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German Pages 229 [232] Year 2006
Birgit Glock Stadtpolitik in schrumpfenden Städten
Stadt, Raum und Gesellschaft Band 23 Herausgegeben von Hartmut Häußermann Detlev Ipsen Thomas Krämer-Badoni Dieter Läpple Marianne Rodenstein Walter Siebel
Birgit Glock
Stadtpolitik in schrumpfenden Städten Duisburg und Leipzig im Vergleich
Bibliografische Information Der Deutschen Nationalibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
.. 1. Auflage November 2006 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2006 Lektorat: Monika Mülhausen / Britta Laufer Der VS Verlag für Sozialwissenschaften ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Krips b.v., Meppel Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in the Netherlands ISBN-10 3-531-15171-1 ISBN-13 978-3-531-15171-7
Danksagun
g
Da s vorliegend e Buc h basier t au f meine r Promotionsschrift , di e ich im Septembe r 200 5 a m Institu t fü r Sozialwissenschafte n an de r Humboldt-Universitä t zu Berli n eingereich t habe . Mei n besondere r Dan k gil t Hartmu t Häußermann , de r mic h im Forschungsprozes s mi t seine m fachliche n Rat begleitet e un d unterstützte . Nebe n seine r Bereitschaf t un d seine m Engagement , sic h be i viele n Gelegenheite n mi t meine n Argumente n kritisc h auseinanderzusetzen , profitiert e mein e Arbei t vo n de m konstruktive n un d kooperative n Austausc h mi t de n Mitarbeiter n a m Be reic h Stadt - un d Regionalsoziologi e de r Humboldt-Universität . De n viele n Experte n in Duisbur g un d Leipzig , di e tagtäglic h mi t de n Prob leme n un d Schwierigkeite n eine r schrumpfende n Stad t konfrontier t sind , bi n ich z u Dan k verpflichtet . Sie widmete n mi r ihr e wertvoll e Zeit, u m mein e Frage n zu beantworten . Ohn e ih r Engagemen t un d ihr e Kooperatio n wär e dies e Arbei t schlich t nich t möglic h gewesen . Besonder s verpflichte t bi n ich meine r Freundi n Cathlee n Kantner . Sie hat mic h gerad e in de n schwierige n Phase n meine r Promotio n durc h unermüdliche s Zuhören , Gegenlese n un d Kritisiere n au s de m ferne n Floren z imme r wiede r mo tiviert , weite r zu mache n un d nich t aufzugeben . Nebe n viele n andere n ware n Scot t Gissendanne r un d Kari-Mari a Karlicze k wertvoll e Gesprächspartner , di e mi r wichtig e Hinweis e fü r di e Konzeptio n un d Verschriftlichun g de r Arbei t gaben . Fü r da s gewissenhaft e Lektora t bedank e ich mic h be i Regin a Genera l un d fü r di e professionell e Unterstützun g in alle n computertechnische n Frage n be i meinem Brude r Michae l Glock . Meine r Famili e un d insbesonder e meine m Freund , Ja n General , dank e ich fü r de n emotionale n Rückhalt . Sie ware n imme r fü r mic h da , wen n ich sie brauchte .
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Inhal t
Abbildungsverzeichni Tabellenverzeichni 1
Einleitun g
2
Ursache 2. 1
3
s s
11 13
n un d Folge n städtische
Schrumpfend 2.1. 1 2.1. 2 2.1. 3 2.1. 4
2. 2
Schrumpfend 2.2. 1 2.2. 2 2.2. 3
2. 3
Schrumpfun
3. 3
3. 4
r Schrumpfungsprozess
e
23
e Städt e West : Di e Verliere r de s Strukturwandel s Strukturwande l un d räumlich e Ungleichhei t Folge n de r Schrumpfungsprozess e Neu e Entwicklungstype n vo n Städten ? Vereinigungsbedingte r Wirtschaftsboo m un d demographisch e Schrumpfungsprozess e e Städt e Ost: Di e Verliere r de s Strukturbruch s Postsozialistisch e Transformatio n Folge n de r Schrumpfungsprozess e Meh r Stad t fü r wenige r Bürge r - Chance n de s Schrumpfens ? g als Herausforderun g an di e Stadtentwicklungspolitik
Politi k in schrumpfende Perspektive n 3. 1 3. 2
10
n Städten
: Theoretisch-konzeptionell
Strukturell e Ansätze : Staa t un d Ökonomi e Handlungszentriert e Ansätze : Akteure un d Kooperationsforme 3.2. 1 Gemeindemachtforschun g 3.2. 2 Wachstumsmaschine n 3.2. 3 Urbane-Regim e Ideenzentriert e Ansätze : Kognitio n un d Lerne n 3.3. 1 Neue r Institutionalismu s 3.3. 2 Lerntheoretisch e Ansätze Analysemodell : Konzeptionalisierun g un d Operationalisierun
24 26 29 30 33 34 36 39 41 .. 4 3
e 51 n
g
52 56 57 59 60 65 66 69 71
4
Städt e im Profil : Duisbur 4. 1
4. 2
5
Duisburg 4.1. 4.1. 4.1. 4.1.
5. 2
79
: Di e schrumpfend e Stahlstad t a m Rhei n Industrialisierun g un d Stadtwachstu m Stahlkris e un d Stadtschrumpfun g Fiskalische , sozial e un d räumlich e Folge n Lokal e Besonderheiten : Konkurren z un d Kooperatio n 4.1. 5 Prognose n Leipzig : Di e schrumpfend e „Boomtown " im Osten 4.2. 1 Industrialisierun g un d Stadtwachstu m 4.2. 2 Sozialismu s un d beginnend e Schrumpfun g 4.2. 3 Postsozialistisch e Transformatio n un d Schrumpfun g 4.2. 4 Fiskalische , sozial e un d räumlich e Folge n 4.2. 5 Lokal e Besonderheiten : Umbruc h un d „Aufba u Ost" 4.2. 6 Prognose n
Instrument 5. 1
g un d Leipzi g
1 2 3 4
e un d Strategie n in Duisburg
un d Leipzi g
Duisburg : Groß e Würf e un d klein e Schritt e 5.1. 1 Technologieförderung , Gewerbepark s un d Attraktivitätssteigerun g 5.1. 2 Groß e Pro j ekte , Dienstleistungspark s un d Festival s Leipzig : Wenige r Dichte , meh r Grün ? 5.2. 1 „Leipzig kommt! " mi t große n Projekte n 5.2. 2 Neu e Gründerzei t un d Pak t de r Vernunf t
79 80 83 87 91 94 97 97 99 10 2 10 6 11 0 11 2 11 7 11 7 11 8 12 12 12 12
1 6 6 9
6
Diskussions 6. 1
Duisbur g 6.1. 1 6.1. 2
6. 2
Leipzi g 6.2. 1 6.2. 2
7
Umgan 7. 1 7. 2
- un d EntScheidungsprozess
g un d Leipzi g
13 7 13 7
Problemwahrnehmun g un d Problemdeutung : Schrumpfun g als Talsohl e im ökonomische n Strukturwandel ? Agenda-Settin g un d Politikformulierung : Wer kenn t wen ? Problemwahrnehmun g un d Problemdeutung : Schrumpfun g als langfristig e Entwicklung ? Agenda-Settin g un d Politikformulierung : Wer binde t we n ein ?
g mi t Schrumpfung
: Ergebniss
Ergebniss e de r Fallstudie n Implikatione n fü r Politi k
Literatu r
e in Duisbur
e un d Implikatione
n
13 8 14 8 16 4 16 4 17 2 19 3 19 4 20 4 20 9
Abbildungsverzeichni
Abbildun g 1 : Abbildun g 2 : Abbildun g 3 : Abbildun g 4 : Abbildun g 5 : Abbildun g 6 : Abbildun g 7 : Abbildun g 8 : Abbildun g 9 : Abbildun g 10 : Abbildun g 11 : Abbildun g 12 : Abbildun g 13 : Abbildun g 14 : Abbildun g 15 : Abbildun g 16 :
s
Integrierte s Analysemodell : Strukture n als unabhängig e Variabl e Integrierte s Analysemodell : Diskussions - un d Entscheidungsprozes s als intervenierend e Variabl e Integrierte s Analysemodell : Diskussions - un d Entscheidungsprozes s als intervenierend e Variabl e „Single-loop " un d „Double-loo p learning " als abhängig e Variabl e Entwicklun g de r sozialversicherungspflichti g Beschäftigte n insgesam t un d nac h Sektore n in Duisbur g im Zeitrau m vo n 1976-199 9 (absolut ) Entwicklun g de r Bevölkerun g mi t Hauptwohnsit z im Zeitrau m 1960-200 3 in Duisbur g (jeweilige r Gebietsstand ) Entwicklun g de r sozialversicherungspflichti g Beschäftigte n insgesam t un d nac h Wirtschaftszweige n in Leipzi g (1997-2001 ) Bevölkerungsentwicklun g Leipzi g 1989-200 3 (jeweilige r Gebietsstand ) Theme n im Rat de r Stad t un d in de n Fachausschüsse n nac h Stichworte n un d Relevan z Stad t Duisbur g 1997-200 1 Anfrage n un d Anträge zu de n Großprojekte n im Rat de r Stad t Duisbur g un d in de n Fachausschüssen , nac h Ratsfraktionen , absolu t (1997-2001 ) Lokal e Akteurskonstellatione n in Duisbur g Beschlüss e im Rat de r Stad t Leipzi g 1990-200 3 nac h Stichworte n un d Relevan z Anfrage n de r politische n Parteie n im Leipzige r Stadtra t nac h Theme n 1994-200 2 Lokal e Akteurskonstellatione n in Leipzi g Ein-Kreis-Lerne n in Duisbur g Zwei-Kreis-Lerne n in Leipzi g
73 74 76 78
86 .. 8 7 10 4 10 6
14 0 15 5 16 4 16 7 17 19 19 20
9 2 9 0
Tabellenverzeichni
Tabell e 1 : Tabell e 2 : Tabell e 3 : Tabell e 4 : Tabell e 5 : Tabell e 6 : Tabell e 7 :
s
Bevölkerungsentwicklun g Duisbur g 1945-196 0 Antei l de r Arbeitsplätz e im Stahlbereic h an alle n Arbeits plätze n in Duisbur g un d andere n Ruhrgebietsstädt e 197 0 (in % ) Wahlergebniss e in de n Kommunalwahle n in Duisbur g vo n 1964-199 9 (in % ) Prognose n de r Einwohne r mi t Hauptwohnsit z in Duisbur g 2005-201 5 Bevölkerungsentwicklun g Leipzi g 1945-199 0 Wahlergebniss e in de n Kommunalwahle n in Leipzi g vo n 199 0 bi s 199 9 (in % ) Prognos e de r Einwohne r mi t Haupt - un d Nebenwohnsit z in Leipzi g 2015-203 0
82 83 92 96 10 1 11 1 11 5
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1
Einleitung
„The outstanding fact of modern society is the growth of great cities" (Burgess 1984: 47). Wachstum galt mit der Herausbildung der modernen (Industrie-) Großstadt, die sich im Gefolge gewaltiger Bevölkerungsumschichtungen vom Land zur Stadt Ende des 19. Jahrhunderts formierte, als universalisierbares Muster der Stadt entwicklung (Häußermann/Siebel 1987: 7). Aufgrund der massenhaften Ansied¬ lung von Industrien und Einwohnern dehnten sich viele Städte bald weit über ihre ursprünglichen Grenzen aus, um dem wachsenden Flächenbedarf gerecht zu werden. Der Stadtentwicklungspolitik und -planung kam die Aufgabe zu, die demographischen und ökonomischen Wachstumsprozesse in geordnete Bahnen zu lenken sowie sie sozial- und raumverträglich abzufedern: Sämtliche Maß nahmen, Instrumente und Strategien der Stadtentwicklungspolitik sind seitdem auf die Steuerung von Wachstumsprozessen ausgerichtet. Mittlerweile schrumpfen zahlreiche Städte, das heißt, sie verlieren sowohl Einwohner als auch Arbeitsplätze. Diese Prozesse konzentrierten sich in den 1970er und 1980er Jahren in Westdeutschland in den altindustrialisierten Städ ten, deren ökonomische Basis auf die klassischen Hochindustriesektoren wie Bergbau, Kohle, Stahl oder Schiffsbau ausgerichtet waren (vgl. Berg/Drewett/ Klaassen/Rossi/Vijverberg 1982; Friedrichs 1990; Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986a; Häußermann/Siebel 1986, 1987, 1988; Stoleru 2001). Da das Schrump fen strukturell bedingt ist, sind die Städte bis heute damit konfrontiert. In ost deutschen Städten wird die Schrumpfung seit Mitte der 1990er Jahre besonders deutlich, denn hier leiden fast alle Städte unter dramatischen Einwohner- und Arbeitsplatzverlusten - eine Entwicklung, deren Folgen sich in einem massen haften Wohnungsleerstand manifestieren (vgl. u.a. Berliner Debatte Initial 2002, 2005; Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 2000, 2001; Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2003b). Bei den Schrumpfungsprozessen handelt es sich nicht mehr um eine kurz zeitige, vorübergehende Krise, mit der die Städte umgehen müssen, sondern vielmehr um langfristige und sich wahrscheinlich künftig noch verfestigende
13
Verwerfungen, die durch Prozesse der Deindustrialisierung, der Suburbanisie¬ rung und des Rückgangs der Geburtenrate verursacht werden. Städte, die von strukturell bedingten Einwohner- und Arbeitsplatzverlusten gekennzeichnet sind, durchlaufen einen allgemeinen Peripherisierungs- und Entwertungsprozess mit weitreichenden sozialen und räumlichen Folgen: Hohe Arbeitslosenquoten, die sich unabhängig von der Konjunktur auf hohem Niveau eingependelt haben, sozial selektive Abwanderungsprozesse, eine Unterauslas tung und Verteuerung der sozialen und technischen Infrastruktur, Verödungs tendenzen und Funktionsverluste von großen innerstädtischen Flächen sowie ein struktureller, nicht temporärer Wohnungsleerstand sind die offensichtlichen Symptome (vgl. Beer 2001; Bensch 1987; Franz 2001; Glock 2002; Hannemann 2003; Knorr-Siedow 2001; Kujath 1988; Power 2002; Rietdorf/Liebmann/Haller 2001; Rommelspacher/Oelschlägel 1986). Die schwierige Situation schrump fender Städte wird zusätzlich dadurch erschwert, dass die strukturellen Arbeits platz- und Einwohnerverluste die Finanzausstattung der betroffenen Städte ero dieren lassen. Einem steigenden Handlungsbedarf stehen sinkende Finanzmittel und damit ein abnehmendes Steuerungspotential gegenüber. Es kommt in schrumpfenden Städten häufig zu Problemlagen, die sich wechselseitig verstär ken, von denen also kumulative Niedergangs- und Verfallsprozesse ausgehen können. Die Bilder von US-amerikanischen oder englischen Städten, in denen Schrumpfung zu einem weitreichenden städtischen Verfall führte und wo Armut und Hoffnungslosigkeit den Alltag einer Stadt bestimmen, sind hierzulande zwar noch nicht zu beobachten, sie geben aber eine Vorstellung davon, was passiert, wenn Schrumpfung allein den Marktprozessen überlassen wird. Mit dem Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost" und „Stadtumbau West" stehen den Städten bei allen Unterschieden in der Förderkulisse erstmals Finanzmittel für die Anpassung städtebaulicher und wohnungswirtschaftlicher Strukturen unter den Bedingungen rückläufiger Einwohnerzahlen, schwindender Arbeitsplätze sowie steigendem Wohnungsleerstand zur Verfügung (vgl. Bun desamt für Bauwesen und Raumordnung 2003a; Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 2001). Der Umgang mit demographischen und wirt schaftlichen Schrumpfungsprozessen stellt die Städte jedoch vor ungewohnte Herausforderungen. Zwar sind die kommunalen Planungs- und Politikinstru mente in den letzten Jahrzehnten durchaus erweitert worden, um das ausblei bende Wachstum in den Städten zu stimulieren, aber - und darauf beruht die Schwierigkeit des politischen Umgangs mit Sclmimpfungsprozessen - die grund sätzliche Orientierung an Wachstum wurde mehr oder weniger aufrecht erhal ten. Während für die Steuerung von Wachstumsprozessen in den Städten ein umfassendes Arsenal erprobter Instrumente zur Verfügung steht, existieren für den Umgang mit Schrumpfungsprozessen weder bewährte Politikstrategien, 14
noch ,best practices', an denen sich lokale Akteure in schrumpfenden Städten orientieren könnten. Zukunftsorientierte, die veränderten Bedingungen der Stadt entwicklung anerkennende politische Instrumente, Strategien und Maßnahmen müssen erst noch entwickelt werden. Ob und wie es Städten gelingt, sich auf die veränderten sozialen, ökonomi schen und demographischen Bedingungen der Schrumpfung mit neuen politi schen Maßnahmen und Strategien einzustellen, ist sozialwissenschaftlich bis lang kaum erforscht. Die soziologische Stadtforschung konzentrierte sich in den 1970er und 1980er Jahren unter dem Stichwort der „declining city" fast ausschließlich dar auf, Ursachen und Folgen des regional ungleich verlaufenden ökonomischen Strukturwandels zu erklären (vgl. Bradbury/Downs/Small 1982; Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986b; Hall 1985; Hall/Metcalf 1978). Arbeitsplatz- und Ein wohnerverluste betrachtete man als ein eher temporäres, ökonomisches Anpas sungsproblem, so dass die Ende der 1980er Jahre von Hartmut Häußermann und Walter Siebel geäußerte Vermutung, es könnte sich bei der schrumpfenden Stadt um einen neuen Entwicklungstypus handeln, von der Forschung nicht weiter aufgegriffen wurde. Ihre Hypothese, dass die in den Städten dominante Orien tierung am Wachstum die negativen Folgen der Schrampfungsprozesse verstärkt und darüber hinaus auch die möglichen Chancen neuer urbaner Lebensformen verhüllt, fand keine Resonanz (Häußermann/Siebel 1987: 120). Auch die lokale Politikforschung, die sich mit den Inhalten, Strukturen und Prozessen von Politik in Städten beschäftigt, richtete ihr Hauptaugenmerk in den 1980er Jahren auf die Bedingungen und Möglichkeiten der politischen Organi sation eines ökonomischen Strukturwandels in den altindustrialisierten Städten. Dabei stand die Analyse spezifischer kommunaler Handlungsfelder im Vorder grund, die für die Bewältigung der ökonomischen Krise besonders relevant erschienen, wie beispielsweise die kommunale Sozial-, Arbeitsmarkt- und Wirt schaftspolitik. Im Wesentlichen ging es in diesen Arbeiten darum, die überlokal initiierten sozialen, ökonomischen und politischen Veränderungen und ihre Effekte auf die kommunale Ebene zu beleuchten, wobei die Bestimmung kommunaler Handlungsspielräume angesichts geringer werdender Ressourcen im Vordergrund stand (vgl. Blanke/Evers/Wollmann 1986; Heinelt/Wollmann 1991; Jaedicke/RuMand/Wachendorfer/Wollmann 1990). Während sich die Forschung in den 1980er und 1990er Jahren - abgesehen von wenigen Ausnahmen - mit der schrumpfenden Stadt nicht beschäftigte, begann sie sich Ende der 1990er Jahre mit dem Phänomen auseinanderzusetzen. Hintergrund dafür waren die massiven Wohnungsleerstände, die als Folge von Arbeitsplatzverlusten und Abwanderung in fast allen ostdeutschen Städten auf traten. Die Forschung begleitet zum einen den Stadtumbau in Ost und West, 15
wobei die Umsetzung der Bund-Länder-Programme im Vordergrund steht (vgl. u.a. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2003a; Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bundesamt für Bauwesen und Raumord nung 2003a, 2004; Gesamtverband Deutscher Wohnungsunternehmen 2003; Institut für Stadtforschung und Strukturpolitik 2004), zum anderen sucht sie nach möglichen architektonischen und stadtplanerischen Lösungen bzw. Leit bildern für den Rückbau und das Brachflächenmanagement (vgl. u.a. Fuhrich 2003; IBA-Büro 2010 2005; Oswalt 2005; Oswalt/Overmeyer/Schmidt 2001). Die Fokussierung der wissenschaftlichen Debatte auf die wohnungswirtschaftli chen und baulich-räumlichen Aspekte des Stadtumbaus wurde bereits verschie dentlich kritisiert (siehe u.a. Bürkner/Kuder/Kühn 2005: 33f; Franz 2005: 14; Kabisch/Bernt/Peter 2004: 22f). Analysen, die sich beispielsweise mit endogenen Potentialen (Hannemann 2004), den vom Stadtumbau betroffenen Bewohnern (Kabisch/Bernt/Peter 2004) oder den Akteurskonstellationen und Steuerungsfor men in schrumpfenden Städten (vgl. Weiske/Kabisch/Hannemann 2005) be schäftigen, sind die Ausnahme.
Untersuchungsziel, Fallauswahl und Methoden Auf der Basis einer empirischen Analyse der Stadtentwicklungspolitik in zwei Städten wird im Folgenden der Frage nachgegangen, wie die Städte auf den grundlegenden Wandel in den Bedingungen der Stadtentwicklung reagieren. Schlägt sich dieser Wandel in einer Neuorientierung städtischer Politiken nie der? Unter welchen Bedingungen negieren betroffene Städte die Entwicklun gen und hoffen darauf, dass Schrumpfen wieder in Wachsen umschlägt? Wann und warum betreiben Städte Stadtentwicklungspolitiken, die auf die Forderung eines lokalen ökonomischen und demographischen Wachstums setzen und unter welchen Voraussetzungen erkennen sie die gewandelten strukturellen Bedin gungen des Schrumpfens an und beginnen, neue Strategien, politische Pro gramme oder Maßnahmen zu institutionalisieren, mit Hilfe derer der Prozess des Schrumpfens gesteuert und im Interesse der verbliebenen Bürger gestaltet wer den kann? Um das herauszufinden, sind in der vorliegenden Arbeit folgende konkrete Fragen untersucht worden: 1
1
16
Die im angloamerikanischen Sprachraum übliche, semantisch klare Trennung der Begriffe „polity", „politics" und „policies" existiert im Deutschen nicht (Schmidt 1987; 185). Mit die ser begrifflichen Schwierigkeit wird im Folgenden so umgegangen, dass „Stadtentwicklungs politik" die prozessuale, also die Politics-Dimension, meint. Wenn von „Stadtentwicklungspo litiken" die Rede ist, wird die inhaltliche, also die Policies-Dimension, angesprochen.
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•
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Ob - und wenn ja - wann, wird in der Stadt die bisherige Politik in Frage gestellt? Gibt es besondere Ereignisse, die zur Delegitimation der bisheri gen Strategien beitragen oder geschieht dies eher zufällig? Welche Akteure stellen das Wachsrumsziel in Frage bzw. wer mahnt eine Umorientierung an: Akteure aus der Landespolitik, die Parteien, die Öf fentlichkeit, der Rat, die Verwaltung oder Experten? Wie gelingt es, die Probleme der Schrumpfung zu kommunizieren, ge meinsame Wahrnelimungsmuster zu etablieren und Koalitionen zu schmie den, um Handlungsfähigkeit zu erreichen? Wann werden die formellen Beschlüsse der Stadt über Infrastrukturausstat tung, Arbeitsplätze, Entwicklungspläne verändert - das heißt, wann wird ein Umsteuern institutionell verfestigt? Welchen Einfluss haben die Förderprogramme von Bund und Ländern? Begünstigen oder behindern sie den Wandel?
Man könnte gegen die hier skizzierten Untersuchungsfragen einwenden, dass es wenig sinnvoll sei, sich mit den Bedingungen und Möglichkeiten des politischen Umgangs mit Schrumpfungsprozessen zu beschäftigen: Städte seien angesichts der strukturellen, überörtlichen Ursachen von Schrumpfungsprozessen ohnehin ohnmächtig. In der vorliegenden Studie wird dagegen von der normativen Prä misse ausgegangen, dass es einen Unterschied macht, ob Städte die Schrump fung als ein langfristiges Problem anerkennen und im Interesse ihrer verbliebe nen Bürger steuern wollen oder nicht. In dieser Untersuchung sollen die Bedingungen identifiziert werden, unter denen sich herkömmliche, vornehmlich an Wachstumsprozessen ausgerichtete politische Instrumente, Maßnahmen und Strategien wandeln und innovative Ansätze in der Stadtentwicklungspolitik wirksam werden. Als Innovationsleis tung wird die Institutionalisierung neuer politischer Strategien verstanden, die den Schrumpfungsprozess als ein langfristiges und politisch zu steuerndes Prob lem begreifen. Ein solcher Politikenwandel müsste sich deutlich von punktuel len, inkrementalen Veränderungen unterscheiden, die alleine einer dramatischen Finanznot geschuldet sind. Für die Studie ist eine akteurszentrierte Perspektive forschungsleitend, sie schließt damit an die handlungszentrierten Ansätze der lokalen Politikforschung an. Mit diesen Arbeiten teilt sie die Annahme, dass sich die in Städten verfolg ten politischen Maßnahmen, Instrumente und Strategien durch den lokalen poli tischen Entscheidungsprozess und die daran beteiligten Akteure erklären lassen. Wie in den schrumpfenden Städten auf die veränderten Bedingungen der Stadt entwicklung reagiert wird, lässt sich in einer solchen Perspektive als das Ergeb nis städtischer Konflikt- und Konsensbildungsprozesse analysieren. 17
Obwohl es diese Ansätze erlauben, den politischen Umgang mit Schrump fungsprozessen mit Rekurs auf das konkrete Handeln lokaler Akteure zu erklä ren, vernachlässigen sie die Handlungsorientierungen, Problemwahrnehmungen und Deutungsmuster der Akteure. Wie wichtig diese Faktoren für den Politi kenwandel und die Politikinnovation sind, haben unterschiedliche ideenzentrier te Forschungsansätze in der Politikfeldanalyse und Institutionentheorie in den letzten Jahren überzeugend herausgearbeitet. Insbesondere die neoinstitutionalistischen Ansätze haben die Bedeutung kognitiver Prozesse für kollektives Handeln wiederentdeckt. Deshalb werden in der vorliegenden Arbeit die ak teurszentrierten Ansätze der lokalen Politikforschung durch die neueren, ideen zentrierten Ansätzen in der Politikwissenschaft ergänzt, die in kognitiven, kom munikativen oder diskursiven Faktoren - wenn auch nicht unabhängig von Ak teuren und Interessen - einflussreiche Variablen im politischen Prozess und des sen Ergebnissen sehen. Obgleich die ideenzentrierten Ansätze bislang nicht in der lokalen Politikforschung rezipiert wurden, stellen sie eine wichtige analyti sche Ressource für die in dieser Arbeit diskutierten Fragen dar. Eine auf das Handeln lokaler Akteure fokussierte Perspektive sieht sich je doch schnell dem Verdacht ausgesetzt, in die „Lokalismusfalle" zu tappen, das heißt, Städte als „Miniaturrepubliken" (Peterson 1981: 3) zu konzipieren, die sie aufgrund ihrer begrenzten Handlungsspielräume durch ökonomische, nationale oder supranationale Gegebenheiten nicht (mehr) sind. Nicht nur die aus der neomarxistischen und neoklassischen Politökonomie entspringenden strukturel len Ansätze in der lokalen Politikforschung haben darauf aufmerksam gemacht, dass die ökonomischen und staatlichen Rahmenbedingungen wichtige Faktoren für die auf lokaler Ebene verfolgten Politiken darstellen. In der vorliegenden Untersuchung wird die institutionell-rechtliche Einbindung der Städte und die ihnen zur Verfügung stehenden Fördermittel und Subventionsprogramme als ermöglichende oder begrenzende Faktoren lokalen Handelns mit einbezogen. In der Untersuchung wird von der Hypothese ausgegangen, dass es, trotz ähnlicher Problemlagen in schrumpfenden Städten, unterschiedliche lokale Antworten auf die Probleme der Schrumpfung gibt. Es sind nicht nur die prob lematischen Entwicklungen unter den Bedingungen der Schrumpfung an sich oder die staatlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen allein, die stadtentwicklungspolitische Strategien determinieren, sondern es sind die Entschei dungen der maßgeblichen Akteure in der Stadtentwicklungspolitik. Im Zentrum der Analyse stehen also die, an der Politikformulierung und -Implementierung beteiligten, städtischen Akteure und Akteurskonstellationen, ihre Problemwahr nehmung und Kooperationsformen. Um zu analysieren, wie lokale Akteure auf die veränderten Bedingungen der Stadtentwicklung reagieren, sind für die empirische Forschung zwei Städte 18
ausgewählt worden, die sich hinsichtlich ihrer sozioökonomischen Problemla gen weitgehend ähneln. Leipzig und Duisburg sind beide mit einem strukturel len und nicht temporären Einwohner- und Arbeitsplatzverlust konfrontiert. Duisburg erlebte mit der Industrialisierung und dem damit einhergehenden Aufschwung der Montanindustrie einen wirtschaftlichen und demographischen Wachstumsprozess, der zunächst nur gelegentliche konjunkturelle Einbrüche erlebte (vgl, Heid 1983; Pietsch 1983). Insbesondere nach dem Zweiten Welt krieg entwickelte sich die Stadt aufgrund ihrer verkehrsgünstigen Lage am Zusammenfluss von Rhein und Ruhr zum wichtigsten Standort der bundesdeut schen Eisen- und Stahlindustrie, so dass 1970 mehr als ein Viertel aller Arbeits plätze in Duisburg im Stahlbereich angesiedelt waren (Bünnig 1983: 105). Die Mitte der 1970er Jahre beginnende Strukturkrise der Eisen- und Stahlindustrie führte zu einem tiefgreifenden ökonomischen, sozialen und demographischen Wandel. Seitdem verliert die Stadt nicht nur kontinuierlich an Arbeitsplätzen und Einwohnern, sondern auch an Wirtschaftskraft. Auch Leipzig ist eine schrumpfende Stadt. Während Duisburg mit den Erb schaften einer ökonomischen Monostruktur zu kämpfen hat, sind es in Leipzig die Folgen der Vereinigung, die zu anhaltenden Arbeitsplatz- und Einwohner verlusten führen. Leipzig erlebte mit der Industrialisierung einen ungeheuren wirtschaftlichen und demographischen Wachstumsprozess (vgl. Bergfeld 2002; Grimm 1995; vgl. Rink 1995). Durch Nationalsozialismus und Krieg verließ die Stadt den Wachstumspfad und konnte auch zu DDR-Zeiten daran nicht wieder anknüpfen, weil sie wie der gesamte sächsische Ballungsraum zu den Verlierern der zentral gelenkten Ressourcenzuweisung gehörte (Grundmann 1991: 120). Verfallende gründerzeitliche Quartiere, der näher an die Stadt heranrückende Braunkohletagebau sowie die Ausstöße der Chemieindustrie im Dreieck Halle, Leipzig, Bitterfeld ließen Leipzig ab Mitte der 1960er zur einzigen .sozialisti schen' Großstadt avancieren, die einen permanenten Einwohner- und sogar Arbeitsplatzverlust zu verzeichnen hatte (Rink 1995: 68). Mit der Vereinigung war die Hoffnung groß, dass es sich bei den negativen Trends zu DDR-Zeiten nur um eine Unterbrechung eines langfristigen Wachstumsprozess handelte. Diese Hoffnung erfüllte sich jedoch nicht: Die Arbeitsplatz- und Einwohnerver luste beschleunigten sich. 2
Der Aufbau der kommunalen Selbstverwaltung in den neuen Bundeslän dern folgte zwar dem Muster einer „endogenen Pfadabhängigkeit", orientierte Es handelt sich dabei allerdings nicht um ein „most-similar-cases" Design, weil bei der Fall auswahl nicht umfassend untersucht wurde, ob die beiden Städte ein Höchstmaß an Ähnlich keiten hinsichtlich bestimmter Basisstrukturen aufweisen (Prezworski/Teune 1982: 32ff). Ein solches Vorgehen hätte eine weitaus differenziertere Vorauswahl der zu untersuchenden Städte vorausgesetzt, was aufgrund zeitlicher Einschränkungen nicht möglich war.
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sich aber an dem Institutionenmodell der alten Bundesrepublik (Wollmann 1998: 153): Mit dem fast vollständigen Institutionentransfer, der durch einen weitreichenden Personal- und Finanztransfer in die neuen Bundesländer beglei tet wurde, agieren die west- und ostdeutschen schrumpfenden Städte seit der Vereinigung unter sehr ähnlichen institutionell-rechtlichen Rahmenbedingungen und operieren mit vergleichbaren Instrumenten in der Stadtentwicklungspolitik, auch wenn es mit Blick auf Finanzzuweisungen des Bundes oder Strukturpro gramme der Europäischen Union noch Unterschiede gibt. In der Untersuchung werden im Wesentlichen die „Policies-Dimension" und die „Politics-Dimension" in beiden Städten analysiert und dargestellt. Um sowohl die inhaltlichen, als auch die prozessualen Aspekte zu erheben und aus zuwerten, war eine Kombination aus unterschiedlichen Erhebungs- und Auswer tungstechniken nötig. Wenngleich sich die verwendeten Methoden nicht an einem bestimmten Wissenschaftsparadigma orientieren, sondern problembezo gen zusammengestellt wurden, bedient sich die vorliegende Studie qualitativer Methoden. Im Vorfeld der eigentlichen Analyse wurde zunächst eine Recherche zur Problemlage in der Stadt und den stadtentwicklungspolitischen Debatten durch geführt. Eine Fülle städtischer Publikationen, wissenschaftlicher Studien und die lokalen Zeitungen wurden ausgewertet. Rund 40 leitfadengestützte Expertenin terviews bilden den Hauptschwerpunkt der empirischen Primärdatenerhebung in beiden Städten. Auf der Grundlage bisheriger politikwissenschaftlicher Unter suchungen wurden die im Politikfeld Stadtentwicklung agierenden Akteurs gruppen identifiziert: • • • • •
Leiter und Mitarbeiter der Verwaltung (Ämter für Stadtentwicklung und Wirtschafts förderung) Beigeordnete Repräsentanten der politischen Parteien im Fachausschuss Stadtentwick lung Personal aus privatwirtschaftlich organisierten städtischen Gesellschaften (Stadtmarketing, Wirtschaftsförderung) Repräsentanten lokaler Verbände, Kammern oder Bürgervereine
Für die Auswahl der Interviewpartner war maßgeblich, dass sie innerhalb des Politikfeldes entweder über relevantes Wissen (z.B. als Mitarbeiter in der Ver waltung oder als Mitglied des Fachausschusses) oder/und über eine Schlüssel position (z.B. als Amtsleiter oder Beigeordnete) verfügten (Meuser/Nagel 1991:
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443). Die qualitativen Experteninterviews ermöglichen es, die Sichtweisen der Akteure, ihre Einschätzung von Problemen, Handlungsoptionen und Konflikte in der Stadtentwicklungspolitik zu rekonstruieren. Um außerdem auch die prozeduralen Abläufe empirisch zu erheben, wurde eine umfassende Analyse der offiziellen politischen Dokumente der Stadtver waltung und der Stadtverordnetenversammlung durchgeführt. In beiden Städten wurden die Niederschriften und Protokolle der Ratsversammlung und der Fach ausschüsse sowie die Mitteilungs- und die Beschlussvorlagen, aber auch die Anträge und Anfragen der Parteien ausgewertet. Trotz einiger Unterschiede in der Systematisierung wurden die Dokumente in beiden Städten nach dem glei chen Prinzip inhaltsanalytisch ausgewertet. Das heißt, sie wurden nach vordefi nierten Kriterien und Stichwortlisten untersucht und dadurch strukturiert. In beiden Städten war es zudem möglich, den Inhalt der Datenbank auf quantifi zierbare Veränderungen der Inhalte zu durchsuchen. 4
Aufbau der Arbeit Die vorliegende Arbeit gliedert sich in sechs weitere Kapitel. Zunächst werden in Kapitel 2 die allgemeinen Ursachen und Folgen städtischer Schrumpfungs prozesse analysiert, um die ersten, einleitend getroffenen Überlegungen zu ver tiefen. Dabei wird deutlich, dass sich das Ausmaß und die Ursachen der Schrumpfung zwischen den west- und den ostdeutschen Städten zwar unter scheiden, dass sich die Zukunftsperspektiven jedoch gleichen. Insgesamt deutet nichts auf eine Zunahme der Bevölkerungszahlen in den großen Städten im Osten wie im Westen hin. Die Frage, wie lokale Akteure mit SchrumpfungsproDie Interviews wurden aufgezeichnet und in einem Protokoll zusammengefasst Dies schloss eine Teiltranskription ein. Auf eine vollständige Transkription der Interviews wurde verzich tet, weil nur einige Interviewpassagen die Grundlage für eine ausführliche interpretative Aus wertung bilden sollten. Ausgewertet wurden die Interviewprotokolle durch eine strukturiertqualitative Inhaltsanalyse: Die notwendigerweise entstandene Materialfülle wurde so bereits bei der Aufarbeitung der Interviews entweder durch Selektion oder Bündelung reduziert, der Abstraktionsgrad erhöht (Mayring 1990: 85f). Im kommunalen Sitzungsdienst Duisburgs, der sich für die Jahre 1997 bis 2001 auf CD-Rom befindet, sind alle politischen Dokumente der Stadt archiviert, so dass nach festgelegten Stich worten in einer Datenbank gesucht werden konnte. In Leipzig sind die gleichen Dokumente zeitlich und sachlich anders geordnet. Sie sind von 1990 bis 2003 zugänglich, gliedern sich al lerdings nicht nach Jahren, sondern nach Wahlperioden und sind thematisch in Verwaltungs vorlagen und Beschlüsse sowie in Fachausschüsse untergliedert. Ein besonderes Problem in Leipzig war, dass die Unterlagen des Fachausschusses, die sich in Duisburg als eine wichtige Informationsquelle herausgestellt hatten, dort nicht öffentlich sind. Die Unterlagen des Fach ausschusses konnten in Leipzig zwar eingesehen werden, dürfen in dieser Arbeit aber leider nicht zitiert werden.
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zessen in der Stadtentwicklung umgehen, wird in der Zukunft also noch an Re levanz gewinnen. Der Umgang mit demographischen und wirtschaftlichen Schrumpfungsprozessen stellt die Städte jedoch vor ungewohnte Herausforde rungen, auf die sie unzureichend vorbereitet sind. Kapitel 3 beschäftigt sich mit den theoretisch-konzeptionellen Perspektiven der lokalen Politikforschung. Obwohl der Umgang mit Schrumpfung bislang noch ein empirisches Desiderat der lokalen Politikforschung ist, bieten die An sätze und Arbeiten aus diesem Forschungsfeld eine wichtige analytische Res source für die hier zu untersuchende Fragestellung. Sie haben sich - wenn auch nicht auf das Problem der Schrumpfung bezogen - in den letzten Jahrzehnten durchaus damit beschäftigt, welche Faktoren für den politischen Umgang mit veränderten sozialen und ökonomischen Bedingungen in Städten relevant sein könnten. Um dieses analytische Potential zu nutzen, werden zunächst die beiden wichtigsten Ansätze der lokalen Politikforschung, die strukturellen und die handlungszentrierten, dargestellt und insbesondere auf ihre Konzeption des lokalen Politikprozesses und des lokalen Politikenwandels befragt. Danach werden die gewonnenen Werkzeuge durch neuere, ideenzentrierten Ansätze aus der Politikwissenschaft ergänzt. Am Ende des Kapitels wird ein integriertes theoretisch-konzeptionelles Analysemodell entwickelt, welches das empirische Vorgehen in den folgenden Kapiteln leiten und theoretisch informieren wird. Die Kapitel 4, 5 und 6 sind der empirischen Analyse der beiden Fallstu dien, Duisburg und Leipzig, gewidmet. Zuerst werden Stadtprofile erstellt, die für den spezifischen Einzelfall zeigen und angesichts der lokalen Konstellatio nen belegen, dass sowohl Duisburg als auch Leipzig schrumpfen und perspekti visch mit weiteren Schrumpfungsprozessen bezüglich des Arbeitsplatzangebots und der Einwohnerzahlen rechnen müssen (Kapitel 4). Reagiert die Stadtent wicklungspolitik in beiden Fällen gleich auf die Probleme und Herausforderun gen? In Kapitel 5 werden die jeweiligen Reaktionen beschrieben. Es wird ge zeigt, dass sich der grundlegende Wandel in den Bedingungen der Stadtentwick lung in einer unterschiedlichen Re- und Neuorientierung städtischer Policies in Duisburg und Leipzig niederschlägt. Im Kapitel 6 werden die politischen Dis kussions- und Entscheidungsprozesse in der Stadtentwicklungspolitik anhand der Akteure, ihrer Wahrnehmung und ihrer Konflikt- und Konsensbildungspro zesse analysiert und verglichen. Abschließend werden in Kapitel 7 die Ergebnisse aus der empirischen Un tersuchung expliziert und theoretisch diskutiert. Dabei wird insbesondere ge zeigt, unter welchen Bedingungen die Institutionalisierung neuer städtischer Politiken in Leipzig gelang. Die aus der Untersuchung folgenden politikrelevan ten Implikationen für den Umgang mit Schrumpfung werden am Ende dieses Kapitels skizziert. 22
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Ursachen und Folgen städtischer Schrumpfungsprozesse
Kaum eine europäische Stadt verschwand nach dem 11. Jahrhundert völlig von der Landkarte. Dennoch gab es einzelne Städte, die aufgrund politischer, ökono mischer oder technologischer Umwälzungen ihre einstmalige Bedeutung verlo ren und niedergingen (Benke 2005: 49). Die Evolution des europäischen Städte systems war seit der frühen Neuzeit kein linearer Wachstums- und Expansionsprozess: „The creation of an urban network in Europe has not been a steady, slow progression. Rather, long spurts of growth have alternated with times of Stagnation and decline" (Hohenberg/Lees 1985: 7f). Mit der Industrialisierung und dem explosionsartigen natürlichen Bevölke rungswachstum bildete sich ein Muster der Stadtentwicklung heraus, welches durch das „Wachstum von Bevölkerung, Fläche, Arbeitsplätzen und damit Wirt schaftskraft" charakterisiert war (Häußermann/Siebel 1987: 91). Zwar schwäch te sich in der Weimarer Republik und im Nationalsozialismus das enorme Städ tewachstum wieder ab. Durch die Herausbildung eines fordistischen Industriali sierungsmodells, das auf dem Trias Wohlfahrtsstaat, Massenproduktion und Vollbeschäftigung beruhte, erlebten die Städte bis Ende der 1960er Jahre jedoch erneut Prosperität: Probleme sah man allenfalls in den negativen Folgen von un gesteuerten Expansions- und Wachstumsprozessen (Läpple 1986b: 909). Räum liche Disparitäten innerhalb eines Nationalstaates bestanden zwischen den „fort schrittlichen Städten" und einem „rückständigen, peripheren Land" (Läpple 1998: 193). Es ist dieses Wachstumsparadigma, das bis heute unser Denken über Stadtentwicklung prägt. Im folgenden Kapitel werden die Ursachen und Folgen städtischer Schrump fungsprozesse dargestellt. Im ersten Schritt wird gezeigt, dass sich seit der In dustrialisierung ein fundamentaler Wandel in der Stadtentwicklung vollzogen hat. Schrumpfende Städte in West- und Ostdeutschland leiden unter einer ero dierten ökonomischen Basis. Ihre Einwohnerzahlen nehmen aufgrund von Ab wanderung oder Geburtendefiziten beständig ab. Erste Tendenzen dieser Art zeigten sich in der Krise altindustrialisierter Städte und Regionen der Bundesre publik in den 1970er und 1980er Jahren. Es wird dargestellt, dass das ausblei-
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bende Wachstum nicht nur konjunkturell, sondern strukturell bedingt ist und dass die Städte damit bis heute konfrontiert sind (siehe Abschnitt 2.1.). Ostdeutsche Städte sind erst seit der Vereinigung mit Schrumpfungspro zessen konfrontiert. Nun treten diese jedoch außerordentlich klar und fiächendeckend auf. Fast alle ostdeutschen Städte leiden in den letzten Jahren unter dra matischen Einwohner- und Arbeitsplatzverlusten. Die heute zu beobachtenden Prozesse des Schrumpfens in ostdeutschen Städten unterscheiden sich qualitativ und quantitativ von denen in Westdeutschland (siehe Abschnitt 2.2.). Doch der Umgang mit demographischen und wirtschaftlichen Schrump fungsprozessen stellt alle betroffenen Städte vor die gleichen, ungewohnten Herausforderungen. Die Aufgaben der Stadtentwicklungspolitik haben sich in den altindustrialisierten Städten des Westens und den von der Transformation betroffenen Städten des Ostens grundlegend verändert: Es geht nicht mehr dar um, Wachstumsprozesse in geordnete Bahnen zu lenken, sondern darum Schrumpfungsprozesse sozialverträglich und so zu gestalten, dass die Lebens qualität für die verbleibenden Bürger erhalten bleibt. Da davon ausgegangen werden kann, dass sich die Situation in Ost und West in den nächsten Jahren zuspitzt, wird die Frage nach Voraussetzungen und Möglichkeiten der Erpro bung neuer Strategien in der Stadtentwicklungspolitik vor Ort umso dringlicher, zumal sämtliche Instrumente, Maßnahmen und Strategien der Stadtentwick lungspolitik bislang an Wachstumsprozessen ausgerichtet sind. Das gilt für Ost wie westdeutsche Städte gleichermaßen (siehe Abschnitt 2.3).
2.1 Schrumpfende Städte West: Die Verlierer des Strukturwandels Das traditionelle Interpretationsmuster „Stadt = Wachstum von Wirtschaftskraft, Einwohnern und Siedlungsfläche" büßte in allen westlichen Industrienationen Mitte der 1970er Jahre an Plausibilität ein. Während das Umland der Kernstäd te, aber auch die ländlichen und gering verdichteten Gebiete an Arbeitsplätzen und Einwohnern gewinnen konnten, verloren die Großstädte (Irmen/Blach 1994: 450; Läpple 1998: 193). Diese räumliche Dezentralisierung industrieller Ar beitsplätze wurde in zahlreichen Untersuchungen für die USA, Großbritannien und die Bundesrepublik Deutschland empirisch belegt (vgl. u.a. Bradbury/Downs/Small 1982; Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986a; Hall/Metcalf 1978). Die britischen Forscher Peter Hall und David Metealf zeigten Ende der 1970er Jah re, dass der Verlust industrieller Arbeitsplätze im Verdichtungsraum London zwischen 1961 und 1974 siebenmal so hoch wie im nationalen Durchschnitt war (Hall/Metcalf 1978: 66). Ein ähnlicher Befund wurde Mitte der 1980er Jahre auch für die Bundesrepublik herausgearbeitet. In den westdeutschen Großstäd24
ten gingen zwischen 1970 und 1984 33,1% der Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe verloren, während diese national nur um 20,1% zurückgingen (Fried richs 1986: 121). Umgekehrt wiesen die Gebiete außerhalb der traditionellen Verdichtungsräume die höchsten Wachstumsraten auf. Die Großstädte waren hiervon jedoch nicht einheitlich betroffen (siehe Bei träge in Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986a). Während in einigen Großstädten die Arbeitsplatzverluste im produzierenden Gewerbe durch das Wachstum neuer Arbeitsplätze im tertiären Sektor ausgeglichen wurden, konnte der Arbeitsplatz verlust in anderen Großstädten nicht durch neue Beschäftigungsmöglichkeiten kompensiert werden. Die Großstädte im Ruhrgebiet verloren zwischen 1976 und 1983 mehr als 19%, Bremen 17,1% und Hannover 12,2% ihrer Arbeitsplätze im sekundären Sektor (Häußermann/Siebel 1986: 81). Zwar verloren die Großstäd te München, Stuttgart und Nürnberg-Erlangen im gleichen Zeitraum ebenfalls Arbeitsplätze im produzierenden Gewerbe, aber nicht in gleichem Ausmaß und da die Zahl der Beschäftigten im tertiären Sektor deutlich zulegte, konnten in diesen Agglomerationen Verluste industrieller Arbeitsplätze durch neue Dienstleistungstätigkeiten kompensiert werden (Friedrichs 1986: 124). In den Agglomerationen Bremen, Hannover, Ruhr und Rhein ging die Zahl der Be schäftigten insgesamt um bis zu 2,5% zurück, während sie im gleichen Zeitraum in den Verdichtungsräumen Rhein/Main, Rhein/Neckar, Karlsruhe, Stuttgart, Nürnberg und München um bis zu 6% anstieg (Häußermann/Siebel 1986: 73). Die Perspektiven der großen Städte hatten sich differenziert bzw. polarisiert (Häußermann/Siebel 1986: 79): In solche, die weiterhin wuchsen, indem sie einen Zugewinn an Arbeitsplätzen und damit auch an Einwohnern realisieren konnten und solche, die schrumpften, da der Verlust an Arbeitsplätzen nicht kompensiert werden konnte und auch zu rückläufigen Einwohnerzahlen führte. Dieses Gefälle zwischen den Großstädten in der Bundesrepublik folgte wie in fast allen westeuropäischen Ländern - einem „Süd-Nord-Gefälle", wo nach sich die Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste in den „nördlichen", die Arbeitsplatz- und Einwohnergewinne in den „südlichen" Agglomerationen kon zentrierten (siehe die Beiträge in Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986a). Eine geographisch ungleiche Verteilung des Bevölkerungs- und Arbeitsplatzverlustes wurde für US-amerikanische Städte bereits Mitte der 1970er Jahre diagnosti ziert: Die Großstädte, die durch längere Phasen des „Null- oder Negativwachs tums" geprägt waren, lagen überwiegend im Norden oder Nordosten der USA (Rust 1975: 8). 5
Die These des „Süd-Nord-Gefalles" war umstritten. Obgleich alle Analysen erhebliche Unter schiede zwischen den Städten herausarbeiteten, hing es von den gewählten räumlichen Be zugsgrößen und den Indikatoren ab, ob ein mehr oder weniger deutliches „Süd-Nord-Gefälle" konstatiert werden konnte (Friedrichs/Häußermann/Siebel 1986b: 3).
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Am nachhaltigsten waren in Westdeutschland die Städte im Ruhrgebiet und im Saarland sowie Bremen betroffen. In den USA waren es die USamerikanischen Städte des so genannten „Rost-Belts" wie Detroit und Pittsburgh (vgl. Kilper/Rehfeld 1994; PaUagst/Wiechmann 2005; Rodwin/Sazanami 19¬ 91; Schulze 2001). Der Arbeitsplatz- und Einwohnerverlust machte sich insbe sondere in solchen Städten bemerkbar, deren ökonomische Basis auf die klassi schen Hochindustriesektoren ausgerichtet war. Diese Städte hatten auf der Basis von Kohle, Stahl, dem Bau von Eisenbahnen oder der Petroleumgewinnung eine oder mehrere Perioden des extensiven Wachstums hinter sich (Rust 1975: 8). Heute sind sie die Verlierer des Strukturwandels.
2.1.1 Strukturwandel und räumliche Ungleichheit Ursächlich für die städtischen Schrumpfungsprozesse war ein ökonomischer Strukturwandel, der in allen westlichen Industrienationen seit Beginn der 1970er Jahre zu beobachten war und der zu einem massiven Arbeitsplatzabbau im pro duzierenden Gewerbe führte (vgl. Bade/Kunzmann 1991; Berg/Drewett/Klaassen/Rossi/Vijverberg 1982; Bradbury/Downs/Small 1982; Friedrichs 1993; GEWOS Institut für Stadt- Regional- und Wohnforschung GmbH 1989; Hall/ Metealf 1978; Hamm/Wienert 1990). Die ersten Arbeiten in der Stadt- und Regionalforschung, die sich mit diesem Phänomen beschäftigen, zielten haupt sächlich darauf, den Prozess des ökonomischen Niedergangs bestimmter städti scher und regionaler Ökonomien, bei gleichzeitigem Wachstum anderer städti scher und regionaler Ökonomien zu erklären. Die Städte und Regionen, in denen sich die Arbeitsplatzverluste im verar beitenden Gewerbe zuerst und besonders nachhaltig bemerkbar machten, waren die Zentren einer fordistischen Massenproduktion. Hier wurden langlebige, hochstandardisierte Industriegüter hergestellt, deren Profitabilität auf einer rigi den Arbeitsteilung des Produktionsprozesses und einer massenhaften Herstel lung beruhte (Läpple 1986b: 912f). Es war der Eintritt der Schwellenländer, die durch geringere Produktionskosten in den industriellen Kernsektoren den etab lierten Industrienationen Konkurrenz machten, und die steigenden Preise für Rohstoffe auf dem Weltmarkt, die das fordistische Modell der Massenprodukti on zunehmend unter Druck geraten ließen (Leborgne/Lipietz 1990: 124). Eine Strategie von Unternehmen, die Profitabilität der hergestellten Industriegüter zu sichern, bestand in der Verlagerung von bestimmten Teilen der Produktion an neue, kostengünstigere Standorte in den sich entwickelnden Ländern oder in peripheren Regionen in den jeweiligen Nationalstaaten.
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Die Großstädte in den traditionellen Industrieregionen waren bzw. sind von der Dezentralisierung der Produktion besonders betroffen, weil sich ihre Bran chen durch einen hohen Anteil ausgereifter Produkte auszeichnen, die am Ende ihres Profitzyklus angekommen sind (Häußermann/Siebel 1988: 80ff). Während sich ein Produkt in der Entwicklungsphase befindet, wird ein hoher Anteil an Forschungs- und Entwicklungskapazitäten benötigt. In dieser Phase sind die Zentren der optimale Standort, in denen die räumliche Nähe zu qualifizierten Arbeitnehmern und technologischen Innovationen gegeben ist. In der Reifungs phase hingegen wird das Produkt hochstandardisiert und in großen Mengen hergestellt, wobei die Technologie kaum noch zu verbessern ist - die Konkur renz von anderen Unternehmen, die mit gleicher Technik aber vielleicht kosten günstiger produzieren können, steigt an. Eine Verlagerung an andere Standorte mit geringeren Produktionskosten ist nicht nur praktikabel, sondern auch profi tabel. In der Konsequenz führt dies in der Herkunftsregion zu einem Beschäfti gungsabbau. Großstädte, in denen sich ein hoher Anteil traditioneller, unter hohem Wettbewerbsdruck stehender Produktionen konzentrierte, sind von dem Ende eines Produktlebenszyklus besonders negativ betroffen (Friedrichs 1993: 909; Häußermann/Siebel 1987: 58). Allerdings war der Abbau von Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe in diesen Städten nicht nur deshalb besonders hoch, weil sich hier die leicht zu dezentralisierenden „ausgereiften" Industrieprodukte konzentrierten, sondern auch, weil weniger Arbeitsplätze in neuen Industriezweigen als in anderen Re gionen entstanden. Die räumlich selektive Neuansiedlung von Industrien wurde mit den „langen Wellen" oder „Kondratieff-Zyklen" erklärt (Läpple 1986a: 102ff). Dieser Erklärungsansatz geht davon aus, dass die ökonomische (Indust rie-) Entwicklung dauerhaft durch unterschiedliche Basisinnovationen oder Schlüsseltechnologien bestimmt wird, die spezielle Standortanforderungen ha ben. Die heute schrumpfenden Industrieregionen gewannen in einem Zyklus an Bedeutung, der auf der Basisinnovation Eisen und Stahl beruhte und der deshalb die Nähe zu natürlichen Ressourcen und Infrastrukturen (Häfen, Flüsse, Eisen bahnen) benötigte. Gegenwärtige Wachstumsindustrien beruhen hingegen auf der Basisinno¬ vation der Mikro-, Informations- und Biotechnologie eines neuen KondratieffZyklus: Sie fordern Produktions- und Standortbedingungen, die in den alten Industrieregionen nicht vorhanden sind. So sind natürliche Ressourcen heute weit weniger wichtig als zum Beispiel handwerkliche Restbestände oder „fle xible Produktionsmilieus" (Läpple 1986a: 115; 1994: 41ff) - innovative Milie us, die sich in Regionen mit einer „verspäteten" Industrialisierung eher erhalten haben (Gornig/Häußermann 1998: 341). Die Standortvorteile, „die die alten In dustriezentren so attraktiv gemacht haben, spielen für die neueren also eine viel 27
geringere Rolle" (Häußermann/Siebel 1987: 64) oder wirken sogar abstoßend auf die neuen Industrien, weil sie in ihrem Niedergangsprozess wie ein „UpasTree" wirken, in dessen Scharten alle anderen Branchen verkümmern bzw. sich keine neuen entwickeln können: „The new industry is likely to be found in regi¬ ons and in areas quite different from the old. Indeed, the image of the old industrial city - committed to a dying industry produced by traditional methods with an ageing workforce resistant to change, with a depressing physical environment that is unattractive to mobile workers, and perhaps lacking the necessary re¬ search expertise in the new technology - is just about as repellent to the new industries as could be imagined. The new industries, then, will seek positively to avoid such places" (Hall 1985: 14). Dass sich keine neuen Industrien bzw. anderen Wachstumsbranchen an den Standorten der alten ansiedeln, ist also nicht nur ökonomisch zu erklären. Es hat ebenso viel mit dem Verhalten der lokalen Eliten und Unternehmen und mit der Existenz spezifischer Raumbilder zu tun (vgl. Friedrichs 1993; Ipsen 1986; Rust 1975). Die Neuansiedlung von Betrieben oder Industrien in den altindustriali sierten Städten scheitert oft aufgrund verkrusteter Machtstrukturen: Obwohl die vor Ort ansässigen Unternehmen in eine Krise geraten sind und ökonomisch an Bedeutung verlieren, behalten sie ihren politischen Einfluss auf der lokalen Ebene. Sie bilden zusammen mit anderen lokalen Akteuren, wie den Gewerk schaften oder den Industrie- und Handelskammern, eine Koalition gegen den strukturellen Wandel. Die misslungenen Ansiedelungen von Automobilprodu zenten in den 1970er und 1980er Jahren im Ruhrgebiet sind hierfür ein gutes Beispiel: „Der Ansiedlung neuer Betriebe stand der Widerstand der Montankon¬ zerne entgegen, weil diese die Lohnkonkurrenz anderer prosperierender Bran chen fürchteten. Während die Ansiedlung von Opel in Bochum als ,geheime Kommandosache' gelang, scheiterten andere Ansiedlungsprojekte" (Goch 2002: 333). Auf der lokalen Ebene dominierte also innovations- und risikofeindliches Verhalten nicht nur bei den im Niedergang befindlichen Industrien und Unter nehmen, sondern wurde auch von allen anderen lokalen Institutionen (Banken, Schulen und Kirchen) verinnerlicht (Rust 1975: 179ff). Traditionelle lokale Machtkoalitionen sind zudem daran interessiert, dass alle verfügbaren staatli chen Mittel in den Erhalt und die Modernisierung ihrer alten Industriebetriebe fließen (Friedrichs 1993: 911ff). Gegen einen strukturellen Wandel und die Neuansiedlung von Betrieben wirken aber auch die spezifischen Raumbilder der altindustrialisierten Städte: Sie werden mit „Rückständigkeit" assoziiert - und stellen ein Hindernis dar, wenn es um die Neuansiedlung von Betrieben geht, weil die neue Klasse der „Professionals" nicht an diesen Orten arbeiten möchte (Ipsen 1986: 150). In den schrumpfenden Städten der westlichen Industrienationen beschränken sich die 28
Probleme nicht nur auf die ausgereiften Industrien. Hier entwickeln sich auch die Wachstumsbranchen deutlich schlechter als in anderen Städten und Regio nen: Die Schwierigkeiten liegen also in der Parallelität sektoraler Entwicklung (Läpple 1994: 38).
2.1.2 Folgen der Schrumpfungsprozesse In den schrumpfenden Städten in Westdeutschland gingen die massiven Ar beitsplatzverluste im produzierenden Sektor mit einer Ausdünnung der Beschäf tigtenbasis einher. Das bedeutete, die Städte hatten eine Arbeitslosenquote, die sich unabhängig von konjunkturellen Schwankungen auf hohem Niveau einge pendelt hatte. Während beispielsweise die Großstädte München, Stuttgart und Frarikfurt in den 1980er Jahren Arbeitslosenquoten zwischen 4,6 und 6,5% hatten, bewegten sich diese in den schrumpfenden Städten Hamburg, Bremen und Dortmund zwischen 12,3 und 16,7% (Häußermann/Siebel 1987: 84). In den traditionellen Industriezentren des Nordens wurden erste Umrisse einer struktu rellen Arbeitslosigkeit sichtbar (Läpple 2003: 195). Mit dem Verlust von Arbeitsplätzen und der daraus folgenden Abwande rung von Einwohnern veränderte sich auch die soziale und demographische Zusammensetzung der städtischen (Wohn-) Bevölkerung, weil die Abwanderun gen sozial selektiv verliefen: Es waren die gut ausgebildeten und jüngeren Be wohner, welche die schrumpfenden Städte auf der Suche nach neuen Beschäfti gungsmöglichkeiten verließen. Zurück blieben diejenigen, deren Arbeitsplatz probleme nicht durch eine individuelle Mobilität gelöst werden konnten. Gerade die Menschen, die durch die Betriebsstilllegungen bzw. durch Rationalisie rungsmaßnahmen im produzierenden Gewerbe arbeitslos geworden waren, waren aufgrund ihrer Qualifikation oftmals nur schwer in andere Bereiche zu vermitteln. In Duisburg hatte sich beispielsweise der Anteil der Arbeitslosen zwischen 1975 und 1986 mehr als verdreifacht, der Anteil der Sozialhilfeemp fänger mehr als verdoppelt (Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrie- und Han delskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1988: 18). Der Verlust von Betrieben führte zu einem sehr viel geringeren Anstieg an Gewerbesteuern als in anderen Städten. Ein Vergleich der Entwicklung der Gewerbesteuereinnahmen von 1960 bis 1985 zeigte, dass die Stadt München in dieser Zeit einen Anstieg um 691 DM pro Einwohner zu verzeichnen hatte, die Stadt Oberhausen dagegen nur einen Zuwachs von 185 DM pro Einwohner 6
Ein ähnliches Gefälle bestand auch in Großbritannien. Im Raum Greater London lag die Arbeitslosenrate 1977 bei 4,3% und erreichte in den „altindustrialisierten" Agglomerationen Strathclyde 9,9% und Merseyside 10,7% (Hall/Metcalf 1978: 76).
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(Häußermann/Siebel 1987: 86). Zusammen mit dem Rückgang der Einkom menssteuer durch die Abwanderung von zahlungskräftigen Einwohnern entstand in den meisten schrumpfenden Städten eine sehr prekäre kommunale Finanzsi tuation. Die nachlassende wirtschaftliche und demographische Dynamik machte sich auch in der Nutzung des städtischen Bodens bemerkbar: Die vormals indus triell genutzten Flächen der großen Konzerne fielen brach, was zu Nutzungs und Funktionsverlusten großer, innerstädtischer Flächen führte. Revitalisierun gen unterblieben aufgrund mangelnder Nachfrage, auch weil es sich um stark kontaminierte Industriebrachen handelte, deren Wiedergewinnung teuer und langwierig war. Hinzu kam, dass sich der Verkauf der alten Gelände für die großen Konzerne nicht rechnete, da es in den schrumpfenden Städten nur weni ge zahlungskräftige Nachfrager gab. Während in den prosperierenden Städten die aufgelassenen Industrieflächen einem neuen Verwertungskreislauf durch tertiäre Nutzungen zugeführt wurden, kam ein solcher Umwandlungsprozess in den schrumpfenden Städten nur unter massiven staatlichen Interventionen zu stande. Die Folgen des Schrumpfungsprozesses konzentrierten sich innerhalb der westdeutschen Großstädte auf die traditionellen Arbeiterbezirke: Die Abwande rung der (deutschen) Mittelschichthaushalte war hier besonders ausgeprägt und die in den Vierteln zurück bleibenden (ausländischen) Arbeiterhaushalte waren in einem besonderen Maße mit den Folgen der Langzeitarbeitslosigkeit konfron tiert. Die Wohnungen in diesen Vierteln wurden kaum noch instand gesetzt oder modernisiert, viele private Vermieter stellten sie dem Verfall anheim (Rommelspacher/Oelschlägel 1986: 217).
2.1.3 Neue Entwicklungstypen von Städten ? Unübersehbare Krisenerscheinungen in den altindustrialisierten Städten und Regionen führten dazu, dass sich die Stadtforschung hauptsächlich mit dem Phänomen des ökonomischen Niedergangs von Städten und Regionen beschäf tigte (vgl. Beauregard 1993; Berg/Drewett/Klaassen/Rossi/Vijverberg 1982; Bradbury/Downs/Small 1982; Friedrichs 1990). Während weitgehend Einigkeit darüber bestand, dass die Ursachen der Krisenphänomene in einem ökonomi schen Strukturwandel lagen und der daraus folgende massive Arbeitsplatzver lust in den Städten zu problematischen Entwicklungen auf der lokalen Ebene führte, waren sich die Forscher in der theoretischen Bewertung der Schrumpfungs- und Niedergangsphänomene uneinig: Handelte es sich bei den zu beo bachtenden Arbeitsplatz- und Einwohnerverlusten um eine „Phase" in einem 30
quasi-evolutionären Lebenszyklus von Stadtregionen, um „Anpassungsschwierig keiten" innerhalb eines gemeinsamen Wachsrumsrahmens oder um langfristige Entwicklungsunterschiede, die zu neuen Typen von Großstädten führten? Aus der theoretischen Bewertung folgten auch unterschiedliche Politikempfehlun gen, wie mit den Schrumpfungsprozessen am besten umzugehen sei. Einer der ersten Versuche, den Aufstieg und Niedergang von Stadtregionen zu modellieren, war das Lebenszyklusmodell von Berg und anderen (Berg/Drewett/Klaassen/Rossi/Vijverberg 1982: 26f). In ihrem Modell ist der Lebenszyklus einer Stadtregion in vier Phasen unterteilt: Einer ersten Phase der Urbanisierung, in der die Zahl der Arbeitsplätze und der Einwohner in der Kern stadt zunimmt, folgt eine zweite der Suburbanisierung, in der die Zahl der Ar beitsplätze und Einwohner in der Kernstadt stagniert, die des Umlandes aber wächst. Hieran schließt sich eine dritte Phase der Desurbanisierung an, welche durch eine Verlagerung von Arbeitsplätzen und Einwohnern in weiter entfernte Gebiete oder in ländliche Räume gekennzeichnet ist. In dieser Phase verlieren die Kernstädte als Zentrum der Wirtschafts- und Bevölkerungsentwicklung an Bedeutung, was in der Konsequenz auch ein Schrumpfen der gesamten Stadtre gion bedingt. Eine mögliche Zukunft der Städte entsteht in diesem Modell durch eine vierte Phase: die Reurbanisierung. Durch sie steigt der Anteil der Bevölke rung in der Kernstadt entweder relativ zum Umland oder absolut wieder an. Ökonomische und demographische Schrumpfung ist hier eine kürzer oder länger andauernde Phase in einem zyklisch verlaufenden Urbanisierungsprozess, den alle Städte durchlaufen: Früher oder später wird neues Wachstum in diesen Stadtregionen entstehen und zu einer Phase des Kernstadtwachstums fuhren eine Entwicklung, die durch politische Maßnahmen zur Reurbanisierung grund sätzlich befördert werden kann. Ein weiterer Versuch, den ökonomischen Stagnations- oder Niedergangsprozess einer Stadt zu modellieren, ist von Jürgen Friedrichs unternommen worden. Er geht von einem engen Zusammenhang zwischen dem ökonomischen Niedergang, den demographischen Entwicklungen und dem Verhalten lokaler Eliten aus. Die Dauer des ökonomischen und demographischen Niedergangs ist, so seine zentrale These, vom Grad der Differenzierung in einer Stadt abhän gig: Eine Stadt, die eine homogene industrielle Basis hat, wird stärker und nachhaltiger von einem ökonomischen Niedergangsprozess geprägt sein, als 7
Hierbei stützt sich Jürgen Friedrichs auf die zentralen Annahmen des demographischen Wachstumsmodells von Rust (1975). Rust's Modell hinterfragt die klassischen Ansätze der Stadtökonomie, in denen die Bevölkerung als rein abgeleiteter Faktor der Wirtschaftsentwick lung gesehen wurde, und zeigt, dass wirtschaftlicher Niedergang sich nicht sofort in demogra phischen Veränderungen niederschlägt, weil es einen „shadow-boom" gibt (Rust 1975: 171). Schrumpfende Städte weisen, so eine seiner zentralen Thesen, ein gewisses demographisches Beharrungsvermögen auf.
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eine Stadt, die über eine heterogene wirtschaftliche Basis verfügt (Friedrichs 1993: 910). Dies wird damit begründet, dass einerseits eine Stadt mit homoge ner wirtschaftlicher Basis von Produktlebenszyklen stärker abhängig ist. Ande rerseits verzögern die städtischen Eliten bewusst den ökonomischen Anpassungsprozess. Städte mit einer heterogenen industriellen Struktur sollten daher von ökonomischen und demographischen Scrirampfungsprozessen viel weniger betroffen sein: „From the theory, stability and short-term adaption to changing economic conditions would be predicted for such cities - but not decline" (Fried richs 1993: 914). In seinem Ansatz geht Friedrichs davon aus, dass der städti sche Niedergang das Ergebnis eines verzögerten Anpassungsprozesses ist, der durch eine homogene Wirtschafts- und Elitenstruktur befördert wird. Durch geeignete politische Maßnahmen, wie die Etablierung neuer Eliten und die Di versifizierung der industriellen Basis, kann die Stadt einen neuen wirtschaftli chen Aufschwung erleben. Im Unterschied zu diesen beiden Ansätzen haben die Soziologen Hartmut Häußermann und Walter Siebel die These vertreten, dass es sich bei der schrumpfenden Stadt um einen neuen Stadtentwicklungstypus handelt (Häußermann/Siebel 1986, 1987, 1988). Die zunehmende Ungleichheit zwischen den großstädtischen Zentren fuhrt, so ihr Argument, zu einer Polarisierung des bisher einheitlichen Wachstumsmodells der Städte. Polarisierung deshalb, weil unter den Bedingungen des demographischen Bevölkerungsrückgangs das Wachstum der prosperierenden Städte nur unter den Bedingungen des Schrump fens anderer möglich ist - ein Nullsummenspiel, bei dem die schrumpfenden Städte nicht nur heute benachteiligt sind, sondern auch in Zukunft schlechter dastehen werden. Durch sozial selektive Abwanderungen differenzieren sich lokale Sozialstrukturen und Arbeitsmärkte so, dass die „Chancen für eine (Wie der-) Angleichung der Entwicklungsperspektiven erheblich" gemindert werden (Häußermann, Siebel 1988: 83). In den schrumpfenden Städten könnten sich deshalb auf lange Sicht andere ökonomische Strukturen, kulturelle Milieus und städtische Lebensweisen entwickeln als in den weiterhin wachsenden Städten. Schrumpfung ist hier also weder eine Phase, noch Ausdruck von Anpassungs schwierigkeiten, sondern das Ergebnis eines strukturellen Wandels, der in der Folge auch zu einem neuen Entwicklungstyp Stadt führt. Hieraus folgern sie, dass eine wachstumsorientierte städtische Politik zur Generierung lokaler öko nomischen Ressourcen wenig erfolgversprechend ist und darüber hinaus sogar die möglichen Chancen einer anderen Form der Urbanität verdeckt werden wür den (Häußermann, Siebel 1987: 120). Die Idee von Hartmut Häußermann und Walter Siebel, die Prozesse des Schrumpfens nicht nur als Verlust und Verfall von Urbanität, sondern auch als Chance für eine neue Urbanität zu interpretieren, fand in der wissenschaftlichen 32
Diskussion wenig Widerhall. Die Krise der altindustrialisierten Städte wurde als temporär und tendenziell umkehrbar betrachtet - und mit der Wiedervereini gung und den daraus zunächst folgenden Zuzügen und Arbeitsplatzgewinnen schien sich das Thema Schrumpfung für die meisten westdeutschen Großstädte endgültig erledigt zu haben, das Süd-Nord Gefälle wurde durch ein viel dispara teres West-Ost Gefälle ersetzt (vgl. Bade/KieU/Mikeleit/Papanikolaou 2003; Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. 2002).
