So gewinnt der Mittelstand! : die Erfolgsmethode kleiner und mittlerer Unternehmen (und was die grossen von ihr lernen können) [1. Aufl]
 9783834905277, 3834905275 [PDF]

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Zitiervorschau

Sven Rickes | Julian von Hassell So gewinnt der Mittelstand!

Sven Rickes | Julian von Hassell

So gewinnt der Mittelstand! Die Erfolgsmethode kleiner und mittlerer Unternehmen (und was die großen von ihr lernen können)

Bibliografische Information Der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

1. Auflage 2008 Alle Rechte vorbehalten © Betriebswirtschaftlicher Verlag Dr. Th. Gabler | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2008 Lektorat: Barbara Möller Der Gabler Verlag ist ein Unternehmen von Springer Science+Business Media. www.gabler.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: Nina Faber de.sign, Wiesbaden Druck und buchbinderische Verarbeitung: Wilhelm & Adam, Heusenstamm Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-8349-0527-7

Inhaltsverzeichnis

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Inhaltsverzeichnis

Mittelstand ist eine Tugend

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1. Die mittelständische Methode

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1.1 Mittelständische Unternehmen und das Interesse des Unternehmers 1.1.1 Kritik an Fremdkapitalgebern ist legitim, aber müßig – man muss sie ersetzen 1.1.2 Der gute Mittelständler steuert sich selbst – mit Methode 1.1.3 Unternehmerbeziehungen: Warum sich mittelständische Unternehmer nicht jagen lassen 1.1.4 Das Interessensmanagement selbstbestimmter Unternehmer 1.1.5 Fazit

22 26 27

1.2 Die fünf Schritte der mittelständischen Methode 1.2.1 Interessen aufspüren 1.2.2 Ziel definieren 1.2.3 Weg ableiten 1.2.4 Weg verfolgen 1.2.5 Lernen und Route optimieren

28 30 31 34 35 37

2. Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

39

20 21 22

2.1 Der Unternehmer und sein Unternehmen 2.1.1 Burchard Führer 2.1.2 Die Burchard Führer Unternehmensgruppe 2.1.3 Das Produktmanagement der Unternehmensgruppe

41 42 43 48

2.2 Interessen aufspüren: Was will ich?

58

2.3 Ziel definieren 2.3.1 Was kann ich? 2.3.2 Was soll ich? 2.3.3 Produktziele und Unternehmensziele

60 61 62 63

6

Inhaltsverzeichnis

2.4 Weg ableiten 2.4.1 Das Produkt steht im Mittelpunkt 2.4.2 Interessen der Mitarbeiter und Lieferanten identifizieren und befriedigen

67 68

2.5 Weg verfolgen 2.5.1 Effizienz ist nicht alles: Aufbau- und Ablauforganisation 2.5.2 Hart am Limit: Die Zentrale

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2.6 Route optimieren: Auch aus Erfolgen lernen

78

2.7 Fazit: 10 Tipps für Ihr Produktmanagement

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3. Mitarbeiternähe: HOCHTIEF Software GmbH

83

3.1 Das Unternehmen HOCHTIEF Software 3.1.1 Das Sorgenkind OBW 3.1.2 Wachstumsphantasie und kritischer Blick in den Spiegel 3.1.3 Interessen würdigen 3.1.4 Ablauforganisation als akrobatische Übung 3.1.5 Das Management 3.1.6 Der Geschäftsbereich Objektbewirtschaftung

70

84 85 86 87 89 90 91

3.2 Interessen aufspüren 3.2.1 Wie man gezielt Interessen erhebt 3.2.2 Die Gespräche 3.2.3 Harte und weiche Faktoren 3.2.4 Ergebnis der Interessenserkundung

95 96 97 100 101

3.3 Ziel definieren 3.3.1 Potenzialanalyse 3.3.2 Umsatz – Kosten – Produktivität – Gewinn 3.3.3 Mitarbeiter-Ziele 3.3.4 Learning by „Aiming“ – Führungskräftetraining 3.3.5 Verbindliche Fixierung

103 103 113 113 114 115

3.4 Weg ableiten 3.4.1 Der neue Verkäufer 3.4.2 Die neue Organisation 3.4.3 Coaching 3.4.4 Meilensteine 2001 – 2002 3.4.5 Von den Zielen zu den Aufgaben 3.4.6 Orientierung

117 117 117 119 119 121 122

Inhaltsverzeichnis

7

3.5 Weg verfolgen 3.5.1 Flughafen Athen: Der erste Erfolg 3.5.2 Business as usual – dann: Die verdiente „Göttergabe“ vom Olymp 3.5.3 Deutsche Markterfolge

123 123

3.6 Fazit mit 10 Tipps für erfolgreiches Führen 3.6.1 Fazit 3.6.2 10 Tipps für erfolgreiches Führen

131 131 133

3.7 Anhang: Auszug aus dem OBW-Strategiepapier

135

4. Kundennähe: Bauunternehmung Tecklenburg GmbH

128 128

139

4.1 Das Unternehmen und der Unternehmer 4.1.1 Ein Mann, ein Wort: Hermann Tecklenburg 4.1.2 Das Unternehmen – „Ein feste Burg“

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4.2 Interessen aufspüren 4.2.1 Mitarbeiterakzeptanz organisieren 4.2.2 Resistenz 4.2.3 Erfassung des Ist-Zustands 4.2.4 Der erste Befund: Ungelöster Spagat zwischen Bauausführung und Projektentwicklung 4.2.5 Vergütungssystem mit Zielkonflikt 4.2.6 Vertrieb: Was ist das? 4.2.7 Vertriebsdelegation an den Makler 4.2.8 „Vertrieb ist das, was wir tun“ 4.2.9 Vertriebs„controlling“ 4.2.10 Desinformation

150 150 150 151

4.3 Ziel definieren 4.3.1 Wer nicht überzeugt ist, kann nicht überzeugen 4.3.2 Reorganisation 4.3.3 Produktallokation per Datenbank 4.3.4 Premium-Marke Tecklenburg

159 159 159 160 161

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4.4 Weg ableiten 162 4.4.1 Arbeitsteilung: Negative Selling und „Mafo“ 163 4.4.2 Das Team: Gleiche Interessen, komplementäre Fähigkeiten 165 4.5 Weg verfolgen 4.5.1 Der erste Meilenstein: Anerkennung vom Chef 4.5.2 Der zweite Meilenstein: erste Verkaufserfolge

165 165 165

8

Inhaltsverzeichnis

4.5.3

Das Erreichen des Ziels: der abgeschmolzene Bestand

166

4.6 Route optimieren: Globalisierung am Niederrhein 4.6.1 Paketdeals 1 – Immobilien im Paket 4.6.2 Paketdeals 2 – Käufer im Paket 4.6.3 Paketdeals 3 – Kapital im Paket 4.6.4 Meisterhand – Gefahr gebannt

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4.7 Fazit mit 10 Tipps für erfolgreiches Verkaufen 4.7.1 Fazit 4.7.2 10 Tipps für erfolgreiches Verkaufen

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5. Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

179

5.1 Der Unternehmer und sein Unternehmen 5.1.1 Ästhet, Denker und Macher: Dr. Dr. Thomas Rusche 5.1.2 Mit Beschaffungsmarketing der Branchenkrise trotzen

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5.2 Interessen aufspüren 5.2.1 Das eigene Interesse: Abschied von den „Einheitsbedingungen“ 5.2.2 Das Lieferanteninteresse: Zutritt in Deutschlands Provinz

198 198 200

5.3 Ziel definieren

200

5.4 Weg ableiten 5.4.1 Methode und Kreativität widersprechen sich nicht 5.4.2 Kooperatives vs. konfrontatives Einkaufen 5.4.3 Vertrauen als Fundament der Sortimentsqualität 5.4.4 Supplier Rating 5.4.5 Lieferantenrahmen

202 202 206 207 208 209

5.5 Weg verfolgen 5.5.1 Vertikale Vorbilder als Orientierungsbojen 5.5.2 Vertikalisierung bei SØR

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5.6 Route optimieren 5.6.1 Einkaufen wie bei ALDI 5.6.2 Rack Jobbing, Category Management & ECR 5.6.3 Mit eigenen Zielen guten von schlechtem Rat unterscheiden lernen

212 213 214

5.7 Fazit und 10 Tipps für erfolgreiches Einkaufen 5.7.1 Zusammenfassung 5.7.2 10 Tipps für erfolgreiches Einkaufen

216 216 219

215

Inhaltsverzeichnis

6. Statt eines Nachworts: Die mittelständische Methode und das deutsche Sommermärchen

9

223

6.1 Vom „Glückskind des deutschen Fußballs“ …

223

6.2 … zum deutschen Sommermärchen

225

6.3 Was Mittelständler aus diesem Beispiel lernen können

227

Anmerkungen

229

Literaturverzeichnis

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Stichwort- und Namensverzeichnis

233

Danksagung

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Die Autoren

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Mittelstand ist eine Tugend

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Mittelstand ist eine Tugend

Deine Einstellung musst Du ändern, nicht Deinen Aufenthaltsort. Seneca Wir leben in einer Zeit permanenter und schneller Veränderung. Märkte entstehen und vergehen in weniger als einem Jahrzehnt, Trends und Megatrends kommen und gehen in atemberaubender Geschwindigkeit. Der subjektive Eindruck ist, dass alles immer schneller wird und nichts mehr für einen längeren Zeitraum gilt. Doch der Eindruck täuscht. Die Literatur ist voller Beispiele, aus denen hervorgeht, dass die Menschen schon immer davon ausgegangen sind, dass alles immer schneller würde und die Jugend nichts tauge. Die Ausgangssituation für den Mittelstand Das Dramatische unserer Zeit ist vielmehr die hohe Bandbreite der Veränderungen und der exponentielle Effekt auf die Märkte und Marktteilnehmer. Was uns zeitweise zu überfordern droht, ist die Allgegenwärtigkeit von Veränderung in allen Bereichen: Produktneuheiten und ihre kurze Halbwertzeit, kurze Marktzyklen auch in Investitionsgütermärkten, die knappe Verfügbarkeit von Ressourcen, die Wechselwirkungen der weltweit vernetzten Kapitalmärkte und ihre daraus resultierende Abhängigkeit voneinander. Diese Veränderungen und ihre Auswirkungen bis in die Winkel jeder Region dieses Planeten, das macht effektiv die Dramaturgie unserer Gegenwart aus. Doch was macht das mit uns? Insbesondere mit den hochflexiblen, kleinen und mittelgroßen Unternehmensstrukturen des Mittelstandes? Und welche Bedeutung und Chancen hat der Mittelstand im Kontext dieser Rahmenbedingungen und Einflüsse? Was genau sind die wesentlichen Herausforderungen unserer Zeit, auf die Sie sich konzentrieren sollten? Wie in keinem anderen Land der Welt stellt der Mittelstand nach wie vor die Mehrzahl aller Arbeitsplätze und ist somit die stärkste, tragende Säule unserer Volkswirtschaft. Die mittelständischen Strukturen in Deutschland sind so einzigartig, dass man im angelsächsischen Sprachraum gar nicht erst versucht hat, eine Übersetzung für diesen Begriff zu finden. In England zum Beispiel spricht man vom „German Mittelstand“. Auch wenn es richtig ist, dass wir in einer zunehmend kleiner werdenden Welt leben – um die Dezentralität und Diversifi-

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Mittelstand ist eine Tugend

zierung unserer Volkswirtschaft beneidet uns die Welt. Sie als Unternehmer im Mittelstand sind in der vielfältigen Erscheinungsform Ihrer Betriebe ein Garant dafür, dass unsere Volkswirtschaft nicht komplett von den Kapitalmärkten abhängt und das BIP auf vielen Schultern ruht. Bei der Definition von „Mittelstand“ wollen wir uns in diesem Buch übrigens an eine qualitative Beschreibung halten: Mittelständische Unternehmen sind für uns solche, die inhaberoder inhaberähnlich geführt werden. Die Porsche AG wird im Jahr der Erstauflage dieses Buches längst nicht mehr von einem ihrer Inhaber geführt, aber sie wird inhaberähnlicher geführt als manches Familienunternehmen. Um sichergehen zu können, dass die Veränderungen der weltwirtschaftlichen Situation schadlos für Ihr Unternehmen vonstattengehen, können auch Anpassungen in Ihrem Umfeld sinnvoll sein. Nicht, weil das, was wir unter Mittelstand verstehen, generell überholt ist. Im Gegenteil, in dieser Hinsicht sind Ihre Erfolgsaussichten besser denn je. Sondern weil sich die Rahmenbedingungen, unter denen Sie Ihr Unternehmen betreiben, verändert haben und weiter verändern werden. Nicht nur die Märkte, in denen Sie operieren, sondern auch die Märkte, mit denen Sie operieren, sind andere geworden. Ein herausragendes Beispiel dafür sind die oft zitierten Veränderungen bei der Kreditvergabe der Banken. Diese haben nach den veränderten Kriterien auf der Basis von „Basel II“ heute andere Gesichtspunkte bei der Ausreichung von Fremdkapital zu bewerten als noch vor zehn Jahren. Die größte Herausforderung Neben den vielen Herausforderungen, die die oben angeführte hohe Veränderungsgeschwindigkeit mit sich bringt, und den ebenfalls bekannten Wettbewerbssituationen in den Produktions- und Absatzmärkten, Stichwort „Billiglohnländer“, stellt die Finanzierung von Wachstum, Veränderung und Absatz die derzeit größte Herausforderung für Sie als mittelständischen Unternehmer dar. Die Vergabe und die Kosten von Fremdmitteln sind heute an andere Kriterien geknüpft als ehedem. Diese Kriterien können Sie nur erfüllen, wenn Sie Ihre Einstellung und Handlungsweise als Unternehmer so verändern, dass Sie sich mehr und mehr kapitalmarktorientiert organisieren und darstellen. Die Bedeutung des „freien Kapitalmarktes“, des Beteiligungs-, Mezzanine- oder Venturekapitals, steigt. Längst finanzieren Private-Equity-Häuser und Hedgefonds einen Großteil der Weltwirtschaft. Das ist zwangsläufig so. Wenn die Bank die Verfügbarkeit von Fremdkapital für Unternehmen verknappt bzw. verteuert, muss es sich seinen Weg zu den Unternehmen über den Risikokapitalmarkt bahnen. Genau dieser Risikokapitalmarkt ist in Deutschland, verglichen mit dem weltweiten Umfeld, noch sehr unterentwickelt. Auch und gerade im Mittelstand. Jetzt, in diesen Tagen gewinnt er permanent, auch für Sie, an Bedeutung.

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Wenn Sie heute für eine Wachstumsgeschichte oder ein dringend erforderliches Veränderungsprojekt (neues Produkt/neuer Absatzmarkt etc.) Fremd- oder Eigenkapital benötigen, dann müssen nicht nur Sie vom Erfolg Ihres Unternehmens überzeugt sein, auch Ihre Bank will das mit relativer Sicherheit sein. Und erst recht ein Eigenkapitalgeber. Da reicht es nicht mehr, mit dem Bankvorstand im selben Business-, Golf- oder Rotaryclub zu sein. Längst gibt es standardisierte Verfahren der Bonitätsbewertung, die Ratings. Das, was da „geratet“ wird, sind nicht allein die Finanzkraft und andere mit Zahlen messbare, harte Faktoren. Die so genannten „weichen“ Faktoren machen einen nicht unwesentlichen Teil des Ratings aus. Das sind Faktoren wie die Qualität der Aufbau- und Ablauforganisation und ihrer Dokumentation, der Auftritt und die Führung des Managementteams und „strategische“ Komponenten wie der Zugang, den Sie zu Ihren Märkten haben, Ihre Einzigartigkeit als Unternehmen sowie die nachhaltige Alleinstellung Ihres Produkt- und Dienstleistungsangebots. Doch nicht nur bei der Kreditvergabe müssen Sie objektiv erkennbar die Erfolgschance Ihres Unternehmens darstellen können. Dies gilt auch, wenn Sie darüber nachdenken, Ihr Unternehmen über kurz oder lang an die nächste Generation zu übergeben, unabhängig davon, ob es die eigene oder eine fremde ist. Diese Rahmenbedingungen: „ hohe Veränderungsgeschwindigkeit und -qualität, die bloße Menge an Ver-

änderungen und wie schnell sie auftreten, „ die stark zunehmende Bedeutung von weltweiten Beschaffungs-, Produkti-

ons- und Absatzmärkten, „ die restriktive Kreditvergabe der Banken und Sparkassen nach Basel II in

Verbindung mit den noch zu entwickelnden Risikokapitalmärkten und ihre Auswirkung auf den Mittelstand, „ und die allgegenwärtige Problematik der Weitergabe von Unternehmen auf

die „nächste Generation“ unabhängig ob innerhalb der Familie oder an einen Fremden, erfordern eine Professionalisierung und Systematisierung des Unternehmensbetriebs im Mittelstand. Eine solche Veränderung kann man mit und ohne Methode angehen. Das Lösungspaket: Die mittelständische Managementmethode Dieses Buch handelt von Methode, genauer: von einer Managementmethode, noch genauer: von der mittelständischen Managementmethode. Im Mittel-

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Mittelstand ist eine Tugend

punkt der mittelständischen Methode stehen Interessen – diejenigen des Unternehmers und diejenigen seiner Mitarbeiter, Lieferanten und Kunden. Dass es wirtschaftlichen Organisationen darum geht, ihre Interessen durchzusetzen, dürfte jedermann klar sein. Die Frage, auf die es nach unseren Erfahrungen keineswegs eine jedermann bekannte Antwort gibt, lautet: Wie setzen wirtschaftliche Organisationen ihre Interessen erfolgreich durch? Hier kann man in der Praxis zwei gängige Phänotypen unterscheiden: Die Art und Weise, wie dies typischerweise in großen Organisationen, Konzernen geschieht, und die Art und Weise, wie dies in der Regel in kleinen und mittleren Strukturen geschieht. Die Lektüre dieses Buches soll Ihnen aufzeigen, welche Stärken es zu stärken und welche Schwächen es zu schwächen gilt, und das im Rahmen eines methodischen Vorgehens. Es soll Ihnen aufzeigen, welche Fähigkeiten Sie ausbauen und auf welche Strategien Sie vertrauen können. Wie viel Strategie nötig und wie viel Bauchgefühl möglich ist, um ein Geschäft professionell auf die Anforderungen unserer Zeit auszurichten. Es sind vier Motive, die uns bewogen haben, diese mittelständische Methode für Sie zu Papier zu bringen: 1. Wir wollen den heute schon erfolgreichen Mittelständlern Mut machen! Die hohe Veränderungsgeschwindigkeit nahezu aller Märkte, der globale Wettbewerb und die restriktive Kreditvergabepraxis in Deutschland sind Rahmenbedingungen, mit denen vor allem „das Rückgrat der deutschen Wirtschaft“, der Mittelstand, konfrontiert ist. Wir liefern Argumente für Standfestigkeit, gerade weil um Sie herum alles im Fluss ist. 2. Ungelöste Nachfolgefragen – die Crux gerade der erfolgreichsten Mittelständler! Sollten Sie sich gerade oder demnächst um eine funktionsfähige Nachfolgeregelung bemühen, dann werden Sie in diesem Buch Hilfe erfahren. Wir zeigen, dass und wie Ihr persönlicher Erfolg für Ihren Nachfolger erklär- und wiederholbar wird. 3. Nicht jeder Mittelständler ist erfolgreich! Wer erst am Anfang seiner Unternehmerkarriere steht oder gerade in der Krise steckt, blickt gerne zu den Legenden des Mittelstands auf oder sucht bei den großen Konzernlenkern als Vorbildern Rat. Wir möchten einen Schritt weiter gehen und Ihnen einen Leitfaden für erfolgreiches Management geben.

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4. Wir laden die Goliaths unserer Volkswirtschaft ein, von den Davids zu lernen! Wir werden zeigen, dass die Form der Interessensverfolgung in kleinen und mittleren Strukturen derjenigen der großen überlegen ist und dass die Großen immer gut daran tun, die Form ihrer Interessensverfolgung nach Maßgabe des Möglichen am Beispiel der Kleinen auszurichten. Was Sie in diesem Buch erwartet Die Grundlage der mittelständischen Managementmethode liegt in Ihrem bisherigen Erfolg. Jeder unternehmerische Erfolg ist erklärbar. Mit anderen Worten: Hinter jedem unternehmerischen Erfolg steht eine bestimmte Methode, offensichtlich oder verborgen. Die Dinge, die Sie intuitiv oder unterbewusst richtig machen, lassen sich an die Oberfläche holen, bewusst machen. Und sie lassen sich auf dieser bewussten Ebene vergleichen und gegebenenfalls ergänzen. In jedem Fall jedoch wiederholen. Das haben wir durch die Auswertung vieler Praxisbeispiele für Sie getan, und eben diese Methode extrahiert. Wie diese Methode konkret aussieht und wie Sie sie anwenden, erfahren Sie in diesem Buch. Im ersten Kapitel schildern wir die mittelständische Methode und stellen sie in den Kontext unserer heutigen Zeit. In den vier sich daran anschließenden Kapiteln bieten wir Ihnen Fallbeispiele aus dem erfolgreichen mittelständischen Alltag, anhand derer wir die praktische Anwendung dieser Methode demonstrieren. Dabei werden die folgenden mittelständischen Tugenden exemplarisch an den folgenden Unternehmen demonstriert: „ Produktnähe am Beispiel der Burchard Führer Unternehmensgruppe, Cel-

le/Magdeburg „ Mitarbeiternähe am Beispiel des Kopernikus-Geschäftsbereiches der

HOCHTIEF Software GmbH, Frankfurt am Main/Essen, „ Kundennähe am Beispiel der Bauunternehmung Tecklenburg GmbH, Strae-

len am Niederrhein, „ Lieferantennähe am Beispiel der SØR Rusche GmbH, Oelde in Westfalen.

Wir demonstrieren außerdem, warum es diese Einstellungen, diese Vorgehensweise und diese Hilfsmittel sind, die dem Unternehmen seinen Erfolg beschert haben. Dabei beginnen wir jedes Fallbeispiel mit einer Charakterisierung des jeweiligen Unternehmers, einer Präsentation seines Unternehmens sowie der Ausgangslage, in der sich das geschilderte Unternehmen befand.

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Mittelstand ist eine Tugend

Anschließend zeigen wir, 1. wie es dem Unternehmer jeweils gelungen ist, seinen eigenen Interessen und denen seiner Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten auf den Grund zu gehen, 2. wie er es verstanden hat, aus diesen, meist heterogenen, Interessenlagen heraus gemeinsame Ziele zu formen, 3. wie es den Interessenspartnern anschließend gelungen ist, aus diesen Zielen einen für alle Beteiligten akzeptierten Weg abzuleiten, 4. wie es ihnen dann gelungen ist, diesen Weg auch tatsächlich gemeinsam bis zum Ziel zu verfolgen und 5. wie sie, last but not least, aus unnötigen Umwegen, falsch oder suboptimal gesteckten Zielen anschließend gemeinsam gelernt haben, besser zu werden. Dieses sehr konsequente, sehr lineare und daher sehr einfache Vorgehen in fünf Schritten ist eine wichtige mittelständische Stärke. Die mittelständische Stärke liegt in der Art und Weise, wie der erfolgreiche Mittelständler Interessen identifiziert und zu Zielen bündelt. Die Königsdisziplin des Mittelständlers ist es, Impulse zu geben und Ziele festzulegen. Die Art und Weise, wie er dies tut, ist maßgeblich für den Erfolg des Unternehmers verantwortlich – welcher sich in den übrigen drei Prozessschritten manifestiert. Natürlich ist auch die Art und Weise, wie dieser Rest vonstatten geht, für den Unternehmenserfolg wesentlich. Schließlich ist er für die praktische Realisierung der Ziele verantwortlich. Doch hier wirkt der Unternehmer nicht mehr allein, sondern im Verbund mit den Interessenspartnern, den Mitarbeitern, den Kunden und den Zulieferern. Außerdem wird dieser Rest maßgeblich durch die beiden ersten Prozessschritte vorgeformt. Wir haben die vier in diesem Buch vorgestellten Fallstudien mit Bedacht gewählt. Verschiedene Kriterien mussten übereinander gelegt werden: 1. Wir wollten, erstens, Beispiele eigener mittelständischer Managementerfahrung aus unseren Projekten und als Geschäftsführer und Führungsverantwortliche mittelständischer Unternehmen mit Beispielen von außen beobachteter Managementtätigkeit kombinieren. Sie erkennen dies unschwer daran, dass zwei Fallbeispiele in der „Ich-Form“, die beiden anderen aus der Beobachterperspektive berichten. 2. Dann wollten wir, zweitens, Unternehmen zeigen, deren Erfolg besonders deutlich erkennbar dem Umgang mit jeweils einer von vier relevanten Zielgruppen der mittelständischen Öffentlichkeit geschuldet ist – mit Mitarbeitern, Zulieferern und Kunden. Das erste Fallbeispiel im zweiten Kapitel ist dem Umgang des Unternehmers mit sich selbst gewidmet.

Mittelstand ist eine Tugend

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3. Schließlich lag uns drittens daran, mit unseren Fallbeispielen eine möglichst große Bandbreite unterschiedlicher Branchen, Unternehmensgrößen, Unternehmensstrukturen und Unternehmenssituationen zu zeigen, um deutlich zu machen, dass das, was wir als mittelständische Methode identifizieren, nicht allein für Familienunternehmen gilt, dass junge Unternehmen mit ihnen genauso Erfolg haben wie Traditionsunternehmen mit einer über hundertjährigen Geschichte, dass Bauunternehmen mit ihr genauso gut sein können wie Anbieter von Humandienstleistungen, Software oder Modeartikeln. Zum Abschluss geben wir Ihnen noch einen besonderen Motivationskick mit auf den Weg: Wir blicken hinter die Kulissen des deutschen Sommermärchens und schlagen die Brücke zur mittelständischen Managementmethode.

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Die mittelständische Methode

1.

Die mittelständische Methode

Wir behalten von unseren Studien am Ende doch nur das, was wir auch praktisch anwenden. Johann Wolfgang von Goethe

Wenn mittelständische Unternehmer sich mit Methoden oder Strategien auseinandersetzen, geraten sie häufig in einen Konflikt. Warum sollten sie sich als „Herr der Dinge“ einer Strategie unterwerfen? Doch darum geht es nicht. Eine Strategie muss kein Korsett sein und eine Methode keine Versklavung des Denkens und Handelns. Beides kann zu einer Professionalisierung Ihres Unternehmens beitragen. Und die braucht es unserer Überzeugung nach auf den heutigen Märkten. Denn alle Beschaffungsmärkte, ob die für Personal, die für Kapital oder die für Material, werden ebenso wie die Absatzmärkte in Zukunft nur denjenigen Unternehmen ihr Vertrauen schenken, deren Professionalität ihnen Sicherheit gibt. Ein mit Methode und Strategie geführtes Unternehmen ist eine hervorragende Plattform, auf der sich ein charismatischer Unternehmer seriös „verkaufen“ kann. Unternehmer sein alleine reicht hingegen nicht mehr aus.

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Mittelständische Unternehmen und das Interesse des Unternehmers

1.1 Mittelständische Unternehmen und das Interesse des Unternehmers Unternehmer – das sind definitionsübergreifend zu 99 Prozent Mittelständler – verfügen gegenüber Konzernlenkern über einen zentralen, strukturellen Vorteil: Wollen sie Erfolg haben, dann sind sie nicht gezwungen, die Wünsche und Interessen der Kapitalmarktexperten abzufragen, mit diesen in einen Dialog einzutreten, um die Wünsche anschließend auch noch zu erfüllen. Eigentümer, Gesellschafter oder auch Aktionäre sind sie ja selber. Mittelständische Unternehmer können gegenüber Konzernkapitänen einen weiteren Vorteil für sich verbuchen: Das konzerntypische Unverhältnis zwischen simplen Anlegerinteressen auf der einen und komplexen, den Konzernerfolg mitbestimmenden öffentlichen Interessen tangiert den Mittelständler nicht. Natürlich interessieren sich auch Mittelständler für eine hohe Kapitalrendite, aber sie verfolgen dieses Interesse im Regelfall nicht um seiner selbst willen, sondern als Mittel zum Zweck. Es geht ihnen nicht um die Zahlen als solche, die Kennzahlen und Quoten, es geht ihnen darum, Mittel zu generieren, um das Geschäft am Laufen zu halten. Ob im Maschinenbau, in der Automobilzulieferindustrie, im Baugewerbe, im Handel, in der spezialisierten Logistik oder in den sonstigen Dienstleistungsgattungen: In allen klassischen Mittelstandsbranchen interessiert sich der Unternehmer primär für seine Idee, sein Produkt, sein Verfahren oder seine Dienstleistung. Über dieses Vehikel erhält er automatisch qualifizierte Anhaltspunkte dazu, wie er sein Unternehmen führen muss – vorausgesetzt natürlich, seine Idee, sein Produkt, sein Verfahren oder seine Dienstleistung sind gut und markttauglich. Zumindest im Groben kann er, ohne groß nachdenken zu müssen, aus seinen Interessen spontan ableiten, über welche materiellen, intellektuellen, personalen Ressourcen er von Haus aus verfügt. Er kann leicht ermitteln, welche er sich beschaffen muss, welche Kunden er anpeilen kann, welche Prioritäten er setzen muss und vieles andere mehr. Aus dem Aktionärsinteresse an einer sicheren und renditeträchtigen Kapitalanlage lässt sich dies in der Regel nicht ableiten. Die beiden mittelständischen Strukturvorteile haben allerdings einen hohen Preis: weil mittelständische Unternehmer stets ihre Produkt- oder Verfahrensinteressen in den Mittelpunkt stellen, fehlt es ihnen in der Mehrzahl der Fälle am notwendigen Kapital, das sich eben an anderen Interessen orientiert.

Die mittelständische Methode

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1.1.1 Kritik an Fremdkapitalgebern ist legitim, aber müßig – man muss sie ersetzen Obwohl der deutsche Mittelstand weltweit als Gütesiegel der deutschen Volkswirtschaft gehandelt wird, tritt die Kreditwirtschaft seit Jahr und Tag sehr zögerlich an den Mittelstand heran. Die Kredittranchen sind klein, der administrative Aufwand ist hoch, andere Kapitalmarktprodukte versprechen höhere Renditen bei vergleichbarem Risikoprofil. Nicht umsonst sind die Hausbanken der Mittelständler beinahe ausnahmslos Sparkassen und Genossenschaftsinstitute und nur zu einem verschwindend geringen Anteil private Bankinstitute. Darüber zu lamentieren ist müßig. Die Dinge sind, wie sie sind. Der deutsche Mittelstand muss seine Eigenkapitalquote verbessern Das Dilemma der Banken, der Grund, warum sich alle auf die viel zitierten Basel-II-Richtlinien für die Kreditvergabe einigten, liegt auch und vor allem in der Eigenkapitalversorgung der Banken selbst. Ihre Notwendigkeit, risikoreiche Kredite mit mehr Eigenkapital hinterlegen zu müssen, führte zu den „Daumenschrauben“, die sie nun ihren Kunden anlegen. Aber was tut man mit Kapitalgebern, die ihr Kapital ungern und daher nur teuer und gegen Stellung von Sicherheiten zur Verfügung stellen? Man sollte versuchen, auf sie zu verzichten. Die Möglichkeiten hierzu sind auch in Deutschland gegeben, werden aber noch viel zu wenig genutzt. Wenn es Ihnen um die Vorfinanzierung erteilter Aufträge geht, bieten sich Factoringinstitute an, sofern deren Dienstleistung und Risiko angemessen bepreist sind. Eine weitere, in Deutschland noch viel zu wenig praktizierte Variante heißt Mezzaninkapital – eigenkapitalähnliches Fremdkapital. Dieses bietet dem Unternehmer das Beste aus den Welten des Eigen- und fremden Kapitals: Verzicht auf die Stellung von Sicherheiten, weitgehender Verzicht auf unternehmerische Mitbestimmung, Nachrangigkeit gegenüber Fremdkapital, Stärkung der Eigenkapitalquote, dadurch besseres Rating und bessere Kreditkonditionen. Der Preis: ein angemessener, kontinuierlicher Kapitaldienst des Unternehmens und eine Erfolgsprämie. Entscheidend ist: Private Equity und mezzanines Kapital berühren nicht, jedenfalls nicht signifikant, Ihre unternehmerische Unabhängigkeit. Was aber tun Sie mit Fremdkapitalgebern, die schon im Boot sitzen? Mit dem Hebel der Basel-II-Richtlinien beanspruchen Fremdkapitalgeber zunehmend ungeniert weit reichende unternehmerische Mitbestimmungsrechte. Hier ist die Situation anders als bei börsennotierten Aktiengesellschaften, denen branchenspezialisierte Analysten und Fondsgesellschaften stellvertretend für die Aktionä-

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Mittelständische Unternehmen und das Interesse des Unternehmers

re auf die Finger sehen. Die Fremdkapital bereitstellenden Kreditinstitute des Mittelstandes können sich eine solche Expertise nicht leisten. Wir treffen im Mittelstand die Regelsituation einer Volks- und Raiffeisenbank oder Sparkasse als „Hausbank“ an. Diese bestimmen dann durch die Drohung eines schlechten Ratings, ob Sie investieren oder desinvestieren, Aufträge annehmen oder ablehnen, Personal einstellen oder entlassen, Lieferanten beauftragen oder kündigen sollen. Und das, in der Mehrzahl aller uns bekannten Fälle, ohne jedes Branchenwissen, ohne Expertise in Ihrem Geschäft.

1.1.2 Der gute Mittelständler steuert sich selbst – mit Methode Wenn in börsennotierten Konzernen die Eigenkapitalgeber, nämlich die Aktionäre, die legitime Steuerungsinstanz sind, dann ist das im Mittelstand nicht anders. Das Recht erwächst aus dem Eigentumsverhältnis. Sie als Anteilseigner, Inhaber und Gesellschafter kleiner und mittlerer Unternehmen haben das selbstverständliche Steuerungsmandat. Die Frage lautet: Können Sie es auch wahrnehmen? Grundsätzlich können Sie das – vorausgesetzt, die notwendige Steuerungs- oder Controllingfähigkeit ist vorhanden. Wir gehen darauf in den Folgekapiteln detaillierter ein. Hier interessiert uns das Prinzip. Wie ist es möglich, sich selbst zu steuern? Es bedarf dazu einer verlässlichen Methode. Methode ist das griechische Wort für Weg – nicht mehr, aber auch nicht weniger. Ein guter Weg ist markiert, also erkennbar, bevor man ihn geht. Ein guter Weg führt zum Ziel, ist also effektiv. Und ein guter Weg führt möglichst schnell und mühelos zum Ziel, ist also effizient. Bisher haben wir nur von unternehmerischen Interessen gesprochen. Das Delta, das wir nun auffüllen müssen, ist der „Weg“ von Ihren individuellen unternehmerischen Interessen zum Erreichen Ihrer Ziele.

1.1.3 Unternehmerbeziehungen: Warum sich mittelständische Unternehmer nicht jagen lassen Dieser Weg von Ihren Interessen zu Ihrem Ziel führt über die Interessen Ihrer Geschäftspartner, als die wir in einem weiteren Sinne des Wortes die Partner Ihrer Unternehmerinteressen verstehen: Ihre (Eigen)kapitalpartner, Ihre Mitar-

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Die mittelständische Methode

beiter, Ihre Lieferanten und last but not least, Ihre Kunden. In der angelsächsisch geprägten Begriffswelt des globalen Marktes werden diese „Geschäftspartner“ „Stakeholders“ genannt, was so viel wie Interessenspartner bedeutet. Mittelständler benötigen vor allem eines: Interessenspartner (Stakeholder) Wir haben einleitend erklärt, anhand Ihrer unternehmerischen Interessen wüssten Sie „zumindest im Groben spontan, über welche Ressourcen“ Sie von Haus aus verfügen und über welche Sie nicht verfügen. Unabhängig davon, was Sie schon haben und was Sie noch brauchen, ist eines klar: Sie brauchen Partner – ob dies nun Eigenkapitalpartner, Mitarbeiter, Lieferanten oder Kunden sind. Partner sind daher die mit Abstand wichtigste Ressource Ihres Unternehmens und verdienen einen angemessenen und angemessen durchdachten Umgang. Sie stehen zu Recht im Mittelpunkt der mittelständischen Methode.

Unternehmerinteressen

c

Kundeninteressen

d

e

b

Transmitter

f

a

Unternehmensinteresse g

j h

Mitarbeiterinteressen

i

Lieferanteninteressen

Interessensäußerungen = Kommunikation

Quelle: Rickes Consulting/Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 1: Stakeholdermodell

Interessenspartner = Stakeholders

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Mittelständische Unternehmen und das Interesse des Unternehmers

Bezeichnenderweise tun sie dies in Konzernstrukturen üblicherweise keineswegs, mögen die Bilanzberichte auch noch so vollmundig „Der Mensch steht im Mittelpunkt!“ deklamieren. Ein Fondsmanager kann sich nicht dafür interessieren, welche Interessen ein Industriearbeiter verfolgt. Umgekehrt interessiert einen Industriearbeiter herzlich wenig, welche persönlichen Interessen einen Fondsmanager bewegen. Dem Konzernführer in der Mitte geht es im Hinblick auf „seinen“ Arbeiter wie dem Fondsmanager und umgekehrt. Den Konzernmanager interessieren auch die spezifischen Interessen seiner Kunden herzlich wenig. Sie können zum Beispiel dann keine Rolle spielen, wenn der Konzern ein Massenpublikum bedient, das homogene Interessen gar nicht haben kann. Die Königsdisziplin der Konzerne und Großunternehmen ist nicht von ungefähr die kostengünstige Produktion großer Stückzahlen für eine große Nachfrage nach hoch standardisierten, qualitätsgleichen Produkten und Dienstleistungen – im Konsumgütermarkt genau so wie im Investitionsgüter- und Dienstleistungsmarkt. Ob Schokolade, Flugzeugturbinen oder Pakettransport: Mit dem Hebel ihrer Größe sind die großen Strukturen in dieser Disziplin automatisch gegenüber kleineren privilegiert – im Einkauf, im Marketing, im Vertrieb und bei der Beschaffung des notwendigen Kapitals. Die erfolgskritische Leistungsdimension neben der Stückzahl ist die Fehlerfrequenz. Fehler sind teuer und ruinieren das Image. Der Mensch als Störfaktor großer Unternehmen Im Hinblick auf dieses Konzern- und Kapitalinteresse der Fehlerminimierung sind menschliche Interessen ein Störfaktor. In Konzernen finden wir daher immer weniger Menschen und immer mehr digitale Prozesse oder „Workflows“. Null Fehler, konstante Qualität und niedrige Preise sind genau unser aller legitimer Kundenanspruch an unsere Konzerne. Müssen wir als Kunden also auch bereit sein, die Marginalisierung des menschlichen Interesses der Nichtkunden im Umfeld der Konzerne hinzunehmen, der Mitarbeiter und Lieferanten zum Beispiel? Eine schwierige Frage! Gott sei Dank verschafft der Mittelstand unserem Gewissen Erleichterung. Hier zählt der Mensch noch, da Qualität sich nicht so sehr an der Minimierung von Fehlern bemisst als danach, einen bestimmten, anspruchsvollen Kundenwunsch individuell zu erfüllen. Das beweist insbesondere der deutsche Maschinenbau mit unzähligen Weltmarktführern jeden Tag aufs Neue. Und bezeichnender Weise, aber nicht überraschend für uns, ist gerade die Maschinenbaubranche

Die mittelständische Methode

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von Mittelständlern dominiert! Und in diesem Umfeld lassen sich auch höhere Preise durchsetzen. Wenn die Interessenspartner das Mittel der Wahl zu unseren mittelständischen Zielen sind, dann stellt sich die Schlüsselfrage: Wie gehen wir mit diesen Interessen um? Charakteristisch für mittelständische Unternehmer ist, dass sie die Interessen anderer genauso behandeln, wie sie ihre eigenen Interessen behandelt wissen wollen. Mehr noch: Mittelständische Unternehmer machen bei der Form des Umgangs mit den Interessen anderer kaum einen Unterschied zwischen Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten. Natürlich: Der Kunde zahlt die Rechnung. Aber: Der Mitarbeiter und der Zulieferer produzieren und liefern die Ware oder Dienstleistung. Ohne sie gibt es keine Rechnung. Mittelständler haben ein umso präziseres, fast instinktives Verständnis dieses Zusammenhanges, je dichter sie an der Herstellung, der Vermarktung und dem Vertrieb ihrer Produkte persönlich beteiligt sind. Und je dichter sie beteiligt sind und je genauer sie Bescheid wissen, umso besser wird dann auch das Produkt. Diese Wechselwirkung zwischen Interessenspartnern in der mittelständischen Arena, dieses „Wie Du mir, so ich Dir“ im besten Sinne des Wortes, kann in anonymen Massenmärkten gar nicht stattfinden. Wie wichtig sie für uns Mittelständler ist, können wir an der Art und Weise beobachten, wie wir Mittelständler uns verhalten, wenn wir Konzernkunden sind. Der Mittelständler als Konzernkunde SAP, der gemeinsam mit Oracle weltweit führende Konzern für Standardsoftware, versucht seit geraumer Zeit, einen aus seiner Sicht bis dato vernachlässigten Akquisitionsacker zu bestellen: den deutschen Mittelstand. Einstweilen hat SAP hier jedoch, trotz sehr hoher Marketingaufwendungen, nicht viel erreichen können. Auf diesem Feld wollen die SAP-Blumen einfach nicht gedeihen. Alles andere wäre auch verwunderlich. Wir Mittelständler sind instinktiv misstrauisch, wenn wir zum Objekt einer Konzernstrategie werden. Die Erwartung, Standardkunde eines Standardsoftwareanbieters zu werden und teures Lehrgeld in mühsame und langwierige Anpassungsprozesse investieren zu müssen, um am Ende trotzdem die eigenen individuellen Geschäftsprozesse an die Standardsoftware anpassen zu müssen anstatt umgekehrt, schreckt jeden waschechten Mittelständler ab. Kleine und mittlere Unternehmen sind auf die individuelle Befriedigung komplexer Anforderungsprofile ihrer Kunden geeicht und erwarten diese auch als Kunden. Sie wollen und liefern keinen Standard, auch keinen angepassten.

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Mittelständische Unternehmen und das Interesse des Unternehmers

1.1.4 Das Interessensmanagement selbstbestimmter Unternehmer Die Schnellstraße zwischen dem Produkt- und/oder Verfahrensinteresse mittelständischer Unternehmer und ihren Zielen führt also über die Brücke des Interessensmanagements der Geschäfts-, oder besser, der Interessenspartner. Gepflastert ist diese Brücke mit Fairness, dem offenen und ehrlichen Umgang, den wir Mittelständler auch von anderen erwarten. Da dies ein wenig unpräzise ist, da „offen und ehrlich“ interpretationsbedürftige Worte sind, haben wir uns dieses Vorgehen wieder und wieder im Detail angesehen und daraus eben die mittelständische Methode abgeleitet. Zunächst stellt sich aber die Frage: Wer eigentlich ist Partner meines mittelständischen Interesses an einem großartigen Produkt, einem innovativen Verfahren oder einer einzigartigen Dienstleistung? Wer ist Partner? Wir sagten bereits, Interessenspartner seien die Kapitalpartner, die Mitarbeiter, die Lieferanten und die Kunden. Aber warum gerade die? Oder besser, da sich diese Frage eigentlich von selbst beantwortet: Warum nur die? Warum nicht die Unternehmensstandorte, Bürgermeister, Wirtschaftsförderer, warum nicht politische Parteien, Landtagsfraktionen oder Stadträte, warum nicht bestimmte Lobbyisten, warum nicht die Hochschulen und Forschungsstätten, die Kirchen …? Wir wollen diese zuletzt genannten Stakeholders keineswegs kategorisch ausschließen, auch sie sind Partner. Aber wir ordnen sie lieber, je nach individueller Unternehmenssituation, einer dieser vier Interessensgruppen – im Normalfall den Lieferanten – zu. Entscheidend ist immer die unternehmerische Frage nach der Funktion der Zielgruppe: Wen brauche ich, wer ist unverzichtbar, um meine Ziele zu realisieren? 1. Natürlich sind als erstes Sie selbst als Unternehmer notwendig – mit eigenem Kapital und/oder mit fremdem. Fremdkapitalgeber sind Lieferanten. Mezzanine Eigenkapitalgeber sind es auch. Co-Gesellschafter und aktive Mitinhaber sind natürlich Unternehmer wie Sie selbst auch. 2. Hierzu sind zweitens fast immer Mitarbeiter notwendig, da der Unternehmer ab einer bestimmten Umsatzgröße alleine keine hinreichend große Auftragszahl realisieren, geschweige denn zusätzliche Aufträge akquirieren kann. In der Ich-AG ist der Unternehmer sein eigener Mitarbeiter mit einem gegenüber seiner Unternehmerrolle durchaus anderen Interessensprofil.

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3. Drittens ist der Mittelständler auf die Zulieferung durch Dritte angewiesen. Hier kann man unterscheiden zwischen strategisch wichtigen, das Produkt stark und das Produkt kaum beeinflussenden Lieferleistungen. Lieferanten in diesem Sinne sollten aber nicht marginalisiert werden; das kann sich rächen. Unter die Kategorie der Lieferanten fassen wir auch Zielgruppen, die klassischerweise nicht als Lieferanten gehandelt werden, deren Funktion aber nichtsdestotrotz eine materielle oder immaterielle und vor allem unverzichtbare Zulieferung für die Produktion (bestimmter) Waren und Dienstleistungen darstellt. Kapitalgeber zählen potenziell dazu. Die oben genannten Gruppen vom Hochschullehrstuhl bis zum Kirchenvorstand gehören ebenfalls zu ihr. 4. Schließlich benötigen Sie und benötigt vor allem Ihr Produkt Kunden. Es ist wichtig, sich das klar zu machen: Ohne Kunden kann es kein Produkt und keine Dienstleistung geben. Der Kunde steht nicht (nur) am Ende einer Produktions- und Lieferkette, sondern genauso an deren Anfang und in deren Mitte – wie alle übrigen Interessenspartner übrigens auch. Der Kunde ist nicht König und der Lieferant und der Mitarbeiter sind keine Bettler. Für den erfolgreichen Mittelständler sind sie alle Partner.

1.1.5 Fazit Der lateinische Ursprung des Wortes Interesse – inter esse – steht für das Dazwischen-Sein, Dabei-Sein, die Anteilnahme. In diesem Sinne wollen wir „Interesse“ in diesem Buch verstehen. Es ist ein mittelständisch verstandenes Interesse, weil der Mittelständler im wahrsten Sinne des Wortes zwischen seinen Mitarbeitern steht, für seine Lieferanten einsteht und am Wohl seiner Kunden Anteil nimmt. Spannend und für den unternehmerischen Erfolg wichtig ist die Qualität dieser Interessen deshalb, weil es einem Mittelständler nicht nur darum gehen kann, seine eigenen Interessensgegenstände zu erreichen, sondern auch darum, die Interessen seiner Interessenspartner zu befriedigen. Unsere Erfahrung als Berater und Unternehmer lehrt uns beispielsweise, dass etwas vollkommen anderes entsteht, wenn die Mitarbeiter eines Unternehmens – im Einvernehmen mit den Gesellschaftern – eine Unternehmensstrategie entwickeln und umsetzen, als wenn die Geschäftsleitung eine solche dekretiert und controlled – auch wenn die so entwickelten Strategien sich am Ende inhaltlich um ein Haar gleichen. Sie können sicher sein, dass die von den Mitarbeitern (mit)entwickelte Strategie eine unendlich viel größere Erfolgsaussicht hat, weil die Mitarbeiter eben ihre eigenen Interessen fixiert haben und diese umzusetzen trachten.

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Die fünf Schritte der mittelständischen Methode

Fassen wir hier also als Fazit zusammen: 1. Gute mittelständische Unternehmer sind deshalb erfolgreich, weil sie im Zentrum der Interessen ihrer persönlichen Interessenspartner stehen, weil sie diese Interessen kennen und berücksichtigen. 2. Wirtschaftlicher Erfolg ist nur möglich, wenn man die richtigen Partner hat und auf dem Weg zu seinem eigenen Ziel die Interessen dieser Partner befriedigt: die der Mitarbeiter, der Zulieferer und die der Kunden. 3. Mittelständisch verstandene Interessen definieren sich nicht allein dadurch, wer diese hat und wem oder was sie gelten. Sie definieren sich auch dadurch, wie sie ausdrückt werden. Für den Interessenserfolg ist maßgeblich, wie das Interesse angegangen wird – maßgeblicher als die Frage, um welches Interesse bzw. welchen Interessensgegenstand es dabei geht.

1.2 Die fünf Schritte der mittelständischen Methode Im Laufe vieler Jahre und mit der Erfahrung aus ebenso vielen Veränderungs-, Krisen- und Erfolgsprojekten hat sich aus unserer Beobachtung mittelständischen Handelns nach und nach die mittelständische Methode herausgeschält. Sie ist Extrakt aus selbst durchgeführten und analysierten Erfolgs- und auch Misserfolgsgeschichten. Die mittelständische Methode steht für ein Führungsund Strategiekonzept, dessen Fundament eine simple Erkenntnis bildet.

Das Fundament der mittelständischen Managementmethode Nicht technische Innovationen, herausragende finanzielle Möglichkeiten oder die „Gunst einer Stunde“ machen den Erfolg einer Unternehmung aus. Vielmehr ist es die Konzentration und Bündelung bestimmter Kräfte, die Menschen fast immer mitbringen. Es sind die Interessen der Menschen, mit denen Unternehmer zu tun haben, um ihre eigenen Interessen zu verwirklichen. Der „Highway“ zu Ihren Zielen ist mit den Interessen Ihrer Partner gepflastert. Sie alle, die Mitarbeiterinteressen, die Kundeninteressen und die Lieferanteninteressen, sind gleich wichtig, denn Sie können auf niemanden verzichten.

Die mittelständische Methode

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Der Weg zu Ihrem Ziel gliedert sich in fünf Streckenabschnitte (vgl. Abb. 2), die von Meilensteinen gesäumt sind: 1. das Aufspüren der eigenen Interessen und das Ihrer Mitarbeiter, Zulieferer und Kunden. Meilenstein ist hier ein schriftlich vorliegendes Papier mit allen relevanten Interessenspartnern und ihren Interessen sowie einer Charakterisierung dieser Interessen (Stakeholderanalyse). 2. das Bündeln dieser Interessen zu gemeinsamen Zielen. Hier ist der Meilenstein eine konkrete, schriftliche Definition Ihrer eigenen Ziele und der Ihrer Partner. 3. das gemeinsame Ableiten eines Plans, wie die Ziele erreicht werden sollen (Business Plan). Dies ist natürlich auch der Meilenstein dieser Phase. 4. das eigentliche Verfolgen des Plans. Der Meilenstein ist hier das erreichte Ziel. Gute Pläne (3.) sind ihrerseits von Meilensteinen gesäumt, die helfen sicher zu stellen, dass man sich in der Praxis nicht zu weit von dem geplanten Weg verabschiedet und die Orientierung behält. 5. das Lernen, nachdem das Ziel – wie auch immer – erreicht wurde. Ihr Meilenstein ist hier der Start zu Ihrer nächsten Spiralkurve zum nächsten Ziel. Wichtig: Ein solcher Meilensteinplan funktioniert nur, wenn Sie das, was dazwischen liegt, als Soll-Vorgaben ernst nehmen. Daraus folgt, dass Sie diese Meilensteine als Sollbruchstellen verstehen und nicht den zweiten Schritt gehen, bevor der erste zu Ende gebracht wurde. Wir nennen das etwas sperrig „Prozessdisziplin“. Die Versuchung, es mit dieser Disziplin nicht allzu ernst zu nehmen, ist groß. Wozu sich die Mühe machen, dieses oder jenes auch noch in schriftlicher Form zu fixieren? Ich habe doch alles im Kopf. Ja das mag stimmen, aber täuschen Sie sich bitte nicht: Es kommt nicht nur auf Sie an, sondern ebenso auf Ihre Mitarbeiter, Zulieferer und Kunden. Verabredungen – und jeder Meilenstein ist auch eine Verabredung – trifft man schriftlich oder man lässt sie sein. Die Gefahr, dass anderenfalls jeder sich erinnert, etwas ganz anderes gesagt oder gemeint zu haben, ist einfach zu groß.

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Die fünf Schritte der mittelständischen Methode

I

II

Interessen

Ziel

III Weg ableiten

aufspüren

definieren

IV Weg

verfolgen

V

Route

optimieren

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading/Rickes Consulting Abbildung 2: Der mittelständische „Erfolgsprozess“

1.2.1 Interessen aufspüren Im ersten Schritt geht es darum, sich Klarheit über die Interessenlage aller Interessensgruppen zu verschaffen, mit denen Sie und Ihre Produkte, Dienstleistungen und Verfahren zu tun haben: Mitarbeiter, Kunden, Lieferanten. Sie erreichen das, indem Sie diese genau und unvoreingenommen erfassen, ohne Ihre eigenen Absichten auf diese zu projizieren. Auch das erfordert Disziplin. Die Versuchung ist groß, die Absichten des Partners als Ihre eigenen umzuinterpretieren. Die mittelständische Tugend, die Ihnen dabei hilft, ist das ehrliche Interesse an Ihrem Gegenüber, das zunächst einmal nicht zweckgerichtet ist. Sie benötigen hierzu auch methodisches Rüstzeug, Frage- und Interviewtechniken, die Sie einsetzen müssen, um diese Interessen tatsächlich herauszubekommen. So ist es ungeschickt, Ihren Partner in dieser Phase mit geschlossenen Fragen zu traktieren, die nur ein „ja“ oder „nein“ zu Ihren Fragen zulassen. Geschlossene Fragen haben in dieser Phase immer einen suggestiven Charakter, der dem Partner keine Chance lässt, seine Interessenlage authentisch zu schildern.

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Die mittelständische Methode

Funktion Herausbekommen, was mich, meine Mitarbeiter, meine Kunden und Lieferanten wirklich bewegt

Unternehmerische Schlüsseltugenden

Interessen

Das Dastatsächliche tatsächliche Interesse Interessealler aller Beteiligten Beteiligtensteht stehtim im Mittelpunkt. Mittelpunkt.

Methoden Fragetechniken: „Keine geschlossenen Fragen!“

Ideenreichtum Ehrliches Interesse an den Wünschen der Zielgruppen

Das DasBesondere Besondereder der Methode: Methode:

aufspüren

Hilfsmittel Fragebögen Aufzeichnungsgeräte Stakeholder-Charts

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading/Rickes Consulting Abbildung 3: Interessen aufspüren – der erste Prozessschritt

1.2.2 Ziel definieren Die so ermittelten Interessen Ihrer Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten werden mit Ihren eigenen persönlichen Unternehmerzielen abgeglichen und möglichst einvernehmlich zu gemeinsamen Unternehmenszielen gebündelt. Wenn sich Partnerinteressen nicht zu einvernehmlich gefundenen Zielen bündeln lassen, dann heißt es Abschied nehmen – normalerweise allerdings nicht von Ihren persönlichen Zielen, sondern von einem vermeintlichen Partner. Damit wird der Partner nicht abgewertet. Er passt einfach nicht zu Ihren Zielen. Wir geben im fünften Kapitel anhand des Umgangs mit Lieferanten ein Beispiel, wie dies in der Praxis aussieht. Dieses Transformieren von Interessen in Ziele ist eine schwierige Gratwanderung. Schnell laufen Sie Gefahr, auch an dieser Stelle Ihren Interessenspartnern Ziele „unterzujubeln“, indem Sie falsch interpretieren, missverstehen. Sie kennen ja nur die Interessen Ihrer Zielgruppen und Partner, nicht deren Ziele!

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Die fünf Schritte der mittelständischen Methode

Zunächst geht es dabei darum, die Interessen – seien es nun Ihre eigenen oder die Ihrer Partner – auf ihre Verwertungstauglichkeit hin zu prüfen. Als nächstes gilt es sehr genau zu prüfen, was die Interessen Ihrer Partner mit Ihren Unternehmerzielen zu tun haben: Sind sie förderlich, hinderlich, indifferent? Als drittes müssen Sie zusehen, dass Sie die vorläufigen Ziele Ihrer Partner mit den eigenen Unternehmerzielen so gut es geht in Deckung bringen. Ziele müssen bestimmte Kriterien erfüllen, um überhaupt als Ziele fungieren zu können. Ziele sind immer: „ Hoch: Es ist leicht verständlich, dass ein Ziel nur dann zur Erreichung ani-

miert, wenn es nicht selbstverständlich erreichbar ist. Wie oft schon hat man Olli Kahn sagen hören, dass es schwer ist, sich nach einem ChampionsLeague-Spiel für Hannover `96 zu motivieren. „ Realistisch: Ebenso schwierig ist es, sich für ein Ziel zu begeistern, das

überfordert. Was soll es für einen Sinn machen, einen Marathon gleich beim ersten Mal unter drei Stunden laufen zu wollen? Es ist ein Trugschluss zu glauben, ein exorbitant hohes Ziel würde noch mehr Kräfte frei setzen. Das Gegenteil ist der Fall, es überfordert und bereitet die „Kapitulation“ vor. „ Konkret: Diffus formulierte Beschreibungen wie: „…so viel wie möglich,

so schnell wie möglich, am besten, am meisten…“ taugen zur Zielvereinbarung ebenfalls nicht. Daraus lässt sich kein Plan ableiten. Wie viel ist „so viel wie möglich“? Formulieren Sie Ihr Ziel immer so, dass Sie nachher einen Plan darauf ausrichten können! „ Messbar: Im normalen Sprachgebrauch muss nicht jedes konkrete Ziel

messbar sein. Ein gutes Ziel muss eine Beurteilung des Grads der Zielerreichung zulassen. Messbarkeit bedeutet in aller Regel Quantifizierbarkeit. Wenn Sie sich qualitative Ziele gesetzt haben, müssen für diese angestrebten Qualitäten quantifizierbare Indikatoren gefunden werden: Fehlerfrequenzen, abfragbare Kundenzufriedenheits- und Zustimmungsgrade, die Zahl der Mitarbeitervorschläge im betrieblichen Vorschlagswesen als Maß für die Mitarbeiteridentifizierung mit Ihrem Unternehmen usf. Beliebte Zielgrößen sind Umsatz zu Planungszeitraum oder Planungsperiode den wie: Jahr, Halbjahr, Quartal, Monat. Hier ist Vorsicht geboten, da innerhalb einer Periode Verzerrungen auftreten können, wenn Umsätze etwa ein Jahr brauchen, bis sie realisiert werden. Daher benötigen Sie die schon angesprochenen Meilensteine, vorgelagerte Zielgrößen, die mit dem eigentlichen Ziel kongruent sind, aber rechtzeitig, ehe ein Kind in den Brunnen fällt, gemessen werden können: Im Vertrieb sind solche Meilensteine die Zahl (qualifiziert) geführter Kundengespräche oder die Zahl der erstellten (qualifizierten) Angebo-

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Die mittelständische Methode

te. Auch hierfür gilt das oben zu den Meilensteinen Gesagte: Man muss in jeder Phase wissen, was zu tun ist. Es genügt nicht, auf der Wegstrecke nur die Meilensteine im Blick zu haben, ohne zu wissen, welcher Lauftechnik man sich bedienen muss. Es ist z.B. fruchtlos zu sagen: „Ich muss heute fünf Angebote schreiben, um morgen mit statistisch hinreichend hoher Sicherheit einen Kunden zu bekommen“, solange man nicht außerdem klipp und klar definiert hat, was ein qualifiziertes Angebot und was ein Kunde ist. Gerade im Vertrieb sind uns im Laufe der Zeit etliche Fälle virtuoser „Angebotserschleichung“ begegnet. Für die hohe Angebotszahl und -frequenz wurden diese Virtuosen solange von ihren Chefs über den grünen Klee gelobt, bis diese feststellten, dass gerade diese Angebote nie zu Kunden führten. Warum? Weil sie zu früh, ohne vorherige Bedarfsanalyse und daher vollkommen blind erstellt wurden. Die hier zum Einsatz kommenden mittelständische Schlüsseltugenden heißen: Fairness, Entscheidungsstärke, Pragmatismus und Urteilskraft.

Funktion Interessen bündeln Gemeinsames Commitment erzielen; Richtung festlegen

Unternehmerische Schlüsseltugenden Fairness, Entscheidungsstärke, Pragmatismus, Analytische Fähigkeit und Urteilskraft

Das DasBesondere Besondereder der Methode: Methode: Wirksame WirksameZiele Zielewerden werden nicht nichtvorgeschrieben, vorgeschrieben, sondern sonderngemeinsam gemeinsam entwickelt. entwickelt.

Methoden

Ziel

definieren

Fragetechniken, Moderationstechnik, Analysetechnik, Entscheidungstechnik, Quantifizierung von Qualitätszielen

Hilfsmittel Metaplanwände, Stakeholder-Charts, Priorisierungs-Charts, u.v.a.

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading/Rickes Consulting Abbildung 4: Ziel definieren – der zweite Prozessschritt

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Die fünf Schritte der mittelständischen Methode

Was die Methoden anlangt, gibt es unzählige Ratgeber-Bücher über professionelle Gesprächsführung, Moderations- und Entscheidungstechniken. Für Sie ist in jedem Fall wichtig zu verstehen, dass Ihnen die Beherrschung einer bestimmten Technik nur hilft, wenn Sie auch wissen, wann Sie diese einsetzen sollten und wann nicht. Wer beispielsweise geschlossene oder Suggestivfragen beherrscht, sollte sie deswegen nicht in der ersten Phase der Interessensfindung einsetzen. Auch in dieser zweiten Phase haben diese Fragen frühestens dann einen legitimen Platz, wenn es gilt, eine bereits erreichte Verständigung über das gemeinsame Ziel im Sinne eines „gemeinsamen Kampfschreis“ in ein alle verpflichtendes Commitment zu wandeln.

1.2.3 Weg ableiten Sie verfügen schon über eine präzise Kenntnis Ihrer eigenen Interessen und der Ihrer wesentlichen Interessenspartner. Sie haben gemeinsame Ziele formuliert und Meilensteine festgelegt. Da Sie Ihre Partner schon definiert haben, wissen Sie, welche Ressourcen Sie einsetzen müssen, über welche Sie bereits verfügen und welche Sie noch organisieren müssen. Sie kennen die Stärken und Schwächen Ihrer Partner – die moralischen und intellektuellen, aber vor allem diejenigen, die dem gemeinsamen Ziel förderlich sind, und diejenigen, die ihm im Weg stehen. Aus all dem leiten Sie nun Ihren gemeinsamen Plan, den Geschäftsplan oder „Businessplan“ ab. Das tun Sie gemeinsam, weil nur so sichergestellt ist, dass Ihre Partner später auch auf dem Weg bleiben. Ihr Plan fixiert die Etappen und Meilensteine auf der Zeitachse. Entscheidend ist, dass die Partner die Meilensteine als Meilensteine zu dem gemeinsamen Ziel wahrnehmen, also als ihre eigenen und Ihre eigenen. Das alles ist zwar einfach, aber deswegen nicht leicht, sondern im Gegenteil ziemlich mühsam. Es klingt nicht nur nach viel Arbeit, das ist es auch. Es ist aber lediglich ein erhöhter Erstaufwand. Schon beim zweiten Mal, der zweiten Spirale haben Sie eine Schablone, auf der die weiteren Planungszeiträume abgebildet werden können. Vor allem haben Sie Präzision und Sicherheit gewonnen, die Ihre Mitarbeiter, Lieferanten und Kunden zu schätzen wissen werden.

