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German Pages 352 [347] Year 2007
Nikolaus Jackob (Hrsg.) Wahlkämpfe in Deutschland
Nikolaus Jackob (Hrsg.)
Wahlkämpfe in Deutschland Fallstudien zur Wahlkampfkommunikation 1912 – 2005
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
1. Auflage März 2007 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2007 Lektorat: Monika Mülhausen / Bettina Endres Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-15161-8
Danksagung
Dieses Such verdankt seine Entstehung einer Lehrveranstaltung mit dem Titel "Wahl-
kampfkommunikation, Fallstudien - national und international, historisch und aktuell" im Sommersemester 2005 am Institut fur Publizistik in Mainz, in deren Rahmen meine Studierenden eine groBe Zahl interessanter Vortrage hielten und mit ihren Diskussionsbeitragen und Hausarbeiten wichtige Denkanstolie gaben. Ihnen mochte ich fur ihr Engagement danken. Danken mochte ich auch allen Autoren, die durch ihren Einsatz maBgeblich zur Realisation des Suches beigetragen haben. Die Zusammenarbeit tiber die lange Zeit von rund eineinhalb Jahren war iiberaus angenehm und fruchtbar. Weiterhin mochte ich dem Archiv fur Christlich-Demokratische Politik der Konrad-Adenauer-Stiftung fur seine Unterstutzung danken: Die Stiftung verzichtete auf die sonst iiblichen Honorarforderungen beim Abdruck yon Bildern und ermoglichte damit, dass dem Buch Illustrationen hinzugefugt werden konnten, ohne dass dabei Kosten entstanden. Ein besonderer Dank gilt schlieBlieh dem Vorstand der Ludwig-Erhard-Stiftung: Dureh die grolszugige Forderung der Stiftung, welche die Druckkosten vollstandig iibemahm , war es· moglich, dieses Buch ohne grofsere KUrzungen und Abstriche zu publizieren. 1m Namen aller Autoren, aber sieher auch im Namen der Leser, mochte ich der Ludwig-Erhard-Stiftung fur ihre vorbildliche und generose Forsehungs- und Publikationsforderung danken.
Mainz, im Dezember 2006
Dr. Nikolaus Jaekob
Inhaltsverzeichnis
Grundlagen
Nikolaus Jackob Wahlkamptkommunikation als VertrauenswerbungEinfuhrung anstelle eines Vorwortes
11
Harald Schoen Ein Wahlkampfist ein Wahlkampfist ein Wahlkampf? Anmerkungen zu Konzepten und Problemen der Wahlkampfforschung
34
Thomas Roessing Wahlkampf und Wirklichkeit - Veranderungen der gesellschaftlichen Realitat als Herausforderung fur die empirische Wahlforschung
46
Wahlkampfstudien
Thomas Berg Wahlen im Kaiserreich anna 1912 - Wahlkampfim Obrigkeitsstaat
59
Tanja Engelmann Auge urn Auge, Zahn urn Zahn - die Presse im (Wahl)kampf 1932
72
Anette Koch-Wegener Der Bundestagswahlkampf 1949 von COU und SPD im Zeichen der Sozialen Marktwirtschaft
97
Mathias Friedel Die Bundestagswahl 1953
112
Hans-Jiirgen Schroder Wahlkamptbilder: Die Visualisierung von Adenauers Amerikareisen 1953 und 1957 in Propagandafilmen der CDU
137
Isabel Nocker Der Wahlkampffiir Ludwig Erhard 1965
151
Hans Mathias Kepplinger Kommunikationsbarrieren Die Wege zu den Zeitungslesem bei Bundestagswahlen
164
Ilka Ennen Der lange Weg zum Triumph der "Willy-Wahlen"-Wahl: Willy Brandt als Wahlkampfer - 1961-1972
176
Thomas Petersen Helmut Kohls Wahlkampfe
194
Nicole Podschuweit & Stefan Dahlem Das Paradoxon der Wahlwerbung - Wahmehmung und Wirkungen der Parteikampagnen im Bundestagswahlkampf2002
215
Birgit Laube Der Faktor Amerika im Wahlkampf2002
235
Alexander Geisler & Martin Gerster Zentral geplant, lokal gekampft, Der Wahlkampf der SPD zur Bundestagswahl 2005 - Der Wahlkreis 293 Biberach als Fallbeispiel
254
Thomas Bippes 1st der Ehrliche der Dumme? Bundestagswahl 2005 Wahlkampfunter verkehrten Vorzeichen
279
Exkurse
Nikolaus Jackob & Stefan Geift Wahlkampfe in Rom - Ein Beitrag zu einer historischen Wahlkampfkommunikationsforschung
293
Marcus Maurer & Carsten Reinemann TV-Duelie als Instrument der Wahlkamptkommunikation: Mythen und Fakten
317
Tilo Hartmann Blogs im Wahlkampf - Moglichkeiten und Perspektiven
332
Teil 1: Grundlagen
Wahlkampfkommunikation als Vertrauenswerbung Einfuhrung anstelle eines Vorwortes Von Nikolaus Jackob
I.
Einfiihrung
Wahlkampfe sind ein in periodischen Abstanden wiederkehrendes Ritual der Amter- und Machtverteilung, das einen zentralen Stellenwert in der Demokratie einnimmt.' Wahlkampfe verkorpern den friedlichen politischen Wettbewerb der Parteien und ihrer Kandidaten urn das Vertrauen der Wahler - sie ,,(... ) sind die Hochamter in der politischen Liturgie, darauf angelegt, dass sich die Politik dem Vertrauenstest der Burgerinnen und BUrger stellt." Ziel von Wahlkampfen ist, die Aufmerksamkeit der Wahlberechtigten zu gewinnen, urn Zustimmung fur Partei, Programm und Personen zu werben und ein Maximum an UnterstUtzung zu mobilisieren, urn schlieBlich politische Macht auf Zeit aus den Handen des Souverans zu erhalten.' Ihre klassische Funktion ist zunachst die Mobilisierung der eigenen Anhangerschaft, was vor allem in Zeiten fester Parteibindungen im 19. und in weiten Teilen des 20. Jahrhunderts eine uberragende Bedeutung hatte. Heutzutage kommt jedoch angesichts zunehmender Volatilitat im Elektorat" auch der Gewinnung von unentschlossenen Wahlern oder Anhangern anderer politischer Lager eine immer grobere Bedeutung zu.s Doch nicht nur die eigene Anhangerschaft und die Wahlerschaft insgesamt, sondem auch die Medien, Verbande, Organisationen und Institutionen sind als Multiplikatoren und Akteure Zielgruppen von Wahlkamptkommunikation. AuBerdem haben Wahlkampfe den Zweck, die Wahlberechtigten dazu zu motivieren, uberhaupt an Wahlen teilzunehmen nicht zuletzt deshalb kommt dem Wahlkampf auch eine symbolische Funktion zu: Er dient der Legitimation des demokratischen Systems." Hohe Zustimmungsraten fur einzelne politische Akteure verschaffen diesen ebenso eine legitime Basis fur politisches Handeln, wie eine hohe Wahlbeteiligung der Demokratie selbst Legitimation verschafft. Wahlkampfkommunikation, verstanden als Gesamtheit aller zur Wahlwerbung eingesetzten kommunikativen Mittel, hat in Wahlkampfen eine entscheidende Bedeutung: Botschaften, Begriffe, Symbole und Bilder, verbreitet auf dem Wege interpersonaler oder (massen-)medialer Kommunikation, sollen einen Eindruck von Personen und Programmen vermitteln, Aufmerksamkeit und Sympathie gewinnen und VertrauenswUrdigkeit erzeugen. Sowohl Personen als auch Parteien werden im Rahmen kommunikativer MaBnahmen mit positiven Eigenschaften wie Glaubwurdigkeit, Kompetenz, Aufrichtigkeit oder Verlasslichkeit etikettiert, die geeignet sind, zu einem positiven, vertrauenswurdigen Image beizutraVgl. Domer & Vogt 2002a: 7. Sarcinelli 200Sa. Vgl. Domer 2002: 20 f.; DOmer & Vogt 2002b: ]5 f. Man spricht von .Dealignment"; der Begriff beschreibt einen Prozess der Aufweichung traditioneller politischer Bindungen, der zurn Anwachsen der Wechselwahlerschaft fuhrt (Vgl. Holtz-Bacha] 996: 13). Vg1. Schulz 1997: ]95. Vg1. Domer & Vogt 2002b: 16 f~ lung & Roth 1998: 4.
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gen.' Oabei kann man verschiedene Akteure (z.B. Kandidaten, Parteien), Medien (z.B. Flugblatter, Plakate, TV-Spots), Argumentationsstrategien (z.B. Verweise auf die eigene Leistungsbilanz oder Angriffe auf den politisehen Gegner) und Adressaten (z.B. eigene oder gegnerische Anhanger) yon Wahlkamptkommunikation unterscheiden." Je naeh Konstellation finden untersehiedliche Kommunikationsmittel und Botschaften Verwendung. Auch wenn es langst nieht klar ist, welche konkreten MaBnahmen wahlentscheidende Effekte zeitigen und auch wenn es von den sich stetig wandelnden Rahmenbedingungen von Wahlkampfen abhangt", welches Instrument yon Wahlkamptkommunikation am Besten geeignet ist, die Wahler zu uberzeugen - es ist unzweifelhaft, dass Wahlkamptkommunikation notwendig ist, will man einen Wahlkampf fur sich entscheiden. 10 Das vorliegende Buch hat die Wahlkamptkommunikation in Deutschland in den letzten rund 100 Jahren zum Gegenstand. Der Zeitraum erstreckt sich nicht exakt tiber 100 Jahre, weil der Wahlkampf 1912 als Ausgangspunkt gewahlt wurde - der dreizehnte und letzte Reichstagswahlkampf im Kaiserreich. Dieser Wahlkampf wurde deshalb ausgewahlt, weil er im Zeichen von Veranderungen, Umbruchen und Wandlungsprozessen stand, weil er der SPD, die spater in Weimar zu einer der pragenden Krafte wurde, einen Erdrutschsieg bescherte, und weil er mit seinem finalen Charakter auch dem zweiten in diesem Buch analysierten Wahlkampf ahnelt: Oem Wahlkampf von 1932, der ebenfalls einen Wendepunkt markierte. Auf diesen Auftakt folgen Studien zu interessanten Wahlkampfen in der Bundesrepublik Deutschland: der Wahlkampf 1949, der erste Bundestagswahlkampf uberhaupt, die Wahlkampfe 1953 und 1965, die wie der 194ger Wahlkampf sehr im Zeichen der Wirtschafts- und AuBenpolitik standen, Willy-Brandts Wahlkampfe, vor allern 1969 und 1972, Helmut Kohls Wahlkampfe yon 1976 bis 1998 und die Wahlkampfe 2002 und 2005, die beide mit jeweils extrem engen Wahlergebnissen endeten. Das Buch spannt einen historischen Bogen tiber ein Jahrhundert und drei verschiedene politisehe Systeme hinweg. 1m Mittelpunkt stehen (historische) Fallstudien, die jeweils einzelne Wahlkampfe, ihre Akteurs- und Themenkonstellationen und die Methoden der Wahlkamptkommunikation zum Gegenstand haben. Damit unterscheidet sich das Buch vom GroBteil der Wahlkampfliteratur: Wahrend die meisten Wahlkampfstudien beim Wahlergebnis ansetzen und nach den Ursachen fragen, mithin also "Output"-orientiert sind, setzen die Studien in diesem Band in ihrer Mehrzahl fruher an - bei der Konzeption der Wahlkampfe bzw. der Wahlkarnptkommunikation, also beim ,,Input". So standen z.B. Wirkungen von Wahlkamptkommunikation vielfach im Mittelpunkt der Forschung, die Forschung zur Wahlkampffiihrung ist jedoch wie Harald Schoen in seinem Beitrag argumentiert - bislang kaum den Kinderschuhen entwachsen. Typischen Forschungsfragen in diesem Kontext lauten: Welche Uberlegungen sind bei der Konzeption yon Wahlkampfen von Bedeutung? Welche Akteure spielen eine Rolle in der Wahlkampfkommunikation und welche Chancen haben sie im Wahlkampf gehort zu werden und Einfluss zu nehrnen? Dabei ist es auch Ziel dieses Buches, hinter die Kulissen der Politik zu schauen, urn Motive und Wahrnehmungen der politischen Akteure zu analysieren. Ein Sehwerpunkt liegt folglich auf (historischen) Studien mit akteurszentrierter Perspektive.
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Vgl. Vgl. Vgl. Vgl.
dazu Kapitel II dieses Beitrages. dazu den Beitrag von Harald Schoen in diesem Buch. dazu den Beitrag von Thomas Roessing in diesem Buch. Hetterich 2000: 404; Holbrook 1996: 17 f.
Zwischen die inhaltlich umfassenderen Fallstudien zu einzelnen Wahlkampfen sind auch Studien eingestreut, die auf einzelne Ausschnitte fokussieren, Schwerpunkte in bestimmten Forschungsgebieten wie der Umfrage- oder der Wirkungsforschung haben, oder sich auf bestimmte Akteure wie z.B. die Presse oder einzelne Kandidaten konzentrieren. Den Wahlkampfstudien vorangestellt sind Beitrage, die allgemeiner auf die Rahmenbedingungen, Mittel und Methoden der Wahlkampfkommunikation sowie auf einzelne Problemstellungen der Wahlkampfforschung eingehen. Sie bieten Systematisierungen, Klarungen und Kontextualisierungen an, die in den einzelnen Beitragen aufgrund der Schwerpunktsetzung fehlen mussen, Am Ende des Buches stehen drei Exkurse - ein historischer Exkurs in eine andere weltgeschichtliche Epoche (die romische Republik), urn den Band urn eine geschichtliche Vergleichs- und Tiefenperspektive zu erwe item , ein gegenwartsbezogener und in Teilen forschungskritischer Exkurs, der am Beispiel einer bestimmten Form von Wahlkampfkommunikation (den TV-Duellen) wichtige Fragestellungen der Wahlkampfkommunikationsforschung diskutiert, und schlieBlich ein in die Zukunft gerichteter Exkurs, der sich mit den Potentialen neuer Kommunikationsformen (den Weblogs) fur die Wahlkampfkommunikation beschaftigt. Zweifellos gibt es mittlerweile einen regelrechten Berg von Literatur uber Wahlen, Wahlkampfe und Wahlkampfkommunikation. Und in der Tat verdi enen auch andere Phasen des politischen Geschehens - Normalphasen zwischen Wahlkampfen - Aufmerksamkeit, nicht nur Ausnahmephasen wie Wahlkampfe.!' Doch es entstehen an deutschen Universitaten unentwegt interessante Forschungsarbeiten zur Wahlkampfkommunikation, seien es z.B. Magisterarbeiten oder Promotionen, die bestimmte Ausschnitte beleuchten, die bisher nicht in vergleichbarer Weise Gegenstand von Analysen waren, Quellen neu erschlieBen oder in der Forschung eher vernachlassigten Epochen bzw. Wahlkampfen gewidmet sind. Und es kommen unentwegt Studien hinzu, die neue Wahlkampfe behandeln. Das vorliegende Buch enthalt solche Studien zu alteren und jtmgeren Wahlkampfen, die unter anderem am Mainzer Institut fur Publizistik entstanden sind und bisher nicht in vergleichbarer Weise der Offentlichkeit zuganglich gemacht wurden. Dazu zahlen auch preisgekronte Magisterarbeiten oder Archivfunde, die noch nach Jahren durch ihren Erkenntnisreichtum i.iberzeugen. Erganzt werden diese Arbeiten durch Beitrage von Forschern aus anderen Universitaten, Institutionen und Kontexten, von Experten fur verschiedene Fachgebiete, von Historikem, Demoskopen oder Politologen. Durch diese Mischung versteht sich das Buch einerseits als ein weiterer, kommunikations- und forschungshistorischer Beitrag zur Wahlkampfforschung, andererseits aber angesichts des weiten historischen und thematischen Bogens auch als ein Uberblickswerk. Der vorliegende Beitrag des Herausgebers ist als Einfuhrung konzipiert, welche die Themen des Buchs kurz vorstellt. Die Einfiihrung in das Buch ist nicht, wie zumeist ublich, eine i.iberblicksartige und zusammenfassende Beschreibung der einzelnen Beitrage. Vielmehr werden die verschiedenen Beitrage vor dem Hintergrund eines Schlusselbegriffs fUr die. Kommunikations- und Wahlkampfforschung prasentiert - dem Begriff des Vertrauens. Wie bereits erwahnt, sind Wahlkampfe auch Vertrauenstests, Wahlkampfkommunikation stel1t auch Vertrauenswerbung dar: Die Wahler sprechen einem Kandidaten oder einer Partei das Vertrauen aus und beauftragen auf diese Weise eine Regierung, an ihrer Stelle politische Entscheidungen uber einen vorher definierten Zeitraum treffen zu durfen, Sie II
Vgl. Sarcinelli 2005b: 23; 197.
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geben einen Vertrauensvorschuss, moglicherweise auch deshalb, wei! die zuvor im Wahlkampf getatigten KommunikationsmaBnahmen sie von der Vertrauenswtirdigkeit der jeweiligen Personen oder Parteien uberzeugt haben. Doch nicht nur im Wahlkampf, im gesamten politischen Prozess der Demokratie spielt Vertrauen eine zentrale Rolle - mehr noch: Vertrauen ist ein Schlusselphanomen fur die menschliche Gesellschaft. Daher stehen in den folgenden Passagen zunachst einige Erlauterungen zur Rolle des Vertrauens in Gesellschaft, Politik und Wahlkampf im Mittelpunkt. AnschlieBend werden die Beitrage des Buches unter dem angestimmten Leitmotiv - Wahlkampfkommunikation als Vertrauenswerbung - kurz vorgestellt und einige wichtige Aspekte des Phanomens Vertrauen im Kontext von Wahlkampfen am Beispiel der im Buch enthaltenen Aufsatze diskutiert.
II. Wahlkampfkommunikation als Vertrauenswerbung - Hinfiihrung Vertrauen ist die Basis sozialer Beziehungen' - ohne Vertrauen ware jede menschliche Gesellschaft, auch und gerade die moderne mit ihrem hohen Grad an Arbeitsteiligkeit, Kornplexitat, Professionalisierung und Spezialisierung unrnoglich, Dies gilt ebenso fur das Expertensystem der Politik, in der sowohl ein gewisses MaB an politischem Sachwissen als auch an Politikmanagements- und Politikvermittlungskenntnissen und -fahigkeiten notwendig ist: Der einzelne BUrger verfugt in der Regel nicht Uber das Wissen und die Kenntnisse, die notig sind, komplexe politische Prozesse in ihrer Gesamtheit zu durchschauen und zu verstehen, geschweige denn, diese selbst verantwortlich zu gestalten. Indem der BUrger die Politik als .Vertrauenssache?" begreift, delegiert er und reduziert fur sich die Komplexitat der Politik auf ein vertretbares MaB - Niklas Luhmann definiert Vertrauen entsprechend als einen "Mechanismus zur Reduktion sozialer Komplexitat"." Vertrauen vereinfacht Entscheidungssituationen und ermoglicht Handlungsfreiheit. Und mit der Komplexitat einer Gesellschaft bzw. eines Systems wachst die Notwendigkeit des Vertrauens." Vertrauen kann als eine Ressource begriffen werden 16 - durch Vertrauen werden andere Ressourcen wie Wissen oder Konnen, aber auch Zeit und Geld substituiert. Indem der BUrgerdie Politik den Politikern anvertraut, hat er mehr (andere) Ressourcen fur die fur ibn wesentlichen Dinge des Lebens zur Verfugung. Infolge einer Vertrauenshandlung tritt der Vertrauende Kompetenz ab, entbindet sich von der Notwendigkeit der eingehenderen Beschaftigung mit einem Thema und ersetzt eigenes Wissen und Konnen durch das Wissen und Konnen anderer. Vertrauen ist ein Wissenssurrogat: Wer sich beispielsweise einem Arzt anvertraut, der ja in der Regel einen Wissensvorsprung vor seinem Patienten hat (competence gap "), der erhofft sich Heilung, auch wenn er nicht die medizinischen Kenntnisse hat, die es ihm ermoglichten, die Richtigkeit von Diagnose und Therapie zu beurteilen. IS Wollte er dies, musste er sich diese Kenntnisse selbst aneignen. Andernfalls muss er weiter leiden oder sich auf den Arzt verlassen, auch wenn Zweifel existieren. So ist es auch in der Politik: Der Wahler wird kaum alle Konsequenzen seiner Vertrauenshandlung 12
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Vgl. Dembach & Meyer 2005: 15; vgl. auch Offe 2001. Vgl. Bentele 1998: 310. Vgl. Luhmann 1989. Es gibt jedoch noch eine Fulle anderer Ansatze zur Definition von Vertrauen, die sich nach ihrer wissenschaftlichen Herkunft unterscheiden (z.B. Psychologie, Anthropologie, Soziologie, Philosophie ... ) (Vgl. Petermann 1996: 9; Laucken 2005: 95). Vgl. Lubbe 1993. Vgl. Offe 2001: 242ff. Lewis & Weigert 1985: 981. Vgl. Shapiro 1987: 629; vgl. auch Apel 2005: 282.
voraussehen konnen, dennoch lasst er sich politisch von anderen vertreten, indem er ihnen sein Vertrauen schenkt und seine Reprasentanten damit beauftragt, fUr ibn die Entscheidungen zu treffen. Damit ist eine Vertrauenshandlung eine optimistische, hoffnungsgeleitete Handlung, die meist vorangegangene Erfahrungen und Wissen als Urteilsheuristiken inkludiert und zukunftsgerichtet ist, d.h. mit einer Erwartungshaltung verbunden ist. 19 Georg Simmel schreibt: .Vertrauen, als die Hypothese kunftigen Verhaltens, die sicher genug ist, urn praktisches Handeln darauf zu grunden, ist als Hypothese ein rnittlerer Zustand zwischen Wissen und Nichtwissen urn den Menschen. Der vollig Wissende braucht nicht zu vertrauen, der vollig Nichtwissende kann vernunftigerweise nicht einmal vertrauen.v'" Vertrauenshandlungen sind - so erstaunlich sie bei genauerem Hinsehen erscheinen mogen - im menschlichen Leben alltaglich und vielfach routinisiert. Menschen machen sich tiber die einzelnen Situationen, in denen sie im Alltag anderen Menschen (z.B. dem Backer, dem Lokaljoumalisten), ihren Produkten und Dienstleistungen (z.B. dem Brot, der Tageszeitung) vertrauen, nicht unentwegt detailliert Gedanken: Oft sind Vertrauenshandlungen intuitiv, Auspragungen eines "affektiven Orientierungsmodus"." Nicht immer liegen ihnen rationale Prozesse und kognitive Abwagungen zugrunde, die ja die Vertrauensentscheidung komplizieren und damit - entgegen ihrem eigentlichen Sinn - aufwandiger, ressourcenintensiver werden lassen warden. Vielrnehr handelt es sich oft urn wenig reflektierte Entscheidungerr", Menschen verweisen auf ihr .Bauchgefuhl", Vertrauen wird geschenkt, ohne dass (im Sinne wissenschaftlich-rationaler Argumentation) erklart werden konnte, warum vertraut wird." Misstrauen und Skepsis hingegen sind als Grundhaltung zunachst nicht Normalzustand, sondern Produkt von Lern- bzw. Sozialisationsprozessen sowie Kennzeichen von bestimmten Systemen mit eigenen Regeln, wie es in der Wissenschaft der Fall ist. Der Normalzustand ist Vertrauen: "Wir bewohnen das Klima des Vertrauens, so wie wir in der Atmosphare leben; wir nehmen es wahr wie die Luft, namlich erst dann, wenn es knapp wird oder verschmutzt ist. ,,24 Dabei ist Vertrauen stets mit Risiko verbunden, es kann auch enttauscht werden. Ein Vertrauensgeber begibt sich mehr oder minder freiwillig in die Hande eines Vertrauensnehmers, er gibt die Kontrolle tiber einen bestimmten Bereich seines Lebens an andere Menschen ab und steigert so seine eigene Verwundbarkeit." Urn das Risiko verletzt oder enttauscht zu werden einigermaBen in den Griff zu bekommen, versuchen Vertrauensgeber normalerweise, sich tiber den Vertrauensnehmer zu informieren, gegebenenfalls auch mit der Folge hoherer Kosten (fur den Vertrauensgeber)." Ubertragen auf die Politik bzw. den Wahlkampf bedeutet dies, dass sich die BUrger bzw. die Wahler ein Bild von ihren Reprasentanten zu machen versuchen, Medienberichte rezipieren, die Selbstdarstellung der Kandidaten und Parteien, z.B. ihre Programme, Internetauftritte oder ihr Wahlkampfrnaterial heranziehen, urn sich ihre Entscheidung zu erleichtem. Der Vertrauensgeber versucht so, seine Urteilsbasis zu verbreitern, urn sein Vertrauen rechtfertigen zu konnen. Vertrauen wird auch auf Basis von Eindrucken vergeben, die man vom Vertrauensnehmer hat - sei es
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Vg1. Luhmann 1989: 9~ 17~ 22~ Offe 2001: 262ff. Simmel 1968: 263. Dederichs 1997: 69-75. Vgl. Rabinowitz 1992; Lewis & Weigert 1985: 976; Lewicki, McAllister & Bies 1998: 440~ 444. VgI. z.B. fur die Wahlentscheidung Kepplinger & Maurer 2005. Baier 2001: 42. Vgl. Petermann 1996: 75f. V gl. Lahno 2002: 111ff.
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sichere Information oder der oberflachliche Eindruck. Erscheint ein Kandidat oder eine Partei beispielsweise in Medienberichten oder in Selbstdarstellungen kompetent, zuverlassig und integer, wird eher vertraut." Auch positive Erfahrungen in Vergangenheit und Gegenwart konnen zum Entstehen von Vertrauen beitragen." Betrachtet man das politische System in toto bedeutet dies: Werden die AnsprUche der BUrger (Input in das politische System) von der Politik in Form von MaBnahmen, Gesetzen etc. (Output der Politik) erfullt, machen sie also die Erfahrung, dass die Politik gut fur sie ist, steigert dies die Bereitschaft, 29 die Politik zu unterstutzen, an Wahlen teilzunehmen und ihr Legitimitat zu verleihen. Wird Vertrauen hingegen enttauscht, entsteht eine Vertrauenskrise, moglicherweise ein Vertrauensverlust." Im Bereich der Politik kann es dazu kommen, dass Personen, Institutionen, Organisationen, Prozessen oder sogar dem gesamten System das Vertrauen entzogen wird. Entstehendes Misstrauen manifestiert sich in liberalen Staaten mit Reprasentativverfassungen z.B. in Andenmgen des Wahlverhaltens: Die Wahler geben den Politikem und Parteien keinen Vertrauenskredit mehr, sie ubertragen ihren Vertrauensvorschuss auf andere Personen oder Parteien und bestellen eine andere Regierung als .Treuhanderin des Volkes"." Die Wahlen haben dabei die Funktion, den Vertrauenskredit zu verlangern oder zu entziehen." Der Wahlkampf wiederum hat seinerseits die Funktion, das Vertrauen des Elektorats, d.h. einen moglichst groBen Vertrauensvorschuss fur die nachsten Jahre, einzuwerben. Die Teilnahme an einer Wahl setzt also auch voraus, dass man zumindest einige der zur Wahl stehenden Personen bzw. Parteien des Vertrauens fur wurdig befindet. Vertrauensverluste, die sich auf Wahlaltemativen beziehen und zur Anderung von Wahlhandlungen fuhren, sind in Demokratien normal, ein Regelzustand - sie sind ein Wesenszug des demokratischen Prozesses. Werden hingegen Politiker, Parteien oder die Politik generell (pauschal) fur nicht vertrauenswurdig gehalten, wird oft der Begriff der Politikverdrossenheit ins Spiel gebracht: Entstehendes Misstrauen manifestiert sich nicht nur in bestimmten Mustern der Wahlhandlung, sondern auch in politischer Entfremdung, in Politik- und Wahlabstinenz. Wahlverweigerung ist daher auch ein Indikator fur Vertrauensverluste und Politikverdrossenheit. 33 Dieser oft schlagwortartig gebrauchte .Jvlodebegriff" umschreibt eine Krise des Institutionen- und Systemvertrauens" infolge von Vertrauensverlusten, die ihrerseits viele Ursachen haben konnen - dazu spater mehr." Die GrUnde fur Vertrauensverluste sind vielschichtig, jedoch liegen - wie die verschiedenen Beitrage dieses Buches zeigen - auch Indizien dafur vor, dass die Kommunikationsaktivitaten von Politikem selbst Einfluss auf das Vertrauen der BUrger haben: Kommunikationsmanagement muss, nicht nur in Zeiten des Wahlkampfs, auf die Verrnittlung von Ein27 28 29
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Vgl. die Ausfuhrungenam Ende von Kapitel II dieses Beitrages; Laucken 2005: 108f. Vgl. Bentele 1998. Zum Input-Output-Modell vgl. Easton 1953. Ein Beispiel fur diesen Vertrauensbildungsprozess lasst sich in der fruhen BundesrepubJik nachzeiehnen: Das Vertrauen in die Regierung Adenauer, aber auch in die Politik generell, in die Wirtsehaft, in demokratische Institutionen, in die Demokratie selbst sowie in die Mitburger wuchs in dem MaBe, in dem sich spurbare Erfolge einstellten (Vgl. dazu Abschnitt III dieses Beitrages und die Beitrage dieses Buches zu den Wahlkampfen der 1940er, 1950erund 1960erJahre). Vgl. z.B. Bentele 1988: 407; Tenscher 1998:205. Sarcinelli 2005a. Vgl. Sarcinelli 2005a; Maurer 2003: 237. Vgl. Wolling 1999: 11. Der Begriff Politikverdrossenheit meint meistens einen Vertrauensverlust gegenuber Personen, Eliten, Parteien, Institutionen und Prozessen- nieht unbedingtgegenuberdem demokratisehen System als solehem (Vgl. Kepplinger 1998). Vgl. Sarcinelli 2005a. Vgl. z.B. Kepplinger 1998; Maier 2000; Arzheimer2002; Maurer 2003.
drucken moralischer Integritat und Problemlosungskompetenz abzielen, die eigene Selbstdarstellung sowohl im Hinblick auf Personen als auch auf politische Leistungen und Erfolge bzw. Ziele und Programme im Blick haben, Responsivitat demonstrieren, die Bedurfnisse unterschiedlicher Zielgruppen beachten. AuBerdem gehoren vielfach auch Angriffe auf die Vertrauenswurdigkeit der politischen Gegner zum Portfolio der Wahlkamptkommunikation (Negative Campaigning). Zur Wahlkamptkommunikation gehort nicht nur der Aufbau eigener Vertrauenswurdigkeit, sondern auch die Unterminierung der gegnerischen. Die Moglichkeiten sind vielfaltig, meist handelt es sich urn Angriffe auf das Verhalten, den Charakter oder die Herkunft eines Gegners. Solche Angriffe sind so alt wie die Politik selbst", haben aber dureh die Existenz der modernen Massenmedien potentiell an Wirksamkeit und Reichweite zugenommen. Mehr Menschen als je zuvor konnen sich tiber das (vermeintliche) Fehlverhalten ihrer politischen Eliten via TV, Radio, Presse und Internet in Kenntnis setzen - und viele Medien sind auf skandaltrachtige, uberraschende Negativnaehrichten mit hohem Naehrichtenwert geradezu konditioniert. Zwar sind solche Versuehe, das offentliche Vertrauen in den politischen Gegner zu erschuttern, nieht in allen Situationen sinnvoll und erfolgversprechend, dennoch gehort der Angriff auf die Kompetenz, den Charakter, die Integritat oder die Hintergrunde von Gegnem zum klassischen Inventar der Wah lkamptkommunikation. 37 Neben der direkten Wahlkamptkommunikation kommt auch den Vermittlem der politisehen Kommunikation, den Medien, eine bedeutende Rolle zu - in allen Phasen des politischen Prozesses, auch und gerade im Wah lkamp f. Denn die Medien sind fur die allermeisten Menschen die einzigen Quellen der Politikbeobaehtung und tragen entscheidend zu dem Bild bei, das die Politik in den Augen der Wahler abgibt. Nur in wenigen Situationen erreicht die Selbstdarstellung der Politik die Menschen ungefiltert, ohne Umwege tiber Journalisten. Die Medien halten die wichtigsten Kommunikationskanale vor, sie allein konnen in grolserem Umfang Massenpublika erreichen, sieht man von wenigen anderen Mitteln wie der Plakatwerbung abo Dabei sind sie nieht einfaeh passive Vermittler, sondem oft auch Akteure der politischen Kommunikation. So kann der Vertrauensverlust gegenuber der Politik einerseits Folge von schIeehten Leistungsbilanzen, FehIem oder Affaren in der Politik sein, andererseits aber aueh der Berichterstattung der Medien uber die Politik. Burger entziehen Vertrauen, weil sie unzufrieden sind - und Grund fur die Unzufriedenheit konnen tatsachliche oder vermeintliche, von den Medien inszenierte oder ubertriebene Missstande sein." Generell berichten die Medien zunehmend negativer tiber Politik und Politiker und tragen damit aueh ihren Teil zu einem Klima der Unzufriedenheit, des Pessimismus und des Misstrauens bei." Der verstorbene Bundesprasident Johannes Rau merkte in diesem Kontext in seiner Berliner Rede im Jahr 2004 an: .Vieles in unserer Gesellschaft, vieles in Politik und Wirtschaft gibt wahrlich Anlass zu Kritik. Die kritische Auseinandersetzung mit Fehlern und Mangeln kann das Vertrauen starken, Es gibt aber auch in den Medien eine fatale Lust an Schwarzmalerei und klischeehafter Ubertreibung. Diese Lust fordert die Entfremdung der Burger von Politik und Staat.?"
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Vgl. z.B. Jackob 2002; 2005; vgl. auch den Beitrag von Jackob & GeiBin diesem Buch. VgJ. Plasser 1996: 97; Althaus 2002: 121-122. VgJ. Wolling 1999: 42f.; Kepplinger 1998. Vgl. Kepplinger 1998. VgI. Rau 2004.