2.1.4 Vereinigungsbedingter Wirtschaftsboom und demographische Schrumpfungsprozesse Der vereinigungsbedingte Wirtschaftsboom sorgte dafür, dass sich die Zahl der Erwerbstätigen in vielen westdeutschen Großstädten erstmals wieder positiv entwickelte. Selbst Städte wie Bremen, Duisburg, Gelsenkirchen, Hannover oder Dortmund, die seit den 1970er Jahren mit einem massiven Beschäftigungs abbau zu kämpfen hatten, konnten wieder Zugewinne verzeichnen. Ebenso bescherte die Zuwanderungswelle aus Ostdeutschland fast allen Großstädten in Westdeutschland einen Zuwachs an Einwohnern. Ökonomische und demogra phische Wachstumsprozesse kamen in den ersten drei Jahren nach der Wieder vereinigung sogar den Kernstädten zu Gute (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2000: 21). Die Gewinne waren jedoch - und das zeigte sich bereits Ende 1992 - nicht nachhaltig. Die Kernstädte verloren schnell, was sie gerade gewonnen glaubten, während das Umland der großen Städte und die gering verdichteten Gebiete gewannen (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2000: 21). Die Ar beitsplatz- und Einwohnerentwicklung zeigte bald die gewohnten Trends der Dezentralisierung und Suburbanisierung, wenngleich sich die Beschäftigtenzah len in einigen Großstädten wie Stuttgart, München und Frankfurt am Main seit Ende der 1990er Jahre wieder günstiger als im Bundesdurchschnitt entwickelten (Geppert/Gornig 2003: o.S.). Auch das Süd-Nord-Gefälle zwischen den groß städtischen Agglomerationen setzte sich nicht ungebrochen fort. Von den Ag glomerationen, die Arbeitsplatzgewinne verzeichneten, lagen drei im „Norden" (Bielefeld, Hamburg, Bremen), wobei die traditionellen Wachstumsregionen (Rhein-Main, Rhein-Neckar, Stuttgart) im „Süden" der Republik Arbeitsplätze einbüßten (Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. 2002: 12). Stattdes sen entstand ein ausgeprägtes West-Ost-Gefälle. 8
Diese These ist freilich umstritten. So geht Läpple (Läpple 2003:195) davon aus, dass sich das „Süd-Nord-Gefälle" weiter fortsetzt, auch wenn es weniger stark ausgeprägt ist und von einem dominanten West-Ost-Gefälle überlagert wird.
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Die Wachsturnsdifferenzen sind zwischen den westdeutschen Großstädten damit zwar geringer geworden, eine Angleichung des Entwicklungsniveaus hat aber nicht stattgefunden, was an den Indikatoren Arbeitslosenquote und Sozial hilfedichte verdeutlicht werden kann. Während die Arbeitslosenquote im Sep tember 2003 in München bei knapp 7,7% und in Stuttgart bei 8% liegt, erreicht sie in Bremen 12,9%, in Dortmund 15,4% und in Kiel 14,4% und in Duisburg 14,8% (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2004: o.S.). Eine disparate Situation, die sich auch in der Sozialhilfedichte (Sozialhilfeempfänger pro 1.000 Einwohner) widerspiegelt: Sie ist am höchsten in Bremen (87), gefolgt von Köln (63), Duisburg und Essen (61), am niedrigsten in München (35) und Stutt gart (39) (Landeshauptstadt Hannover 2002: 26). Die in den 1980er Jahren di agnostizierte Ungleichheit zwischen den weiterhin wachsenden und den stark schrumpfenden Städten besteht also - trotz interregionaler Nivellierungstendenzen in den 1990er Jahren - weiter. Die Bevölkerungszahl wird allerdings, darauf deuten neuere Prognosen des Bundesamtes für Raumordnung und Städtebau hin, zukünftig in fast allen west deutschen Agglomerationen stagnieren oder schrumpfen (vgl. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2000). Im Ruhrgebiet, dem Saarland und Hanno ver spielen die natürlichen demographischen Entwicklungen bereits heute eine erhebliche Rolle bei der Bevölkerungsentwicklung (Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. 2002: 10): Eine Tendenz, die in den besonders benach teiligten westdeutschen Agglomerationen zwar zuerst sichtbar wurde. Sie wird zukünftig aber auch solche treffen, die momentan noch ein doppelt gespeistes Wachstum aus Zuwanderung und natürlichen Gewinnen realisieren können, wie beispielsweise München, Stuttgart, Rhein-Main, Rhein-Neckar, Nürnberg, Bre men, Bielefeld (Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. 2002: 10). In den nächsten Jahren wird es auch in Westdeutschland nur noch wenig Städte, Kreise und Agglomerationen geben, die einen Bevölkerungszuwachs verzeich nen werden (vgl. Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2000; Institut für ökologische Raumentwicklung e.V. 2002).
2.2 Schrumpfende Städte Ost: Die Verlierer des Strukturbruchs Im Unterschied zu den westdeutschen schrumpfenden Städten, die schon seit Beginn der 1970er Jahre mit abnehmenden Einwohner- und Arbeitsplatzzahlen zu kämpfen hatten, war die Entwicklung der Städte in der DDR durch starke Konzentrations- und Zentralisierungsprozesse geprägt. Die meisten hatten bis zur Wiedervereinigung Bevölkerungs- und Arbeitsplatzgewinne zu verzeichnen (Hannemann 2004: 76f). 34
Die Städte in Ostdeutschland entwickelten sich vor der Wiedervereinigung unter gänzlich anderen Bedingungen, da weder die Kommunen noch private Akteure auf die Planung und Entwicklung der Städte einen wesentlichen Ein¬ fluss hatten (vgl. Flierl 1991; Friedrichs/Häußermann 1998; Häußermann 1996). Wenngleich sich in der DDR der formale Zuschnitt der Gemeinden kaum ver änderte, waren die Gemeinden dennoch ihrer Selbstverwaltung beraubt: Sie waren Teil des örtlichen Staatsapparates (Schneider 1993: 18). Die einzelnen Kommunen konnten auf die Stadtentwicklungsplanung kaum einen eigenen Einfluss geltend machen, da sie dem Zentralstaat „doppelt unterstellt", das heißt, sowohl finanziell als auch administrativ von seinen Vorgaben abhängig waren (Wollmann 1991a: 241). Private Verwertungs- und Nutzungsinteressen spielten eine untergeordnete Rolle, weil es das gesellschaftspolitisch formulierte Ziel war, den für kapitalistische Gesellschaften zentralen Gegensatz zwischen Individual- und Gemeinwohlinteressen mit einer vergesellschafteten Eigentumsord nung aufzuheben (Glock/Keller/Häußermann 2000: 4). Daraus ergaben sich auch andere Stadt- und regionalstrukturelle Muster. Dem früh formulierten Leitbild der kompakten Stadt folgend, fokussierte der DDR-Staat die Investitionen auf Prestigeprojekte in den Innenstädten, um diese nach „sozialistischen" Prinzipien umzugestalten (Flierl 1991: 50ff) und auf die oftmals randstädtisch gelegenen Großwohnsiedlungen, die eine bevor zugte Mittelzuweisung für den Wohnungs- und Städtebau erhielten (Hannemann 2003: 18). Umgekehrt führte dies dazu, dass die meisten gründerzeitlichen Wohnviertel in den Innenstädten dem Verfall preisgegeben waren (vgl. Doehler/Rink 1996; Doehler/Usbeck 1996; Marcuse/Scheumann 1991). Während die innerstädtischen Altbaubestände verfielen und die jungen Familien mit Kindern in die neu errichteten Großsiedlungen an den Stadtrand zogen, spielte die StadtUmland-Wanderung aufgrund einer strikten Bau- und Bodenpolitik nur eine geringe Rolle, auch wenn der Einfamilienhausbau in den ländlichen Regionen durchaus gefördert wurde (Friedrichs/Häußermann 1998: 317). Desgleichen fand auch keine Dezentralisierung von industriellen Arbeitsplätzen statt, da die historischen Produktionsstätten und Industrieanlangen an ihren innerstädtischen Standorten weiterverwendet wurden (Einem/Gornig 1998: 88). Daneben kon zentrierte die DDR gerade zu Beginn ihre Anstrengungen darauf, die mit der Teilung verlorenen Branchen und Industrien (v. a. Eisen, Stahl- und Schwerma schinenbau) an neuen Standorten anzusiedeln. So entstanden in den vormals ländlich geprägten Räumen des Nordens neue Städte und Industriebetriebe (vgl. Grundmann 1991; Schmidt 1994b). Diese Zusammenziehung von Investitionen und Ressourcen in einigen re gionalen Kern- und Schwerpunktbereichen der DDR und in den größeren Städ ten führte zu einer ,,überzogene[n] räumliche[n] Konzentrations- und Zentrali35
sierungstendenz zugunsten ausgewählter größerer vor allem jedoch mittlerer Städte und zu Lasten der Mehrheit der anderen Städte und Dörfer" (Hannemann 2004: 79). Obwohl insbesondere die Kleinstädte und der ländliche Raum ver nachlässigt wurden, war die Entwicklung der meisten größeren und mittleren Städte sowie der neu gegründeten Industriestädte durch Einwohnergewinne gekennzeichnet. 9
2.2.1 Postsozialistische Transformation Obgleich viele Forscher zu Beginn der Transformation darauf hinwiesen, dass sich die Perspektiven der ostdeutschen Städte unter kapitalistischen Bedingun gen ausdifferenzieren würden, und dass insbesondere die industriell geprägten Städte in Ostdeutschland einen Arbeitsplatz- und Einwohnerschwund zu ver zeichnen haben würden, war man, was die Entwicklung anderer Städte bzw. Stadttypen in Ostdeutschland betraf, insgesamt optimistischer (Bundesforschungs anstalt für Landeskunde und Raumordnung 1993: 1TI). Diese Erwartungen erfüllten sich nicht. Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste zeigten sich nach der Vereinigung zwar zuerst und in besonderer Schärfe in den industriell geprägten Siedlungs schwerpunkten der DDR, die durch einen hohen Besatz an alten Industriebetrie ben gekennzeichnet waren: Hier ging innerhalb der ersten Jahre nach der Wende die Zahl der Arbeitskräfte in den ortsansässigen Industriebetrieben um fast zwei Drittel zurück (Friedrichs/Häußermann 1998: 326). In der Folge verloren Städte wie Chemnitz, Schwedt, Hoyerswerda und Eisenhüttenstadt alleine innerhalb der ersten sechs Jahre nach der Wende zwischen 10 und 11% ihrer Bewohner (Friedrichs/Häußermann 1998: 325). Rückläufige Bevölkerungs- und Arbeits platzzahlen sind jedoch mittlerweile in fast allen ostdeutschen Städten zu ver zeichnen - auch in solchen, die über eine differenziertere ökonomische Basis verfügen, wie beispielsweise Leipzig oder Dresden. Zwar vermochten es gerade diese Städte seit der Wiedervereinigung, ihre Beschäftigtenzahlen im tertiären Sektor auszudehnen, doch war der Verlust an Arbeitsplätzen im produzierenden Sektor insgesamt zu hoch, um diese durch Dienstleistungen kompensieren zu können (Friedrichs/Häußermann 1998: 320). Neben den industriell geprägten Siedlungsschwerpunkten, den größeren und mittleren Städten, sind es die Klein städte in Ostdeutschland, deren Perspektiven sich in den letzten Jahren durch die Abwanderung von Bewohnern und den Verlust an Arbeitsplätzen dramatisch 9
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Leipzig bildete hier allerdings eine Ausnahme: Die Stadt wurde zur einzigen Großstadt der DDR, die einen kontinuierlichen Bevölkerungsrückgang verzeichnete (Doehler/Rink 1996: 265). Auf die (Sonder-) Entwicklung Leipzigs wird im Kapitel 4.2.2 genauer eingegangen.
verschlechtert haben (Hannemann 2002: 65). Eine Ausnahme von diesen gene rellen Trends in Ostdeutschland bilden die kleineren Gemeinden im jeweiligen Umland größerer Städte wie Berlin, Leipzig oder Dresden, die in den letzten Jahren von der Stadt-Umland-Wanderung profitierten und teilweise noch Be völkerungsgewinne verzeichnen konnten, oder Städte wie z.B. Jena, Gotha oder Weimar (Gatzweiler/Meyer/Milbert 2003: 565). Dass fast alle ostdeutschen Städte schrumpfen, ist die Folge eines durch die deutsche Wiedervereinigung erfolgten radikalen Strukturbruchs, mit dem sich die gesamten Parameter städtischer und regionaler Entwicklung veränderten. Mit der Wiedereinführung der Marktwirtschaft nach 1990, der Privatisierung der staatseigenen Betriebe und der Liberalisierung der Märkte brach die indus trielle Basis in Ostdeutschland innerhalb weniger Jahre zusammen (Fried richs/Häußermann 1998: 319). Der flächendeckende Prozess der Deindustriali¬ sierung führte zu einem „Kapazitätsabbau" im verarbeitenden Gewerbe und einem Verlust an Arbeitsplätzen, der nicht nur schneller, sondern auch viel radi kaler als in Westdeutschland in den 1980er Jahren ausfiel: Alleine im Bergbau und im verarbeitenden Gewerbe gingen zwischen 1991 und 1997 ca. 1,2 Millio nen Arbeitsplätze verloren (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2000: 19). Heute arbeiten in Ostdeutschland weniger Menschen in der Industrie als in allen anderen westeuropäischen Ländern (Nolte/Ziegler 1994: 256). Der Arbeitsplatzabbau im verarbeitenden Gewerbe wurde noch durch einen parallel verlaufenden Stellenabbau in der Land- und Forstwirtschaft, der Ver waltung und dem Militär potenziert (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 1997: o.S.). Obwohl die Zahl der Erwerbstätigen im Dienstleistungssektor zu nahm, konnten die massiven Arbeitsplatzverluste nicht kompensiert werden, so dass die Erwerbstätigenquote seit der Wiedervereinigung von 72,6% (1991) auf 60,5% (2003) zurückgegangen ist (Statistisches Bundesamt Deutschland 2005: Tabelle 19). Auch stehen in Ostdeutschland je 100 Erwerbspersonen nur 73 Arbeitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung, während in West deutschland immerhin 91 Arbeitsplätze pro 100 Erwerbspersonen vorhanden sind (Ragnitz 2005: 4). Dementsprechend verharrt die Arbeitslosenquote in Ostdeutschland auf einem kontinuierlich hohen Niveau: Sie ist mehr als doppelt so hoch wie in Westdeutschland (18,4% respektive 8,5% im Jahr 2004) (Bun desagentur für Arbeit 2005: 53). Es ist insofern nicht verwunderlich, dass Ostdeutschland alleine zwischen 1991 und 1997 rund 462.000 Menschen durch eine arbeitsmarktbedingte Ab wanderung nach Westdeutschland verloren hat (Roloff 2001: 14). Eine kurze Stabilisierungsphase des Wanderungsgeschehens Mitte der 1990er Jahre konnte nur flüchtig Anlass zur Hoffnung geben. Obwohl sich in der ersten Hälfte der 1990er Jahre zuerst noch eine Angleichung der wirtschaftlichen Rahmendaten 37
zwischen West- und Ostdeutschland andeutete, geriet seitdem der Aufholpro¬ zess in den neuen Bundesländern deutlich ins Stocken (Pohl 2000: 226). Mit den stagnierenden bzw. sich verschlechternden ökonomischen Perspektiven steigen die Abwanderungen seit 1998 wieder an (Schulz 2004: o.S.). Ostdeutschland verlor durch die Abwanderung nach Westdeutschland zwischen 1990 und 2002 rund 1,05 Millionen Einwohner (Mai 2004b: 2). Die Devolution des sozialistischen Wohlfahrtsstaates brachte Unsicherhei ten mit sich, die sich auch auf die Familienplanung in Ostdeutschland auswirk ten. Zwischen 1989 und 1994 gingen die Geburten um ca. 60% zurück, so dass die Region in den letzten Jahren ca. 700.000 Einwohner aufgrund der demogra phischen Schrumpfung verloren hat (Bundesamt für Bauwesen und Raumord nung 2000: 12). Die Geburtenraten steigen zwar seit Mitte der 1990er Jahre in Ostdeutschland wieder an und nähern sich dem westdeutschen Niveau, der noch bis Mitte der 1990er Jahre angenommene Nachholeffekt blieb allerdings aus (Schulz 2004: o.S.). Natürliche Einwohnerverluste - infolge eines Geburtende fizits - sowie überregionale Wanderungsverluste reduzierten die Zahl der Ein wohner in Ostdeutschland zwischen 1990 und 2002 um rund 6,4% (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2004; o.S.). Betroffen von dem Arbeitsplatzabbau und den Einwohnerverlusten sind die Kernstädte. Zwar haben in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung die Kernstädte deutlich geringere Arbeitsplatzverluste hinnehmen müssen als die anderen Regionen in Ostdeutschland, das Wachstum von Arbeitsplätzen findet jedoch seit 1993 hauptsächlich im Umland der großen Städte und in den länd lich geprägten Kreisen statt: Der Beschäftigungsabbau geht zu Lasten der Kern städte (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2000: 22). Für die Bevölke rung lässt sich Ähnliches zeigen: Waren die Bevölkerungsverluste in den Kern städten bis Mitte der 1990er Jahre durch eine überregionale Wanderung nach Westdeutschland induziert, nimmt seit Mitte der 1990er Jahre die Abwanderung aus den Kernstädten in das jeweilige Umland der Städte zu. Eine Studie ermit telte, dass die Stadt-Umland-Wanderung in 15 von 30 untersuchten ostdeut schen Städten für die Hälfte des gesamten Bevölkerungsverlusts verantwortlich war (Simons 2001: 42). Zwar ist seit den 1970er Jahren in allen westlichen Industriestaaten zu beobachten, wie der räumliche Strukturwandel zu einem re lativen Bedeutungsverlust der Kernstädte als Zentrum wirtschaftlicher Aktivitä ten und demographischer Wachstumsprozesse führt, dennoch sind die Rasanz und die Intensität, mit der das Umland der großen Städte in Ostdeutschland wächst, enorm. Zudem verschärften politische Fehlentscheidungen nach der Wende die Probleme. So führten u. a. die massiven steuerlichen Sonderabschreibungen für westdeutsche Spitzenverdiener und die Eigentumsrückübertragung mit dem 38
Grundsatz „Rückgabe vor Entschädigung" zu einer Privilegierung der Neuan siedlung und des Neubaus auf der grünen Wiese, in dessen Gefolge sich Indust rie, Bewohner, Einzelhandelseinrichtungen und Gewerbeparks im Umland der Städte konzentrierten (vgl. Herfert 1997, 2002; Usbeck 1997). Es ist insgesamt ein Suburbanisierungsprozess unter Schrampfungsbedingungen, der nicht aus innerem Wachstum der Städte und durch Zuwanderung gespeist wird, sondern vielmehr ein künstlich durch Steuerabschreibungen induzierter Verlagerungsprozess, der sich unter den Bedingungen eines anhaltenden Bevölkerungsrück gangs und abnehmender Beschäftigung vollzieht (Herfert/Röhl 2001: 151).
2.2.2 Folgen der Schrumpfungsprozesse Die massiven Arbeitsplatzverluste in den ostdeutschen Städten schlugen sich bedingt durch die staatlichen Abfederungsmaßnahmen des Transformationspro zesses auf dem Arbeitsmarkt - nicht sofort in den Arbeitslosenzahlen nieder. In den ostdeutschen Städten verfestigte sich jedoch inzwischen eine Arbeitslosen quote, die deutlich über dem Niveau westdeutscher Städte liegt. Obwohl zum Beispiel Potsdam und Jena mit einer Arbeitslosenquote von 13,3% respektive 14,3% eine deutlich höhere Arbeitslosenrate als viele westdeutsche Städte ha ben, sind sie in Ostdeutschland noch die „Gewinner" unter den „Verlierern", da in Stralsund und Görlitz die Arbeitslosenquoten im Jahr 2003 beispielsweise bei 23,4 bzw. 26,5% liegen (Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung 2004: o.S.). Prognosen des DIW lassen zudem vermuten, dass die Arbeitslosenraten weiter zunehmen werden, weil das geringe Wachstum des ostdeutschen Brutto inlandsproduktes noch nicht einmal ausreichen dürfte, um das derzeitige Be schäftigungsniveau zu halten (Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung 2004: o.S.). Gleichzeitig macht sich in den ostdeutschen Städten eine sozial selektive Abwanderung bemerkbar. Zum einen, weil die Prozesse der (Wohn-) Suburba¬ nisierung überwiegend von gut situierten Mittelschichtfamilien mit Kindern getragen werden, die sich ein Häuschen im Grünen leisten können und wollen. Zum anderen wandern hauptsächlich die qualifizierten und jüngeren Bewohner nach Westdeutschland ab (vgl. Mäding 2001; Mai 2004a; Roloff 2001). Beide Prozesse fuhren dazu, dass sich in den ostdeutschen Städten (und hier insbeson dere in den weniger attraktiven Quartieren) die soziale Zusammensetzung der Bevölkerung verändert: Zurück bleiben diejenigen, die zu arm, zu unqualifiziert oder zu alt sind, um abzuwandern. Das bedeutet für die ostdeutschen Städte eine weitere Reduzierung ihrer ohnehin sehr niedrigen Steuereinnahmen, so dass die meisten von ihnen kaum in 39
der Lage sind, ihre Ausgaben aus eigenen Einnahmen zu bezahlen. Das ge meindliche Pro-Kopf Steuereinkommen lag im Jahr 2002 in den ostdeutschen Städten bei rund 376 €, während es in den westdeutschen Städten bei 821 € lag (Deutscher Städtetag 2003: 398f). Die geringe Steuerkraft der meisten ostdeut schen Kommunen drückt sich auch in der starken Abhängigkeit vom kommuna len Finanzausgleich aus: So erhielten die ostdeutschen Städte im Jahr 2000 mit 770 € pro Einwohner mehr als den doppelten Zuweisungsbetrag der westdeut schen Städte (Deutscher Städte- und Gemeindebund 2001: 15). Die Folgen des ostdeutschen Arbeitsplatz- und Einwohnerverlustes mani festieren sich derzeit am deutlichsten in einem massenhaften, strukturellen Woh nungsleerstand: Es stehen eine Million Wohnungen leer; Tendenz steigend - so die alarmierenden Aussagen einer von der Bundesregierung eingesetzten Exper tenkommission (Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 2000: 2). Die Angebotsüberhänge, die mittlerweile auf rund 1,1 Millionen an gewachsen sind, betreffen sowohl den Altbau als auch den Plattenbau, wobei sich die Wohnungsleerstände gegenwärtig in den vor 1918 erbauten innerstädti schen Altbauwohnungen konzentrieren: Hier stehen circa ein Drittel aller Woh nungen leer (Glock/Häußermann 2004: 920). Dieser enorme strukturelle Woh nungsleerstand resultiert aus einer Kombination von Bevölkerungsschwund und einem eher angebots- als nachfrageorientierten Neubauboom durch staatlich induzierte Steuerabschreibungen. Obwohl es auch in den westdeutschen schrump fenden Städten Wohnungsleerstände gibt, konzentrieren sich diese in den tradi tionellen, innerstädtischen Arbeiterquartieren oder in den besonders schlechten Baubeständen des sozialen Wohnungsbaus (siehe Abschnitt 2.1.2). Ein flächen deckendes Problem wie in Ostdeutschland sind sie bisher nicht. Für die Städte und Gemeinden in Ostdeutschland stellen die Wohnungs¬ leerstände inzwischen ein erhebliches fiskalisches Problem dar, denn 40% des gesamten ostdeutschen Wohnungsbestandes sind teilweise oder vollständig im Besitz kommunaler Wohnungsbaugesellschaften (Franz 2001: 31). Die aus den Leerständen resultierenden erheblichen Mindereinnahmen fallen so direkt dem kommunalen Haushalt zur Last. Neben diesen kommunalen Mindereinnahmen, den drohenden Insolvenzen betroffener Wohnungseigentümer sowie dem Still stand des Erneuerungs- und Modernisierungsprozesses kann der durch Leer stand entstehende „Mietermarkt" - neben unbestreitbar positiven Effekten wie niedrigen Mieten, großer Wahlfreiheit, mehr Verhandlungsmacht für Mieter ebenso mit negativen Konsequenzen einhergehen. Die Profiteure eines ent spannten Wohnungsmarktes sind Mittelschichthaushalte (Stemführer 2002: 131). Doch mit der Konzentration des Leerstandes in bestimmten Gebieten und Quartieren einer Stadt kann hier ein kumulativer Abwärtstrend in Gang gesetzt werden, bei dem die mobilen Bevölkerungsgruppen diese Gebiete verlassen und 40
nur noch diejenigen zurückbleiben, die nicht umziehen können oder wollen. Die überaus prekären Folgen des Leerstandes werden schon heute in manchen ost deutschen Städten und Stadtteilen sichtbar: Die soziale und technische Infra struktur läuft „leer", Kindergärten, Bibliotheken und Schulen schließen und der lokale Einzelhandel wandert aufgrund mangelnder Nachfrage ab. Solche Ent wicklungen sind in anderen schrumpfenden Städten schon weiter fortgeschrit ten: In den Städten Nordenglands kollabieren manche Nachbarschaften als Fol ge von Abwanderungsprozessen der Mittelschicht und der daraus resultierenden Armutskonzentration (vgl. Power/Mumford 1999; Power 2002). Ähnliches lässt sich auch in den schrumpfenden Städten in den USA zeigen (vgl. Cohen 2000).
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2.2.3 Mehr Stadt für weniger Bürger — Chancen des Schrumpfens? Obwohl sich bereits Mitte der 1990er Jahre die Anzeichen mehrten, dass der wirtschaftliche Aufholprozess in Ostdeutschland einbrechen würde, was für die Städte weiter sinkende Arbeitsplatz- und Einwohnerzahlen bedeutete, gab es kaum Debatten, die sich ernsthaft mit diesen Schwierigkeiten befassten. In den ostdeutschen Städten zeichneten sich Arbeitsplatzverluste, Bevölkerungsrück gänge und Wohnungsleerstände bereits deutlich ab, aber öffentlich darüber reden wollte niemand: Lokale Spitzenpolitiker vermieden die Themen, weil sie befürchteten, damit die erreichten Erfolge schlecht zu reden und den Wirt schaftsstandort in Verruf zu bringen. Die Spitzenverbände der ostdeutschen Wohnungswirtschaft wollten über dieses Thema ebenso wenig öffentlich disku tieren, hätten sie damit doch zugegeben, dass ihre intensiven Neubau- und Mo dernisierungsinvestitionen am Bedarf vorbei getätigt worden waren. Nachdem aber Wohnungsleerstände und Mietausfälle in einigen ostdeutschen Wohnungs¬ unternehmen für eine krisenhafte Destabilisierung gesorgt hatten, änderten die Verbände ihre Haltung und forderten von der Bundesregierung finanzielle Un terstützung für die Reduzierung ihrer Leerstände (Bundesverband deutscher Woh¬ nungsunternehmen e.V. 2001). 11
Vgl. Freistaat Thüringen Innenministerium 2001: 28 In einem Gutachten der BfLR wird bereits 1993 prognostiziert, dass sich die Stadtentwicklung zwischen West und Ost deutlich ausdifferenzieren wird: „Die Pole dieses Spektrums bilden die weiterhin wachstumsstarken Stadtregionen im Süden und Westen des Bundesgebietes und die .schrumpfenden Stadtregionen' im östlichen Teil ... Speziell für die ostdeutschen Stadtregio nen wird empfohlen, die Ziele der zukünftigen Entwicklung vielleicht nicht nur in ,ökonomistischen' Vergleichsziffern, sondern in Kategorien ökonomischer und sozialer Innovationen zu formulieren, die eine Konzeption eigenständiger Entwicklungspfade zulassen" (Bundesforschungsanstalt für Landeskunde und Raumordnung 1993: Ulf).
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Die Bundesregierung reagierte darauf mit der Einberufung einer Experten kommission, deren alarmierende Prognose über das weitere Anwachsen der Leerstände die Politiker auf Bundes-, Landes- und Kommunalebene gleicher maßen wachrüttelten. Die von der sogenannten Lehmann-Grube-Kommission erarbeiteten Vorschläge flössen größtenteils in das 2001 neu aufgelegte BundLänder-Programm „Stadtumbau Ost", mit dem der Um- und Rückbau ostdeut scher Städte unter den Bedingungen des Wohnungsleerstandes und des Bevölke rungsverlustes bezuschusst werden sollte (vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 2001). Stellte Schrumpfung noch bis Ende der 1990er Jahre ein Tabuthema dar, ist seitdem der Umgang mit Schrumpfung zur vor dringlichen Aufgabe in der ostdeutschen Stadtentwicklungspolitik geworden. In vielen ostdeutschen Städten und Gemeinden hat man begonnen, konkre te Konzepte und Strategien für die Bewältigung des Wohnungsleerstandes zu entwerfen (vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen/Bun desamt für Bauwesen und Raumordnung 2003a). Programmatisch zielen die Maß nahmen und Strategien im Rahmen des „Stadtumbau Ost" darauf, dass die Schrumpfung ostdeutscher Städte nicht nur mit „Siechtum" und „Niedergang" assoziiert werden, sondern die Städte in die Lage versetzt werden, als Wohnund Lebensort gestärkt aus der Krise hervorzugehen. Zwei wesentliche Strategien werden dabei verfolgt: Zum einen der ,Rückbau', also der tatsächliche Abriss leerstehender Gebäude und Wohnungen, mit Hilfe derer die städtischen Wohnungsmärkte stabilisiert, die betroffenen Eigen tümer vor Insolvenzen bewahrt und die vom Leerstand betroffenen Gebiete konsolidiert bzw. aufgewertet werden sollen. Zum zweiten die Erarbeitung in tegrierter Stadtentwicklungskonzepte, die darauf zielen, den Umgang mit ver schiedenen Gebieten bzw. Wohnungsmarktsegmenten in einem komprehensiven Plan zusarnmenzuführen, um so den anstehenden Rückbau in einigen Vierteln in die gesamte Entwicklung der Stadt einzubetten (Haller/Liebmann 2002: 41f). Beide Strategien beruhen auf der Vermutung, man könne Chancen für schrumpfende Städte eröffnen, indem mit neuen Freiraum-, Nutzungs- und Wohnqualitäten nach dem Motto „mehr Stadt für weniger Bürger" experimen tiert wird (Freistaat Thüringen Innenministerium 2001: 28). Dies beinhaltet zum Beispiel die Entdichtung und Begrünung ehemals hoch verdichteter Gründer zeitviertel oder die Zusammenlegung von Wohnungen mit auf den jeweiligen Nutzer zugeschnittenen Wohnungsgrundrissen. Da Stadtplanung und Architek tur traditionell von „Dichte", „Wachstum" und „Blockbebauung" ausgehen, 12
Im Jahr 2004 hat man auch für die westdeutschen schrumpfenden Städte ein Programm „Stadtumbau West" aufgelegt (zu den Unterschieden zwischen dem „Stadtumbau Ost" und dem „Stadtumbau West" siehe Fuhrich/Kaltenbrunner 2005). Im Rahmen beider Stadtumbau programme werden rund 400 Städte und Gemeinden gefördert (Gatzweiler 2005: 291).
werden neue, innovative Strategien zur Gestaltung einer „perforierten Stadt" erprobt - also einer Stadt geringerer Dichte und offener Strukturen (Lütke-Dald rup 2001: 43). Es wird - angesichts der neuen Bedingungen - ein fundamentaler Paradigmenwechsel im planerischen Denken gefordert (Kil 2004: 104). Erste Erfahrungen mit der Umsetzung des „Stadtumbau Ost" Programms zeigen, dass entgegen der ursprünglichen Zielsetzung, die ostdeutschen Städte als Lebens- und Wohnorte zu stärken, vor allem Abrisse realisiert werden, weil die für die Aufwertungsmaßnahmen erforderlichen kommunalen Eigenmittel nicht erbracht werden können (Institut für Stadtforschung und Strakturpolitik GmbH 2004: 16). Darüber hinaus sind lokale Maßnahmen bisher fast nur in den Großwohnsiedlungen am Stadtrand umsetzbar, da nur hier die erforderlichen Akteurs- und Interessenkonvergenzen hergestellt werden können. Was mit den innerstädtischen Altbauvierteln passieren wird, ist noch weitgehend offen (Glock/Häußermann 2004: 927).
2.3 Schrumpfung als Herausforderung an die Stadtentwicklungspolitik Ausmaß und Ursachen der Schrumpfung unterscheiden sich zwischen den westund den ostdeutschen Städten zwar, doch handelt es sich in beiden Fällen um langfristige und sich wahrscheinlich in der Zukunft noch verfestigende struktu relle Verwerfungen, mit denen die betroffenen Städte umgehen müssen. Die Prognosen deuten nicht darauf hin, dass die Bevölkerungszahlen in den großen Städten wieder zunehmen werden. Im Gegenteil, der drastische Rückgang der Geburtenraten wird dazu führen, dass die Perspektiven der meisten Städte durch eine Bevölkerungsabnahme geprägt sein werden. Weniger betroffen werden nur solche Städte sein, die über eine robuste Arbeitsplatzbasis verfügen, um die natürlichen Bevölkerungsverluste durch Zuwanderungsgewinne auszugleichen. Für die meisten Städte in Ostdeutschland sowie für die Städte in den altindustri alisierten Regionen in Westdeutschland wird das nicht zutreffen. Weil es in den Städten schon heute zu wenige Arbeitsplätze gibt, werden diese Städte wahr scheinlich auch nicht von der Osterweiterung der Europäischen Union profitie ren können. Leere Wohnungen allein reichen nicht aus, um Zuwanderer anzu ziehen. Für die ost- wie westdeutschen schrumpfenden Städte ergeben sich in diesem Kontext sehr ähnliche Probleme: Durch sinkende Gewerbe- und Einkommens steuern erodiert deren finanzielle Basis, zugleich steigen die Kosten des ökono mischen, sozialen und demographischen Wandels an, denn Arbeitslosigkeit, Armut und Wohnungsleerstand belasten den kommunalen Haushalt. Häufig kommt es dabei zu Problemlagen, die sich wechselseitig noch verstärken, von 43
denen also kumulative Niedergangs- und Verfallsprozesse ausgehen können. Wenngleich in Deutschland ein breiter Konsens besteht, die soziale und räumli che Entwicklung einer Stadt nicht vollständig dem Markt zu überlassen, sondern steuernd einzugreifen, stellt der Umgang mit demographischen und wirtschaftli chen Schrumpfungsprozessen die Städte in West und Ost vor ungewohnte Her ausforderungen. Die Aufgabe der Stadtentwicklungspolitik war es bislang, die organisatori schen, räumlichen und politischen Voraussetzungen für städtisches Wachstum zu schaffen und Wachstumsprozesse funktional, sozialverträglich, architekto nisch ästhetisch und später zunehmend auch umweltverträglich zu gestalten. Eine Wachstumsorientierung, die sich Ende des 19. Jahrhunderts im Zuge des enormen industriellen Städtewachstums herausbildete: Es waren die unintendierten, negativen Begleiterscheinungen der Wachstumsprozesse, wie die unge sunden Lebens- und Wohnverhältnisse der Arbeiterklasse, welche die weitere wirtschaftliche Prosperität und Expansion der Städte zu gefährden drohte (vgl. Reulecke 1985). Eine Orientierung, die im Wesentlichen nach dem zweiten Weltkrieg bestehen blieb (Häußermann/Siebel 1993a: 11). Nach einer kurzen Phase des Wiederaufbaus begann eine neue Phase der Expansion und des Wachstums, die durch die Zuwanderung von Flüchtlingen und der Konzentrati on von Arbeitsplätzen in den Städten geprägt war. In den meisten Großstädten ging es darum, die räumliche Expansion der Stadt in geordnete Bahnen zu len ken (Häußermann/Siebel 1987: 120). Das hieß, zusätzliche Flächen für neue Wohn- und Gewerbenutzungen auszuweisen, wie dies beispielsweise mit der Planung großer Satellitenstädte, aber auch dem Aus- und Umbau der Innenstäd te geschah, sowie die technische Infrastruktur für den Individualverkehr zu erweitern. Die räumlich orientierte Auffang- und Anpassungsplanung, mit der die Wachstumsprozesse bewältigt werden sollten, wurde den Anforderungen der Stadtentwicklung zunehmend nicht mehr gerecht (Heinz 1998b: 235). Aufgrund der ungebrochenen Expansionsprozesse drohte ein funktionaler Kollaps der Stadtregionen, gleichzeitig verschlechterten sich die Wohn- und Lebensverhält nisse in den Städten: Ab Mitte der 1960er Jahre traten aktive, entwicklungsför13
Darauf reagierten die Stadtverwaltungen vielerorts mit der Etablierung moderner städtischer Versorgungs- und Verkehrssysteme, wie der Gas- und Wasserversorgung und der Abwässer beseitigung (Saldern 1998: 31). Gleichzeitig sollte die bis dahin nur durch baupolizeiliche Verordnungen mehr schlecht als recht geregelte Stadterweiterung mit der Etablierung einer modernen Baurecht- und Bauleitplanung stärker gelenkt werden, den privaten Bauherren und Grundstückseigentümer erste Auflagen gemacht werden (Naßmacher, Naßmacher 1999: 120). Mit einer wachsenden Zahl von Einrichtungen im gesundheitspolitischen, sozialen und kultu rellen Bereich entwickelte sich in den meisten Großstädten eine umfassende kommunale Da seinsvorsorge (Reulecke 1985: 124).
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dernde Instrumente, Maßnahmen und Strategien in der Stadtentwicklungspolitik in den Vordergrund, die darauf zielten, die Wachstumsprozesse zu steuern, wenn nicht sogar zu begrenzen (Häußermann/Siebel 1993a: 11). Erforderlich er schien eine umfassende Modernisierung bestehender Strukturen, der Schwer punkt der Stadtentwicklung verlagerte sich von der Stadterweiterung zur Stadt erneuerung (vgl. Albers 1998; Häußermann/Siebel 1993a; Heinz 1998b). Pro grammatisch zielten die neuen stadtentwicklungspolitischen Instrumente darauf, in Zeiten der allgemeinen wirtschaftlichen Prosperität die Kosten und Nutzen des Wachstums gleichmäßig umzuverteilen (Häußermann/Siebel 1993a: 11). Auch wenn die Effekte nicht unbedingt mit den Zielen kongruent waren, können die großen Stadterneuerungsprojekte, die Ende der 1960er und zu Beginn der 1970er Jahre in fast allen großen Städten in Angriff genommen wurden, als die offensichtlichste Manifestation eines umfassenden Gestaltungsanspruchs der Stadtentwicklungspolitik angesehen werden. Stadterneuerung war eine Aufwer tungsstrategie für benachteiligte Stadtteile: Diese sollten baulich-räumlich, aber auch sozialstrukturell dem Stadtdurchschnitt angeglichen werden. Umfangreiche Investitionen in Grün- und Freiflächen, aber auch in die soziale Infrastruktur sollten bestehende ungleiche Lebensverhältnisse zwischen den Stadtteilen und den Bevölkerungsgruppen abbauen. Selbst wenn die Stadterneuerungspolitik, wie die gesamte Stadtentwicklungsplanung durch einen heute eher befremdlich wirkenden sozialtechnokratischen Fortschrittsoptimismus gekennzeichnet war, der zudem massiv in die gewachsenen Quartiersstrukturen und Lebensverhält nisse der Bewohner eingriff, sollte die Stadtentwicklungspolitik einen Ausgleich zwischen unterschiedlichen Gebieten und sozialen Gruppen schaffen. Die Bedingungen der Stadtentwicklungspolitik in den altindustrialisierten Städten des Westens und den transformationsbetroffenen Städten des Ostens haben sich grundlegend verändert: Aus Wachstum ist Schrumpfung geworden. Hier geht es nicht mehr darum, die hereindrängenden Nutzungen und Investitio nen zu kanalisieren oder die soziale und technische Infrastruktur für wachsende Einwohnerzahlen auszubauen. Es geht vielmehr um einen Umgang mit Schrump fungsprozessen. Dafür existieren jedoch keine Strategien, Maßnahmen oder Instrumente, da die Stadtentwicklungspolitik traditionell Wachstumsprozesse steuerte (Häußermann/Siebel 1994: 35). Die meisten Städte reagieren, so scheint es zumindest, auf ihren Schwund mit politischen Instrumenten, Maßnahmen und Strategien, mit denen Investitions- und Wachstunispotenziale auf der lokalen Ebene generiert werden sollen. Die interkommunale Konkurrenz um Unternehmen, Einwohner und Kon sumenten wird zunehmend härter, die zu verteilende Masse geringer. So bemü hen sich die Städte verstärkt darum, bestehende Wachstumspotentiale aus ande ren Städten abzuwerben - eine vornehmlich exogen, also nach außen, orientierte 45
Strategie der Standortprofilierung (vgl. Harvey 1989; Jessop 1997). Wenngleich der Wettbewerb zwischen Städten nicht neu ist, haben sich das Instrumentarium und dessen Reichweite in den letzten Jahrzehnten deutlich erweitert (Häußer mann/Siebel 1994: 36). Die Bedeutung harter Standortfaktoren nahm, aufgrund einer erfolgreichen Modernisierungspolitik, drastisch ab. Autobahnanschluss, Flughafennähe, Bahnverbindung - alles das sind inzwischen ubiquitäre Stand ortqualitäten. Auch die traditionellen Instrumente kommunaler Standortpolitik, wie niedrige Hebesätze bei den Gewerbesteuern oder billiges Bauland, verlieren an Relevanz. Wichtiger erscheint die Förderung „weicher" Standortfaktoren in einer Stadt: Kulturelles Ambiente, qualitativ hochwertige Freizeit- und Erho lungseinrichtungen sowie Luxuswohnungen sollen Investoren, Einwohner und Touristen anlocken. In vielen Städten soll mit Stadtmarketing ein umfassendes Konzept entwickelt werden, ein „Makrostandort" kreiert und damit ein unver wechselbares Image geschaffen werden (vgl. Burton/O'Toole 1993; Heibrecht 1994; Krantz/Schätzl 1997). Ob Kulturpolitik, Wirtschaftsförderung oder Städ tebau - alle Bereiche der Stadtpolitik werden gleichermaßen in eine solche Standortpolitik eingebunden. Als eines der wichtigsten Instrumente dieser Standortprofilierung haben sich in den vergangenen Jahrzehnten große städtebauliche Projekte oder spekta kuläre Großereignisse herauskristallisiert (vgl. Basten 1998; Cattacin 1994; Häu ßermann/Siebel 1993b; Roost 2000; Simons 2003). Großprojekte erscheinen vor dem Hintergrund schrumpfender Einwohnerzahlen, rückläufiger Arbeitsplatz zahlen sowie sinkender Finanzmittel als geeignete Möglichkeit, um der gesam ten Stadt ökonomische Impulse zu geben, kommunale Entwicklungsvorstellun gen umzusetzen und - nicht zuletzt - städtische Handlungsfähigkeit zu demonst rieren (Häußermann/Siebel 1993a: 14), Die meisten dieser, als „Leuchttürme" bezeichneten städtebaulichen Erneuerungsvorhaben entstehen auf ehemaligen Industriebrachen oder Konversionsflächen. Also genau an den Stellen in der Stadt, wo die Deindustrialisierung un- und untergenutzte Brachflächen hinter ließ. Mit der Errichtung neuer Standorte für Dienstleistungen, Freizeitaktivitäten aber auch Wohnnutzungen sollen die entstandenen , Löcher im Stadtgefüge' gestopft werden, die Flächen einem neuen Nutzungs- und Verwertungszyklus zugeführt werden (Simons 2003: 15). Gleichzeitig soll ein positives, zukunftsgerichtetes Bild der Stadt im In- und Ausland erzeugt werden, um sich in dem stärker werdenden interkommunalen Konkurrenzkampf besser behaupten zu können. Zunehmend engagieren sich auch deutsche Städte und Kommunen in der Planung und dem Bau städtebaulicher Großvorhaben (Heinz 1998a: 553). Das früheste Beispiel ist der Kölner Media-Park, der Ende der 1980er Jahre durch die Media-Park Köln Entwicklungsgesellschaft mbH auf dem Areal eines ehe46
maligen Kölner Güterbahnhofs als neuer Medien- und Technologiestandort entwickelt wurde (Heinz 1998a: 563). Zahlreiche andere Großprojekte, wie beispielsweise die „Wasserstadt Oberhavel", die „Stadt für Wissenschaft und Wirtschaft Adlershof', die „Neue Mitte Oberhausen" oder die „HafenCity" Hamburg, folgten (vgl. Basten 1998; Simons 2003). Weitere Großprojekte, insbesondere im Bereich der Freizeitgroßeinrichtungen („Urban Entertainment Center"), befinden sich in vielen west- und ostdeutschen Städten seit Mitte der 1990er Jahre in Planung (vgl. Roost 2000). Um die Durchführung großer städte baulicher Erneuerungs- und Neubauvorhaben in der Stadtentwicklimgspolitik zu gewährleisten, werden in den Städten zunehmend privat-öffentliche Kooperati onen, sogenannte „Public-Private-Partnerships", institutionalisiert (vgl. Heinz 1993; Heinz/Scholz 1996; Kietzander 1995; Kruzewicz 1993; Simons 2003). Wäh rend sich die Kommunen durch die Zusammenarbeit mit privaten Akteuren eine Generierung privaten Kapitals, die Effektivierung von Planungsvorhaben durch Einbindung privaten Effizienzdenkens und die Profilierung lokaler Qualitäten versprechen, erhoffen sich die privaten Akteure eine Beschleunigung der An trags- und Genehmigungsverfahren (Heinz 1998a: 555). Die Effekte dieser neuen, unternehmerisch ausgerichteten Strategien zur Generierung ökonomischer Wachstumspotentiale sind schwer zu bilanzieren: Man kann aber aufgrund der Befunde zahlreicher sozialwissenschaftlicher Ein zeluntersuchungen vermuten, dass dem Erfolg solcher Maßnahmen enge Gren zen gesetzt sind. Das Anwerben fremder Investitionen oder neuer Unternehmen durch eine exogene Standortpolitik hat beispielsweise nur messbare positive Effekte, wenn es keine ernstzunehmenden Rivalen gibt. Engagieren sich andere Städte in ähnlicher Weise, misslingen diese Strategien (vgl. Jensen-Butler/ Weesep 1997; Le Gales 1992; Leitner/Sheppard 1998). Gerade in schrumpfen den Städten wird, wie in den 1980er Jahren mit der fast unüberschaubaren An zahl von Gewerbe-, Technologie- und Gründerparks geschehen, oftmals ein gewaltiges Überangebot an immer gleichen Projekten produziert. Fallende Im mobilienpreise und Gewerbemieten bringen zahlreiche Finanzierungskonzepte in eine bedenkliche Schiefläge. Zudem zeigte sich, dass sich in den neu errichte ten und oftmals hoch subventionierten Parks meist nur bereits bestehende Un ternehmen niederließen, die aus anderen Teilen der Stadt abgewandert waren. ,Echte' Neuansiedlungen waren und sind dagegen die Ausnahme. 14
Die teilweise grotesken Blüten, die ein solcher Wettbewerb in großen Agglomerationen mit einer räumlichen Nähe verschiedener Städte hervorbringen kann, sind im Ruhrgebiet zu be sichtigen. Nach dem Erfolg des CentrO, einer riesigen Shopping Mall in Oberhausen, be schlossen viele andere Städte in der Region, ein solches Projekt anzustoßen. Inzwischen plant nicht nur Duisburg ein solches Projekt, sondern ebenso die Nachbarstädte Dortmund und Es sen. Im Landesministerium Nordrhein-Westfalen fürchtet man heute, dass sich die neuen Frei zeitgroßeinrichtungen in der Region zu den städtebaulichen Brachen von morgen entwickeln
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Gerade für Städte, die mit steigenden Arbeitslosenzahlen und sinkenden Finanzmitteln konfrontiert sind, erscheinen große städtebauliche Vorhaben oder die Ausrichtung von großen Ereignissen attraktiv, weil sie eine zeitlich und räum lich begrenzte Intervention mit einer hohen Signalwirkung darstellen. Studien zur Wirkung von Großprojekten betonen jedoch deren Ambivalenz (Simons 2003: 15). Es gelingt den Städten zwar tatsächlich, zusätzliche Finanzmittel für stadtentwicklungspolitische Ziele zu generieren. Dabei handelt es sich aber in aller Regel um öffentliche Fördermittel, die erhoffte Initialzündung für private Inves titionen bleibt im Allgemeinen aus. Klaus Seile zeigt am Beispiel der EXPO in Hannover sogar, dass aus dem ursprünglich erwarteten Milliardenregen des Bundes ein simpler Vorschuss wurde - auf Mittel, die der Kommune und dem Land sowieso zugestanden hätten (Seile 1993: 180). Städtebauliche Projekte oder große Events, die in der Lage waren, private Investitionen anzuziehen, sind in Städten mit besseren wirtschaftlichen Perspektiven zu finden (vgl. Birklhuber 1993). Große Projekte glücken also, wenn sie innerhalb bereits bestehender Entwicklungskorridore stattfinden. In Städten mit einer schrumpfenden wirt schaftlichen und demographischen Basis scheinen sie allenfalls als gewaltige „Subventiomumlenkungsmaschinen" zu funktionieren (Häußermann/Siebel 1993a: 16). Zumindest beim interkommunalen Wettbewerb um möglichst üppige För dergelder scheinen sich die Großprojekte für die klammen Stadtkassen bezahlt zu machen. In den Hintergrund rückt dabei jedoch die Tatsache, dass die För dermittel von Bund, Land und Europäischer Union durch die Kommunen kofinanziert werden müssen. Als Faustregel gilt: Je höher die Investitionen anderer Ebenen, umso höher ist auch der kommunale Eigenanteil. Für die großen Pro jekte muss also auch ein beachtlicher Teil der zur Verfugung stehenden städti schen Finanzmittel verplant werden. Darüber hinaus legen sich die Städte lang fristig fest. Auch wenn sich die Entwicklungschancen für das große Projekt oder Ereignis im Laufe der Realisierung drastisch verändern, haben die Städte meis tens keine Möglichkeit, aus den hoch riskanten und somit unter Umständen verlustreichen Vorhaben auszusteigen. Die Eigendynamik von Großprojekten bewirkt, dass es einen „point of no return" gibt: Sie müssen mehr oder weniger auf Gedeih und Verderb zu Ende geführt werden (Simons 2003: 181). Darüber hinaus bedeutet ein Großprojekt unter den Bedingungen rückläufiger Steuerein nahmen fast unausweichlich, dass in anderen Bereichen gespart werden muss.
könnten (Hatzfeld 2000: 62ff). Damit könnte sich eine Entwicklung wiederholen, welche die Städte in Nordrhein-Westfalen bereits Mitte der 1990er Jahre mit den Musical-Theatern erleb ten. Aufgrund der erreichten Marktsättigung mussten 8 der existierenden 11 Theater ihre Pro duktion innerhalb weniger Jahre wieder einstellen (Hatzfeld 2000: 63).
Oftmals sind es die freiwilligen Leistungen der Kommunen für Kultur oder Soziales, die dabei zurückgedrängt werden. Dominante Aufgabe der Stadtentwicklungspolitik war es also, Wachstums prozesse zu steuern. Insofern verwundert es nicht, dass die Städte in aller Regel auf das ausbleibende ökonomische und demographische Wachstum mit „Strate gien für ein Wachstum unter den Bedingungen der Stagnation" (Häußer mann/Siebel 1993a: 13) reagieren: Eine Stadtentwicklungspolitik, die sich an den gewohnten (Wachstums-) Mustern orientiert, auch wenn sich die Probleme in den Städten dramatisch gewandelt haben. Wie wenig allerdings Städte in der Lage sind, die überörtlich verursachten Trends des Einwohner- und Arbeitsplatzverlustes durch eine angebotsorientierte und unternehmerische Stadtentwicklungspolitik zu beeinflussen, zeigen ver schiedene sozialwissenschaftlichen Untersuchungen. Ob und inwieweit sich die Projekte einer unternehmerischen Planungs- und Entwicklungsstrategie rechnen, hängt vom Marktgeschehen, also der Entwicklung der Boden- und Immobilien preise, ab. Diese können weder von den städtischen Akteuren, noch den privaten Entwicklern vor Ort beeinflusst oder maßgeblich gesteuert werden. Die großen Projekte und Ereignisse funktionieren nur dann, wenn es wirtschaftliches Wachstum und eine deutliche Nachfrage Steigerung für Nutzungen im Büro-, Gewerbe- und Einzelhandelssektor gibt: Sie gelingen also nur in einem generel len „Umfeld des Erfolges" (Heinz 1998a: 564). Unter den Bedingungen eines wirtschaftlichen und demographischen Wachstumsprozesses funktioniert die Planung, weil es Gewinne aus steigenden Boden- und Immobilienwerten zu verteilen gibt. Gerade in den schrumpfenden Städten, in denen es kaum eine zahlungskräftige Nachfrage nach neuen Büros, Gewerbeflächen und Wohnun gen gibt, werden diese Planungs- und Politikinstrumente wertlos, weil sie nicht auf einer generellen Wachstumserwartung beruhen. Da davon ausgegangen werden kann, dass sich die Probleme in Ost und West in den nächsten Jahren zuspitzen werden, wird die Frage nach Vorausset zungen und Möglichkeiten neuer Strategien, Instrumente und Maßnahmen in der Stadtentwicklungspolitik vor Ort, die den Schrumpfungsprozess als ein langfristiges und politisch zu steuerndes Problem begreifen, umso dringlicher. Bevor dieser Frage am Beispiel der Städte Duisburg und Leipzig in den Kapi teln 4, 5 und 6 empirisch nachgegangen wird, sollen zunächst im Kapitel 3 die wichtigsten theoretisch-konzeptionellen Überlegungen der lokalen Politikfor schung sowie der ideenzentrierten Ansätze der Institutionentheorie vorgestellt werden, soweit sie für die Analyse stadtpolitischer Reaktionen auf diese neuen Herausforderungen relevant sind. Die gewonnenen theoretischen Einsichten werden schließlich in ein Analysemodell integriert, das der empirischen Unter suchung im weiteren Verlauf der vorliegenden Studie zugrunde liegt. 49
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Politik in schrumpfenden Städten: Theoretisch-konzeptionelle Perspektiven
Die lokale Politikforschung, die sich mit Inhalten, Strukturen und Prozessen von Politik in Städten und Gemeinden beschäftigt, hat sich mit dem Umgang mit Schrumpfungsprozessen bislang nicht auseinandergesetzt. Ähnlich wie in der Stadtsoziologie wurden die strukturellen Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste in den schrumpfenden Städten als ein eher temporäres, ökonomisches Anpas sungsproblem betrachtet, weshalb sich die empirischen Arbeiten in dieser For schungstradition darauf konzentrierten, die politische Organisation eines öko nomischen Strukturwandels zu untersuchen: Umgang mit Schrumpfung ist ein empirisches Desiderat. Arbeiten und Ansätze der lokalen Politikforschung stellen jedoch wichtige analytische Potentiale für die Untersuchung bereit, weil sie Hinweise geben, welche Faktoren für den Umgang mit Schrumpfungsprozessen in Städten rele vant sein könnten. Deshalb werden in diesem Kapitel die beiden wichtigsten Ansätze der lokalen Politikforschung, die strukturellen und handlungszentrierten, dargestellt und auf ihre Konzeption des lokalen Politikprozesses und des Politikenwandels befragt. Zunächst wird gezeigt, dass die strukturellen Ansät ze die sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen des lokalen Poli tikprozesses betrachten: Überlokale Faktoren - wie sozioökonomische Bedin gungen, intergouvernmentale Arrangements oder staatliche Förderprogramme oder Finanzzuweisungen - sind in einer solchen Perspektive entscheidende Fak toren, wie in schrumpfenden Städten auf die anhaltenden Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste reagiert werden kann (siehe Abschnitt 3.1). Die handlungszentrierten Ansätze in der lokalen Politikforschung argumentieren, dass es nicht die strukturellen Raimienbedingungen alleine sind, die erklären, wie in Städten auf veränderte Problemumwelten reagiert wird. In dieser Sichtweise sind städti sche Akteurskonstellationen und die Formen ihrer Kooperation bestimmend für 15
Hierbei handelt es sich allerdings nicht um Theorien, sondern eher um Ansätze, konzeptionelle Perspektiven oder Modelle, weil sie zwar Variablen identifizieren, aber keine Angaben über die Beziehung zwischen diesen machen, so dass sie im wesentlichen eine Terminologie bereit stellen, mit deren Hilfe die Wirklichkeit untersucht werden soll (vgl. Judge/Stoker/Wolman 1995).
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die in schrumpfenden Städten verfolgten politischen Maßnahmen, Instrumente und Strategien (siehe Abschnitt 3.2). Beide Stränge der lokalen Politikforschung weisen jedoch Schwächen auf: In den strukturellen Ansätzen wird vernachlässigt, dass die gegebenen, zugege benermaßen engen, Handlungsspielräume in den Städten möglicherweise unter schiedlich genutzt werden können; die handlungszentrierten Ansätze geben bislang wenig Hinweise darauf, wie politische Innovationen in schrumpfenden Städten generiert werden können. Fragen nach den Mechanismen und Dynami ken der Veränderung von Problemwahrnehmungen und Handlungsorientierun gen von Akteuren sowie der Genese innovativer Problemlösungsstrategien von politischen Systemen wurden in den letzten Jahren von neueren, ideenzentrier ten Ansätzen in der Politikwissenschaft thematisiert, die zeigen, dass kognitive, kommunikative oder ideationale Faktoren einen wichtigen Einfluss auf den Politikprozess und den Politikenwandel haben. Diese Forschungen werden in vielen Feldern der Sozialwissenschaften lebhaft diskutiert und haben sich als von großem heuristischem Wert für empirische Studien erwiesen (siehe Ab schnitt 3.3). Das Potential dieser neueren Ansätze wurde in der lokalen Politikforschung bislang nicht erschlossen. Gerade in Anbetracht der Desiderate der üblichen theoretischen Ansätze der lokalen Politikforschung im Hinblick auf die Frage stellung dieser Arbeit, widmet sich der letzte Abschnitt dieses Kapitels der Ent wicklung eines integrierten, theoretisch-konzeptionellen Analysemodells, das die empirische Analyse in den schrumpfenden Städten Duisburg und Leipzig in den folgenden Kapiteln anleitet und theoretisch informiert (siehe Abschnitt 3.4).
3.1 Strukturelle Ansätze: Staat und Ökonomie Strukturelle Ansätze in der lokalen Politikforschung betrachten die sozialen, ökonomischen und politischen Bedingungen des Politikprozesses und der Poli tikergebnisse auf der lokalen Ebene (vgl. DiGaetano/Strom 2003: 357; Woll mann 1991b: 18). Die aus der neomarxistischen und neoklassischen Politöko nomie entspringenden strukturellen Ansätze lenken den Analysefokus auf ge samtgesellschaftliche Faktoren, die Rahmenbedingungen lokaler Politik: „It proposed a macro-sociological research approach, giving more emphasis to Problems such as the social structure and class interest which are affected by planning and State Intervention, the accumulation and circulation of capital in the regional System, the ownership of the land and other economic determinants of the urbanization process, and urban social movements as spatial reflections of the class struggle" (Harloe/Mingione/Pickvance/Preteceille 1998: i). 52
So richtet sich ihr Forschungsinteresse vorrangig darauf herauszufinden, welche Handlungsspielräume Städte gegenüber dem Staat und der Ökonomie überhaupt haben. Zwar sind die Arbeiten einer strukturellen Perspektive durch unterschiedliche theoretische Prämissen und Konzepte geprägt, dennoch sehen alle in den makrostrukturellen Kontextbedingungen die wichtigsten Einflussfak¬ toren für die auf der lokalen Ebene verfolgten Strategien und Maßnahmen. Be vor auf den im Moment einflussreichsten strukturellen Ansatz, den Regulations ansatz, eingegangen wird, sollen zunächst die älteren Arbeiten der strukturellen Perspektive zum „lokalen Staat" vorgestellt werden. Sie stellen zwar in den aktuellen Debatten der lokalen Politikforschung keine einflussreichen Ansätze mehr da, waren aber gerade in der bundesrepublikanischen lokalen Politikfor schung bedeutend. Mit Blick auf die Probleme schrumpfender Städte, die - wie gezeigt - vor allem aus strukturellen Verwerfungen resultieren, gibt es in diesen Arbeiten die vielfältigen Begrenzungen lokalen politischen Handelns durch überlokale sozioökonomische und staatliche Rahmenbedingungen wieder zu entdecken. Die ersten Arbeiten, die sich aus einer stnikturellen Perspektive mit lokaler Politik beschäftigten, waren neomarxistische Ansätze zum lokalen Staat. Sie erhielten nicht nur in Europa, sondern auch in den USA Ende der 1960er Jahre vor dem Hintergrund der verstärkten Einbindung der Städte und Gemeinden in die keynsianistische Wachstums- und Konjunkturpolitik und ihrer daraus resul tierenden Abhängigkeit von föderalen Politikprogrammen eine zunehmende Bedeutung in der lokalen Politikforschung (vgl. Evers 1973; Häixßermann/Siebel 1978; Krätke/Schmoll 1987; Pickvance 1995). Ausgangspunkt der neomarxisti schen Arbeiten war die Frage, über wieviel Autonomie die lokale Ebene inner halb der Strukturen einer kapitalistischen Staatsorganisation überhaupt noch verfüge. Die meisten Arbeiten schätzten die lokalen Handlungsspielräume auf grund der zunehmenden Zentralisierung von politischen Entscheidungen als überwiegend gering ein. Insbesondere die instrumentalistischen local-state Ar beiten argumentierten, dass die lokale Ebene nur der verlängerter Arm des Zent ralstaates ist, der die überörtlich gesetzten Politiken abarbeitet (Cockburn 1977: 41; Evers 1975: 61; Krätke/Schmoll 1987: 33ff). Obgleich die funktionalisti¬ schen Arbeiten des Neomarxismus der lokalen Ebene eine höhere Autonomie zubilligten, indem sie von einer spezifischen Aufgabenteilung und Funktions zuweisung zwischen den verschiedenen Ebenen der Staatsorganisation ausgin gen, teilten auch sie letztendlich die Annahme, dass lokale Politikergebnisse durch die Strukturen des kapitalistischen Staates bestimmt werden (Pickvance 1995: 254). Das Zentralisierungstheorem der neomarxistischen Arbeiten wurde durch die empirischen Studien der Implementations- und Politikverflechtungsfor53
schling nachhaltig in Zweifel gezogen, da diese zeigen konnten, dass die Umset zung bundespolitischer Vorgaben keineswegs so gradlinig von ,oben' nach ,unten' verlief, wie das die neomarxistischen Arbeiten vermuten ließen (Baestiein/Hunnius/Jann/KonuMewitzAVol^nn 1978: 139; Krätke/Schmoll 1987: 33). Das nordrhein-westfalische Standortprogramm beispielsweise scheiterte am Widerstand der großen Städte im Land: „Experience told them [den Städten, BG] that whatever came down the administrative chain of command (ministerial unit - district administrative office - city department) was not always the last word but might be altered via the political Channel - if the mayor picked up the phone and talked to minister himself' (Baestlein/Hunnius/Jann et al. 1978: 139). Wenngleich die neomarxistischen Arbeiten aufgrund ihrer funktionalistischen Verkürzungen zunehmend kritisiert wurden, erhielten sie paradoxerweise durch eine neoklassische Public-Choice Perspektive in der US-amerikanischen lokalen Politikforschung neuen Beistand (Peterson 1981). Peterson argumentierte in seinem Buch „City Limits", dass das föderale System den Städten bestimmte Politikverantwortlichkeiten zuweist: Die bundes staatliche Ebene ist für die umverteilenden Politiken verantwortlich, während die lokale Ebene wettbewerbsorientierte Politiken verfolgt (Peterson 1981: 15f). Insbesondere deshalb, weil Städte gegeneinander um Arbeitsplätze und Unter nehmen konkurrieren. Peterson knüpfte damit (ungewollt) an die neomarxisti sche Funktionsteilung zwischen lokaler und zentralstaatlicher Ebene an, auch wenn er das mit den Strukturen des föderalen Systems begründete. Kennzeich nend für die Politik auf lokaler Ebene war für ihn, dass sie strukturell begrenzt sei: „By comparison with national politics local politics is most limited. There are crucial kinds of public policies that local governments simply cannot execute. They cannot make war or peace; they cannot issue passports or forbid Outsiders from entering their territory. ... Because cities are limited in what they can do, the powers remaining to them are exercised within very noticeable constraints. ... City politics is limited politics" (Peterson 1981: 3f; Hervorhebung BG). Peterson ging wie die neomarxistischen Ansätze davon aus, dass es haupt sächlich die (national-) staatlichen Rahmenbedingungen und Fördermittel seien, welche die Politikergebnisse in Städten entscheidend beeinflussen. Wie die älteren neomarxistischen Ansätze gehen auch die regulationstheo retischen Arbeiten davon aus, dass die wohlfahrtsstaatliche keynsianistische Konjunktur- und Globalsteuerung den Städten und Gemeinden nur eine geringe Autonomie zugestand. Sie vermuten jedoch, dass im Zuge der Transformation vom „Fordismus" zum „Postfordismus", die in allen westlichen Industrienatio nen seit den 1970er Jahren zu beobachten ist, auch die lokale Ebene eine Neu bewertung erfährt (vgl. Ash 1994; Esser/Hirsch 1994; Jessop 1986; Leborgne/Lipietz 1990). Die sozialpolitische (Umverteilungs-) Leistung des keyn54
sianistischen Wohlfahrtstaates, zu der auch die Homogenisierung und Standar disierung von regionalen und städtischen Räumen durch Strukturprogramme und Subventionen gehörte, basierte auf der ökonomischen Prosperität einzelner Nationalstaaten. Mit dem Übergang von der Industrie- zur Dienstleistungsge sellschaft und der zunehmenden internationalen Verflechtung ökonomischer Aktivitäten verändern sich auch die Bedingungen für den nationalen Wohl fahrtsstaat. Um im internationalen Wettbewerb weiterhin bestehen zu können, werden lohn- und arbeitsmarktpolitische Regelungen gelockert, die sozialpoliti schen Initiativen reduziert. Der für den Fordismus charakteristische .materielle Klassenkompromiss' zwischen Kapital und Arbeit wird abgelöst: der auf der Nachfrageseite intervenierende ,Welfare-State' wandelt sich zu einem ,Schumpeterian Workfare State', der Produkt- und Prozessinnovationen auf der Ange botsseite fordert (vgl. Jessop 1994b). Dieser Form- und Funktionswandel des Staates führt dazu, dass vormals nationalstaatliche Kompetenzen entweder an supranationale oder an subnationa le Einheiten abgegeben werden: Es findet ein Prozess der Re- und Neuskalie rung von Räumen statt (Brenner 1997: 546). Obgleich damit auch gesellschaftli che Probleme einfach auf die lokale Ebene abgeschoben werden können, vermu ten manche Regulationstheoretiker, dass die lokale Ebene durch diese Dezentra lisierung gleichfalls eine materielle Bedeutungsaufwertung erfährt: So ist es im Postfordismus nicht mehr die Aufgabe des lokalen Staates, zentralstaatlich ge setzte Programme abzuarbeiten, sondern private Kapitalakkumulation auf der lokalen Ebene zu initiieren und zu stimulieren (Mayer 1991a, 1991b): „Für die lokale Politik ist als entscheidend anzusehen, dass die mit einem »Regime fle xibler Akkumulation' verbundenen spezifischen Voraussetzungen konkreter Produktions- und Reproduktionsprozesse weder vom überlokalen Kapital noch vom Zentralstaat organisiert und koordiniert werden können, sondern allenfalls durch eine ,flexible', auf das jeweilige endogene Potential abgestimmte lokale Politik" (Mayer 1991a: 42). Insbesondere im bundesrepublikanischen Kontext ist diese Bedeutungszu wachsthese von vielen Autoren skeptisch betrachtet worden (vgl. die Diskus sion in Blanke/Benzler 1991). Begründet wurden diese Zweifel damit, dass Städte und Gemeinden nach wie vor nicht nur die „unterste", sondern auch die „schwächste" Ebene im Staatsaufbau darstellen (Blanke/Benzler 1991: 12). An der Einbindung der Städte und Gemeinden hat sich auch in den 1980er und 1990er Jahren nicht viel verändert. Im Gegenteil: Der Sparkurs auf der Bundes ebene führt zu einer Minimierung kommunaler Handlungsspielräume, weil den Städten und Gemeinden ohne finanziellen Ausgleich immer mehr Aufgaben übertragen werden (Häußermann 1991b: 63ff). Zudem ist von einigen Autoren bezweifelt worden, dass ein „functional fit" zwischen veränderten Formen der 55
Kapitalakkumulation und der Anpassung von politisch-institutionellen Regula tiven auf der lokalen Ebene existiert, wie dies in einigen Arbeiten des Regulati onsansatzes unterstellt wird: „One tends to resist a global view of postfordist urban governance. It is assumed that postfordist economic and social conditions are constraints on rather than determinants of urban policies" (Le Gales 1998: 497; Hervorhebung BG). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die strukturellen Ansätze mit ihrer Forschungsperspektive darauf hinweisen, dass Städte keine „Miniaturre publiken" (Peterson 1981: 3) sind, in denen lokale politische Akteure autonom agieren können. Städte sind spätestens seit der Entstehung moderner National staaten und Nationalökonomien keine abgrenzbaren politischen, sozialen oder ökonomischen Entitäten mehr, sondern in nationale, globale oder auch regionale Strukturen eingebunden, welche die Handlungsspielräume lokaler Akteure maßgeblich beeinflussen. Welchen entscheidenden Einfluss staatliche Förder programme oder Finanzzuweisungen auf die Auswahl lokalpolitischer Strate gien und Maßnahmen haben, zeigten auch zahlreiche empirische Studien, die in den 1980er Jahren in der Bundesrepublik durchgeführt wurden (vgl. Gabriel/Kunz/Zapf-Schram 1990, 1994; Grüner/Jaedicke/Ruhland 1988; Jaedicke/RuhlandAVachendorfer et al. 1990). Das Problem einer strukturellen Perspektive liegt jedoch darin, dass sie die Möglichkeit vernachlässigt, dass die gegebenen Handlungsspielräume in Städ ten unterschiedlich genutzt werden können (vgl. für ein ähnliches Argument Häußermann 1991a: 47). Es macht einen Unterschied, ob vorhandene, wenn gleich auch zugegebenermaßen enge Handlungsspielräume in schrumpfenden Städten erkannt und genutzt werden oder nicht. Um zu analysieren, wie Städte auf die neuen sozialen und ökonomischen Bedingungen der Schrumpfung rea gieren, ist deshalb eine konzeptionelle Perspektive notwendig, die dem lokalen Politikprozess eine größere Bedeutung beimisst. Hierfür bieten sich die handlungszentrierten Ansätze in der lokalen Politikforschung an.