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Die mittelständische Methode

Funktion Erkennbaren ökonomischen Weg angesichts des gegebenen Zieles sowie gegebener Ressourcen markieren

Unternehmerische Schlüsseltugenden

Das DasBesondere Besondereder der Methode: Methode: Das DasVorgehen Vorgehenwird wirdnicht nicht analytisch analytischabgeleitet, abgeleitet, sondern wiederum sondern wiederum gemeinsam gemeinsamerarbeitet. erarbeitet.

Methoden

Weg

Fairness, Entscheidungsstärke, Pragmatismus, Analyse- und Urteilskraft

ableiten

Wie bei Ziel definieren; zusätzlich: Definition von Zeit-Maßnahmenplänen und Sollbruchstellen

Hilfsmittel Wie bei Ziel definieren; zusätzlich: Stärken-Schwächen-Profile, Interessens-Profile, Projektmanagement-Software u.v.a.

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading/Rickes Consulting Abbildung 5: Weg ableiten – der dritte Prozessschritt

1.2.4 Weg verfolgen Den geplanten Weg gehen Sie konsequent, indem Sie sich selbst und Ihre Interessenspartner bei dieser Zielverfolgung immer wieder an die gemeinsamen Interessen und Ziele erinnern. Diese zu Beginn ermittelten Interessen und Beweggründe sind die gemeinsame Plattform, auf die Sie immer wieder zurückkehren können. Sie sind das Bekenntnis, auf das Sie Ihre Mitarbeiter einschwören können. Sie können niemals sicher genug sein, nach wie vor alle Interessen im Boot zu haben. Konzentrieren Sie sich darauf, den gemeinsam beschlossenen Weg auch tatsächlich zu beschreiten, ohne schlapp zu machen. Und achten Sie darauf, dass Sie rechtzeitig erkennen, wann ein gemeinsam beschlossener Weg aufgrund neuer Rahmenbedingungen oder einer falschen Entscheidung zu einem Holzweg wird.

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Die fünf Schritte der mittelständischen Methode

Achten Sie darauf, Ihre Marschroute nicht allein danach zu beurteilen, ob ein Meilenstein fristgerecht erreicht wurde! Das kann Zufall sein. Messen Sie unbedingt die Qualität Ihres Tuns. Die ist nie Zufall!

Als methodisches Rüstzeug benötigen Sie: Controllinginstrumente und Methoden für die Mitarbeiter-, Lieferanten- und Kundenführung. Denn Menschen stetig an ihre Ziele und Motive zu erinnern und dadurch auf Kurs zu halten, sie zu ermutigen und in die Lage zu versetzen, diese auch zu erreichen, das ist Menschenführung.

Funktion Ziele vom Konferenztisch in die Wirklichkeit überführen

Das DasBesondere Besondereder der Methode: Methode: Erfolg Erfolgwird wirdnicht nichtam amoft oft genug genugzufälligen zufälligen Ergebnis gemessen, Ergebnis gemessen, sondern sondernan ander derQualität Qualität der derArbeit. Arbeit.

Unternehmerische Schlüsseltugenden Ehrgeiz, Disziplin, die Fähigkeit, aufzubauen und anzufeuern; die Fertigkeit, Kurs zu halten bzw. umzusteuern.

Methoden

Weg verfolgen

Führungstechniken, Controllingtechniken, Mitarbeiterqualifizierung

Hilfsmittel Regelmäßige Teamsitzungen; Werkzeuge zur Leistungsmessung der Mitarbeiter und Lieferanten; Controlling-Sheets, anhand derer sie den zurückgelegten Weg mit dem Meilensteinplan vergleichen können

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading/Rickes Consulting Abbildung 6: Weg verfolgen – der vierte Prozessschritt

Was nutzt es Ihnen, wenn Sie die fixierten Interessen, die Ziele und den Maßnahmenplan schwarz auf weiß vor sich haben, Ihre Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten dennoch einfach nicht das tun oder erreichen, was vereinbart war? Was tun, wenn ein Lieferant einfach seine Lieferzusagen nicht einhält? Was tun,

Die mittelständische Methode

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wenn der Vertrieb an Kontakte Angebote schreibt, deren Bedarfe er nicht kennt? Was tun, wenn Ihr Kunde, nachdem Sie selbst sorgsam seine Preisbereitschaft erhoben und ein passendes Angebot gelegt haben, meint, auf einmal von vorne verhandeln zu müssen? Dann müssen Sie führen! Führen Sie, indem Sie auf die gemeinsamen Interessen und das gemeinsame Commitment verweisen und den wechselseitigen Nutzen ins rechte Licht stellen!

1.2.5 Lernen und Route optimieren Für Sie als Unternehmer ist es nicht entscheidend, von fehlerfreien oder beinahe fehlerfreien Menschen umgeben zu sein. Es ist viel wichtiger, unter Ihren Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten von Menschen umgeben zu sein, die ehrlich zu Ihnen sind, die an Ihre und ihre gemeinsamen Ziele glauben und sich dafür ein Bein ausreißen und die für Ihre Interessen da sind, anstatt ihnen mehr oder minder indifferent gegenüberzustehen. Sie sollten eine großzügige Fehlertoleranz aber nicht mit Fehlerindifferenz verwechseln. Der Respekt gegenüber Ihren Interessenspartnern verlangt, dass Sie Ihre eigenen und deren Fehler erkennen, Wege zur Fehlervermeidung vorschlagen, diskutieren und verabreden. Fehler lassen sich nur identifizieren, wenn alles, was im Verlaufe der Geschäftsprozesse getan wurde, schriftlich aufgezeichnet wurde – furchtlos und ehrlich. Der Verzicht auf die Protokollierung von Erfolgen und Fehlern ist wahrscheinlich der größte Fehler. Unsere Empfehlung: Minimieren Sie Ihren Aufwand und den Ihrer Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten. Verzichten Sie auf eine Perfektion, die mehr Aufwand als Nutzen bringt. Denn daran hat keiner Ihrer Partner Interesse. Anstatt perfekte Controlling-Sheets zu erhalten, bekommen Sie invalide, falsche, getürkte Daten. Es reicht aus, die grobe Richtung Ihres Handelns und Ihrer Partner erfassen zu können. Die sollte aber zuverlässig und verlässlich identifizierbar sein. Neben Ihrem Handeln und dem Handeln Ihrer Mitarbeiter, Zulieferer und Kunden müssen Sie auch die Ergebnisse dieses Handelns aufzeichnen. Wenn ein Abschlussgespräch mit einem Kunden nicht zum Auftrag führte, müssen Sie und Ihre Mitarbeiter oder Lieferanten den potenziellen Kunden nach einer angemessenen Zeit befragen, woran es gelegen hat. Befragen Sie Ihre Partner aber nicht nur im Misserfolgsfall, sondern auch im Erfolgsfall. Wer weiß, vielleicht war der Erfolg ein glücklicher Zufall und somit gar nicht der gemeinsam erarbeiteten Strategie geschuldet. Das wollen Sie doch wissen! Und so, wie Sie die Kunden oder Beinahe-Kunden befragen, können Sie natürlich auch periodisch und außerdem zu bestimmten, erfolgskritischen Anlässen Ihre Mitarbeiter oder Lieferanten befragen.

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Die fünf Schritte der mittelständischen Methode

Funktion Fehler erkennen und beheben, Verbesserungspotenzial heben, neue Chancen verwirklichen

Unternehmerische Schlüsseltugenden Ehrlichkeit, Mut, Analyse- und Urteilskraft

Das DasBesondere Besondereder der Methode: Methode: Erkannte ErkannteFehler Fehlerwerden werden als alsChance Chancewahrgewahrgenommen und nicht nommen und nichtals als Katastrophe Katastropheverdammt. verdammt.

Methoden

Route optimieren

Dokumentationstechniken, Fragetechniken, Analysetechniken

Hilfsmittel Fragebögen, Aufzeichnungsgeräte, Ergebnisbesprechungen

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading/Rickes Consulting Abbildung 7: Lernen und Route optimieren – der fünfte und letzte Prozessschritt

Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

2.

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Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

Fortuna zeigt ihre Gewalt dort, wo keine Kräfte zur Gegenwehr gerüstet stehen, und die Wogen des Schicksals wälzen sich dorthin, wo sie sicher sind, keine Dämme und Deiche zu finden. Niccolò Machiavelli, Il Principe, 25. Kapitel1

Als ein wesentlicher Grund für den Erfolg mittelständischer Unternehmer wird immer wieder ihre „Nähe“ zu den eigenen Produkten und Dienstleistungen angeführt. Eine risikobereite Konzentration auf wenige spezialisierte Produkte, eine große Fertigungstiefe im Verbund mit einer geringen Auslagerungsbereitschaft seien Indikatoren dieser Produktnähe. Die Benefits: Marktführerschaft in der Nische und ein hohes Maß an Abhängigkeit des Kunden von dem eigenen einzigartigen Angebot. Doch wie kommt es zu dieser Produktnähe? Führt sie zwangsläufig zu Erfolg? Beschreiben die genannten Indikatoren diese Nähe zureichend? In diesem Kapitel beschreiben wir die Nähe des größten unabhängigen deutschen Pflegeheimbetreibers, Burchard Führer, zu seinen Produkten und leiten Erfolgsbedingungen für Ihr Produktmanagement ab.

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Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

Firmenname

Burchard Führer Unternehmensgruppe/HS Heimservice GmbH

Branche

Bau und Betrieb von Senioren- und Behinderteneinrichtungen

Gründungsjahr

1991

Mitarbeiter (2006)

~ 1.800

Umsatz (2006)

65 Mio. EUR

Zahl betriebener Einrichtungen/ der Heimbewohner (2006)

25/ ~ 2.380

Besondere Herausforderung

Transformation vom Gartenbauer zum Pflegeanbieter

Quelle: HS Heimservice GmbH Abbildung 8:

Burchard Führer, größter unabhängiger deutscher Betreiber von Seniorenpflegeeinrichtungen

Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

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2.1 Der Unternehmer und sein Unternehmen Gutes Unternehmertum ist eigentlich ganz einfach. Im Mittelpunkt stehen Ihr Produkt und das Interesse an ihm, das Sie mit Ihren Kunden, Mitarbeitern und Lieferanten teilen. Ihre Bereitschaft, Interessen zu identifizieren und zu teilen, ist keine Frage komplexer Strategien, sondern eine der unternehmerischen Einstellung. Als guter Unternehmer brauchen Sie beides: den Willen zum eigenen Produkt und die Bereitschaft, andere an der Entwicklung dieses Produktes teilhaben zu lassen. Dieser Spagat geht selten gut. Daher gibt es so wenige gute Unternehmer. Dieses Kapitel beschreibt zunächst den Unternehmer Burchard Führer (2.1.1) und sein Unternehmen (2.1.2), die Burchard Führer Unternehmensgruppe, wobei wir dem Markt, in dem sich das Unternehmen bewegt, unsere besondere Aufmerksamkeit widmen. Anschließend beschreiben wir anhand konventioneller Gesichtspunkte das Produktmanagement des Unternehmens (2.1.3). In den Folgeabschnitten wollen wir Ihnen zeigen, was Sie aus dem beschriebenen Produktmanagement der Führer Unternehmensgruppe für Ihres mitnehmen können. Wir zeigen, wie Burchard Führer den Weg zu seinem Markt (2.2) fand, wie er aus seinen Interessen, seinen Fähigkeiten und Möglichkeiten Ziele ableitete (2.3), daraus den Weg für sein Produktmanagement plante (2.4.), wie er diesen Weg zusammen mit seinen Mitarbeitern, Lieferanten und Kunden heute abschreitet (2.5) und wie seine Kollegen und er selbst sicherstellen, dass sie dabei nicht aufhören, besser zu werden (2.6). Die Abschnitte 2.2 bis 2.6 folgen unserer Führungsmethode des Interessensmanagements, die immer mit dem Aufspüren von Interessen beginnt, von dort über die Identifikation der zur Verfügung stehenden Ressourcen zu einer verbindlichen Zielformulierung schreitet, anschließend einen Weg zu den Zielen formuliert und diesen schließlich beschreitet, ehe am Ende der Wegstrecke geschaut wird, was man künftig besser machen kann. Das Aufspüren der Kunden-, Mitarbeiter- und Lieferanteninteressen ist stets der erste Schritt zum Erfolg. Mit einer Ausnahme: Im mittelständischen Produktmanagement geht es zunächst einmal darum, dass der Unternehmer seine eigenen Interessen wahrnimmt und festhält. Ja, der erfolgreiche Unternehmer darf nicht nur extrovertiert sein, er muss sich auch in Introspektion üben. Erst wenn Sie wissen, was Sie als Unternehmer wirklich antreibt, können Sie im nächsten Schritt schauen, ob Sie dieses starke Interesse mit potenziellen Kunden in Deckung bringen können. Dann haben Sie eine Produktidee. Das Identifizieren der Mitarbeiter- und Lieferanteninteressen ist dann der Weg, um aus Ihrer Idee ein Produkt zu machen.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

2.1.1 Burchard Führer Burchard Führer ist Unternehmer durch und durch. Er ist sozusagen das Klischee eines Unternehmers. Tatenlosigkeit ist ihm ein Graus. Am liebsten beschäftigt er sich gleichzeitig mit fünf verschiedenen Vorgängen. Multitasking par excellence: Gerade erteilt er seiner Steuerberaterin einige Spartipps, eine Sekunde darauf erläutert er seinem Gesprächspartner, weshalb der Markt der vollstationären Seniorenpflege, trotz zunehmend schwieriger werdender Bedingungen und politischer Hindernisse, nach wie vor eine große Zukunft vor sich habe. Dem anrufenden Sohn und Studenten der Betriebswirtschaft wird, quasi parallel, bedeutet, es sei nicht in Ordnung, die Interviewergebnisse der von ihm durchgeführten universitären Studie für sich zu behalten. Dann ist ein führender Mitarbeiter, „mein Standortkommandeur“, dran, der ebenfalls in der Telefonschleife wartet – der Chef ist für jeden da und lässt sich aus Prinzip nicht verleugnen. Er möge sich als Teilnehmer der Abendveranstaltung in der kommenden Woche doch bitte an die Kollegin x wenden. „Die Telefonnummer? Ja, wähl’ die 319 oder die 473. Und frag doch auch Constanze, ob sie Lust hat mitzukommen. Bei mir leider keine Chance.“ Wenige Minuten später prescht Führer zu einem seiner 25 Standorte. Im Auto? Nein, im Firmenflieger. Führer ist Pilot. „Morgen wird der Neujahrsempfang gegeben. Jedes Jahr ist ein anderer Standort dran.“ Bei aller Hektik lässt es sich Führer aber nicht nehmen, seinem Gesprächspartner vor seinem Start einen Firmenkalender zu überreichen und jeden der dort abgebildeten zwölf Standorte einzeln vorzustellen. Beim Anblick der kunstvoll restaurierten Häuser, in denen die meisten seiner Pflegeheime untergebracht sind, leuchten seine Augen. „Warum“, fragt Führer, „macht man manche Geschäfte und andere nicht? Manche Geschäfte macht man nur, weil sie Spaß machen!“ Das ist die andere Seite des Burchard Führer. Rastlose Aktivität? Vielleicht. Aber keine plan-, grund- oder prinzipienlose. Susanne Führer, politisch aktive Mittelständlerin und Ehefrau seit 25 Jahren, beschreibt ihren Mann so: „Burchard ist ein sehr neugieriger Mensch. Was er gar nicht leiden kann, ist eine bequeme Grundhaltung. Er könnte sich viel mehr Bequemlichkeit leisten, er tut es nicht, lässt sich nicht fallen, weder geistig noch körperlich noch sonst wie. Er ist immer aktiv. Jeder ist gut im Ansehen, und das wissen die Mitarbeiter auch, der sich selber redlich bemüht – durch Fortbildung und das Ideenliefern zum Beispiel.“ Wer sich selbstgefällig zurücklehne, habe es schwer in der Unternehmensgruppe. „Die das tun, die haben wirklich ein Problem.“

Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

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Rastlose Aktivität, Respekt gegenüber anderen Menschen, das unbedingte Achten auf Sauberkeit und die Liebe zu schönen Häusern und Parkanlagen, diese vier Eigenschaften haben für Burchard Führer eine beinahe neuralgische Qualität. Da trifft es sich gut, dass es seinen Kunden, den Senioren, genauso geht.

2.1.2 Die Burchard Führer Unternehmensgruppe Die Heime Die Unternehmensgruppe Burchard Führers betrieb im Jahr 2006 an 24 deutschen Standorten für knapp 2.400 Bewohner aller Pflegestufen vollstationäre Seniorenpflegeheime. Daneben wurde und wird auch weiterhin, im Wesentlichen an zwei Standorten, im anhaltinischen Zehringen und sächsischen Hilbersdorf, Behindertenpflege betrieben. In kleinerem Umfang ist die Führer-Gruppe auch in der ambulanten Pflege tätig. Das erst seit 1991 in seinem heutigen Kerngeschäft aktive Unternehmen beschäftigte in 2006 rund 1.800 Mitarbeiter und schrieb einen Umsatz von rund 65 Mio. Euro. Das Unternehmen zählt zu den Top 10 der deutschen Seniorenpflege und ist mit Abstand der größte unabhängige, inhabergeführte Anbieter. Neben seinem Kerngeschäft offeriert das Unternehmen Beratungsleistungen im Umfeld des Baus und Betriebs von Seniorenpflegeeinrichtungen. Gesteuert werden die selbstständig am Markt operierenden Einrichtungen von nicht mehr als zwei Handvoll Managern und einem kleinen Backoffice, der HS Heimservice GmbH. Der Markttrend geht aufgrund hoher Investitionsbedarfe eindeutig hin zu Größe. Tendenziell sind börsennotierte Publikumsgesellschaften gegenüber kleinen Einzelanbietern daher im Vorteil. Die besondere, krass vom Mainstream unterschiedene Produktstrategie ermöglicht der Führer Unternehmensgruppe mit bescheidenerem Investitionsaufwand eine ausreichende Größe und erspart ihr den Gang an die Börse. So kann sie unabhängig und mittelständisch bleiben.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

Entwicklung des Umsatzes 70

Umsatz in Mio. €

60 50 40 30 20 10

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

0

Jahr

Quelle: HS Heimservice GmbH Abbildung 9:

Umsatzentwicklung Burchard Führer Unternehmensgruppe

Entwicklung Bewohner 2.400 2.200 2.000 1.800

Bewohner

1.600 1.400 1.200 1.000 800 600 400 200

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

0

Jahr

Quelle: HS Heimservice GmbH Abbildung 10: Entwicklung der Heimbewohnerzahlen der Burchard Führer Unternehmensgruppe

Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

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Der Seniorenmarkt Die wichtigste „Ressource“ des Unternehmens sind seine „nachwachsenden Kunden“, die Heimbewohner. Als Ursachen für die drastische Zunahme der Nachfrage nach privatwirtschaftlich bereitgestellten stationären Pflegeplätzen in den kommenden Jahren werden von Seiten der Forschung folgende drei Aspekte angeführt: 1. Der Seniorenanteil der Bevölkerung steigt in den kommenden 50 Jahren kontinuierlich an. Ausgedrückt wird dies durch den so genannten Altenquotienten, das Verhältnis zwischen den über 60- bzw. 65-jährigen, überwiegend nicht mehr arbeitenden Menschen und den 20- 60- bzw. 65-jährigen2 überwiegend arbeitenden bzw. arbeitsfähigen Menschen. Bereits im Jahr 2030 wird jeder vierte Deutsche zur Fraktion der Nicht-Arbeitenden gehören. 2. Obwohl die meisten Pflegebedürftigen wünschen, ambulant oder von ihren Angehörigen gepflegt zu werden, wird der relative Anteil der vollstationären Dauerpflege und der ambulanten Pflege am Gesamtvolumen der Pflegeleistung zu Lasten der Versorgung zu Hause bis 2050 geringfügig zunehmen, mit großer Sicherheit aber bei rund 33 Prozent mindestens konstant bleiben. Dies liegt im Wesentlichen an der zunehmenden Anzahl der Singlehaushalte in Deutschland sowie der steigenden Lebenserwartung. Irgendwann, jenseits von 80 Jahren und bei entsprechend hoher Pflegestufe, ist die Versorgung der Pflegebedürftigen in den eigenen vier Wänden durch Angehörige in der Regel nicht mehr leistbar. 3. Schließlich wird auch der Anteil der Heime in privater Trägerschaft überwiegend zu Lasten der freigemeinnützigen Heime erheblich zunehmen. Heime in der Trägerschaft der Gebietskörperschaften werden nahezu vollständig vom Markt verschwinden. Obwohl die Wirtschaftlichkeit der Heime ein berechtigtes öffentliches Anliegen ist, wird deren Wirtschaftlichkeit gerade dadurch torpediert, dass man von öffentlicher Seite planwirtschaftlich definiert, was wirtschaftlich ist und was nicht. Die Einnahmen der Heime werden in periodisch tagenden Arbeitsgemeinschaften verhandelt, die sich aus Vertretern der Kostenträger – Pflegekassen und Gebietskörperschaften/Landschaftsverbände – sowie den Verbänden der Heimeinrichtungen rekrutieren. Die Kostenträger bewerten die Forderungen der Heime anhand einheitlicher Bewertungsmaßstäbe bzw. Richtwerte für die Personal(Tariflohn) und Sachkosten. Durch Zusatzleistungen, wie sie jedes Krankenhaus, jedes Hotel und jede Tankstelle anbietet, verschaffen sich die Heime dringend erforderliche Mehreinnahmen. Viele nicht-klassische und nicht von den Pflegekassen abgedeckte Leistungen werden den Bewohnern separat angeboten und separat fakturiert.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

70%

4.500.000

60%

4.000.000

e

3.500.000

Prozent

50%

3.000.000

40%

2.500.000

30%

2.000.000 1.500.000

20%

1.000.000 10%

Absoluter Bedarf

Trägerschaft und Nachfrage nach Pflegeleistungen

500.000

0%

0 2003

2010

2020

2050

Jahr Nachfrage nach privaten Trägern in Prozent

… öffentlichen Trägern in Prozent

… frei-gemeinnützigen Träger in Prozent

Absoluter Bedarf an Pflegebetten

absolute Zahl an Pflegebedürftigen

Quelle: Institut der Deutschen Wirtschaft, Ursprungsdaten: Statistisches Bundesamt, Sachverständigenrat zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, Bundesministerium für Gesundheit und soziale Ordnung Abbildung 11: Nachfrage nach Pflegeleistungen 2003 – 2050; ab 2010 geschätzt

Auf der Kostenseite stecken insbesondere Pflegeanbieter ohne eigene Immobilien in einem engen Korsett, da der Personalkostenblock aufgrund der Tarifentlohnung der meisten Pflegekräfte ebenso in Beton gegossen ist wie die Mietkosten. Produktgestaltung Um expandieren und die steigende Nachfrage bedienen zu können, benötigen Anbieter vollstationärer Pflegeplätze vor dem Hintergrund des restriktiven Kreditgewerbes in Deutschland eine ausreichende Größe und Kapitaldecke. Immer mehr Anbieter operieren daher inzwischen als Publikumsgesellschaften. Unter den, gemessen an der Zahl der unterhaltenen Heime, 12 größten Anbietern in Deutschland mit jeweils mehr als 15 unterhaltenen Heimen, sind inzwischen 50 Prozent Kapitalgesellschaften: Pro Seniore AG (> 100 Heime), Marseille Kliniken AG (> 60 Heime), Curanum AG (> 50 Heime), Cura AG (>20 Heime), Maternus-Kliniken AG (+ 15 Heime), Alloheim Senioren-Residenzen AG (> 15 Heime). Die Absatzstrategie nahezu aller privaten Heimanbieter ist standortfokussiert. Dabei bleiben kleine Anbieter in der Regel automatisch auf der Strecke, denn sie können sich gute Standorte schlicht nicht leisten. Neben der Standortqualität sind die Qualität der Pflegeleistung und das Ansehen des Heimanbieters der zweite erfolgskritische vertriebliche Parameter. Auch hier haben die kleinen Anbieter das Nachsehen.

Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

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Schiere Größe mit einer komfortablen Eigenkapitalausstattung ist für die Qualität dieser Heime allerdings ein janusköpfiges Asset: Diesen Anbietern fällt es zwar leicht, attraktive Standorte zu identifizieren, zu bekommen und zu betreiben und kleinere Wettbewerber zu verdrängen. Auch im Einkauf sind sie besser dran, da sie dank ihrer Größe Skaleneffekte mobilisieren können. Sie laufen dabei aber Gefahr, als „Pflegeindustrien“ eine ebenso standardisierte wie wenig menschliche und vor allem standortferne Dienstleistung zu offerieren. Teilweise versuchen die Großen, mit übertariflicher Bezahlung die besten Pflegekräfte an sich zu binden. Doch dieser Versuch in Sachen Qualität läuft ins Leere, da die monetäre Vergütung keineswegs der entscheidende, geschweige denn alleinige Beweggrund des Arbeitnehmers ist, zu einem anderen Anbieter zu wechseln. Lässt sich für „industriell“ operierende Betriebe eine professionelle Standortwahl, ein solides Bau- und Facility Management und ein perfektes Controlling anhand anlegerdefinierter Renditeziele als selbstverständlich annehmen, ist die Güte der Pflegequalität mithin wohl möglich, aber alles andere als selbstverständlich: Die Aktionäre sind fern, die Unternehmenszentrale ebenso, der „Kunde“ Heimbewohner ist schwierig, die Qualitätskontrolle durch die Pflegeaufsicht ist selten und der physische und emotionale Arbeitsdruck hoch. Eventuelle Misserfolge und Defizite werden nur summarisch, als Folge, vieler individueller, pflegerischer Defizite sichtbar – im schlechter werdenden Image per Mund-zu-Mund-Propaganda, in der Unzufriedenheit der Heimbewohner und irgendwann in der Zahl „verkaufter Betten“. Sie lassen sich nur dann an der individuellen Pflegeleistung festmachen, wenn diese individuell controlled wird – für Pflegekonzerne ein ebenso zeit- wie kostenintensives Unterfangen mit erheblichem bürokratischen Zusatzaufwand. Die wünschenswerte Humanität des Umganges der Pflegekräfte mit den Bewohnern ist nicht nach einheitlichen Standards normierbar: Was ist höflich? Was ist freundlich? Was sympathisch? Entsprechende Messungen, wären sie denn möglich, setzten voraus, dass sie von einer oder besser zwei hinreichend qualifizierten „Prüfern“ durchgeführt werden, die Zeugen der Dienstleistung sein müssen. Diese Aufwände werden von kurzfristig orientierten Anlegern nicht gewürdigt. Die prüfbare Qualität der Heime wird daher meist nur an objektiv zugänglichen Kriterien wie Sauberkeit, Krisen-Reaktionszeiten bei akuter Lebensgefahr, Zugang der Bewohner zu medizinischen Versorgungsleistungen festgemacht, was eindeutig nicht ausreicht, um die den Wettbewerb entscheidenden Faktoren abzudecken.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

Dagegen versuchen die meisten Großen, ihre aufwändigen, meist apparativen und baulichen Mehrwerte mit hohen Zusatzkosten vertrieblich an den Senior zu bringen. Diese Kosten sind über die Kostenträger nicht refinanzierbar. Die Korrelation zwischen Vertriebserfolg und imposanter Neubauarchitektur ist aber kurzfristig schneller und müheloser nachzuweisen als die zwischen Vertriebserfolg und humaner Pflege. Daher optieren die Pflegekonzerne regelmäßig für die erstere Variante im Interesse des Umsatzes und zu Lasten der Rendite. Fazit: Die großen Anbieter verfügen zwar gegenüber den kleinen aufgrund ihrer Größe über signifikante Vorteile und verdrängen sie erfolgreich vom Markt. Sie laufen aber das Risiko, ihre Qualität falsch zu definieren – mit dem Ergebnis, dass die öffentliche Hand ihnen ins Ruder greift. Außerdem gibt es ein Mittelfeld, das durch intelligentes Produktmanagement, welches Qualität anders definiert, sowohl den Großen als auch den Kleinen das Wasser abgraben kann, also einmal nicht, wie sonst üblich, zwischen klein und groß zerrieben wird. In diesem Mittelfeld ist die Führergruppe tonangebend.

Kostenminimierung durch ??

Wachsender Bedarf an stationären Pflegeplätzen bis mindestens 2050

Wenig Geld in den Pflegekassen

Erfolg durch Expansion und minimierte Kosten

Hochgradig reglementierter Markt Knapper Arbeitsmarkt

Expansion durch Größe und Kapital

Expansion durch PflegeQualität

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 12: Strategischer Zielkonflikt der stationären Pflegeanbieter

2.1.3 Das Produktmanagement der Unternehmensgruppe In diesem Abschnitt wollen wir nun das Produktmanagement der Führer Unternehmensgruppe beschreiben. Wir zeigen an dieser Stelle ausdrücklich noch nicht, was Sie an dieser Strategie für Ihr eignes Produktmanagement lernen oder mitnehmen können. Dazu gehen wir in den Folgabschnitten ein. Die klassischen Dimensionen des Produktmanagements sind:

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Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

„ Strategische Gesichtspunkte

       

Produktinnovation Produktprogrammgestaltung Produktgestaltung Leistungspolitik Preispolitik Kommunikationspolitik/Produktmarkierung Vertriebspolitik Produkterfolgsrechnung/Controlling

„ Organisatorische Gesichtspunkte

Entwicklung der Mitarbeiterzahl

2006

2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

2.000 1.800 1.600 1.400 1.200 1.000 800 600 400 200 0 1992

Zahl der MA mmmmmmmmmmm

 Aufbauorganisation des Produktmanagements  Ablauforganisation.

Jahr

Quelle: HS Heimservice GmbH Abbildung 13: Mitarbeiterentwicklung Burchard Führer Unternehmensgruppe

Nicht eingehen werden wir in diesem Abschnitt auf die klassischen operativen Gesichtspunkte des Produktmanagements, auf Fragen etwa, welche technischen Hilfsmittel, kalkulatorischen, Prognose- und Controlling-Werkzeuge zum Einsatz gelangen oder wie Markt- und Wettbewerbsanalysen durchgeführt werden. Diese Gesichtspunkte sind in jedem betriebswirtschaftlichen Handbuch besser aufgehoben.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

Produktinnovation Produktinnovationen im Markt der vollstationären Seniorenpflege stehen offenkundig im Spannungsfeld von Qualitätsverbesserung und Kostenminimierung. Kosten können auf verschiedene Art und Weise gespart werden: Automatisierte Prozesse und standardisierte Workflows stehen im Pflegemarkt ganz oben auf der Liste der Kostensenkungsprogramme und werden von den Kassen entsprechend gefördert. Für die Heime der Führergruppe ist diese Standardstrategie der Kostensenkung der falsche Weg. Er führe zwangsläufig in eine dehumanisierte Pflegewelt und sei betriebswirtschaftlich unsinnig, erklärt Burchard Führer. Wer Kosten über Pflegerobotik und Zeitnormen pro Handgriff einsparen wolle, kappe das zentrale Angebot guter Pflegeheime an ihre Bewohner: diese als vollwertige Menschen zu respektieren. Eigentlich sei es traurig, dass man sich mit einem solchen Angebot vom Wettbewerb distanzieren können soll. Die Unternehmensgruppe Burchard Führer ist mit ihren 25 Heimen inzwischen längst unter den „Top Ten“ der Anbieter vollstationärer Seniorenpflege und somit ein großer Anbieter. Aber sie ist ein durch und durch atypischer Großer. Kosten werden nicht im Wege innovativer, hoch standardisierter und computerisierter Prozesse gespart, sondern durch „ eine kostenoptimierte Akquisition von Pflegeimmobilien, „ eine kostenoptierte Zentralverwaltung ohne Wasserkopf, „ eine kostenoptimierte Immobilienverwaltung. Volks- und betriebswirtschaftlich ist es sinnvoller, sagt Führer, Pflegeimmobilien kostengünstig zu erwerben, zu sanieren und zu betreiben, um die Kernleistung, die Pflege, nutzeroptimiert bereitstellen zu können. Dies sei besser, als umgekehrt neue Pflegeimmobilien teuer zu bauen und zu bewirtschaften, um die Kernleistung, die Pflege, kostenoptimiert bereitstellen zu können. Diese Überlegung kennzeichnet die Produktgestaltung der Führergruppe. Sie stellt eine innovative Umkehrung der Standardstrategie deutscher Pflegeheime dar, indem sie die Interessen der Heimbewohner adressiert, ohne die der Pflegekassen und Kostenträger zu vernachlässigen.

Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

MODELL INNOVATIVES KONZEPT (Produktstrategie der Führergruppe)

Absatz durch 1. moderne, neue, teure*, effizienzgetrimmte Häuser 2. effiziente, zentral gesteuerte Pflege

Absatz durch 1. günstig erworbene, sanierte, pflegegerechte Bestandsimmobilien 2. menschliche, hohe Pflegequalität

Der Endkunde zählt kaum

MODELL INNOVATIVE „HARDWARE“ (Produktstrategie der meisten Anbieter)

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Kunde Heimbewohner & Angehörige: Schlüsselinteresse: Service- und Heimqualität

Meta-Kunde Kostenträger (Pflegekassen): Schlüsselinteresse: Kostenminimierung

* Die Kostenträger zahlen objektunabhängig stets den gleichen Investitionskostenzuschuss.

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 14: Innovationsmodelle in der Pflegewirtschaft

Produktgestaltung Die Qualität einer Pflegedienstleistung wird aus Sicht des Bewohners der Einrichtungen durch folgende drei Faktoren bestimmt: 1. Verfügbarkeit aller notwendigen medizinischen und pflegerischen Services 2. Qualität der Services und Speisen 3. Qualität des bereitgestellten baulichen und sozialen Raumes Service-Verfügbarkeit Unter diesen drei Qualitätsdimensionen kann man objektiv nur die erste nach harten Kriterien beurteilen. Denn das Volumen und die Vielzahl der bereitgestellten pflegerischen und medizinischen Leistungen können gemessen werden. Sie sind für die Kostenträger daher das relevante Kriterium. Kein Anbieter kann es sich leisten, hier kürzer zu treten als der andere. Dies gilt selbstverständlich auch für die Führer Unternehmensgruppe.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

Service-Qualität „Wenn unser eigenes Qualitätsmanagement Mängel feststellt, dann werden die in unseren alle acht Wochen stattfindenden Leitungssitzungen öffentlich diskutiert. Und das ist dann peinlich. Das ist so gewollt. Unsere unangemeldeten eigenen Kontrollen werden gefürchtet, denn unser Prüfer ist ein …, na ja, dazu möchte ich mich jetzt nicht öffentlich äußern. Die Heimaufsicht, die Ämter dagegen – das sind eigentlich die Freunde unserer Heimleitungen.“ Das charakteristischste Qualitätsmerkmal der Führer-Heime ist sicher die unbedingte Freundlichkeit und Zuvorkommenheit der Pflegemitarbeiter gegenüber den Bewohnern. Auf natürliche Freundlichkeit und Höflichkeit ist das Unternehmen sowohl im Rahmen der Mitarbeiter-Rekrutierung als auch bei den laufenden Qualitätsüberprüfungen peinlichst genau bedacht. In sehr vielen Einrichtungen, sagt Führer, würden die Heimbewohner in einer unerträglich herablassenden Art und Weise von den Pflegern behandeln. So etwas sei für ihn absolut tabu. Dem Personal sei es untersagt, die Bewohner zu duzen, es sei denn, die Initiative gehe, aufgrund einer langen Vertrauensbeziehung, von einem Bewohner selbst aus. Jedem Heimbewohner wird ein Vertrauenspfleger bzw. eine Vertrauenspflegerin zugeordnet, der bzw. die zu jeder Tages- und Nachtzeit alles über den Bewohner weiß, was man wissen muss. „Ich bin mit dem Fall nicht befasst“ – so etwas, sagt Führer, „darf es in unserem Unternehmen nicht geben.“ „Charakteristisch für die Pflegestätten ist schließlich, dass es so gut wie keine preislich differenzierte Unterscheidung zwischen Leistungsstandards und teuren Mehrwerten gibt. Wir haben zum Beispiel in praktisch allen Heimen unsere eigenen hochwertigen Köche und Küchen. Die Küche ist für alle gleich und sie ist so gut, dass es keine signifikante Differenzierung jenseits der medizinischen und diätetischen Erfordernisse gibt: Wir wollen unsere Heime nicht in soziale Enklaven, in die Strammer-Max-Fraktion hier und die Entrecôte-Fraktion dort splitten. Viel wichtiger als das Pflegen von Eitelkeiten ist für unsere Bewohner der soziale Kontakt über alle Schranken hinweg – wie im richtigen Leben auch.“ Qualität ist nicht in erster Linie eine Frage der Kontrolle. Wäre die Qualität dann und nur dann gut, wenn laufend kontrolliert würde, dann könnte diese Qualität nicht Merkmale wie menschliche Freundlichkeit, Höflichkeit und Wärme umfassen, Eigenschaften, mit denen sich die Gruppe von der quasi industriellen Serviceproduktion der meisten anderen Großanbieter abheben will. Service-Qualität ist in erster Linie eine Frage der Mitarbeiterqualität. „Wenn sich jemand bei uns vom Pflegehelfer zum Altenpfleger oder vom Altenpfleger zum Wohnbereichsleiter berufsbegleitend qualifiziert, dann sind das Dinge, die über zwei, drei Jahre passieren. Da müssen die Kandidaten dann an mehreren

Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

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Abenden in der Woche, nach Berufsschluss, die Schulbank drücken. Wer sich zu Weiterbildung aufrafft, bekommt bei uns die Möglichkeit, erstens, das überhaupt machen zu können und, zweitens, anschließend, nach einer angemessenen Zeit, einen Job angeboten zu bekommen, der dieser neu erworbenen Qualifikation entspricht.“ Baulicher und sozialer Raum Die Qualität des baulichen Raumes ist, wie wir in den vorangehenden Abschnitten eingehend erläutert haben, nicht nur ein ökonomisches Must, sondern zugleich die persönliche Passion des Unternehmers Burchard Führer. Dies gilt nicht nur für die eigentlichen Pflegegebäude, sondern erst recht für die zugehörigen Garten- bzw. Parkanlagen. Die besondere Herausforderung besteht darin, dies wirtschaftlich leistbar zu gestalten. Die Gruppe hat sich hier auf drei Maximen festgelegt: 1. Kaufen geht vor Mieten: Auf längere Sicht sind eigene Immobilien günstiger zu bewirtschaften und rentabler als Fremdobjekte zu mieten oder zu pachten. 2. Sanieren geht vor Bauen: Neubauten binden zu viel Kapital und sind daher nur in absoluten Ausnahmefällen sinnvoll. Hinzu kommt, dass es genug Bestandsimmobilien, oft mit einer Pflegevorgeschichte gibt und dass die Standortbevölkerung zu Bestandsimmobilien eine persönlichere Beziehung unterhält als zu Neubauten. 3. Insolvente private bzw. freigemeinnützige und defizitäre öffentlich betriebene Pflegeheime genießen bei der Expansion Priorität. Die Instandsetzungsaufwände sind im Regelfall geringer als Neubauaufwände. Außerdem sind die Häuser als Pflegeeinrichtungen bereits positioniert und müssen nicht mühsam kommuniziert werden. Entscheidend für die Beantwortung der Frage – Ankauf, ja oder nein? – sind das Optimierungspotenzial der Bausubstanz, die vertraglichen Parameter (Mitarbeiterverträge) und natürlich der Standort. Ein schlecht gemanagtes Objekt kann unter neuer Eigentümerschaft schnell repositioniert werden. Einem hoffnungslosen Makro- und Mikrostandort ist jedoch nicht zu helfen. Die Analysen werden von den führenden Mitarbeitern der Unternehmensgruppe für die Bereiche Strategie, Expansion, Controlling im Rahmen strukturierter Due-Dilligence-Prozesse durchgeführt. Was den sozialen Raum anbelangt, besagt eine entscheidende Grundregel der Gruppe, dass die Pflegeheime vollkommen in ihre Standorte integriert sein bzw. werden müssen. Dies ist eine conditio sine qua non. Keine Senioreneinrichtung der Führer Unternehmensgruppe darf parallel neben ihrem Standort existieren.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

„Das werden wir definitiv nicht durchgehen lassen“, erklärt Führer unumstößlich. „Unsere Betriebe dürfen vor Ort nicht nach der Fasson wahrgenommen werden: `Na ja, da hinten ist noch irgend so ein Pflegeheim. Das gehört zu irgendeiner Gruppe´. Unsere Heime müssen vor Ort ganz intensiv in das regionale und örtliche Leben verankert werden. Nehmen Sie einmal den Handwerksmeister Krause. Lassen Sie den Installateur sein. Der kann natürlich in seiner berufsständischen Organisation, in der Handwerkskammer, ein bisschen herumkaspern. Das interessiert aber außerhalb seines Kollegenkreises niemanden. Wenn der aber nebenbei der erste Vorsitzende des Schützenvereins ist, steht er eben deshalb regelmäßig in der Zeitung. Und dann heißt es: `Mensch, Krause, ist das nicht der Installateur von da und da? Die Schlussfolgerung ist eine andere. Der Krause ist nicht der Installateur, sondern der, den man kennt. Das ist etwas ganz, ganz Wichtiges – und etwas, was uns von fast allen in unserer Branche deutlich unterscheidet.“ Programmpolitik Kernprodukt der Führer Unternehmensgruppe ist die ehedem unwirtschaftlich betriebene oder unrentable Seniorenpflegeeinrichtung, die saniert und repositioniert wird, um anschließend unter neuer Heimleitung in neuem Glanz „zu erstrahlen“. Die Heime peilen keine spezifische Einkommensgruppe an, stehen also jedem Senior ab zuerkannter Pflegestufe I offen: „Wir sind nicht die 4- oder 5-Sternekategorie, sondern die 3-Sterne-plus-Kategorie“, sagt Führer. Wirtschaftliche Absicht dieser Strategie ist es, eine möglichst hohe Bettenauslastung zu erreichen. Jedes Heim steht unter einer eigenen Heimleitung, die im Regelfall aus einer Heimleiterin oder einem Heimleiter mit pflegerischem oder kaufmännischem Ausbildungshintergrund besteht. Einige große Anstalten verfügen über eine Heimleitung mit pflegerischer und kaufmännischer Doppelspitze. Die meisten Heime sind juristisch unabhängige Einheiten. Sie treten am Markt als Kapitalgesellschaften oder Einzelfirmen auf. Rund um dieses Kernprodukt finden sich im Leistungsportfolio der Unternehmensgruppe Leistungen in benachbarten Produktmarktsegmenten: „ Das Kernprodukt, die Erbringung von Pflegedienstleistungen, dient als Folie oder Modell für die Erbringung einer Vielzahl ähnlicher Dienstleistungen in benachbarten Marktsegmenten. Hierunter fällt der Betrieb von ambulanten Pflegediensten/Kurzzeitpflegen, Behinderteneinrichtungen, Freizeiteinrichtungen, Hotels und Restaurants.

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Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

„ Daneben wird dieses Kernprodukt, entlang der Wertschöpfungskette, in seine „Spektralfarben“ zerlegt und Kommunen oder Insolvenzverwaltern als Beratungsleistung angeboten. Dies bietet Zusatzgeschäft und ermöglicht es außerdem, aufwändige Due Diligences, die die Unternehmensgruppe im Vorfeld eines Heimerwerbs ohnehin durchführen müsste, zu refinanzieren.

Betrieb von Altenpflegeeinrichtungen Betrieb von … …Behinderteneinrichtungen …ambulanten Pflegediensten …Freizeiteinrichtungen …Kurzzeitpflegen Beratung von … …Insolvenzverwaltern

Wissensmanagement

…Gebietskörperschaften auf den Gebieten:

Baumanagement · Facility Management · Projektentwicklung · Finanzcontrolling · Marketing … für Pflegeeinrichtungen

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 15: Programmpolitik: Fertigungstiefe

Preis Preisstrategie der Burchard Führer Unternehmensgruppe Die Preisstrategie der Führer Gruppe unterscheidet sich signifikant von der oben beschriebenen Strategie der großen Wettbewerber: 1. Die Gruppe kommuniziert offensiv, dass Pflegequalität einen Preis hat. Die Gruppe kommuniziert jedoch ebenso offensiv, sich an jede Alters- und Einkommensschicht zu wenden und folglich auch für jeden Bewohner erschwinglich zu sein. Anstatt spitz den günstigen Preis als Vertriebsthema in den Mittelpunkt zu rücken, wird die Qualität fokussiert. Die Qualität der

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

Pflegedienste, Unterkunft, Versorgung und der Services wird dabei nicht als knappes, teures Gut positioniert, sondern als selbstverständliches Anrecht eines jeden Bewohners, egal, wer seinen Aufenthalt finanziert. Der tatsächliche Pflegesatz sowie die Unterbringungs- und Verpflegungskosten bewegen sich auf einem hohen Durchschnittsniveau, das von fast allen Sozialhilfeträgern angesichts des Preis-Leistungsverhältnisses als angemessen und vertragswürdig eingestuft wird. 2. Die Deckungsbeitragsorientierung findet hinter den Kulissen statt und zwar ausschließlich in denjenigen Bereichen, die für die Pflege- und Servicequalität unsensibel sind:  Standorte werden in der Führer-Unternehmensgruppe nicht gekauft, sondern gemacht, was erstens preiswerter und zweitens vertrieblich wirkungsvoller ist. Bei der Wahl der Objekte fokussiert man bereits etablierte, schlecht gemanagte Standorte. Sehr viele Kommunen sind glücklich, ihre Haushalte durch Objektveräußerungen teilsanieren zu können. Die Objekte stehen bis auf wenige Ausnahmen nicht in teuren großstädtischen 1a Einkaufslagen, sondern im ländlichen und mittelstädtischen Raum, der durch die Sanierung der gekauften Heime Aufwertung und Standortsympathie erfährt.  Bei der Instandsetzung der Heime und auch beim Neubau werden vor allem die späteren Betriebskosten in den Blick genommen. Billiges Bauen und teures Betreiben ist betriebswirtschaftlich unsinnig und wird vom Unternehmen dadurch unterbunden, dass das Facility Management den Einkauf der Bauleistungen steuert.  Bei der Wahl der Materialien und der Architektur wird nicht mit Opulenz gespielt, um wirtschaftliche Solidität zu signalisieren. Entscheidend ist vielmehr, dass sich die Objekte in ihre bauliche Umgebung einfügen und sich als standortzugehörig zu erkennen geben.  Das Personal wird nach Tarifvertrag bezahlt. Es wird nicht versucht, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter durch übertarifliche Bezahlung zu binden. Es werden nicht-monetäre Zusatzleistungen als relevantere Faktoren des „Wohlfühleffekts“ priorisiert.  Alle Heime werden vor Ort gemanagt. Die Zentrale greift nur ein, wenn die Reporting Sheets nach Krisenintervention „rufen“. Dies spart erhebliche Mittel, da das Unternehmen so von einem Wasserkopf verschont bleibt.

Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

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Produktkommunikation und Vertrieb Das Unternehmen kultiviert eine „Antimarken-Markenstrategie“. Markenprodukte zeichnen sich durch eine hohe standortübergreifende Konstanz und Identität aus. So sollen sie das Vertrauen der Käufer und Zielgruppen gewinnen. Die Heime der Führer-Unternehmensgruppe sind genau das nicht. Konstant ist bei ihnen lediglich, dass sie sich überall den individuellen, standortspezifischen Gegebenheiten anpassen, mit ihren Standorten leben und wachsen. Die Produktkommunikation findet nicht in erster Linie per Katalog, Internet oder Imagebroschüren statt, sondern über Mund-zu-Mund-Propaganda vor Ort. Je tiefer die Verwurzelung der Heime an ihren Standorten ist und je besser die Heime dort angenommen werden, desto unaufwändiger und effektiver ist die Produktkommunikation. Zu der Kommunikationsstrategie gehört auch, dass jeder Mitarbeiter stolz sein soll, bei Führer zu arbeiten: „Wenn die Mitarbeiter abends in der Kneipe stehen und berichten, bei uns zu arbeiten, dann wünschen wir uns schon die Reaktion: „Mensch, da hast Du einen Job gefunden? Ist ja toll“ und nicht etwa diese: „Mensch da arbeitest Du? Na ja, bei den vielen Arbeitslosen kann man sich ja den Job auch nicht aussuchen.“ Dafür haben auch unsere Heimleitungen zu sorgen.“ Insgesamt lässt sich sagen: Die Produktkommunikation ist nicht so sehr das Vehikel, über das das Produkt, die Pflegeleistung, transportiert wird. Vielmehr ist die Kommunikation im Heim und am Standort Bestandteil dieses Produktes, das sich insofern von allein und vor allem glaubwürdig an die Zielgruppen vermitteln lässt. Anders verhält es sich bei den oben im Produktprogramm skizzierten Beratungsdienstleistungen. Hier steht die Fachkompetenz des Hauses Führer gegenüber Fachzielgruppen – kommunalen Behörden, Insolvenzverwaltern, Pflegekassen etc. – im Mittelpunkt. Hier ist die Produktkommunikation eine Businessto-Business-Kommunikation, bei der die Erfolge der Strategie im Kerngeschäft fach- und zielgruppengerecht aufgearbeitet werden können und müssen. Diese Kommunikation spielt sich in Fachgremien, auf Pflegekongressen, in den Fachzeitschriften ab und tangiert so gut wie gar nicht die Welt der Standorte, in denen sich die Heime befinden. Daher kann die Unternehmensgruppe Führer auf dieser Fach- oder Metaebene die eigene Antimarkenstrategie als Unternehmensphilosophie und „strategische Marke“ kommunizieren und tut dies auch mithilfe überzeugter „Testimonials“, Heimleiterinnen und Heimleiter, die sich politisch und verbandspolitisch engagieren.

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Interessen aufspüren: Was will ich?

Nachdem wir die Produktpolitik der Führerunternehmensgruppe in allen wesentlichen Facetten portraitiert haben, wollen wir nun zeigen, was sich daraus für Ihr Produktmanagement ableiten lässt, inwiefern bei dieser augenscheinlich erfolgreichen Strategie des Gegen-den-Strom-Schwimmens von Produktnähe gesprochen werden kann, worin sich diese manifestiert und was sie erfolgreich macht.

2.2 Interessen aufspüren: Was will ich? Burchard Führer straft das Bild vom erfolgreichen Manager als primär profitorientiertem Manager Lügen. Er sagt, Profit sei für ihn kein primärer Erfolgsmaßstab, obwohl er sich schon als Kind blendend darauf verstand, andere Kinder und Jugendliche für seine wirtschaftlichen Interessen einzuspannen: Anders als für die Mehrzahl der Jugendlichen ehedem und heute konnte sich Führer nicht einmal für den elterlichen Maschinenpark, Trecker, Hebebühnen, Bagger, 30 tTiefladerlader oder 18 t LKWs mit Anhängern erwärmen. Sein wahres Interesse stand für ihn erstaunlich früh fest: Schönes, oder, wie Führer sich ausdrückt, „Hübsches“. Zu behaupten, Burchard Führer habe von jeher ein Faible für die Alten-, Senioren und Behindertenpflege gehabt, ist daher weit hergeholt, um nicht zu sagen: absurd. „Wissen Sie“, sagt er, „von jeher ist der Gartenbau das, was ich gerne tue; schon im Vorschulalter war es das, wovon und wofür ich lebte. Der Unternehmer wurde als jüngster Sohn eines aus Ostpreußen vertriebenen Landwirte-Ehepaars in Soltau geboren und wuchs in der Südheide bei Celle auf, wo die Eltern einen landwirtschaftlichen Betrieb unterhielten. Nach dem Jurastudium übernahm Führer den elterlichen Betrieb und entwickelte ihn zu einem Gartenbaubetrieb. Führer lebt noch heute auf elterlichem Grund und Boden, den er Zug um Zug sanierte, renovierte, erweiterte und ausbaute. Bis Anfang der 90er Jahre war der Gartenbau die Haupteinnahmequelle des Ehepaars Burchard und Susanne Führer. 1985 erwarb das damals 70 Mitarbeiter zählende und fast ausschließlich im Privatkundenbereich tätige Unternehmen knapp 20 ha Bauland. Entlang einer frequentierten Straße mit direktem Zugang zu einer Bundesstraße sollte ein Gartencenter errichtet werden, um die schlechte Standortqualität auszugleichen. Was fehlte, war die Baugenehmigung. Diese wurde dem Unternehmen, getreu den Gepflogenheiten deutscher Kommunalverwaltungen, „husch, husch schon nach zehn Jahren“ erteilt. Allerdings: Ein vernünftiger Zugang zum künftigen Gartencenter entlang der 300 Meter langen Straßenfront fehlte. Als schließlich im 14. Jahr nach Bauantrag neben der Baugenehmigung auch die Zufahrt angemessen geregelt war, hatte sich die Marktsituation für den

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Garten-, Landschafts- und Sportplatzbau im Allgemeinen und für den Standort des eigenen Unternehmens im Besonderen dramatisch verschlechtert. „Der durchschnittliche Anreiseweg unserer Kunden beträgt 34 km. Der durchschnittliche Kunde sah 1985 auf diesen 34 km zwei Betriebe unserer Branche. Wenn ich heute 34 km durch die Botanik fahre, komme ich an mindestens einem Dutzend Betrieben unserer Art vorbei und es kommt eben hinzu, dass diese Betriebe inzwischen deutlich größer und stärker gewachsen sind und eine breitere Angebotspalette haben.“ Er habe, schließt Führer diesen Teil der Unternehmensgeschichte ab, nie mit guten Geschäftslagen gearbeitet. „Das prägt! Ein Fehler – und der Kunde kommt nie wieder.“ Die Wachstumsgrenzen, die mäßige Geschäftslage und die widerspenstigen Behörden ließen Führer an einer guten Zukunft nach seinen ehrgeizigen Maßstäben zweifeln. Durch Verwandte, die in der Seniorendienstleistung Erfahrung gesammelt hatten, und durch Freunde, die in den neuen Bundesländern im Immobiliengeschäft tätig waren, durch seinen Hang zu schöner Architektur und zu schönen Parkanlagen freundete sich Führer mit einer ganz anderen Branche an: der vollstationären Seniorenpflege. Inzwischen ist der Garten- und Landschaftsbau der Führergruppe zu einem Kosten-Center für unternehmensinterne Dienstleistungen geschrumpft. Die Alten- und Behindertenpflege der Unternehmensgruppe dagegen wächst seit den Anfängen ohne Unterbrechung kontinuierlich. Führers Schwenk fort vom Gartenbau hin zur Seniorenpflege war keine Hauruck-Entscheidung und er war auch nicht schicksalhaft, besonders risikoreich oder gefährlich. Der Schwenk vollzog sich langsam aber sicher. In der Anfangszeit konnte Führer, wäre dies notwendig geworden, jederzeit zurück in das ehemalige Kerngeschäft. Dort lief es zwar nicht fulminant, aber es lief ja weiter – parallel zum neuen Geschäft. Was Führer auszeichnet, war und ist eine sorgfältige Auseinandersetzung mit sich selbst. Er wusste, wie man so sagt, was er wollte. Wer seine Interessen nicht kennt, der wird wie die berühmte Fahne im Wind von einem Trend zum nächsten geweht, ohne je einen zu erobern. Nur wer weiß, was er will, kann das. Nur wer seine Interessen kennt, kann Ziele definieren. Und nur wer Ziele definiert, kann Wege nicht nur entwickeln, sondern sie auch konsequent zu Ende gehen, um dorthin zu gelangen. Der Landwirtssohn Führer drückt es so aus. „Nehmen Sie mal die Landwirtschaft. Da haben wir Leute, die operieren so nach dem Motto: Im Moment sind Milchviecher ganz toll gefragt, dann machen wir in Milchviechern. Dann gehen auf einmal Milchviecher nicht so, dann schaffen wir sie ab und machen in Schweinen. Und Schweine sind dann irgendwann auch gerade nicht gefragt, wegen Schweinepest oder Klauenseuche, dann werden Pferde angeschafft und in fünf Jahren macht man in Hüh-

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nern. Und jedes Mal, wenn das Ding anfangen könnte zu laufen, ist man damit befasst, alles wieder einzureißen. Ich sage mir: Derjenige, der konsequent bei seiner Sache bleibt, der macht sicherlich alle Tiefen mit, aber der hat auch die Chance, die Höhen zu erleben.“ Konsequent bleibt man jedoch nur bei einer Sache, von der man wirklich und persönlich überzeugt ist, die einen erfüllt oder die einem wirklich wichtig ist.

2.3 Ziel definieren Seine eigenen Primärinteressen muss man also mit sich selber ausmachen. Da hilft kein Dialog. Niemand weiß besser als Sie selbst, was Sie bewegt. Führer und seine Frau haben nicht etwa ein tief sitzendes Bedürfnis verspürt, Seniorenheime zu bauen, zu renovieren oder zu betreiben. Nein, sie haben, begünstigt durch eine mittelmäßige Geschäftslage und eine Strukturkrise im GaLaBau, irgendwann Anfang der Neunziger darüber nachgedacht, was ihnen wichtig war. Dann haben sie weiter darüber nachgedacht, in welchem Markt sie diese Interessen mit einiger Aussicht auf mehr Erfolg bedienen konnten und sind, nach Gesprächen mit Freunden und Bekannten – unter denen sich auch Experten der Seniorenpflege befanden – auf den Gedanken verfallen, es mit der Seniorenpflege einmal versuchsweise anhand eines Heimes zu probieren. Denn in diesem Markt konnte genau den Interessen Geltung verschafft werden, die in Führers Naturell angelegt waren: Schöne Parkanlagen und Immobilien herstellen, Menschen mit Respekt begegnen, ohne Mitleid, nur weil sie auf Hilfe angewiesen sind. Das Instrument der Wahl, seine Interessen zu Zielen zu verdichten, war der unentwegte Dialog mit nahe und ferner stehenden Menschen. „Meistens wissen Dritte besser als Sie, was Sie können“, sagt Führer. Die hohe Zahl an Kontakten, über die er durch sein Landschaftsgartengeschäft, sein Studium, politische Kontakte und seine Verwurzelung in der Region verfügte, bildeten den Informationspool, den er unentwegt durch strukturiertes aber auch unstrukturiertes Fragen anzapfte. Die Fähigkeit ihm nahe stehender Menschen, seine Qualitäten einzuschätzen, war die Feedbackschleife, die verhinderte, dass sich Führer blind auf den Weg machte. Dennoch war die Entscheidung, es mit Seniorenheimen zu probieren, eine Entscheidung, die er an niemanden delegieren konnte, nicht einmal an seine Frau.

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Ziele haben einen hohen Grad an Verbindlichkeit, sie sollten anspruchsvoll sein, ihr Erreichen muss anhand unzweideutiger Kriterien überprüfbar sein und sie sind mit einem Zeitrahmen versehen. Setzt man sich seine Ziele allein, ist es im Wesentlichen eine Frage des Glücks, ob man sie erreichen wird. Nur wenn man seine Ressourcen kennt, zu denen, neben den eigenen Fähigkeiten und wirtschaftlichen Mitteln die menschliche Umwelt maßgeblich gehört, nur dann ist es sinnvoll, aus den eigenen Interessen Ziele abzuleiten.

2.3.1 Was kann ich? „Pflegeheime haben immer den Vorteil, dass man sie auch in Gebäuden unterbringen kann, die einfach nur schön sind, aber sonst keinem vernünftigen Verwendungszweck zuzuführen sind. Was machen Sie mit einem zweieinhalbttausend Quadratmeter großem Einfamilienhaus, das sich mal jemand hingesetzt hat, als die Zeiten für die Familie noch bessere waren? Das können Sie nur abreißen oder eine Firmenverwaltung draus machen. Aber eine Firmenverwaltung? So viele gibt’s davon eben auch nicht. Als Pflegeheim können Sie so etwas sehr schön umnutzen. Und außerdem: Zu fast jedem Pflegeheim gehört eben auch eine Parkanlage, mal mehr, mal weniger und ich glaube, meinen Pflegeheimen sieht man durchaus an, wo meine persönlichen Schwerpunkte liegen und eigentlich immer lagen.“ Man sieht: Führers Antrieb, seine Leidenschaft und Passion galten schönen Grundstücken, Immobilien, Gärten und Parkanlagen. Aber er war dabei keineswegs blauäugig. Zwar betrat er 1991 gewissermaßen als Halbprofi geographisches, politisches und wirtschaftliches Neuland. Er würde dies nie getan haben, hätte er nicht zuvor erkannt, dass die Zeiten – für ihn – besonders günstige waren. Die externen Umstände waren, rückblickend betrachtet, wirklich günstig: 1. Der Rohstoff seiner Produkte, einerseits pflegegeeignete Immobilien und Grundstücke, andererseits heruntergewirtschaftete Seniorenimmobilien, beides in den neuen Bundesländern, waren zum Zeitpunkt seines Markteintritts, unmittelbar nach der Wende, kostengünstig zu haben und teilweise mit Hilfe öffentlicher Finanzmittel günstig zu sanieren und restaurieren. 2. Der Seniorenmarkt in Deutschland gab sich als Zukunftsmarkt ohne Beispiel zu erkennen. 3. Die Markteintrittsbarrieren in diesem Markt lagen noch tief. Das demographische Drama unseres Landes ist im Jahre der Drucklegung dieses Buches, 2007, in aller Munde3. 1991 war es das nicht.

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Ziel definieren

Bevor Führer begann, tatsächlich stationäre Seniorenheime zu betreiben, wusste er also, was ihm wichtig war (Interessen), und er wusste auch, was er mit seinen monetären, personellen, familiären und intellektuellen Ressourcen anstellen konnte. Zu diesen Ressourcen gehörte nicht zuletzt auch der Zugang zu seinem künftigen Markt. Er verfügte über ein gutes Kontaktnetz und hatte eine ziemlich genaue Kenntnis dieses Marktes. So spürte er, dass er in diesem Markt das tun konnte, was er suchte. Aufgrund der Konvergenz seiner Interessen mit denen seiner künftigen Kunden hatte er sich für diesen Markt entschieden.