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Gerade in modemen Massendemokratien wie der Bundesrepublik Deutschland, wo der direkte Kontakt zwischen Burgern und Parteien bzw. Kandidaten immer mehr an Bedeutung verloren hat, sind die Medien das Forum, in dem sich der Wahlkampf abspielt. Sie fungieren als Vermittler zwischen den Wahlberechtigten und der Politik - jedoch auch als Auguren, Interpretatoren oder sogar als Wahlkampfer, Durch ihre Omniprasenz, ihre Reichweite und ihre Moglichkeiten zur Darstellung von Politik haben die Medien nicht nur auf die Wahler einen entscheidenden Einfluss, sondem auch auf die Wahlkampfer, auf die Konzeption und das gesamte Management von Wahlkampfen." Die zentrale Rolle der Medien zwingt die politischen Akteure, diese immer starker in ihrem Handeln und ihrer Kommunikation einzuberechnen - die Politik orientiert sich an der Eigenlogik der Massenmedien.Y Waren fruher direkte Kommunikationsmittel wie Hausbesuche, Wahlstande, Flugzettel oder Bus- und Bahnreisen neb en offentlichen Wahlkampfauftritten die wichtigsten Methoden der Wahlwerbung, kommen in der Mediendemokratie auf die Medien zugeschnittene, neuere Methoden hinzu, wie z.B. Interviews mit Joumalisten, Home-Stories und Show-Auftritte in Unterhaltungsmedien (Stichwort Boulevardisierung)", Pressemitteilungen und -konferenzen, Diskussionsrunden und Debatten im Femsehen. Die Wahlkampfer passen ihre Kommunikationsaktivitaten an die Medien an - insbesondere an das Femsehen mit seinem Reichweitenvorteil, seinem visuellen Charakter und seinem authentischen und aktuellen Image." Stil und Formensprache des Wahlkampfes werden infolge dieser Orientierung besonders durch Visualisierung und Ernotionalisierung gepragt." In diesern Kontext spielt auch die Personalisierung von Politik eine entscheidende Rolle. Vertrauen geht zunachst nur von Personen aus, nicht von Systemen'" - urn eine Reziprozitat zwischen Vertrauensgeber und -nehmer herstellen zu konnen, versucht die Politik (z.B. Parteien oder Institutionen), Bezugspersonen aufzubauen, die als Anker fur Personalisierung fungieren konnen. Begunstigt und katalysiert wird dieses Vorgehen heute durch die Funktionsweise des Femsehens: Femsehen lebt von Visualisierung und Personen lassen sich besser visualisieren als Themen, Ideen oder Parteien.Y Durch Personalisierung reduzieren sowohl die Wahlkampfer, als auch die Medien und die Wahler die Kornplexitat von Politik." Zugleich wird mit einer Person und ihrem Image auch ein plastischeres Vertrauensobjekt zur Verfugung gestellt. Komplexitatsreduktion durch Personalisierung und Vertrauensbeziehungen entspricht dabei gleichermahen den Bedurfnissen der jeweiligen Beteiligten. Dabei ist von einem Geflecht von Wechselwirkungen zwischen politischen Akteuren, Medien und Rezipienten auszugehen, deren Erwartungen und Handlungsbedingungen auf den jeweils anderen Teil der Politikvermittlungskette zuruckwirken konnen, Die Medien haben bei der Entstehung von Vertrauen und Misstrauen innerhalb dieses Getlechts eine Schlusselrolle, Nicht zuletzt deswegen zielt Wahlkampfkommunikation heute nicht nur auf die Beeinflussung der Wahlerschaft, sondem auch auf die Beeinflussung von Journalisten ab - darauf, auch das Vertrauen der einflussreichen Medienmacher zu gewinnen. Dass dies dringend notwendig ist, zeigen empirische Befunde aus der Glaubwurdigkeitsfor-
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Vgl. DOmer& Vogt 2002b: 16; Holtz-Bacha 2002: 23. Vgl. Kepplinger 1998; Sarcinelli 2005b: 35. Vgl. Holtz-Bacha 1996: 38; Plasser 1996: 97. Vgl. Sarcinelli 1998: 288. Vgl. Moller 1999: 40. Vgl. Lewis & Weigert 1985: 975; Schweer 2003: 324; Schweer & Thies 2005: 50-55. Vgl. Holtz-Bacha 1996: 21. Vgl. Holtz-Bacha 2000: 183.
schung: Das Vertrauen der Burger in die Politik hangt u.a. davon ab, welche Medien genutzt werden, wie die Medien tiber Politik beriehten und wie glaubwurdig die Rezipienten die Darstellung der von ihnen genutzten Medien finden." Das Thema Vertrauen ist weit vielsehiehtiger als es hier im Rahmen einer kurzen Einfuhrung dargestellt werden kann - jedoch ist fur die Wahlkampfkommunikation noch eine weitere Perspektive von Bedeutung, die kurz angesprochen werden muss: Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass bestimmte Eigenschaften von Kommunikationsquellen (z.B. Politikem oder Parteien) dazu beitragen konnen, dass diese als glaub- bzw. vertrauenswurdig eingeschatzt werden und ihnen entsprechend Glauben geschenkt bzw. vertraut wird. Beide Begriffe, Glaubwurdigkeit und Vertrauen, werden in der Forschung oft in einern Atemzug genannt, eine Abgrenzung ist schwierig und an dieser Stelle nieht notwendig.i" Ob einer Partei oder einem Kandidaten vertraut wird, hangt davon ab, ob ihm Eigenschaften zugeschrieben werden konnen, die einen entsprechenden Eindruck von Vertrauenswurdigkeit begrunden konnen - es handelt sich also urn einen Attributionsprozess. Dieses Prinzip liegt dem sogenannten Quellen- oder Faktorenmodell zugrunde, das in der Kommunikationsforschung eine groBe Rolle spielt und ungeachtet verschiedener wichtiger Kritikpunkte, die einzelne Annahmen des Modells in Frage stellen", hier kurz expliziert werden muss. Bereits der griechische Philosoph und Rhetoriklehrer Aristoteles legte im vierten Jahrhundert vor Christus dar, dass es fur die Entstehung von Vertrauens- bzw. Glaubwurdigkeit einer Kommunikationsquelle von entseheidender Bedeutung ist, dass die Rezipienten dieser QueUe einen Eindruck von Weisheit, Tugend und Wohlwollen erhalren? Gelingt es demzufolge z.B. einem Politiker, den Eindruek zu vermitteln, er sei einerseits politisch fahig, andererseits moralisch integer und gelingt es ihm zugleich, ein sympathetisches Verhaltnis zwischen ihm und seinen Rezipienten zu etablieren, so wird ihm eher Vertrauen entgegengebracht. 1m 20. Jahrhundert wurde dieser Gedanke von Persuasionsforschern wie der Yale-Forschungsgruppe urn Carl 1. Hovland aufgenommen: In Experimenten wurde gezeigt, dass die Uberzeugungskraft von Botschaften auch von den Eindrucken abhangt, die die Rezipienten von den Qualifikationen, Fahigkeiten und Leistungen einer Quelle erhalten, sowie von Eindrucken von Lauterkeit, Aufrichtigkeit und Wahrhaftigkeit. Hovland und Kollegen stellten die Faktoren (wahrgenommene) Expertise und Vertrauenswurdigkeit als wichtige Einflussgrofsen heraus." Spatere Beitrage zu dieser Forschungstradition versuchten, weitere Faktoren zu identifizieren, die geeignet sind, einen vertrauenswurdigen Eindruek entstehen zu lassen: So wurde bisweilen argumentiert, dass Ahnlichkeit die Oberzeugungskraft von Personen und Botschaften steigern kann." Ebenso wie Vertrauen ein Merkmal ist, das die Beziehung zwischen Kommunikationsquelle und -rezipient charakterisiert, so ist auch Ahnlichkeit ein solches Merkmal: Es ist wahrscheinlich, dass einem Politiker, der hinsichtlich seiner Werthaltung und/oder seines sozialen Status bzw. seiner Gruppenzugehorigkeit als ahnlich wahrgenommen wird, eher Vertrauen geschenkt wird." Auch Attraktivitat und Dynamik 49
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Vgl. Wolling 1999; Maurer 2003. Vgl. Bentele 1988. Glaubwurdigkeit kann als Teilphanomen von Vertrauen begriffen werden: Vertrauen bezieht sich auf die Beziehung zwischen Bevolkerung und Politiker, Glaubwurdigkeit ist eine Eigenschaft der Politiker, die von den Wahlern zugeschrieben wird (Vgl. Bentele 1998: 305). Vgl. z.B. Kohring 2004. Vgl. Jackob 2007 [im Druck]. Vgl. Hovland & Weiss 1951; Hovland & Mandell 1952; Hovland, Janis & Kelley 1953. Vgl. Wirth 1999; Perloff 2003. Vgl. Perloff 2003: 169f.
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wurden bisweilen als Einffussgrofsen genannt: Attraktiven Kommunikatoren und solchen mit gutem Auftreten wird in bestimmten Situationen eher vertraut als anderen." GUnter Bentele nennt andere, mit den genannten verwandte, und noch weitere Faktoren, die ausschlaggebend fUr die Attribution von VertrauenswUrdigkeit sein konnen: neben Sachkompetenz und Problemlosungsfahigkeit u.a. auch Kommunikationsadaquatheit, kommunikative Konsistenz und Transparenz.Y Es ist nicht moglich und auch nicht notig, an dieser Stelle noch ausfuhrlicher auf die verschiedenen Eigenschaften einzugehen, denen nachgesagt wird, dass sie Vertrauen einflolien konnen und auch die Kritik an diesem Ansatz muss hier auBen vor bleiben. FUr die folgenden Ausfuhrungen sind die einzelnen Begriffe jedoch wichtig, sie werden bei der Betrachtung der in diesem Buch analysierten Wahlkampfe immer wieder auftauchen.
III. WahlkamptKommunikation als Vertrauenswerbung: Die Beitrage dieses Buches Bevor die Reihe der Wahlkampf-Studien dieses Buches beginnt, wird in den beiden einfuhrenden Beitragen von Harald Schoen und Thomas Roessing der Grundstein fur die folgenden Analysen gelegt. Beide Autoren gehen auf die Rahmenbedingungen von Wahlkampfen, die zentralen Eintlussfaktoren und Akteure ein und zeigen, dass sich die Wahlkampfe je nach dem unterscheiden, in welches gesellschaftliche Klima sie eingebettet sind, welche Akteurskonstellationen vorherrschen, welche Strategien, Instrumente, Medien und Adressaten von Wahlkampfkommunikation in Frage kommen bzw. verftigbar sind. Durch die unterschiedlichen Rahmenbedingungen, die von der historischen Epoche, von Gesellschaft und Kultur, von den institutionellen und prozeduralen Vorgaben des politischen, rechtlichen und medialen Systems determiniert werden, sind die Bedingungen fur den Ablauf eines Wahlkampfes und die kausalen Vertlechtungen von Gesellschaft, Politik, Kandidaten, Medien, Wahlern und Wahlausgang von Mal zu Mal verschieden. In beiden Beitragen wird mit jeweils unterschiedlichen Schwerpunkten und Herangehensweisen gezeigt, welche Faktoren bei der Analyse von Wahlkamptkommunikation und Wahlkampfgeschehen zu berucksichtigen sind. Die Autoren bieten einen Uberblick tiber die im Wahlkampf wirkenden Mechanismen, stellen grundlegende Forschungsperspektiven, Ansatze und Probleme der Wahlkampfforschung vor und bereiten durch die Strukturierung der Materie und die Sensibilisierung fur wichtige Fragen auf die Reihe der Wahlkampfstudien vor, die im Anschluss - angefiihrt von der Analyse des letzten Wahlkampfs im Kaiserreich - folgen. 1m Jahr 1912 fanden zum letzten Mal vor dem ersten Weltkrieg Wahlen zum Reichstag statt. Eine Vielzahl von Parteien stellte sich dabei zur Wahl. Die Wahlkampfe dieser Zeit, aueh der von 1912, waren gekennzeichnet von heftigen ideologischen Auseinandersetzungen und einer groben Mobilisierung der Wahlerschaft - die Wahlbeteiligung stieg von 50 Prozent der wahlberechtigten Bevolkerung zu Beginn des Reiches auf tiber 80 Prozent 1912. Zwar war das Kaiserreich keine Demokratie sondem eine Monarchie mit einer gewahlten Volksvertretung, doch spielten Wahlkampfe eine groBe Rolle: ,,(... ) Offentlichkeit besaB plebiszitar, legitimatorisch, unterstutzend oder zur Mobilisierung von Widerstand groBes Gewicht ( ... )".58 In der ersten Wahlkampfanalyse dieses Buches arbeitet Thomas Berg heraus, dass Wahlkamptkommunikation sich einer groBen Anzahl unterschiedlicher 56 57
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Vgl. Perloff 2003: 170ff. Vgl. Bentele ] 998: 308. Stober 2000: 281.
Vermittlungskanale bediente - auch der Massenmedien, genauer: der Presse. Diese hatte im Kaiserreich eine "Phase sturmischer Modemisierung'r" durchgemacht und ihre Auflage und Reichweite dramatisch vergrolsert, Der Autor zeigtjedoch, dass die Wahlkampffuhrung damals verglichen mit heute bei weitem nicht so stark auf die zeitgenossischen Massenmedien abgestellt war, die Schwerpunkte in der politischen Werbung lagen zunachst auf Plakaten und auf Wahlkampfversammlungen sowie auf Wahlaufrufen bzw. Programmen. Wahlkampfe im Kaiserreich wurden von Honoratioren- und spater auch Massenparteien gefuhrt, die Schutzenhilfe oder Gegenfeuer von Vereinen und Verbanden sowie einer Parteienpresse erhielt, wie man sie heute nicht mehr kennt, Da das politische System und die politische Entwicklung des Kaiserreiches verhinderten, dass wichtige Parteien wie die SPD in grolierem MaI3e politische Verantwortung (z.B. in der Regierung) ubernehmen konnten, konzentrierten diese ihre Wahlkampfbemuhungen auf die Mobilisation der eigenen Anhangerschaft - im Mittelpunkt aller Komrnunikationsaktivitaten stand die Vertrauenswerbung bei der eigenen Klientel. Auch so erklart sich die hohe Mobilisierung in der Wahlerschaft: Viele Wahler sprachen den tatsachlichen Machtverhaltnissen ihr Misstrauen aus, indem sie Parteien wie der SPD, die 1912 einen Erdrutsch-Sieg davontrug, ihr Vertrauen aussprachen. Vertrauenswerbung bedeutete hier zunachst, der eigenen Klientel zu zeigen, dass man fur sie einsteht, dass man ihre Wunsche und Unzufriedenheiten kraftvoll vortragt, Sicherlich spielte hier eine auf der Ahnlichkeit zwischen den Bedurfnissen und Ansichten der Anhangerschaft und ihrer politischen Vertretung beruhende Vertrauensbeziehung eine wichtige Rolle, genauer: In dem MaBe, wie die Wahler der Monarchie und/oder anderen politischen Parteien misstrauten, sprachen sie ihrer eigenen politischen Vertretung das Vertrauen aus auch und gerade dann, wenn damit kaum eine Chance auf gestalterische politische Macht verbunden war. Entsprechend polemisch und einseitig waren Wahlkampfe im Kaiserreich, Rucksichtnahmen auf andere als die eigenen (potentiellen) Anhanger waren nicht notig, Volksparteien im heutigen Sinn, die tiber ideologische Grenzen hinweg Angebote an groBe Teile des Elektorats machen, gab es nicht. So war auch die parteiliche Presse nur insofern fur die Wahlkamptkommunikation relevant, als sie von den Angehorigen des eigenen politischen Lagers gelesen wurde, kaum aber von den Gegnern. Flugblatter, Broschuren und personliche Kontakte wurden als wesentlich wirksamer eingeschatzt." Nach dem ersten Weltkrieg anderten sich die Bedingungen der Wahlkampfer: Das Kaiserreich wurde unter den Triimmern des ersten Weltkriegs begraben, eine Demokratie mit einem starken prasidialen Element trat an seine Stelle. Wie die Wahlkampfe im Kaiserreich, sind auch die Wahlkampfe in der Weimarer Republik aus kommunikationswissenschaftlicher Sicht ein weitgehend unerforschtes Feld. Dabei verdient dieses Thema auch wegen des Scheiterns der erst en deutschen Demokratie Aufmerksamkeit. Tanja Engelmann geht in ihrem Beitrag der Frage nach, welche Rolle die Presse als Instrument und Akteur von Wahlkamptkommunikation in der Weimarer Republik einnahm. Auch dieser Beitrag konzentriert sich auf einen speziellen Wahlkampf: den Wahlkampf von 1932, der wie sein Pendant von 1912 finalen Charakter hatte. In der Weimarer Republik spielte die Presse eine besondere Rolle - eine ahnliche wie in der Kaiserzeit: Zeitungen wie die Germania oder der Volkische Beobachter waren konsequent parteilich und spielten ihrerseits die Rolle von Akteuren in der Wahlkampfkommunikation. Anders als noch im Kaiserreich, wo viele
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Stober 2000: 282. Vgl. Stober 2000: 286.
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Wahlkampfe nicht oder nur wenig personalisiert waren'", und auch im Gegensatz zu den Wahlen wahrend der ersten Halfte der Weimarer Republik, bei denen eine Personalisierung so gut wie gar nicht stattgefunden hatte, ruckten 1932 politische Kandidaten zunehmend ins Blickfeld der Joumalisten. Die Autorin legt in ihrem Beitrag, der auf einer Magisterarbeit am Mainzer Institut fur Publizistik beruht'", dar, wie die Presse versuchte, auf die Wahler Einfluss zu nehmen, wie die Zeitungen argumentierten, emotionalisierten und diskreditierten. Neben vie len anderen interessanten Befunden tragt die Autorin auch Hinweise dafur zusammen, wie tiber die scharfe Personalisierung die Frage des Vertrauens diskutiert wurde: So schrieb die Germania beispielsweise, ihr unterstutzter Kandidat Bruning habe durch seine Arbeit und sein Verantwortungsbewusstsein das .Vertrauen der Massen" verdient ein Vertrauen, das sich in Massenkundgebungen in Form von groBen Sympathiebekundungen manifestiert habe. Auch der Volkische Beobachter greift zu diesem klassischen Autoritatstopos: Die Manner, welche die NSDAP ins Rennen schickt, hatten sich durch ihren Einsatz das Vertrauen der Massen verdient - gerade Hitler flogen die Sympathien der Menschen zu. Engelmann legt u.a. dar, wie die Presse die verschiedenen Kandidaten als vertrauenswurdig herauszustellen versuchte, indem sie den Wahlkampf personalisierten, die Kandidaten als Vertrauenstrager stilisierten und ihnen Eigenschaften andichteten, die fur das Entstehen eines vertrauenswurdigen Eindrucks von Bedeutung sind, wie z.B. Sympathie, Verlasslichkeit und Erfahrung. Auch die Wahlkampfe der fruhen Bundesrepublik, gerade der erste Wahlkampf 1949, standen noch im Zeichen groBer ideologischer Differenzen und heftiger Polarisierung man war den Grabenkampfen in Weimar noch naher als den vergleichsweise entideologisierten Wahlkampfen der 1990er Jahre und danach. Die Kontroversen entzundeten sich vor allem an der Wirtschafts- und AuBenpolitik. 1949 (und 1953) standen sich mit CDU und SPD zwei Wirtschaftsprogramme und zwei auBenpolitische Handlungsstrategien diametral gegenuber, die vom Kalten Krieg und den unuberbruckbaren ideologischen Blockgegensatzen der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg gepragt waren. Anette Koch-Wegener legt in ihrem Beitrag dar, wie die beiden groBen Parteien ihre Kampagne fur die erste bundesweite Wahl der Nachkriegsgeschichte konzipierten. Die Autorin zeigt, wie Ludwig Erhard und die COU die soziale Marktwirtschaft als zentrales Argument ihrer Werbekampagne fur Freiheit und "Wohlstand fur alle" einsetzten. Es wird ein pointierter Wahlkampfvor Augen gefuhrt, in dem das Schuren von Angst vor Kommunismus und Sozialismus und das Pochen auf die Altemativlosigkeit der sozialen Marktwirtschaft im Mittelpunkt standen. Man war sich seitens der Union im Klaren daruber, dass mit dem Erfolg des marktwirtschaftlichen Konzeptes auch der eigene politische Erfolg stehen oder fallen musste. Durch die Konzentration auf die Vertrauensfiguren Adenauer und Erhard konnte die Union punkten. Der Wahlausgang von 1949 bescherte der jungen Bundesrepublik entscheidende Weichenstellungen, die ausschlaggebend fur ihre weitere Geschichte waren. Waren Erhard und die soziale Marktwirtschaft bereits im Wahlkampf 1949 eine Personalunion, von der man sich erhoffte, dass sie Vertrauen einflobte und Stimmen brachte, profitierten Adenauer und die CDU schon im zweiten Bundestagswahlkampf 1953 vom wirtschaftlichen Aufschwung, dem offensichtlichen Erfolg der Erhardschen Politik. Das gewonnene Vertrauenskapital, seinerseits Resultat wirtschaftlicher Erfolge, die das Vertrauen in die Westbindung der Regierung und in ihr Konzept eines sozialen Kapitalismus starkten, trug
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Es gibtjedoch Ausnahmen - vgl, Stober 2000. Die Arbeit erschien als Buch im Bohlau-Verlag (Engelmann 2004).
zu den Wahlerfolgen von CDU und CSU im Bund bei. Dies zeigt sich auch und gerade im Wahlkampf 1953, der der COU einen imposanten Sieg einbrachte. Dabei standen Ende 1952 die Wahlumfragen noch gunstig fur die Sozialdemokratie. Denn es ging urn gewichtige politische Weichenstellungen, die die Zukunft des jungen westdeutschen Teilstaates langfristig pragen wurden. Die zentralen Themen des Wahlkampfes waren Adenauers Westbindungskurs und die .Politik der Starke", die Abwehr des Kommunismus, die Wiederbewaffnung, die Saarfrage. Alledem ubergeordnet war die Deutsche Frage, eindringlich durch den Volksaufstand am 17. Juni in der DDR vor Augen gefUhrt. Es war also ein .JieiBer" Wahlkampf im Zenit des Kalten Krieges, den Mathias Friedel in seinem Beitrag beschreibt. Der Wahlkampf zeigte einige interessante Innovationen, z.B. die Nutzung der in Deutschland noch jungen Demoskopie durch die COD. Die Wahl 1953 war nicht zuletzt auch ein Personenwahlkampf, den Adenauer klar fur sich entscheiden konnte. Adenauer wurde von weiten Teilen der Bevolkerung als erfahrener, authentischer und vertrauenswurdiger Staatsmann wahrgenommen, der selbst kompetent erschien und mit Erhard einen erfolgreichen und beliebten Wirtschaftsexperten an seiner Seite hatte. Die Wahl wurde auch deshalb so uberzeugend gewonnen, weil die Bundesburger in den vorangegangenen Jahren von einer insgesamt gunstigen wirtschaftlichen Entwicklung und innenpolitischen Stabilitat profitieren konnten. Der Autor zeigt, dass die Glaubwurdigkeit der Regierung auch durch ihren Erfolg bedingt war - Angriffe auf Adenauers Erfolgsbilanz wie Verweise auf die Armut der Menschen waren meist kontraproduktiv. Das Vertrauen in die Richtigkeit der Politik von Adenauer-Erhard wuchs in dem MaBe, in dem die Teller der Bundesburger sich fullten, in dem die Zweifel an den Alternativen zu Marktwirtschaft und Westintegration zunahmen und in dem die Reputation der jungen Republik stieg. Gerade Adenauers USA-Reise im April 1953 trug zum positiven Gesamteindruck bei, wie Hans-Jurgen Schroder in seiner anschlieBenden Analyse zeigt. Der freundliche Empfang in den Vereinigten Staaten demonstrierte augenfallig den Aufstieg des Landes: .Er knupft die Faden zur freien Welt", argumentierte ein Wahlplakat der COD. Schroder demonstriert am Beispiel der in Propagandafilmen wahlkampftaktisch inszenierten Amerikareisen Adenauers in den Jahren 1953 und 1957, die von US-amerikanischen PR-Fachleuten betreut wurden, die Bedeutung des Mediums Film fur die Wahlkampstrategie der CDU/CSU. 1m Mittelpunkt steht der Film .Ein Mann wirbt fur sein Volk" vom Sommer 1953, der eine geschickte Vertrauenswerbung darstellt - durch Visualisierung der Arbeit Adenauers und seiner Leistungen und durch intensive Personalisierung. Seine USABesuche, auch der von 1957, ebenfalls filmisch zu Wahlkampfzwecken genutzt, dienten der Bilanzierung der Erfolge Adenauers und der Inszenierung seiner Person. Schroder skizziert Adenauer als ersten Medienkanzler der Republik und demonstriert, dass eine aufbestimmte Medien - hier auf den Film - ausgerichtete Wahlkampfkommunikation kein neuartiges Phanomen ist. Vielmehr wird gezeigt, dass auch schon lange vor der sogenannten "Me.. diendemokratie" an die zeitgenossischen Medien angepasste Medieninszenierungen gang und gabe waren. Nachdem die lange Kanzlerschaft Konrad Adenauers 1963 zu Ende gegangen war, Ubemahm Ludwig Erhard das Regiment. Als Kanzler musste sich Erhard erstmals 1965 dem Vertrauenstest einer Bundestagswahl unterziehen - und auch diese Wahl stand im Zeichen der Personalisierung. In ihrem Beitrag geht Isabel Nocker neben anderen Fragen auch der Frage nach, wieso Ludwig Erhard von weiten Teilen der Bevolkerung als Vertrauensperson wahrgenommen wurde. Sie zeigt in ihrem Aufsatz, der auf ihrer Mainzer Magis23
terarbeit aus dem Jahr 1999 beruht'", dass Erhard viele Eigenschaften auf sich vereinte, die die Wahrscheinlichkeit des Vertrauensgewinns in der Offentlichkeit begunstigen: Erhards politische Leistungen und sein Image als Vater des Wirtschaftswunders in der Nachkriegszeit waren starke Argumente im Wahlkampf und fur den Wahler nachvollziebarer als die Plane und Visionen der Opposition. FUr die Vertrauenswurdigkeit Ehrhards, vor allem fur seine Wirtschaftskompetenz, standen vielfach bemuhte und im Wahlkampf eingesetzte Symbole wie die fur Wahlkampftouren genutzte Mercedes-Limousine, in der auch Konigin Elisabeth II. bei ihrem Deutschlandbesuch chauffiert wurde. Auch das Bild vom "ruhigen Schlaf" des Kanzlers wurde von seinen Wahlkamptberatern gezielt verbreitet - es transportierte Konnotationen wie Ausgeglichenheit und Sorgenfreiheit. Das eigentliche Symbol jedoch war die Zigarre, die gleich zwei Bedeutungen fur das Image Erhards hatte: Zum einen war sie ein charakteristisches Merkmal seiner offentlichen Auftritte, zum anderen war sie Ausdruck des Wohlstands und der Wirtschaftsblute - besonders im Bewusstsein derer, die den Krieg miterlebt hatten. Alle drei Symbole wurden von den Medien aufgegriffen und trugen dazu bei, dass Erhard in den Augen der BUrger wirtschaftlichen Aufstieg, staatsmannisches Auftreten und Integritat personifizierte. Die gesamte Wahlkampfkommunikation war ausgerichtet auf die Popularitat Ludwig Erhards, der der grofste Aktivposten der Kommunikation der Union war. Dabei war vor allem die Vertrauensdimension Kompetenz das entscheidende Argument, stellte Erhard sich doch dar als verlasslicher Fachmann, "als personifizierte Wirtschaftspolitik und zugleich als die Person dar, an der das wirtschaftliche Wohl und Wehe hing"." Erhard profitierte vom Renommee seines Amtes und von seinem Vertrauensvorsprung infolge seiner Leistungsbilanz: 1m Wahlkampf gelang es, einen Zusammenhang zwischen der Zufriedenheit der BUrger und den dafur politisch Verantwortlichen herzustellen. Ludwig Erhards kurze Kanzlerschaft endete mit seinem Rucktritt im Jahr 1966. Sein Nachfolger wurde Kurt Georg Kiesinger, der als Kanzler der ersten GroBen Koalition in der Bundesrepublik vorstand. Dem Kabinett Kiesinger, das bis 1969 die Geschicke des westdeutschen Teilstaates lenkte, gehorte auch der groBe Star der SPD an: Willy Brandt. Der von vielen alsPendant zum charismatischen US-Prasidenten John F. Kennedy als "deutscher Kennedy" gefeierte Sozialdemokrat trat mehrfach erfolglos als Herausforderer gegen Unionskanzler an: 1961 setzte sich der 85-jahrige Konrad Adenauer gegen Brandt und die SPO durch, 1965 der populare Ludwig Erhard. Erhards Rucktritt und die Bildung der GroBen Koalition ermoglichten Brandt, dem Berliner Landespolitiker, den Aufstieg in die politische Bundesliga. Als Vizekanzler und AuBenminister zweiter Mann im Kabinett, ging Brandt 1969 zum dritten Mal ins Rennen urn die Kanzlerschaft. Ilka Ennen beschreibt in ihrem Beitrag, dem ebenfalls eine Mainzer Magisterarbeit zugrunde liegt'", die Wahlkampfe Willy Brandts. 1m Mittelpunkt stehen die Wahlkampfe von 1969 und 1972, mit denen Brandt die Kanzlerschaft errang und verteidigte. Dabei ist die Bundestagswahl 1969 in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert, nicht nur weil sie zum Regierungswechsel und einer sozialliberalen Koalition mit Willy Brandt als Kanzler fuhrte: Der vorangegangene Wahlkampf markierte zum einen eine Zasur in den Bemuhungen der SPD, ihre Offentlichkeitsarbeit zu modernisieren, zum anderen war er auch ein ausgepragter .Jvledienwahlkampf". Dem ehemaligen Journalisten und telegenen Brandt kam zugute, dass sich das Fernsehen
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V gJ. Nocker 1999. Hentschel 1998: 87. VgI. Ennen 1996.
als Massenmedium etabliert hatte, dass die Berichterstattung der Presse tiber den Wahlkampf im Vergleich zu 1965 deutlich anstieg und dass viele Medien Brandt und die SPD favorisierten. Fur Brandts Erfolge an der Wahlume gibt es viele Grunde, einer war sicher die Wahrnehmung seiner Person in der Offentlichkeit: So kamen die Oemoskopen vom infas-Institut bereits 1961 zu dem Schluss, dass durch die offentlichen Auftritte Brandts "ein Kapital an Vertrauen und Sympathien mobilisiert'" wurde. Brandt avancierte zum Medienliebling und zum Star einer im Wandel befindlichen Medienkultur, die von Visualisierung und Personalisierung gepragt war." Standen Brandts Vorganger wie z.B. Ludwig Erhard noch fur andere Eigenschaften, etwa Kompetenz und Erfahrung, kam Brandt sein charismatisches und telegenes Auftreten zugute. Das Vertrauensverhaltnis zwischen ihm und seinen Wahlem war durchaus von affektiven Komponenten gepragt: Oem im Vergleich zu den COU-Granden jugendlichen und unverbrauchten "Willy" flogen die Sympathien der Menschen zu, er wurde als moralische und integre Personlichkeit wahrgenommen. Die Emotionalitat der Vertrauensbeziehung zwischen der ihm teilweise leidenschaftlich zugeneigten Wahlerschaft und ihrem "Willy" manifestierte sich insbesondere im hoch emotionalisierten Wahlkampf von 1972, der sogenannten "WiIly"-Wahl, die neben einer beispiellos starken Mobilisierung in Form einer hohen Wahlbeteiligung auch erstmals der SPO eine Mehrheit der Wahlerstimmen einbrachte." Konsequent setzte die SPD auf Vertrauenswerbung durch Personalisierung, Brandt wurde zum "Kanzler des Vertrauens" stilisiert. Bevor im Anschluss an die Analyse der Wahlkampfe Willy Brandts auf Helmut Kohl als Wahlkampfer naher eingegangen wird, zeichnet Hans Mathias Kepplinger in seinem Beitrag ein Bild von den Widerstanden, denen sich Politiker in ihrer Pressearbeit vor Ort konfrontiert sehen. Auf Basis einer Befragung von Kandidaten fur den Deutschen Bundestag in den Jahren 1969 bis 1983 zeigt der Autor, dass die Wahlkampfer je nach dem, welcher Partei sie angehoren, unterschiedliche Chancen haben, ihre Kommunikate (z.B. Pressemeldungen) in den Zeitungen abgedruckt zu tinden. So hatten Vertreter der Volksparteien tiber die Jahrzehnte hinweg meist bessere Chancen mit ihrer Vertrauenswerbung tiber die Presse zu den Wahlern durchzudringen als die kleiner Parteien. Es wird weiterhin dargelegt, dass nicht aile Formen von Wahlkampfkommunikation gleiche Chancen haben, in der Presse Widerhall zu finden: Dass Interviews - die personlichste, authentischste und im Sinne der Vertrauenswerbung sicherlich erstrebenswerteste Kommunikationsform - in der Presse abgedruckt werden, ist nur vergleichsweise schwierig zu erreichen. Berichte tiber Wahlkampfveranstaltungen finden hingegen leichter Berucksichtigung. AuBerdem wird gezeigt, dass der grolste Teil der KommunikationsmaBnahmen von Wahlkampfern nicht zur Offentlichkeit durchdringt, weil Journalisten nicht daruber berichten. Es wird deutlich, dass das haufig kritisierte Erscheinungsbild der Politiker in den Medien von den durch die Medien aufgerichteten Kommunikationsbarrieren mit bedingt ist, da einerseits nicht aIle bzw. nicht die intendierten Botschaften der Politiker aufgegriffen werden und andererseits bestimmte Formen der Selbstdarstellung grobere Chancen haben als andere, die eher geeignet waren, ein authentisches und damit vertrauenswilrdiges Bild zu zeichnen. Der Beitrag Kepplingers schlagt einen historischen Bogen zwischen der Zeit der ersten GroBen Koalition bis zum ersten WahlkampfHelmut Kohls in der Rolle des Bundeskanzlers.
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Zitiert nach Munkel 2005: 230. Vgl. Stem 1975: 70~ vgl. auch Wilke & Reinemann 2000. Vgl. zur .Willy-Wahl" MOiler 1997.
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Erstmals trat Helmut Kohl im Jahr 1976 bei einer Bundestagswahl an. Kohl, der Deutschland 16 Jahre lang regieren sollte und noch Hinger, gut ein Vierteljahrhundert lang, vorn Beginn der 70er bis Ende der 90er Jahre des 20. Jahrhunderts, wie kaum ein anderer Politiker die Geschichte der Bundesrepublik Deutschland und mit ihr auch die Wahlkampfe in dieser Zeit pragte, spielte in allen Bundestagswahlkampfen von 1976 bis 1998 eine entscheidende Rolle: in den Jahren 1976, 1983, 1987, 1990, 1994 und 1998 als Kanzlerkandidat, 1980 als Vorsitzender der COU und Oppositionsfuhrer im Bundestag. Auch bei der Wahl zur Volkskammer der OOR im Jahr 1990 war er aktiv und entscheidend involviert. Oementsprechend schreibt Thomas Petersen in seinem Beitrag die Wahlkampfgeschichte der 1970er, 1980er und 1990er Jahre als eine Wahlkampfgeschichte Helmut Kohls. Petersen zeigt, dass Kohls Erfolge, die er in den meisten seiner Wahlkampfe feiem konnte, durchaus als uberraschend empfunden wurden - vor allem, weil sie oft in einem auffallenden Gegensatz zu seiner phasenweise geringen Popularitat in der Bevolkerung zu stehen schienen und auch nicht der geringen Wertschatzung entsprachen, die Kohl von der Mehrzahl der fuhrenden Massenmedien entgegengebracht wurde. Petersen zeichnet anhand einer Vielzahl von Umfrageergebnissen aus dem Archiv des Instituts fur Demoskopie Allensbach den Verlauf und die Eigenheiten der Wahlkampfe 1976 bis 1998 nacho Dabei zeigt sich, dass Kohl als Wahlkampfer, wie zeitweise generell als Politiker, wahrscheinlich auch deswegen oft unterschatzt wurde, weil seine Starken auf anderen Gebieten lagen als auf denen, die zur Beurteilung einer Politikerpersonlichkeit ublicherweise betrachtet werden. So sei es Kohl nie, wie seinem Vorganger Helmut Schmidt, gelungen, sein Publikum durch die geschickte Prasentation intellektueller Brillanz zu beeindrucken, oder, wie seinem Nachfolger Gerhard Schroder, durch mitreiBende Rhetorik Zuneigung zu erzeugen. Stattdessen zeigen die Umfragedaten, dass es lange Zeit eine Art innerer, wahrscheinlich unbewusster Dbereinstimmung zwischen Kohl und weiten Teilen der Bevolkerung gegeben hat. Letztlich scheint es ein tiefes Zutrauen der Bevolkerung gegenuber Kohl gegeben zu haben, eine Vertrauensbeziehung, die von dem Eindruck gespeist war, Kohl stunde der Bevolkerung in seinen Zielen, Werten und auch personlichen Eigenschaften nahe - Kern der Vertrauensbeziehung war in erster Linie der Faktor Ahnlichkeit. Das grundlegende Zutrauen der Bevelkerung erwies sich in vielen Fallen als starker als die groflere Sympathie und offentliche Anerkennung, die vielen seiner politischen Gegner zuteil wurde. Damit erscheint das, was Kohl uber Jahrzehnte hinweg als Schwache vorgehalten wurde, seine Bodenstandigkeit, seine angebliche Provinzialitat und Unbeholfenheit, als seine wahrscheinlich grofite Starke im Wahlkampf, weil er als vertrauenswurdige Identifikationsfigur wahrgenommen wurde. In seinem letzten Wahlkampf unterlag Helmut Kohl seinem Herausforderer Gerhard Schroder. Auch Schroder setzte im Wahlkampf 1998 auf die Karte Vertrauen: Er spielte auf seine soziale Herkunft aus einfachen Verhaltnissen an und erschien damit gerade jenen als vertrauenswurdig, die selbst einen ahnlichen Hintergrund hatten. Besonders glaubwurdig erschien er immer dann, wenn er uber soziale Ausgrenzung, Bildung fur Arme - Stichwort .Zweiter Bildungsweg" - und Solidaritat sprach. Er wurde einerseits als junger, dynamischer, unverbrauchter Siegertyp inszeniert und wahrgenommen, andererseits als .vcrtrauens- und glaubwurdiger Mann von der StraBe".69 Die SPO setzte entsprechend aufVertrauenswerbung durch Personalisierung und Hervorhebung der Kandidateneigenschaften, ins-
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Webe12000: 32-34; vgl. auch MUller 1999: 260
besondere Dynamik, Ahnlichkeit und auch (Wirtschafts-)Kompetenz. Und in der Tat hatte der Faktor .Kandidat" gerade 1998 einen groBen Einfluss auf das Wahlergebnis. 70 Der Wahlkampf 1998 kann sieher als einer der am intensivsten erforschten und diskutierten der deutschen Geschichte bezeichnet werden, eine groBe Fulle an interessanter Literatur ist tiber diesen von vielen als epochal neuartig und modemisiert empfundenen Wahlkampf publiziert worden." 1m Mittelpunkt des Beitrages von Nicole Podschuweit und Stefan Dahlem und des Beitrages von Birgit Laube steht hingegen der Wahlkampf von 2002. Auch in diesem Wahlkampf setzten Schroder und die SPD ganz auf Personalisierung: Der Kanzler genoss im Vergleich zu seinem Herausforderer Edmund Stoiber (CSU) und im Vergleich zu seiner eigenen Partei hohe Sympathiewerte. Daher wurde die Wahlkampagne auf ibn zugeschnitten - mit Erfolg: Nicole Podschuweit, deren preisgekronte Magisterarbeit Grundlage des Beitrages ist 72, und Stefan Dahlem zeigen, dass die Medien einen entscheidenden Anteil an Schroders Wahlsieg hatten, weil sie die fur den Kanzler sprechenden Aspekte, seine Beliebtheit, die Sympathie und das Vertrauen der BUrger in ibn besonders intensiv thematisierten und zugleich die gegen ihn sprechenden Aspekte, vor allern die vergleichsweise schwachen Kompetenzwerte in Umfragen, vernachlassigten." Die Autoren werten den Ausgang der Wahl 2002 als Resultat einer Vertrauensentseheidung, die nicht tiber die Vertrauensdimension Kompetenz beeinflusst wurde, sondem tiber andere Dimensionen wie Ahnlichkeit, Sympathie, Dynamik und Integritat, Es zeigt sich, dass ein Wahlkampf nur mit Kompetenzargumenten schwerlich zu gewinnen ist. Weiterhin interpretieren die Autoren die starke Personalisierung des Wahlkampfes 2002 als Ausweis des Bemuhens aller involvierten Seiten, die Kornplexitat des Geschehens zu reduzieren. Sie argumentieren, dass es demzufolge Kandidateneigenschaften waren, und hier speziell die wahrgenommene Glaubwiirdigkeit Schroders, die 2002 den Ausschlag gaben: Die Sympathie und die Vertrauenswiirdigkeit des Kandidaten war von entscheidender Bedeutung fUr die Entscheidung der Wahler. Mit einem Verweis auf die Arbeiten der Yale-Forschergruppe urn Carl I. Hovland argumentieren Podschuweit und Dahlem, dass die Konzepte Vertrauen und Glaubwurdigkeit zentral fur das Verstandnis der Kommunikationswirkungen in modemen Wahlkampfen sind und die Frage naeh der Erzeugung von Glaubwiirdigkeit auf der Stimulusseite sowie der Wahrnehmung derselben auf der Rezipientenseite noch intensiver erforscht werden musse. Auf ein Charakteristikum des Wahlkampfes 2002 geht Birgit Laube in ihrem Beitrag ein: Die wiehtige Rolle der AuBenpolitik. Nieht allein die Wahrnehmung des Kandidaten Schroder spielte beim Wahlausgang eine Rolle, aueh einige Themen, die von der Dominanz der Personalisierung und Kandidateninszenierung nieht ganzlich in den Hintergrund gedrangt wurden, waren Signum des Wahlkampfes." Neben Schroders Auftritten im Kontext der Oder-Flut im Wahljahr wurde aueh sein Nein zu einem moglichen Krieg im Irak von vielen Wahlern goutiert: Die Autorin zeiehnet die Diskussionen rund urn die auBenpolitisehe Haltung der rot-grunen Regierung und speziell urn die AuBerungen Schroders im Wahlkampf nacho Es wird gezeigt, wie er das Thema Krieg irn Irak nutzte, urn bei den Wahlern zu punkten. Die Autorin geht unter anderem der Frage nach, inwieweit Annahmen 70
71
72 73
74
Vgl. z.B. Schoen 2004: 325. Vgl. z.B. Rattinger & Maier 1998; Gabriel & Brettschneider 1998; Brettschneider 1999; Noelle-Neumann, Kepplinger & Donsbach 1999; Holtz-Bacha 1999; Kaase & Klingemann 2001; Bergmann 2002. Vgl. Podschuweit 2006. Vgl. Kepplinger & Maurer 2005: 146. Vgl. auch Noelle-Neumann, Donsbach & Kepplinger 2005.
