann ein Gewinn darin liegen, die Konfigurationen von Praktiken der Wissensordnung systemtisch zu analysieren und zu diskutieren. Zudem ist das vor dem Hintergrund des wissensanalytischen Zugangs entworfene Modell diskursiver Innovation ein generisches: Es ist unabhängig von einem spezifischen pädagogischen Handlungsfeld, und in methodischer Hinsicht wurde es auf der Basis der interpretativen Rekonstruktion von Diskursen entworfen, die in solchem Material vorgefunden wurden, das in Veränderungsprozessen ohnehin oftmals als ‚Nebenprodukt’ entsteht. Insofern kann prinzipiell angenommen werden, dass das Modell systematisch auch für Untersuchungen und Interpretationen der ‚Steuerung’ von Innovationen in einzelnen Organisationen oder auch in Netzwerken auf der Mesoebene genutzt werden kann. Dieser Annahme müsste jedoch in weiteren, auch vergleichend angelegte Untersuchungen nachgegangen werden: Können neben den beiden hier vorgefundenen Diskurstypen weitere, ggf. beide Typen kombinierende Diskurstypen aufgefunden werden? Stärker evaluativ ausgerichtete längsschnittlich angelegte Untersuchungen müssten auch der Frage nachgehen, welche Typen zu welchen Folgediskursen und -innovationen anregen, und ob es zu einer Schließung oder Ausweitung von Diskursen kommt, welche diskursiven Koordinationsformen also für Innovationsprozesse besonders geeignet sind: Inwiefern haben die von heterogenen Akteuren in einem bottom-up-Innovationsprozess generierten Ordnungen von Wissen eine höhere Chance auf Anerkennung und Integration in weiteren Diskursen als solche, die ohne die Einbindung einer Vielzahl unterschiedlicher Akteure zustande kommen? Inwiefern entfalten sie diese Wirkung aufgrund ihrer Geschichte, und welche
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Rolle spielt dabei die Art der Innovation, die in diesem Diskurs transferiert wird (Ideen; Ziele; Ideologien; Instrumente etc.; s. Abschnitt 2.4.1)? Diskursforschung. Diskursanalytische Studien befassen sich mit der Konstruktion und Veränderung von Wirklichkeiten. Die hier bei der Interpretation und Diskussion der Befunde zusätzlich herangezogene Governanceperspektive hat zu einer Systematisierung der Befunde beigetragen. Die dabei herangezogenen Kategorien können in künftigen Studien auf ihre Aussagekraft auch für andere Gegenstandsbereiche hinterfragt werden: Inwiefern erweisen sich die Kategorien, die die Modi und Mechanismen der Handlungskoordination darstellen, als geeignete Kriterien für die Analyse von Innovationsdiskursen? Inwiefern sind die Kategorien auch für andere Fälle in der Lage, Diskurse typisierend zu erfassen? Inwiefern lassen sich die hier vorgefundenen Merkmalskombinationen in weiteren Diskursanalysen replizieren? Um die im Material rekonstruierten diskursiven Praktiken weiter zu untermauern, könnte es sich anbieten, die Datenbasis zu erweitern und darüber hinaus Interviews oder teilnehmende Beobachtungen durchzuführen, um mit dem so gewonnenen Material eventuelle ‚Lücken’ des Protokollmaterials zu kompensieren. Das wiederum erhöht den Umfang und den Aufwand der Analyse. Daher stellt sich auch die eher forschungspraktische Frage: Wie und inwiefern kann das diskursanalytisch gewonnene Wissen auch evaluativ verwendet werden? Wie gezeigt wurde, hat es sich als hilfreich erwiesen, für die interpretative Rekonstruktion im Rahmen der Feinanalyse Fälle zu konstituieren, deren Analyse am Kodierparadigma der Grounded Theory zu orientieren und diese zunächst fallweise und sodann fallübergreifend durchzuführen. Ähnlich wie bei den sehr systematischen Interpretationsschritten der Dokumentarischen