2.3.2 Was soll ich? Erst als Führer klar war, was ihm wirklich wichtig ist, und als er wusste, was er wann wie in diesem Markt erreichen konnte, setzte er sich unternehmerische Ziele. So verfährt er auch heute. Jahr für Jahr werden alte Ziele revidiert, angepasst und neue Ziele gesetzt – sowohl privat, als auch im Unternehmen. Zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches lautete Führers Ziel: Bis 2010 5000 Betten. Im Jahr 1991 hieß sein Ziel: Bis 1992 500 Betten. Zur Jahreswende 2006/2007 befragte die Financial Times Deutschland führende Manager nach ihren „guten Vorsätzen“ und konkreten Zielen für das Jahr 2007. Das Ergebnis war ernüchternd. Nur ganz wenige Manager begriffen den Unterschied zwischen „Ziel“ und „Wunsch“, zwischen „Vorsatz“ und „Anliegen“. Bedenkt man, wie oft im Managementalltag von Zielen, strategischen oder taktischen, die Rede ist, musste der Leser ins Staunen geraten. Warum? Weil zwischen Ziel und Wunsch ein himmelweiter Unterschied liegt. Weil Ziele immer eine definierte Deadline haben, bindende Meilensteine des eigenen Weges oder der eigenen Wegstrecke sind. Wünsche, Absichten und dergleichen mehr haben keinen verbindlichen Zeithorizont: „Ich wünsche mir, dass ich künftig mehr Ordnung auf meinem Schreibtisch zustande bekomme“ ist nicht gleichbedeutend mit: „Bis morgen 18:30 Uhr habe ich alle Rechnungen und Briefe abgeheftet, einen Ordner für die Tagesablage bereit gestellt, alle angemahnten Rechnungen bezahlt, alle unbeantworteten Briefe und Mails beantwortet und allen Papiermüll aussortiert.“ Das ist ein ehrgeiziges Ordnungsprogramm, gewiss. Vielleicht ist es zu ordentlich. Aber es ist ein Programm mit einem Ziel. Ohne dieses Verständnis von Zielen, ist planvolles Handeln, ist Management überhaupt – nicht möglich. Die Unsicherheit der deutschen Öffentlichkeit bei der Verwendung des Begriffs „Ziel“ trifft man allenorten an: In Schriftstücken, wichtigen Konzepten und Planungspapieren genau so wie im Dialog mit den Kollegen. Warum ist das so?

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Nur vordergründig handelt es sich um ein Verständnisproblem. Es geht um etwas Ernsthafteres: Um die Sorge und Angst, dem eigenen Handeln eine so verbindliche Richtung zu geben, dass deren Erfolg überprüfbar wird. Nach unserer Erfahrung ist Entschlusslosigkeit der zweite Hauptgrund dafür, sich vor dem Festsetzen eigener Ziele „zu drücken“. Sie ist ein Charakteristikum gerade kluger und klügster Menschen, in Anbetracht einer theoretischen Fülle an Optionen und Risiken lieber endlos zu analysieren, anstatt den ersten Schritt in eine Richtung zu tun. Die Ausrede mit der Überfülle an Optionen oder abzuwägenden Risiken ist jedoch eine schlechte Entschuldigung. Einen falschen ersten Schritt kann man fast immer korrigieren. Wer keinen Schritt macht, der kommt garantiert nie irgendwo an. Und wer losläuft, ohne ein Ziel zu haben, der läuft blind oder eben im Wortsinne ziellos in Leere.

2.3.3 Produktziele und Unternehmensziele Produkt- und Unternehmensziele im Mittelstand Unternehmensziele haben üblicherweise diese Gestalt: „Umsatzverdoppelung bis Dezember 2009“, „Gewinnsteigerung um 20 Prozent gegenüber dem letzten Geschäftsjahr“ oder „Kundenzunahme um 50 Prozent im laufenden Geschäftsjahr bei mindestens konstantem Umsatz“. Gegenüber diesen Unternehmenszielen sind produktbezogene Ziele normalerweise untergeordnet. Untergeordnete Produktziele zu den vorgenannten Unternehmenszielen könnten wie folgt aussehen: „Ausdifferenzierung des Produktes x in eine Produktlinie y, um neue Kundensegmente z und z’ zu erschließen“. „Entwicklung einer Dachmarke und weiterer Produktmarken a und b unter dieser Dachmarke, um im Kundensegment z mit dem neuen Produkt a 20 Prozent zusätzliche Kunden und im Kundensegment z’ mit dem neuen Produkt b 30 Prozent zusätzliche Kunden zu erschließen“. Aus diesen Produktzielen leiten sich dann Vertriebsziele sowie übergeordnete Ziele der Marktkommunikation und untergeordnete Werbe-, PR-, Direct Marketingziele usf. ab. Das ist das konventionelle, analytische Bild einer Zielhierarchie – hier bestehend aus Unternehmens-, Produkt-, Vertriebs- und Kommunikationszielen. Dieses Bild hat mit mittelständischen Produktzielen wenig gemein. Denn im Mittelstand steht das Produkt im Mittelpunkt des Unternehmens, das, spiegel-

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Ziel definieren

verkehrt zu dem üblichen Unternehmensbild, eigentlich nur eine Dienstleistungsfunktion für das Produkt innehat. In einem typischen mittelständischen Unternehmen konvergieren alle Bahnen, Strategien und eben Ziele in dem oder in den Produkten – oft so sehr, dass die Grenze der wirtschaftlichen Vernunft überschritten wird. „Mittelständische Unvernunft“ Letzteres konnte in der Gründungswelle zu Zeiten des Internethypes gut beobachtet werden. Den Unternehmern wurde das Geld für ihre schönen Produkte schließlich nachgeworfen. Das war der negative, unvernünftige Extremfall. Dasselbe Phänomen konnte aber auch schon ein halbes Jahrhundert zuvor beobachtet werden, als die amerikanische Wirtschaft sich anschickte, den Weltmarkt mit Produkten zu erobern, die zwar über kurze Halbwertzeiten und schlechte Verarbeitungsqualitäten verfügten, aber dennoch rege nachgefragt wurden. Weil sie, nach einer weltweit langen Zeit der Entbehrung, Bedarfe deckten und den Konsum anheizten. Damals galt das Label „Made in Germany“ zwar wieder bzw. noch etwas, aber die Weltmarktführerschaft konnte mit ewig haltbaren Volkswagen – „er läuft und läuft und läuft“ – eben nicht angepeilt werden. Dazu waren die Fahrzeuge nicht komfortabel genug, geräumig genug, schön genug. Produktziele dürfen daher nie allein dem Unternehmer gefallen. Sie müssen mindestens ebenso den Kunden gefallen. Und mehr als das: Damit sie den Kunden gefallen, müssen sie außerdem den Mitarbeitern und Lieferanten gefallen. Unternehmer- und Umweltziele als Vater und Mutter eines Produktes Mittelständische Produkte sind das Kind von Unternehmern und ihrer unmittelbaren Umwelt. Sie werden umsorgt, genährt und gepflegt wie ein Kind und sie sind den Unternehmern heilig wie ein Kind. Daher kommt es immer wieder auch zu Akten irrationaler Fürsorge. Mittelständische Produkte sind das unternehmerische Manifest. In ihnen manifestiert sich das Unternehmerinteresse einerseits (Vater) und das Interesse der Umwelt – Mitarbeiter, Kunden, Zulieferer – (Mutter) andererseits. Diese metaphorische Darstellung ist vielleicht nicht politisch korrekt, aber sie trifft den Kern eines mittelständischen Produktes ziemlich genau. Sie trifft ihn deshalb so genau, weil sie deutlich macht, dass in einem gut geführten mittelständischen Unternehmen „ das Unternehmen dem Produkt und dieses nicht dem Unternehmen dient,

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„ die Interessen der „Mutter“ tatsächlich aktiv vom „Vater“ berücksichtigt werden und nicht etwas nur toleriert, in Kauf genommen oder – im schlimmsten Fall – manipuliert werden. Die amerikanische Produktphilosophie war gewissermaßen mütterlich geprägt, ausgehend von den Zielen der Konsumenten, schlecht ausgebildeten Mitarbeitern und kostengünstig operierenden Arbeitern. Die europäische und besonders die deutsche waren väterlich geprägt, ausgehend von einem allmächtigen Vater, den der Rest der Welt, ehrlich gesagt, kaum interessierte. In der Führer Unternehmensgruppe kann man beobachten, dass eine funktionierende „Ehe“ einem Produkt durchaus sehr gut tun kann. Burchard Führer verdankt sein Produkt nicht nur seinen persönlichen Interessen, sondern eben genauso sehr denen seiner Kunden, seiner Mitarbeiter und seiner Standorte (Zulieferer). Indem er deren Interessen bei der Zielfindung explizit mitberücksichtigt, setzt er die Kräfte und Ressourcen frei, um sein unternehmerisches „Vater-Genom“ fortzupflanzen. Deshalb sind diese Produkte mehr als nur konkretisierte Unternehmerintention. Das unmittelbare in den Produktzielen konkret gewordene Unternehmerinteresse ist Garant für hartnäckige kontinuierliche Qualitätsverbesserungen. Die Suche nach besten Lösungen und unbedingte Kundenzufriedenheit und das in den Produkten ebenfalls konkret werdende Interesse der Mitarbeiter, Kunden und Zulieferer trägt dafür Sorge, dass der Unternehmerwunsch nicht nur als Bauplan Ausdruck findet, sondern in die Wirklichkeit überführt werden kann. Die Unternehmerfähigkeit, seine eigenen Interessen zu erkennen und als Ziele zu formulieren, geht also eine erfolgsnotwendige Verbindung mit der weiteren Fähigkeit ein, die Interessen der Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten zu erkennen und zu bedienen. Gute Unternehmer setzen daher niemals die Interessen ihrer Mitarbeiter und Zulieferer leichtfertig aufs Spiel oder torpedieren diese gar. Sie sind vielmehr darauf bedacht, diese Interessen ebenso zu befriedigen und zu achten wie die eigenen, kann doch nur durch die Befriedigung der eigenen und der anderen Interessen ein erfolgreiches Produkt zustande kommen. Da dies so ist, ist es für Führer absolut müßig, seinen Heimleiterinnen und Heimleitern vor Ort Ziele zu diktieren: „Über das Was, Wann und Wie kann ich nicht alleine bestimmen. Planzahlen werden nicht vorgegeben. Die Planzahlen müssen sich an den Möglichkeiten der einzelnen Häuser orientieren. Sie können nicht an der Marktsituationen vorbeigehen: Heimleiter, Buchhalter, Pflegedienstleiter – die müssen alle hinter den Budgetierungen und Zielen stehen. Bei divergierenden Meinungen muss man einen Kompromiss finden. Diese Budgetplanungen finden zwischen Anfang Dezember und Ende Januar statt und am 1. Februar sind alle Budgets fertig und sind dann verbindliche Vorgaben.“

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Ziel definieren

Produkt- und Unternehmensziele in Konzernen Dies ist in einem nicht inhaber-, sondern typisch managementgeführten Unternehmen oder Konzern aufgrund der dort anzutreffenden Zielhierarchie in der Regel vollkommen anders. Dort kommt es auf den Profit als Endziel allen Handelns und nicht als Mittel zum Zweck der Produktoptimierung an. Das Produkt dort ist ein Instrument, um wirtschaftliche Ziele zu erreichen. „Vater und Mutter“ dieser Produkte sind Manager, die als Forscher, Entwickler, Marktforscher, Vertriebler und Controller ihren individuellen persönlichen Zielhorizont vor Augen haben, der ganz sicher nicht in den Produkten materialisiert ist, an deren Herstellung sie vorübergehend direkt oder indirekt alle beteiligt sind. Natürlich sind auch an der mittelständischen Produktion Manager beteiligt. Aber diese Manager werden von Unternehmern „ins Gebet“ genommen, für die das eigene Produkt fast so wertvoll ist wie das eigene Leben und die daher den Mitarbeitern und Lieferanten den Spielraum belassen, ihre eigenen Interessen möglichst umfassend mit denen des Unternehmers in Deckung zu bringen. Wo dies nicht möglich ist, verzichtet der Unternehmer lieber auf den Mitarbeiter oder Lieferanten, denn jeder noch so qualifizierte Mitarbeiter oder Zulieferer ist in einem mittelständischen Unternehmen fehl am Platz, wenn er sich nicht mit den Zielen des Unternehmers identifizieren kann oder wenn er dort keine Möglichkeit findet, seine eigenen Ziele „kongenial“ zu realisieren. Mittelständische Produkte haben daher in aller Regel einen deutlich längeren Produkt-Lebenszyklus als Konzernprodukte. Gute Mittelständler tüfteln, forschen und investieren so viel und so lange an ihren Produkten, weil es eben ihre Produkte sind, an denen ihnen, wenn sie ehrlich sind und keine Bank im Nacken spüren, mehr liegt als an ihrem Gewinn. Auf kurze Shareholder-Horizonte umspannende Sicht ist dies unwirtschaftlich. Auf lange Sicht jedoch ist es das nicht. Denn ein wirklich gut konzipiertes Kernprodukt hat sehr viel Potenzial, sowohl in die Tiefe als auch in die Breite ausgewalzt zu werden, ohne dass dafür dann Milliarden an Forschungsinvestitionen verausgabt oder versenkt werden müssen.

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Entwicklung der Investitionen 20.000 18.000

Investitionen

16.000 14.000 12.000 10.000 8.000 6.000 4.000 2.000

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2005

2004

2003

2002

2001

2000

1999

1998

1997

1996

1995

1994

1993

1992

0

Jahr

Quelle: HS Heimservice GmbH Abbildung 16: Die Entwicklung der Unternehmensgruppe Burchard Führer von 1992 bis 2006

2.4 Weg ableiten Welcher Strategien bedient sich der Unternehmer nun, um Mitarbeiter, Kunden und Lieferanten zu gewinnen? Der Mittelständler umwirbt seine Mitarbeiter, seine Kunden und seine Lieferanten, bedient deren Interessen, um das größtmögliche Potenzial dieser Zielgruppen für sein Produkt fruchtbar zu machen. Wie der Unternehmer die Interessen der Mitarbeiter, Lieferanten und Kunden aufnimmt und befriedigt, ohne seine eigenen Interessen zu hintergehen, beschreiben wir in den Kapiteln 3 bis 5. Uns interessiert an dieser Stelle nur zu zeigen, 1. dass er es tatsächlich tut und zwar ganz bewusst geplant, 2. dass genau dies der Weg war und ist, sein Produkt erfolgreich zu machen.

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Weg ableiten

2.4.1 Das Produkt steht im Mittelpunkt Das erste und wichtigste mittelständische Charakteristikum am Produktmanagement (PM) der Unternehmensgruppe Führer ist, dass es dort eine Abteilung oder einen Funktionsbereich PM überhaupt nicht gibt. Produktmanagement macht jeder. Dies liegt daran, dass das Kernprodukt des Unternehmens, der Pflegedienst für Senioren, dieses Unternehmen nahezu vollständig ausfüllt. Die wenigsten erfolgreichen mittelständischen Unternehmen sind Poliprodukt- oder Polimarkenunternehmen. Fast immer steht ein Kernprodukt oder eine Kernproduktlinie im Mittelpunkt, die von unterstützenden und ergänzenden Produkten oder Produktlinien flankiert werden. In mittelständischen Unternehmen sind Produktmanagement und Unternehmensmanagement meistens ein und dasselbe. Der Vorteil: Die Energien des Unternehmers fokussieren dieses Schlüsselprodukt und verausgaben sich nicht mit Nebenerscheinungen. Der Unternehmer richtet alle im Umfeld des Produktes beteiligten Interessen wie ein starkes Magnetfeld auf den Produkterfolg aus. Der Nachteil: ein höheres Produktrisiko, eine höheren Abhängigkeit von der Nachfrage nach diesem einen Produkt oder dieser einen Produktlinie gegenüber breit aufgestellten Unternehmen Wie bewerten wir dieses Risiko: Sicher lässt sich argumentieren, eine breitere Aufstellung reduziere diese Risiken. Viele Kreditinstitute argumentieren so. Aber gerade weil in diesen Unternehmen die Kräfte auf nur ein Kernprodukt fokussiert werden, besteht dort die Möglichkeit, dieses Produkt so facettenreich und konjunkturresistent zu gestalten, dass sie und ihr Produkt auch unter schwierigen Marktbedingungen wachsen und gedeihen können. Führer hat außerdem Risiko minimierende Schutzmechanismen eingebaut: 1. Er betreibt nicht nur Seniorenheime, sondern auch Behindertenwohnstätten. 2. Er ist nicht nur in der vollstationären, sondern auch in der ambulanten Pflege und außerdem im Gastgewerbe tätig. 3. Er besitzt das Gros der von ihm betriebenen Heime und verfügt somit über veräußerbare Assets. Er ist durchaus in der Lage, Heime zu schließen, sollte dies notwendig werden, ohne dadurch die Existenzgrundlage seiner Firma zu gefährden. 4. Er hat seine Heime bewusst und geflissentlich mit den sorgfältig ausgesuchten Standorten verwoben. An seinen Standorten sind die Heime keine von außen verpflanzten Solitäre, sondern integrale Standortmerkmale.

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5. Er verwertet seine Erfahrungen im Bau, im Betrieb, in der Sanierung und Restrukturierung von Pflegeheimen und Pflegebetrieben, indem er sie zu einem Dienstleistungsportfolios für Gebietskörperschaften, andere Heimanbieter und Insolvenzverwalter zusammenfügt und erfolgreich am Markt platziert. Dadurch gewinnt er doppelt: zusätzliche Wertschöpfung und exzellente frühzeitige Marktinformationen – beispielsweise zu neuen attraktiven Standorten. Rund um das von ihm fokussierte Kernprodukt, die Seniorenpflege, hat Führer also, neben integrierten Sicherheitsmechanismen, horizontal oder parallel und vertikal, in die Tiefe gehend, ein breites Leistungsportfolio an Serviceprodukten aufgebaut, die sein Kernprodukt absichern: „ Horizontal: Behinderteneinrichtungen, ambulante Pflege, Betreutes Wohnen,

Gastronomie, „ Vertikal: Beratungsleistungen rund um die Pflege.

Dass er sich und seinen Kernprodukten dadurch eine bessere Marktposition verschafft, konnten die Verfasser selber erleben. Im Jahr 2006 gab es eine deutsche Kommune, die seit Jahren auf einen Investor wartete, der Interesse an der Bebauung und Nutzung eines brach liegenden zentral und gut gelegenen städtischen Baugrundstücks anmelden würde. Führer war interessiert und konnte einen guten Preis aushandeln. Das Problem: Dieselbe Kommune war aufgrund komplizierter vertragsrechtlicher Beziehungen zu einem kirchlichen Pflegeheimbetreiber, der seinerseits Konkurrenz fürchtete, nicht in der Lage zuzulassen, dass dort ein vollstationäres Pflegeheim betrieben wird. Mit dem Baurecht allein kann ein Pflegeheimbetreiber nicht viel anfangen. Er ist ja nicht Projektentwickler und will bauen, sondern er will allenfalls bauen, um anschließend betreiben zu können. Aufgrund seiner Erfahrungen sowohl in der ambulanten als auch in der vollstationären Pflege hatte Führer nicht nur Interesse an dem Betrieb eines Heimes der vollstationären Seniorenpflege, sondern auch am Betrieb einer flankierenden Betreutes-Wohnen-Einrichtung, woran die Stadt sehr interessiert war. So konnte eine Regelung organisiert werden, die die Stadt aus der vertraglichen Bredouille vis à vis dem kirchlichen Pflegeheimbetreiber half und Führer die Möglichkeit eröffnete, ein vollstationäres Pflegeheim zu errichten. Wichtig an diesem Modell der Produktaufstellung ist, dass klar ist, welches Produkt im Mittelpunkt steht und welches eine flankierende Rolle wahrnimmt. Führer wäre es nie in den Sinn gekommen zu sagen, er sei Gastronom und Projektentwickler und Bauunternehmer und Behindertenexperte – nach dem Modell eines bekannten ehemaligen „integrierten Technologiekonzerns“ etwa.

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Weg ableiten

Führer hält es eher mit der Porsche AG. Diese „ baut parallel, neben ihrem Kernprodukt, der 911-Produktserie, einen Boxster

und einen Cayman, beide im Design unzweideutig an den Grundlinien des 911 orientiert, und – zugegeben – außerdem einen Cayenne, „ schult und berät technisch und betriebswirtschaftlich an der Porsche Akade-

mie, mit der Porsche Consulting und der Porsche Engineering Wettbewerber und Zulieferer, „ übt dominanten Einfluss auf den VW-Konzern aus, nicht in erster Linie, um

daran Geld zu verdienen, sondern um auf diese Weise kostengünstig forschen und auf gemeinsamen Technologieplattformen produzieren zu können. Die Wurzel dieses Porsche- oder Führer-Modells ist keine vom Reißbrett aus geplante Strategie, wie die des ehemaligen Daimler-Chrysler-CEOs Jürgen Schrempp oder des ehemaligen Daimler-Benz-Vorstandsvorsitzenden Edzard Reuter, sondern eine persönliche Identifikation mit den Objekten des eigenen Unternehmerinteresses: schönen Immobilien, schönen Gärten und Menschen oder eben perfekten Sportwagen. Natürlich hätte Führer, anstatt in das Kerngeschäft Seniorenpflege zu gehen, auch in das Kerngeschäft der Behindertenpflege gehen können. Die gesetzlichen Anforderungen an den umbauten Raum wären dort aber um ein Vielfaches komplexer und höher gewesen und hätten die Möglichkeiten, seine Primärinteressen zu verwirklichen und genau dafür eine dankbare Kundschaft zu finden, erheblich eingeschränkt.

2.4.2 Interessen der Mitarbeiter und Lieferanten identifizieren und befriedigen Mitarbeiter und Lieferanten sind die Plattform, auf denen Unternehmerinteressen zu ihrem Ziel gelangen – oder nicht gelangen. Burchard Führers Plan, sein Interesse, schöne Heime für Senioren zu bauen und zu betreiben, in die Tat umzusetzen, ist ganz einfach: Diesen Mitarbeitern und Lieferanten muss er etwas bieten, damit sie ihm das bieten, was er benötigt: attraktive Standorte, exzellente Services, ein gutes Images bei den Kunden … „Ich bin dazu da, dass sich der Mitarbeiter wohl fühlt“ Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnis waren die Verfasser, vorsichtig ausgedrückt, ziemlich überrascht, wie diese Interessenbefriedigung der Mitarbeiter und Lieferanten von Führer beschrieben wurde. Gefragt, welche Priorität die

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Mitarbeiter und Lieferanten in dem produktkonstituierenden Quartett Unternehmer – Kunde – Mitarbeiter – Lieferant genießen, antwortet Führer zunächst wieder unumstößlich: „Gar keine! Der Mitarbeiter ist dazu da, dass er einen guten Job erledigt und ich bin dazu da, dass er sich so wohl fühlt in meinem Betrieb, dass er in der Lage ist, einen guten Job zu erledigen, und wenn es da irgend welche Diskrepanzen gibt, dann hat er zu verschwinden. Und die Lieferanten spielen überhaupt keine Rolle. Ganz klare Ansage! Der Kunde hat immer recht.“ „Natürlich“, mildert er später ab, gebe es auch da Grenzen. Aber wenn Mitarbeiter beispielsweise „frech würden“, weil sie sich gegenüber „nörgeligen Bewohnern“ nicht zu helfen wüssten, dann seien sie „einfach nicht qualifiziert genug für diesen Job“. Auf unsere ein wenig überraschte Nachfrage erläutert er, er sei nicht dazu da, das Seniorenheim für die Mitarbeiter in eine einzige Raucherecke und den Arbeitstag in eine einzige Kaffeepause zu verwandeln, „sodass am Ende diese verrückten Alten einfach nur stören. Was könnte das für ein schöner Tag sein, wenn nicht diese verrückten Leute einen nerven.“ Das, sagt Führer, sei einfach die falsche Einstellung. Führers Standpunkt ist bezeichnend, weil er zweierlei offen legt: „ Einerseits eine väterlich autoritäre Attitüde gegenüber einer Sorte Mitarbei-

ter, die sich sicherlich kein Unternehmer wünschen kann. Es ist eine Einstellung, die den Unternehmer als prototypischen Machertypus charakterisiert. „ Andererseits macht sie aber genauso deutlich, dass dieser Unternehmer eine

sehr klare, artikulierte und reflektierte Auffassung zu seiner eigenen Verantwortung gegenüber den Mitarbeitern hat und diese nur hinter rhetorischem Überschwang „etwas“ verbirgt: Ich bin dazu da, dass sich meine Mitarbeiter wohl fühlen in meinem Betrieb.“ So deutlich beschreiben nur wenige Unternehmer ihre Rolle gegenüber den Mitarbeitern und ihren Interessen. Zu der Befriedigung der Mitarbeiterinteressen gehört nicht allein eine angemessene Bezahlung nach Tarif. Führer sagt, die monetäre Entlohnung werde als Motivationsfaktor kolossal überschätzt. Dazu gehören auch nur am Rande die allfälligen Incentives und Social Events, wie die ein- bis zweimal jährlich ausgetragenen Bowlingwettkämpfe der Gruppe. So etwas ist marktüblich, nichts Besonderes. Zu dieser Interessensbefriedigung gehört vor allem die Ermöglichung von Fortbildung und Karriere, die Bereitschaft, der Kreativität des Mitarbeiters auch dann Raum zu geben, wenn der Unternehmer selbst nicht sofort begeistert ist. Dazu gehört die Disziplin, im Führungsteam mehrheitlich beschlossene Entscheidungen unabhängig von der eigenen Meinung mitzutragen, sofern sie nicht

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Weg ableiten

der Essenz der eigenen Produktvorstellung, dem Produktkern, zuwiderlaufen. Dazu gehören die Erwartung an und das Vertrauen in die Mitarbeiter, das eigene Unternehmen vor Ort und in den berufsständischen Gremien verantwortungsbewusst zu repräsentieren. Diese Punkte sind weniger selbstverständlich, weil sie eine hohe Achtung des Unternehmers vor dem Mitarbeiter und großes Vertrauen deutlich machen, außerdem die Bereitschaft, im Interesse eines gemeinsamen Produktes ein wenig zurückzustecken. Natürlich stellt sich im Konkreten sofort die Frage, wann Führer sich einer Mehrheitsmeinung trotzdem widersetzt, weil er meint, was da beschlossen werde, halte seinen Produktvorstellungen nicht stand. Auf diese Frage gibt es keine klare Antwort. Am Ende zählt für Führer, in welchem Geist so eine Mehrheitsentscheidung getroffen wird. Wenn es im Sinne des Produktes ist und nicht allein im Sinne eines eigenen Kurzfristinteresses, dann ist Führer bereit zurückzustecken. Wir erinnern uns an die Charakterisierung Führers durch seine Frau. Tatsächlich ist Führers Einstellung gegenüber den Mitarbeitern also deutlich weniger patriarchalisch, als es den Anschein hat. Nur wenn die Grundanforderungen der Arbeit an den Mitarbeiter nicht eingelöst werden, nur dann nimmt seine Haltung autoritäre Züge an. Das ist nachvollziehbar, verdankt doch der Mitarbeiter die Möglichkeit, an diesem Produkt zu partizipieren, dem Unternehmer. Quid pro quo: Der Standort als Lieferant Mit den Lieferanten verhält es sich ähnlich. Führer relativiert seine Aussage, Lieferanten hätten keinerlei Bedeutung für die Gestalt seines Produktes, und erläutert, man müsse zwischen zwei Arten von Lieferanten unterscheiden, solchen, die das Produkt, hier also die Pflegeleistung mitformten, und solchen, die auf das Produkt so gut wie gar keinen Einfluss nähmen. Zwar habe auch der Brötchenlieferant eines Heimes eine nicht zu vernachlässigende Relevanz für dieses Heim, insofern die Brötchen so gut oder so schlecht sind, dass der Bewohner sich auf das nächste Frühstück freuen oder eben nicht freuen könne. Dieser Anforderung werde durch das Qualitätsmanagement und den Einkauf im Sinne einer marktadäquaten, angemessenen Bezahlung auch angemessen Rechnung getragen. Eine erheblich größere Produktrelevanz haben aber die Standorte der Heime. Führer: „Da ist ein kleines Gutsdorf gewesen, das nach dem Krieg eben so verlottert war wie vieles andere. Das Herrenhaus ist dann in DDR-Zeiten eine Behinderteneinrichtung des allerübelsten Zuschnitts gewesen, die einfach so

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schlimm war, dass der Chef der Stadtwerke, der uns das erste Mal 1998 besucht hatte – zu dem Zeitpunkt war erst der Anfang getan – zu mir gesagt hat, er hätte ja nicht gedacht, dass das Dorf schon so schön hergerichtet sei, denn er hätte sich immer geweigert, überhaupt in das Dorf zu fahren, weil es einfach hochgradig ekelig war. Allein um diesen Gutshof zusammenzukriegen haben wir 31 Kaufverträge gebraucht. Da war dann eine Scheune, bei der so verfahren wurde: Die Scheune hat 50 Meter. Sieben Leute bewerben sich. Einer kriegt 8 m, die anderen 7 m! Es kann dann zwar keiner in die Scheune reingehen, aber dies waren die Ergebnisse der Bodenreform. Die ersten Dinger kriegte man noch relativ günstig. Aber dann kam da ein Privatmann und der verfuhr so nach dem Motto: ’Ich hab das letzte Stück!’ Das fehlte uns wirklich dringend. Der sagte dann: ’Ich häng’ soo daran. Mein Vater hat das ja noch damals bei der Bodenreform gekriegt…’ Und so wurden die letzten Stückchen zum Schluss immer teurer. Dann kam eine städtische Wohnungsgesellschaft, die sagte: ’Schauen Sie, wir haben da ein Grundstück, das Sie interessieren dürfte. Wir haben aber im Nachbardorf auch zwei Problemgrundstücke. Wenn Sie die auch noch nehmen, dann kriegen Sie das hier zu einem tollen Preis.’ Und irgendwann kam die Landeskirche an und sagte: ’Mensch, wir haben hier im Dorf eine Kirche, wir haben auch eine Kirchengemeinde und einen eigenen Pastor, aber wir haben nicht mehr das Geld, die Kirche in Gang zu halten, und das war doch immer eine Patronatskirche …’ Na ja, wir übernahmen die Kirche, kauften noch drum herum die Gebäude, die die ganze Kirche verstellt haben, setzten die Mauern wieder instand, haben die Kirche wieder instand gesetzt, haben ganz viele Grundstücke frei gemacht, damit die Kirche wieder frei und gut sichtbar dasteht, haben den Friedhof wieder in Betrieb genommen. Die nächsten Sachen sind, nachdem jetzt die Kirchenfenster in Arbeit sind, das Kirchengestühl und eine Orgel.“ Rein finanzwirtschaftlich betrachtet, ist das alles unter Umständen „overdone“. Aber es schafft Vertrauen, gebiert Respekt und bringt Kunden. Und es ist sichtlich mehr, als erwartet werden kann. Burchard Führers Standorte sind, in einem durchaus strengen Sinne des Wortes, Lieferanten seiner Heime. Und zwar die mit Abstand wichtigsten. Standortvorund -nachteile beeinflussen Wohl und Wehe der Heime und ihrer Frequentierung maßgeblich. Die Heime honorieren oder entlohnen diesen „Lieferanten Standort“, indem sie Steuern zahlen, Arbeitsplätze schaffen, ihm neue Qualitäten beschaffen, indem sie renovieren, sanieren, instand setzen, Kirchenrenovierungen finanzieren usf. Im Gegenzug liefern diese Standorte den Heimen Bewohner, ein hohes Ansehen, das Recht zu bauen und zu expandieren usf. Ist die Leistung des Standortes unbefriedigend, verschwindet das Heim.

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Weg verfolgen

Es ist wichtig, in diesem Kontext auf die Legitimität der Interessenbefriedigung zu verweisen, da bei diesem Thema schnell ein Hauch von Korruption ins Spiel gerät. Davon kann bei der Unternehmensgruppe Führer keine Rede sein. Der direkte materielle Vorteil liegt immer beim Standort. Das Heim profitiert nur mittelbar, über das Ansehen, das Image, die gute Referenz.

2.5 Weg verfolgen 2.5.1 Effizienz ist nicht alles: Aufbau- und Ablauforganisation Aufbau- und Ablauforganisationen stehen seit jeher im Fokus betriebswirtschaftlicher Verbesserungsbestrebungen. Ob Kaizen, Lean Production, geringe Fertigungstiefe, kontinuierliche Verbesserung: Überall geht es darum, einen vorgegebenen Output mit geringst möglichem Input zustande zu bringen. Das Thema Effizienz wird heute so hoch bewertet, weil die Effektivität, der Output, zunehmend von der immer mächtigeren Macht der Nachfrager diktiert wird und insoweit gesetzt ist. Wir konnten in diesem zweiten Kapitel bereits zeigen, dass dieses Effizienzdenken nicht in jedem Markt zielführend ist. In der Pflegewirtschaft ist die reine „Effizienzdenke“ ein Holzweg, weil der Output, die Pflegequalität, nicht metrisch gemessen und festgelegt werden kann, sondern ein Wert ist, der in erster Linie gefühlt wird und allenfalls anhand strukturierter Kundenbefragungen in metrische Indikatoren übersetzt werden kann. Da es aber bisher kein vorab definiertes Ziel der erstrebenswerten Seniorenzufriedenheit gibt – man hält sich lieber an die romantische aber nichtssagende Formel „größtmögliche Kundenzufriedenheit“ – ist es einigermaßen unsinnig, sich über korrespondierende Minima des Leistungsinputs Gedanken zu machen. Es ist wirtschaftlich und logisch schlicht unmöglich, einen maximalen Output bei minimalem Input zu erreichen. „Pflegefabriken“, die sich im Interesse der Kostenträger an die Erfindung von Pflegerobotern und das Design von Zeittakten/pflegerischem Handgriff machten, haben daher gute Karten. Wenn als Reaktion darauf die Inhumanität der Pflege beklagt wird, die alleingelassenen alten Menschen, die Trostlosigkeit des Heimdaseins, sagt man den Klageführern einfach, die Kostenträger machten mehr leider nicht möglich. Verantwortlich sind immer die anderen.

Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

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Wir konnten am Beispiel der Führergruppe zeigen, dass mehr durchaus möglich ist, wenn man bereit ist, an anderer Stelle weniger zu benötigen: Weniger Wasserkopf in der Unternehmenszentrale, weniger Baukosten, weniger Betriebskosten, weniger Vertriebs- und Marketingkosten. Diese Kosteneinsparpotenziale könnte sich ein Pflegekonzern leisten, wenn er sich ein mittelständisches Unternehmensmodell zum Vorbild nähme, anstatt „ nur die Kostenträger und nicht die Heimbewohner als Kunden zu betrachten, „ Mitarbeiter als interesselose Pflegeautomaten zu „missbrauchen“, ohne ihre

menschliche Eigenschaft als Interessen verfolgende, intelligente Menschen ernst zu nehmen und ihre Produktrelevanz als Qualitätsfaktor zu begreifen, „ Standorte als rentierliche oder unrentierliche Orte zu „erwerben“, ohne ihre

soziale Dimension als vertriebsrelevante Infrastrukturen zu pflegen und zu nutzen. Pflegekonzerne interessieren sich nicht für die Interessen der Mitarbeiter, der Standorte und schon gar nicht für die der Pflegeempfänger, weil sie der simplistischen Formel erliegen, dass nur der Kunde interessiere. Dies ist einmal deswegen falsch, weil der Kunde, im Fall der Pflegewirtschaft, sowohl die Kostenträger als auch die Pflegeempfänger sind – letztere haben über ihre Familienangehörigen schließlich erheblichen Einfluss auf den Vertriebserfolg der Heime. Dies ist aber zum zweiten auch deshalb falsch, weil die Interessen des Kunden eben nur dann angemessen bedient werden können, wenn die Interessen der Mitarbeiter und Zulieferer angemessen bedient werden. Die Pflegeindustrien sind dabei gar nicht zynisch. Sie bezahlen Pflegekräfte teilweise bereitwillig überbetrieblich, um an die besten von ihnen zu geraten. Aber dadurch wird eine Pflegekraft eben nicht besser oder motivierter. Die monetäre Entlohnung ist für die meisten Mitarbeiter eben längst nicht so wichtig wie das menschliche Interesse an ihnen und der Respekt, der ihnen von den Führungskräften entgegen gebracht wird, indem man sie auffordert, standespolitisch aktiv zu sein – egal wo, standortpolitisch Flagge zu zeigen – wiederum egal wo, intern Farbe zu bekennen und Verbesserungsvorschläge einzubringen, egal wie gut der Chef sie findet und indem man ihnen eine Karriereperspektive bietet und sie dabei unterstützt sich extern fortzubilden. Solange es keinen definierten Soll-Output der Kundenzufriedenheit gibt, ist jeder Versuch, Effizienz zu trimmen, ein Versuch, Qualität zu minimieren. Das kann nicht gut gehen. In der Führergruppe wird deswegen bewusst und konsequent nicht der Vorstellung Vorschub geleistet, die Mitarbeiter müssten innerhalb eines definierten Zeitrahmens so und so viele Handgriffe je Heimbewohner verrichten. Effizienz findet anderswo und anderweitig statt:

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Weg verfolgen

„ durch verbindliche, von allen Beteiligten gemeinsam verabschiedete Ziel-

und Budgetvorgaben, „ durch Bereitstellung der verabschiedeten Mittel an diejenigen, die die Ziele

auch erreichen müssen, und durch die Übertragung der Verantwortung und Wahl der Mittel für das Erreichen von Zielen und Etappenzielen an diejenigen, die sie erreichen müssen. „Management by objectives“ Man kann diese Form des Managements „Management by objectives“ nennen. Aber eine solche Etikettierung ist heikel, weil sie missverständlich ist. Dieses Management über Ziele funktioniert eben nur, „ wenn es sich um verbindliche, gemeinsam ausgebrütete Ziele handelt, die

allen Akteuren persönlich viel bedeuten, „ wenn eine Controllinginstanz das Erreichen der gemeinsam verabschiedeten

Meilensteine auf dem Weg zum Hauptziel oder Jahresziel überwacht, „ wenn das Nichterreichen und das Übererreichen eines Zieles Interventionen

und im Falle von willentlicher Nachlässigkeit – ja das auch – Sanktionen zur Folge hat. Wie die einzelnen Heime organisiert sind, bleibt den Heimleitungen vor Ort vorbehalten, solange diese Organisationen den gesetzlichen Anforderungen entsprechen. Meist nehmen die Mikrokosmen der einzelnen Heime am Modell des Makrokosmos des Unternehmens Maß. Dezentralität als Chance und Risiko Auf diesem Feld scheinen allerdings noch Verbesserungspotenziale brachzuliegen. Es hat den Anschein, als operierten die einzelnen Heime so, als stünden ihnen nur zwei Blickrichtungen zur Verfügung: Jene auf die Zentrale und jene auf die eigenen Standorte. Es mangelt am Blick auf die Heime und Standorte der Kollegen, an einer formellen wie informellen direkten Vernetzung der Heime untereinander. Diese nimmt meist den Umweg über die Zentrale. Eine direktere Vernetzung würde zu einer schnelleren Verbreitung und Etablierung von Einzelerfolgen als Unternehmensstandards führen. „Das ist noch ganz schwierig“, erklärt Führer. Diese Problematik teilt die Führergruppe mit sehr vielen dezentralen Strukturen und Organisationen – auch mit vielen Konzernen. Grund des Übels ist der Umstand, dass Ziele und Budgets stets bilateral zwischen der Führung in der Zen-

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Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

trale und den Niederlassungen vor Ort verhandelt werden. Der Erfolgsbeitrag der übrigen Niederlassungen für die eigene Zielerreichung bleibt so unsichtbar. Andere Niederlassungen werden – meist und auch bei Führer durchaus mit Absicht – als Wettbewerber registriert. Dadurch werden sie dann aber nicht mehr als Partner wahrgenommen, die das Unternehmen insgesamt und so auch einen selbst nach vorne bringen können. Nur für den Unternehmer in der Zentrale ist die Heimleiterin ein Partner, denn er braucht sie. Aufgabe einer Zentrale muss es daher sein, auch Unternehmensziele zu identifizieren und mit den Mitarbeitern zu verabschieden, die nicht allein auf individuelle Heime heruntergebrochen werden können, sondern in der gemeinsamen arbeitsteiligen Verantwortung aller Heimleitungen liegen, die so gezwungen werden, ihr Wissen auszutauschen und zu kooperieren.

FührerHeim b

FührerHeim c

FührerStandort

Zentrale Heim a

FührerHeim d

FührerHeim n = Kommunikationswege

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 17: Es fehlt noch der Blick auf die anderen Heime

2.5.2 Hart am Limit: Die Zentrale Die Organisation der Zentrale selbst ist funktional nach dem Prinzip der direkten Zuordnung von Führungspersönlichkeit und Funktion gestaltet. Die Größe dieser Zentrale ist auf das vorstellbare Minimum reduziert. Jede Form von Was-

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Route optimieren: Auch aus Erfolgen lernen

serkopf ist in diesem Unternehmen tabu. Die Zentralressorts sind: 1) Geschäftsführung, 2) Strategie, 3) Finanzcontrolling, 4) Expansion und Marketing, 5) Facility Management, 6) Bau und Zentraleinkauf 7) Recht und 8) Qualitätsmanagement. Dieser achtköpfigen Zentrale steht ein zweiköpfiges Sekretariats- und Assistententeam zur Seite. Und das ist alles. Berücksichtigt man, dass die gesamte Gruppe annähernd 2.500 Mitarbeiter beschäftigt, ist schon bemerkenswert, wie effektiv und kostensparend in diesem Unternehmen ohne Qualitätseinbußen mit einem so kleinen Führungsteam gearbeitet wird. Führer: „Wer war das doch noch einmal: Ab 5 Prozent Überkapazität stellt sich Mitarbeitermangel ein, Verwaltungen fangen dann an, nur noch sich selber zu verwalten. Da werden dann Dinge erfunden, die niemand braucht. Das wollen wir nicht. In der Führungsmannschaft arbeiten alle hart am Limit. So kommen wir nicht auf dumme Gedanken“. Fazit: Beide Seiten, die Zentrale und die Niederlassungen agieren innerhalb eines für beide Seiten verbindlichen Organisationsrahmens, der durch zwingende Qualitätsanforderungen und Schlüsselanforderungen des Unternehmers einerseits, gemeinsam verhandelte wichtige Ziele andererseits, gesetzt ist. Dieser Rahmen liefert die notwendige Orientierung und Verlässlichkeit und sorgt somit gleichermaßen für Vertrauen, Effizienz und Effektivität. Organisatorische Verbesserungen müssen auf dem Feld der Heimkooperation ins Werk gesetzt werden, damit das Unternehmen besser zusammenhält und bei der Zielverhandlung und Zielumsetzung nicht zu sehr von dem Dipol Zentrale – Heim beherrscht wird.

2.6 Route optimieren: Auch aus Erfolgen lernen Jedes Heim setzt sich in der Führer Unternehmensgruppe in intensiven Planungsgesprächen jeweils um die Jahreswende mit der Geschäftsführung sowie den Führungsverantwortlichen der Fachbereiche Controlling, Expansion und Strategie zu „Budgetgesprächen“ an einen Tisch. Dann werden die Umsatzziele und Heimbudgets für das kommende Kalender- und Geschäftsjahr diskutiert und einvernehmlich festgelegt. „Die Planzahlen müssen sich dabei an den Möglichkeiten der einzelnen Häuser orientieren. Wir können nicht an Marktsituationen vorbei gehen. Heimleiter, Buchhalter, Pflegedienstleiter, die müssen schon alle hinter den Budgetierungen stehen. Bei Dissens muss im Rahmen der Budgetpla-

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Produktnähe: Burchard Führer Unternehmensgruppe

nungen, die immer zwischen Anfang Dezember und Ende Januar stattfinden, ein Kompromiss gefunden werden. Lokale Besonderheiten werden dabei selbstverständlich berücksichtigt “. Monatlich analysiert dasselbe Team den Zielerreichungsgrad und die Frage, ob und warum positive oder negative Zielabweichungen von der Heimleitung oder der Zentrale zu verantworten sind. „Wenn etwas in einem Monat durchs Ziel rutscht – und das passiert immer mal, das lässt sich nicht vermeiden – dann weiß ich das am 15. des nächsten Monats. Spätestens am 18. sind die Auswertungen da. Wenn dann etwas ganz Ernstes daneben geht, dann kommt jemand aus der Zentrale und leistet der örtlichen Buchhaltung Hilfestellung“, sagt Führer trocken. „Das sind dann Dinge, bei denen schon in das Haus hineinregiert wird. Da werden dann Maßnahmen geplant, deren Umsetzung konsequent verfolgt wird.“

Verbindlicher Qualitätsrahmen: Von Unternehmer/Kunden/Behörden gesetzt Einvernehmliche Budgetplanung

Heime

Zentrale

Buchhaltung

Controlling

Heimleitung

Pflegedienstleitung

-

Ist-Zahlen

Vergleichszahlen

Budget Wirtschaftl. . Ziele

Monatliche Lieferung

positive/ negative Zielabweichung?

Intervention bei negativer Zielabweichung

Monatliche + quartalsweise Auswertung

Geschäftsführung

Strategie

+

Überführung in Qualitätsrahmen bei pos. Abw.

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 18: Ablauforganisation Führer Unternehmensgruppe

Das Herstellen der Vergleichbarkeit aller Heime ist ein schwieriges Unterfangen. Wie in jeder dezentralen, niederlassungsreichen Struktur existiert auch in der Führer Unternehmensgruppe zwischen den Heimen ein – meist – gesunder Wettbewerb. Wichtige Aufgabe des Controllings ist es daher, in allen Heimen eine Akzeptanz der Erfolgskennzahlen herbeizuführen. Nur wenn diese gegeben

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Fazit: 10 Tipps für Ihr Produktmanagement

ist, ist es für die Heime unmöglich, bei negativen Zielabweichungen auf die widrigen Umstände vor Ort, den Markt, die Preise etc. als Entschuldigung zu rekurrieren und die Kennzahlen als unfair zu desavouieren. Nur extreme und unvorhersehbare Rahmenbedingungen taugen im Einzelfall als „mildernde Umstände“. „Wir haben unsere Planzahlen inzwischen soweit egalisiert, dass diese internen Besprechungen auf einem Niveau vergleichbarer Daten stattfinden.“ Die Frage nach dem Wie der Zielerreichung ist schwerer zu beantworten. Die Heimleiter haben im Rahmen der Qualitätsvorgaben und wirtschaftlichen Zielvereinbarungen 100-prozentige Entscheidungsautonomie, sagt Führer. „Wenn dabei jemand Mist baut, dann muss er halt damit leben und versuchen, das nicht wieder zu tun. Dass irgendetwas einmal nicht so gut oder meinetwegen auch furchtbar aus dem Ruder läuft, ist ja normal und kein Unglück, wenn man es rechtzeitig erkennt und daraus lernt.“ Mindestens eben so wichtig sei es aber, so Führer, die positiven Ausrutscher und Abweichungen von den geplanten Durchschnittswerten zu analysieren. „Die Kreativität der Mitarbeiter bezahle ich doch mit. Also will ich die auch haben. Also kann ich denen nicht in alle ihre Schnapsideen hineinreden. Die müssen das ausleben können und dabei kommen eben auch positive Dinge heraus. Diese positiven Dinge, die möchte ich nicht nur ganz toll in einem Heim, sondern auch in den anderen haben. Diese positiven Ausrutscher zu analysieren, ist wenigstens so wichtig wie die negativen. Die müssen von ihrer Struktur her analysiert werden und bringen zum Schluss eben auch ganz wesentliche Vorteile für das Unternehmen. Hier sehe ich einen der ganz wesentlichen Angriffspunkte für die Qualität und auch für die Ertragsverbesserung.“

2.7 Fazit: 10 Tipps für Ihr Produktmanagement 1. Nicht ist wichtiger als Ihr Produkt! Viele Menschen unternehmen etwas. Was Sie als mittelständischer Unternehmer von diesen unterscheidet, ist die Tatsache, dass Sie (fast) immer nur eines tun: Ihr eines Produkt zu pushen. Das Management Ihres Unternehmens, der Umgang mit Mitarbeitern, Ressourcen, Zulieferern, Kunden und potenziellen Kunden ist eine Funktion Ihrer Produktnähe. Vergessen Sie für einen Moment einfach, was Sie in Managementseminaren, Büchern, auch in diesem Buch, über Effizienz und Effektivität, Zeitmanagement, Mitarbeiter- und Gesprächsführung, Rhetorik, Vertrieb und Marketing gelernt haben oder lesen werden. Das dort Gelernte ist für Sie nur nutzbringend, wenn Sie begreifen, um was es sich dabei handelt: Um

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Techniken, Hilfsinstrumente. Entscheidend für Ihren Erfolg ist die richtige unternehmerische Einstellung. Und die fokussiert immer nur eines – Ihr Produkt. 2. Vergessen Sie bitte einfach alles, was Sie über Produktmanagement wissen! Es hilft Ihnen rein gar nichts zu wissen, dass erfolgreiche Mittelständler meist in Nischenmärkten operieren, einen teils dominanten, teils partizipativen Führungsstil pflegen oder die Auslagerung scheuen wie der Teufel das Weihwasser. Solche Beobachtungen basieren erstens auf beliebigen, quasi statistisch aggregierten Fällen, die Ihnen nichts, aber auch wirklich gar nichts zu Ihrer persönlichen Unternehmersituation sagen. Und diese Beobachtungen sind zweitens selbst dort, wo solche Case Studies tatsächlich auf Ihre persönliche Unternehmersituation übertragbar sind, praktisch immer lediglich Symptome, Kennzeichen, Merkmale bestimmter Vorgehensweisen und vermitteln nicht den Grund, warum die Fallbeispiele dieses oder jenes getan haben und anderes nicht. 3. Was wollen Sie? Lernen Sie stattdessen unbedingt Ihre eigenen wirklich zentralen Hauptinteressen kennen! Sie bilden den Kern Ihres Produktes oder Ihrer Produkte! 4. Überlegen Sie sich sorgfältig, wie Sie Ihre Interessen in ein Produkt übersetzen. Oft ist die naheliegende Produktidee weniger tauglich als die fernliegende. Burchard Führer ist nicht Projektentwickler geworden, was nahe lag, sondern Betreiber von Seniorenheimen! Es kommt nicht darauf an, sich für die Oberfläche oder Fassade eines Produktes zu interessieren. Wer interessiert sich schon für Schrauben oder künstliche Farbstoffe? Es kommt darauf zu verstehen, ob und wie man mit einem Produkt die eigenen Interessen und die der Kunden bedienen kann. 5. Sprechen Sie mit Ihnen nahe- und fernstehenden Menschen darüber, ob sich aus Ihrem Interesse ein marktgängiges Produkt formen lässt. Nicht nur Sie selbst müssen von der Produktidee begeistert sein, Ihr Markt muss das auch sein. 6. Sie sind der „Vater“ Ihrer Produkte! Überlegen Sie sich, was das bedeutet! Ohne „Mutter“ gibt es kein Produkt. Begeistern Sie Ihre (künftigen) Mitarbeiter und Zulieferer. Wenn Sie von Ihrer Produktidee überzeugt sind, halten Sie nach Partnern Ausschau: „Ich-AGs“ haben mit keinem Produkt Aussicht auf Erfolg. Die Gratwanderung zwischen eigener Produktvernarrtheit und der Bereitschaft, auf Dritte zu hören, unterscheidet den guten Unternehmer vom Mittelmaß.

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Fazit: 10 Tipps für Ihr Produktmanagement

7. Es gibt keine „komplementären Interessen“; es gibt nur komplementäre Ressourcen zur Erreichung gemeinsamer Interessen! Wenn ein (potenzieller) Lieferant oder Mitarbeiter mit oder bei Ihnen nur Geld verdienen möchte, dann teilt er nicht Ihre Interessen! Achten Sie darauf, dass Mitarbeiter und Zulieferer Ihre Begeisterung teilen und produktnotwendige ergänzende Fähigkeiten oder Ressourcen mitbringen, über die Sie nicht verfügen. 8. Ziele setzen! Haben Sie den Mut, gemeinsam mit Ihrer Umwelt Ziele zu setzen, deren fristgerechte Erreichbarkeit überprüfbar ist (Quantifizieren!), deren Höhe anspruchsvoll ist und deren Erreichen Ihnen gemeinsam möglich ist. Planen Sie nicht für die Ewigkeit und denken Sie daran, dass es nicht mutmaßlich gemeinsame Ziele sind, die Sie dauerhaft weiter bringen, sondern tatsächlich gemeinsam gesetzte. Wählen Sie bei Ihrem Produkt-Roll-out Meilensteine, deren Erreichen genauso eindeutig messbar ist wie das Erreichen Ihres vorläufigen Endzieles. 9. Ihr Unternehmen ist Dienstleister Ihres Produktes, Mittel zum Zweck! Machen Sie sich klar, was das bedeutet. Wenn Sie lediglich das Ziel verfolgen, eine clevere, renditeträchtige Idee zu vermarkten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass es mit dem Produkt nicht weit her ist. Um dauerhaft bestehen zu können, müssen Sie in Ihr/e Produkt/e versessen sein und diese Versessenheit mit Ihren Kunden, Mitarbeitern und Lieferanten teilen. Rendite ist für Sie ein Mittel zum Zweck, wie das Gehalt Ihrer Mitarbeiter ein Mittel zu deren Zweck sein sollte, weiterhin am Produkt mitwirken zu können. Das ist nicht idealistisch oder romantisch, sondern realistisch! 10. Die „lernende Organisation“ ist heute ein „geflügeltes Wort“. Belassen Sie es nicht dabei. Bewahren Sie sich, Ihren Mitarbeitern, Zulieferern und Kunden den Mut zum Fehler. Aber ziehen dann Sie auch das Kapital daraus und lernen Sie, wie Sie Ihr Produkt künftig (noch) besser machen!

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Mitarbeiternähe: HOCHTIEF Software GmbH

3.

Mitarbeiternähe: HOCHTIEF Software GmbH

Du sollst das, was du denkst, auch sagen. Du sollst das, was du sagst, auch tun. Und du sollst das, was du tust, dann auch sein. Alfred Herrhausen

„Unsere wertvollste Ressource sind die Mitarbeiter“. Dieser abgegriffene Slogan klingt vielen Mitarbeitern mancherorts wie Hohn in den Ohren. In diesem Kapitel zeigen wir, dass diese Ressource tatsächlich dann wertvoll ist, wenn man weiß, wie man sie pflegt – mittelständisch. Wir zeigen Ihnen dies am Beispiel einer Konzerntochter, und machen so deutlich, dass „mittelständisches Führen“ auch Konzernen nur Vorteile bringt.

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Das Unternehmen HOCHTIEF Software

Firmenname

HOCHTIEF Software GmbH (heute: CapGemini Ernst&Young Systems GmbH)

Branche

IT-Systemhaus für die Bauwirtschaft

Gründungsjahr

1992

Mitarbeiter (2001)

~ 420

Bereichsergebnis

vorher: -545 T€

Umsatz (2001)

~ 47 Mio. EUR

Besondere Herausforderung

Ein Profit Center, das Verlust schreibt, in die Gewinnzone führen

nachher: 200T€

3.1 Das Unternehmen HOCHTIEF Software Dieses Kapitel beschreibt ein Turn-around-Projekt. In seinem Mittelpunkt steht der Umgang mit Mitarbeitern, Kollegen und Führungskräften durch die Bereichsleitung Als Profit Center konnte der Bereich – fast – wie ein Unternehmen im Unternehmen agieren. Das Unternehmen HOCHTIEF Software GmbH, im Folgenden „HTS“ genannt, war zum Projektzeitpunkt die mittelständische IT-Tochter der HOCHTIEF AG. Aufgabe des etwa 400 Mitarbeiter umfassenden Unternehmens war es, die IT-Versorgung des Baukonzerns sicherzustellen. So waren weite Teile der operativen Geschäftsbereiche der HTS fast ausschließlich auf das Produkt- und Dienstleistungsgeschäft für HOCHTIEF AG ausgerichtet. Einige wenige Bereiche befassten sich darüber hinaus mit dem „externen“ Markt. Insgesamt war HTS in vierzehn strategische und operative Unternehmensbereiche gegliedert, die teilweise auf überschneidenden und teilweise auf separaten Geschäftsfeldern aktiv waren. Innerhalb der HTS gab es, wie in fast jeder guten Familie, ein Sorgenkind. Um dieses Sorgenkind, den Geschäftsbereich OBW, dreht sich unser Projektbericht. Das Kürzel stand für den Begriff „Objektbewirtschaftung“, den Anwendungsbereich, für den die Software hier produziert wurde. Bevor der Begriff „Facility Management“ Einzug in die „deutsche“ Sprache fand, wurde bei HTS das gleichbedeutende Kürzel OBW verwendet.

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Als Konzernbeteiligung musste die HTS ohne „Unternehmer“ auskommen. Wir stellen Ihnen daher in diesem ersten Abschnitt (3.1) das Unternehmen, seine Konzernverflechtung und seine Spitzenmanager vor. Im zweiten Abschnitt (3.2) gehen wir, wie in den übrigen Fall-Kapiteln auch, der Frage nach, ob und wie in diesem Geschäftsbereich einer Konzernbeteiligung Interessen identifiziert wurden und welche Spielräume es dazu gab. Die drei folgenden Abschnitte (3.3 bis 3.5) veranschaulichen Ihnen den Zielfindungs-, Wegmarkierungs- und Wegverfolgungsprozess. Einen Unterschied gibt es hier jedoch gegenüber den übrigen Kapiteln: Da das Ziel des Geschäftsbereichs extern durch den Konzern bzw. die Geschäftsführung vorgegeben wurde, stand die Geschäftsbereichsleitung vor der Herausforderung, diese Ziele ganz besonders akribisch an die Interessen der Mitarbeiter zu vermitteln. Zudem war die Geschäftsbereichsleitung mit dem Unternehmen nicht vertraut, stand also vor der Herausforderung, nicht nur Interessen sondern auch Funktionsweisen und Dysfunktionalitäten zu identifizieren. Wir tragen diesem Unterschied durch einen ausführlichen Unterabschnitt „Potenzialanalyse“ Rechnung. Der Abschnitt „Route optimieren“, der in den übrigen Fallbeispiel-Kapiteln an sechster Stelle folgt, entfällt in diesem Kapitel, da wir über einen Projektzeitraum von lediglich zwei Jahren berichten, der täglich vor allem von einem geprägt war: dem Lernen. So folgt das Fazit hier schon an sechster Stelle (3.6). Wir haben es etwas ausführlicher gestaltet, weil uns daran lag, deutlich zu machen, dass mittelständisches Führen tatsächlich auch in Konzernen möglich ist, deren Beteiligungen im Konzerngeist vor allem auf eines getrimmt werden: Profitabilität. Wenn wir hier in dritter Person von „der Bereichsleitung“ sprechen, dann sprechen wir über uns selbst – genauer: In diesem Fall spricht Sven Rickes über sich selbst, da er diese Bereichsleitung war. Daher erhält dieses Kapitel seine ganz eigene, persönliche Färbung.

3.1.1 Das Sorgenkind OBW Sorgenkind war der Bereich OBW deshalb, weil es auch nach mehreren Jahren der Entwicklung unter der Führung seines Leiters Dr. Dirk Ranglack nicht gelungen war, die hier entstandene Softwarelösung am Markt für Computer gestütztes Facility Management (CAFM) zu platzieren. Ranglack konnte dabei kein Vorwurf gemacht werden. Er hatte nie Interesse geäußert, diesen Bereich zu führen, und zum Verkäufer sah er sich schon gar nicht berufen. Sein Interesse galt dem Entwerfen von Softwaresystemen. Auf diesem Gebiet verfügt er bis heute branchenweit über einen exzellenten Ruf.

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Das Unternehmen HOCHTIEF Software

3.1.2 Wachstumsphantasie und kritischer Blick in den Spiegel Der in den Jahren, über die wir hier berichten, rapide wachsende Markt des CAFM bot grundsätzlich die Chance, solcherlei Lösungen insbesondere an zahlungskräftige Großkonzerne und öffentliche Verwaltungen zu verkaufen. Es war ein klarer Verkäufermarkt. Das Marktpotenzial für Facility-ManagementDienstleistungen im deutschsprachigen Raum wurde Ende der 90er Jahre auf rund 400 Mrd.4 EUR geschätzt; den erreichbaren Anteil für Softwareprodukte und -dienstleistungen an diesem Kuchen schätzten wir auf rund 10 Prozent. Es gab einen regelrechten Run auf diese von den Marktforschern versprochene Pfründe und der Hype der Gründerzeit tat ein Übriges dazu. Im Jahr 2005, lange nach der Zeit, über die hier berichtet wird, wurde der Bestandsmarkt deutlich konservativer eingeschätzt, betrug aber immer noch 50 Mrd. EUR5. 10 Prozent davon sind in einem kleinen, überschaubaren, von kleinen und kleinsten Anbietern mittelstandsgeprägten Anbietermarkt immer noch eine respektable Größe. Wir aber verkauften nicht – trotz exzellentem Produkt, wie wir meinten. Die Immobilie als strategische Ressource rückte seinerzeit unter Kostengesichtspunkten auf der einen, unter Erlösgesichtspunkten auf der anderen Seite, zunehmend in den Blickpunkt des Interesses von Konzernen (Flächenbestand in Deutschland im Jahr 1999: ca. 1,5 Bio. qm) und Gebietskörperschaften (Flächenbestand in Deutschland im Jahr: ca.0,8 Bio. qm)ȱ6. Viele Asset und Corporate Real Estate Manager der Konzerne sannen beispielsweise auf die Liquidierung unnötig gebundenen Kapitals im Wege von Sale- and Lease-BackVerfahren. Druck kam aus dem Controlling dieser Organisationen, die nicht einsehen wollten, ihre Immobilienschätze dem Dornröschenschlaf zu überlassen. Auf kommunaler Seite führte dies bei den Finanzdezernenten teilweise zu Überreaktionen, dem berühmt-berüchtigten Verkauf von „Tafelsilber“, um den strapazierten kommunalen Haushalten frische Luft zum Atmen zu geben. Das Facility Management befasst sich „ mit der Erfassung des Immobilienbestandes dieser Organisationen, „ mit der kaufmännischen Bewirtschaftung dieser Flächen von der Vermietung

bis zum Verkauf, „ mit der sogenannten „infrastrukturellen“ Bewirtschaftung, also dem Reini-

gen, Catern, Konferenzraum-Belegen, mit Sicherheitsdiensten usf., „ mit der „technischen Bewirtschaftung“ also dem Reparieren, Warten usf.

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Mitarbeiternähe: HOCHTIEF Software GmbH

„ Während kleine Organisationen dies mit handgestrickten Exceltabellen und

MS-Outlookfunktionalitäten problemlos bewerkstelligen können, war und ist dies größeren Strukturen mit teilweise vielen Millionen Quadratmetern Fläche nicht möglich7.