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und Umfrageergebnisse zur Haltung der Bevolkerung gegenuber einem Irak-Engagement in Deutschland eine Rolle bei Schroders Themenmanagement im Wahlkampf gespielt haben. Es liegt nahe, dass die rigorose Weigerung, sich an einem entsprechenden Einsatz zu beteiligen, dem Eindruck von Schroders VertrauenswUrdigkeit zutraglich gewesen ist: Die groBe Mehrheit der Bevolkerung lehnte ein solches Engagement ab - indem Schroder sich zum WortfUhrer dieser Ablehnung machte, brachte ihm dies Sympathie und Vertrauen ein. Die Mehrheit der BUrger fiirchtete sich vor den Konsequenzen militarischer .Abenteuer", wie Schroder es nannte, ein Irak-Krieg war aulserst unpopular und entsprechend dankbar nahmen die Wahler Schroders kategorische Ablehnung auf. Auch im vorgezogenen Wahlkampf 2005 spielte das Thema Vertrauen eine entscheidende Rolle, war es doch eine "unechte,,75 und verlorene Vertrauensfrage, die es Gerhard Schroder ermoglichte, den Bundesprasidenten urn die Ansetzung von Neuwahlen zu ersuchen. Das zentrale Argument Schroders war der Vertrauensverlust bei den eigenen Getreuen, der ihm ein ordnungsgernaties Weiterregieren unmoglich gemacht habe. Alexander Geisler und Martin Gerster - letzterer selbst Mitglied des Bundestages fur die SPD - beschreiben in ihrem Beitrag die Hintergrunde des Wahlkampfes 2005, seine Entstehung, seinen Ablauf, seine Problemlagen und sein Ergebnis. Dabei konzentrieren sie sich auf die Darstellung der Wahlkampffuhrung der SPD und veranschaulichen diese insbesondere durch den Wahlkampf in Martin Gersters Wahlkreis. Sie zeigen unter anderem, wie die SPD das Thema Vertrauen in ihrer Wahlkampfplanung implementierte, etwa in dem sie Schroders (vermeintliche) GlaubwUrdigkeit und die (vermeintliche) UnglaubwUrdigkeit der Unionskandidatin Angela Merkel in den Mittelpunkt ruckte. So argumentierte die SPD unter anderem auch mit dem klassischen Autoritatstopos des personalisierten Vertrauens, also dem Verweis darauf, dass die Menschen ihrem Kandidaten vertrauen und dass dieser wiederum in sein Land und die Menschen in Deutschland vertraut. Dieser wechselseitige Vertrauensbegriff wurde im Schlagwort "Vertrauen in Deutschland" komprimiert. In einem hoch emotionalisierten und im Stile einer Oppositionspartei gefuhrten Wahlkampf wurden wichtige politischen Fragen auf den Vertrauensbegriff verdichtet - auf die .Vertrauensfrage" wurden dieWahlkampfbemUhungen hin ausgerichtet, z.B. in Plakatserien, in denen die Kompetenz und Aufrichtigkeit von Merkel und ihren Mitstreitem in Frage gestellt wurden. Anders sah die Strategie der Union im Wahlkampf 2005 aus: Aus ihrem eigenen Scheitern in den vorherigen Bundestagswahlen zog sie im Bundestagswahlkampf 2005 die Konsequenz eines Strategiewechsels. Angesichts eines von vielen wahrgenommenen Reformstaus in wichtigen Bereichen der Innenpolitik setzen CDU und CSU auf eine Verscharfung des Reformtempos. Die Kandidatin der Union versuchte sich und ihre Partei vom Beginn der Kampagne an als Reformaltemative zu positionieren. In seiner Analyse der Strategie der Union im Wahlkampf2005 kommt Thomas Bippes zu dem Ergebnis, dass der Versuch der Vertrauenswerbung durch Offenheit und die klare Benennung von schmerzhaften Folgen und Einschnitten einer moglichen Regierungspolitik einen Beitrag zum schwachen Abschneiden von CDU und CSU leisteten. So wird einerseits der Versuch, auch unangenehme Folgen von Reformpolitik klar zu benennen, als moralisch richtig bewertet, andererseits auch daraufhingewiesen, dass ein Wahlkampf, der von den Biirgem Aufopferungsbereitschaft und Verzicht abfordert, zugleich aber kaum hoffnungsvolle Botschaften und Chancen kommuniziert, keinen Erfolg haben kann: Die Wahler mogen die Ehrlichkeit einer Partei zwar goutieren, die bereitwillig Kosten und Folgen nennt, anstatt eine rosige Zukunft 75
28
So Schroder tiber ein Vorgehen in der Zeitschrift DER SPIEGEL NT. 43 vom 23.10.2006, S. 43.
zu versprechen, das heiBt jedoch nicht, dass sie einer Partei, die durch solche Offenheit an Vertrauenswiirdigkeit gewinnt, auch am Ende ihr Vertrauen schenken. Die Lehre konnte lauten, dass man Vertrauen eben nicht nur durch Kompetenz, Offenheit, Ehrlichkeit und Konsistenz zwischen Aussage und Handlung erwirbt, sondem auch durch Einfuhlungsvermogen, emotionale Ansprache, Sympathien, Rucksichtnahmen auf die Bedurfnisse der Wahler. Vertrauensentscheidungen sind nicht einfach Produkt rationalen Kalkuls und von Kompetenzabschatzungen, sondern werden stark von emotionalen Obertonen uberlagert. Der Union, die vor der Wahl lange als klare Siegerin, ja - wie der Autor zeigt - bereits als Regierungspartei gehandelt wurde, gelang es nur knapp, starkste Fraktion im Deutschen Bundestag zu werden. Bippes diagnostiziert ein Vermittlungs-, Argumentations- und Vertrauensproblem als Ursache fur das Abschneiden der Union. Mit den Beitragen zum Bundestagswahlkampf 2005 endet die Reihe der Studien zu Wahlkampfen in Deutschland. Die vorangegangenen kurzen Zusammenfassungen im Kontext des Leitmotivs Wahlkampfkommunikation als Vertrauenswerbung geben neben Informationen tiber den Inhalt des Buches auch Aufschluss uber verschiedene Aspekte der Bedeutung des Vertrauens in Wahlkampfen, wie sie in den letzten Jahrzehnten in Deutschland stattgefunden haben. Doch ist der Wahlkampfkeine Innovation der Modeme - schon in der Antike waren Wahlkampfe im Rahmen von Amtsbewerbungen ublich, In den Texten antiker Autoren wie z.B. Marcus Tullius Ciceros finden sich viele Hinweise zur Funktion, Gestaltung und Wirkung von Wahlkampfen." In ihrem Beitrag - dem ersten von drei Exkursen in angrenzende Gebiete der Wahlkampfforschung - zeigen Nikolaus Jackob und Stefan Geij3, dass in Rom eine diffizile Vertrauensbeziehung zwischen Yolk und Elite existierte: Die mehrheitlich aus Aristokraten bestehende Fuhrungsriege verwies im Wahlkampf auf ihre uberlegene Bildung und Erfahrung sowie auf ihre politischen Erfolge in der Staatsfiihrung. Zugleich berucksichtigte sie die Wunsche der Bevolkerung und zeigte soziale Konformitat durch die Einhaltung oder Ubererfullung von konsensuell geteilten Normen. Auf diese Weise wurde sowohl der Eindruck von Kompetenz als auch der Eindruck von Integritat vermittelt. 1m Mittelpunkt standen neb en manifesten politischen oder militarischen Erfolgen auch Gesten von Wohltatigkeit und die unentwegte Demonstrationen von Normkonformitat und Exzellenz. Die BUrger ihrerseits erkannten die Fuhrungsrolle der politischen Elite an und bestatigten die jeweiligen Fuhrungskonstellationen im Rahmen von Wahlen und Abstimmungen, solange die Eliten das in sie gesetzte Vertrauen rechtfertigten. Dieses Vertrauen hatte durchaus im Sinne Luhmanns die Funktion der Komplexitatsreduktion, war doch der allergrofite Teil der Bevolkerung nicht dazu in der Lage, aktiv an Politik zu partizipieren, sich eine Meinung zu komplexeren Sachfragen zu bilden und Teil eines politischen Diskurses zu seine Anstatt tiber Sachfragen urteilte man tiber Personen. Die Personlichkeit eines Kandidaten, seine Herkunft und seine Erfolge dienten als Urteilsheuristiken fur das Elektorat. Die politische Elite appellierte an das Vertrauen der Wahler, die ihrerseits sowohl der Elite als Kollektiv als auch den Kandidaten als Exponenten einer Wertordnung und farniliaren Tradition vertrauten. Die Autoren zeigen in ihrem Beitrag, dass die Wahler nach ihrem personlichen Vertrauen in die Fahigkeiten und den Charakter der Kandidaten ihre Wahl trafen. Nicht politische Sachargumente, sondem Hinweise auf Charakter, Normkonformitat, Leistungsfahigkeit und die Integration der einzelnen Mitglieder der Fiihrungsschicht in das Kollektiv waren die Wahrung, in der in Rom Vertrauen gehandelt wurde. Damit zeigen die Autoren auch, dass Vertrauenswerbung durch Persona76
VgI. Jackob 2002~ Jackob 2005.
29
lisierung kein neuartiges Phanomen ist - wie in modernen, bisweilen mythisierenden Analysen unterstellt -, sondern so alt wie Wahlkampfe generell. Mit Mythen der Wahlkampfforschung setzen sich auch Marcus Maurer und Carsten Reinemann in ihrem Beitrag, dem zweiten Exkurs dieses Buches, auseinander. Ihre Analyse schildert die Geschichte der Femsehdebatten in den USA, Deutschland und anderen Landem aus wissenschaftlicher Sicht. Im Mittelpunkt stehen Fragen wie: In welchen Landern gibt es Femsehdebatten? Welche Formate kann man unterscheiden? Wie haben sich die Femsehdebatten seit 1960 verandert? Die Autoren entlarven viele bei Joumalisten, Politikern und Wahlem verbreitete Vorstellungen tiber die Wirkungen von Femsehdebatten als Mythen. So zeigen sie z.B., dass TV-Duelie nicht durch AuBerlichkeiten entschieden werden, sondem dass es vielmehr darauf ankommt, was die Kandidaten sagen und wie geschickt sie es formulieren - auch in dieser Hinsicht zeigt sich, dass die Art und Weise, wie Wahlkampfkommunikation, hier in Form der TV-Duelle, gestaltet wird, Einfluss auf die Wahmehmung von Vertrauenswurdigkeit und folglich auf die Vertrauensbeziehung zwischen Rezipient bzw. Wahler und Kommunikator bzw. Wahlkampfer hat. Im Kontext der bisher diskutierten Fragestellung sticht vor allem der Befund heraus, dass die Rezipienten von TV-Duellen sich nicht in erster Linie - wie oft postuliert - von nonverbalen Eigenschaften des Auftritts der Kandidaten beeinflussen lassen, sondem sehr wohl auch auf die Oberzeugungskraft der Argumente achten. Interessant ist weiterhin, dass vor allem solche Argumente als uberzeugend wahrgenommen werden, die allgemein und .zustimmungspflichtig" sind, also in erster Linie die schon in der klassischen Rhetorik beliebten und als wirksam bekannten Gemeinplatze." Diese sind deshalb geeignet, Zustimmung zu erzeugen und Vertrauen zu wecken, weil sie an weithin verbreitete und akzeptierte Einstellungen, Vorstellungen und Normen anknUpfen. Wer sich durch den Appell an diese konsensuell geteilten Grundhaltungen als normkonform und damit auch als ahnlich in Hinsicht auf die geteilten Werte erweist, erweckt Vertrauen und sammelt Punkte bei den Rezipienten. 1m dritten und letzten Exkurs schlieBlich beschaftigt sich Tilo Hartmann mit dem Nutzen von Weblogs in der Wahlkamptkommunikation, mit ihren Einsatzmoglichkeiten und Beschrankungen. Auf Basis der Feststellung, dass sich die sogenannten Blogs besonders gut fur personalisierte Politkampagnen eignen, legt der Autor dar, welche kommunikativen Strategien in Blogs zur Anwendung kommen konnen, Hartmann zeigt, dass die oftmals tagebuchartigen Blogs von Politikem in erster Linie auf Charaktereigenschaften von Personen - wie Fuhrungsstarke, Solidaritat, Humanitat, Integritat - rekurrieren und vor allem deshalb als Instrumente der vertrauensbildenden Wahlkampfkommunikation geeignet sind, wei! sie durch die personliche Ansprache des Autors Authentizitat vermitteln, weil sie Reziprozitat durch interpersonale Austauschmoglichkeiten etablieren und wei! sie eine halbprivate Atmosphare entstehen lassen, die eine naturlichere, weniger artifizielle Vermittlung von personalisierten Wahlkampfbotschaften ermoglicht, Dazu gehort auch, dass die Leser von Blogs mit privaten Informationen tiber Politiker versorgt werden, was sowohl Sympathie entstehen lassen kann, als auch jenen Wahlern eine Urteilsbasis bietet, denen personliche Eindrucke (z.B. infolge eigner Werthaltungen) besonders wichtig sind. So werden z.B. Anekdoten aus der personlichen Vergangenheit von Politikem erzahlt, es werden die Ehepartner und Kinder werbewirksam in Szene gesetzt, es wird Burgernahe demonstriert und somit dem Eindruck elitarer Abgehobenheit entgegengewirkt. Dabei gilt die alte Regel der Persuasionsforschung, die schon von Aristoteles in seiner Rhetorik formuliert 77
30
Vgl. z.B. BuBmann 2003.
wurde, dass je authentischer ein Politiker wahrgenommen wird, desto eher Vertrauen geschenkt wird." Hartmann zufolge eignen sich Blogs in hervorragender Weise dazu, ein Image von Glaubwurdigkeit und damit Vertrauen entstehen zu lassen. Der Beitrag und das Such insgesamt schlieBen mit einem Katalog von Handlungsempfehlungen zum vertrauensbildenden Einsatz von Weblogs in Wahlkamptkampagnen. Es zeigt sich, dass auch neuere Methoden der Wahlkampfkommunikation im Zeichen der Vertrauenswerbung stehen und dass auch die Wahlkampfe des 21. Jahrhunderts sehr von dem Aspekt des Vertrauens und seinen Implikationen gepragt sein werden. Die Suche nach maI3geschneiderten, zielgruppenspezifischen, authentischen und flexiblen Kommunikationsinstrumenten, die sich zur Vermittlung glaub- und vertrauenswurdiger Politik- und Politikereindrucke eignen, legt ein beredtes Zeugnis dafiir abo
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Ein Wahlkampf ist ein Wahlkampf ist ein Wahlkampf? Anmerkungen zu Konzepten und Problemen der Wahlkampfforschung Von Harald Schoen
1.
Einleitung
Der Bundestagswahlkampf 2005 hatte keine gute Presse, So sahen ihn manche Beobachter in der Sehlussphase zu einer Schlammschlacht geraten.' Politiker bezichtigten sich gegenseitig der LUge, wie auch loumalisten manche Halb- und Unwahrheiten auszumachen meinten. Nicht zuletzt Gerhard Schroder habe vor der Wahl am 18. September 2005 ein "Spektakel virtuoser Weltflucht'" geboten. Nach diesen Eindrucken zu urteilen, scheint die Kampagne 2005 den Blick der Wahlberechtigten auf die Realitat eher vemebelt und nicht zu politisch aufgeklarten Entscheidungen beigetragen zu haben. Freilich ist der Wahlkampf 2005 nieht die erste Kampagne, uber die dieses Verdikt gesprochen wurde. Denn an Wahlkampfen wurde seit jeher in vielen Landern kritisiert, sie seien zu inhaltsleeren Spektakeln verkommen, die es den Wahlberechtigten eher erschwerten als erleichterten, eine Entscheidung im Sinne ihrer wohlverstandenen Interessen zu treffen.' Darf man daraus schlieBen, dass sich Wahlkampfe nicht geandert haben? Sollte die offentliche Kritik an der Wahlkampffiihrung ohne jegliche Wirkung auf die Kampagnen geblieben sein? Haben sie sich gewandelt, ohne dass dies das Urteil der Offentlichkeit beeinflusst hat? Oder haben die Kritiker von vomherein nicht richtig hingesehen? Antworten auf diese Fragen sind von der empirisehen Wahlkampfforschung zu erwarten. Wie andere Zweige der empirischen Sozialforschung verfolgt sie verschiedene Zielsetzungen. Sie strebt danach, einzelne Wahlkampfe zu beschreiben und verschiedene Wahlkampfe zu vergleichen. Einen Schritt weiter gehen Arbeiten, die fragen, aus welchen Grunden eine Kampagne so gefiihrt wurde, wie sie gefuhrt wurde. Eine andere Kausalrichtung betrachten Analysen, die untersuchen, welche Wirkungen von Wahlkampfen ausge . . hen. Dieser Zweig der Wirkungsforschung ist relativ weit fortentwickelt. 1m Vergleich dazu weist die Forschung in den zuvor genannten Hinsichten erhebliche LUcken auf." Dies mag insofem uberraschen, als es dabei zum Teil urn deskriptive und vergleichende Fragen ohne kausal-analytischen Anspruch geht, die einfacher zu beantworten sind als Wirkungsfragen. Allerdings konnte das Defizit auch darauf hindeuten, dass bei der Bearbeitung dieser Fragen spezifische Probleme auftreten.
Vgl. Spiegel Online 2005. Poschardt 2005: 44. VgI. etwa Perloff 1999; siehe etwa Honemann & Moors 1994; Huh 1996. Siehe etwa Schoen 2005.
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Vor diesem Hintergrund verfolgt der vorliegende Beitrag nicht das Ziel, Wahlkampfe empirisch zu analysieren. Statt dessen sollen grundsatzliche Fragen der Wahlkampfanalyse diskutiert werden. Zunachst soil die fur jede Analyse fundamentale Frage nach der Abgrenzung von Wahlkampfen behandeIt werden. AnschlieBend werden Kriterien fur die Analyse von Wahlkampfen formuliert. Daraufhin wird die Erklarung von Veranderungen in der Wahlkampfflihrung diskutiert, ehe der Beitrag mit einem kurzen Resumee schlieBt. 2.
Zur Abgrenzung von Wahlkampfen
Jede empirische Analyse von Wahlkampagnen muB zunachst klaren, was ein Wahlkampf ist, urn entscheiden zu konnen, welche Ausschnitte aus der Realitat untersucht werden soIlen. Weitgehend unstrittig ist, dass in Wahlkampfen politische Eliteakteure Botschaften an die Wahlberechtigten heranzutragen versuchen, urn damit ein moglichst gutes Wahlergebnis zu erzielen. Wahlkampffiihrung ist somit politische Kommunikation. Von alltaglicher politischer Kommunikation unterscheidet sich Wahlkamptkommunikation darin, dass die Zielsetzung, bei einer bevorstehenden Wahl ein moglichst gutes Ergebnis zu erzielen, eindeutig in den Vordergrund tritt. 5 Diese abstrakte Definition durfte kaum auf Widerspruch stoBen, doch ist damit nicht gesagt, dass die Abgrenzung von Wahlkampfen problemlos sei und in jedem Einzelfall Konsens daruber herrsche. 1m Lichte der obigen Definition erscheint es fragwurdig, zur zeitlichen Eingrenzung von Wahlkampfen ohne weiteres auf von politischen Akteuren formulierte Daten zuruckzugreifen." In dieser Lesart markiert beispielsweise die Parlamentsauflosung den Beginn britischer Wahlkampfe, amerikanische Prasidentschaftswahlkampfe setzen nach den Nominierungsparteitagen ein, und Bundestagswahlkampfe fangen mit der Ausrufung des Wahlkampfes durch die Parteien an. Diese Abgrenzungen sind fur Forscher einfach vorzunehmen, doch bleibt zu fragen, ob sie geeignet sind: Ist der offizielle Wahlkampfstart tatsachlich der Zeitpunkt, an dem "die Parteien von der allgemeinen Werbung fur ihre politisehen Ziele dazu ubergehen, ihre Tatigkeit und ihre Energien fast ausschlieBlich auf den Kampf urn die Stimmen der Wahlberechtigten zu richten"?" Da Parteien und Kandidaten durchaus bereits vorher mit Blick auf den Wahltag werben konnen, ist es nieht angebracht, in Wahlkampfanalysen den Kampagnenbeginn ungepruft auf die von politischen Akteuren angegebenen Termine festzulegen. Vielmehr sollten Forseher eigenstandig eine inhaltlich begrundete Entscheidung treffen. Diese Vorgehensweise fuhrt nieht nur zu besser geeigneten Abgrenzungen, sondem eroffnet auch neue Forschungsperspektiven. So erlaubt sie es zu untersuehen, inwieweit der offizielle Beginn mit dem tatsachlichen Wahlkampfstart zusammenfallt, wie das Verhaltnis beider Termine zwischen verschiedenen politisehen Systemen und tiber die Zeit variiert. Beispielsweise spricht die These, wir erlebten die Entwicklung hin zu einer "permanent campaign'", dafiir, dass offizielle und empirische Termine des Wahlkampfbeginns auseinanderfallen und diese Diskrepanz im Zeitverlauf'wachst. Geht man von einer inhaltlichen Abgrenzung aus, ist zu klaren, welche Handlungen in einem konkreten Fall als Wahlkampf zu gelten haben. Diese Frage ist aus dem Alltag in Vorwahlzeiten wohlbekannt. So argumentieren politische Beobachter haufig, bestimmte Handlungen politischer Akteure lieBen sich damit erklaren, dass diese Wahlkampf fUhrten. Vgl. etwa Schmitt-Beck & Pfetsch 1994; Schmitt-Beck & Farrell 2002. Vgl. etwa Bowler & Farrell] 992: ]0-] 1. Hirsch-Weber & Schutz] 957: 3. Blumenthal 1982.
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Gelegentlich wird die Abgrenzungsfrage auch zum Gegenstand rechtlicher Auseinandersetzungen, in denen es darum geht, ob eine staatliche und daher der Neutralitat verpflichtete Stelle mit ihrem Handeln zugunsten einer Seite in den Wahlkampf eingegriffen habe, etwa indem das Bundespresseamt Publikationen verbreitet oder Anzeigen schaltet, die fur eine Seite im politischen Wettbewerb Partei ergreifen. Das Bundesverfassungsgericht hat in einem Grundsatzurteil aus dem Jahr 1977 den Zeitpunkt und die "reklamehafte Aufmachung" als Kriterien formuliert." Daran schlieBt sich unmittelbar die Frage an, wann eine Aufmachung als "reklamehaft" zu gelten hat. Damit ist eine Bewertungsfrage aufgeworfen, die kaum einhellig beantwortet werden kann. Ganz ahnlich verhalt es sich mit unserer Frage, ob eine bestimmte Handlung eines politischen Akteurs als Wahlkampf zu interpretieren ist oder nicht. Aus diesen Uberlegungen folgt zunachst, dass man in der Forschung nicht selbstverstandlich von einheitlichen Abgrenzungen von Wahlkampfen ausgehen kann. Gleichwohl sollte man aus dem Gesagten kein Pladoyer fur definitorische Willkur im Geiste eines postmodernen "anything goes" ableiten. Denn auch wenn es nicht immer die eine unstrittige Losung gibt, schlieBt das keineswegs aus, dass fur bestimmte Problemstellungen manche Abgrenzung besser und manche schlechter geeignet ist. Beispielsweise durfte die Nominierung der Spitzenkandidaten als zeitliche Abgrenzung fur eine Analyse geeignet sein, die sich auf diese Akteure konzentriert, nicht unbedingt jedoch fur eine Untersuchung zu medialen Vermittlungsstrategien. Foiglich spricht einiges dafur, die scheinbar triviale Frage nach der Abgrenzung von Wahlkampfen sorgfaltiger zu behandeln, als es auf den ersten Blick erforderlich scheinen mag. 3.
Zur systematischen Analyse von Wahlkampagnen
An der Wahlkampfkommunikation sind wie an alltaglicher politischer Kommunikation drei Akteursgruppen beteiligt: politische Akteure, Medien und die (wahlberechtigte) Bevolkerung. 10 Ihnen fallen unterschiedliche Rollen zu. Kandidaten und Parteieliten initiieren in der Hauptsache Wahlkampfkommunikation, die an die (wahlberechtigte) Bevolkerung gerichtet ist und von dieser mehr oder weniger intensiv rezipiert wird. Die Massenmedien spielen eine wesentliche Rolle in der Wahlkampfkommunikation als Vermittler zwischen Eliten und Bevolkerung, da direkte Kommunikation zwischen diesen beiden Gruppen eher selten ist. Vor diesem Hintergrund empfiehlt es sich, die politischen Akteure und ihre Handlungen in das Zentrum einer Untersuchung zu rucken, wenn man sich fur die Wahlkampffuhrung interessiert. Selbst wenn der Untersuchungsgegenstand soweit eingegrenzt ist, sind Wahlkampagnen ausgesprochen facettenreiche Ketten von Ereignissen.!' Beschreibungen, Vergleiche und kausal-analytische Analysen von Wahlkampfen setzen daher Kriterien voraus, die es erlauben, fur eine Untersuchung relevante von irrelevanten Sachverhalten zu unterscheiden und die Beobachtungen zu ordnen. Sie ergeben sich aus der jeweiligen Problemperspektive, was fur Kriterienpluralitat spricht. So durfte aus linguistischer Perspektive anderes relevant sein als vom Standpunkt der Gender-Forschung aus. Aus Sicht der politischen Kommunikationsforschung erscheinen drei Dimensionen als besonders wichtig: die inhaltliche Gestal-
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BVerfGE 44, 125. Vgl. etwa Schmitt-Beck & Pfetsch 1994. Vgl. Hillygus & Jackman 2003: 584.
tung, die Kommunikationsstrategien sowie die strukturell-organisatorische Dimension. Sie sollen nun an Beispielen genauer erlautert werden. 12 In inhaltlicher Hinsicht lassen sich Kampagnen etwa danach unterscheiden, ob sie bestimmte Gesichtspunkte betonen oder unterdrucken, urn damit einen Eintluss darauf zu nehmen, worUber die Wahlberechtigten nachdenken und welche Kriterien sie anlegen, wenn sie ihre Wahlentscheidung treffen." Beispielsweise durfte eine Partei mit einem popularen Spitzenkandidaten dessen Person in den Vordergrund rucken, Ein geradezu klassisches Beispiel dafur lieferte der Bundestagswahlkampf 2002, den der SPD-Kandidat unter das Motto .Er oder ich?" stellte. Wahlkampfer konnen auch Themen hervorzuheben oder zu unterdrucken versuchen. Dabei besteht ein Anreiz, diejenigen Themen zu betonen, bei denen sie in der Bevolkerung als besonders kompetent gelten." Beispielsweise haben die Grunen einen Anreiz, in Wahlkampfen Umweltthemen in den Vordergrund zu riicken. Denn etliche Personen, die diese Partei nicht ohnehin wahlen wollen, halten sie auf diesem Gebiet flir kompetent und konnten sich daher fur sie entscheiden, wenn sie bei der Stimmabgabe den Eindruck hatten, es gelte, fur die umweltpolitisch kompetenteste Partei zu votieren. Die Unionsparteien gelten hingegen nur wenigen Burgem als umweltpolitisch kompetent, weshalb sie einen Anreiz haben, von diesem Thema abzulenken. Kampagnen enthalten zudem wertende Aussagen. Kampagnen konnen darauf abzielen, die eigene Seite positiv darzustellen oder andere Parteien und deren Kandidaten in ein schlechtes Licht zu rucken, Beispiele fur dieses negative campaigning" sind in vielen Wahlkampfen zu finden." So titulierten Politiker der Unionsparteien vor der Wahl 1961 den SPD-Spitzenkandidaten "Brandt alias Frahm", urn dessen Reputation zu schadigen. 1m Bundestagswahlkampf 2005 verwendete die SPD einige Energie darauf, die Plane der Unionsparteien anzugreifen und den als kunftigen Finanzminister vorgesehenen Paul Kirchhof politisch und durchaus auch personlich zu verunglimpfen. Indem sie positive oder negative Wertungen verwenden, zielen Wahlkampfer nicht darauf ab, die Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte zu lenken, sondern die Einstellungen zu Parteien oder Kandidaten in eine bestimmte Richtung zu verandem, Gerade, aber nicht nur mit Blick auf kandidatenbezogene Wahlkampfaussagen kann man weiter danach unterscheiden, ob auf politische Gesichtspunkte im engeren Sinn eingegangen oder auf unpolitische Faktoren Bezug genommen wird. 1m ersten Fall wurde beispielsweise darauf hingewiesen, welcher Partei ein Kandidat angehort, wie politisch erfahren er ist und welche Sachkompetenz er besitzt. 1m zweiten Fall wurden dagegen seine physische Attraktivitat oder sein Privatleben in den Vordergrund geruckt, so dass man von einer Privatisierung des Wahlkampfes sprechen konnte. 17 Einen zweiten wichtigen Aspekt der Kampagnenfiihrung stellen die Kommunikationsstrategien dar, die verwendet werden, urn inhaltliche Aussagen zu transportieren. Eine wichtige Unterscheidung bezieht sich dabei auf die eingesetzten Medien. Wahlkampfer konnen mit Wahlberechtigten direkt kommunizieren, beispielsweise in Fulsgangerzonen
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Siehe weiterfuhrend Schoen 2005. Siehe etwa Zaller 1992. Siehe Petrocik 1996. Von manchen Autoren wird die Bezeichnung "negative campaigning" nur fur personliche Angriffe auf Politiker verwendet und nicht fur aIle negativen Bewertungen des politischen Gegners. Siehe etwa Holtz-Bacha 2001. Siehe etwa Brettschneider 2002.