3.2 Handlungszentrierte Ansätze: Akteure und Kooperationsformen Während die strukturellen Ansätze den analytischen Blick auf die Makroebene richten, lenken die handlungszentrierten Ansätze den analytischen Fokus auf die Mikroebene: Sie thematisieren die an politischen Entscheidungen beteiligten Akteure sowie deren Kooperationsformen: „There are long-standing arguments [...] that cities are more the product of economics and technology than of politics. [...] Yet there are counterarguments about the importance of coalition build56
ing and political struggle. [...] Politics, then, as the art of arranging, is not to be ignored" (Stone 1989: xii). Das Forschungsinteresse der handlungszentrierten Ansätze fokussiert sich darauf, einflussreiche Akteure und Akteurskonstellationen in Städten zu identi fizieren. Wenngleich die paradigmatischen Arbeiten einer handlungszentrierten Perspektive in unterschiedlichen Konzeptionen von Macht wurzeln, teilen sie die Annahme, dass sich die in Städten verfolgten politischen Maßnahmen und Strategien durch den lokalen politischen Entscheidungsprozess und die daran beteiligten Akteure erklären lassen. Wie in den schrumpfenden Städten auf die veränderten Bedingungen der Stadtentwicklung reagiert wird, lässt sich in einer solchen Perspektive als das Ergebnis lokaler Konflikt- und Konsensbildungs prozesse analysieren. Um die wesentlichen Annahmen und Argumente des handlungszentrierten Ansatzes darzustellen, werden zunächst die paradigmati schen Arbeiten der US-amerikanischen und deutschen Gemeindemachtfor schung dargestellt. Sie bilden den Hintergrund, auf dem sich der derzeit aktuelle Ansatz, der Urbane-Regime oder Governance Ansatz, entwickelte.
3.2.1 Gemeindemachtforschung Die Beantwortung der Frage „Who governs?", also die Identifizierung von mächtigen Akteuren in Städten, war das zentrale Anliegen der Gemeindemacht forschung (vgl. insbesondere Dahl 1961; Hunter 1953; Polsby 1980 [1963]; Zoll /Ellwein 2003 [1974]). In der wissenschaftliche Debatte kristallisierten sich schnell zwei sehr unterschiedliche Argumentationen heraus: Eine elitentheore tisch inspirierte Sichtweise, wonach Individuen mit einem hohen sozialen Pres tige und beträchtlichen finanziellen Mitteln eine lokale Machtelite bilden, die, ohne demokratisch legitimiert zu sein, alle politisch relevanten Entscheidungen in der Stadt kontrolliert: „The top group of the power hierarchy has been isolated and defined as comprised of policy makers. These men are largely drawn from the businessmen's class in Regional City. They form cliques or crowds, as the term is more often used in the Community, which formulate policy" (Hunter 1953: 113). Insbesondere bei den wachstumsorientierten Strategien und Maß nahmen - wie beispielsweise dem städtischen Entwicklungsplan, der eine Ex pansion und Erweiterung von Regional City vorsah - herrschte ein überaus großer Konsens zwischen den Mitgliedern der städtischen Machtelite (Hunter 1953:214). Hunters' Befunde wurden in der Folgezeit von einer pluralistisch orientier ten Forschung herausgefordert (vgl. Dahl 1961; Polsby 1980 [1963]). Zwar zeigte auch der Pluralist Dahl, dass politische Entscheidungen in der Stadt nur 57
von einer kleinen Anzahl von Personen getroffen werden, dennoch konnte er belegen, dass die an den Entscheidungen beteiligten Personen nicht immer die selben sind, sondern nach Politikfeldern und Entscheidungen variieren: „Probably the most striking characteristic of influence in New Häven is the extent to which it is specialized; that is, individuals who are infiuential in one sector of public activity tend not to be infiuential in another sector" (Dahl 1961: 169; Hervorhebung im Original). Der lokale Politikprozess bot aus pluralistischer Sicht also unterschiedlich strukturierte Zugänge, an denen konkurrierende Gruppen oder Individuen ihren Einfluss geltend machen konnten, wobei insbe sondere der Bürgermeister und das Verwaltungspersonal eine zentrale Rolle als Moderatoren bei der Formulierung und Implementierung stadtpolitischer Ent scheidungen spielten. Dahl lehnte, wie andere die anderen Pluralismusforscher Polsby (Polsby 1980 [1963]) und Wolfinger (Wolfinger 1960), das von den Elitentheoretikern entworfene Bild einer hochgradig stratifizierten Gesellschaft ab, in der ökonomische und soziale Ungleichheit in politische Ungleichheit transformiert wird. Während in der US-amerikanischen Gemeindemachtforschung der Einfluss lokaler Interessengruppen im Vordergrund stand, fokussierte sich die deutsche Diskussion auf die Identifizierung mächtiger Akteure in Rat und Verwaltung. Im Vordergrund des Interesses der deutschen lokalen Politikforschung standen die internen Machtstrukturen und Entscheidungsprozesse im politisch administrativen System (Bogumil 2002: 7). In der Beantwortung der Frage, welche Akteure die Entscheidungsprozesse in Städten dominieren, erlangten zwei Konzepte paradigmatische Bedeutung: das Modell der exekutiven Führer schaft und das Modell der Vorentscheider. Rolf-Richard Grauhan vertrat die These, dass die gewählten Vertreter des Gemeinderates keinen nennenswerten Einfluss auf die Auswahl politischer Strategien und Maßnahmen hätten: Die Bürgermeister agierten als exekutive Führer, die alle Machtbefugnisse in ihrer Hand konzentrierten, während dem Rat lediglich die Rolle eines Akklamations gremiums für die Initiativen des Bürgermeisters zukam (Grauhan 1972: 154f). Auch Gerhard Banner bescheinigte mit seinem Vorentscheiderkonzept dem Rat 16
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Auch in Dahl's Studie zeigte sich, dass zwischen Wählern und Bürgermeister ein weitge hender Konsens darin bestand, ein umfassendes Stadterneuerungsvorhaben in New Häven auf den Weg zu bringen: „In effect, the role of the electorate was not to demand redevelopment, to mitiate it, or directly to influence concrete decisions, but at two-year intervals to vote for or against a leader identified with redevelopment and so to express what would be interpreted as support for, or disapproval of, the program" (Dahl 1961: 140). Eine Ausnahme bildet hier die „Wertheim-Studie", in der sich Thomas Ellwein und Ralf Zoll mit der Partizipation von Bürgern an lokalen Entscheidungen beschäftigten. Sie knüpften in haltlich und methodisch direkt an die US-amerikanischen Gemeindemachtstudien an (Zoll/Ellwein 2003 [1974]).
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eine allenfalls marginale Rolle im lokalen Politikprozess, da mögliche Hand lungsalternativen bereits vor der Einbringung in den Gemeinderat durch die einflussreiche Gruppe der Vorentscheider, die sich aus den Beigeordneten oder Dezernenten, Rats- und Fraktionsvorsitzenden zusammensetzt, ausgewählt wer den (Banner 1972: 166). Unerwünschte Themen können von diesen Akteuren aufgrund ihrer Schlüsselposition im politischen Prozess von der lokalen Agenda ferngehalten werden.
3.2.2 Wachstumsmaschinen Eine handlungs- und akteurszentrierte Betrachtungsweise lokaler Politik erlang te Ende der 1980er Jahre mit dem Konzept der städtischen Wachstumsmaschi¬ nen wieder an Bedeutung. Indem die Autoren des „growth-machine" Ansatzes, John Logan und Harvey Molotch, von einer systemischen Macht lokaler Wirt schaftsinteressen im städtischen politischen Prozess ausgehen, knüpfen sie an die traditionellen, elitistischen Gemeindemachtstudien an (Logan/Molotch 1987: 62ff). Im Unterschied zu den klassischen Gemeindemachtstudien erweitern sie das Problem ,Wer regiert die Stadt?' durch die Frage ,Wer profitiert davon?' (Logan/Molotch 1987: 50). In ihrem Ansatz weisen Logan und Molotch daraufhin, dass in Städten sol che Politiken formuliert und implementiert werden, die eine Wertsteigerung des Bodens zur Folge haben, wie umfassende Stadterneuerungs- und Stadter weiterungsprojekte (Logan/Molotch 1987). Sie werden von einer kleinen städti schen Elite formuliert, die unmittelbar von einer Steigerung des Tauschwertes („exchange-value") des städtischen Bodens profitiert (Harding 1995: 42). Es sind die städtischen Landeigentümer, die zusammen mit anderen lokalen Akteu ren aus den örtlichen Versorgungsunternehmen, dem Baugewerbe und den Me dien, aber auch den Universitäten und Gewerkschaften, eine städtische Wachs tumsmaschine bilden (Logan/Molotch 1987: 62ff). Ihr Ziel, Wachstum zu gene rieren, hält die ansonsten möglicherweise disparaten städtischen Eliten zusam men (Logan/Molotch 1987: 50f). Politiker sind nicht unbedingt Teil der städti schen Wachstumskoalition, aber sie gehören zu ihren stärksten Befürwortern (Harding 1995: 43). Obwohl es sich bei diesen Wachstumsstrategien um Politiken handelt, die einige Gruppen in der Stadt selektiv bevorteilen und andere benachteiligen, 18
Gleichzeitig übernehmen sie, indem sie zwischen dem Gebrauchs- und dem Tauschwert städtischen Bodens unterscheiden, klassische Elemente der neomarxistischen Ansätze (Harding 1995: 42).
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kommt es nicht zu Konflikten auf der lokalen Ebene. Insbesondere deshalb, weil die wachstumsorientierten Politiken als „value-free" legitimiert werden, die letztendlich allen Einwohnern in der Stadt zu Gute kommen würden (Logan/Molotch 1987: 85). Da hinter den wachstumsorientierten Politiken mächtige Interessen stehen, ist es unwahrscheinlich, dass diese herausgefordert werden: „The assumption of value-free development is false. In many cases, probably in most, additional local growth under current arrangements is a trans¬ fer of wealth and life chances frorn the general public to the rentier groups and their associates. ... To question the wisdom of growth for any specific locality is to threaten a benefit transfer and the interests of those who gain from it" (Logan/Molotch 1987: 98). 20
3.2.3 Urbane-Regime Formen der Zusammenarbeit zwischen staatlichen und privaten Akteuren in Städten bildeten auch den Ausgangspunkt für den Urbane-Regime Ansatz, der sich seit Ende der 1980er Jahre zu dem dominanten Paradigma in der lokalen Politikforschung entwickelt hat. Der Urbane-Regime Ansatz steht in der Tradi tion der (pluralistischen) Gemeindemachtforschung, nimmt aber zentrale Ele mente der politischen Ökonomie auf (vgl. Gissendanner 2002; vgl. Stoker 1995; Stone 1993). Im Unterschied zu den klassischen Gemeindemachtuntersuchun gen fragt der Urbane-Regime Ansatz jedoch nicht danach, wer wen beherrscht, sondern wie lokale Akteure angesichts der Ressourcenknappheit und der Frag mentierung von Politik- und Entscheidungsstrukturen in Städten politische Handlungsfähigkeit herstellen können (vgl. DiGaetano 1993; Gissendanner 2002; Harding 1997; Stoker 1995; Stone 1989). Im Urbane-Regime Ansatz wird Macht nicht, wie in den älteren Gemein demachtstudien, als soziale Kontrolle konzeptionalisiert, sondern als soziale Produktion (Stone 1989: 219ff). Es geht also nicht mehr primär darum, die Zu sammenarbeit von Eliten aufzuzeigen, sondern zu erklären, wie eine solche Kooperation möglich ist: Der Fokus liegt auf den internen Dynamiken der Koa litionsbildung und Konsensfindung in stabilen Akteurssystemen (Stoker 1995: Die Wachstumsstrategien haben benachteiligende Effekte für andere Bevölkerungsgruppen in der Stadt, weil beispielsweise die Mieten und Immobilienpreise steigen. Bei dem Ansatz handelt es sich um ein „suggestives Konzept" (Bassett 1996: 547), das ver schiedentlich auch auf Städte außerhalb des US-amerikanischen Kontextes angewendet wurde (vgl. Molotch/Vicari 1988). Insbesondere ist kritisiert worden, dass die Rolle transnational o¬ perierender Konzerne in der lokalen Politik, die zunehmend die Grundstücks- und Immobi lienentwicklung in Städten bestimmen, sind mit dem Ansatz der Wachstumsmaschinen nicht zu fassen sind: Der Fokus auf lokale Landeigentümer greift zu kurz (Harding 1995: 45).
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61f). Das spezifische Verständnis von Macht ließ den Urbane-Regime Ansatz in der lokalen Politikforschung attraktiv werden: „The core contribution of the urban regime concept [...] is to have broken the deadlock created by the stalemates between the pluralist and elitist perspectives. [...] In a fragmented urban world, [...] politics can not be reduced to the control of a few, but equally the label pluralist cannot assumed to be adequate. In cities today, a key power is the capacity to mobilize around a long-term coalition" (Mossberger/Stoker 2001: 830). Wie lokale politische Akteure handlungsfähig werden, war auch der Aus gangspunkt der mittlerweile klassischen Studie von Clarence Stone zu Atlanta (1989), in der er erstmals den Urbane-Regime Ansatz für die Analyse lokaler Politikprozesse fruchtbar machte. Am Beispiel der Stadt Atlanta zeigte er, dass der Schlüssel zur Erklärung effektiver lokaler Politik hauptsächlich in einer informellen, aber stabilen und langfristigen Kooperation zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren lag: „What makes governance in Atlanta effective is not the formal machinery of government, but rather the informal partnership between city hall and the downtown business elite. This informal partnership and the way it operates constitute the city's regime; it is the means through which major policy decisions are made" (Stone 1989: 3). Der Kooperation kommt eine besondere Rolle bei politischen Entschei dungen zu, weil in einem komplexen und fragmentierten politischen System weder städtische Regierungen noch private Akteure alleine handlungsfähig sind: Beide verfügen über spezifische Ressourcen, die für sich nicht ausreichen, um politische Entscheidungen unabhängig voneinander zu formulieren und zu imp lementieren. Die Stärke von Urbanen Regimen besteht in der Bildung von Koali tionen mit dem Ziel, auch über institutionelle Grenzen hinweg kollektive Hand lungsfähigkeit herzustellen und politisch relevante Entscheidungen durchzuset zen. Es handelt sich um auf Dauer angelegte Verhandlungssysteme, weswegen auch nicht jede informelle Gruppe ein Regime ist: „A regime thus involves not just any informal group that comes together to make a decision but an informal relatively stable group with access to institutional re-sources that enable it to have a sustained role in making governing decisions" (Stone 1989: 4). Langfristige Zusammenarbeit unterschiedlicher Akteure in einem Urbanen Regime kann weder durch eine hierarchische Kontrolle erzwungen, noch durch marktformiges Verhandeln sichergestellt werden: Es bedarf anderer Mechanis men (Stone 2004: 10). Entscheidend hierfür ist, laut Stone, nicht nur die Fähig keit der Urbanen Regime, selektive Anreize für die Mitglieder der Koalition bereitzustellen, sondern ebenso die Etablierung von Kooperationsbeziehungen, die durch Reziprozität und Dauerhaftigkeit gekennzeichnet sind. Für die Teil nehmer verspricht ein urbanes Regime einen Kooperationsvorteil, weil Güter in 61
Form von materiellen Politiken produziert werden, die ohne diese Kooperation nicht zu Stande gekommen wären. Ein selektiver Anreiz, der dazu fuhrt, dass die Kooperationsbeziehung selbst zu einem bewahrenswerten Gut wird. Insbesondere Machtaspekte, die Einfluss auf die Akteurskonstellation ha ben, werden im Urbane-Regime Ansatz in differenzierter Weise reflektiert. So wird erstens herausgestellt, dass Akteure mit wichtigen Ressourcen (Geld, Wis sen etc.) als Regimeteilnehmer privilegiert sind, auch wenn der Urbane-Regime Ansatz nicht davon ausgeht, dass die Geschäftselite städtische Prozesse kontrol liert (Stoker 1995: 59). Zweitens, und das ist geradezu das ,iron-law' des Urba ne-Regime Ansatzes, wird stets darauf verwiesen, dass eine herrschende Koali tion - um als Regime bestehen zu bleiben - genügend Ressourcen für ihre Policy-Agenda mobilisieren muss (Stone 1993: 21) Regimetheoretische Arbeiten konzentrierten sich darauf, verschiedene Re gimetypen herauszuarbeiten, die bestimmte Politikergebnisse hervorbringen (vgl. DiGaetano 1993; Gissendanner 2002; Stoker/Mossberger 1994). Obwohl die Forschung mittlerweile inflationäre Regimetypologien hervorgebracht hat, sind in den meisten US-amerikanischen Studien entwicklungsorientierte städti sche Regime („development regimes") identifiziert worden: Regime, in denen lokale Unternehmer und Politiker kooperieren und deren Aktivitäten darauf gerichtet sind, durch große Stadtentwicklungsprojekte ökonomisches Wachstum zu generieren oder den ökonomischen Niedergang in einer Stadt zu verhindern (Stone 1993: 18f). Insbesondere bei diesem Regimetyp scheint die Etablierung und Erhaltung von herrschenden Koalitionen relativ einfach, da wachstumsori entierte Politiken eine Fülle selektiver Anreize für alle Teilnehmer versprechen (Stoker 1995: 63; Stone 1993: 18ff). Progressive Regime, in denen Umwelt schutz oder Lebensqualität eine wichtige Rolle spielen, wurden nur in wenigen US-amerikanischen Städten angetroffen, wie beispielsweise in San Francisco. Hier gab es Ende der 1980er Jahre einen, wenn auch kurzfristigen Wandel von einem „pro-growth" zu einem „slow-growth" Regime (vgl, DeLeon 1991). Als weiterer Regimetyp, der quasi zwischen den entwicklungsorientierten und pro gressiven Regimen steht, führt Stone das erhaltende städtische Regime („maintenance regime") ein, in dem es das wesentliche Ziel lokaler Eliten ist, an den bestehenden sozialen und ökonomischen Praktiken kaum etwas zu verändern (Stone 1993: 20). Der Urbane-Regime Ansatz hat sich mittlerweile auch in der europäischen lokalen Politikforschung zu einem dominanten Paradigma entwickelt (vgl, Di Gaetano 1993, 1997; Dowding 2001; Gissendanner 2004; Harding 1997; Mossberger/Stoker 2001; Stoker/Mossberger 1994). Doch bei der Rezeption und 21
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Mit Ausnahme einiger Studien ist der Urbane-Regime Ansatz in der deutschen lokalen Politik forschung empirisch bislang allerdings nicht angewendet worden (siehe Altrock 2001; Bernt
Anwendung dieses aus den Erfahrungen US-amerikanischer Städte entwickelten Ansatzes offenbart sich, dass er nicht ohne weiteres auf europäische Städte übertragen werden kann. Europäische Forscher machen darauf aufmerksam, dass den kontextuellen Faktoren politischen Handelns im Urbane-Regime An satz zu wenig Beachtung geschenkt wird, weil die interne Struktur und Logik von Koalitionen im Vordergrund steht (vgl. Altrock 2001; DiGaetano 1997; Mossberger/Stoker 2001; Pierre 1999). Europäische Städte existieren in einem völlig anderen „policy environment" (Mossberger/Stoker 2001: 819). Im Unter schied zu den US-amerikanischen Städten gibt es in den europäischen Städten keine langjährige ,Kultur' der Beteiligung lokaler Geschäfts- und Wirtschaftsin teressen an politischen Entscheidungen (vgl. Davies 2003: 262; Lawless 1994: 1305). Darüber hinaus ist die materielle Abhängigkeit lokaler Regierungen von lokalen Wirtschaftsinteressen deutlich geringer. Europäische Städte sind für die Finanzierung ihrer Aufgaben weniger auf die Generierung lokaler Steuern an gewiesen, weil sie nach wie vor von (bundes-) staatlichen Zuweisungen abhän gig sind. Das erklärt auch, weshalb in europäischen Städten Akteure übergeordneter Ebenen eine deutlich wichtigere Rolle spielen. Eine Akteursgruppe, die - eben so wie die lokalen Verwaltungsbeamten — von der US-amerikanischen Regime forschung systematisch unterbewertet wird (Gissendanner 2002: 175; Lawless 1994: 1320). Es scheint also die spezifische institutionelle .Schwäche' und die Fragmentierung' US-amerikanischer Städte zu sein, die eine starke Zusammen arbeit zwischen privaten und öffentlichen Akteuren geradezu notwendig macht: „The weak local state in the United States has fewer planning powers than Eu ropean local authorities, but more important, it is much more dependent on own source revenues and is more fiscally sensitive to capital mobility and Invest ment" (Mossberger/Stoker 2001: 819). Gerade in der Bundesrepublik Deutsch land kann vermutet werden, dass urbane Regime eher als „Ergebnis der wech selseitigen Abhängigkeit des Stadtrats und der lokalen Verwaltung" zu sehen sind, denn als „Ausfluss der gegenseitigen Abhängigkeit von gewählten Politi kern und Unternehmervertretern" (Gissendanner 2002: 181). Wenngleich umstritten ist, ob die Involviertheit privater Akteure ein not wendiges Merkmal urbaner Regime ist (so Mossberger/Stoker 2001: 830) oder ob die informelle Zusammenarbeit zwischen politischen und administrativen Akteuren ein hinreichendes Merkmal urbaner Regime ist (so Gissendanner 2002: 182f), bleibt festzuhalten, dass einige Arbeiten, die sich mit den Akteurs konstellationen in europäischen Städten beschäftigt haben, darauf hindeuten, 2003; Gissendanner 2004; Strom 2001). Jüngst beschäftigte sich Bürkner mit der Frage nach der Erklärungskraft des Urbane-Regime Ansatzes für Regimebildungsprozesse und Akteurs konstellationen in ostdeutschen Städten (Bürkner 2005).
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dass möglicherweise „intergouvernmentale Politiknetzwerke" oder „issuespezifische Netzwerke" die in europäischen Städten vorfindbaren Interaktions formen und Kooperationsprozessen zwischen den lokalen Akteuren besser cha rakterisieren (Bassett 1996: 552). In der europäischen lokalen Politikforschung hat sich in den letzten Jahren der Begriff der „modes of governance" etabliert, mit dem die unterschiedlichen Akteurskonstellationen und die Formen ihrer Zusammenarbeit analysiert werden (DiGaetano 1997: 846ff; DiGaetano/Strom 2003: 365). „Governance" wird in diesen Arbeiten als Oberbegriff verstanden, mit dem unterschiedliche, nichthierarchische Regelungsstrukturen und Interaktionsformen zwischen staatlichen und nicht-staatlichen Akteuren erfasst werden sollen (vgl. DiGaetano 1997; Mossberger/Stoker 2001; Pierre 1999; Stoker 1998). Urbane Regime und deren Kooperation stellen eine mögliche Form der Politikproduktion auf der lokalen Ebene dar: „Governance [...] is therefore defined as a process of coordination of actors, social groups and institutions in Order to attain appropriate goals that have been discussed and collectively defined in fragmented, uncertain environ¬ ments. [.,.] In this context, public-private partnerships and public policy net¬ works contribute to the process of urban governance. Regimes represent a particular form of mode of governance" (Le Gales 1998: 496). Zusammenfassend lässt sich festhalten, die handlungszentrierten Ansätze in der lokalen Politikforschung argumentieren, dass lokale Akteurskonstellationen und die Formen ihrer Zusammenarbeit entscheidende Variablen für die auf lokaler Ebene verfolgten Politiken sind. Kurz gefasst: ,Politics matter'. Obwohl insbesondere der Urbane-Regime Ansatz erste analytische Werkzeuge zur Kon zeption von Stadtentwicklungspolitik in schrumpfenden Städten zur Verfügung stellt - nämlich die Einsicht, dass sozioökonomische Bedingungen durch die lokale Akteurskonstellation und die Formen ihrer Zusammenarbeit vermittelt werden - gibt der Ansatz kaum Hinweise darauf, wie politische Innovationen generiert werden. Der theoretische Zuschnitt des Urbane-Regime Ansatzes legt nahe, dass auch unter völlig veränderten Bedingungen an bisherigen Strategien und Maßnahmen festgehalten wird: „Stone in his study of Atlanta focuses on the 22
In vielen europäischen Städten lassen sich keine stabilen, über mehrere Sachfragen hinweg reichenden Koalitionen zwischen privaten und öffentlichen Akteuren identifizieren. Stattdes sen findet die Zusammenarbeit zwischen staatlichen und privaten Akteuren häufig in sachlich und zeitlich beschränkten privat-öffentlichen Partnerschaften statt (Burton/O'Toole 1993; Heinz 1998a; Simons 2003). Am Beispiel der „Regenierungspartnerschaften" in krisenge schüttelten englischen Städten argumentiert Davies, dass es sich hier um hoch bürokratisierte Partnerschaften handelt, in denen private Akteure eher symbolisch beteiligt sind. Dass diese öffentlich-privaten Partnerschaften überhaupt existieren, ist eher den neuen Initiativen und Fördermitteln der Regierung in London zu verdanken, als dem Engagement lokaler Akteure (Davies 2 0 0 3 : 2 6 1 0 ) .
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forces of continuity and on how the collective action problems for those challenging the established order are considerable. [...] What is needed, is a recognition of the impact of shifts in exogenous conditions as well as developments in the internal dynamics of coalition building" (Stoker 1995: 68, Hervorhebung BG). Sowohl die Etablierung als auch die Bewahrung einer herrschenden Koali tion beruht auf sich selbst verstärkenden dynamischen (Interaktions-) Effekten, die sowohl politisch-strategische Innovationen als auch Veränderungen in der Zusammensetzung von Regimen schwieriger machen (Gissendanner 2002: 175f). Wie ein Wandel in den politischen Maßnahmen und Strategien möglich ist, bleibt im Urbane-Regime Ansatz weitgehend offen. Deshalb werden im Folgen den die ideenzentrierten Ansätzen in der Politikwissenschaft vorgestellt (siehe Abschnitt 3.3), welche die Bedeutung kognitiver oder kommunikativer Prozesse bei den handelnden Akteuren für die Formulierung und Implementierung neuer politischer Maßnahmen und Strategien herausstellen. Diese in der lokalen Poli tikforschung bislang nicht rezipierten Ansätze, stellen eine wichtige analytische Ressource zur theoretischen Konzeptionalisierung von Innovationen in der Stadtpolitik dar, die angesichts fundamentalen Wandels nötig werden, doch keinesfalls automatisch entstehen.
3.3 Ideenzentrierte Ansätze: Kognition und Lernen Ideenzentrierte Ansätze betrachten die kognitiven, argumentativen und diskursi ven Dimensionen des Politikprozesses und des Politikenwandels (vgl. Braun 1998; DiMaggio/Powell 1991; Hall 1992; Immergut 1998; Jachtenfuchs 1996; Maier 2001; March/Olsen 1984; Pierson 1994; Sabatier 1995; Stone Sweet/Fligstein /Sandholtz 2001; Weir 1992). Sie argumentieren, dass nicht nur Strukturen und Interessen einen Einfluss auf den politischen Prozess und dessen Ergebnisse haben, sondern ebenso ideationale Faktoren, wie Ideen, Paradigmen oder Über zeugungssysteme. Obwohl es sich bei den ideenzentrierten Ansätzen um teils sehr unter schiedliche theoretische Konzepte handelt, teilen sie die Annahme, dass der politische Prozess nicht nur als Macht-, sondern auch als Interpretations-, Deutungs- und Lernprozess analysiert werden kann: „Politics finds its source not only in power, but also in uncertainty - men collectively wondering what to do 23
Diese Ansätze verstehen sich entweder als Korrektiv oder als konkurrierendes Paradigma zu strukturellen und handlungszentrierten Ansätzen in der Politikwissenschaft (Braun 1998: 798): Je nachdem, welche Rolle den kognitiven, ideationalen oder diskursiven Faktoren in der Erklä rung zukommt (vgl. insbesondere Maier 2001: 541f).
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[...] Govemmerrts not only ,power' [...] they also ,puzzle'. Policy making is a form of collective puzzlement on society's behalf [...] Much political interaction has constituted a process of social learning expressed through policy" (Heclo 1974: 305f zitiert nach Hall 1993: 278). Die ideenzentrierten Ansätze ma chen mit ihrer Forschungsperspektive darauf aufmerksam, dass die kognitiven, motivationalen oder diskursiven Faktoren, wie ein Wahrnehmungs- und Überzeugungswandel, bei den handelnden Akteure in schrumpfenden Städten eine entscheidende Bedeutung für die Formulierung und Implementierung neuer politischer Maßnahmen und Strategien beigemessen werden kann. Bevor auf die im Moment einflussreichsten ideenzentrierten Konzepte in der Politikwissenschaft, die politischen Lernmodelle in der Politikfeldanalyse, eingegangen wird, werden zunächst die Arbeiten und Ansätze des Neuen Insti tutionalismus vorgestellt, weil diese zu den Wegbereitern der ideenzentrierten Ansätze zählen (Maier 2001: 545).
3.3.1 Neuer Institutionalismus Sowohl in der Soziologie als auch in der Politikwissenschaft haben sich in den letzten zwanzig Jahren unterschiedliche analytische Varianten eines Neuen Institutionalismus relativ unabhängig voneinander entwickelt, wobei man einen historischen, einen Rational-Choice und einen soziologischen Neuen Institutio nalismus unterscheiden kann (Hall/Taylor 1996: 936f; Peters 1996: 208-212). Beim Neuen Institutionalismus handelt es sich also nicht um eine kohärente Theorie, da die einzelnen Varianten sehr unterschiedliche Forschungsfragen und -methoden verfolgen. Es ist eher ein Forschungsparadigma, da die ansonsten recht heterogenen Ansätze einen gemeinsamen Nenner haben: Sie alle sind skeptisch gegenüber behavioralistischen Erklärungsansätzen, die soziales und politisches Handeln als kontextunabhängige Aggregation von Einzelentschei dungen sehen (DiMaggio/Powell 1991: 3; Hall/Taylor 1996: 937; March/Olsen 1984: 736f). Die meisten Arbeiten negieren nicht, dass Individuen im Sinne Max Webers strategisch - also zweckrational - handeln. Dennoch weisen sie darauf hin, dass das Handeln von Individuen auch wertrational, also von Nor men und Werten beeinflusst ist (Weber 1980: 13f). Arbeiten des Neuen Institu24
Die Funktions- und Wirkungsweise von Institutionen ist kein neues Thema in den Sozialwis senschaften, so dass sich die von Guy Peters gestellte Frage „what's new?" durchaus aufdrängt (Peters 1996: 205f). Ältere institutionalistische Ansätze in der Politikwissenschaft zeichneten sich jedoch durch eine formale Institutionenanalyse des politischen Systems aus und erschöpf ten sich oftmals in einer enumerativen Auflistung unterschiedlicher Institutionen (Rothstein 1996: 135).
tionalismus zielen darauf, die in den ökonomisch inspirierten rationalen Wahl handlungsmodellen devaluierten normativen und kollektiven Aspekte des sozia len und politischen Handelns auf die Forschungsagenda zu setzen (Peters 1996: 209). Insbesondere in der soziologischen, aber auch in der kulturellen Variante des historischen Neoinstitutionalismus wird hervorgehoben, dass institutionelle Strukturen eine handlungsleitende Orientierung für soziales und politisches Handeln bieten. Institutionen stellen für das Handeln eine wichtige Ressource dar, weil sie kognitive Muster, Kategorien und Modelle bereitstellen, mit denen die Individuen ihr eigenes und das Verhalten anderer interpretieren können (Fligstein 2001: 7; Hall/Taylor 1996: 948). Auf die Analyse von Politikfeldern bezogen, gehen die Arbeiten des Neuen Institutionalismus davon aus, dass kol lektiv geteilte Deutungsmuster in spezifischen Policy-Ideen oder Policy-Frames institutionalisiert sind, mit deren Hilfe die handelnden Akteure die Politikum welt interpretieren und verstehen (Stone Sweet/Fligstein/Sandholtz 2001: llf). Solche kollektiv geteilten Deutungsmuster oder Überzeugungen sind jedoch nicht einfach vorhanden, sondern stellen eine aktive, kognitive Interpretations leistung der handelnden Akteure dar (Braun 1998: 801f): „Framing is a way of selecting, organizing, interpreting, and making sense of a complex reality to provide guideposts for knowing, analysing and persuading, and acting. A frame is a perspective from which an amorphous, ill-defined, problematic Situation can be made sense o f (Rein/Schön 1993: 146 zitiert nach Braun 1998: 801f). Die Interpretationsschemata müssen allerdings in aller Regel nicht durch komplizierte Interpretationsleistungen der handelnden Akteure gewonnen wer den, da sie oftmals in tradierter Form vorliegen (Kantner 1998: 12). Einmal implementiert, können sich Policy-Ideen, ebenso wie Institutionen, verfestigen und ein Eigenleben entwickeln, das die Veränderung von Politiken erschweren kann (Braun 1998: 802). Neoinstitutionalisten argumentieren, dass bereits imp lementierte Politiken einen Pfad produzieren, der nur unter großem Aufwand zu verändern ist. Es geht um Policy-Feedbacks (Pierson 1994: 39) oder PathDependencies (Weir 1992: 192). Zum einen wird dabei betont, dass vorange gangene Politiken einen Einfluss auf zukünftige Politiken haben, indem sie die Interessen, Identitäten und Allianzen der beteiligten Akteure (vor-) strukturie ren, so dass eine Neuorganisation politischer Maßnahmen und Strategien am Widerstand etablierter Gruppen oder Individuen scheitert (Weir 1992: 194). Zum anderen wird hervorgehoben, dass vergangene Politiken die „mindsets" der politischen Akteure organisieren (Pierson 1994: 42). In einer komple25
Als Institution werden in diesen beiden Spielarten des Neoinstitutionalismus nicht nur die formalen Regeln, Prozeduren und Normen des politischen Systems, sondern ebenso symboli sche Systeme, kognitive Skripte und moralische Schemata gefasst (Hall/Taylor 1996: 947).
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xen und unübersichtlichen Welt, so die Vermutung Piersons, greifen die han delnden Akteure hauptsächlich auf existierende Policy-Frames zurück und ver ändern nur Kleinigkeiten, um auf neue Situationen zu reagieren (Pierson 1994: 41f). Während in der Perspektive Piersons Innovationsblockaden oder soge nannten „lock in's", wahrscheinlicher sind als Innovationen, zeigt Margarete Weir (Weir 1992) an der Entwicklung der US-amerikanischen Arbeitsmarktpo litik, dass politische Innovationen möglich sind, aber immer an frühere Politiken zurückgebunden bleiben. In ihrem Ansatz der „bounded Innovation" hebt sie hervor, dass neue Politikideen oder Politikinnovationen - um institutionalisiert zu werden - anschlussfähig sein müssen: Das heißt, dass sie sowohl auf einer institutionellen Ebene, als auch auf einer kognitiven Ebene mit vorangegange nen Politiken kompatibel sein müssen (Weir 1992: 193,210). Aus neoinstitutionalistischer Sicht spielen bei dem Prozess des Politiken wandels kognitive und diskursive Faktoren eine wichtige Rolle, weil der Wan del der Problemumwelt keine selbsterklärende Bedeutung für die handelnden Akteure hat: Vielmehr müssen sie das als neue Situation verstehen und interpre tieren (Stone Sweet/Fligstein/Sandholtz 2001: 10). Wandel beginnt in der neoinstitutionalistischen Perspektive mit dem Aufbrechen von Interpretationsroutinen (Kantner 1998: 12). Hierfür sind, das haben insbesondere die Arbeiten von Fligstein gezeigt, externe Krisen oder als solche wahrgenommene Ereignisse entscheidend (Fligstein 1991: 310; Stone Sweet/Fligstein/Sandholtz 2001: 28). Indem sie die „Standard operating procedures" einer Organisation, aber auch des politischen Systems, in Frage stellen, können sie einen Prozess initiieren, in dem sich Akteure auf die Suche nach neuen Lösungen begeben: „Changes in the external environment seldom have a clear, self-evident meaning; actors seek ways to interpret and understand crisis and shocks. One must determine what the problem is before one can begin to assess alternative responses to it. Shocks and crisis sometimes trigger a search for new models, theories, or policy innovations" (Stone Sweet/Fligstein/Sandholtz 2001: 10). Allerdings betonen die Autoren, dass es Akteure geben muss, die eine neue Politikidee aktiv vorantreiben, indem sie die bestehenden Deutungsmuster bei anderen Beteiligten des Politikfeldes verändern (DiMaggio/Powell 1991: 30ff; Stone Sweet/Fligstein/Sandholtz 2001: 10). Sie gehen davon aus, dass dies ent weder durch epistemische Gemeinschaften (vgl. Haas 1992), Diskurskoalitionen (Singer 1993) oder auch durch Policy-Entrepreneurs (Fligstein 2001) und Policy-Broker (Sabatier 1993, 1995) vorangetrieben wird. Obwohl hinter diesen einzelnen Konzepten sehr unterschiedliche Vorstellungen stehen, wie politikre levantes Wissen generiert und adaptiert wird, verweisen alle darauf, dass Exper ten oder Wissenschaftler eine herausragende Rolle spielen. Sie konfluieren nicht 68
nur das Problemverständnis bei den politischen Akteuren, sondern auch die möglichen Problemlösungsalternativen. Ob es gelingt, neue Ideen in den Politikprozess einzubringen, hängt jedoch auch davon ab, inwieweit bestehende Interessen reformuliert werden. Dafür ist ausschlaggebend, dass bestimmte Akteure in der Lage sind, neue Deutungsmus ter zu generieren, die Sinn aus ungewohnten Problemen machen und die damit auch überzeugende Lösungen für die anderen Akteure anzubieten vermögen. Sie engagieren sich in einem kommunikativen Prozess, der die anderen Akteure davon überzeugen soll, dass ihre Wahrnehmung des Problems und die vorge schlagene Lösung die angemessenste ist: „The policy entrepreneur generates and attempts to propagate ideas that will define problems and Solutions in ways that other actors find convincing and useful" (Stone Sweet/Fligstein/Sandholtz 2001: 11). Dadurch, dass diese Policy-Entrepreneurs neue Policy-Frames oder Deutungsmuster propagieren, die auch für andere Beteiligte plausibel und nach vollziehbar erscheinen, können sie auch neue Formen der Kooperation zwischen disparaten Gruppen oder Individuen mobilisieren. Die Interessen der Akteure sind also nicht exogen festgelegt und stabil, sondern können sich im Laufe des politischen Prozesses auch wandeln: Neue Ideen können also nicht nur auf der Schulter mächtiger Interessengruppen in die Politik eingebracht werden, son dern sie können zu einer Reformulierung von eigenen Interessen und zur Bil dung neuer Koalitionen führen (Weir 1992: 190).
3.3.2 Lerntheoretische Ansätze Ein weiteres Forschungsgebiet, von dem die lokale Politikforschung wichtige theoretische Impulse erhalten könnte, sind lerntheoretische Konzepte, die insbe sondere in der Politikfeldanalyse im letzten Jahrzehnt an Bedeutung gewonnen haben (Heritier 1993: 17ff). Sie setzen sich mit der Frage auseinander, welches Ausmaß und welche Reichweite kognitive Prozesse in Bezug auf das politische Ergebnis haben können. Die Ansätze sind zwar sehr heterogen, da sie sich sowohl hinsichtlich der Lernsubjekte (individuelle versus komplexe Akteure) als auch hinsichtlich des Lernbegriffes (normativ versus analytisch) unterschei den (Bandelow 2003: 117). Gleichwohl argumentieren alle, dass der Wandel politischer Maßnahmen und Strategien als Prozess des policy-orientierten Ler nens konzeptionalisiert werden kann (vgl. Bandelow 2003; Jachtenfuchs 1996; Maier 2001; Sabatier 1995; Singer 1993): „The learning theory-oriented discus26
Lerntheoretische Konzepte wurzeln, auch wenn das in den meisten Arbeiten selten explizit gemacht wird, in neoinstitutionalistischen Ansätzen, indem sie die Rolle von kognitiven, ideationalen und argumentativen Faktoren betonen (Maier 2001: 545)
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sion in connection with cognitive theory approaches constitutes a more recent development in political science. In the course of the search for factors which explain policy change, the cognitive approach brought in the importance of knowledge and ideas. Recent insights include inter alia the idea that Innovation and change can be explained as the result of collective learning processes and not merely in terms of influence theory" (Knoepfel/Kissling-Näf 1998: 344). So macht beispielsweise Peter Hall in seiner Arbeit am Beispiel des Wan dels der britischen Wirtschaftspolitik von keynesianistischen zu monetaristischen Modellen darauf aufmerksam, dass der Prozess des Lernens auf unter schiedlichen Ebenen stattfinden kann (Hall 1993: 278). Es kann demnach in einem Wandel erster Ordnung, in dem die konkreten Instrumente an veränderte Bedingungen angepasst werden, einem Wandel zweiter Ordnung, in dem diese Instrumente neu angeordnet werden und einem Wandel dritter Ordnung, in dem nicht nur die Instrumente und deren Anordnung, sondern auch die Ziele einer Politik verändert werden, erfolgen (Hall 1993: 278). Während es sich bei den „first" und „second order changes" eher um inkrementale bis allenfalls strategi sche Prozesse handelt, kann man bei einem „third order change" von einem fundamentalen politischen Paradigmenwandel sprechen (Hall 1993: 278). Ein solcher Paradigmenwechsel ist für Hall allerdings eher ein Ausnahme fall und mit dem von Thomas Kuhn beschriebenen Paradigmenwechsel in der Wissenschaft zu analogisieren: Es sind vor allem „Anomalien", also wirtschaft liche, soziale oder politische Phänomene, die im Rahmen des vorherrschenden Paradigmas nicht erklärt werden können (Hall 1993: 280), die dazu führen, dass das alte Paradigma durch Politikfehler diskreditiert wird, wobei als Konsequenz nach Alternativen gesucht wird. Ob sich jedoch ein neues Paradigma etablieren kann, oder ob nur inkrementale oder strategische Veränderungen vorgenommen werden, hängt auch davon ab, ob ein neues, kohärentes Paradigma überhaupt zur Verfügung steht. Wenn es, wie im Fall der britischen Wirtschaftspolitik, mit dem Monetarismus ein kohärentes, konkurrierendes Paradigma gibt, das eine bessere Lösung der Probleme verspricht und das zusätzlich eine breite Unter stützung generieren kann, setzt sich das neue Paradigma anschließend auf der Basis politischer Entscheidungsmechanismen durch. Dass Lernprozesse sowohl normale Anpassungs- als auch Paradigmen wechsel beinhalten können, wird auch von Jachtenfuchs (1996) betont. In An lehnung an organisationssoziologische Arbeiten differenziert Markus Jachten¬ fuchs zwischen einfachem und komplexem Lernen - oder nach Argyris und 27
Hall geht nicht davon aus, dass Lernen unbedingt eine Verbesserung bedeutet, so dass er seiner Arbeit einen rein analytischen Lernbegriff zu Grunde legt. In dieser Version fand Ler nen schlicht dann statt, wenn ein Wandel in den politischen Maßnahmen und Strategien zu be obachten ist (Hall 1993: 278).
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Schön - zwischen „single-loop learning" und „double-loop learning": Je nach dem, ob nur effektivere Mittel zur Verfolgung gegebener Ziele gefunden oder ob die Ziele selbst revidiert werden, handelt es sich dabei um einfaches oder komplexes Lernen (Jachtenfuchs 1996: 31 ff).
3.4 Analysemodell: Konzeptionalisierung und Operationalisierung In den vorangegangenen Abschnitten des Kapitels habe ich die wichtigsten theoretisch-konzeptionellen Überlegungen der lokalen Politikforschung sowie der ideenzentrierten Ansätze in der Institutionentheorie vorgestellt. Sie wurden insbesondere auf ihre Konzeption des lokalen Politikergebnisses und des Politi kenwandels befragt. Die gewonnenen theoretischen Einsichten werden in dem nun folgenden Abschnitt zusammengefasst und in ein Analysemodell integriert, das der empirischen Analyse im weiteren Verlauf der vorliegenden Studie zugrunde liegt. Die aus der neomarxistischen und neoklassischen Politökonomie stammen den strukturellen Ansätze in der lokalen Politikforschung zeigten, dass Städte keine „Miniaturrepubliken" (Peterson 1981: 3) sind, in denen lokale politische Akteure autonom agieren können: Städte sind in nationale, globale oder auch regionale Strukturen eingebunden, deren Gestaltung außerhalb der Reichweite lokaler Akteure liegt. Auf den Politikprozess und den Politikenwandel in schrumpfenden Städten bezogen, könnte man mit diesen Ansätzen vermuten, dass das Handeln lokaler Akteure stärker durch überlokale, systemische Fakto ren beeinflusst wird als durch konkrete Problemlagen vor Ort. Gerade in Zeiten der ökonomischen und demographischen Schrumpfung, die mit leeren Stadtkas sen einhergeht, dürfte die Abhängigkeit der Städte von nationalstaatlichen und europäischen Förderprogrammen besonders groß sein. Wenngleich mit einer solchen strukturellen Perspektive die vielfältigen Be grenzungen lokalen Handelns thematisiert werden können, wird die Möglichkeit vernachlässigt, dass die zugegebenermaßen engen Handlungsspielräume unter schiedlich genutzt werden. Die strukturellen Bedingungen, wie sie durch die sozioökonomische Problemumwelt, die institutionell-rechtliche Einbindung und die überlokale Angebotsstruktur gesetzt sind, stellen in dem vorliegenden Ana lysemodell deshalb den Handlungsrahmen dar, der die verfügbaren (Handlungs-) Spielräume der lokalen Akteure definiert und begrenzt (siehe Abbildung 1).
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Abbildung 1:
Integriertes Analysemodell: Strukturen als unabhängige Variable
Abhängige Variable: Ergebnisse
Unabhängige Variable: Strukturen
Sozioökonomische Problemumwelt, institu tionell-rechtliche Ein bettung und überlokale Angebotsstruktur defi nieren und begrenzen den Handlungsspiel raum
w
Policies
Quelle: Eigene Darstellung Auch wenn es, wie bereits in der Einleitung erwähnt, nicht möglich war, eine Städteauswahl zu treffen, die den Anforderungen eines „most-similar-cases" Designs gerecht wird, konnte die unabhängige Variable einigermaßen konstant gehalten werden. Ausgewählt wurden deshalb zwei Großstädte, die beide mit strukturellen Arbeitsplatz- und Einwohnerverlusten konfrontiert sind und die sich innerhalb eines ähnlichen institutionell-rechtlichen Rahmens bewegen. Gleichwohl werden die spezifischen überlokalen Ressourcen, die den lokalen Akteuren durch Fördermittel oder Subventionsprogramme zur Verfügung ste hen, als ermöglichende oder begrenzende Faktoren lokalen Handelns analysiert. Die handlungszentrierten Ansätze in der lokalen Politikforschung, die im vorangegangenen Abschnitt ausführlich dargestellt wurden, argumentierten, dass es nicht die strukturellen Rahmenbedingungen sind, die determinieren, wie in Städten auf veränderte sozioökonomische Problemlagen reagiert wird. Sie teilen die Annahme, dass sich die „policies" durch den politischen Diskussions und Entscheidungsprozess in Städten erklären lassen. Während in der USamerikanischen Forschung die Kooperation zwischen staatlichen und privaten Akteuren in Urbanen Regimen im Vordergrund steht, betrachtet die europäische Forschung stärker die Zusammenarbeit zwischen politischen und administrati ven Akteuren, wobei die Urbanen Regime eine mögliche Form der Politikpro duktion darstellen. Unerheblich, ob (geschlosseneres) „urbanes Regime" oder 72
(offeneres) „Politiknetzwerk" - alle Arbeiten gehen davon aus, dass die Akteurs konstellationen und die Formen ihrer Zusammenarbeit als entscheidende Media toren zwischen den sozioökonomischen Problemumwelten und den Ergebnissen des lokalen Politikprozesses zu betrachten sind. Im Anschluss an die bisherigen Arbeiten kann man vermuten, dass insbesondere den Akteuren aus Rat und Verwaltung eine besondere Bedeutung beigemessen werden kann. Der politi sche Diskussions- und Entscheidungsprozess, den die städtischen Akteurskons tellationen und Kooperationsformen maßgeblich prägen, wird in dem vorliegen den Analysemodell deshalb als entscheidende Variable zwischen sozioökonomi schen Problemumwelten, institutionell-rechtlichen Rahmenbedingungen und den Ergebnissen des lokalen Politikprozesses konzipiert (siehe Abbildung 2). Abbildung 2:
Integriertes Analysemodell: Diskussions- und Entscheidungsprozess als intervenierende Variable
Intervenierende Variable: Diskussions- und Entschei dungsprozess
Unabhängige Variable: Strukturen
Sozioökonomische Problemumwelt, institu tionell-rechtliche Einbet tung und überlokale Angebotsstruktur definie ren und begrenzen den Handlungsspielraum
Abhängige Variable: Ergebnisse
Städtische Akteurs konstellationen >•
•
Policies
Formen der politischen Konfliktaustragung und Konsensbildung
Quelle: Eigene Darstellung Wie lassen sich die Akteurskonstellationen und Kooperationsformen nun empi risch operationalisieren? Um herauszufinden, wie sich die maßgebliche Ak teurskonstellation, oder das lokale Beziehungsgeflecht, in der Stadtentwick lungspolitik gestaltet, wird entweder analysiert, welche Akteure neue Themen in den städtischen Diskussions- und Entscheidungsprozess einbringen („AgendaSetter/Policy-Entrepreneurs") oder untersucht, welche anderen Akteure einge bunden werden bzw. eingebunden werden müssen. Wer sind die „Veto-Player", ohne deren Kooperationsbereitschaft Policy-Initiativen im Sande verlaufen oder blockiert werden? In der vorliegenden Untersuchung werden die „Veto-Player" 73
weich definiert, was heißt, dass sie Entscheidungen nicht unbedingt verhindern müssen: Es reicht, wenn sie in der Lage sind, „Sand in das Getriebe" zu werfen und damit Entscheidungen verzögern können. Die leitenden Fragen sind: Wer bringt wann neue Vorlagen in den politi schen Prozess ein? Sind das die Parteien, die Verwaltung oder intermediäre Akteure? Wer muss gewonnen werden, um die stadtentwicklungspolitisch rele vanten Initiativen im Prozess auch durchsetzen zu können? Welche Akteure erkennen sich gegenseitig als wichtig an? Zu vermuten ist, dass sich das erge bende lokale Beziehungsgeflecht unterschiedlich gestaltet und zwei Ausprägun gen annehmen kann: Entweder „offen", das heißt, dass zahlreiche Akteure aus unterschiedlichen Bereichen involviert sind. Oder es kann sich „geschlossen" darstellen, weil nur wenige Akteure an dem politischen Prozess - und letztendlich an der Entscheidung - beteiligt sind, Ersteres entspräche eher einem losen Poli tiknetzwerk, letzteres einem exklusiven Urbanen Regime. Eng verknüpft mit der Akteursdimension ist die Kooperationsdimension. Sie wird empirisch fassbar, indem man untersucht, wie die Konflikt- und Kon sensbildungsprozesse in der Stadtentwicklungspolitik ablaufen. Leitende Fragen sind: Welche Konflikte entstehen? Wie werden die entstehenden Konflikte zwi schen den unterschiedlichen Akteuren gelöst? Wird ein übergreifender Konsens gesucht? Werden neue stadtentwicklungspolitische Maßnahmen, Instrumente und Strategien auch gegen den Widerstand anderer Akteure durchgesetzt? Man kann vermuten, dass sich in der Stadtentwicklungspolitik zum einen eher kon¬ sensuale, kompromissorientierte Formen finden, zum anderen eher konfliktive, kompetetive Formen. Das Defizit der handlungszentrierten Ansätze, auch das wurde im vorange gangenen Abschnitt ausführlich gezeigt, besteht darin, dass sie kaum systemati sche Hinweise geben, wie neue stadtentwicklungspolitische Maßnahmen, In strumente und Strategien angesichts veränderter Problemumwelten in Städten institutionalisiert werden können. Politische Innovationen in schrumpfenden Städten, die angesichts des fundamentalen Wandels nötig werden, entstehen keinesfalls automatisch. Deshalb wird im Anschluss an die ideenzentrierten Ansätze kognitiven und kommunikativen Prozessen bei den handelnden Akteu ren für die Formulierung und Implementierung neuer Politiken ein besonderes Gewicht zugemessen. Wandel beginnt, so die Annahme der ideenzentrierten Ansätze in der Insti tutionentheorie, mit dem Aufbrechen von Interpretationsroutinen: Manche ex terne Ereignisse können einen Prozess initiieren, indem sich Akteure auf die Suche nach neuen Problemlösungen begeben. Der Wandel in den Handlungsori entierungen der lokalen Akteure ist zwar eine notwendige, jedoch keine hinrei chende Bedingung für die Formulierung und Implementierung neuer stadtent74
wicklungspolitischer Maßnahmen, Instrumente und Programme. Insbesondere der historische und soziologische Neo-Institutionalismus betont, dass es Akteure geben muss, die eine neue Politikidee aktiv vorantreiben, indem sie die beste henden Deutungsmuster bei anderen Akteuren im Politikfeld verändern und durch neue ersetzen. Die Handlungsorientierungen der Akteure werden in den ideenzentrierten Ansätzen also zu einer entscheidenden Variable im politischen Entscheidungsprozess, da die Institutionalisierung neuer stadtentwicklungspolitischer Maßnahmen und Strategien einen kognitiven Wandel bei den handelnden Akteuren voraussetzt. Weil das jedoch nicht unabhängig von Interessen konzeptionalisiert wird, lassen sich die Handlungsorientierungen als ein bislang ver nachlässigter Aspekt der intervenierenden Variable „Diskussions- und Entschei dungsprozess" integrieren (siehe Abbildung 3). Abbildung 3:
Integriertes Analysemodell: Diskussions- und Entscheidungsprozess als intervenierende Variable
Unabhängige Variable: Strukturen
Sozioökonomische Problemumwelt, institu tionell-rechtliche Einbet tung und überlokale Angebotsstruktur defi nieren und begrenzen den Handlungsspielraum
Intervenierende Variable: Diskussions- und Entscheidungsprozess
Abhängige Variable: Ergebnisse
Handlungsorientierungen Städtische Akteurs konstellationen
Policies
Formen der politischen Kon fliktaustragung und Konsens bildung
Quelle: Eigene Darstellung Die kognitive Dimension, also die Handlungsorientierungen der Akteure, kann man empirisch fassen, indem man analysiert, was die lokalen Akteure als die zentralen Probleme in der Stadtentwicklung sehen („Problemwahrnehmung") und wie die lokalen Akteure den Schrumpfungsprozess interpretieren („Prob lemdeutung"). Dabei soll auch analysiert werden, welche Akteure welche Wahr nehmung favorisieren. Beide - sowohl die Problemdeutung als auch die Prob75
Problemwahrnehmung - können entweder „realistisch" oder „verdrängend" sein: Realistisch meint, dass der Schrumpfungsprozess von den handelnden Akteuren als ein eher mehrdimensionales (ökonomisches, demographisches und soziales) Problem wahrgenommen wird, welches strukturell bedingt ist - und deshalb langfristig bestehen bleiben wird. Eine verdrängende Problemwahrnehmung und -deutung ist, im Unterschied dazu, dadurch gekennzeichnet, dass der Schrump fungsprozess von den handelnden Akteuren als ein eher eindimensionales (öko nomisches oder demographisches) Problem wahrgenommen wird, welches kon junkturell bedingt ist - und das mit geeigneten politischen Maßnahmen auch wieder in einen Wachstumsprozess umgekehrt werden kann. Dass sich die städtischen Policies über einen längeren Untersuchungszeit raum hinweg angesichts veränderter Problemumwelten ändern, ist recht wahr scheinlich. Was aber mit Blick auf mögliche Innovationen in der Stadtpolitik darüber hinaus einen Unterschied macht, ist das Ausmaß und die Reichweite des Politikenwandels. Die lerntheoretischen Ansätze in der Politikfeldanalyse ma chen darauf aufmerksam, dass der Politikenwandel auf unterschiedlichen Ebe nen stattfinden kann. So argumentieren die Arbeiten in der Politikfeldanalyse, die darauf abstellen, dass es einen Unterschied zwischen einem „single-loop learning" (Einkreislernen) und dem „double-loop learning" (Zweikreislernen) gibt: Je nachdem, ob nur effektivere Mittel zur Verfolgung gegebener Ziele gefunden oder ob die Ziele selbst revidiert werden, handelt es sich dabei um einfaches oder komplexes (Politik-) Lernen (Jachtenfuchs 1996: 31ff). Überträgt man diese Forschungsperspektive auf schrumpfende Städte, so lassen sich die als abhängige Variable konzipierten ,policies' genauer bestimmen (siehe Abbil dung 4):
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Abbildung 4:
Integriertes Analysemodell: „Single-loop" und „Double-loop learning" als abhängige Variable
Unabhängige Variable: Strukturen
Sozioökonomische Problemumwelt, institu tionell-rechtliche Einbet tung und überlokale Angebotsstruktur defi nieren und begrenzen den Handlungsspielraum
Intervenierende Variable: Diskussions- und Entscheidungsprozess
Abhängige Variable: Ergebnisse
Handlungsorientierungen Städtische Akteurs konstellationen Formen der politischen Kon fliktaustragung und Konsens bildung
Policies: Umfang und Reichweite des Politi kenwandels
Quelle: Eigene Darstellung Wie lassen sich die „policies" empirisch konzeptionalisieren? Um herauszufin den, ob es sich bei dem Politikenwandel um „Single- oder double-loop" learning handelt, kann das Politikfeld Stadtentwicklung darauf hin untersucht werden, inwieweit sich die konkreten Instrumente und Maßnahmen oder auch die über geordneten Strategien oder Ziele veränderten. Da eine eindeutige Abgrenzung des Politikfeldes „Stadtentwicklung", aufgrund der Überlappung mit zahlrei chen anderen kommunalen Politikfeldern, wie der Wirtschafts- und Kulturpoli tik, schwierig ist, konzentriert sich die Policy-Analyse auf Maßnahmen, Instru mente und Strategien, die im politischen Prozess oder in der Wahrnehmung der lokalen Akteure eine wichtige Rolle gespielt haben. Das der Untersuchung zugrunde liegende theoretisch-konzeptionelle Ana lysemodell lässt sich folgendermaßen zusammenfassen: Sozioökonomische Pro blemumwelt, institutionell-rechtliche Einbettung und überlokale Angebotsstruk tur definieren und begrenzen die städtischen Handlungsspielräume. Entschei dend dafür, ob in schrumpfenden Städten lediglich neue Mittel oder auch neue Strategien angesichts der fundamental veränderten Bedingungen der Stadtent wicklung institutionalisiert werden, ist der städtische Diskussions- und Ent-
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scheidungsprozess, für den die Handlungsorientierungen und Problemwahrneh¬ mungen, die Akteurskonstellationen und Kooperationsformen ausschlaggebend sind. Dieses Modell wird die empirische Untersuchung der Stadtentwicklungs politik in den schrumpfenden Städten in den folgenden Kapiteln leiten.
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4
Städte im Profil: Duisburg und Leipzig
Die Analyse der Ursachen und Folgen städtischer Schrumpfungsprozesse in Kapitel 2 ergab, dass das traditionelle Interpretationsmuster „Stadt = Wachstum von Wirtschaftskraft, Einwohnern und Siedlungsfläche" mittlerweile in allen westlichen Industrienationen an Plausibilität einbüßte. Auch in beiden Teilen der Bundesrepublik Deutschland gibt es immer mehr schrumpfende Städte. In diesem Kapitel werden zunächst zwei Stadtprofile entfaltet. Da in Kapi tel 2 bereits auf die allgemeinen Ursachen städtischer Schrumpfungsprozesse in Ost und West eingegangen wurde, konzentrieren sich die Stadtprofile auf die Besonderheiten der sozialen, ökonomischen und demographischen Entwicklung, wobei für den je spezifischen Einzelfall und angesichts der lokalen Konstellati on gezeigt wird, dass sowohl Duisburg (siehe Abschnitt 4.1) als auch Leipzig (siehe Abschnitt 4.2) strukturell an Arbeitsplätzen und Einwohnern verlieren und die Perspektiven in beiden Städten auf einen weiteren Schrumpfungsprozess hindeuten. Diese Gemeinsamkeit überwiegt Besonderheiten im Detail, wie die Unterschiede in der Problementwicklung sowie einige Problemaspekte in beiden Städten, die aus ihrer spezifischen regionalen Einbettung herrühren.
4.1 Duisburg: Die schrumpfende Stahlstadt am Rhein „Nach einem schlammigen Tag auf einem sehr breiten Fluss zwischen trostlos flachen Ufern ohne Charakter entdeckt man eine Stadt von Schloten, von Domen, die flammen, und rötliche oder blaue Raketen ausspeien ... Wie soll ich ihnen den Eindruck dieser Schlösser aus flüssigem Metall, dieser glühenden Kathedralen, der wunderbaren Symphonie von Transmissionen, von Pfif fen, von furchtbaren Hammerschlägen schildern, der uns umhüllt ... Wie musikalisch das alles ist." (Maurice Ra vel 1905; zitiert nach Heid 1983: 200)
Der französische Komponist Maurice Ravel war inspiriert vom Anblick der Duisburger Industriekulisse. Die Anlagen, die Ravel so bewunderte, waren zu Beginn der 1890er Jahre wie Pilze aus dem Boden geschossen und hatten die 79
Struktur der kleinen Handels- und Industriestadt von Grund auf verändert. Duis burg, die Stadt am Rhein, erlebte mit der Industrialisierung und dem damit ein hergehenden Aufschwung der Montanindustrie einen wirtschaftlichen und de mographischen Wachstumsprozess, der nur von gelegentlichen konjunkturellen Einbrüchen kurzfristig unterbrochen wurde, (vgl. Heid 1983: 214; Pietsch 1983: 371). Insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg entwickelte sich Duisburg zum wichtigsten Standort der bundesdeutschen Eisen- und Stahlindustrie (Bünnig 1983: 120), so dass die drei größten Stahlunternehmen - Thyssen, Mannesmann und Krupp - mit ihren über 60.000 Beschäftigten fast zwei Drittel des gesamten Industrieumsatzes in Duisburg erwirtschafteten (Bünnig 1983: 103,106). Die Mitte der 1970er Jahre beginnende Strukturkrise der Eisen- und Stahlindustrie führte dann zu einem tiefgreifenden ökonomischen, sozialen und demographi schen Wandel, in dessen Gefolge die Stadt den Wachstumspfad verließ (vgl. Bensch 1987; Bünnig 1983; Pietsch 1983; Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1988).
4.1.1 Industrialisierung und Stadtwachstum Der Aufstieg der kleinen Handels- und Textilstadt am Rhein zu einem Epizent rum der industriellen Revolution in Deutschland setzte Mitte des 19. Jahrhun derts mit der Errichtung zahlreicher Verhüttungswerke und Zechen des Stein kohlebergbaus ein (Heid 1983: 206ff). Auftakt zur massenhaften Metallerzeugung in Duisburg war die 1844 er richtete Hütte „Borussia" an der Südseite des Rheins. Zahlreiche andere Werke folgten: die „Niederrheinische Hütte" (1851), die „Phoenix-Hütte", die Hütte „Vulkan" (1855), um nur einige zu nennen. Existierten bis 1855 im Duisburger Stadtgebiet insgesamt 34 Öfen zur Stahlerzeugung, so stieg diese Zahl bis 1870 auf 107 Öfen an (Heid 1983: 206). Davon angelockt, siedelten sich immer mehr Zulieferer und metallverarbeitende Betriebe, wie die großen Walz- und Guss werke der Familie Grillo und Thyssen, ab 1865 im Stadtgebiet an. Die eisen schaffende Industrie schuf sich in Duisburg gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch den Kauf von Zechen und den dazugehörigen Kokereien eine eigene Koksbasis (Kommunalverband Ruhrgebiet 2002: 41). Damit ergab sich eine immer stärkere Verflechtung zwischen Steinkohlebergbau und der Eisen- und Stahlindustrie, so dass sich auch der Steinkohlebergbau, nach einigen Verzöge rungen durch die schlechte Kohlequalität und den Treibsand, ab Ende des 19. Jahrhunderts in Duisburg zu einem prosperierenden Wirtschaftszweig entwi ckelte (Heid 1983: 209f).
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Der wirtschaftliche Aufschwung in der Industrialisierung führte wie in an deren Ruhrgebietsstädten zu einem rasanten Bevölkerungswachstum. Zwischen 1850 und 1910 wuchs die Stadt Duisburg mit den 1905 erfolgten Eingemein dungen von Ruhrort, Beeck, Laar und Stockum von 11.856 auf 229.463 Ein wohner (Stadt Duisburg o. J. ). Das Wachstum der Duisburger Schwerindustrie ebenso wie das der Bevöl kerung setzte sich auch während des 1. Weltkrieges und der Weimarer Republik fort. Die ansässige Industrie profitierte von der einsetzenden Inflation: Mit äu ßerst geringen Kosten für Löhne und Rohstoffe konnten die Weltmarktpreise unterboten, die Absatzschwierigkeiten überwunden und neue, wertbeständige Investitionen getätigt werden, die mit wertlosem Papiergeld bezahlt wurden. Aufgrund der in dieser Zeit erfolgten massiven Kapitalinvestitionen in die Pro duktionsanlagen verblieb die Eisen- und Stahlindustrie in Duisburg, so dass eine Nordwanderung wie im Bergbau nicht stattfand (Kommunalverband Ruhrgebiet 2002: 41). Die neuen Produktions- und Absatzbedingungen in der Schwerin dustrie gingen mit innerbetrieblichen Modernisierungs- und Umstrukturie rungsmaßnahmen einher, die zu Konzentrations- und ersten Rationalisierungs tendenzen in der Schwerindustrie führten (Vinschen 1983: 289). Die daraufhin erfolgenden Betriebsstilllegungen von insgesamt 24 Zechen (von 48) und 14 (von 23) Hochofenanlagen wirkten sich, durch die Modernisierung der verblei benden Anlagen, noch nicht negativ auf die Produktion aus. 1924 produzierten die Duisburger Hütten 1,5 Millionen Tonnen Roheisen, das entsprach ca. 20% der gesamten deutschen Jahresproduktion (Vinschen 1983: 289). Erst die 1929 einsetzende weltweite Depression führte zu einem dramati schen Einbruch der Beschäftigungsmöglichkeiten in Duisburg. Die schlechte Lage am Arbeitsmarkt besserte sich erst mit der Machtübernahme durch die Nazis, deren Aufrüstungspolitik den großen Konzernen der Schwerindustrie zugute kam. Die Stahlindustrie, die Duisburger Häfen, aber auch die Zechen verzeichneten vor und während des Zweiten Weltkriegs neue Umsatzrekorde (Vinschen 1983: 309ff). Mit der Bombardierung der Industrieanlagen, des Ha fens und der Innenstadt wurden die ökonomischen Grundlagen weitgehend zerstört. Von den 40 vorhandenen Hochöfen waren nur noch 4 produktionsbe reit. Die Wiederherstellung des alten Industriepotentials verlief in Duisburg hingegen recht schnell, denn sowohl die Demontage von Industriewerken als 28
29
Die statistischen Jahrbücher der Stadt Duisburg werden seit Beginn der 1990er Jahre aus Kostengründen nicht mehr publiziert, sondern als Excel-Datei geführt und bei Bedarf zur Ver fügung gestellt. Jahres- und Steitenangaben sind deshalb nicht möglich. In den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts entstanden riesige Mammutkonzerne wie die „Verei nigten Stahlwerke A.G." (VESTAG), der sich - mit Ausnahme von zwei Zechen und drei me tallverarbeitenden Gewerbe (DEMAG, Mannesmann, Hahn'sche Werke) - fast alle anderen Betriebe in Duisburg anschlössen.
81
auch die anvisierte Entflechtung der Großunternehmen (wie der VESTAG) fanden nicht in dem Umfang statt, in denen sie ursprünglich von den Alliierten geplant worden waren (Pietsch 1983: 364). Kohle und Stahl waren der Motor des Wiederaufbaus in den so genannten „Wirtschaftswunderjahren", die Produktion und die Beschäftigtenzahlen stiegen in diesen Industrien und den davon abhängigen Zulieferungsbetrieben in Duis burg entsprechend an. Etwa 30% des gesamten Rohstahls und -eisens der Bun desrepublik wurden zu Beginn der 1950er Jahre in Duisburg hergestellt (Bünnig 1983: 102). 1950 hatten die Duisburger Industriebetriebe 71.000 Beschäftigte, 1958 arbeiteten dort bereits 105.000 Angestellte, von denen allein 65.000 in der Metallerzeugung oder Metallverarbeitung tätig waren (Pietsch 1983: 372). Ins gesamt entwickelte sich Duisburg in den 1950er Jahren zu einer Region mit überdurchschnittlicher Wirtschaftskraft, das Bruttosozialprodukt der Stadt lag 1957 pro Einwohner bei 7.330 DM - und damit 48% über dem Landesdurch schnitt (Pietsch 1983: 372). Duisburgs Entwicklung war von einem „ungebro chenen Aufstieg in allen Lebensbereichen" geprägt (Pietsch 1983: 372), der auch mit weiter steigenden Einwohnerzahlen einherging. Im Jahr i960 lebten über 500.000 Menschen in Duisburg (siehe Tabelle 1). Tabelle 1: Bevölkerungsentwicklung Duisburg 1945-1960 1945 1950 341.290 410.783 Quelle: Stadt Duisburg o.J.
1955 478.983
1960 503.641
Erste Kratzer erhielt der Wachstums- und Expansionsprozess mit der ersten Ruhrkohlekrise von 1957 (Pietsch 1983: 379). Bedingt durch das Vordringen der Konkurrenzenergien Öl und Erdgas, durch billige ausländische Kohle, aber auch durch Rationalisierungsmaßnahmen der Großabnehmer, wie der Stahlin dustrie und der Stromerzeuger, ging die Nachfrage nach Ruhrkohle in Deutsch land deutlich zurück: Eine Entwicklung, die auch an den Duisburger Zechen nicht spurlos vorüberging. Von den neun Zechen, die Ende der 1950er Jahre noch förderten, überlebte nur die Zeche Walsum (Pietsch 1983: 379). Alle übri gen Zechen, auch die am linken Niederrhein, deren Fördertürme lange das Er scheinungsbild der Stadt bestimmt hatten, mussten ihre Produktion einstellen. Obwohl sich die Zahl der im Bergbau beschäftigten Personen bereits ver ringerte, war der gesamtstädtische Duisburger Arbeitsmarkt davon noch nicht betroffen, da die hohe Inlandsnachfrage nach Eisen und Stahl für eine gute Kon junktur in der Stahlbranche sorgte (Pietsch 1983: 376). Bis Ende der 1960er Jahre hatte sich Duisburg zum wichtigsten Stahlstandort der Bundesrepublik entwickelt, so dass Anfang der 1970er Jahre fast 46% der gesamten Roheisener82
zeugung und circa 43% der gesamten Rohstahlerzeugung der Bundesrepublik produziert wurden (Bünnig 1983: 102). Die drei großen Stahlkonzerne der Stadt erwirtschafteten fast 2/3 des gesamten Umsatzes der Duisburger Industrie (Bünnig 1983: 103). So verwundert es nicht, dass die Thyssen AG mit 34.000 Beschäftigten, die Krupp Stahl AG mit 12.000, die Mannesmann AG mit 10.000 Beschäftigten und die Niederrheinsche Hütte mit 2.700 Beschäftigten die größ ten Arbeitgeber der Stadt waren (Bünnig 1983: 106). Mehr als ein Viertel aller Arbeitsplätze in der Stadt waren 1970 im Stahlbereich angesiedelt - selbst im Vergleich zu anderen Ruhrgebietsstädten ein hoher Prozentsatz (siehe Tabelle 2). Tabelle 2: Anteil der Arbeitsplätze im Stahlbereich an allen Arbeitsplätzen in Duisburg und anderen Ruhrgebietsstädten 1970 (in %) Stadt Duisburg Ennepe-Ruhr-Kreis Hagen Mühlheim Dortmund Bochum Oberhausen Ruhrgebiet ins. Quelle: Bünnig 1983: 105
1970 26,4 24,0 25,8 19,5 11,4 12,6 11,7 11,6
Die Konzentration der Duisburger Wirtschaft auf die Eisen- und Stahlindustrie und in geringerem Maße auch auf den Bergbau, hatte der Stadt seit dem Beginn der Industrialisierung stetiges ökonomisches und demographisches Wachstum, Prosperität und Wohlstand beschert.