Methode – die Äußerungen werden dabei sequentiell analysiert und hinsichtlich ihrer sozialen Funktion kategorisiert bzw. nach Textsorten systematisiert und auf dieser Basis miteinander verglichen – kann es sich darüber hinaus auch im Rahmen von WDA anbieten, Theorien des jeweils relevanten Gegenstandsbereichs auf geeignete analytische Kategorien hin zu befragen und bei der fallübergreifenden Interpretation in Anschlag zu bringen. So kann das eigene Forschungswissen über den untersuchten Sachverhalt systematisch reflektiert und intersubjektiv nachvollziehbar geordnet werden. Für die Durchführung künftiger Innovationsanalysen im Feld von Bildung und Erziehung mithilfe der WDA wäre insofern zu erwägen, Kategorien zu Inhalten, Prozessen und Strukturen in das Kodierschema zu integrieren, um so zu systematischen Aussagen zu den Governancemodi in Innovationsdiskursen zu gelangen. Governanceforschung. Wie schon erwähnt, ist das hier präsentierte Modell ein generisches, das prinzipiell auch sinnvoll in anderen Diskursarenen einge-
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Zwischenräume der Veränderung – ‚revisited’ setzt werden kann. So scheint es prinzipiell anschlussfähig zu sein an die Governanceforschung im Feld von Bildung und Erziehung, die sich derzeit im Wesentlichen in ihrem Bezug auf schulische Gestaltungs- und Veränderungsprozesse als educational governance-Forschung präsentiert (Altrichter/Brüsemeister/Wissinger 2007). Grundsätzlich kann der Reflexionsgewinn der hier präsentierten wissensanalytisch ausgerichteten Innovationsanalyse darin bestehen, dass sie eine Forschungshaltung und Methodologie bereit stellt, die mit ihren Fragestellungen kompatibel ist. Die Governanceperspektive sowie die Innovations- und Transferforschung interessieren sich für die inhaltlichen, strukturellen und sozialen Bedingungen der Prozesse, in denen Veränderungen realisiert werden. Beide streben danach, die Perspektiven der beteiligten Akteure zu berücksichtigen und theoretisch miteinander in Beziehung zu setzen, um die ablaufenden Prozesse zu verstehen. Beide fragen daher nach der Wahrnehmung von Ereignissen, auf die sich Akteure in ihren Handlungen beziehen, auf ihre Intentionen sowie auf die intendierten und nichtintendierten Effekte ihrer Handlungen. Beide betrachten Inhalte, Prozesse und Strukturen nicht als fraglos gegeben. Vielmehr werden diese als Gegenstand und vorübergehendes Resultat von Prozessen verstanden, in denen eine Balance dieser Elemente symbolisch als relevant ausgehandelt wird und die in kontingenten Ergebnissen resultieren (Altrichter/Heinrich 2007: 70; Lütz 2007: 133; s. auch Abschnitt 1.3). Diese Annahmen und Interessen teilen Innovations-, Transferund Governanceforschung grundsätzlich mit der Diskursforschung. Für die Innovations-, Transfer- wie für die Governanceforschung stellen wissenssoziologisch-diskursanalytische Herangehensweisen noch weitgehend ein Novum dar. Diskursanalysen fragen nach der symbolischen Konstruktion dessen, was in einem gegebenen sozialen Kontext als relevant gilt, und sie untersuchen, wie diese Relevanz erzeugt wird; sie ergänzen insofern die analytischen Absichten der Innovations- und Governanceforschung. Die wissenssoziologisch-diskursanalytische Untersuchung von Innovationen im Feld von Bildung und Erziehung kann insofern nicht nur als ein Beitrag zur Aufklärung der Beteiligung von Wissen an Veränderungsprozessen, sondern als ein Beitrag zur Entwicklung einer Methodologie der Governanceanalyse verstanden werden, die auf die Rekonstruktion reflexiver Governance (Voß/Kemp/Bauknecht 2006) abzielt: Unter der Annahme, dass Wissen ein Kernelement von Governance ist, und wird Wissen als sich ständig erneuernde Ressource (knowing) begriffen, kann auch Governance selbst als ein reflexiver Prozess aufgefasst werden. Für die Governanceforschung eröffnet die gewählte theoretische Perspektive außerdem die Möglichkeit eines ‚Zuschnitts’ von Akteuren, die nicht qua institutioneller Zugehörigkeit identifiziert werden, sondern aufgrund gemeinsamer Interessen und gemeinsamer Wissensarbeit. Dass in