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Passanten ansprechen oder Wahlberechtigte zu Hause besuchen oder anrufen. Kampagnen konnen auch (Massen-)Medien einsetzen, wobei zwei Strategien zu unterscheiden sind. Paid media zeichnen sich dadurch aus, dass Wahlkampfer fur die Nutzung eines Mediums bezahlen und daher alleine tiber den Inhalt entscheiden konnen, den das Medium ubermittelt und der die Rezipienten erreichen soil. Gleichzeitig ist in der Regel leicht erkennbar, dass es sich urn Werbung eines Kandidaten oder einer Partei handelt. Der offensichtlich parteiliche Charakter kann Zweifel an der Glaubwurdigkeit des Inhalts wecken, weshalb diese Werbemittel nicht immer die beabsichtigte Wirkung erzielen. Zu diesen Formen bezahlter Werbung gehoren etwa Zeitungsanzeigen, Wahlkampfzeitungen, Plakate, Postwurfsendungen und Wahlerbriefe. Die Erfindung der elektronischen Medien hat das Arsenal urn Spots in Horfunk und Fernsehen erweitert. Mit der Entwicklung des Internet und der Mobiltelefone sind als weitere Werbemittel etwa Intemetauftritte, E-Mails und SMS hinzugekommen. Mit einer free media-Strategie versuchen Wahlkampfer, ihre Botschaften und Aktivitaten zum Gegenstand der regularen Medienberichterstattung zu machen und damit Massenmedien zu kostenlosen Werbetragern umzufunktionieren. Fur Wahlkampfer ist dies aus verschiedenen Grunden attraktiv. Zum einen ermoglicht es diese Strategie, mit minimalem Aufwand ein riesiges Publikum zu erreichen. So bringen in Bundestagswahlkampfen Parteien rnanches Plakat ausschlieBlich vor ihrer Parteizentrale an und setzen darauf, dass es einen groBen Teil der BUrger tiber die Medienberichterstattung erreichen werde. Zum anderen durfte die Medienberichterstattung bei den Wahlberechtigten als relativ unparteilich gelten und daher vergleichsweise groBe Chancen besitzen, Stirnmberechtigte irn intendierten Sinn zu beeinflussen. Allerdings ist nicht garantiert, dass Medien einem Ereignis tiberhaupt Aufmerksarnkeit schenken und Wahlkampfbotschaften unverandert verbreiten. Denn tiber Inhalt und Tenor der Berichterstattung entscheiden Journalisten, und zwar nach Kriterien, die nicht erwarten lassen, dass politische Ereignisse zwingend mediale Resonanz finden und Kampagnenbotschaften ungefiltert transportiert werden. Urn die Hurden der free media zu uberwinden, suchen politische Akteure bei der WahlkampffUhrung und der Medienarbeitjoumalistische Entscheidungskriterien zu berucksichtigen. Sie stellen beispielsweise Informationsmaterial - seien es Pressemitteilungen, seien es Audioberichte - zur Verfiigung, das journalistischen Anspruchen genugt und daher Chancen besitzt, unverandert in die Berichterstattung ubemcrnrnen zu werden. Auch achten politische Akteure darauf, knappe und pragnante Aussagen zu formulieren, die auch in kurzen Berichten leicht im Originalton eingespielt werden konnen. Sie gestalten zudem Wahlkampfereignisse so, dass sie fur Medien berichtenswert sind. Man denke etwa an Wahlparteitage von Parteien, die geradezu als Kronungsmessen inszeniert werden. Es werden aber auch kunstliche Ereignisse, sogenannte Pseudo-Events 18, arrangiert, urn in die Medienberichterstattung zu gelangen. Dazu gehoren etwa Einweihungen von Autobahnen oder Betrieben, aber auch manche Auslandsreise von Politikem in Wahlkampfzeiten. SchlieBlich passen sich politische Akteure auch insofern medialen Imperativen an, als sie etwa in unpolitischen, aber publikumswirksamen Talkshows auftreten. Die dritte Analysedimension bezieht sich auf die organisatorische Seite der Wahlkampffiihrung. Beispielsweise ist zu fragen, ob auf die Kampagnenftihrung spezialisierte Krafte beschaftigt oder sogar eigene Wahlkampfstabe eingerichtet werden. Werden externe Spezialisten konsultiert? Wird eine landesweite Kampagne zentral gesteuert? Sind Einhei18
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Vgl. Boorstin 1961: 11.
ten zur Gegnerbeobachtung, zur Beobachtung der offentlichen Meinung und zur Ermittlung wichtiger Zielgruppen in der Bevolkerung ausdifferenziert? Werden Wahlkampfinstrumente vor ihrem Einsatz mit geeigneten Methoden auf ihre Wirksamkeit untersucht? Oder wird auf professionelle Krafte, organisatorische Ausdifferenzierung und wissenschaftliche Methoden verzichtet? Die drei dargestellten Dimensionen sind konzeptionell unabhangig voneinander. So sagt beispielsweise der Einsatz hauptamtlicher Krafte nichts tiber die inhaltliche Ausrichtung einer Kampagne oder daruber aus, inwieweit eine paid media-Strategie eingesetzt wird. Indem man die drei Dimensionen kombiniert, kann man ein Raster entwickeln, mit dessen Hilfe sich jede Wahlkampagne systematisch analysieren lasst. Es kann auch als Grundlage fur vergleichende Analysen dienen. Sie konnen Kampagnen verschiedener Parteien vor einer Wahl, aber auch Kampagnen einer Partei bei Wahlen auf unterschiedlichen staatlichen Ebenen zum Gegenstand haben. Ebenso konnen Wahlkampfe in verschiedenen politischen Systemen miteinander verglichen werden. SchlieBlich konnen intertemporale Vergleiche von Wahlkampfen angestellt werden, die es ermoglichen konnen, Entwicklungstrends in der KampagnenfUhrung herauszuarbeiten. 19 4.
Zur Erklarung von Veranderungen in der Wahlkampffiihrung
Eine zeitliche Entwicklung nachzuzeichnen bedeutet nicht, sie zu erklaren, Urn dies zu leisten, ist es erforderlich, methodisch stichhaltig Ursache-Wirkungsbeziehungen nachzuweisen. Man muB also zeigen, dass Faktoren, die der Wahlkampffiihrung zeitlich vorgelagert sind und theoretisch auf diese wirken sollten, empirisch mit ihr zusammenhangen, An dieser Stelle solI keine empirische Analyse zu Bestimmungsgroben der Wahlkampffiihrung durchgefiihrt werden. Ziel ist es vielmehr, das Problem theoretisch zu diskutieren. Ober die Kampagnenfiihrung entscheiden politische Akteure. 1m Zentrum von Erklarungen fur die Wahlkampffuhrung und deren Wandel sollten daher sie und ihr Entscheidungsverhalten stehen. Urn mit einem solchen akteurszentrierten Modell Erklarungen zu entwickeln, kann man zunachst einige vereinfachende Annahmen treffen.i" In der Forschung wird haufig (implizit) angenommen, dass Parteieliten und Kandidaten das Ziel verfolgen, unter den gegebenen Bedingungen bei der bevorstehenden Wahl ein moglichst gutes Ergebnis zu erzielen. Weiterhin wird davon ausgegangen, dass die Akteure wohlinformiert sind und zweckrational handeln: Sie nehmen die Umwelt zutreffend wahr, wissen, welche Instrumente wie geeignet sind, bestimmte Effekte zu erzielen, und setzen daher die Instrumente ein, die am effizientesten dazu beitragen, das Wahlziel zu erreichen. Soweit diese Bedingungen, die dem Menschenbild des homo oeconomicus entnommen sind", tiber die Zeit hinweg stabil gelten, lassen sich Veranderungen in der Wahlkampffiihrung auf veranderte aulsere Bedingungen zuruckfuhren, unter denen Eliteakteure Kampagnenentscheidungen treffen.f
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Siehe dazu beispielsweise Hetterich 2000~ Norris 2000~ Wagner 2005. Siehe etwa Rose 1967; Smith 1986; Jacobs & Shapiro 1994. Vgl. etwa Downs 1957; Lindenberg 1985. Dieses Argument lasst sich mutatis mutandis auf alle vergleichenden Wahlkampfanalysen anwenden, sei es, dass Kampagnen in verschiedenen Landern oder aufverschiedenen staatlichen Ebenen miteinander verglichen werden.
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Der Entscheidungsspielraum der Eliteakteure ist durch technische Restriktionen eingeschrankt, Beispielsweise konnten vor Erfindung von Radio und Femsehen Kandidaten simultan nur zu Menschen sprechen, die mit ihnen an einem Ort versammelt waren. Ebenso konnte eine Wahlkampagne in den 1970er Jahren nicht das Internet und damit bestimmte Formen der Wahlkampffiihrung einsetzen. Auch durfen finanzielle Restriktionen nicht ubersehen werden, da sie das Arsenal an verfugbaren Instrumenten empfindlich einschranken konnen, Ahnlich bindend wie die beiden bislang genannten Bedingungen sind institutionelle Vorgaben, die haufig gesetzlich geregelt sind und daher mit staatlichen Zwangsmitteln durchgesetzt werden konnen. Man denke etwa an das Wahlverfahren, Regelungen der Wah lkamp ffinanzierung, den Einsatz physischer Gewalt und die Neutralitat staatlicher Stellen. Daruber hinaus kann das genuine Geschehen vor einer Wahl, seien es politische Ereignisse oder Naturkatastrophen, nicht ausgeblendet werden. Politisch-kulturelle Faktoren konnen die Wirksamkeit von Wahlkampfinstrumenten beeinflussen. Von grundsatzlicher Bedeutung ist die Haltung der Bevolkerung zu Wahlkampfen, da im FaIle einer fundamentalen Skepsis gegen Wahlkampagnen aufwendige Instrumente nicht anzuraten sind und mancher Akteur sogar versuchen konnte, mit einem ostentativen Wahlkampfverzicht fur sich zu werben. FUr die Ausrichtung von Wahlkampfen bedeutsam ist die Frage, wie viele Wahlberechtigte auf eine bestimmte Wahlentscheidung festgelegt sind und daher im Wahlkampf mobilisiert, aber nicht zu einem Wechsel bewegt werden konnen, Je nachdem, wie groB diese Gruppen sind, sollten unterschiedliche Strategien geeignet sein, ein moglichst gutes Ergebnis zu erzielen. Indikatoren fur die Beeinflussbarkeit von Wahlberechtigten sind etwa die Verbreitung langfristiger Parteibindungen oder die Zugehorigkeit zu bestimmten sozialen GroBgruppen oder Milieus mit ausgepragten politischen Normen. FUr die konkretere inhaltliche Gestaltung von Wahlkampfen konnen politischkulturelle Faktoren ebenfalls von Belang sein. Welche Vorstellungen tiber die Rolle von Sachfragen in Wahlkampfen sind in der Bevolkerung wie verbreitet? Daneben konnen die wahrgenommene Bedeutung einzelner Themen und die unter Wahlberechtigten vorherrschenden Positionen zu einzelnen Streitfragen eine Rolle spielen. Wie gut die Stimmberechtigten tiber Sachfragen informiert sind, konnte ein Faktor sein, der fur das inhaltliche Niveau relevant ist, auf dem Themen in der politischen Auseinandersetzung behandelt werden. Welche Abweichungen von fruheren programmatischen Aussagen und Positionen eines Politikers oder einer Partei werden von der Bevolkerung erkannt, welche werden akzeptiert, welche mit Zweifeln an der Glaubwurdigkeit eines Politikers oder einer Partei bestraft? Wie werden nach einer Wahl nicht eingehaltene Versprechen sanktioniert? Mit Blick auf die personelle Komponente der Wahlkampffiihrung ist zu bedenken, welche Personen als (Spitzen-)Kandidaten akzeptiert werden. Beispielsweise konnte es in einer Gesellschaft trotz formalrechtlicher Gleichstellung verpont sein, dass sich Frauen oder Angehorige von Minderheiten urn politische Amter bewerben. Auch existieren in der Gesellschaft bestimmte Vorstellungen vom richtigen Verhalten von politischen Akteuren, die deren Akzeptanz beeinflussen konnen, So ist etwa davon auszugehen, dass der Vortragsstil des NSDAP-Vorsitzenden, der urn das Jahr 1930 auf das Publikum attraktiv gewirkt zu haben scheint, am Beginn des 21. Jahrhunderts deutlich weniger positive Resonanz finden dtirfte. 23
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Dieses Argument verweist auf die generelle Rolle verinnerlichter asthetischer Normen und daraus resultierender Erwartungen der Stimmberechtigten fur die Wahlkampffuhrung. Diese kann man sich etwa daran veran-
Auch kulturelle Faktoren in der massenmedialen Umwelt politischer Akteure konnen die Kampagnenfiihrung beeinflussen. Der Erfolg vonfree media-Strategien hangt nicht nur von deren Gestaltung, sondem auch davon ab, wie Joumalisten damit umgehen, was neben kognitiven und materiellen Ressourcen von deren Rollenverstandnis beeinflusst wird: Bemuhen sie sich urn Objektivitat in der Berichterstattung, oder lassen sie parteiliche Inszenierungen passieren? Geben sie Wahlkampfaufierungen unverzerrt wieder, oder kommentieren sie? Streben sie nach Ausgewogenheit und Fairness, oder verfolgen sie das Ziel, einer Seite im politischen Kampf zu schaden und einer anderen zu helfen? Variationen in den damit angesprochenen Faktoren sind nicht nur denkbar, sondem ernpirisch nachgewiesen. Beispielsweise achten Medien in angelsachsischen Landern starker als in manch anderen Regionen darauf, Regierung und Opposition in der heiBen Wahlkampfphase gleichen Raum in der Berichterstattung einzuraumen.i" Auch scheinen sich nicht aIle Joumalisten im gleichen MaBe parteipolitischer Neutralitat in der Berichterstattung verpflichtet zu fiihlen, wie wiederkehrende VorwUrfe belegen, deutsche und amerikanische Joumalisten berichteten einseitig und entschieden auf diese Weise Wahlen mit,25 Speziell mit Blick auf die USA wird auch darauf hingewiesen, dass sich das Selbstverstandnis der Joumalisten dergestalt geandert habe, dass sie sich von "silent skeptics" zu "vocal cynics" entwickelt hatten, also Aussagen von Politikem zunehmend haufiger interpretierten, kommentierten und kritisierten. 26 Der politische Wettbewerb und die Rolle eines Akteurs darin sind weitere potentiell relevante Faktoren. Zu denken ist etwa daran, dass Regierungsakteure mit ihren Entscheidungen Politik gestalten und damit reale Folgen herbeifiihren konnen, wahrend andere Akteure nur Vorschlage formulieren konnen, Angesichts der Auswahlkriterien von Joumalisten haben es Regierungspolitiker daher vergleichsweise leicht, in die regulate Medienberichterstattung zu gelangen, und genieBen einen Wettbewerbsvorteil im Kampf urn die mediale Aufmerksamkeit." Zugleich werden Regierungsakteure in der offentlichen Wahrnehmung mit ihrem Handeln verbunden, was dazu beitragt, dass Amtsinhaber in Wahlkampfen haufig ihr Regierungshandeln verteidigen und in ein gunstiges Licht zu rucken suchen, wahrend andere Parteien und Kandidaten dieses kritisieren.i" Daneben durften die Zahl der Konkurrenten und deren Strategien fur die Strategiewahl eines Kandidaten oder einer Partei relevant sein. Weniger als Restriktionen denn aIs Anregungen oder Vorbilder konnen andere Kampagnen wirken. Im einfachsten Fall ziehen Akteure aus ihren Wahlkampfen in der Vergangenheit Schlussfolgerungen. Aber sie konnen auch von Kampagnen auf anderen staatlichen Ebenen oder in anderen Landern lemen. Beispielsweise konnen sich Kommunal- oder Landespolitiker von Karnpagnen auf der Bundesebene anregen lassen. Ebenso konnen Wahlkampagnen in anderen Landern die Wahlkampffiihrung wesentlich beeinflussen, wobei die Vorbildrolle arnerikanischer Wahlkampfe in der Forschung bislang eine besonders hervor-
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schaulichen, dass Femsehspots vom Beginn des 21. Jahrhunderts mit ihrer schnellen Schnittfolge in den 1960er oder 1970er Jahren kaum erfolgversprechend gewesen waren, wie auch umgekehrt - sieht man von bewusster Ironie ab - Akzeptanzprobleme auftreten durften. Vgl. etwa Domke et al. 1997; Schoenbach & Semetko 2000. Siehe Noelle-Neumann 1977, 1990; Kepplinger & Donsbach 1983; Lichter et al. 1986; Bennett 1996; Kepplinger & Maurer 2005. Vgl. Patterson 1993. Vgl. etwa Schulz 1998; Schoenbach et al. 2001. Vgl. etwa Kaid & Holtz-Bacha 1995: 213-217; Maurer & Reinemann 2003: 65-72.
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gehobene Rolle gespielt hat." Aber auch neue Entwicklungen in der kommerziellen Werbung oder neue Erkenntnisse sozialwissenschaftlicher Forschung zur politischen Meinungsbildung und zum Wahlverhalten konnen Wahlkampfe beeinflussen. Die Wahrscheinlichkeit solcher Einflusse scheint unter anderem von sozialen Kontakten zwischen verschiedenen Arenen begunstigt zu werden. So wird etwa international aktiven und vemetzten Wahlkampfberatem eine wichtige Rolle bei der Diffusion von Wahlkampfideen zugeschrieben." Diese exemplarisch dargestellten Randbedingungen konnen individuelle und kollektive Entscheidungen uber die Wahlkampffiihrung beeinflussen. Allerdings sind Wirkungen nicht in allen Fallen gleich wahrscheinlich. 1m Falle rechtlicher oder okonomischer Bedingungen ist der Interpretations- und Entscheidungsspielraum der Akteure eng begrenzt. Sind beispielsweise die finanziellen Ressoureen erschopft, konnen keine kostspieligen Instrumente mehr eingesetzt werden. Anders sieht es bei einer Reihe anderer Bedingungen aus, speziell bei politisch-kulturellen. Sie konnen auf das Kampagnengesehehen nur dann wirken, wenn sie von den politischen Akteuren als wahlkampfrelevant angesehen werden. Diese Bedingungen konnen also erst dann als Restriktionen wirken, wenn sie von den Akteuren als solche akzeptiert sind. Damit treten die Realitatsvorstellungen der Akteure, etwa von der wahlkampfrelevanten Umwelt und der Wirksamkeit von Kampagneninstrumenten, als intervenierende Faktoren in Erseheinung. Das oben skizzierte gangige Modell nimmt an, dass die wahrgenommene Realitat mit den objektiven Bedingungen ubereinstimmt, so dass man darauf verzichten kann, die Perzeptionen der Eliteakteure empiriseh zu untersuchen. Doeh kann diese Annahme durchaus verletzt sein. Man denke etwa an Wahlkampfer, die falsche Vorstellungen von der vorherrsehenden politischen Stimmung oder der Wirksamkeit bestimmter Kampagneninstrumente haben. Sind die Akteure nieht wohlinformiert, ist nieht mehr unbedingt damit zu reehnen, dass veranderte Randbedingungen einen Wandel der Wahlkampffiihrung nach sich ziehen. Zugleich kann sich die Kampagnengestaltung aueh bei konstanten Randbedingungen verandern, da sich die Vorstellungen der Akteure unabhangig von der Realitat andern konnen." Sind Wahlkampfer beispielsweise bei tatsachlich konstanten Wahlerpraferenzen nicht langer der Auffassung, Stimmen lieBen sich am besten mit sachlichen Aussagen gewinnen, sondern meinen nun, es komme auf emotionale Appelle an, werden sie die Wahlkampffiihrung entsprechend anpassen. Die Vorstellungen der Akteure von der wahlkampfrelevanten Umwelt konnen somit eigenstandig zur Erklarung des Kampagnenwandels beitragen. Die oben formulierten Annahmen zur Motivation politiseher Akteure mussen ebenfalls nieht durchgangig der Realitat entsprechen. So mussen politische Akteure nieht unbedingt eine auf die gerade bevorstehende Wahl bezogene Zielsetzung verfolgen, sondem konnen auch langerfristige Ziele im Blick haben. Auch kann die Motivation, ein bestimmtes Ziel zu 29 30
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Siehe etwa Kamps 2000~ Wagner 2005. Siehe etwa Plasser 2003. Solche Veranderungen konnen in verschiedene Richtungen gehen und unterschiedliche Ursachen haben. Beispielsweise konnen Erkenntnisfortschritte die Vorstellungen der Akteure realitatsnaher werden lassen. So konnten politische Akteure heutzutage genauere und realitatsgetreuere Vorstellungen von den politischen Praferenzen der Wahlberechtigten haben als in Zeiten ohne stichprobentheoretisch fundierte Umfrageforschung, in denen Kampagnenmanager auf Auguren, Intuition und Daumenregeln angewiesen waren. Allerdings muB der Wahmehmungswandel nicht zwingend in diese Richtung verlaufen. So konnen etwa veranderte kulturelle Normen, etwa Affinitaten zu kulturellen Raumen oder gesellschaftlichen Arenen, zu veranderten, aber nicht unbedingt realitatsnaheren Vorstellungen der Wahlkampfakteure fuhren,
verfolgen, variieren, etwa mit der einer Wahl zugeschriebenen Wichtigkeit. Neben kurzfristigen sind langerfristige Veranderungen denkbar. Beispielsweise konnte die Entwicklung yom ehrenamtlichen zum hauptberuflichen Politiker dazu beigetragen haberr", dass Wahlerfolge fur politische Akteure wichtiger wurden und daher deren Bereitschaft wuchs, sich intensiver darum zu bemuhen und auch kostspielige Instrumente einzusetzen. Damit erscheint die Motivation der Akteure als eine variable GroBe, die zum Wahlkampfwandel beitragen kann." Insgesamt sprechen diese Uberlegungen dafiir, dass die Erklarung von Veranderungen in der Wahlkampffiihrung eine ausgesprochen anspruchsvolle Aufgabe ist. Denn neben zahlreichen aufseren Faktoren konnen Veranderungen in der Wahrnehmung oder Motivation politi scher Akteure zum Wahlkampfwandel beitragen. Angesichts der Vielzahl potentieller Einflussfaktoren ist es prinzipiell schwierig, hieb- und stichfest Effekte bestimmter Grofsen nachzuweisen. Hinzu kommt, dass die Forschung bislang einige potentielle Einflussfaktoren kaum berucksichtigt hat, nieht zuletzt die Ziele und Wahrnehmungen politischer Akteure. Das ist insofern erklarbar, als sieh Wahlkampfer nieht geme in die Karten schauen lassen. Doch andert dies niehts an der zentralen Position dieser Faktoren im Entscheidungsprozess, da fur Wahlkampfer wie fur andere Akteure nur das real ist, was sie als real wahrnehmen - und die subjektive Wahrnehmung nieht mit der Realitat ubereinstimmen muss." Vor diesem Hintergrund erseheint es sinnvoll, trotz der damit verbundenen Probleme kunftig zu versuehen, in den .Arkanbcreich der Politik'r" vorzudringen, urn Motive und Wahrnehmungen der politisehen Akteure empirisch zu analysieren, anstatt daruber ungeprufte Annahmen zu treffen.
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Schluss
Wahlen sind fur die Demokratie von herausragender Bedeutung, da sie Burgern die Mogliehkeit bieten, Herrschaft auf Zeit zuzuweisen. Daher erscheint es nur konsequent, daB die empirische Wahlforschung in Demokratien groBe Aufmerksamkeit genieBt und zu den am weitesten fortgeschrittenen Teildisziplinen in der Politikwissenschaft gerechnet wird. Da Wahlkampfe zu Wahlen gehoren wie Exposition, Peripetie und Katastrophe zum klassischen Drama, konnte man vermuten, dass auch Wahlkampfe zu den besonders intensiv untersuchten Gegenstanden sozialwissenschaftlicher Forschung zahlen, Entgegen dieser Vermutung sind sie bislang eher stiefmutterlich behandelt und selektiv erforscht worden. Es finden sich etliehe Arbeiten zur Wirkung von Wahlkampfen und einzelnen Kampagnenelementen auf das Wahlverhalten, was sieh aus der Affinitat dieses Forschungszweiges zur Wahlforsehung erklaren lasst, 1m Vergleich dazu ist die Forsehung zur Wahlkampffiihrung bislang kaum den Kinderschuhen entwachsen. Der vorliegende Beitrag hat sich mit grundlegenden Fragen der Wahlkampfforschung auseinandergesetzt. Zunachst wurde auf Vorzuge einer problemorientierten und theoriegeJ2 33
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Siehe etwa Borchert & Golsch 2003. Als zusatzliche Komplikation kommt hinzu, dass Wahlkampfe haufig nieht Ergebnisse individueller, sondem kollektiver Entscheidungen sind. Diese Uberlegung hat Konsequenzen fur Versuehe, die Wahlkampffuhrung als Indikator fur die poJitische Kultur zu nutzen (siehe etwa Bendikat & Lehnert 1990; Holtz-Bacha 2000; Stober 2000). Denn die Validitat des Indikators hangt entscheidend davon ab, welche Vorstellungen die Akteure von der politischen Kultur entwickeln und wie sie diese in die WahlkampffiihrungeinflieBen lassen. Jarren & Bode 1996: 65.
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leiteten Vorgehensweise bei der Definition von Wahlkampfen und der Identifikation von Kriterien fur Einzelfallstudien und vergleichende Analysen von Wahlkampagnen hingewiesen. AnschlieBend wurde auf die mittlerweile in der Literatur lebendig gefuhrte Diskussion tiber Erklarungen von Veranderungen in der Wahlkampffuhrung eingegangen. Es wurde eine akteurszentrierte Perspektive vorgestellt, die es ermoglicht, das Problem analytisch zu fassen und potentielle Erklarungsfaktoren zu identifizieren. Dabei wurde auf Defizite der bisherigen Forschung hingewiesen, wie auch angeregt wurde, die akteurszentrierte Perspektive starker fur empirische Analysen nutzbar zu machen. Fortschritte bei der Erklarung der Wahlkampffiihrung und ihres Wandels konnten auch dazu beitragen, die eingangs erwahnten kritischen Bemerkungen zu Wahlkampagnen ins rechte Licht zu rucken. Sollte sich die Kampagnenfiihrung beispielsweise als Reaktion auf Vorstellungen und Wunsche der BUrger erweisen, durfte es schwer fallen, allein politische Akteure fur Wahlkampfe verantwortlich zu machen, die man fur inhaltlich unangemessen und niveaulos halt. Vielmehr hieBe dann Wahlkampfe zu kritisieren auch BUrger zu kritisieren. Nicht zuletzt weit reichende Implikationen dieser Art lassen es geboten erscheinen, Wahlkampfe konzeptionell, theoretisch und methodisch sorgfaltig zu untersuchen.
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Wahlkampf und Wirklichkeit - Veranderungen der gesellschaftlichen Realitat als Herausforderung fur die empirische Wahlforschung Von Thomas Roessing
1.
Einleitung
Jeder Wahlkampfist einzigartig. Wahlkampagnen sind stets eingebettet in ein ganz eigenes, sich immerfort wandelndes gesellschaftliches und politisches Klima. Unerwartete Ereignisse oder Veranderungen stellen die Wahlforschung regelmafsig vor neue Herausforderungen. Die kausalen Verflechtungen von Gesellschaft, Politik, Kandidaten, Medien, Wahlem und Wahlausgang zu erforschen, erfordert deshalb besondere Ansatze und Methoden, wenn die Befunde tiber die Beschreibung und Erklarung von Einzelfallen hinausgehen sollen. Oer vorliegende Beitrag diskutiert zunachst einige grundlegende erkenntnistheoretische ProbIerne der ernpirischen Sozialwissenschaft, insbesondere das Problem der veranderlichen sozialen Realitat, die sich unter den Handen der Forscher wandelt. Im Anschluss daran wird der Eintluss spezifischer und veranderlicher Randbedingungen auf Wahlen an einigen Beispielen diskutiert. Am Ende des Beitrags stehen Anregungen fur ernpirische Sozialwissenschaft, insbesondere die Wahlforschung. 2.
Entdecken, Beschreiben, Erklaren
Wissenschaft kann aufgefasst werden als das Entdecken, Beschreiben und Erklaren von Strukturen der Wirklichkeit.' Die Rolle des Entdeckens wird dabei zu unrecht oft vemachlassigt, weil Beobachtungen, die nicht der Uberprufung von a priori aus einer Theorie abgeleiteten Satzen dienen, dem weithin akzeptierten wissenschaftstheoretischen Paradigma des Popperschen Falsifikationismus' zu widersprechen, oder auBerhalb des eigentlichen Wissenschaftsprozesses zu Iiegen scheinen.' Insbesondere Zufallsfunde, Mertons Serendipity", werden gelegentlich als nicht-wissenschaftlich im Sinne des kritischen Rationalismus aufgefasst, weil sie nicht theoriegeleiteter (deduktiver) Beobachtung entspringen. Karl Popper selbst halt jedoch jede Beobachtung fur theoriegeleitet und schlieBt Zufallsfunde keineswegs aus seiner wissenschaftstheoretischen Position aus: ,,(...) 'chance-discoveries' are as a rule refutations of theories which were consciously or unconsciously held: they are made, when some of our expectations (based upon these theories) are unexpectedly disappointedv.? Tatsachlich ist das Entdecken von Strukturen und Zusammenhangen fur die
Vgl. Roessing 2000. Vgl. Popper 1989~ 1994. Vgl. Albert 1973: 66. Vgl. Merton 1995: 100~ Merton & Barber 2004. Popper 1989: 220.
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Wissenschaft mindestens so wichtig wie das Testen von Theorien durch Falsifikationsversuche. Denn Tatsachen, die unentdeckt bleiben, konnen nicht zurn Wissen uber die Wirklichkeit beitragen. Die Wirklichkeit detailliert zu beschreiben ist ebenfalls ein wichtiger Teil wissenschaftlicher Arbeit. Die Forscher mussen sich der Beschaffenheit ihrer Forschungsobjekte sicher sein, unvollstandige oder falsche Beschreibungen fUhren zwingend zu falschen Erklarungen, Das ist der Grund, warum in vielen Bereichen der Naturwissenschaft groliter Wert auf die Beschreibung von Phanomenen gelegt wird (z.B. morphologische Taxonomie in der Biologie), bevor der Versuch einer theoretischen Erklarung oder der Falsifikation von Erklarungen untemommen wird. Als wichtigstes Ziel der Wissenschaft wird schlieBlich vielfach das Erklaren entdeckter und beschriebener Strukturen der Wirklichkeit aufgefasst. FUr Physiker und Chemiker ist es durchaus interessant zu wissen, dass Gegenstande aus Gold stets elektrisch leitfahig sind; mit geeigneten Messinstrurnenten lasst sich das Phanornen auch sehr detailliert beschreiben. Die eigentliche Aufgabe der Wissenschaftler besteht jedoch darin, die Frage zu beantworten: Warum leitet Gold elektrischen Strom?" Analogien lassen sich in der Wahlforschung leicht finden: Man weiI3, dass Wahler rnanchmal dazu neigen, ihre Stirnme dem vermeintlichen Wahlsieger zu geben. Warum das so ist, mussen Wahlforscher herausfinden und erklaren: 1st hier der Bandwagon-Effekt ausschlaggebend oder Isolationsfurcht?" Eines der Probleme der Wahlgeographie des Andre Siegfried" bestand in der mangelnden Erklarungskraft der von ihm beschriebenen Zusammenhange zwischen geographischen Gegebenheiten unterschiedlicher Landstriche und dem Wahlverhalten der Bewohner. Das Entdecken und Beschreiben von Vorgangen und Ergebnissen bei Wahlkampfen und Wahlen ist ein wichtiger Teil der Wahlforschung, aber ohne das Streben nach Erklarungen bliebe sie unvollstandig. Wissenschaftliches Erklaren ist das Formulieren von Satzen uber kausale Zusamrnenhange.l" Kausale Zusamrnenhange bestehen jedoch stets aus mehr, als aus einer Ursache und einer Wirkung. Die Ursache- Wirkungsbeziehung ist vielmehr umgeben von der Gesamtheit der Randbedingungen, die fur die konkrete Wirkung einer konkreten Ursache unerlasslich sind. 3.
INUS-BedinguDgeD und Ceteris-Paribus-Klauseln
Bedingungen fur Wirkungen werden kausaltheoretisch INUS-Bedingungen genannt. INUS ist ein Akronym fur insufficient but necessary part of an unnecessary but sufficient condition," Eine Ursache U allein ist nicht hinreichend fur eine konkrete Wirkung W. Erst als
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II
Vgl. Lange 2000: 6 ff. Vgl. Simon 1954; Noelle-Neumann 1993. Vgl. Noelle-Neumann 2001: 19. Vgl. Roth 1998: 12 ff. Vgl. Popper 1994: 31 ff 62. Freilich sind sowohl der Begriff der Kausalitat und die Moglichkeiten kausale Zusammenhange zu entdecken und zu beschreiben,umstritten (vgl. Wilson 1985; Salmon 1998, Lange 2000: 3-11). Der vorliegende Beitrag kann auf diesen Streit aus Platzgrunden nicht eingehen; es wird vielmehr davon ausgegangen, dass es Kausalitat gibt und dass es moglich ist, etwas tiber kausale Zusammenhange herauszufinden. Diese Konvention ist eine Obereinkunftahnlich der Realitatskonvention des methodologischen Falsifikationismus (Lakatos 1974), der seinerseitseine wichtige Grundlage des weithin anerkanntenkritischen Rationalismus Poppers ist. Vgl. Westermann2000: ]53.
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notwendiger Teil der Menge der Randbedingungen R entsteht die hinreichende, wenngleich insgesamt nicht notwendige INUS-Bedingung I fur die Wirkung W. Abbildung 1: INUS-Bedingungen
hinreichend, aber nicht notwendig
notwendig, aber nicht hinreichend
Quelle: Eigene Darstellung Die abstrakte Idee der INUS-Bedingungen lasst sich durch ein einfaches Beispiel anschaulich erklaren.V In einer Alltagsbetrachtung wird man ein brennendes Streichholz ublicherweise als Ursache fur ein Feuer ansehen. Bei naherer Betrachtung zeigt sich jedoch, dass ein brennendes Streichholz allein nicht hinreicht, ein Feuer zu verursachen: Zusatzlich rnussen z.B. eine Sauerstoffatmosphare und Brennmaterial (z.B. Holz oder Papier) vorhanden sein, damit ein Streichholz ein Feuer entfachen kann. Das Streichholz ist notwendiger, aber allein nicht hinreichender Bestandteil eines gemeinsam mit Sauerstoff und dem Brennmaterial hinreichenden (wenngleich nicht notwendigen, denn man kann Feuer auch auf andere Weise anztmden, als mit einem Streichholz) Bedingungssatzes fur ein Feuer. Wissenschaftliche Erklarungen gelten in der Regel "ceteris paribus", das heiBt, einzelne Ursachen werden fur kausale Erklarungen herangezogen unter der Bedingung, dass das Geflecht aus Rand- und Nebenbedingungen sich nicht verandert." Die explizite Forderung nach stabilen Randbedingungen ist besonders fur nomothetische Wissenschaft, also das 12 13
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Vgl. Roessing & Esser 2004: 122 I; ahnlich auch Westermann: 2000: 154. Vgl, Westermann 2000: 156 f; Schiffer 1991; Ceteris-Paribus-Klauseln sind wegen ihrer Konsequenzen fur die nomothetische Forschung umstritten, vgl. z.B. Woodward 2002; Lange 2002.
Identifizieren von Gesetzmalsigkeiten der Wirklichkeit'", wichtig. Wissenschaftliche Gesetze gelten nur unter definierten Bedingungen. Andert sich das relevante Umfeld, kann ein Gesetz nicht mehr angewandt werden. So gelten Gesetze der Chemie oft nur fur bestimmte Druckverhaltnisse, physikalische Gesetze nur im Vakuum und biologische Gesetze nur fur bestimmte Okosysterne oder Klimazonen. Das Problem, dass in Gesetzesform formulierte Theorien von der Konstanz der Randbedingungen abhangen, ist schon fur die Naturwissenschaften eine groBe Schwierigkeit, obwohl es dort in vielen Bereichen relativ leicht moglich ist, unter kontrollierten Bedingungen zu arbeiten. Fur die Sozialwissenschaften stellt die Veranderung der Realitat unter den Handen der Forscher eine gravierende Herausforderung dar", was in besonderem MaBe die Wahlforschung betrifft, wie die Beispiele der folgenden Kapitel zeigen werden. 4.
Opinion Leader und der Two-Step-Flow of Communication
Zu einem der wichtigsten Befunde der Studie "The People's Choice" von Paul F. Lazarsfeld und seinen Kollegen 16 gehort der "Two-Step Flow of Communicationv'", also die Beobachtung, "that ideas often flow from radio and print to the opinion leaders andfrom them to the less active sections of the population". 18 Die Studie, die zum Konzept der Meinungsfuhrer und der Vorstellung des Zweistufenflusses der Medienwirkung (und damit letztlich zum Paradigma der schwachen Medienwirkungen 19) fuhrte, wurde 1940 in Erie County im US-Bundesstaat Ohio durchgefuhrt, Das Buch von Lazarsfeld, Berelson und Gaudet erlautert die Randbedingungen ihrer Untersuchung recht ausfuhrlich: Erie County war kein ,typischer' US-Bezirk, sondern wies einige besondere Eigenschaften auf. 20 Die Bevolkerung wird als familienorientiert beschrieben und der Ort Sandusky als "church town with the church as the core of social life".21 Das Medienangebot bestand aus einigen Zeitungen und dem Radio. Die Befunde der Forschungsgruppe urn Lazarsfeld entstanden also unter sehr spezifischen Randbedingungen, ihre Verallgemeinerbarkeit war damit stark eingeschrankt: ceteris paribus. Das Konzept des Two-Step-Flow of Communication ist allerdings sehr anfallig fur Veranderungen der Gesellschaft und des Medienangebots. Verringert sich die Bedeutung der Familie ineiner Gesellschaft oder steigt die Verfugbarkeit von Medieninhalten an, schwindet die Bedeutung der Meinungsfiihrer als Stufe im Kommunikationsfluss. Seit 1940 ist insbesondere das Fernsehen als neues Medium hinzugekommen. Und seine Nutzung hat sich seit den Anfangen in den 1950er Jahren stark gewandelt. In der Bundesrepublik Deutschland steigerte die Bevolkerung ihren wochentlichen Femsehkonsum zwischen 1967 und 2001 urn fast vier Stunden. Gleichzeitig ging die Reichweite der Informationssendungen zuruck. 22 Mit den veranderten Sehgewohnheiten und immer mehr Fernsehgeraten pro Haushalt muf auch eine weitere Annahme ZUT Wirkung des Femsehens revidiert werden. Noelle-Neumann schreibt 1980 tiber die, verglichen mit der Presse, geringere Rolle der 14 15
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Vgl. Albert 1973: 74 f. Vgl. Roessing & Esser 2004. Vgl. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1965. Vgl. Jerabek 2006: 91. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1965: 150, kursiv im Original. Vgl. Donsbach 1991: 18 ff. Vgl, Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1965: 10. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1965: 11. Vgl, Noelle-Neumann & Petersen 2005a: 179.