4.1.2 Stahlkrise und Stadtschrumpfung Mitte der 1970er Jahre geriet die Duisburger Eisen- und Stahlindustrie in eine bis heute andauernde strukturelle Krise, die nur kurzzeitig durch konjunkturelle Aufschwünge unterbrochen wurde (vgl. Bensch 1987; Bünnig 1983; Pietsch 1983). Wie viele andere Unternehmen im Ruhrgebiet litten die Stahlunterneh men in Duisburg unter einer verstärkten internationalen Konkurrenz, die ihre Produkte kostengünstiger anbieten konnten. Gleichzeitig sank die Inlandsnach frage nach Eisen- und Stahlprodukten. Insbesondere in den ersten Jahren der 83
Stahlkrise versuchten die Unternehmen, wie die Mannesmann AG, durch Rationalisierungs- und Modernisierungsmaßnahmen in ihren Werken konkurrenzfä hig zu bleiben (Kommunalverband Ruhrgebiet 2002: 44; Pietsch 1983: 367). So nahm auch in den Jahren nach der ersten Stahlkrise die Rohstahlproduk tion in Duisburg noch zu, die Zahl der Beschäftigten in der eisenschaffenden Industrie reduzierte sich jedoch bereits. Blieben die Rationalisierungsmaßnah men gerade in den 1970er Jahren noch auf die Zusammenlegung und Schlie ßung einzelner Betriebsteile beschränkt, wurden gerade in den 1980er Jahren aufgrund massiver Überkapazitäten und neuer EU-Quotenregelungen auch gan ze Werke geschlossen. Ein Politikum stellten die zu Beginn der 1980er Jahre erstmals "durchgesickerten" Schließungspläne der Krupp AG des Werkes in Duisburg-Rheinhausen dar. Aufgrund der Zusammenlegung einzelner Be triebsteile der Thyssen AG und der Krupp AG beschloss das Unternehmen, das Hüttenwerk in Rheinhausen zu schließen. Hiervon waren circa 3.600 Arbeits plätze bedroht (Bünnig 1983: 108). Interventionen seitens der Stadt und des Landes verzögerten den Schließungsprozess zwar um mehrere Jahre, aufhalten konnten sie ihn nicht. 1993 wurde das Werk mit den übrig gebliebenen 1.100 Beschäftigten dicht gemacht. Für Duisburg stellte der Arbeitsplatzabbau in den großen Stahlunternehmen besonders auch deshalb ein Problem dar, weil es kaum kleinere und mittlere Unternehmen gab. Im Jahr 1985 arbeiteten noch circa 40% der Beschäftigten in 0,3% der Betriebe. Eine höhere Konzentration der Beschäftigung auf Betriebe der obersten Betriebsgrößenklasse gab es in keiner anderen Stadt der Bundesrepublik mit mehr als 500.000 Einwohnern (Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrie- und Handelskammer DuisburgWesel-Kleve zu Duisburg 1988: 13) Der vereinigungsbedingte Wirtschaftsboom, in dessen Folge es zu einer er höhten Nachfrage nach Eisen- und Stahlprodukten kam, trug zu einem kurzfris tigen Wiederanstieg der städtischen Beschäftigtenzahlen zwischen 1988 und 1992 bei, allerdings hielt die Phase des wirtschaftlichen Aufschwungs nicht lange an. Bereits 1993 sanken die Beschäftigungszahlen wieder kräftig (Stadt Duisburg o.J.). Unter der Stahlkrise litt jedoch nicht nur die eisenschaffende Industrie selbst, sondern mit ihr das gesamte produzierende Gewerbe in Duis burg. Arbeitsplatzverluste kumulierten auch in den zahlreichen Nachfolge- und Ergänzungsindustrien des montanindustriellen Sektors, wie in der chemischen Industrie, dem Maschinenbau oder der Elektrotechnik. Nicht zuletzt litten auch die Duisburger Häfen unter der Entwicklung im Stahlsektor, die auf den Um schlag von Massengütern ausgerichtet waren (Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1988: 17). Dass sich der Abbau von Arbeitsplätzen im produzierenden Gewerbe, und hier insbesondere in der eisenschaffenden Industrie, so drastisch in der Reduzierung 84
von Arbeitsplätzen in der Stadt niederschlagen konnte, liegt jedoch auch an einem nur gering gewachsenen Dienstleistungssektor. Das ist mit einer struktu rellen Schwäche des Einzelhandels in Duisburg als traditioneller Arbeiterstadt mit entsprechenden Einkommens- und Konsumgewohnheiten zu erklären, aber auch der Effekt eines massiven Stellenabbaus in den öffentlichen Dienstleistun gen (Bünnig 1983: 110; Stadt Duisburg, Niederrheinische Industrie- und Han delskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1988: 12). Insgesamt sank die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Duisburg von 225.000 im Jahr 1976 auf 159.000 im Jahr 2002: Eine Reduzierung um fast 30% (Stadt Duisburg o.J.). Die drastische Abnahme der sozialversicherungspflichtig Be schäftigten nach Sektoren ist in der folgenden Abbildung dargestellt (siehe Ab bildung 5). Abbildung 5:
Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten insgesamt und nach Sektoren in Duisburg im Zeitraum von 1976-1999 (absolut)
250000
200000
150000
100000
50000
r—i
~T
1976
1979
r
1982
•Insg.
1985
1988
•Prod.-Gew.
1991
1994
1997
-.r—Dienst..
Quelle: Stadt Duisburg o.J.
85
In Duisburg beschränkten sich die Arbeitsplatzverluste also nicht nur auf die alten Industrien. Vielmehr entwickelte sich auch die Wachstumsbranche Dienst leistung deutlich schlechter als in anderen Städten und Regionen Deutschlands. Mit der wirtschaftlichen Strukturkrise und dem daraus folgenden Arbeits platzverlust nahm und nimmt auch die Einwohnerzahl in Duisburg stetig ab. Zwar konnten die wirtschaftlich bedingten Einwohnerverluste, die bereits zu Beginn der 1960er Jahre einsetzten, noch einmal 1975 durch zahlreiche Einge meindungen ausgeglichen werden. Danach sank die Gesamteinwohnerzahl aber weiter ab, nur unterbrochen von den Jahren 1988 bis 1992, in denen es durch die vermehrten Zuzüge aus Osteuropa und Ostdeutschland nach dem Zusammen bruch des Ostblocks zu einem leichten Bevölkerungsanstieg kam (Stadt Duis burg 2003: 5ff). Insgesamt verlor Duisburg zwischen 1975 und 2002 mehr als 100.000 Einwohner - ein Verlust von mehr als 30% (Stadt Duisburg o.J.). Die Bevölkerungsabnahme in der Stadt ist in der untenstehenden Abbildung darge stellt: Abbildung 6:
Entwicklung der Bevölkerung mit Hauptwohnsitz im Zeitraum 1960-2003 in Duisburg (jeweiliger Gebietsstand)
-i—i—r—-T
1976
1979
1982
Quelle: Stadt Duisburg o.J.
86
1985
1
1991
1994
1997
2000
In den 1970er und 1980er Jahren hatte die Fernwanderung einen erheblichen Anteil am Bevölkerungsverlust: Sie war Konsequenz der schlechten wirtschaft lichen Entwicklung (Bensen 1987: 563). Durch den vereinigungsbedingten Zuzug von Deutschen und Ausländern konnte dieses Muster kurzfristig unter brochen werden, so dass die Stadt bei den Fernwanderungen zwischen 1989 und 1993 relativ starke Wanderungsgewinne verzeichnen konnte. Der Trend setzte sich, gerade durch den Zuzug von Ausländern, auch bis Ende der 1990er Jahre weiter fort. Seit 1999 steigen die Wanderungsverluste durch Fernwanderungen wieder an (Stadt Duisburg 2003: 33). In den 1990er Jahren führten insbesondere die Nahwanderungen in das Duisburger Umland zu einem erheblichen Bevölke rungsverlust. Im letzten Jahrzehnt verlor die Stadt Duisburg rund 20.000 Ein wohner durch Suburbanisierung (Blotevogel/Jeschke 2001: 84). Seit Beginn der 1990er Jahre gewinnt auch der natürliche Bevölkerungsrückgang zunehmend an Bedeutung. Die Zahl der Sterbefalle lag deutlich über der Geburtenzahl, so dass sich insgesamt eine negative Bilanz ergab: Ein Minus von 7.154 Einwohner innerhalb der letzten 10 Jahre (Blotevogel/Jeschke 2001: 7f). Ein Sterbefallüberschuss, der noch höher ausgefallen wäre, wenn es im gleichen Zeitraum nicht einen Geburtenüberschuss bei der ausländischen Bevölkerung in Duisburg gegeben hätte (Stadt Duisburg 2003).
4.1.3 Fiskalische, soziale und räumliche Folgen Die strukturellen Arbeitsplatzverluste gehen mit einer dauerhaft hohen Arbeits losenquote einher, die sich in den letzten 20 Jahren in Duisburg bei durch schnittlich 14% eingependelt hat (Stadt Duisburg o.J). Die Arbeitslosenquote von 2001, die bei 12,6% lag, überstieg nicht nur die Arbeitslosenquote der pros perierenden Großstädte Westdeutschlands, sondern fiel auch im Vergleich zu anderen Städten des Ruhrgebietes überdurchschnittlich hoch aus: So wiesen die Städte Essen mit 10,7% und Bochum mit 10,6% deutlich niedrigere Quoten als die Stadt Duisburg auf. Nur die Stadt Dortmund stand mit einer Arbeitslosen quote von 13,1% noch schlechter da (Projekt Ruhr 2002: 72ff). Die schlechte Lage auf dem städtischen Arbeitsmarkt macht sich jedoch nicht nur an der Zahl der Arbeitslosen, sondern ebenso in der Dauer der Arbeitslosigkeit bemerkbar: Fast 40%o aller Arbeitslosen in Duisburg sind länger als ein Jahr arbeitslos (Projekt Ruhr 2002: 77). Neben der hohen Arbeitslosenquote bereitet der Stadt seit den 1970er Jah ren eine sozial selektiv verlaufende Abwanderung Probleme. So steigt seit Jah ren der Anteil von nicht-deutschen Haushalten, während der Anteil deutscher Haushalte in Duisburg seit Mitte der 1970er beständig abnimmt: Eine Entwick87
hing, die darauf zurückzuführen ist, dass das negative Wanderungssaldo der Stadt fast ausschließlich auf die stärkere Ab- als Zuwanderung deutscher Haus halte zurückzuführen ist (Stadt Duisburg 2003). Selbst wenn, wie seit dem Jahr 1996, auch mehr Ausländer weg- als zuwandern, wird ihr Anteil in der Stadt aufgrund des Geburtenüberschusses weiter steigen. Die Abwanderungen sind deshalb problematisch, weil überdurchschnittlich gut verdienende Haushal te mit Kindern die Stadt in das nähere Umland verlassen. Insbesondere die Al tersgruppe zwischen 25 und 45 Jahren ist um den Faktor 2-3 bei den Abgewan derten überrepräsentiert (Blotevogel/Jeschke 2001: 84f). Seit Mitte der 1970er Jahre entlastet die Abwanderung, anders als noch in den 1960er Jahren, kaum noch direkt den Arbeitsmarkt, weil nicht Arbeitslose, sondern Erwerbstätige mit ihren Familienangehörigen Duisburg verlassen (Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrie- und Handelskammer Duisburg-WeselKleve zu Duisburg 1988: 14). Diese Entwicklung hinterlässt in der sozialstruk turellen Zusammensetzung der Duisburger Bewohnerschaft deutliche Spuren. Der Anteil armer und alter Bewohner in der Stadt steigt an. So nahm die Sozial hilfedichte, also die Zahl der Sozialhilfeempfänger je 1.000 Einwohner, in Duisburg von 57 im Jahr 1978 auf 86 im Jahr 1993 zu (Stadt Duisburg o.J.). Parallel hierzu veränderte sich die demographische Zusammensetzung der Be völkerung: Der Anteil der über 60 jährigen Menschen an der Gesamtbevölke rung stieg von 19,5% in 1975 auf 26,5% im Jahr 2002 an (Stadt Duisburg 2004: 16). Sozial selektive Abwanderung, eine steigende Zahl von (Langzeit-) Ar beitslosen und Sozialhilfeempfängern sowie die Schließung von Betrieben führ ten zu einer kommunalen Haushaltskrise. In Duisburg haben sich seit 1975 die Ausgaben für soziale Leistungen von 108,9 Millionen DM zu 348,4 Millionen DM in 2001 im Kommunalhaushalt mehr als verdreifacht, während im gleichen Zeitraum das Gewerbesteueraufkommen nahezu stagnierte (Stadt Duisburg o.J.). 1975 nahm die Stadt rund 200 Millionen DM netto durch Gewerbesteuer ein; im Jahr 2001 lag der Betrag bei rund 201 Millionen DM netto (Stadt Duis burg o.J.). Auch die Einkommenssteuer ist aufgrund der Einwohnerverluste zwischen 1975 und 2001 nur um etwas mehr als 100 Millionen DM angestiegen. 30
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Mit Ausnahme der Jahre 1988 bis 1992 ist es der deutsche Bevölkerungsanteil, der abnimmt, während der Anteil der ausländischen Bevölkerung weiter zunimmt. Seit 1996 hat sich jedoch auch das verändert: Auch bei den Ausländern ist ein Rückgang der Zahl der Einwohner zu be obachten (Stadt Duisburg 2003: 5). Durch die Umstellung der Sozialhilfestatistik sind die Zahlen nach 1994 nicht direkt mit den Zahlen davor zu vergleichen, weil die Statistik ab 1995 keine Asylbewerber und Empfanger von Hilfen in besonderen Lebenslagen enthält. Nach dieser Umstellung sanken die Zahlen na türlich ab, weil nur noch die Empfänger von laufender Hilfe zum Lebensunterhalt berücksich tigt wurden.
Obwohl sich die Schlüsselzuweisungen des Landes gleichzeitig mehr als ver fünffacht haben, klafft eine weite Lücke zwischen den städtischen Einnahmen und den Ausgaben. Duisburg hat, nur unterbrochen durch das Jahr 1992, seit 1975 keinen ausgeglichenen Haushalt mehr, wobei sich die Tendenz in den letzten Jahren aufgrund der gewaltigen Schuldendienste noch weiter verschärft hat (Stadt Duisburg 2004: 23). Wie schlecht die finanzielle Situation der Stadt Duisburg ist, wird auch an einer Untersuchung aus dem Jahr 1997 deutlich, die zeigte, dass es nicht ausrei chen würde, alle freiwilligen Leistungen der Stadt zu streichen, um den Haus haltsausgleich zu erreichen. Die finanziellen Mittel sind längst nicht mehr aus reichend, um allein die gesetzlich vorgeschriebenen, das heißt die Pflichtigen Aufgaben der Stadt Duisburg zu erfüllen, ohne weitere Schulden zu machen (Stadt Duisburg 2004: 37). Da die Stadt seit Jahren keinen ausgeglichenen Haushalt mehr hat, steht Duisburg kontinuierlich unter der Kommunalaufsicht des Landes. Seit dem Jahr 1998/1999 legt die Stadt Duisburg regelmäßig einen Doppelhaushalt sowie neue Haushaltssicherungskonzepte vor - und hätte die Stadt Duisburg nicht seit 1993 begonnen, in erheblichem Umfang Vermögen zu ,versilbern', wie durch den Verkauf städtischen Grundbesitzes oder Wohnhäu sern, so wäre der Fehlbetrag im Verwaltungshaushalt noch um einiges höher. Insgesamt veräußerte die Stadt zwischen 1992 und 2003 Vermögenswerte im Volumen von rund 471 Millionen Euro (Stadt Duisburg 2004: 52). Somit ist die Masse des städtischen Vermögenshaushalts immer geringer geworden, so dass die Stadt es sich oftmals nicht leisten kann, den geforderten Eigenanteil bei vom Bund und Land geförderten Investitionsmaßnahmen zu zahlen (Stadt Duisburg 2004: 53). In Duisburg kumulieren die negativen Folgen der Schrumpfungsprozesse in den industriell geprägten ehemaligen Arbeiterquartieren (vgl. Bensch 1987; Bünnig 1983; Rommelspacher, Oelschlägel 1986). Aufgrund der Nordwande rung der Zechen und Stahlwerke gegen Ende des letzten Jahrhunderts, befinden sie sich in den nördlichen Teilen von Duisburg, aber auch unmittelbar rechts und links des Rheins. Nur die südlichen Gebiete der Stadt Duisburg haben sich seit der Industrialisierung als reine Wohngebiete, ohne die störenden Emissio32
Im Jahr 1997 sah sich die Stadt noch nicht einmal mehr in der Lage, ein Haushaltssicherungs¬ konzept zu erarbeiten, so dass die Kämrnerin der Stadt Duisburg Monika Kuban öffentlich keitswirksam einen nicht-genehmigungsfähigen Haushalt bei der Landesbehörde vorlegte. Trotz eines zwanzigjährigen Sparkurses, so ihr damaliges Statement in der ZEIT, könne die Stadt auf absehbare Zeit keinen ausgeglichenen Haushalt mehr aus eigener Kraft erreichen (DIE ZEIT 1997: 13). In Folge dessen unterlag die kommunale Haushaltswirtschaft Duisburgs einer sogenannten „vorläufigen Haushaltsführung" des Landes NRW. Das heißt, es wurden nur solche Leistungen finanziert, für die eine rechtliche Verpflichtung besteht (Stadt Duisburg 2004: 40).
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nen der Stahlindustrie, entwickelt - ein für die Städte im Ruhrgebiet recht typi sches Süd-Nord-Gefälle. So haben insbesondere in den letzten zehn Jahren die nördlichen Stadtbezirke Hamborn (Marxloh) und Meiderich-Beeck (Bruckhau sen, Obermeiderich, Laar) sowie der rechtsrheinische Stadtbezirk Mitte (Hoch feld, Dellviertel, Wanheimerort, Kaßlerfeld) überdurchschnittlich viele Einwoh ner verloren. In den letzten 10 Jahren gingen dort die Einwohnerzahlen um mehr als 10% zurück (Stadt Duisburg 2003: 9). Sie zählen damit eindeutig zu den Verlierern, da es in Duisburg auch Stadtviertel gab, die in diesem Zeitraum noch Bevölkerungszuwächse verzeichnen konnten. Die Gewinner dieser Entwicklung liegen allerdings fast ausnahmslos in den südlichen Stadtbezirken, Gerade in den besonders benachteiligten Gebieten Marxloh und Bruckhau sen, die sich in direkter Nachbarschaft des Thyssenwerkes befinden, sind die mobileren und besser ausgebildeten Mittelschichthaushalte in den letzten Jahren verstärkt abgewandert. Zum einen sind es die nach wie vor starken Umweltbe lastungen, zum anderen aber auch der durch einen jahrelangen Investitionsstau bedingte schlechte bauliche Zustand der Häuser und Wohnungen. Eine systema tische Desinvestition, die möglich war, weil mehr als 25% des gesamten Woh nungsbestandes einem Eigentümer (Thyssen) gehören. Weil insbesondere die deutschen Haushalte abwanderten, ist der Migrantenanteil in beiden Gebieten überdurchschnittlich hoch: In Marxloh liegt er bei 35%, in Bruckhausen bei 50% (Bensch 2002). Die in den Vierteln lebenden Bewohner sind in besonde rem Maße von Arbeitslosigkeit betroffen. Sowohl in Marxloh als auch in Bruckhausen betrug die Arbeitslosenquote der 18 bis 59-jährigen Erwerbsfähi gen im Jahr 2001 rund 15%. Auch die Stadtteile Laar, Kasslerfeld und Hochfeld lagen mit 15%, 16% und 17% über der gesamtstädtischen Arbeitslosenquote (Bensch 2002). Die hohe Arbeitslosenquote schlägt sich auch darin nieder, dass beispielsweise in Marxloh rund 24%, in Bruckhausen sogar 28% der Haushalte von Sozialhilfe leben. Zum Vergleich: In dem südlichen Stadtviertel Mündel heim sind es 4% (Bensch 2002). In diesen Quartieren werden auch erste Wohnungsleerstände sichtbar. Wäh rend der gesamtstädtische Leerstand in Duisburg von einem Vertreter der Stadt mit etwa 6% beziffert wird - und damit kaum über der sogenannten „Fluktuati onsreserve" liegt -, zeichnen sich gerade in den nördlichen Stadtvierteln mit einem negativen Image deutliche Probleme ab. Obwohl modernisiert, sind die Bestände oftmals nicht zu vermieten. Betroffen hiervon sind allerdings - gerade auch im Gegensatz zu ostdeutschen Städten - nicht die Genossenschaften oder die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften, sondern die privaten Industrieun-
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temehmen. Darüber hinaus sind es einzelne Objekte aus den 1950er und 1970er Jahren, in denen sich ein punktueller Wohnungsleerstand offenbart. Nicht zuletzt hat der Schrumpfungsprozess auch negative Auswirkungen auf die räumliche Struktur der Stadt Duisburg, die durch ihre historische Prä gung in besonderem Maße auf die Bedürfnisse und Anforderungen der Montan industrie zugeschnitten ist (Bünnig 1983: 115). So ist einerseits die Unterhal tung der aus heutiger Sicht überdimensionierten technischen Infrastruktur, wie der zahlreichen Brücken, Häfen und Kanäle, ein Problem für den schrumpfen den Duisburger Stadthaushalt. Andererseits ist aber auch das Brachfallen von riesigen Industriearealen eine immense Herausforderung. Aufgrund der beson ders flächenextensiven Produktion von Stahl sind diese Industrieflächen enorm groß. Flächen, wie die des ehemaligen Krupp-Werkes Rheinhausen, das mit 265ha die Größe des eigentlichen Duisburger Stadtzentrums überschreitet, sind keine Seltenheit. Anders als zu erwarten, haben der starke Arbeitsplatzabbau und die Betriebsschließungen nicht dazu geführt, dass Gewerbeflächen und industrielle Brachflächen freigemacht wurden (Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1988: 17). Gezielte Bodenaufkäufe der Montankonzerne seit der Jahrhundertwende hatten zur Folge, dass sich 1980 rund 2/3 aller Industrieflächen in der Stadt in den Händen der Stahlkonzerne befanden, während sich keine einzige Industriefläche Ende der 1980er Jahre in städtischem Besitz befand (Stadt Duis burg/Niederrheinische Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1988: 54). Die Wiedernutzung ist sehr kostspielig, weil die Flächen stark kontaminiert sind. 33
4.1.4 Lokale Besonderheiten: Konkurrenz und Kooperation Die soziale, demographische und ökonomische Entwicklung Duisburgs war eng mit dem Aufstieg und Niedergang der Stahlindustrie verbunden. Die Prägekraft montanindustrieller Strukturen reichte weit über den betrieblichen und wirt schaftlichen Zusammenhang hinaus: In Duisburg bildete sich nach dem zweiten Ein spektakulärer Fall sind die sogenannten „weißen Riesen", eine Wohnhochhausanlage aus den 1970er Jahren, in Duisburg-Hochheide. Aufgrund der Belegungsrechte der Kommune wurden in das Ensemble sozialschwache Mieter eingewiesen. Vermietungsschwierigkeiten führten dazu, dass notwendige Instandhaltungs- und Modernisierungsarbeiten unterblieben und die Anlage von der städtischen Wohnungsbaugesellschaft an einen institutionellen Inves tor weiterverkauft wurde, der auch nicht investierte. Von den anfänglich 320 vermieteten Wohneinheiten waren später nur noch 20 belegt. Mittlerweile ist die Anlage mittlerweile auf Kosten der Stadt aus Sicherheitsmängeln geräumt (Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) vom 19.06.2003).
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Weltkrieg, wie in allen anderen großen Ruhrgebietsstädten, eine enge Verflech tung zwischen Kommune, Gewerkschaften und Stahlunternehmen heraus (vgl. Bovermann/Goch/Priamus 1996; Bünnig 1983; Faulenbach 2001; Friedrichs 1990; GEWOS Institut für Stadt- Regional- und Wohnforschung GmbH 1989; Goch 2002). Der Einfluss der großen örtlichen Montanbetriebe auf die (Stadtentwicklungs-) Politik erfolgte nicht nur über die Unternehmens- und Betriebs leitungen, sondern zugleich über die Gewerkschaften und die Betriebsräte, die in der Kommunalpolitik aktiv waren (Faulenbach 2001: 285). Viele lokale Ak teure nahmen als sogenannte „Multifunktionäre" verschiedene Mitgliedschaften wahr, weil sie nicht nur aktiv in den Unternehmen und den Gewerkschaften mitarbeiteten, sondern gleichzeitig eine bedeutende Rolle in der Kommunalpoli tik spielten (Gissendanner 2004: 55; Goch 2002: 226f). Ein Akteur, der bereits in den 1970er Jahren in Duisburg beschäftigt war, erinnert sich: „Das, was Thyssen in den 1980er Jahren hier in der Stadt geplant hat, ist natürlich auch im Rat vermittelt worden. Also, die Personalratsvorsitzenden von Thyssen saßen natürlich im Rat der Stadt" (D 12/03/V). Stabilisiert wurden diese lokalen Ar rangements durch die Sozialdemokratische Partei in Duisburg, der es gelang, zwischen 1964 und 1994 durchgehend die absolute Mehrheit bei den Kommu nalwahlen zu erringen. Erst in den Kommunalwahlen von 1999 verschoben sich die politischen Mehrheiten (siehe Tabelle 3). Tabelle 3: Wahlergebnisse in den Kommunalwahlen in Duisburg von 1964¬ 1999 (in%) SPD 1964 57,2 1975 59,9 1984 57,8 1989 61,8 1994 58,5 45,3 1999 Quelle: Stadt Duisburg
CDU 35,2 33,3 30,1 26,3 28,7 41,5 o.J.
FDP 4,9 5,8 2,7 3,4 1,7 2,6
Grüne
PDS
-
-
-
-
8,6 7,7 8,7 6,0
4,2
Sonstige 2,7 1,1 0,9 0,5 2,4 0,3
Eine weitere Besonderheit stellt die wechselseitige Konkurrenz und Abhängig keit der Städte im Ruhrgebiet dar. Beim Ruhrgebiet handelt es sich zwar weder um eine historische noch eine geographische Einheit, da seine Grenzen Ergebnis der industriellen Entwicklung waren, die sich im Zeitverlauf wandelten (Petzina 1993: 248). Dennoch stehen die Städte im Ruhrgebiet allein aufgrund ihrer engen räumlichen Nähe seit mehreren Jahrzehnten in einer wechselseitigen Abhängigkeit. Infolge einer gemeinsamen Entstehungsgeschichte und ähnlicher 92
Problemlagen besteht eine starke interkommunale Konkurrenz zwischen den einzelnen Ruhrgebietsstädten um Einwohner, Konsumenten und Unternehmen. Die wechselseitige Abhängigkeit schlägt sich aber auch in einem ausgeprägten „Zwang zur Kooperation" nieder: Auf der regionalen Ebene existieren zahlrei che Formen und Einrichtungen: der Kommunalverband Ruhrgebiet (KVR), der für seine 15 Mitgliedskörperschaften überörtliche Funktionen in der Freiraumsi cherung und Erholungsplanung übernimmt, die kommunalen Landschaftsver bände Rheinland und Westfalen-Lippe, die Emschergenossenschaft und der Lippeverband für die Abwasserbeseitigung oder das Projekt Ruhr GmbH, das als Landestochter übergreifende Entwicklungskonzepte für das Ruhrgebiet erar beiten soll - um nur einige wenige zu nennen (Bundesministerium für Bildung und Forschung/Fakultät für Raumplanung der Universität Dortmund 2000: 6). Die „Inszenierung" regionaler bzw. städtischer Kooperation bildete auch einen Kernpunkt der strukturpolitischen Interventionen des Landes NordrheinWestfalen, die Mitte der 1980er Jahre unter dem Eindruck der sich verschärfen den regionalen Strukturkrise mit der „Zukunftsinitiative Montanregion" (ZIM) gestartet und mit der „Zukunftsinitiative Nordrhein-Westfalen" (ZIN) weiterge führt wurde (vgl. u.a. Goch 2002; Heinze 1994; Hesse/Benz/Benz/Backhaus¬ Maul 1991; Potratz 2000). Sie stellten eine Neuerung in der Stmkturpolitik des Landes dar, weil sie im Gegensatz zu den Ende der 1960er, Anfang der 1970er Jahre aufgelegten Programmen - wie dem Entwicklungsprogramm Ruhr oder dem Nordrhein-Westfalen-Programm - nicht den Charakter umfassender, von der Landesregierung entwickelter und implementierter Modernisierungspro gramme hatten: Vielmehr sollten sie Anreize für Innovationsprozesse setzen, die dann dezentral und unter maßgeblicher Beteiligung von staatlichen und nicht staatlichen Akteuren ablaufen sollten (Wissen 2001: 3). Fördermittel des Landes konnten für bestimmte Projekte in einzelnen, von der Landesregierung festge legten Handlungsfeldern beantragt werden, wobei sich die Antragssteller nicht an feste Vorgaben halten mussten (Goch 2002: 425f). Voraussetzung für die Bewilligung der Fördermittel war jedoch, dass sich regionale und städtische Akteure auf gemeinsame Projekte einigten. Weil es sowohl im ZIM als auch im ZIN Programm um Kooperation und Koordination ging, wurden Anfang der 1990er Jahre zahlreiche Regionalkonferenzen eingerichtet (Goch 2002: 438). Duisburg arbeitet seit 1991 mit den für das Ruhrgebiet eher untypischen Kreisen Wesel und Kleve in der Region „Niederrhein" zusammen. In eine ähnliche Richtung wies auch die von der Landesregierung initiierte „Internationale Bauausstellung Emscher Park" (1989-1999) (vgl. Kreibich/ Sclrmid/Siebel/Sieverts/Zlonicky 1994). Sie zielte darauf, Impulse für eine öko logische, ökonomische und soziale Erneuerung in die von der Schwerindustrie stark belastete Emscherregion zu geben (Internationale Bauausstellung Emscher 93
Park 1998: 21). In Duisburg wurden zwei Projekte realisiert (siehe ausführlicher Abschnitt 5.1.1). Zusammengefasst wurden die für Duisburg besonders wichtigen Förder mittel aus der „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschafts struktur" (GA), die der Stadt zuerst im Rahmen zahlreicher Sonderprogramme (StaUstandortprogramm/Montanregionenprogramm) zu Gute kamen (vgl. Stadt Duisburg 1996; Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrie- und Handelskam mer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1990, 1993). Ab Anfang der 1990er Jahre wurde Duisburg, trotz der Neuabgrenzung und Verkleinerung von Fördergebietskulissen und Gemeinschaftsaufgaben nach der Vereinigung, zu einem Normalfördergebiet. Die Stadt ist bis heute mit dem gesamten Stadtgebiet För derregion. Die Gemeinschaftsaufgabe stellt nach wie vor eines der wichtigsten Fördermittel dar, neben den Strukturfonds der EU. Im Rahmen der europäischen Strukturfonds sind es vor allem die Mittel aus dem Fond „Europäischer Fonds für Regionale Entwicklung" (EFRE), mit denen die Stadt Duisburg operieren kann (vgl. Regitz 2000a, 2000b). Als ausgewiesenes Ziel 2 Gebiet kann Duis burg, zumindest noch bis 2006, darauf zurückgreifen. Zusätzlich konnte Duis burg an den Gemeinschaftsinitiativen wie URBAN und LNTERREG III partizi pieren. Darüber hinaus standen bzw. stehen der Stadt Duisburg im Rahmen der Städtebauförderung finanzielle Mittel zur Verfügung, so auch aus dem BundLänder Programm „Soziale Stadt. Stadtteile mit besonderem Erneuerungsbe darf' und aus EU-Mitteln. 34
4.1.5 Prognosen Die Stadt Duisburg ist seit Mitte der 1970er Jahre durch einen kontinuierlichen Schrumpfungsprozess gekennzeichnet: Eine Erosion der ökonomischen und demographischen Basis der Stadt, die ebenfalls weitreichende soziale, räumliche und fiskalische Implikationen hat. Worauf werden sich die lokalen Akteure in Duisburg in den nächsten Jahren einzustellen haben? Zur weiteren ökonomischen Entwicklung, also zur Zahl der Arbeitsplätze, sind derzeit keine Prognosen für Duisburg verfügbar. Die Ende der 1980er Jahre erstellten Berechnungen zur Arbeitsplatzentwicklung haben sich längst überholt, weil der Rückgang der Beschäftigten in der Stahlindustrie viel stärker ausgefal len ist, als ursprünglich angenommen wurde. Obwohl Duisburg seit 2001 die Insgesamt flössen zwischen 1989 und 1999 über EU-Strukturfonds circa 3,6 Milliarden Euro nach NRW, wobei der Schwerpunkt gerade bis 1999 in NRW auf dem Ausbau und der Mo dernisierung der Infrastruktur lag (Ministerium für Wirtschaft und Arbeit des Landes Nord rhein-Westfalen 2003: 6,8).
94
einzige Stadt im Ruhrgebiet ist, in der überhaupt noch Hochöfen und Stahlwer ke betrieben werden - so bei der ThyssenKrupp Stahl AG mit dem Werkskom plex Schwelgern, Bruckhausen, Beeckerwerth, dem weltweit größten Stahlun¬ ternehmen ISP AT in Ruhrort und Hochfeld sowie in der Metallhütte DuisburgWanheim - werden weitere Arbeitsplätze abgebaut, weil die Rationalisierungs und Umstmlctoierungsmaßnahmen in den Duisburger Unternehmen noch nicht abgeschlossen sind. Das letzte Jahrzehnt hat zudem gezeigt, dass die in der Stahlindustrie weg gefallenen Arbeitsplätze nicht durch andere Beschäftigungsmöglichkeiten er setzt werden. Weder der Dienstleistungssektor, noch der neu aufgebaute Logis tikbereich können die verlorenen industriellen Arbeitsplätze kompensieren. Duisburgs Abhängigkeit von den Großbetrieben der Eisen- und Stahlindustrie ist in den letzten Jahren zwar geringer geworden. Weil es in Duisburg aber nach wie vor einen sehr geringen Besatz an kleineren oder mittleren Unternehmen gibt, sind die Beschäftigtenzahlen bei Thyssen-Krupp oder ISP AT immer noch entscheidende Parameter auf dem städtischen Arbeitsmarkt (Stadt Duisburg 1999b). Für die Bevölkerungsentwicklung liegen mittlerweile Vorausberechnungen vor. Sie weisen darauf hin, dass der Bevölkerungsverlust in Duisburg weiterge hen wird. So prognostizierte bereits 1999 das Landesamt für Datenverarbeitung und Statistik Nordrhein-Westfalen eine deutlich schrumpfende Bevölkerungsba sis für die Stadt Duisburg. In der Basisvariante erwartete man für 2005 511.300 Einwohner, für 2010 einen weiteren Rückgang der Einwohnerzahl auf unter 500.000 und für das Jahr 2015 nur noch 489.700. Die Realität des städtischen Bevölkerungsverlustes holte die Prognose schon nach zwei Jahren ein. Bereits im Jahr 2001 hatte Duisburg nur noch 510.378 Einwohner, so dass die für 2005 ursprünglich angenommene Bevölkerungszahl schon vier Jahre früher erreicht war (Stadt Duisburg 2003: 47ff). Die daraufhin von der Stadt im Jahr 2001 durchgeführte Bevölkerungsprognose korrigierte diese Prognose nach unten. Erwartet wurde hier, dass die Stadt 2015 nur noch über 467.700 Einwohner verfugen würde. Ausschlaggebend waren die hohen Wanderungsverluste, die sich in den Jahren 1997 (-2.999), 1998 (-4.604), 1999 (-2.658) und 2000 (-3.490) in Duisburg anhäuften. Die neueste Bevölkerungsprognose (2003) der Stadtverwaltung in Duis burg geht inzwischen jedoch wieder von einer etwas positiveren Entwicklung aus, da sich die Abwanderungsraten nach 2000 reduzierten (2001: -1.723; 2002: -1.922). Hiermit gingen auch die jährlichen Bevölkerungsverluste von durch schnittlich 5.000 Einwohnern in den Jahren 1997-2000 auf rund 3.000 zwischen 2001 und 2002 zurück (Stadt Duisburg 2003: 49). Prognostiziert wird, dass Duisburg im Jahr 2010 noch 493.400 Einwohner hat und die Einwohnerzahl im 95
Jahr 2015 auf etwa 487.400 gesunken sein wird (Stadt Duisburg 2003: 50). Basisannahme dieser Prognose ist, dass nicht mehr als 2000 Einwohner pro Jahr aus der Stadt mehr abwandern als hinzuziehen. Das hieße jedoch, dass die Wan derungsverluste an die geringeren Werte der Jahre 2000 und 2001 anschließen. Sollte der Wanderungssaldo höher ausfallen, ist eine Reduzierung der Duisbur ger Einwohner auf die von der Prognose 2001 erwarteten 467.700 wahrschein lich (siehe Tabelle 4). Tabelle 4: Prognosen der Einwohner mit Hauptwohnsitz in Duisburg 2005¬ 2015 Jahr
2005
2010
2015
Prognose 2001 (hohe Wanderungsverluste)
Keine Da ten
Keine Daten
467.700
Prognose 2003 (geringe Wanderungsverluste)
501.500
493.400
487.400
Quelle: Stadt Duisburg 2003: 50 Duisburg wird also selbst in der optimistischeren, von geringeren Wanderungs verlusten ausgehenden Prognose von 2003 bis 2015 voraussichtlich noch einmal rund 20.000 Einwohner verlieren. Legt man jedoch die Prognose von 2001 mit höheren Wanderungsverlusten zu Grunde, könnte der Bevölkerungsrückgang bis 2015 sogar rund 40.000 Einwohner betragen. Sicher erscheint jedoch, dass die Stadt Duisburg ab 2006 weniger als 500.000 Einwohner haben und damit ihren Großstadtstatus verlieren wird. Die soziale, ökonomische und demographische Entwicklung der Stadt Duisburg war, so ließe sich das Profil zusammenfassen, intrinsisch mit dem Aufstieg und Niedergang der Montanindustrie verbunden. Während Eisen und Stahl insbesondere nach dem zweiten Weltkrieg der Stadt ein stetiges Wirt¬ schafts- und Bevölkerungswachstum garantierten, führte die Mitte der 1970er beginnende Strukturkrise dieser Industrien zu einem weitreichenden Schrumpfungsprozess in Duisburg. Seitdem verliert die Stadt kontinuierlich an Einwoh nern und Arbeitsplätzen, wobei auch die verfügbaren Prognosen nicht darauf hindeuten, dass sich diese Schrumpfungsprozesse kurz- oder mittelfristig um kehren werden. Auch Leipzig ist eine schrumpfende Stadt, doch während Duis burg mit den Erbschaften einer ökonomischen Monostruktur zu kämpfen hat, sind es in Leipzig die Folgen der Vereinigung, die zu anhaltenden Arbeitsplatzund Einwohnerverlusten führen. 96
4.2 Leipzig: Die schrumpfende „Boomtown" im Osten „Wahrhaftig, Du hast recht! Mein Leipzig lob' ich mir! Es ist ein klein Paris und bildet seine Leute" (Goethe 1996: 70).
Goethe war nicht frei von Ironie als er die berühmte Lobpreisung Leipzigs in Auerbachs Keller weder Faust noch Mephistopheles in den Mund legte, sondern einem studentischen Trunkenbold namens Frosch. Denn er selbst mochte die Stadt nicht, war nur auf Befehl des Vaters zum Jurastudium nach Leipzig gezo gen - und nutzte eine Erkrankung, um Leipzig nach weniger als zwei Jahren wieder zu verlassen. Auch wenn sich der Dichter und Denker eher abschätzig über Leipzig äußerte: Bereits zu seiner Studienzeit verfügte die Stadt über eine lange Tradition als Universitäts-, Messe- und Handelsstandort. Leipzig nahm im 15. und 16. Jahrhundert wichtige überregionale Funktionen wahr, begünstigt durch ihre Lage an der Kreuzung zweier bedeutender Handelsstraßen sowie des kaiserlichen Messeprivileges (vgl. Bergfeld 2002; Grimm 1995; Rink 1995). Mit der Industrialisierung erlebte die Stadt Leipzig einen ungeheuren wirt schaftlichen und demographischen Wachstumsprozess, der die soziale und räumliche Struktur vollständig veränderte. Eine schier ungebrochene Prosperi tät, die ihren Ausdruck darin fand, dass sich Leipzig zu Beginn der 1930er Jahre mit seinen über 700.000 Einwohnern zur fünftgrößten Stadt Deutschlands ent wickelt hatte. Doch mit der Wiedereinführung der Marktwirtschaft nach 1990, der Privatisierung der staatseigenen Betriebe und der Liberalisierung der Märkte brach die industrielle Basis in Leipzig innerhalb weniger Jahre zusammen. Schlechte Erwerbschancen, Geburtenrückgänge und aufgestaute Wohnwünsche ließen die demographische Basis der Stadt nach der Vereinigung erodieren: Leipzig ist eine schrumpfende Stadt.
4.2.1 Industrialisierung und Stadtwachstum Zu einer sächsischen Industrie- und Dienstleistungsmetropole stieg die kleine Handels-, Handwerks- und Messestadt Mitte des 19. Jahrhunderts auf: Die tradi tionell in der Stadt ansässigen Wirtschaftszweige, Handel, Messe und Hand werk, begünstigten die Ansiedlung der Industrie. Es siedelten sich deshalb zu nächst solche Gewerbezweige an, die eng mit dem Handels- und Messeprofil der Stadt verbunden waren, wie das polygraphische Gewerbe oder die Textilerzeugung (Grimm 1995: 323; Rink 1995: 58). Erste Manufakturen entstanden, die sich auf den traditionellen Standorten innerhalb der Stadtgrenzen niederlie-
97
ßen (Doehler/Usbeck 1996: 690). Mit der Ansiedlung großer Industrien des Maschinenbaus und der Metallwaren bildete sich erst Ende des 19. Jahrhunderts das für Leipzig typische Produktionsprofil heraus (Rink 1995: 58): Mit Stand ortanforderungen, die innerhalb der bestehenden mittelalterlichen Stadtgrenzen nicht mehr befriedigt werden konnten. Die Industrieansiedlungen wichen, vor nehmlich entlang der Eisenbahntrasse, auf die Vororte von Leipzig aus (Doehler/Usbeck 1996: 690). Industrie und Eisenbahnbau waren jedoch nur ein Grund des städtischen Wachstums, hinzu trat die Ausweitung der Verwaltungs-, Dienstleistungs- und Handelsfunktionen: Leipzig stellte den Typus der „offenen Bürgerstadt" dar, in der die Grundsätze der industriellen Gesellschaftsordnung zwar zunehmend die Lebens- und Arbeitsbedingungen bestimmten, ihre Durchsetzung erfolgte je doch unter Aufnahme und Erweiterung von zum Teil vorindustriellen städti schen Lebens- und Wirtschaftsformen (Reulecke 1985: 43). Ende des 19. Jahr hunderts beruhte die wirtschaftliche Basis der Stadt noch auf ihren traditionellen Funktionen als Handels- und Messestadt, wenngleich auch hier entscheidende Modernisierungen stattfanden (Rink 1995: 59). Der wirtschaftliche Auf schwung in der Industrialisierung führte zu einem rapiden Bevölkerungswachs tum. Zwischen 1850 und 1910 wuchs die Stadt Leipzig mit den 1889 erfolgten zahlreichen Eingemeindungen (u. a. Neuschönefeld, Volkmarsdorf, Gohlis, Eutritzsch, Schleussig, Plagwitz, Lindenau, Connewitz) von 63.824 auf 465.156 Einwohner an (Stadt Leipzig 1999a: 23). Das wirtschaftliche und demographische Wachstum dauerte nach dem Ers ten Weltkrieg weiter an. Durch Braunkohlevorkommen wurde Leipzig zu einem Zentrum der modernen Großchemie, die sich in Leuna und Buna, Bitterfeld und Wolfen sowie in Böhlen und Espenhain ansiedelte (Grimm 1995: 323). Die Entwicklung der Stadt Leipzig war zunehmend durch ihre Funktion als Verwal35
36
Gerade die westlich der Stadt gelegenen Vororte machten ab Ende des 19. Jahrhunderts eine rasante Entwicklung zu modernen Industriestandorten durch (Bergfeld 2002: 59). Herausra gendes Beispiel hierfür ist der Leipziger Stadtteil Plagwitz, der ab Mitte des 19. Jahrhunderts von dem Unternehmer und Stadtverordneten Karl Heine als Industriequartier planmäßig ent wickelt und erschlossen wurde - und was sich bis Ende des 19. Jahrhunderts zu einem der größten und bedeutendsten Industriestandorte in Europa entwickelt hatte (Bergfeld 2002: 61). So etablierte die Stadt Leipzig 1895 ein neues Messekonzept, die Mustermesse, mit der die Krise der traditionellen Verkaufsmessen überwunden werden konnte. Gerade im Zuge der Re organisation der Messeaktivitäten wurden in der Leipziger Innenstadt gewaltige Bauprojekte realisiert. Zahlreiche Barock- und Renaissancegebäude mussten den neu entstehenden Messe palästen weichen. Darüber hinaus entwickelte sich Leipzig mit dem Bau des größten Haupt bahnhofs Europas, der 1915 eröffnet wurde, zu einem überregionalen Verkehrsknotenpunkt. Mit der Ansiedlung des Reichsgerichts und der nationalen Bibliothek konnte Leipzig auch wichtige administrative Funktionen an sich binden. Gleichzeitig entwickelte sich die Stadt zu einem bedeutenden Zentrum des Verlags- und Druckwesens.
98
tungs- und Dienstleistungszentrum der Industrieregion geprägt. Gerade in den 1930er Jahren konnte die Stadt Leipzig ihre Position in der Städtehierarchie Deutschlands enorm ausbauen: sie entwickelte sich zur fünftgrößten Stadt in Deutschland, nach Berlin und Hamburg, München und Köln (Grimm 1995: 324). Den absoluten Höchststand der Bevölkerungszahl erreichte Leipzig mit 713.000 Einwohnern im Jahr 1933 (Stadt Leipzig 1999a). Nationalsozialistische „Arisierung" und Kriegswirtschaft setzten die bereits mit der Weltwirtschaftskrise einsetzende Schwächung traditioneller Branchen und des Kleingewerbes in der Stadt fort (Rink 1995: 63). So wurde die Braun kohle- und Chemieindustrie in der Region weiter ausgebaut, gleichzeitig ent stand eine militärische Luftfahrtindustrie. Beides Zweige, die Leipzig zu einem wichtigen Ziel alliierter Bombenangriffe machte. Obwohl die Stadt Leipzig starke Schäden bei Kriegsende zu beklagen hatte - so waren beispielsweise die Hälfte der Industrie- und Produktionsanlagen unbrauchbar, die Messehäuser und Teile der historische Innenstadt beschädigt - hielten sich die flächendeckenden Zerstörungen in Grenzen: Die historische Bausubstanz der Stadt war weitgehend erhalten geblieben (Huth/Kirste/Oehme 1990: 274; Kabisch 1994: 101; LütkeDaldrup 1999: 9). Dessen ungeachtet waren die Einwohnerzahlen in Folge des Krieges um 130.000 gesunken: 1945 zählte die Stadt nur noch 584.000 Einwoh ner (Stadt Leipzig 1999a).
4.2.2 Sozialismus und beginnende Schrumpfung Wie der gesamte sächsische Ballungsraum gehörte Leipzig zu den Verlierern der zentral gelenkten Ressourcenzuweisung in der DDR (Gornig/Häußermann 1998: 345; Grundmann 1991: 120; Schmidt 1994a: 3). Die neuen Industrien und die dazu gehörigen neuen Wohnsiedlungen wurden von der DDR bevorzugt in den ländlich geprägten Gebieten des Nordens angesiedelt. Der altindustrialisier te Süden war hierbei benachteiligt. Investitionen in die bestehenden Produkti onsanlagen unterblieben weitgehend. Die traditionellen Industriestandorte in Sachsen blieben in Struktur und Substanz weitgehend auf dem Niveau der 1930er Jahre (Schmidt 1994a: 4). Stattdessen konzentrierten sich die staatlichen Investitionen auf den weiteren Ausbau des Braunkohle- und Chemiekomplexes in der Region Halle, Bitterfeld und Leipzig (Doehler/Usbeck 1996: 691; Rink 1995: 66). Die aus heutiger Perspektive wenig zukunftsträchtigen Industrien wie der Bergbau oder die chemische Industrie wurden gestärkt (Friedrichs/Küppers 1997: 30).
99
Gleichzeitig verlor Leipzig auch viele tragende Unternehmen durch Ab wanderung und büßte wichtige administrative Funktionen ein. Erst als DDRBezirksstadt konnte Leipzig ab Mitte der 1950er Jahre einen gewissen Zuge winn an administrativen Funktionen verbuchen (Rink 1995: 65). Die Leipziger Messe, die in den vierziger und fünfziger Jahren wieder an Bedeutung gewann, stagnierte mit der Abschottung des sozialistischen Wirtschaftsraums und dem Verlust der Westmärkte Anfang der 1960er Jahre deutlich (Huth/Kirste/Oehme 1990: 310). Zusammen mit der Zentralisierung der städtischen Industrie durch Kombinatsbildung wurden die kleineren und mittleren Betriebe in der Stadt weiter geschwächt, die wirtschaftliche Basis der Stadt ausgedünnt (Sohl 1990: 317). Auch die Wohn- und Lebensbedingungen verschlechterten sich zusehends. Die veralteten, innerstädtischen Produktionsanlagen wurden weiter verschlissen und nicht modernisiert, so dass die Umweltbelastungen in den angrenzenden Stadtvierteln anwuchsen. Zusammen mit den Emissionen der chemischen Groß industrie in urimittelbarer Umgebung der Stadt wie Espenhain und Böhlen im Süden, Leuna und Buna im Westen entwickelte sich der Raum Leipzig zu einem der Smog gefährdeten Gebiete in der DDR (Bergfeld 2002: 109). Ein giganti sches Ausmaß an Umweltschäden, die durch den immer näher an die Stadt her anrückenden Braunkohletagebau im Süden Leipzigs verstärkt wurden. Gleichzeitig verfielen weite Teile der für Leipzig charakteristischen grün derzeitlichen Altbausubstanz, ganze Viertel wurden bis zur Abrissreife herun tergewirtschaftet (Lütke-Daldrup 1999: 9; Sohl 1990: 319). Auch Aktionen wie „Dächer dicht!", die Mitte der 1980er Jahre gestartet wurden, konnten daran nichts ändern. Sie wurden durch mangelnde Planung und Ressourcen behindert (Sohl 1990: 320). Aus Ressourcenmangel konnten auch die avisierten großflä chigen Abrisse von circa 53.000 Wohnungen in den gründerzeitlichen Altbau gebieten glücklicherweise nicht realisiert werden (Kabisch 1994: 101). Ende der 1980er Jahre standen bereits 25.000 Wohneinheiten aufgrund von Unbewohn¬ barkeit leer (Stadt Leipzig 2002e: 4). Die Anstrengungen der DDR im Wohnungsbau konzentrierten sich ab Mit te der 1960er Jahre auf die Errichtung neuer Wohngebäude in industrieller Blockbauweise, die zunächst in den innerstädtischen Lagen wie Möckern, Goh lis und der Südvorstadt realisiert wurden (Stadt Leipzig 2002c: 12). Mit der im März 1975 erfolgten Grundsteinlegung für das drittgrößte Wohngebiet der DDR, Grünau, am westlichen Stadtrand von Leipzig, entstand ein neuer Stadt teil für mehr als 100.000 Einwohner. Der Schwerpunkt der Wohnungsbauinves titionen verlagerte sich endgültig auf die Stadterweiterung (Sohl 1990: 320). Viele Haushalte verließen die maroden innerstädtischen Altbauviertel und zogen in die neuen Wohngebiete am Stadtrand, die mit einem hohen Wohnkomfort 100
lockten. Die Einwohnerzahl im Bezirk Mitte sank zwischen 1971 und 1987 um fast 1/3 ab (Doehler/Usbeck 1996: 691). Schlechte Wohn- und Lebensbedingungen waren in allen Städten der DDR zu beobachten. Leipzig erschien jedoch mit seinen flächendeckend verfallenen Altbauquartieren und den hohen Umweltbelastungen als Extremfall (Doehler/Usbeck 1996: 263). Insofern verwundert es nicht, dass Leipzig ab Mitte der 1960er Jahre zur einzigen Großstadt in der DDR avancierte, die einen permanenten Einwohnerrückgang zu verzeichnen hatte (Rink 1995: 68) (siehe Tabelle 5). Die Stadt wurde zu einem bevorzugten Abwanderungsgebiet, wel ches insbesondere von Akademikern und Fachleuten entweder gen Norden oder gen Westen verlassen wurde. Insbesondere Ende der 1980er Jahre hatte die Stadt eine Flut von Ausreisewilligen zu verzeichnen. Während Tausende Leip ziger ab Sommer 1989 der Stadt und dem Staat durch Grenzübertritte den Rü cken kehrten, forderten Hunderttausende Leipziger durch die friedlichen Mon tagsdemonstrationen die Staatsmacht erfolgreich heraus. Tabelle 5: Bevölkerungsentwicklung Leipzig 1945-1990 1945 1970 1960 584.593 589.632 583.885 Quelle: Stadt Leipzig 1999a: 23
1980 562.480
1989 530.010
1990 511.079
Nach der Vereinigung gab es die Hoffnung, dass es sich bei den negativen Ent wicklungstrends zu DDR-Zeiten nur um eine kurzfristige Unterbrechung eines langfristigen Wachstumsprozesses von Leipzig handeln würde. Auch in der Stadt- und Regionalforschung wurden der Stadt Leipzig, gerade im Gegensatz zu anderen Städten in Ostdeutschland, relativ gute Entwicklungschancen in der Transformation vom ,Plan zum Markt' eingeräumt (vgl. Bundesforschungsan stalt für Landeskunde und Raumordnung 1993; Henckel/Grabow/Hollbach 1993; Usbeck 1996). Die 1990 auf der ersten Volksbaukonferenz gestellte Fra ge: „Ist Leipzig noch zu retten?", schien mit der Vereinigung positiv beantwor tet werden zu können. Getragen von massiven Steueranreizen und staatlichen Transfers erlebte die Stadt tatsächlich einen explosionsartigen Bauboom nach 1990. Weite Teile der historischen Innenstadt und der gründerzeitlichen Altbau gebiete wurden saniert, die städtische Infrastruktur modernisiert, neue Büro- und Wohnimmobilien errichtet, kahle Baulücken geschlossen. Die Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste setzten sich nach der Vereinigung in Leipzig jedoch fort. Sie gewannen sogar noch an Dynamik.
101
4.2.3 Postsozialistische Transformation und Schrumpfung Mit der Wirtschafts- und Währungsunion brachen die Absatzmärkte der Leipzi ger Industrie mehr oder weniger über Nacht zusammen (vgl. zu Sachsen insge samt Scholz 1994: 10). Die schnelle Einführung der D-Mark erwies sich für die Leipziger Industrie als besonders problematisch, weil sie zu DDR-Zeiten stark auf den Export ausgerichtet war (Rink 1995: 77f). Die Ausfuhr in die RGWLänder kam jedoch aufgrund der geänderten Wechselkurse fast vollständig zum Erliegen, die in der Konsumgüterindustrie hergestellten Produkte erwiesen sich durch die hohen Preise als kaum wettbewerbsfähig. So verzeichneten alle In dustriebereiche der Stadt nach der Vereinigung einen deutlichen Beschäftigten rückgang, besonders stark war der Arbeitsplatzabbau jedoch in der traditionellen Textil- und Bekleidungsindustrie sowie im Maschinenbau (Industrie- und Han delskammer Leipzig 2002: 4). Nur in der Braunkohle- und Chemieindustrie in der Region Halle, Leipzig und Bitterfeld verhinderten massive staatliche Inter ventionen einen flächendeckenden Beschäftigtenabbau (Doehler/Usbeck 1996: 692). Der mit der Vereinigung erfolgte abrupte und dramatische Bedeutungsver lust der Industrie wirkte sich verheerend aus: Alleine in den ersten vier Jahren nach der Vereinigung ging die Zahl der im produzierenden Gewerbe beschäftig ten Personen um circa 50% zurück (Friedrichs/Küppers 1997: 38). Leipzig hatte die größten Arbeitsplatzverluste in der Industrieregion Sachsen (Schmidt 1994b: 11). Abgesehen von Porsche, BMW und Siemens sind Industrieneuansiedlungen die Ausnahme geblieben. Leipzig steht beim Industriebesatz heute deshalb nicht nur schlechter als Duisburg da, sondern liegt auch im Vergleich zu anderen sächsischen Städten wie Dresden, Chemnitz oder Zwickau an letzter Stelle (Stadt Leipzig 2000a). Leipzig musste in den ersten Jahren nach der Vereinigung sogar noch einen absoluten Rückgang der Erwerbstätigen (-5.000) im Dienstleistungssektor hin nehmen (Friedrichs/Küppers 1997: 38). Die in den großen Industriebetrieben und Kombinaten angesiedelten Arbeitsplätze in der Forschung und Entwicklung wurden abgebaut, zahlreiche Beschäftigte aus der staatlichen Verwaltung entlas sen (Doehler/Rink 1996: 267). Neu entstandene Dienstleistungsbeschäftigungen, insbesondere im Bereich Kredite und Versicherung, die nach der Vereinigung ein beträchtliches Wachstum aufwiesen, konnten diese Verluste nicht ausglei chen. Der traditionell starke Handel wies in den ersten Jahren nach der Vereini37
Der mangelnde Industriebesatz schlägt sich auch nachteilig in der Struktur der Dienstleistun gen nieder: Bislang gelang es nicht, in größerem Umfang höherwertige produktionsorientierte und Unternehmensbezogene Dienstleistungen in der Stadt anzusiedeln. Nachfrage besteht nach konsum- und personenbezogene Dienstleistungen (Stadt Leipzig 1999b: 28).
gung eine deutlich rückläufige Tendenz auf. Die meisten neuen Großhandelseinrichtungen siedelten sich auf der grünen Wiese an (Usbeck 1997: 289). Insgesamt reduzierte sich die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten von knapp 219.000 (1993) auf etwa 194.000 (2003) (Stadt Leipzig 1999a, 2004c). Gerade 2002 beschleunigte sich der Rückgang der Beschäftigten in Leipzig noch einmal: Alleine in diesem Jahr sank ihre Zahl um 7.800 (Stadt Leipzig 2004c). Diese negative Entwicklung in Leipzig macht deutlich, dass die Arbeitsplatzverluste im produzierenden und verarbeitenden Gewerbe nicht durch neue Beschäftigungsmöglichkeiten im Dienstleistungssektor kompensiert wurden. Erschwerend kommt hinzu, dass zunehmend noch Verluste aus dem Baugewerbe kompensiert werden mussten, das zu Beginn der 1990er Jahre einen starken Beschäftigtenmotor darstellte (Stadt Leipzig 1999b: 23) (siehe Abbildung 7). Abbildung 7:
Entwicklung der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten insgesamt und nach Wirtschaftszweigen in Leipzig (19972001) 38
250000
200000
.—- .
.
.
A
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*
•*
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150000
100000
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1997 — . — . Insgesamt
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1999
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2001
2002
~~~
£
2003
- 4 — Baugewerbe
—-X—- Handel, Gastgewerbe — * — Sonstige DL
Quelle: Stadt Leipzig 1997c, 1999a 3 8
Ein Vergleich mit älteren Zahlen ist nicht sinnvoll, weil 1996 die Klassifizierung der Wirtschaftszweige geändert wurde.
103
Der sich bereits zu DDR-Zeiten abzeichnende negative Trend der Einwohner entwicklung setzte sich nach der Vereinigung fort (vgl. Stadt Leipzig 2000b, 2001a; Stadt Leipzig 2002b). Zu Beginn der 1990er Jahre beruhte der Bevölke rungsverlust hauptsächlich auf einer arbeitsmarktbedingten Abwanderung nach Westdeutschland: Alleine innerhalb der ersten vier Jahre nach der Vereinigung verließen etwa 25.000 Einwohner die Stadt gen Westdeutschland (Stadt Leipzig 2000b: 21). Die Fernwanderungen schwächten sich Mitte der 1990er Jahre deut lich ab, stattdessen gewann die Suburbanisierung, also die Abwanderung der Bewohner in das nahe Umland von Leipzig, an Gewicht. Begünstigt durch ge klärte Eigentumsverhältnisse, billiges Bauland und steuerliche Vergünstigungen waren im Umland von Leipzig zahlreiche neue Wohnparks und Eigenheimsied lungen entstanden. Die Bewohner zogen den Wohnungen hinterher, so dass Leipzig zwischen 1994 und 1998 mehr als 30.000 Einwohner an das nähere Umland verlor (Stadt Leipzig 2004a: 36). Der Höhepunkt dieser Suburbanisierungswelle war im Jahr 1996 mit einem Wanderungsverlust von mehr als 11.200 Einwohnern erreicht, danach gingen die Wanderungsverluste leicht zu rück (Stadt Leipzig 2000b: 21). Zusätzlich sorgte der plötzliche Einbruch der Geburtenraten in den ersten drei Jahren nach der Vereinigung für einen deutli chen Bevölkerungsrückgang in der Stadt Leipzig. Der höchste negative Saldo zwischen Geburten und Sterbefälle war 1993 erreicht In diesem Jahr standen den 2.730 Geburten mehr als 7.100 Sterbefälle gegenüber (Stadt Leipzig 2001a: 10). Insgesamt verlor die Stadt durch Abwanderung und Geburtenrückgang in nerhalb der ersten 10 Jahre nach der Vereinigung fast 100.000 Einwohner, also knapp 18% ihrer ursprünglichen Bewohner (Stadt Leipzig 1999a). Leipzig hatte damit den bei weitem höchsten absoluten Bevölkerungsverlust einer Stadt in Ostdeutschland zu beklagen (Herfert/Röhl 2001: 152). Mit den 1998/1999 er folgten Eingemeindungen zahlreicher Orte im Umland gewann Leipzig mehr als 60.000 Einwohner hinzu, so dass sich die, auf die aktuellen Gemeindegrenzen bezogene Einwohnerentwicklung weniger brisant darstellt (siehe Abbildung 8). 39
Wenngleich die Stadt-Umland Wanderung in allen ostdeutschen Regionen nach der Vereini gung für hohe Bevölkerungsverluste in den Städten sorgte, war Leipzig die Region in Ost deutschland mit der höchsten Suburbanisierungsdynamik (Herfert/Röhl 2001: 151).
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Abbildung 8:
Bevölkerungsentwicklung Leipzig 1989-2003 (jeweiliger Gebietsstand)
Darüber hinaus gelang es der Stadt im Jahr 2002, einen leichten Zugewinn an Einwohnern zu verzeichnen: Ein Plus von knapp 1.700 Bewohnern, das auf einen positiven Wanderungssaldo zurückzuführen ist (Stadt Leipzig 2003b: 7). Es sind die Gewinne aus der Fernwanderung, die den positiven Wanderungssal do der Stadt bestimmen: Die Abwanderung nach Westdeutschland konnte durch die Zuwanderung aus anderen Regionen in Ostdeutschland sowie durch die Zuwanderung aus dem Ausland kompensiert werden (Stadt Leipzig 2003b: 12). Hierbei handelt es sich um eine Zuwanderung junger Erwachsener, die zur Aus bildung oder zum Studium nach Leipzig ziehen. Daneben ist es aber auch der positive Wanderungssaldo mit dem Leipziger Umland, der zu einem Anstieg der Leipziger Bevölkerung beigetragen hat. Die Wanderungsverluste an das Umland schwächten sich zwar bereits Ende der 1990er Jahre deutlich ab, aber erst im Jahr 2002 konnte die Stadt Leipzig einen Wanderungsgewinn von 321 Bewoh nern gegenüber dem Umland verzeichnen (Stadt Leipzig 2003b: 9).
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Die starken Einwohnerverluste, die Leipzig bis Ende der 1990er Jahre er leiden musste, schwächten sich zu Beginn des neuen Jahrtausends ab. Inzwi schen stabilisierten sich die Bewohnerzahlen und erhöhten sich sogar leicht. Auch wenn der Schrumpfungsprozess zunächst gebremst zu sein scheint: Es handelt sich um eine vorübergehende Entwicklung, langfristig wird die Zahl der Bewohner aufgrund der natürlichen Bevölkerungsentwicklung weiter absinken (vgl. ausführlicher Abschnitt 4.2.5). Zudem ist Leipzig schon deutlich »ge schrumpft' .
4.2.4 Fiskalische, soziale und räumliche Folgen Arbeitsplatzabbau und Bevölkerungsrückgang verschärften die sozialen Prob leme. Auch wenn der Arbeitsplatzverlust aufgrund spezieller arbeitsmarktpoliti scher Instrumente in Ostdeutschland in Leipzig nicht sofort wirksam wurde, schlagen sich die schlechten Erwerbschancen mittlerweile sehr deutlich in ge stiegenen Arbeitslosenzahlen nieder. Im Jahr 2002 verzeichnete die Stadt Leip zig eine Arbeitslosenquote von etwa 20% (Stadt Leipzig 2003b: 5). Sie über stieg damit nicht nur bei weitem die Quote in den westdeutschen Großstädten, sondern lag auch deutlich höher als in anderen sächsischen Städten. Dresden wies mit 15,5% ebenso wie Chemnitz mit 18,5% niedrigere Quoten als Leipzig auf (Statistisches Landesamt des Freistaat Sachsen 2003). Die schlechte Lage auf dem Leipziger Arbeitsmarkt macht sich nicht nur in der Anzahl der Arbeitslosen bemerkbar, sondern ebenso in der Dauer der Ar beitslosigkeit: Etwa 40% aller Arbeitslosen sind langzeitarbeitslos (Stadt Leip zig 2003c). Daraus resultiert eine Zunahme von Personen, die auf staatliche bzw. kommunale Transfereinkommen angewiesen sind. 2002 waren in Leipzig 60 Personen pro 1.000 Einwohner auf eine laufende Hilfe zum Lebensunterhalt angewiesen, nachdem es 1997 nur knapp 34 Personen waren (Stadt Leipzig 2003b: 5). Der steigende Anteil von Sozialhilfeempfängern macht sich auch im kommunalen Haushalt bemerkbar: Neben den Personalausgaben und dem sach lichen Verwaltungs- und Betriebsaufwand stellen die Leistungen für Sozialhilfe mittlerweile den drittgrößten Posten im Verwaltungshaushalt der Stadt dar (Stadt Leipzig 2002d: 204). Auch die Eingemeindungen hatten bislang keinen nennenswerten Einfluss auf die kommunale Finanzsituation, weil sich dadurch zwar die Anteile an der Einkommenssteuer sowie die Schlüsselzuweisungen etwas erhöht haben, gleichzeitig jedoch auch die Kosten für die Errichtung oder Erhaltung sozialer und technischer Infrastruktur angestiegen sind. In den Jahren 2001, 2002 und 2003 musste der städtische Haushalt mit einem Fehlbetrag abgeschlossen wer106
den, auch 2004 ist das Problem ähnlich. Leipzig ist deshalb - ebenso wie Duis burg - verpflichtet, ein Haushaltssicherungskonzept zu erstellen. Aufgrund fehl ender kommunaler Eigenmittel konnten in den letzten Jahren die zur Verfügung stehenden Fördermittel des Landes Sachsen auch nicht in voller Höhe in An spruch genommen werden (Stadt Leipzig 2003a: 12). Die Finanzkraft der Stadt hat also deutlich abgenommen und entsprechend steigt auch die Verschuldung an. Weder die Ab- noch die Zuwanderungen verliefen sozial und altersstruktu rell neutral. Gerade die Abwanderungen in das Umland von Leipzig wurden von einkommensstärkeren Bevölkerungsgruppen, den gut situierten Familien mit Kindern, getragen. Wenn auch mit abnehmender Tendenz, verzeichnet Leipzig nach wie vor deutliche Wanderungsverluste, insbesondere bei den mittleren Altersgruppen in der Familiengründungsphase zwischen 30 und 40 Jahren (Stadt Leipzig 2003b: 11). Die bereits zu DDR-Zeiten einsetzende ungünstige Ent wicklung der Alters struktur hat sich nach der Vereinigung fortgesetzt. Wenn gleich die abgewanderten Familien und ihre Kinder zunehmend durch die soge nannten „jungen Erwachsenen" kompensiert werden, die zur Ausbildung oder zum Studium in die Stadt ziehen, schreitet der Alterungsprozess der Leipziger Bevölkerung voran. Die sichtbarste Folge des Arbeitsplatz- und Einwohnerverlustes ist der massive Angebotsüberhang auf dem lokalen Immobilienmarkt. Denn parallel zu den rückläufigen Einwohnerzahlen wurde, getragen von steuerlichen Vergünsti gungen, eher angebots- als nachfrageorientiert in den Immobilienbestand inves tiert. Während die Einwohner Leipzig verließen, bauten die Investoren. Der jahrzehntelangen Vernachlässigung zu DDR-Zeiten, die von den insgesamt vorhandenen 257.000 Wohneinheiten etwa 196.000 erneuerungsbedürftig hin terließ, folgte ein regelrechter Bauboom (Stadt Leipzig 2002e: 3). So wurden innerhalb der ersten zehn Jahre fast 2/3 des gesamten gründerzeitlichen Altbau bestandes instandgesetzt und modernisiert (Stadt Leipzig 2000b: 6). Auch die in industrieller Plattenbauweise errichteten Wohnungen wurden mittlerweile zu 60% komplett modernisiert (Stadt Leipzig 2002c: 14). Gleichzeitig erweiterte sich der Wohnungsbestand durch den massiven Neubau an den Stadträndern, durch die Teilung von Wohnungen oder den Ausbau von Dachgeschosswoh40
Im Jahr 1990 lebten mit einem Anteil von knapp 17% an der Gesamtbevölkerung noch ebenso viele Kinder und Jugendliche (0-15 Jahre) in der Stadt wie ältere Menschen (65 und älter), die einen Anteil von etwa 16% an der Gesamtbevölkerung ausmachten (Stadt Leipzig 2002b: 4). Im Jahr 2001 bot sich ein völlig anderes Bild: Der Anteil der Kinder und Jugendlichen war auf 11% zurückgegangen, während sich der Anteil älterer Menschen auf fast 19% erhöht hatte (Stadt Leipzig 2002b: 4).