3.1.3 Interessen würdigen Abbildung 19 zeigt in der Vertikalen die operativen Geschäftsbereiche, die zum überwiegenden Teil den Konzern HOCHTIEF mit Dienstleistungen und Produkten belieferten. Lediglich die Bereiche mit den Kürzeln OBW, MS und PS waren schon auf den externen Markt gerichtet oder sollten es noch werden. In der Horizontalen sind die Servicebereiche aufgeführt, die entweder für alle Geschäftsbereiche Leistungen erbrachten, so zum Beispiel FCP, Finanzen/Service/Personal, oder nur für einzelne Bereiche in bestimmten Regionen, wie die NL (Niederlassung) Stuttgart. Dort gab es ein Vertriebsbüro, das Dienstleistungen und Produkte einiger Geschäftsbereiche im süddeutschen Raum vertreiben sollte.

Geschäftsbereiche S E R V I C E B E R E I C H E

Geschäftsführung IS OBW

BW BA PS MS PSE OM

DS

EC

FCP

KOM / VER INT

NL Stuttgart

OM

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 19: Organisationsmatrix der HOCHTIEF Software GmbH (HTS), Stand Juni 2000, grau unterlegt der Bereich (OBW), um den es in diesem Kapitel geht.

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Das Unternehmen HOCHTIEF Software

Alle Bereichsleiter berichteten direkt an die zweiköpfige Geschäftsführung. Das Organigramm führt dies deutlich vor Augen. Dieses Phänomen ist nicht konzerntypisch, sondern mittelstandstypisch. Unterhalb der Geschäftsführung geht der Organisationsaufbau direkt in die Breite. Dies war hier unproblematisch, da mit der Delegation der Verantwortung an den Bereichsleiter auch die Delegation der erforderlichen Kompetenzen einherging – Macht und Verantwortung also Schritt hielten. Weitgehend selbständig konnten die Bereichsleiter der operativen Bereiche ihr Geschäft planen und budgetieren. Von der Personal- bis zur Geschäftsentwicklung, vom Produktmanagement bis Vermarktung: Alles lag im Ermessen und Entscheidungsbereich des jeweiligen Managers. Größere Investitionen, die aus dem Gesamttopf des Unternehmens getätigt werden mussten, weil sie die Kapazität und Möglichkeiten des Bereiches selber überstiegen, wurden in den Strategie- und Planungsrunden dem Gesamtmanagement vorgestellt, gemeinsam diskutiert und dann, im Falle der Gremienzustimmung und der vorhandenen Mittel, verabschiedet. Auf diese Weise wurden die Interessen der operativ verantwortlichen Bereichsleiter angemessen gewürdigt und einer Entscheidung zugeführt.

Geschäftsführung

Servicebereiche (strategisch) Kommunikation

Geschäftsbereiche (operativ)

Infrastruktur

Mittelstand

Planungsmanagement

Betriebswirtschaft

Objektbewirtschaftung

Baubetrieb

Finanzen, Controlling, Personal

Qualitätsmanagement Facilitymanagement

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 20: Organigramm der HTS, Stand Juni 2000.

E-Commerce Planungs- und Steuerungssysteme Desktopmanagement Vertrieb SAP/Navision

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3.1.4 Ablauforganisation als akrobatische Übung Bei HTS hatte die relative Autonomie der zweiten Ebene, die ihr die Möglichkeit bot, nahezu in vollem Umfang unternehmerisch zu agieren, zwei gravierende Nachteile: Diffuses Erscheinungsbild Wenn alle diesen Spielraum ausschöpften, musste er zu einem diffusen Gesamterscheinungsbild führen. Es wurden keine qualitativen Ziele vorgegeben. So gab es kein Interesse an einer gemeinsamen Außendarstellung. Die HTS-Bereiche, die Geld verdienten, taten dies in erster Linie innerhalb des Konzerns oder in einem Markt, der so spezifisch und überschaubar war, dass es aus ihrer Sicht einfach keinen Sinn ergab, eine gemeinsame Marke aufzubauen. Jeder Bereich pflegte seinen eigenen Marktauftritt. Im Stillen baute man natürlich mit Recht darauf, dass die Konzernmarke „HOCHTIEF“ im Außengeschäft schon ziehen würde. So firmierte jeder Bereich mit seinen eigenen Produkten und Dienstleistungen unter der starken Dachmarke HOCHTIEF. Konzernziele Hinzu kam etwas noch Wichtigeres: Anders als ein Mittelständler, der jede sinnvolle Investitionsentscheidung von einer marktfernen Hausbank begutachten lassen muss, hatten wir nicht einmal das: Unser Budget konnte, wie besprochen, in gewissem Umfang aus dem Topf der Geschäftsführung vergrößert werden, wenn die Kollegen dazu bereit waren, aber unsere Ziele standen von Anfang an fest: Auf Heller und Pfennig – definiert durch den Konzern. Die den Bereichleitern eingeräumten Entscheidungsspielräume waren nicht an dieses eine Ziel rückgekoppelt: Geld zu verdienen. Es waren eben Ziele, die nicht wir, sondern die der Konzern gesetzt hatte, und der war von uns in etwa so weit entfernt wie die Hausbank von einem klassischen mittelständischen Unternehmen. Mit dem Tagesgeschäft der Mutter, dem Bauen und Entwickeln von Großprojekten, hatten wir praktisch nichts zu tun. Umgekehrt interessierte sich der Konzern für die Qualität unserer Arbeit nur dann, wenn es irgendwo in der Konzern-IT brannte. Damit war der verantwortliche Bereichsmanager stets zu akrobatischem Spagat gezwungen: Es galt permanent abzuwägen: Zielerfüllung gegen Kollegeninteressen, Konzernmarke gegen Produktmarke …

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3.1.5 Das Management Die beiden Top-Manager der HTS waren angestellte Geschäftsführer: Bardo Racky und Wilhelm Th. Bröcker. Racky war bereits seit vielen Jahren im Konzern, wie auch ein großer Teil seiner Familie dort schon in verantwortungsvollen Positionen tätig war. Er galt als „Eigengewächs“- und man durfte ihm getrost den HOCHTIEF-Stallgeruch unterstellen. Er war mit Leib und Seele HOCHTIEF’ler und betrachtete sein Geschäftsführungsmandat als Ehre, der er sich in hohem Maße verpflichtet fühlte. Racky war loyal und emotional sehr engagiert. Als gelernter Maurer, der sich im Konzern hochgearbeitet hatte, wies er durch seine Vorgeschichte und seinen Charakter ein mittelständisches Profil auf. Wilhelm Th. Bröcker, der Senior unter den beiden, war das genaue Gegenteil. Als Diplom-Volkswirt und Mathematiker war Bröcker der kühle Rechner. Er hatte zuvor die Roland Berger-Niederlassung in Düsseldorf geleitet und in dieser Eigenschaft bei HOCHTIEF die SAP-Einführung verantwortet. Nach dem erfolgreichen Abschluss dieses Projektes bot man ihm an, in der eigenen Tochter die Leitung der Konzern-IT zu übernehmen. Bröcker ergriff die Chance. Unter seiner Führung wuchs das Unternehmen zu seiner beachtlichen Größe von über 400 Mitarbeitern. Er baute den Konzern-IT-Versorger nach und nach zu einem marktreifen Dienstleister um. Bereits im Jahr 2000 schrieb HTS mehr als 50 Prozent seines Umsatzes außerhalb des Mutterkonzerns. Menschlich zeichnete er sich durch seinen trockenen Humor aus: Er führe das Unternehmen „leidenschaftslos“, pflegte er zu sagen, und eher aus dem Hintergrund. Der Führungsstil dieses Managementduos war irgendwo zwischen „laissezfaire“ und „partnerschaftlich kooperativ“ einzuordnen. Einerseits gab es ein hohes Maß an scheinbarem Desinteresse an den Bereichsinterna, ebenso wie es praktisch keinerlei Vorgaben an den Geschäftsbereichsleiter hinsichtlich der Ausgestaltung seines Tagesgeschäftes gab. Praktisch klang dieses Management by objectives dann so: „Und wenn Sie den ganzen Tag auf dem Golfplatz stehen, Hauptsache Ihr Geschäft läuft!“ Was zählte, war das Ergebnis, nicht wie man es erreichte. Das gab Spielraum für die Bereichsleiter und ein hohes Maß an unternehmerischer Freiheit. Aber eben auch wenig bis keine Orientierung und Leitlinien (außer den Konzernvorgaben natürlich). Der Geschäftsbereich war faktisch ein Unternehmen im Unternehmen, es gab formelle Planungsvorgaben – die wirtschaftliche und die Geschäftsfeldplanung waren vorzulegen und vorzustellen – und das war es dann auch. Waren die Ergebnisse des Bereiches schlecht, gab es jedoch auch keine wirkliche Hilfe oder Unterstützung, dafür viel Geduld und Nachsicht.

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3.1.6 Der Geschäftsbereich Objektbewirtschaftung Das Konzernumfeld: IPDM In Deutschland gilt die HOCHTIEF AG (HT) in der Bau- und Immobilienwirtschaft als Branchenprimus. Frühzeitig entwickelte der Vorstandsvorsitzende Hans-Peter Keitel den Baukonzern zum „Systemführer“. Dieser Begriff stand für die Absicht, sich vom klassischen Baukonzern aus weiterzuentwickeln. Eine vorsichtige Abkehr vom Hoch-, Tief- und Ingenieurbaugeschäft hin zu neuen, dienstleistungsnäheren Geschäften: dem Betreibergeschäft, Public Private Partnerships oder dem Facility Management. Hinter diesem Bestreben steht die Einsicht, dass sich die Kompetenz der Anbieter auf allen Wertschöpfungsstufen der Bau- und Immobilienwirtschaft – dem Planen, Bauen, Betreiben – besser vermarkten lässt, wenn man sie sowohl integriert als auch modular anbietet. Zu diesem Zweck startete der Systemführer unter der Bezeichnung „Integriertes Projekt Daten Management“, IPDM, ein großangelegtes, millionenschweres IT-Forschungsprojekt. Ziel war es, alle Daten entlang des Prozesses Planen – Bauen – Bewirtschaften nur ein einziges Mal in einem zentralen System erfassen zu müssen und anschließend immer wieder verwenden zu können. Fernziel war es, alle am Planungsprozess Beteiligten eines Tages an nur einem einzigen im Internet bereitgestellten 3D-Modell planen zu lassen. Die Gegenwart sah und sieht auch heute noch überwiegend anders aus: Mehrere Architekten und Fachplaner arbeiten mit verschiedenen CAD-Systemen und produzieren somit digitale Pläne in unterschiedlichen, inkompatiblen Datenformaten und Qualitäten. Die Kalkulatoren der Bauabteilungen berechnen die am Bau zu bewegenden Massen und Mengen in Excel-Tabellen, in denen sie auch die Baukosten kalkulieren, die anschließend – per Hand – als Budgetpositionen in ein SAP-System überführt werden. Dort sind diese aber immer noch nicht mit den Plänen der Gebäude verknüpft, deren Zahlengerüst sie geliefert haben. Redundanzen und auseinander laufende Datenbestände, Unklarheit über die gerade aktuellen Versionen, unauffindbare Daten und andere Probleme führen zu ineffizienten, teuren und fehlerbehafteten Prozessen. Dieses Problem sollte IPDM lösen. Produktidee Kollaboration An diesem konzernweiten Millionenprojekt mit einem beeindruckenden Millionenbudget arbeiteten viele verschiedene Konzernbereiche zusammen. Unserem Unternehmensbereich Objektbewirtschaftung (OBW) fiel die Aufgabe zu, eine

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sogenannte „Middleware“ zu programmieren, worunter man sich eine Art Treffpunkt für die Fachanwendungen der Kaufleute, Planer und Bauingenieure vorstellen kann, auf dem sich diese untereinander austauschen konnten (siehe Abbildung 21). Das Team von Dirk Ranglack entwickelte ein solches „Meta-Datenmodell“, das es ermöglichte, alle nur erdenklichen Datenklassen abzubilden. Dieses Grundmodell der Software war technologisch so leistungsstark, flexibel und schnell, dass man darauf sann, es zu einer regelrechten Anwendung weiterzuentwickeln. Doch für welchen Markt? Der war schnell gefunden: Die explosiv wachsende Nachfrage der Facility Management Nutzer, für deren Bedarfe die spezifischen Eigenschaften der Technologie wie gemacht erschienen, da hier technische, kaufmännische und infrastrukturell-prozessuale Anwendungen zusammenwirken mussten. Der Unternehmensbereich OBW hatte damit einen komplett eigenen und von den anderen Geschäftsfeldern der HTS unabhängigen Markt: Das Computer gestützte Facility Management (CAFM).

Benutzerebene

Kopernikus®

Systemebene

Middelware mit Datenmodell in beschreibender Sprache

Datenfluß (logisch)

Daten (physikalisch)

Oracle

Access

SAP

Adressdaten

GLT

Instandsetzung

FiBu

Sonstiges

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 21: Stark vereinfachte Form der Darstellung des Systemaufbaus

Technologie ist nicht alles So gut die Idee war, in diesem Markt Fuß fassen zu wollen, die HTS hatte aufgrund ihrer Konzernzugehörigkeit einen Nachteil. Kaum ein CAFM-Nachfrager

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mochte sich in die Hände des mächtigen Konzerns begeben. So wollte es einfach nicht gelingen, das System zu verkaufen. Der Unternehmensbereich hing somit noch immer am Tropf der Konzern-Forschungsgelder. Die fehlende Markterfahrung führte zu technologisch harmlosen aber vertrieblich entscheidenden Defiziten des Produkts: Die Software hatte praktisch keine Bedieneroberfläche und auch die Wirkung des Systems war für den Laien nicht erkennbar. An den Bildschirmen des Anwenders sah man nur das, was es auch sonst immer zu sehen gab: sein CAD System zum Beispiel. Dass dieses System sich von anderen Anwendungen Daten besorgen konnte, die in Datenbanken hinterlegt waren, und umgekehrt Daten an andere Anwendungen schicken konnte, gab den Einkäufern keinen „Kick“. Der Bereich schrieb Millionenverluste und der an sich geduldigen Geschäftsführung ging die Geduld aus, da diese dem Konzern ausging. Nur einen Vermarktungsversuch wollte man noch wagen. Projektstart nach „Konzern-Manier“ So gerne ich diese Herausforderung annahm, nach einem ersten Blick auf die Aufbau- und Ablauforganisation des Geschäftsbereiches zweifelte ich nicht schlecht an der Aussicht, das Projekt erfolgreich gestalten zu können. Der Bereich war organisiert wie ein Forschungs- und Entwicklungsunternehmen. Wissenschaftler, Informatiker, Bauingenieure gaben den Ton an. Alle waren sehr interessiert und gleichermaßen begeistert von der Perle, die in ihren Händen entstanden war. Für den Marketing- und Vertriebsprofi stellte sich die Software in der Tat wie ein Rohdiamant dar. Aber eben ein Rohdiamant, kein fertiges Produkt. Und mit einer Forschungseinrichtung war auch kein Produkt herzustellen. Eine neue Organisation musste her, und diese musste einhergehen mit der Professionalisierung der Arbeit und der Einstellung zu Arbeit. Weil es eben ein Unterschied ist, ob man einen Antrag auf neue Forschungsgelder schreibt oder an einer Ausschreibung teilnehmen muss, um einen Auftrag im freien Markt zu gewinnen, um die nächsten Monate Umsatz generieren zu können. . Für den August 1999 war von der Geschäftsführung eine Kick-off-Sitzung in Frankfurt am Main, dem Sitz des Unternehmensbereiches, anberaumt worden. Ich sollte vorgestellt werden und meine Vorstellungen im Sinne einer mitreißenden Brandrede kundtun. Das war die Idee. Doch alles kam ganz anders. Ein erster Blick in die Runde zeigte deutlich, dass ich hier nicht das vorfinden würde, was ich erwartet hatte. Ich hatte nach den Vorgesprächen mit der Geschäftsführung einen etwas überforderten Geschäftsbereichsleiter und ein Team erwartet, das auf die Zusammenarbeit voller Tatendrang brannte.

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Stattdessen begegneten meinem Blick 30 maßlos enttäuschte Gesichter. So sehen Menschen aus, denen man gerade eine Illusion genommen hatte. Abwechselnd finster, entmutigt und trotzig musterten sie mal die Geschäftsführer, mal mich. Es war sofort klar, dass an eine flammende Ansprache, nach dem Motto: „jetzt geht’s los“, nicht zu denken war. So konzentrierte ich meine Vorstellung auf einige wenige persönliche und ehrliche Worte. Es ging um Vertrauen. Ich stellte mich als Mensch und nicht als Führungskraft vor. Das beschränkte sich auf das Alter, den Familienstand, die Herkunft und den obligatorischen Dank an die Geschäftsführung für das Vertrauen. Ich vergaß nicht, deutlich zu machen, dass ich mir einen angenehmeren Start gewünscht hätte. Es folgte das Versprechen, in den kommenden zwei Tagen zunächst einmal jedem Einzelnen für ein ausführliches persönliches Gespräch zur Verfügung stehen, die Erhebung der Interessenlagen eines jeden Einzelnen. Danach verließen wir zu dritt, die Geschäftsführer und ich, den Besprechungsraum. Was war geschehen? Aus den Vorgesprächen hatte ich mitgenommen, dass ich den bisherigen Bereichsleiter als Entwicklungsleiter behalten konnte. Er war der Kopf des Programmiererteams, eine wichtige Identifikationsfigur und darüber hinaus der intellektuelle Urheber der Software! Bei meinem Eintreffen in Frankfurt stellte sich die Situation jedoch anders dar. Anstatt Herrn Dr. Ranglack freudig gegenübertreten zu können, um mit ihm die kommende Arbeit in Ruhe zu strukturieren und dem Team die frohe Botschaft kommender Erfolge zu verkünden, empfingen mich beide Geschäftsführer, um mir mitzuteilen, man habe, anders als zuletzt besprochen, die Chance meines Engagements nutzen wollen, sich von Herrn Dr. Ranglack zu trennen. Die Mitarbeiter seien „soeben“ – keine Stunde vor meinem Eintreffen – darüber informiert worden. Herr Dr. Ranglack packe gerade seine Sachen. Man stelle sich vor, ich möge vor die Mannschaft treten und eine flammende Rede über die glorreiche Zukunft halten. Der eine der beiden Geschäftsführer trug diesen Wunsch mit stoischer Gelassenheit vor. Sie ließ keinen Zweifel daran zu, dass er es ernst meinte und fest an die Richtigkeit seiner Vorgehensweise glaubte. „Clean cut“ – Management in bester Konzernmanier. Die Ausgangssituation sah zusammengefasst folgendermaßen aus: 1.

Der Geschäftsbereich war in nahezu jeder Hinsicht ein Unternehmen im Unternehmen – nur das Ziel wurde extern vorgegeben.

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2.

Der Bereich war nahezu vollständig von HOCHTIEF Forschungsgeldern abhängig, keine zehn Prozent des „Umsatzes“ wurden im „freien Markt“, außerhalb des Konzerns, geschrieben.

3.

Der Bereich schrieb enorme Verluste, für das Jahr 1999 zeichneten sich minus 500 T€ ab.

4.

Die Mitarbeiter trauerten ihrem bisherigen Chef nach und empfingen die neue Führungskraft alles andere als begeistert.

5.

Die Mitarbeiter waren technologisch ausgerichtet, ihre Ambitionen mussten jedoch künftig auf den Markt ausgerichtet sein.

6.

Mehrere Vermarktungsansätze für das Produkt des Bereiches waren in der Vergangenheit bereits gescheitert.

7.

Das Produkt hatte kein Gesicht und stiftete aus Sicht des unmittelbaren Anwenders keinen Nutzen.

8.

Dieses Produkt war vielleicht technologisch brillant, aber es war absolut praxisuntauglich – unverkäuflich.

9.

One shot only: Wir hatten nur eine Kugel im Lauf.

3.2 Interessen aufspüren Ich hatte den Mitarbeitern versprochen, mit ihnen über ihre Vorstellungen, Probleme und Ziele, ihre Sorge vor dem, was da kommen würde, individuell und einzeln ausführlich zu sprechen. Das war mittelständische Methode. Mir ging es erstens darum zu verstehen, was die Mitarbeiter umtrieb, welche Interessen sie hatten, ob sie zu einem zielkonformen Interessentenkreis zusammengeschmiedet werden konnten. Bisher kannte ich die Oberfläche. Die war nicht ermutigend. Aber vielleicht würde ein zweites Hinsehen und ein wirkliches, wechselseitiges Aufeinandereingehen die Dinge schon in einem anderen Licht dastehen lassen. Im nächsten Schritt wollte ich zweitens um das Mandat der Mitarbeiter werben, auf eine bestimmte Art und Weise vorzugehen. Mir war dabei klar, dass ich dieses Mandat nur erhalten würde, wenn die Mitarbeiter, neben dem hoffentlich dann gefassten Vertrauen, außerdem wussten, was ihnen und dem Geschäftsbereich bevorstand, und wenn sie an diesem Vorhabens-Plan selber mitgewirkt hätten. Da die Mitarbeiter mehr oder weniger ausnahmslos keine Markterfahrung hatten, war außerdem Schulung angesagt. Sonst würden sie blind gehen müssen und das nicht wollen.

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Interessen aufspüren

3.2.1 Wie man gezielt Interessen erhebt Unmittelbar nach dem unglücklichen Auftakt meiner Tätigkeit fuhr ich mit dem Lift herunter in die erste Etage und begab mich in mein Büro. Dort reflektierte ich noch einmal, was geschehen war. Die Gesichter hatten sich während meiner Vorstellung etwas entspannt. Auf einem Notizblock trug ich die fünf wichtigsten Fragen zusammen, die ich den Mitarbeitern in den kommenden zwei Werktagen in den vielen Interviews, die mir bevorstanden, stellen wollte. Die „Flurgespräche“, die sich draußen abspielten, drehten sich zu diesem Zeitpunkt ausschließlich um den plötzlichen „Rausschmiss“ des Bereichsleiters. Je schneller die Mitarbeitergespräche begannen, desto eher gab es ein neues Thema, nämlich: Was ist von diesem Rickes zu halten und wie geht er die Sache an? Die Fragen in den Einzelgesprächen durften nicht den Schluss zulassen, die Meinung des einen sei wichtiger als die des anderen, jeder musste die gleichen Fragen gestellt bekommen. Lediglich die Reihenfolge der Gespräche durfte die Hierarchie der Mitarbeiter widerspiegeln. Jeder Schritt, jeder Satz, jede Frage, jeder Gruß oder Nicht-Gruß würde auf die Goldwaage gelegt werden. Einzelgespräche sind das Schlüssel-Instrument für das Identifizieren von Interessen. Es müssen offene Fragen sein, denn geschlossene Fragen lassen nur ein „ja“ oder „nein“ bzw. „weiß“ oder „schwarz“ zu, führen den Gesprächspartner also in eine Richtung, manipulieren ihn ungewollt. Wer gefragt wird: „Magst Du lieber Äpfel oder Orangen?“, der hat schwerlich die Chance zu sagen, dass er keine dieser beiden Früchte sonderlich schätzt. Genau diese Information wollen wir unserem Partner aber entlocken: „Ich liebe Erdbeeren über alles, Aprikosen und Pfirsiche schmecken mir aber auch sehr gut, gegen Zitrusfrüchte bin ich allergisch und Äpfel habe ich in meiner Kindheit verordnet bekommen – ich kann sie seitdem nicht ausstehen.“ Mitarbeiter bittet man zweckmäßigerweise, eine Art „Wunschstellenbeschreibung“ zu formulieren. Man befragt sie außerdem nach ihren persönlichen Interessenslagen – am Arbeitsplatz, aber nicht nur dort. Die Fragen sind nicht standardisiert, denn es wird nichts quantifiziert. Es geht nicht um repräsentative Stichproben für valide Marktforschungsergebnisse, sondern schlicht um die Interessenlage jedes einzelnen Mitarbeiters. Nur wenige Leitfragen, die man situationsgerecht durch Nachfragen qualifizieren kann, stehen auf dem Fragebogen, den man tunlichst nicht ablesen sollte. Nichts wäre in der Situation unsympathischer, abschreckender und weniger zielführend, als in das Interview hineinzugehen und den Mitarbeitern zu vermitteln: Ihr seid nur eine Nummer, und alles, was ihr sagt, kann ich der Geschäftsführung melden.

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Also notiert man sich lediglich Kernthemen, um sie nicht aus dem Auge zu verlieren. Im vorliegenden Fall waren das folgende Fragen: 1. Welche Aufgabe haben Sie im Unternehmen und füllt Sie diese aus? 2. Wo sehen Sie das Produkt und seine Stellung im Markt? 3. Was würden Sie als erstes ändern, wenn Sie könnten, und warum? 4. Wohin möchten Sie sich persönlich entwickeln, haben Sie Ziele und wenn ja welche? 5. Haben Sie einen Rat, Wunsch oder Tipp, den Sie mir auf den Weg geben möchten? Was ist Ihnen für diesen Unternehmensbereich wichtig?

3.2.2 Die Gespräche Die Gespräche, mit denen ich unmittelbar begann, verliefen erstaunlich ruhig und konstruktiv. Alle Mitarbeiter hatten sehr konkrete Vorstellungen von dem, was sich ihrer Ansicht nach ändern sollte. Was in solchen Gesprächen häufig zu beobachten ist und auch in diesen wieder beeindruckte, war der Stolz der Mitarbeiter auf ihre bisherige Arbeit. Auch wenn dieser einen psychologisch bedingten „Hauch von Trotz“ beinhaltet, gibt er eine Menge wichtiger Aufschlüsse über das, was die Mitarbeiter wirklich bewegt. Und das ist es ja, was in dieser Situation interessiert. Nicht alle geführten Gespräche müssen an dieser Stelle erwähnt werden, aber die Eindrücke aus den Interviews mit den Schlüsselpersonen wollen wir hier wiedergeben.

Bereichsleiter Bereichssekretariat

Softwareentwicklung

Sonderprojekte

Projekte

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 22: Organigramm des Geschäftsbereichs vor dem „Change-Projekt“

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Interessen aufspüren

Das Organigramm in Abb. 22 zeigt die Organisation des Geschäftsbereiches vor unserem Projekt. Man erkennt: Es gab eine Softwareentwicklungsabteilung und zwei Projektgruppen – eine für Spezialprojekte, eine für Projekte aus dem CAFM- Markt. Das Unternehmen war nicht eindeutig ausgerichtet und zielte ganz sicher nicht auf den externen Markt. Es gab kein Marketing, keinen Vertrieb und auch kein Produktmanagement. Nach der Struktur, die sich mir so darstellte, ordneten sich auch die Gesprächsprioritäten. Erfolgsträger wollen das Schiff verlassen Da war zunächst der Leiter der beiden Projektabteilungen, Eberhard Beucke, er war auch gleichzeitig Stellvertreter des Bereichsleiters. Beucke war ohne Übertreibung eine Art Vaterfigur, deutlich älter als die übrigen Mitarbeiter, die einen Altersschnitt von etwa 35 Jahren hatten. Er war ein sehr enger Vertrauter des bisherigen Bereichsleiters und fungierte gewissermaßen als Schnittstelle zwischen diesem eher intellektuellen Typ und den Mitarbeitern. Dazu befähigte ihn, neben seinem Alter, auch seine warme, sehr menschliche Wesensart. Neben den beiden von Eberhard Beucke geführten Projektabteilungen gab es drittens die Entwicklungsabteilung, die bis dahin von Dr. Ranglack selber geführt wurde. Hier stellte sich die Frage, wer das übernehmen sollte. Sein Kronprinz auf diesem Fachgebiet und kongenialer Entwicklungspartner war Peter Kolbe. Auch das Gespräch mit ihm hatte höchste Priorität und fand noch am selben Tag statt. Natürlich interessierte auch hier primär, inwieweit er bereit war, weiterzumachen – ohne seinen Partner. Anders als Beucke, der auf die offene Frage nach seiner Zukunft ebenso offen gestand, dass er lieber gehen als bleiben würde, sagte Kolbe sofort seine Unterstützung zu. Er räumte allerdings ein, zu seinem Freund und ehemaligen Chef weiterhin engen Kontakt halten zu wollen und ihm eventuell auch zu folgen, falls er gerufen werde. Beide Gespräche halfen sehr dabei, Gewissheit über die tatsächliche Gemütslage der zentralen Mitarbeiter zu erlangen. Beucke hatte klar gesagt, er wolle sich lieber etwas anderes suchen. Nun galt es ihm, dieses Vertrauen zu danken, indem ich ihm meine Unterstützung zusagte. Wir vereinbarten, dass er mich voll und ganz unterstützte bei dem Versuch, die Mitarbeiter hinter eine neue Idee zu bringen. Ich sagte ihm zu, dass ich seinen Veränderungsabsichten nicht im Wege stehen würde, im Gegenteil, sie fördern würde, wo und wie immer es möglich war. Die Beziehung und die Interessen waren klar ausgesprochen und so konnte fortan sehr eng und kollegial zusammengearbeitet werden. Seine exzellenten Fachkenntnisse über das Produkt und die zugrunde liegende Technologie waren ein wichtiger Stützpfeiler in den ersten Wochen. Nicht lange danach verließ er das Unternehmen.

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Die zweite Schlüsselperson, Peter Kolbe, war in jeder Hinsicht ein Glücksfall für das Projekt. Er präsentierte sich als Mensch, der scheinbar niemals unzufrieden oder unglücklich war. Kolbe war ein wichtiger Know-how-Träger für die Softwareentwicklung. Er brachte mir, der ich zu diesem Zeitpunkt im wahrsten Sinne des Wortes Software-Analphabet war, bei, die wichtigen Dinge zu begreifen und durch die Technikbrille zu betrachten. Er blieb für die gesamte Dauer unserer Zusammenarbeit ein wichtiger Bezugspunkt für mich. Leider hatte auch er den Entschluss gefasst, seinem Freund Ranglack baldmöglichst zu folgen, was auch in seinem Fall zu akzeptieren war, auch wenn wir jedes lautere Mittel anwendeten, ihn zum Bleiben zu bewegen. Kolbe war fantastisch, er wurde nie müde, alle Dinge notfalls auch mehrmals zu erklären. Ihm schien keine Frage zu dumm. Zeitweise kam ich mir vor wie sein Auszubildender. Das tat seinem Respekt mir gegenüber jedoch keinen Abbruch – im Gegenteil. Ich hatte eher den Eindruck, dass jede Frage, die ich stellte, seinem Selbstwertgefühl gut tat. Er sah sich ernst genommen und fühlte sich geschätzt. Also brachte er mir dasselbe Gefühl, dieselbe Einstellung entgegen und verhielt sich auch entsprechend. Viele lange Abende brachten wir in meinem Büro mit teilweise fast philosophischen Gesprächen zu, die sich nebenbei auch immer um das Thema der Softwareentwicklung drehten. Und so erschloss sich mir Laien nach und nach die wunderbare Welt der Datenbanksysteme. Die nächste Ebene will aufrücken Ein ähnlich gutes, auf lange Sicht sogar noch besseres Verhältnis entwickelte sich zwischen meiner nächsten Gesprächspartnerin und mir. Mit etwas sprödem Charme, aber nicht minder sympathisch als meine beiden vorherigen Gesprächspartner, eröffnete Rita Görze gleich zu Beginn des Gesprächs, sie habe eine Vereinbarung mit Dr. Ranglack getroffen. Diese war ihr sehr wichtig und nun sei sie sehr verunsichert, ob nach seinem Weggang noch Perspektive für sie da sei. Ich bat sie, mir zu erklären, worum es in der Vereinbarung gegangen sei, und versicherte ihr, dass es für mich zunächst keinen Grund gebe, etwas offensichtlich bereits Vereinbartes in Frage zu stellen. So ermutigt erklärte sie, sie habe sich darauf verständigt, sie könne von der Entwicklungsabteilung in „das“ Produktmanagement wechseln. Auf die Frage, ob es denn schon ein Produktmanagement gebe und wie sie sich ein solches vorstelle, folgte Schweigen. Es existierte nämlich überhaupt kein Produktmanagement. Das hatte ich von einem Bereich, der nur nach innen, auf ausdrückliche Nachfrage, „verkaufte“, auch nicht erwartet. Es fiel mir daher nicht schwer, ihrem Wunsch zu entsprechen. Ein Produktmanagement zu etablieren war eine vordringliche Aufgabe, um einen Vermarktungsstart überhaupt in Betracht ziehen zu können. Ein Unternehmen ohne Produktmanagement ist wie ein Auto ohne Motor. Also kamen wir

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Interessen aufspüren

überein, dass es ihre Aufgabe sein würde, ein professionelles Produktmanagement aufzubauen. Dazu war es zunächst unabdingbar, einen Ausbildungsplan für sie zu entwickeln, denn sie hatte keine Erfahrung in der Aufgabe, für die sie sich augenscheinlich interessierte. Also bat ich sie, einige Lehrgänge herauszusuchen, die ihr ausreichend Grundlagen vermitteln sollten. Der erfreuliche Nebenaspekt dieser Vereinbarung war, dass auch Frau Görze fortan zu meinen engsten Vertrauten zählte, und ich weiß bis heute nicht, was ich gemacht hätte, wenn sich nicht diese Gelegenheit ergeben hätte. Es zeigte sich schon bald, dass sie nach dem Weggang von Beucke und Kolbe, die beide für das Ende des Jahres anstanden, der letzte Know-how-Träger war, der bzw. die das Produkt Kopernikus bis in die tiefsten Tiefen des Quellcodes und seiner Kommentare kannte und verstand. In einem weiteren Gespräch brachte sich ein Mitarbeiter mit dem erfreulichen Satz „in Position“: „Ich bin jederzeit bereit, in einem neuen Konstrukt mehr Verantwortung zu übernehmen.“ Der Mann, der hier seine Stunde gekommen sah, war Markus Kaiser. Ein weiterer sehr angenehmer Mensch, der mit derselben Ausdauer wie Kolbe jedes „Schräubchen“ der Software einzeln zu erläutern bereit war. Damit hatten wir einen Nachfolger für Kolbe gefunden und waren heilfroh, in ihm, neben Rita Görze, einen weiteren Menschen zu haben, auf dessen Zusammenarbeit man sich freuen durfte.

3.2.3 Harte und weiche Faktoren Die Einzelgespräche und ihre „weichen Inhalte“ sind hier aus einem konkreten Grund beschrieben. Es ist nie gut und psychologisch längst erwiesen, nur eine Hirnhälfte, die linke, anzusprechen. Zu fragen: „Was können Sie und wie bringen Sie es in unser Geschäft ein?“ reicht nicht. Mindestens so wichtig ist es zu erfahren: „Warum tun Sie das, was Sie heute tun so?“ Wann vertrauen Sie wem und warum?“ Wer ist Ihnen sympathisch und warum, meinen Sie, ist das so? Mit solchen Nachfragen werden nicht direkt Interessen erhoben, aber es wird deutlich, warum sich Interessen auf eine bestimmte Weise artikulieren und warum sie hier auf fruchtbaren Boden fallen, während sie dort eine Wüste hinterlassen.

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„harte Fakoren“ kapazitive: • Fähigkeiten • Prozessqualität

Gegenseitige Bestärkung

Leistung Gemeinsame Ziele

ideelle:

Produktivität Gewinn

• Vertrauen • Einstellung • Verhalten

„weiche Faktoren“

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 23: Einflussfaktoren auf Leistungssteigerung

3.2.4 Ergebnis der Interessenserkundung Meine Gespräche brachten summa summarum folgenden Befund zutage: 1. Die bis dahin wichtigsten Mitarbeiter verließen das noch nicht gesunkene Schiff, waren aber fair und offen genug, die anfängliche Aufräumarbeit nach Kräften zu unterstützen, weil auch ihnen fair und offen begegnet wurde. 2. Die wichtigsten Mitarbeiter in der Ebene darunter brannten darauf zu zeigen, was sie konnten. Sie vermissten ihren ehemaligen Chef, erkannten aber auch die Chance, etwas bewegen zu können, und waren dazu bereit. 3. Der Zustand des Produkts und der Grad seiner Markttauglichkeit sowie das Delta der zu leistenden Arbeit traten offen zutage: Ich wusste nicht nur, was zu tun war, ich wusste angesichts des offenen und vertraulichen Austausches mit den Mitarbeitern auch, wie und mit wem ich dies tun konnte, wen und was ich schon hatte und wen und was ich noch brauchte. Die Gespräche hatten ein erstes, noch loses Band geknüpft. Alle, diejenigen, die bleiben wollten, und jene, die gehen wollten, gaben mir eine Chance. Dieses Band sollte in den Folgewochen schnell die Struktur eines Seils gewinnen. Es ist für einen Mitarbeiter immer schwerer, in das Büro eines unbekannten, fremden Chefs zu gehen, als in das eines Chefs, mit dem ihn eine persönliche Gesprächserfahrung verbindet. Zu oft „verstecken“ sich Verantwortliche regelrecht in

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Interessen aufspüren

ihren Büros, und nicht selten haben wir bei Unternehmen Projekte durchgeführt, deren Chefs sich faktisch eingeschlossen hatten. Ich habe die Kollegen ausdrücklich eingeladen, jederzeit zu mir zu kommen, wenn ihnen danach zumute war. Die Psychologie von Veränderungsprozessen lehrt uns, dass es besser ist, in den ersten Wochen eher zu oft als zu wenig kommunizieren. Wer sich in dieser Zeit genau darüber beklagt, den sollte man sich merken. Das sind nämlich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit diejenigen, die den Veränderungsprozess später als Treiber voranbringen. Die nimmt man sich in der sitzungsintensiven Zeit lieber einmal bei einem Einzelgespräch „zur Brust“ und wirbt um ihr Verständnis. In der Zeit nach der „Stunde Null“, in der die Veränderungen konkret benannt sind und der Plan, die Roadmap, mit Zielen und Terminen auf dem Tisch liegt, können aufkommende Diskussionen frühzeitig mit dem Hinweis auf die Beschlusslage unterbunden werden. Das überhöhte Interesse an einer breiten Diskussion in dieser Phase des Veränderungsprozesses deutet auf einen Mangel an Bereitschaft zu Umsetzung, also zu Veränderung selbst hin. Das kann unterschiedliche Gründe haben, Verlust- oder Versagensängste sind die häufigsten Ursachen.

Leistung einer Organisation

7.Integration: Selbstvertrauen

3.Abwehr: Ärger

6.Öffnung: Neugier, Mut, Enthusiasmus

Produktivitätsgewinn

100%

4.rationale Akzeptanz: Frustration

1.Vorahnung Sorge

5.emotionale Akzeptanz: Trauer

2.Schock Schrecken

Planung

Entscheidung

Veröffentlichung

Produktivitätsverlust

Realisierung

Zeit Einführung

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 24: Die Psychologie von Veränderungsprozessen

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3.3 Ziel definieren Die Geschäftsführung hatte vorgegeben, dass etwa 24 Monate für den Turnaround Zeit blieben. Innerhalb von zwei Jahren musste der Bereich schwarze Zahlen schreiben. Unter normalen Umständen hätte ich mich für vorgegebene, buchstäblich vorgesetzte Ziele nicht hergegeben. Ich habe es getan, weil ich sie persönlich zu meinen Zielen machen konnte. Unbesehen der Schwierigkeiten, die vor uns lagen, war dieses Vorgehen eigentlich halsbrecherisch. Wir empfehlen es daher ausdrücklich nicht zur Nachahmung. Ohne die Ressourcen zu kennen, ohne – vorher – über eine genaue Kenntnis der Herausforderungen zu verfügen, sollte im Regelfall niemand einen Auftrag annehmen, dessen Ziele von vorneherein feststehen. Ich konnte mich darauf einlassen, weil ich in der Vergangenheit bereits ähnlich gelagerte Restrukturierungsprojekte hinter mich gebracht hatte. Die einzige wirkliche Unbekannte in meiner Rechnung war der Markt, den wohl keiner hundertprozentig prognostizieren kann. Jetzt bestand die Aufgabe darin, die in den vielen Einzelgesprächen und Meetings ermittelten Wünsche, Interessen und Bedürfnisse der Mitarbeiter in konkrete Ziele zu überführen. Dies konnte jedoch nicht von heute auf morgen geschehen. Zunächst musste ich mich, nachdem ich die Interessen meiner Mitarbeiter kennen gelernt hatte, mit den Prozessen und Zuständen in „meinem“ Unternehmen, sprich Geschäftsbereich vertraut machen. Ich hatte ein Ziel, die Mitarbeiter hatten ihre Ziele, aber passten die alle zu den gegebenen Verhältnissen? Ich musste die Potenziale der Organisation und der Mitarbeiter tiefer ausloten und jenseits der Interessen nun auch die Fähigkeiten – sowohl die personalen als auch die organisationalen – in Augenschein nehmen. Dies sollte nicht am grünen Tisch geschehen, sondern im Dialog mit allen Beteiligten, die so gleich ihr Potenzial offenbaren konnten.

3.3.1 Potenzialanalyse In den Tagen und Wochen nach den Erstgesprächen folgte eine Zeit von Meetings und Präsentationen zur umfassenden Erhebung des Sachstandes rund um das Produkt und seinen derzeitigen Entwicklungsstand. Hier ging es im Gegensatz zu den Einzelgesprächen eben nicht um die Personen und wie sie die Lage

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Ziel definieren

und sich selbst darin einschätzten, sondern um den Stand der Dinge in den Projekten. Zunächst bat ich alle Projektverantwortlichen um eine Präsentation ihrer Arbeit, also ihres Kundenprojektes und ihres gegenwärtigen Projektstandes. Ziel war es, festzustellen, wie die jeweiligen Mitarbeiter das Projekt organisiert hatten. Hatten sie überhaupt einen Projektplan mit einer Jobliste? Hatten sie ein Budget und eine Übersicht über die Ressourcen, die sie einsetzten, also Zeit Geld und Personal? Gab es einen Status hinsichtlich des Fertigstellungsgrades? Mich interessierten dabei drei Arten von Projekten: „ Die Kundenprojekte, bei denen Software bei einem Auftraggeber eingeführt

wurde. „ Entwicklungsprojekte, die ja Investitionen waren, bei denen neue Funktio-

nen oder Technologien für die Software entwickelt wurden. „ Vertriebsfälle, also Ausschreibungen oder Anfragen, die meist in Form von

Pflichten- oder Lastenheften oder -katalogen vorlagen, und deren Bearbeitungsstand. In Einzelgesprächen wäre es nicht möglich gewesen, auf alle meine Fragen eine Antwort zu erhalten. Außerdem bereiteten sich die Mitarbeiter auf eine solche Präsentation viel besser vor. Auch boten mir diese Meetings die Möglichkeit, meine eigene Unwissenheit quasi „öffentlich“ zu bekennen, die Mitarbeiter konnten daraus lernen, dass ich wirklich neugierig war und keine Angst davor hatte zuzugeben, wenn ich etwas nicht verstand oder wusste. Last but not least hatte ich so erstmals die Chance, vor allen anderen denjenigen zu loben, der etwas zu zeigen und zu sagen hatte. Ich konnte Anerkennung vermitteln, die im Einzelgespräch bei weitem nicht so motiviert wie vor der Gruppe. Die Termine für diese Präsentationen hatte ich für die nächsten drei Wochen geblockt. Bei dieser Statuserhebung war die Budgetkontrolle der Projekte der vielleicht wichtigste Punkt: Wie viel Zeit, Geld und Arbeit war beauftragt worden und wie war der jeweilige Status? Meine Assistentin Saskia Pankratz bat ich, alle Mitarbeiter per Rundschreiben darüber zu informieren, wie wir weiter vorgehen wollten. Besprechungskalender Wir entwickelten einen Besprechungskalender, in welchen alle Gesprächsrunden eingetragen wurden und auch, warum und wozu man sich treffen wollte. Ebenso waren die jeweiligen Agenden, nach denen getagt wurde, festgelegt und wie viel Zeit dazu jeweils veranschlagt wurde.

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Ziel war es, über die Kommunikationsforen schnellen Zugang zu auftauchenden Sorgen und Bedenken im Kontext unseres Veränderungsprozesses zu gewinnen und zeigen zu können, dass ich diese Sorgen und Ängste sehr ernst nahm. Das lässt sich leicht schreiben. Tatsächlich ist es eine schwierige Gratwanderung, dem gestiegenen Kommunikationsbedürfnis der in einem steten Veränderungsprozess steckenden Mitarbeiter Rechnung zu tragen, ohne die Effizienz und Effektivität der sich entwickelnden Organisation über Gebühr zu gefährden. Dies hier also waren unsere Konferenzen: „ Talentschuppen: Hier traf ich die Auszubildenden und die studentischen

Hilfskräfte – alle 40 Tage. Sie waren aufgefordert und wurden von mir persönlich ermutigt, Verbesserungsvorschläge zu formulieren, mit mir zu besprechen und dann, wenn sie gut waren, im Rahmen eines kleines Projekts in die Organisation einzubringen. So griff ich ihr Interesse auf, Einfluss nehmen zu können, und verhalf ihnen zur Befriedigung ihres Bedürfnisses nach Anerkennung. Ebenso nahm ich mir immer ein Thema vor, das ich dem Nachwuchs auf diese Art und Weise gezielt und konzentriert vermitteln wollte. Das diente nicht zuletzt mir selbst, wollte ich doch gut ausgebildeten Nachwuchs haben. Diese Form der Integration führte dazu, dass 100 Prozent der Nachwuchskräfte, die wir halten wollten, auch bei uns bleiben wollten. „ Elefantenrunde: Hier versammelte ich einmal im Monat alle „umsatz- oder

kostenrelevanten“ Mitarbeiter, diejenigen, die Budgetverantwortung trugen und aufgrund ihrer Tätigkeit Erlöse oder Kosten „produzierten“, indem sie Projekte leiteten, mit denen wir Geld verdienten oder verbrauchten. In dieser Runde wurde gemeinschaftlich über Investitionen, Einstellungen oder strategische Projekte entschieden. Damit bediente ich ihr Interesse an Mitgestaltung und der Übernahme echter Verantwortung. Hier verabschiedeten wir auch die Zahlen, die wir planten oder prognostizierten. Die Runde wurde auch meinem Interesse an gemeinschaftlich getragenen Entscheidungen gerecht. „ Bereichssitzung: An dieser, liebevoll auch „Stuhlkreis“ genannten Runde,

nahmen alle teil. Manchmal war es tatsächlich nur eine halbe Stunde gemeinsamen Lachens und Scherzens. Oft genug aber war es auch das Forum, wo in breitem Kreis die großen Sorgen diskutiert werden konnten. Wichtige erste Änderungen wie das Einstellen der Vertriebsaktivitäten wurden hier kundgetan, um zu unterbinden, dass sich per Hörensagen halbwahre „Floor News“ verbreiten würden. Gerüchte lassen sich nicht steuern. Die Kommunikationsoffensive diente auch meinem Interesse an Einflussnahme auf das, was diskutiert wurde und wie es diskutiert wurde.

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Ziel definieren

„ Fachbereichssitzungen: Hier organisierten wir die abteilungsinterne Kom-

munikation. Wer arbeitete woran und brauchte welche Hilfe? Was gab es für Schnittstellenprobleme mit anderen Abteilungen und welches Know-how oder welche Arbeits- und Organisationsmittel wurden gebraucht? In den Einzelgesprächen wurde mir von fast allen Mitarbeitern vermittelt, dass es keine eigentliche Arbeitsorganisation gab. Man wisse häufig nicht, was der andere tat und warum. Also dienten diese Besprechungen dem Interesse nach Austausch von Erfahrungen und Abgleich von Ergebnissen. Diese Runden waren außerdem eine Gelegenheit zur Einarbeitung der angehenden Abteilungsleiter und dienten somit meinem Interesse an gut ausgebildeten Führungskräften. Die Software – noch kein Produkt Als eine der ersten Erkenntnisse aus den ersten Präsentationen kristallisierte sich bald heraus, dass die Software einfach nicht marktreif war. Die Mitarbeiter wussten das. Damit erklärten sie bereits die wesentlichen Probleme, denen sie regelmäßig bei der Implementierung der Software begegneten und die auch den mangelnden Vertriebserfolg ausmachten. Ich gab ihnen Recht. Bald wurde allen – nicht nur Rita Görze – klar, dass wir ein Produktmanagement benötigen würden, um die Software zur Marktreife zu führen. Ich hätte das organisatorisch „verordnen“ können. Durch gezieltes Fragen, was man denn „hier unter Produktmanagement verstünde“, provozierte ich den Ehrgeiz der Mitarbeiter, selber eine Antwort zu suchen – und auch zu finden. Verkaufsmoratorium Es galt, eine Entscheidung zu treffen. Für jemanden wie mich, der gerne verkauft, war es eine schwere, aber die erste gemeinsam mit den „Führungskräften“ getroffene Entscheidung: Jede Vertriebsarbeit war sofort einzustellen. Alle aktuell in Bearbeitung befindlichen Ausschreibungen sollten mit einem freundlichen Absageschreiben zurückgeschickt werden. Dies war notwendig, um jeden Vertriebsdruck aus dem Team zu nehmen. Darüber hinaus war es dringend erforderlich, zunächst einmal festzulegen, was man eigentlich verkaufen wollte, also das Produkt zu definieren und zu spezifizieren, bevor es angeboten wurde. Einsicht in Sachzwänge Ich identifizierte alle Mitarbeiter, die in irgendeiner Form Budgetverantwortung trugen. Das waren alle, die auf Grund einer Projektverantwortung oder auch aus allgemeinen organisatorischen Gründen dazu berechtigt waren, Geld aus-

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zugeben oder Rechnungen zu schreiben. Mit diesen wollte ich gemeinsam eine vereinfachte Gewinn- und Verlustrechnung als Planungsgrundlage entwickeln. Ziel hierbei war es, die bis dahin praktisch blind arbeitenden Mitarbeiter dafür zu sensibilisieren, womit Geld verdient wurde und wie viel, wofür Geld ausgegeben wurde und wie viel und welche Produktivität der Unternehmensbereich hatte. Denn immer wieder war zu hören, wir bräuchten mehr Mitarbeiter, um die Arbeit zu schaffen. Bei einem Bereich, der Verluste schreibt, war das ein kaum erfüllbarer Wunsch. Aber das sollten die Mitarbeiter selber feststellen, daher band ich sie in die Ermittlung des wirtschaftlichen Status Quo ein. So war nicht ich es, der sagte: „Wir können uns keine neuen Kräfte leisten, wir müssen effizienter arbeiten und die Produktivität erhöhen.“ Die verantwortlichen Mitarbeiter waren das. Dies führte zu mehr Einsicht in die Sachzwänge und stärkte das gemeinsame Verantwortungsgefühl. Das Ziel: „Wir wollen drei neue Arbeitsplätze schaffen“ führte unmittelbar zu der Maßnahme: „... indem wir die Produktivität um x % erhöhen und Überschüsse erwirtschaften“. Organisation Mit den Mitarbeitern gemeinsam wollte ich eine Optimierung der Organisationsstruktur herbeiführen. In den Meetings bot sich an vielen Stellen die Möglichkeit, die Art, den Grund, den Erfolg der Zusammenarbeit bestimmter Fachleute zu hinterfragen. Und schon gab es für das nächste Einzelgespräch eine Schnittstellenfrage zu klären. So entwickelten sich im Laufe der Gespräche das Organigramm, die Stellenbeschreibungen und die Prozessabläufe: „Oben“ stand die Geschäftsbereichsleitung mit den kaufmännischen Aufgaben. Sie sollte zugleich als Schnittstelle zu den zentralen Serviceeinheiten des Gesamtunternehmens HTS, den Bereichen Finanzen Controlling Personal (FCP), dem Marketing und der Geschäftsführung fungieren. Darunter sollten vier Fachbereiche angesiedelt sein: Entwicklung, Vertrieb, Produktmanagement und Projektabwicklung. Das Konzept der neuen Organisation stand. Als nächstes mussten die einzelnen Abteilungen zielkonform ausgerichtet werden. Neuordnung der Geschäftsbereiche Alle Fachbereiche brauchten einen Fachbereichsleiter/in, Stellenbeschreibungen, Prozessbeschreibungen und Schnittstellen zwischen den Abteilungen. Das alles wollte ich in einem Handbuch für den Geschäftsbereich dokumentieren. Soweit klärte ich die Kollegen auf. So wusste jeder, wir arbeiten an einem Masterplan. Auch wenn keiner eine Ahnung davon hatte, was das letztlich sein würde.

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Ziel definieren

Marketing

Bereichsleiter

Bereichssekretariat

Sven Rickes

Saskia Pankratz

Softwareentwicklung Projektabwicklung Markus Kaiser

Rocco Roßbach

Vertrieb

Produktmanagement

Peter Kölges

Rita Görze

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 25: Das Organigramm nach der Umstrukturierung

Abteilungsleiter Beginnen wir mit den Abteilungsleitern. Zwei Fälle waren unproblematisch. Für den Vertrieb hatte ich eine die Zusage von Peter Kölges und für das Produktmanagement interessierte sich Rita Görze. Für die Nachfolge von Peter Kolbe stand bereits Markus Kaiser in den Startlöchern, damit war jedoch nur klar, dass er bereitstand, aber würde er auch in die großen Schuhe passen, die da vor ihm standen? Dieselbe Situation stand im Bereich Projektabwicklung bevor, auch hier gab es einen Mitarbeiter, der bereit war, in die Führungsverantwortung zu gehen; auch er stand in den Startlöchern und auch hier war fraglich, ob er es denn auch würde schaffen können. Schulung und Stellenbeschreibung Demzufolge brauchte ich nicht nur ein Organigramm und Stellenbeschreibungen, aus denen hervorging, wer wofür verantwortlich war, sondern auch ein „Enabeling“, ein Programm zur Entwicklung von Führungskräften. Regelmäßige Schulungen in Personalführung, Coaching im täglichen Geschäft, Mitarbeitergespräche, Feedbackgespräche – das volle Programm. Also schrieb ich gleich ein Seminarprogramm dazu. Für jede einzelne Stelle innerhalb der Fachbereiche wurde eine Stellenbeschreibung benötigt. Ich entwickelte sie gemeinsam mit den zuständigen Führungskräften. Innerhalb der Entwicklung fiel das relativ leicht, die Entwickler hatten ohnehin auf Grund ihrer bisherigen Projekte unterschiedliche Zuständigkeiten. Ich vereinbarte gemeinsam mit dem neuen Entwicklungsleiter die Art und Weise, wie er die Arbeit seines Teams organisieren wollte, und legte ebenfalls mit seiner Hilfe fest, wie die Arbeit von Entwicklern zukünftig hinsichtlich der

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Qualitätssicherung und des Controllings zu bewerten sei. Markus arbeitete sich mit unglaublicher Akribie in diese Themen ein und lieferte innerhalb kürzester Zeit Vorschläge auf Basis marktgängiger Standards. So legten wir fest, dass das Controlling nach der „Function-Point-Methode“ (meilensteinbezogen) und die Qualitätssicherung über eine „Rational Rose-Implementierung“ erfolgen sollte. In der Qualitätssicherung und in der Planung der zu entwickelnden Softwarekomponenten war die Zusammenarbeit mit dem neu geschaffenen Produktmanagement gefragt. Diese Schnittstelle sollte sicherstellen, dass nicht alle Projektanforderungen ungefiltert in die Softwareentwicklung getragen wurden, und so die Entwicklung eines Standards unmöglich machten. Eine Prozessentscheidung, die in den meisten Softwareunternehmen falsch läuft. „Learning by doing”: Führungskräfte-Training zum ersten Das Produktmanagement formte ich gemeinsam mit der frisch gekürten Fachbereichsleiterin Rita Görze. Auch Rita arbeitete sich mit enormer Sorgfalt in die neue Aufgabe ein. Wir suchten gemeinsam ein mehrstufiges Ausbildungsprogramm für Produktmanager aus, das wir auch umgehend buchten. Wir entwickelten eine Roadmap als Masterplan für die Versionsplanung, terminlich und inhaltlich, und hatten damit erstmalig die Kopernikus-Version V10 auf einer Roadmap. Das Ziel wurde sichtbar. Rita entwickelte ein umfassendes Testprogramm, um die neuen Softwareversionen strukturiert zu testen und die Qualität sicherzustellen. Langsam wurde eine Aufbruchstimmung spürbar. Obwohl ich noch keine „Stunde Null“-Ansprache gehalten und mein Konzept noch nicht präsentiert hatte, merkten alle, dass es eine zunehmende Zielorientierung gab. Immer häufiger sagten Mitarbeiter, die nur wenige Wochen zuvor eine bestimmte Aufgabe aus purer Gutmütigkeit einfach angenommen hätten, ohne die Folgen zu bedenken, auch einfach einmal „nein!“ Dabei unterstützte ich sie nachhaltig. Ihre Zielfokussierung stieg spürbar. Ich ermutigte sie auch, mir zu sagen und zu zeigen, wenn etwas nicht so funktionierte, wie es geplant war. So zeigte ich allen, dass Fehler passieren dürfen, nein müssen. Fehler zeigen uns nicht zwingend nur die Fehler des Menschen, sondern viel häufiger und wahrscheinlicher die des Systems, in dem er operiert. Wenn ein Fehler im Ablauf oder im Projekt um jeden Preis vertuscht wird, hat man keine Chance, die Dinge zu verbessern. Langsam gewann ich auch das Vertrauen der Mitarbeiter, eben durch diesen Umgang mit Fehlern und Fehlschlägen. Sie sahen, dass ich sagte, was ich dachte, tat, was ich sagte, und auch mit Leib und Seele das war, was ich gerade tat. So stellte sich zunehmend ein Gefühl der Begeisterung für die anstehenden Aufgaben ein.

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Ziel definieren

Projektleiter So fiel es mir zunehmend leichter, auch schwierige Umstellungen einzufordern, denn die Mitarbeiter wollten verändern. Damit war ein wichtiger Punkt erreicht. Nun konnte ich nach und nach die Erkenntnisse aus den eingangs geführten Interviews verwenden. Ich wusste, wer danach lechzte, Verantwortung zu übernehmen, und legte gemeinsam mit den Führungskräften fest, dass es eine Projektleiter-Ebene innerhalb der Projektabwicklungsabteilung geben musste. Wir benannten die Projektleiter und entschieden uns genau für die, die bereit waren, die Verantwortung zu übernehmen, unabhängig davon, ob es ihnen zuzutrauen war oder nicht. Wir waren uns im Klaren darüber, dass der eine oder andere damit vielleicht überfordert war. Uns war es aber wichtiger, das Vertrauen der Mitarbeiter zu gewinnen, indem wir ihnen zeigten, dass wir ihnen etwas zutrauten. Parallel zu den Ernennungen schrieb ich hierfür im Rahmen des Personalentwicklungskonzeptes ein Ausbildungsprogramm. Ich war mir sicher, dass es uns gelingen würde, die angehenden Projektleiter parallel zur tagtäglichen Praxis so auszubilden, dass sie ihre Aufgaben bewältigen konnten. Den Projektleitern würde so nach und nach schon deutlich werden, ob sie für den Job die richtigen waren. Die Projekte hatten einen unterschiedlichen Grad an Komplexität, ich überließ den Mitarbeitern im Vertrauen auf die gesunde Selbsteinschätzung der Verantwortlichen selber die Wahl, für welches sie sich interessierten. Ein Projektleiter, der am Anfang seiner Entwicklung zur Führungskraft steht und sich dessen bewusst ist, würde sich schon aus Selbstschutz nicht freiwillig für das schwierigste Projekt melden. Ich setzte auf die Selbstverantwortung der Mitarbeiter, so wie ich es immer tue. Nun hatte ich eine Führungsmannschaft, eine Organisationsstruktur, einen Geschäftsprozess und eine funktionierende Personal-Entwicklung. Es folgen hier zusammenfassend die wesentlichen Prozess- und Organisationsdetails in Stichworten. Entwicklung Wir führten umgehend ein Qualitätsmanagement-System für die Softwareentwicklung (Rational Rose8) ein. Das Controlling erfolgte nach der FunctionPoint-Methode9. Der zuständige Entwickler kalkulierte den Aufwand für sein Projekt in Personentagen; es wurde ein Projektbudget eingerichtet. Das Projekt unterteilte sich in mehrere Meilensteinphasen (Function Points). Bis zu einem Meilenstein mussten vorher klar definierte, messbare Ergebnisse erreicht worden sein.

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Die Entwicklung lieferte Impulse und Ideen für die Weiterentwicklung der Software an das Produktmanagement. Diese Anregungen kamen naturgemäß aus einer technologischen Sicht. Sie bezogen sich auf Verbesserungen in der Performance, der Sicherheit oder im grundlegenden Bedienungskomfort. Beispiel für letzteren war das Frameworkkonzept, das unserer Software erst das gewünschte „Outlook-Gesicht“ gab. Diese Anregungen, Vorschläge, wurden einfach spezifiziert und kalkuliert und dem Produktmanagement vorgelegt. Es war fortan für die Projektingenieure nicht mehr möglich, mit ihren projektnotwendigen oder -relevanten Sonderwünschen der Kunden direkt einen Entwicklungsauftrag auszulösen. Produktmanagement Die zentrale Bereichsfunktion des Produktmanagements entwickelte sich als Anforderungs-, Erwartungs- und Ideen-„Hub“. Alle Einflüsse aus den Bereichen Vertrieb, Projektgeschäft und Entwicklung auf das, was die Software sein oder werden sollte, landeten hier an einer zentralen Stelle. Im ständigen Dialog mit den Anwendern wurden diese internen Vorschläge mit den Marktanforderungen abgeglichen und entsprechend priorisiert.

Vertrieb Marketing

Produktmanagement

Entwicklung

Beratung Projekte

Im idealtypischen Unternehmensmodell steht das Produktmanagement im Zentrum der Wertschöpfung

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 26: Das Produktmanagement als Herz der Softwareentwicklung

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Ziel definieren

Wenn sich aus diesem Anforderungsprofil ein neues Funktionsmodul ergab, das bisher im Rahmen der allgemeinen, in der Entwicklungs-Roadmap des Produktmanagements dokumentierten Weiterentwicklung nicht geplant war, hatte der Vertrieb die Aufgabe, aus dem Kreis der Kunden dafür einen „Sponsor“ zu finden. Projektabwicklung Hier hatten wir die meiste organisatorische Arbeit zu leisten. Alle Fachleute waren noch relativ jung und zwar in ihren Fachbereichen exzellent ausgebildet, nicht jedoch im Projektmanagement. Also ermittelten wir zunächst sechs Kandidaten, die den Willen und die Befähigung zum Projektleiter mitbrachten. Wir führten leistungs-, ziel- und meilensteinbezogenen Projektpläne ein. Die Projektleiter arbeiteten eng mit dem Vertrieb zusammen – sowohl in der Akquisition, als auch bei der Betreuung der Bestandskunden, wenn es um Systemerweiterungen oder das Gewinnen von Sponsoren für eine bestimmte neue Funktion ging. Kunden schätzen es schließlich immer, wenn ihnen schon in der Akquisitionsphase der mögliche oder wahrscheinliche spätere Projektleiter vorgestellt wird. Wichtig war, den Projektleitern klar zu machen, dass die Qualität ihrer Arbeit in besonderer Weise über die in Heller und Pfennig messbaren Einnahmen und Ausgaben bestimmte. Unseren akademisch bestens qualifizierten Projektingenieuren war das Wissen eines jeden Handwerkers fremd: „ dass man keinen Weg ohne Sinn macht, „ dass man jedes Arbeitsmittel, wenn möglich, nur einmal anfasst, „ dass man vor jedem Arbeitsschritt überlegt, was man dabei gleich noch mit

erledigen kann, „ dass man sich seinen Arbeitplatz sauber vorbereitet und ihn sauber wieder

hinterlässt, wenn das Werkstück fertig gestellt ist. Sobald die Anforderungen eines Kunden im Rahmen eines Pflichtenheftes dokumentiert und ausformuliert waren, wurden sie mit denen aus anderen Projekten „übereinander“ gelegt. Das Ziel der Übung bestand darin, herauszufinden, wie man alle diese Anforderungen so aufeinander abstimmen kann, dass man das betreffende Modul nur einmal anpassen muss und anschließend mehrmals verwenden kann. Das Produktmanagement entwickelte sich zum „Skill-, Function- und TaskDispatcher“. Die Projektingenieure wurden zu einer flexiblen Task Force, die in mehreren Projekten parallel identische Dinge auf den Weg brachte.