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Selektion bei der Femsehrezeption: .Lesen als individuell bestimmte Tatigkeit erlaubt freier selektives Verhalten als die charakteristische Gruppensituation des Fernsehempfangs mit unvermeidlich widerstrebenden Bedurfnissen der Gruppenrnitglieder.v'" Durch die Zunahme der Haushalte mit mehr als einem Fernsehgerat und der Zahl der SingleHaushalte durfte das Fernsehen heute vielfach keine "charakteristische" Gruppensituation mehr sein und Selektion - auch angesichts der seit 1984 drastisch gewachsenen Zahl der Sender - auch beim Fernsehen eine Rolle spielen. Man erkennt leicht, dass der Two-Step-Flow of Communication als sozialwissenschaftliches Gesetz nicht in Frage kommt, weil seine Rolle fur die Wirkung der Massenmedien stark von den medialen und sozialen Strukturen abhangt. Mit den Veranderungen der Gesellschaft gegenuber der von Erie County im Jahre 1940 wandelt sich die Rolle der Befunde von Lazarsfeld, Berelson und Gaudet. Interessanterweise waren die drei Autoren sich der Probleme bewusst, die den Forscher erwarten, der Befunde als allgemeingultige Erklarungen zu generalisieren sucht, In der zweiten Auflage von "The People's Choice" von 1965 schreiben die Autoren in der Einfuhrung: "We are frequently warned that the results of a specific study are valid only for the time and place where it was conducted'v" Sie schlagen die Wiederholung von Studien und den Vergleich ahnlicher Untersuchungen vor, urn dem Problem zu begegnen. Dabei stehen drei Ziele im Vordergrund (auf die spater im vorliegenden Beitrag noch zuruckzukommen sein wird);" 1. Corroboration, also das Untermauern von Befunden, wenn mehrere Studien zum selben Ergebnis kommen; 2. Specification, die genauere Bestimmung von kausalen Beziehungen, wenn mehrere Studien zu unterschiedlichen Ergebnissen kommen, die Unterschiede aber durch Berucksichtigung von Randbedingungen erklart werden konnen; 3. Clarification, die Klarstellung bisheriger Annahmen, wenn neue Studien zu neuen Ergebnissen fUhren.
5.
Wahlen in Deutschland
Wahlkampfe und Wahlen haben sich auch in Deutschland seit den Anfangen der sozialwissenschaftlichen Wahlforschung verandert und die Wahlforschung hat diese Veranderungen identifiziert und nachgezeichnet (beschrieben und zu erklaren versuchtj." Wahlkampfe der Adenauer-Ara" verliefen anders als solche der 1980er und fruhen 1990er Jahre, und diese unterscheiden sich wiederum von den extrem mediatisierten Wahlkampfen der letzten Jahre. Neben der bereits erwahnten Veranderung des klassischen Medienangebots'" und seiner Nutzung, fanden die jungeren Wahlkampfe zudem unter den Bedingungen einer durch das Internet drastisch erweiterten und veranderten Medienlandschaft start." 1m folgenden solI jedoch nicht auf allgemeine Veranderungen der Art, wie Wahlkampfe gefuhrt werden und generelle Entwicklungen der Gesellschaft und der Medien eingegangen werden. Dazu ist
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Noelle-Neumann 1980: 80. Lazarsfeld, Berelson & Gaudet 1965: xiv. Vgl. Lazrasfeld, Berelson & Gaudet 1965: xv. Siehe den Beitrag von Harald Schoen im vorliegenden Band. Siehe den Beitrag yon Mathias Friedel im vorliegenden Band. Vgl. auch Kepplinger 1998: 34 ff. VgJ. Scherer & Schlutz 2004; Webel, Kepplinger & Maurer 1999; DOring 2003; siehe auch den Beitrag von Tilo Hartmann im vorliegenden Band.
ausreichend spezielle Literatur vorhanden." Vielmehr solI gezeigt werden, wie spezielle Situationen und Ereignisse Wahlkampfe gepragt, die Erklarungskraft der Wahlforschung eingeschrankt und die Entwicklung der Wahlforschung zu einer nomothetischen Wissenschaft erschwert haben.
5.1 Bundestagswahl 1972 Nach drei Jahren sozialliberaler Koalition gab es Ende 1972 Neuwahlen, nachdem Bundeskanzler Willy Brandt die Vertrauensfrage gestellt und Bundesprasident Heinemann das Par lament aufgelost harte." Es entwickelte sich ein kurzer, aber extrem emotionalisierter Wahlkarnpf urn die Person Willy Brandts und die von ihm verkorperten Werte sowie die Ostpolitik." Brandt und die starke, von manchem als .rnelodramatischv" ernpfundene Emotionalisierung konnen daher als pragende Randbedingungen des Wahlkampfes und des Wahlausgangs betrachtet werden - eine Konstellation, die beispielsweise bei den Bundestagswahlen von 1980 oder 1994 fehlte." Die Wahl von 1972 trieb unter anderem die Entwicklung der Theorie der offentlichen Meinung als soziale Kontrolle voran, die Elisabeth Noelle-Neumann in den vorausgegangenen Jahren begrundet hatte. Auch das ist den besonderen Bedingungen der Wahl von 1972 geschuidet. Seit 1970 war dem Institut fUr Demoskopie in Allensbach aufgefallen, daB mehr Leute behaupteten, 1969 SPD gewahlt zu haben, als das nach dem amtlichen Ergebnis wirklich getan haben konnten (Underclaiming/Overreporting)." Wie schon bei der Wahl 1965 wurde ein Last-Minute-Swing in Richtung des vermuteten Wahlsiegers beobachtet." So, wie die Stimmung der Wahl 1965 mutmaBlich vom popularen Kandidaten Erhard und einern erfolgreichen Besuch der englischen Konigin beeinflusst wurde, stand die Wahl 1972 im Zeichen des charismatischen Brandt, der gesellschaftlichen Veranderungen in der Foige der (1972 noch andauemden) ,,68er"-Bewegung und der Brandtschen Ostpolitik." FUr die Wahlforschung hat die besondere, und gegenuber den Wahlen der 1960er Jahre stark gewandelte Konstellation der Wahl von 1972 hinsichtlich der hier verfolgten Analyse drei Konsequenzen. Erstens wurde die Wahl von Noelle-Neumann genutzt, urn ihre neue Theorie der Schweigespirale empirisch zu testen." Das Bestehen empirischer Tests sowohl von Lazarsfeld als auch von Popper ,Corroboration' genannt - ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg von der Hypothese tiber eine anerkannte Theorie hin zu einem allgemeinen Gesetz. Dabei verdankt es die Theorie Noelle-Neumanns gerade dem besonderen emotionalen Potential der Wahl 1972, bestatigt worden zu seine In manchen Wahlkampfen fehlen die von der Theorie geforderten Randbedingungen wie die "moralische Ladung", was eine Uberprufung der Theorie erschwert. Zweitens wurde die Theorie von NoelleNeumann herangezogen, urn den speziellen Einzelfall der Wahl 1972 zu erklaren." Das ist jedoch im ZusammenspieI mit der Bestatigung der Theorie problernatisch. 1m Zentrum 30
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VgJ. dazu z.B. Patterson 1993~ Kepplinger ]998~ Esser & Pfetsch 2003. Vgl. Wilke & Reinemann 2000: 31. Vgl. Noelle-Neumann 2001: ]7 f. Kepplinger, Maurer & Roessing 1999: ] 35. VgI. Noelle-Neumann 1994. Vgl. Noelle-Neumann 1980: 31. Vgl. Noelle-Neumann 1980: 51 ~ Noelle-Neumann 2001: 17. Vgl. Noelle-Neumann 2001: 17 ff. Vgl. Noelle-Neumann 1980: 35. Vgl. Noelle-Neumann 1980.
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dieser Analysen stand die Erklarung des Verhaltens der Wahler bei einer bestimmten Wahl, nicht so sehr das Uberprufen von Theorien und Gesetzen. Problematisch ist es deshalb, weil es zu wenig erhellenden, zirkularen Interpretationen der Befunde fuhren kann (die Theorie erklart die Beobachtungen und die Beobachtungen stutzen die sie erklarende Theorie ... ).40 Es handelt sich also urn ein Beispiel dafur, wie nomothetische Wahlforschung mit dem Wunsch konfligieren kann, die besondere INUS-Konstellation einer konkreten Wahl zu erklaren, Drittens macht die Wahl 1972 die Abhangigkeit von Wahlkampf und Wahlausgang von speziellen und von den meisten Theorien nicht vorhergesagten BedingungsSystemen besonders deutlich. Aus welcher Theorie harte man in den 1960er Jahren eine Prognose fur den Wahlausgang 1972 deduzieren sollen?
5.2 1990 Ein weiteres Beispiel fur eine Wahl unter unerwarteten Vorzeichen war die erste gesamt41 deutsche Wahl nach der Wiedervereinigung im Jahr 1990. Das Wahljahr war bestimmt von der Vorbereitung der Wiedervereinigung, der Wahrungsunion mit der untergehenden DDR, den Verhandlungen tiber den 2+4-Vertrag - wobei freilich die Darstellung dieser Ereignisse in den Medien, die Vermittlung des Auftretens der Kandidaten Helmut Kohl und Oskar Lafontaine durch das Femsehen, fur die meisten Menschen ausschlaggebender waren, als die historischen Ereignisse selbst. 42 Auf den Kanzlerkandidaten der SPD, Oskar Lafontaine, wurde wahrend des Wahlkampfes ein Attentat mit einem Messer verubt, bei dem er schwer verletzt wurde. Kurz nach der Wiedervereinigung, im Oktober, wurde auBerdem der Bundesinnenminister des Kabinetts Kohl, Wolfgang Schaube, durch ein Attentat lebensgefahrlich verletzt." Aubergewohnliche Ereignisse haben oft auBerordentliche Konsequenzen fur die empirische Sozialforschung. Ein bekanntes Beispiel dafUr ist der Unfall im Kemkraftwerk von TschemobyI im April 1986. In der Folge veranderte sich sowohl die Berichterstattung fiber Kemenergie, als auch die Einstellung der Menschen dazu, sowie zu Technik und Fortschritt allgemein, nachhaltig. Die Berichterstattung tiber den Atomunfall in der UdSSR beherrschte wochenlang die Nachrichtenmedien, gleichzeitig war Tschemobyl fur die Bevolkerung mit Abstand das wichtigste Thema (Agenda-Setting). Durch die sehr starke Berichterstattung wurde eine sehr starke Beachtung des Themas hervorgerufen." In vielen Statistiken und Zeitreihenanalysen wirkt sich der Unfall von Tschemobyl als deutlich sichtbarer Bruch aus. Sozialwissenschaftliche Prognosen, die auf langfristigen Entwicklungen beruhen, oder langfristige Entwicklungen vorhersagen, werden durch Killer Issues wie Tschernobyl massiv gestort, Das gilt in ahnlichem MaBe fur die Anschlage vom 11. September 2001, die gesellschaftliche Entwicklungen verandert oder neu angestoBen haben. Die herkommliche Erkenntnistheorie wurde fur die Naturwissenschaften entwickelt. Allerdings kommt es in den meisten Naturwissenschaften nicht, oder allenfalls aulserst selten vor, dass Ereignisse der Realitat, die Berichterstattung daruber und daraus folgende
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Vgl. Kepplinger, Maurer & Roessing 1999: 216. Vgl. Andersen & Woyke 1990~ Oberndorfer & Mielke 1992. Vgl. Kepplinger, Brosius & Dahlem 1994. Vgl. Kepplinger, Brosius & Dahlem 1994: 27 ff. Vgl. Kepplinger 1989: 191 ff.
weitere reale Ereignisse interagieren." In den Sozialwissenschaften dagegen konnen unerwartete Ereignisse die Entwicklung und die Anwendung von Theorien massiv storen, Nomothetische Wissenschaft kann unerwartete Ereignisse weder integrieren noch prognostizieren, Wie der Kemkraft-Unfall im sowjetischen Tschemobyl 1986 ist die Wiedervereinigung Deutschlands eine Zasur in den Daten der Sozialwissenschaftler. Es anderte sich nicht nur die Grundgesamtheit bei gesamtdeutschen Bevolkerungsumfragen, auch die Medienlandschaft und die Politik wurden durch den Beitritt der DDR stark erweitert und umgestaltet. FUr die Wahlforschung begann eine neue Ara, die Paradigmata der 1970er und 80er Jahre verIoren zurn Teil ihre Gultigkeit, Noch heute sieht man in vielen Statistiken und Graphiken Bruche und erklarende Hinweise zur Entwicklung der Daten "seit 1990".
5.3 Flut und Kriegsgefahr 2002 Der Bundestagswahlkampf im Jahre 2002 wurde von zwei Themen bzw. Ereignissen bee influsst, die als solche uberhaupt nichts mit dem Wahlkampf, den Parteien oder den Kandidaten zu tun hatten. Einerseits verscharfte sich der Kontlikt zwischen den Vereinigten Staaten yon Amerika und dem Regime Saddam Husseins im Irak. Viele Deutsche lehnten einen Krieg der USA gegen den Irak grundsatzlich abo Die SPD und ihr Spitzenkandidat, der amtierende Bundeskanzler Gerhard Schroder, bezogen ebenfalls diese Position. Die Unionsparteien vertraten dagegen keine grundsatzliche Ablehnung einer militarischen Auseinandersetzung im Irak. Das fuhrte zu Nachteilen fur die Union im Meinungsklima vor der Wahl. Andererseits verdrangte die Elbe-Flut alle anderen Themen fur einige Tage aus den Medien und aus dem Bewusstsein der Bevolkerung, 1m August 2002 ereignete sich in Sud- und Ostdeutschland ein aufsergewohnliches Wettergeschehen. Ein Tiefdruckgebiet hatte tiber dem Mittelmeer groBe Mengen Wasser aufgenommen, die es tiber Osterreich, der Tschechischen Republik, Bayem und Sachsen in Form von starkem Regen wieder ablud. Zahlreiche Flusse schwollen extrem an, traten tiber die Ufer und rissen Hauser, StraBen, Eisenbahnstrecken mit sich. Das Wasser kleinerer Flusse sammelte sich schlieBlich in der Elbe, in der sich ein sehr starkes Hochwasser entwickelte. Dieses Hochwasser richtete unter anderem in Dresden und anderen Orten in Sachsen groBe Schaden an." Die sehr starke und zum Teil emotional gefuhrte und bebilderte Berichterstattung insbesondere des Femsehens tiber die Hochwasserereignisse in Sud- und Ostdeutschland drangte andere wichtige Themen des Wahlkampfs wie den Arbeitsmarkt, Steuem, und allgemein den Standort Deutschland in den Hintergrund.V Politiker zeigten sich in den betroffenen Gebieten den Menschen und selbstverstandlich auch den Medien. Die besten Moglichkeiten dazu hatte - und die meiste Aufmerksamkeit bekam - der damals amtierende Bundeskanzler Gerhard Schroder. Aber auch Kandidaten der Unionsparteien zeigten sich in den Flutgebieten und auf den Deichen, Politiker aller Parteien aulserten sich zu der Frage, wie die Schaden der Flut bezahlt werden konnten, AuBerdem gibt es Hinweise darauf, dass das Hochwasser in Ostdeutschland dem Wahlkampf ein emotionales Potential verliehen hat, welches das Meinungsklima zu Gunsten der Regierungsparteien beeinflusste.
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Eine auffallige Ausnahme ist die Meteorologie, die beispielsweise unerwartete Vulkanausbruche, Meteoriteneinschlage und langfristigen Klimawandel berucksichtigen muss. Vgl. Kepplinger & Roessing 2005: 187 ff. VgL Kepplinger & Roessing 2005: 197; Noelle-Neumann & Petersen 2005:. 134.
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.Bei der Bevolkerung selbst setzte sich die Uberzeugung durch, daB die Bundesregierung und allen voran Bundeskanzler Schroder richtig und angemessen auf die Flutkatastrophe reagierten. Angesichts der gewaltigen Flutschaden erschien es kleinlich und moralisch zweifelhaft, weiterhin auf die ungelosten wirtschaftlichen und politischen Probleme zu verweisen, die den Wahlkampfbislang beherrscht hatten.?"
Anders als die besondere politische Lage 1972, die deutsche Wiedervereinigung und die
vollig unerwarteten Attentate auf Politiker 1990, beeintlussten 2002 Ereignisse den Wahlkampf, die, wie z.B. der Irak-Konflikt, nichts mit der deutschen Politik, bzw., wie die Flutkatastrophe, iiberhaupt nichts mit Politik zu tun hatten. FUr die Wahlforschung stellen derartige Ereignisse sowohl ein groBes Problem als aueh eine wissenschaftliche Herausforderung dar. Einerseits wird keine Theorie der Wahlforschung jemals in der Lage sein, drastische, unerwartete Ereignisse zu prognostizieren. Andererseits konnen durch Betrachtung einer groBen Zahl von Wahlkampfen im In- und Ausland, die unter ungewohnlichen, unerwarteten Bedingungen stattfanden, allgemeine Erkenntnisse daruber gewonnen werden, wie besondere Ereignisse auf Wahlkampfe wirken. Konkret werden sich unerwartete Ereignisse, insbesondere, wenn es sich nicht urn soziale, politische Ereignisse, sondem z.B. urn Naturkatastrophen handelt, jedoeh nieht in Theorien des Wahlerverhaltens integrieren lassen.
6.
Zusammenfassung und Foigerungen ffir die Wahlforschung
Die Darstellungen dieses Beitrages lassen sich in acht Feststellungen zusammenfassen. 1. Wissenschaft umfasst das Entdecken, Beschreiben und Erklaren von Strukturen der Wirklichkeit. Wissenschaftliche Erklarung beantwortet die Frage, warum eine Struktur so ist, wie sie entdeckt und beschrieben wurde. Erklarungen verweisen auf kausale Beziehungen zwischen Ursachen und Wirkungen. 2. Theorien und wissenschaftliche Gesetze mUssen allgemein gultig sein. Sie sind deshalb auf stabile kausale Beziehungen angewiesen. Ursachen sind jedoch niemals allein kausal fur bestimmte Wirkungen, sondern nur als notwendiger Teil eines insgesamt hinreichenden, aber nicht notwendigen Bedingungssysterns (INUS-Bedingungen). WissenschaftlicheErklarungen gelten deshalb stets ceteris paribus, also unter der Annahme konstanter Randbedingungen. 3. Die Erie-County-Studie von 1940 ("The People's Choice) ist ein Beispiel fur die Kontextabhangigkeit von Befunden der Wahlforschung. 4. Oft mussen zur Erklarung von Wahlkampfen und Wahlergebnissen besondere Umstande herangezogen werden, die einem speziellen Wahlkampf immanent sind. Ein Beispiel dafiir ist die stark emotionalisierte und personalisierte Bundestagswahl von 1972. 5. In der sozialen und politischen Realitat kommt es gelegentlich zu unerwarteten Ereignissen und Brtichen, die den Verlauf von Wahlkampfen und den Ausgang von Wahlen beeintlussen konnen (intervenierende Bedingungen). Ein Beispiel dafur ist die Bundestagswahl von 1990, die durch die Wiedervereinigung Deutschlands und Attentate auf Spitzenpolitiker im Wahlkampf gepragt wurde. 6. In manchen Fallen konnen jedoch aueh Situationen, die mit einem Wahlkampf nieht oder nur indirekt zu tun haben, Einfluss auf den Verlauf einer Kampagne und das Ergebnis einer Wahl nehmen. Dabei spielen die Medien eine zentrale Rolle, denn sie sind das Bindeglied zwischen Politik, Bevolkerung und den speziellen extemen Bedingungen. So war der Wahlkampf2002 einerseits dureh den Kontlikt zwischen den Vereinig48
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Noelle-Neumann & Petersen 2005: 134.
ten Staaten von Amerika und dem Irak, andererseits durch das Hochwasser in SUd- und Ostdeutschland, bzw. die intensive Medienberichterstattung daruber, beeinflusst. 7. Einer Wahl immanente, politisch intervenierende, und exteme Randbedingungen erschweren die Anwendung allgemeingultiger Theorien und das Formulieren von Gesetzmaliigkeiten in der Wahlforschung, da sie wechselnde INUS-Bedingungen fur die wissenschaftlich zu erklarenden Strukturen konstituieren. 8. Paul F. Lazarsfeld und seine Kollegen schlugen bereits 1965 als Mittel zur Begrenzung dieser Problematik in den Sozialwissenschaften die mehrfache Replikation von Studien vor. Das hat drei Ziele: (1) corroboration, die Bestatigung bekannter Befunde; (2) specification, die Modifikation von Befunden in Abhangigkeit von spezifischen Randbedingungen; (3) clarification, das Ersetzen oder Erganzen bisherigen Wissens durch neue Befunde. Die Wiederholbarkeit wissenschaftlicher Studien und die Bestatigung von Befunden spielen auch im von Karl Popper begrundeten kritischen Rationalismus eine wichtige Rolle, der eine der erkenntnistheoretischen Grundlagen der empirischen Sozialwissenschaft ist. Die Problematik instabiler und wechselnder Randbedingungen kann durch die detaillierte Analyse von Gemeinsamkeiten der sozialen Realitat zu unterschiedlichen Zeitpunkten, theoretische Berucksichtigung der Variabilitat und Komplexitat sozialen Lebens und methodische Vorkehrungen (beispielsweise bei der Frageformulierung und dem Design empirischer Untersuchungen) gemildert werden. Auf absehbare Zeit wird es jedoch sehr schwierig bleiben, sozialwissenschaftliche Gesetze zu formulieren. Die Wissenschaftler mussen daher bei ihrer Arbeit auch weiterhin stets das Unerwartete erwarten.
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Teil II: Wahlkampfstudien
Wahlen im Kaiserreich anna 1912 Wahlkampf im Obrigkeitsstaat Von Thomas Berg
Einleitung
Wahlkampfkann als eine Methode der Meinungs- und Willensbildung sowie als ein Modus der Machtverteilung einer Gesellschaft verstanden werden. Methode meint dabei die auf die jeweilige Gesellschaft zugeschnittene Art und Weise, wie die Gesellschaft entsprechend ihrer historischen Gestalt angesprochen wird, d.h. unter Berucksichtigung ihrer sozialen und okonomischen Gegebenheiten, vorherrschenden Denkstromungen und Problemlagen. Das bedeutet zugleich, dass jeder Wahlkampf auch ein Kind seiner Zeit ist. Die erste historische Uberlieferung einer Methode der Wahlkampfkommunikation stammt aus den Zeiten der Antike - es handelt sich urn einen Versuch, ein Yolk mittels geeigneter Rhetorik fur bestimmte Ziele zu gewinnen: Der Hotbeamte Korax aus Syrakus war angesichts der Vertreibung des Tyrannen von Sizilien im Jahr 467 v. Chr. mit der Moglichkeit des eigenen Machtverlusts konfrontiert. Urn dem zu entgehen, rief er das Yolk zu einer Versammlung zusammen. Es wird berichtet, dass er mittels einer Rede versuchte, seine Machtposition zu wahren bzw. wieder zu erlangen.' Man konnte diese Volksansprache als die erste Wahlkampfrede bezeichnen, welche die Geschichtsschreibung kennt, auch wenn es sich nicht urn einen formellen Wahlkampf gehandelt hat. Bemerkenswert ist allerdings, dass diese erste .Wahlkampfrede" genau in jene Zeit fallt, in die auch die Geburtsstunde der Demokratie und der Rhetorik fallt, Seitdem hat sich der Wahlkampf in der Antike, besonders aber in der Neuzeit und vor allem in den letzten Jahrzehnten, zu einem hoch spezialisierten politischen Instrument, einer hoch entwickelten Form der sozialen Interaktion und Kommunikation entwickelt. Amerikanisierung, Mediatisierung, Theatralisierung, Professionalisierung, strategisches Kampagnenmanagement und viele weitere Begriffe umschreiben den heutigen Stand der Wahlkampffiihrung. Die modemen Wahlkampfe spiegeln (wie aIle ihrer Vorganger) im Kern einerseits den historischen Stand des psychologischen Vermogens zur Beeinflussung von Menschen aber auch der Kommunikations- und Medienkultur einer Gesellschaft wieder. So ist es auch mit den Wahlen im Kaiserreich, genauer gesagt den Wahlen fur den Reichtag des Deutschen Reiches. 1m Folgenden soil vor aHem der Wahlkampf von 1912, der letzte Reichstagswahlkampf vor dem ersten Weltkrieg, beleuchtet werden. Zum Verstandnis dieses Wahlkampfes ist es notwendig, dass auch weitergehende geschichtliche HintergrUnde aufgezeigt werden, weil z.B. das soziale und geschichtliche Umfeld Einfluss auf die Art und Weise der Wahlkampffiihrung hat.'
Vgl. Ueding 1995: 15. Vgl. Bertram 1964. In dieser bereits als historisch anzusehenden Untersuchung hat der Autor bereits zeitliche Entwickl ungsab laufe herausgearbeitet.
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1m Kaiserreich vollzog sich ein tiefgreifender Wandel der Wahlkampfkultur: Es fand eine wachsende Professionalisierung der Politiker und der Wahlkampffuhrung statt, welche von einer steigenden Mobilisierung der Massen, von einem wachsenden Umfang an Wahlwerbung, einer grolseren offentlichen Anteilnahme am Wahlkampf und seiner strategischen Aspekte begleitet wurde. Bedingt wurden die vielfaltigen Veranderungen in der Gesellschaftsstruktur im Kaiserreich, und damit auch die Veranderungen im Wahlkampf, letztlich durch die soziookonornischen Umwalzungen infolge der Industrialisierung Deutschlands im Laufe des 19. Jahrhunderts. Die Dynamik, mit der sich die Gesellschaft wandelte, stand jedoch in krassem Gegensatz zum Konservatismus und zu der politischen Starrheit des Kaiserreiches. Und gerade in diesem Widerspruch sehen manche Historiker auch die Crux des Kaiserreichs: Das Dilemma, die Staatsstruktur einer modernen Gesellschaftsstruktur anzupassen.
Das politische System des Kaiserreichs Das Kaiserreich, mit offiziellem Namen als Deutsches Reich (hier synonym verwendet) bezeichnet, war eine konstitutionelle Monarchie in Form eines Bundesstaates. Die am 4. Mai 1871 in Kraft getretene Verfassung des Deutschen Reiches ging aus der Verfassung des Norddeutschen Bundes von 1866 hervor und war in Verbindung mit der Kaiserkronung Wilhelm I. in Versailles zumindest nach auBen hin ein Zeichen der nun hergestellten staatlichen Einheit. Die Bundesstaaten besaBen allerdings weiterhin ihre Eigenzustandigkeiten und die Verfassung legte genau fest, wofur die Reichsebene zustandig war. Die Bundesstaaten ubten im Hinblick auf das Reich tiber den Bundesrat ihre Gestaltungsfunktion aus, d.h. in Bezug auf das Reich als Ganzes war in erster Linie der Bundesrat entscheidend, in dem die Vertreter der Bundesstaaten saBen: Er entschied tiber Gesetzesvorlagen fur den Reichstag und tiber dessen Beschlusse. Der Reichskanzler, zugleich Minister der auswartigen Angelegenheiten und preuBischer Ministerprasident, hatte den Vorsitz im Bundesrat inne und fuhrte die Geschafte. Von insgesamt 58 Stimmen im Bundesrat hatte PreuBen 17 Stimmen, so dass PreuBen politisch ein Schwergewicht war. Der Konig von PreuBen war zugleich erblicher Bundesprasident und fuhrte in dieser Eigenschaft den Titel "Deutscher Kaiser".' Er konnte den Reichskanzler emennen und entlassen. Innerhalb der konstitutionellen Monarchie verfugte der preuBische Konig tiber das Heer, die Diplomatie und die Burokratie, als Deutscher Kaiser zusatzlich tiber den Verwaltungsapparat der Reichsbehorden, das Militar und die AuBenpolitik. Wenn man demnach die Machtfiille des Monarchen und seines engsten Mitarbeiterstabes naher betrachtet, dann hatte das Deutsche Reich nahezu absolutistische Zuge, die dem demokratischen Anspruch des Reichstags in keiner Weise gerecht wurden. Die Vertretung des Volkes war der Reichtag. Die Dauer der Wahlperiode betrug zunachst drei Jahre, ab 1888 durch Beschluss von Kaiser Friedrich III. funf Jahre. Es war ubrigens der einzige weitreichende Beschluss in den 99 Tagen der Herrschaft von Friedrich III. Der Reichstag als Versammlung von Abgeordneten, die weder an Auftrag noch Instruktionen gebunden waren, wurde vom Kaiser berufen, eroffnet und geschlossen. Zwar wirkte der Reichstag bei der Gesetzgebung mit, indem er die Initiative ergreifen konnte und das Budgetrecht ausubte, jedoch konnten Reichsgesetze nur mit beiderseitiger Mehrheit von Reichstag und Bundesrat zustande kommen. 1m Hinblick auf die Exekutive oder auf die Vgl. Raff200l: 180.
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Ernennung des Reichskanzlers hatte der Reichstag keine Rechte. Unter Zustimmung des Bundesrats konnte er vorzeitig aufgelost werden. Reichskanzler Bismarck sah im Reichstag nur ein Mittel, urn das .widerspenstige Burgertum':" zu beruhigen. Er setzte Hoffnung auf die Bestandigkeit der konservativen Krafte bei den Reichtagswahlen, was allerdings im Angesicht der Wahlergebnisse zumindest nicht immer der Fall war - schon gar nicht 1912, als die Sozialdemokraten starkste Kraft wurden. Die Sozialdemokratie war von Anfang an als eine fur das Reich zerstorerische Kraft angesehen worden, weshalb ein bestandiger Kampf gegen sie gefuhrt wurde. Durch die Emanzipationsbewegung innerhalb der Arbeiterschaft sahen viele Konservative ihre altdargebrachte, standische Machtstruktur in Gefahr, da diese Emanzipationsbewegung progressiv und modemisierend wirkte und damit Veranderungen in der Gesellschaft bewirken konnte, die den Nahrboden fur traditionelle Strukturen entzog. An dieser Stelle sind wohl auch die Grunde fur die herausgehobene Position des Reichskanzlers Bismarck anzusiedeln: Die Gesellschaft war einerseits von einem tiefgreifenden sozialen Wandel gepragt, andererseits verstand es Bismarck als Vertreter der herrschenden konservativen Elite den Staat durch eine Strategie aus Zugestandnissen (z.B. Sozialgesetzgebung), Forderungen, Repression der Gegner (z.B. Sozialistengesetz) und anderen Mitteln zu stabilisieren' So vertrat Bismarck in einem Balanceakt zugleich moderne und traditionelle Werte. Als Untergebener des Monarchen trug er eine absolutistische Militarpolitik mit und vertrat zugleich eine demokratisch unterbaute Interessenpolitik, die bei innerstaatlichen Problemen wiederum geschickt auf imperialistische, auBenpolitische Fragen gelenkt wurde. Ebenso war die bereits erwahnte Sozialgesetzgebung im Grunde nur ein Zugestandnis, urn die Sozialdemokratie zu schwachen und damit die konservativen Regierungskrafte zu stabilisieren. Wehler beschreibt in kurzer und treffender Weise das Deutsche Reich bis 1890 als ,,(... ) ein plebiszitar gekraftigtes, bonapartistisches Diktatorialregime im Gehause einer die traditionellen Eliten begunstigenden, aber rapider Industrialisierung und mit ihr partieller Modernisierung unterworfenen, halbabsolutistischen und pseudokonstitutionellen, von Burgertum und Burokratie teilweise mitbeeinflussten Militarrnonarchie"." Das Staatsvolk war allerdings bei keiner Entscheidung, auch wenn es mitunter selbst betroffen war, der wirkliche Souveran: Trotz der vorangegangenen Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts war im Grunde eher ein Ruckschritt bei der Mundigkeit des Volkes zu verzeichnen. Der herrschenden Klasse gelang es, den eigenen Obrigkeitsstaat immer weiter zu festigen. Gleichzeitig trat dadurch das eigentliche Dilemma des Deutschen Reichs immer weiter zu Tage, namlich einerseits die voranschreitende Industrialisierung mit ihren okonomischen und sozialen Veranderungen und andererseits das starre politische System, das keine Veranderungen im Hinblick auf die sich verandernde Gesellschaft zulieB, sondern immer wieder mit kleinen Zugestandnissen den burgerlichen Kraften den Wind aus den Segeln zu nehmen versuchte. Somit waren keine wirklichen Neuerungen im politischen System im groberen Umfang moglich. Es war ein groBer gesellschaftlicher Veranderungswille vorhanden, der jedoch im politischen System zumindest nicht von der regierenden Seite aufgenommen worden ist.
Wehler 1994: 61. Vgl. ebd.: 65. Ebd.: 67.