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nungen erheblich: Alleine zwischen 1995 und 2001 entstanden im Leipziger Stadtgebiet mehr als 30.000 neue Wohneinheiten (Stadt Leipzig 2002e: 3). Die massive Ausweitung des Angebots bei sinkenden Bevölkerungszahlen hatte einen flächendeckenden Wohnungsleerstand zur Folge. Im Jahr 2000 fan den 20%, also circa 60.000 Wohneinheiten, des Leipziger Wohnungsbestandes keine Nutzer mehr (Stadt Leipzig 2002e: 4). Wenngleich der Wohnungsleer stand in fast allen Wohnungsmarktsegmenten von Leipzig ein Problem ist, kon zentriert er sich dennoch in bestimmten Baualtersklassen. Die Schwerpunkte des Leerstandes liegen im gründerzeitlichen Bestand der vor 1918 erbauten Woh nungen. Während im gründerzeitlichen Bestand in den letzten zwei Jahren sin kende Leerstandszahlen hauptsächlich in sanierten Wohnungen und in Quartie ren mit einer guten Lagequalität zu beobachten sind, steigen die Leerstandszah len in allen anderen Baualtersklassen weiter an. Insbesondere in den Beständen des DDR-Wohnungsbaus stiegen die Leerstände von 9*% auf 15% zwischen 2000 und 20002 deutlich an (Stadt Leipzig 2003b: 20). Bevölkerungsverlust, Wohnungsleerstände und soziale Benachteiligungen verteilen sich nicht gleichmäßig auf die einzelnen Quartiere der Stadt: Es gibt „Gewinner" und „Verlierer" dieser Entwicklung. Gerade die innerstädtischen Altbaugebiete verloren teilweise dramatisch an Bevölkerung, während die Ein familienhausgebiete, aber auch der Geschosswohnungsneubau am Rand der Stadt in den 1990er Jahren einen beständigen Einwohnerzuwachs verzeichneten (vgl. Hill/Wiest 2003; Stadt Leipzig 2002e). Bis etwa 1998 waren mehr oder weniger alle innerstädtischen Viertel von der Abwanderung in das Umland oder nach Westdeutschland negativ betroffen (Stadt Leipzig 2002e: 2). Zwischen 1992 und 1998 verloren die überwiegend gründerzeitlich geprägten Altbauquar tiere insgesamt etwa 50.000 Einwohner (Stadt Leipzig 2002b: 15). Entsprechend hoch gestaltete sich auch der Wohnungsleerstand: Im Jahr 2000 standen circa 23% der sanierten, circa 71% der unsanierten Gebäude in den gründerzeitlichen Gebieten der Stadt leer (Stadt Leipzig 2000b: 69). Wohnungsleerstände und der damit verbundene Wandel zu einem „Mietermarkt", führten zu einer deutlich gestiegenen innerstädtischen Mobilität in Leipzig. Innerhalb von zwei Jahren nahmen die innerstädtischen Wanderungen um mehr als 30% zu (Steinführer 2002: 138). Die Selektivität dieser Umzüge beschleunigt eine sozial-räumliche Entmischung, kleinräumige Auf- und Abwertungsprozesse sind die Folge (Hill/Wiest 2003: 88f). In den durch ihre Lage zum Auwald und durch repräsen tative Bebauung geprägten, privilegierteren innerstädtischen Wohnvierteln sind seit Ende der 1990er Jahre wieder Einwohnerzuwächse zu verzeichnen, womit auch mancherorts die Wohnungsleerstände reduziert wurden (Stadt Leipzig 2003b: 43). In den weniger privilegierten Altbauquartieren stagnierten die Ein wohnerzahlen bestenfalls, die Wohnungsleerstände stiegen weiter an. 108
Nachdem durch steuerliche Vergünstigungen bis zum Auslaufen der Steu¬ erabschreibung nahezu unabhängig von Lage, Qualität und Sanierungsaufwand in den Wohnungsbestand investiert wurde, sind inzwischen Tendenzen der ܬ berlagerung baulicher und räumlicher Probleme zu betrachten (Stadt Leipzig 2002e: 4). Insbesondere in den von Wohnungsleerstand, Abwanderung und der Konzentration benachteiligter Gruppen geprägten Quartieren ist die Sanierungs und Erneuerungstätigkeit weitgehend zum Stillstand gekommen. Hier „rechnen" sich Investitionen kaum noch. Für die weniger privilegierten Viertel der Stadt bedeutet das eine weitere Verschlechterung ihrer Position im innerstädtischen Konkurrenzkampf um Einwohner. Insbesondere der Leipziger Westen und der Leipziger Osten drohen zu den Verlierern dieser Entwicklung zu werden (vgl. Stadt Leipzig 2002b). Beide Gebiete verloren bis Ende der 1990er Jahre überdurchschnittlich an Bevölke rung: Der Leipziger Westen verlor insgesamt 16%, wobei die Quartiere in einer Randlage oder an den Verkehrsachsen (Schleussig, Altlindenau) erheblich höhe re Rückgänge zu verzeichnen hatten (Büro für Urbane Projekte 2002: 8), der Leip ziger Osten verzeichnete Bevölkerungsverluste von circa 30%. Auch hier er reichten einzelne Quartiere deutlich höhere Werte (zum Beispiel Volkmarsdorf mit fast 40%). Gleichzeitig weisen sie mit Leerstandszahlen von circa 30%, wie im Leipziger Westen höhere Werte als die Gesamtstadt aus (Büro für Urbane Projekte 2002: 7). Auch der Anteil von Arbeitslosen und Wohngeldempfängern ist im Vergleich zur Gesamtstadt überdurchschnittlich. Obwohl in einzelnen Teilgebieten des Leipziger Ostens und Westens seit 2000 auch leichte Bevölke rungsgewinne erzielt werden konnten, wird die Entwicklung auch aufgrund der hohen Fluktuation in den beiden Gebieten von der Stadtverwaltung als beson ders problematisch eingeschätzt (Stadt Leipzig 2003b: 43). Zunehmend geraten allerdings auch Teile der Großwohnsiedlungen in eine Schieflage. Wenngleich sich soziale Entmischungs- und Abstiegstendenzen bereits zu Beginn der 1990er Jahre andeuteten, galten die Großwohnsiedlungen in Leipzig bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre als relativ stabil (Stadt Leip zig 2002c: 15). Nach der Vereinigung sorgten sowohl der Geschosswohnungs bau als auch die neuen Eigenheimsiedlungen im Umland von Leipzig für einen sozial selektiven Bevölkerungsverlust in den Großsiedlungen. Anfang der 1990er Jahre konnten die Wegzüge noch einigermaßen durch die Zuzüge aus den innerstädtischen Altbauquartieren kompensiert werden (Stadt Leipzig 2002c: 15). Obwohl auch in den Großwohnsiedlungen mittlerweile fast 60% des gesamten Wohnungsbestandes durchgreifend saniert, das Wohnumfeld durch Städtebauförderung und Bund-Länder-Programme aufgewertet wurde, verlieren die in industrieller Bauweise errichteten Gebiete verstärkt Einwohner.
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Alleine der Stadtteil Grünau, der vom Bevölkerungsrückgang außerordent lich stark betroffen ist, hat zwischen 2000 und 2002 mehr als 10.000 Einwohner (~15%) verloren (Stadt Leipzig 2002c: 15). Mit der negativen Einwohnerent wicklung nahmen in den letzten Jahren auch die Wohnungsleerstände zu. Im größten Leipziger Plattenbaugebiet, in dem die durchschnittliche Leerstandsrate 16% beträgt, stehen in einzelnen Wohnkomplex fast 20% der Wohnungen leer (Stadt Leipzig 2002c: 35ff). In Grünau konzentrieren sich sozial benachteiligte Haushalte, was auch an dem überdurchschnittlichen Anteil von Wohngeldemp fängern in diesem Gebiet deutlich wird. Nicht zuletzt auch deshalb, weil sich in den Beständen des industriellen Wohnungsbaus die belegungsgebundenen Woh nungen der Stadt konzentrieren.
4.2.5 Lokale Besonderheiten: Umbruch und „Aufbau Ost" Leipzig agiert seit der Vereinigung unter ähnlichen institutionellen, rechtlichen und fiskalischen Rahmenbedingungen wie Duisburg. Dies wurde durch die vollständige Übertragung des westdeutschen Kommunalmodells auf die neuen Bundesländer erreicht. Doch aus vereinigungsbedingtem Umbruch und der re gionalen Einbettung ergeben sich einige Unterschiede mit Auswirkungen auf die Stadtentwicklungspolitik. Der Umbruch nach dem Kollaps des SED-Regimes stellte die Kommunal verwaltung und -politik nicht nur in Leipzig vor beispiellose Herausforderun gen. Gleichzeitig begründete das auf die DDR übertragene westdeutsche Kom munalmodell für Städte und Gemeinden Aufgaben und Verantwortlichkeiten, die ihnen in einer schwierigen sozioökonomischen Situation enorme Problem lasten aufbürdeten (Wollmann 1991a: 237). Wie viele andere ostdeutsche Städte auch, stand Leipzig nach 1990 vor der immensen Herausforderung, die Hinter lassenschaften der vierzigjährigen sozialistischen Stadt- und Wohnungspolitik zu verwalten: So stellte der weitreichende Verfall der gründerzeitlichen Stadt quartiere, der veraltete Zuschnitt der technischen und verkehrlichen Infrastruk tur, aber auch die hohen Umweltbelastungen herausragende Aufgaben der Stadtentwicklungspolitik dar (Gormsen 1994: 6f). Stadtentwicklung fand gerade zu Beginn der 1990er Jahre in Leipzig innerhalb eines Planungsvakuums statt: Die personellen, administrativen Voraussetzungen für eine funktionierende kommunale Selbstverwaltung mussten erst geschaffen werden, bestanden also nur teilweise, Instrumente der Landesentwicklungsplanung ebenso wenig. Auch in der Kommunalpolitik gewannen mit den ersten Wahlen von 1990 überwiegend Politiker an Bedeutung, die zu DDR-Zeiten keine politischen Mandate innehatten. Gleichzeitig wurden die politisch-administrativen Spitzen110
Positionen (Oberbürgermeister, Beigeordnete und Amtsleiter) in erster Linie mit politisch unbelasteten Personen aus Westdeutschland besetzt. Der erste von der Stadtverordnetenversammlung gewählte Oberbürgermeister der Stadt, Hinrich Lehmann-Grube, stammte aus Hannover. In vielen ostdeutschen Städten ließ sich nach der Vereinigung ein personeller Umbruch beobachten, der dem Bild eines weitgehenden, wenn nicht sogar vollständigen Elitenwechsels entsprach (Wollmann 1998: 157). In Leipzig war der Umbruch in Politik und Verwaltung aufgrund der starken Bürgerbewegung im Herbst 1989 jedoch besonders inten siv (vgl. Blattert/Rink/Rucht 1997; Rink 2000: 185ff). Gerade die Amtszeit von Lehmann-Grube, der 1994 mit großer Mehrheit im Amt bestätigt wurde, war von dem Versuch geprägt, Probleme über Parteiund Fraktionsgrenzen hinweg sachorientiert zu lösen („Leipziger Weg"). Mit den ersten Kommunalwahlen setzte sich die SPD als stärkste Fraktion im Stadt rat durch. Sie konnte ihre politische Mehrheit bis zu den Wahlen im Jahr 1999 retten, danach wurde sie zweitstärkste Kraft im Stadtrat (siehe Tabelle 6). Tabelle 6: Wahlergebnisse in den Kommunalwahlen in Leipzig von 1990 bis 1999 (in %) SPD CDU 35,3 1990 26,8 23,4 1994 29,9 32,0 1999 26,2 Quelle: Stadt Leipzig 2004b
PDS 13 22,9 25,7
Grüne 7,5 13,8 7,5
FDP -
3,4 2,6
DSU 4,3 3,6 1,4
Sonstige 17 3 4,6
Ein Spezifikum der Leipziger Stadtentwicklungspolitik nach der Vereinigung war hingegen die massive Investitionsförderung für bauliche Investitionen durch Steueranreize. In den ersten Jahren nach 1990 nahm der Gesetzgeber zahlreiche Änderungen im Steuerrecht vor, um zusätzlich zu den staatlichen Aufbauhilfen (siehe unten) auch privates Kapital in die neuen Bundesländer zu lenken. Ent scheidend für die Leipziger Stadtentwicklung waren die mit dem Fördergebietsgesetz 1993 getroffenen Regelungen über Sonderabschreibungen und Abzugs beträge. Für die Begünstigung von Baumaßnahmen, Sonderabschreibungen (die in der Form der sogenannten „Ost-Sonderabschreibungen" bis zum Ende des Jahres 1998 vorgenommen werden konnten) sollte der Wirtschaftsraum in den neuen Bundesländern möglichst schnell an das Niveau der alten Bundesländer herangeführt werden (BGB I 1322 /1331). Sie waren für die Erneuerung der gründerzeitlichen Altbauquartiere in Leipzig entscheidend, weil in beträchtli chem Umfang privates Investitionskapital mobilisiert werden konnte.
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Gleichzeitig wurden massive staatliche Mittel in die neuen Bundesländer gelenkt, so durch den Solidarpakt I. Ähnlich wie in den Städten und Regionen Nordrhein-Westfalens wurde die „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Infrastmktur" von Bund und Land zu einem zentralen Koordinie rungsinstrument des Aufbau Ost (Voelzkow/Hoppe 1996: 116). Die Förderung gewerblicher Investitionen und wirtschaftsnaher Infrastrukrur stand auch hier im Vordergrund, wenngleich der Freistaat Sachsen insgesamt eine deutlich andere Schwerpunktsetzung in der Wirtschaftsforderungspolitik verfolgte. Anders als im Land Nordrhein-Westfalen sollten hier von Anbeginn an die „Leistungsträ ger" und nicht die „Verliererregionen" gefördert werden. Man hoffte, durch so genannte „Leuchttürme" auch den weniger bevorteilten Regionen des Landes zu einem Entwicklungsschub zu verhelfen (vgl. ausfuhrlich zur Wirtschaftsforde rungspolitik in Sachsen Berg 2003: 99). Gerade in Leipzig wurde die neue Mes se, aber auch die Ansiedlung von BMW intensiv durch das Land unterstützt und gefordert (siehe ausführlicher Abschnitt 5.1.2). Daneben wurde Ostdeutschland, und natürlich auch Leipzig, zu einem Ziel 1 Gebiet der europäischen Strukturpolitik, wobei für die Stadt insbesondere die Mittel aus dem „Europäischen Fonds für Regionale Entwicklung" (EFRE) ent scheidend waren und sind, aber auch die Gemeinschaftsinitiative URBAN II. Zahlreiche spezielle Programme aus der Städtebauförderung, wie beispielsweise die Bund-Länder-Programme „Städtebauliche Weiterentwicklung großer Neu baugebiete" (WENG), „Städtebauliche Erneuerung" (SEP), „Städtebaulicher Denkmalschutz" (SDP) u.a., konnte die Stadt nach der Vereinigung nutzen. Ingesamt konnte die Stadt Leipzig von 1991 bis 2000 Städtebauförderrnittel in Höhe von 287 Mio Euro in Anspruch nehmen (siehe Intemetseite der Stadt Leipzig 2001b), Die wichtigsten Sonderregelungen für Ostdeutschland liefen jedoch 1998 mit dem Fördergebietsgesetz und dem Ende des ersten Solidarpak tes aus, auch wenn sie mit Solidarpakt II und dem neuen Investitionszulagenge setz 1999 in geringerem Maße weitergeführt wurden, so dass sich die Bedin gungen zwischen West und Ost auf diesem Gebiet insgesamt angeglichen ha ben. Ähnlich wie Duisburg kann Leipzig auf die EFRE-Mittel der EU, die Städ tebauförderung (und hier: „Soziale Stadt. Stadtteile mit besonderem Erneue rungsbedarf') und die Gemeinschaftsaufgaben zurückgreifen.
4.2.6 Prognosen Die Ende der 1990er Jahre vom Statistischen Landesamt Sachsen durchgeführte Bevölkerungsvorausberechnung für die Stadt Leipzig, die von einem Rückgang der städtischen Bevölkerung auf knapp 460.000 Einwohner im Jahr 2003 aus112
ging, hat sich nicht bestätigt, da die Wanderungsverluste deutlich geringer wa ren als ursprünglich angenommen (Stadt Leipzig 2001a: 24). Obwohl Leipzig in den Jahren nach der Vereinigung um etwa 100.000 Einwohner geschrumpft ist, stabilisierten sich die Einwohnerzahlen wieder - und steigen sogar wieder leicht an. Wird Leipzig vielleicht in Zukunft überhaupt nicht mehr schrumpfen, son dern wieder wachsen? Neuere Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung der Stadt Leipzig lassen vermuten, dass es sich bei den gegenwärtigen Einwohnergewinnen lediglich um ein vorübergehendes Phänomen handelt (vgl.Stadt Leipzig 2002e; vgl.Stadt Leipzig 2004a). Auch wenn die Geburtenraten inzwischen wieder leicht ange stiegen sind, wird sich die negative natürliche Bevölkerungsentwicklung in der Stadt Leipzig weiter fortsetzen (Stadt Leipzig 2002e: 6). Wenn die geburten schwachen Nachwendejahrgänge ab 2015 das demographische Profil der Stadt bestimmen, werden sich die natürlichen Bevölkerungsverluste noch potenzieren. Schrumpfung, Wachstum oder Stagnation der Einwohner hängen aufgrund die ser ungünstigen natürlichen Entwicklung von den Zu- und Abwanderungen ab. Für eine ausgeglichene bzw. sogar ansteigende Bewohnerbilanz müsste die Zuwanderung nach Leipzig demnach deutlich an Umfang gewinnen, um die kumulierenden natürlichen Bevölkerungsverluste auszugleichen. Selbst wenn man unterstellt, dass Leipzig im Gegensatz zu anderen ostdeutschen Städten in Zukunft von Zuwanderungen möglicherweise überdurchschnittlich profitieren kann, wird das ,Volumen' der wanderungswilligen Jahrgänge zwischen 20 und 35 Jahren aufgrund der gesamten demographischen Entwicklung in Deutschland insgesamt abnehmen (Stadt Leipzig 2004a: 19). Die Zuwanderung aus anderen ostdeutschen Städten und Regionen dürfte deshalb nach 2010 deutlich abneh men. Wie sich die Einwohnerzahlen in Leipzig entwickeln, ist darüber hinaus auch vom Umfang der Suburbanisierung determiniert (Stadt Leipzig 2004a: 39). Bei wieder ansteigenden Verlusten an das Umland dürfte es der Stadt Leipzig in Zukunft zunehmend schwer fallen, die ungünstige natürliche Bevölkerungsent wicklung zu kompensieren. Um den demographischen Schrumpfüngsprozess auszugleichen, müsste die Stadt-Umland Wanderung auf einem sehr niedrigen Niveau verbleiben: Es müsste sich letztendlich bei dem gegenwärtig zu beo bachtenden Rückgang der Wanderungsverluste an das Umland nicht um ein 41
Die erstellten Bevölkerungsprognosen lassen sich nur schwer vergleichen, weil sie mit unterschiedlichen Bezugsgrößen arbeiten. Während die vom Statistischen Landesamt Sachsen im Rahmen einer regionalisierten Bevölkerungsvorausschätzung ermittelten Werte auf den Einwohnern mit Hauptwohnsitz basierte, orientierten sich sowohl das Amt für Statistik und Wahlen der Stadt Leipzig als auch das Forschungsprojekt Stadt 2030 in ihren Bevölkerungs vorausschätzungen an den Einwohnern mit Haupt- und Nebenwohnsitz.
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vorübergehendes Phänomen handeln, sondern es müsste eine tiefgreifende Trendurnkehr in der bisherigen räumlichen Entwicklung der Stadtregion Leipzig stattfinden. Basierend auf einer Projektion der wirtschaftlichen und räumlichen Ent wicklung der Region Leipzig sind für die Kernstadt Leipzig von der Empirica GmbH drei Szenarien der Einwohnerentwicklung entworfen worden, die sich auf die Bewohner mit Haupt- und Nebenwohnsitz beziehen (Stadt Leipzig 2004a: 59). In der optimistischsten Variante geht die Empirica GmbH davon aus, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in der Region Leipzig ansteigt (Wirtschaftsszenario „Aufholen") und sich die Zuwanderungs gewinne weiter fortsetzen. Wirtschaftliches und demographisches Wachstum kommen in diesem Szenario der Kernstadt Leipzig zu Gute (Raumszenario „Urbanisierung"), so dass die Einwohnerzahlen bis 2015 weiter ansteigen wer den - und erst danach leicht absinken. Umgekehrt wird in der pessimistischen Variante unterstellt, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten konstant bleibt (Wirtschaftsszenario „Mitschwimmen"), der natürliche Bevölke rungsverlust nicht durch Zuwanderung ausgeglichen werden kann und - zusätz lich - die Stadt-Umland-Wanderung wieder an Umfang und Bedeutung gewinnt (Raumszenario „Suburbanisierung"). In diesem Szenario würde die Einwohner zahl der Stadt Leipzig bis 2030 deutlich absinken, nämlich auf etwa 407.000 Bewohner. Die mittlere Variante unterstellt, dass die Region zwar wirtschaftlich prosperiert (Wirtschaftsszenario „Aufholen"), die ungünstige natürliche Bevöl kerungsentwicklung durch Zuwanderung kompensiert wird. Die Kernstadt Leipzig jedoch nicht von dieser Entwicklung profitiert, weil die Suburbanisie rung wieder an Bedeutung gewinnt. Sie verliert Einwohner, wenn auch deutlich weniger als in der pessimistischen Variante (siehe Tabelle 7).
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Tabelle 7: Prognose der Einwohner mit Haupt- und Nebenwohnsitz in Leipzig 2015-2030 Szenario 1: Wirtschaftliches Wachstum („Aufholen") plus Trendumkehr („Ur banisierung") 2015 2030 534.827 527.959 Szenario 2: Wirtschaftliches Wachstum („Aufholen") ohne Trendumkehr („Suburbanisierung") 2015 2030 471.110 437.676 Szenario 3: Wirtschaftliche Stagnation (,JVIitschwimmen") ohne Trendurnkehr („Suburbanisierung") 2030 2015 407.966 456.083 Quelle: Stadt Leipzig 2004a: 59 Das Szenario 1 erscheint - auch wenn Empirica es als „positive, aber noch denkbare Obergrenze des Wahrscheinlichen" (Stadt Leipzig 2004a: 30) wertet insgesamt als sehr voraussetzungsvoll, da es von einem stetigen Anstieg der Arbeitsplätze in der Region Leipzig ausgeht. Bislang war aber die Beschäftig tenentwicklung durch eine konstante Abnahme geprägt. Gerade in der Stadt Leipzig hat sich der Rückgang der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in den letzten zwei Jahren noch einmal deutlich beschleunigt. Die Frage, wie es der Stadt gelingen sollte, den bisherigen Trend „umzukehren", bleibt offen. Insofern erscheinen die eher pessimistischen Szenarien realistisch. Nämlich, dass bestenfalls von einer Konstanz der Arbeitsplatzentwicklung ausgegangen werden kann - und dass sich die Stadt auf einen deutlichen Einwohnerrückgang bis zum Jahr 2030 einzustellen hat. Leipzig wird wahrscheinlich bis 2015 den Großstadtstatus verloren haben. Bei allen Unterschieden zwischen Duisburg und Leipzig hinsichtlich der Problemgenese und einiger lokaler Kontextfaktoren der Stadtentwicklungspoli tik demonstrieren die Stadtprofile von Duisburg und Leipzig eindringlich, dass beide Städte schrumpfen. Wenn auch in unterschiedlichen zeitlichen Sequenzen, verloren beide Städte jeweils mehr als 100.000 Einwohner durch Abwanderung und Sterbefallüberschüsse. Gleichzeitig erodierte die industrielle Basis, was in beiden Städten nicht durch den Dienstleistungssektor ausgeglichen werden konnte, so dass sowohl Duisburg als auch Leipzig mit hohen strukturell beding ten Arbeitslosenquoten kämpfen. Die Folgen des Schrumpfungsprozesses ma-
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chen sich insbesondere in Form eines eingeschränkten finanziellen Handlungs spielraumes bemerkbar: Auf der Einnahmeseite ist die kommunale Finanzkrise durch einen starken Verfall kommunaler Einnahmen, gerade durch den Rück gang der Gewerbesteuer und den Anteilen an der Einkommenssteuer bedingt; auf der Ausgabenseite durch die starke Zunahme kommunaler Ausgaben, gerade für Soziales. Sowohl Duisburg als auch Leipzig sind deshalb, um ihre Steuerungs- und Gestaltungsaufgaben in der Stadtentwicklungspolitik wahrnehmen zu können, in hohem Maße auf Fördermittel des Bundes und des Landes, aber auch der Europäischen Union angewiesen. Beide Städte können und müssen - auch wenn es hier Unterschiede insbe sondere was die Zuweisungen des Landes und des Bundes beispielsweise durch die Gemeinschaftsaufgaben oder der Europäischen Union (Ziel 1 versus Ziel 2) gibt - auf ähnliche Ressourcen zurückgreifen. Finanziert werden in erster Linie allerdings solche Maßnahmen, die Investitionen in den baulichen und räumli chen Bestand oder den Ausbau der wirtschaftsnahen Infrastruktur einer Stadt vorsehen. Eine Ausnahme stellt hier nur das neue Bund-Länder Programm Stadtumbau Ost (2001) und Stadtumbau West (2004) dar, mit dem Städten erstmals Finanzmittel für die Anpassung städtebaulicher und wohnungswirt schaftlicher Strukturen unter den Bedingungen rückläufiger Einwohnerzahlen, schwindender Arbeitsplätze sowie steigendem Wohnungsleerstand zur Verfu gung stehen (vgl. Bundesministerium für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen 2001a, 2004). Im folgenden Kapitel wird nun der Frage nachgegangen, wie Duisburg und Leipzig auf ausbleibendes Wachstum und Sclrnimpfungsprozesse reagieren.
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Instrumente und Strategien in Duisburg und Leipzig
Haben sich die lokalen Akteure in Duisburg und Leipzig auf die veränderten sozialen, ökonomischen und demographischen Bedingungen in der Stadtent wicklung eingestellt? Wenn ja, wie - also mittels welcher ,Policies'? Wurden neue politische Maßnahmen und Strategien in der Stadtentwicklungspolitik entwickelt? Wandelten sich nur die konkreten Instrumente und Maßnahmen oder auch die übergeordneten Strategien? Um herauszufinden, inwieweit sich der Umschlag von Wachstum auf Schrumpfung in einer Re- oder Neuorientie rung städtischer Politiken niederschlägt, ist in beiden Städten das Politikfeld Stadtentwicklung auf der Grundlage städtischer Publikationen, offizieller politi scher Dokumente und Experteninterviews untersucht worden. In Duisburg wurden dabei bereits die Ende der 1980er Jahre begonnenen politischen Programme in die Analyse mit einbezogen, da sich in den Interviews und den Publikationen herausstellte, dass mit der Schließung eines der größten Stahlwerke, dem Krupp-Hüttenwerk in Duisburg-Rheinhausen, aus Sicht der Akteure eine gewisse Neuorientierung in der Duisburger Stadtentwicklungspoli tik stattfand (siehe Abschnitt 5.1). In Leipzig beschränkt sich die Analyse not wendigerweise auf die Zeit nach der Vereinigung. Weil die Verabschiedung neuer Strategien in der Stadtentwicklungs- und Stadterneuerungspolitik ange sichts anhaltender Einwohnerverluste, zunehmenden Wohnungsleerstands und stark nachlassender Bau- und Erneuerungstätigkeit in der Stadt Leipzig Ende der 1990er Jahre begann, wird sich die Analyse auf die Jahre nach 1998 kon zentrieren (siehe Abschnitt 5.2).
5.1 Duisburg: Große Würfe und kleine Schritte Duisburg, die schrumpfende Stahlstadt am Rhein, reagiert seit Ende der 1980er Jahre auf die strukturellen Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste hauptsächlich mit politischen Instrumenten und Maßnahmen, die die Stadt als modernen In dustrie- und Dienstleistungsstandort profilieren sollen. Erhoffte man sich in der 4 2
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Stadt gerade Ende der 1980er Jahre von der Technologie- und Innovationsförde rung, aber auch vom Flächenrecycling und der Entwicklung von Gewerbeparks wichtige ökonomische Impulse für die Stadtentwicklung, verlief die Profilierung des Standortes Duisburg, auch wenn die alten Instrumente der Technologie- und Innovationsförderung ergänzt durch den Schwerpunkt Logistik weitergeführt wurden, zunehmend über neue Instrumente: Insbesondere seit Ende der 1990er Jahre erwartete man sich von der Initiierung spektakulärer städtebaulicher Großvorhaben und Festivals wichtige Effekte für die (Innenstadt-) Entwicklung.
5.1.1 Technologieförderung, Gewerbeparks und Attraktivitätssteigerung Mit dem ersten kommunalen Handlungsprogramm Duisburg 2000, das ange sichts der Schließung des letzten großen Stahlwerkes, Duisburg-Rheinhausen, verabschiedet wurde, strebte man die Initiierung von Maßnahmen und Projekten an, die eine weitere Abkoppelung Duisburgs vom Wachstumspfad verhindern sollten: „Für die örtliche Strakturpolitik steht das Ziel im Vordergrund, wieder Anschluss an die Entwicklungen in anderen Regionen zu finden, indem regiona le Gefährdungspotentiale abgebaut und die vor Ort vorhandenen Wachstumspo tentiale weiter entwickelt werden" (Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrieund Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1988: 18). Das Programm Duisburg 2000 war ursprünglich zur ersten Duisburger Re gionalkonferenz im Rahmen der „Zukunftsinitiative Montanregionen" (ZIM) am 6. Oktober 1987 konzipiert worden, so dass sich die dort vorgeschlagenen Maß nahmen im Wesentlichen an den von der Landesregierung vorgeschlagenen Handlungsfeldern orientierten (Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1990: 129ff). Um die Stadt als modernen Wirtschafts Standort zu profilieren, standen drei wesentliche Maß nahmenbündel im Vordergrund: Innovations- und Technologieforderung, die Erschließung und Vermarktung von Gewerbeflächen sowie die Attraktivitäts steigerung und Imageverbesserung der Stadt. Eines der ersten Projekte, mit denen neue und zukunftsorientierte Techno logien - wie Mikroelektronik, hrformationstechnik oder auch Telekorrimunikation in Duisburg angesiedelt werden sollten, wurde mit der Entwicklung des MicroElektronicCentrums (früher: Technologiepark) in Neudorf ab Ende der 1980er Jahre eingeleitet. Man erwartete sich durch die Auffächerung von Innovations und Technologieförderung auf weitere, für die Stadt neue Industrien, neben ihrer eigentlichen Beschäftigungswirksamkeit, eine positive Entwicklung für den in der Stadt stagnierenden Sektor der unternehmensbezogenen, hochwerti gen Dienstleistungen. 118
In dem universitätsnahen Duisburg-Neudorf entstand das MicroElektronicCentrum, weil man sich nicht nur Synergieeffekte mit der Gerhard-Mercator Universität versprach, sondern ebenso, weil sich hier bereits die Gesellschaft für Technologieförderung und Technologieberatung (GTT) sowie das Fraunhofer Institut für mikroelektronische Schaltungen und Systeme wenige Jahre zuvor niedergelassen hatten. Hier sollten hoch technisierte Gebäudekomplexe für Betriebe bereitgestellt werden, die in der Forschung und Entwicklung, der Pro duktion und Verwaltung oder im Verkauf tätig waren. Die Kernstücke des Pro jekts sind die zwischen 1987 und 1993 errichteten Mikroelektronik Zentren I bis III sowie das vier Jahre später errichtete MicroElektronicCentrum. Damit sollte die ehemalige Stahlstadt zu einem bevorzugten Hightech Standort in der Bun desrepublik Deutschland werden (Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1991: 53). In der Bestandsaufnahme für das Handlungsprogramm Duisburg 2000 wur den die knappen Industrie- und Gewerbeflächen als ein wichtiger Grund hervorgehoben, der die Ansiedlung neuer, aber auch der Erweiterung und Verla gerung bestehender Unternehmen erschwert (Stadt Duisburg/Niederrheinische In dustrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1990: 33). Insge samt standen Ende der 1980er Jahre nicht mehr als 15 ha freie Gewerbefläche zur Verfugung, wobei ein großer Teil davon kontaminiert war. Geplant wurde, mittelfristig bis zu 3,5 Millionen qm Gewerbeflächen zu schaffen. Bevorzugt sollten dabei ungenutzte Bahn- und Industrieflächen wiederverwendet werden. Als eine der ersten Maßnahmen wurde, zusammen mit der nordrheinwestfälischen Landesentwicklungsgesellschaft, ein 40 ha großes Areal der Krupp AG in Duisburg-Rheinhausen aufgekauft und mit 270.000 qm Nutzfläche zum Businesspark Niederrhein entwickelt (Stadt Duisburg/Niederrheinische In dustrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1991: 79). Weil das Pilotprojekt als erfolgreich angesehen wurde, entwickelte man in der Folge zeit noch zahlreiche andere Gewerbeparks in der Stadt. Zum Beispiel die Stepelsche Straße (150.000 qm), das Gewerbegebiet Großenbaum auf den ehemali gen Hahn'schen Werken (415.000 qm) und Großenbaum Ost (30.000 qm), den Rheinpreußen-Park auf dem Gelände der stillgelegten Schachtanlage Rhein preußen in Homberg und das auf der Zeche Diergardt entstandene Gewerbege biet Mevissen und Mevissen-Oestrum (50.000 qm) sowie den ehemaligen Ran gierbahnhof Hohenbudberg (240.000 qm) (Stadt Duisburg 1999b: 61). Daneben verfolgte die Stadt jedoch auch horizontale, attraktivitäts- und imagesteigernde Maßnahmen, wie beispielsweise die breit angelegte Investorenund Imagekampagne, die in südostasiatischen Ländern für den Standort Duis burg werben sollte (Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrie- und Handels kammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1991: 25). Mit dem Slogan „Duis119
bürg am Rhein. Im Herzen Europas" versuchte man sich bewusst außerhalb des Ruhrgebietes zu platzieren. Zu diesen horizontalen Maßnahmen zählten jedoch insbesondere die beiden Projekte, die im Rahmen der Internationalen Bauaus stellung Emscher-Park Ende der 1980er Jahre projektiert und Mitte der 1990er Jahre realisiert wurden. Beide Projekte gingen hauptsächlich auf die Initiative der Akteure der Internationalen Bauausstellung zurück, die durch Fördermittel des Landes realisiert werden konnten. Sie gelten in der Duisburger Stadtent wicklungspolitik als besonders gelungene Projekte. Das prominenteste Beispiel hierfür ist der Landschaftspark Nord, der auf dem ehemaligen Gelände der Thyssen AG zwischen den Stadtteilen Meiderich und Hamborn im Duisburger Norden entwickelt wurde. Grundlegender Gedanke dieses IBA-Projekts war es, die auf dem Gelände befindliche Industriearchitek tur und Industrienatur zu erhalten, sie aber neuen, hauptsächlich kulturellen Nutzungen zuzuführen und sie einer breiten Öffentlichkeit zugänglich zu ma chen. So entstand nach einem internationalen Planungswettbewerb inmitten der alten Werksanlagen ein über 200ha großes Freizeit- und Erholungsgebiet, ein schließlich einer vom Duisburger Alpenverein betreuten Kletteranlage im frühe ren Erzbunker und eines Tauchbeckens im alten Gasometer. Für die Stadt Duis burg war der Landschaftspark Teil einer wirtschaftlichen und ökologischen Erneuerung des von der Schwerindustrie stark belasteten Duisburger Nordens (Stadt Duisburg/Niederrheinische Industrie- und Handelskammer Duisburg-WeselKleve zu Duisburg 1991: 66ff). Ein weiteres IBA-Projekt, welches zu Beginn der 1990er Jahre angestoßen wurde und bis heute entwickelt wird, ist der Um- und Ausbau des historischen Innenhafens am Rand der Duisburger Innenstadt. Am Beispiel des völlig verfal lenen Innenstadthafens in Duisburg sollte im Rahmen der Internationalen Bau ausstellung exemplarisch gezeigt werden, wie ein Entwicklungskonzept für innerstädtische, untergenutzte Areale aussehen könnte. Auf Grundlage eines städtischen Masterplans vom britischen Architekten Norman Foster wurde der Innenhafen unter Wahrung der historischen Architektur zum multifunktionalen Dienstleistungspark umgebaut, wobei die Funktionen „Wohnen", „Arbeiten" und „Freizeit" gleichberechtigt nebeneinander stehen sollten (Stadt Duisburg 1999b: 48). Viele der ehemaligen Speicher- und Mühlengebäude blieben erhalten und wurden zu modernen Bürohäusern mit Gastronomieangeboten umgebaut, daneben entstanden aber auch mehrere neue Bürogebäude. Ergänzt wurden diese durch eine neue Wohnbebauung mit ca. 600 Wohneinheiten in einer Grachtenlandschaft. Nicht zuletzt sind aber auf dem Areal auch zahlreiche kul turelle Einrichtungen entstanden. Beispielsweise wurde die ehemalige Küp persmühle zu einem Museum für moderne Gegenwartskunst umgebaut oder es 120
entstand das jüdische Gemeindezentrum und der daran anschließende „Garten der Erinnerung". Sowohl der Landschaftspark Nord als auch der Innenhafen sind heute Bestandteile der „Route Industriekultur" in Nordrhein-Westfalen. Begleitet wurden diese Maßnahmen durch zwei stadtteilorientierte Sonder programme innerhalb des Handlungsprogramms Duisburg 2000, mit denen sowohl in Duisburg-Marxloh als auch in Duisburg-Bruckhausen eine Verbesse rung der Wohn- und Lebensqualität angestrebt wurde (Stadt Duis burg/Niederrheinische Industrie- und Handelskammer Duisburg-Wesel-Kleve zu Duisburg 1991). Ursprünglich als Stadterneuerungsprogramm aus Städtebaufbrdermirteln geplant, entwickelten sich beide Sonderprogramme zu einem An satz, in dem nicht nur die Modernisierung von Wohnungen, Wohnumfeldver besserungen sowie Wohnungsbau eine Rolle spielten, sondern ebenso die Ver besserung der Erwerbschancen der Stadtteilbewohner durch Qualifikationsmaß nahmen. Mitte der 1990er Jahre wurden beide Sonderprogramme durch das nordrhein-westfälische Landesprogramm „Stadtteile mit besonderem Erneue rungsbedarf' bzw. durch das europäische Programm „URBAN" ersetzt und weitergeführt (Stadt Duisburg 1999b: 97ff). Daneben initiierte die Stadt Mitte der 1980er Jahre, auch aufgrund der stei genden Abwanderungszahlen, eine Einwohnerförderung. Im Rahmen des Pro jektes wurden an bauwillige Duisburger vermehrt städtische Grundstücke in attraktiven Wohnlagen des Südens - wie in den Stadtteilen Großenbaum, Hu ckingen, Rumeln-Kaldenhausen und Alt-Walsum - vergeben. Rein quantitativ betrachtet, spielte diese Einwohnerförderung aber kaum eine Rolle auf dem Duisburger Wohnungsmarkt - und wird mit etwas größerer Intensität auch erst wieder seit Ende der 1990er Jahre fortgeführt.
5.1.2 Große Projekte, Dienstleistungsparks und Festivals Die Instrumente der Technologie- und Innovationsförderung sowie des Gewer¬ beflächemanagements wurden in der Stadt Duisburg ergänzt und durch den Schwerpunkt Logistik („Logport" ) weitergeführt. Das Handlungsprogramm Duisburg 2000 wird Ende der 1990er Jahre in „Zukunft Duisburg", später in „Impuls.Duisburg" umbenannt. Man setzte auch die bereits Ende der 1980er Jahre begonnene Einwohnerförderung fort. Insbesondere das in den letzten Jahren entwickelte „Angerbogen-Projekt" sollte, durch die Bereitstellung güns43
Auf dem Gelände des ehemaligen Stahlwerkes in Duisburg-Rheinhausen entstand mit Ziel 2 Fördermitteln der Europäischen Union ein 265 ha großes internationales Logistikzentrum. Es gilt im Land Nordrhein-Westfalen als „best-practice" Beispiel (Ministerium für Wirtschaft und Arbeit des Landes Nordrhein-Westfalen 2003: 21).
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tigen Baulands für Eigenheime an der Steinwurfgrenze zu Düsseldorf, die Ab wanderung begrenzen bzw. die Zuwanderung anregen. Gleichzeitig wurden die stadtteilbezogenen Entwicklungsprogramme auf das rheinnahe DuisburgHochfeld im Rahmen des Programms „Stadtteile mit besonderem Erneuerungs bedarf. Die soziale Stadt" ausgedehnt. Gleichwohl verlief die Duisburger Stadtentwicklungspolitik zunehmend über große städtebauliche Projekte, Festivals und Dienstleistungsparks. Diese neuen Instrumente, wie „Multi Casa", „Urbanum" und die Bundesgartenschau, sollten helfen, die Stadt erfolgreicher als bisher zu einem modernen Dienstleis tungsstandort zu entwickeln: „Ziel ist es, Duisburg Kaufkraftzuflüsse zu ermög lichen. Die Maßnahmen dienen dazu, die Innenstadt Duisburgs als Wohn-, Bü ro-, Handels-, Kultur- und Geschäftsstandort zu stärken und damit gleichzeitig das Image der Stadt Duisburg weiter zu verbessern" (Stadt Duisburg 1999b: 43ff). Damit verschob sich auch der räumliche Schwerpunkt der politischen Interventionen: Hatte man in den frühen 1990er Jahren auf den aufgelassenen, eher randstädtischen Industrieflächen Projekte durchgeführt, rückte die Innen stadt und das innenstadtnahe Rheinufer in Duisburg Hochfeld in den Vorder grund.
MultiCasa und Urbanum Eine der ersten großen Maßnahmen, die zur Aufwertung der Duisburger Innen stadt als Dienstleistungs- und Handelsstandort realisiert werden sollte, war das Urban Entertainment Center MultiCasa in der Duisburger Innenstadt. Das Urban Entertainment Center sollte mit einer Nutzfläche von 140.000 qm nicht nur zweimal so groß wie das CentrO im benachbarten Oberhausen werden, sondern das größte seiner Art in Europa. Die stillgelegten Gleisanlagen auf dem Güter bahnhof sollten im Rahmen eines integrierten Nutzungskonzepts aus Einzelhan del, Dienstleistung und modernen Freizeitangeboten umgebaut werden und damit die Duisburger Innenstadt im interkommunalen Wettbewerb als Standort koiikurrenzfähiger machen: „Multi Casa Duisburg - mit diesem Projekt entwi ckelt sich Duisburg endgültig zu einer gefragten Adresse in der deutschen Im mobilienwirtschaft. Mit der Entwicklung dieses Standortes soll [...] die Duis burger Innenstadt insgesamt im regionalen Wettbewerb neu positioniert wer den" (Stadt Duisburg 1999a: 46). Mit der Gründung einer Projektgemeinschaft, an der neben der Stadt Duis burg auch die Phillip Holzmann Bauprojekt AG, die Thyssen Immobilien GmbH und die westdeutsche Immobilienbank sowie die Gemeinnützige Bauge sellschaft Duisburg AG beteiligt waren und der Übernahme von 70% der Pro122
jektgemeinschaft der MultiCasa GbR im Januar 2000 durch den Immobilien entwickler TrizecHahn Deutschland, der auch für die Entwicklung des Frankfur ter Hauptbahnhofs verantwortlich war, schienen die wichtigsten Schritte zur Realisierung des ambitionierten Duisburger Projekts erfolgt zu sein. In ihrem Geschäftsbericht ging die Stadtverwaltung in Duisburg davon aus, dass das Urban Entertainment Center Ende des Jahres 2002 eröffnet werden kann - und beauftragte das Hamburger Architektenbüro Bothe-Richter-Teherani mit einem Entwurf. Mit dem Rückzug von TrizecHahn aus dem gesamten europäischen Immobiliengeschäft im Jahr 2001 stand das Projekt vor dem Aus. Die Stadt entschloss sich Ende des Jahres 2001 zur Fortführung des Projekts eine neue Gesellschaft, die Gesellschaft für Innenstadtentwicklung Duisburg mbH (GID), zu gründen, deren Investorenpartner später die Westdeutsche Immobilien Bank und die Objektmarketing-Gruppe wurden. Mit der neuen Investoren- und Betreibergruppe veränderten sich auch die Planungen für das Urban Entertain ment Center MultiCasa. Aus dem Urban Entertainment Center wird ein Ein kaufszentrum mit 250 Läden und einem Food-Court, wobei die Nutzfläche des Projektes mit 70.000 qm fast halbiert wurde: Aus MultiCasa wird MonoCasa (Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) vom 22. 02. 2002). Gleichwohl rechnete man immer noch mit einer privaten Investitionssumme von 230 Milli onen Euro (Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) vom 22. 03. 2002b). Schwierigkeiten bei den Grundstücksverhandlungen mit der Deutschen Bahn AG, einer fehlenden Überdeckelung der davor befindlichen A59 sowie der nur schleppend anlaufenden Vermietung der Handelsflächen führten dazu, dass das Projekt Multi Casa bislang immer noch nicht realisiert ist. Seit 2000 plante man parallel zu dem Urban Entertainment Center in Duis burg ein Kongresszentrum mit dem größten und umsatzstärksten SpielbankKomplex in Deutschland. Duisburg hatte sich zuvor um eine Spielbanklizenz bei der westdeutschen Spielbank-Gesellschaft erfolgreich beworben. Der Spiel betrieb sollte im Juni 2005 eröffnet werden: „Mit diesem Zentrum soll die größ te und zugleich die erste cityintegrierte Spielcasinokonzeption in Deutschland verwirklicht werden, um so die Grundlage für eine synergetische Impulswir kung für die City und einen auch langfristig wirtschaftlich erfolgreichen Betrieb zu schaffen" (DS 2682; 20.06.2001). War zu Beginn noch geplant, das Casino in das neu entstehende Urban En tertainment Center zu integrieren, begann die Stadt, - aufgrund der sich bereits andeutenden Verzögerungen bei MultiCasa und der damit drohenden Konventi onalstrafen - ab Ende des Jahres 2000 mit der Suche nach einem anderen Standort für das Projekt. Die Standortentscheidung fiel auf die denkmalge schützte Mercatorhalle, der in den 1960er Jahren errichtete Veranstaltungsort der Duisburger Symphoniker, die dafür abgerissen werden sollte. Ende 2001 123
entschied sich die Stadt für den Entwurf des „Casino-Liners" (heute: „Urba num") der Firma Brune Consulting, die darauf hin auch die Projektierung, Fi nanzierung und Vermietung des Objektes übernahm. Das ehemalige städtische Veranstaltungszentrum Mercatorhalle sollte in dem Neubau untergebracht und von der Stadt angemietet werden. In dem neuen Casino-Liner sind jedoch nicht nur Kongresszentrum und Spielbank vorgesehen, sondern ebenso ein 4-Sterne Hotel, Gastronomieeinrichtungen, Einzelhandel sowie Büroflächen. Insgesamt wird von einer Investitionssumme von 230 Millionen Euro ausgegangen. Inves toren fehlen jedoch, so dass die Westdeutsche Landesbank und ihre Tochterge sellschaft Westdeutsche Immobilienbank bislang keine Kreditzusage für das Projekt gegeben haben. Begleitet wurden die beiden städtebaulichen Großprojekte seit dem Ende der 1990er Jahre auch von anderen politischen Maßnahmen und Instrumenten, die auf eine Aufwertung der Duisburger Innenstadt als Dienstleistungs- und Handels Standort setzten: Durch die Einrichtung eines City-Marketings (1998), eines städtebaulichen und gestalterischen „Rahmenkonzept Innenstadt" (1998) und die Initiative der Industrie- und Handelskammer, die „Duisburger Innen stadt Aufwertung" (2000).
Dienstleistungspark „Neues Rheinufer" Neben der Aufwertung der Innenstadt durch das Urban Entertainment Center und das Spiel- und Kongresszentrum wurden seit dem Ende der 1990er Jahre unter dem Motto „Duisburg an den Rhein" auch Maßnahmen verfolgt, die eine Erweiterung der Innenstadt durch Einbeziehung vormals industriell genutzter Flächen am Rheinufer vorsehen. Erste Planungen im Jahr 1998 sahen vor, auf dem ehemaligen Gelände des Walzdrahtwerks der Stahlfirma ISP AT ein neues Quartier für Dienstleistung und Gewerbe mit Headquarterfunktionen vorrangig für Unternehmen aus der Logistikbranche zu schaffen (Stadt Duisburg 1999b: 53). Inzwischen sehen die Planungen vor, insgesamt vier innerstädtische Flächen entlang des Hochfelder Rheinufers zu entwickeln und miteinander zu vernetzen. Das Areal umfasst auch durch weitere Zukaufe der Stadt von ISPAT - mittlerweile circa 62 ha, eine Erweiterung ist geplant. Weitere Aufkäufe hängen allerdings mit betriebs internen Entscheidungen des Stahlkonzerns ISPAT zusammen. Nur wenn dieser die Walzdrahtproduktion nach Duisburg Ruhrort verlegt, werden weitere Flä chen zum Erwerb für die Stadt frei. Ein erster Abschnitt ist der „RheinPark", der als hochwertiger Dienstleistungsstandort mit Parklandschaft und Uferpromena de vorgesehen ist. Hier sollen sich Unternehmen in den Kompetenzfeldern 124
Technologie und Logistik ansiedeln. Daneben sind aber in dem neuen RheinPark ebenfalls ergänzende Wohnbebauungen für den gehobenen Bedarf sowie Gastronomieeinrichtungen geplant.
Bundesgartenschau Wegweisende stadtentwicklungspolitische Impulse für diese Projekte und eine Aufwertung durch einen Nutzungswandel innerstädtischer Brachflächen erwar tete man sich in Duisburg durch die Bundesgartenschau, so dass sich die Stadt für eine Austragung im Jahr 2011 bewarb. Nach der Präsentation unter dem Motto „BUGA Duisburg verbindet" bekam Duisburg 2000 den Zuschlag: „Der Nutzungswandel von Brachflächen zu wertvollen Freizeit- und Grünflächen mit hochwertigen Immobilien unterstützt nachhaltig den Strukturwandel in Duis burg, in dem damit die Grünflächenentwicklung einen bedeutenden Stellenwert bekommt" (Stadt Duisburg 2000: 42). Mit der Bundesgartenschau sollten vier verschiedene, stadtnahe industrielle Brachflächen zu einem Ausstellungskonzept verbunden werden. So sollte das seit Jahren funktionslose Gelände des Güterbahnhofs südlich des Hauptbahn¬ hofs zum „Inselpark" entwickelt, die ebenfalls der Bahn gehörende Schotterhal de in Wedau zu einem „Haldenpark" mit Trendsportarten umgewandelt und der ehemalige Containerbahnhof als neuer Stadtgarten präsentiert werden. Daneben sollte das bereits von der Stadt im Jahr 1997 gekaufte Gelände von dem Stahl unternehmen ISPAT durch weitere Aufkäufe vergrößert werden. Insgesamt wären damit neue Grün-, Frei- und Erholungsflächen von circa 70ha in der Stadt entstanden. Kurz vor Unterzeichnung der endgültigen Verträge mit der Bundesgartenbaugesellschaft im Dezember 2003 wurde die Bundesgartenschau offiziell abgesagt, weil die Stadt den erforderlichen Eigenanteil für die Finanzierung nicht erbringen konnte (Westdeutsche Allgemeine Zeitung (WAZ) vom 6. 11. 2003). Die Reaktion Duisburgs auf den anhaltenden Arbeitsplatz- und Einwoh nerverlust, so lässt sich die Darstellung der in der Stadt verfolgten stadtentwicklungspolitischen Instrumente und Maßnahmen zusammenfassen, besteht haupt sächlich darin, aus der ehemaligen Bergbau und Stahlstadt einen modernen Industrie-, Dienstleistungs- und Freizeitstandort zu machen. Auch wenn sich die konkreten Instrumente veränderten, adressierte man hier bislang nahezu aus schließlich die eine, die ökonomische Seite der (Schrumpfungs-) Medaille. Wenngleich es auch in Duisburg seit Ende der 1980er Jahre aufgrund der stei genden Abwanderungszahlen punktuelle Ansätze gibt, an bauwillige Duisburger städtische Grundstücke in den attraktiven Wohnlagen des Südens zu vergeben, 125
existieren jedoch keine politischen Konzepte, Strategien oder Maßnahmen, die sich mit den langfristigen Folgen des Bevölkerungsverlustes für die Stadtent wicklung oder den Wohnungsbau beschäftigen. Ist das gleiche Reaktionsmuster auch in Leipzig zu beobachten?
5.2 Leipzig: Weniger Dichte, mehr Grün?
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Auch in Leipzig reagierte man nach der Vereinigung auf die anhaltenden Ar beitsplatz- und Einwohnerverluste mit politischen Maßnahmen, Programmen und Instrumenten zur Verbesserung wichtiger Standortfaktoren, um die Stadt so zu einer europäischen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturmetropole zu entwickeln (Initiative Leipzig e.V. 1998: o.S.). Insbesondere in den ersten Jah ren nach der Vereinigung stilisierte man Leipzig als „Boomtown des Ostens" und erwartete sich vom Neubau der Leipziger Messe, dem Ausbau des Leipzi ger Hauptbahnhofs zu einem Einkaufszentrum sowie zahlreicher anderer Pro jekte wichtige Impulse. Man hoffte, nicht nur den Rückstand zur Spitzengruppe der deutschen Dienstleistungsmetropolen in kürzester Zeit aufzuholen, sondern ebenso eine Dienstleistungsmetropole von europäischer Bedeutung zu werden (Hofmann/Rink 2000: 22). Begleitet wurden diese Projekte durch die groß ange legte Imagekampagne „Leipzig kommt!", mit der man die Stadt im In- und Ausland zu profilieren suchte.
5.2.1 „ Leipzig kommt!" mit großen Projekten Eines der ersten großen Projekte, mit denen die Stadt Leipzig an ihre alten Tra ditionen anknüpfen wollte, war die Projektierung und Realisierung eines neuen Messegeländes im Norden der Stadt (Stadt Leipzig 1998a). Es zeigte sich, dass das Anknüpfen an die alten Messetraditionen in der Stadt nicht bruchlos funkti onierte, weil das alte innerstädtische Messegelände nicht mehr den neuesten technischen Erfordernissen entsprach. Da eine Modernisierung der Messe bei laufendem Betrieb mehrere Jahre in Anspruch genommen hätte, entschieden sich Stadt und Leipziger Messe GmbH für einen neuen Messestandort (Gormsen 1994: 10). Innerhalb von weniger als drei Jahren und mit einer Investitions summe von 1,3 Milliarden DM konnte die neue Messe im April 1996 eröffnet werden. Im Norden Leipzigs war „Europas modernstes Ausstellungsgelände" entstanden (Stadt Leipzig 1997a: 3). Die Kosten für den Bau des neuen Messe4 4
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Stadt Leipzig 2000b: 7f
geländes, die neben dem Freistaat Sachsen und dem Bund natürlich auch von der Stadt Leipzig übernommen werden mussten, sollten durch den Verkauf innerstädtischer Messehäuser sowie durch die Veräußerung des alten Messege ländes aufgebracht werden (Gormsen 1996: 10). So wurde 1993 geplant, auf dem Standort der alten Messe einen neuen Stadtteil mit mehr als 5.000 Wohn einheiten, Dienstleistungs- und Wirtschaftsunternehmen, Verwaltungs- und Forschungseinrichtungen sowie kulturellen und sozialen Einrichtungen zu ent wickeln (Stadt Leipzig 1997a: 6). Auf der Grundlage eines kooperativen Gut achterverfahrens entwickelte die Stadt Leipzig ein städtebauliches Rahmenkon zept „Alte Messe" (Stadt Leipzig 1993). Gleichzeitig gründete die Stadt eine Vermarktungs- und Entwicklungsgesellschaft, um das Projekt möglichst schnell zu realisieren. Mit dem sich bereits 1994 abzeichnenden Überangebot an Ge werbeflächen und Wohnungen gerieten die Planungen jedoch ins Stocken und wurden bis heute, abgesehen von kleineren Ansiedlungen, nicht realisiert (Hofmann/Rink 2000: 23). Neben den Investitionen in die Messe wollte die Stadt Leipzig, insbesonde re zu Beginn der 1990er Jahre, mit dem Konzept der Medienstadt den Anschluss an Leipzigs alte Tradition als Verlags- und Medienstadt schaffen: „Leipzig soll sich unter Nutzung seiner Standortvorteile, Traditionen und räumlichen Konstel lationen in den nächsten Jahren zu einem ostdeutschen Medienzentrum entwi ckeln, das sich langfristig nach Hamburg, Köln und München in die Reihe der deutschen Medienstädte einordnet" (Leipziger Wirtschaft 1991: 5). Durch die Gründung einer Entwicklungsgesellschaft Medienstadt Leipzig GmbH sollte das Konzept zeitnah präsentiert und umgesetzt werden, wobei gerade zu Beginn geplant war, die Medienstadt im graphischen Viertel anzusiedeln. Allerdings musste man 1995 einsehen, dass sich - außer der Leipziger Volkszeitung, Teilen des MDR und den Investitionen der Telekom — in dieser Richtung nicht viel getan hatte, weil nach wie vor ein „prestige- und imageträchtiger Nukleus, um den sich weitere Medienunternehmen ansiedeln könnten" (Stadt Leipzig 1995: 38) weitgehend fehlte. Erst mit der Verlagerung der Fernsehproduktion des MDR nach Leipzig und der Inbetriebnahme der neuen Sendezentrale auf dem ehemaligen Schlachthofgelände konnte im Jahr 2000 die kleinere Variante der „Media-City" realisiert werden. Parallel zur neuen Messe und der Medienstadt projektierte die Stadt bis 1996 weitere Großprojekte, deren Hauptaufgabe es war, Leipzig in eine prospe rierende Medien-, Handels- und Dienstleistungsmetropole zu verwandeln. Hier zu zählt unter anderem der von Leipzig unterstützte Ausbau des Flughafens Leipzig-Halle, die Entwicklung eines Güterverkehrszentrums der Deutschen Bahn sowie das Luftfrachtzentrum der Deutschen Post, die Ansiedlung des
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neuen Quelle Versandhauses, aber auch die Erschließung und Entwicklung zahlreicher neuer Gewerbegebiete im Nord-Osten der Stadt. Die Aufwertung und Revitalisierung der Innenstadt als einem weichen Standortfaktor war ein weiteres Instrument, mit dem sich die Stadt Leipzig zu Beginn der 1990er Jahre einen Entwicklungsschub versprach (vgl. Gormsen 1996; Stadt Leipzig 1998b). Die Wiederherstellung des historischen Stadtgrund risses und die Konservierung der historischen Bausubstanz standen im Vorder grund städtischer Aktivitäten. Alle Veränderungen in der Innenstadt sollten sich in das weitgehend erhalten gebliebene Stadtgefüge einpassen, um die Tradition Leipzigs als europäische Metropole Wiederaufleben zu lassen. Ergänzend hierzu wurden mögliche Erweiterungsgebiete der Innenstadt, insbesondere die CitySüd, mit Hilfe städtebaulicher Workshops geplant (Gormsen 1996: 22ff). So der damalige Planungsdezernent in einem Beitrag: „Eine attraktive Großstadt-City, die den Vergleich mit anderen Städten nicht zu scheuen braucht, wird auch für die gesamte Wirtschaftsentwicklung der Stadt und ihrer Region von Vorteil sein als sogenannter ,weicher Standortfaktor'" (Gormsen 1996: 26). Um Leipzigs Funktion als Oberzentrum zu stärken, sollte die Entwicklung der Innenstadt auch durch städtebauliche Großvorhaben vorangetrieben werden. Das wichtigste Projekt in dieser Hinsicht war der seit Beginn der 1990er Jahre diskutierte, 1995 begonnene und 1997 abgeschlossene Aus- und Umbau des Leipziger Hauptbahnhofs zu einem Einkaufszentrum mit mehr als 20.000 qm Handelsfläche. Die von ECE gemanagten Hauptbahnhof Promenaden sollten als Katalysator wirken, weitere Handels- und Gewerbeeinrichtungen in die Leipzi ger Innenstadt ziehen (Lütke-Daldrup/Weigel 2001: 212). Neben der Förderung städtebaulicher Großvorhaben, der Ansiedlung von neuen Unternehmen in Gewerbeparks und dem Ausbau der Irifrastruktur, stellte auch die Sanierung des Wohnungsbestandes einen wichtigen Bestandteil der Leipziger Stadtentwicklungspolitik dar. Insbesondere den Altbaubeständen wurde qualitativ und quantitativ ein erhebliches Potential für die weitere Ent wicklung Leipzigs zugesprochen. Angesichts der Dimension der zu erneuernden Gebiete wurden große Teile des an die Innenstadt angrenzenden Gründerzeit gürtels als förmlich festgelegte Sanierungsgebiete ausgewiesen: insgesamt mehr als 13 Stadtquartiere mit einer Gesamtfläche von 29.000 Wohnungen (Stadt Leipzig 1998b: 11). Die Leipziger Stadtentwicklungspolitik orientierte sich von Beginn an auf eine „Stadterneuerung im Bestand": „Mit Maßnahmen der behut samen Sanierung, Erneuerung und Ergänzung der Gebäudesubstanz, der Schlie ßung von Baulücken oder Umnutzung aufgegebener innerstädtischer Produkti onsstandorte .... wird das historische Leipzig ganz bewusst als Gegenbild zu den neu erschlossenen Siedlungen am Rand und im Umland der Stadt repariert, vervollständigt und modernisiert" (Stadt Leipzig 1998a: 10). 128
Das heißt, die vorhandenen historischen Gebäude sollten möglichst voll ständig erhalten, die Wohnungen durchgreifend modernisiert werden (Stadt Leipzig 1998b: 10). Angestrebt wurde auch, die Blockrandbebauung in den gründerzeit lichen Gebieten durch Baulückenschließungen zu ergänzen. Aufgrund der be sonderen (Stadterneuerungs-) Bedingungen in Ostdeutschland, bestand die Auf gabe der Stadtverwaltung, insbesondere des dafür eingerichteten Amtes für Stadterneuerung und Wolmungsbauförderung, darin, die überwiegend private Erneuerung zu initiieren und die zahlreichen Förderprogramme zu steuern. In den Großsiedlungen, die ebenfalls Teil der Leipziger Stadterneuerungsstrategien sind, konzentrierte man sich auf die Verbesserung des Wohnumfeldes und die Nachverdichtung bestehender Strukturen. In dem 1997 erstellten Stadtentwick lungsplan Wohnbauflächen ging man noch von 72.000 zusätzlich zu realisieren den Wohneinheiten innerhalb der Leipziger Stadtgrenzen aus: Davon sollten circa 64% als Ergänzung zum Bestand, circa 36% auf Stadterweiterungsgebie ten (Portitz, Paunsdorf, Lausen, Knauthain, Knautkleeberg) entstehen, wenn gleich man hier bereits der Ergänzung im Bestand Vorrang einräumte (Stadt Leipzig 1997b).
5.2.2 Neue Gründerzeit und Pakt der Vernunft Gerade Mitte der 1990er Jahre erwartete die Stadt Leipzig - ebenso wie Duis burg - durch die Planung zweier Urban Entertainment Center in der Innenstadt überregionale Ausstrahlungseffekte. So sollte an dem Standort des alten, mitt lerweile brachgefallenen Krystallpalastes, der um 1900 größten Vergnügungs stätte Deutschlands, ein Urban Entertainment Center mit einer „Synthese aus interaktiver Unterhaltung, Dienstleistung, Erlebnisgastronomie und spektakulä rer Produktpräsentation entstehen" (Lütke-Daldrup 2000: 24). Der zu Beginn des Jahres 1998 von der Stadtverwaltung erlassene Bauvorbescheid stellte sich jedoch bald als Makulatur heraus, da es den Investoren des Projektes nicht ge lang, durch einen entsprechenden Vermietungsstand die erforderliche Finanzie rung zu gewährleisten (Lütke-Daldrup 2000: 25). Auch das zweite, Ende 1997 von der Leipziger Wohnungsbaugesellschaft geplante Urban Entertainment Center, die Wintergarten-Plaza, ließ sich bislang nicht realisieren. Neben dem Umbau des Zentralstadions, der Errichtung der „Bio-" und der „Media-City" versprach sich die Stadt insbesondere von ihrer Bewerbung für die Ausrichtung der olympischen Spiele 2012 Impulse für die wirtschaftliche Entwicklung: „Leipzig will mit Hilfe von Olympia wieder eine europäische Großstadt mit weltweiter Bedeutung werden und sich im globalen Wettbewerb neu positionieren. (...) Wir haben den Anspruch, wieder eine Groß129
Stadt von europäischem Rang zu werden, die in der Welt wahrgenommen wird" (Leipziger Volkszeitung (LVZ) vom20./21. 03. 2004: 17). Die Orientierung auf Großprojekte in der Stadt blieb weiter bestehen. Seit 1998 wurden jedoch auch Konzepte, Programme und Maßnahmen entwickelt, die sich mit den Folgen des Bevölkerungsverlustes für Stadtentwicklung und Wohnungsbau beschäftigen. Hierzu zählen in erster Linie das Programm „Neue Gründerzeit", der „Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung" sowie der „Stadtentwicklungsplan Großsiedlungen".
Neue Gründerzeit Auftakt der neuen Stadtentwicklungsstrategien stellte die „Neue Gründerzeit" dar. Unter dem Motto „mehr Grün, weniger Dichte" sollte durch Abrisse, Um. nutzung und Zwischennutzung der Wohnungsmarkt in den gründerzeitlichen Quartieren stabilisiert, gleichzeitig die Wohn- und Lebensqualität erhöht werden (Stadt Leipzig 2000b: 9). Schwerpunkt des Programms war die Aufwertung, nicht aber der komplette Erhalt der gründerzeitlichen Bausubstanz. Es stellte eine Abkehr von der bis dahin verfolgten „behutsamen Stadterneuerung" dar, der zufolge die gesamte gründerzeitliche Bausubstanz erhalten und modernisiert werden sollte. Das Programm zielte darauf, die Wettbewerbsfähigkeit der innerstädtischen Altbaugebiete zu erhöhen. Um das zu erreichen, wurden in dem Programm drei wesentliche Strategieelemente definiert: Erhalt, Umbau und Wettbewerb. Wäh rend das Element Erhalt hauptsächlich durch die Eigentumsbildung von Selbst nutzern die Erneuerung von städtebaulich bedeutsamer Bausubstanz leisten sollte, setzte das Element Umbau an der Gewinnung von Freiflächenpotentialen zur Verbesserung der Wohnumfeldqualität in den Quartieren durch den Abriss bestehender Strukturen an. Der Handlungsansatz Wettbewerb sollte durch die Verbesserung der übergeordneten Rahmenbedingungen, wie der Landes-, Bun des und Europapolitik und der Neubestimmung Stadt- und regionalplanerischer Zielstellungen, die gründerzeitlichen Quartiere gegenüber den Standorten am Stadtrand oder im Umland stärken (Stadt Leipzig 1998b: 46). Erreicht werden sollte auch eine stärkere räumliche Prioritätensetzung beim Einsatz öffentlicher Fördermittel. Diese sollten hauptsächlich in die gründerzeit lichen Gebiete gelenkt werden, von denen man annahm, dass sie in ihrer Struk tur nur eingeschränkt zukunftsfähig waren („Umbau"), während der Erneuerungsprozess in den Gebieten, die sich als entwicklungsfähig erwiesen hatten, zukünftig nicht mehr von der Stadt investiv unterstützt werden sollte (Stadt Leipzig 2002e: 14). 130
Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung Der mit der neuen Gründerzeit eingeleitete Strategiewechsel in der Stadterneue rung wurde mit dem seit 1999 von der Verwaltung erarbeiteten und 2000 im Rat der Stadt beschlossenen Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneue rung fortgeführt und weiterentwickelt. Während die neue Gründerzeit noch ausschließlich auf den Altbaubestand in der Stadt Leipzig konzentriert war, wurde mit dem Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung eine übergreifende Strategie definiert, von der mehr oder weniger alle relevanten Bereiche des Wohnungsmarktes erfasst werden sollten (Stadt Leipzig 2000b: 10). So sollten Nutzen und Lasten des Stadtumbaus gleichgewichtig zwischen den verschiedenen Wohnungsmarktsegmenten verteilt werden. Insbesondere für die Erneuerung der Altbauquartiere, die Großsiedlungen und für den Wohnungsneubau wurden einzelne EntwicklungsStrategien erarbei tet, die in den einzelnen Teilplänen „Wohnungsbau", „Stadterneuerung" und „Großsiedlungen" zusammengefasst sind. Aufgrund der zunehmenden Konkur renz der einzelnen Wohnungsmarktsegmente, aber auch der Stadtquartiere un tereinander, zielte der Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneue rung darauf, eine räumlich und strukturell abgestimmte Strategie zu definieren. Der Teilplan „Stadterneuerung" baute im Wesentlichen auf das entwickelte Programm „Neue Gründerzeit" auf, indem die Wettbewerbsfähigkeit der grün derzeitlichen Quartiere durch den Erhalt und den Umbau gestärkt werden sollte. Die Erneuerung und Erhaltung sollte insbesondere durch Eigentumsbildung sowie Entwicklung individueller Wohnformen gefordert werden. Das bereits 1999 beschlossene Pilotprojekt „40-Häuser für Selbstnutzer" wurde dabei um weitere Projekte und Maßnahmen ergänzt, wie beispielsweise dem „Marktplatz Geschosswohnungen". Die sich aus den Leerständen und dem Rückbau erge benden Spielräume sollten in erster Linie genutzt werden, um neue Freiraum strukturen und Bebauungsformen (z. B, Einfamilienhäuser) zu etablieren. Mit Hilfe einer gebietsbezogenen Erfassung von Problemen und Potentia len wurden in dem Teilplan Stadterneuerung die einzelnen Stadtteile nach unter schiedlichen Zielkategorien eingestuft - und damit räumliche Prioritäten für den Einsatz öffentlicher Mittel definiert: „Insgesamt bedarf es einer deutlichen räumlichen Prioritätensetzung. Es geht um die tragfähige Organisation eines Schrumpfungsprozesses. Dabei ist eine Konzentration auf die Kerne der Quar tiere notwendig, um dort funktionsfähige Strukturen zu gewährleisten. Andere Bereiche müssen zu deren Gunsten in der Priorität zurückgestellt werden" (Stadt Leipzig 2000b: 50). Unterschieden wurde in dem Teilplan Stadterneuerung in konsolidierte Gebiete', die aufgrund guter allgemeiner Rahmenbedingungen und des erreichten Sanierungsstandes als „Selbstläufer" eingeschätzt werden, 131
das heißt in denen eine positive Entwicklung auch ohne den Einsatz von För dermitteln zu erwarten ist (Stadt Leipzig 2000b: 57). Daneben unterschied man ,Erhaltungsgebiete', denen eine langfristige, realistische Perspektive als Wohnstandort unter dem Einsatz öffentlicher Gelder bescheinigt wird, wenn gleich sie in ihrer gegenwärtigen Struktur durch einen Modernisierungsbedarf gekennzeichnet sind und die sogenannten ,Umstrukturierungsgebiete' (Stadt Leipzig 2000b: 57f). Auch wenn der Teilplan Stadterneuerung das nicht dezidiert ausweist, so kann man davon ausgehen, dass diese Gebiete in ihrer gegen wärtigen Struktur als wenig zukunftsfähig angesehen werden. Allerdings unter scheidet der Teilplan Stadterneuerung in Umstnikturierungsgebiete mit und ohne Priorität (Stadt Leipzig 2000b: 58). Während bei den Umstrukturierungs gebieten mit Handlungspriorität entsprechende Planungskonzepte als Grundlage für den Einsatz von Förderinstrumenten entweder für Urnstrakturierung oder den Erhalt zu erarbeiten sind, sollen Umstrukturierungsgebiete ohne Priorität aufgrund des Handlungsbedarfes in anderen Bereichen erst einmal nicht beach tet werden (Stadt Leipzig 2000b: 57f). Insgesamt handelt es sich bei beiden Kategorien um Gebiete, in denen er heblicher Spielraum für ihre weitere Entwicklung besteht. Geplant ist hier zum einen das „Liegen lassen", bei dem ein weiteres „Absinken des Bestandes" in Kauf genommen wird und zum anderen das „Auflockern", bei dem der Erhalt der Bloclaandstruktur nicht im Vordergrund steht, sondern die Lücken ander weitig genutzt werden sollen, so zum Beispiel durch Stellplätze, Grünflächen oder aber auch neue Bebauungsformen. Das im Teilplan Stadterneuerung identi fizierte Rückbaupotential von circa 7.500 Wohneinheiten wird in den Erhal tungsgebieten (Blockentkernung), aber insbesondere in den Umstrukrurierungsgebieten mit und ohne Priorität verortet (Stadt Leipzig 2000b: 58). Als Um strukturierungsgebiete wurden insbesondere Gebiete im Leipziger Osten und Westen identifiziert, in denen der Teilplan Stadterneuerung durch zusätzliche konzeptionelle Stadtteilpläne ergänzt wurde (Stadt Leipzig 2000b: 11). Um Ideen für den Umgang mit den besonders schwierigen Gebieten zu ge nerieren, wurde im Frühjahr 2001 das kooperative Gutachterverfahren „Visio nen für den Leipziger Osten" durchgeführt. Ziel war es, durch Teams von Stadt planern, jungen Architekten, Landschaftsplanern, Wohnungsunternehmern und 45
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Als wesentliche Merkmale der konsolidierten Gebiete gelten: a) gutes Standortpotential, b) vergleichsweise hohe Nachfrage, c) geringerer Anteil nicht sanierter Gebäude, d) soziale Sta bilität. In diese Kategorie fallen circa 57,7% der Flächen (Stadt Leipzig 2000b: 58). Als wesentliche Merkmale der Erhaltungsgebiete gelten: a) gute Standortqualität (bzw. abseh bare Aufwertung des Umfeldes), b) geschlossene und qualitätsvolle Gebietsstruktur (z.B. Nachbarschaft zu einem konsolidierten Bereich). In diese Kategorie fallen circa 16% der Flä chen (Stadt Leipzig 2000b: 58). Als Umstrukturierungsgebiete wurden circa 26,3% der Flä chen ermittelt (Stadt Leipzig 2000b: 58).