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Vertrieb Der Vertrieb sollte nach einem definierten Prozessbild arbeiten. Zu dieser später unter dem Markennamen maax² erfolgreich am Markt eingeführten Methode lesen Sie im anschließenden Kapitel dieses Buches mehr.

3.3.2 Umsatz – Kosten – Produktivität – Gewinn Alle Kollegen wünschten sich, dass unser Geschäftsbereich Gewinne erwirtschaftet, denn alle Mitarbeiter suchten Anerkennung und wollten sich wohl fühlen, wenn sie mit Kollegen aus anderen, wirtschaftlich erfolgreichen Geschäftsbereichen zu tun hatten. Also kam es jetzt darauf an, konkret auszurechnen, „ welche Umsatzsteigerung, „ welche Produktivitätssteigerung, „ welche Kostensenkung

nötig waren. Dies taten wir gemeinsam, in der „Elefantenrunde“. Dort ermittelten wir für die beiden Abteilungen Entwicklung und Projektabwicklung die erforderliche Zahl an abzurechnenden Tagen, die jeder Mitarbeiter leisten musste, damit genug Umsatz entstand. Daraus wiederum resultierte die anzupeilende „Produktivitätsquote“ – das Verhältnis abrechenbarer zu nicht abrechenbaren Tagen.

3.3.3 Mitarbeiter-Ziele Aus den so ermittelten Umsatzvorgaben pro Monat resultierte, welchen Umsatz der Geschäftsbereich machen musste, um Gewinn zu erwirtschaften, für wie viele Monate die vorliegenden Aufträge reichen würden. Er betrug etwas über 2 Mio. €, jedoch nur dann, wenn diese Umsätze außerhalb des Konzerns generiert wurden. Denn dort war der erzielbare Tagessatz für die Softwareeinführung um fast 30 Prozent höher als das, was intern berechnet werden durfte. Auch konnten außerhalb des Konzerns Lizenzen für die Softwarenutzung verkauft werden, was intern kaum einer akzeptiert hätte. So ergab sich aus der Differenz Auftragsbestand in Software und Dienstleistung zu Zielumsatz in Software und Dienstleistung die Vorgabe für den Vertrieb – einen Vertrieb, den es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht gab und dessen Ziele somit keiner kennen konnte. Eine wichtige Rolle würde also die Präsentation eines Vertriebsleiters und der Aufbau einer entsprechenden Abteilung spielen. Weil sich alle Mitarbeiter darüber im Klaren waren, stand das auf der Wunschliste ganz oben.

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Ziel definieren

Nun hatten wir also einerseits die Vorstellungen der Geschäftsführung, innerhalb von etwa zwei Jahren aus der Verlustzone in die Gewinnzone zu marschieren, und wir hatten die von den maßgeblichen Mitarbeitern selbst ermittelten Umsatz- und Produktivitätsvorgaben, die auch ihrem Wunsch nach einem wirtschaftlich erfolgreichen Unternehmens entsprachen. Was wir noch nicht hatten, was das Plazet der übrigen Mitarbeiter. Unsere Planziele wollten und durften wir nicht dekretieren. Wir wollten, dass jeder Mitarbeiter sie „ versteht und „ für sich und seine Kollegen annimmt.

Dies geschah in Zusammenarbeit mit den Kollegen, die auf dem Sprung in die Rolle von Abteilungsleitern waren. Learning by doing – eine Ausbildung in der Praxis war der den aufstrebenden Kollegen wie mir gleichermaßen willkommene Nebeneffekt. Sie sollten nach und nach die Gespräche mit ihren Mitarbeitern, führen, um dort die Einzelziele zu erfragen und zu vereinbaren. Für die Höhe der Ziele machten wir keinerlei Vorgaben.

3.3.4 Learning by „Aiming“ – Führungskräftetraining Wir legten lediglich, aufgabenspezifisch, die Disziplinen fest, in denen Ziele vereinbart werden mussten, und formulierten die Anforderungen, die wir an ein Ziel stellten, um es als ein solches zu akzeptieren. So entstand die Notwendigkeit, die Leistung jedes Mitarbeiters in jedem Fachbereich (Abteilung) messbar zu gestalten. Denn man kann nur ein Ziel vereinbaren, wenn man auch im Zielgespräch ermittelt, ob dieses Ziel realistisch ist. Hat zum Beispiel ein Softwareentwickler das Ziel, eine bestimmte Funktion in die Software einzubringen, so muss man schon festlegen, bis wann das in welcher Form erfolgen soll, und dann auch ermitteln, ob es zu schaffen ist, in eben diesem Zeitraum eine solche Funktion zu programmieren, zu testen und so fort. Um den frischgebackenen Abteilungsleitern die dazu notwendigen theoretischen Grundlagen zu vermitteln, erstellte ich eigens dafür ein Führungskräftetraining, in dem ich sie im Führen strukturierter Mitarbeitergespräche ausbildete.

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Gesamtziel des Unternehmens

Abteilungsziel Vertrieb E A B C D

Abteilungsziel ProduktmanaC gement E A B D G F

F

G

Abteilungsziel Projektabwicklung E A B C D

G

F

Abteilungsziel Entwicklung A

B D

E

C G

F

Abteilungsziel Marketing A E B C D

G

F

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 27: Aus den Einzelzielen werden Gruppenziele, die in ihrer Addition das Unternehmensziel bilden.

3.3.5 Verbindliche Fixierung Auf Basis der vielen notwendigen Teilziele, aus denen sich nachher das Gesamtziel ergab, entwickelten wir eine Zielmatrix, in der alle Ziele in unterschiedlichen Kategorien festgehalten wurden: die Teilziele des Produktmanagements, der Entwicklung, der Projektabwicklung und des Vertriebs. Ich unterteilte die Ziele in kurz-, mittel-, und langfristig zu vereinbarende Ziele, um eine chronologische Priorität zu ermitteln. Neben einer „nackten“ Darstellung dieser Teilziele in der Matrix, aus der später dann einfacher die Aufgaben abgeleitet werden konnten, wollte ich auch den „ideellen“ Charakter der Ziele festgehalten und vereinbart wissen. Also beschrieben die Führungskräfte, jeder mit und für seine/n Fachbereich/Abteilung, in einer vorgegeben Struktur auch die Ziele konkret.

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Ziel definieren

Alles, was den Unternehmensbereich ausmachte und wie er sich fortan selber verstand, hatten die Führungskräfte auf meine Bitte hin in einem Strategiepapier zusammengetragen. Die Ziele sollten die Basis für den jährlichen Soll-IstVergleich werden. Alle Führungskräfte hatten dieses Papier unterschrieben und jeder Mitarbeiter erhielt eine Kopie davon. Die nachstehende Inhaltsangabe vermittelt einen Eindruck von der Struktur: A.

Ziele

A1.

Primärziele qualitativ

A.2

Primärziele quantitativ

A.2.a

Ziele des Fachbereichs Entwicklung

A.2.b

Ziele des Fachbereichs Produktmanagement

A.2.c

Ziele des Fachbereichs Projekte

A.2.d

Ziele des Fachbereichs Vertrieb

B.

Umsetzung der Ziele

B.1

Umsetzung der Ziele der Entwicklung

B.2

Umsetzung der Ziele des Produktmanagement

B.3

Umsetzung der Ziele der Projektgruppe

B.4

Umsetzung der Ziele des Vertriebs

C

Schlussbemerkungen

Grundsätzlich wurde kein schwammig formuliertes Ziel der Art: „... so schnell/viel wie möglich ...“, „mit allerhöchster Priorität“ zugelassen. Alle Ziele mussten das in diesem Buch auch an anderer Stelle vorgestellte formale Anforderungsprofil „ hoch „ realistisch „ konkret „ messbar

erfüllen, um zugelassen zu werden.

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3.4 Weg ableiten 3.4.1 Der neue Verkäufer Am 15. Dezember 1999 führte ich eine Bereichssitzung durch, in der ich die neue Organisation, das Führungsteam, die Prozesse mit Stellenbeschreibungen und die Ziele für das Jahr 2000 als Meilensteine für unser extern vorgegebenes 24-Monate-Ziel vorstellte. Ich begann mit einem Rückblick auf die vergangenen vier Monate: Was hatten wir in den letzten Monaten schon alles auf den Feldern Organisation, Prozesse, Verfahrensweisen, Einstellungen, Verhalten auf den Weg gebracht. Dass die als Höhepunkt der Sitzung geplante Vorstellung des neuen Vertriebsleiters Peter Kölges gelang, war für mich die eigentliche Bestätigung, dass wir uns auf dem richtigen Weg befanden. Bei meiner eigenen Vorstellung hatte die von der Geschäftsführung und mir anlässlich der kurzen Ansprachen eingestreute Vokabel „Vertrieb“ noch allergische Hustenreize ausgelöst. Jetzt bot sie Anlass zu freudigem Applaudieren. Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass es im OBW-Bereich noch keinerlei Spur von Vertriebsstruktur gab, brauchte ich einen echten Profi, jemanden, mit dem ich schon zusammengearbeitet hatte und der deshalb meine teamorientierte Art des Verkaufens kannte. Ich dachte an Peter Kölges. Ich nahm sofort Verbindung zu ihm auf und bat ihn um ein Gespräch. Ich wusste, dass er für diese Aufgabe der richtige war, weil er zwei Gaben in seiner Person vereinte: „ die Fähigkeit, binnen kürzester Zeit ein so gutes Verhältnis zu seinen Interes-

senten aufzubauen, dass er selbst Menschen mit fünf Visitenkarten innerhalb von ein paar Minuten zu duzen vermochte, „ die Eigenschaft, seine Ziele klar fokussiert zu verfolgen, nie locker zu lassen

und dabei keinesfalls penetrant zu sein. Er konnte sehr tough sein, für Kollegen nicht immer bequem, aber ich war mir sicher, dass diese sehr menschlichen Kollegen, die er hier vorfinden würde, genau das an ihm von Beginn an schätzen würden. Er war halt einfach ein echter „Terrier“. Zu meinem Glück war er zu einem Wechsel bereit.

3.4.2 Die neue Organisation Zunächst präsentierte ich die Neuorganisation der Fachbereiche. Fortan hatten wir einen Vertrieb als Phalanx in den Markt, Aufgabe dieser Abteilung war es, bei den Bestandskunden neues Geschäft durch neue Projekte zu generieren. Und

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Weg ableiten

neue Kunden zu akquirieren. Im Bestandsgeschäft fing das beispielsweise schon damit an, dass neue Wünsche an das Produkt im Hinblick auf Funktionserweiterungen fortan professionell erfasst, mit dem Produktmanagement besprochen und dann regelrecht angeboten wurden. Bisher war es nicht selten der Fall, dass der Projektleiter einen Kundenwunsch vor Ort ad hoc erfüllen konnte. Leiten sollte die Abteilung Peter Kölges, ein erfahrener Vertriebsmann mit tadellosem Ruf. Sodann gab es ein Produktmanagement (PM) als die Schnittstellen-Plattform im Unternehmen. Vermutlich war das in dieser Veränderungsphase der wichtigste Fachbereich, die wichtigste Abteilung. Sie diente als Anforderungshub, Qualitätssicherer und Versionsmanager. Alle Anforderungen aus dem Markt, die vom Vertrieb im Rahmen einer Bedarfsanalyse bei potenziellen Neukunden ermittelt wurden, wurden vom Produktmanagement erfasst und in eine Anforderungstabelle eingetragen. Gegenüber der Projektabwicklung übernahm das PM die Funktion eines Qualitätssicheres, der die kundenspezifischen Anpassungen (Customizing) überwachte und sicherstellte, dass diese auch immer mit dem Standardprodukt verträglich waren. Auch konnten auf diesem Wege Wünsche und Vorschläge aus den Projekten direkt in die Anforderungsliste eingebracht werden. Das PM entwickelte ein „Versionsmanagement“, dessen Aufgabe es war, festzulegen, wie oft eine neue Version der Software auf den Markt kam und was diese beinhalten sollte. Dies wurde in einer „Roadmap“ festgehalten, die zur Bibel des Bereiches wurde. Die Leitung der Abteilung übernahm erwartungsgemäß Rita Görze. Die Entwicklungsabteilung übernahm eine F&E-Funktion und wirkte künftig als Qualitätsverbesserer. Aus dieser Abteilung kamen die maßgeblichen Impulse zur technologischen und inhaltlichen Weiterentwicklung. Markus Kaiser nahm hier die Herausforderung an, in die großen Fußstapfen des Dirk Ranglack zu treten. Für die Einführung der Software beim Kunden war ab sofort eine eigenständige Abteilung namens Projektabwicklung zuständig. In dieser Abteilung wurden alle Kundenprojekte abgewickelt. Die Leitung übernahm Rocco Roßbach. Für die Entwicklungsprojekte und für die Implementierungsprojekte, also für die internen und die externen Projekte gab es verbindliche Projektpläne, mit Hilfe derer alle Ressourcen, Mitarbeiter, Geld und Zeit geplant wurden. Es gab „ ein Masterdokument, das die Struktur und Bausteine eines Angebotes genau

vorgab, „ einen Mastervortrag für die Unternehmenspräsentation, „ eine ausgetüftelte Werbestrategie für jede Zielgruppe in jedem Produkt-

marktsegment.

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3.4.3 Coaching Die Fachbereichsleiter, die allesamt das erste Mal in ihrer Karriere in Abteilungsleiterpositionen waren, mussten mit Hilfe eines Entwicklungsprogramms in unserer eigenen kleinen „Akademie“ ausgebildet werden. Wir wollten ein einheitliches Vorgehen in allen Mitarbeitergesprächen. Wir hielten uns dabei an die von mir schon seit Jahren angewandte Methode, mit den Mitarbeitern mehrere Gespräche pro Planungsperiode zu führen. Die Gesprächsarten, die wir unterschieden, hießen – hier dankbar Anleihen bei Werner Troxlers Buch „Führen heißt“ nehmend:10 „ Basisgespräch, „ Zielvereinbarungsgespräch, „ Korrekturgespräch in Form von Motivations- und/oder Tadelgespräch.

Ich baute meine Schulungen darauf auf und schenkte jedem eine Ausgabe des besagten Buches. Alle Führungskräfte verfolgten gemeinsam das Ziel, zu wachsen und dazuzulernen – neue Arbeitsplätze zu schaffen, das reizte uns. Das Unternehmen Kopernikus sollte wachsen, nach Berlin, München, Hamburg und Dresden. Mit dieser dann kompletten Runde machten wir uns an das konkrete Ausarbeiten der Ziele und Maßnahmen. Wir fassten alles in einer Zieltabelle zusammen.

3.4.4 Meilensteine 2001 – 2002 Die Ziele für das Jahr 2000 hießen: Marketing:  Positionierung der HTS als professioneller Anbieter von CAFM-Lösungen im Markt (Aufschluss zu den Top 5 im Markt)  Ausarbeiten einer Produktwerbekampagne Vertrieb:  Akquisition von fünf externen Projekten  Aufbau eines Demo-Systems für Kundenpräsentationen zusammen mit dem Produktmanagement

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Weg ableiten

Organisation:  Aufbau einer „Niederlassung“ Essen  Schaffung von drei neuen Arbeitsplätzen für die Übernahme der studentischen Hilfskräfte Projektabwicklung/Finanzen:  Halbieren des Verlustes (1999 = -545T€)  Verdopplung des externen Umsatzes  Entwicklung von Standards für das Projektmanagement Produktmanagement:  Erstellen eines Pflichtenhefts für den Produktstandard  Erstellen einer Roadmap Entwicklung:  Von der Technologie zum Produkt: Einführung einer Entwicklungsmethode  Aufbau von Qualitätssicherungsstandards  Fertigstellung der Basiskomponenten für die neue Version Die Ziele für das Jahr 2001 lauteten: Marketing:  Positionierung des Produkts Kopernikus als Premiummarke für das CAFM Vertrieb:  Akquisition von sieben externen Projekten  Aufbau eines Auftragsbestandes von > 3 Mio. € Organisation:  weitere fünf neue Mitarbeiter und  zwei weitere Abteilungsableiter, um das geplante Umsatzwachstum wirtschaftlich stemmen zu können Projektabwicklung/Finanzen:  Steigerung des externen Umsatzanteils von 45 % auf 88 %  Produktivität konstant über 75 %  Zum Jahresende 2001 ein ausgeglichenes Ergebnis

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Produktmanagement:  Pflichtenheft für den Produktstandard  Erstellen einer Roadmap Entwicklung:  Fertigstellung einer ersten „echten“ Produktversion auf Basis der neuen Technologie, die „V10“

3.4.5 Von den Zielen zu den Aufgaben Jedes einzelne qualitative oder quantitative Ziel wurde nun in mühevoller Kleinarbeit auf der Zeitachse priorisiert und auf konkrete Maßnahmen heruntergebrochen, die ihrerseits in einem klar definierten Zeitkorsett steckten. Nichts sollte dem Zufall überlassen bleiben. Abbildung 28 illustriert die Verknüpfung von Zielen und Aufgaben.

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 28: Zielmatrix, hier schon mit Teilen der Maßnahmen- und Aufgabenplanung.

Hinter jedem der in der obigen Matrix aufgeführten Punkte – beispielsweise B.1 Vertrieb – liegt auf einem anderen Excel-Kartenreiter eine komplette ExcelTabelle mit weiteren Unterpunkten. Abbildung 29 zeigt dies. Allerdings kann hier nur ein Ausschnitt wiedergegeben werden. Insgesamt enthält die Tabelle an die 1 000 detailliert beschriebene Einzelaufgaben. Aus der Aufgabenbeschrei-

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Weg ableiten

bung wird deutlich, welche Maßnahme zu welchem Ziel gehört und woraus genau sie besteht. Von der Beschreibung der Aufgabe über die Zuständigkeit eines Mitarbeiters und seiner Stellenbeschreibung bis zu den zugehörigen Prozess- und Schnittstellenbeschreibungen wurde kein Aspekt vergessen.

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 29: Ausschnitt aus dem Arbeitsprogramm

3.4.6 Orientierung Nachdem jedem Mitarbeiter und jeder Mitarbeiterin klar war, wo er/sie die von ihnen selbst maßgeblich entwickelten Ziele, Aufgaben und Planmaßnahmen jederzeit finden konnten, stellte ich ihnen die novellierte Besprechungsplanung vor, damit jeder wusste, wer wann in welchem Gremium worüber berichtete oder informiert wurde. Information hat in Arbeitsorganisationen nachweislich den höchsten Motivationseffekt – informiert zu sein, motiviert einen Mitarbeiter stärker und ausdauernder als Geld. Deshalb sollte die Planung einer so effektiv wie nötigen und so effizient wie möglichen Kommunikationskultur in jeder Organisation höchste Priorität genießen.

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Einen Teil meiner Stunde-Null-Präsentation widmete ich auch der Frage, was noch verbessert werden konnte. Unter dieser Überschrift wurden Jahres-, Quartals- und Monatsplanungen von Tätigkeiten, Umsätzen und Einsätzen durchgeführt: Projektumsätze, Mitarbeitereinsätze, Termine und Leistungen mussten fortan in diesen Zyklen geplant werden. Das Ergebnis war ein monatlicher Umsatzforecast. Ich appellierte an die positive Einstellung der Mitarbeiter, an ihre Bereitschaft, neue Wege zu gehen und mit der Vergangenheit abzuschließen. Vor allem bat ich alle Mitstreiter, mich beim Wort zu nehmen. An diesem Mittwoch bat ich in Frankfurt um das endgültige Mandat der Mitarbeiter – und ich bekam es.

3.5 Weg verfolgen 3.5.1 Flughafen Athen: Der erste Erfolg Flughafen Athen Noch bevor Rocco Roßbach die Projektabteilung übernahm, also noch zu Zeiten von Eberhard Beucke, trug ein besonderes Ereignis zur Vertrauensbildung bei. Bereits seit einiger Zeit bemühte sich unser Bereich um die Akquisition eines spannenden Projektes. Es handelte sich um die Implementierung eines CAFMSystems für den im Neubau befindlichen Flughafen in Athen, dem Athens International Airport (AiA). Dieses Projekt stellte seinerzeit das größte HOCHTIEF Projekt dar und war das Vorzeigeprojekt für eine Cross-Border-Public-PrivatePartnership (PPP). Viele im HOCHTIEF Konzern wollten an diesem Projekt mitwirken. Doch weil die Konzernmutter selber in der Betreibergesellschaft war, hatten es Töchter in den entsprechenden Ausschreibungen besonders schwer. Nun war ich gerade erst sechs Wochen „im Amt“, als wir die gute Nachricht erhielten, in den auf fünf Anbieter beschränkten Kreis derjenigen gelangt zu sein, die ein Angebot abgeben durften. Die Ausschreibungsunterlagen waren bereits im Haus. Aufgrund seiner Vorarbeit an diesem Projekt und weil er ohnehin auf Dauer ausscheiden wollte, erklärte sich Eberhard gerne bereit, als Sonderprojekt die Akquisitionsprojektleitung zu übernehmen, obwohl es zu diesem Zeitpunkt weder einen Vertrieb geschweige denn ein Produkt gab. Das qualifizierte dieses Akquisitionsprojekt dazu, an ihm einen Musterprozess zu definieren, wie fortan Vertrieb abzulaufen hatte. Dazu unterstellten wir einfach, dass es das fertige Produkt, so, wie ich es mir vorstellte, schon gab.

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Weg verfolgen

Währenddessen trat jemand in den Vordergrund, der fortan eine immer größere Rolle in meiner Arbeit spielen würde, der zweite Geschäftsführer der HTS, der ebenfalls hauptsächlich in Frankfurt war: Bardo Racky. Bardo erklärte sich sofort bereit, die Arbeit von Eberhard als Coach zu begleiten und sich mit um die Akquisition dieses Prestigeprojektes zu kümmern. Er kannte die Konzernstrukturen hervorragend, wusste, wen man wozu befragen konnte, und war international erfahren. Meine Erfahrungen beschränkten sich auf den Raum Benelux. Zwar konnte ich auch ordentliches Business-Englisch, aber der jeweils passende CAFM-Fachbegriff war mir keineswegs immer vertraut. Wir bildeten also ein Team, in dem Eberhard und Bardo die Hauptrollen übernahmen, Ulrich Kiwitt (Uli), einer unserer angehenden Projektleiter, die operative Verantwortung und ich zunächst nur eine Randaufgabe hatte. Das war mir ganz lieb, steckte ich doch gerade in der Reorganisation des gesamten Bereiches. Zunächst ließ sich alles ganz gut an. Eberhard schloss sich in einen Raum ein und studierte die Ausschreibungsunterlagen. Sie waren sehr ausführlich und hinsichtlich der technischen Anforderungen sehr detailliert. Auch die Aufgaben, die die Software zu erfüllen hatte, waren gut beschrieben, nur eben nicht genau. So konnte es sein, dass sich hinter einer einfachen Funktionsbeschreibung das Risiko verbarg, hier könne das, was die Software heute kann, nicht ausreichen und es müssten umfassende Anpassungen vorgenommen werden. Das, wie gesagt, konnte, musste aber nicht sein. Marktpreise, aufwandbasierte Preise oder was sonst? Am 27. August 1999 war der erste Wurf für das Angebot fertig und ich wurde zur Angebotsbesprechung in Bardo Rackys Büro eingeladen. Eberhard präsentierte seine Ergebnisse und hatte einen Projektpreis ermittelt, der jenseits einer Millionen Euro lag. Mir stockte der Atem! Warum sollte jemand über eine Million Euro für eine Software ausgeben, die zunächst einmal nur in einem Pilotbereich zum Einsatz kommen sollte? Die Fire Rescue Station (Building 33) hatte eine Brutto-Grundfläche von etwa 20.000 m² – im Verhältnis zum gesamten Flughafen ein Nichts an Fläche. Was würde dann wohl das System für den ganzen Flughafen kosten? Das zumindest hätte ich mich als angehender Flughafenmanager gefragt und die Software gleich aussortiert. Nach meiner Meinung gefragt, brachte ich auf den Punkt, dass ich das für einen Auftragsverhinderungswert hielt und maximal ein Drittel davon zum Ansatz bringen würde. Woraufhin eine Diskussion darüber entbrannte, wie ich das mutmaßen könne, ohne die Aufwände wirklich zu kennen. Ich argumentierte, dass eine Software, die innerhalb eines Standardanforderungskatalogs eine so hohe Summe im Projekt verschlang, nicht marktkonform sei. Wenn wir das nicht preiswerter könnten, so

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meine Position, dann bräuchten wir im Grunde gar nicht erst anzutreten. Die Kollegen gingen die Preisfrage aus der Aufwandsperspektive an, ein Fehler, wie mir als altem Vertriebshasen längst klar war, dem Angebot und Nachfrage – fast – alles bedeutete. So angestoßen, sprachen wir nun über die Interpretationsspielräume, die die Anforderungsbeschreibungen offen ließen. Eberhard hatte, und das war durchaus sehr verantwortungsvoll, sehr viele Sicherheiten eingebaut, war bei missverständlichen Anforderungsprofilen immer von dem aufwändigsten Fall ausgegangen. Er hatte dadurch sichergestellt, dass uns nichts kalt erwischen würde, das Projekt auf keinen Fall rote Zahlen gebracht hätte, aber er hatte eben auch enorm hohe Aufwände kalkuliert. Ich schlug vor, in unsere Leistung die Erstellung eines Software-Pflichtenheftes auf Basis der ausgeschriebenen Anforderungen einzukalkulieren und dann zu unterstellen, dass bei der Niederschrift der geforderten Leistungen in dieses Heft das herauskommen würde, was unsere Software ohnehin bereits leisten konnte. Ich empfahl darüber hinaus, die Abnahme dieses Pflichtenheftes als Meilenstein in das Projekt einzuarbeiten. Beide Parteien sollten eine Ausstiegsmöglichkeit bekommen. „Sollbruchstelle Pflichtenheft“ nannte ich das. So entschieden wir uns dafür, die Software für ein Drittel der ursprünglich veranschlagten Kosten anzubieten, und sandten das Angebot ein. Preferred bidder Es kam, wie es kommen musste. Wir waren zwar nicht die billigsten, aber offensichtlich aufgrund der überlegenen Technologie die preiswertesten Anbieter und durften als preferred bidder nach Athen reisen und unsere Software anhand vorgegebener Aufgabenstellungen präsentieren. Damit ging der Stress erst richtig los. Wie beschrieben, waren wir ja gar nicht in der Lage, ein homogenes Softwareprodukt zu präsentieren, das entsprach überhaupt nicht dem Entwicklungsstand. Wir hatten eine Datenbank, ein angebundenes CAD-System und ein paar Abfrage-Instrumente. Mehr nicht. Aber auch nicht weniger. Nach dem Motto „Augen zu und durch“ überredete Bardo mich, aus der passiven Rolle herauszugehen und in Athen selber zu präsentieren. Ich kann mich nicht erinnern, jemals in meinem Leben mehr Angst vor der eigenen Courage gehabt zu haben als zu diesem Zeitpunkt. Ich erklärte mich selber für verrückt. Keine drei Monate im Unternehmen, von Tuten und Blasen keine Ahnung, flog ich also am 13.Oktober 1999 mit den drei Kollegen nach Athen, im Gepäck ein paar lose Softwarekomponenten, eine klare Aufgabenstellung und die Hoffnungen von 27 Mitarbeitern, die wie eine tonnenschwere Last auf meinen Schultern ruhten.

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Weg verfolgen

Angst vor der eigenen Courage Was sollte ich machen? Ich kam aus dieser Nummer nicht mehr heraus, ich musste nun zeigen, was ich konnte, und das in meiner Kernkompetenz: Verkaufen. Ich lehnte mich zurück und dachte mir die Situation von der anderen Warte aus, ich überlegte, was ich hatte, nicht was mir fehlte. Ich hatte zwei absolute Spezialisten unserer Software Kopernikus, egal wie weit diese gediehen war. Ich hatte einen „parkettsicheren“ Geschäftsführer, der in der Lage war, jederzeit eine große Gruppe zu überzeugen, und ich hatte eine klare Aufgabenstellung des potenziellen Auftraggebers. Und ich hatte jede Menge Vertriebserfahrung. Zusammengenommen hatte ich also alles, was eine erfolgreiche Präsentation möglich machen sollte. Und was macht man, wenn einem Sicherheit fehlt? Man bereitet sich außergewöhnlich gut vor. Ich schlug also vor, ein Drehbuch zu schreiben und die Präsentation der Aufgabenstellungen an der Software vom Ablauf her genau festzulegen. Jeder Klick, jedes Öffnen und Schließen eines Fensters musste genau geprobt werden, sogar an welcher Stelle sich ein Programmfenster zu öffnen hatte. Mir ging es darum, nichts, absolut nichts dem Zufall zu überlassen. Durch die Ausschreibungsunterlagen stand exakt fest, was die vom Kunden zusammengestellte Kommission sehen wollte, und in meinem Kopf existierte ja schon das Bild, wie die Software in Zukunft aussehen sollte. Das war doch eine einmalige Chance, auch für meine interne Zielsetzung. Sollte es uns gelingen, die Kommission zu überzeugen, wäre gleich der erste Erfolg für diese „neue“ Software da. Welches Argument könnte stärker sein? Vertrauen in das eigene Können hilft Der Flug nach Athen war mein erster in diese Stadt. Noch nie zuvor war ich in der Wiege der Demokratie. Als Jugendlicher schwärmte ich für die Sagen des klassischen Altertums, ich empfand viel für Athen. Unser Kooperationspartner vor Ort war eines der führenden CAD-Systemhäuser. Fotis Katranzis, geschäftsführender Gesellschafter, empfing uns mit großer Herzlichkeit. Er trug mit seiner souveränen, ruhigen und durchaus akribischen Art viel zum Abbau meiner Nervosität bei. Die Stadt war lauter, hektischer und schmutziger, als ich sie mir vorgestellt hatte. Das trug nicht zu meiner Beruhigung bei. Wir richteten in Fotis` Besprechungsraum unseren Projektleitstand ein. Hier bereiteten wir innerhalb von zwei Tagen die gesamte Präsentation vor. Für den Abend vor unserem „Auftritt“ vor dem Vergabegremium hatten wir eine Generalprobe angesetzt. Eberhard und Uli arbeiteten rund um die Uhr. Sie machten nicht den Eindruck, als wären sie hundertprozentig von meiner Strategie überzeugt, aber zumindest waren sich alle einig, dass wir nur so und auf diese Art überhaupt ein Chance hatten, gegen die etablierten europäischen Systeme bestehen zu können. Also arbeiteten sie, als gäbe es kein Morgen.

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Die Generalprobe klappte sehr gut. Wir legten abschließend noch einmal fest, wann genau sich welches Fenster wo öffnen durfte, wie im Hintergrund Fenster geschlossen werden sollten, damit nicht zu viele auf dem Bildschirm zu sehen waren. Wir positionierten das Fenster der CAD-Applikation genau dort, wo es sich später in der fertigen Anwendung als integraler Bestandteil unserer Anwendung öffnen sollte, und alles sah so aus, als handelte es sich um eine vollkommen integrierte fix und fertige Software. Vor unserem Testgremium, bestehend aus Fotis, einem Freund von ihm, Bardo und noch einem Mitarbeiter aus dem Unternehmen von Fotis konnten wir eine fehlerfreie Anwendung zeigen. Fotis und sein Freund und auch Bardo gaben mir Tipps für meinen Vortrag, korrigierten mein Englisch mit Engelsgeduld, und so fühlte schließlich auch ich mich sicher. Einen besonderen „Kick“ gab mir Ulis abschließende Bemerkung, er habe sich noch nie so gut vorbereitet gefühlt. Eberhard hielt sich weitgehend im Hintergrund. Seine bloße Anwesenheit gab uns Sicherheit. Sollte es notwendig werden, würde er einspringen. Das wussten wir. Präsentation geschafft Die Präsentation am nächsten Morgen war im Grunde nur noch ein logischer Abschluss unserer intensiven Vorbereitung. Ich fühlte mich sicher und gut und gab mit Uli gemeinsam eine Vorstellung, als täten wir den lieben langen Tag nie etwas anderes. Das Gremium schien beeindruckt, ließ aber keinerlei Rückschlüsse zu. Für uns war es gut genug, dass wir die Präsentation „geschafft“ hatten. Unsere technische Überlegenheit war bekannt und das wussten auch unsere potenziellen Auftraggeber, auch dass wir preislich im Mittel lagen, sprach für uns. Das Einzige, woran wir hätten scheitern können, war die marktgängige Meinung, das System sei für den Anwender zu kompliziert, man könne es nicht bedienen. Das hatten wir widerlegt, die Software sah elegant, einfach und übersichtlich aus, aufgrund unserer Technik waren wir natürlich in den komplexen Datenbankabfragen extrem schnell, das gab noch einmal Punkte in der Bewertung der Bedienbarkeit und Ergonomie. Jetzt mussten der gute Eindruck, den wir hoffentlich hinterlassen hatten, und die gesamte Vorarbeit das Übrige tun, um dem Vergabegremium genug Argumente zu liefern, etwaige „politische“ Bedenken zu zerstreuen. Wir flogen zurück nach Frankfurt mit dem Wissen, unser Bestes gegeben zu haben.

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Weg verfolgen

3.5.2 Business as usual – dann: Die verdiente „Göttergabe“ vom Olymp Natürlich erwarteten uns zu Hause lauter neugierige Kollegen, ich berief kurz ein Meeting ein und teilte allen mit, es sei gut gelaufen. Ich bedankte mich ganz ausdrücklich für die gute Vorbereitung durch Eberhard und Uli und empfahl allen: Business as usual. Es gab genug zu tun und wir würden uns sicher am meisten über einen eventuellen Auftrag aus Athen freuen, wenn wir durch unsere weitere Arbeit bis dahin noch mehr Sicherheit darin gewinnen würden, diesen Auftrag dann auch zur Zufriedenheit des Kunden abarbeiten zu können. Ich wusste, dass das eine der größten Sorgen, zumindest von Uli war. Er war als Projektleiter vorgesehen, und er fühlte sich alles andere als sicher in seiner Haut, das war mir klar. Ein positiver Nebeneffekt, unabhängig vom Ausgang dieser Vergabe, war, dass ich in der Praxis bewiesen hatte, wie weit man mit akribischer Vorbereitung und dem Anspruch, nichts dem Zufall zu überlassen, kommen kann. Während der Veränderungsprozess in unserer Organisation an Fahrt gewann, während die Aufgaben ab- und die Prozesse ausgearbeitet wurden, während diskutiert und verabschiedet wurde, lief die ganze Zeit parallel dieses Ausschreibungsverfahren bei der AiA. Auch wenn jeder gespannt war, was denn nun dabei heraus kommen würde, das eigentlich Spannende war für mich, dass die Stimmung im Unternehmen von überaus faszinierender, konzentrierter Anspannung geprägt war. Jeder wusste genau, warum er woran arbeitete. Jeder wusste, dass jeder Handgriff zu einem großen Puzzle gehörte. So trat der mögliche Ausgang der Ausschreibung in den Hintergrund. Dort war das maximal Mögliche geleistet worden. Das wusste jeder. Etwa drei Wochen nach unserer Präsentation erreichte uns die Nachricht aus Athen: Wir hatten die europaweite Ausschreibung gewonnen!

3.5.3 Deutsche Markterfolge Markterfolg bei bis dato größtem deutschen Projekt An die folgenden zwei Jahre harter Arbeit erinnere ich mich wie an einen guten Film. Wir hatten das, was man im Sport „einen Lauf“ nennt. Wir arbeiteten konzentriert und engagiert, erlitten kleinere Rückschläge, aber alle wesentlichen Erfolge, die angestrebt waren, wurden erreicht.

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Hatte der Markt unseren Erfolg in Athen noch mit, „ja, ja dann ist ja alles in der Familie geblieben ...“ quittiert, konnten wir schon ein halbes Jahr später mit unserem nächsten Ausschreibungserfolg ausgerechnet in Leipzig, dem Hauptsitz eines unserer wichtigsten Wettbewerber, einen großen Achtungserfolg erzielen. Das dort einzuführende Liegenschafts- und Gebäudeinformationssystem (LIGIS) auf Basis unserer Software Kopernikus hatte ein Budget über 250 000 €, das war das bis dahin größte ausgeschriebene CAFM-System im deutschen Markt. Auch hier setzten wir uns als Underdog gegen die Elite, diesmal die deutsche, durch. Als wir im Juni 2000 den Auftrag erhielten, befanden wir uns in drei weiteren Ausschreibungsverfahren in aussichtsreicher Position. Unser Vertrieb unter der Leitung von Peter Kölges arbeitete so, wie ich es von Kölges aus langer Zusammenarbeit gewohnt war. Und noch einmal Erfolg bei größtem Ausschreibungsprojekt Unser nächstes Etappenziel war es, die Ausschreibung des Landes NordrheinWestfalen mit einem Projektumfang von mehr als einer Million Euro zu gewinnen. Hier traten wir sogar gegen die große SAP als Wettbewerber an. Das Ausschreibungsverfahren, das sich das Land unter der Federführung des Finanzministeriums hatte einfallen lassen, war sicher das komplexeste und anspruchsvollste, das der Markt bis dahin gesehen hatte. Nicht nur die Ausschreibungsunterlagen, die einen äußerst umfangreichen Fragenkatalog und mannigfaltige Anforderungen an Nachweisen und Zertifizierungen umfassten, auch die Produktpräsentation wurden regelrecht benotet. Wer durch diesen formalen Teil kam, wurde zum Test eingeladen, und das waren dann nur noch zwei Anbieter. Unser eingespieltes Team leistete sehr gute Arbeit, der komplexe Fragenteil wurde umfassend beantwortet, die Präsentation mit unserem Testdatenbestand war akribisch vorbereitet und verlief entsprechend gut. Wenige Tage nach der Präsentation erhielten wir den Bescheid, zum Test in das Rechenzentrum des Finanzministeriums bestellt worden zu sein. Nun galt es zu beweisen, dass wir genug gelernt hatten. Das war gleichzeitig der erste Härtetest für unsere soeben erst fertig gestellte Version 7, die das Sprungbrett zu V10 darstellte, unserem künftigen „großen Wurf“. Für den Test im Rechenzentrum des Finanzministeriums stellten wir ein fünfköpfiges Team zusammen: Der vorgesehene Projektleiter Elmar Kuttler, einer seiner Projektmitarbeiter, die Produktmanagerin Rita Görze, unser Vertriebsleiter Peter Kölges und sein „Rookie“11 Albrecht Keiser.

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Weg verfolgen

Unsere Sorge galt einem potenten Wettbewerber mit sehr starker Lobby im Land. Wir wollten keinen Fehler machen, wollten beweisen, was wir und unsere Software konnten – wir wollten den Auftrag! So schworen wir uns alle auf das Ziel ein. Wir wussten, dass unsere Leidenschaft für unser Produkt von sich aus wirkte, wir wussten auch, dass wir alle technischen Herausforderungen würden meistern können. Jetzt mussten wir zeigen, dass wir im Team hervorragend funktionierten und jede Aufgabe, spontane wie vorbereitete, strukturiert und organisiert lösen konnten. Nachdem wir bereits in den Sicherheits- und den Performancetests gute Resultate erzielt hatten und wir davon ausgehen durften, dass wir die „Nase leicht vorne hatten“, geschah etwas Unvorhergesehenes. Eine vorbereitete Aufgabenstellung konnte nicht wie vorgesehen gelöst werden, weil dazu eine bestimmte Prozessfolge im System nicht vorgesehen war. Die „Prüfungskommission“ vertagte die Lösung der Aufgabe auf den nächsten Tag, im Glauben, dass uns das auch nicht viel helfen würde, denn komplexe Prozesse mussten in der Software normalerweise programmiert werden und wir hatten weder einen Programmierer im Team noch hätte man in den Quelltext der Software eingreifen dürfen; das wäre zu riskant gewesen. Nun konnten wir zeigen, was wir und das System wirklich leisten konnten. Unsere neue Prozesssteuerung war bereits in die Software implementiert, mit ihr sollte der Kunde nach unserer Werbeaussage Prozesse dauerhaft selber in die Software eingeben können, ohne über Programmierkenntnisse verfügen zu müssen. Nun setzte sich also unser tapferer Elmar über Nacht im Hotel hin und setzte als erster im „Prüfungsstress“ dieses neue Werkzeug ein. Elmar präsentierte die Aufgabe am nächsten Morgen – und überzeugte! Noch nie hatten die Techniker des Rechenzentrums vorher gesehen, dass man im wahrsten Sinne des Wortes über Nacht eine solche Aufgabe mit einer Software lösen konnte. Wir erhielten den Auftrag für die Implementierung eines CAFM-Systems für das Land NRW im ersten Quartal des Jahres 2001 und schrieben unsere Erfolgsgeschichte damit fort. Von Auftrag zu Auftrag wurden die Projekte größer und unser Siegeszug wurde zum Gesprächsstoff in der ganzen Branche. Auf den Landesauftrag folgte ein halbes Jahr später ein noch größerer Auftrag eines der größten Versicherungskonzerne in Deutschland und wieder setzten wir uns gegen die gesamte Konkurrenz durch. Zu unserer Philosophie gehörte es dabei, nie ein schlechtes Wort über einen Konkurrenten zu verlieren, egal wie dieser über uns sprach.

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3.6 Fazit mit 10 Tipps für erfolgreiches Führen 3.6.1 Fazit Bereits in der Jahresabschlusssitzung 2000 konnte ich eine erste Erfolgsbilanz vorlegen. Wir hatten es geschafft, trotz drei neuer Mitarbeiter, die wir zusätzlich eingestellt hatten, den Verlust von minus 545 T€ auf minus 270 T€ zu halbieren und bereits weitere Aufträge zu akquirieren. Unsere Kennzahlen ließen erkennen, dass der Trend aufwärts ging, die Prozessqualität insbesondere im Vertrieb deutlich gesteigert werden konnte, und das ließ erahnen, dass der Erfolg kaum noch zu verhindern war. Nach einer intensiven Aufbereitungs- und Vorbereitungsphase unter der Regie von Peter Kölges nahm der Vertrieb im Mai 2000 nach über sechs Monaten Pause den operativen Betrieb auf. Die Abnabelung vom Konzern hatte begonnen. Am Ende des Jahres war der konzerninterne Umsatz („Chinesengeld“ nannten wir das) bereits um 17 % zurückgegangen, der Zuwachs im externen Geschäft betrug am Jahresende 87 %. Mit etwa 3 Mio. € Auftragsbestand waren die Bücher prall gefüllt. Der Turn-around gelang. Im Jahr 2001 lag der Anteil des konzerninternen Umsatzes bereits nur noch bei 44 %, Im Jahr 2002 wurde der komplette Jahresumsatz außerhalb des Konzerns geschrieben. Dazu war eine Steigerung des so genannten freien Umsatzes außerhalb des Konzernumfeldes von HOCHTIEF von etwa 300 Tausend Euro auf über 2.2 Mio. € erforderlich. Gleichzeitig verbesserte sich das Ergebnis um über 600 T€ auf ein im Jahr 2001 erstmals positives von etwa 100 T€. So hatten wir innerhalb von effektiv 22 Monaten nicht nur das Verhältnis von internem zu externem Umsatz komplett umgekehrt, sondern gleichzeitig auch das Ergebnis vom Negativen ins Positive gedreht und das alles bei einer Steigerung der Umsätze um etwa 20 %, ohne auch nur einen Mitarbeiter abzubauen – im Gegenteil. Zum Vergleich hier die wesentlichen Werte im Vergleich 1999 zu 2002: 1999

2002

Umsatz

1.800 T€

„ davon intern (HOCHTIEF) „ extern

1.500 T€

0

300 T€

2.300 T€

Ergebnis

- 545 T €

+ 270 T€

Anzahl der Mitarbeiter

16

2.300 T€

23

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Fazit mit 10 Tipps für erfolgreiches Führen

Im Oktober des Jahres 2001 erreichten wir unser größtes Ziel. Mit etwa 400 aufgelaufenen Überstunden präsentierten wir uns zunächst einmal selber die neue und endgültig reife Version unserer Software, die Version 10, kurz V10 genannt. Um das gebührend und angemessen zu feiern, lud ich alle Mitarbeiter und deren Partnerinnen und Partner zu einer großen Party in die Industriebrache Zeche Zollverein nach Essen ein. Wir zelebrierten ein Dinner-Event im Red Dot-Museum und feierten bei der anschließenden Club Disco bis in die frühen Morgenstunden. EQ und IQ In den meisten Unternehmen und bei der großen Mehrzahl der verantwortlichen Führungskräfte ist das Wissen über Führung sehr dünn gesät. „Emotionale Intelligenz“ wird als Schlagwort gefeiert und mit medizinischem Halbwissen zur rechten und linken Gehirnhälfte unterlegt. Oft kommt der „EQ“ auch als Ersatz für fehlenden IQ zum Einsatz. Aber was emotionale Intelligenz ist, wie man sie schult, wo man sie einsetzt – dazu liest und hört man jenseits der wissenschaftlichen Fach-Psychologie im Regelfall nur esoterische Trivialliteratur. Emotionale Intelligenz, wie immer man sie definieren will, fungiert als Kitt intelligenter Netzwerke. Aus der Perspektive einer Organisation, eines Systems, eines Netzwerkes, deren Lösungsfähigkeit jeweils größer ist als die der sie konstituierenden Systemteile oder Individuen kann man sagen: Ohne Empathie ist alle Intelligenz nichts. Denn sie bleibt dann partikulare Eigenschaft eines jeden Einzelnen. Verfolgt ein Individuum ausschließlich Einzelinteressen, ist das kontraproduktiv zum Gruppenziel. Es kommt zu wechselseitigen Neutralisierungskämpfen, dem kalten Krieg der Intelligenzen, an dem Systeme zugrunde gehen oder – mangels Widerstandskraft – mindestens zugrunde gehen können. Kerninteresse eines jeden, der für einen gruppendynamischen Prozess verantwortlich ist, muss es folglich sein, die Gruppe (das System) zu stärken. Welche Ressource aber ist maßgeblich für Empathie? Es ist das Vertrauen. Wissen, dem man vertraut, verschafft man sich aus Quellen, denen man vertraut, so einfach ist das. Wo Vertrauen nicht vorhanden ist oder bereits enttäuscht wurde, kann man es natürlich nicht künstlich erzeugen. Aber man kann mindestens immer dann mit gutem Beispiel voran gehen, wenn der Mehrwert sicher ist. Man kann Vertrauen geben, wenn man dadurch schlimmstenfalls riskiert, persönlich enttäuscht zu werden, wenn man dabei nicht riskieren muss, sich selbst oder dem übergeordneten System, für das man Verantwortung trägt, dem Unternehmen, unwiederbringlichen Schaden zuzufügen.

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Unser Beispiel hat gezeigt, dass es sich lohnt, in Vertrauen zu investieren und zwar auf „beiden Seiten“. Der „Gewinn“ ist nämlich ungleich viel höher als der mögliche Verlust. Eine Führungskraft oder ein gutes Beispiel beflügeln regelmäßig viele und werden immer nur durch wenige enttäuscht. Dies war nun eine rationale Argumentation zur Verteidigung des Einsatzes emotionaler Intelligenz. Genau die wollten wir auch. Denn wir können den Wert des Vertrauens ja nicht aus dem Wert des Vertrauens ableiten, wenn wir begründen und empirisch belegen wollen, warum das Erreichen anspruchsvoller Ziele für Menschen auf lange Sicht überhaupt nur möglich ist, wenn diese Menschen einander Vertrauen schenken. Solch’ emotionales Vertrauen kann übrigens niemals direkt einer Organisation entgegengebracht werden, sondern es muss zwischen den Menschen gebildet werden, denen, die führen wollen, und denen, die folgen sollen. Es ist weder logisch noch emotional nachvollziehbar, einer Organisation dieses Vertrauen oder diesen Vertrauensvorschuss zu schenken. Gute Manager wissen das. Sie wissen, dass sie gegenüber oder mit ihrer Organisation rational umgehen müssen, dass diese Organisation aber maßgeblich von Menschen bestimmt wird, die Emotionen haben, Vertrauen suchen und Respekt einfordern. Dies ist die Schlüsselherausforderung jeder Managementposition – doppelt sehen zu können, beide Interessen, die der Vernunft und die der Emotion, gleichrangig zu behandeln. Das ist die eigentliche Herausforderung. Um es einmal – streng genommen – gar nicht überspitzt zu formulieren: Gute Manager sind im besten Sinne des Wortes schizophren: Sie tragen simultan zwei Brillen oder „sehen“ auf dem einen Auge emotional und auf dem anderen rational und bringen es, im Unterschied zu krankhaft Schizophrenen, fertig, beide Sichten einander plausibel zu machen und zu vermitteln.

3.6.2 10 Tipps für erfolgreiches Führen 1. Führen durch Vorführen! Führen heißt auch Fehler machen. Ihre Mitarbeiter sollen an Ihrem Beispiel sehen können, dass man Fehler machen darf und nicht immer alles wissen muss. Sie sind auf diese Art ein Vorbild an Teamarbeit und alle werden gerne ihre Leistungen in dieses Team einbringen. Sie sollten bestrebt sein, der zu sein und als der zu erscheinen, der Sie tatsächlich sind. Das macht authentisch und glaubwürdig. 2. Schreien schult die Stimme, nicht die Argumente! Laut werden und cholerisch sein ist uncool und schafft Angst und nicht Respekt. Vermeiden Sie daher, Zorn oder Wut gegen eine Person zu richten. Es führt zu nichts und vergiftet das Klima. Überlegen Sie stattdessen, was Sie stört und was Sie ärgert, und teilen Sie dies dem betroffenen Mitarbeiter in einem Vier-AugenGespräch mit. Er wird es Ihnen durch ernsthafte Fehlerkorrektur danken.

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Fazit mit 10 Tipps für erfolgreiches Führen

3. Was wollen Sie? Die wohl wichtigste Reise, die ein Mensch machen kann, ist die zu sich selbst. Nehmen Sie sich Zeit für sich selber, gehen Sie in sich und finden Sie heraus, was Sie wirklich wollen. Denn nur ein Mensch, der aus dem tiefsten Inneren weiß, was er will, was sein Ding ist, der hat die Strahlkraft, die gemeinhin als „Charisma“ bezeichnet wird. Wer sein Ziel, seine Bestimmung nicht kennt, der kann den Weg dorthin nicht finden. 4. Wer seine Autorität einfordert, hat sie bereits verloren! Nehmen Sie die, die gegen Sie opponieren, auf die Seite. Weisen Sie Störer nicht vor der Gruppe zurecht. Sie geben ihnen so die Chance, ihr Gesicht zu wahren. Wenn Sie darauf bestehen, kraft Ihres Amtes eine bestimmte Sache oder Meinung durchzusetzen, schaden Sie nur Ihrer natürlichen Autorität. Bringen Sie die Menschen jedoch im Stillen „auf Kurs“, stärkt das Ihre Autorität, weil keiner weiß, wie Sie den Störer „eingenordet“ haben, aber jeder sieht, dass es Ihnen gelungen ist. 5. Wenn Ihr Mitarbeiter sich nichts zutraut, tun Sie es doch! Zutrauen schafft Vertrauen. Vielen Menschen fehlt es an Zutrauen zu ihren eigenen Fähigkeiten. Wir müssen als Führungskräfte lernen, das zu respektieren, und unsere Aufgaben darin sehen, Menschen zu bestärken. Sie werden sehen, ein Mensch, dem Sie etwas zutrauen und dem Sie das auch sagen, wird Mut schöpfen und Ihnen folgen, wenn Sie vorangehen. 6. Jeder Mensch folgt lieber seiner eigenen als einer fremden Idee! Motivieren heißt, den inneren Antrieb des Mitarbeiters anzusprechen. Dazu müssen Sie herausfinden, was ihn bewegt. Finden Sie seine Idee. Jeder hat eine. Und helfen Sie Ihrem Mitarbeiter dabei, seine Idee von der Arbeit zu verfolgen, dann brauchen Sie nie wieder etwas von außen zu unternehmen, um diesen Menschen zu „motivieren“. Denn er wird motiviert sein. Jeder ist motiviert, Sie müssen nur herausfinden, wozu! 7. Die Summe der Ziele Ihrer Mitarbeiter ist in 90 Prozent aller Fälle höher als Ihr Gesamtziel! Fragen Sie Ihre Mitarbeiter, was sie wirklich leisten wollen, anstatt ihnen Vorgaben zu machen. Sie werden überrascht sein, denn ein Großteil Ihrer Mitarbeiter will mehr erreichen, als Sie glauben! Und denjenigen, denen es schwer fällt, hohe Ziele zu formulieren, denen geben Sie am besten Zeit. Denn oft ist ein Mangel an Zutrauen die Ursache dafür und kein mangelnder Leistungswille. In der Summe werden die Ziele Ihrer Mitarbeiter aufaddiert ein höheres Gesamtziel ergeben als das, welches Sie selber geplant hatten. Nun helfen Sie nur noch Ihren Mitarbeitern, ihre Ziele zu erreichen. Anstatt ein Ziel vorzugeben!

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8. Tadeln nur im Einzelgespräch, loben immer vor der Gruppe! Geben Sie Ihren Mitarbeitern die Chance, jederzeit ihr Gesicht zu wahren. Wenn Sie jemanden zu tadeln haben, so nehmen Sie ihn zu Seite, wo sie alleine sind. Sagen Sie ihm offen, was Sie festgestellt haben, nehmen Sie dabei nur Ihre eigenen Beobachtungen zum Maßstab, keine Erzählungen Dritter. Fragen Sie den Mitarbeiter, was er in Zukunft anders machen möchte, um den Fehler oder das Fehlverhalten abzustellen. So werden Sie immer Mitarbeiter haben, die mutig genug sind, Fehler auch zuzugeben. 9. Machen Sie Kontrolle zu einer angenehmen Erfahrung! Sie können sich beispielsweise angewöhnen, Ihre Mitarbeiter bei guten Leistungen zu erwischen, und sie damit überraschen, dass sie nicht auf Fehler kontrolliert werden. Auch das nimmt die Angst davor, Fehler zu machen, und richtet das Interesse aller auf das, was gut und richtig gemacht wurde. Nutzen Sie Kontrollgespräche dazu, Fehler und Schwächen immer im Zusammenhang mit der guten Leistung festzustellen. 10. Stellen Sie mit Ihrem Führungsteam Regeln auf! Zeigen Sie Ihrer Crew, dass Sie es ernst meinen, und stellen Sie mit ihnen gemeinsam Regeln auf, wie Sie gemeinsam mit Ihrem Team das Unternehmen führen wollen. Achten Sie darauf, dass jeder etwas einbringt, so dass sich alle in den Regeln wiederfinden. Halten Sie sich daran, und Sie werden Mitarbeiter haben, die Loyalität für Sie neu definieren.

3.7 Anhang: Auszug aus dem OBWStrategiepapier Zum besseren Verständnis der Stimmung, in welcher der oben dargestellte Wandel stattfand, haben wir einen Auszug aus dem in diesem Projekt entstandenen und in diesem Kapitel erwähnten Strategiepapier im Originaltext eingefügt. Lassen Sie es in diesem Kontext auf sich wirken, es beschreibt das Selbstverständnis und Selbstbewusstsein dieser jungen Führungsmannschaft nach etwa einem dreiviertel Jahr der Zusammenarbeit. Der Textauszug bezieht sich lediglich auf die qualitative Zielsetzung des Geschäftsbereiches und stellt etwa ein Fünftel des Gesamtwerkes dar: „Der Geschäftsbereich Objektbewirtschaftung (OBW) der HOCHTIEF Software (HTS) ist ein Profit Center und von daher per Definition eine profitable Unternehmenseinheit innerhalb der HTS. Profit wird über Erträge in welcher Höhe auch immer und in jedem Falle niedrigere Kosten durch die Arbeitsleistung der

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Anhang: Auszug aus dem OBW-Strategiepapier

Mitarbeiter der OBW erwirtschaftet. Profit ist der Maßstab, an dem sich der Erfolg unserer Aktivitäten als Geschäftsbereich messen lässt, und somit Teil der Zielsetzung unserer Organisationseinheit.

Der Erfolg eines einzelnen Mitarbeiters innerhalb der OBW wird nicht an seinem erwirtschafteten Profit gemessen, sondern am Grad der Erreichung seines individuellen Zieles, vereinbart mit der jeweilig für seinen Bereich verantwortlichen Führungskraft. Das Team der Führungskräfte trägt die Verantwortung für das Erreichen der wirtschaftlichen Ziele, sowohl der qualitativen als auch der quantitativen. Alle Mitarbeiter sind eingeladen, am Erreichen dieser wirtschaftlichen Ziele mitzuwirken, und aufgefordert, ihr Bekenntnis oder ihre Alternative dazu frühzeitig zu erklären. So kann die Führungsmannschaft ihre Kräfte zielorientiert einsetzen und interessierte Mitarbeiter gezielt fördern. Der Führungsstil der Führungskräfte ist partnerschaftlich-kooperativ. Das Führungsteam setzt auf das persönliche und das Kompetenzwachstum eines jeden einzelnen Mitarbeiters im Rahmen seiner Möglichkeiten. Es ist Aufgabe der Führungskraft, jeden Mitarbeiter gemäß seiner Fähigkeiten einzusetzen und zu fördern. Wir erwarten von unseren Mitarbeitern nichts, was wir nicht auch selbst zu leisten bereit wären, umgekehrt gehen wir nicht zwangsläufig davon aus, dass alles, was wir bereit sind zu erbringen, auch unserem Mitarbeiter abverlangt werden kann. Die ständige Aus- u. Weiterbildung der Mitarbeiter ist uns ein besonderes Anliegen und soll mit jedem Mitarbeiter individuell auf seine Bedürfnisse und Ziele, seinen Aufgaben und seinem Einsatz angemessen geplant werden. Ein Weiterbildungsbudget ist ab dem Geschäftsjahr 2001 Bestandteil unserer jährlichen Budgetierung. Die Führungskräfte verpflichten sich der: Menschlichkeit: Wir gehen respektvoll miteinander um. Kein Mensch wird aufgrund seiner Vorbildung, Herkunft oder wie auch immer gearteten Ungewöhnlichkeit bevor- oder benachteiligt. Offenheit: Wahrheit und Klarheit sind unser Credo. Es wird nicht um den heißen Brei geredet. Wir antworten wahrheitsgemäß und ohne Verschleierungstaktik oder diplomatische Formeln auf die Fragen der Kolleginnen und Kollegen.

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Kommunikation: Die Führungskräfte verpflichten sich zu aktivem Zuhören. Rhetorische Finessen und kühne Reden sind nicht gefragt. Im Einzelgespräch zählen nur der Mitarbeiter und seine Gedanken, Sorgen und/oder Ziele. (...) Der wohl am weitesten verbreitete Führungsstil ist der „situative“: mal autoritär, mal laissez-faire. Bei HTS fanden wir einen Laissez-faire-Stil vor. Wer jedoch ein gut geführtes, professionell betriebenes Unternehmen bevorzugt, dem sei empfohlen, partnerschaftlich kooperativ und sehr konsequent zu führen. Wohlgemerkt: konsequent, nicht hart. Ein konsequentes Führungsverhalten bedingt eine stringente Zielplanung und ein ebenso strikt zu befolgendes Mitarbeitergesprächssystem. Ob eine solch konsequente Führungsphilosophie auch als „Härte“ empfunden wird, sei jedem als Betroffenen bzw. Beteiligten selber überlassen zu werten. Im Begriff „konsequent“ selbst liegt keine Wertung. Bitten nicht befehlen! Qualifiziert führen bedeutet, Menschen zu bewegen, nicht Dinge anzuordnen. Setzen Sie auch im „Führungsprozess“ Ihre Emotionen gezielt ein, erheben Sie Ihre Stimme niemals, wenn es um eine Person geht, es sei denn, Sie wollen sie loben.

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Kundennähe: Bauunternehmung Tecklenburg GmbH

4.

Kundennähe: Bauunternehmung Tecklenburg GmbH

Wenn man etwas Neues hat, will niemand davon hören. Dann will es niemand glauben, und man wird bekämpft und verlacht. Wenn es sich dann aber durchgesetzt hat, erscheint es allen trivial. Jonathan Swift

Nicht jedes mittelständische Unternehmen ist „beratungsresistent“. Als Hermann Tecklenburg feststellte, dass Vertrieb in der Bau- und Immobilienwirtschaft nicht mehr alleine über das Aufstellen von Bauschildern funktionierte, holte er sich kurzerhand Berater ins Haus und ließ ein maßgeschneidertes Vertriebskonzept entwickeln. So erreichte er, dass sich jeder Mitarbeiter auf sein Fachgebiet konzentrieren konnte und Vertrieb wieder zu dem wurde, was es in jedem Unternehmen sein sollte: eine Hauptsache. Mit eigener Vertriebsmannschaft erreichte Tecklenburg in einer von der deutschen Baukrise getrübten Zeit innerhalb von nur 18 Monaten eine Verdopplung seiner Umsätze.