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den so gedachten Akteurskonstellationen dennoch nicht rein rational gehandelt wird, kann aus der wissenssoziologisch-diskursanalytischen Forschungshaltung heraus dargelegt werden, weil sie an der Identifikation der quasi subkutan wirkenden Praktiken der Konstruktion von Wirklichkeit interessiert ist. Transintentionalität ist aus dieser Perspektive dann nicht erst von den Ergebnissen her zu bestimmen. Für die theoretische und empirische erziehungswissenschaftliche Forschung schließlich eröffnet diese Untersuchung weiterreichende Fragen nach der symbolischen Verräumlichung, die auf die Reflexionsbedingungen der Erziehungswissenschaft selbst einwirkt: Wie wird das Wissen produziert und verteilt, das als Konzept-, Theorie-, Instrumentenimport als Thema in der erziehungswissenschaftlichen Reflexion auftaucht? Welchen diskursiven und nicht-diskursiven Anteil hat ‚die’ erziehungswissenschaftliche Forschung an diesem Import? Wann und unter welchen Voraussetzungen vergrößert oder verkleinert sich der symbolische Raum, auf den sich erziehungswissenschaftliche Forschung bezieht bzw. in dem sie sich bewegt und aus dem sie ihre Themen generiert, und wie wird die Gültigkeit solcher Integrationspraktiken festgelegt, die auch darüber bestimmen, was nicht als Meinung, sondern als relevantes Wissen gilt?
Bei alledem – ist die vorgelegte Arbeit eine Innovation? Schließlich hat sie sich, wie schon in der Einleitung angekündigt, bereits vorhandener Konzepte, Theorien und Methoden bedient. Die Paradoxie, einerseits ‚Neues’ schaffen zu wollen, sich dabei aber andererseits auf ‚Altes’ beziehen zu müssen, kann sie insofern nicht überwinden. Doch dies muss nicht als Dilemma betrachtet werden, sondern kann als Indiz für das gegenstandskonstitutive Wechselsepiel zwischen ‚alt’ und ‚neu’ bzw. die Dynamik des Gegenstandsbereichs und darauf bezogene Forschung begriffen werden. Ganz in diesem Sinne gibt Ortmann (1999) zu bedenken, dass die Innovationsforschung selbst einen paradoxen Charakter hat: „Auch sie ist auf der Suche nach Neuem, nämlich auf der Suche nach neuen Einsichten in die Suche nach Neuem“ und schlussfolgert, dass „Selbstbezüglichkeit... in ihrem Falle ein mehr als anderswo sich aufdrängendes Gebot“ ist (ebd.: 259).
Abbildungs- und Tabellenverzeichnis Abbildungen Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6
Organigramm der UN-Dekade-Akteure Diskursives Ereignis als Verbund von idea, event, institution Verschränkungen innerhalb der untersuchten Diskursgemeinschaft Diskurstypen, Koordinationsmodi und Koordinationsmechanismen Modell diskursiver Innovation Kaskadenmodell diskursiver Innovation
244 248
309 316 322
Diskursstränge der AG 1 Phänomenstruktur der AG 1 Diskursstränge der AG 4 Phänomenstruktur der AG 4 Diskursstränge der AG 5 Phänomenstruktur der AG 5 Diskursstränge der AG 7 Phänomenstruktur der AG 7 Darstellung der rekonstruierten Diskurstypen
272 276 278 283 285 291 292 296 314
303
Tabellen Tab. 1 Tab. 2 Tab. 3 Tab. 4 Tab. 5 Tab. 6 Tab. 7 Tab. 8 Tab. 9
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