Bürgern möglichst vielfaltige Visionen für den Leipziger Osten im Jahre 2020 zu entwickeln und einen konzeptionellen Stadtteilplan (KSP) zu entwickeln. Auf der Basis dieses Ideenpools und den Empfehlungen des Gutachtergremiums wurde der KSP erstellt und später im Stadtrat verabschiedet. Dieses informelle Planungsinstrument soll ein visionäres Leitbild mit mittel- bis langfristiger Ent wicklungsperspektive sein. Es soll den öffentlichen Mitteleinsatz leiten und der Orientierung für private Investoren und Bürger dienen. Insbesondere vor dem Hintergrund, dass Leipzig mit der Gemeindegebiets reform 1998/99 im Umland zusätzliche große Wohnungsbauflächen zugeschla gen wurden, sollte mit dem Teilplan „Wohnungsbau" die Neuausweisung bzw. Neurealisierung von Wohnbauflächen insbesondere am Stadtrand oder im Ge schosswohnungsbau begrenzt werden. Wenngleich erste Ansätze zur Steuerung des Wohnungsbaus bereits 1997 existierten, wurden in dem Teilplan Woh nungsbau 163 der 246 potentiellen Wohnungsbaustandorte, in denen bislang weder mit der Erschließung, noch der Bebauung begonnen wurde, analysiert. Ähnlich wie in dem Teilplan Stadterneuerung wurden hierbei Standorte mit und ohne Entwicklirngspriorität unterschieden: Standorte mit Entwicklungspriorität, die beispielsweise über eine gute infrastrukturelle Anbindung verfügen, sollten weiterhin realisiert werden, während die Standorte ohne Entwicklungspriorität immerhin 121 Standorte mit 15.500 Wohneinheiten - nach Möglichkeit zurück gestellt wurden. Ziel des Teilplanes Wohnungsbau war es, potentielle Standorte mit gerin gen Entwicklungschancen zurückzustellen und die für geeignet befundenen Standorte hauptsächlich im Eigenheimbau zu realisieren. Im Teilplan Woh nungsbau wurde davon ausgegangen, dass bis 2010 circa 10.000 bis 15.500 Wolmeinheiten auf Standorten in bestehenden Siedlungsbereichen als auch auf Erweiterungsflächen im Eigenheim entstehen könnten: „Es ist ein grundsätzli ches Ziel, die Nachfrage nach Eigenheimen auf die Potentiale in der Gründerzeit und in die bestehenden Siedlungsbereiche sowie auf die Standorte mit Entwick lungspriorität zu lenken" (Stadt Leipzig 2000b: 48). Durch planungsrechtliche Maßnahmen, wie der vorbereitenden oder verbindlichen Bauleitplanung, aber auch verfahrensorganisatorischer Maßnahmen sollten Standorte, denen aufgrund fehlender verkehrlicher Anbindung oder technischer Erschließung keine Priori tät in der Realisierung eingeräumt wurde, - sofern sie bereits als Wohnbauflä chen im Flächennutzungsplan ausgewiesen worden waren -, planerisch wieder zurückgestuft werden. Ergänzend, wenn auch zeitlich nachgeordnet, zu den beiden Teilplänen Wohnungsbau und Stadterneuerung umfasst der Stadtentwicklungsplan Woh nungsbau und Stadterneuerung seit 2002 auch den Teilplan „Großsiedlungen", der sich mit dem industriellen DDR-Wohnungsbau beschäftigt (Stadt Leipzig 133
2002c). Grundlage des Teilplans „Großsiedlungen" ist der im November 2001 geschlossene „Pakt der Vernunft", in dem sich die Verwaltung mit den sechs großen Genossenschaften und der Leipziger Wohnungs- und Baugesellschaft GmbH (LWB) auf eine Reduzierung von circa 8.000 Wohneinheiten in den Plattenbaugebieten geeinigt hat (Stadt Leipzig 2002c: 32). Ziel des Teilplans Großsiedlungen ist es: „Diesen unverzichtbaren Wohnungsteilmarkt durch eine weitere Qualifizierung zu stabilisieren und anteilig einen Beitrag zur Reduzie rung des Wohnungsleerstandes in Leipzig zu erbringen. Der spürbare Bevölke rungsrückgang wird dabei gleichermaßen als Herausforderung und Chance angenommen" (Stadt Leipzig 2002c: 19). Durch den Teil- bzw. Komplettrückbau von Gebäuden, der Umnutzung von Wohnraum sowie der Zusammenlegung von Wohnungen soll, so der pro grammatische Anspruch des Planes, „mehr Qualität durch weniger Häuser" erreicht werden (Stadt Leipzig 2002c: 19). Mit einer qualifizierten Umstruktu rierung der Großsiedlungen sollen die teilweise hohen Abwanderungsraten reduziert werden, die Bewohner durch eine steigende Wohnzufriedenheit zum Bleiben animiert werden (Stadt Leipzig 2002c: 36). Wie in den beiden anderen Teilplänen auch, wurden für den Teilplan „Großsiedlungen" auf der Grundlage von Gebietspässen Bereiche in den Großsiedlungen ermittelt, die durch einen besonderen bzw. mittleren oder geringen Handlungsbedarf geprägt sind. Ein hoher, also kurzfristiger, Handlungsbedarf wurde insbesondere für die Bereiche angenommen, in denen sich hohe Leerstandszahlen (>20% in mehreren Gebäu den; >30% in einzelnen Gebäuden) und ein geringer Sanierungsgrad überlagern. Wenig, also ein eher langfristiger, Handlungsbedarf wurde in den Bereichen unterstellt, in denen wenig Leerstände zu verzeichnen sind und ein großer Teil der Gebäude bereits saniert war. Teihäumlich unterschieden wurden auch hier konsolidierte Bereiche, Sa nierungsbereiche und Umstrukturierungsbereiche. Ähnlich wie in den als konso lidiert eingeschätzten Gründerzeitbereichen, werden die konsolidierten Groß siedlungsbereiche als grundsätzlich marktfähig eingestuft. Als Sanierungsberei che wurden diejenigen Gebiete identifiziert, in denen zwar Sanierungs-, aber kein Rückbaubedarf besteht. In den Umstrukturierungsgebieten sind hingegen Totalabbrüche oder ein Teilrückbau geplant. Zwar sind innerhalb dieser Berei che auch Sanierungen vorgesehen, die Priorität liegt aber beim Abriss. Mehr heitlich befinden sich die ausgewiesenen Umstrukturierungsgebiete in der größ ten Siedlung des industriellen Wohnungsbaus, in Leipzig-Grünau. Bis 2005 sollten im Stadtteil Grünau insgesamt 2.650 Wohneinheiten abgerissen werden, 47
Innerhalb dieser Umstrukturierungsgebiete wurden im STEP GS zusätzlich differenziert zwischen Gebäude zum Abbruch in 1. und 2. Priorität, Gebäude zum Teilrückbau in 1. oder 2. Priorität.
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wobei sich der Rückbau insbesondere auf die Wohnkomplexe 7 und 8 bezog (Stadt Leipzig 2002c: 27). Sowohl WK 7 als auch WK 8 zählen zu den jüngsten und größten Komplexen in Grünau. Beide sind erst zu circa einem Drittel saniert und weisen hohe Leerstandszahlen (19% respektive 14%) auf (Stadt Leipzig 2002c: 62ff). In dem Teilplan Großsiedlungen wird jedoch davon ausgegangen, dass bis 2010 weitere 3.400 Wohneinheiten in Grünau abgerissen werden müs sen (Stadt Leipzig 2002c: 26). Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass, obwohl sich auch Leipzig als Standort profilieren will, man dennoch in bestimmten Teilbereichen der Stadt entwicklungspolitik neue Konzepte, Programme und Maßnahmen verfolgt, die den Bevölkerungsverlust und dessen Folgen insbesondere für den Wohnungsbau als ein zu steuerndes Problem der Stadtentwicklung adressierten. Fördermittel des Bundes und des Landes für den Stadtumbau Ost standen für Leipzig zwar erheblich früher zur Verfügung als für Duisburg. Gleichwohl entwickelte die Stadt Leipzig ihre ersten Strategien - wie das Programm „Neue Gründerzeit", aber auch den „Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung" bereits vor der Etablierung des Programms auf Bundesebene. Auch wenn sich in Leipzig eine gewisse Verengung der Schrumpfungsproblematik auf den Woh nungsleerstand abzeichnete, stellten sich die lokalen politischen Akteure, zu mindest partiell, auf die neuen Bedingungen in der Stadtentwicklung ein.
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Diskussions- und Entscheidungsprozesse in Duisburg und Leipzig
Die gleichermaßen dramatischen Schmmpfungsprozesse in der Folge sozioökonomischer Verwerfungen führen offenbar nicht automatisch zu gleichen PolicyErgebnissen. Obwohl Duisburg und Leipzig mit den „typischen" Problemen der Schrumpfung konfrontiert sind und unter ähnlichen Rahmenbedingungen mit vergleichbaren Instrumenten operieren, reagieren sie unterschiedlich auf die an haltenden Arbeitsplatz- und Einwohnerverluste. Ausgehend vom integrierten Ana lysemodell städtischer Politik, das in Kapitel 3.4 entwickelt wurde, wird nun die Varianz der stadtentwicklungspolitischen Reaktionen anhand der als intervenie rende Variable konzipierten politischen Diskussions- und Entscheidungsprozes se in der Stadtentwicklungspolitik analysiert und verglichen.
6,1 Duisburg Duisburg reagiert seit Ende der 1980er Jahre auf die strukturellen Arbeitsplatzund Einwohnerverluste in erster Linie mit politischen Initiativen, welche die Stadt als modernen Industrie- und Dienstleistungsstandort profilieren sollen. Die Profilierung des Standortes Duisburg verlief, auch wenn die alten Instrumente der Technologie- und Innovationsförderung ergänzt durch den Schwerpunkt Logistik weitergeführt wurden, zunehmend über neue Instrumente. Insbesondere seit Ende der 1990er Jahre erwartet man sich von der Initiierung spektakulärer städtebaulicher Großvorhaben und Festivals wichtige Impulse für die (Innen stadt-) Entwicklung. Um die Innenstadt aufzuwerten, projektierte man - neben der Einrichtung eines City-Marketings und eines Rahmenkonzepts Innenstadt - zwei große städ tebauliche Projekte. Einerseits das sich seit 1998 mit wechselnden Investoren in Planung befindende Urban Entertainment Center „MultiCasa", das auf den still gelegten Gleisanlagen des Güterbahnhofs in unmittelbarer Nähe des Haupt¬ bahnhofs entstehen sollte. Andererseits projektierte man ein Kongresszentrum mit der größten und umsatzstärksten Spielbank in Deutschland, „Urbanum". Gleichzeitig verfolgte man unter dem Motto „Duisburg an den Rhein" auch eine 137
Erweiterung und Öffnung der Innenstadt durch vormals industriell genutzte Flächen am Rheinufer. Zusammen mit der Konzeption einer Bundesgartenschau sollten auf diese Weise innerstädtische Brachflächen neu genutzt und in Wert gesetzt werden. Auch wenn sich die konkreten Instrumente durchaus veränder ten, adressierte man nahezu ausschließlich die eine, ökonomische Seite der (Schrumpfungs-) Medaille. Wie lässt sich das , Verharren' in alten Strategien im Duisburger Fall erklären? Welche Rolle spielen unterschiedliche Problemwahr nehmungen, Akteurskonstellationen und Beziehungsgeflechte dabei?
6.1.1 Problemwahrnehmung und Problemdeutung: Schrumpfung als Talsohle im ökonomischen Strukturwandel? Die Arbeitsplatzverluste, die in Duisburg aufgrund zweier montanzentrierter Strukturkrisen bereits in den 1970er Jahren einsetzten, ignorierte man in Politik und Verwaltung: „Man hat sich hier standhaft geweigert", so ein Akteur aus der Verwaltung, der bereits damals in der Stadt tätig war, „überhaupt zur Kenntnis zu nehmen, dass Duisburg ein Problem mit den Arbeitsplätzen hat" (D12/03V). Frühe Warnungen aus dem Duisburger Amt für Statistik und Europaangelegen heiten Ende der 1970er Jahre, die eine Halbierung der Stahlbeschäftigten in Duisburg bis Ende der 1980er Jahre prognostizierten, schlugen die Akteure in den Wind. Sie vertrauten darauf, dass die großen Stahlkonzerne auch in Zukunft ein Garant für wirtschaftliche Prosperität in der Stadt sein würden. „Ja, damals haben wir uns noch gedacht: Was soll uns schon passieren? Wir haben doch Thyssen, Mannesmann und Krupp" (D02/01/V). Die Sichtweise einiger lokaler Akteure war, dass der Strukturwandel in Duisburg anhalten würde. Die Vorstel lung, dass sich die Zahl der in der eisenschaffenden Industrie beschäftigten Personen dramatisch reduzieren könnte - war „nicht besonders beliebt", so dass man „punktuell mit der Revitalisierung einzelner aufgelassener Industrieflä chen" reagierte (D12/03/V). Erst Ende der 1980er Jahre setzte sich in Duisburg eine Wahrnehmung durch, wonach der ökonomische Strukturwandel als Problem angesehen wurde. Es waren die heftigen Auseinandersetzungen um die Schließung eines der letz ten großen Stahlwerke in Duisburg, des Krupp-Hüttenwerkes in Rheinhausen Ende der 1980er Jahre, die aus Sicht der Akteure ein „Knackpunkt" (Dl7/03/V) waren oder das „Ereignis, an dem jeder in der Stadt kapiert hat, dass etwas ge macht werden muss" (D02/01/I). Dass es sich hierbei um ein Ereignis handelt, das als Zäsur wahrgenommen wurde und in der Geschichte der Stadt verankert blieb, wird auch daran deutlich, dass selbst Akteure, die erst zu Beginn der 1990er Jahre nach Duisburg kamen, in den Interviews darauf verweisen. Die als 138
„Rheinhausenkrise" stilisierte Begebenheit scheint bis heute die Problemwahr nehmung der lokalen Akteure in Duisburg zu strukturieren. In der Stadt Duisburg wird der Schrampfungsprozess von den lokalen Ak teuren als ökonomischer Strukturwandel, als ökonomisch induzierter Übergang von industriellen zu postindustriellen Strukturen wahrgenommen. Die lokalen Akteure sehen in den wirtschaftsstrukturellen Aspekten der Stadtentwicklung die größten Probleme, wie in der geringen Zahl an Arbeitsplätzen, dem schlech ten Image und der fehlenden Attraktivität der Stadt sowie in den Kaufkraftver lusten. Andere Aspekte, wie beispielsweise der Bevölkerungsverlust, spielen in der Wahrnehmung der lokalen Akteure eine untergeordnete Rolle. Die dominan te Problemwahrnehmung „Schrumpfung als Talsohle im ökonomischen Struk turwandel", die sich offensichtlich Ende der 1980er Jahre durch die Rhein hausenkrise in der Stadt durchsetzen konnte und die untergeordnete Bedeutung des Bevölkerungsverlustes in der Wahrnehmung der lokalen Akteure, spiegelt sich auch in den Themen des politischen Diskussions- und Entscheidungspro¬ zesses in Duisburg wider (siehe Abbildung 9). Abbildung 9:
Themen im Rat der Stadt und in den Fachausschüssen nach Stichworten und Relevanz Stadt Duisburg 1997-2001
1997
1998
1999
m "Bevölkerung" •
2000
2001
"Großprojekte"
Quelle: Kommunaler Sitzungsdienst der Stadt Duisburg (eigene Erhebung) 139
Während die diversen Großprojekte - wie das Urban Entertainment Center „Mu ltiCasa", das Spielcasino- und Kongresszentrum „Urbanum" und die bundesgar tenschau" - einen breiten Raum in den Diskussions- und Entscheidungsprozessen einnehmen, wird der Bevölkerungsverlust vergleichsweise marginalisiert thema tisiert. Zwar wird auch dieser in den politischen Gremien diskutiert, dennoch nimmt die Problematik keinen breiten Raum ein. Die Großprojekte lassen das Thema Einwohner sogar noch in den Hintergrund rücken.
Problemwahrnehmung: „Jede Mark, die in dieser Stadt ausgegeben wird, muss für den Strukturwandel ausgegeben werden" Es ist die geringe Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, die die lokalen Akteure als eines der Hauptprobleme der Stadt Duisburg benennen. So betonte auch die Duisburger Oberbürgermeisterin Bärbel Zieling in ihrer An trittsrede, dass der Verlust von Arbeitsplätzen in Duisburg und die daraus fol genden hohen Arbeitslosenzahlen, das „größte Übel" in der Stadt darstellen, sie in ihrer Amtszeit den Schwerpunkt auf die „Intensivierung des Stmkturwandels in der Stadt Duisburg" legen wird, um Arbeitsplätze neu zu schaffen und alte zu sichern (OB Zieling öffentliche Sitzung, Rat der Stadt am). Eine Problemwahr nehmung, die in Duisburg offensichtlich allgemein geteilt wird, denn auch ande re lokale Akteure heben hervor, dass in der niedrigen Zahl der sozialversiche rungspflichtig Beschäftigten eines der Hauptprobleme der Stadt liege. Eine Interviewpassage spiegelt diese Wahrnehmungsweise prägnant wieder: „Die Arbeitsplatzbasis in Duisburg reicht ganz grob für einen Mantel von 300.000 Ein wohnern - und wir haben 200.000 Einwohner mehr. Das ist das Hauptproblem in Duisburg" (D12/03/V). Die lokalen Akteure stufen das Missverhältnis zwischen Arbeitsplätzen und Einwohnern in Duisburg nicht nur im Vergleich zu anderen westdeutschen Großstädten als besorgniserregend schlecht ein, sondern auch im Vergleich zu ostdeutschen Großstädten: „In Relation zur Einwohnerzahl haben wir in Duis burg eine Quote", so die Perspektive eines lokalen Akteurs, „mit der wir mitt lerweile selbst von Leipzig und Dresden abgehängt worden sind (D06/03/V). Gerade der Stadt Leipzig wird aufgrund der gelungenen Neuansiedelungen von Porsche und BMW eine Entwicklung prognostiziert, bei der „Duisburg kaum noch deren Rücklichter" zu sehen bekommen wird (D06/03/V). Dass die Arbeitsplätze das Hauptproblem in Duisburg sind und es sich hierbei um eine weithin geteilte Problemwahrnehmung in der Stadt handelt, kommt auch darin zum Ausdruck, dass die Sicherung und Schaffung von Ar beitsplätzen der zentrale argumentative Rahmen ist, mit dem politische Maß140
nahmen und Strategien - und hier insbesondere die großen Projekte, wie das Ur ban Entertainment Center „MultiCasa" aber auch das Spielcasino- und Kon gresszentrum „Urbanum" und der Dienstleistungspark „RheinPark" - in der politischen Sphäre .gebaut' werden. Im Vordergrund der Stadtentwicklungspoli tik steht die Verfolgung ökonomisch relevanter Ziele, wobei die lokalen Akteure insbesondere der Organisation von Arbeit und Erwerbstätigkeit eine herausra gende Bedeutung zusprechen (öffentliche Sitzung des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung, 31.08.1998). So erläutert der Beigeordnete für Stadtent wicklung und Planung in einer Sitzung des Fachausschusses, dass es bei dem Bau des Urban Entertainment Center darum gehe, die „Stadt als Großstadt ins besondere unter arbeitsplatzrelevanten Gesichtspunkten zu profilieren", wobei die „Ausgewogenheit zwischen den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten und der Einwohnerzahl wieder herzustellen sei" (öffentliche Sitzung des Aus schusses für Planung und Stadtentwicklung, 31.08.1998). Auch im Hinblick auf die Neubauung der Innenstadt mit dem Spielcasino und Kongresszentrum weist die Verwaltung darauf hin, dass es sich hierbei um eine Investition handelt, mit der eine Arbeitsplatzbindung erzielt werden könne (Mitteilungsvorlage FA Planung und Bau, DS 2682 vom 20.06.2001). Alle Projekte und Maßnahmen in der Stadtentwicklungspolitik von Duisburg werden daraufhin geprüft, welche die dringend benötigten „positiven Zeichen für den Strukturwandel" setzen würden (RH SPD, öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am21.09.1998). Ein weiterer Hinweis auf die Problemwahrnehmung der lokalen Akteure „Schrumpfung als ökonomischer Strukturwandel" ist, dass Image- und Attrakti vitätsprobleme der Stadt Duisburg eine herausragende Rolle spielen: Neben dem Stichwort Arbeitsplätze das am häufigsten genannte Problemthema in den Inter views. Duisburg besitzt, so auch die Feststellung in einer städtischen Beschluss vorlage, ein Imageproblem. Die Stadt leidet unter einem fehlenden positiven Außenimage (Beschlussvorlage Rat der Stadt; DS 4576). Eine Sicht, die ein Akteur aus Duisburg angesichts seines eigenen, Anfang der 1990er Jahre ge planten Umzugs in die Stadt bestätigt: „Ja, diese Vorstellung ,Igitt, das hässliche Duisburg', die war schon da" (D02/01/I). Aus der Perspektive der lokalen Ak teure ist es dieses „verkrustete und veraltete" Bild der ehemaligen Montanstadt (Dl 1/03/1), dieses „Schimanski Pott Milieu" (D09/03/P), welches in den Köpfen der Republik festsitzt, das eine erfolgreiche Positionierung Duisburgs als mo dernem Dienstleistungsstandort im interkommunalen Wettbewerb erschwert. 48
So der Alt-Oberbürgermeister der Stadt Duisburg Josef Klings in seinen Erinnerungen: „Wer in Duisburg eine langweilige Gesellschaft in Stimmung bringen will, der muss nur das Thema Schimanski einspielen. Sofort bilden sich zwei Gruppen, die leidenschaftlich darüber streiten,
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Duisburg hat zwar durchaus Potentiale als Standort, wie beispielsweise die hervorragende geographische Lage am Rhein, an der Schnittstelle zwischen dem Ruhrgebiet, dem Rheinland und den Niederlanden, aber - auch das bestimmt die Problemwahrnehmung der lokalen Akteure - sind diese bisher nicht ausreichend genutzt worden. Zum einen, weil niemand in der Stadt darüber redet (Dl6/03/V), zum anderen, weil es nicht nach außen kommuniziert wird (D06/03/ V). Ein Zitat der Oberbürgermeisterin spiegelt in paradigmatischer Weise diese Sicht wieder: „Das Außenimage Duisburgs, meine Damen und Herren, muss verbessert werden. Wir müssen die Stärken dieser Stadt offensiv nach außen transportieren. Wir müssen immer wieder auf die herausragenden Standortquali täten - die geographische Lage, die Verkehrsanbindung, den Hafen, die Univer sität, unsere Gewerbegebiete sowie die hohe Lebensqualität - aufmerksam ma chen. Nicht umsonst leben die Duisburger gerne in ihrer Stadt!" (OB Zieling öS des Rates der Stadt vom 1.1.1997). Auch die fehlende Zentralität und Urbanität der Duisburger Innenstadt wird als ein besonderes Defizit bei den lokalen Akteuren wahrgenommen. Sie ent spricht in ihrer Angebotsform und der Größenauslegung bisher eher einer Stadt von 200.000 bis 300.000 Einwohnern und nicht einer Halbmillionenstadt (D06/03/V). Da sich „jeder Stadtteil in Duisburg so wichtig wie die Innenstadt nimmt" (Dl6/03/V), resultiert daraus auch eine prekäre stadtinterne Konkur renzsituation zwischen den Nebenzentren und der eigentlichen Innenstadt. Was aber aus Sicht der lokalen Akteure viel entscheidender ist, ist die Tatsache, dass sich die Innenstadt aufgrund ihrer „wenig räumlich zentrierten Struktur" (D06/03/V) oder sogar der „unterentwickelten Urbanität" (D14/03/P) im inter kommunalen Wettbewerb im Ruhrgebiet immer weniger behaupten kann. Eine Problemwahrnehmung, die sich insbesondere mit der Eröffnung des CentrO, einem der größten Einkaufszentren im Ruhrgebiet, in der benachbarten Stadt Oberhausen bei den lokalen Akteuren durchgesetzt hat: „Denken Sie mal an das Beispiel Oberhausen. Eine Stadt wie Oberhausen, die immer im Ruhrgebiet eine graue Maus war, hat sich heute so mit CentrO Oberhausen positioniert, dass sie nicht mehr die graue Maus ist. Heute ist das der große Star" (D14/03/P). Dass Duisburg im verschärften interkommunalen Standortwettbewerb ei nen Nachteil hat, wird auch daran deutlich, dass das 1997 verabschiedete CityMarketing explizit als eine „Gegenstrategie zum CentrO in Oberhausen" im Rat der Stadt begründet wird (RH SPD, öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am 15.12.1997). Angenommen wird von den lokalen Akteuren ein „Kausalzusam menhang zwischen Arbeitslosigkeit und Kaufkraftbindung" in der Stadt Duis burg - wie das ein Ratsherr der SPD in einer Sitzung des Fachausschusses trefob er das Image Duisburgs zerstört oder ob er eine Werbung für Duisburg sei (Klings 2000: 45).
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fend ausdrückt. So dass es „neben dem Aspekt der Kaufkraftbindung und der Arbeitsplatzsicherang darum geht, dass die Stadt an Attraktivität und Bekanntheitsgrad gewinnt" (RH, SPD; öffentliche Sitzung des FA Planung und Bau, 31.08.1999). Um Arbeitsplätze zu schaffen und zu sichern, muss deshalb die Innenstadt als „Großstadt mit adäquater urbaner Ausstattung entwickelt wer den", wobei sowohl die innerstädtischen Großprojekte, aber auch die Entwick lung des Rheinparks in Duisburg-Hochfeld als ein wichtiger Baustein hierzu gesehen werden. Die Entwicklung der Innenstadt „als ein wesentliches Aushän geschild mit akquisitorischer Bedeutung gerade im Hinblick auf auswärtige Interessen" ist ein Prozess, der aus Sicht der Akteure erst in den letzten Jahren in der Stadt überhaupt an Bedeutung gewonnen hat. Die dominante Problemwahrnehmung der lokalen Akteure wird auch daran deutlich, dass die Bevölkerungsverluste in der Problemperzeption nur eine un tergeordnete Rolle spielen. Die Einwohnerverluste sind allenfalls latent, aber keinesfalls manifest in der Wahrnehmung der lokalen Akteure als Problem ver ankert - und wenn diese als Problem interpretiert werden, fast ausschließlich in Bezug auf die Stadt-Umland-Wanderung, also der Suburbanisierung, Aus Sicht der lokalen Akteure ist der Bevölkerungsverlust hauptsächlich der Abwande rung von Familien und Besserverdienenden aus der Stadt geschuldet. Das lässt sich auch daran festmachen, dass die stadtentwicklungspolitischen Reaktionen auf den Bevölkerungsverlust, wie die Ausweisung neuer Baugebiete im Süden der Stadt, damit begründet werden, dass so die Abwanderung von Familien und Mittelschichthaushalten aus Duisburg aufgehalten werden könne: „Wir haben gerade am Montag eine entsprechende Vorlage noch einmal verabschiedet, was die Determinanten der Stadt-Umland-Wanderungen angeht. Jetzt haben wir eine Immobiliengesellschaft gegründet, nennt sich Immobiliengesellschaft Duisburg, und die soll jetzt mit dem Planungsamt eine entsprechende Marketinggesell schaft ausfindig machen, um freistehende Grundstücke vermarkten zu können. Und ich denke mir, dass das auch wieder eine erneute Strategie sein kann, um hier für Besserverdienende, für Familien, für junge Familien mit Kindern oder entsprechende Angebote wie Wohnen und Leben am Wasser zu bieten" (D09/03/P). Die weitgehende Nichtthematisierang des Bevölkerungsverlustes resultiert daraus, so scheint es zumindest, dass die Einwohnerverluste auf die schlechten Bedingungen des städtischen Arbeitsmarktes in der Stadt zurückgeführt werden. Allerdings spielt auch die mangelnde Attraktivität städtischer Wohngebiete eine Rolle. Ein Akteur aus der Verwaltung gibt Hinweise darauf, warum das Thema Bevölkerungsverlust möglicherweise keinen besonders hohen Stellenwert in der Wahrnehmung der Duisburger Stadtentwicklungspolitik genießt: „Man setzt einen Automatismus voraus, denn das hat man schon verstanden hier, dass mit 143
dem Arbeitsplatzabbau auch ein Einwohnerverlust einhergeht. Jetzt ist der Au¬ tomatismus, den man unterstellt, genau anders herum: Wenn wir Arbeitsplätze kriegen, dann wird der Bevölkerungsabbau bestimmt nicht so gravierend sein, wie man das jetzt annehmen muss" (D12/03/V). Der Bevölkerungsverlust durch den Geburtenrückgang und den Sterbefallüberschuss wird in der Stadt Duisburg hingegen nicht wahrgenommen. So kon zedieren mehrere Akteure, dass der demographische Bevölkerungsverlust bis lang überhaupt nicht als Problem in der Stadt Duisburg interpretiert wird, weil man sich in den letzten 10 Jahren in der Stadt eben auf die Verhinderung der Stadtflucht von Familien und Besserverdienenden konzentriert habe. Man geht so die Ansicht einiger Akteure - in der Stadt von den aktuellen Zahlen aus, während man eine langfristige Stadtentwicklungsplanung im Sinne des demo graphischen Bevölkerungsverlustes nicht verfolgt: „Der Bevölkerungsverlust wird beklagt. Es gibt wieder Wanderungsmotivanalysen. Ausgeklammert hat man bis jetzt, dass es nicht nur Wanderungsverluste, sondern auch einen demo¬ graphischen Wandel gibt. Das ist etwas, was für meine Begriffe unzulänglich in die Stadtpolitik eingegangen ist. Dass das eben eine Bedeutung für Wohnungs märkte und Infrastruktur hat. Obwohl es so etwas wie Pläne zu einem altenge rechten Wohnen und einen Pflegebedarfsplan gibt, ist das trotzdem kein imma nenter Teil der Stadtpolitik" (D12/03/V).
Problemdeutung: „Es geht ja immer auch wieder aufwärts, im zyklischen Rhythmus" Es gibt durchaus Akteure in der Stadt Duisburg, und hier insbesondere die aus der Verwaltung, die davon ausgehen, dass es sich bei den zu beobachtenden Einwohner- und Arbeitsplatzverlusten um eine mittel-, bis langfristige Perspek tive für die Stadt Duisburg handeln wird, auf die sich die Stadt also einstellen muss. Ein Akteur aus der Verwaltung formuliert diese realistische Deutung des Schrumpfungsproblems: „Es wird nicht aufwärts gehen, weil spätestens ab 2010 die demographische Entwicklung durchschlägt... dann wird die Einwohnerzahl dramatisch abnehmen. Man kann da vielleicht gegensteuern, aber man kann das nicht umdrehen" (D15/03/V). Gleichwohl machen solche Akteure darauf aufmerksam, dass es sich bei ih rer Deutung („Schrumpfung als langfristige Entwicklung") nicht unbedingt um eine handelt, die in der Stadt allgemein geteilt wird. Zum einen, indem sie dar auf verweisen, dass das ihre ganz persönliche Sicht' oder ihre ,eigene Philoso phie' ist, wie dieser Akteur aus der Verwaltung: „Das ist eine ganz persönliche Sicht der Dinge, also ich habe da so meine eigene Philosophie, auf der einen 144
Seite muss man sehen, dass wir Beschäftigtenzahlen zurzeit der Montanblüte hatten, die werden wir hier nicht mehr erreichen, das wäre illusorisch. [...] Zum anderen haben wir den Umstand, dass wir besserverdienende Familien im grö ßeren Umfang verlieren. Das sind zwei Trends, die sich natürlich verstärken. Das wird aus meiner Sicht dazu führen, dass wir einen gewissen Schrumpfungsprozess in Duisburg auch weiterhin haben werden" (D17/03/V). Zum anderen wird beklagt, dass das Bevölkerungsproblem in seiner ganzen Tragweite noch nicht in den politischen Diskussionen angekommen ist - und auch in den politi schen Gremien nicht vermittelbar ist. Der Bevölkerungsverlust wird in Duisburg als Bedeutungsverlust wahrgenommen, weshalb er in der Politik nicht themati sierbar ist. Obwohl eigentlich alle an der Stadtentwicklungspolitik beteiligten Akteure wissen müssten, dass es noch weitere dramatische Einwohnerverluste in der Stadt geben wird, wollen das die meisten Akteure nicht wahrhaben. Dass man in Duisburg offensichtlich den Rückenwind der Realität braucht, um das Thema in der Stadt politikfähig zu machen, wird auch an folgendem Interview zitat deutlich: „Der BevölkerungsVerlust wird zwangsläufig in Duisburg eine größere Rolle spielen, weil die reale Welt ja auch so sein wird. Die reale Welt wird uns dazu zwingen, politisch tätig zu werden" (Dl6/03/V). Eine Einschätzung, die sich anhand der Interviews und der Stadtratsproto kolle auch nachvollziehen lässt. Insbesondere bei den politischen Akteuren überwiegt eine Problemdeutung, die man als „Verdrängung" bezeichnen kann. Der städtische Schmmpfungsprozess wird von ihnen als eine „Talsohle" be trachtet. Man vermutet, dass es sich bei den gegenwärtig zu beobachtenden Entwicklungen in Duisburg um eine Phase des Abschwungs handelt, die aber auch wieder durch eine Phase des Aufschwungs abgelöst wird. Die Vorstellung, dass es sich um eine zyklische Entwicklung handelt, drückt ein Akteur stellver tretend für andere folgendermaßen aus: „Ich glaube schon, dass man das hier als Talsohle betrachtet, das ist ja auch im Großen so. Es geht ja immer auch wieder aufwärts, im zyklischen Rhythmus" (D10/03/P). Eine Deutung des Problems, die auch von der Oberbürgermeisterin der Stadt favorisiert wird, die darauf aufmerksam macht, dass zwar die dramatischen Arbeitsplatzverluste im Mon tanbereich nicht von heute auf morgen auszugleichen sind, dass sich aber eine „Trendwende" anzudeuten - und damit die „Talsohle" durchlaufen zu sein scheint (OB, öffentliche Sitzung des Rates am 01.07.1997). Auch ein Akteur aus der Verwaltung bestätigt, dass es die offizielle Position der Stadt ist, anzuneh men, dass bei den sozialversicherungspflichtig Beschäftigten die Talsohle er reicht ist und dass es nun bergaufgeht (D12/03/V). Eng verknüpft mit einer solchen Deutung ist die Hoffnung lokaler Akteure, dass die Talsohle, in der sich die Stadt Duisburg befindet, mit geeigneten politi schen Maßnahmen und Strategien schneller durchschritten - und somit in einen 145
erneuten Wachstumsprozess umgekehrt werden kann. Eine Deutung, die sich möglicherweise damit erklären lässt, dass die Akteure in der Stadt der Überzeu gung sind, in Duisburg habe man es versäumt, rechtzeitig Alternativen zu den montanindustriellen Strukturen aufzubauen. Ein Phänomen, das nicht nur für die Stadt Duisburg zu konstatieren ist, sondern ebenso auch für andere Städte im Ruhrgebiet zutrifft. Dennoch wird hervorgehoben, dass man insbesondere in Duisburg sehr lange gebraucht hat, um zu realisieren, dass die großen örtlichen Stahlunternehmen wie Thyssen, Mannesmann und Krupp für die Zukunft nicht die alleinigen Garanten lokaler Beschäftigungsmöglichkeiten und Wirtschafts kraft sein können: „Das [Festhalten an überkommenen Wirtschafts- und Be triebsstrukturen, BG] ist der Stadt Duisburg sicherlich bis in die 1990er Jahre hinein besonders passiert, denn wir haben nach wie vor noch eine Zeche, wir haben noch ein Stahlunternehmen, und ich bin mir ziemlich sicher, dass wir auch noch das letzte in Deutschland produzierende Stahlunternehmen haben werden, weil der Standort einfach ideal ist. Da haben wir es in dieser Stadt in der Tat erst in den letzten 10 Jahren verstanden, Alternativen aufzubauen" (D06/03/V). Heute werden als Träger dieser Hoffnung die großen Projekte in der Stadt ausgemacht, die in Form eines „Big Bängs" oder eines „großen Knalls" Duis burg nach vorne bringen sollen (öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am 07.10.02). Sie sind ein wesentliches Instrument, um Duisburg erfolgreich als Standort zu platzieren. Wie sehr Leuchtturmprojekte der Stadt aus Sicht der lokalen Akteure in den letzten Jahren geholfen haben, verdeutlicht ein Akteur anhand der Situation Ende der 1980er Jahre: „Wir waren damals in einer Situa tion, die ähnlich kritisch war [wie heute, BG], damals hat Krupp in Rheinhausen seine Tore geschlossen. Da waren wir finanziell und als Standort schon ange schlagen. Wir haben es damals geschafft, so eine Art Aufbruchsstimmung zu erzeugen.... Man kann ... auch ein bisschen frischen Wind verbreiten und versu chen, Projekte mit Leuchtturmwirkung und Initialzündung auf den Weg zu brin gen. Heute kann man sehen, dass sich die Erfolge manifestieren" (D17/03/V). Dass die großen Projekte in der Innenstadt ein richtiges Instrument zur Siche rung und Schaffung von Arbeitsplätzen in der Stadt Duisburg sind, wird von dem Beigeordneten für Planung und Stadtentwicklung auch damit begründet, dass Duisburg - wie viele andere Städte im Ruhrgebiet - historisch durch die Großindustrie geprägt ist, so dass „Großstrukturen sozusagen etwas Regionalspezifisches" seien (öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am 31.08.99). Insgesamt erhofft man sich hiervon, dass beispielsweise das Urban Enter tainment Center, aber auch das Kongresszentrum und Spielcasino, nicht nur das alte Image „Stadt Montan", welches der Stadt immer noch anhängt, beseitigen, sondern, dass diese auch einen „frischen Wind und eine Aufbruchstimmung 146
verbreiten" (D17/03/V), weil - so ein Akteur aus Duisburg - sich auch alles im Bereich der Psychologie abspielt: „Man kann eine Stadt als Standort schneller schlecht reden, als einem lieb ist" (D17/03/V). Um den Strukturwandel in der Stadt zu intensivieren, Arbeitsplätze zu sichern und zu schaffen, ist es deshalb wichtig, „Meilensteine" oder „Jahrtausendprojekte" auf den Weg zu bringen (RH SPD, öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am 21.09.1998). Die Problemdeutung, dass es sich bei den Arbeitsplatz- und Einwohnerver lusten um eine Talsohle im ökonomischen Strukturwandel handelt, aus der man mit den geeigneten politischen Projekten auch wieder herauskommt, wird von einem politischen Akteur der SPD in folgendem Ausspruch exemplarisch zu sammengefaßt: „So hoffe ich, dass wir wirklich in einer Talsohle sind. Und dass die Anstrengungen, die seitens der Stadtverwaltung wie auch der Politik unter nommen werden, also dass es jetzt wirklich zu diesem Anstieg kommt, denn wir haben gerade vor kurzem das Projekt Casino Liner [heute: Urbanum, BG], das haben wir jetzt in trockenen Tüchern, die Grundstücksverträge sind soweit klar, und wir warten nun auf die endgültige Baugenehrnigung und wenn die vorliegt, dann haben wir auch die Erlaubnis von Minister Vesper, die Mercatorhalle ab zureißen. Also trotz aller Schwierigkeiten, wir stecken den Kopf dennoch nicht in den Sand, sondern schauen weiter nach vorne" (D09/03/P). Der Schrumpfungsprozess wird in Duisburg, so lässt sich festhalten, als „Talsohle im ökonomischen Strukturwandel" interpretiert. Die lokalen Akteure sehen in den wirtschaftsstrukturellen Aspekten der Stadtentwicklung die größten Probleme, wie in der geringen Zahl an Arbeitsplätzen, dem schlechten Image und der fehlenden Attraktivität der Stadt sowie in den Kaufkraftverlusten. Ins gesamt überwiegt in Duisburg eine Problemdeutung, die man als „Verdrän gung" bezeichnen kann: Zwar gibt es Akteure in der Stadt, die insbesondere den demographischen BevölkerungsVerlust als eine eher langfristige Entwicklung betrachten, deutlich wird jedoch, dass es sich dabei um eine realistische Prob lemdeutung handelt, die in der Stadt nicht allgemein geteilt wird - und die of fensichtlich auch nicht zu ,verkaufen' ist. Insbesondere die Politiker betrachten den städtischen Schrumpfungsprozess als eine „Talsohle". In dieser dominanten Problemperzeption spielen Bevölkerungsverluste nur eine untergeordnete Rolle. Die Einwohnerverluste sind allenfalls latent in der Wahrnehmung der lokalen Akteure als Problem verankert - und wenn diese als Problem interpretiert wer den, dann fast ausschließlich in Bezug auf die Stadt-Umland Wanderung, die Suburbanisierung.
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6.1.2 Agenda-Setting und Politikformulierung: Wer kennt wen? Auch wenn, wie gezeigt, sich die lokalen Akteure an relativ routinierten Deu tungsschemata orientieren, die sich Ende der 1980er Jahre unter dem Eindruck der „Rheinhausenkrise" durchsetzen konnten, haben sich die konkreten Bezüge durchaus verändert. Inzwischen werden als Träger der Hoffnung, dass sich der Schrumpfungsprozess wieder umkehren lässt, die großen Projekte in der Stadt ausgemacht. Wer brachte die Innenstadtaufwertung durch Großprojekte in den politischen Diskussions- und Entscheidungsprozess ein? Gab es aus Sicht der lokalen Akteure bestimmte Ereignisse? Waren das die Politiker, die Verwaltung, die Verbände und Kammern - oder die Landesakteure?
Verwaltung Es waren die Mitte der 1990er Jahre wieder ansteigenden Arbeitslosenquoten und Abwanderungszahlen, die einen Problemdruck in der Stadt Duisburg gene rierten. Die Hoffnung der Verwaltungsakteure, dass der vereinigungsbedingte Wirtschaftsaufschwung in Duisburg weitergehen würde, hatte sich zerschlagen: „Ja, Aufbruchstimmung gab es hier mit dem Wiedervereinigungsboom, da ha ben wir gehofft, dass man den Trend umkehren kann" (D12/03/V). Feierte man zu Beginn der 1990er Jahre „erste Erfolge im Strukturwandel", musste man Mitte der 1990er Jahre zur Kenntnis nehmen, dass Duisburg - bezogen auf die Arbeitslosenquoten und die Beschäftigtendichte - nicht nur zusammen mit den Städten Gelsenkirchen, Oberhausen und Dortmund die „rote Laterne" im Ruhr gebiet bildete, sondern auch noch deutlich schlechtere Werte aufwies als die ostdeutschen Städte Dresden, Leipzig und Chemnitz. Duisburg war also, das mussten die lokalen Verwaltungsakteure realisieren, in der interkommunalen Konkurrenz keineswegs besser aufgestellt als Ende der 1980er Jahre. Den Akteuren wurde schmerzlich bewusst, dass die „Stadt nun endgültig kein Geld mehr hat" (D06/03/V), wobei man gleichzeitig zur Kenntnis nehmen musste, dass die für die Stadt besonders wichtigen Fördermittel der Europäischen Union aus dem Ziel II Programm im Jahr 2006 endgültig auslau fen würden. So merkt der Beigeordnete für Planung in einer öffentlichen Sit zung des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung an, dass durch die geplante Osterweiterung der Europäischen Union eine regionalspezifische För derung der Stadt Duisburg wie in den letzten zehn Jahren nicht mehr zu erwar ten sei und man alles tun müsse, um im Zeitraum bis 2006 Investitionen mit Impulsgebung auf die Stadt zu lenken (Beigeordneter, öffentliche Sitzung des Aus schusses für Planung und Stadtentwicklung am 27.06.2001). Aus Sicht der Ver148
antwortlichen gab es für die Stadt angesichts dieser Bedingungen zwei Optio nen: „Sie können als Stadt zum einen sagen, die Rahmenbedingungen sind so schlecht, da können wir eigentlich gar nichts machen, oder aber sie können zum anderen auch sagen, dass wir nun Prioritäten setzen müssen und schauen, wo die Probleme am dringendsten sind und wie die Mittel dafür lockergemacht werden können" (D17/03/V). Die Akteure der Verwaltung realisierten Mitte der 1990er Jahre, dass Duis burg als moderner Wirtschaftsstandort nicht nur über die alten Instrumente des Gewerbeflächenmanagements und der Technologieparks zu profilieren ist, son dern, dass hierfür auch neue Instrumente der Standortprofilierung nötig sind. Nicht nur die beiden großen Projekte in der Innenstadt, wie das Urban Enter tainment Center „MultiCasa" (1998) und das Spielcasino und Kongresszentrum „Urbanum" (2000), sondern auch die Bewerbung um die Bundesgartenschau (2001) oder die Entwicklung des „Rheinparks" (2002) zählen zu ihren Initiati ven. Die Rolle der Verwaltung bei der Innenstadtaufwertung war zentral: „Die Vernachlässigung der Innenstadt ist der absolute Unsinn. [...] Es ist aus der Verwaltung heraus in die politische Diskussion gebracht worden, dass es Priori tät haben muss, die Innenstadt zu entwickeln, aufzuwerten" (D06/03/V). Eine Konzentration auf die Innenstadt, die auch durch den Erfolg eines frühen „Leuchtturmprojektes" in der Duisburger Stadtentwicklungspolitik, dem im Rahmen der Internationalen Bauausstellung Emscher Park entwickelten Dienst leistungspark Innenhafen, in der Duisburger Stadtverwaltung angestoßen wurde. Obwohl die Skepsis zu Beginn der 1990er Jahre in der Stadtverwaltung nach dem Motto „sieht ja alles nett aus, aber in Duisburg, das kann doch gar nicht funktionieren" (D06/03V) sehr groß war, übertraf das Projekt die Erwartungen bei weitem, so dass die Innenstadtaufwertung zu einem Entwicklungsziel wurde. Das Innenhafenprojekt gilt in der Verwaltung insbesondere deshalb als erfolg reich, weil es hier gelungen ist, privatwirtschaftliche Investitionstätigkeiten zu initiieren, die einen großen Teil der Entwicklungskosten (nämlich 9/10) getra gen haben, während die Stadt (bzw. das Land Nordrhein-Westfalen) nur die nötige Infrastruktur finanzieren musste. Die Verwaltungsakteure versuchten zunehmend, die „Subventionsmentali tät" in der Stadt aufzubrechen und „privatwirtschaftliche Investitionsbekenntnis se in die Stadt zu lenken" (Beigeordneter für Planung, öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am 30.05.2000). Die Strukturprogramme des Landes NordrheinWestfalen, aber auch die der Europäischen Union haben zwar - so die einhellige Meinung der Verwaltungsakteure - einen Absturz des Ruhrgebietes nach der Kohleund Stahlkrise erfolgreich verhindert, dennoch hat sich ein Verständnis auf der lokalen Ebene durchgesetzt, der „Spendenempfänger des Landes" (D17/03/V) 149
zu sein. Ein kontraproduktives Bewusstsein: „Das Ruhrgebiet ist durch die Lan desprogramme, dankenswerterweise, nicht in einen Verfall überführt worden, gleichzeitig hat sich ein alimentiertes Bewusstsein durchgesetzt. Wenn wir ein Problem haben, dann heißt es: ,Ruf mal nach Staatsknete'" (D16/03/V). Während man sich in Duisburg in der Vergangenheit immer an das Land Nordrhein-Westfalen anschloss, nach dem Motto „da wo wir viel absahnen können, als ,Beton-SPD-Stadt', da machen wir mit" (Dl 1/03/1), versuchten die Verwaltungsakteure seit Mitte der 1990er Jahre, überlokale private Großinvesto ren in die Stadtentwicklung einzubinden, also zusätzlich privates Kapital für die Umsetzung stadtentwicklungspolitischer Maßnahmen zu generieren. Um private Investoren auf sich aufmerksam zu machen, präsentierte sich die Stadtverwal tung auch regelmäßig auf nationalen und internationalen Immobilienmessen, wie beispielsweise der MPIM in Cannes. Ein aus der Sicht der Verwaltungsak teure gelungenes Unternehmen: „Wir sind Frühjahr 1998 das erste Mal ... auf der europäischen Immobilienmesse in Cannes gewesen und haben dort dieses Projekt MultiCasa vorgestellt, wo alle Leute sehr kritisch waren. Ob wir denn jetzt völlig größenwahnsinnig geworden wären, ein Projekt von weit über 100.000 Quadratmetern Verkaufsfläche in Duisburg zu machen. Wir haben damit eins geschafft: Wir haben die Stadt Duisburg und den Standort Duisburg, diese fast 40ha große Brachfläche am Hauptbahnhof, in der Immobilienwirt schaft präsent werden lassen" (D06/03/V). Die Ausrichtung auf Großinvestoren aus der Immobilienbranche ist auch eng mit einem personellen Wandel an der Spitze der planenden Verwaltung verknüpft. Der seit 1995 amtierende Beigeordnete für Stadtentwicklung und Planung, von der lokalen Presse abfällig als „Berufsvisionär" bezeichnet, trug maßgeblich dazu bei, von einer „Förderplanung" auf eine „Investorenplanung" in der Stadt Duisburg umzustellen: Er hat die „Planungslethargie" in der Stadt aufgebrochen (D14/03/P) und einen „frischen Wind" (D09/03/P) in die Stadt verwaltung und die Politik gebracht. Auch wenn, wie ein Politiker bemerkt, der Beigeordnete „schon unglaublich großkotzige Sachen in den Raum wirft, die schon fast an den Rand der Satire reichen, wie dieser berühmte Ausspruch von ihm, ,erst machen wir Düsseldorf platt, dann Paris'" (D10/03/P), so sind sich die Akteure einig, dass der Beigeordnete die „Verwaltung in Duisburg aufgerüttelt" hat (D09/03/P). Der Versuch der Verwaltungsakteure, zunehmend private Großinvestoren in die Stadtentwicklungspolitik mit einzubeziehen, ist sicherlich auch eine Re aktion darauf, dass sich die örtlichen Stahlkonzerne, die in den 1970er und 1980er Jahren noch eine maßgebliche Rolle in der Duisburger Stadtentwick lungspolitik spielten, komplett zurückgezogen haben. Eine Einschätzung, die auch ein Beobachter der Duisburger Stadtentwicklungspolitik teilt: „Wie früher 150
die Großindustrie, will jetzt die Stadt sein. Sie übernehmen das, was ThyssenKrupp und Hüttenwerke oder Mannesmann gewesen sind, das wollen sie jetzt selber machen, haben aber nicht das Geld, sondern denken, sie brauchen nur in Cannes oder sonst wo sich die Investoren fischen und schon läuft es" (Dl 1/03/1). Gerade der Rückzug der Stahlkonzerne wird von den lokalen Akteuren als Mangel an Solidarität und Identität mit der Stadt beklagt: „Die Identität mit der Stadt, die ist nicht mehr gegeben, die Unternehmen haben sich, meiner Meinung nach, wirklich aus der Verantwortung gestohlen" (D09/03/P). Auch in einer öffentlichen Sitzung des Stadtrates, in der es um die Weiterentwicklung des ehemaligen Krupp-Hüttenwerkes in Rheinhausen geht, welches gerade zu Be ginn der 1990er Jahre an den überzogenen Forderungen des Krupp Konzerns zu Scheitern drohte, bringt ein Ratsherr der SPD seine Enttäuschung zum Aus druck: „Die haben hier 100 Jahre auf dem Gelände Gewinne eingefahren und wollen jetzt noch ganz viel Geld dafür haben. Es wäre nur recht und billig ge wesen, dass der Stadt kostenlos zu überlassen" (RH SPD, öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am 1998).
Industrie- und Handelskammer Die Einbindung privater Großinvestoren aus der Immobilienbranche führt, das legen die Interviews und die Stadtratsdokumente offen, zu erheblichen Konflik ten mit einem anderen, maßgeblichen Akteur in Duisburg, der örtlichen Indust rie- und Handelskammer. Grundsätzlich befürwortet die Kammer zwar den neuen Ansatz der Stadt verwaltung, die Duisburger Innenstadt aufzuwerten. Sie war auch maßgeblich an der Initiierung des City-Marketings in Duisburg beteiligt, bemängelt aber insbesondere bei den Planungen zum Urban Entertainment Center die „Investo renplanung" der Stadt Duisburg, die sich nicht an den lokalen Bedürfnissen ausrichtet: „Alle Varianten [des Urban Entertainment Center; BG] waren ,stadt integrierend'. [...] Je nachdem, was der Investor wollte, wurde geplant. [.,,] Man wollte MultiCasa, um jeden Preis" (D07/02/I). Weil die Industrie- und Handelskammer die Planungen für das Urban Entertainment Center ablehnte, beauftragte sie - zusammen mit dem lokalen Einzelhandelsverband - ein Düs seldorfer Architekturbüro, das ein Konzept für die Aufwertung der Duisburger Innenstadt ohne das Urban Entertainment Center entwerfen soll. Die Industrieund Handelskammer ist offensichtlich der einzige Akteur in Duisburg, der über ausreichende Ressourcen verfügt, um die Initiativen der Verwaltung und des Rates durch eigene Konzepte und Maßnahmen zu blockieren. Eine Einschät151
zung, die auch ein Beobachter der Duisburger Stadtentwicklungspolitik teilt: „Nur wenn die Industrie- und Handelskammer sich mit eigenen Planungen ein mischt, dann werden auch andere Konzepte entwickelt. [...] Die [in der Verwal tung; BG] haben gar keine Ressourcen, den fehlen einfach die Mitarbeiter" (Dl 1/03/1). Obwohl es der Industrie- und Handelskammer nicht gelingt, das geplante Urban Entertainment Center im Planungsprozess zu verhindern, sind die Akteu re der Verwaltung dennoch bemüht, die Kammer einzubinden. Um die „verhär teten Fronten" (D06/03V) zwischen den Beteiligten aufzuweichen, beauftragt die Stadtverwaltung eine unabhängige Firma mit einer ,Innenstadtmoderation'. Die Industrie- und Handelskammer „stimmt" dem Vorhaben letztendlich - auch aufgrund der Innenstadtmoderation - zu. Entscheidend dürfte aber auch gewesen sein, dass das Urban Entertainment Center im Verlauf des Planungsprozesses immer kleiner, und damit auch weniger Konkurrenz für die ansässigen Einzel handelsunternehmen bedeutete.
Parteien Obwohl es sich bei den von der Verwaltung vorrangig auf die Tagesordnung gesetzten Themen, wie dem Urban Entertainment Center „MultiCasa" oder dem Spielcasino und Kongresszentrum „Urbanum", um Projekte handelte, die mit dem Engagement privater Investoren stehen bzw. eher fallen, sind die lokalen Verwaltungsakteure darauf angewiesen, im Rat der Stadt Mehrheiten für die Projekte zu organisieren. Schließlich mussten hierfür Flächennutzungs- und Bebauungspläne verändert werden, was einen Beschluss seitens der politischen Gremien erforderte. Dass es sich bei den großen, in erster Linie durch private Akteure getragenen Projekten auch um eine politische Entscheidung handelt, macht der Beauftragte der Projektgemeinschaft MultiCasa GbR auf einer öffent lichen Sitzung des Rates am 31.08.1999 deutlich, indem er argumentiert, dass „man nun an einen Punkt komme, wo man ein politisches Signal aus dieser Stadt heraus brauche". Eine der wichtigsten Fragen zu dem Projekt MultiCasa sei, so der Beauftragte weiter, „ob es der politische Wille in der Stadt sei, hier über Flächennutzungspläne und Bebauungspläne diesem Objekt zur Realisie rung zu verhelfen". Da weiteres Geld für den Fortgang des Projektes von den Gesellschaftern nur bewilligt werde, wenn gesichert ist, dass man im Baurecht weiterkommt, „gehe von der Entscheidung im Rat eine Signalwirkung aus". Die Partei, die in Duisburg von den lokalen Verwaltungsakteuren gewon nen werden musste, um ihre stadtentwicklungspolitischen Initiativen durchzu setzen, war die SPD. Zwar verlor die SPD bei der Kommunalwahl 1999 nach 152
mehr als 42 Jahren ihre absolute Mehrheit im Stadtrat, sie ist jedoch immer noch die stärkste Fraktion. Aufgrund ihrer erst absoluten, dann relativen Mehrheit im Rat der Stadt Duisburg nahm die SPD eine zentrale Stellung in den politischen Entscheidungsprozessen ein: „Sie müssen hier natürlich zuerst die Leute von der SPD für ihre Vorhaben gewinnen, sonst ist das in der Stadt nicht durchsetzbar", so ein Akteur der CDU (D14/03/P). Wenngleich es innerhalb der SPD zu Be ginn galt, die Widerstände „alter Ratsmitglieder" zu überwinden, die von den „neuen Visionen" in Duisburg nichts wissen wollten (D09/03/P), gelang es den Verwaltungsakteuren, die Akteure von der SPD von der Richtig- und Wichtig keit der Innenstadtaufwertung durch große Projekte zu überzeugen. Ein nicht leichtes Unterfangen, weil die Stadt Duisburg, ebenso wie die anderen Ruhrge bietsstädte, von einer „behäbigen SPD-Meinung geprägt war, die traditionell auch sehr konservativ ist, die einige Entwicklungen erst gar nicht ermöglicht hat"(D17/03/V). Gleichwohl realisieren die Akteure der Verwaltung, dass sich ein solches Projekt auch nicht konflilrtfrei durchsetzen lässt, weil die „Innenstadtentwick lung ja in jeder Kommune ein heißes Eisen" ist (Dl7/03/V). Der Beigeordnete für Planung und Stadtentwicklung versucht deshalb, insbesondere das Urban Entertainment Center „kognitiv anschlussfähig" zu machen, indem er darauf verweist, dass das Projekt - zusammen mit dem Dienstleistungspark Innenhafen - ein wichtiger Schritt im Strukturwandel ist (öffentliche Sitzung des Ausschus ses für Planung und Stadtentwicklung am 31.08.1999). Um die notwendige politische Unterstützung bei der SPD zu gewinnen, verdeutlicht der Beigeordne te im Rahmen einer Diskussion, dass im Zuge der Globalisierung der Märkte die produzierenden Betriebe für Duisburg, wie auch für andere Großstädte, zuneh mend weniger Bedeutung haben werden, so dass der Strukturwandel auch für Duisburg bedeute, den Dienstleistungsaspekt weiter auszubauen. Weil sich „Investitionsneigungen mit höchster Arbeitsplatzrelevanz immer dort einstellen, wo Stadträume für zukunftsausgerichtete Nutzungen zur Verfügung stehen, bedeutet das für Duisburg als Grundaufgabenstellung, solche Flächen in den Blick zu nehmen" (Beigeordneter Dressler, öffentliche Sitzung des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung am 04.12.1998). Die großen Projekte stellten für die SPD wichtige Vorhaben dar, die helfen sollten, das alte Image Duisburgs als „Stadt Montan" abzuschütteln. Dass es sich hierbei um Schlüsselprojekte mit höchster Priorität handelt, wird zudem daran deutlich, dass die damals amtierende SPD-Oberbürgermeisterin Zieling deren Realisierung zu ihrer persönlichen „Chefsache" erklärte. Auch ein Mit glied der SPD im Ausschuss für Planung und Stadtentwicklung teilt diese An49
Ihr Scheitern bei der Oberbürgermeisterwahl 2004 wurde gerade von der lokalen Presse mit dem desasrrösen Verlauf der diversen Großprojekte in Duisburg erklärt.
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sieht, indem er anmerkt, dass „vorrangig MultiCasa auf der Tagesordnung steht und dieses Casino, dass also die Bagger kommen und die alte Mercatorhalle abgerissen wird und zügig gearbeitet wird" (D09/03/P). Abstimmungsprozesse zwischen den Spitzen der Verwaltung und der SPD-Ratsfraktion fanden offen sichtlich bereits im Vorfeld der politischen EntScheidungsprozesse im Stadtrat statt, denn Anträge und Anfragen an die Verwaltung, wie sie die anderen politi schen Parteien zu den Großprojekten einreichten, stellte die SPD nur für die Bundesgartenschau (siehe Abbildung 10). Abbildung 10: Anfragen und Anträge zu den Großprojekten im Rat der Stadt Duisburg und in den Fachausschüssen, nach Ratsfraktionen, absolut (1997-2001)
1
SPD
i
CDU
i
GRÜNE
i
PDS
FDP
[ B MultiCasa • Bundesgartenschau BCasinoliner/Urbanum |
Quelle: Kommunaler Sitzungsdienst der Stadt Duisburg (eigene Erhebung) In der SPD vertraut man, auch aufgrund der langjährigen, engen Zusammenar beit mit der Verwaltung, darauf, dass die Verwaltungsakteure den richtigen Weg einschlagen: „Es gab immer eine engste Verbindung zwischen der SPD¬ Planungsfraktion und dem Technischen Dezernat [hierzu gehört auch das Amt 154
für Stadtentwicklung, BG], die aus Sicht eines CDU-Ratsmitgliedes dazu führte, dass „die Sozialdemokraten immer der Meinung [waren], die Verwaltung wird schon das Richtige machen" (D14/03/P). Die SPD nutzte gerade zu Beginn des Untersuchungszeitraums ihre zentra le Stellung, um die nötigen politischen Beschlüsse für die Großprojekte, wie die Änderung des Flächennutzungsplanes für das Urban Entertainment Center „MultiCasa", auch gegen den Widerstand der anderen Parteien, namentlich der CDU und Bündnis 90/Die Grünen, im Rat durchzusetzen. Während die SPD¬ Ratsfraktion geschlossen hinter den großen Projekten steht, und diese anfänglich auch gegen die Stimmen der Grünen, bei Enthaltung der CDU im Stadtrat, durchsetzt, gelingt ihr das nach dem Verlust ihrer absoluten Mehrheit in der Kommunalwahl 1999 zwar nicht mehr, so dass sie sich Bündnispartner aus anderen politischen Parteien suchen musste. Das informelle Bündnis mit den Grünen, welches die SPD nach der Kommunalwahl etablierte, wurde Ende 2002 durch die SPD wieder aufgekündigt, weil die Grünen den beiden Prestigeprojek ten im Stadtrat ihre Unterstützung verweigerten. Die SPD suchte deshalb An fang 2003 eine informelle Koalition mit der ,Zwei-Mann-Partei' FDP, welche die Vorhaben der SPD vorbehaltlos unterstützte. Dabei handelte es sich jedoch nicht um eine Partnerschaft, sondern - auch das wird aus einem Interview mit einem Akteur aus der SPD klar - um Akteure, die „wenn alle Stricke reißen" (D09/03/P), der Partei zu ihrer nötigen Mehrheit verhelfen. Wie positionierten sich die anderen politischen Parteien, namentlich die CDU, die PDS, Bündnis 90/Die Grünen? Welche Konflikte entstanden? Wurden sie gelöst, wenn ja wie?
Konflikte zwischen Verwaltung und Parteien: „Es ist eine Zumutung, wie hier die Politik informiert wird" Die anderen politischen Parteien lehnen die durch die Verwaltung auf die politi sche Tagesordnung gesetzte Aufwertung der Duisburger Innenstadt durch Großprojekte aufgrund der mangelnden Verfahrenstransparenz und der fehlen den Maßstäblichkeit ab. Insbesondere die CDU-Fraktion macht in den entsprechenden Ausschuss oder Ratssitzungen deutlich, dass sie eine Aufwertung der Innenstadt schon viel länger fordert, dass nur die SPD-Fraktion in „früheren Zeiten die Zeichen der Zeit" nicht richtig erkannt habe, das Problem des Kaufkraftabflusses also ein hausgemachtes sei. So betont auch ein Mitglied der CDU-Ratsfraktion in einer Fachausschusssitzung zum Urban Entertainment Center, dass es aus der Per spektive der CDU grundsätzlich eine sehr positive Angelegenheit sei, Investiti155
onen in dieser Größenordnung nach Duisburg zu holen, weil Arbeitsplätze und der Zugewinn von Kaufkraft für Duisburg sehr wichtig seien (RH CDU, öffent liche Sitzung des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung am 30.10.1998). Dem stimmt auch ein Mitglied der Grünen zu, indem es hervor hebt, dass es sich für die Stadt Duisburg lohnen würde, die mit dem Urban En tertainment Center verfolgten Ziele weiter zu verfolgen, wie das Zurückholen der Kaufkraft (Grüne, öffentliche Sitzung des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung am 30.10.1998). Obwohl also offensichtlich die Zielsetzung der Verwaltung und der SPD wenig umstritten zu sein scheint, stimmen die anderen politischen Akteure den Vorhaben entweder gar nicht oder nur zöger lich zu. Ein wesentlicher Grund für diese ablehnende Haltung der Grünen, der PDS und zu Beginn auch der CDU in Duisburg ist die mangelnde Verfahrenstranspa renz und die unzureichende Einbindung politischer Gremien in den Planungsprozess. Nämlich, dass die Projekte hinter verschlossenen Türen zwischen der Oberbürgermeisterin, dem Planungsdezernenten und den Investoren besprochen wurden und keiner der politischen Akteure - weder im Rat der Stadt noch in den Fachausschüssen - angemessen informiert wurde. Insbesondere an den Planun gen zum Urban Entertainment Center wird deutlich, dass die zuständigen politi schen Gremien erst unterrichtet werden, wenn die wesentlichen Eckdaten bereits stehen. In der ersten Sitzung des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung am 30.10.1998, bei der eine mündliche Information der Parteien durch die Ver waltung stattfand, machte der Beigeordnete für Planung und Stadtentwicklung darauf aufmerksam, dass er sich erst jetzt - nachdem eine positive Machbar keitsstudie der PRISMA AG vorliegt und eine Projektentwicklungsgesellschaft gegründet wurde - in der Lage sieht, die politischen Gremien über das Projekt zu informieren (Beigeordneter öffentliche Sitzung des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung am 30.10.1998). Die von der CDU geforderte Sondersit zung zu dem Projekt findet nicht statt, so dass ein Ratsherr der CDU kritisiert, es sei für ihn „unverständlich [...], warum man hier unter Tagesordnungspunkt 20 als mündliche Mitteilung der Verwaltung ein solches Großprojekt vorgestellt bekomme, da der Gesprächsgegenstand eine, von seiner Fraktion geforderte, Sondersitzung erforderlich gemacht hätte" (RH CDU; öffentliche Sitzung des FA Planung und Stadtentwicklung am 31.08.1998). Das Projekt wird in den politischen Gremien mit dem Hinweis des SPDVorsitzenden des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung darauf, dass man erst einmal die Ergebnisse der Projektentwicklungsgesellschaft abwarten wolle, nicht weiter diskutiert. Auch der ein Jahr später gestellte Antrag der CDU Fraktion im Rat der Stadt, einen Bericht über den aktuellen Planungsstand des Projektes MultiCasa von der Verwaltung zu bekommen, die das Projekt bereits 156
im Geschäftsbericht der Stadt ankündigt, ohne dass die entsprechenden Fach ausschüsse nur annähernd informiert worden wären, wird mit einem Gegenan trag der SPD Fraktion auf Nichtbefassung abgelehnt (öffentliche Sitzung des Rates am 14.06.1999). Begründet wird die Nichtbefassung von der SPD-Rats¬ fraktion damit, dass die Stadt Duisburg in Abhängigkeit von privaten Investoren steht, so dass der Antrag der CDU-Fraktion gegenstandslos sei (RH, SPD öf fentliche Sitzung des Rates am 14.06.1999). Den Mitgliedern des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung wird das Projekt auf einer zweiten Sitzung im August 1999 anhand des Gutachtens der PRISMA AG zu Verkaufsflächen, Zentralität und Umsatzkennziffern erstmals näher erläutert. Zu diesem Zeitpunkt hat die Verwaltung und die Projektentwicklungsgesellschaft das Urban Entertainment Center bereits auf der Immobilienmesse in Cannes vorgestellt und auch die örtliche Presse über das bestehende Großvorhaben informiert. Auch der architektonische Entwurf für das Urban Entertainment Center der Architekten Bothe, Teherani und Richter liegt bereits fertig vor. Dass die Verwaltung zuerst die Investoren einbezieht und dann erst die po litischen Gremien einbindet, führt dazu, dass die Grünen das Projekt Urban Entertainment Center rundweg ablehnen: „Es ist eine Zumutung, wie hier die Politik informiert wird. Für diese Sitzung zu einem der größten Projekte, das in Duisburg durchgeführt werden soll, haben wir nur zwei Blätter zur Vorbereitung erhalten. ... Das alleine ist schon ein Grund, dem nicht zuzustimmen" (Grüner, öffentliche Sitzung des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung am 31.08.1999). Auch ein Mitglied der PDS macht in einem Interview deutlich, dass die PDS das Urban Entertainment Center insbesondere deshalb abgelehnt habe, weil man als Fraktion zwar immer von der Verwaltung informiert worden sei, die entscheidenden Sachen aber hinter verschlossenen Türen abgelaufen seien und man so kaum Einfluss auf den Prozess nehmen konnte (D10/03/P). Die Planungen für das zweite große Projekt in der Innenstadt, das Spielcasino- und Kongresszentrum, verlaufen nach einem ähnlichen Muster. Lange nachdem der Investor der Spielbank, die Westdeutsche Spielbanken GmbH, in der örtlichen Presse bekannt gegeben hat, dass der geplante Standort des Pro jekts auf dem Gelände der Mercatorhalle sein wird, gibt es im Juni 2001 eine erste Mitteilungsvorlage der Verwaltung zu dem Projekt im Ausschuss für Pla nung und Stadtentwicklung (Ratsdrucksache 2682, 20.06.2001). Der von den Grünen bereits im Februar 2001 gestellte Antrag, in dem die Fraktion fordert, 50
Die Auseinandersetzungen um das Spielcasino- und Kongreßzentrum schlagen in Duisburg noch höhere Wellen, weil die „gute Stube der Stadt" abgerissen werden soll. U m die Merca torhalle zu erhalten, formiert sich eine Bürgerinitiative („Freunde für den Erhalt der Mercator halle") mit dem Altoberbürgermeister Josef Krings an der Spitze, die ein Bürgerbegehren initi ieren. Aufgrund formaler Kriterien wurde dieser aber im Stadtrat abgelehnt.