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Das Obrigkeitssystem wurde zudem durch die stark konservative Burokratie erganzt, Nur wer sich uber Jahre gegenuber der Obrigkeit als treu und folgsam erwiesen hatte, konnte eventuell in hochste Amter gelangen. Der Anteil des konservativen Adels im Verwaltungsapparat war im Vergleich zu seinem prozentualen Anteil an der Gesellschaft uberdurchschnittlich hoch. Denn Bismarck selbst hatte die liberalen und damit regierungsfeindlichen Beamten ihrer Amter und damit gleichzeitig des Staatsdienstes enthoben. Der konservativ gesinnte Verwaltungsapparat wuchs zudem durch den Ausbau der Finanz-, Steuer und Militarverwaltung, Der Apparat konnte nicht nur Entscheidungen begleiten und umsetzen, sondern auch ebenso verhindern. Der Grad der Organisation entsprach keineswegs dem Grad der Effizienz. Vielmehr kristallisierte sich ein Geflecht von Vorschriften, Erlassen, Formalitaten und Kontrollen heraus, das Feind jeder Veranderung war. Und es ist wichtig zu erwahnen, dass dieses Obrigkeitssystem auch nach der letzten Reichstagswahl bis 1918 existierte und sogar noch in die Weimarer Republik ubemommen wurde. Wahrend Wilhelm I. seinen Kanzler Bismarck in den meisten politischen Fragen gewahren lieB, sah sich Wilhelm II. als der Regent, der von Gottes Gnaden uber alles herrschteo Sein Eintrag ins Goldene Buch der Stadt Munchen im September 1891 verdeutlicht dies: "Suprema lex regis voluntas!" (Der Wille des Konigs ist hochstes Gesetz)." Auch Bismarck sah ein, dass ein Regieren wie unter Wilhelm I. nicht mehr moglich war. Unter Wilhelm II., der eher eine hofisch-feudale und althergebrachte Kultur pflegte, jedoch zugleich sehr begeisterungsfahig fur technische Neuerungen war, wuchs Deutschland immer weiter zur Industrienation heran. Diesen Spagat zwischen Tradition und Modernisierung kennzeichnete auch das wilhelminische Kaisertum in sich. Doch nicht nur seine eigene Personlichkeit war von diesem Widerspruch gekennzeichnet, sondern auch das gesamte Umfeld von Kaiser Wilhelm II. So umgab er sich vomehmlich mit ihm horigen Gefolgsleuten, die jedoch nicht zu den besten Beratern gehorten. Das zeigte sich besonders bei den Nachfolgern Bismarcks - keiner von Ihnen erreichte das Format und die Kraft, das von Bismarck geschaffene Herrschaftssystem auszufullen. Hinzu kam, dass das Par lament und die Interessenverbande im Lauf des Kaiserreichs immer mehr an Einfluss gewannen. Der Reichstag gewann vor allem deshalb - trotz verfassungsmaliiger Beschrankungen - relativ an Bedeutung, weil er durch seine Budgetkommission Gelder u.a. fur die Kolonialpolitik, fur Expansionsbestrebungen, fur Heer und Marine bewilligen konnte. Man war diesbezuglich auf eine Zusammenarbeit angewiesen. Trotzdem heiBt das nicht, dass der Reichstag deshalb ein hohes Ansehen genoss: Sowohl bei den Spitzenbeamten als auch beim Kaiser selbst - er sprach von einem .Reichsaffenhaus'" - herrschte Geringschatzung vor. Der Reichstag selbst entwickelte allerdings auch keine Initiativen, die Parlamentarisierung voranzutreiben." Wie hatte er dies auch umsetzen konnen, hatte es doch mindestens eine Beschneidung der Kompetenzen des Bundesrates oder gar des Monarchen bedeutet. Die Parteien befanden sich im Grunde in einem ahnlichen Dilemma. Sie entwickelten sich zunehmend von Honoratiorenparteien hin zu Mitgliederparteien mit Verwaltungsapparaten und sparer auch bezahlten Mitarbeitern." Wahrend sich zunachst meist nur politisch Gleichgesinnte zu Wahlzeiten in Form von Wahlkomitees zusammenfanden, war durch den Druck, der durch die Sozialdemokratie und deren aufkommende Massenbewegung entstanden war, auch ein Druck zur Selbstorganisation bei den anderen politischen Gruppierungen
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Ullrich 1999: 145. Cullen & Kieling 1992: 69. Vgl. Ullrich 1999: 164 f. Vgl. Schroder 1999: 53 f. Oftmals waren die bezahlten Mitarbeiter zugleich Abgeordnete.
entstanden. Gleichzeitig wurde durch die voranschreitende Industrialisierung und den damit verbundenen Ubergang vom einer vomehmlich agrarisch hin zu einer industriell gepragten Wirtschaft die gesellschaftliche Meinungsbildung starker ausdifferenziert, was insbesondere die Entstehung von Verbanden forderte, Zunachst waren die Verbande eher als Interessenvertreter im Sinne eines Lobbyismus beim Parlament anzusehen. Wobei Ihnen "eher ein passives Zuwarten auf politische Entscheidungen in ihrem Sinne"!' beschieden war. Damit waren sie auch von den Mehrheitsverhaltnissen im Parlament abhangig, Nachdem Ihnen die Wahlen zum Reiehstag im Jahr 1903 sehr ungunstige Verhaltnisse bereiteten, anderten sie ihre Prinzipien der Einflussnahme grundlegend: Sie bekarnpften fortan ihre politischen Gegner, indem sie sieh als Wahlkampfhelfer fur die ihnen nahe stehenden politisehen Parteien engagierten. Die Entstehung der Massenpressef beforderte zudem die Informationsverbreitung. Mit den Mitgliederparteien, dem Verbandswesen und der Massenpresse entstanden die drei zentralen Faktoren, die auf die Politisierung der Bevolkerung hinwirkten. Als ein Zeiehen fur die zunehmende Politisierung innerhalb der Gesellsehaft kann sicherlieh die Wahlbeteiligung gelten: So stieg die Wahlbeteiligung von 51 Prozent im Jahr 1871 mit Unterbreehungen auf rund 85 Prozent im Jahr 1912 an." Die Annahme, dass dabei die politischen Hauptriehtungen relativ stabil von ihren Wahlern unterstutzt worden sind, ist spatestens mit Blick auf die Wahlergebnisse auf Wahlkreisebene nieht mehr zu halten: Es haben im Zeitraum des gesamten Kaiserreiehs "enorme Veranderungen in der Zusammensetzung des Elektorats" 14 stattgefunden. Dabei lassen sich nieht nur Veranderungen in der Sozialstruktur und im politischen Verhalten feststellen, sondem aueh in der Bevolkerungsstruktur, Ein Hauptgrund fUr die Sehwankungen im Elektorat durfte aber vor allern darin liegen, dass die Wahler sieh immer zu der politisehen Gruppierung hingezogen fUhlten, von der sie sieh eine bessere Interessenvertretung verspraehen. Die meisten Reichstagabgeordneten des spaten Kaiserreichs erlangten ihr Mandat tiber ihren heimatlichen Wahlkreis, allerdings herrschte mitunter ein anderes Verstandnis von den Funktion von Abgeordneten im Reichstag vor: Wahrend sieh Bundestagsabgeordnete heute sehr der sozio-okonornischen Entwieklung ihres heimatliehen Wahlkreis verpflichtet sehen, dominierte damals zunachst eine standische Siehtweise - man sah sieh als Vertreter eines sozialen Standes. Das Selbstverstandnis, die "allgemeine Wohlfahrt" im Wahlkreis zu fordern, entwiekelte sieh erst allmahlich, 1m Zuge der fortschreitenden Ausdifferenzierung des Parteiensystems konnten immer weniger Abgeordnete im ersten Wahlgang die absolute Mehrheit der Wahler fur sich gewinnen, was fur die Erlangung eines Mandats notwendig war. Deshalb kam es vermehrt zu Wahlbundnissen, Dabei sieherte z.B. eine Partie die Unterstutzung eines Kandidaten einer anderen Partei bei der Reichstagswahl zu, wenn im Gegenzug dafur beispielsweise einer ihrer Kandidaten bei einer Landtagswahl von der anderen Partei unterstutzt wurde. Solche Btmdnisse dauerten manehmal tiber mehrere Wahlperioden an. Wahrend auf der einen Seite eher modern wirkende politisehe Verbindungen eingegangen wurden, loste sieh zugleich der Wahlkampf auf der Ebene der Honoratiorenpolitik mehr und mehr auf. Allerdings kann das nieht daruber hinwegtauschen, dass die Parteien unabhangig von ihrer internen Organi-
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GrieBmer 2000: 12. Vgl. Stober 2000. Vgl. Winkler 1995: 84. Ebd.: 197.
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sationsentwicklung im Lauf des Kaiserreichs dem Obrigkeitsstaat mehr oder minder ohnmachtig gegeniiber standen. Sie passten sich dem obrigkeitsstaatlichen Ordnungsgefiige an. Das jeweilige Gedankengut der politischen Parteien war aus ideologisch-philosophischen und teils theologischen Schulen hervorgegangen, allerdings war bei der Fortentwieklung dieses Gedankenguts fur die Dauer des gesamten Kaiserreichs kaum ein Fortsehritt zu verzeichnen." Aufgrund der Starrheit des politischen Systems konnten politische Forderungen so gut wie nie wirklich abgearbeitet und in Regierungsprogrammen umgesetzt werden. Die einzigen Anderungen in der Ideologie und Programmatik der Parteien vollzogen sich allenfalls infolge gesellsehaftlicher Umwalzungen, die neue Probleme hervorbrachten, welehe in Parteiprogramme aufgenommen wurden. Doch auch diese neu hinzukommenden Programmpunkte konnten - wenn uberhaupt - nur mehr oder minder in Form von Kompromissen gegeniiber der herrschenden Obrigkeit politisch realisiert werden. Die oben erwahnten Veranderungen des Elektorats stehen sicherlich in Verbindung mit dieser weitgehenden Ohnmaeht der Parteien: Die Parteien aggregierten zwar grundsatzlich die Interessender Bevolkerung, kamen aber nieht dazu, die Agenda politischen Handelns mit zu bestimmen. Und die Wahler blieben trotz ihrer Moglichkeit, an Wahlen zu partizipieren, weitgehend unmundig: Sie hatten allenfalls die Moglichkeit, im Faile von Unzufriedenheit der Wahl fernzubleiben oder beim nachsten Mal eine andere Partei zu wahlen, Dennoch wurden die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften als Krafte der Modernisierung mit der Zeit zu Maehtfaktoren im Deutschen Reich. Und dieser Prozess wurde eindrucksvoll begleitet durch den starken Anstieg der Wahlbeteiligung. Die traditionelle Obrigkeitsauffassung ist vor allem vor dem Hintergrund des Aufstiegs des Verbandswesens interessante Das Entstehen eines vielfaltigen Organisationsgefleehts in den letzten beiden Jahrzehnten des Kaiserreichs machte es im Grunde unmoglich, auBerhalb desselben zu leben. Auch auf dem politischen Sektor waren Verbande aktiv, die die Politisierung" und vordergrtindige Pluralisierung der Gesellschaft vorantrieben. Bei genauerer Betraehtung der Verbande fallt auf, dass sie zumeist an altere Institutionen anknupfen konnten: So konnte z.B. der Zentralverband deutscher Industrieller auf dem Verein Deutscher Eisen- und Stahlindustrieller, auf dem Verein fur die bergbaulichen Interessen und auf dem Langnam Verein (Verein zur Wahrung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen in Rheinland und in Westfalen) aufbauen." Hinzu kam die enge Verknupfung zwischen traditionalistisehen, dem Obrigkeitsstaat zugeneigten Verbanden und Produktionsinteressen, die zunachst kein Gegengewicht in Form modernisierender Krafte hatte. Die groBen Flotten-, Wehr- und Kolonialverbande z.B. unterstiitzen allesamt die StaatsfUhrung in ihrer Politik. Beispielhaft dafur steht der Deutsche Flottenverein, der den Bau der deutschen Flotte vehement unterstiitzte und eng mit der Schwerindustrie verbunden war, die ihm wiederum die notwendigen finanziellen Mittel zur Beschaffung von Propagandamitteln fur die rund 80.000 Einzel- und korporativen Mitglieder bereitstellte."
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Vgl. Rohe 1992: 41. Vgl. Hertz-Eichenrode 1996: 47 ff. Vgl. Wehler 1994: 91. Vgl. ebd.: 93.
Gesellschaftliche und geistige Bewegungen Heutzutage lasst sich durch Meinungsumfragen und durch die hoch entwickelte amtliche Statistik verhaltnismalsig einfach aufzeigen, welche Fragen in der offentlichen Diskussion vorherrschen und welche Denkrichtungen dominant sind. Was die Menschen im Deutschen Reich hingegen bewegt hat, lasst sich nur anhand der Geschichtsschreibung und z.B. der Berichterstattung in den Printmedien aufzeigen - und hier auch nur fur einige wenige Themengebiete. Auf diese Weise lassen sich jedoch einige thematische Schwerpunkte identifizieren, die auch in Wahlkampfen eine Rolle spielten und sich in der Arbeit von Vereinen und Parteien niederschlugen. So war z.B. der Aufstieg der Arbeiterbewegung und der damit verbundene Kampf gegen die Sozialdemokratie ein zentrales Thema. Doch auch die Angste und Unsicherheiten der Menschen im Angesicht der Technisierung der Gesellschaft wurden intensiv diskutiert, Hintergrund beider thematischen Schwerpunkte war die Industrialisierung. Sie wurde als der alles uberlagernde und beeinflussende Prozess durch einen geseIIschaftlichen Wandel in vielen Bereichen begleitet, der neue gesellschaftliche und geistige Bewegungen hervorbrachte. Die deutschen Reformbewegungen, die sich seit Beginn des Kaiserreichs formierten, betrafen im Grunde den gesamten privaten und offentlichen Bereich der Gesellschaft. So wurden z.B. infolge der Reichsgrundung sogenannte Heimatvereine gegrtindet. 1m Gegensatz zu Geschichts- bzw. Altertumsvereinen folgten sie der Zielsetzung, Berichte und Quellen fiber einen bestimmten art zu sammeln und aufzubereiten. Zugleich beschaftigten sie sich aber auch mit der Gegenwart und der Zukunft des jeweiligen Ortes." 1m Mittelpunkt der Arbeit dieser Vereine stand der Versuch, dem Leben in der immer unuberschaubareren Wirklichkeit einen festen regionalen Bezugspunkt zu geben. Die durch die Industrialisierung hervorgerufenen gesellschaftlichen Veranderungen wurden auch von Veranderungen der okonomischen Grundlagen der Gesellschaft begleitet. Die Urbanisierung und der damit einhergehende Prozess der Herausbildung der Massengesellschaft trugen in erheblichem MaBe zu einer Desorientierung bei vielen Menschen bei. Der Einklang von Kerper, Geist und Seele wurde als gestort empfunden. Eine Ruckkehr zu alternativen und vor allem gesunderen Lebensformen wurde gefordert. Die uns heute neben der Schulmedizin bekannten Naturheilverfahren erlebten damals ihre Grundungsphase - es wurde eine angeblich naturgesetzliche Lebensweise in Form von Nahrungs-, Verhaltensund Medikationsweisen propagiert. 1m Zuge der sogenannten .Lebensreformv-Bewegung entstand eine Philosophie zur Behandlung des Menschen mit dem Ziel einer ganzheitlichen Erlosung und einem ganzheitlichen Heil. 20 Dazu gehorten explizite Ernahrungsvorschriften, wie sie z.B. einer der geistigen Vordenker des Dritten Reichs, Julius Langbehn, propagierte. 2 1 Ebenso gehorten dazu aber auch Kleidungsreformen, die Freikorperkultur oder die aufkommende Rassenhygiene. Durch die Ubertragung der Prinzipien des Darwinismus auf den Menschen entstand der Sozialdarwinismus, der die Grundlage fur den theoretisch verbramten Rassismus und Antisemitismus der Nationalsozialisten darstellte. Durch all diese (teils neuen) Bewegungen und Denkrichtungen wurden auf der einen Seite die innersten Bedurfnisse der Menschen angesprochen, andererseits zugleich in einfacher Form Erklarungsmuster fur Probleme und Ungerechtigkeiten geliefert.
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Vgl. Klueting 1998: 47 ff. Vgl. Krabbe 1998: 73 ff. Vgl. Langbehn 1933: 183 f.
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Die Wahlen zurn Reichstag 1912 Die Reiehstagswahlen von 1912 stellen den letzten Hohepunkt der Wahlermobilisierung in der gesellsehaftliehen und politisehen Entwieklung des Kaiserreiehes dar. Dieser Hohepunkt wurde infolge des Ersten Weltkriegs aueh nieht mehr uberboten, da die Wahlen zum 13. Reiehstag im Jahr 1912 zugleieh aueh die letzten im Deutsehen Reich waren. Die Wahlkampfkommunikation in diesem Wahlkampf war oftmals uberspitzt und verzerrt. FUr den Wahler ergaben sieh uberall Informationsdefizite, auf die aueh die einleitenden Worte im .Wegweiser fur die Reiehtagswahl 1912" hinweisen: "Wo findet er einen Halt, einen Wegweiser dureh das Labyrinth der Parteipolitik?", fragt der Wegweiser und konzediert: .Der Wahlkampfist bei allem Unschonen, das er mit sieh bringt, doeh dadureh, dass er die Geister aufiiittelt, ein gewaltiger Faktor in dem groBen Erziehungsprozesse des deutsehen Volkes.,,22 Diese Definition des Wahlkampfes ist sehr bezeiehnend, tragt der Wahlkampf naeh damaligem Verstandnis doeh zur Erziehung des Volkes bei - eine vergleiehsweise undemokratisehe Vorstellung. Wahrend sieh im fruhen Kaiserreieh vor allem die Honoratioren urn den Wahlkampf kumrnerten und oftmals aueh letztlieh in der Volksvertretung saBen, entwiekelte sieh der Wahlkampfmit der Zeit mehr und mehr zu einem Massenphanornen, das von Massenkommunikation gepragt war und zum Ziel hatte, viele Wahlberechtigte, nieht nur einige wenige zu erreichen. Dabei ubemahrnen in der zweiten Halfte des Kaiserreiehs die Verbande eine tragende Rolle. Unterstutzt wurden sie durch Massenmedien in Form von Plakaten, Flugblattern und nicht zuletzt durch die Berichterstattung in der auflagenstarken Presse. Urn grolsere Teile der Bevolkerung zu erreichen, wurden zunehmend Massenveranstaltungen organisiert, die aueh eine neue Form professioneller Organisation erforderten und so die Professionalisierung von Parteien und Verbanden vorantrieben. Im Zuge dieser Professionalisierung stiegen auch die Wahlkampfkosten dramatisch an, von ca. 500-1000 Mark fur einen aussichtsreiehen Kandidaten urn 1880 auf ca. 20.000-30.000 Mark 1912. 23 Dabei muss man hinsichtlich der Mobilitat des Elektorats zwischen der Stadt- und der Landbevolkerung unterseheiden. Wahrend die stadtische Bevolkerung fur Massenveranstaltungen leichter gewonnen werden konnte, war dies bei der Landbevolkerung nieht so einfaeh. Dafur herrschte "auf dem Land" eher der "personliche" Weg der Wahlkampfkommunikation und -beeinflussung vor. So wurde beispielsweise in vertraulichen Gesprachen im kleinen Kreis, im Rahmen personlicher Beziehungen, aber aueh im Rahmen von Gefalligkeiten oder Repressionen auf die Wahl bestimmter Kandidaten hingewirkt, Diese althergebrachte, eher interpersonale Strategie der Einwerbung von Gefolgsehaft entstammte im Grunde noeh den Zeiten der Honoratiorenparteien - man versuehte Wahler durch personliehe Ansprache im kleinen Kreis zu mobilisieren. Dabei war diese Seite des Wahlkampfs z.T. sehr gut organisiert. Bei der Berliner SPD z.B. musste jeder sogenannte Vertrauensmann im spaten Kaiserreich im Rahmen des Wahlkampfs zwei Hauser "bearbeiten". Heute wird diese Praxis, personlich von Haus zu Haus zu gehen und von Angesieht zu Angesicht fur eine Partei bzw. einen Kandidaten zu werben, mit dem Begriff des Canvassings bezeichnet. Wahrend die Honoratioren in fiiiheren Wahlkampfen dergestalt Einfluss nahmen, dass ihre Wahlabsieht auch fur viele der Angesproehenen, Anhanger und Sympathisanten im Hinblick auf deren eigene Wahlentscheidung bedeutsam war, verlegten sich Honoratio-
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Blaustein & Hillger 1911: 5 ff. Vgl. Kuhne 1997: 142.
ren sparer zunehmend darauf, die Parteien bei Massenveranstaltungen offentlich zu unterstutzen, z.B. indem sie selbst das Wort ergriffen. Das fUhrte mitunter auch dazu, dass Amtspersonen Wahlauftufe von Parteien unterzeichneten. Doch solche Aufrufe wurden oft annulliert, die Unterzeichner wurden angewiesen, solche Aktionen zu unterlassen. Der Wandel von Honoratioren- zu Massenparteien bedeutete allerdings keine Entwertung der Rolle einzelner politischer Personlichkeiten. Zwar waren die Honoratioren als Rollentrager politischen Handelns zunehmend veraltet, dafUr aber kam innerhalb der Massen ein .Verlangen nach einer charismatischen Fuhrerpersonlichkeit'r" auf. Diese charismatische Fuhrerpersonlichkeit, die auch der Organisation des Massenphanornens gewachsen sein sollte, wurde von Max Weber analytiseh herausgearbeitet." Doeh einerlei, ob das politische Geschehen von Honoratioren oder einzelnen Fuhrungspersonlichkeiten dominiert wurde - fur die breite Bevolkerung bedeutete dies weiterhin, dass die Partizipation an der Politik trotz gestiegener individueller Politisierung relativ beschrankt blieb, da letztlich weiterhin nur ein elitarer Zirkel von wenigen Personen an den entscheidenden Schaltstellen der politischen Macht saBen. Uberdies war ohnehin groBen Teilen der Bevolkerung die demokratische Teilhabe verwehrt, da das Frauenwahlrecht erst 1918 beschlossen wurde und erst 1919 zum ersten Mal Anwendung fand. Die Verbande waren sehr intensiv in die Tagespolitik involviert, urn die eigene Klientel zu fordern und zugleich den politischen Gegner zu bekampfen, Ein Beispiel: In Kassel hatte die SPD fur den Wahlkampf 1912 ihre ganze Energie aufgeboten, urn den Wahlkreis zu gewinnen. Die 52 dazugehorigen Ortsvereine lieBen insgesamt ,,779000 Flugblatter, Broschuren und sonstige Schriften" drucken, sowie ,,388 Mitglieder- und 246 offentliche Versammlungen'v" durchfiihren. Trotzdem gelang es dem SPD-Kandidaten nieht, schon im ersten Wahlgang als Sieger hervorzugehen. Dieses Scheitem war auf die Aktivitaten des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie zurtickzuflihren: Der Reichsverband gegen die Sozialdemokratie hatte Flugblatter verteilt und Zeitungsanzeigen geschaltet, und es wurde ein Schlepperdienst organisiert, urn die weniger Wahlbereiten dennoch zu den Wahlurnen zur bringen." Doch wie sah die Agitation von Parteien und Verbanden gegeneinander im Detail aus? Anfangs wurden z.B. Flugblatter in der Regel von den Kandidaten mehr oder weniger selbst entworfen. Bestenfalls enthielten solche Flugblatter eine Stellungnahme des Kandidaten oder eines anderen Burgers, der fur den Kandidaten warb. Dabei war die Verbreitung eher auf den jeweiligen Wahlkreis beschrankt, Die spatere Entwicklung hin zur Massenkommunikation verlangte eine zentrale Abstimmung durch die Parteizentrale, wo die Themen fur den Wahlkampf auf nationaler Ebene inhaltlich, zeitlich und gestalterisch abgestimmt werden mussten. Hinzu kamen mitunter mehrseitige Beilagen in der Tagespresse, in denen ausfiihrlich die Wahlprogramme dargestellt wurden. Dartiber hinaus gab es Broschuren, Kalender und sogenannte Agitationshandbucher. Sie gehorten zur Grundausstattung eines jeden Redners. Inhaltlich waren sie alphabetisch nach Wahlthemen und programmatischen Aussagen autbereitet. Die Wahlkampfe arteten dabei oft in Materialschlachten aus, bei denen sich die SPD besonders aktiv zeigte. Nach Angaben des Chemnitzer Parteitagsprotokolls der SPD wurden 1912 bei der Reichtagswahl 88 Millionen Flugblatter verteilt. Immerhin konnte man allein den Unter24 25 26 27
Langewiesche 2003: 12. Vgl. ebd: 7, FuBnote 18. GrieBmer2000: 195. Vgl. ebd.: 198.
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verbanden 68 Flugblattvorlagen anbieten.i" Insgesamt wurden bei Reichtagswahlen wesentlich mehr Flugschriften verteilt als bei Landtagswahlen. Die Massenkommunikation konnte im Mehrheitswahlrecht wesentlich besser umgesetzt werden als in PreuBen mit seinem Drei-Klassen-Wahlrecht. Dort musste eine speziellere Ansprache der Wahler erfolgen, wahrend bei den Reichtagswahlen die gesamte Gesellschaft den gleichen Zugang zu den Wahlen hatte. Die Beobachtung der Schriften des politischen Gegners ist ein weiteres Merkmal der damaligen Kampagnen-Planung. So wurden Flugblatter und andere Schriften des politischen Gegners als Belegmaterial eingesammelt und zur Parteizentrale zur dortigen Auswertung gesendet. Dadurch war bisweilen auch eine Angleichung in Gestaltung und Art und Weise der Schriften zwischen gegnerischen Parteien zu verzeichnen, Gleichzeitig war man sich der Notwendigkeit des kunstlerischen Schreibens und Gestaltens bewusst. Wahrend fruher eher theorielastige und langatmige Texte verfasst wurden, passte man sich dem Zeitgeist an und formulierte die Texte popularer, Bisweilen wurde auch versucht, moglichst objektiv uber die Formulierungen und Absichten des politischen Gegners im Wahlkampf aufzuklaren, wie z.B. in einem sozialdemokratisches Flugblatt mit der Oberschrift "Wer verroht die Politik?", welches gegen den Reichsverband gegen die Sozialdemokratie eingesetzt worden ist. Aufgrund des autkommenden Massenmarktes wurde es fur die Parteien immer wichtiger, neue Strategien und Methoden anzuwenden, urn die eigenen Wahler zu mobilisieren. Dabei war nicht nur die Heterogenitat des Wahlvolkes zu beachten, sondem - wie es z.B. in PreuBen der Fall war - auch die durch das Drei-Klassen-Wahlrecht bedingten unterschiedlichen Wertigkeiten von Wahlern auf einen Nenner zu bringen. Die jeweiligen Lebenswelten, in denen die Parteien fur ihre Wahlwerbung nach Gemeinsamkeiten suchten, wiesen letztlich sehr viele Unterschiede auf. Vor diesem Hintergrund schieden rationale Mittel der Wahlkampfwerbung wie Sachargumente, Versprechen politischer MaBnahmen etc. eher aus, man suchte den gemeinsamen Nenner vorrangig im Bereich des Emotionalen. Der Ruckgriff auf schon vorhandene Stereotype innerhalb der Bevolkerung schien dabei ein probates Mittel zu sein, da sich die Bevolkerung in ihren moralischen Ansichten aber auch Ressentiments weit weniger unterschied als in ihren konkreten politischen Bedurfnissen, So wurden die Wahlen von 1907 ganz im Zeichen auBenpolitischer Fragen rund urn imperialistische Machtpolitik gefuhrt, Die Reichtagswahl von 1912 stand dagegen vor allem im Zeichen der Rustungspolitik, 1m Rahmen der Wahlkamptkonzeption war es fur die Parteien keine Selbstverstandlichkeit, in allen Wahlkreisen einen Kandidaten aufzustellen. Wahrend die SPD als besonders groBe und gut organisierte Partei in allen Kreisen einen Kandidaten aufstellte, positionierten andere Parteien nur in aussichtsreichen Wahlkreisen einen Kandidaten. Die antisemitischen Gruppen hingegen nutzten die Gelegenheit, in moglichst vie len - auch aussichtlosen - Wahlkreisen einen Antisemiten aufzustellen. Sie versprachen sich davon, auch im FaIle des eigenen Scheiterns eine gewisse Breitenwirkung zu erzielen und Judenhass anzufachen. Dartiber hinaus fuhrten die bereits erwahnten Wahlbundnisse ebenfalls zu einem vermehrten Auftreten von Antisemiten auf der Wahlbuhne, Die Agitationen gegen Juden nahm bereits in der ersten Halfte des Kaiserreichs Formen an. So wurden bei tagesaktuellen Anlassen in kurzester Zeit Flugblatter und Plakate verteilt, die einen antisemitischen Inhalt aufwiesen, wie z.B. "Wahlet keine Juden".29 Seitens der Konservativen wurde das Feind-
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Vgl. ebd.: 202. Hopp 2003: 271.
bild des Liberalismus mit dem judischen Feindbild verbunden, urn gleich zwei unliebsame politische Gegner miteinander in einen Zusammenhang zu bringen." Durch eindringliches Wiederholen von solchen (Wahlkampf-)Botschaften wurde dem stereotypen Antisemitismus bei vielen Gelegenheiten, wie z.B. Volksfesten oder Wahlveranstaltungen, und mit vielen Medien, z.B. Plakaten und Flugblattern, der Boden bereitet. Auch offentliche Tumulte, Schlagereien u.a, waren bei Wahlkampfveranstaltungen von nun an keine Seltenheit mehr. Durch diese Entwicklungen, aber auch durch die allgemein starke Ideologisierung und Zuspitzung im Wahlkampf, wurden die Wahlkampfe von vielen Menschen eher gering geschatzt, da sie das politisch-soziale Klima insgesamt aufheizten."
Fazit In der Einleitung wurde argumentiert, dass der Wahlkampf auch immer ein Kind seiner Zeit sei. Wie kann man diese Aussage vor dem Hintergrund des Deutschen Reichs verstehen? 1m Deutschen Reich hat sich durch die zunehmende Industrialisierung und die damit einhergehenden sozialen und okonomischen Veranderungen eine groBe Wandlungsdynamik in der Gesellschaft entwickelt. Gleichzeitig wurde allerdings diese Wandlungsdynamik vorn politischen System nicht aufgegriffen. Die Grtinde dafUr liegen im Beharrungsvermogen der herrschenden konservativen Krafte, an deren Spitze der Monarch stand. In der ersten Phase des Kaiserreichs hatte Reichskanzler Bismarck die Vormachtstellung der monarchistischen Krafte mit einer teils sehr geschickten strategischen Vorgehensweise abgesichert. Zugleich wurden die herrschenden Krafte durch einen ebenfalls konservativen und dem Monarchen treu ergebenen Verwaltungsapparat institutionell erganzt, 1m Vergleich zu vergangenen Revolutionen waren im Deutschen Reich keine revolutionaren Veranderungen festzustellen, da das Regime den Kraften der Urnwalzung durch Zugestandnisse und Repressionen den Boden entzog. Dennoch wurden die gesellschaftlichen Veranderungen z.B. in Form der Reformbewegungen nach au13en sichtbar. Und im Yolk war der Wunsch nach Veranderungen, wie sie im Wahlkampfthematisiert und in Massendrucksachen propagiert wurden, weit verbreitet - dies zeigt auch die steigende Wahlbeteiligung und der groBe Zulauf fur die antimonarchischen Krafte im Reichstag. Dies hatte allerdings fur den politischen Alltag kaum Folgen, da die Parteien bei der Verwirklichung ihrer Ziele durch die Verfassung und die Verfassungswirklichkeit enorm gehemmt waren. Entsprechend folgte auf Wahlen in der Bevolkerung oft Emuchterung, wenn die Versicherungen des Wahlkampfs nach der Wahl nieht entsprechend umgesetzt wurden bzw. werden konnten. 1m Deutschen Reich wurden nicht zuletzt durch die obrigkeitsstaatliche Politik Bismarcks die Grundlagen fur die Fortschreibung der Unmundigkeit groBer Teile des Volkes gelegt, die emeut in der zweiten Halfte der Weimarer Republik spatestens durch die Notstandsgesetzgebung wiederauflebte. Das obrigkeitsstaatliche System des Deutschen Reiches existierte offiziell bis 1918 und der Verwaltungsapparat, der sich bis dahin entwickelt hatte, wurde praktisch unverandert in die Weimarer Republik ubernommen, Die Parteien wandelten sich zwar von Honoratiorenvereinigungen zu Parteien modemen Typs mit ausdifferenzierter Organisationsstruktur und hauptamtlichen Funktionaren, jedoch trifft auch sie zumindest in Teilen das Schicksal der obrigkeitsstaatlichen Unmundigkeit, unabhangig vom historischen Veranderungsprozess, der die Massenparteien hervorbrachte. Die Mas-
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Vgl. ebd. Vgl. Kohne 1997: 139.
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senmobilisierung - insbesondere zu Zeiten des Wahlkampfs - hatte ihren Hohepunkt bei den Reichtagswahlen von 1907. Bei den Wahlen von 1912 war bereits ein leichter Ruckgang zu verzeichnen. Angesichts der formellen Machtlosigkeit der Parteien hatten Wahlkampfe im Kaiserreich neben einer Mobilisierungs- auch eine Artikulations- oder Ventilfunktion: Sie gaben reformerischen oder revolutionaren Gedanken zumindest ansatzweise eine offentliche Plattform. Rudolf Stober schreibt: ,,(... ) Offentlichkeit besaB plebiszitar, legitimatorisch, unterstutzend oder zur Mobilisierung von Widerstand groBes Gewicht (... ),,32. Kritischem Gedankengut konnte Gehor verschafft werden, auch wenn es an der Umsetzung desselben letztlich mangeln musste. Die Grtinde fur den sehr intensiv gefuhrten Wahlkampf im Deutschen Reich sind vielschichtig. Als sieher kann jedoch gelten, dass AusmaB und Intensitat des Wahlkampfs aueh durch das Bestreben der Bevolkerung, der verfassungsmalsigen Unmundigkeit zu entfliehen, mitbestimmt worden ist. Ein Beleg fur diese These fmdet sich im Wahlergebnis selbst: Der uberraschend hohe Sieg der Sozialdemokraten im Jahr 1912 kann aueh als Ausweis eines wachsenden Modernisierungsbedurfnisses und eines Geflihls der Unzufriedenheit mit den herrschenden Zustanden interpretiert werden. Die SPD erhielt 34,8 Prozent der Stimmen und damit mehr als jede andere Partei, die zuvor zu einer Reichstagswahl angetreten war. Zum ersten Mal war die SPD uberdies starkste Fraktion, sie stellte 110 Abgeordnete. Der sozialdemokratische Trend setzte sieh im Ubrigen in Weimar fort - ein weiteres Indiz dafur, dass die Krafte der Modemisierung in der Bevolkerung immer starkeren Ruckhalt fanden. Die rechten Parteien waren die groBen Verlierer der Wahlen 1912. Die katholische Zentrumspartei erlangte 91 Sitze und kam auf Platz 2, gefolgt von der Nationalliberalen Partei, der Deutsch-Konservativen Partei und der Fortschrittlichen Volkspartei, die alle etwas mehr als 40 Sitze erreiehten. Die Wahlkampfe im Kaiserreich waren einerseits von der interpersonalen Wahleransprache und Wahlkampfversammlungen, andererseits vom Aufkommen der (oft parteilichen) Massenpresse'" und von der massenhaften Verbreitung von Wahlaufrufen, Flugblattern und Plakaten gepragt, Diese zeitgenossischen Medien enthielten bereits die klassischen Formen von Wahlkampfbotschaften - von verkurzten programmatischen Wahlaussagen uber Schlagworte bis hin zu Appellen an gesellschaftliehe Stereotype. Die Profilierung der Parteien erfolgte auf Kosten der politischen Gegner, die oft sehr negativ dargestellt wurden. Die Wahlkampfe waren ideologisch zugespitzt und die Wahlwerbung war auf die eigene Anhangerschaft zugeschnitten. Man ging davon aus, dass die Wahlkamptkommunikation ohnehin nur von der eigenen Klientel rezipiert werden wurde und verzichtete daher auf Botschaften, die fur breitere Wahlerkreise interessant gewesen waren, Stattdessen konzentrierten sich die Wahlkampfer auf die scharfe Konfrontation mit dem politischen Gegner. Betrachtet man die Wahlkampfe vor dem Hintergrund der zeitgenossischen Rahmenbedingungen, etwa der technischen Schranken der medialen Vermittlung und Einschrankungen der Wahlkampffinanzierung, zeigt sich, dass den Wahlkampfern, verglichen mit heute, enge Grenzen gesetzt waren. Zusammengenommen gelang es den demokratischen Kraften nicht, echte Demokratisierungsschritte und mehr Pluralismus zu bewirken. 1m Gegenteil: Das Deutsche Reieh erstarrte vielmehr. Alles was an demokratischen Fortschritten historisch notwendig gewesen ware, wurde auf der Weimarer Republik auferlegt. Und auch die Wahlkampfe in Weimar waren, angesichts der teils durehaus ahnlichen strukturellen und kulturellen Problemlagen, von ahnlichen Phanomenen gekennzeichnet.
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Stober 2000: 281. Stober 2000: 282.
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Auge urn Auge, Zahn urn Zahn - die Presse im (Wahl)kampf 1932 Von Tanja Engelmann
Vorbemerkungen "Wer Hitler wahlt, wahlt zum letztenmal; 1m Dritten Reich gibt es keine Wahl"l, schreibt einige Tage vor der Reichstagswahl am 31. Juli 1932 die sozialdemokratische Zeitung .Vorwarts". Zur gleiehen Zeit warnt das republiktreue "Berliner Tageblatt": "Wer der Urne fernbleibt, obwohl er weiB, daB ein Wahlerfolg Hitlers und seiner Hilfstruppen ein Verhangnis fur die Republik ware, hilft Hitler ebensosehr, wie wenn er einen nationalsozialistischen Stimmzettel in die Urne steckte. Die faschistische Diktatur, die Gewaltherrschaft von Dilettanten und Fanatikem, kann in Deutschland nur vermieden werden, wenn am 31. Juli aile, die den Sinn der Entscheidung begriffen haben, zur Wahl gehen und gegen Hitler, gegen Papen, gegen die Reaktion in jeder Form stimmen.,,2
1m Sommer 1932 war hingegen im nationalsozialistischen "Volkischen Beobachter" zu lesen: .Es geht nieht darum, Manner auszuwechseln und den bisherigen Kurs unverandert beizubehalten. Das System muB fallen! (...) Wir aber wollen nicht Partei bleiben. Wir wollen Yolk werdenl'" Aus heutiger Sicht sind dies ungewohnt deutliche, ja kampferische Zeilen. Sie illustrieren einerseits, welch groBe Zerreillprobe speziell der Juli- Wahlkampf 1932 darstellte - es war ein Wanken zwischen Demokratie und Diktatur, denn die republikanischen Krafte im Weimarer Staat setzten sich fur die Demokratie und das Fortbestehen der ersten deutsehen Republik ein und widersetzten sich denen, deren Anspruch totalitar war. Andererseits geben sie aueh grundsatzlich einen Eindruck davon, wie die Berichterstattung im Vorfeld zu Wahlen in der damaligen Zeit mitunter ausgesehen haben muss - sie entpuppte sich nieht nur im Jahr 1932 als ein Kraftespiel auf dem Papier. Urn dies zu illustrieren, zeigt dieser Beitrag wie fUnf Tageszeitungen der damaligen Zeit den Reichstagswahlkampf im Juli 1932 journalistisch begleiteten, mit welchen Mitteln diese Blatter Wahlkampf fuhrten, gegen wen und fur wen sie Propaganda betrieben. Zu Grunde liegen Ergebnisse einer inhaltsanalytischen Studie der Berichterstattung tiber die Reichstagswahlkampfe der Jahre 1920, 1924, 1928 und 1932 4, bei der vier Zeitungen untersucht wurden, die sowohl die extremen politischen Lager als auch die moderaten Krafte im Weimarer Parteiengefuge reprasentierten: Das Zentralorgan der Kommunistischen Partei Deutschlands "Rote Fahne", das der linksliberalen DDP nahestehende "Berliner Tageblatt", das Parteiblatt der katholischen Zentrumspartei "Germania" und das ZentVorwarts, .Das ,System' Hitlers.- Die Ruckkehr in den Absolutismus."Nr. 349,27.7.1932, S. 4. Berliner Tageblatt, "Wer nicht wahlt, hilft Hitler!", Nr. 358,30.7.1932 (MA), S. 1. Vgl. Volkischer Beobachter,"Die groBe Not ist da'', Nr. 201,19.7.1932, S. 3. Uberblick zur Berichterstattung wahrend der Reichstagswahlkampfe der Weimarer Republik in Engelmann 2004.