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Kundennähe: Bauunternehmung Tecklenburg GmbH

Firmenname

Tecklenburg GmbH

Branche

Bau- und Immobilienwirtschaft, Entwicklung und Vertrieb von Immobilien aller Art

Gründungsjahr

1878

Mitarbeiter (2006)

~ 100

Umsatz (2006)

47 Mio. EUR (2005)

Besondere Herausforderung

Implementierung eines strukturierten Vertriebsprozesses und Aufbau einer eigenen Vertriebsabteilung zum Abverkauf „aufgelaufener“ Immobilienbestände

Quelle: Bauunternehmen Tecklenburg GmbH Abbildung 30: Hermann Tecklenburg, Geschäftsführender Gesellschafter der Tecklenburg GmbH, Bauunternehmer aus Leidenschaft

Kundennähe: Bauunternehmung Tecklenburg GmbH

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4.1 Das Unternehmen und der Unternehmer In diesem Kapitel beschreiben wir die Entwicklung eines unserer mittelständischen Mandanten. Wir zeigen darin, dass und wie ein prototypisches mittelständisches Unternehmen und sein konservativer Unternehmer innovative Kräfte einlädt, mitzuwirken und seinen Vertrieb zu verbessern. Wie er diese „fremden Kräfte“ wirken lässt und sich so messbar um 100 Prozent Umsatzsteigerung verbessern kann. Im ersten Abschnitt (4.1) berichten wir über den charismatischen Unternehmer Hermann Tecklenburg, über die seinen Namen tragende Bauunternehmung Tecklenburg GmbH und das Zusammentreffen des Unternehmers mit uns. Im zweiten Abschnitt (4.2) geht es sehr ausführlich um das Identifizieren der Interessen des Unternehmers und all derjenigen, die von den neu einzuführenden Strukturen betroffen waren. Das war so ziemlich jeder Mitarbeiter des Unternehmens. Im dritten (4.3) befassen wir uns mit der Bündelung der Interessen zu Zielen – Unternehmenszielen, die die Interessen aller Beteiligten achten sollen. Der vierte Abschnitt (4.4) handelt von der zielkonformen Maßnahmenplanung innerhalb einer neu geschaffenen Vertriebsorganisation – eine prekäre Aufgabe mit vielen Fallen, zumal die nicht-vertriebliche „Restorganisation“ aus verständlichem Grund misstrauisch war und die Schnittstellen kappte. Im fünften Abschnitt (4.5) dürfen wir endlich über Erfolge berichten – Vertriebserfolge selbstverständlich. Im sechsten Abschnitt (4.6) zeigen wir, wie der neue Vertrieb, gestärkt durch seine Anfangserfolge, neue Herausforderungen an- und so den internationalen Kapitalmarkt ins Visier nimmt. Die implementierten Prozesse werden nun gegenüber einer neuen, sehr anspruchsvollen Zielgruppe, dem Markt der institutionellen Anleger, in Stellung gebracht und die Instrumente entsprechend geschärft. Fundament dieses Lernprozesses ist die Neugierde, das Interesse daran, wie andere Kundenklassen operieren und welche Interessen sie verfolgen. Der letzte Abschnitt dieses Kapitels (4.7) fasst die Essenz zusammen und gibt Ihnen ein weiteres Mal zehn praxisgestählte Tipps auf den Weg – hier auf dem Weg zu erfolgreichem Verkaufen.

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Das Unternehmen und der Unternehmer

4.1.1 Ein Mann, ein Wort: Hermann Tecklenburg Der niederrheinische Bauunternehmer Hermann Tecklenburg ist schon rein äußerlich eine Respekt einflößende Persönlichkeit. Allein seine kräftige Statur, ebenso kräftige Handgelenke mit noch kräftigeren, großen Händen lassen darauf schließen, dass dieser Mann in seinem Leben schon den einen oder anderen Stein bewegt hat. Seine Sprache ist klar, seine tiefe Stimme füllt auch ohne Mikrofon jeden Raum. Eine Frisur trägt er nicht, sein Haupt ist kahl. Mit seiner Art eckt er zuweilen an, was er aber mit einem beinahe unwiderstehlichen Charme wettmacht. Betritt er einen Raum, so übersieht man ihn nicht, er gehört zu den Menschen, zu denen man hinschaut, die in jeder Hinsicht magnetisch wirken. Natürliches, menschliches Interesse Tecklenburg hat die Gabe, den Menschen, mit denen er spricht, trotz all seiner Verpflichtungen immer seine ungeteilte Aufmerksamkeit zuteil werden zu lassen. Und die Menschen spüren und honorieren das. Hermann Tecklenburg ist immer interessiert und nimmt sich Zeit für die Gespräche mit seinen Mitmenschen. Nicht selten habe ich erlebt, dass er Gesprächspartner, die in seinem Büro Platz nahmen, unterbrach, wenn sie allzu schnell zur Sache kommen wollten. Viel lieber und wichtiger ist ihm das „Beschnuppern“, das Herantasten an den oder die Gegenüber. Mag er jemanden nicht, wirkt einer vielleicht zu überheblich, kann es sein, dass er ihm rhetorisch einen Dämpfer verpasst. Diplomatie ist ohnehin seine Sache nicht, er spricht stets unverblümt und er ist eher freundlich als höflich. Urteilskraft und Urteils-Kraft Seine Meinung zu einer Person oder zu einem Sachverhalt bildet er sich mal schneller mal kürzer. Immer aber bildet er sich eine feste und unverrückbare, eine absolute Meinung. Er differenziert nicht mehr als eben nötig, Grautöne und Schattierungen gelten bei ihm nicht. Besser ist es, man positioniert sich. Sein Engagement für die Dinge, für die er Verantwortung übernommen hat, ist scheinbar grenzenlos. Nichts ist ihm zuviel, keine Anstrengung zu groß, wenn es um das Erreichen seiner Ziele geht. Fast macht man sich Sorgen um ihn. Er vermittelt den Eindruck, Schlafen sei für ihn eine außerordentlich lästige, wenn auch gesundheitlich leider notwendige Form der Zeitverschwendung. Dass er als junger Mann tatsächlich ganze Weltreisen mit dem Rucksack unternommen hat und damals zum Teil Monate nicht in seinem Büro war, mag man ihm da gar nicht glauben.

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So hingebungsvoll er sich den Dingen widmet und seine Freundschaften und Beziehungen pflegt, so kompromisslos geht er mit Menschen um, die sich seinen Unmut zuziehen, in Ungnade fallen. Es ist nicht leicht, in diesen „Aggregatzustand“ zu fallen, seine Gegner- oder gar Feindschaft muss man sich regelrecht erarbeiten, er verzeiht viel. Hat man es dann jedoch „geschafft“, dann ist dieser Zustand, anders als in der Natur, fast irreversibel. Und in diesem „verdampften Zustand“ ist es in seiner Umgebung nicht gut zu leben, da macht er auch vor Prominenz nicht halt, denn Angst, so scheint es, kennt er nicht. Sportlicher Ehrgeiz und vertriebliches Geschick Seit ewigen Zeiten fährt Hermann Tecklenburg Porsche. So sportlich wie sein Auto ist auch seine Vita. Nicht nur, dass er das traditionsreiche Unternehmen seiner Vorväter zu völlig neuen Höhen empor führte. Er ist darüber hinaus ein weit über den Heimatkreis Kleve hinaus geachteter Fußballer und FußballExperte. In seiner aktiven Zeit ein beinharter Verteidiger der heimischen Bezirksliga-Elf, sprang Tecklenburg später, als der Bayer-Konzern Ende der 90er den Krefelder Zweitligaverein Bayer Uerdingen als Hauptsponsor fallen ließ, in die Bresche. Damals war er der erste Mittelständler, der als Trikotsponsor im Profifußball von sich reden machte. Es sollte sich herausstellen, dass dieses ursprünglich rein emotional veranlasste Engagement auch geschäftlich ein guter Schachzug war. Es brachte ihm wertvolle Kontakte in der Stadt Krefeld ein. Diese baute er – im wahrsten Sinne des Wortes – anschließend aus, mit der Folge, dass ein maßgeblicher Teil seiner Bauleistung in Krefeld erwirtschaftet wurde. Anfang des neuen Jahrtausends wandte sich Düsseldorfs Oberbürgermeister Erwin an den markanten Niederrheiner mit der Bitte, Verantwortung bei der sportlich immer noch strauchelnden Düsseldorfer Fortuna zu übernehmen. Tecklenburg sagte nach kurzer Bedenkzeit zu. Nun ist er im Vorstand dieses renommierten Klubs. Es überrascht nicht, dass ein nicht unwesentlicher Teil seiner Bauleistung nun in Düsseldorf erwirtschaftet wird. Seinem heimischen Fußballclub SV Straelen, immerhin ein Oberliga-Verein12, blieb er in all dieser Zeit als Multifunktionstalent erhalten: als Trainer, Teamchef, Hauptsponsor und Präsident in Personalunion. Er, Hermann Tecklenburg, führte den Verein in die vierthöchste Liga in der Deutschen heiligster Sportart.

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Das Unternehmen und der Unternehmer

Vielseitige Interessen und Mut zum offenen Wort Tecklenburgs Leben ist aber nicht allein dem Sport verschrieben. So vergoldete er in den 80er Jahren seinen Gründungsanteil an der ersten und bis heute einzigen wirklichen Großraum-Diskothek am Niederrhein, der Gelderner „E-dry“. Seine Interessen sind vielseitig. Er schwärmt für zeitgenössische Kunst und ist mit Künstlern diesseits und jenseits der niederländischen Grenze befreundet. Es gibt keinen Impuls, den er nicht bedenkenswert finden würde, keine noch so krude Idee, die er sich nicht wenigstens anhört, um sich ein eigenes Bild zu machen. Ob Kunst, Sport Politik oder Wirtschaft: Hermann Tecklenburg parliert in allen Bereichen mit und hat zu allen Themen der Zeit eine Meinung, und er äußert sie auch. Keine Schablone passt: Respekt nur vor Leistung und Leistungsträgern So gut er auch selber ist, so ausgeprägt ist sein Respekt vor Menschen, die auf dem einen Gebiet noch besser sind als er selbst. Spitzenleistungen erkennt er an und er ist immer auf der Suche nach dem, was er an sich oder an der Art, wie er etwas tut, verbessern kann. So ist es nicht verwunderlich, dass er seiner Lebensgefährtin Martina Voss, eine der populärsten deutschen Fußball-Nationalspielerinnen, das Training „seiner“ Oberliga-Mannschaft anvertraute. Und er hat Erfolg damit. Kaum in die Oberliga aufgestiegen, lehrt seine Mannschaft die Etablierten das Fürchten und spielte zeitweise gar um den Aufstieg in die Regionalliga mit. Das muss man(n) sich vorstellen: Eine Frau trainiert auf Anregung des Prototypen oder Klischees eines Mannes eine Oberliga-Herren-Elf. Wehe dem, der sich ein Klischee von Hermann Teckelenburg zurechtlegt. Er wird damit scheitern, dieser Mann passt in keine Schablone. Er überrascht auch noch nach Jahren der Zusammenarbeit mit immer neuen Ideen und Ansätzen. Disziplin und Methode Jede Minute des Tages, der Woche und des Monats von Hermann Tecklenburg ist genau geplant. Er überlässt nichts dem Zufall. Die wenige Zeit, die er allein im Büro verbringt, verbringt er mit der Planung seiner und seiner Partner Erfolge. Zusammenfassend mag man die Eigenschaften, die den Unternehmer ausmachen, so beschreiben: Hart aber herzlich, unnachgiebig aber verständnisvoll, diszipliniert aber kein Kostverächter. Es sind keine Gegensätze, die er da in sich vereint, für ihn sind es eher komplementäre Eigenschaften. Und so führt der Unternehmer seine Firma, über den Privatmann Tecklenburg indes erfährt man dabei nichts, und fast fragt man sich, ob es den eigentlich gibt? Die eindrucks-

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volle Historie des Unternehmens Tecklenburg einmal genauer betrachtet, offenbart eine hart erarbeitete in der Tat prototypisch-mittelständische Erfolgsstory – gesäumt von den Zeugnissen der vorgeblichen „Sekundärtugenden“ Ehrgeiz, Fleiß, Disziplin, Ehrlichkeit, Offenheit und vor allem: menschliche Anteilnahme und vielseitiges Interesse.

4.1.2 Das Unternehmen – „Ein feste Burg“ 1878, also vor mehr als 125 Jahren, legte Gerhard Tecklenburg den Grundstein für das Unternehmen. Hermann Tecklenburg wuchs in einem BauunternehmerHaushalt auf. Sein Vater und seine Mutter arbeiteten beide im Unternehmen; sie waren neben einem Buchhalter die einzigen Angestellten, die das Unternehmen hatte, als Hermann Tecklenburg es übernahm. Den Sonntag, so erzählt er gerne, verbrachte die Familie erst in der Kirche, dann im Auto – Baustellen abfahren, bei denen der alte Herr nach dem Rechten sah. Als Hermann Tecklenburg das Unternehmen im Jahr 1977 übernahm, war es ein lupenreines Bauunternehmen mit sehr knapp bemessener Liquidität. Um seinen Sohn auf die Zukunft als Unternehmer vorzubereiten, „kaufte“ Gerhard Tecklenburg dem Spross gleich nach Absolvieren der Meisterschule ein kleines Bauunternehmen in Krefeld. Dort lernte der junge Hermann, was es heißt, sorgfältig zu kalkulieren. Zwar hatte der Unternehmer, dessen Betrieb er übernahm, einen Hang zum Erbsenzählen, was sein unternehmerisches Charisma nicht zur Entfaltung kommen ließ, doch das Kalkulieren, das beherrschte er, und das sollte Hermann Tecklenburg auch nicht so schnell vergessen. Und so nahm er, als es an ihm war, den elterlichen Betrieb nach dem zu frühen Tod des Vaters zu übernehmen, einige folgenreiche signifikante Änderungen im Geschäftsmodell vor. Abschied von der traditionellen Bauunternehmung Zunächst führte er ein neues Kalkulationssystem ein, das er Jahre später als einer der ersten Mittelständler in der Bauindustrie auch per EDV stützte. Dann entwickelte er aus dem Bauunternehmen erst einen Bauträger, schließlich einen Projektentwickler. Er drückte dem Unternehmen schnell seinen Stempel auf und trat damit nicht nur aus dem Schatten seines Vaters, nein er überstrahlte ihn rasch. Ein „klassisches“ Bauunternehmen ist die Tecklenburg GmbH nach der Übernahme durch Hermann Tecklenburg nicht mehr: Von der Grundstücksbeschaffung über die Projektentwicklung bis zum schlüsselfertigen Erstellen von Wohn-,

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Das Unternehmen und der Unternehmer

Gewerbe-, Sozial- und Sonderimmobilien deckt er heute die gesamte Wertschöpfungskette ab. Da steht er den Großen der Branche, den börsennotierten Kapitalgesellschaften, in nichts nach: Lediglich das margenschwache Betreibergeschäft und das ebenso wenig ertragreiche Gebäude- und Facility Management überlässt er seinen Wettbewerbern. Besondere und ausgewiesene Expertise hat das Unternehmen beim Ankauf und bei der Sanierung von DenkmalschutzImmobilien und bei der Umsetzung von PPP-Projekten13. Die auch bei Wettbewerbern anerkannt hohe Qualität der Leistungen wird durch interne und externe Kontrollen gesichert. Das Unternehmen verfügt über eine Zertifizierung nach DIN EN 9001:2000 ISO, was sich für unser Projekt als überaus hilfreich erweisen sollte. Wirtschaftlicher Erfolg Die Erfolgsgeschichte des Unternehmens, die wir für die Jahre 2004 bis 2006 mitschreiben durften, zeigt sich unter anderem an den wirtschaftlichen Kennzahlen. Gegenläufig zum Branchentrend hat das Unternehmen stetig an Umsatzvolumen zugelegt. Und im Gegensatz zu dem ein oder anderen Branchenriesen schrieb Tecklenburg immer schwarze Zahlen dabei – ohne die Bauleistung, wie die teil- und streckenweise defizitären Konzernwettbewerber, im Ausland zu produzieren. Unsere Geschichte zeigt beides: Tecklenburg als niederrheinisch verorteten Mittelständler und Tecklenburg als „Global Player“ mit europäischer Identifikation.

50 40 30 20 10 0 2001

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2003

2004

2005

Quelle: Bauunternehmen Tecklenburg GmbH Abbildung 31: Bilanzierter Umsatz in Mio. € von 2000 bis 2005

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Erfreulicherweise konnte Tecklenburg auch seinen mittelstandstypischen Beitrag dazu leisten, die phasenweise bedrückend schlechte Situation am Arbeitsmarkt der Bauwirtschaft zu lindern. Ein Blick auf die Personalentwicklung zeigt, dass bei Tecklenburg selbst stagnierende Umsätze bei steigenden Erträgen nicht zu Lasten der Beschäftigtenzahlen gingen. Die zeitintensive und umfassende Projektierung neuer Maßnahmen erforderte qualifiziertes Personal. Dieses führte zu rentableren Projekten. Diese ermöglichten neue, zusätzliche Projekte, die wiederum neues Personal erforderten.

60 50 40 30 20 10 0 2000

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2002

2003

2004

2005

2006

Angestellte inkl. Poliere

Gewerbliche Mitarbeiter

Kaufmännische Azubis

Gewerbliche Azubis

Quelle: Bauunternehmen Tecklenburg GmbH Abbildung 32: Personalentwicklung 2000 bis 2006

Organisation Von der Aufbau- und Ablauforganisation her präsentierte Tecklenburg sich uns als typisch mittelständisch geführtes Unternehmen. Ein Blick auf das Organigramm zeigt eine beinahe prototypische Hierarchie: Unter einem Geschäftsführer finden sich parallel mehrere Abteilungen mit jeweils einem Abteilungsleiter, die allesamt direkt an den geschäftsführenden Gesellschafter Hermann Tecklenburg berichten. Das Unternehmen ist trotz der Vielzahl und Verschiedenartigkeit seiner Aktivitäten nicht in Bereiche mit Bereichsverantwortlichen gegliedert. Eine echte zweite Führungsebene existiert nicht. Es gibt, man höre und staune, elf Abteilungen, die alle direkt an den Gesellschaftergeschäftsführer berichten. Einzig die im nachstehenden Organigramm verzeichnete Vertriebsabteilung fand erst durch unser Mandat in das Organigramm Eingang.

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Das Unternehmen und der Unternehmer

Bei seiner Geschichte und dem Bild, das sich aufgrund der Organisation seines Hauses bietet, verwundert es nicht, dass die Arbeitswoche von Hermann Tecklenburg 6,5 Tage à mindestens 12 Stunden umfasst und dass in seinem Unternehmen ohne sein Kommando buchstäblich gar nichts geht.

Geschäftsführung

Projektentwicklung

Qualitätsmanagement

Finanzen

EDV

Personal Buchhaltung

Vertrieb

Bauleitung

Vergabe

Kalkulation

Architektur

Einkauf

Ausführungsebene

Quelle: Bauunternehmen Tecklenburg GmbH Abbildung 33: Organigramm vor unserem Projekt

Der Weg zum Berater Ich (Sven Rickes) hatte die Freude, Hermann Tecklenburg im Jahr 2003 auf einem Immobilien-Kongress in Wiesbaden zu begegnen. Als er unvermittelt vor mir stand, sprach ich ihn spontan auf sein Fußball-Engagement an, wozu ich ihm als ebenfalls leidenschaftlicher Kicker herzlich gratulierte. Er schien erfreut, das zu hören, und fragte, wer ich denn sei und was ich hier täte. Nach dem obligatorischen Tausch der Visitenkarten waren wir auch schon angeregt ins Gespräch vertieft. Tecklenburg interessierte, was einen Niederrheiner dazu brachte, auch in Frankfurt a. M. ein Büro zu haben, und was diesen Niederrheiner wohl dazu brachte, im Auftrag eines Mandanten aus dem Ruhrgebiet einen Kongress in der hessischen Landeshauptstadt aufzusuchen. Tecklenburg interessierte sich für den Menschen Rickes und außerdem für einen potenziellen Geschäftspartner Rickes, er interessierte sich nicht für einen Geschäftspartner, mit dem er im Wege des Small Talks ein wenig menscheln musste. Wir sprachen

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über die enttäuschenden Beiträge zum Trendthema Public Private Partnership. Wohl wahrnehmend, dass ihn das interessierte, verwies ich auf eine Fachartikelserie, die Julian von Hassell und ich just zu diesem Thema in der Immobilien Zeitung veröffentlichten. Er lud mich ein, beim Mittagessen neben ihm Platz zu nehmen – Niederrheiner unter sich. Wir vertieften das Thema PPP, aber wir unterhielten uns auch über moderne Unternehmensführung und die Schwierigkeit der Branche in der Fachdisziplin des Verkaufens. Kurze Zeit darauf bat mich Hermann Tecklenburg, zu ihm nach Straelen zu kommen und ihm unsere aktuellen Projekte und Geschäftsfelder vorzustellen. Vielleicht, so meinte er, könne sich ja ein gemeinsamer Ansatz der Zusammenarbeit finden. So fuhren wir also Mitte 2003 in die Blumenstadt Straelen und stellten unser Beratungsunternehmen vor. Wir griffen die Themen aus Wiesbaden auf und vertieften die Sachfragen rund um den professionellen Vertrieb. Unsere Vorschläge zum strukturierten Vertrieb fanden großes Interesse. Als Folge dynamischen Wachstums in den letzten Jahren hatte sich der Immobilien-Eigenbestand seiner Bauunternehmung auf einen bis dato nie da gewesenen Höchststand aufgehäuft. Das darin gebundene Kapital fehlte ihm in der Projektentwicklung und das wiederum behinderte das weitere Wachstum. Eine Vertriebsoffensive musste her. Der Weg zu einem externen Beratungspartner fiel Tecklenburg persönlich nicht schwer, denn in seinem weit gespannten unternehmerischen Umfeld empfängt und gibt er laufend Rat. Doch das, was sich nun am Horizont abzeichnete, entschlossen zu ergreifen, erforderte unternehmerischen Mut und Entschlusskraft. Der Punkt war nicht das Geld, das er auszugeben im Begriff stand, obwohl Tecklenburg jeder potenziell unnötig ausgegebene Euro schmerzt. Der Punkt war die unangefochtene Autorität im eigenen Hause, die er aufs Spiel setzte. Hermann Tecklenburg ist ein bestimmendes Wesen. Aber dieses „Wesen“ begriff, dass es Dinge gibt, die nicht bestimmt werden können, wenn sie zum Erfolg führen sollen. Dazu gehörte die Einsicht der eigenen Mitarbeiter, dass sie bis dato nie verkauft hatten. Würden sie bereit sein, das einzusehen? Wäre das Projekt gescheitert, hätte Tecklenburg einige Mühe gehabt, auf seine Truppen weiterhin bedenkenlos zählen zu können. Weder er als Unternehmer noch wir als Consultants konnten auf ein Projekt verweisen, das den Nachweis erbracht hätte: So implementiert man Vertrieb in einem mittelständischen Bauunternehmen und es lohnt sich, einen solchen Vertrieb zu implementieren!

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Interessen aufspüren

4.2 Interessen aufspüren Im Sommer desselben Jahres erhielten wir den Auftrag zu analysieren, ob und wie innerhalb der Bauunternehmung ein strukturierter Vertrieb implementiert werden kann und soll.

4.2.1 Mitarbeiterakzeptanz organisieren Wir begannen das Projekt „strukturierter Vertrieb“ im Rahmen der regelmäßig stattfindenden Führungs- und Mitarbeiterrunden vorzustellen. Es gelang uns, die Sorge der Mitarbeiter vor der eigenen „Entmachtung“ ein wenig, nicht vollständig – zu zerstreuen, indem wir deutlich machten: Bisherige Defizite waren strukturelle Defizite, die keiner bestimmten Person oder Abteilung oder gar dem Unternehmer in die Schuhe geschoben werden konnten. Es waren Defizite einer überkommenen, branchenüblichen Vorgehensweise, die in der langen Zeit der baulichen Hochkonjunktur unproblematisch war, nun aber, in Zeiten der Krise, ihre Schwäche offenbarte. Es wurde nicht verkauft im Hause Tecklenburg, es wurde verteilt, solange verteilt werden konnte. Die Verteil-Aufträge wurden an Makler vergeben, die ihrerseits nichts tun mussten, als zu verteilen. Die „Verkaufsaufgabe“ der intern mit dem „Vertrieb“ beauftragten Mitarbeiter bestand darin zu schauen, ob die Makler verteilten oder nicht. Taten sie es nicht, entzog man ihnen den Auftrag und gab ihn an den nächsten Makler weiter und so fort. Da war das Kind aber bereits in den Brunnen gefallen, denn ein Objekt, das für die Marktteilnehmer offenkundig weder von x noch von y verkauft werden kann, ist für jeden Außenstehenden im Zweifel ein unverkäufliches Objekt. Dieser unnötige und falsche Eindruck entsteht, wenn man nicht selber verkauft – verkauft wohlgemerkt, nicht verteilt. Wir erhielten also das Mandat der Mitarbeiter zu prüfen, ob es nicht anders geht. Ohne dieses Mandat hätten wir den Auftrag nicht annehmen können. Sein Erfolg wäre unmöglich gewesen.

4.2.2 Resistenz Trotz dieses Mandats wurde uns sehr schnell bewusst, dass man unseren Ideen, vorsichtig ausgedrückt, mit gewogener Skepsis gegenüber stand. Wir waren keine Bauleute, also nicht vom Fach. Ob wir denn zuvor wenigstens schon einmal Einfamilienhäuser verkauft hätten? Nein, das hatten wir nicht. Die Bedenken waren den Mitarbeitern regelrecht in das Gesicht geschrieben. Das geht nicht so einfach! Verkauf – Immobilienverkauf zumal – das geht nur, wenn man Star-Makler ist.

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Wir diagnostizierten außerdem ein ausgeprägtes AGABU-Syndrom: Alles Ganz Anders Bei Uns. Das Streben des Menschen nach Individualität offenbart sich auch in Gruppen: Wir sind ganz anders, lautet die Prämisse eines jeden Unternehmens. Für Unternehmen heißt das: Egal, wie sehr sich Abläufe in ihren Grundzügen gleichen, sicher ist immer, dass alle darauf bestehen, ihr Ablauf sei ein anderer. Man könnte auch sagen: In dem Bestreben, dass alles ganz anders ist bei ihnen, sind sich alle Unternehmen gleich. Und je nachdem, wie man „ganz“ definiert, stimmt das ja auch. Aber es stimmt eben nicht, wenn man sich die Vertriebsstrukturen ansieht. Da ist die entgegengesetzte Erkenntnis schon sehr viel zutreffender: Wir sind alle gleich oder zumindest sehr ähnlich.

4.2.3 Erfassung des Ist-Zustands Zum Projektauftakt begann Julian von Hassell mit einer umfassenden Analyse des Ist-Zustands des Vertriebsgeschehens bei Tecklenburg. Sie erstreckte sich über den ganzen Monat Juli. Nach Sichtung der Unterlagen, die er sich im Vorfeld zur Verfügung stellen ließ, darunter auch das QM-Handbuch mit allen Prozessbeschreibungen und Verfahrensanweisungen, führte er einen Workshop mit allen Projektentwicklungs- und Vertriebsmitarbeitern durch. Auch die strukturell und notorisch immer vertriebskritischen Abteilungen Kalkulation und Marketing banden wir in die Erfassung dieses Ist-Zustands ein. Natürlich befragten wir in Absprache mit Hermann Tecklenburg auch Kunden und Makler. Die Mitarbeiter fragten wir unter anderem: Wie ist der Vertrieb organisiert? Welche Prozessschritte finden statt? Welche Produkte werden verkauft? Sind die Produkte in ihrer qualitativen, preislichen und Service-Gestaltung überhaupt verkäuflich? Werden sie aus Sicht der Vertriebsverantwortlichen in den richtigen Marktsegmenten platziert? Was ist überhaupt aus Sicht der Kollegen ein Marktsegment? Gibt es Produkt-Markt-Segmentierungen? Wie ist es zu dem großen Bestand noch nicht verkaufter Immobilien gekommen? Sind die Produkte verantwortlich? Falls ja, was ist an diesen Produkten für den Noch-nicht-Verkauf verantwortlich? Ist der interne oder der externe Vertrieb verantwortlich? Anhand welcher Kriterien lässt sich das überhaupt entscheiden? Welche Schnittstellen existieren zwischen internen Vertrieblern und externen Maklern? Wie ist es um den Tagesablauf der einzelnen Mitarbeiter bestellt, wie ist der organisiert und geplant? Wer ist wie wozu qualifiziert – aus Sicht der Mitarbeiter selbst, aus Sicht der Kollegen und natürlich auch aus unserer Sicht. Wie zufrieden sind die Mitarbeiter mit dem Ist-Zustand? Was sollte aus ihrer Sicht verbessert werden? Kann das verbessert werden?

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Interessen aufspüren

Zur Vertiefung des auf unzähligen abfotografierten Metaplanwänden dokumentierten Rohbefundes aus dem Workshop interviewten wir dieselben Mitarbeiter und externen Vertriebspartner anschließend einzeln. Sind die Mitarbeiter an ihrer heutigen Position zufrieden? Würden sie lieber etwas anderes machen und falls ja: was? Eine weitreichende Erfassung der Interessenlagen aller am Vertrieb Beteiligten, auch der Kunden und Vermittler, stand auf der Tagesordnung. Über diese Dinge spricht natürlich niemand gerne in der Öffentlichkeit der Kollegen. Vertraulichkeit auch gegenüber der Geschäftsleitung wurde garantiert.

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 34: Die Jobliste des Auftrages zur Implementierung eines strukturierten Vertriebsprozesses

In der Analysephase war die ISO-zertifizierte Struktur des Unternehmens vorteilhaft für uns. Alle Abläufe waren genauestens dokumentiert und man hielt sich im Unternehmen auch – weitgehend – daran: Je näher wir unseren Blick auf das Kerngeschäft der Bauausführung richteten, desto eher fanden wir sichergestellt, dass alle Abläufe exakt so eingehalten wurden, wie sie im QM-Handbuch vorgesehen waren. Je stärker wir hingegen unseren Blick in Richtung auf die „neuen“ Geschäftsfelder, die Projektentwicklung etwa, schweifen ließen, desto eher hatten die Prozessschablonen nach ISO nur empfehlenden Charakter.

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4.2.4 Der erste Befund: Ungelöster Spagat zwischen Bauausführung und Projektentwicklung Folgendes Bild bot sich uns: Aus dem ehemals klar auf das Bauen ausgerichteten Unternehmen war inzwischen ein Projektentwickler mit zusätzlicher, flankierender bauausführender Kompetenz geworden. Als Hermann Tecklenburg das Unternehmen von seinem Vater übernahm, beschäftigte es etwa 100 Mitarbeiter, davon waren tatsächlich 97 auf der Baustelle. Nun waren bei Tecklenburg etwa 80 Mitarbeiter in Lohn und Brot, davon jedoch 45 in der Verwaltung: Finanzen, Kalkulation, Vergabe, Bauleitung, Projektentwicklung, EDV, Architektur. Alle diese „Verwalter“ waren darauf ausgerichtet, die Baukapazitäten auszulasten. Der zentrale Kosten- und Erlösträger, die zentrale Wertschöpfungseinheit und der wesentliche Produktivitätsfaktor des Unternehmens waren die Projekte. Hier wird Geld verdient oder vernichtet. Projekteffizienz führte zu Unternehmenseffizienz – Ineffizienzen in der Projektentwicklung führten zu Ineffizienzen des Unternehmens.

Vertrieb / Marketing Projektvorbereitung

ProjektPlanung

‰ Projektanstoß

‰ Nutzungskonzept

‰ Marktrecherchen

‰ Vermarktungskonzept

‰ Akquisition ‰ Projektidee ‰ Standortanalysen ‰ Klärung Baurecht

‰ Kontakt : Nutzer/Investor ‰ Erschließungskonzept

‰ Nutzungskonzept

‰ Wirtschaftlichkeitsberechnung

‰ Nutzerbedarfsprogramm

‰ Grundstückssicherung

Ausführungsvorbereitung

Ausführung

Nutzung Vermietung Verkauf

‰ Vermietungsverhandlungen

‰ Vermietungsverhandlungen

‰ Miet-/Kaufvertrag

‰ Verkaufsverhandlungen

‰ Verkaufsverhandlungen

‰ FM

‰ Grundstückskauf

‰ Finanzierungsmittel

‰ Finanzierungsmittel

‰ Gewährleistung

‰ Kostenprüfung ‰ Abschluss Kauf-/ Mietvertrag

‰ Investitionsanalyse ‰ Finanzierungsalternativen

Rechts-/Steuer-/Versicherungsberatung, Öffentlichkeitsarbeit

Quelle: Rickes Consulting Abbildung 35: Der Ablauf der Projektentwicklung Tecklenburg in der Übersicht

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Interessen aufspüren

Vor dem Hintergrund der Primärzielsetzung, nämlich die Baukapazitäten auszulasten, wurden jedoch auch schon mal Projekte auf den Weg gebracht, die nicht zwingend einen attraktiven „Trading Profit“ versprachen, sondern primär der Auslastung der eben für das Baugeschäft vorgehaltenen Kapazitäten dienten. Dieses Phänomen konnte man zu dieser Zeit auch bei großen Baukonzernen beobachten, die sich Projektentwicklungstöchter „hielten“, die einerseits als Profit Center fungieren sollten, andererseits darauf ausgerichtet waren, die Überkapazitäten der bauausführenden Konzernmutter abzubauen. Ein sportlich unlösbarer Spagat, der Konzerne wie Bilfinger Berger dazu brachte, die Projektentwicklungstochter vom Markt zu nehmen.

4.2.5 Vergütungssystem mit Zielkonflikt So war dann auch die Vergütung für die Projektentwickler aufgebaut. Neben einem Festgehalt gab es Prämien für das Erreichen bestimmter Umsatzziele. Das waren aber nicht Prämien für verkaufte Projekte oder Objekte, sondern Prämien für die inhouse realisierte Bauleistung. Auch wenn das Unternehmen angesichts seines verkaufs- oder „exit-orientierten“ Unternehmers in der Vergangenheit durchaus auch Verkaufsstärke gezeigt hatte, manifestierte diese Regelung einen Zielkonflikt. Alles, was sich nicht in der Projektentwicklungsphase „von selbst“ verkaufte, blieb vorerst im Bestand stecken. Und wenn sich ein Projektentwickler zu sehr mit dem Abverkauf von Bestandsobjekten befasste, handelte er seinen eigenen Interessen zuwider, denn bezahlt wurde er primär für das Entwickeln und nicht für das Verkaufen der Immobilien. Nun wandelten sich jedoch die Zeiten zu Beginn des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends. Die Investitionsbereitschaft der Unternehmen und der öffentlichen Hände nahm rapide ab. Das Marktpotenzial für GU-Aufträge sank dramatisch. Deutsche Investoren deckten ihren Anlagebedarf in Immobilien lieber in London oder anderen international renommierten Märkten. Der nationale Markt für Anlageimmobilien oder „Renditeobjekte“ schrumpfte zusehends. Die für Anleger nachteilig veränderten steuerlichen Abschreibungsmöglichkeiten bei Immobilieninvestitionen taten ihr Übriges, um die Baukonjunktur zu bremsen. Im Markt der eigengenutzten Wohnimmobilien, ein traditionell starkes ProduktMarkt-Segment des Hauses Tecklenburg, entfaltete die zunächst nur absehbare Streichung der Eigenheimzulage ihre psychologische Wirkung. Zu „überstürzten“ Angstkaufaktionen führte sie vorerst leider nicht. Über das Bauschild oder über Annoncen alleine verkaufte sich bald gar nichts mehr.

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Im Rahmen unserer Analyseworkshops merkten die Projektentwickler durchaus selbstkritisch an, dass in der Vergangenheit versäumt worden war, für die zu entwickelnden Projekte Marktanalysen durchzuführen. Marktanalysen, die nicht nur eine Aussage darüber zuließen, ob eine Immobilie betriebs- und vermietungsfähig sein würde, sondern die auch untersuchten, ob ein Projekt exitfähig, sprich verkäuflich sein würde, gab es nicht. Der Exit erfolgte quasi unter der Hand durch den Geschäftsführer. Die Projektentwickler machten sich deswegen keinen Kopf. In den Unternehmensstrukturen und im Vergütungssystem fand er faktisch überhaupt nicht statt. Zu viele Projekte waren deshalb entwickelt worden, weil sie funktionierten, vermietet oder mit einem Nutzer belegt werden konnten, ohne dass man überprüft hatte, wer ein solches Objekt nachher kaufen würde.

4.2.6 Vertrieb: Was ist das? Jenseits des beschriebenen Phänomens, an dem der gute Verkäufer Tecklenburg und die komfortable bisherige Marktsituation „unfreiwillig“ mitursächlich waren, bestand der zentrale Befund unserer Erhebungen in der Erkenntnis, dass es bei Tecklenburg kein einheitliches und in der Mehrzahl der Fälle überhaupt kein Verständnis darüber gab, worin die tatsächliche Vertriebsaufgabe der Vertriebsabteilungen besteht. „Vertrieb“ wurde sowohl zwischen den Abteilungen als auch innerhalb der Abteilungen unterschiedlich und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, überall unzutreffend definiert. Definitionen reichten von marketinggeprägten Aussagen: „Vertrieb = optimal positionieren“ über wertende Aussagen: „Vertrieb = marktgerechte Projekte entwickeln“, von Projektentwicklungsdefinitionen: „Vertrieb = das Akquirieren, Entwickeln, Vermieten und Verkaufen von Grundstücken und Immobilien“ bis zu Erfolgsbeschreibungen: „Vertrieb = Jede Art von Objekt verkaufen“. Nur in einigen Ausnahmefällen (< 20 %) wurde Vertrieb zutreffend als strukturierte Abfolge genau definierter Aktivitäten bezeichnet, deren Ziel es ist, Produkte (Immobilien bzw. Bauleistungen) innerhalb einer Bandbreite definierter Konditionen so zu verkaufen, dass beide Seiten, der Verkäufer und der Erwerber, dauerhaft mit dem Kauf/Verkauf zufrieden sind. Tatsächlich wurde Immobilienvertrieb in der überwiegenden Mehrzahl der Fälle als Tätigkeit begriffen, die sich nicht gegen andere Aufgaben der Projektentwicklung abgrenzen lässt bzw. mit ihnen identisch ist. Zu dem Vertrieb der Immobilien gehörten für die meisten Mitarbeiter die Marktforschung, das Marketing, der günstige Einkauf, die Festsetzung des Preises und auch die Gespräche mit Interessenten und Maklern als Absatzmittlern.

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Interessen aufspüren

Vielfach wurden die von den meisten Tecklenburg-Mitarbeitern als zu teuer begriffenen Verkaufspreise als Grund für den schleppenden Verkauf angeführt – damit außer Acht lassend, dass Verkaufen zwar mal leichter und mal schwieriger ist, ein fehlender Verkaufserfolg jedoch niemals damit begründet werden sollte, ein Produkt sei unverkäuflich. Soweit ein Produkt für unverkäuflich gehalten wird, sollte erst gar nicht damit begonnen werden, es zu entwickeln. In Ermangelung von Marktanalysen wusste man das natürlich nie rechtzeitig.

4.2.7 Vertriebsdelegation an den Makler Viele Mitarbeiter delegierten die Vertriebsaufgabe, wie wir bereits erläuterten, an die Makler. Sie zogen sich damit selbst aus dem unmittelbaren Vertriebsgeschehen zurück und überließen es Dritten, deren Tun sie, mangels eigenem Verständnis, nicht nach Qualitäts-, sondern allenfalls unter Ergebnisgesichtspunkten beurteilen konnten – eben immer dann, wenn es zu spät war, sprich nicht verkauft wurde, was verkauft werden sollte. In jedem Fall erschien die hohe Zahl der in der Tecklenburg-Aufbauorganisation mit Vertriebsaufgaben14 betrauten Mitarbeiter, falls der Immobilienvertrieb tatsächlich überwiegend indirekt über Makler realisiert werden sollte, unpassend.

4.2.8 „Vertrieb ist das, was wir tun“ Insgesamt gab es drei so genannte Vertriebsabteilungen, die tatsächlich Projektentwicklungsabteilungen waren. Eine davon nannte sich, um das babylonische Bezeichnungsgewirr zu vervollkommnen: „Objektaufbereitung und Vertrieb“. Dieses half dem Selbstverständnis der Mitarbeiter natürlich nicht auf die Sprünge. Von wenigen Ausnahmen abgesehen sahen sich die Tecklenburg-Mitarbeiter seinerzeit nicht imstande, ihre Vertriebsaufgabe gegen andere Aufgaben – Marktforschung, Projektplanung, Baurechtgewinnung, Beschaffung, Flächenakquisition, Marketing – abzugrenzen. Tatsächlich wurde Immobilienvertrieb in der Mehrzahl der Fälle als Tätigkeit begriffen, die sich nicht gegen diese anderen Aufgaben abgrenzen lässt bzw. mit ihnen teilweise deckungsgleich ist. Eine von vielen nachteiligen Folgen war, dass es so unmöglich wurde, den tatsächlichen Gründen für den Nicht-Verkauf des Bestands auf den Grund zu gehen.

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4.2.9 Vertriebs„controlling“ Von einer signifikanten Ausnahme abgesehen, befanden sich keine Instrumente des Vertriebscontrollings oder Erfolgsmonitorings im Einsatz. Gemessen wurde nur der irgendwann im Zweifel zu spät erfolgte Vertriebserfolg, nicht jedoch die Qualität und Quantität der auf dem Weg zum Ziel zwangsläufig erforderlichen Zwischenschritte. Es gab keinen definierten, strukturierten Vertriebsprozess. Gerade in der Immobilienprojektentwicklung geben sich Einkauf und Verkauf prozesstechnisch die „Klinke in die Hand“. Wenn strukturiert vorgegangen wird und bereits beim Flächenankauf vertriebliche Gesichtspunkte Berücksichtigung finden, wenn ein Immobilienprojekt durchgeplant und durchkalkuliert wird, käufer- und nicht nur mietermarktseitig erfasst und recherchiert ist, dann lassen sich Verkaufsrisiken auf ein absolutes Minimum reduzieren.

Standortöffentlichkeiten En na re to

Standortpflege

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Bau- und Immobilienwirtschaft Quelle: Rickes Consulting/Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 36: „Interessensarena“ Immobilienwirtschaft

Bei Tecklenburg standen solche Recherchen vor dem Einkauf der Flächen nicht auf der Tagesordnung. So entstanden Objekte, die im Erdgeschoss einen durchaus gut laufenden Discounter beherbergten und darüber zwölf Wohneinheiten

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Interessen aufspüren

öffentlich geförderten Wohnungsbau, die natürlich ebenfalls bestens funktionierten. Solche in sich funktionierenden Objekte, die sich bei kompletter Belegung im Bestand durchaus rechnen, will kein Endinvestor haben. Die Zukunftsrisiken sind zu groß.

4.2.10 Desinformation Hinzu kam, dass innerhalb des Unternehmens zwar ein grundsätzlich zielführendes Korsett aus Ziel- und Ergebnisbesprechungen bestand. Dieses Korsett kostete jedoch alle sehr viel Zeit und war in erster Linie ein „ReportingInstrument“. Informationsbedürfnisse zwischen den Abteilungen – beispielsweise bezüglich Mieter- oder Investorenanfragen – wurden immer nur ad hoc und damit ebenfalls zeitintensiv befriedigt: „Ich komm mal eben rüber“. War der Gesprächspartner nicht da, fiel der potenziell erfolgskritische Kontakt in ein schwarzes Loch, aus dem er fast nie wieder herauskam. Interessenten oder Leads, deren Informationsbedürfnis nicht befriedigt wird, sind fast immer ehemalige Interessenten und Leads. Hinzu kam, dass in Ermangelung eines Sitzungskalenders, der dem Austausch zwischen den Abteilungen diente, an verschiedenen Stellen zu verschiedenen Zeitpunkten immer wieder über ein und dieselbe Sache gesprochen wurde. Unterschiedliche Sach- und Entwicklungsstände zu ein und demselben Sachverhalt führten zu maximaler Unklarheit der betroffenen Entscheider oder Verantwortlichen bezüglich dieser Sachstände. Alternative Sitzungskalender und Kommunikationsmechanismen betrachteten wir daher als dringendes vertriebsflankierendes Desiderat. Das Ergebnis unserer Prozess- und Organisationsanalyse ergab summa summarum zweierlei: 1. Erhebliches Optimierungspotenzial bei der Vertriebseffizienz 2. Deutliches Steigerungspotenzial in der Produktivität der Projektentwicklungen Auf der Grundlage des uns vorliegenden Befundes formulierten wir für die Geschäftsleitung, den Geschäftsführer Tecklenburg und seinen Prokuristen und „Finanzminister“ oder CFO Herbert Görtz, einen Zustandbericht. Sämtliche gewonnenen Informationen im Bericht wurden anonymisiert.

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4.3 Ziel definieren Nachdem die Geschäftsleitung den Bericht im Rahmen eines ManagementWorkshops eingehend mit uns diskutiert hatte, gingen wir in einer zweiten Managementrunde daran, gemeinsam Ziele zu definieren und zu verabschieden, um das Vertriebsgeschehen bedarfsgerecht zu optimieren. Im Interesse eines nachhaltigen und dauerhaften, produktübergreifenden Vertriebserfolgs galt es, gemeinsam mit allen beteiligten Seiten, der Geschäftsleitung und den operativ Verantwortlichen für jedes Immobilienobjekt im Bestand und für jedes Projekt ein gemeinsam getragenes Vertriebsziel zu formulieren.

4.3.1 Wer nicht überzeugt ist, kann nicht überzeugen Wichtig war uns bei all dem, dass die Meinungen der von den Änderungen betroffenen Vertriebsmitarbeiter ernst genommen werden würden, auch wenn Kollegen oder die Geschäftsleitung sie für falsch erachten sollten. Vertriebsmitarbeiter, die verkaufen sollen, ohne von den vorgetragenen Verkaufsargumenten überzeugt zu sein, sind fehl am Platz. Überzeugung kann nicht dekretiert, sondern nur im einigermaßen gleichberechtigten fairen Dialog zwischen Geschäftsleitung und Mitarbeiter erzielt werden. Dies gilt z. B. für das klassische Vertriebsmitarbeiter-Entschuldigungsargument der überhöhten Preise. Es gilt auch für das ebenso klassische Mitarbeiterargument, der Standort einer Fläche sei nicht marktkonform. Tut man diese Argumente als „faule Ausrede ab“, ohne sie argumentativ zu widerlegen, wird man den Vertriebsmitarbeiter nicht überzeugen können und hat infolgedessen auch wenig überzeugende Vertriebsmitarbeiter.

4.3.2 Reorganisation In unserer Umsetzungsstudie schlugen wir vor, den architektonischen, rechtlichen, baulichen und kalkulatorischen Projektentwicklungsprozess zu entzerren und dabei die offenkundig mit allzu viel Unsicherheit behafteten Vertriebsaufgaben auszuklammern. Alle Mitarbeiter wollten dabei mitziehen. Obwohl wir naturgemäß unterschiedliche Begabungen und Vertriebserfahrungen feststellten, konstatierten wir auch, dass jeder Mitarbeiter auf seine Weise zum Vertriebserfolg beitragen konnte und wollte. Wir redefinierten die Aufgabenprofile der Mitarbeiter und Abteilungen entlang des erkannten Änderungsbedarfs einerseits, der verfügbaren Ressourcen und Fähigkeiten andererseits. Abteilungsprofile überschnitten sich teilweise und

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Ziel definieren

wurden komplementär auseinanderdividiert und thematisch fokussiert. Es konnte nicht gut sein, wenn sich einerseits so unterschiedliche Aufgaben wie Marktforschung, Flächenplanung, Bau und Vertrieb in einer Hand vereint fanden und wenn andererseits Fachkompetenzen und Teilkompetenzen, mit Ausnahme des Bereichs SB-Markt-Entwicklung, über das gesamte Unternehmen verteilt lagen. Unsere Empfehlung war, eine eigene Vertriebsabteilung zu gründen und das Abschmelzen des Immobilienbestandes als Kernaufgabe einem bestimmten und dazu auszubildenden Kreis von Mitarbeitern zu übertragen. Diese Abteilung sollte die versäumten Marktanalysen für die bereits errichteten Immobilien nachholen, so als wären diese Immobilien noch gar nicht gebaut worden. Davon versprachen wir uns eine neue, marktgerechte Bepreisung der Objekte. Parallel dazu sollte der so installierte „zentrale Vertrieb“ für alle neu zu entwickelnden Projekte den Teil der Marktanalyse erstellen, der sich auf den Verkauf der geplanten Objekte bezog. Gewissermaßen als neutrale Instanz sollte diese Abteilung ein Sparringspartner für die Projektentwickler darstellen, der sicherstellen sollte, dass Immobilien marktgerecht entwickelt wurden. Die so erhobenen Marktdaten zur investorenseitigen Bedarfslage sollten von den Projektentwicklern regelrecht als Auftrag verstanden werden. Ihre Aufgabe war es, wie klassische Produktmanager auf diese Markttendenzen hin Produkte zu konzipieren und zu entwickeln. Insgesamt bestand die organisatorische Kernaufgabe darin, abgrenzbare „Hardcore-Vertriebsaufgaben“ mit Schnittstellen in die klassische TecklenburgProjektentwicklung auszustatten und umgekehrt. Das war nicht nur aus Gründen der Sachdienlichkeit wichtig. Es war auch psychologisch wichtig. Wir haben viele Transformationsprozesse begleitet und immer wieder festgestellt, dass ein Wandel nur machbar ist, wenn die Träger dieses Wandels sich auf Fortbestehendes beziehen können.

4.3.3 Produktallokation per Datenbank Als weitere Aufgabe der neuen Vertriebsabteilung galt es, eine echte Kundendatenbank anzulegen. Dort sollte das tatsächliche Anlegerverhalten und -profil der Stammkunden dokumentiert und gepflegt werden. Unsere Vorstellung ging dahin, mit diesen Stammkundendaten regelrechte Allokationskalender für ihre Investitionen erstellen zu können. Aus dem Anlagebedarf, aus frei werdender Liquidität und aus steuerlichen Motiven müssten sich konkrete Immobilienbedarfe für Tecklenburgs Stammkunden ableiten lassen, die just in time von den Projektentwicklern geplant und von den Bauausführenden fertig gestellt werden würden.

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161

4.3.4 Premium-Marke Tecklenburg Wir empfahlen dem Marketing, Tecklenburg als Premium-Marke für Immobilieninvestments zu positionieren. Tecklenburg hatte alles, was es dazu brauchte: „ Qualität: Tecklenburg ist seit langem für die hohe bauliche, handwerkliche

Immobilienqualität bekannt. „ Preis: Tecklenburgs Käufer und Nutzer waren noch nie vom „Geiz ist geil“-

Virus befallen. Dass Qualität ihren Preis hat, ist unter Tecklenburgs Kunden kein Geheimnis. Sie können gut damit leben. „ Tradition: Das Unternehmen befand sich im 126ten Jahr seiner Geschichte. „ Innovation: In allen relevanten Märkten der Immobilienwirtschaft konnte

Tecklenburg mit echter Expertise aufwarten. „ Bekanntheit: Der Unternehmer Tecklenburg ist aufgrund seiner vielseitigen

Aktivitäten mehr als bekannt, sein Unternehmen automatisch ebenso. „ Reputation: Selten zuvor war uns ein Mandant begegnet, der sich über so

viele Respektbekundungen auch von Wettbewerbern freuen durfte. „ Unterscheidbarkeit: Hermann Tecklenburg ist Tecklenburg – Tecklenburg ist

Hermann Tecklenburg, Punkt. Da alle Voraussetzungen für eine Premium-Marke vorhanden waren, mussten diese Ressourcen nur fokussiert und als Marke kommuniziert werden. Der investive Kommunikationsaufwand war überschaubar, da Hermann Tecklenburg als Chefkommunikator seines Hauses ohnedies ständig von sich reden machte. Diese anspruchsvolle aber durchaus realistische Zieltrias – Reorganisation, Kundendatenbank/Allokationskalender, Markengesicht – also wurde in der Managementrunde verabschiedet und anschließend in messbarer Gestalt zu Papier gebracht. Nun galt es, anhand von Meilensteinen einen schnellen, kostengünstigen Weg zu finden, die Ziele in die Tat umzusetzen.

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Weg ableiten

A. Wirkungsverbesserung Zusatz Ertrag

Vertriebsbeitrag

Resultierender Gesamteffekt reduzierte Kosten

B. Kostensenkung

Vertriebsertrag

Vertriebskosten

Quelle: Rickes Consulting/Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 37: Verbesserung der Vertriebseffizienz, Weniger leisten mehr.

4.4 Weg ableiten „Bei aller Konstanz muss ein Unternehmer die Zeichen der Zeit erkennen. Wir müssen heute schnell agieren und neue Wege suchen“, hatte Hermann Tecklenburg im Herbst des vorangegangenen Jahres bei seiner Rede zum 125-jährigen Jubiläum der Tecklenburg GmbH die Gäste wissen lassen. Den Worten folgten Taten: Wir wurden mit der Optimierung des Vertriebs beauftragt, führten die dafür erforderlichen Seminare, Workshops und Trainings mit allen relevanten Mitarbeitern durch und verkündeten gemeinsam mit Inhaber Hermann Tecklenburg den Beschluss, die bisher praktizierte personelle Verknüpfung von Projektentwicklung und Vertrieb aufzulösen. Stattdessen wurde nun eine neue Abteilung „Zentraler Vertrieb“ im Unternehmen etabliert. Das Ganze, so der Wunsch unseres Mandanten, sollten wir auch als Mandatsträger der Gesellschaft selbst, als Geschäftsführer, verantworten. Also setzte ich (Sven Rickes) mich unserem Motto getreu selber hinter den Schreibtisch, auf den Stuhl des Vertriebsleiters, und nahm die Aufgabe in die Hand.

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Die neu geschaffene Abteilung „Zentraler Vertrieb“ unterstellten wir direkt der Geschäftsführung. Über ein Interview in der hauseigenen Zeitschrift „Tecklenburg intern“ stellte ich unsere Pläne und Ziele nicht nur der Belegschaft, sondern auch den vielen Lieferanten und Kunden vor, die dieses Periodikum erhielten. Ich formulierte darin meine Überzeugung, dass sich das handwerkliche Können eines mittelständischen Bauunternehmens in seinen Kerndisziplinen Projektentwicklung und Bau mit derselben Professionalität auch vertrieblich beweisen muss. Ziel dieser Aktion war es, über diese Information auch Motivation für das Erreichen dieser Ziele freizusetzen – bei den Mitarbeitern, bei den Kunden und bei den Zulieferern. Das sollte schwieriger werden als erwartet.

4.4.1 Arbeitsteilung: Negative Selling und „Mafo“ Wir teilten uns die Aufgaben. Ich stellte den organisatorischen Rahmen sicher, die Unterstützung der Geschäftsführung und das Mitwirken der anderen Abteilungen, das Team befasste sich mit dem Nachholen der Marktanalysen bereits erstellter Projekte, die aufgrund des aufgerufenen Preises noch nicht verkauft waren. Meine Aufgabe klingt leichter, als sie war. Nicht dass mir Ablehnung oder Misstrauen entgegen schlug, nein, ich traf bei den Abteilungsleitern oft, sehr oft auf eine Gummiwand. Anders als bei unserem HOCHTIEF-Projekt war ich hier nicht der Alleinverantwortliche, sondern der im Zweifelsfall Alleinschuldige, sollten die Ziele verfehlt werden. Und verständlicherweise wollte sich keiner „anstecken“. Früh stand daher fest, dass ich auf die hohe Motivation des mir direkt unterstehenden eigentlichen Vertriebsteams angewiesen war. Das Commitment dieser Mitarbeiter, ihre Loyalität zu mir und der gemeinsamen Sache, ihre Bereitschaft, gegen den Strom zu schwimmen, sich gegen den Trend zu stellen und zu riskieren, sich unbeliebt zu machen, das war die Quelle, von der der Erfolg unseres Projekts abhängen würde. Ich versuchte es mit klassischem „Negative Selling“: „Ihr habt nur zu verlieren – und nichts zu gewinnen. Wenn wir scheitern, werden alle sagen: Das haben wir doch gleich gewusst. Schaffen wir es, dürfen wir nicht mehr erwarten, als dass man uns sagt, dass wir eben dafür beschäftigt werden!“ Kosmas Thämmig, Jens Jütten und Verena Alsters, die über zwei Jahre das Kernteam bildeten, nahmen diese Herausforderung an. Der eine spontaner, der andere zögerlicher, aber sie nahmen alle an.

164

Weg ableiten

Aufgabe der nachgeholten Marktanalysen war es herauszufinden, welche unverkauften Bestandobjekte von welchem konzeptionellen oder sonstigen Wurm befallen waren. War es wirklich der festgelegte Verkaufspreis? War es der Standort, die Beschaffenheit, die Nutzerstruktur? War die falsche Zielgruppe angesprochen worden oder wurde die richtige gar nicht gesucht? Parallel zur Aufarbeitung der Vergangenheit beschäftigten wir uns im Vertrieb mit dem Verkauf von Eigentumswohnungen und Einfamilienhäusern. Hier konnten wir uns voll und ganz dem Implementieren unseres strukturierten Vertriebsprozesses widmen. Anfänglich hielten wir einmal pro Woche, später in immer größer werdenden Abständen Vertriebsmeetings ab. Dabei wurden alle laufenden Projekte und innerhalb derer jeder einzelne Vertriebsfall detailliert besprochen. Wir dokumentierten, analysierten und optimierten unser Vorgehen bei jedem einzelnen Vertriebskontakt, Kaufinteressenten, Angebotsempfänger und späteren Kunden. Gebetsmühlenartig wiederholte ich Mal um Mal, worauf es wann und wie beim Verkaufen ankam, mahnte zur Hartnäckigkeit und warb um Geduld bei meinen „jungen Wilden“. Ich versicherte ihnen, dass sich der Erfolg einstellen würde, wir würden nicht daran vorbeikommen, wenn wir uns nur an das Verfahren halten und die positive Einstellung zu unserem Tun aufrecht erhalten würden. Und siehe da: Wieder einmal schaffte schon das veränderte Verhalten Sicherheit. Stolz darauf, etwas anders zu machen, als es bisher gemacht wurde, sicher, dass man dieses „anders“ auch selber mitentwickelt hatte, und überzeugt, dass dies auch das Richtige war, luden sich die Kollegen beinahe gegenseitig mit Energie auf. Ich hatte teilweise Mühe, sie zu bremsen, mahnte auch zur Bescheidenheit. Denn es war klar, dass unser für die übrigen Abteilungen unsichtbares Treiben nicht lange unkommentiert bleiben würde. Im Gegenteil: Es wurden regelrechte „sportliche“ Fallen aufgestellt, in die man uns hineintappen ließ. Nachvollziehbar war das: Schließlich war es unsere Aufgabe, die Fehler der Vergangenheit auszumachen. So gut es ging, versuchte ich meine Kollegen darauf vorzubereiten. Das trug wesentlich zur Vertrauensbildung bei. Sehr zu meiner Freude beobachtete ich, dass sich meine neuen Mitarbeiter in ihrer neuen Aufgabe sehr gut zurechtfanden und auch untereinander bestens zurechtkamen.

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4.4.2 Das Team: Gleiche Interessen, komplementäre Fähigkeiten Die Essenz eines guten Teams lautet: gleiche Interessen bei komplementären Ressourcen bzw. Fähigkeiten. Genau so war das Kernteam unserer Verkäufer gestrickt: Jens Jütten verkaufte gezielt, tough, strukturiert, mit viel Produktkenntnis und sehr nah am Sollprozess entlang. Kosmas Thämmig hingegen war ein echter Instinktverkäufer. Er verkaufte intuitiv richtig, war einfach immer charmant und wurde von seinen Kunden regelrecht „adoptiert“. Der Prozess gab ihnen Sicherheit, gab ihnen den Ordnungsrahmen, den sie brauchten, um ein Gefühl für die eigenen Entscheidungshorizonte innerhalb ihres Wirkens zu entwickeln.

4.5 Weg verfolgen 4.5.1 Der erste Meilenstein: Anerkennung vom Chef Einen ersten Achtungserfolg erzielten die beiden Verkäufer, als sie vor der höchsten Instanz des Unternehmens, Hermann Tecklenburg, das Ergebnis der Marktanalysen präsentierten. Fundiert konnten sie dort belegen und argumentieren, dass in Anbetracht der Lage, Nutzung und Rendite einer Bestandsimmobilie ein bestimmter Preis richtig und nur die Zielgruppe falsch gewählt war, während bei einem anderen Objekt tatsächlich der Preis zu korrigieren war. Sie erreichten ihr Ziel und erhielten das „Go!“, Preise und Strategien sowie darauf abgestimmte Maßnahmenkataloge umsetzen zu dürfen. Dies war der erste Meilenstein: Die Maßnahmenvorschläge wurden vom Chef höchstpersönlich sanktioniert und konnten in Angriff genommen werden.

4.5.2 Der zweite Meilenstein: erste Verkaufserfolge Entsprechend stolz setzten die Kollegen das Beschlossene um. Und wieder einmal blieb die Praxis nicht lange den Beweis schuldig, dass ein überzeugter Verkäufer erfolgreicher ist als ein genötigter oder überredeter. Nach kurzer Zeit bereits stellten sich die ersten Verkaufserfolge ein. Im Rahmen einer Neubaumaßnahme übertrafen sie sogar die Soll-Performance, die wir anhand von branchenunabhängigen Erfolgsquoten messen können:

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Weg verfolgen

„ das Verhältnis zwischen Rohkontakten und qualifiziertem Kontakten (Leads), „ das Verhältnis zwischen Leads und qualifizierten Interessenten, deren Bedar-

fe genau analysiert worden sind, „ das Verhältnis zwischen Angebote empfangenden Interessenten und gewon-

nenen Kunden. Der strukturierte Vertrieb im Produkt-Marktsegment Wohnimmobilen hatte erste Früchte getragen. Dies war der zweite Meilenstein. Die Skeptiker im Betrieb legten erstes Misstrauen ab.

Quelle: Bauunternehmen Tecklenburg GmbH Abbildung 38: Aktions- und Maßnahmenplan für den Abverkauf aller Objekte

4.5.3 Das Erreichen des Ziels: der abgeschmolzene Bestand Nachdem für alle Objekte eine Marktanalyse nachgeholt wurde und wir davon ausgehen durften zu wissen, wie die Objekte im Markt zu positionieren seien, erwartete jeder im Unternehmen, dass nun auch tunlichst der Beweis zu erfolgen hatte. Also wurde durch das Team für jedes Projekt/Objekt zeitgleich ein Aktions- und Maßnahmenplan erarbeitet, jeder einzelne Handschlag, so unser Anspruch, sollte genauestens geplant und dokumentiert sein.