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dass der Rat der Stadt über die mit den Betreibern des Spielcasinos geführten Gespräche informiert wird und die Verwaltung eine entsprechende Vorlage eines Spielcasinokonzepts ausarbeitet, wird auf Bitte der SPD und der Verwal tung wieder zurückgezogen. Hierzu erläutert die Oberbürgermeisterin, dass es zwar eine Selbstverständlichkeit sei, entsprechende Erläuterungen zum Zeit punkt der Beschlussfassung im Rat der Stadt zwingend zu geben, momentan aber das Zahlenwerk noch nicht so vollständig sei, dass die Verwaltung die erbetenen Informationen schon morgen vorlegen könne (OB, öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am 05.03,2001). Der von der PDS, ebenfalls im Februar des Jahres 2001, gestellte Antrag, dass sich der Rat der Stadt für den Erhalt und die Sanierung der Mercatorhalle ausspricht, wird von der SPD, der CDU, den Grünen und der FDP mehrheitlich abgelehnt (DS 2156). Auch die CDU bemängelt in der Sondersitzung zu dem Spielcasino und Kongresszentrum die mangelnde Einbindung der politischen Gremien: „Die Entscheidung der Westspiel für Duisburg ist nunmehr vor zwei Jahren getroffen worden. Das Thema ist diskutiert worden, ohne dass der Rat oder seine Fachausschüsse nur annähernd die Gelegenheit hatten, sich damit zu befassen" (RH CDU, öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am 13.06.2001).
Konflikte zwischen den Parteien: „Die Frage ist, ob es die richtigen Konzepte sind" Es kommt in den politischen Diskussions- und Entscheidungsprozessen nicht nur zu Konflikten, weil sich alle anderen politischen Parteien nicht genügend in den Prozess eingebunden fühlen, sondern Auseinandersetzungen entstehen dar über hinaus um die Frage, inwieweit die Projekte der Innenstadtaufwertung wirklich dienlich sind. Während eigentlich alle politischen Parteien in Duisburg der Meinung sind, dass das Ziel der Projekte - nämlich die Innenstadt aufzuwer ten und zu entwickeln, um ökonomische Prosperität in die Stadt zu bringen richtig ist, gibt es unterschiedliche Ansichten, ob das Urban Entertainment Cen ter und das Spielcasino in der von der Verwaltung und den Investoren favoritisierten Form adäquat sind. Gerade in Bezug auf die durch die Umstrukturierungen bei der Bahn frei gewordenen Flächen am Hauptbahnhof, auf denen das Urban Entertainment Center entstehen soll, herrscht in der Stadt Konsens, das Gelände zu nutzen. Ein Mitglied der Ratsfraktion der Grünen bringt das in einer Ausschusssitzung zum Urban Entertainment Center auch paradigmatisch auf den Punkt: „Die Duisbur ger Grünen sind durchaus dafür, dass an dieser Stelle [dem Hauptbahnhof; BG] etwas Großes oder Großartiges entsteht und dass eine Erweiterung der City auch 158
ganz günstig ist. Dazu ist ein solches Projekt auch notwendig in der Innenstadt. Nur, so wie es hier vorgestellt ist, ist es nicht das richtige Mittel dazu" (RH Bündnis 90/Die Grünen, öffentliche Sitzung des FA Planung und Stadtentwick lung am 31.08.1999), Befürchtet wird von den Grünen, aber auch der PDS und zu Beginn auch von der CDU, dass das Einkaufs- und Erlebniszentrum mit seiner geplanten Fläche von fast 150.000 qm zu einer Verödung der alten Innen stadt führen könnte. Dass also das Urban Entertainment Center - zusammen mit dem Spielcasino - zu einem „Magneten" am oberen Ende der Innenstadt werden könnte, der die untere Innenstadt in einen „Verslumungsprozess" reißen könnte. Auch die CDU-Fraktion macht ihre Zustimmung zu dem Projekt, bei der im Ausschuss zu beschließenden Rahmenvereinbarung zur städtebaulichen Ent wicklung, davon abhängig, ob die Ergänzungsfunktion zur alten Innenstadt im Vordergrund steht (öffentliche Sitzung des Ausschusses für Planung und Stadt entwicklung am 13.03.2000). Neben der Innenstadtverträglichkeit, die zu Konflikten zwischen den Par teien im Stadtrat führt, ist es vor allem die fehlende Diskussion über alternative Standorte, Nutzungen und Konzepte, die dazu führt, dass insbesondere Bündnis 90/Die Grünen und PDS den Projekten skeptisch gegenüberstehen. Obwohl beide Parteien in den entsprechenden Rats- oder Fachausschusssitzungen for dern, dass man die beiden großen Projekte auf der Basis eines öffentlichen Wettbewerbes hätte entwickeln müssen, bei dem möglicherweise auch andere Ideen herausgekommen wären, findet ihre Forderung keinen Eingang in den Planungs- und Realisierungsprozess. Für ein Mitglied der SPD eine geradezu begrüßenswerte Tatsache, weil frühere Erfahrungen gezeigt hätten, dass zwar Sieger bei solchen Wettbewerben auserkoren werden, deren Modelle aber schwierig umzusetzen seien: Im Fall des Urban Entertainment Centers wäre die Planung nicht nur schön und gefällig, sondern ziele auch auf wirtschaftlichen Erfolg ab (RH SPD, öffentliche Sitzung des Rates am 13.11. 2000). So werden zwar, wie ein Politiker von Bündnis 90/Die Grünen im Ausschuss für Planung und Stadtentwicklung anmerkt, Gutachten gemacht und dem Stadtrat vorgelegt. Sie seien jedoch von vornherein ganz eindeutig auf das jeweilige Projekt ausge richtet gewesen. Kritisiert wird, dass die Gutachten der Marktforschungsinstitu te wie der Prisma AG oder der Gesellschaft für Konsumforschung darauf zielen, die bereits von der Verwaltung und den Investoren beschlossenen Konzepte einfach abzusegnen. Die in der Stadt engagierten Fachleute, wie Architekten oder Stadtplaner, die in einem „Gestaltungsbeirat" organisiert sind, werden in den Prozess nicht eingebunden. Etwas, das aus Sicht eines Politikers der Grünen für die Stadtent wicklungspolitik in Duisburg recht typisch ist: „Es ist hier [in Duisburg, BG] hingegen schwierig, dass Außenstehende, wie beispielsweise Architekten, mal 159
einbezogen werden, da stellt sich die Stadtverwaltung immer quer. [...] Hier muss immer alles im Hauruckverfahren laufen, da zieht man nicht mal Fachleu te heran" (Dl 3/03/P). Aufgrund der mangelnden Einbindung von Außenstehenden, so die Per spektive der Grünen und der PDS, überlasse man das Feld vollständig den Pri vatinvestoren. In einer Ausschusssitzung bringt ein Politiker seine Verwunde rung zum Ausdruck, dass man alternative Konzepte zum Urban Entertainment Center „MultiCasa", wie beispielsweise die Entwicklung hochwertiger Büroflä chen mit direktem Anschluss nach Düsseldorf auf dem Gelände des Hauptbahn hofes, nie ernsthaft in der Verwaltung geprüft habe (RH Grüne, öffentliche Sitzung des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung am 31.08.1999). Auch die PDS schlägt vor, auf dem Gelände eine Mehrteilige Mischung aus Wohnen, Arbeiten und Einzelhandel, verknüpft mit innovativen Umwelttechno¬ logien zu realisieren (D10/03/P). Dass die Verwaltung offensichtlich wenig Einfluss daraufhat, wo und wie die Projekte realisiert werden, zeigt sich anhand der fortlaufenden Adjustierung der Planungsziele bei den beiden großen Projek ten. Das Problem, dass sich die Stadt bedingungslos auf die Forderungen der Investoren einlässt, kritisiert ein Interviewpartner von den Grünen deutlich: „Die [Verwaltung, BG] sind happy, wenn da jemand kommt und sagt: Wir ge ben Euch das Geld, wir bauen das, gebt uns die Fläche. Dann habe ich immer das Gefühl, da sind die ein bisschen unkritisch, da sind die happy, dass da über haupt was passiert" (D 13/03/P). Daneben ist es aber auch die Prioritätensetzung der Stadtverwaltung auf die „Leuchtturmprojekte" in der Innenstadt, die zumindest die PDS dazu bewegt, den Projekten nicht zuzustimmen. Ein Politiker der PDS verdeutlicht in einem Interview die Sicht seiner Partei, die aber in der Stadt, seiner Meinung nach, auch keine Beachtung findet: „Wir sind der Meinung, dass, wenn man seinen Fokus hauptsächlich auf diese Leuchtturmprojekte setzt, dann muss man zwangsläufig Abstriche machen in den Unterzentren. [...] Das führt auch dazu, dass Stadtteile, die auf der Prioritätenliste nicht ganz oben stehen, natürlich von den etwas begüterteren Schichten verlassen werden. [...] Trotz aller Bemühun gen vernachlässigt man dann die Unterzentren mit dem Ergebnis, dass der Zug der Zeit dort nicht aufgehalten werden kann" (D10/03/P).
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,Konsensbildung' zwischen den Beteiligten: „Alleine wegen der harten Rahmenbedingungen haben wir die Verpflichtung so etwas wie MultiCasa auf den Weg zu bringen" Die Bedenken der politischen Parteien im Duisburger Stadtrat teilen die Akteure aus der Verwaltung nicht - und sie unternehmen auch nur wenige Versuche, sie „mit auf die Reise zu nehmen". Man wolle, so der Beigeordnete in einer Aus schusssitzung zu dem Thema Maßstäblichkeit des Urban Entertainment Centers, eben keine „Neue Mitte" wie in Oberhausen generieren, sondern einen neuen Ankerpunkt setzen, von dem die gesamte Innenstadt - und nicht nur die Einzel handelsbetriebe - profitieren würde (öffentliche Sitzung des Rates am 14.06.1999). Die ergänzende, nicht konkurrierende Funktion des Urban Enter tainment Center zur Duisburger Innenstadt wird aus Sicht der Verwaltungsak teure auch mit dem Gutachten der Prisma AG untermauert. Das Gutachten der Beratungsfirma kommt zu dem Ergebnis, dass die Duisburger Innenstadt mit einer Verkaufsflächen von 120.000 qm am unteren Ende der „kritischen Masse" einer Großstadt liegt, so dass die Projektierung weiterer Flächen dringend gebo ten ist, um einen weiteren Verlust der Kaufkraft zu verhindern (öffentliche Sit zung des Rates am 31.08.1999). Obwohl in den Interviews deutlich wird, dass auch den Akteuren der Ver waltung das Problem durchaus bewusst ist, sind sie dennoch der Meinung, dass an den großen Projekten in der Innenstadt eigentlich kein Weg vorbeifuhrt: Alleine wegen der harten Rahmenbedingungen, so ein Akteur aus der planenden Verwaltung, habe man eine Verpflichtung, MultiCasa auf den Weg zu bringen, weil die Duisburger Innenstadt ansonsten tatsächlich nur noch ein Nebenzent rum wie Rheinhausen ist (D06/03/V). Auch der Beigeordnete für Stadtentwick lung und Planung macht in einer Sitzung des Fachausschusses zum Urban En tertainment Center deutlich, dass andere Bereiche in der Stadt nicht vernachläs sigt werden würden, dass sie aber insgesamt in ihrer Rangstellung für Duisburg nachrangig seien (Beigeordneter, öffentliche Sitzung Ausschuss für Planung und Stadtentwicklung am 31.08.1999). Die Verfolgung ökonomisch relevanter Ziele - so der Beigeordnete weiter - ermögliche es überhaupt erst, in der Stadt Duis burg eine Basis zu schaffen, mit der sie auch ihre soziale Aufgaben erfüllen könne (öffentliche Sitzung des Ausschusses für Planung und Stadtentwicklung am 31.08.1999).
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Zusammenfassung: Eine historisch generierte, in regionale Kontexte eingebettete Akteurskonstellation? In der Duisburger Stadtentwicklungspolitik dominierte eine Akteurskonstellati on aus Verwaltung, SPD und der örtlichen Industrie- und Handelskammer. Es waren insbesondere die Akteure der Verwaltung, welche die im politischen Diskussions- und Entscheidungsprozess relevanten Initiativen und Maßnahmen in Duisburg einbrachten. Nicht nur die beiden großen Projekte in der Innenstadt, wie das Urban Entertainment Center „MultiCasa" und das Spielcasino und Kongresszentrum „Urbanum", sondern auch die Bewerbung um die Bundesgar tenschau oder die Entwicklung des „Rheinparks" zählten zu den Initiativen der Verwaltung. Ihre Rolle als Agenda-Setter bei der Innenstadtaufwertung war zentral. Sie sind diejenigen, die Mitte der 1990er Jahre offensichtlich realisier ten, dass Duisburg als moderner Wirtschaftsstandort nicht nur über die alten Instrumente des Gewerbeflächenmanagements und der Technologieparks zu profilieren ist, sondern dass hierfür auch neue Instrumente der Standortprofilie rung nötig sind. Die Partei, die in Duisburg von den lokalen Verwaltungsakteuren gewon nen werden musste, um die stadtentwicklungspolitischen Initiativen auch durch zusetzen, war die SPD. Aufgrund ihrer erst absoluten, dann relativen Mehrheit im Rat nahm sie eine zentrale Stellung in den politischen Entscheidungsprozes¬ sen ein. Sie konnte gerade zu Beginn des Untersuchungszeitraums ihre Stellung nutzen, um die nötigen politischen Beschlüsse für die Großprojekte, wie die Änderung des Flächennutzungsplanes, auch gegen den Widerstand der anderen Parteien, namentlich der CDU, Bündnis 90/Die Grünen und PDS, im Rat durch zusetzen. Die großen Projekte waren für die SPD wichtige Vorhaben, die helfen sollten, das alte Image Duisburgs als „Stadt Montan" abzuschütteln. Wenngleich die SPD aufgrund ihres Machtverlustes in den Kommunalwahlen dann auch andere Parteien, so zunächst Bündnis 90/ Die Grünen und später die FDP, mit einbeziehen musste, macht die Untersuchung deutlich, dass letztendlich die Industrie- und Handelskammer offensichtlich als einziger Akteur in der Stadt über ausreichende Ressourcen verfügte, die Initiativen der Verwaltung und der SPD durch eigene Konzepte und Maßnahmen zu behindern, wie an der „Duis burger Innenstadtaufwertung" deutlich wurde. Ihre maßgebliche Rolle in der Stadtentwicklungspolitik verdankt die Industrie- und Handelskammer nicht zuletzt auch der Ende der 1980er Jahre eingeführten „regionalisierten Struktur politik" des Landes Nordrhein-Westfalen, die ein abgestimmtes Vorgehen zwi schen den lokalen Akteuren zur Voraussetzung für Förderzusagen machte. Ge rade den Gewerkschaften und den Universitäten, die - zumindest formell - eben-
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so Teil des regionalen Konsens sein sollten, gelang es offensichtlich nicht, eine ähnliche Bedeutung als „Veto-Player" zu erhalten. Andere Aleteure, wie beispielsweise die des Landes Nordrhein-Westfalen in den jeweiligen Ministerien oder im Projekt Ruhr, spielten durchaus auch eine maßgebliche Rolle in der Stadtentwicklungspolitik, gerade als Ansprechpartner für die Verwaltung. In den stadtinternen politischen Diskussions- und Entschei¬ dungsprozessen nahmen sie jedoch eine untergeordnete Bedeutung ein. Zwei wesentliche Akteure, nämlich die Gewerkschaften und die großen Stahlunter nehmen, die in den vorangegangenen Jahrzehnten noch einen großen Einfluss auf die Stadtentwicklungspolitik in Duisburg hatten, verloren offensichtlich an Bedeutung. Wenngleich die „politische Prägekraft montanindustrieller Struktu ren" nachließ, bewiesen die Akteurskonstellationen in Duisburg eine erstaunli che Kontinuität. Graphisch lässt sich das lokale Beziehungsgeflecht folgender maßen veranschaulichen: Abbildung 11: Lokale Akteurskonstellationen in Duisburg
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Quelle: Eigene Darstellung Die Analyse ergab, dass die Diskussions-, Entscheidungs- und Abstimmungs¬ prozesse in Duisburg durch konflikthafte Formen gekennzeichnet sind. Insbe sondere die großen Projekte evozieren lang anhaltende Konflikte zwischen den politischen Parteien, der Verwaltung aber auch der Industrie- und Handelskam-
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mer. Besonderes Problem aus Sicht der Akteure, die nicht zu den "big-three" in der Stadt gehören, ist die mangelnde Verfahrenstransparenz und Einbindung von Außenstehenden oder Fachleuten. Die generelle Orientierung, mit den gro ßen Projekten die „Stadt als Großstadt insbesondere unter arbeitsplatzrelevanten Gesichtspunkten zu profilieren", ist in der Stadt politisch jedoch wenig umstrit ten: Nur die PDS wollte der Prioritätensetzung der Stadtverwaltung auf die „Leuchtturmprojekte" in der Innenstadt generell nicht zustimmen.
6.2 Leipzig Leipzig reagierte - wie in Kapitel 5.2 gezeigt wurde - auf die anhaltenden Ar beitsplatz- und Einwohnerverluste mit politischen Maßnahmen, Programmen und Instrumenten zur Verbesserung wichtiger Standortfaktoren, um die Stadt so zu einer europäischen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturmetropole zu entwickeln. Neben dem Umbau des Zentralstadions, der Errichtung der „Bio"und der „Media-City" versprach sich die Stadt insbesondere von ihrer Bewer bung für die Ausrichtung der olympischen Spiele 2012 Impulse für die wirt schaftliche Entwicklung. Auch Leipzig wollte und will sich als Standort profi lieren. Seit 1998 entwickelte man dennoch in bestimmten Teilbereichen der Stadtentwicklungspolitik neue Konzepte, Programme und Maßnahmen, die den Bevölkerungsverlust und dessen Folgen, insbesondere für den Wohnungsbau, als ein zu steuerndes Problem der Stadtentwicklung adressieren. Insbesondere für die Erneuerung der Altbauquartiere, die Weiterentwicklung der Großsied lungen und die Steuerung des Wohnungsneubaus wurden einzelne Entwick lungsstrategien erarbeitet, die in einzelnen Teilplänen zusammengefaßt wurden. Auch wenn sich in Leipzig eine gewisse Verengung der Schrumpfungsproble¬ matik auf den Wohnungsleerstand abzeichnet, stellte sich Leipzig anders als Duisburg, zumindest partiell, auf die neuen (Schrumpfungs-) Bedingungen in der Stadtentwicklung ein. Problemwahrnehmungen, Akteurskonstellationen und Beziehungsgeflechte in der Stadtpolitik erklären das partielle Umorientieren im Leipziger Fall.
6.2.1 Problemwahrnehmung und Problemdeutung: Schrumpfung als langfristige Entwicklung? Abwanderung, Geburtendefizit und Angebotsüberhänge bemerkte man in Poli tik und Verwaltung durchaus bereits Mitte der 1990er Jahre, Merfür ließen sich Hinweise in den Stadtratsdokumenten und den Interviews finden. Nicht nur die 164
kräftig anwachsenden Angebotsüberhänge bei den Büroimmobilien waren ein aussagekräftiges Signal, sondern ebenso die ansteigenden Leerstände bei den Wohnimmobilien. Darüber hinaus machten erste Prognosen des Amtes für Sta tistik und Wahlen deutlich, dass sich die negative Einwohnerentwicklung alleine aufgrund der demographischen Entwicklung weiter fortsetzen würde. Erste Ansätze in der Stadtentwicklungspolitik, die „teilweise überdimensionierten Planungen der Boomphase auf ein realistischeres Niveau umzustellen" (L15/03/V) und eine stärker „strategische Planung" (L02/V/03) zu betreiben, existierten deshalb lange bevor die neuen Strategien, wie das Programm „Neue Gründerzeit" oder der „Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneue rung" und der „Stadtentwicklungsplan Großwohnsiedlungen", konzipiert wur den. Gerade der Beschränkung des Geschosswohnungsneubaus im Umland der Stadt maß man in Politik und Verwaltung früh eine hohe Priorität bei. Insgesamt waren die lokalen Akteure dem selbstgewählten Image, die „Boomtown des Ostens" zu sein, so verpflichtet, dass man die ersten, handfes ten Anzeichen eines strukturellen Problems weitgehend ignorierte, die Anhalts punkte ausblendete: „Das Bild der Stadtentwicklung bis Mitte der 90er Jahre war doch „Leipzig, Boomtown Ost". Und jeder Investor, der im Osten dabei sein wollte, musste in Leipzig präsent sein. Das galt für Leipzig mehr als für jede andere Stadt in Ostdeutschland" (D02/01/V). Eine (öffentliche) Nichtthematisierung des Schrumpfungsprozesses, die sich auch in den offiziellen Be schlüssen des Leipziger Stadtrates widerspiegelt: Bis 1999 gab es keinen einzi gen relevanten Beschlusstext, der die Stichworte „Abwanderung" und „Leer stand" oder „Rückbau" beinhaltete (siehe Abbildung 12).
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Abbildung 12: Beschlüsse im Rat der Stadt Leipzig 1990-2003 nach Stichworten und Relevanz 12-
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1990-1994
1994-1999
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• Abwanderung • Leerstand • Rückbau •Stadtentwicklungspläne
Quelle: Büro für Ratsangelegenheiten der Stadt Leipzig (eigene Erhebung) Insbesondere die stark anwachsenden Angebotsüberhänge auf dem lokalen Immobilienmarkt, ließen die Probleme der Schrumpfung in das (Problem-) Be¬ wusstsein der Akteure rücken.
Problemwahrnehmung: „Es ist Konsens hier in der Stadt, dass wir hier ein richtiges Problem mit dem Bevölkerungsverlust haben" In Leipzig spielen die Arbeitsplatzverluste, also die whtschaftsstrukturellen Aspekte des Schrampfungsprozesses, eine wichtige Rolle in der Problemwahr nehmung der Akteure. Ein Problem der Stadt ist, so ein Mitarbeiter aus der Verwaltung, dass in „Leipzig seit der Vereinigung mehr oder weniger alle Wirt schaftsbereiche durchhängen" (L03/01/V). Die Akteure in Leipzig nehmen den Schrumpfungsprozess jedoch insbesondere im Hinblick auf den Einwohnerver lust und den Wohnungsleerstand wahr. Gerade die massiven Einwohnerverluste, 166
welche die Stadt Leipzig seit Beginn der 1990er Jahre erlitt, thematisieren sie als ein besonders herausgehobenes Problem der Stadtentwicklung: „Der Stadt Leipzig", so ein paradigmatisches Zitat eines Verwaltungsmitarbeiters, „fehlen ja einfach mal 100.000 Einwohner" (L14/03/V). Eine Problemwahrnehmung, die in Leipzig offensichtlich allgemein geteilt wird, denn auch andere heben in den Stellungnahmen hervor, dass im dramatischen Bevölkerungsverlust durch Abwanderung und Geburtenrückgang ein Hauptproblem der Leipziger Stadt entwicklung liegt: „Ich würde sagen, es ist Konsens hier in der Stadt, dass wir ein richtiges Problem mit dem Bevölkerungsverlust haben" (LI6/03/1). Ein Stadtrat bringt in einer öffentlichen Sitzung der Ratsversammlung pointiert zum Ausdruck, dass man „im Jahr 1929 für das Jahr 2000 1,8 Millionen Einwohner für Leipzig prognostiziert" hat. Heute könne man froh sein, „wenn sich die pessimistischen Prognosen hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung nicht bewahrheiten und die Stadt auf dem gegenwärtigen Stand verharrt" (Stadtrat SPD, öffentliche Sitzung des Stadtrates 18.10.2000). Es waren insbesondere die stark anwachsenden (Wohnungs-) Leerstände Ende der 1990er Jahre, welche die Problematik der Schrumpfung in das Be wusstsein der lokalen Akteure rücken ließ. „Rückblickend", merkt ein Akteur aus der Verwaltung an, „haben sich die ersten Anzeichen bereits 1995 verdich tet, und erstmals offenkundig wurde das, als es auf dem Büroflächenmarkt 1997 einen Leerstand von über 30% gab". Zu diesem Zeitpunkt gab es auch schon einen Leerstand in den Wohngebäuden. Aber da standen vor allem die unsanierten Sachen leer. Die negative Bevölkerungsentwicklung machte aber schon deutlich, dass es auch hier in absehbarer Zeit einen Leerstand geben würde" (L02/01/V). Dass sich der Bevölkerungsverlust im Zusammenhang mit den Verwerfungen auf dem lokalen Immobilienmarkt in der Problemwahrnehmung der handelnden Akteure manifestierte, wird auch von anderen bekräftigt: Die Problematik eines strukturellen Einwohnerverlustes tauchte „erstmals im Zu sammenhang mit den Sanierungsgebieten und deren Zukunft auf (L17/03/P) oder als „die Wohnungen in der Stadt nicht mehr Mangelware waren" (L09/03/P). Die dominante Problemwahrnehmung zeigt sich daran, dass der Bevölkerungsverlust von den lokalen Akteuren in erster Linie in Bezug auf den Leipziger Wohnungsmarkt problematisiert wird: „Der Leipziger Wohnungs markt ist aus den Fugen geraten. Die Ursachen für diese Entwicklung sind viel fältig. Sie liegen sowohl auf der Angebots- wie auch, und zwar in weitaus grö ßerem Maße, auf der Nachfrageseite - Stichworte Bevölkerungsbilanz und Ab wanderung" (Stadtrat CDU öffentliche Sitzung des Stadtrates 18.10.2000). Die Auswirkungen des Bevölkerungsverlustes auf andere Bereiche der Stadtentwicklung sind in der Problemperzeption der meisten Akteure allenfalls latent, jedoch keinesfalls manifest vorhanden. Zwar gibt es auch in Leipzig 167
Akteure, die den Bevölkerungsverlust als eine umfassendere Herausforderung für die Stadt, wie für die Sicherung der sozialen, technischen oder kulturellen frifrastruktur, sehen, gleichzeitig verweisen sie darauf, dass diese Problematik in der Wahrnehmung bislang weniger verankert ist: „Hier müssen im Prinzip zwei Sichtweisen zusammengebracht werden: einerseits die Standortentwicklung, andererseits die wohnungswirtschaftliche Komponente. Aber es ist fast unmög lich, eine umfassende Perspektive in das Thema zu bekommen" (L12/03/V). Ein Akteur aus der Verwaltung gibt Hinweise darauf, warum der Schrampfungsprozess in Leipzig möglicherweise als ein Problem für die Entwicklung der sozia len und technischen Infrastruktur keine Rolle spielt: „Und die große Herausfor derung ist eigentlich die Frage, wie man, wenn man diese Schrumpfungsprozes se positiv gestalten will, mit der Infrastruktur umgeht. [...] Und da hat eigent lich noch keiner Ahnung, wie das laufen kann" (D02/01/V). Die lokalen Akteure betrachten den Leerstand, insbesondere im Hinblick auf die lokale Wohnungswirtschaft, als ein schwerwiegendes Problem. Eine Wahrnehmung, die auch der Beigeordnete für Planung und Bau auf einer Sit zung des Leipziger Stadtrates den Vertretern der politischen Parteien na hebringt, in dem er argumentiert, dass „fehlende Nutzer zur Gefährdung von fast 1.000 Häusern in der inneren Stadt und neuerdings auch in Grünau" führen würden, der „drastische Mieterrückgang und der hohe Leerstand ernste Gefah ren für die lokale Wohnungswirtschaft" mit sich brächten (Beigeordneter für Planung und Bau, öffentliche Sitzung des Stadtrates am 20.10.2000). Auch ein Akteur der SPD-Ratsfraktion betont, dass sich das Leerstandsproblem zu einem betriebswirtschaftlichen Kulminationspunkt verschärfen könne, in dessen Ge folge mit einem „Zusammenbruch des Immobilienmarktes" in der Stadt Leipzig durchaus gerechnet werden müsse (Stadtrat der SPD, öffentliche Sitzung des Stadtrates, 2000). Dass es in Leipzig ein massives Überangebot an Wohnungen gibt, stellt für viele eine völlig neuartige - und nicht zuletzt krisenhafte - Situation dar. Ein Mitglied des Stadtrates bemerkt, dass man „erstmalig in der Geschichte der Stadt mit einem Überangebot an Wohnraum in allen drei Segmenten fertig wer den muss" (Stadtrat SPD, öffentliche Sitzung des Stadtrates, 2000). Die Erschüt terung, wie sehr sich die Bedingungen auf dem Wohnungsmarkt in der Stadt verändert haben, wird von einem Politiker beispielhaft in einer Diskussion zum Ausdruck gebracht: „Heute kommt es einem schon sehr unwirklich vor, dass wir in den Jahren 1991 und 1992 in Leipzig über Wohnungsnot diskutiert haben. Inzwischen ist der Markt gründlich ins Gegenteil gekippt" (Stadtrat Bündnis 90/ Die Grünen, öffentliche Sitzung des Stadtrates am 20.10.2000). Gerade zu Be ginn der 1990er Jahre, so ein Politiker des Leipziger Stadtrates, gab es in Leipzig eine richtige Wohnungsnot. „Damals" - so der Stadtrat weiter - „war die wich168
tigste Frage: Ist Leipzig noch zu retten? Man wollte in Leipzig möglichst viel von der Althausubstanz erhalten" (L09/03/P). Erst mit den ansteigenden Woh nungsleerständen, insbesondere in den innerstädtischen Quartieren der Gründer zeit, „wurde hier allen klar, dass man in der Stadt nicht das Geld hat, alles [an Quartieren der Gründerzeit; BG] zu erhalten" (L10/03/P). Wenngleich die lokalen Akteure den Wohnungsleerstand als einen ein schneidenden Bruch in der Leipziger Stadtentwicklung wahrnehmen, handelt es sich um ein Phänomen, mit dem mehr oder weniger alle Städte in den neuen Bundesländern zu kämpfen haben. So führt auch der Beigeordnete auf einer Sitzung des Rates aus: „Die Städte in den neuen Bundesländern haben ein ge meinsames Problem: Einen erheblichen Bevölkerungsverlust. In Leipzig wie auch anderswo hat das drei Ursachen. Viele Leute sind nach Westdeutschland abgewandert, man hat eine Suburbanisierungswelle erlebt und die Geburtenzahl ist immer noch erheblich niedriger als die Zahl der Sterbefälle" (Beigeordneter, öffentliche Sitzung des Rates der Stadt am 2000). Gleichzeitig, auch das wird aus den Interviews deutlich, bemühen sich die Akteure hervorzuheben, dass die Situation in Leipzig weniger kritisch ist als in anderen ostdeutschen Städten. Insbesondere deshalb, weil die Bevölkerungszahlen seit Beginn des neuen Jahr tausends durch eine positive Wanderungsbilanz in Leipzig stagnieren - und nicht, wie in den meisten anderen Städten Ostdeutschlands, noch weiter zurück gehen. Die seit dem Jahr 2000 bestehende positive Wanderungsbilanz macht Leipzig zu einer absoluten Ausnahme in Ostdeutschland: „Also Leipzig hat es ja geschafft, die Einwohnerzahl zu stabilisieren. [...] Wir haben hier momentan die Chance, den Leerstand abzubauen. Viele Städte betreiben Stadtumbau bei dauerhaft ansteigendem Leerstand, die kommen sozusagen gar nicht hinterher" (L15/03/V).
Problemdeutung: „Wir hier müssen insgesamt von einer schrumpfenden Geschichte ausgehen" In Leipzig wird der Schrumpfungsprozess eher als langfristige Entwicklung gedeutet, die erst einmal bestehen bleiben wird, auch wenn es Akteure mit einer „verdrängenden" Problemwahrnehmung gibt: „Selbstverständlich diskutieren wir über Leerstand, das heißt aber nicht, dass wir eine Schrumpfstadt sind" (LI/01/1). Insgesamt wird das Thema Einwohnerverlust als Dauerproblem viel breiter als in Duisburg anerkannt, wenngleich der Wohnungsleerstand eine gro ße Rolle spielt. Gerade das Überangebot auf dem lokalen Wohnungsmarkt wird nicht als eine temporäre Erscheinung, sondern als ein längerfristiges Problem gesehen: „Klar ist", so ein Politiker im Leipziger Stadtrat stellvertretend für 169
andere, „dass es sich dabei [dem Wohnungsleerstand; BG] nicht um ein wirt schaftszyklisches, sondern um ein strukturelles Problem handelt" (Stadtrat Bündnis 90/Grüne öffentliche Sitzung des Stadtrates 2000). Hierbei scheint es sich um eine allgemein geteilte Deutung zu handeln, denn auch andere lokale Akteure heben hervor, dass das Wohnungsleerstandsproblem die Stadt wohl längerfristig beschäftigen wird. Ein Mitarbeiter aus der Verwaltung macht deut lich, warum man in Leipzig auch in Zukunft mit dem Überangebot umgehen muss: „Die Stadt kommt auch zukünftig nicht an dem Leerstandsproblem vor bei. Zum einen, weil die Anzahl der leeren Wohnungen ja immer noch extrem hoch ist und zum anderen ja auch, weil die Perspektiven nicht auf Bevölke rungsgewinne, sondern auf weitere Verluste hindeuten" (L7/02/V). Während der Wohnungsleerstand von allen lokalen Akteuren strukturell, und nicht temporär gedeutet wird, sind die Problemdeutungen hinsichtlich der Bevölkerungsentwicklung weniger eindeutig. Die meisten lokalen Akteure se hen aber den Bevölkerungsverlust insbesondere mit Blick auf die demographi schen Faktoren als ein langfristiges Problem der Leipziger Stadtentwicklung. Alleine wegen des Rückgangs der Geburtenrate und der Überalterung der Be völkerung wird die Einwohnerzahl in Leipzig in den nächsten Jahren weiter zurückgehen, wird man sich in der Stadt also auf einen weiteren Schrumpfungsprozess einzustellen haben. „Selbst wenn" - wie ein Akteur aus der Verwaltung in einem Interview bemerkt - „das Stadtplanungsamt im Moment eher mit einer sta bilen Einwohnerentwicklung rechnet, sind wir uns bewusst, dass nach 2015 die Demographie eine große Rolle spielen wird" (L14/03/V). Auch andere Akteure, wie beispielsweise die Politiker, betonen, dass es in der Stadt Leipzig einen gewissen Schrumpfungsprozess geben wird. So formu lieren zwei Politiker stellvertretend für andere, dass „das demographische Prob lem ja auch in Zukunft aktuell bleiben" (L09/03/P) wird oder dass die „Statisti ken zum demographischen Wandel auf einen weiteren Verlust hindeuten" (L08/03/I). Eine realistische Deutung des Schrumpfungsprozesses, die auch von einem anderen Politiker formuliert wird, indem er ausführt: „Es handelt sich da bei [dem Bevölkerungsverlust; BG] nicht um eine Talsohle, sondern um ein mit tel- bis längerfristiges Problem, denn die Stadt Leipzig ist eine europäische Stadt ... Wir hier in Leipzig müssen insgesamt von einer schrumpfenden Ge schichte ausgehen" (L10/03/P). Obwohl die lokalen Akteure betonen, dass es sich bei dem Bevölkerungs verlust wahrscheinlich um ein langfristiges Problem in der Leipziger Stadtent wicklung handelt, wird aus den Interviews und den Stadtratsdokumenten deut lich, dass eine solche realistische Deutung des Schrumpfungsprozesses in der Stadt prekär und umstritten ist. Insbesondere mit der gelungenen BMW-An¬ siedlung (2001) und der Olympiabewerbung (2002), wird der in der Stadt er170
reichte Stand einer realistischen Problemdeutung wieder in Frage gestellt: Ge lingt es, so eine über Parteigrenzen hinweg geteilte Perspektive, die ökonomische Basis der Stadt nachhaltig zu stärken, wird der Bevölkerungsverlust und der damit einhergehende Schrumpfungsprozess nicht so dramatisch werden, wie man das heute annehmen muss: „Schaffen wir es hier, größere Ansiedlungen zu gewinnen", merkt ein Stadtrat an, „werden wir in der Lage sein, die Einwohner zahlen zu halten" (L09/03/P). Auch ein anderer Akteur bringt seine Erwartun gen bezüglich der Olympischen Spiele auf den Punkt, indem er ausführt: „Das [die zukünftige Entwicklung in Bezug auf Schrumpfung; BG] ist ganz schwer zu beurteilen, weil wir in einer sehr dynamischen Phase sind und die aktuelle Entwicklung mit Olympia, da ist nicht abzusehen, ob das mal zum Erfolg fuhrt. Wenn es zu einem Erfolg führen sollte, werden ja eine gewisse Anzahl Arbeits plätze längerfristig prognostiziert. Insofern sind die Dinge noch nicht entschie den, die Einfluss auf diese Entwicklung haben könnten" (L17/03/P). Die Politiker sind allerdings, das verdeutlichen die Interviews, mitnichten die Einzigen, die eine realistische Problemdeutung zur Disposition stellen. Auch in Teilen der Verwaltung „ging die Tendenz nach BMW schon dazu, die Ver hältnisse wieder in Frage zu stellen", merkt ein Akteur aus der Verwaltung kri tisch an. Gleichzeitig werden auch ,Inkonsistenzen' in der Problemdeutung einzelner Akteure deutlich: „Für die Strategien, wie man damit umgeht in den Wohnquartieren, wie man die Wohnungsleerstände wieder füllt, ist es ganz wichtig, das positiv zu gestalten und nicht irgendwelchen Wachstumsstrategien nachhängt" (L14/03/V). Dass es innerhalb der Verwaltung auch Akteure gibt, welche die gelungene Ansiedlung von BMW und die Olympiabewerbung als Hinweis darauf sehen, dass sich die Perspektiven der Stadt deutlich verbessert haben, man Leipzig eigentlich nicht mehr als eine (nur) schrumpfende Stadt sehen kann, macht ein paradigmatisches Interviewzitat mit einem Akteur aus der Verwaltung deutlich: „Ich finde den Begriff der schrumpfenden Stadt für die Stadt Leipzig unange messen. ... Wir haben den Wachstumsprozess im Leipziger Norden mit BMW, Porsche, Flughafen, Logistik, Messe und so weiter. Und wir haben auch im Bereich der Stadterneuerung ganz stark wachsende Bereiche und wir haben Bereiche, die schrumpfen bzw. stagnieren. Im Moment gibt es allerdings keinen Stadtbereich bis auf Grünau, wo wir einen Rückgang haben. ... Das adäquate Bild einer Stadt wie Leipzig, Jena, Dresden und Erfurt ist das Bild einer wach senden und schrumpfenden Stadt" (L15/03/V). Mit der Deutung, dass es sich bei Wohnungsleerständen und Bevölke rungsrückgängen eher um ein langfristiges Problem der Stadtentwicklung han delt, geht auch einher, dass neue politische Strategien, Instrumente und Maß nahmen favoritisiert werden, mit denen die Prozesse gesteuert werden können. 171
Die Einwohnerverluste durch Abwanderung und Geburtenrückgang sind der zentrale argumentative Rahmen, mit dem die neuen Strategien in der Stadtent wicklungspolitik - wie der Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadter neuerung oder die Neue Gründerzeit - argumentativ in der politischen Sphäre ,gebaut' werden. Im Vordergrund der Leipziger Stadtentwicklungspolitik steht der Umgang mit den Bevölkerungsverlusten, wobei der Stabilisierung des Woh nungsmarktes eine hohe Bedeutung zugemessen wird. So erläutert der Beige ordnete für Planung und Bau auf einer Sitzung des Stadtrates, dass die Wieder herstellung des Gleichgewichtes zwischen Angebot und Nachfrage das oberste Ziel in Leipzig sei: „Die Entwicklung neuer Strategien ist erforderlich, um den richtigen Umgang mit Bevölkerungsrückgang und Leerstand zu finden. ... Die Zukunftsaufgabe der Stadt muss unter folgendes Motto gestellt werden: So viel Stadterhalt wie irgend möglich, aber auch so viel Umstrukturierung wie nötig" (Beigeordneter Planung und Bau, öffentliche Sitzung der Ratsversammlung am 18.10.2000). Der Schrumpfungsprozess wird von den lokalen Akteuren in Leipzig also eher als eine langfristige Entwicklung betrachtet, wobei insbesondere dem Be völkerungsverlust und dem Wohnungsleerstand eine herausgehobene Bedeutung zugemessen wird. Gleichwohl ist diese realistische Problemdeutung prekär und umstritten. Gerade mit der gelungenen BMW-Ansiedlung und der (inzwischen gescheiterten) Olympiabewerbung scheint der Stand der realistischen Problem wahrnehmung wieder in Frage gestellt worden zu sein. Das spiegelt sich auch in den Konflikten wider.
6.2.2 Agenda-Setting und Politikformulierung: Werbindetwen ein? Wer brachte die neuen Problemsichten und Lösungsstrategien in die Leipziger Stadtentwicklungspolitik ein? Waren das die Politiker, die Akteure der Verwal tung, die Verbände oder Kammern? Gab es bestimmte Ereignisse, welche die bisherigen Strategien, Instrumente und Maßnahmen in Frage stellte?
Verwaltung Es waren insbesondere die stark ansteigenden Wohnungsleerstände und die verstärkte Abwanderung aus den innerstädtischen Gründerzeitquartieren, zu sammen mit dem Auslaufen der Steuerabschreibung Ost, die einen hohen Prob lemdruck auf der lokalen Ebene generierten. Fehlende steuerliche Anreize, der sich bereits deutlich abzeichnende Nachfragerückgang und der Mietenverfall 172
drohten die Stadterneuerung in Leipzig Ende der 1990er Jahre zum Erliegen bringen. Der Auslöser für die Thematisierung des Wohnungsleerstandes war die Erkenntnis, dass mit dem Wegfall der Steuerabschreibungen der Sanierungs boom nicht weitergehen wird: „Die Kernfrage, die wir uns gestellt haben, war: Wie geht es eigentlich mit der Stadterneuerung weiter?" (LI5/03/V). Die Akteure der Leipziger Verwaltung, und hier insbesondere die Akteure aus dem Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung, mussten zu diesem Zeitpunkt realisieren, dass der abschreibungsbedingte Sanierungsboom in den gründerzeitlichen Altbauquartieren nach dem Wegfall der steuerlichen Begünstigungen für westdeutsche Investoren nicht weitergehen würde, da sin kende Bevölkerungszahlen bei steigender Neubautätigkeit bereits zu einem drastischen Rückgang der Nachfrage, gerade in den gründerzeitlichen Quartie ren der Stadt geführt hatten: Die Rahmenbedingungen der Stadterneuerung hatten sich grundlegend gewandelt. Ausschlaggebend war eine zuvor erarbeitete Zwischenbilanz der Leipziger Stadterneuerungspolitik, die zu dem alarmieren den Schluss kam, dass ein knappes Drittel - etwa 4.000 Gebäude — der gründer zeitlichen Bestände nach wie vor nicht erneuert war, und dass die Erneuerung dieses „letzten Drittels" Leipzig vor neue Herausforderungen stellen würde. Der sich bereits deutlich abzeichnende Wohnungsleerstand von fast 40.000 Wohn einheiten in den gründerzeitlichen Gebieten könnte, so die Befürchtung der Verwaltungsakteure in einer Beschlussvorlage, aufgrund weiterer Einwohner verluste noch weiter zunehmen: Das Kleid der Bausubstanz war der schrump fenden Stadt zu groß geworden (Beschlussvorlage 2/99 vom 11.01.1999). Den Verantwortlichen für die Erneuerung der gründerzeitlichen Bausub stanz, also den Akteuren des Amts für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung, stellte sich die dringende Frage, was man angesichts der fundamental gewandelten Bedingungen mit dem „Letzten Drittel" der unsanierten und weit gehend leerstehenden Gründerzeithäuser in der Stadt Leipzig überhaupt noch tun könne. Ein einfaches Festhalten an dem bisherigen stadterneuerungspolitischen Ziel, möglichst alle gründerzeitlichen Gebäude in der Stadt zu erhalten und zu sanieren, würde die bereits entstandenen Probleme nur aufschieben, nicht aber lösen: Das bis dahin in der Leipziger Stadterneuerungspolitik domi nierende Paradigma der „behutsamen Erneuerung" musste - so die Folgerung zumindest in einigen Teilbereichen der gründerzeitlichen Gebiete in Frage ge stellt werden: „Uns ist klar geworden, dass wir in einigen Stadtvierteln mit dem Paradigma der behutsamen Stadterneuerung einfach nicht mehr weiterkommen werden. [...] Nicht, weil wir davon nichts halten, sondern weil es in bestimmten Bereichen schlicht jeder Grundlage entbehrt" (LI 5/03/V). Die Erkenntnis, dass ein „weiter-so" in der Stadterneuerungspolitik die be stehenden Probleme in den Leipziger Altbaugebieten nur verschieben, nicht 173
aber lösen würde, war der entscheidenden Punkt, an dem eine zunächst verwal tungsinterne Diskussion über Abwanderung, Bevölkerungsverlust und Woh nungsleerstand in Leipzig begann: „So richtig ernsthaft aufgegriffen hat man das [Schrumpfung, BG] in der städtischen Diskussion aber erst 1998. Und zwar auch noch unter einem anderen Vorzeichen, nicht so global. Das kam aus der Stadterneuerung" (L02/01/V). Für die Akteure aus dem Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauför derung ist es schwierig, Bevölkerungsverlust und Wohnungsleerstand als ein struk turelles Problem der Stadt Leipzig zu thematisieren: Es passt nicht zu dem selbst gewählten Marketing-Slogan „Leipzig kommt!". Insbesondere auf den höheren Verwaltungsebenen ist man sehr darauf bedacht, mit der Problematik in der Öffentlichkeit zurückhaltend umzugehen. Gerade die Wohnungsleerstandszahlen sollten sensibel gehandhabt werden, um ein negatives Image zu vermeiden. Sie sollten, wenn überhaupt, nur in Relation zu den Wohnungsleerstandszahlen in anderen ostdeutschen Städten öffentlich erwähnt werden, da man fürchtete, potentielle Investoren zu verschrecken: „In der Anfangsphase habe ich als Per son da massiv Druck bekommen. Termin beim Oberbürgermeister, damals noch Lehmann-Grube, wo wir [das Amt für Stadterneuerung und Wohnungsförde rung; BG] vergattert worden sind, den Standort nicht ins Gerede zu bringen und das Thema niedrig zu halten" (L12/04/V). Das größte Problem, was sich in der Verwaltung ergab, war, wie offen man die strukturellen Probleme der Stadt Leipzig nach außen kommunizierte: Um als Stadtverwaltung gestaltend eingreifen zu können, war es einerseits unabdingbar, die Erwartungen der Eigentümer an Boden- und Grundstückspreise auf ein rea listisches Maß zu reduzieren. Deutlich zu machen, dass auf vielen Grundstücken in den Leipziger Altbaugebieten keine Gewinnerwartungen mehr lagen, das traf sich aber andererseits „irgendwie gar nicht mit dem positiven Bild des Standor tes" (L12/03/V). Entscheidend dafür, dass man die Themen Abwanderung und Wohnungs leerstand dennoch verhandelte, war, dass der Wohnungsleerstand in Zukunft auch in anderen Bereichen ein Problem sein würde. Gerade vor dem Hinter grund, dass Leipzig durch die Gemeindegebietsreform große Wohnungsneubau flächen im Umland dazu bekommen hatte, wurde deutlich, dass der Wohnungs leerstand zukünftig in allen Segmenten des Wohnungsmarktes ein Problem sein würde: „Wir [die Verwaltung, BG] haben die Position vertreten, dass wir auf der einen Seite wirklich genau wissen wollten, wie die Sachlage aussieht, ohne dann in Depressionen zu verfallen, sondern aufgrund einer vernünftigen Sach kenntnis [...] darauf Strategien aufzubauen" (L15/03/V). Eine Befürchtung, die durch ein von der Verwaltung in Auftrag gegebenes Gutachten der Empirica GmbH unterstützt wurde: Das Gutachten prognostizierte, dass die Überschuss174
bestände in der gesamten Stadt angesichts weiterer Neubautätigkeit, geringer Geburtenzahlen und anhaltender Abwanderung der Bevölkerung bis 2010 noch erheblich, nämlich auf etwa 85.000 Wohneinheiten, anwachsen könnten. Das Gutachten war - so ein Akteur aus dem Stadtplanungsamt - der Auftakt für eine genauere Wohnungsmarktanalyse, mit deren Hilfe unterschiedliche Problembe reiche in der Stadt identifiziert wurden. Vertrat man in der Leipziger Verwaltung bis Mitte der 1990er Jahre die Auffassung, dass es keine umfassende Planung braucht, sondern dass man die Stadtentwicklung durch Großprojekte voranbringt, zielten die Aktivitäten der Verwaltungsakteure nun darauf, gesamtstädtische Strategien für den Bevölke rungsverlust und den Wohnungsleerstand zu erarbeiten. Mit einer abgestimmten Strategie im Umgang mit Bevölkerungsverlust und Wohnungsleerstand, so die Akteure aus der Leipziger Verwaltung, sollten Fördermittel stärker gesteuert und eben nicht mehr im „Gießkannenprinzip" (L02/03/V) auf die gesamte Stadt verteilt werden, um die Schrumpfung auch vor dem Hintergrund der Ausdiffe renzierung von Problemlagen zu gestalten. Mit der Problematisierung von Be völkerungsverlust und Wohnungsleerstand als einem stadtweiten Problem er hielten auch die Mitarbeiter des Stadtplanungsamtes eine zunehmend wichtigere Rolle im Prozess der Strategieentwicklung: „Unser Amt [das Stadtplanungsamt; BG] hat darauf gedrungen, dass [für den Umgang mit dem Wohnungsleerstand; BG] eine gesamtstädtische konsistente Strategie notwendig ist, um zu vermei den, dass entweder nur die Plattengebiete oder nur die Altbaugebiete betrachtet werden" (L02/01/V). Waren die ersten Überlegungen zum Umgang mit Schrumpfung im Amt für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung ange siedelt, bearbeitete die Arbeitsgruppe STEP im Stadtplanungsamt federführend den nachfolgenden „Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneue rung" sowie den „Stadtentwicklungsplan Großsiedlungen", wenngleich weiter hin eine ämterübergreifende Bearbeitung zu den einzelnen Teilplänen erfolgte. Dass die Themen dennoch zaghaft innerhalb der Verwaltung verhandelt, neue Strategien entwickelt wurden, lag auch daran, dass man sich auf eine inter ne Kommunikationsregelung verständigen konnte, den Schmmpfungsprozess als eine Chance für mehr Lebens- und Wohnqualität in der Stadt zu thematisie ren, wobei insbesondere dem individuellen Wohneigentum eine besondere Be deutung beigemessen wurde. Durch Pilotprojekte - so ein Akteur aus dem Amt für Stadterneuerung und Wolmungsförderung zu dem Ansatz - sollte „anhand dieser funktionierenden Beispiele gezeigt werden, dass es geht und wie es geht und wie toll es sein kann" (L07/03/V). Um das aus Sicht der lokalen Verwal tungsakteure größte Problem eines Untergangsszenarios zu vermeiden, bekam beispielsweise die Strategie zur „Rettung des letzten Drittels", in der es erstma-
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lig auch um Abrisse im Wohnungsbestand ging, einen neuen Namen. Man be nannte sie kurzerhand in das Programm „Neue Gründerzeit" um. Das Ziel der Verwaltung, die mit dem Wohnungsleerstand und den Bevöl kerungsverlusten verbundenen Potentiale zu betonen - und weniger die damit einhergehenden Probleme, - erwies sich jedoch als schwierig. Die Stadt Leipzig wurde durch ihre offene Herangehensweise gerade in den überregionalen Me dien als Leerstandshauptstadt in Deutschland hingestellt. Eine Stigmatisierung, die aus der Perspektive der Verwaltungsakteure aber „schlicht und objektiv Unsinn war" (L15/03/V), die nur daher kam, weil man in Leipzig „einigermaßen offen über das Problem redete" (L07/02/V). Maßgeblich begünstigt wurde eine breitere verwaltungsinterne - und später auch öffentliche - Diskussion um die neuen Ansätze in der Leipziger Stadtentwicklungspolitik durch die auf Bundesebene angestoßene Thematisierung des Wohnungsleerstandes und des Bevölkerungsverlustes durch die sogenannte „Leerstandskommission" (siehe auch 2.2.3): „Die Stadtwerkstatt [das letzte Drittel; BG] war ja" - so ein Akteur - „in dem Sinne auch keine öffentliche Veranstaltung. Zu einem breiteren Thema wurde das [der Woh nungsleerstand; BG) ja auch erst, nach dem das auch auf Bundesebene breiter besprochen wurde" (L07/02/V). Auch wenn, wie ein anderer Akteur aus der Verwaltung anmerkt, „wir in Leipzig den ersten Stadtentwicklungsplan nun schon vor dem Kommissionsbericht verabschiedet haben" (L02/01/V). Obwohl man sich innerhalb der Leipziger Stadtverwaltung entschied, die Probleme Abwanderung und Wohnungsleerstand relativ offen zu thematisieren, wird deutlich, dass die internen Konflikte in der Verwaltung dadurch nicht ge löst waren. Die Frage, mit welcher Konsequenz man die neuen Strategien in der Stadtentwicklungspolitik nach außen vertritt, blieb umstritten. Während einige Akteure in der Verwaltung, die Olympiaplanungen der Stadt als eine wichtige Ergänzung sehen, weil „eine Stadt eben neben einer strukturellen Planung auch Visionen braucht, sonst dümpelt man so vor sich hin und bleibt in seinem eige nen Umfeld gefangen" (L14/03/V), beurteilen andere Akteure aus der Verwal tung - und hier insbesondere die Akteure des Amtes für Stadterneuerung und Wohnungsbauförderung - die Sache deutlich kritischer: „Das finde ich krass, wenn eine Stadt wie Leipzig sich um Olympia bewirbt und das hat natürlich erhebliche Innenwirkung. Das Hirngespinst wirkt sich aus. Es wird jetzt einfach so sein, dass dieser konzeptionelle Plan [Stadtteilplan Leipziger Westen; BG], der eigentlich als Schrumpfungsplan gedacht war, [...] der wird jetzt auf jeden Fall in zwei Varianten herauskommen: einer Schrumpfungs- und einer Olym piavariante (L07/02/V). Wenn sich die Stadt ernsthaft mit den Zahlen des Woh nungsleerstandes und des weiteren Bevölkerungsverlustes auseinandersetzen würde, so ein Akteur aus der Verwaltung, dann würde man zu einer ganz ande176
ren Maßnahrnenintensität kommen als das bislang nach außen propagiert wird: „Ich muss zu bestimmten Stadtbereichen sagen: Die kommen weg und es gibt keine Traute zu dieser Frage. [...] Leipzig hat noch bis 2010 Zeit, sich auf den nächsten großen Schock, was den Bevölkerungsverlust angeht, einzustellen. Und bis dahin muss die neue Qualität sichtbar sein. Also, wir stehen richtig kräftig unter Zeitdruck, und das sieht niemand" (L12/03/V).
Parteien Das Stadterneuerungsprogramm „Neue Gründerzeit", in dem auch erstmals der Abriss bestehender Strukturen vorgeschlagen wurde, diskutierte man hauptsäch lich in nichtöffentlichen (Fachausschuss-) Sitzungen, wobei es letztlich dem Leipziger Stadtrat nur zur Kenntnisnahme, nicht aber zur Abstimmung vorge legt wurde. Erst mit den gesamtstädtischen Strategien, wie dem „Stadtentwick lungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung" und dem „Stadtentwicklungs plan Großsiedlungen", welche die Verwaltung aufbauend konzipierte, bezog man auch die unterschiedlichen Parteien im Leipziger Stadtrat in einen breiteren Diskussions- und Entscheidungsprozess mit ein (siehe Abbildung 13).
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Abbildung 13: Anfragen der politischen Parteien im Leipziger Stadtrat nach Themen, 1994-2002
SPD
CDU
PDS
Grüne
• Leerstand • Stadtentwicklungsplan B Abwanderung
Quelle: Büro für Ratsangelegenheiten der Stadt Leipzig (eigene Erhebung) In den Diskussionsprozess brachten sich in erster Linie die CDU- und die PDS¬ Ratsfraktion ein. Die SPD und Bündnis 90/Die Grünen traten hierbei weniger in Erscheinung.
Konflikte zwischen den Parteien und der Verwaltung: „Leipzig kommt nicht mehr, Leipzig steht leer, Leipzig reißt ab" Auch wenn alle Akteure retrospektiv bemerken, dass sich Politiker und Verwal tung - als es um das Problem Wohnungsleerstand und Abwanderung ging eigentlich einig waren, man also gemeinsam an „einem Strang gezogen hat", wird aus den Interviews und den Stadtratsdokumenten deutlich, dass es gerade zu Beginn galt, massive Widerstände derer, die das Thema des Bevölkerungs verlustes und des Wohnungsleerstandes nicht thematisieren wollten, zu über winden. Ein Akteur aus der Verwaltung erinnert sich: „Es ist hier natürlich allen schwer gefallen, zu akzeptieren, dass wir hier ein richtiges Problem haben. Das 178
war in der Politik insgesamt kompliziert. [,..] Es war für die PDS sicher schwer zu akzeptieren, dass Platten abgerissen werden, aber es war auch sicherlich für die CDU schwer zu akzeptieren, dass nicht jedes Gründerzeithaus erhalten wer den kann" (L15/03/V). Alle politischen Parteien im Leipziger Stadtrat stehen den von der Verwal tung formulierten neuen Strategien und Maßnahmen in der Stadterneuerungs und Stadtentwicklungspolitik abwartend bis ablehnend gegenüber. Es fällt den Politikern offensichtlich schwer, sich an die veränderten Rahmenbedingungen anzupassen, weil sie nach der Vereinigung von einem „großen Aufbruch in der Stadt" ausgingen. Dass Leipzig nicht nur ein temporäres, sondern ein strukturel les Problem mit dem Bevölkerungsverlust und dem Wohnungsleerstand hat und dass auch die Perspektiven nicht auf eine Umkehr hoffen lassen, wird von den politischen Parteien erst einmal nicht angenommen. Ein CDU-Stadtratsmitglied führte in einem Interview aus: „Die [Abrissdiskussion; BG] wurde von uns anfangs überhaupt nicht verstanden, die wollten wir eigentlich wegdrücken" (L 09/03/P). Insbesondere bei der CDU und der PDS spielen bei den ersten Bera tungen zum Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung, ähnlich wie in Teilen der Verwaltung, die Befürchtungen eine große Rolle, dass Leipzig als Standort schlecht geredet wird, und dass die Außenwirksamkeit des Stadt entwicklungsplans für den Standortwettbewerb verheerend sei. Das macht ein Stadtrat der CDU in der Diskussion zu dem neuen Stadtentwicklungsplan deut lich: „Nach außen entsteht so der Eindruck, Leipzig kommt nicht mehr, Leipzig steht leer, Leipzig reißt a b . . . Das darf nicht sein" (Stadtrat CDU in der Ratsver¬ sammlung am 18.10.2000). Darüber hinaus bemängeln die Akteure der PDS und der CDU, dass sich die neuen Strategien der Verwaltung auf eine Reduzierung des Angebots und nicht auf eine Steigerung der Nachfrage richten, dass es also ein „Herumdok tern" an den Symptomen sei. So stellt die CDU im Rahmen der Beschlussfas sung zum Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung einen Ergänzungsantrag, in dem sie fordert, den Stadtentwicklungsplan durch wirtschaftsfördernde Strategien und Maßnahmen zu ergänzen: Mit der Erhöhung des Arbeitsplatzangebotes in der Stadt Leipzig, so der Antrag weiter, könne lang fristig eine positive Einwohnerentwicklung erreicht werden (Ergänzungsantrag CDU III EA 4). Um den Wohnungsmarkt wieder in ein Gleichgewicht zu brin gen, soll die Stadt Leipzig aus Sicht der CDU-Fraktion beide Wege gleichzeitig gehen: Dämpfung des Angebotes durch Abriss und Minimierung des Neubaus sowie Steigerung der Nachfrage (Stadtrat CDU, Ratsversammlung am 18.10.2000). Ein ähnlicher Ergänzungsantrag wird auch von der PDS im Rahmen der Beschlussfassung zum Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneue rung gestellt, der ähnlich wie der Antrag der CDU, den Abriss nicht genutzter 179
Wohngebäude als eine „Notlösung" zur Verminderung des Leerstands sieht: Langfristiges Ziel der Stadt Leipzig sollte es sein, den Wohnungsleerstand durch eine Trendumkehr bei den Bevölkerungszahlen abzubauen. Hierzu gehörten, so der Antrag der PDS weiter, die Schaffung marktfähiger Arbeitsplatzangebote und attraktiver Lebensbedingungen in der Stadt: „Der Abriss von nicht genutz ten Wohngebäuden kann nur eine Notlösung zur Verminderung des Wohnungs leerstandes sein. Langfristig muss es das Ziel der Stadt sein, die derzeitige Ent wicklung bezüglich Bevölkerungszahlen und Arbeitsplatzangeboten wieder zu stoppen und durch die Schaffung attraktiver Lebensbedingungen Wohnungs leerstand abzubauen" (Ergänzungsantrag PDS Nr. Ill/EA 8). Die Anträge der PDS und der CDU, die wirtschaftspolitische Dimension im Stadtentwicklungsplan zu stärken, finden bei den Fraktionen der SPD und der Grünen keine Unterstützung. Obwohl auch für die SPD-Ratsfraktion die Schaffung von Arbeitsplätze und die Organisation von Investitionen ein Schwerpunkt ihrer Ratsarbeit darstellt (L11/03/P), verweist die SPD in der ent sprechenden Ratssitzung darauf, dass „eine Verquickung des Stadtentwick lungsplanes mit der komplexen Problematik von Wirtschaftsförderung und Arbeitsmarkt weit über den strukturellen Ansatz eines Stadtentwicklungsplanes hinausgeht" (Stadtrat der SPD, öffentliche Sitzung der Ratsversammlung am 18.10.2000). Die beiden Ergänzungsanträge werden auf der Ratssitzung in das reguläre Antragsverfahren verwiesen, so dass die von der CDU und PDS ver langten wirtschaftsfördernde Elemente im Beschlusstext zum Stadtentwick lungsplan zunächst nicht enthalten sind (Beschluss der 15. Ratsversammlung Nr. RBm-432/00). Die Kontroversen um die Berücksichtigung wirtschaftlicher Belange in der Stadtentwicklungspolitik flammen immer wieder auf. Sie sind mitnichten nach der Beschlussfassung zum Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadter neuerung verschwunden. Ein von den politischen Akteuren in diesem Zusam menhang immer wieder erwähntes Beispiel ist der von der Verwaltung im Rah men eines kooperativen Gutachterverfahrens erstellte konzeptionelle Stadtteil plan Leipziger Osten. Die hier vorgesehene Begrünung des Stadtteiles durch das grüne Rietschkeband mit den darin enthaltenden Planungen eines Geheges mit Dammwild in der Nähe des Hauptbahnhofes („Hirschgehege"), der Anlage von Parks, wie dem eines „dunklen Waldes" oder eines „lichten Haines" führte im Stadtrat und den entsprechenden Fachausschusssitzungen zu heftigen Konflik ten. Ein Mitglied der CDU führt das in einem Interview aus: „Das ging dann so los mit Begriffen wie Hirschgehege und dunkler Wald. Das waren die Orientie rungspunkte für die Leute von der Stadtplanung - und das brachte das Fass wirk lich zum Überlaufen. Wir können hier bei der CDU einfach nicht verstehen, dass 180
eine Stadtverwaltung eine Stadtplanung nach rein ökologischen Gesichtspunk ten betreibt" (L09/03/P). Die CDU-Ratsfraktion fordert bei den Beratungen zum Konzeptionellen Stadtteilplan Leipziger Osten, - ähnlich wie zum Stadtentwick lungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung - dass das Image des Leipziger Os tens durch sogenannte „Leuchtturmprojekte", wie beispielsweise dem Umbau des Eilenburger Bahnhofs, verändert werden muss. Um das aus ihrer Sicht „Schlimmste zu verhüten" (L09/03/P), reichte die CDU in den Beratungen eine umfangreiche Stellungnahme ein, die letztendlich zu einer graduellen Überar beitung des Konzepts für den Leipziger Osten führen soll. Der Leipziger Osten braucht kein Hirschgehege, er braucht Ansiedlungen!, so die CDU.