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ralorgan der NSDAP, der .Volkische Beobachter". FUr die Wahl im Juli 1932 wird im Folgenden noch eine fiinfte Zeitung herangezogen: der oben bereits zitierte .Vorwarts", Zentralorgan der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Bei der Analyse, wie sie im Folgenden dargestellt wird, spielte unter anderem die Frage nach den aktuellen politischen Themen und der Wahlkampffiihrung eine Rolle. Dabei wurden die Darstellung der Parteien und die Mittel der Wahlkampffiihrung untersucht, wie das Zitieren anderer Pre ssorgane, das Abdrucken von Wahlaufrufen und der Einsatz von Wahlstatistiken sowie -prognosen. AuBerdem wurde berucksichtigt, ob und wie uber Wahlreden und -veranstaltungen berichtet wurde und auf welche Weise Darstellungen von Personen eine Rolle spielten. Mit Blick auf das Ende der Weimarer Republik wird auBerdem dargestel1t, welche Haltung die Zeitungen zum demokratischen System und der Notwendigkeit, wahlen zu gehen, einnahmen. Die Darstellung der damaligen Berichterstattung muss vor dem Hintergrund eines Pressesystems gelesen werden, das erhebliche Unterschiede zu unserem heutigen aufweist. Dies gilt insbesondere mit Blick auf das joumalistische Selbstverstandnis, kennzeichnete doch der gesinnungsmalsig gebundene Typ von Zeitung den Charakter der damaligen deutschen Presse. So galt die Uberzeugung, dass der Journalist eine meinungsbildende Funktion innehabe und die Presse eine erzieherische Aufgabe erfiillen musse, Vor allem die Herausgeber linksliberaler Blatter als Hauptverfechter einer ideologischen Presse waren der Meinung, dass so die im politischen Denken der Deutschen noch nicht so stark verwurzelte Demokratie gefestigt werden konne, Allerdings befanden sie sich mit ihrer Vorstellung von der der Presse innewohnenden Lehrhaftigkeit in interessanter Gesellschaft: Einer, der ebenfalls fur das Primat der Meinungspresse votierte, war Joseph Goebbels. 5 Die Weimarer Zeitungslandschaft tei Ite sich auf in Parteizeitungen einerseits beziehungsweise Parteirichtungszeitungen und Generalanzeiger andererseits. Letztere verbanden als .wirtschaftliches Kuppelprodukt"? okonomische Interessen mit dem Informationsbedurfnis der Menschen, indem Anzeigenwerbung mit redaktionellen Inhalten kombiniert wurde. Inhaltlich war die Generalanzeiger-Presse zunachst neutral, vertrat aber sparer auch bestimmte parteipolitische Richtungen," Etwa die Halfte der in der Weimarer Republik erscheinenden Zeitungen - ihre Anzahl schwankte zwischen 3.243 (1921), 2.974 (1925) und 4.275 Titeln (1932)8 - bekannte sich offen zu einer parteipolitischen Richtung. Die andere Halfte der Blatter "der ,parteilosen' oder ,neutralen' Ausrichtung HeB, bei genauerer Betrachtung, nicht selten eine politische Grundrichtung erkennen. ,,9
Der Reichstagswahlkampf 1932 In eine Zeit, die gemeinhin als .Auflosungsphase der Weimarer Republik" beschrieben wird, tiel der Reichstagswahlkampf 1932. Es war der sechste von insgesamt acht Reichstagswahlkampfen der Weimarer Republik. Reichsweit wurde auBerdem noch bei der Wahl zur verfassungsgebenden Nationalversammlung im Januar 1919 und bei den Reichsprasidentschaftswahlen abgestimmt. Oem Zeitraum zwischen 1930 und 1933 gingen zwei aufeinander treffende Krisenentwicklungen voraus, die die Ansatze zur Stabilisierung in VgJ. Eksteins 1975: 73f. Wilke 2002: 476. Vgl. Wilke 2000: 346. Schutz 1969: 348-369. Vgl. Fischer 1971: 29; vgl. dazu auch: Deutsches Institut fur Zeitungskunde 1931: 146.
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Deutschland zunichte rnachten: Zurn einen hatte die 1929 einsetzende Weltwirtschaftskrise verheerende Folgen fur die ohnehin labile deutsche Wirtschaft, was zu einer sprunghaft ansteigenden Massenarbeitslosigkeit fuhrte, Zurn anderen rnarkierten der Bruch der "GroBen Koalition" unter Reichskanzler Hermann Muller und die Vorbereitung und Einsetzung des ersten Prasidialkabinetts Bruning irn Marz 1930 durch Reichsprasident Hindenburg den beginnenden Zerfall des dernokratischen Regierungssysterns. Bruning regierte mit Hilfe Hindenburgs auf der Grundlage der verfassungswidrigen Kornbination der Verfassungsartikel 48 zurn Notverordnungsrecht und 25 zurn Recht zur Reichstagsauflosung, wodurch das Parlarnent als demokratisches Entscheidungszentrurn faktisch ausgeschaltet wurde. Aufgrund der auf diesem Wege erfolgten Reichstagsauflosung wurden fur September 1930 Neuwahlen angesetzt, die die NSDAP von einer Splitterpartei zur zweitstarksten Fraktion im neuen Reichstag werden lieB. Wahrend die Partei bei der Maiwahl 1928 mit 2,6 Prozent nur zwolf Mandate erringen konnte, steigerte sie sich im September 1930 auf 18,3 Prozent mit 107 Abgeordnetensitzen. Die KPD konnte ihre Mandatszahl urn 23 auf 77 erhohen, so dass irn neuen Reichstag die Bildung einer positiven Mehrheit nicht mehr moglich war. Vor der Wahl hatte sich die DDP, in dem Versuch, die burgerlichen Krafte zu konzentrieren, mit der Volksnationalen Reichsvereinigung, dem politischen Arm des konservativen und antisemitischen Jungdeutschen Ordens, zur Deutschen Staatspartei zusammengeschlossen ohne Erfolg: Die Partei rutschte von 4,9 auf 3,8 Prozent ab." Bruning, der weiterhin das Vertrauen des Reichsprasidenten besaB, scheiterte mit dem Versuch, DNVP und NSDAP zur Unterstutzung der Regierung zu bewegen. Mit Rucksicht auf die in PreuBen bestehende Koalition von SPD, Zentrum und DDP/Staatspartei und aus Furcht vor den Konsequenzen einer emeuten Reichstagsauflosung entschloss sich die SPD dazu, das Kabinett Bruning und dessen Politik zu tolerieren. Im Lauf seiner Kanzlerschaft verlor Bruning die Sympathien bei Hindenburg und dessen Beratem auch aufgrund dieser Tolerierungspolitik mit der SPD und der Umstande der Reichsprasidentenwahlen im Fruhjahr 1932, bei denen sich Hindenburg gegen Hitler durchsetzen konnte. Damit bahnte sich die durch das Intrigenspiel des Generals von Schleicher, Ministeramtschef im Reichswehrministerium, vorangebrachte Entlassung Brunings Ende Mai 1932 an. Die anschlieBende Einsetzung des Prasidialkabinetts unter Reichskanzler von Papen sowie die vorzeitige Auflosung des Reichstags und die Anberaumung von Neuwahlen am 31. Juli 1932 waren Teile einer geheimen Absprache zwischen Schleicher und Hitler vor Brtmings Sturz, wobei Hitler zusagte, im Gegenzug die Prasidialregierung unter von Papen tolerieren zu wol1en. Die Aufhebung des seit April geltenden Verbots der paramilitarischen Organisationen der NSDAP, SA und SS, gehorte ebenfalls zu den Abmachungen Schleichers, so dass der Wahlkampf 1932 durch zahlreiche, blutige Auseinandersetzungen zwischen SA, SS und Stahlhelm einerseits und RFB und Reichsbanner andererseits gekennzeichnet war. Die in Lausanne vom 16. Juni bis 9. Juli 1932 stattfmdende Reparationskonferenz, bei der Deutschland weitgehend von seinen Reparationslasten befreit wurde, fiel ebenso in die Zeit des Reichstagswahlkampfs wie die Absetzung des von den Rechtsparteien verhassten PreuBen-Kabinetts durch ein staatsstreichartiges Manover (sag. PreuBenschlag), das Schleicher, von Papen und Reichsinnenminister von Gayl in die Wege geleitet batten.'!
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Vgl. Winkler 2000: 490 u. 493. Die Fusion im Juli 1930 irritierte nicht zuletzt die judischen Anhanger der DDP, von denen vermutJich viele zur SPD abwanderten. Vgl. Grevelhorster 2000: 143-175.
Die Wahlkampfberichterstattung im Juli 1932 Die folgende Darstellung bezieht sich auf die Berichterstattung, die jeweils zwischen dem 1. und 3 1. Juli 1932 abgedruckt wurde. Die Beschrankung auf einen Zeitraum von einem Monat vor dem Wahltermin bietet sich an, weil diese Phase haufig als die "heiBe Phase,,12 des Wahlkampfs bezeichnet wird. In den Wochen zuvor finden sich in der Presse nur sehr vereinzelt Beitrage uber Wahl und Wahlkampf. Zudem waren die Wahlkampfzeitraume damaliger Wahlen wesentlich kurzer, als es in der heutigen Zeit der Fall ist. Das "Berliner Tageblatt" beispielsweise empfand es im Juli 1932 als .sehr fruhzeitig"!', dass der Wahlkampfbereits gut drei Wochen vor dem Wahlterrnin begonnen hatte.
Das " Berliner Tageblatt
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Die Berichterstattung des "Berliner Tageblatts" ist gekennzeichnet von der Sorge urn die Zukunft des Weimarer Staates. Der Wahlkampf sei uberflussig, "die Auflosung und Neuwahl des Reichstages im Jahre 1932 ein Akt durchaus vermeidbarer, willkurlicher EntschlieBung der regierenden Gewalt" 14, schreibt das Blatt. Es berichtet tiber die blutigen Stralienkampfe mit zahlreichen Toten und Verletzten, deren Zahl sich besonders seit der Autbebung des Uniforrn- und SA-Verbots gesteigert habe. Ein Durchgreifen der Regierung und die Wiedereinfuhrung des Uniform- und SA-Verbots sei notig - zumindest fur die Dauer des Wahlkampfs. Doch da die Papen-Regierung von den Nationalsozialisten abhangig und ihnen weitgehend horig sei, scheine die Hoffnung daraufvergebens: .Dieser Burgerkrieg wird leider nicht aufhoren, solange sich eine Partei, die taglich den Terror predigt und betatigt, eine uniformierte Privatarmee halten darf, und solange die Regierung wegen ihrer politischen Abhangigkeit von dieser Partei den entscheidenden Schritt fur die Befriedung des politischen Lebens, das Verbot der Uniform, nicht untemehmen kann.':"
Als auBerordentlich bedrohlich wertet das "Berliner Tageblatt" die Handhabung von Notverordnungen durch die Regierung, die die Grundfesten des Weimarer Staates erschutterten. Es kritisiert die von der Reichsregierung geforderten Verbote von .Vorwarts" und .Kolner Volkszeitung", denn so werde das in Jahrhunderten erkampfte Gut der Pressefreiheit verspielt. "N icht weil sie beschimpft, nicht weil sie verachtlich gemacht, nicht weil sie Interessen des Staates gefahrdet haben, sollen diese Zeitungen verboten werden, sondern wei! sie Kritik geubt, weil sie die Empfindlichkeit eines staatlichen Machthabers verletzt haben." 16 Wie die Pressefreiheit allerdings unter einer nationalsozialistischen Herrschaft aussehen wurde, habe Goebbels in einer Rede im Sportpalast verlauten lassen. "Die Nationalsozialisten wurden, wenn sie erst die Herren waren, ganz anders aufraurnen, Sie wurden nicht zwei Zeitungen auf fiinf Tage, sondem 29 Zeitungen auffUnfMonate verbieten.v '" Auch hinsichtlich der auBenpolitischen Aktivitaten der Regierung von Papen ist das "Berliner Tageblatt" skeptisch. Noch vor Abschluss der Verhandlungen in Lausanne be12 13 14 15 16
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VgJ. Wilke & Reinemann 2000: 21. Berliner Tageblatt, .Wahlkarnpf an Rhein und Ruhr", Nr. 354,28.7.1932 (MA), S. 1. BerlinerTageblatt, .Der Wahlkampfhat begonnen",Nr. 313,4.7.1932 (AA), S. 1. Berliner TagebI att, .Erste Korrektur", Nr. 337, 18.7.1932 (AA), S. 1f. Berliner Tageblatt, "Die neue Freiheit", Nr. 309,1.7.1932 (AA), S. If; Berliner Tageblatt, .Das Verbot der .Kolnischen Volkszeitung"', NT. 316,6.7.1932 (MA), S. 12. Berliner Tageblatt, .Prcssefreiheit im dritten Reich", Nr. 323, 9.7.1932 (AA), S. 8.
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zweifelt die Zeitung, dass die deutsche Delegation eine .wirtschaftlich sachlich" bedachte, vernunftige Entscheidung herbeizufuhren imstande iSt.18 Mit dem Verhandlungsabschluss, der Deutschland zu einer abschlieBenden Zahlung von hochstens drei Milliarden Mark verpflichtet, ist das "Berliner Tageblatt" aber zufrieden und stellt hoffnungsvoll fest: "AuBenpolitisch ist damit der Weg freigegeben fur einen wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands. Sehen wir zu, daB er innenpolitisch nicht verschuttet wird."!" Doch mit Blick ins Innere des Landes wamt die Zeitung vor Experimenten, im Besonderen vor der Absetzung der preuBischen Regierung, die von den Nationalsozialisten immerzu gefordert werde. Als der sogenannte .Preubenschlag" am 20. Juli 1932 tatsachlich Realitat wird, schreibt das "Berliner Tageblatt", es sei "ein halsbrecherisches Spiel, das sie damit begonnen haben" und uberhaupt sei es fraglich, ob "der Weg zur Ordnung und vor allem zur Verfassungzuruckgefunden werden konne. Und ebenso schwer ist zu sehen, wie das politische Spiel mit den Kraften ausgehen soli, denen man jetzt einen Trumpf nach dem anderen, einen moralischen Erfolg nach dem anderen in die Hande wirft. Es besteht die hohe Gefahr, daB man die Geister, die man rief, niemals mehr los werden wird. (...) Wir bestreiten mit aller Entschiedenheit, daB dieses gefi1hrlichste verfassungsrechtliche Experiment, das je in der Republik untemommen wurde, notwendig war.,,20
Mit dem Vorgehen gegen PreuBen sei eindeutig bewiesen, was ohnehin schon vorher klar gewesen sei: der Pakt zwischen der NSDAP und der Papen-Regierung." Diese ebne den Weg fur die Nationalsozialisten und bringe Deutschland in eine "Situation, die dem Idealstaat der Nationalsozialisten, die Hitlers ,Drittem Reich' in erschreckender Weise ahnelt.,,22 Wie dieses letztlich aussehen solIe, das habe die NSDAP in einem Programm fur den Fall der Machtubernahme enthullt, in dem eine weitgehende Zen sur der Presse, drastische MaBnahmen im Bereich der offentlichen Sicherheit, die Einrichtung von "Sammellager(n) fur arbeitsunwillige und politisch unzuverlassige Personen", die Streichung der Arbeitslosenhilfe, eine radikale Bearntenpolitik und die Abschaffung der Gewerkschaften vorgesehen seien. 23 Die Frontstellung des "Berliner Tageblatts" gegenuber den Nationalsozialisten zeigt sich deutlich in seiner Themenberichterstattung, die Zeitung will ihren Lesem jedoch zusatzlich die Vorgehensweise und Strategie der Nationalsozialisten vor Augen fuhren: Beispielsweise sei die von den Nationalsozialisten geforderte Aufhebung des SA- und Uniform-Verbots die Ursache der blutigen StraBenunruhen. Selbige wurden aber von der NSDAP als Beweis herangezogen, dass die gewahlten Volksvertreter demgegenuber machtlos seien und deshalb ersetzt werden mussten.i" "Sie fuhren auf der einen Seite bewuBt und planmaflig die Zustande herbei, die sie dann auf der anderen Seite als Vorwand benutzen, urn die Regierung unter Druck zu setzen und VerzweiflungsmaBnahmen von ihr zu verlangen.r" Zudem forderten die Nationalsozialisten offen die Abschaffung des Parla18 19
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Vgl. BerlinerTageblatt, .Der Glaubiger-Vorschlag", Nr. 311,2.7.1932 (AA), S. If. BerlinerTageblatt,"Die Entscheidung in Lausanne", Nr. 322, 9.7.1932(MA),S. If. BerlinerTageblatt,.Llnter dem Ausnahmezustand", Nr. 341,20.7.1932 (AA),S. 1. Vgl. Berliner Tageblatt, .Entschleierung", Nr. 343,21.7.1932 (AA), S. If. Berliner Tageblatt, ,~Schritt fur Schritt", Nr. 345, 22.7.1932 (AA), S. 1. Berliner Tageblatt, .Das Paradies desDritten Reichs", Nr. 345~ 22.7.1932 (AA), S. 7. Vgl. Berliner Tageblatt, "Die Reise nach Neudeck", Nr. 329, 13.7.1932 (AA), S. 1. Die Forderung, die preuBische Landesregierung aufgrund der Tumulte im preuBischen Landtag und den blutigen Kampfen auf den StraBen abzusetzen, wird schlieBlich am 20.7.1932erfullt ("PreuBenschlag"). Berliner Tageblatt, .Gegen Waffenmissbrauch", Nr. 330, 14.7.1932 (MA), S. II.
mentarismus - Hitler drohe in seinen Reden bereits den burgerlichen und nichtburgerlichen Parteien." Die nationalsozialistischen Antrage im preuBischen Landtag zeigten, was die NSDAP zur Gewahrleistung der offentlichen Sicherheit, zur Belebung der deutschen Wirtschaft und zur Rettung der deutschen Kultur plane: Sie fordere unter anderem die Verhaftung der sozialdemokratischen Verantwortlichen in der Polizei und drohe mit der Bewaffnung der eigenen Mitglieder zum Selbstschutz. Die Korperschafts- und Einkommenssteuer solIe radikal erhoht und das Vermogen aller nach 1914 eingewanderten Ostjuden eingezogen werden. Ferner strebe man die Sauberung der deutschen Musik, Kunst und Literatur von "nicht-deutschen Elementen" an. Hochst ironisch geht das "Berliner Tageblatt" auf die einzelnen Punkte ein. Sein Kommentar zu den nationalsozialistischen Vorhaben auf wirtschaftlichem Gebiet kann stellvertretend fur die Meinung des Blattes zum gesamten nationalsozialistischen Programm herangezogen werden: "Wer sie liest, der ist, sollte man meinen, schon kuriert.v" Die innerparteilichen Verhaltnisse in der NSDAP seien von Misswirtschaft und Korruption auf Kosten der Arbeiterschaft gekennzeichnet." Diese Kommunikationsinhalte werden sowohl in der Berichterstattung tiber tagliche Ereignisse als auch in Leitartikeln und Kommentaren transportiert. Nur vereinzelt greift das "Berliner Tageblatt" die Berichte anderer Zeitungen auf, urn sie zu kommentieren. Der Blick in rechtsstehende Zeitungen, wie die "Deutsche Tageszeitung", die "Nationalsozialistische Korrespondenz" oder der "Volkische Beobachter", dient dem "Berliner Tageblatt" lediglich dazu, die dort ubliche parteipolitische Hetze zu kritisieren, die jeder konstruktiven Kritik entbehre." Oem .Volkischen Beobachter" wirft das Blatt vor, seine Leser mit falschen Angaben hinsichtlich der Teilnehmerzahlen bei den Hitlerveranstaltungen in die Irre zu fUhren. "Groteske Obertreibungen leistet man sich aber bei den Berichten tiber die Hitler-Versammlungen. Da berauscht man sich an phantastischen Teilnehmerzahlen.v" Amtlichen Meldungen zufolge seien die Veranstaltungen von weit weniger Menschen besucht worden. Das "Berliner Tageblatt" betont in diesem Zusammenhang, dass die Bevolkerung im Gegensatz dazu von den republikanischen Parteien "sachlich" informiert werde. 31 Mit Wahlaufrufen bemuht sich das "Berliner Tageblatt", die republikanischen Krafte zu unterstutzen und setzt sich fUr den Kampf der Sozialdemokraten und der Zentrumspartei ein. Es fuhrt seiner Leserschaft die Tragweite der Wahlentscheidung klar vor Augen und appelliert an die Vernunft, fur die Freiheit und gegen die Reaktion zu stimmen. Dabei kommen Wahlaufrufe fur eine bestimmte Partei nicht vor. Jedoch sei die Wahl republikanischer Parteien nach Ansicht der Zeitung entscheidend: .Wenn auch diesmal wieder gefragt wird, wen man wahlen solIe, so kann die Antwort nur lauten, daB die bedrohte Freiheit in der Notwehr zu jedem dienlichen Verteidigungsmittel greift. Die Verteidigung liegt beim Zentrum, bei der Sozialdemokratie und bei der Staatspartei.v" Es werden keine bestimmten Wahlergruppen angesprochen. Vier Tage vor der Wahl wendet sich das "Berliner Tageblatt" schlicht an "Aile Manner und Frauen, die kein Hitler-Regime mit der Terrorherrschaft der Braunen und mit seinen unabsehbaren Folgen wunschen, (...) Wer sich aus Be26 27
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Vgl. Berliner Tageblatt, .Hitlers Agitationsfeldzug", Nr. 343,21.7.1932 (AA), S. 7. Berliner Tageblatt, "Der Antrag", Nr. 336, 17.7.1932 (MA), S. If. Berliner Tageblatt, .Das Doppelgesicht der N.S.D.A.P.", Nr. 352,27.7.1932 (MA), S. 2. Vgl. Berliner Tageblatt, .Zuruckhaltung oder Ablehnung", Nr. 323, 9.7.1932 (AA), S. 7; Berliner Tageblatt, .Rechtspresse gegen Lausanner Einigung", Nr. 322, 9.7.1932, S. 2~ Berliner Tageblatt, "Ein sanftes Echo", Nr. 339,19.7.1932 (AA), S. 7. Berliner Tageblatt, "Wahlkampfan Rhein und RuM", Nr. 354,28.7.1932 (MA), S. If VgI. Berliner Tageblatt, .Wahlkampfan Rhein und Ruhr", Nr. 354,28.7.1932 (MA), S. If BerlinerTageblatt,"In Berlinund der ProvinzBrandenburg",Nr. 348,24.7.1932 (MA), S. 1f
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quemlichkeit oder Egoismus druckt, bescheinigt sich selbst seine staatsburgerliche Minderwertigkeit. Gleichgultigkeit wird zum Verbrechen (...).,,33 Mit Vemunft mussten sich die Menschen entscheiden zwischen jenen, "deren Wille und deren Kraft dafiir burgt, daB sie den Anschlag der Feinde politischer Freiheit zuschanden machen" oder denjenigen, die sich in blutigen Stralienkampfen und "Saalschlachten" im preuBischen Landtag prasentierten, .Der Wahler selbst wird zu bestimmen haben, ob er diesen Scharen und ihren vomehmeren Verbundeten das Reich ausliefem will. Er kann jetzt bewahren oder verleugnen, was ihm an Einsicht, an Mut und auch an bloBem Selbsterhaltungstrieb verliehen ist.,,34 Noch habe die republikanische Wahlerschaft den Stimmzettel als Waffe, urn Deutschland vor einem .Absturz in die Finstemis" und einer "unvorstellbare(n) Leidenszeit" zu bewahren, doch wenn davon kein Gebrauch gemacht werde, dann werde fur die Dauer der Herrschaft der Nationalsozialisten niemand mehr zur Wahl gehen konnen - "dann wird man die letzten Reste eurer Freiheit und eurer Burgerrechte zerschlagen und, mit den brutalsten Mitteln, die ihr kennt, euch zu dumpfem Gehorsam, zu schweigender Unterwerfung zwingen.v" Positiv berichtet das "Berliner Tageblatt" hingegen uber Wahlveranstaltungen der Zentrumspartei und der SPD, uber die dort gehaltenen Wahlreden fuhrender Sozialdemokraterr" und Zentrumspolitiker", sowie uber die Wahlreise Heinrich Brtinings und dessen Wahlreden. Sein Auftritt im Rheinland habe einem "Triumphzug" geglichen." Das "Berliner Tageblatt" ist der .Eisemen Front,,39 durchaus wohlgesonnen." Sie sei "die groBe republikanische Organisation zur Abwehr des Faschismus und des S.A.Terrors"?', die mit einer massiven Wahl- und Werbekampagne, deren Kennzeichen drei Pfeile auf rotem Grund seien, fur den Erhalt der Republik kampfe, Darautbin berichtet das "Berliner Tageblatt" immer wieder tiber Veranstaltungen der Eisemen Front und betont den Zuspruch, den die Bewegung aus der Bevolkerung erhalte. Ober eine Massendemonstration beispielsweise schreibt die Zeitung: Zehntausende hatten den gemeinsamen Ruf "Freiheit" skandiert und man habe gespurt, "daB es in Deutschland eine Schutztruppe fur Freiheit, fur die Volksrechte, gegen Diktatur und Parteiherrschaft gibt, die unbesiegbar ist und niemals unterdruckt werden kann. DaB sich heute, klarer als je, zwei Fronten gegenuberstehen, die Front der Freiheit gegen die Front der Reaktion." Wahrend der Demonstrationszug der Eisemen Front, der aIle Volks- und Berufsschichten vereint habe, "durch ein Spalier Begeisterter oder Sympathisierender" am StraBenrand gezogen sei, habe man die stramm marschierenden "Hitler-Garden", die in den Tagen zuvor durch Berlin marschiert seien, nur mit "Teilnahmslosigkeit, KUhle oder Ablehnung" bedacht.Y Negativ berichtet das "Berliner Tageblatt" hingegen tiber AuBerungen nationalsozialistischer Wahlredner." 33 34 35
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Berliner Tageblatt, ,,Am Sonntag Entscheidungsschlacht!", Nr. 352, 27.7.1932 (MA), S. 1. Berliner Tageblatt, .Der Wahler selbst", Nr. 327, 12.7.1932 (AA), S. If Berliner Tageblatt, .Urn Alles!", Nr. 360, 31.7.1932 (MA), S. 1f Vgl. Berliner Tageblatt, "Die Demonstration der Eisemen Front", Nr. 333, 15.7.1932 (AA), S. 7. Vgl. Berliner Tageblatt, "Bruning - Severing - Holtermann", Nr. 337, 18.7.1932 (AA), S. 9; Berliner Tageblatt, .Zentrumsfuhrer gegen Regierungskurs", Nr. 349, 25.7.1932 (AA), S. 9. Berliner Tageblatt, "Bruning im Wahlkampf", Nr. 313, 4.7.1932 (AA), S. 9; auch: Berliner Tageblatt, "BrOnings Wahlreise Nr. 340,20.7.1932, S. 12. Die .Eiseme Front" wurde im Dezember 1931 von SPD, ADGB, Afa-Bund, Reichsbanner und Arbeiterorganisationen gegrundet, Unter dem Fahnensymbol der drei Pfeile veranstaltete sie politische Kundgebungen und Umzuge (Vgl. dazu: Sturm, a.a.O., S. 54). Vgl. BerlinerTageblatt, .Die Eiserne Front im Wahlkampf",Nr. 325, 11.7.1932(AA), S. 10. Berliner Tageblatt, .Wahlkampf'fur die Republik", Nr. 332,15.7.1932 (MA), S. 15. Berliner Tageblatt, "Idee gegen Uniform", Nr. 315, 5.7.1932 (AA), S. 1f. Vgl. Berliner Tageblatt, .Nur eine Kostprobe", Nr. 330, 14.7.1932 (MA), S. 11. H
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Die Berichterstattung tiber Personen oder Kandidaten spielt wahrend des Wahlkarnpfs 1932 im "Berliner Tageblatt" keine Rolle. Jedoch kampft die Zeitung uneingeschrankt fUr den Erhalt der dernokratischen Staatsordnung. Sie steht zurn Weirnarer Staat sowie dessen Verfassung und betont den Schutz der Freiheitsrechte.
Die" Germania " Das Zentrurnsblatt macht die arntierende Regierung fur die angespannte politische Lage verantwortlich. "Die Gefahren, die aus diesem leichtsinnig heraufbeschworenen Wahlkampfe sich entwickeln konnen, Gefahren fur die Freiheit des Burgers und die Ordnung des Staates, sind noch nicht zu ubersehen, ,,44 AuBen- sowie innenpolitisch bescheinigt die "Germania" der Papen-Regierung eine erschreckende Bilanz und lehnt im Gegensatz zurn "Berliner Tageblatt" den Verhandlungsabschluss von Lausanne abo Man habe sich dort von den anderen Staaten in die Enge treiben lassen und das ursprungliche Ziel, Deutschland zu entschulden, vollig verfehlt. Innenpolitisch herrsche Barbarei, Terror und Unordnung nach Ansicht der "Germania" ein Vorgeschrnack auf eine nationalsozialistische Regierung. Das Blatt kritisiert die staatspolitische Entwicklung unter der bestehenden Regierung, die durch ihre Abhangigkeit von den Nationalsozialisten die von Bruning angestrebte .Llnabhangigkeit und Starke der Staatsfiihrung" zunichte gemacht und erneut parteipolitischen Bindungen und Abhangigkeiten untergeordnet habe.'?" Der "gute Ruf Deutschlands als eines Kulturvolkesv'" stehe auf dem Spiel. Auch die "Germania" warnt vor innenpolitischen Experimenten und schreibt zu den Ereignissen in PreuBen: "Was ist das fur ein unerhorter politischer und tatlicher Zwangsakt, mit dem die Trager der Reichsmacht gegen die Trager einer verfassungsmabigen Landesmacht vorgegangen sind und diese aus ihren Amtem entfemt haben! Sind wir von Deutschland- von D e u t s chI and! - tiber Nacht plotzlich nach SUdamerika verschlagen, urn einen gerade falligen Machtkampf zu erleben? (...) Wir furchten sehr, daB das was die Reichsregierunggestem angerichtet und in Bewegunggesetzt hat, ihr selbst und leider auch dem deutschen Volke sehr schlecht bekommenwird.,,47
Ebenso wie das "Berliner Tageblatt" sieht die "Germania" in der bevorstehenden Wahl die
.Jetzte Chance" fur das deutsche Yolk ,jegliche politische(n) Experimente" zu verurteilen." Die Zeitung wendet sich gegen die Nationalsozialisten und die Papen-Regierung wobei stets die Verteidigung der Zentrumspartei und des ehemaligen Zentrumskanzlers Bruning eine wichtige Rolle spielt. Die Vorgehensweise der NSDAP, die zuerst die Regierung Bruning gesturzt und dann wochenlang die Papen-Regierung toleriert habe, wird heftig kritisiert. Nachdem ihr dies von allen Seiten vorgeworfen worden sei, fange sie nun an, die Regierung unter von Papen zu bekampfen, Diese Tolerierungspolitik der NSDAP versucht die "Germania" imrner wieder durch die Veroffentlichung interner Schriftstucke oder Gesprachsprotokolle, die die Absichten der NSDAP offen legen, zu beweisen." Die "Germania" wirft der NS-Partei vor, zu feige zu sein, urn Verantwortung fur ihre Taten zu uber44
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Germania, .Das Zentrum im Angriff", Nr. 184,4.7.1932, S. 1. Germania, "Wohin des Weges?", Nr. 200, 20.7.1932,S. If. Germania, .Eindrucksvolle Bilanz", 17.7.1932, S. 1f. Germania, .Der Schlag gegen PreuBen - Der Stein rollt", Nr, 201,21.7.1932, S. If'(Hcrvorheb. i. Original). Germania, "Die letzte Chance", Nr. 208, 28.7.1932, S. If. Vgl. Germania, "Nazis bleiben verantwortlich", NT. 197, 17.7.1932, S. 11; auch: Germania, .Llnter Beweis gestelltl", 19.7.]932, S. 1.