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Den architekturaffinen Projektentwicklern erläuterten wir den Vertriebsprozess folgendermaßen: So, wie der Architekt einem Entwurf und einer großmaßstäblichen Zeichnung irgendwann eine Ausführungsplanung folgen lässt, genauso planen wir unser Bauwerk, den Verkaufserfolg. In einer Excel-Tabelle werden alle Aktivitäten, die zum Verkauf der Objekte notwendig sind, aufgeführt, von A wie Ansprache über B wie Bauschild aufstellen bis Z wie Zuschlag bzw. Abschluss des Kaufvertrages beim Notar. Die Aufgaben werden mit Kosten versehen, diese mit dem in der Kalkulation angesetzten Budget abgeglichen und dann werden Zeit und Zuständigkeiten zugeteilt. Und so gingen wir dann auch vor. Alles, was nun folgte, war harte Arbeit. Konzentriert machten sich die Kollegen ans Werk. Sie „ starteten Mailing- und Annoncenkampagnen, um neue Vertriebskontakte zu

gewinnen, „ qualifizierten diese Kontakte telefonisch, indem sie Termine für ausführliche

Bedarfsanalysen vorschlugen und koordinierten, „ realisierten diese oft mehrstündigen Interview-Termine mit den Interessenten

und protokollierten die Ausführungen der Interessenten, „ verfassten Angebote, die sich zu diesen Bedarfsanalysen eins zu eins wie das

Foto zu einem Negativfilm verhielten, „ führten Abschlussgespräche vor und beim Notar durch. Dabei konnten sie

sich recht sicher sein, keine bösen Überraschungen erleben zu müssen, denn vor bösen Überraschungen schützt die starke Filterwirkung dieses Vertriebsprozesses. Sie verschickten nicht mehr wie früher an jeden, der danach verlangte, Exposées, sondern nur noch individualisierte Angebote an wirkliche Interessenten, deren tatsächlicher Bedarf zuvor ermittelt worden war. Alle diese Schritte gingen wir in den Vertriebsmeetings immer und immer wieder durch, besonders schwierige Fälle vertieften wir exemplarisch. Erfahrungswerte, Tipps für die Gesprächstatik oder die Argumentation vermittelten Sicherheit. Ungezählte Kundengespräche und Telefonate, Analysen und Angebote taten in der richtigen Prozessfolge und in ihrer qualifizierten Ausübung schließlich ihre Wirkung. Der Bestandsberg schmolz dahin. Selbst kritische Anlageobjekte, die für die sensible Klientel vermögender Privatkunden entwickelt worden waren, brachten „die Jungs“ an den Mann.

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Route optimieren: Globalisierung am Niederrhein

01

Bauschild

02

Exposé

03

Mailing

04

Inserate

05

Flyer

1 Erstellung Arbeitskraft (12 Std. x 40,00 €) 100 Papier + Druck hausintern Schienen + Rücken 1500 Adressaten, Briefpapier Porto 20 4 4 2

Fließsatz x 150,00 € (K Wsp) gestaltet x 500,00 € (K Wsp) Fließsatz x 250,00 € (KSta) gestaltet x 800,00 € (KSta)

6000 2 Auflagen à 3000 Stück

06

VK-Container

3 Monate x 155,00 €; Gestaltung 1 (Aufschrift etc.) auf Gemeinkosten

07

Richtfest

1 vgl. Duisburg-Homberg, 5 EFRH

08

Musterhaus Gesamt

1

450,00 € 480,00 € 60,00 € 100,00 € 75,00 € 660,00 € 3.000,00 2.000,00 1.000,00 1.600,00

€ € € €

500,00 € 465,00 € 500,00 € 500,00 € 11.390,00 €

Quelle: Bauunternehmen Tecklenburg GmbH Abbildung 39: Auszug aus dem Aktions- und Maßnahmenplan für ein Objekt

4.6 Route optimieren: Globalisierung am Niederrhein Unsere Vertriebsabteilung veranstaltete eine Sondersitzung außerhalb des üblichen Abverkaufskalendariums. Das Thema: Welche Relevanz hat das massive Interesse ausländischer Investoren am deutschen Wohnungsmarkt für Tecklenburgs Geschäft? Tecklenburg verfügte zu keiner Zeit über ein Immobilien-Paket, das groß genug gewesen wäre, um auch nur ansatzweise für ein solches Geschäft ausreichend zu sein. Auch zeigten diese überwiegend angelsächsischen Investoren keinerlei Interesse an Immobilienstandorten wie Krefeld, Geldern oder Straelen. Dennoch: Irgendetwas für uns Relevantes musste doch aus dem Run der ausländischen Kapitalmärkte auf deutsche Immobilienportfolios abzulesen sein. Wir dachten nach, überlegten unter anderem, welche Merkmale diese Transaktionen regelmäßig auszeichneten. Das war schnell erkannt: Bei allen Transaktionen waren immer große Bestände gleichartiger Objekte gedreht worden. Diese Gleichartigkeit bestand jedoch weniger in der Art der Objekte selbst, dem Objekttypus, als vielmehr in der „ erzielbaren Rendite, „ Verlässlichkeit des Cashflows.

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Etwas anderes interessierte den Investor aus dem Vereinigten Königreich, aus Irland, Israel, Australien, Kanada, Südafrika und den USA nicht.

4.6.1 Paketdeals 1 – Immobilien im Paket In den großen Paketen wird diese Sicherheit deshalb als gegeben vorausgesetzt, weil der Mieter viele sind, sodass der Großanleger eine breite Risikostreuung vorfindet und so auf ein geringes Risiko seines Investments schließen kann. Hat er eine solch breite Streuung im Mieterbestand nicht, ist für ihn die Bonität des oder der Mieter ausschlaggebend für seine Entscheidung. Also können an die Stelle vieler einzelner, verschiedener Mieter sehr wohl auch einige wenige, nachgewiesen bonitätsstarke Mieter treten, sofern die Rendite stimmt. Nun galt es also herauszufinden: Welche konkreten Renditevorstellungen hatten diese Investorengruppen? Gab es auch andere, kleinere Gruppen mit vielleicht „kleinerem“ Anlagebedarf? Ich machte mich also an die Recherche, sprach mit Journalisten, Bankern, Analysten, Maklern, Consultants und Asset Managern, um hinter den Beweggründe der Investoren zu kommen, sie zu verstehen. Bald war uns klar: Dieser Welle an Erstinvestoren, First Movers, würde, müsste, eine zweite folgen. Bei dieser war tatsächlich damit zu rechnen, dass auch andere „Produktgruppen“ und kleinere Portfolios in Betracht gezogen würden. Es gibt nur eine endliche Zahl am Stück verkäuflicher großer Wohnungsportfolien in Deutschland. Als nächstes machte ich mich daran, Immobilienpakete schnüren. Nun ist es in einem mittelständischen Unternehmen so, dass die Objekte weder wirklich groß noch sonderlich zahlreich waren. Will sagen: Wir hatten einfach keine 10 oder 20 Objekte gleicher Art, mit vergleichbarer Nutzung und gleichen Mietern, die zum Einpacken in kleine homogene Immobilienpakete taugten. Es sei denn ... und dann kam mir die Idee: Warum nicht eine Allianz mit einem oder mehreren anderen, befreundeten Mittelständlern bilden und das Paket dann gemeinsam auf die Post bringen? Es musste doch andere Unternehmen mit einem ähnlich gelagerten Interesse geben – Unternehmen, die ein oder zwei oder drei Supermärkte verkaufen wollten und damit noch immer fünf zu wenig hatten, um über die magische Grenze von 10 Mio. € zu kommen, bei der die Akteure des Kapitalmarkts frühestens anfangen zu prüfen. So trug ich meine Idee Hermann Tecklenburg vor. Und richtig! Wie konnte es anders sein – bei seinen Verbindungen: Natürlich hatte er einen solchen potenziellen Partner im Säckel. Ausgestattet mit seiner Empfehlung nahm ich also Kontakt zu diesem auf und machte mich ans Werk, ihn davon zu überzeugen,

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Route optimieren: Globalisierung am Niederrhein

dass man wahrscheinlich für 15 Objekte im Paket einen insgesamt höheren Preis erzielen kann als für 15 Einzelobjekte. Mengenzuschlag statt Mengenrabatt – dieser Gedanke wollte ihm nicht einleuchten; er schmeckte ihm nicht. Den Begriff des „Paketaufschlags“, auf den wir uns heute beziehen könnten und bei dem inzwischen jeder in der Branche weiß, was gemeint ist, gab es zu dieser Zeit noch nicht. Zum Glück verfügte Hermann Tecklenburg über andere Argumente, mit denen wir den Partner zum Handeln bewegen konnten. Mit dem ersten Supermarkt-Paket gingen wir zu einer Zeit an den Markt, in der es so etwas kaum gab, vielleicht gehörten wir zu den ersten oder waren der erste. Ein uns bekannter, versierter Transaktionsberater half uns auf den Weg und vermittelte uns eine Investorengruppe aus Irland. Die Strategie ging auf! Dieser Partner verkauft seither seine Supermärkte ausschließlich im Paket.

4.6.2 Paketdeals 2 – Käufer im Paket Angespornt durch diesen Erfolg versuchten es „meine Jungs“ nun auf umgekehrtem Wege: Wenn „x:1“ funktioniert, dann probieren wir doch mal „1:x“, dachten sie und boten einem Stammkunden ein Objekt mit dem Hinweis an, er könne sich mit weiteren zum Kauf zusammentun, vielleicht einem, der aus Übersee komme und einen Partner in Deutschland suche. So war es dann auch. Die Stammkunden kamen mit dem Wunsch, das Objekt mit einem australischen Freund zusammen erwerben zu wollen, keine 14 Tage später auf unseren Vertrieb zu. So verkaufte Tecklenburg das erste Objekt in der Firmengeschichte „nach“ Australien. Nun wurde ich zum Überzeugungstäter und „bohrte“ meine Bankkontakte immer weiter auf. Wo war die Quelle der ausländischen Nachfrage? Die Fäden der vielen Kapitalmarktteilnehmer liefen in London zusammen. Das war klar. Ich bemühte mich darum, eigene Kontakte dorthin aufzubauen. So kam es, dass ich zwei Investmentbanker einer der größten Banken der Welt kennen lernte. Hier zeigte sich wieder einmal ein vielleicht trivialer, aber für das Verkaufen eminent wichtiger und allzu gerne vergessener Sachverhalt: Hinter jedem Unternehmen, und sei es noch so groß, stecken immer und vor allem Menschen. Nicht „die Bank“ XY interessiert sich für Investment-Offerten, sondern immer der Banker X oder die Bankerin Y. Es kommt darauf an, die Menschen kennen zu lernen, ihre Ziele zu begreifen und zu verstehen, was man selber mit seinen Produkten und Dienstleistungen tun kann, um seinem Partner auf dessen Weg entgegenzukommen. Das führt dann dazu, dass man zumindest streckenweise zusammen geht.

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Wir lernten also einander kennen und tauschten unsere Ansichten und Meinungen über den deutschen Markt aus. Er erklärte mir, die Stärke Deutschlands liege in seiner multipolaren Struktur. Er sagte mir auch, dass die ausländischen Kapitalmärkte nach wie vor großes Vertrauen in Deutschland hätten, dass man uns dort mehr zutraue, als wir uns selber zutrauten. Mir gelang es, in diesen Gesprächen ein wenig zu vermitteln, dass man uns dafür auch mögen kann, weil es ja eine Form von Bescheidenheit ist, die sich in dieser Wesensart offenbart.

4.6.3 Paketdeals 3 – Kapital im Paket In diesen Gesprächen vertrauten mir die Herren an, sie seien im Begriff, mit ihrem Kapital direkt die vielen deutschen Mittelständler zu adressieren. Ihre Vorstellung sei es, Kapital, das dringend nach Anlage suchte, in mittelständisch entwickelte Anlageprodukte zu investieren. Im Land der Königin Elisabeth hatte sich herumgesprochen, dass die tragende Säule der deutschen Wirtschaft der Mittelstand ist. Das ist dort in den relevanten Fachöffentlichkeiten so allgemein verbreitet, dass es gar keinen eigenen Begriff für den Mittelstand gibt – außer eben dem deutschen Wort „Mittelstand“. Meine Freunde dachten sich, wenn es ihnen als Großbank gelänge, den mittelständischen Unternehmer bzw. dessen Anlageprodukte direkt zu erreichen, dann könnten sie ein viel größeres Feld bestellen. Ich ermutigte sie, diesen Gedanken so weiter zu entwickeln, dass den von ihnen adressierten Unternehmern ein wirklicher Nutzen entsteht. Man könne beispielsweise über den Abschluss von Rahmenverträgen, in denen die Bank bestimmte Abnahmeverpflichtungen bei festgeschriebenen Preisen innerhalb einer ebenso festgelegten Toleranzgrenze vereinbart, erreichen, dass mittelständische Allokationskalender wie der unsere über Jahre im Voraus gefüllt würden. Den Unternehmen könne diese Abnahmeverpflichtung vieles erleichtern – vor allem die Planung und die Finanzierung. Auf diese Weise entstünde Vertrauen in den scheinbar übermächtigen Finanzpartner, von dem dieser wiederum profitieren würde. So kam es, dass ein mittelständisches Unternehmen aus Straelen am Niederrhein einen Rahmenvertrag über mehr als 40 Mio. € direkt mit der Londoner Investmentabteilung einer der größten Banken der Welt abschloss.

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Route optimieren: Globalisierung am Niederrhein

4.6.4 Meisterhand – Gefahr gebannt Natürlich ließ in der Zwischenzeit die Frage nicht lange auf sich warten, was denn der Herr mit dem Anzug und dem Einstecktuch in „unserem“ Bauunternehmen so triebe. Gemeint war ich. Nicht einsehend, warum ich mich verstellen sollte, trug ich nach wie vor meine seit Jahren angestammte „Arbeitskleidung“; Anzug – meist mit Krawatte, bei wichtigen Terminen natürlich auch mit Einstecktuch. Wer so herumläuft, muss in einem Bauunternehmen auf Spott nicht lange warten. Die unsportliche Bezeichnung, mit der mein flottes Sportcabrio bei den Oberbauleitern bedacht worden war, verrate ich dem geneigten Leser nur auf persönliche Anfrage. Der Abdruck wäre nicht korrekt. Doch durchaus mit Recht stellte man die Frage, was genau ich eigentlich täte, die Abteilung wäre ja nun nicht so groß und Herr Tecklenburg ist ohnehin für alles verantwortlich – ob ich denn auch selber aktiv etwas verkaufen würde und könne, oder ob ich nicht doch eher zum Grüßen und Lorbeereneinsammeln eingestellt worden sei. Bald fand sich ein geeignetes Projekt, anhand dessen man das austesten konnte. Mit etwa 15 Mio. € Investitionsvolumen handelte es sich um das bisher größte in der Geschichte der Bauunternehmung – eine Pflegeeinrichtung in einer traditionsreichen Mittelstadt am östlichen Rand des Ruhrgebietes. Mit einer nicht gerade glücklichen Projektentwicklungshistorie gesegnet, harrte das Projekt auf einen Käufer. Eben noch war es der Entwicklerin gelungen, einen renommierten Betreiber für das Objekt zu finden, schon drehten sich alle Häupter zu mir. Auch Hermann Tecklenburg befand, das wäre das geeignete Projekt, um meine verkäuferischen Fähigkeiten auf die Probe zu stellen. Im persönlichen Gespräch machte er mir deutlich, wie wichtig ihm dieses Projekt sei und warum es ihm darauf ankäme, dass ich es verkaufte. Er ließ keinen Zweifel daran, dass es an mir wäre, den kalkulierten Verkaufspreis der am oberen Limit des Marktmöglichen lag, zu erzielen. Mir wurde langsam klar, dass es tatsächlich allen Beteiligten ernst damit war. Tecklenburg schildert mir die Bedeutung dieses Verkaufs so eindringlich, dass sich der Eindruck aufdrängte, das Wohl und Wehe dieses traditionsreichen Unternehmens hinge nunmehr von mir und diesem Verkauf ab. Das war natürlich Unsinn, verfehlte aber nicht seine rhetorische Wirkung: Er verknüpfte quasi sein Schicksal mit dem meinen. Auch nicht aus Watte gemacht, nahm ich die Herausforderung gerne an, obwohl ich den Erfolg lieber dem jungen engagierten Team gegönnt hätte. Unserer Philosophie kommt diese Form der Beweisführung nach dem Motto: „Ich kann es doch noch am besten von allen“ nicht entgegen. Unserer Überzeugung nach ist derjenige Chef der beste, der es versteht, Menschen für sich und die Arbeit zu

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begeistern, die besser sind als er selber. Dennoch stellte ich mich selbstverständlich der Aufgabe und verstand diesen Abschluss dann auch als Höhepunkt und krönendes Ende des Projektes bei Tecklenburg. So machte ich mich, meiner eigenen Methode folgend, an die Marktrecherche. Ich studierte alle relevanten Medien auf der Suche nach institutionellen und privaten Anlegern, die in dieser Größenordnung investierten und an einem solchen Betreiberobjekt Interesse haben könnten. Ich besorgte mir alle Unterlagen über das Objekt aus der Projektentwicklungsabteilung. Und ich tat das, was ich seit jeher am besten kann: Mit allen möglichen Marktteilnehmern Gespräche führen: Mit Banken, Fonds, Maklern, Wettbewerbern, die größer sind als man selber, die keine Angst vor einem haben. Vor allem aber sprach ich mit vielen potenziellen Kunden – ohne ihnen ein Angebot zu unterbreiten, einfach nur um herauszufinden, wofür sie sich interessierten und was sie bei wem einkauften. So war ich mir sicher, irgendwann eine Spur zu finden, die „Lunte“ aufnehmen zu können. Nach nicht einmal 14 Tagen kamen die ersten Resonanzen aus dem Markt. So wandte sich ein Düsseldorfer Makler an mich. Er war von einem Fonds beauftragt, geeignete Pflegeeinrichtungen für einen neuen geschlossenen Immobilienfonds zu suchen. An diese Objekte wurden hohe Qualitätsanforderungen gestellt, die jeweiligen Häuser sollten Marktführer an ihren Standorten sein, so der Anspruch dieses deutschen Fonds. Bingo! Genau diese Kriterien erfüllten wir, das war sicher, nun galt es nur noch, unsere hohen Preisforderungen durchzusetzen. Das war der schwierigere Teil meiner Aufgabe. Zum Auftaktgespräch, bei der ich das Projekt vorstellen sollte, wurde ich nach München in die Hauptverwaltung eingeladen. Der Makler hatte in einer Art Vorprüfungsverfahren die wesentlichen Parameter in einem Datenblatt an den Fondseinkäufer geschickt. So war der Preis, den ich zur Sicherheit noch etwas erhöht hatte, dem potenziellen Kunden schon bekannt. Die Tatsache dass ich dennoch eingeladen wurde, gab mir Sicherheit. Viele „Vertriebsprofis“ verfahren anders und wollen den Käufer erst einmal Fährte aufnehmen lassen, um dann, wenn er vermeintlich nicht mehr loslassen will, den Preisschocker zu setzen. Wir halten wenig von dieser Methode. Der Käufer kann immer loslassen. Warum also nicht umgekehrt verfahren und so rechtzeitig wissen, welche Bedarfe es zu stillen gilt, wo die Sollbruchstellen liegen? Ich freute mich auf die Präsentation und ich freute mich noch mehr, als ich hörte, dass ich direkt mit dem zuständigen Vorstand am Tisch sitzen würde. Von Entscheider zu Entscheider hatten wir eine gute, ausgeglichene Verhandlungssituation. Außerdem konnte ich jederzeit, wenn ich es für erforderlich hielt, die

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Route optimieren: Globalisierung am Niederrhein

„Chefkarte“ ziehen: „Da muss ich aber noch Herrn Tecklenburg fragen!“ Zur Vorbereitung auf das Gespräch löcherte ich den Makler mit Fragen. Ich wollte wissen, wie groß der Fonds war, wie viele Objekte bis wann benötigt wurden und wie viele man schon zusammen hatte. Es war mir wichtig, die Höhe des Ankaufdrucks einzuschätzen zu können, um die Dringlichkeit richtig taxieren zu können, mit der auf unser Objekt gewartet wurde. Das Gespräch in München verlief harmonisch. Da saßen seriöse Geschäftsleute am Tisch, das machte Spaß. Schnell waren wir uns einig, beide Unternehmen seien dem Mittelstand zugehörig und dort, so konstatierten wir, reden ja Fachleute miteinander, und immer auf Augenhöhe. Schön zu hören war, dass die Fondsbetreiber langfristige Partner suchten, die, so wie sie sich auch selber einschätzten, ebenfalls solide seien. Meine Präsentation des inhabergeführten Unternehmens in der fünften Generation mit soliden wirtschaftlichen Eckdaten machte den gewünschten guten Eindruck. Dann konzentrierte ich mich auf die Referenzobjekte und Projekte, ich unterstrich die Werthaltigkeit der Arbeit und die Tatsache, dass „bei uns“ noch selber gebaut wurde. Auch das hörte der Vorstand gerne. Den Preis des Objektes thematisierte ich – hier – nicht. Stattdessen verwies ich auf die Feng-Shui-Architektur des Gebäudes, und beim zweiten Versuch des Vorstands, das Thema Preis in Angriff zu nehmen, sprach ich von der Tatsache, dass dieses Objekt angesichts des Top-Betreibers der Marktführer der Stadt sei. Beim letzten Versuch meines Gegenübers, den Preis zu verhandeln, merkte ich lakonisch an, dass wir Tecklenburger Premium-Anbieter seien und dass wir, wenn es denn unbedingt sein müsse, auch kosmetisch etwas am Preis machen könnten. Im Grunde pokerte ich hoch und baute darauf, richtig recherchiert zu haben. Ich spekulierte auf den enormen Ankaufdruck des Fonds. Ich lag mit meiner Einschätzung richtig, noch am Tisch sagte mir der Vorstand den Kauf des Objektes zu. Nach einer Due-Diligence-Prüfung wollten wir uns wenige Wochen später beim Notar in Berlin zur Unterzeichnung treffen. Diese Prüfung dauerte zwar etwas länger als gedacht und immer wieder wurden Versuche unternommen, aufgrund kleiner Dinge, die man in der Prüfung zu beanstanden hatte, aufs Neue eine Preisdiskussion loszutreten. Doch dem versperrte ich mich mit dem Argument, das Objekt befände sich in dem zugesagten Zustand. Tatsächlich trafen wir uns dann etwa drei Monate später beim Notar in Berlin wieder, wo mir der Vorstand noch einmal mit auf den Weg gab, dies wäre das „teuerste“ Objekt seines Pakets. Gerne bestätigte ich ihm dort ebenfalls zum wiederholten Mal, dass er nun auch über ein Premium-Objekt in seinem Fonds verfügte.

Kundennähe: Bauunternehmung Tecklenburg GmbH

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Die tatsächliche Qualität des Objektes und des verkaufenden Unternehmens Tecklenburg waren eine notwendige aber keine hinreichende Voraussetzung für diesen Verkaufserfolg. Die gute Recherche der Ankaufmotive und der käuferseitigen Sollbruchstellen und die Standfestigkeit als Resultat des Vertrauens in diese Recherche führten hier zum Erfolg. Dem Makler, der einen ausgezeichneten, weil moderierenden, neutralen Part übernahm, gelang es zur rechten Zeit, die erforderlichen Informationen zur Verfügung zu stellen. Bei Tecklenburg wusste nun jeder, das ich wusste, wovon ich sprach, wenn ich von Verkaufen sprach. Der Dank fiel nicht überschwänglich aus, schließlich sind Spitzenleistungen bei Tecklenburg seit jeher Tagesprogramm, aber ich spürte doch, dass die Skepsis der Anerkennung gewichen war und man gemerkt hatte, dass da kein besserwisserischer Berater vom grünen Tisch aus operierte, sondern jemand, der sein Geschäft verstand. Das sollte mir genügen. Es war Zeit zu gehen.

4.7 Fazit mit 10 Tipps für erfolgreiches Verkaufen 4.7.1 Fazit Hermann Tecklenburg ist, ähnlich wie Burchard Führer im zweiten Kapitel dieses Buches, in mehrerlei Hinsicht ein archetypischer Mittelständler: „ Er respektiert nur Leistung. Ihn treibt der sportliche Ehrgeiz – auch im Ge-

schäft. „ Er begegnet Menschen als Menschen. Er interessiert sich für sie. „ Er dominiert, ist aber trotzdem bereit, gute Argumente zu- und sich darauf

einzulassen. „ Er hat Mut zu Zielen und bringt seine Geschäftspartner dazu, sich welche zu

setzen. Immerhin ist er nebenberuflich erfolgreicher Trainer. „ Er hasst die graue Theorie. Ihn interessieren Taten, die er sehr planvoll und

sorgfältig angeht. Er hat den Mut zur Tat, wenn ihn die Ziele überzeugen.

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Fazit mit 10 Tipps für erfolgreiches Verkaufen

„ Fehler und Irrtümer – eigene und fremde – behält er in Erinnerung. Er ver-

zeiht sie, wenn sie zum Lernen anreizen. „ Er ist Neuem gegenüber aufgeschlossen und selber Innovationen antreibend

– nicht blind, sondern nach Maßgabe der eigenen Ziele. Innerhalb dieses unternehmerisch gespannten Rahmens konnte mit ausdrücklicher Billigung des Unternehmers 1. binnen weniger Monate eine vollständige Umgestaltung der Unternehmensorganisation vorgenommen werden, 2. innerhalb eines Zeitraums von 18 Monaten der Umsatz verdoppelt und die Premium-Marke Tecklenburg käuferseitig verankert werden, 3. innerhalb eines Zeitraums von zwei Jahren die restlose Akzeptanz der neuen Aufbau- und Ablauforganisation noch der kritischsten Mitarbeiter sicher gestellt werden. Dies war möglich, obwohl die klassischen Widerstände gegen Veränderung auch in diesem Unternehmen deutlich zum Ausdruck kamen und sich ungehindert artikulieren konnten. Dem Projekt war Erfolg beschieden, weil „ ein mittelständischer Veränderer in einem mittelständischen Unternehmen

wirkte: die Know-how-Verteilung zwischen veränderndem Berater und Interimsgeschäftsführer einerseits und dem zu verändernden Unternehmen andererseits war komplementär, die Ziele und die Art des Denkens waren identisch. „ alle von den Veränderungen Betroffenen „mitgenommen“ wurden – nicht

nur die Geschäftsleitung. Ihre Interessen wurden gehört und zu individuellen Zielen formiert. „ alle Änderungsvorschläge an Ziele und auf dem Weg zu den Zielen an Mei-

lensteine geknüpft waren. Jeder kannte das Programm, jeder wusste, wohin es geht, und jeder konnte abschätzen, wie gut das Unternehmen insgesamt, die Abteilung und er selbst im Plan lag. „ die Vertriebsmitarbeiter zu begeisterten Bekennern ihres Handelns wurden

und sich kaum mehr bremsen ließen – Wille. „ der Vertriebserfolg nicht an zufällige Marktbedingungen, sondern an die

beschreib- und lernbare Qualität des Handelns in der richtigen sequentiellen Folge geknüpft war und dieses Handeln geschult wurde – Können.

Kundennähe: Bauunternehmung Tecklenburg GmbH

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„ der Vertriebserfolg auf der Grundlage des Willens und der Fähigkeit der

Mitarbeiter, anhand von Benchmarks, verfügbaren Mitteln und Ressourcen und verfügbarer Zeit von diesen Mitarbeitern selbst genau gesteuert und weiter verbessert werden konnte – Handeln.

4.7.2 10 Tipps für erfolgreiches Verkaufen 1. Überzeugen Sie! Verkaufen kann man nicht erzwingen und wer immer die passende Antwort auf jede Frage hat, ist suspekt. Verkaufen ist ein simpler Überzeugungsprozess, kein Überredungsprozess. Sie können niemanden von etwas überzeugen, was er grundsätzlich nicht will, und es macht auch keinen Sinn, das zu versuchen. Finden Sie heraus, was Ihr Gegenüber will und warum. Dann finden Sie heraus, was Ihr Produkt oder Ihre Dienstleistung zu den Zielen Ihres Interessenten beitragen kann. 2. Fragen Sie! Wenn Sie eine Idee haben, was Sie mit Ihrem Angebot für Ihren potenziellen Kunden tun könnten, hinterfragen Sie Ihre Erkenntnis. Vergewissern Sie sich über offene Fragen, dass Sie die Interessenslage Ihres Gesprächspartners auch wirklich richtig verstanden haben. Dann hinterfragen Sie hypothetisch, ob er mit Ihnen ins Geschäft kommen möchte, wenn Sie alle seine Anforderungen an Lieferung und Leistung erfüllen können, erst dann unterbreiten Sie ihm ein Angebot. 3. Bereiten Sie sich vor! Sie können niemals genug Informationen über einen Interessenten erhalten, nichts, was Sie über ihn wissen, kann von Nachteil sein. Alles, was Sie nicht über ihn wissen, aber doch! Über das Internet, Wettbewerber oder auch über Ihre Lieferanten lassen sich eine Fülle von Informationen generieren, die Ihnen eine Spur, einen Anker für die Interessen Ihres potenziellen Kunden liefern. 4. Suchen Sie den Anker! Jeder Mensch, jede Organisation hat eine Mission, eine Bestimmung, suchen Sie sie und finden Sie sie. Hinterfragen Sie das, was Sie entdeckt haben. Ihr Gegenüber wird es Ihnen danken: „Endlich jemand, der sich wirklich für mich interessiert!“. Dann prüfen Sie, wie Sie mit dem, was Sie anzubieten haben, bei dieser Mission helfen können. 5. Vermeiden Sie Superlative! Keiner wird Ihnen glauben, wenn Sie behaupten, Sie oder Ihr Produkt wären das Beste, Schnellste, Größte oder was auch immer auf dem Markt. Stellen Sie die Stärken Ihres Angebots heraus, indem Sie den Kunden fragen, was er erwartet, und sagen Sie ihm anschließend zu, dass Sie das leisten können, aber nur wenn es stimmt!

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Fazit mit 10 Tipps für erfolgreiches Verkaufen

6. Seien Sie anders! Es ist unmöglich, immer der Erste, der Beste oder der Schnellste zu sein. Aber Sie können immer zeigen, dass Sie anders sind als die anderen. Überraschen Sie Ihre potenziellen Kunden immer wieder, indem Sie an Dinge denken, an die sonst keiner denkt. Machen Sie ein Gespräch mit ihnen zu einem Erlebnis, nicht zu einer Show, zu einem Erlebnis! Finden und zeigen Sie Ihr Alleinstellungsmerkmal! Was auch immer Ihr Produkt von anderen grundlegend abhebt, das ist Ihr Hauptargument. Das ist Ihr Unterscheidungsmerkmal, finden Sie es und stellen Sie es heraus. Tragen Sie Sorge dafür, dass es Ihnen erhalten bleibt und dass Sie immer eines haben! 7. Zeigen Sie Gefühl! Ein Weg, anders zu sein als zumindest die meisten hierzulande, besteht darin, Leidenschaft, Engagement und Begeisterung zu zeigen. Auch hier gilt: Nur wenn Sie wirklich so empfinden. Begeisterung steckt an, sie zeigt Ihrem Gegenüber, dass Sie wirklich lieben, was Sie tun, und dass Sie an das glauben, was Sie sagen. Das hat mehr Überzeugungskraft als viele technische Produkteigenschaften. 8. Seien Sie ehrlich! Lügen haben kurze Beine, und mit kurzen Beinen kommt man nicht weit und sieht dabei auch noch albern aus. Die Zeit ist der Wahrheit bester Freund und nichts ist peinlicher, als wenn dann doch noch herauskommt, dass der Vertrieb da mal wieder gelogen hat. Lassen Sie es bzw. fangen Sie es gar nicht erst an. Es passt nicht zu Ihnen und zu Ihrem Produkt. 9. Suchen Sie den Abschluss! Wenn Sie glauben, der Zeitpunkt ist gekommen, eine Entscheidung zu treffen, dann sagen Sie Ihrem potenziellen Kunden das. Auch wenn es Ihre Entscheidung ist, dass Sie hier und heute nicht ins Geschäft kommen wollen oder können. Sie suchen den Abschluss, nicht Ihr Interessent, und ein Abschluss kann auch ein (Ihr) „Nein!“ sein. 10. Verkaufen ist ein Handwerk! Trainieren Sie die Fähigkeit, sich jederzeit Rechenschaft darüber geben zu können, was Sie gerade tun und wo innerhalb des Vertriebsprozesses Sie gerade stehen. So vermeiden Sie unsinniges, kontraproduktives und planloses Handeln. Im Kern hat die vertriebliche Prozesskette folgende Gestalt: Kontakte generieren – Kontakte grob zu Vertriebsfällen vorqualifizieren – Vertriebsfälle analysieren (Bedarfsanalyse) – Angebote vorlegen – abschließen. Vermeiden Sie unbedingt, den zweiten Schritt vor dem ersten zu tun!

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

5.

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Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Siebtes Grundgesetz15

In diesem Kapitel erfahren Sie, wie SØR, ein deutscher Premium-Herrenausstatter, mit Hilfe eines intelligenten Interessensmanagements den Weg aus der Strukturkrise des Handels fand. Die größte Herausforderung dabei war der Umgang mit den industriellen Zulieferern, die in Deutschland, dank der „Einheitsbestimmungen der deutschen Textilindustrie“, über eine einzigartige Machtstellung verfügen.

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Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

Firmenname

SØR Rusche GmbH

Branche

Textiler Einzelhandel

Gründungsjahr

1956

Mitarbeiter (2006)

200

Umsatz (2006)

35 Mio. EUR

Niederlassungen (2007)

33

Anzahl der Lieferanten (2000/2006)

300/60 Bewältigung der Strukturkrise im kontinentaleuropäischen textilen Einzelhandel

Quelle: SØR Rusche GmbH Abbildung 40: Unternehmerphilosoph Dr. Dr. Thomas Rusche, Wissensmanager des Jahres 2005, Geschäftsführender Gesellschafter der SØR Rusche GmbH

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

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5.1 Der Unternehmer und sein Unternehmen Die Interessen, die in diesem Kapitel im Mittelpunkt stehen, sind jene von Lieferanten. Ihnen wurde in mittelständischen Kreisen über Jahrzehnte wenig strategische Bedeutung beigemessen. Lieferanten hatten, wenn man partout nicht auf sie verzichten konnte, pünktlich und preisgünstig zu definierten Qualitäten zu liefern – basta! Aus Gründen, die sich von selbst verstehen, verfolgte der mittelständische Handel hier von jeher eine andere Sichtweise. Er konnte so zu einem Motor für eine fortschrittlichere, weniger angstgeprägte Einstellung gegenüber der „verlängerten“ Werkbank werden. Unter dem Druck globaler Märkte bescheren diese nicht nur Konzernen, sondern eben auch Mittelständlern Fixkostenersparnisse und Flexibilitätsgewinne. Besonders plastisch lässt sich dies am Beispiel des textilen Einzelhandelunternehmens SØR Rusche GmbH erleben, das nicht nur Einzelhandelsunternehmen ist, sondern außerdem ein eigenes hochwertiges und -preisiges Modelabel vertreibt – also Einzelhändler und „Hersteller“ ist. Dabei stammen die textilen Rohstoffe und Halbfertigfabrikate sowohl des eigenen als auch der Fremdlabels ausschließlich von Zulieferern. Dennoch bzw. gerade deshalb ist es dem Unternehmen gelungen, eine einzigartige, schwer kopierbare Marktstellung zu erlangen. Im ersten Abschnitt (5.1) stellen wir Ihnen wieder den Unternehmer und sein Unternehmen vor, skizzieren die Marktbedingungen, unter denen das Unternehmen seine Bewährungsprobe, die Bewältigung der kontinentaleuropäischen Strukturkrise im textilen Einzelhandel in den Jahren 2000 bis 2005 bestehen musste, und erläutern die Basis- oder Produktstrategie des Unternehmens. Wir leiten diesen Abschnitt mit einer Gegenüberstellung großindustriellen und mittelständischen Einkaufens ein. Im zweiten Abschnitt (5.2) präsentieren wir Ihnen die Interessenskonstellation Unternehmer – Zulieferer. Im dritten Abschnitt (5.3) zeigen wir Ihnen, wie es Rusche gelingt, Einkaufsziele zu formulieren, die das Interesse der Zulieferer aufnehmen, ohne das eigene zu verletzen. Im vierten Abschnitt (5.4) gehen wir detailliert auf Form und Inhalt des methodensicheren Umgangs mit den Lieferanten ein, den das Unternehmen aus seinen Zielen abgeleitet hat. Im fünften Abschnitt (5.5) zeigen wir Ihnen, wie es dieser Umgang dem Unternehmen in der betrieblichen Praxis möglich macht, branchenweit anerkannte, benchmarkgeprüfte Vorgehensweisen an die unternehmensindividuellen spezifischen Bedürfnisse anzupassen. Im sechsten Abschnitt (5.6) geben wir Ihnen einen Einblick in das preisgekrönte Wissensmanagement des Unternehmens und zeigen so, dass „Lernen“ auch im mittelständischen Einkauf eine Königsdisziplin ist. Wie bereits in den vorangegangenen Kapiteln fassen wir im siebenten Abschnitt (5.7) die wichtigsten Punkte für Ihren Einkauf zusammen und geben Ihnen zehn Tipps mit auf den Weg.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

5.1.1 Ästhet, Denker und Macher: Dr. Dr. Thomas Rusche „Heldenhafte“ und „bürgerliche“ Einkäufer Welchen Zusammenhang gibt es zwischen intelligentem Lieferantenumgang, Betriebswirtschaft und Philosophie? Anhänger des ehemaligen GM- und VWChefeinkäufers José Ignacio López de Arriortúa sehen folgenden: Intelligenter Lieferantenumgang bedeutet konsequentes Minimieren der Produktionskosten durch 1. maximales Auslagern, 2. härtestes Verhandeln, 3. konsequentes Hüten vorab definierter Qualitätsstandards. Um dies leisten zu können, bedarf es in López’ Augen einer kriegerischen Mentalität. Erfolg basiere auf nichts anderem als dem konsequenten Verfolgen seiner Ziele. Jeder, der sich mir in den Weg stellt, muss bedingungslos aus dem Weg geräumt, also, wie López sagt, „gekillt“ werden, es sei denn, er ließe sich mit einem Minimum an Aufwand bekehren. Es wurde schnell „gekillt“ bei López. Er war für seine Härte berühmt. Dies war, und vielleicht ist es noch heute, seine Philosophie. López’ Anhänger sind Krieger. Doch alles andere, ein „softerer“ Standpunkt hätte seine Position aufgeweicht und seiner Methode sicherlich nicht den Erfolg beschieden, der ihr vorübergehend vergönnt war. In einer überkomplexen Welt ist ein simpler, konsequent und mit Härte verfolgter Vorsatz allemal erfolgreicher als ein Vorsatz, der seine Anwendbarkeit und Gültigkeit aus Furcht, der späteren Wirklichkeit nicht standhalten zu können, an endlose Ketten von Bedingungen und Kautelen knöpft. Das Dickicht wird so nur gespiegelt. Es führt kein Weg aus ihm heraus. Trotz vieler Einzelerfolge ist jedoch, aufs Ganze gesehen, auch López gescheitert. Er sanierte z. B. Opel. Aber die Produkte, die die von ihm gequälten Lieferanten aufs Fließband schickten, waren in der Folge, jedenfalls der herrschenden Kundenmeinung zufolge, in summa so schlecht, dass GM Jahre später dennoch kurz davor stand, traditionsreiche deutsche Opel-Standorte schließen zu müssen. Dazu muss man wissen, dass López nicht etwa in der Tradition der Shareholder Value-Verehrer steht. Nein, der Arbeitersohn López strebt nach Profit erklärtermaßen deshalb, weil dieser Arbeitsplätze sichert. Mit diesem Argument beglückwünschte er sich auch zu der 28-Stunden-Woche bei VW. López’ Problem ist sein durch und durch pessimistisches Menschenbild. Diesem zufolge ist jeder Mensch mit der Todsünde der Trägheit beladen. Nur durch Exerzitien der Härte

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

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und Entbehrung in Permanenz ist ihr beizukommen. Messianische Lichtgestalten, Führungsfiguren wie er selbst, können helfen, dem trägen Menschen den Pfad der Tugend zu weisen, glaubt er. Dieses Menschenbild führt betriebswirtschaftlich in die Irre. Es übersieht, dass Qualität nicht zum Nulltarif zu haben ist, egal wie klar man die Standards vorher definiert hat. Steckt der Daumen zu lange in der Schraube, ist die Hand anschließend nicht mehr einsetzbar. Anders als López wieder und wieder deklamiert hat, ist der Prozess der Kostenminimierung eben nicht unendlich fortführbar. Das Menschenbild führt aber auch in die Irre, weil es zu unethischem Verhalten anleitet. Wer immerfort „killen“ muss, der „killt“ dann irgendwann auch den Ast, auf dem er selber sitzt. López und seine Krieger wurden strafrechtlich verfolgt, weil sie „heldenhaft“, allzu heldenhaft sein wollten. López hat sich und seine Krieger „gekillt“, auch wenn er das nicht zugeben möchte. In der Folge so obsessiven „Killer“verhaltens stellen sich Imageschäden ein. Zu der Produktschwäche infolge halbtoter Zulieferer tritt ein demolierter Ruf. Die tatsächliche Produktschwäche und das schwache Image torpedieren das Produkt dann vollends ins Abseits. Was unterscheidet das Menschenbild und Lieferantenhandling eines Ignacio López von dem eines Thomas Rusche, geschäftsführender Gesellschafter des führenden deutschen Herrenausstatters im Premium-Segment? López hat ein heroisches, vorbürgerliches Welt- und Menschenbild. Sein Vorbild ist erklärtermaßen die mittelalterliche spanische Heldenfigur des Cid. López sagt, ich kämpfe f ü r meine Arbeiter und Kunden. Sein Weltbild ist von Anonymität und Einsamkeit geprägt. Es stammt aus der Zeit der industriellen Revolution. Es ist die Welt, in der die Schwerindustrie den Ton angab. López sagt, er habe keine Freunde, sondern nur einen Freund. Und darauf sei er stolz. Rusches Milieu dagegen ist durch und durch bürgerlich. Rusche misst sich nicht an Helden, sondern am Wettbewerb. Rusche sagt, ich kämpfe gemeinsam m i t meinen Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten. Es ist die Welt des Mittelstandes. López geht es um das Wohl „seiner“ Arbeiter und Kunden – um jeden Preis. Rusche geht es außerdem um das Wohl des gemeinsamen Unternehmens und der gemeinsamen Lieferanten – jedoch nicht um jeden – nicht um den Preis des gemeinsam nicht Verantwortbaren. López sagt, nur mit Härte und Konsequenz lässt sich ein anspruchsvolles Ziel erreichen. Rusche sagt, Härte und Konsequenz, ohne die Zustimmung aller Beteiligten, ist uneffektiv, ineffizient und ethisch nicht verantwortbar.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

López’ Menschenbild und Industrierezept taugten für eine Zeit, als Arbeiterführer und Industriekapitäne, je nach Sichtweise, stellvertretend für die Guten und die Bösen dieser Welt standen. In einer multipolaren Welt, in der jeder gegenüber Dritten in einer Person Unternehmer, Mit-Arbeiter und Zulieferer sein kann, sind sie nicht mehr zu halten. An dieser Gegenüberstellung des Einkäufers López mit dem Unternehmer Rusche liegt uns viel. Sie beleuchtet schlaglichtartig, 1. warum es nicht genügt, lediglich Kunden und Mitarbeiter als Protagonisten oder Subjekte des unternehmerischen Geschehens zu begreifen. Gute Zulieferer sind die Voraussetzung für gute Qualität. Effektiv und effizient sicherstellen kann man diese Qualität nicht durch beliebige Instrumentalisierung der Zulieferer als Mittel zum Zweck. 2. warum ein fürsorgliches, paternales Agieren, beispielsweise „für meine Arbeiter“ oder „meine Lieferanten“, ein überholter Ansatz ist, der nicht in unsere Zeit passt. Dieses Agieren beleidigt die Intelligenz „meiner“ Arbeiter, Lieferanten und Kunden, die selber entscheiden wollen, was gut für sie ist. 3. warum es infolgedessen unsinnig ist, jeweils zwischen der Form des unternehmerischen Kundenumgangs, Mitarbeiterumgangs und Lieferantenumgangs zu unterscheiden. Die Form ist immer die gleiche. Immer kommt es darauf an, Interessen zu identifizieren, daraus – gemeinsam – gemeinsame Ziele und Wege abzuleiten und diesen Weg anschließend auch gemeinsam zu gehen. Schon vor über vierzig Jahren entdeckten kluge Köpfe, dass „internes Marketing“, „Beschaffungsmarketing“ und „Absatzmarketing“ strukturell nicht nur verwandte, sondern identische Prozesse sind. 4. warum das zeitgemäße Lieferantenhandling im Mittelstand und nicht in der Industrie zu Hause ist. Die unterschiedlichen Einkaufsphilosophien der Herren López und Rusche sind auch biographisch begründet. López selber beschwört seine Arbeiterherkunft und bezeichnet sich heute in bewusst maliziöser Abgrenzung gegenüber Co-Managern als Arbeiter. Rusche ist geborener Mittelständler. Er übernahm ein in der Generation seines Vaters groß gewordenes mittelständisches Unternehmen. Interessensmanagement en famille: Eine sprechende Vater-Sohn-Beziehung Warum promovierte Thomas Rusche gleich doppelt – zum Dr. phil. und Dr. rer. pol.? Im Einzelhandel werden akademische Weihen nicht prämiert. Kaum eine Branche ist vertikal so durchlässig wie der Einzelhandel. Wenige bieten Aufsteigern, die gleich nach der Schule das harte Brot des Verkaufens beißen mussten,

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so gute Chancen, mit den erworbenen Qualifikationen dieselben Unternehmen später auch zu führen. Natürlich, der Inhaber des seit zwei Generationen familiengeführten Unternehmens, Thomas Rusche, musste sich nicht durchbeißen. Aber: Welchen Mehrwert bietet seine akademische „Überqualifikation“? Wir werden die psychologische Frage nach dem „Warum?“ an dieser Stelle nicht vollständig beantworten können. Sie interessiert hier auch nur, weil sie ein Schlaglicht auf das innerfamiliäre Interessensmanagement im Hause Rusche wirft. Thomas Rusche macht an einem Jesuitenkolleg Abitur. An den akademischen Weihen seines Filius lag dem von der Pike auf angelernten Vater, Egon Rusche, nicht sonderlich viel. Gerade jedoch, weil er die Schule früh verlassen hatte, um in die Lehre zu gehen, wusste er um die Bedeutung eines soliden Ausbildungsfundaments. Vater Egon war ein durchsetzungsstarker Willensmensch – heute würde man vielleicht sagen: ein Start-up-Temperament. Weitestgehend auf sich und seinen Porsche gestellt, zog er nach dem Krieg los, um mit seiner Frau die Welt der Herrenausstatter zu erobern. Aus dem ehrwürdigen väterlichen Geschäft in der westfälischen Provinz sollte etwas Größeres entstehen. Anders als während des Start-up-Booms unserer Tage bedeutete dies in den Zeiten des deutschen Wirtschaftswunders allerdings nicht, mit viel geliehenem Investorengeld auf schicken Parties viele schicke Investoren anzulocken. Es bedeutete, mit knappen Etats viele sich selbst tragende Filialen aufzumachen. Hochfliegende Pläne waren mit sehr viel Realitätssinn und Bescheidenheit gepaart. Sie mussten das sein. Investoren klagten noch nicht über Liquiditätsüberschüsse. Nur organisches Wachstum kam in Frage. Selbst Quersubventionierungen zwischen den Niederlassungen, die theoretisch möglich waren, blieben im Hause Rusche tabu. Sie gelten bis heute als Erfolgsbarrieren, weil sie zu Bequemlichkeit verleiten. Westfälische Sparsamkeit ist kein Synonym für baskische Askese. Der Praktiker Egon und der Intellektuelle Thomas sind fraglos unterschiedliche Charaktere. Dennoch durften sich beide nach eigener Fasson entfalten, ihre eigenen spezifischen Interessen verfolgen und ihre eigenen Fehler machen. Beide wurden nicht gehalten oder gar gezwungen, in die Fußstapfen des Vaters zu treten. Dennoch haben sich beide – freiwillig – der gemeinsamen Sache des Familienunternehmens angenommen. Parallel zu seinem Doppelstudium kümmert sich Thomas Rusche daher zusätzlich auch um das Geschäft. Jedes Wochenende legt er hunderte von Kilometern zwischen dem schweizerischen Studienort Fribourg und der Firmenzentrale im westfälischen Oelde zurück. Gemeinsam mit dem Vater schaut er in die Bücher, entwickelt Strategien für die Zukunft und betreibt Krisenmanagement. Die akademische Neigung des Sohnes mag dem Vater ein Buch mit sieben Siegeln

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

gewesen sein. Solange sich der Vater des Verantwortungsbewusstseins seines Sohnes für das Familienunternehmen gewiss sein durfte, ließ er ihn nicht nur studieren, er ließ ihn sogar gerne studieren. Thomas Rusche verzichtete, sozusagen im Gegenzug, auf einen zusätzlichen Studienaufenthalt in den USA. Altersweise gab Vater Egon seinem Sohn den Rat mit auf den Weg, seine führenden Mitarbeiter klug zu wählen und praktischen Erfahrungen gegenüber akademischem Nimbus den Vorzug zu geben. Schließlich verfügte Thomas in seinen jungen Jahren, bei aller Qualifikation, nur über eine überschaubare Anzahl praktischer Erfahrungen. Diesen Rat beherzigte Thomas Rusche, wie wir gleich sehen werden. Was lernen wir aus dieser Vater-Sohn-Beziehung für das Interessensmanagement gerade mittelständischer Unternehmen? 1. Erfolg hat viele mögliche Väter. Der Pragmatiker Egon Rusche war ebenso erfolgreich wie sein eher intellektueller Sohn Thomas. Geistig unabhängig sind bzw. waren sie beide. Es gibt also nicht nur einen paradigmatischen Unternehmer-Typus, wie immer wieder gesagt wird. 2. Trotz ihres starken Egos haben die Väter ihren Söhnen nicht hineingeredet. Vermutlich sind die Söhne Egon und Thomas nicht zuletzt deshalb starke Unternehmerfiguren, weil sie ihren eigenen Weg gehen durften. Ihre individuellen Interessen wurden von den Vätern respektiert. Die Verfolgung dieser Interessen wurde nie gekappt. 3. Das Unternehmen konnte bisher nur deshalb von der Kraft seiner Unternehmer profitieren, weil beide Unternehmer ihre individuellen Interessen in den Dienst eines gemeinsamen gestellt hatten: das Wohlergehen eben dieses Unternehmens. Wie viele Nachfolgeregelungen sind in der Vergangenheit deswegen gescheitert, weil entweder der Sohn kein Interesse am Unternehmen des Vaters hatte oder der Sohn andere Interessen mit dem Unternehmen verfolgte als der Vater? Das konsequente, im täglichen Alltag mitunter auch sehr mühsame, zähe und prosaische Ausrichten eigener, persönlicher Interessen an gemeinsamen Interessen, hier sogar Generationen übergreifenden Interessen, ist ein charakteristisches Merkmal mittelständischer Führungskräfte. Die Merkmale der Vater-Sohn-Beziehung Egon und Thomas Rusche sagen uns damit ein weiteres Mal: Was zählt, sind unabhängiges Denken, starke eigene Interessen und die Bereitschaft, für etwas, das die unmittelbaren eigenen Interessen überragt, Verantwortung zu übernehmen. Man kann auch sagen: Für einen zufrieden stellenden Erfolg im Sinne aller am Erfolg eines Unternehmens Beteiligten, eine „totale Win-win-Situation“ also, kommt es nur auf komplementäre, einander ergänzende Ressourcen der wirtschaftlichen Interessenssubjekte und gemeinsame Ziele an.

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

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Theorie und Praxis Einige Mitarbeiter der SØR Rusche GmbH mokieren sich gelegentlich darüber, dass sich das Unternehmen einen ethischen Codex gegeben hat – ethische Leitlinien, hinter denen jeder Corporate-Governance-Code verblasst. Sie sagen, zwischen den „ethischen Leitlinien“ des Unternehmens in der Theorie und ihrer Umsetzung in der Praxis liege oft ein breiter Graben. Das spricht aber nicht gegen die Grundsätze, sondern für sie. Sie erst geben dem Mitarbeiter und der Führungskraft die Handhabe, deren Beachtung einzufordern. Theorie ohne Praxis ist sicher wirkungslos. Aber Praxis ohne Theorie ist blind. Die Erkenntnis gewann Thomas Rusche nicht aus der Lektüre des Philosophen Kant, von dem diese Sentenz stammt. Er gewann sie durch das Nachdenken über die Erfolgsquellen, die schon das elterliche Unternehmen stark gemacht hatten. Das Wissen, das der Philosoph Rusche in seinem Unternehmen als Kapital hortet und dokumentiert, gilt der zentralen Frage, welche nicht-monetären Ressourcen zum Wertaufbau und -erhalt seines Unternehmens beitragen und wie diese Ressourcen gehoben, dokumentiert und fruchtbar gemacht werden können. Von diesem Wissen zehrte das Unternehmen besonders, als es der Branche besonders schlecht ging. Bald nachdem Thomas Rusche das Unternehmen übernahm, standen Krisenjahre bevor, wie sie der kontinentaleuropäische textile Einzelhandel bis dato so noch nicht erlebt hatte. In den Jahren zwischen 2000 bis 2005 gelang es Rusche, mit seiner neuen Mannschaft durch intelligentes und verantwortungsvolles Interessensmanagement eine kleine Revolution am deutschen Einkaufshimmel in Bewegung zu setzen. Es war eine Revolution, die seinem Unternehmen eine Vormachtstellung sicherte, die niemanden verletzte – allenfalls den Wettbewerb. Für die Dokumentation dieses Unternehmenswissens in der SØR-Wissensbilanz des Jahres 2004 erhielt die SØR Rusche GmbH den von der Zeitschrift impulse, der Financial Times Deutschland sowie der Commerzbank unter Schirmherrschaft des Bundeswirtschaftsministers ausgelobten Wissenspreis 2005.

5.1.2 Mit Beschaffungsmarketing der Branchenkrise trotzen Branchenherausforderungen und -lösungen Der textile Einzelhandel in Deutschland und Kontinentaleuropa stand in den ersten fünf Jahren dieses Jahrhunderts vor einem bis dato nie dagewesenen Problemberg. Viele, auch namhafte Unternehmen, konnten die Schwierigkeiten nicht bewältigen und mussten ihre Verkaufspforten schließen. Einige profitierten.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

Drei bekannte Entwicklungen sind für die Schwierigkeiten ursächlich: 1. Bedarf: Der Bekleidungsmarkt in Deutschland ist gesättigt. Er befindet sich seit Jahren im Schrumpfungsprozess und trägt alle Merkmale eines Verdrängungsmarktes. Im Jahr 1995 wurden im textilen Einzelhandel rund 65 Mrd. Euro umgesetzt. Zehn Jahre später waren es eben noch 56 Mrd.16 2. Margen: Im Zuge der Globalisierung – globaler Einkauf textiler Rohstoffe und fertiger Textilien, globaler Verkauf im filialisierten und elektronischen Einzelhandel – sinken die durchschnittlichen Preise auf nie dagewesene Tiefststände. Gleichzeitig wird der zunehmend besser informierte und modebewusste Konsument immer qualitätsbewusster, anspruchsvoller. Die Margen gehen in den Keller. 3. Käuferverhalten: Das Verhalten der Konsumenten hat sich in den zurückliegenden Jahren signifikant verändert. „Hybride“ Kunden, die morgens bei Chanel 20 000 Euro für das kurze Schwarze hinblättern, nach dem Einkauf schnell einen Burger bei McDonald’s oder einen Happen in der Sushi Factory verzehren, um rechtzeitig vor Ladenschluss zu Hause bei Aldi den Champagner für den Abend und nebenan bei Tchibo die TCM-Strümpfe oder Boxer Shorts zu erstehen, sind „normal“. Immer schnelllebigere Modetrends kommen hinzu. Nur noch ganz wenige Kunden sind ganz wenigen Marken und Geschäften längerfristig treu.

Variante 1: Strategie Größe Î Große Multilabel-Bekleidungshäuser

Gesättigter Gesamtmarkt

Erodierender traditioneller Facheinzelhandel

Variante 2: Strategie Preis Î Agressive Discounter

Variante 3: Spezialisierung Î MarktCaptains

Flankierende Strategie: Vertikalisierung

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 41: Textiler Einzelhandel im Umbruch

Hohes Preisbewusstsein des durchschnittlichen Konsumenten Zunehmendes Qualitätsbewusstsein aller Konsumenten Kurze Lebenszyklen der Moden Zunehmende „Untreue“ aller Konsumenten

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In dieser Situation versprechen nur drei Strategien Aussicht auf Erfolg: 1. Größe: Große Filialisten und Kaufhäuser können für alle Käuferschichten bei akzeptabler Preisgestaltung ein großes Waren- und Markenangebot bereithalten und dem traditionellen, nicht-filialisierten Facheinzelhandel das Wasser abgraben: Bessere Bankenkonditionen, bessere Standorte, bessere Einkaufs-, Logistik- und Distributionskonditionen sind die Hebel. 2. Preisführerschaft: Filialisierte Discounter können spitz die wachsende, besonders preisbewusste Klientel bedienen. 3. Fokussierung: Kleine, aber dennoch filialisierte Anbieter können durch Qualität, Image und Service in weniger preissensiblen Kundensegmenten Markt- und Qualitätsführerschaft aufbauen und behaupten. Genau auf diesen drei Hauptrouten hat sich der textile Einzelhandel in Deutschland tatsächlich auf den Weg gemacht. Alle drei Varianten instrumentieren flankierend zu ihrer Wettbewerbsstrategie eine „vertikale“ bzw. „vertikalisierte“, an „vertikalen“ Vorbildern orientierte Einkaufs-, Sortiments- und Distributionsstrategie. Bei diesen werden, je nach Variante 1 bis 3, mittelpreisige Handelsmarken (McNeal/P&C etc.), billige Discountmarken (KiK, Takko etc.) oder exklusive Private Labels17 (Zara) im jeweils eigenen Hause designed, dann kurzfristig und flexibel von direkt kontrahierten Lieferanten angefertigt und anschließend schnell und nachfragegerecht auf die Flächen gebracht. Die Waren werden so bedarfsgerechter produziert und schneller platziert. Sie stauen sich in den Geschäften bei Fehleinschätzungen nicht massenweise zu Ladenhütern und können daher ohne Abschläge verkauft werden. Außerdem werden durch die Etikettierung der Ware im eigenen Hause Prozess- und Logistikkosten eingespart. Insgesamt sind signifikante Kostenvorteile beim Waren- bzw. Lagerumschlag das Ergebnis vertikalen Vorgehens. Die Strategie der SØR Rusche GmbH Der Herrenausstatter SØR Rusche GmbH ist ein Fallbeispiel zu Variante drei, Fokussierung. Mit seinen zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches 33 deutschen Geschäften, mit 30 Prozent Marktanteil im „klassisch-hochwertigen Topmarkt“ und 8,4 Prozent Marktanteil im HaKa18-Topmarkt ist SØR der führende deutsche Herrenausstatter im kleinen Premium-Segment19. Variante drei ist die mittelständische Variante. Die beiden anderen heben schließlich explizit auf Größe bzw. Preis ab und bleiben daher größeren Unternehmen vorbehalten.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

Dass die SØR Rusche GmbH im Vergleich zu den meisten unmittelbaren Wettbewerbern gestärkt aus dem Marktbereinigungsprozess der Jahre 2000 bis 2005 hervorgegangen ist, verdankt es vielen miteinander vernetzten Teilstrategien: Der konsequenten Fokussierung auf den kleinen aber feinen Top-Markt der Herrenoberbekleidung, einer cleveren Positionierung als Türöffner in die deutsche „Provinz“, seinem, wie wir sehen werden, ebenso fairen wie klugen Lieferantenumgang. Aber im hochpreisigen exklusiven Marktsegment kann sich kein Unternehmen behaupten, ohne die darin angebotenen Produkte oder Dienstleistungen adäquat zu markieren. Das Marktsegment mag klein sein, die Werbung darin ist trotzdem teuer. Marketing ohne Investoren Die Frage, die sich Rusche also stellte, lautete: „Wie soll ich als unabhängiges Familienunternehmen auf Augenhöhe mit Branchenriesen mithalten, wenn mir die Mittel dazu fehlen?“ Die Marketingfrage hat viel mit dem Einkauf zu tun. Stellen Sie sich vor, es wäre Ihr Unternehmen! Wie wollen Sie bei TopLieferanten einen Key-Account-Status erlangen, wenn Sie, im Vergleich zu Ihren großen Konkurrenten, weder große Stückzahlen ordern können, noch werblich auf den Putz hauen dürfen, um sich ein angemessenes Image zu verschaffen? Die Unternehmensmarke In den Anfangsjahren des Unternehmens, in den 50er und frühen 60er Jahren, konnte von einem Markenauftritt des Unternehmens keine Rede sein. Die damaligen Geschäfte wurden schließlich nicht nur neu eröffnet, sondern auch als sehr etablierte, traditionsreiche erste Adressen an ihren Standorten übernommen. Sie konnten nicht von heute auf morgen von einem so jungen Unternehmen „gleichgeschaltet“ werden. Erst nach und nach wird eine Handschrift des Unternehmens deutlich. Den Anfang machte 1964 ein erstmals vollkommen neu errichtetes Geschäft in Essen. „[Es] wird vom Oelder Architekten Carl-Hermann Ackfeld gestaltet und präsentiert sich mit weißem Marmor, Mahagoni-Möbeln von Rincklake van Endert und Messing-Applikationen von Falgar.“ Nach dem gleichen Vorbild wird im selben Jahr auch die Hemdenstube in Hannover ausgebaut.20 Nach und nach wird der Wert der Wiedererkennbarkeit entdeckt und ausgebaut. Der „6. Leitbildsatz“ des Unternehmens“ hält fest: „Alle Geschäfte werden mit schwarzweißem Marmor, brüniertem Messing, handgefertigten Eichenpaneelen und englischen Original-Antiquitäten des 17. und 18. Jahrhunderts [.] ausgestattet: Gateleg-Table, Tripod-Table, Windsor Chairs, Oak

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

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Arm Chairs und Joint Stools […] prägen das unverwechselbare Ambiente.“ Die Selbstähnlichkeit der SØR-Geschäfte kommt nicht allein durch die ähnlichen Einrichtungen der Häuser zustande. Auch die Warenpräsentation und die Schaufenstergestaltung sind an einem bundesweit einheitlichen „Ladenübersetzungsprogramm“ ausgerichtet. Schließlich arbeitet der heutige Gesellschaftergeschäftsführer Thomas Rusche daran, Zug und Zug das Unternehmensverhalten, Corporate Behaviour, an einheitlichen wirtschaftlichen und ethischen Maßstäben auszurichten. Die bereits zitierten ethischen Grundsätze geben davon Kunde. Allerdings warb SØR auch für seine Geschäfte. Jahrzehntelang wurde im Zweiwochenrhythmus eine Drittelseite des Meinungsführer-Mediums Der Spiegel belegt. Diese Kosten waren für die SØR Rusche GmbH sehr hoch. Für die großen Wettbewerber wären sie ein Klacks gewesen. Heute wirbt SØR überhaupt nicht mehr in Massenmedien. Steter Tropfen höhlte den Stein. Inzwischen ist das Unternehmen dank der teuren Werbung und seiner opulenten Schaufenstergestaltung in seinem Marktsegment bekannt genug; die Zielgruppe verfügt über eine ausreichende „Awareness“ der Unternehmensmarke SØR.