Konflikte zwischen den Parteien: „Wohnmaschinen" und „Gebäudemumien" Eine weitere wesentliche Konfliktlinie, die sich in den stadtentwicklungspolitischen Diskussions- und EntScheidungsprozessen in der Stadt Leipzig heraus kristallisierte, war die ideologisch aufgeladene Auseinandersetzung zwischen den politischen Parteien um die Frage, ob die zu erfolgenden Abrisse zur Redu zierung des Wohnungsüberhangs im Altbau oder im Neubau stattfinden sollten. Hierbei war auch eine recht eindeutige Positionierung der einzelnen Parteien erkennbar, was ein Mitglied von Bündnis 90/ Die Grünen bestätigt: „Innerhalb der politischen Landschaft ist es eher so, dass die PDS das Thema stark macht, wenn es um den DDR-Wohnungsbestand geht, und die anderen sich eher für das Thema alter Bestand verantwortlich fühlen und dort stark machen" (L 17/03/P). Während die SPD und die Grünen in den Beratungen zu den neuen Stadt entwicklungsplänen in dieser Frage eher eine Mittelposition beziehen, pocht gerade die CDU sehr vehement auf die Reduzierung des Wohnungsbestandes in den Leipziger Großwohnsiedlungen. Gerade in den ersten Beratungen zu dem Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung, der umfangreichere Abrisse in den gründerzeitlichen Quartieren vorsieht, stellt die CDU zahlreiche Änderungs- und Ergänzungsanträge. Aus ihrer Sicht stellt der Abriss gründer zeitlicher Häuser das sensibelste und umstrittenste Thema im gesamten Stadt entwicklungsplan dar. In ihren Anträgen fordert die CDU, dass Abrisse im gründerzeitlichen Baubestand nur in „sorgfältig begründeten Einzelentschei dungen" stattfinden sollen (Änderungsantrag der CDU-Fraktion Nr, III/ÄA zu Vorlage Nr. HI/821). Die im Stadtentwicklungsplan Stadterneuerung ausgewie senen Umstrukturierungsgebiete, in denen es nach dem Willen der Verwaltung auch größere Abrissvorhaben geben kann, sollen nach dem Willen der CDU gerade nicht als Gebiete für einen Abriss vorgesehen werden. In den Gebieten der Gründerzeit, so ein Ergänzungsantrag der CDU-Fraktion zum Stadtentwick181
lungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung, sind zuerst die Möglichkeiten der Konservierung von Wohngebäuden zu nutzen - und erst wenn diese ausge schöpft sind, sollte man über die Möglichkeit des Abrisses nachdenken (Ergän zungsantrag der CDU-Fraktion Nr. Ill/EA 3 zur Vorlage Nr. III/821). Ein Rats herr der CDU bringt die Perspektive seiner Fraktion in der Ratsversammlung paradigmatisch zum Ausdruck: „Tausende dieser Häuser [der Gründerzeit; BG] haben den Krieg und sogar 40 Jahre DDR überlebt. Ein großflächiger Abriss dieser wertvollen Bausubstanz wäre geradezu makaber. Die CDU-Fraktion wird sich in überzeugend begründeten Einzelfällen [...] einem Abriss nicht widerset zen, grundsätzlich aber gilt, dass es mit der CDU-Fraktion keinen Flächenabriss geben wird (Ratsherr CDU öffentliche Sitzung der Ratsversammlung am 18.10.2000). Die Bewahrung des Altbaus wird von der Leipziger CDU-Ratsfraktion mit seiner außerordentlich großen städtebaulichen und kulturhistorischen Bedeutung für die Stadt Leipzig begründet. Gleichwohl verweisen sie auch darauf, dass der Wohnungsleerstand in den gründerzeitlichen Gebieten in erster Linie ein passi ver Leerstand sei, der den Markt nicht belastet. Ein Abriss, so der Umkehrschluss, dieser Gebäude entlaste damit auch nicht den Wohnungsmarkt in der Stadt Leipzig. Nur die Großsiedlungen - so ein Stadtrat der CDU bei der Be schlussfassung zum Teilplan Großwohnsiedlungen - können für die kurzfristige Reduzierung des Wohnungsleerstandes in der Stadt Leipzig einen nennenswer ten Beitrag liefern (34. öffentliche Sitzung des Stadtrates, Stadtrat CDU am 20.03.2003). Die industriell gefertigten Wohnungen bieten sich aus der Perspektive ei nes CDU-Mitgliedes auch deshalb für einen Rückbau an, weil die Entwicklung in den letzten Jahren gezeigt hätte, dass sie den gesteigerten Wohnansprüchen der Bewohner nicht mehr gerecht werden. Wenngleich die CDU in der Ratssit zung im März 2003 fordert, die antagonistische Betrachtung Großsiedlung ver sus Altbau zugunsten einer gesamtstädtischen Perspektive zu überwinden, macht ein Mitglied der CDU in einem Interview die Position der Leipziger CDU noch einmal sehr deutlich: „Auch heute ist die Position der CDU, dass mög lichst alles, was erhalten werden kann, in der Innenstadt liegen sollte. ... Wenn wir zu Reduzierungen im Wohnungsbereich diese Stadtteile benutzen, die a) möglichst außerhalb liegen und b) deren Akzeptanz begrenzt ist, also die - ich nenne sie mal - Wohnmaschinen, dann ist das eine gute Strategie" (L09/03/P). Die Forderung der CDU-Fraktion, durch den Abriss und Rückbau in den Großwohnsiedlungen das Leerstandsproblem in Leipzig zu bewältigen, stößt bei der PDS-Fraktion im Stadtrat auf Widerstand. Im Unterschied zur CDU befür wortet die PDS-Fraktion den Ansatz der Stadtverwaltung, in einigen Altbau quartieren Bestände durch Abriss und Rückbau vom Markt zu nehmen. 182
Die PDS vertritt in der Beschlussfassung zum Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung die Ansicht, dass es in den gründerzeitli chen Altbaugebieten neben einem „Sanierungsstau" auch einen „Abrissstau" gibt, da seit 1980 in der Stadt Leipzig aufgrund der Gesetzeslage keine bautech nisch verschlissenen Gebäude im Althausbereich abgerissen werden konnten (15. öffentliche Sitzung des Rates am 18.10.2000). Die von der CDU in den Debatten immer wieder hervorgehobene kulturhistorische Bedeutung der Grün derzeitbebauung wird zwar von der PDS nicht grundsätzlich angezweifelt, je doch relativiert. Ein Mitglied der PDS-Fraktion wehrt sich in einem Interview gegen die, seiner Meinung nach, nicht nur in Leipzig vorherrschende Praxis, alles „Alte" erhalten zu wollen, selbst wenn es sich dabei um Objekte handelt, die architektonisch- oder städtebaulich nicht relevant seien: „Die meisten Sa chen, die als Gründerzeit gemacht wird, wobei das, was als Gründerzeit be zeichnet ist, überhaupt keine Gründerzeit, sondern Jugendstil und danach ist, und die eigentliche Gründerzeit ist das, was - ich sag's mal - ich immer als Schwarzbrot bezeichne, wo also ganz billige Baukonstruktionen gemacht wur den, da sind lediglich Schmuckelemente außen dran geklebt und jetzt sieht es ein bisschen alt aus und dann ist das jetzt ein wertvolles Gebäude" (L10/03/P). Deshalb müsse man, so die Position der PDS, abgesehen von denkmal- oder städtebaulich relevanten Gebäuden, auch in der Gründerzeit über den Rückbau seit Jahren leerstehender und nicht mit vernünftigem Aufwand wieder herstell barer Häuser nachdenken (Stadtrat PDS öffentliche Sitzung der Ratsversamm lung am 18.10.2000). Dem flächenhaften Abriss von Wohnungen im industriell gefertigten Wohnungsbau will die PDS dagegen nicht zustimmen, weil „wer Kapitalismus will, muss auch den Wohnungsmarkt" wollen (Stadtrat PDS öf fentliche Sitzung der Ratsversammlung am 18.10.2000). In den politischen Beratungen zu dem Stadtentwicklungsplan Wohnungs bau und Stadterneuerung, in dem es eigentlich (noch) nicht um den Rückbau in den Großsiedlungen ging, stellte die PDS einen Antrag, der künstlichen Ver knappung sanierter Sozialwohnungen entgegenzuwirken. Hier forderte sie, dass der Umnutzung längerfristig nicht vermietbarer Wohnungen in erhaltungsfähi gen Gebäuden der Vorzug vor der Konservierung oder dem Abriss zu geben ist (Nr. III/EA 6). Begründet wird der Antrag damit, dass der Rückbau bautech nisch noch nicht verschlissener Gebäudesubstanz die „Vernichtung von Volks vermögen" und „menschlicher Arbeitsleistung" ist. Industriell gefertigte Gebäu de, so das Argument weiter, ließen sich heute vielfältig nutzen und seien durch einen mit vertretbarem Aufwand zu betreibendem Feinausbau durchaus auf die heutigen Nutzungsansprüche zu bringen. Gleichzeitig bringen die Mitglieder der PDS-Fraktion in einem weiteren Ergänzungsantrag ein, dass das Ziel der Ver waltung, die Lebensqualität in den hochverdichteten Wohnquartieren durch eine 183
Reduzierung der Dichte zu verbessern, in den Großsiedlungen nur in „Ausnah mefallen" und bei „bauordnungsrechtlich verfugten Notabrissen" stattfinden soll. Denn tatsächlich, so der Ergänzungsantrag der PDS-Fraktion weiter, zählen die Leipziger Gründerzeitquartiere zu den hochverdichtetsten Wohngebieten in Europa - und nicht die am Stadtrand erbauten Großsiedlungen, in denen bereits durch den Abriss von einzelnen Hochhäusern und die Reduzierung der Anzahl der Geschosse ein Ausgleich in den letzten Jahren geschaffen wurde. Wenngleich sich die PDS also eindeutig zugunsten des industriell gefertig ten Wohnungsbaus in der Stadt Leipzig bekennt, lehnt sie Abrisse in diesem Bereich nicht grundsätzlich ab. Um die von Leerstand und Abwanderung betrof fenen Großsiedlungen zu erhalten und zu stabilisieren, ist die PDS-Fraktion im Laufe der Entscheidungsfindung zu den Stadtentwicklungsplänen bereit, auch über Abbruche sanierungsfälliger Gebäude in Grünau zu diskutieren. Allerdings, auch das macht ein Mitglied der PDS-Fraktion bei den Beratungen zum Stadt entwicklungsplan Großwohnsiedlungen deutlich, wird man den Umbau und Rückbau in Leipzig Grünau nur dann als Partei mittragen, wenn auch in den innerstädtischen Altbaugebieten abgerissen wird. Die Beseitigung des Woh nungsleerstandes sollte aus Sicht der PDS also nicht nur auf Kosten des DDRWohnungsbaus und der Genossenschaften passieren. „Die PDS-Fraktion hat sich von Anfang an konstruktiv und kompetent in den Diskussionsprozess ein gebracht und zur Versachlichung der Diskussion beigetragen. Als Erste ... ist die PDS auch bereit gewesen, über den Abriss sanierungsfähiger Gebäude [in Grü nau] zu diskutieren. ... Dies wird aber nur dann so bleiben, wenn nicht dafür Gebäudemumien, über deren städtebaulichen, architektonischen bzw. denkmal¬ pflegerischen Wert man streiten kann, mit volkswirtschaftlich unvertretbarem Auf wand zu neuem Leben erweckt werden" (Stadtrat PDS öffentliche Sitzung des Rates am 20.03.2003). Die anderen Parteien im Stadtrat, namentlich die Grünen und die SPD, nehmen in dieser Auseinandersetzung eine Mittelposition ein. Die Grünen beto nen in den politischen Diskussions- und EntScheidungsprozessen, dass durch den Abriss in den gründerzeitlichen Quartieren auch neue, ökologische Qualitä ten gewonnen werden können, wie beispielsweise durch Entdichtung oder Entsiegelung. Auch wenn es den Grünen ebenfalls um eine Bewahrung des „Ge sichtes der Stadt" geht, und sie grundsätzlich ebenso wie die CDU eine zeitwei lige Zwischennutzung oder Konservierung der gründerzeitlichen Häuser für wünschenswert halten, sind sie der Meinung, dass sich in vielen konkreten Ein zelfällen diese Frage erst gar nicht stellt: Viele Häuser - so ein Mitglied der Grünen Fraktion im Leipziger Stadtrat - werden sich in den nächsten Jahren aufgrund ihres schlechten Bauzustandes „quasi selbst entsorgen". Allerdings ist die Partei ebenfalls dafür, in den industriell gefertigten Wohnsiedlungen der 184
Stadt Leipzig über einen Abriss nachzudenken, weil es der Stadt Leipzig aus ihrer Sicht auch nichts nützt, den Abriss von Gebäuden zu bedauern, wenn es sich dabei um Bestände handelt, die eigentlich niemand mehr haben will (Stadt rat Bündnis 90/Die Grünen, 34. öffentliche Sitzung am 20.03.2002). In einer ähnlichen Richtung positioniert sich die SPD-Ratsfraktion. Wenn gleich auch hier ein Stadtrat in der Beschlussfassung zu dem Stadtentwick lungsplan Großsiedlungen bemerkt, dass das Einheitsangebot in der Platte nur begrenzt nachgefragt werde, die Wohnungseigentümer in diesen Gebieten also nicht umhin kommen, Wohnungen durch Abbruch und Teilrückbau vom Markt zu nehmen, müsse man auch in den gründerzeitlichen Altbauquartieren über eine Reduzierung des Wohnungsbestandes nachdenken. Aus Sicht der SPD sol lte also in beiden Teilbereichen der Stadt abgerissen werden, wenngleich mög lichst alles, was von den Bewohnern akzeptiert wird, auch gehalten werden soll - unabhängig davon, ob es sich im gründerzeitlichen oder im industriell ge fertigten Wohnungsbau befindet: „Die Gründerzeitquartiere sind dominierend in ihrer stadtbildprägenden Ausstrahlung und werden glücklicherweise wieder von vielen Bürgern als Wohnort angenommen. In den Großsiedlungen wohnen aber auch Zehntausende Menschen, von denen viele auch dort wohnen bleiben wol len. Die städtischen Aktivitäten sind demzufolge dort zu konzentrieren, wo in den Quartieren Defizite in der räumlichen und sozialen Struktur vorliegen". In den Diskussionen wird deutlich, dass sich, auch wenn es unterschiedli che Positionierungen hinsichtlich der Abrissprioritäten gibt, die politischen Parteien im Leipziger Stadtrat einig sind, dass der Wohnungsneubau in der Stadt begrenzt werden muss. Es sind gerade die Akteure von Bündnis 90/Die Grünen, die fordern, dass die Stadterweiterung in der Leipziger Stadtentwicklungspolitik begrenzt werden sollte - und die vermuten, dass sich die neue Problemwahr nehmung noch nicht in der gesamten Verwaltung durchgesetzt hat: „Unserer Meinung nach gibt es eine teilweise inkohärente Linie [in der Stadtverwaltung; BG], weil auch immer noch Neubauten genehmigt werden. Das wird dann im Hinblick auf strukturelle bzw. qualitative Defizite des Wohnungsbestandes getan. Also, ich glaube nicht, dass das Leerstandsproblem schon überall ange kommen ist" (L17/03/V).
Konsensbildung zwischen den Beteiligten: „Wer zwischen den Zeilen liest, stellt fest, dass alles noch schlimmer werden kann" Ob und wie gelang es den Akteuren der Verwaltung, die unterschiedlichen Posi tionen der politischen Parteien „unter einen Hut" zu bringen? Um die notwendi ge politische Unterstützung der Parteien im Leipziger Stadtrat zu bekommen, 185
stilisierten die lokalen Verwaltungsakteure gerade zu Beginn des politischen Diskussionsprozesses den Bevölkerungsverlust und den Wohnungsleerstand als ein besonders schwerwiegendes Problem, wenn nicht sogar als Krise in der Leipziger Stadtentwicklung. Insbesondere den Fraktionsvorsitzenden der CDU und der PDS brachten die Verwaltungsakteure nahe, dass man angesichts der hohen Wohnungsleerstandszahlen weder im Altbau, noch in den Großsiedlun gen an Abrissen vorbeikommen würde. Wie die ideologischen Konflikte zwi schen den beiden politischen Parteien, was die Abrisspriorität der Stadt betraf, handhabbar gemacht wurden, verdeutlicht ein Akteur aus der Verwaltung: „Hier hat es geholfen, die Fraktionsvorsitzenden am Abend vor der Beschlussfassung [des Stadtentwicklungsplans Wohnungsbau und Stadterneuerung; BG] noch einmal an einen Tisch zu setzen und mit ihnen Klartext zu reden" (Ll4/03/V). Beide Segmente würden ihren Teil zur Reduzierung des Wohnungsleerstandes beitragen müssen. In der Ratssitzung zum Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadter neuerung führt der Beigeordnete für Planung und Bau dementsprechend aus: „Angesichts des strukturellen Wohnungsüberhangs von 60.000 Wohnungen und des nicht auszuschließenden weiteren Bevölkerungsverlustes wird sich die Schere zwischen Angebot und Nachfrage ohne Gegenmaßnahmen nicht schlie ßen. Deshalb ist es unumgänglich, dauerhaft nicht mehr vermietbare Wohnun gen aus dem Markt zu nehmen. Nur mit einem Pakt der Vernunft, zu dem alle Vermieter in Leipzig beitragen müssen, wird es möglich sein, einen drohenden Zusammenbruch des Wohnungsmarktes zu verhindern" (Beigeordneter, öffent liche Sitzung des Rates am 18.10. 2000). Darüber hinaus, auch das wurde aus den Interviews und den Stadtratsdo kumenten deutlich, spielte es offensichtlich für die Zustimmung der Parteien zu dem Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung eine große Rolle, dass es bei den Diskussions- und Entscheidungsprozessen „keine von vornherein festgezurrte Zeitschiene gab, zu der entschieden werden musste, sondern, dass es [gab] durchaus die Möglichkeit gab, Anträge zu stellen und die Sachen zu diskutieren" (L17/03/P). Auch wenn der Beigeordnete für Planung und Bau zwischenzeitlich zur Eile mahnte, um den „Wettbewerbsvorsprung" Leipzigs für die Beantragung von Fördermitteln aus den Stadtumbaumitteln beizubehalten, ließ man sich mit den Entscheidungsprozessen durchaus Zeit: „Es hat mit Sicherheit einen Prozess von zwei Jahren, von 1998 bis 2000, mit dem Stadtrat gegeben, wo wir das [den Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung; BG] sehr ausführlich diskutiert haben. [...] Also, das übers Knie zu brechen, geht nicht, sie müssen die nötige Diskussionszeit einplanen, weil sie ansonsten die Leute nicht auf die Reise mit nehmen können" (LI 5/03/V). 186
Wenngleich es zwei Parteien sind, deren Zustimmung zu den Stadtentwick lungsplänen gewonnen werden musste - namentlich die SPD, später aufgrund wechselnder Stimmenverhältnisse, die CDU - so versuchen die Verwaltungsak teure, alle Parteien im Leipziger Stadtrat mit einzubeziehen. Insgesamt, so die Akteure aus der Verwaltung, suchte man für die Verabschiedung des Stadtent wicklungsplans Wohnungsbau und Stadterneuerung einen breiten, parteiüber greifenden Konsens, weil es ,Ja auch um die Grundfesten des Stadtverständnis ses [geht], und das können sie nicht gegen 25% der Ratsmitglieder durchsetzen" (LI 5/03/V). Um diesen parteiübergreifenden Konsens herzustellen, nahm die Verwaltung auch (kleinere) Belange der politischen Parteien mit in die Stadt entwicklungspläne auf. Der CDU- und der PDS Forderung nach wirtschaftsfördernden Elementen wurde beispielsweise auf der Ratssitzung am 21.03.2001 entsprochen, indem „günstige Gewerberäume für die Umnutzung von Wohnge bäuden" sowie „lokale Beschäftigungsprojekte für die Förderung einer stabilen Quartiersentwicklung" mit in den Beschlusstext aufgenommen werden (Beschluss der Ratsversammlung am 21.03.2001; Nr. RB III - 633/01). Auch die Akteure der politischen Parteien dringen auf eine breiten Kon sens: „In bestimmten Bereichen [wie der Stadtentwicklungspolitik; BG] sind sich hier eigentlich alle [politische Parteien; BG] einig, dass man, um etwas zu erreichen, an einem Strang ziehen muss". Obwohl sich die politischen Parteien zunächst sehr unterschiedlich positionieren, wird sowohl der Stadtentwicklungs plan Wohnungsbau und Stadterneuerung, als auch der Stadtentwicklungsplan Großsiedlungen mit einem einstimmigen, positiven Votum im Stadtrat verab schiedet: Den grundsätzlichen Handlungsbedarf stellte keine politische Partei im Leipziger Stadtrat in Frage. Zwar handelt es sich, insbesondere aus Sicht der CDU, bei der mit dem Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneue rung vorgenommenen Marktregulierung durch den Staat oder die Kommune um „ein zweischneidiges Schwert", trotzdem erkennt auch sie die grundsätzliche und dringende Notwendigkeit des Stadtentwicklungsplans an: „Alles dem Selbstlauf zu überlassen, ist hier und heute unverantwortlich" (Stadtrat CDU, öffentliche Sitzung der Ratsversammlung am 18.10.2000). Auch ein Akteur der PDS-Ratsfraktion merkt in einer Sitzung des Rates an, dass es kein „Weiter-So" geben kann, weil die Probleme des Wohnungsleerstandes und des Bevölke rungsverlustes angegangen werden müssen. Eine generelle Zustimmung, dass etwas getan werden muss, die auch ein Akteur der SPD-Ratsfraktion in einer entsprechenden Sitzung verdeutlicht, indem er ausführt: „wer zwischen den Zeilen liest, stellt fest, dass es alles noch viel schlimmer werden kann" (Stadtrat SPD, öffentliche Sitzung des Rates am 18.10. 2000). Alle weiteren neuen Programme oder Stadtentwicklungspläne, wie bei spielsweise das novellierte „Wohnungspolitische Konzept", der „Stadtentwick187
lungsplan Großsiedlvrngen" oder die „Konzeptionellen Stadtteilpläne", werden in den Fachausschüssen und im Stadtrat - sieht man von den Konflikten um die wirtschaftsfördernden Elemente und die Abrissprioritäten einmal ab - relativ schnell und weitgehend unkontrovers verabschiedet. Die Strategie der Verwal tungsakteure, „alle Akteure mit auf die Reise zu nehmen" (LI 5/03/V) war dem nach erfolgreich. Nach den ersten, kontrovers geführten Debatten im Leipziger Stadtrat um den Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung, waren die Parteien für die Akteure aus der Verwaltung eine wichtige Ressource, was sich auch in einem Interviewzitat widerspiegelt: „Wir sind da eigentlich sehr dankbar, ... dass es auch ein hundertprozentiges Votum für das Konzept von der Politik gab, das [der Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung; BG] ist einstimmig beschlossen worden und damit ganz klar gemacht wurde, dass alle dahinter stehen" (L14/03/V). Insbesondere die Unterstützung der PDS erwies sich als entscheidend, um den „Stadtentwicklungsplan Großsiedlungen", in dem auch weitreichende Ab rissvorhaben in Grünau formuliert wurden, relativ reibungslos (nicht nur) im Stadtrat durchzubringen. Dass die PDS eine wichtige (Legitirnations-) Ressour ce für die Stadtverwaltung darstellte, macht auch ein Politiker der PDS in einem Interview deutlich: „Wo ich dann als wohnungspolitischer Sprecher gesagt hat te, man muss auch darüber reden können, sich einen Abriss selbst in Grünau vorstellen können. Die Stadt war hocherfreut. [...] Dadurch akzeptieren die Leute das und sagen: ,Wenn der S. das sagt, dann wird das auch so sein und dann kommt man da nicht umhin'" (L10/03/P).
Wohnungswirtschaft und Landesakteure Gleichwohl, auch das wird aus den Interviews und den Stadtratsdokumenten deutlich, gelingt die Einbindung anderer zentraler Akteure, nämlich die der privaten Eigentümer und der Wohnungswirtschaft, weniger: Sie werden in Leipzig durchweg als ein schwieriger Partner wahrgenommen, da es bisher noch nicht gelungen ist, auch sie „nachzuholen": „Das [Nachziehen; BG] hat aber mit den Hauptakteuren, den Wohnungsbaugesellschaften und anderen Eigentümern, bisher noch nicht so gut geklappt, denn noch machen sie sich alle eher Konkur renz als an einem Strang zu ziehen" (L014/03/V). Sie sind jedoch die Schlüssel akteure für die Umsetzung der neuen Strategien, denn der Abriss oder Rückbau bestehender Wohnungen hängt natürlich in hohem Maße von der Kooperations bereitschaft der lokalen Eigentümer ab, weil „sie können als Kommune ja nicht die Häuser für die privaten Eigentümer abreißen" (L02/01/V).
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Die neuen Strategien in der Stadtentwicklungspolitik, so ein anderer Ak teur, „können sie natürlich nicht gegen die gesamte Wohnungswirtschaft durch ziehen" (LI 5/03/V). Insbesondere die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und Wohnungsbaugenossenschaften verfügen über eine hohe Blockademacht in der Leipziger Stadtentwicklungspolitik. Gerade auch, weil den Akteuren aus der Verwaltung sehr früh bewusst wurde, dass der Abriss von Gebäuden und Woh nungen in den gründerzeitlichen Altbauquartieren aufgrund der heterogenen Eigentümerstruktur ein Problem sein würde. Während es den Alteigentümern an Professionalität mangele, interessieren sich die Kapitalabschreiber für das Prob lem eigentlich überhaupt nicht (L02/1/V). Zwar bemüht man sich in der Verwal tung, die privaten Eigentümer über den Verband „Haus und Grund" einzubin den. Ein Unterfangen, was aber aus Sicht der Verwaltungsakteure nur begrenz ten Erfolg hatte. Dass insbesondere die kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und die Wohnungsbaugenossenschaften in der Stadt als schwierige Partner wahrge nommen werden, wird auch daran deutlich, - obwohl man sich in der Verwal tung Ende der 1990er Jahre bemühte, eine gesamtstädtische Strategie im Um gang mit Wohnungsleerstand und Bevölkerungsverlust zu entwerfen - dass die Großsiedlungen zunächst nicht in den Stadtentwicklungsplänen auftauchen: „Das ist dann auch intern eine sehr lange Diskussion gewesen, mit welchen Aussagen kann man überhaupt raus aus der Verwaltung gehen [...] die Ent scheidung ist dann relativ schnell gefallen, die Großsiedlungen hinten an zu stellen" (L02/01/V). Während einige Akteure aus der Verwaltung anmerken, dass man die Großsiedlungen aufgrund eines „deutlich geringeren Problem drucks" außen vor gelassen hat, machen andere darauf aufmerksam, dass „die Platte zunächst ein Tabu war". Gerade die lokale Wohnungswirtschaft „verschluss die Augen vor dem Problem" - und „sanierte bis 2000 munter weiter" (L02/01/V). Der letztendlich verabschiedete „Pakt der Vernunft" (2001), indem sich die großen kommunalen Wohnungsbaugesellschaften und Wohnungsbaugenossen schaften auf ein koordiniertes Abrissvorgehen in den Leipziger Großsiedlungen einigten, kam auch „nur durch den massiven Druck der Sächsischen Aufbau¬ bank zustande" (L14/03/V). Dass die Einbindung, gerade die der großen kom munalen Wohnungsbaugesellschaft und der Genossenschaften, ein Problem war, wird auch daran deutlich, dass der Teilplan für die Großsiedlungen erst mit einer Verzögerung von fast drei Jahren nach dem Abschluss des „Pakts der Vernunft" verabschiedet werden konnte. Ähnliches gilt im Prinzip auch für die Akteure des Landes, insbesondere für das Regierungspräsidium. Mit diesem waren, so ein Akteur aus der Leipzi ger Verwaltung, Ende der 1990er Jahre „harte Konflikte" an der Tagesordnung: „Wir haben [...] einen ständigen Konflikt mit dem Regierungspräsidium gehabt, 189
die immer noch munter Neubauflächen ausgewiesen haben, und den Gemeinden fast jeden B-Plan genehmigt haben, und das mit Argumenten getan haben, wie ,Guckt Euch den Stuttgarter Raum an, da wächst es ja auch weiter'. Und da war überhaupt kein Problembewusstsein da. Wir haben von 1998 bis 2000 sehr viel Zeit damit verbracht, den Leuten das Problem klar zu machen" (LI5/03/V). Gleichzeitig ist die Leipziger „Gleichgewichtsstrategie" zwischen Wohnungs neubau, Altbau und Plattenbau, bei der in allen Segmenten Qualitäten entwi ckelt werden sollen, aber auch alle Segmente zum Stadtumbau beitragen sollen im Land Sachsen umstritten. Umstritten deshalb, weil gerade das Land Sachsen seine Abrisspriorität in den Großsiedlungen hat - was aber aus Sicht der Ver waltungsakteure - dem Problem in Leipzig nicht gerecht wird: „In Dresden, ich sage das jetzt mal so scharf, ist man nicht bereit, zwischen Chemnitz und Leip zig zu differenzieren" (L14/03/V). Auch ein anderer Akteur aus der Verwaltung bemerkt, „diese Haltung [Abriss in der Gründerzeit und im Plattenbau; BG] [ist] aber politisch schwer verkaufbar, gerade auch, weil es in der Debatte Mode ist zu sagen, lieber weg mit den Plattenbauten und die Altbauten erhalten. Denn hier handelt es sich um einen Wohnungstyp, der weder bei der Landespolitik, noch von der Finanzierung besonders geliebt wird" (L12/03/V).
Zusammenfassung: Ein offeneres Beziehungsgeflecht? In der Stadt Leipzig dominiert eine offene Koalition aus Verwaltung und Partei en, wobei kein eindeutiges Zentrum auszumachen war. Auch in Leipzig brach ten die Akteure der Verwaltung die relevanten Initiativen in den politischen Prozess ein. Sämtliche im Rat verabschiedeten neuen Maßnahmen und Instru mente - wie beispielsweise das Programm „Neue Gründerzeit", der „Stadtent wicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung" - wurden in der Verwal tung entwickelt. Die Akteure der Verwaltung schlugen die neuen Programme und Maßnahmen vor, weil sie realisieren mussten, dass der abschreibungsbe¬ dingte Sanierungsboom in den gründerzeitlichen Altbauquartieren nach dem Wegfall der steuerlichen Begünstigungen für westdeutsche Investoren nicht weitergehen würde, zumal sinkende Bevölkerungszahlen bei steigender Neu bautätigkeit bereits zu einem drastischen Rückgang der Nachfrage, gerade in den gründerzeitlichen Quartieren der Stadt geführt hatten. Die Erkenntnis, dass ein „weiter-so" in der Stadtemeuerungspolitik die bestehenden Probleme in den Leipziger Altbaugebieten nur verschieben, nicht aber lösen würde, stellte aus Sicht der Verwaltungsakteure den entscheidenden Punkt dar, an dem die Dis kussion über Abwanderung, Bevölkerungsverlust und Wohnungsleerstand -
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kurz: das Thema der schrumpfenden Stadt - in Gang kam und neue Strategien entwickelt wurden. Die Partei(en), die von den lokalen Verwaltungsakteuren gewonnen wer den mussten, um ihre Initiativen im politischen Prozess durchsetzen zu können, war zunächst die SPD, später aufgrund wechselnder Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat die CDU. Gleichwohl versuchten die Akteure der Verwaltung auch alle anderen politischen Parteien des Leipziger Stadtrates - namentlich die PDS und Bündnis90/Die Grünen - mit einzubeziehen. Ein breiter Konsens wurde ge sucht, wobei auch die Politiker auf einen breiten, parteiübergreifenden Konsens drangen. Neben den politischen Parteien musste die Wohnungswirtschaft von den Verwaltungsakteuren gewonnen werden, da die neuen Strategien - wie der Abriss und Rückbau bestehender Wohnungen - von der Kooperation der Eigen tümer abhängt. Die Wohnungswirtschaft verfügte über eine hohe Blockademacht und wurde von den Akteuren in Leipzig durchweg als ein schwieriger Partner' wahrgenommen. Das wird auch daran deutlich, dass der Stadtentwicklungsplan Großsiedlungen erst mit einer Verspätung von fast zwei Jahren im Stadtrat ver abschiedet werden konnte. Während die Vertretung der lokalen Wirtschaft, die Industrie- und Handelskammer, in Leipzig keine Rolle spielte, verfügten die Akteure der Wohnungswirtschaft über eine hohe potentielle Veto-Macht. Gra phisch lässt sich die lokale Akteurskonstellation folgendermaßen darstellen: Abbildung 14: Lokale Akteurskonstellationen in Leipzig SPD
>
PDS
Verwaltung
I
Quelle: Eigene Darstellung 191
Auch wenn in Leipzig alle Akteure retrospektiv argumentieren, dass man „als es um das Problem Wohnungsleerstand und Abwanderung ging, das eigentlich eine Sache war, die von Politik und Verwaltung gemeinsam vorangetrieben wurde", so wird aus den Interviews und den Stadtratsdokumenten deutlich, dass es gerade zu Beginn galt, massive Widerstände derer, die das Thema des Bevöl kerungsverlustes und des Wohnungsleerstandes nicht thematisieren wollten, zu überwinden. Wie in Teilen der Verwaltung, spielten auch insbesondere bei der CDU und der PDS die Befürchtungen eine große Rolle, dass Leipzig als Standort diskredi tiert werde. Darüber hinaus bemängelten die Vertreter der PDS und der CDU Ratsfraktion, dass sich die neuen Strategien der Verwaltung auf eine Reduzie rung des Angebots und nicht auf eine Steigerung der Nachfrage richteten, dass es also ein „Herumdoktern" an den Symptomen sei. Eine weitere Konfliktlinie war die ideologisch aufgeladene Auseinandersetzung zwischen den politischen Parteien um die Frage, ob die Abrisse zur Reduzierung des Wohnungsüberhangs im Altbau oder im Neubau stattfinden sollten. Obgleich sich die PDS eindeutig zugunsten des industriell gefertigten Wohnungsbaus in der Stadt Leipzig be kannte, lehnte sie Abrisse in diesem Bereich nicht grundsätzlich ab. Um die von Leerstand und Abwanderung betroffenen Großsiedlungen zu erhalten und zu stabilisieren, war die PDS im Laufe der Entscheidungsfindung bereit, auch über Abbruche sanierungsfähiger Gebäude in Grünau zu diskutieren. Die Zustim mung der PDS zum geplanten Rückbau in der Großsiedlung erwies sich als eine wichtige Ressource, um den Stadtentwicklungsplan Großsiedlungen relativ rei bungslos im Stadtrat durchsetzen zu können.
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7
Umgang mit Schrumpfung: Ergebnisse und Implikationen
Auf der Basis einer empirischen (Fallstudien-) Analyse der Stadtentwicklungs politik in Duisburg und Leipzig wurde in den vorangegangenen Kapiteln dem zentralen Gegenstand der Studie nachgegangen, nämlich der Frage, wie Städte auf den fundamentalen Wandel von Wachstum auf Schrumpfung stadtentwicklungspolitisch reagieren. Schlägt sich dieser Wandel in einer Neuorientierung städtischer Politiken nieder? Unter welchen Bedingungen negieren betroffene Städte die Entwicklungen und hoffen darauf, dass Schrumpfen wieder in Wach sen umschlägt? Wann und unter welchen Voraussetzungen erkennen sie die gewandelten strukturellen Bedingungen des Schrumpfens an und beginnen, neue Strategien, politische Programme oder Maßnahmen zu institutionalisieren, die nicht allein einer dramatischen Finanznot geschuldet sind? Der theoretische Beitrag der vorliegenden Studie besteht in der Integration neuerer ideenzentrierter Ansätze der Institutionentheorie und lerntheoretischer Modelle der Politikfeldanalyse in das Repertoire der lokalen Politikforschung. Die praktisch-politische Relevanz der vorliegenden Untersuchung liegt darüber hinaus insbesondere darin, dass derzeit für den zukunftsorientierten, die verän derten Bedingungen der Stadtentwicklung anerkennenden Umgang mit Schrumpfungsprozessen keine Strategien, Maßnahmen oder Instrumente in Städten existieren. Die Studie lenkt den Blick auf innovationsfördernde bzw. hemmende Faktoren in der Stadtpolitik. Aufgabe der Stadtentwicklungspolitik war es bislang, die organisatorischen, räumlichen und politischen Vorausset zungen für städtisches Wachstum zu schaffen und Wachstumsprozesse funktio nal, sozialverträglich, architektonisch ästhetisch und später zunehmend auch umweltverträglich zu gestalten. Die Problemlagen in Ost und West werden sich alleine aufgrund der gesamtgesellschaftlichen demographischen Entwicklung in den nächsten Jahren zuspitzen: Innovative Problemlösungsstrategien sind ge fragt, die den Sclrrumpfungsprozess als ein langfristiges und politisch zu steu erndes Problem begreifen, so dass die Fragen nach den Voraussetzungen und Möglichkeiten neuer Strategien in der Stadtentwicklungspolitik umso dringli cher werden.
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In der vorliegenden Untersuchung wurde von der theoretisch-konzeptionell begründeten Hypothese ausgegangen, dass „politics matter". Es sind nicht nur die problematischen Ereignisse für sich oder die staatlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen per se, welche die stadtentwicklungspolitischen Strategien detenmnieren. Es kommt vielmehr auf die Entscheidungen der maßgeblichen Akteure in der Stadtentwicklungspolitik an. Für die Studie war also eine ak teurszentrierte Perspektive forschungsleitend, weshalb die an der Politikformu lierung und -Implementierung beteiligten städtischen Akteure und Akteurskons tellationen, ihre Problemwahrnehmung und Kooperationsformen im Zentrum der empirischen Analyse standen. Durch die Analyse der Stadtentwicklungspolitik(en) in Duisburg und Leipzig konnte in den vorangegangenen Kapiteln ge zeigt werden: •
" •
dass aus gemeinsamen Problemlagen und ähnlichen Rahmenbedingungen nicht zwangsläufig identische stadtentwicklungspolitische Reaktionen fol gen. dass für den Umgang mit Schrumpfung insbesondere die Handlungsorien tierungen der Akteure ausschlaggebend sind. dass die vorgefundenen spezifischen lokalen Akteurskonstellationen und Kooperationsformen den notwendigen kognitiven Wandel entweder eher behindern oder aber befördern.
Nachfolgend sollen zunächst die wichtigsten Ergebnisse der beiden Fallstudien expliziert und theoretisch diskutiert werden (siehe Abschnitt 7.1). Dabei soll insbesondere geklärt werden, unter welchen Bedingungen es in Leipzig gelang, die neuen städtischen Politiken zu institutionalisieren. Abschließend werden die aus der Untersuchung folgenden Implikationen für Politik erörtert (siehe Ab schnitt 7.2).
7.1 Ergebnisse der Fallstudien Die Studie belegt in Kapitel 4, dass Duisburg und Leipzig schrumpfen: Beide Städte verloren, wenn auch in unterschiedlichen zeitlichen Sequenzen, jeweils mehr als 100.000 Einwohner durch Abwanderung und Sterbefallüberschüsse. Gleichzeitig erodierte die industrielle Basis, was in beiden Städten nicht durch den Dienstleistungssektor ausgeglichen werden konnte. Sie stehen heute vor gleichermaßen dramatischen Problemen in der Stadtentwicklung, für die folgen de Symptome kennzeichnend sind: Arbeitslosenquoten, die sich auf hohem Niveau verfestigt haben, sozial selektive Migrationsprozesse, eine Unterauslas194
tung der sozialen und technischen Infrastruktur, Verödungstendenzen und Funk tionsverluste von großen innerstädtischen Flächen sowie ein struktureller, nicht temporärer Wohnungsleerstand in Leipzig. Dies sind gemeinsame Problemla gen, die besondere Aspekte in beiden Städten, die aus ihrer spezifischen regio nalen Einbettung und historischen Entwicklung herrühren, überwiegen. Die zur Verfügung stehenden Fördermittel und Subventionsprogramme in Duisburg und Leipzig wurden in der Untersuchung als Ermöglichung und Be grenzung lokalen Handelns miteinbezogen, weil nicht nur die aus der neomar xistischen und neoklassischen Politökonomie stammenden strukturellen Ansätze auf die Bedeutung überlokaler Faktoren für den städtischen Politikprozess und Politikenwandel aufmerksam gemacht hatten (vgl. u.a. DiGaetano/Strom 2003; Häußermann 1991a; vgl. u.a. Peterson 1981). Gerade in Zeiten der ökonomi schen und demographischen Schrumpfung, die mit leeren Stadtkassen einher geht, ist die Abhängigkeit von überlokalen Förderprogrammen und Finanzzu weisungen besonders groß. Beide Städte sind, um ihre Steuerungs- und Gestal tungsaufgaben in der Stadtentwicklungspolitik wahrnehmen zu können, in zu nehmendem Maß auf Gelder übergeordneter Ebenen angewiesen: Aufgrund fehlender kommunaler Eigenmittel konnten beide Städte die zur Verfügung stehenden Fördermittel des Landes Sachsen bzw. Nordrhein-Westfalens in den letzten Jahren nicht in voller Höhe in Anspruch nehmen (Stadt Duisburg 2004: 53; Stadt Leipzig 2003a: 12). Die Analyse zeigt, dass es zwischen Leipzig und Duisburg zwar nach wie vor Unterschiede in den Zuweisungen des Landes, des Bundes - im Rahmen der Gemeinschaftsaufgaben - und der Europäischen Union gibt: Besonderheiten, die jedoch nicht darüber hinweg täuschen können, dass die meisten Förderpro gramme nach wie vor auf Wachstum ausgerichtet sind. Sie sehen in aller Regel Investitionen in den baulichen und räumlichen Bestand oder den Ausbau der technischen Infrastruktur einer Stadt vor. Weder in Duisburg, noch in Leipzig werden politische Strategien, die den Schrumpfungsprozess als ein langfristiges und zu steuerndes Problem der Stadtentwicklung anerkennen, durch die überlo kale Angebotsstruktur begünstigt. Eine Ausnahme stellt hier nur das neue BundLänder Programm Stadtumbau Ost und Stadtumbau West dar, das den Städten Fördermittel für den Rückbau und die Anpassung zur Verfügung stellt.
Instrumenten- versus Strategiewandel Die vergleichende Analyse des Politikfeldes Stadtentwicklung im fünften Kapi tel, die auf der Grandlage städtischer Publikationen, offizieller politischer Do kumente und Experteninterviews durchgeführt wurde, legt offen, dass beide 195
Städte mit einer Strategie der Standortprofilierung auf die anhaltenden Arbeits platz- und Einwohnerverluste reagierten. Beide Städte setzten ihre Hoffnungen auf prestigeversprechende große Projekte. In Duisburg erwartete man sich von der Initiierung spektakulärer städte baulicher Großvorhaben und Festivals wichtige Impulse für die Entwicklung der Stadt zu einem modernen Dienstleistungsstandort (Stadt Duisburg 1999b: 43ff). Um die Innenstadt aufzuwerten, projektierte man Ende der 1990er Jahre zwei große städtebauliche Projekte: Ein Urban Entertainment Center sowie ein Spiel casino- und Kongresszentrum (Stadt Duisburg 1999a: 46). Gleichzeitig verfolg te man unter dem Motto „Duisburg an den Rhein" auch eine Erweiterung und Öffnung der Innenstadt durch die Aufwertung vormals industriell genutzter Flächen am Rheinufer (Stadt Duisburg 2000: 42). Zusammen mit der Konzepti on einer Bundesgartenschau, die allerdings wieder abgesagt werden musste, sollten auf diese Weise innerstädtische Brachflächen neu genutzt und in Wert gesetzt werden. Auch in Leipzig reagierte man auf die anhaltenden Arbeitsplatz- und Ein¬ wohnerverluste mit politischen Maßnahmen, Programmen und Instrumenten zur Verbesserung wichtiger Standortfaktoren, um die Stadt so zu einer europäischen Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturmetropole zu entwickeln (Initiative Leipzig e.V. 1998: o.S.). Insbesondere in den ersten Jahren nach der Vereini gung stilisierte man Leipzig als „Boomtown des Ostens" und erwartete sich vom Neubau der Leipziger Messe, dem Ausbau des Leipziger Hauptbahnhofs zu einem Einkaufszentrum sowie zahlreicher anderer Projekte wichtige Impulse. Neben dem Umbau des Zentralstadions, der Errichtung der „Bio"- und MediaCity" versprach sich die Stadt insbesondere von ihrer Bewerbung für die Aus richtung der olympischen Spiele 2012 Impulse für die wirtschaftliche Entwick lung (Leipziger Volkszeitung (LVZ) 2004: 17). Beide Städte reagierten also auf die Symptome der Schrumpfung mit einer herkömmlichen Therapie: der Standortprofilierung, mit der ökonomische Investitions- und Wachstumspotenziale politisch generiert werden sollten. Ein Befund, der nicht weiter überrascht: Schließlich wurde im zweiten Kapitel an hand verschiedener sozialwissenschaftlicher Einzeluntersuchungen gezeigt, dass die meisten Städte auf ihren ,Schwund' mit genau solchen politischen Instru menten, Maßnahmen und Strategien reagieren. Gerade die in Duisburg und Lei pzig verfolgten Großprojekte oder Großereignisse, auch das wurde im zweiten Kapitel demonstriert, erscheinen vor dem Hintergrund schrumpfender Einwoh nerzahlen, rückläufiger Arbeitsplatzzahlen sowie sinkender Finanzmittel für gewöhnlich als geeignete Möglichkeit, um der gesamten Stadt ökonomische Impulse zu geben, kommunale Entwicklungsvorstellungen umzusetzen und städtische Handlungsfähigkeit zu demonstrieren (vgl. u.a. Basten 1998; Häu196
ßermarrn/Siebel 1993a; Simons 2003). In beiden Städten ist also ein herkömmli cher - und damit wenig innovativer - Umgang mit Sclirumpfungsprozessen zu be obachten: Man orientiert sich an gewohnten Mustern, auch wenn sich die Be dingungen der Stadtentwicklung dramatisch gewandelt haben. Der Vergleich macht jedoch einen wesentlichen und für die Fragestellung zentralen Unterschied in den stadtentwicklungspolitischen Reaktionen auf die Schrumpfungsprozesse deutlich. Obwohl sich auch Leipzig als Standort profilie ren wollte und will, entwickelte man in bestimmten Teilbereichen der Stadtent wicklungspolitik neue Konzepte, Programme und Maßnahmen, die den Bevöl kerungsverlust und dessen Folgen insbesondere für den Wohnungsbau als ein zu steuerndes Problem der Stadtentwicklung adressierten. Unter dem Motto „We niger Dichte, mehr Grün" entwickelte Leipzig die Strategie „Neue Gründerzeit". Durch Abrisse, Umnutzung und Zwischennutzung sollte der Wohnungsmarkt in den gründerzeitlichen Quartieren stabilisiert und gleichzeitig die Wohn- und Lebensqualität erhöht werden (Stadt Leipzig 2000b: 9). Der mit der neuen Grün derzeit eingeleitete Strategiewechsel in der Stadterneuerung wurde mit dem Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung im Jahr 2000 fortge führt und erweitert (Stadt Leipzig 2000b: 10). Insbesondere für die Erneuerung der Altbauquartiere, die Weiterentwicklung der Großsiedlungen und die Steue rung des Wohnungsneubaus wurden einzelne Entwicklungsstrategien erarbeitet, die in den einzelnen Teilplänen zusammengefasst wurden. Fördermittel des Bundes und des Landes für den Stadtumbau Ost standen für Leipzig zwar erheb lich früher zur Verfügung als für Duisburg. Gleichwohl entwickelte die Stadt Leipzig ihre ersten Strategien - wie das Programm „Neue Gründerzeit", aber auch den „Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung" - bereits vor der Etablierung des Programms auf Bundesebene. Anders in Duisburg. Wenngleich es auch hier seit Ende der 1980er Jahre aufgrund der steigenden Abwanderungszahlen punktuelle Ansätze gibt, an bau willige Duisburger städtische Grundstücke in den attraktiven Wohnlagen des Südens zu vergeben, existieren jedoch keine politischen Strategien, die sich mit den langfristigen Folgen des Bevölkerungsverlustes für die Stadtentwicklung oder den Wohnungsbau beschäftigen. Auch wenn sich die konkreten Instrumente der Standortprofilierung durchaus veränderten, adressierte man hier bislang nahezu ausschließlich die eine, ökonomische Seite der (Schrumpfungs-) Medaille. In Anlehnung an die lerntheoretischen Ansätze in der Politikfeldanalyse, die im dritten Kapitel präsentiert wurden, kann das Ausmaß und die Reichweite des Politikenwandels in Duisburg und Leipzig differenziert werden (vgl. Bande low 2003; Hall 1993; Jachtenfuchs 1996). Die Analyse zeigt, dass sich in beiden Städten die Politiken wandelten. In Duisburg verbleibt der stattgefundene Poli tikenwandel jedoch auf der Ebene des „Ein-Kreis-Lernens" oder eines „inkre197
mentalen Lernens", wobei Instrumente innerhalb bestehender Strategien verbes sert werden (siehe Abbildung 15). Abbildung 15: Ein-Kreis-Lernen in Duisburg
Strategie
—•
Instrumente
—•
Ergebnis
—•
PolicyEvaluation
i
Quelle: Eigene Darstellung Das Problemverarbeitungsmuster Duisburgs, nämlich in Reaktion auf Probleme und Widersprüche Kleinigkeiten - also nur die Instrumente - zu verändern und an der übergeordneten Strategie festzuhalten, kann als die naheliegendste Ant wort eines politischen Systems auf veränderte Politikumwelten angesehen wer den. Der Nachteil eines solchen „Ein-Kreis-Lernens" liegt klar darin, dass inno vative Problemlösungsstrategien verhindert werden. Auch wenn, wie belegt, in Leipzig durchaus Prozesse des „Ein-Kreis-Ler nens" zu beobachten sind, lässt sich der stattgefundene Politikenwandel in den Bereichen Stadterneuerung und Wohnungsbau in Leipzig am ehesten als „ZweiKreis-Lernen" oder „strategisches Lernen" verstehen: Verändert wurden auf grund von Problemen und Widersprüchen, zumindest in diesen Teilbereichen der Stadtentwicklungspolitik, nicht nur die Instrumente und Maßnahmen, son dern ebenso die übergeordneten Strategien (siehe Abbildung 16).
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Abbildung 16: Zwei-Kreis-Lernen in Leipzig
Strategie 1
Instrumente 1
Ergebnis
Instrumente 2
Ergebnis
PolicyEvaluation
Strategie 2 PolicyEvaluation
Quelle: Eigene Darstellung Auch wenn sich in Leipzig eine gewisse Verengung der Schrumpfungsproble matik auf den Wohnungsleerstand abzeichnet, stellt sich Leipzig, zumindest partiell, auf die neuen (Schrampfungs-) Bedingungen in der Stadtentwicklung ein. Alleine in Leipzig gelang es, neue städtische Politiken zu formulieren und zu institutionalisieren, die insbesondere den anhaltenden Bevölkerungsverlust als ein politisch zu steuerndes Problem der Stadtentwicklung begriffen. Unter welchen Bedingungen gelang dies in Leipzig - und aufgrund welcher Hindernis se war es in Duisburg bislang nicht möglich?
Bedingungen von Persistenz und Innovation Die vorliegende Studie identifiziert Faktoren, die Innovationen in schrumpfen den Städten begünstigen oder aber behindern können. Sie zeigt, dass in Duis burg der Schrampfungsprozess in erster Linie als ökonomischer Stnikturwandel, als ökonomisch induzierter Übergang von industriellen zu postindustriellen Strukturen, wahrgenommen wird. Die lokalen Akteure sehen in den wirtschaftsstrakturellen Aspekten der Stadtentwicklung die größten Probleme (wie in der geringen Zahl an Arbeitsplätzen, dem schlechten Image und der fehlenden Att raktivität der Stadt sowie in den Kaufkraftverlusten). In dieser dominanten Problemperzeption spielen Bevölkerungsverluste nur eine untergeordnete Rolle. Die Einwohnerverluste sind allenfalls latent in der Wahrnehmung der lokalen Akteure als Problem verankert - und wenn diese als Problem interpretiert wer den, dann fast ausschließlich in Bezug auf die Stadt-Umland Wanderung, die Suburbanisierung. Insbesondere die Politiker betrachten den städtischen Schrump199
fungsprozess als eine „Talsohle". Man nimmt an, dass es sich bei den zu beo bachtenden Arbeitsplatz- und Einwohnerverlusten in Duisburg um eine Phase des Abschwungs handelt, der aber auch wieder eine Phase des Aufschwungs fol gen wird. Eng verknüpft mit dieser Deutung ist die Hoffnung lokaler Akteure, dass das „Tal der Tränen" mit geeigneten politischen Maßnahmen schneller durchschritten werden kann. Wenngleich in Leipzig ebenfalls die Arbeitsplatzverluste, also die wirt schaftsstrukturellen Aspekte, eine wichtige Rolle in der Problemwahrnehmung spielen, nehmen die lokalen Akteure den Schrumpfungsprozess insbesondere im Hinblick auf den Einwohnerverlust und den Wohnungsleerstand wahr. Gerade der Bevölkerungsverlust wird von den lokalen Akteuren in erster Linie in Bezug auf den Leipziger Wohnungsmarkt problematisiert: Die Auswirkungen des Bevölkerungsverlustes auf andere Bereiche der Stadtentwicklung sind in der Problemperzeption der meisten Akteure allenfalls latent, jedoch keinesfalls manifest vorhanden. Insgesamt wird der Schrumpfungsprozess von den lokalen Akteuren jedoch als eine eher langfristige Entwicklung anerkannt. Die Aussa gen stadtpolitischer Akteure markieren einen erstaunlichen Umdenkprozess. Doch dies darf nicht darüber hinweg täuschen, dass eine solche, realistische Deutung des Schrumpfungsprozesses prekär und umstritten bleibt. Gerade ange sichts der gelungenen BMW-Ansiedlung und der Olympiabewerbung wurde der erreichte Stand der Problemdeutung wieder in Frage gestellt. Offenbar fallen auch in Leipzig die Akteure gerne in alte Denkmuster zurück, wenn externe Ereignisse alte Strategien zu begünstigen scheinen oder auf in Reichweite ge glaubte Geldtöpfe geschielt wird. Eine wesentliche Voraussetzung für die Formulierung und Implementie rung neuer Strategien in Leipzig stellen die flexibleren Problemwahrnehmungen und -deutungen dar, also die Handlungsorientierungen der Akteure. Überwiegt bei den handelnden Akteuren eine Wahrnehmung, die man als „Verdrängung" bezeichnen kann, wird die Schrumpfung auch nach Jahren noch tapfer als Tal sohle betrachtet, aus der man früher oder später wieder herausgelangt, werden traditionelle stadtentwicklungspohtische Handlungsorientierungen enttäuschungsresistent aufrechterhalten. Wird der Schrumpfungsprozess dagegen als langfris tige Entwicklung wahrgenommen - was nicht ausschließt, dass es auch Akteure mit einer „verdrängenden" Problemwahrnehmung gibt — erhöht sich offensicht lich die Bereitschaft, auch unkonventionelle Lösungen zu erwägen. Dieser Befund bestätigt wesentliche Annahmen der ideenzentrierten Ansätze in der Institutionentheorie (vgl. DiMaggio/Powell 1991; Fligstein 2001; Weir 1992). Sie argumentieren, dass bei dem Prozess des Politikenwandels kognitive und diskursive Faktoren eine wichtige Rolle spielen, weil der Wandel der Problem umwelt mitnichten eine selbsterklärende Bedeutung für die handelnden Akteure 200
hat (Stone Sweet/Fligstein/Sandholtz 2001: 10): Es ist entscheidend, dass ge wandelte Problemumwelten - hier: der Schrumpfungsprozess als solcher - von den lokalen Akteuren überhaupt erst einmal wahrgenommen werden. Kollektiv geteilte Deutungsmuster, die den handelnden Akteure helfen, ihre Politikumwelt zu interpretieren, können sich allerdings auch verfestigen - und ein ,Eigenleben' entwickeln, das die Veränderung von Politiken erschwert (Braun 1998: 802). Traditionelle Handlungsorientierungen werden von den handelnden Akteu ren nicht „einfach-so" aufgegeben. Hierfür spielen offenbar bestimmte Ereignis se, welche die bisherigen (Interpretations-) Routinen der Akteure in Frage stel len, eine wichtige Rolle. Auch das bestätigt grundlegende Einsichten der ideen zentrierten Ansätze (Stone Sweet/Fligstein/Sandholtz 2001: 10). In Leipzig ließen sich Hinweise dafür finden, dass Bevölkerungsverlust und Angebots überhang schon Mitte der 1990er Jahre in Politik und Verwaltung als Problem bemerkt wurden. Allerdings bedurfte es offenbar eines für alle sichtbaren Ereig nisses - nämlich das Auslaufen der Steuerabschreibung Ost 1998 - , um auch andere Akteure von der Notwendigkeit neuer Problemsichten und Strategien zu überzeugen. Gleichzeitig rührte dies zu einer gewissen Perspektivenverengung auf den Wohnungsbau. Einschneidende Ereignisse müssen zudem, um Zwei-Kreis-Lernen zu be günstigen, auch das zeigt die vorliegende Untersuchung, einen hohen Problem druck generieren. Es waren insbesondere die drohenden Verwerfungen auf dem Immobilienmarkt, die den anhaltenden Schrumpfungsprozess auf die politische Tagesordnung brachten. Der demographische Bevölkerungsverlust alleine hätte möglicherweise für die Institutionalisierung und Implementierung neuer stadtentwicklungspolitischer Strategien in Leipzig nicht ausgereicht. In Duisburg gab es bis auf die „Rheinhausenkrise" Ende der 1980er Jahre nur eine Fülle kleine rer Ereignisse Mitte der 1990er Jahre, deren ,Problemdrackpotentiar aber of fensichtlich deutlich geringer als in Leipzig war. Sie konnten von den wenigen Akteuren mit einer realistischen Problemwahrnehmung letztlich nicht zur Mobi lisierung signifikanter Unterstützung genutzt werden. Niemandem gelang es hier, das „Ereignis zu einem Ereignis" zu inszenieren, den Wandel aktiv voran zutreiben und die notwendigen Handlungsressourcen zu mobilisieren, um Ver änderungen der Problemwahrnehmung zu bewirken. Die vorliegende Untersuchung zeigt, dass die flexibleren Problemwahr nehmungen und -deutungen in Leipzig zudem offensichtlich auch durch ein offeneres Beziehungsgeflecht zwischen den lokalen Akteuren ermöglicht wur den. Zwar ergab die Analyse der politischen Diskussions- und Entscheidungsprozesse, dass in beiden Städten die Verwaltungsakteure die maßgeblichen „Agenda-Setter" waren. In Duisburg zählten nicht nur die beiden großen Projek te in der Innenstadt, wie das Urban Entertainment Center „MultiCasa" und das 201
Spielcasino und Kongresszentrum „Urbanum", sondern auch die Bewerbung um die Bundesgartenschau oder die Entwicklung des „Rheinparks" zu den Initiati ven der Verwaltung. Auch in Leipzig brachten die Akteure der Verwaltung die relevanten Initiativen in den politischen Prozess ein. Sämtliche im Rat verab schiedeten neuen Maßnahmen und Instrumente - wie beispielsweise das Pro gramm „Neue Gründerzeit", der „Stadtentwicklungsplan Wohnungsbau und Stadterneuerung" - wurden in der Verwaltung entwickelt. Neue Instrumente (Duisburg) oder neue Strategien (Leipzig) werden in Städten dort initiiert und entwickelt, wo auftretetende Probleme und Widersprüche im Politikfeld am schnellsten sichtbar wurden: auf der Implementationsebene, in der Verwaltung. Der Befund, dass die Akteure der Verwaltung aufgrund spezifischer Ressourcen - wie Informationen und Zeit - über eine Schlüsselfunktion verfügen, erstaunt nicht besonders: Das war das zentrale Ergebnis der deutschen lokalen Politik forschung in den 1970er Jahren, und auch die neueren regimetheoretischen Arbeiten deuteten darauf hin, dass den Verwaltungsakteuren in deutschen Städ ten im städtischen Politikprozess eine maßgebliche Rolle beigemessen werden muss (vgl. Banner 1972; Gissendanner 2002; Grauhan 1972; Strom 2001). Die Untersuchung ergab jedoch einen wesentlichen Unterschied zwischen den beiden Städten. In Duisburg waren die Akteure, die von den lokalen Ver waltungsakteuren gewonnen werden mussten, um ihre stadtentwicklungspolitischen Initiativen auch durchzusetzen, die SPD-Ratsfraktion. Aufgrund veränder ter Machtverhältnisse im Rat der Stadt nach den Kommunalwahlen 1999 spiel ten im Untersuchungszeitraum auch die anderen Parteien, namentlich die CDU, Bündnis 90/Die Grünen sowie die PDS und die FDP eine zunehmend wichtigere Rolle. Die Analyse zeigte dennoch, dass die Niederrheinische Industrie- und Handelskammer offensichtlich als einziger Akteur in der Stadt über ausreichen de Ressourcen verfügte, um die Initiativen der Verwaltung und der SPD zu blockieren. In der Duisburger Stadtentwicklungspolitik dominierte also eine historisch generierte, in regionale Kontexte eingebettete Akteurskonstellation aus Verwaltung, SPD und Industrie- und Handelskammer. In Leipzig zeichnete sich ein anderes Bild ab. Die politische Partei, die in der Stadt Leipzig von den lokalen Verwaltungsakteuren gewonnen werden musste, um ihre Initiativen im politischen Prozess durchsetzen zu können, war zunächst die SPD, später, auf grund wechselnder Mehrheitsverhältnisse im Stadtrat, die CDU. Gleichwohl versuchten die Akteure der Verwaltung, auch alle anderen politischen Parteien des Leipziger Stadtrates - namentlich die PDS und Bündnis90/Die Grünen - mit einzubeziehen. Ein breiter Konsens wurde gesucht, wobei auch die Akteure der politischen Parteien auf einen breiten Konsens drangen. Neben den politischen Parteien verfügte die Wohnungswirtschaft über eine hohe Blockademacht, wäh rend die Industrie- und Handelskammer kaum eine Rolle spielte. In der Stadt 202
Leipzig war eine offenere Koalition aus Verwaltung und verschiedenen politi schen Parteien maßgeblich, wobei kein eindeutiges Zentrum auszumachen war. Die Etablierung eines solchen, offeneren Beziehungsgeflechts wurde durch den personellen Umbruch in Leipzig nach der Vereinigung, der einem weitge henden, wenn nicht sogar vollständigen Elitenwechsel entsprach, sicher begüns tigt. Eine historisch einmalige Situation, die sich in Duisburg zu keinem Zeit punkt bot. Auch wenn sich die Akteurskonstellationen durch den Weggang der Stahlunternehmen und dem Bedeutungsverlust der Gewerkschaften durchaus veränderten, bewiesen die Akteurskonstellationen in der Stadt eine erstaunliche Kontinuität. Der Nachteil dieser historisch generierten Akteurskonstellation scheint zu sein, dass sie die enttäuschungsresistente Aufrechterhaltung traditio neller Handlungsorientierungen und herkömmlicher Strategien begünstigt. Dass Akteurskonstellationen, die durch langjährige Abhängigkeit und Zu sammenarbeit geprägt sind, die Formulierung und Implementierung neuer städ tischer Politiken erschweren - wenn nicht sogar verhindern -, bestätigt wesent liche Annahmen der Urbane-Regime Forschung. Ihre Vermutung, dass auch unter völlig veränderten Bedingungen an bisherigen Strategien und Maßnahmen festgehalten wird, weil sich Akteurskonstellationen in Städten zu einem exklu siven „Erhaltungsregime" verdichtet haben, an dem veränderte soziale und öko nomische Problemumwelten quasi ,abprallen', scheint sich in der vorliegenden Untersuchung zu bestätigen. Das heißt nicht, dass es keine Konflikte zwischen den beteiligten Akteuren in der Stadtentwicklungspolitik gibt. Gerade in Duis burg kam es im Verlauf der Großprojekte zu erheblichen Auseinandersetzungen. Allerdings war die generelle Orientierung, mit den großen Projekten die Stadt als Großstadt insbesondere unter arbeitsplatzrelevanten Gesichtspunkten zu profilieren, politisch letztendlich wenig umstritten. Nur eine Minderheit formu lierte grundsätzliche Einwände. Lässt sich daraus folgern, dass die Stadtent wicklungspolitik in Duisburg aufgrund ihrer eigenen politischen Historie, die sich in Akteurskonstellationen und Kooperationsformen verfestigt hat, gar nicht anders funktionieren kann? Die Studie zeigt, dass das offenere Beziehungsgeflecht auch in Leipzig durch die handelnden Akteure im politischen Prozess immer wieder hergestellt werden musste. Auch hier gab es handfeste und teilweise ideologisch aufgela dene Konflikte. Gerade zu Beginn galt es, massive Widerstände derer, die das Thema des Bevölkerungsverlustes und des Wohnungsleerstandes nicht themati sieren wollten, zu überwinden. Die Streitpunkte wurden jedoch wirkungsvoll dadurch entschärft, dass zum einen (kleinere) Belange der politischen Parteien berücksichtigt wurden. Und zum anderen dadurch, dass die Entscheidungen nicht „über's Knie gebrochen" wurden. Auch wenn der Beigeordnete für Pla nung und Bau zwischendurch zur Eile mahnte, um den „Wettbewerbsvorsprung 203
Leipzigs" für die Beantragung von Fördermitteln aus den Stadtumbaumitteln beizubehalten. Gerade in der Verwaltung wartete man offensichtlich, bis sich eine relativ stabile, geteilte Problemwahrnehmung und -deutung herausgebildet hatte. Das bestätigt Einsichten des Neuen Institutionalismus: Können andere relevante Akteure von einem neuen Deutungsmuster überzeugt werden, so ist es auch möglich, dass Interessen reformuliert und neue Koalitionen gebildet wer den (Weir 1992: 190). Der Vorteil einer kompromissorientierten Form der politischen Konflikt austragung liegt also offensichtlich darin, dass „Blockaden" im politischen Pro zess minimiert werden, weil Akteure mit einer potentiellen Veto-Macht frühzei tig eingebunden werden. Insbesondere erscheint das dann wichtig, wenn neue stadtentwicklungspolitische Maßnahmen entschieden und implementiert wer den, die möglicherweise etablierten Interessen der Beteiligten zuwiderlaufen. Kompromissorientiertere Formen der politischen Konfliktaustragung stellen demnach eine weitere Bedingung dar, unter der es in Leipzig gelang, neue städ tische Politiken zu formulieren und zu institutionalisieren. Nicht zuletzt zeigt die Untersuchung aber auch, dass die Institutionalisie rung neuer städtischer Politiken in Leipzig auch durch überlokale Bedingungen begünstigt wurde: Mit der eingeleiteten Thematisierung von Wohnungsleer stand, Abwanderung und Geburtenrückgang durch das Bund-Länder-Programm „Stadtumbau Ost" konnte man sich in Leipzig nicht nur als „Vorreiter in Ost deutschland" stilisieren, sondern darüber hinaus auch finanzielle Mittel für die Umsetzung gewinnen.
7.2 Implikationen für Politik Dem fundamentalen Wandel in den Bedingungen der Stadtentwicklung folgt nicht automatisch eine Neuorientierung städtischer Politiken: Neue Strategien im Umgang mit Schrumpfungsprozessen können offensichtlich nur unter be stimmten, und sehr voraussetzungsvollen Bedingungen institutionalisiert wer den. Abschließend sollen die sich aus der Untersuchung ergebenden politikrele vanten Implikationen skizziert werden. Insbesondere soll der Frage nachgegan gen werden „was passiert, wenn nichts passiert" - wenn man sich also in den schrumpfenden Städten nicht auf die gewandelten Bedingungen der Stadt entwicklung einstellt. Die Studie legt nahe, dass es in den schrumpfenden Städten in erster Linie um das „Aufbrechen" von Interpretationsroutinen - hier: die Schrumpfung als vorübergehende Abweichung vom Wachstumspfad zu deuten - geht, weil die kognitive „Verdrängungshaltung" von lokalen Akteuren in schrumpfenden Städ204
ten das größte Hindernis für die Institutionalisierung neuer städtischer Politiken ist. Solange sich die handelnden Akteure in schrumpfenden Städten an relativ routinierten Wahrnehmungs- und Deutungsmustern orientieren, werden sie auf die gewandelten Bedingungen der Stadtentwicklung nicht reagieren. Kollektiv geteilte Deutungsmuster, mit denen handelnde Akteure ihre Politikumwelt ver stehen, können in diesem Fall zu .endogenen Barrieren' werden, da traditionelle Handlungsorientierungen beibehalten werden. Gerade weil sich bestimmte Handlungsorientierungen in einer Stadt verfestigt haben, könnte man freilich folgern, dass diese Impulse „von außen", also beispielsweise aus der Wissen schaft oder von Bund und Ländern, kommen müssten. Die Untersuchung impli ziert jedoch eine gewisse Skepsis: Mögliche Impulse und Angebote „von au ßen" werden nur dann überhaupt zur Kenntnis genommen, wenn sich in einer Stadt bereits ein gewisses, realistisches Problembewusstsein herausgebildet hat. An einem Umdenkprozess der handelnden Akteure in den schrumpfenden Städ ten selbst wird wahrscheinlich kein Weg vorbei führen. Schrumpfende Städte haben auch viel zu verlieren. Sie haben, bevor sich die negativen Folgeprobleme in den nächsten Jahren noch einmal deutlich po tenzieren, ein beschränktes „window of opporrunity" zur Verfügung. Es wurde demonstriert, dass alleine aufgrund des drastischen Rückgangs der Geburtenrate die meisten Städte in Zukunft weiter an Bevölkerung verlieren werden. Selbst Städte wie Duisburg oder Leipzig, die in den letzten Jahren bzw. Jahrzehnten bereits 100.000 Einwohner verloren haben, werden voraussichtlich bis 2015 bzw. 2030 noch einmal deutlich an Einwohnern verlieren (Stadt Duisburg 2003: 50; Stadt Leipzig 2004: 59). Viele Städte sind, was die Bevölkerungszahlen anbetrifft, noch nicht einmal ,ganz unten' angekommen. Das bedeutet weiter sinkenden Einnahmen. Nicht nur, weil die Einnahmen aus Steuern weiter zu rückgehen, sondern auch, weil mit den sinkenden Einwohnerzahlen auch die Zuweisungen des Bundes und der Länder reduziert werden. Die ohnehin prekäre Finanzsituation wird sich in schrumpfenden Städten weiter zuspitzen. Sie wer den jedoch nicht nur ,weniger' Einwohner haben - auch die soziale und demo¬ graphische Zusammensetzung der Bevölkerung wird sich weiter verändern. Ihre Bewohner werden tendenziell älter und ärmer. Der Handlungsspielraum wird sich bei gleichzeitig steigendem Handlungsbedarf verengen. Das Problem, wenn sich die lokalen Akteure auf die veränderten Bedin gungen der Stadtentwicklung nicht mittels adäquater Policy-Strategien einstel len, liegt somit auf der Hand: Das sich langsam schließende Möglichkeitsfenster kann nicht genutzt werden. Es ist eine verpasste Chance, denn die Kosten des Schrumpfungsprozesses werden sich in Zukunft nicht reduzieren, sondern wei ter zunehmen. Der Rückbau städtebaulicher und wohnungswirtschaftlicher Strukturen sowie die Anpassung der sozialen und technischen Infrastruktur an 205
gewandelte Bedürfnisse und Nachfragepotentiale werden in Zukunft teurer. Darüber hinaus besteht die Gefahr, dass heute möglicherweise am Bedarf von morgen vorbei geplant wird. Einfach, weil man sich in den Städten über den künftigen Nachfragerückgang nicht im Klaren ist. Wie die Städte heute auf die Schrumpfungsprozesse reagieren, dürfte Auswirkungen auf die zukünftige Mög lichkeit der Problembewältigung haben. Es ist also wichtig, dass man sich in schrumpfenden Städten bald auf die veränderten Bedingungen der Stadtentwick¬ lung einstellt, denn die Chance einer zukunftsweisenden Steuerung von Schrumpfungsprozessen dürfte in den nächsten Jahren tendenziell abnehmen. Auch gilt es, die viel beschworenen Chancen des Schrumpfens zu nutzen. Wenngleich anhaltende Schrumpfung und ausbleibendes Wachstum erst einmal immense Folgeprobleme generieren, gehen die Schmmpfungsprozesse in beiden Städten mit einem nachlassenden Verwertungsdruck auf Flächen und Immobi lien einher. Umfang und Intensität des Wert- und Nutzungsverlustes sind in Westdeutschland weitaus weniger dramatisch als in Ostdeutschland, dennoch werden auch hier erste Ansätze eines strukturellen, und nicht temporären, Woh nungsleerstandes sichtbar, fallen Flächen von Industrie und Bahn brach. Grund sätzlich kann, so das bereits präsentierte Argument, der nachlassende Verwer tungsdruck auch als Potential genutzt werden, indem Freiräume für alternative Wohn- und Arbeitskonzepte geschaffen werden und die Stadt als Lebensort gestärkt wird (vgl. u.a. Hannemann 2000; Häußermann/Siebel 1987; Keim 2001; Kil 2004). Etwas Anderes wird den schrumpfenden Städten wahrscheinlich auch nicht übrig bleiben. Denn in rein ökonomisch orientierten Entwicklungspfaden werden die Städte ihre Zukunft nicht suchen können. Wie wenig Städte in der Lage sind, die überörtlich verursachten Entwicklungen des Schrumpfens durch eine Strategie der Standortprofilierung zu beeinflussen, wurde bereits diskutiert. Der Versuch, Einwohner und Arbeitsplätze durch eine angebotsorientierte und unternehmerische Stadtentwicklungspolitik aus anderen Städten abzuwerben, wird in Zukunft wahrscheinlich ebenfalls noch schwieriger werden als er heute bereits ist: Gerade das ,Volumen' der mobilen, wanderungswilligen Haushalte wird aufgrund der demographischen Entwicklung in den nächsten Jahren weiter abnehmen, die zu verteilende Masse geringer. Das offensichtliche Problem einer Verdrängungshaltung ist, dass die Chan cen, die der Schrumpfungsprozess bietet, von den handelnden Akteuren nicht erkannt - und damit auch nicht genutzt werden. Für die Zukunft der schrump fenden Städte ist es entscheidend, dass heute damit begonnen wird, die „Schwä chen" des Schrumpfens produktiv in „Stärken" zu wenden. Die Bedingungen, unter denen Chancen des Schrumpfens produktiv werden können, werden frei lich nicht nur in den Städten produziert: Auch in nationalen Politikbereichen (wie der Zuwanderungspolitik), die sich der Einflussnahme städtischer Akteure 206
weitgehend entziehen, setzt das Veränderungen voraus. Dennoch dürfte es einen Unterschied machen, ob die Städte selbst den Schmmpfungsprozess als ein langfristiges Problem anerkennen und im Interesse ihrer Bürger steuern wollen und nach den Potentialen des Schrumpfens suchen oder nicht. Wo also ist der Punkt, an dem der Hebel zur Veränderung angesetzt wer den kann? Die vorliegende Untersuchung impliziert, dass die Akteure der öf fentlichen Verwaltung die Rolle von Innovationsmotoren in der Stadtentwick lungspolitik übernehmen können (und müssen). Eine, auf den ersten Blick, zu gegebenermaßen befremdlich anmutende Folgerung: Bezeichnete nicht schon Max Weber Bürokratien als „stahlharte Gehäuse", die ein Eigenleben führen, die wuchern und sich verfestigen - und deren Zweck der eigene Erhalt ist? Wie sen nicht schon die verhaltungswissenschaftlichen Entscheidungstheorien auf die unzulängliche Problemlösungsfälligkeit öffentlicher Verwaltungen, gerade in Zeiten von Unsicherheit hin? Die Innovationsfähigkeit lokaler Verwaltungsak teure sollte tatsächlich nicht überschätzt werden. Und zu folgern, dass die Ak teure der Verwaltung in jeder schrumpfenden Stadt und in jeder Situation ein Motor für einen innovativen Umgang mit Schrumpfungsprozessen sein können, widerspräche den Untersuchungsergebnissen diametral. Auch sie können diese Rolle nur einnehmen, sofern sie nicht selbst in einem kognitiven Käfig traditio neller Problemwahrnehmungen und Problemlösungsstrategien gefangen sind. Dennoch ist eine Folgerung aus der Untersuchung, dass in schrumpfenden Städten die Akteure der Verwaltung die Einzigen sind, die zumindest hypothe tisch über ausreichendes Wissen, Zeit und Ressourcen verfügen, um demogra phische, soziale und ökonomische Entwicklungen zu analysieren, bisherige Strategien zu evaluieren - und auf potentielle Probleme und Gefahren hinweisen können. Alleine deswegen gewinnen öffentliche Akteure an Bedeutung. Ehren amtliche Politiker, die neben ihrer eigenen beruflichen Tätigkeit abends in den Stadträten und den Fachausschüssen sitzen, können genau so etwas nicht leisten. Sie sind alleine durch das „politische Tagesgeschäft", das heißt, mit dem Lesen und Diskutieren zahlreicher Anträge, Beschlüsse und Vorlagen vollauf beschäf tigt. Private Akteure, aber auch Verbände oder Kammern, werden kaum als Innovationsmotoren in Betracht kommen: Sie verhindern eher einen zukunftswei senden Umgang mit Schrumpfungsprozessen. Entscheidend wird also sein, wie die öffentlichen Akteure den Schrumpfungsprozess wahrnehmen, inwieweit es ihnen gelingt, die Probleme zu kommunizieren und , Schrumpfungskoalitionen' zu schmieden. Die vorliegende Studie zeigt, dass schrumpfende Städte nicht nur das ohn mächtige Opfer widriger Umstände sind. Um jedoch Handlungsspielräume aus zuloten und zumindest partiell Antworten auf die drängenden Probleme schrumpfender Städte zu finden, ist es erforderlich, dass Schrumpfung als ein 207
langfristiges Problem anerkannt und im Interesse der Lebensqualität der ver bliebenen Bürger sinnvoll gesteuert wird. Solange es auch nur die geringste Möglichkeit einer gestaltenden Einflussnahme gibt, stehen lokale Politik und Verwaltung in der Pflicht, diese auszuschöpfen. Auf der Ebene von Bund und Ländern sollten die erforderlichen Anpassungen erfolgen, um reformorientierten lokalen Akteuren in schrumpfenden Städten den Rücken zu stärken.
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