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nehmen.i" Sie arbeite mit Lugen und Verleumdungen" und predige den einheitlichen Volksstaat, in dem die Trennlinien zwischen den deutschen Volksstammen verschwinden mussen. Der "neutralisierte Durchschnittsdeutsche" solIe wohl das Ergebnis sein, so das Blatt. Die Nationalsozialisten saten nichts als Hass und betrieben "Ubelste Hetze" gegen die katholische Kirche. 52 Die "Germania" kommentiert die Propaganda der anderen Parteien und ihrer Presse in ihrer Berichterstattung: Anlasslich des PreuBenschlages beispielsweise zitiert das Blatt aus der jubelnden Rechtspresse und stelIt spottisch fest, dass es verwunderlich sei, wie einheitlich das Vorgehen der Regierung plotzlich begrulst werde, wo man doch zuvor aufgrund des Wahlkampfs unaufhorlich auf die Regierung unter von Papen geschimpft habe.r' Die "Germania" wehrt sich auch vehement gegen die VorwUrfe der Nationalsozialisten in einem von diesen herausgegebenen "sogenannten Kampfblatt der werktatigen Jugend GroBdeutschlands". Man werde sich zwar nicht der gleichen "gemeinen Waffen" bedienen, mit denen die Nationalsozialisten ihre Gegner bekampften, dennoch sei es aber an der Zeit, "diesen Verfechtern des Christentums die Maske vom Gesicht zu reiBen, indem wir ihnen ihre eigene journalistische Produktion vorhalten. ,,54 Die Wahlkamptberichterstattung der "Germania" ist, ahnlich wie im "Berliner Tageblatt", gepragt von der abwehrenden Haltung gegenuber den staatsfeindlichen Kraften. Die Zeitung verteidigt aber vor allem die Zentrumspartei und wirbt eindringlich fur deren Wahl. Zur Zielgruppe ihrer Aufrufe gehoren die der Zentrumspartei ureigenen katholischen Wahler 55 sowie daruber hinaus besonders Frauen und Adelige. Angesichts der Absetzung der preuBischen Regierung allerdings appelliert das Blatt an die staatsburgerliche Ptlicht eines jeden - die Wahlentscheidung sei durch die Vorgange im Reich .zur Lebensentscheidung fur den deutschen Volksstaat geworden.v'" Eine Besonderheit pragt im Juli 1932 die Wahlkampffiihrung der "Germania": Ausfuhrlich begleitet die Zeitung die Wahlkampftour des Zentrumspolitikers Heinrich Bruning. Am 1. Juli 1932 kundigt sie an, dass fuhrende Zentrumspersonlichkeiten eine Wahlkampfreise durch Deutschland machen werden. "Die Fuhrer der Partei werden in den vier W 0chen des Wahlkampfs - neben den Abgeordneten der einzelnen Wahlkreise - im ganzen Reichsgebiete zum deutschen Volke sprechen. Weit uber die Reihen der Parteianhanger hinaus werden ihre Worte gehort werden.?" AnschlieBend berichtet die "Germania" detailliert tiber die verschiedenen Stationen der Wahlkampfreise Brunings, Spitzenkandidat des Zentrums, durch das Rheinland, PreuBen, Bayem und Westfalen. In der Berichterstattung, die der des nationalsozialistischen .Volkischen Beobachters" ahnelt, werden Bruning als auch Zentrumspolitiker als "FUhrer" beziehungsweise "FUhrer der Partei" bezeichnet. In den Artikeln uber die Veranstaltungen Brunings wird der GruB .Heil Bruning" verwendet und auch in der Art, wie die Wahlreise beschrieben wird, gibt es auffallige Parallelen zur Berichterstattung des "Volkischen Beobachters". Dabei legt die "Germania" Wert darauf, stets die groBe Begeisterung der Men50
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Vgl. Gerrnania, .Verantwortung ist bitter", Nr. 192, 12.7.1932, S. 7. Vgl. Gerrnania, "Der Lugenfeldzug der Nazis", Nr. 197, 17.7.1932, S. 11. Vgl. Gerrnania, "Die Goebbels'sche These", Nr. 207, 27.7.1932, S. If. Vgl. Gerrnania, "Die Rechtspresse jubelt", Nr. 201,21.7.1932, S. 3. Gerrnania, .Das Zentrum - die ,schwarze Schmach"', Nr. 203, 23.7.1932, S. 3. Vgl. Germania, ,,An das christliche Arbeitervolk Deutschlands", Nr. 181, 1.7.1932, S. 7; Germania, .Geschlossene Wah Ifront der Katholiken!", 14.7.1932, S. If. Germania, .Der Schlag gegen PreuBen- Der Stein rollt", Nr. 201,21.7.1932, S. If Gerrnania, .Auf in den Wahlkampf', Nr. 181,1.7.1932, S. 4.
schen und die Tatsache zu betonen, dass riesige Menschenmassen die Reden verfolgt und dem "FUhrer" begeistert zugejubelt batten." .Auch jemand, der durch die vielen Wahlkampfe der letzten Zeit abgestumpft ware, mubte innerlich mitgerissen werden von der Schwungkraft, von der Echtheit der Begeisterung und der mitreiBenden Bereitschaft der Tausende und Abertausende, die sich einsetzen wollen fur den klaren und zielsicheren Weg, den uns der FUhrer Bruning weist.,,59
Die Redaktion der "Germania" allerdings scheint sich der Ahnlichkeit ihrer Berichterstat.. tung mit der der Nationalsozialisten bewusst zu sein, da sie sich bernuht, sich von Vergleichen mit Hitler und der NSDAP zu distanzieren: .Wir lehnen es ab, jene suliliche Stimmung zu erzeugen, mit der man Herro Hitler zum Heros des deutschen Volkes stempeln will. Denn dieser Mann wird einfach nur dazu gestempelt. Wir haben einen FUhrer, der durch die Tat und die verantwortungsbewusste Arbeit bewiesen hat, daB er des Vertrauens der Massen (...) wurdig ist. Heil Bruning! - das ist der Ruf, der uns uberall entgegenklingt''"
Die "Germania" charakterisiert Bruning als einen weitsichtigen, mutigen Politiker, der als 61 Kanzler eine "stille, opferschwere, aber erfolgreiche Arbeit" geleistet habe. Seine politischen Leistungen und sein Einsatz auf der Wahlreise werden fortwahrend gelobt: .Eine unerhorte Leistung hat dieser wahre Volksfiihrer hinter sich: fast 2 ~ Jahre der schwersten verantwortungsvollsten Regierungsarbeit, in einer Zeit, wo eine Krise die andere jagte und aile Krisen uberstanden wurden.,,62 Vnd an anderer Stelle heiBt es: .Brtmings Name zieht den Millionen voraus, sie haben ihn und sein Werk erkannt, sie wissen, daB es keinen deut.. scheren FUhrer gibt als ihn. (...) Zehntausende jubelten ihm, dem wahren FUhrer des echten Deutschlands, zu (...), dem Fuhrer, dem Kanzler der Wahrheit, Klarheit und unbeirrbaren Sachlichkeit, dem Staatsmann hoher Gnade (...).,,63 Die besonderen Eigenschaften eines Staatsmanns und Volksfiihrers seien Bruning, einem geburtigen Westfalen, bereits angeboren, denn tiber den westfalischen Charakter schreibt das Blatt, als die letzte Etappe der Wahlkampfreise Bruning nach Westfalen ftihrt: .Hier wachst ein kemiger Menschenstamm, ein harter, zaher, zielbewusster Menschenschlag, trutziges Bauemtum und ein eisengeharteter Stadter: das ist des Landes und seiner Bewohner Charakter. Diesen schweren Landes Kind ist Heinrich Bruning.v'" Die Zentrumskandidaten in den Wahlkreisen und auf der Reichsliste gibt die "Germania" am 1O. Juli 1932 unter Angabe des Namens, Berufs und Wohnorts der Kandidaten bekannt. Mehr erfahrt der Leser nicht, das Blatt erwahnt lediglich nochmals, dass der Ex-Kanzler Bruning als Spitzenkandidat des Zentrums in fast samtlichen Wahlkreisen an der Spitze desjeweiligen Vorschlags stehe." Die "Germania" bekennt sich zur Demokratie und stellt immer wieder heraus, dass das demokratische Staatsystem erhalten werden musse. Jedoch billigt sie ausdrucklich den 58
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Vgl. Gennania, "Bruning im Rheinland",Nr. 184,4.7.1932, S. If; Gennania, .Bruning-Aufmarsch in Schlesien", Nr. 191, 11.7.1932, S. I; Gennania, .Paroleausgabe in Breslau: Vorwarts mit Bruning!", Nr. 193, 13.7.1932, S. 3; Gennania, .Bruning-Jubel in ganz Westfalen- 50.000 in Bochum", Nr. 207,27.7.1932, S. 7. Gennania, .Volk in Treue zu Bruning", Nr. 194,14.7.1932, S. 4. Germania, .Volk in Treue zu Bruning", Nr. 194,14.7.1932, S. 4. Vgl. Germania, .Zeuge gegen Hugenberg - fur Bruning", Nr. 188, 8.7.1932, S. 3. Gennania, .Paroleausgabe in Breslau:Vorwarts mit Bruning!",Nr. 193, 13.7.1932,S. 3. Germania, "Bruning im Rheinland", Nr. 184,4.7.1932, S. If. Germania, "Bruning in Westfalen", Nr. 205,25.7.1932, S. 1. Vgl. Germania, "Die Kandidaten des Zentrums", Nr. 190,10.7.1932, S. 13.
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Fuhrergedanken und einen damit verbundenen autoritaren Charakter der Demokratie: .Keine Experimente! Autoritat. Jawohl: Aber die Autoritat in einer Demokratie, die kein Zwangsinstitut sein darf, sondem ein Staat der Freiheit und der Toleranz.v'" Der Weg der Brtiningschen Staatsfiihrung habe zum Ziel gehabt, "ohne Beseitigung der gesunden demokratischen Grundlagen eine starke autoritare Regierungsgewalt herauszubilden. ,,67 Die Zeitung wehrt sich dennoch engagiert gegen die von den Rechtsparteien angestrebte Abschaffung des Reichstages, lehnt dabei vor allem eine Ruckkehr zu einem absolutistischen Staatssystem ab und mahnt zur Vorsicht gegenuber solchen Tendenzen. "FOr uns jedenfalls ist der deutsche Staatsburger etwas mehr als das billige Stimmvieh, das man in Kreisen der deutschen Rechten gebraucht, urn die glorreichen Zeiten wieder heraufzufuhren (...). Der monarchische Absolutismus ist langst historische Antiquitat. Glauben die Hitler und Hugenberg dem Volke im 20. Jahrhundert durch Massenhypnose einen parteipolitischen Absolutismus aufoktroyieren zu konnen? Freier deutscher Staatsburger, aufgewacht und aufgepabtl'i'"
Der " Vorwarts
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Auch im .Vorwarts" stehen das Vorgehen der Papen-Regierung bei den Reparationsverhandlungen in Lausanne und ihre Abhangigkeit von den Nationalsozialisten sowie die innenpolitische Situation und der so genannte PreuBenschlag am 20. Juli 1932 im Zentrum der Berichterstattung. Das Ergebnis von Lausanne wertet die Zeitung weitgehend als positiv 69 - die "von der Sozialdemokratie seit vierzehn Jahren vertretene sachliche AuBenpolitik" habe sich erfolgreich durchgesetzt. Zu verdanken sei das allerdings lediglich der wohlwollenden Haltung der Verhandlungspartner USA und Frankreich. Von Papen hingegen sei "in einen Erfolg hineingestolperr'?", den er vor den ibn stutzenden Kreisen verantworten musse. Schwachpunkt des Ergebnisses sei, dass nicht feststehe, ob und wann der Vertrag ratifiziert werde. 7 1 Immer wieder berichtet der "Vorwarts" uber die blutigen Auseinandersetzungen mit den Nationalsozialisten, zu denen es uberall im Land kornmt." Die burgerkriegsahnlichen Zustande forderten immer mehr Tote und Verletzte. Haufig schildert die Zeitung Uberfalle oder Morde an Personen aus den Reihen der Sozialdemokratie." Ab dem 20. Juli ist die Absetzung der sozialdemokratischen preuBischen Landesregierung eines der Hauptthemen der Zeitung.i" Mit Blick auf die steigenden Arbeitslosenzahlen" geht das Blatt zudem relativ haufig auf arbeitsmarktpolitische Themen ein, so etwa auf die Plane der Regierung zu 66 67
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Germania, .Volk in Treue zu Bruning", 14.7.1932,S. 4. Germania, .Wohin des Weges?", Nr. 200,20.7.1932, S. If. Germania, .Wohin des Weges?", Nr. 200,20.7.1932, S. If. Vgl. Vorwarts, "Lausanne und der 31. Juli", Nr. 321,10.7.1932, S. 13. Vorwarts, "Die Lehre von Lausanne", NT. 321, 10.7.1932,S. 1. Vgl. Vorwarts, "Die Ernte des Erfullungskanzlers Papen", Nr. 331,16.7.1932, S. 9. Vorwarts, "SA-Ueberfall in Halle", NT. 331, 16.7.1932, S.I~ Vorwarts, "Neue Blutopfer im Reich", NT. 332, 16.7.1932, S. 1~ Vorwarts, Bilanz einer Wahlwoche.", Nr. 333,17.7.1932, S. 18, Vorwarts, .Abgeordneter niedergeschlagen", NT. 342, 22.7.1932, S. 1, Vorwarts, .Wahlterror im OrdnungspreuBen", Nr. 346, 25.7.1932, S. 2. Vorwarts, .Der Burgerkrieg im Lande", Nr. 337,20.7.1932, S. 2. VgJ. Vorwarts, .Belagerungszustand tiber Berlin", NT. 338, 20.7.1932, S. 1~ Vorwarts, .Reichswehr im Polizeiprasidium!", Nr. 339,21.7.1932, S. 2~ Vorwarts,"Wie Grzesinski verhaftet wurde.", NT. 339,21.7.1932, S. 4.~ Vorwarts, "Protest aller PreuBenminister.", NT. 34],22.7.1932, S. 3. Vorwarts, "Alarm auf dem Arbeitsmarkt", Nr. 341, 22.7.1932, S. 3~ Vorwarts, .Arbeitsmarkt unter Papenkreuz. Mehr als drei Viertel der Bauarbeiter Ende JUDi arbeitslos.", NT. 335,19.7.1932, S. 4.
einem .Arbeitsdienst", durch den insbesondere arbeitslose Jugendliche unter 25 Jahren in gemeinnutziger Arbeit beschaftigt werden sollen." Es zitiert aus einer Verordnung, die als Rahmengesetz dienen solI: ,,1m freiwilligen Arbeitsdienst solI kunftig ,in gemeinsamem Dienste freiwillig emste Arbeit' geleistet und die jungen Deutschen sollen zugleich korperlich, geistig und sittlich ertuchtigt werden.v " Der .Vorwarts" stellt kritisch fest, dass man keine Details erfahre, also etwa nach welchen Grundsatzen der Dienst durchgefiihrt oder ob eine Versicherung fur die Betroffenen eingefiihrt werden solle. Es sei zu befiirchten, dass "die Arbeitsdienstpflichtigen den Erwerbslosen Arbeitsplatze wegnehmen"." Die Zeitung prophezeit, dass sich die Situation der Arbeiter im Faschismus drastisch verschlechtern wurde und belegt dies mit einem Blick in das .Mutterland des Faschismusv ", Italien. In diesem Zusammenhang weist der .Vorwarts" auch immer wieder auf die schwierige wirtschaftliche Situation der Arbeiter hin, die sich durch Kurzungen der Arbeitslosenhilfe ergeben habe." Das Blatt stellt unter anderem einen Vergleich mit der Situation im Jahr 1928 81 und der Lage der franzosischen und englischen Arbeiter an. Eindeutig bezieht der "Vorwarts" gegen die Nationalsozialisten Stellung: "Nach unserer Ueberzeugung fordem die innen- und auBenpolitischen lnteressen des deutschen Volkes den allerscharfsten Kampf gegen die nationalsozialistische Judaspartei und gegen jede Regierung, die sich in die Abhangigkeit dieser Partei begibr'", heiBt es Anfang Juli, kurz vor einem funftagigen Verbot des .Vorwarts", Reichsregierung und Justiz hatten ihm vorgeworfen, mit Verleumdungen des Reichsprasidenten und der Regierung die lnteressen des Landes zu gefahrden, Doch diese Frontstellung gegen die NSDAP bleibt kein Einzelfall. "Fort mit der volksverraterischen NSDAP,,83, fordert das Blatt so oder ahnlich immer wieder im Verlauf des Wahlkampfs. Was Adolf Hitler, der haufig im Zentrum der Angriffe steht, diktiere, habe Hunger und Entrechtung zur Folge. Von "Hungerdiktatoren,,84 und vom "Hungerkreuz,,85 schreibt die Zeitung mit Blick auf die NSDAP. Die Nationalsozialisten werden als rupelhaft, unehrlich, hinterhaltig und gewalttatig charakterisiert. Die "NaziFraktion" im preuBischen Landtag, die die Parlamentssitzungen mit Zwischenrufen wie .Judenjungen" oder .Hundesohne'' store, sei eine "deutsche Kulturschande", urteilt das Blatt und fragt .Wollt ihr das auch im Reichstagvv" Die Partei beluge das Yolk, insbesondere die Arbeiterschaft und werde nur von einem Bruchteil des Volkes gestutzt, "von wirtschaftlichen und politischen Bankrotteuren und ihrem zahlenmalrig kleinen Anhang"." Mit Blick auf die gewalttatigen Auseinandersetzungen, die aus Sicht des Blatts stets durch die Nationalsozialisten verursacht werden, ist gar die Rede von der "Nazi-Plage". Der "Vorwarts" stellt fest: .Wir erhalten taglich eine solche Fulle von Zuschriften tiber nationalsozi76 77 78 79 80
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Vorwarts, "Was kostet der Arbeitsdienst?", Nr. 337,20.7.1932, S. 4. Vorwarts, .Kommt die Arbeitsdienstpflicht?", Nr. 333,17.7.1932, S. 2. Vorwarts, .Der Freiwillige Arbeitsdienst.", Nr. 333,17.7.1932, S. 10. Vorwarts, .Das Vorbild des Dritten Reichs.", Nr. 321,10.7.1932, S. 9. Vorwarts, "Vor dem Schalter des Arbeitsamts", NT. 341,22.7.1932, S. 2; Vorwarts, "Alarm aufdem Arbeitsrnarkt", Nr. 341,22.7.1932, S. 3; Vorwarts, "VOT der Wahl", Nr. 342,22.7.1932, S. 4. Vgl. Vorwarts, .Ein Vergleich 1928 - 1932 - Was die Arbeitslosen bekommen.", Nr. 341,22.7.1932, S. 11; Vorwarts, .Wahrheit tiber den Wohlfahrtsstaat.", Nr. 343,23.7.1932, S. 10. Vorwarts, ,,'Vorwfirts' wird verboten", Nr. 307,2.7.1932, S. 1. Vorwarts, .Hungerdiktator Hitler", Nr. 331, 16.7.1932, S. 2; Vorwarts, "Hitler diktiert den Hunger!", Nr. 336, 19.7.1932,S.1. Vorwarts, .Hakenkreuz - Lugenkreuz!", Nr. 345,24.7.1932, S. 15. Vgl. Vorwarts .Der Unterstutzungsraub", NT. 347, 26.7.1932, S. 9. Vorwarts, .Jrrenhaus Landtag", NT. 310/319, 9.7.1932, S. 4. Vorwarts, ,,Auf dem Weg zur Entscheidung!", NT. 349,27.7.1932, S. 9.
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alistische Uberfalle und Belastigungen aller Art, daB unser Raum nicht ausreicht, sie aIle zu bringen.v'" Auf die anderen Parteien der Weimarer Parteienlandschaft geht der .Vorwarts" eher selten ein. Hin und wieder nimmt die Zeitung kritisch zur KPD Stellung und wirft der kommunistischen Partei beispielsweise vor, mit ihrer Agitation gegen die Sozialdemokratie die Arbeiterschaft spalten zu wollen." Hingegen ist die Zeitung den biirgerlichen Parteien wie Zentrum und DDP wohlgesonnen, wenn sie auch feststellt, dass die DDP 1932 kaum noch politisches Gewicht habe. Das Zentrum sei .zur Zeit von den biirgerlichen Parteien das weitaus kleinste Uebel", konne aber als Partei der Mitte "ebenso gut mit der Rechten wie mit der Linken koalieren". Zu den Mitteln der Wahlkampffiihrung zahlen nur gelegentlich Bezugnahmen auf die Pressetexte anderer Zeitungen. Beitrage in nationalsozialistischen Blattern wie dem "Volkischen Beobachter" oder der rechtsstehenden .Deutschen Zeitung" kommentiert der "Vorwarts" ablehnend. Letztere habe gegen Volksbildungskurse der Gewerkschaften gewettert. Der "Vorwarts" entrustet sich: "Arbeiter haben dumm zu sein und zu bleiben! Sie wollen den Bildungstrieb im Yolk kiinstlich niederhalten (...). Ihr Ideal ist ein verdummtes Yolk auf niedriger Bildungsstufe - das nur wird das Dritte Reich ertragen.?" Analog zu seiner Frontstellung im Wahlkampf greift der .Vorwarts" auch Artikel in der kommunistischen "Roten Fahne" oder Rundschreiben der KPD in seiner Berichterstattung auf, urn die sozialdemokratische Gegenposition darzustellen." Der "Vorwarts" wird nicht mude, seine Leser immer wieder zur Wahl der sozialdemokratischen Liste 1 aufzufordern. Die Reichstagswahl sei eine Entscheidung mit besonderer Tragweite, die einzig und allein das Yolk zu treffen habe. Nach dern Ende des sechstagigen Belagerungszustands in Folge der Absetzung der preuBischen Regierung am 20. Juli schreibt der .Vorwarts": .Kommen die Nazis zur Macht, dann waren die sechs Tage nur ein kleiner Vorgeschmack dessen, was noch kornrnen solI. Wir denken jedoch, daB dem deutschen Yolk die Kostproben aus Papens Kiiche genugen werden, urn ihm auf aIle Zeiten den Geschmack am Dritten Reich zu verderben.v'" Die Macht des Stimmzettels wird an anderer Stelle hervorgehoben: .Als das Kabinett der Barone in PreuBen seinen Kommissar eingesetzt hat, da hat wohl maneher aktive Genosse einen Augenbliek lang den Gedanken gehabt, ob man denn nieht dieser Gewalt mit dem gleiehen Mittel begegnen musse, Bei ruhiger Uberlegung wird aber gewiBjeder sieh bald uberzeugt haben, daBdie einzig mogliche Abwehr im Gebraueh des Stimmzettels liegt. (...) Der Gebraueh des Stimmzettels ist freilich auberlich weniger heroisch als die Anwendung von Gewalt, aber es ist doeh so, daB am nachsten Sonntag dureh den Stimmzettel tiber Deutschlands Zukunft entsehieden wird. (... ) Es ist moglich, daBdie nationale Reaktion dank der Hitlersehen Tolerierung sieh eine Zeitlang am Ruder halt. Vergessen wir aber nieht, daB sie sieh aussehlieBlieh auf das Wahlergebnis stutzen muB. Der Stimmzettel hat sie emporgetragen, der Stimmzettel wird sie wieder von ihrer Hohe herabsturzen.':"
Zielgruppe der Wahlaufrufe ist in erster Linie die Arbeiterschaft, doch auch Angestellte und Beamre'" werden angesprochen. Ober die Berufsgruppen hinausgehend adressiert die Zei-
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Vorwarts, "Die Nazi-Plage", Nr. 341,22.7.1932, S. 7. Vgl. Vorwarts, "KPD. gegen Arbeitereinheit.", Nr. 347,26.7.1932, S. 2. Vorwarts, .Kultur-Reaktion", Nr. 349, 27.7.1932, S. 2. Vorwarts, "Schlecht gespielte Entrustung", Nr. 309, 3.7.1932, S. 13114~ Vorwarts, "KPD. gegen Arbeitereinheit", Nr. 347,26.7.1932, S. 2. Vorwarts, .Belagerungszustand aufgehoben!", Nr. 348, 26.7.1932, S. 1. Vorwarts, "Die Macht der Stimmzettel", Nr. 354,29.7.1932, S. 6. Vorwarts, .Kein koptloser Streik!", Nr. 341,22.7.1932, S. 10.
tung auch "die Jugend?", die fur den von der Regierung geplanten Arbeitsdienst in Frage kame, sowie an mehreren Stellen "die Frauen?" als Wahlergruppen, Sie wendet sich zudem an die kommunistischen'" und bisher noch unentschlossenen Wahler. 98 Neben der direkten Ansprache der Wahlerinnen und Wahler, wirbt der "Vorwarts" noch auf andere Weise urn Unterstutzung der Sozialdemokratie: Wo irgend moglich, vermittelt er dem Leser, wie groB und machtvoll die Veranstaltungen der .Eisemen Front" verlaufen. Von eindrucksvollen Kundgebungen ist die Rede, von Massenversammlungen und Menschenmengen, die den Freiheits-Ruf der .Eisemen Front" skandieren. Unter dem Titel .Das Freiheitsheer marschiert!" schreibt das Blatt, dass "Millionen in Bewegung (seien) fur die Sozialdemokratie": "Wir marschieren. Der Massenauftritt der Eisemen Front geht durch ganz Deutschland. Unter wehenden Freiheitsfahnen und dem Symbol der drei Pfeile ist das Heer der Freiheit in Bewegung. Das Yolk steht auf gegen die Reaktion und den Faschismus! Der Wahlkampf hat mit gewaltigen Massenkundgebungen der Eisemen Front in allen deutschen Grobstadten wuchtig eingesetzt. Aber auch das ganze Land bleibt nieht zuruckl VoH Begeisterungund Kampfwillen erheben sich die sozialdemokratischen Arbeiter.'?"
Sogar mit sonst eher unublichem Fotomaterial arbeitet die Vorwarts-Redaktion und verwendet Bildunterschriften wie "Blick in den uberfullten Versammlungssaal, in dem Wels und Severing zu den Massen sprachen" oder "Die Jugend im Massenaufmarschv.l'" Die Zeitung versteht den Wahlkampf auch als eine Auseinandersetzung, die symbolhaft auf der StraBe ausgetragen wird. Sie schreibt: .Llnterdessen hat in der Reichshauptstadt ein erbitterter Flaggenkrieg begonnen. Daneben wird an dem Hauptverkehrsplatzen Berlins der Kampf urn den Wahler vor allem mit Flugblattern gefiihrt. Soweit sich bisher ein Uberblick uber den Flaggenkrieg gewinnen lasst, karnpfen Neukolln und der Wedding knapp vor dem Osten Berlins urn den Sieg im Hissen der Freiheitsfahnen. 1m Norden wie im Soden sind ganze StraBenzOge geradezu vorbildlich beflaggt: uberall sieht man neben den schwarzrotgoldenen Reichsfarben die drei Freiheitspfeile."'?'
FUr die Wahlkampfberichterstattung der Weimarer Zeitungen eher unublich aufsert sich der "Vorwarts" an einigen Stellen uber den moglichen Ausgang der bevorstehenden Wahl: Wahrend er mit Blick auf die Emporung der Bevolkerung uber die von der SA verursachte Gewalt noch feststellt, dass dadurch .Hitlers Wahlchancen alles andere als verbessert"I02 wurden, raumt die Zeitung zwei Tage spater ein: "Nun ist aber gewiB die Nationalsozialistische Partei, auf die die Papen-Regierung sich stutzt, noch eine gewaltige Macht. Sie wird am 31. Juli die starkste Partei wohl auch im Reiche sein, nachdem sie es in PreuBen schon am 24. April geworden iSt.,,103 Am Morgen des Wahltages druckt das Blatt sogar eine .Vorschau zur Wahl" ab mit dem Hinweis .Wahlziffern konnen richtig nur bewertet werden, indem man sie in Vergleich mit frUheren stellt". Also folgt eine Auflistung des Ergeb95 96
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Vorwarts, .Der freiwilligeArbeitsdienst",Nr. 333,17.7.1932, S. 10. Vorwarts, "Frauen, merkt es euchl", Nr. 333, 17.7.1932, S. 17; Vorwarts, "Frauen erwachen", Nr. 348, 26.7.1932, S. 3; Vorwarts, "Die Frau im ,Dritten Reich"', Nr. 354,29.7.1932, S. 6. Vorwarts, "Schlagt Papen und Hitler! Ein Wort an die kommunistischen Wahler!", Nr. 353,29.7.1932, S. I. Vorwarts, "Holt das Treibholz", Nr. 355,30.7.1932, S. 1. Vorwarts, "Das Freiheitsheer marschiert", Nr. 326, 13.7.1932, S. 2. Vorwarts, .Der Berliner Westen im Zeichen der Eisemen Front", Nr. 330,15.7.1932, S. 3. Vorwarts, .Das erwachte Berlin", Nr. 345,24.7.1932, S. 5. Vorwarts, .Wahlterror im Ordnungspreuben", Nr. 346,25.7.1932, S. 2. Vorwarts, "Auf dem Weg zur Entscheidung!", Nr. 349, 27.7.1932, S. 9.
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nisses der Reichstagswahl vom 14. September 1930 sowie zwei jeweils von der "Frankfurter Zeitung" und dem .Freien Wort" angestellte Prognosen zur bevorstehenden Wahl. Grundlage dieser Einschatzungen seien die Ergebnisse der im Fruhjahr 1932 durchgeftihrten Landtagswahlen in PreuBen, Bayern, Wurttemberg, Hessen, Oldenburg, Hamburg, Mecklenburg-Schwerin, Mecklenburg-Strelitz und Anhalt. Insbesondere die Hessenwahl habe ein .weiteres Steigen der nationalsozialistischen Welle gezeigt", so dass he ide Berecbnungen die NSDAP als voraussichtlich starkste und die SPD als zweitstarkste Kraft im Reich sehen. Oer .Vorwarts" kommentiert: .Solche Berechnungen mogen nach der Begeisterung des Wahlkampfes etwas ernuchternd wirken. Es muB aber bedacht werden, daB die burgerlichen Parteien, auch ohne Zentrum, bei Wahlen fast immer wesentlich starker gewesen sind als Sozialdemokraten und Kommunisten zusammen. Die NSDAP hat die burgerlichen Parteien fast vollig aufgeschluckt, also kann ihre auBerordentliche Starke eigentlich kaum Verwunderung erregen. 1m ubrigen kann heute niemand sagen, wie die Ereignisse der letzten zwei Monate auf die Wahler gewirkt haben. GewiBwar die Zeit fur einen wirklichen Umschwung sehr kurz, desto aufruttelnder waren die Ereignisse.,,104
Damit bezieht sich das Blatt auf die gewalttatigen Unruhen im Land und die Absetzung der preuBischen Regierung unter der Kanzlerschaft von Papens. Bei der Oarstellung von Politikern oder zur Wahl stehenden Kandidaten ist der "Vorwarts" zuruckhaltend. Er druckt weder Kandidatenlisten ab, noch geht er explizit auf die Spitzenkandidaten der SPO ein. Er berichtet hin und wieder tiber die Wahlkampfreden sozialdemokratischer "Genossen", darunter Carl Severing, und schildert diese positiv. Dies geschieht jedoch ohne personalisierende Tendenz, wie es im gleichen Wahlkampf etwa in der "Germania" mit Blick auf Heinrich Bruning der Fall ist. Nur anlasslich des PreuBenschlags druckt die Zeitung auf dem Titelblatt ein Bild von Severing ab, der zu dieser Zeit als preuBischer Innenminister im Zentrum des Geschehens stand, mit der Untertitelung "Unser Carl Severing". 105 Auffallend ist jedoch, dass die Zeitung in Adolf Hitler das erklarte Feindbild ausgemacht hat. Sie kritisiert in ihrer Berichterstattung nicht nur die NSDAP, sondern greift insbesondere Hitler an, der die Regierung von Papen steuere und fur die Situation im Reich verantwortlich sei: .Fur alles, was sie [die Regierung, d.V.] tut, tragt Hitler die Verantwortung. Oenn: ohne Hitler kein Papen! Die Regierung der Barone fUhrt Hitlers Befehle aus. Dafur toleriert Hitler diese Regierung, ihre Notverordnungen, ihre AuBenpolitik, ihre Attentate auf das Volkswohl und auf die Volksrechte. (...) Die Regierung Papen-Schleicher-Gayl ist eine Regierung von Hitlers Gnaden!,,106 Als grolienwahnsinnig stellt der .Vorwarts" Hitler dar und fordert dazu auf, den Hitler-GruB abzuwandeln. "Was ruft die Nazi-Armee? Heil Hitler? SchluB mit diesem GebrUll! (...) Aile rufen: Heilt den Hitler! Ja, heilt den Hitler! Heilt ihn von seinem Grofsenwahn, heilt ibn von dem Irrglauben, er konnte das Yolk weiter betrugen und belugen." 107 FUr den "Vorwarts" ist klar: Bei der bevorstehenden Wahl kommt es darauf an, "die Grundlagen des demokratischen Staates zu erhalten.v" Den Sozialdemokraten Severing zitiert die Zeitung mit diesen Worten, macht dies aber auch zum Leitgedanken ihrer Be-
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Vorwarts, .Vorschau zur Wahl", Nr. 357, 31.7.1932, S. 2. Vgl. Vorwarts, Nr. 338,20.7.1932, S. 1. Vorwarts, "FOnfTage", Nr. 309, 3.7.1932, S. 3. Vorwarts, .Heilt den Hitler", Nr. 343,23.7.1932, S. 6. Vorwarts, "Severing halt Abrechnung", Nr. 354, 29.7.1932, S. 1.
richterstattung. Uneingeschrankt setzt sie sich fur den Erhalt der Demokratie und des Weimarer Staates ein. Zum .Ehrentag der sozialen Demokratie" musse der WahIsonntag werden, fordert der "Vorwarts" kurz vor der Wahl und ruft zum Kampf gegen den Nationalsozialismus auf. .Der Volkssturm muB die Regierung der Hitler-Barone hinwegfegen.v'i"
Die " Rote Fahne" Die "Rote Fahne" konzentriert sich in ihrer Berichterstattung auf die Auseinandersetzung zwischen der herrschenden Kapitalistenklasse und dem Proletariat. Ein Schwerpunktthema ist dabei die wirtschaftliche Notlage des arbeitenden Volkes, die als das Ergebnis der Unterdruckungspolitik der Papen-Regierung angesehen wird. "Die Aushungerung aller Unterstutzungsernpfanger, der ungeheuerliche Lohn- und Unterstutzungsabbau, die Verteuerung aller Lebensmittel, die Erhohung der Mieten" seien die .Lebensfragen" der werktatigen Bevolkerung, gleich ob es sich dabei urn .Klassengenossen der KPD und SPD" oder urn "die hungemden SA-Proleten" bandele."" Mit Renten- und Lohnabbau, Salzsteuer, Beschaftigtensteuer und Kurzung der Kurzarbeiterunterstutzung fuhre die .Papen-Regierung, die Regierung der Schwerindustrie und GroBagrarier, einen Schlag nach dem anderen gegen das werktatige vou.-!" Die hohen Arbeitslosenzahlen seien als .Bankrotterklarung des Kapitalismus'i'V zu bezeichnen, nur ein Anschluss Deutschlands an die Sowjetunion werde Besserung bringen. Die Reparationsverhandlungen in Lausanne brandmarkt die "Rote Fahne" als .Ausverkauf Deutschlands". Zur Zahlung von Milliardenbetragen solle Deutschland verpflichtet sowie zur "Verpfandung staatlicher Betriebe" aufgefordert werden - nach Ansicht der "Roten Fahne" unhaltbare Plane. Statt dessen sei es an der Zeit, "daB eine deutsche Sowjetregierung die Auslandsschulden auf eben demselben Wege annulliere, wie die Bolschewiki es 1917 gemacht haben, und das kommunistische Programm der sozialen und nationalen Befreiung es vorsieht.,,113 Erst Recht verargert zeigt sich die "Rote Fahne" tiber bekannt werdende Plane der Regierung Papen, Frankreich einen Viermachtepakt gegen SowjetruBland vorzuschlagen. Wahrend auch die Nationalsozialisten dieses Vorgehen unterstutzten, seien die Kommunisten die einzigen, die "gegen Young und Versailles die Werktatigen aus der Versailler Tributsklaverei herausfiihren konnen (...)." 114 Der "Vorwarts" schreibe bezuglich Lausanne tiber "eine sachliche sozialdemokratische AuBenpolitik", woraus die "Rote Fahne" folgert, dass sich die SPD mit der Papen-Regierung solidarisch erklart habe.!" Ein weiteres bedeutendes Thema der "Roten Fahne" sind die blutigen Zusammenstofse zwischen SA-Truppen und Arbeitem, die sich im Sommer 1932 uberall in Deutschland ereignen. Die Ausschreitungen gipfeln am sogenannten .Blutsonntag von Altona", als es in dem Hamburger Stadtteil Altona am 17. Juli 1932 anlasslich eines SA-Aufmarsches zu den bis dahin schwersten Auseinandersetzungen mit zahlreichen Toten und Schwerverletzten kommt. Im Land entbrennt die Diskussion daruber, wer die Ausschreitungen angezettelt 109 110
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Vorwarts, .Sagt es jedem! Schlagt zu!", Nr. 353, 29.7.1932, S. 9. Rote Fahne, "Die Papen..Nazis in der Defensive!", Nr. 144, 1.7.1932, S. 1f. Rote Fahne, "Arbeiter! Her zu uns!", Nr. 149,7.7.1932, S. 1. Rote Fahne, "Neun Millionen Erwerbslose im Winter", 30.7.1932, S. 6. Rote Fahne,,,AusverkaufDeutschlands in Lausanne", Nr. 145,2.7.1932,S. 11. Rote Fahne, .Viermachtepakt gegen die Sowjetunion",Nr. 146,3.7.1932, S. 15; auch: Rote Fahne, "Von Papen bietet selbst Tribute an!", Nr. 147, 5.7.1932, S. 11; Rote Fahne, "Nieder mit dem Pakt von Lausanne!", Nr. 151, 9.7.1932, S. 1. Rote Fahne, "Geheimpakte in Lausanne!", 12.7.1932, S. 7.
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und zu verantworten habe. 116 Die "Rote Fahne" berichtet immer wieder fiber diese Vorfalle und identifiziert vor al1em die Nationalsozialisten als die Schuldigen. Das Blatt ruft zum Kampf gegen die "Mordbanden Hitlers"!" auf und berichtet ausfiihrlich tiber Opfer und Angehorige. Besonders gegen Ende des Wahlkampfs warnt die "Rote Fahne" immer wieder vor einer faschistischen Regierung. Die Lage werde standig bedrohlicher, denn die Nationalsozialisten planten, ungeachtet des Wahlergebnisses am 31. Juli die Macht zu ergreifen. Dieser Umsturzversuch sol1e durch "blutige Exzesse" 118 unterstiitzt werden. Deshalb ruft die "Rote Fahne" zu .Jiochster Alarmbereitschaft" 119 auf. Die Frontstellung der "Roten Fahne" richtet sich im Wahlkampf 1932 nicht an erster Stelle gegen die Nationalsozialisten, die direkten Gegner derKommunisten in den gewalttatigen StraBenschlachten des Sommers 1932. Stattdessen bekampft die "Rote Fahne" unnachgiebig die SPD und wirft ihr .Jvlassenbetrug" an der deutschen Arbeiterschaft, ja sogar Unterstutzung der Reaktion vor. Seitens der Sozialdemokratie verfolge man "eine waste Hetze gegen die Kommunisten". Die "Rote Fahne" habe "immer und immer wieder die sozialdemokratischen, parteilosen und gewerkschaftlich organisierten Arbeiter daruber aufzuklaren, wer in Wahrheit die Geschafte der Reaktion besorgt."l20 Die Angriffe der Zeitung richten sich besonders gegen die SPD-Ftihrung, die man der "Scheinopposition C...) gegen das faschistische Papen-Kabinett" verdachtigt, mit der sie lediglich "tibelste Man.. datsjagerei" betreibe, urn nach den Wahlen koalitionsfahig zu sein. 121 Die SPD-Ftihrung betreibe eine "Stillhaltepolitik gegenuber der Papen..Regierung".122 Sie sei einst die "Tolerierungspartei fur Schleicher-Bruning" gewesen, wahrend nun "die Nazis die Tolerierungspartei fur Schleicher-Papenv'