Quelle: SØR Rusche GmbH Abbildung 42: „Selbstähnlichkeit“: SØR Häuser in Düsseldorf (links oben), Köln (links unten) und Hannover (rechts)

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

Quelle: SØR Rusche GmbH, Katalog Frühjahr/Sommer 2007 Abbildung 43: Nur die „Größten“ sind Benchmark: SØR-Katalogwerbung mit eigenen Polo-Shirts (links) und solchen von Lacoste.

Das Private Label SØR vertreibt in seinen Läden in bewusstem Wettbewerb zu dort ebenfalls verkauften Topmarken wie Brioni, Lacoste, vanLaack oder Polo Ralph Lauren ein eigenes Private Label. Der Umsatzanteil der „Hausmarke“ betrug zum Zeitpunkt der Drucklegung dieses Buches bei steigender Tendenz 36 Prozent. Bereits um das Jahr 1963 beginnt Doris Rusche, die Mutter des heutigen Gesellschaftergeschäftsführers, eine eigene Herrenkollektion zu entwerfen. Eines der Hauptmotive seiner Mutter, schreibt Thomas Rusche, sei die Öffnung der bis dato exklusiven Marken hin zum Massenmarkt gewesen. Gegen diesen Trend habe sich das Haus absetzen wollen. Dies zu verstehen, ist wichtig. Handelsmarken markieren in der Regel Produkte, die, da sie preisgünstiger hergestellt werden, auch kostengünstiger abgegeben werden können. Dies ist der wesentliche Grund dafür, dass die Industrie sie fürchtet. SØR-Hemden, SØR-Krawatten oder SØR-Sakkos werden dem gegenüber grundsätzlich nicht günstiger als vergleichbare Wettbewerbsprodukte angeboten, wiewohl natürlich auch sie das Handelsunternehmen deutlich kostengünstiger zu stehen kommen als die teure Fremdware. Mit dieser Strategie verfolgt das Unternehmen drei unterschiedliche Absichten:

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Imagesteigerung des Unternehmens

Hochwertiges u. -preisiges Private Label

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

Steigerung der Margen

Unterstützung der Lieferanten

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 44: Label-Strategie: Drei Fliegen mit einer Klappe

1. Es möchte eine besonders attraktive Marge erzielen. 2. Es sucht positive Imagetransfer-Effekte von der hochwertigen Produktmarke zur Unternehmensmarke. 3. Es möchte seine exklusiven Lieferanten nicht verärgern, denen eine preiswerter abgegebene Hausmarke sowohl aus Image- als auch aus absatzpolitischen Gründen Probleme bereiten würde. Verkäuferinteresse vs. Werbediät Die geschilderte Private-Label-Strategie des Unternehmens funktioniert nur, weil es ihr gelingt, folgende divergierenden Interessen zu befriedigen: „ Der Unternehmer Rusche möchte den Umsatzbeitrag seines Private Labels

ohne Umsatzeinbuße steigern. „ Kunden des Handelshauses möchten in erster Linie Artikel bekannter, etab-

lierter Marken erwerben. „ Verkäufer vor Ort möchten in erster Linie viel verkaufen; ihnen ist es zu-

nächst einmal egal, welche Marke sie verkaufen.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

Die Bekanntheit großer Marken wie Lacoste, Daks oder vanLaack ist hohen Werbeausgaben geschuldet. Diese will sich das auf seine Unabhängigkeit bedachte Familienunternehmen nicht leisten. „Natürlich“ sagt, Thomas Rusche, „wäre es überhaupt kein Problem, den Marktanteil unseres Labels binnen Jahresfrist drastisch und schnell zu erhöhen. Wir müssten nur Fremdinvestoren in unser Unternehmen lassen. Anfragen gibt es, weiß Gott, genug. Aber das wollen wir nicht. Wir wollen ein Familienunternehmen bleiben. Unser Ziel ist es, den angepeilten Umsatzbeitrag unseres Labels von 50 Prozent binnen vier Jahren zu erreichen“, sagt Rusche im Jahr 2006. Doch es gibt eine Crux: Die Verkäufer auf den Handelsflächen. Für sie stellt die strategisch plausible Zentralvorgabe des Markenmanagements eine echte Herausforderung dar. Sie können von Haus nicht daran interessiert sein, das eigene Private Label im Geschäft ebenso prominent zu positionieren und teuer zu verkaufen wie eine namhafte, „große“ Marke. Sie müssen überhaupt verkaufen, zumal sie erfolgsorientiert entlohnt werden. Ein SØR-Verkäufer: „Wenn ich einen Kunden im Laden habe, der explizit ein blau-weiß-gestreiftes vanLaack-Hemd sucht, dann gebe ich ihm das und kein genauso teures oder sogar noch teureres SØR-Hemd. Dabei weiß ich genau, dass die Qualitäten der beiden Hemden ähnlich sind. Wir sind zu Kundenfreundlichkeit verpflichtet. Der Kunde ist König, heißt es doch, komme, was da wolle.“ Hinzu komme, sagt der Verkäufer, „dass uns die Gestaltung der Schaufenster und Ladenflächen zentral minutiös vorgegeben wird. Wie, frage ich Sie, sollen wir Verkäufer dafür sorgen, dass unsere Hausmarke schrittweise mehr verkauft wird, wenn uns die Zentrale unser Vorgehen haarklein vorgibt? Selber etwas für das eigene Label tun, werben zum Beispiel, das will die Zentrale nicht. Ist ihr zu teuer! Wenn unsere eigene Marke draußen nicht kommuniziert wird, dann kann man aber von uns nicht verlangen, in die Bresche zu springen. Verkauf ist kein Ersatz für Imagekampagnen!“ Verkäuferschulung Thomas Knoerich, der Einkaufs- und Vertriebsleiter der SØR Rusche GmbH, hat sich diese Situation genau angesehen. Er erkannte, dass die Argumentation der Verkäufer vor Ort nur vordergründig plausibel ist. Natürlich verbietet die Zentrale dem Verkäufer nicht, vanLaack zu verkaufen, wenn vanLaack gewünscht wird. „Wenn dem so wäre, würden wir das Produkt ja nicht in unserem Sortiment führen.“ Nur, sagt Thomas Knoerich, „wir dürfen von einem hoch bezahlten Niederlassungsleiter schon erwarten, dass er zu Überzeugungsarbeit fähig und dazu auch bereit ist. Er muss selber erkennen, wann es sinnvoll ist, dem Kunden einen Alternativvorschlag oder einen ergänzenden Vorschlag zu

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

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unterbreiten. Wir bezahlen unsere Niederlassungsleiter als Vertriebsleiter vor Ort nicht dafür, die Ware zur Kasse zu tragen, dem Kunden Geld abzunehmen und auf Wiedersehen zu wünschen. Wir wollen, dass unsere Verkäufer verkaufen und nicht verteilen.“ Knoerich hat Recht. Das probate verkäuferische Vorgehen in dem beschriebenen authentischen Fall könnte zum Beispiel so aussehen, dass der Verkäufer seinem Kunden nahelegt, ergänzend auch einmal das SØR-Hemd auszuprobieren. Dabei sollte der Verkäufer deutlich machen, welche Produkteigenschaften die beiden Hemden gleichermaßen auszeichnen und welche sie unterscheiden. Er hätte dem Kunden erklären können, dass zu der Hose x oder dem Anzug der Farbe y und der Figur des Kunden ein Hemd dieses oder jenes Kragenstils dieser oder jener Farbe womöglich noch besser passt und er einfach einmal die unterschiedlichen Qualitäten, Farben, Kombinationen etc. austesten sollte. Es wäre toll, wenn der Kunde dann, wenn es nicht zu viele Umstände macht, bei Gelegenheit die Zeit fände, ihm mitzuteilen, welche Erfahrungen er mit den beiden Hemden gemacht habe. Denn für ihn als Verkäufer sei nichts wichtiger, als ein qualifiziertes Feedback von einem qualifizierten Kunden zu bekommen … Um die Verkäufer vor Ort stärker zu motivieren, auch tatsächlich so zu agieren, hat das Unternehmen beschlossen, flankierend zu den regulären umsatzorientierten Boni spezielle Zusatzboni für verkaufte Artikel des eigenen Private Labels zu zahlen. Eine noch sorgfältigere Personalauswahl und noch bessere Verkäuferschulung ergänzen dieses Programm. „Interessen aufspüren“ bedeutet nicht, ihnen sklavisch zu folgen Unser Beispiel zeigt aufs Neue, dass das Aufspüren von Interessen, wofür wir in diesem Buch als erster mittelständischer Schlüsseltugend plädieren, nicht mit blindem Nachgeben verwechselt werden darf. Es gibt vordergründige und hintergründige Interessen. Und nur, wenn der Unternehmer die hintergründigen, neusprachlich auch als „Metainteressen“ bezeichneten Interessen begreift, in unserem Beispiel wäre das der simple Verkäuferwunsch, viel zu verkaufen, ist er in der Lage, sein Unternehmen so zu führen, dass alle beteiligten Schlüsselinteressen mitziehen, anstatt zu blockieren. Dieses Metainteresse darf allerdings nicht einfach unterstellt werden – nach dem Motto: „Ich weiß schon, was Sie eigentlich wollen.“ Hier geht es nicht um Manipulation, sondern darum, Mitarbeitern einen Weg zu zeigen, wie ihr Interesse, viel zu verkaufen, mit dem Unternehmerinteresse, die Hausmarke nicht zu kurz kommen zu lassen, zusammen gehen kann.

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Der Unternehmer und sein Unternehmen

Das Beispiel der SØR-Verkäufer zeigt zweitens wunderbar plastisch, dass in einem mittelständischen Unternehmen alles mit allem nicht nur auf ExcelSheets und Power-Point-Folien zusammenhängt, wie in Großunternehmen, sondern für die Betroffenen unmittelbar erlebbar wird: Weil der seine Unabhängigkeit liebende Unternehmer Thomas Rusche es sich nicht leisten will, seine Endkunden mit breit streuender Print-, Hörfunk und TV-Werbung zu konfrontieren, muss er einen Weg finden, die Eigenmarke über eine längere Zeitstrecke ohne Riesenwerbeaufwand zu „pushen“. Sein Verkaufsleiter muss verstehen, warum seine Verkäufer das nicht gut finden. Anschließend muss er Überzeugungsarbeit leisten und dann auch noch punktgenaue Qualifizierungsmaßnahmen durchführen, die diese Blockade überwinden. Sein Verkaufsleiter muss dazu aber noch mehr tun: Er muss seinen Kollegen, den Einkaufsleiter, dazu bewegen für ihn zu arbeiten. Denn in einem Punkt haben die Verkäufer schon recht: Verkauf ersetzt keine Werbung.

Quelle: SØR Rusche GmbH Abbildung 45: Thomas Knoerich, Einkaufs- und Vertriebsleiter der SØR Rusche GmbH, will, dass die eigene Mode verkauft und nicht verteilt wird.

Tragetaschen In einem Großunternehmen wäre das Vorhaben, einen hierarchisch gleich gestellten Kollegen für sich arbeiten zu lassen, mit hoher statistischer Wahrscheinlichkeit ein „Selbstmordkommando“. In dem mittelständischen Haus SØR Ru-

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sche ist es dies nicht. Es ist deswegen kein Harakiri-Unterfangen, weil der Herr Einkaufs- und der Herr Verkaufsleiter ein- und dieselbe Person sind. Knoerich musste also nur sich selbst überzeugen, was deutlich einfacher war. Worum ging es? Flankierend zur Sortimententwicklung und Filialexpansion mussten kostengünstige Wege gefunden werden, das eigene Label publik zu machen. Neben dem Direktversand von Katalogen und Faltblättern – Maßnahmen, die das Unternehmen erfolgreich zur Bindung von Bestandskunden betreibt, suchten Rusche und Knoerich nach Instrumenten, um Neukunden nicht nur kostengünstig in die eigenen Geschäfte zu bewegen, sondern auch zum Erwerb von Produkten des eigenen Labels zu animieren. Die Mittel der Wahl waren eine opulente Schaufenstergestaltung und – Tragetaschen. Die Herausforderung: Die Taschen sollten möglichst nichts kosten. Der Einfall: SØR bietet Markenanbietern, deren Artikel im Hause SØR vertrieben werden, an, sich im Huckepack auf die Plattform der SØR-Tragetaschen zu begeben und an Design und Produktion der Taschen zu partizipieren. Zunächst, berichtet Thomas Rusche, gab es natürlich große Widerstände: „Warum sollen wir Eure Werbung bezahlen? Das sind hohe fünfstellige Beträge“, hieß es. Rusche konterte mit dem Gegenargument: „Wenn ihr nicht bei uns werben wollt, dann müsst ihr es woanders tun. Eure Streuverluste wären exorbitant. Bei uns seid ihr direkt an Eurer Zielgruppe. Es gibt keinen besseren Werbeplatz für Euch.“ Das Argument überzeugte schließlich, der Interessensgegensatz – wer zahlt? – löste sich in Luft auf. Genau diese Marketingmacht, die enorme Nähe des Unternehmens zu den schwer zugänglichen wohlhabenden deutschen Herren irgendwo zwischen Bielefeld und Berlin, Minden und München, Keitum und Köln, in Oelde, Oldenburg und Osnabrück macht die besondere Attraktivität des Unternehmens für seine Zulieferer aus. Der Charme dieser Maßnahme ist ein vielfacher: Sie kostet fast nichts, sie stellt Produkte der eigenen Hausmarke in den Kontext bekannter, von SØR vertriebener Spitzenmarken, sie bietet den Lieferanten ein sehr attraktives kundennahes Werbemedium, sie ist Produkt- und Unternehmenswerbung in einem … Auch dieses Beispiel zeigt, dass dem Aufspüren von Interessen keineswegs das sklavische Befolgen der Interessenartikulation folgen darf. Es zeigt aber noch etwas: Für das Bewegen eines scheinbar entgegengesetzten Interesses in die von mir gewünschte Richtung ist keine Manipulation erforderlich. Benötigt werden Ideenreichtum, gute Argumente und eben vor allem die Bereitschaft, andere Interessen gut zu verstehen. Warum um alles in der Welt sollen meine Lieferanten meine Werbung bezahlen? Zwingen kann ich sie nicht, dazu bin ich nicht mächtig genug. Aber überzeugen kann ich sie dadurch, dass ich ihnen deutlich

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Interessen aufspüren

mache, dass sie auf meiner Plattform besser und preiswerter werben als auf jeder anderen. Es ist auch Mut oder Chuzpe erforderlich, das vordergründig „Unverschämte“ an den Lieferanten zu bringen. Auch das ist eine mittelständische Tugend.

5.2 Interessen aufspüren 5.2.1 Das eigene Interesse: Abschied von den „Einheitsbedingungen“ „10 Tage, 4 %“ – so lautete über Jahrzehnte das Diktat der deutschen Textilindustrie an den textilen Einzelhandel. Die stenographische Formel sitzt noch heute vielen textilen Einzelhändlern in den Knochen. Und viele sind noch immer von ihr betroffen. Am 1. Januar 2002 werden die zuletzt im Jahr 1998 überarbeiteten „Einheitsbedingungen“ zwar novelliert. Die Änderungen betreffen jedoch nicht das Herzstück der Bedingungen, die Zahlungs- und Liefermodalitäten. In §7, Abs.2 der „Einheitsbedingungen heißt es: „Rechnungen sind zahlbar „ innerhalb von 10 Tagen nach Rechnungsstellung und Warenversand mit 4 %

Eilskonto, „ ab 11. bis 30. Tag nach Rechnungsstellung und Warenversand mit 2,25 %

Skonto, „ ab 11. bis 30. Tag nach Rechnungsstellung und Warenversand netto.“

Ab dem 61. Tag tritt Verzug gemäß § 286 II Nr. 1 BGB ein. Absatz 4 ergänzt dann noch einige mildere Alternative für solche Einzelhandelskunden, die sich für „mindestens ein Jahr“ an die entsprechende Alternativkondition binden: Rechnungen ab

Zu begleichen mit 4% Skonto am

Zu begleichen mit 2,25% Skonto am

Zu begleichen netto am

1.10 eines Monats

15. d. gleichen Monats

5. d. nächsten Monats

5. d. übernächsten Monats

11. - 20. eines Monats

25. d. gleichen Monats

15. d. nächsten Monats

15. d. übernächsten Mts.

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Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

Rechnungen ab

Zu begleichen mit 4% Skonto am

Zu begleichen mit 2,25% Skonto am

Zu begleichen netto am

21. – ultimo eines Monats

5. d. nächsten Monats

25. d. nächsten Monats

25. d. übernächsten Mts.

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 46: Modifizierte Zahlungskonditionen der Einheitskonditionen

Die Vertragspartner dieser „Einheitskonditionen“ empfehlen Industrie und Handel noch im August 2006 diese „unverändert“ als Grundlage „bei der Order für die Zahlungs- und Liefermodalitäten der deutschen Textilwirtschaft“ zu verwenden, denn die Konditionen stellten „einen fairen Ausgleich zwischen den Interessen von Industrie und Handel dar“ und minimierten „den Verhandlungsaufwand bei der Auftragsvergabe“. Der Bundesverband des Deutschen Textileinzelhandels e.V., BTE, Köln übernimmt diese Formulierungen wörtlich in seine Empfehlungen an die Mitgliedsverbände. Dem textilen Einzelhändler Thomas Rusche dagegen waren die Einheitsbedingungen seit jeher ein Dorn im Auge. Er hatte sich eine konsequente Bilanzverkürzung, eine Verdoppelung der Eigenkapitalquote und eine signifikante Verbesserung der Liquidität auf die Fahnen geschrieben. Mit den „Einheitsbedingungen“ war das nicht zu schaffen, denn diese halten in §3 fest: „Kommissionsgeschäfte werden nicht getätigt“. Am besten ist es, dachte sich Rusche, ich binde mein Kapital überhaupt nicht an Verkaufsware. Genau dieses Interesse verfolgte daher das Triumvirat Thomas Rusche, Thomas Knoerich und Christoffer Siebert, der kaufmännische Leiter. Sie nannten das Anliegen PWS – „pay when sold“ – erst zahlen, nachdem die Ware verkauft worden ist. Rusche & Co. sind nicht die Erfinder dieses Konzeptes. Aber sie zählen mit ihm zu den Pionieren ihrer Branche. Und sie mussten und müssen noch immer sehr glaubwürdige Überzeugungsarbeit leisten. Denn warum sollten die „mächtigen“ Lieferanten dieses Spiel mitspielen?

200

Ziel definieren

5.2.2 Das Lieferanteninteresse: Zutritt in Deutschlands Provinz In Frankreich genügt es, in Paris präsent zu sein. Im Vereinigten Königreich reicht das Geschäft in London. In Spanien genügen Madrid und Barcelona, in Italien Mailand, Rom und Florenz. In Deutschland reicht dies nicht. Das „große Geld“ sitzt hierzulande nicht nur in Berlin, Hamburg oder München, sondern auch in Köln, Frankfurt und Düsseldorf. Mindestens das „kleine Geld“ sitzt außerdem auch in Oldenburg, Oelde, Osnabrück und Regensburg. Dieses Alleinstellungsmerkmal der Bundesrepublik Deutschland machte die SØR Rusche GmbH zu ihrem Kapital. Denn das aus der westfälischen „Provinz“ stammende Unternehmen expandiert nicht allein oder primär in die Metropolen, sondern vor allem in die Submetropolen und regionalen Oberzentren. Dort mag die Provinz zu Hause sein, aber die Provinz hat Geld und ihr Stil orientiert sich mehr und mehr an dem der Oberzentren der internationalen Mode: Paris, Mailand, Florenz, Barcelona und natürlich London. Und auch da ist SØR zu Hause – mit dem Einkauf. Ausländische Markenartikler von AVON CELLI bis VALSTAR kommen mit den dezentralen Strukturen Deutschlands schwer zu Rande. Denen kann Thomas Rusche helfen, weil er, außer in den Metropolen, eben auch in der Provinz zu Hause ist und dort die kaufkräftige Klientel erreicht. SØR positioniert sich als deutscher Markt- bzw. Marktsegmentführer im Premiumsegment der Herrenausstatter. Aber dies ist nicht das wahre „Asset“ des Unternehmens, sagt Thomas Rusche. Der einzigartige Wert unseres Unternehmens ist „unsere Torwächterrolle an der Schwelle zur kaufkräftigen deutschen Provinz. Wer als TopMarkenlieferant nur Berlin, Hamburg, München, Frankfurt, Köln und Düsseldorf anpeile, lasse substanzielle Kaufkraft links liegen. Und wer das im HerrenPremiumsegment als Hersteller nicht wolle, der komme an SØR nicht vorbei.

5.3 Ziel definieren Kann es sich Thomas Rusche leisten, das in den Einheitsbedingungen manifeste „Lieferantenkartell“ der Industrie dank dieser Ventilfunktion seines Unternehmens mir nichts dir nichts aufzubrechen? Kann er den Spieß umdrehen? Soll die Industrie nun am Gängelband des marktmächtigen Handelsunternehmens SØR Rusche GmbH gehen? Sinngemäß vielleicht so: „Ab sofort, liebe Lieferanten,

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bezahlen wir Euch erst, nachdem wir verkauft haben. Wenn Euch das nicht gefällt, dann lasst es bleiben! Ihr wollt in die kaufkräftige deutsche Provinz? Dann haltet Euch an unsere Spielregeln!“ Martialisch veranlagten Einkäufernaturen vom Stamme der Krieger eines José Ignacio López mag da ein wohliger Schauer den Rücken hinunterlaufen. Thomas Knoerich und seinem Chef Rusche wäre ein solches Vorgehen nie in den Sinn gekommen. Es wäre auch außerordentlich unklug gewesen. Langjährige wertvolle Lieferanten hätte man so vollkommen unnötig vor den Kopf gestoßen, das kostbare Porzellan des Vertrauens wäre zerschlagen. Auch gibt es in der Tat wichtige und mächtige SØR-Lieferanten, die sich bei einem so rabiaten Vorgehen Kopf und Achsel schüttelnd von der Lieferadresse SØR Rusche GmbH verabschiedet hätten, weil sie dorthin nicht liefern müssen. Nein, Rusche und Knoerich war immer klar, dass sie ihre strategische Torwächterrolle zwar geaber nicht missbrauchen durften.

Quelle: SØR Rusche GmbH Abbildung 47: Die Marke als Gatekeeper

Der Wechsel von den Einheitsbedingungen zu den PWS-Bedingungen musste ein allmählicher sein. Sie setzten sich daher im Jahr 2000 nach intensiver und keineswegs immer sofort einvernehmlicher Rücksprache mit den meisten wichtigen Lieferanten zum Ziel, „ die Zahl der Bestandslieferanten, die sich dem PWS-Verfahren anschließen,

jährlich um zehn Prozent zu erhöhen, „ die Vorteile des PWS-Verfahren für den Lieferanten in den Mittelpunkt der

Jahresgespräche zu stellen und für das Verfahren zu werben, anstatt es zu diktieren,

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Weg ableiten

„ neue Zulieferer in der Regel nur im PWS-Verfahren liefern zu lassen, „ Ausnahmen, zumal kleine und kleinste High End-Zulieferer zuzulassen, die

vom PWS-Verfahren aus Cash-Flow-Gründen dispensiert werden, „ den Lieferantenrahmen bis zum Jahr 2010 von 300 auf 50 zu reduzieren.

Revolutionär an Rusches Vorgehen war, aufs Ganze gesehen, nicht der Mut, den Einheitsbedingungen den Kampf anzusagen und auch nicht der Wille, das PWSKonzept durchzusetzen. Revolutionär war die Entscheidung, die Lieferanten offen und ehrlich mit diesem PWS-Konzept zu konfrontieren, obwohl es vordergründig gegen sie alle und tatsächlich gegen viele von ihnen gerichtet war.

5.4 Weg ableiten 5.4.1 Methode und Kreativität widersprechen sich nicht Thomas Rusche, Thomas Knoerich und Christoffer Siebert wollen also die Zahl ihrer Bestandslieferanten, die sich dem PWS-Verfahren anschließen, jährlich um 10 Prozent erhöhen. Sie wollen die Gesamtzahl der Lieferanten bis 2010 von 300 im Jahr 2000 auf 50 reduzieren, um intensiver mit ihnen kommunizieren zu können und einen stärkeren bzw. längeren Einkaufshebel zu haben. Neue Lieferanten sollen grundsätzlich nur als PWS-Lieferanten eine Chance bekommen. Natürlich wollen sie die beste Produkt- und Servicequalität sicherstellen. Diese spezifischen Einkaufsziele ändern nichts daran, dass die Einkaufsprozesse im Hause SØR i m m e r einem gleichen Standardvorgehen folgen – egal wie die Ziele aussehen. Ein methodisches, standardisiertes Vorgehen führt Sie nicht zu einem routinemäßigen, phantasielosen Abhaken der gestellten Aufgaben. Nur der methodisch immer gleiche Standardrahmen verschafft Ihnen den Freiraum für kreatives Handeln und intelligentes Ausnutzen der Spielräume. Die Art und Weise, wie Sie Ihren Plan erfüllen, also den vorgezeichneten Weg beschreiten, wurde durch Ihre Partner und Sie selbst vorgegeben. Dennoch sollten Sie sich entlang eines methodischen Pfads bewegen, der vollkommen unabhängig davon ist, welche Ziele Sie und Ihre Partner gewählt haben und wie Sie diese Ziele erreichen wollen.

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

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Die erste Phase: Vom Kontakt zum Lead Thomas Knoerich besucht bis zu einem Jahr vor der jeweils kommenden Frühjahr/Sommer- bzw. Herbst/Winter-Saison Messen, Fachveranstaltungen, lässt sich von Agenten, Handelsvertretern, bereits kontrahierten und potenziellen Zulieferern besuchen und sucht diese auch selber auf. Insbesondere begibt er sich in die Modemetropolen London, Mailand, Florenz, Barcelona und Madrid. Dort „scannt“ er die Trends anhand des Auftritts der „Ton angebenden Herren“. Im informellen persönlichen Dialog mit alten Fachbekanntschaften zerlegt er diese, diskutiert und analysiert sie, bis ihm die modischen Interessen seiner Kunden als Trends der kommenden Saison transparent vor Augen stehen. Dies ist die Kontaktphase. Im nächsten Schritt erstellen Knoerich und seine Assistenten eine aus 300 einzelnen „Sortimentspunkten“ vom Sakko bis zum SØR-Strumpf, vom Anzug bis zum Regenschirm zusammengesetzte Sortimentsliste. Diese Liste entspricht dem Präqualifizierungsbogen der Verkäufer, denn anhand dieser Liste und des Supplier Ratings der Bestandskontakte wird nun geprüft, welcher Bestandslieferant oder welcher Lieferkontakt für welche Sortimentspunkte als Kontakt überhaupt in Frage kommen kann. Wohlgemerkt: Es wird an dieser Stelle noch nicht die Qualifikation des Lieferantenkontaktes für einen konkreten Sortimentspunkt geprüft. Es wird lediglich geprüft, welche Lieferkontakte grundsätzlich für einen bestimmten Sortimentspunkt in Frage kommen. Dies ist die Präqualifizierung und erste Sollbruchstelle. Diese Vorprüfung kann weitgehend standardisiert durchgeführt werden und verlangt weniger Einkaufserfahrung als Prozess-Sicherheit. Die Präqualifizierung ist ein Routineprozess. Diese Aufgabe ist daher eine klassische Assistententätigkeit und wird auch bei SØR Rusche von qualifizierten Assistenten wahrgenommen. Bei der hohen Zahl zu prozessierender und auszufilternder Kontakte und bei der hohen Wahrscheinlichkeit, dass der Kontakt an einer Sollbruchstelle als Lead aus dem Rennen geworfen wird, wäre alles andere Zeit- und Geldvernichtung. Die zweite Phase: Vom Lead zum Interessenten Ist eine Vorauswahl in Frage kommender Lieferanten für jeden Sortimentspunkt oder die Warengruppe getroffen worden, wird vor Ort, im Hause des Lieferanten, das Zweitgespräch gesucht. Dieses Zweitgespräch entspricht der Bedarfsanalyse im Vertrieb. Ziel des Zweitgespräches ist es herauszufinden, welche Interessen der „Liefer-Lead“ hat, worum es ihm geht, was er warum in welcher Menge an SØR zu welchen mutmaßlichen Konditionen verkaufen will. Umgekehrt möchte der Supplier natürlich herausbekommen, was SØR warum zu

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Weg ableiten

welchen mutmaßlichen Konditionen einkaufen will. Dieses Gespräch findet unter klausurähnlichen Rahmenbedingungen statt. Eine gute Vorbereitung ist wichtig. Höchste Konzentration ist erforderlich, die richtige Fragetechnik will zum rechten Zeitpunkt angewandt sein, damit sich die Sache lohnt. Es geht immerhin darum, die tatsächlichen Interessen des Gegenübers kennen zu lernen. Wie bei der Bedarfsanalyse des Verkäufers auch, geht der geübte Einkäufer dabei geschickt vor. Er stellt keine geschlossenen Fragen, auf die es dann nur ein mehr oder weniger affirmatives „Ja“ bzw. ein mehr oder weniger bestimmtes „Nein!“ geben kann, sondern offene Fragen. Er lässt den Zulieferer berichten und erzählen, um so die Authentizität der Aussagen einschätzen zu können. Er wird natürlich auch Kontrollfragen stellen, im Unternehmen des künftigen Zulieferers anrufen usf. Diese Fragen sind keine K.o.-Fragen. Aber sie vermitteln ein scharf konturiertes Bild über die Interessenlage des Lieferanten und die Intensität, mit der man sich gegebenenfalls vertraglich an diesen Lieferanten binden kann. Wie im Vertrieb sollte man auch im Einkauf unter keinen Umständen den Lieferanten-Lead verhören, ins Gebet nehmen, ihn Prüfungsstress aussetzen oder eben mit geschlossenen Fragen traktieren. Denn dann erfährt der Einkäufer mit hoher Wahrscheinlichkeit nur, was der Lieferant glaubt, sagen zu müssen, um ins Geschäft zu kommen.

Musterprozess Verkauf

Einkauf Kontaktgenerierung Ziel: Viele Kontakte Kontakt Präqualifizierung Ziel: Qualifizierte Kontakte Lead

Bedarfsanalyse Ziel: Lieferfähiger/angebotswürdiger Interessent Interessent Angebot + Verhandlung Ziel: Lieferant/Kunde Kunde

Lieferant Prozessanalyse Ziel: Verbesserung

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 48: Die generischen Einkaufs- und Vertriebsprozesse sind identisch

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

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Nach diesen Gesprächen begeben sich Knoerich und sein Team ein weiteres Mal in Klausur, diesmal inhouse, ohne den „Liefer-Lead“. Erneut treffen wir hier auf eine Sollbruchstelle. Die Frage lautet: Kommt der „Liefer-Lead“ als Lieferinteressent in Frage? Diese Frage kann nur dann positiv beantwortet werden, wenn klar und – bei einem neuen Lieferanten auch sicher – ist, dass er fähig und bereit ist, den betreffenden Sortimentspunkt bzw. die Warengruppe zu den Mindestkonditionen, die SØR Rusche stellt, zu liefern. Die letzte Phase: Vom Lieferinteressenten zum Lieferanten Im Vertrieb ist die Erstellung der Angebote auf Basis der Bedarfsanalyse ein eigener separater Schritt. Wir haben im vierten Kapitel ausführlich beschrieben, wie der qualifizierte Verkäufer auf Basis der Ergebnisse der Bedarfsanalyse als „Negativfilm“ seinen „Angebotsfilm“ entwickelt. Was aber tut der Einkäufer? Welches Pendant gibt es dazu im Einkauf? Knoerich entscheidet, wozu er den eben von ihm vom „Liefer-Lead“ zum „Liefer-Interessenten Beförderten akquirieren möchte: Als Category Captain oder, nur probeweise, als „C-Lieferanten“. In Abhängigkeit davon faxt er sein Einkaufsgebot. Bereits aus der Bedarfsanalyse ist Knoerich klar geworden, was der Lieferinteressent will und welches Potenzial er für SØR Rusche besitzt. Das Kaufgebot ist daher, genau wie beim Verkäufer in dieser Gebotsphase auch, eine vergleichsweise simple Übung. Zu guter Letzt müssen natürlich beide Seiten zueinander kommen. Das Feintuning findet meist telefonisch statt. Hier gibt es keine wirkliche Sollbruchstelle, denn der Einkäufer ist qualifiziert und weiß aus der Bedarfsanalyse längst, was das Verhandlungslimit des Verkäufers überschreiten würde. Im Verkauf ist diese letzte Phase durchaus noch eine Sollbruchstelle. Nur jedes dritte – qualifizierte – Angebot führt nach unseren statistischen Berechnungen zu einem Abschluss. Doch dies liegt daran, dass auf Käuferseite im Regelfall keine professionellen Einkäufer sitzen, sondern Abteilungen und Spezialisten, die von der Ökonomie und Effizienz eines prozessualen, stringenten Einkaufsvorgehens mit klar definierten Sollbruchstellen noch nie etwas gehört haben. Der Dialog zwischen industriellem Verkäufer oder Key Accounter und Einzelhandels-Einkäufer ist dagegen meistens ein durch und durch professioneller. Das Schöne an der Parallelität der Einkaufs- und Verkaufsprozesse ist bei unserem Beispiel, dass im textilen Geschäft jeder gute Verkäufer, auf den unser Einkäufer Knoerich trifft, mehr oder minder explizit nach diesem Prozessmodell vorgeht. Daher treten wenige Abstimmungsschwierigkeiten zutage. Außerdem kann ein guter Einkäufer an der Art und Weise des Vorgehens des Verkäufers schnell ablesen, wes Geistes Kind dieser ist, welcher „Verkaufsschule“ er ange-

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Weg ableiten

hört, wie seriös sein Pendant vorgeht. All dies hilft ihm als jahrzehntelang geübtem Einkäufer, sich ein präzises Bild seines Gegenübers zu machen. Natürlich darf er aber aus schlechten Verkäufern, die es in den meisten Unternehmen leider auch gibt, nicht 1:1 auf einen potenziell schlechten Lieferanten schließen. Und umgekehrt kann ein guter Verkäufer keineswegs die Gewähr dafür bieten, den Repräsentanten eines guten Zulieferers vor sich zu haben. Daher sind eben im Rahmen der Bedarfsanalyse auch Desktop-Recherchen erforderlich und Interviews mit anderen Repräsentanten des Unternehmens ebenso. Ein wichtiges Indiz ist die Qualität des vertrieblichen Vorgehens des Verkäufers allemal. Wie lassen sich nun auf der Folie des oben beschriebenen Standardvorgehens die spezifischen Ziele der SØR Rusche GmbH und die Wegmarken erreichen?

5.4.2 Kooperatives vs. konfrontatives Einkaufen In der Fachliteratur werden zwei grundsätzliche Einkaufsstrategien unterschieden: die konfrontative und die kooperative. Es heißt, der „Erfolg“ dieser Strategien hänge von der generellen Wettbewerbsstrategie des Unternehmens ab, in welche die Einkaufsstrategie eingebettet sei. Verfolge ein Unternehmen das Ziel, sich als Preisführer zu positionieren, müsse es eine konfrontative Einkaufsstrategie verfolgen. In diesem Falle sei der günstige EK-Preis der entscheidende Erfolgsfaktor für das Unternehmen. Mit konfrontativer Strategie wird eine Form des Lieferantenumganges bezeichnet, die, neben der Preisfokussierung als primärem Auswahlkriterium, den Preiswettbewerb unter den Lieferanten mobilisiert, Investitionen in die Lieferantenbeziehung auf ein Minimum beschränkt und in der Konsequenz von hoher Lieferantenfluktuation gekennzeichnet ist. Umgekehrt sei im textilen Einzelhandel bei einer Wettbewerbsstrategie, „welche ein hohes Qualitätsniveau bei gleichzeitigem schnellem Kollektionswechsel vorsieht, eine partnerschaftliche Lieferantenstrategie angemessen. Zur Generierung von Wettbewerbsvorteilen werden gemeinsame Prozessverbesserungen und Investitionen in die Supply Chain durchgeführt.“ Die hohen Anforderungen dieser Strategievariante führten zu einer engen Bindung der Prozessbeteiligten.21 Die eben skizzierte Alternative hält der tatsächlichen Unternehmenswirklichkeit nicht stand. Die einzige Lieferantenstrategie, die, unabhängig von der Unternehmensstrategie, dauerhaft Erfolge zeitigt, folgt dem SØR-Rusche-Prinzip „Hart aber fair!“. Gemeint ist damit, dass qualifizierte, sorgfältig nach dem Wertschöpfungsbeitrag für ihren Abnehmer ausgesuchte Lieferanten in ihrem eigenen unternehmerischen Erfolgsstreben unterstützt werden. Dabei spielt eine

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

207

spezifische Unternehmensstrategie keine Rolle, denn jede gute Unternehmensstrategie basiert auf guten Produkten und jedes gute Produkt hängt unter anderem auch von guten Lieferanten ab.

5.4.3 Vertrauen als Fundament der Sortimentsqualität Was genau bedeutet „Hart aber fair!“? Thomas Rusche sagt: „Wir spielen nicht das Auslistungsspiel.“ Gute Lieferanten, die es sich aufgrund ihrer Unternehmensgröße nicht leisten können, „ am PWS-Verfahren zu partizipieren, „ die von SØR angebotene elektronische EDI-Infrastruktur zu nutzen, „ SØRs Warenwirtschaft mit eigenen logistischen Services wie der Just-in-

time-Belieferung der SØR-Flächen mit ihrer Ware zu unterstützen, werden deshalb nicht automatisch ausgelistet. Jenseits der Preis- und Konditionenverhandlungen hat sich zwischen dem Team des Einkäufers Knoerich und seinen Zulieferern ein Klima des wechselseitigen Vertrauens eingestellt. Knoerich: „Was uns von den meisten Wettbewerbern in punkto Lieferantenumgang unterscheidet, ist die hohe Intimität des Umganges mit ihnen und das Vertrauen, das wir bei ihnen genießen.“ Jedes Jahr fährt der Einkäufer betont informell nach Mailand, Florenz, London und Barcelona, um sich mit SØR-Lieferanten über Modetrends auszutauschen: „Wir kennen uns seit Jahrzehnten. Wir sind ein informeller Club. Weil wir uns frühzeitig austauschen, weil die Kommunikation keine Einbahnstraße ist, deswegen können wir als SØR Rusche GmbH an der Entstehung der Mode mitwirken. Wir entscheiden nicht erst bei der Kollektionen-Auswahl darüber, was wir verkaufen, sondern schon viel früher, bei der Kollektionenentstehung. Das ist in unserem Marktsegment mit unserem modischen Sendungsbewusstsein wesentlich für den Geschäftserfolg.“ Andere, größere Modeunternehmen und Handelshäuser hetzen jedes Jahr ganze Heerscharen von Mode-Scouts über die Boulevards der Modemetropolen. Ihr Auftrag: die Trends abscannen, erahnen und an die Zentrale übermitteln. „Das alles können wir nicht. Aber wir brauchen das auch nicht.“ Das Vertrauen, das Knoerich und Rusche genießen, ist sicherlich auch ihrer Marktposition und ihrem Erfolg geschuldet. Aber das sind keine hinreichenden Quellen. Erfolg und strategische Macht nötigen Respekt ab. Sie schaffen für sich genommen noch kein Vertrauen. Was – in diesem Verbund mit Macht, Erfolg und Kompetenz – wirklich Vertrauen stiftet, ist die Ehrlichkeit, mit der die eigenen Interessen kommuniziert werden, ohne die legitimen Interessen der anderen Seite zu marginalisieren. Das ist prototypisch mittelständisch.

208

Weg ableiten

5.4.4 Supplier Rating Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Blindes Vertrauen kann sich ein Unternehmen mit dem Qualitätsanspruch der SØR Rusche GmbH nicht leisten. Voraussetzung für das Vertrauen in den Lieferanten ist seine Qualität. Qualität kann sich ändern, zumal Qualität in diesem Zusammenhang eine relative Größe ist – bezogen auf die ebenfalls Wandlungen unterworfenen Geschäftsprozesse und Qualitätsanforderungen des eigenen Hauses. Knoerich und sein Team evaluieren jedes Jahr aufs Neue die Lieferanten. „Supplier Ratings“ sind in der Branche gang und gäbe. Das SØR-Rating unterscheidet sich jedoch von vielen oder den meisten anderen dadurch, 1. dass aus einer Herauf- oder Herabstufung tatsächlich Modifikationen der Zusammenarbeit und der Konditionen erfolgen, 2. dass mit den Lieferanten Gespräche darüber geführt werden, worauf die Bewertung beruht und was aus Sicht von SØR getan werden kann, damit im Folgejahr wieder ein höheres Rating möglich wird. Lief.

PWS total

a

+

b c

PWS z.T.

o -

Ȉ

HSP 70

Abverkauf 70

Logistik

Qual./ Innov.

Fairness Image

+

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o

+

5

+

O

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+

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3

+

+

o

o

o

o

1

Abbildung 49: SØR Rusche GmbH: Anonymisierter Auszug des Supplier Ratings

„Im Ergebnis führt das dazu, dass uns niemand etwas vormacht, was wir natürlich trotzdem stichprobenweise prüfen. Es führt außerdem dazu, dass wir nicht als Kontrollbehörde, sondern als Partner wahrgenommen werden, den man ernst nimmt, weil er keine bösen Absichten im Schilde führt.“ Das Ratingverfahren trägt im Wesentlichen folgenden Bewertungsdimensionen Rechnung: „ modische Kompetenz „ Qualität der Vorstufe, also der gelieferten bzw. verwendeten Stoffe/Materialien „ wirtschaftliche Belastbarkeit/Stabilität „ abgenommenes Volumen

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

209

„ logistische Kompetenz „ Flexibilität „ Termin- und Liefertreue „ Servicequalität und Kooperationsbereitschaft „ Nutzungsgrad und -fähigkeit der bereitgestellten Infrastrukturen für den

elektronischen Datenaustausch (EDI). Diese Einzelbewertungen werden summarisch in der oben stehenden Tabelle (Abbildung 49) zusammengefasst und zu einem Gesamtbefund zusammengezogen. Aus dem Rating ergibt sich, ob der Lieferant Lieferant bleiben kann, ob im Rahmen der Jahresgespräche dringende, mit einem Zeitlimit versehene Verbesserungserwartungen artikuliert werden müssen oder ob es für beide Partner lohnt, durch Verbesserungen der Qualität, Innovationskraft, Logistik, des Images etc. ein Upgrade zu erlangen. Je positiver der Befund, desto intensiver gestaltet sich die Zusammenarbeit mit dem Lieferanten und desto attraktiver sind die Konditionen.

5.4.5 Lieferantenrahmen Als Einkaufs- und Verkaufsleiter Thomas Knoerich im Jahr 2000 als Steuermann neben Kapitän Thomas Rusche auf die Kommandobrücke der Oelder „SØRvice-Zentrale“ trat, umfasste der damalige Lieferantenstamm rund 300 Lieferanten. Im Jahre 2004 führte das Unternehmen 101 Lieferanten im Zuliefererportfolio. Zu Beginn des Jahres 2007 waren es rund 60. Knoerich: „Wir werden noch weiter straffen. Mit unserer fairen aber stringenten Verhandlungsstrategie wird es uns gelingen, deutlich früher als geplant unsere ursprünglich erst für 2010 vorgesehene Sollzahl von 50 Lieferanten zu erreichen.“ Was das Unternehmen SØR Rusche GmbH von den meisten Wettbewerbern des textilen Einzelhandels in diesem Punkt unterscheidet, ist die Radikalität und der Mut, mit denen zu Werke geschritten wird. Die Straffung des Lieferantenrahmens um 10 bis 20 Prozent – so etwas ist überall an der Tagesordnung. Denn es schmerzt nicht. Es kostet den Einkauf keine Überwindung, wirklich schlechten Lieferanten den Laufpass zu geben. Es ist etwas ganz anderes, am Ende weniger als ein Fünftel des einstmaligen Lieferantenstammes zu behalten, zumal dann, wenn praktisch alle auf der Plattform bleiben wollen und kaum einer schlecht ist. Wer diese Energie und diesen Mut aufbringt, der muss wissen, wozu er das tut. Denn Unterstützung bekommt er bei einer so unangenehmen Aufgabe nirgends.

210

Weg verfolgen

Mithilfe dieser drei spezifischen Instrumente – vertrauensvoller Lieferantenumgang, qualifiziertes und konsequentes aber faires Lieferantenrating und ebenso konsequente, drastische Verkürzung des Lieferantenrahmens – „bespielt“ Knoerich sein methodisches Leitmotiv. Kommt er damit wirklich ans Ziel?

5.5 Weg verfolgen 5.5.1 Vertikale Vorbilder als Orientierungsbojen Wenn im textilen Einzelhandel von Supply Chain Management (SCM) die Rede ist, dann wird immer von „Vertikalisierung“ gesprochen. Und wenn von Vertikalisierung die Rede ist, dann fällt meist noch im selben Atemzug der Name des spanischen Monolabel-Anbieter Zara. Was ist so vorbildlich an Zara? Es sind folgende drei Merkmale: 1. Bedarfsgerechte Produktion: Es wird genau das produziert, wonach in den Läden Nachfrage herrscht. In den Geschäften und Lägern stauen sich keine Ladenhüter, die nur per Abschlag unter die Leute gebracht werden können. Während im traditionellen textilen Einzelhandel x Prozent der Saison als Vororder bestellt werden – egal wie sich der Modetrend entwickelt – kann es sich der Vertikale leisten, nur einen Bruchteil dessen zu produzieren. Es kann ja jederzeit nachproduziert werden – modifiziert oder in der ursprünglichen Fassung, je nachdem, was die eigenen Kassen zu den Abverkäufen sagen. 2. Kurze „Leadtimes“: Der „Time-to-Market“ wird drastisch verkürzt, weil in der Zusammenarbeit bewährte, meist per Rahmenvertrag exklusiv gebundene kleine Nähbetriebe nach dem Design der Inhouse-Designer ruckzuck das und nur das produzieren, wonach gefragt wird. 3. Schlanke Strukturen: Da von der Order bis zur Distribution alle Schritte entlang der Wertschöpfungskette inhouse realisiert werden, entfallen redundante Verwaltungsstrukturen, die anderenfalls durch die Indienstnahme von Logistikdienstleistern etc. anfallen würden. Die korrekte Warenauszeichnung, Labels und Etiketten, werden vom „Produzenten“ angefertigt, der zugleich der „Verkäufer“ ist. Auch die Mühsal einer firmenübergreifenden IT-Lösung für den Austausch von Verkaufsdaten, Ordermengen etc. per Electronic Data Interchange (EDI) erübrigt sich, da wir es ja nur mit einer Firma zu tun haben.

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

211

5.5.2 Vertikalisierung bei SØR Kann ein Handelsunternehmen, dessen erklärte Mission es ist, als Türöffner zahlreicher internationaler Top-Markenanbieter zu den deutschen TopTextilkonsumenten zu fungieren, im oben skizzierten Sinne „vertikal“ aufgestellt sein? Sicherlich nicht. Dieses Ansinnen wäre ein Widerspruch in sich. Dennoch kann sich das Unternehmen darum bemühen, die Vorteile, die eine vertikale Struktur bietet, nach Maßgabe des Möglichen in die eigene Wertschöpfungskette zu übernehmen. Genau das tut die SØR Rusche GmbH. Darum geht es bei der Verfolgung eines markierten Weges. Sortiment, Warenwirtschaft, EDI Einkaufsleiter Thomas Knoerich: „Das Jahr hat 12 Monate, und von diesen 12 Monaten sind bei uns 12 Monate Einkaufsmonate. Ich nehme die traditionellen Begriffe Vororder, Nachorder, Flash-Order22, Depot-Order23 usw. nur sehr ungern in den Mund, weil sie unser Bestellwesen nicht annähernd zutreffend charakterisieren.“ Das Unternehmen bringt mehr und mehr Lieferanten dahin, ihre Ware just-intime auf Basis der Verkaufsdaten auf die Ladenflächen zu bewegen. Dazu wurde ein teures Electronic Data Interchange-System (EDI) implementiert, an das in absehbarer Zeit sämtliche Zulieferer angeschlossen werden sollen. So wird für eine punktgenaue Flächenbelieferung gesorgt. Sowohl für das Private Label als auch für die Fremdmarken gilt dann, dass die Zulieferer die volle Verantwortung für die Distribution aus ihren Lägern auf die Handelsflächen tragen. Knoerich: „Wir behalten uns selbstverständlich die Sortimentshoheit über unsere Flächen vor, werden aber zunehmend davon Abstand nehmen, vorab feste Ordervolumina zu vereinbaren. Konkret bedeutet das, dass ich mich mit meinen Lieferanten lange vor Saisonbeginn in Klausur begebe und mit ihnen bespreche, welche Sortimentspunkte unserer Gesamtkollektion in ihrer Verantwortung liegen sollen. Ist das Sortiment definiert, entwickeln wir intern ein Ladenübersetzungsprogramm.“ Dabei geht es um die Merchandise, also die ebenfalls in der zentralen Verantwortung des Einkaufsleiters liegende Verzahnung der individuellen räumlichen Gegebenheiten der Verkaufsflächen vor Ort mit der zentral vorgegebenen Schaufenstergestaltung, der Ladengestaltung und der von den Lieferanten auf die Flächen zu bringenden Ware. Anhand von gemeinsam defi-

212

Route optimieren

nierten Verkaufskennzahlen, die dem Lieferanten via EDI aus den Kassen der Geschäfte zugespielt werden, weiß der dann, wann er wie viel liefern bzw. nachliefern oder ergänzen soll.

Konventionelle Bestellarten im textilen Einzelhandel 13% 15% 52% 20% Klassische Vororder Kurzfristige Lieferungen (innerhalb von 4 Wochen) Repeat Orders/Flash Orders Depot Order/ Never out of Stock (N.O.S) Quelle: TextilWirtschaft, Handelsstudie Komplettoutfits 2002 Abbildung 50: Anteil der Bestellarten am Einkaufsbudget für Komplettoutfits im textilen Einzelhandel im Jahr 2002

5.6 Route optimieren Der Umgang des textilen Filialisten SØR Rusche GmbH mit seinen Zulieferern ist nicht genialen Einfällen, einer glücklichen Fügung oder sonstigen unwahrscheinlichen Zufällen geschuldet, sondern Mut, harter Arbeit, der Bereitschaft zu lernen und der Einsicht, dass man einmal gemachte Fehler, egal ob man sie selber gemacht hat oder ob sie anderen unterlaufen sind, nach Möglichkeit kein weiteres Mal begeht. Auch deshalb hat sich das Unternehmen, für einen Mittelständler mit weniger als 500 Mitarbeitern durchaus ungewöhnlich, Wissensmanagement auf die Fahnen geschrieben und in dieser Disziplin verdientermaßen einen Preis gewonnen. „Es wäre sträflich gewesen“, sagt Rusche, „hätten wir uns im Jahr 2000, als wir unseren Reformationskurs begannen, nicht die Best Practices des Lieferantenumganges in anderen Branchen angesehen.

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

213

Auch hier gilt aber für den Wissensmanager des Jahres 2005: Ansehen ist das eine, blindes Nachmachen etwas ganz anderes. „Wenn mich jemand dazu beglückwünscht, dass wir ein kooperatives Lieferantenhandling praktizieren, dann kann ich nur mit dem Kopf schütteln.“ Ein „konfrontatives Lieferantenhandling“ ist in unseren Augen von vorneherein zum Scheitern verurteilt – gleichgültig ob eine preisaggressive oder qualitätsorientierte Wettbewerbsstrategie zugrunde liegt. In der Tat: Die im Abschnitt 5.4.1 skizzierte Alternative „kooperativ“ oder „konfrontativ“ ist falsch. Die Gegenüberstellung „Billiganbieter operieren am besten konfrontativ – Qualitätsanbieter am besten kooperativ“ läuft ins Leere. SØR ist nicht deshalb kooperativ, weil das Handelshaus sich als Qualitätsanbieter profiliert, sondern weil es für jedes Unternehmen klüger ist, kooperativ mit Lieferanten umzugehen. Auch Textil- und andere Discounter, die ALDIs und KiKs dieser Welt, müssen bei der Auswahl ihrer Lieferanten neben dem Preis der Qualität angemessen Rechnung tragen. Tatsächlich geschieht dies in der Praxis auch durchaus. ALDIs Einkaufspolitik ist, wie jede kluge Einkaufspolitik, selbstverständlich stark preisfokussiert, aber sie ist dies nicht um jeden Preis.

5.6.1 Einkaufen wie bei ALDI ALDIs24 Einkaufsstrategie beginnt mit einem nicht hintergehbaren Qualitätsanspruch an die Lieferanten. An Qualität wird bei diesem Discounter nicht gespart. Zahlreiche ALDI-Produkte und Produktgattungen sind laut Stiftung Warentest Qualitätsführer in Deutschland. Explizit schließt ALDIs Einkaufspolitik eine Qualitätsminderung zugunsten besserer Einkaufspreise aus. In diesem Punkt unterscheidet sich der Discounter nicht von einem Premium-Anbieter. ALDIs Einkaufsstrategie findet ihre Fortsetzung in einer klugen Sortimentspolitik. Die Produkt- und Markenbreite bei ALDI ist schmal, mit dem Ergebnis, dass große Mengen eines Produktes von nur einem Lieferanten bezogen und infolgedessen günstig eingekauft werden können. Diese Discountoption bleibt dem exklusiven textilen Multilabelanbieter SØR Rusche naturgemäß verschlossen. Er behilft sich damit, seine Marken nicht allein von Markenherstellern zu beziehen, sondern ebenso von Agenten, die mehr als eine exklusive Topmarke im Portfolio haben. Er behilft sich ferner damit, den Lieferantenrahmen so weit wie möglich zu straffen. Und eben damit, ein eigenes exklusives Label zu führen. Drittens diskutiert ALDI mit seinen Lieferanten mit dem Ziel einvernehmlich erstellter „Bezugskostensenkungskonzepte“ über sämtliche Kostendimensionen die, jenseits der Produktqualität, lieferantenseitig und/oder abnehmerseitig

214

Route optimieren

und/oder an der Schnittstelle zwischen beiden optimiert werden können. Dabei geht es um die Logistik ebenso wie um die Verpackung, ja es geht sogar bisweilen um die Produktion. Genau dies tut auch die SØR Rusche GmbH. Viertens geht ALDI ausschließlich langfristige Rahmenverträge ein und spielt also dezidiert und anders, als man vielleicht meint, nicht das Spiel: „Gehorche oder Du fliegst aus dem Regal!“ Natürlich erwartet ALDI im Gegenzug eine Honorierung in Gestalt von Abschlägen beim Einkaufspreis. Auch in diesem Punkt unterscheidet sich die Einkaufspolitik von SØR Rusche nicht von derjenigen der Gebrüder ALDI. Fünftens beschafft ALDI seine Produkte auf den Weltmärkten und beschränkt sich keineswegs nur auf den deutschen Heimatmarkt. Auch darin unterscheidet sich die SØR Rusche GmbH in nichts vom Lebensmitteldiscounter. Sowohl die weltweit angesagten Top-Marken als auch die in Osteuropa und Südasien kostengünstig liefernden Vorstufenlieferanten für das Private Label SØR sourcen weltweit und verschaffen dem Unternehmen so die nötige Einkaufsluft zum Atmen. Fazit: Nur in einem Punkt, der Sortimentsbreite, unterscheidet sich die Einkaufsstrategie des deutschen Top-Discounters von derjenigen des Top-Herrenbekleiders. Der Lieferantenumgang ist exakt der gleiche: „Hart aber fair!“

5.6.2 Rack Jobbing, Category Management & ECR Wir haben gesehen, dass die SØR Rusche GmbH bestrebt ist, die Materialwirtschaft an die Lieferanten zu delegieren. Auch diese Vorgehensweise orientiert sich am Lebensmitteleinzelhandel. Vorbild sind die Rack-Jobbing-Systeme und das partnerschaftliche, neudeutsch kollaborative Category Management des Lebensmitteleinzelhandels und der Industrie. „Wir haben uns angeschaut, wie Maggi seine Edeka-Regale bestückt und daraus unsere Schlüsse gezogen“, erklärt Einkaufsleiter Thomas Knoerich. „Ich sehe nichts Ehrenrühriges darin, von den Besten zu lernen“: „ Die Efficient Consumer Response, kurz ECR, das elektronisch gestützte

Managementmodell, das die Lebensmittelindustrie in den 90er Jahren zum Vehikel einer effizienteren, schnelleren, bedarfsgerechteren Belieferung des Handels ausbaute, ist erkennbarer Pate der EDI-Infrastruktur bei SØR. „ Die Intensivierung der Lieferantenbeziehungen unter der Bedingung eines

gestrafften Lieferantenrahmens basiert auf dem Modell des kollaborativen Category- oder Warengruppenmanagements des LEH25.

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

215

„ Die Übertragung der materialwirtschaftlichen Verantwortung der Regalbe-

stückung von SØR auf die Handelspartner basiert auf der Category CaptainPhilosophie des Lebensmitteleinzelhandels. Hier wird der umsatzstärkste Lieferant zum Regalmanager des Handels erkoren.

5.6.3 Mit eigenen Zielen guten von schlechtem Rat unterscheiden lernen SØR agiert kooperativ, weil dies wirtschaftlich sinnvoller ist, als konfrontativ zu handeln. Das „Auslistungsspiel“ wird nicht gespielt, wenn die Qualität stimmt und die Bereitschaft vorhanden ist, sich mit den Abnehmerzielen, -prozessen und -strukturen konstruktiv auseinanderzusetzen. Der Einkaufspreis, bilanz- und liquiditätsschonende Zahlungsmodalitäten und kostenoptimierte Prozessabläufe haben neben der Qualität des Sortiments oberste Priorität. All dies sind Unternehmensinteressen, die sich mit den Lieferanteninteressen vertragen. Die Bedingung, um diese kooperative Strategie spielen zu können, ist nicht die Wettbewerbsstrategie – Qualität statt Preis – sondern die Stärke im Markt. Ist diese Stärke nicht gegeben, führt überhaupt keine Einkaufsstrategie zum Erfolg. Denn dann ist der Handel oder Abnehmer für den Lieferanten uninteressant und wird zum Handlanger oder Verteiler ohne Aussicht auf überlebensfähige Marge. Seine Stärke verdankt SØR nicht dem hohen Marktanteil innerhalb eines letzten Endes immer definitorisch konstruierten Marktsegments, also nicht seiner „Marktführerschaft“ an sich, sondern der Positionierung der SØR-Geschäfte als „Pförtner“ der deutschen Provinz für internationalen Spitzenanbieter der Herrenmode. Diese Positionierung ist keinen Werbeslogans oder PR-Strategien zu verdanken, sondern dem gezielten, den meisten Ratschlägen trotzenden Ausbau der Stärke, mindestens an den Provinzstandorten die erste Adresse zu sein. Thomas Rusche erkannte schlicht, dass sein zunächst eher zufälliger Standortvorteil in nämlicher Provinz gezielt ausgebaut werden sollte. Insoweit Rusche hier der Beraterwelt, der Immobilienwelt und dem Trend, das ImmobilienEldorado Neue Bundesländer links liegen zu lassen, trotzte, verzichtete er also auf „guten“ Rat, um seinem eigenen strategischen „Riecher“ zu folgen. Die Frage, die sich Ihnen jetzt stellen mag, lautet: Wann folge ich denn „klugen Ratschlägen“ und wann erkenne ich, dass diese klugen Ratschläge in eine Sackgasse münden? Woher weiß ich rechtzeitig, dass der Lebensmitteleinzelhandel für den textilen Einzelhandel ein Vorbild ist, der Immobilienmarkt hingegen in die Irre führt?

216

Fazit und 10 Tipps für erfolgreiches Einkaufen

Die Antwort, die wir Ihnen darauf geben möchten, lautet: Sie erkennen gar nichts, solange Sie nicht Ihr eigenes Ziel kennen und klar markiert haben. Thomas Rusche wäre – viel zu früh – in den Osten gegangen, wenn er nicht zuvor sein Schlüsselinteresse vor Augen gehabt hätte, die einzigartige Schlüsselstärke seines Unternehmens, König des Haka-Topmarktes in der zahlungskräftigen deutschen Provinz zu sein, gezielt ausbauen zu wollen. Dieses Interesse wurde in quantifizierte Ziele übersetzt, die es unmöglich machten, andere Ziele nebenher auch noch zu erreichen. Rusches Ziel, jedes Jahr ein bis zwei neue Ladeneröffnungen an Standorten mit entsprechender Kaufkraftkennziffer zu zelebrieren, machte es in diesen Jahren von vorneherein unmöglich, einen „Oststandort“ als SØR-Standort zu entwickeln. Die dortigen Makround Mikrostandorte hätten nicht über die erforderliche Passantenfrequenz und Kaufkraft verfügt. Es gab noch zu viele unerschlossene westliche Standorte, Stuttgart, Ulm oder Regensburg, die dem Anforderungsprofil „zahlungskräftig, aber eher Provinz als Metropole“ eher entsprachen. Das wird sich ändern. Rusche hat ja nichts gegen den Osten. Aber kaufmännische Vernunft sagte ihm eben, dass es nicht klug ist, seine und seiner Partner Ziele zu vergessen, nur um auch in Leipzig, Magdeburg oder Dresden das erste Haus am Platz zu sein. Dann, wenn Sie unternehmerische Ziele haben und diese auch mit den Zielen Ihrer Kundschaft, Ihrer Mitarbeiter und Ihrer Zulieferer in Deckung bringen können, wissen Sie auch fast immer sehr gut, welche Ratschläge von vorneherein in die Irre führen und welche zumindest bedacht werden sollten. Nur wenn Sie kompasslos mit unpräzisen Globalzielen à la „Wir wollen in fünf Jahren Marktführer sein“ durch die Landschaft geistern, werden Sie mit großer Sicherheit für falschen Rat empfänglich sein und ihm zum Opfer fallen.

5.7 Fazit und 10 Tipps für erfolgreiches Einkaufen 5.7.1 Zusammenfassung Dass es SØR als vergleichsweise kleinem Handelsunternehmen gelungen ist, seine Marktnische nicht nur zu besetzen, sondern als eine für Zulieferer besonders begehrenswerte zu markieren, ist der erste große Erfolg des Unternehmens. So kann es fehlende Marketing- und Einkaufsbudgets kompensieren und auf Augenhöhe selbst mit zigfach größeren Lieferanten mithalten. Dies ist ein Er-

217

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

folg der Gatekeeperstrategie oder, allgemeiner, im Sinne des zweiten Kapitels dieses Buches gefasst, der Produktstrategie. Wir konnten zeigen, dass diese Gatekeeperstrategie eine Folge des zufälligen Unternehmensstandortes irgendwo in der Provinz und des langsamen aber stetigen Wachsens aus ihr heraus war – als Deutschland ohnehin blühte. Erst mit Antritt des heutigen Geschäftsführers und seines Teams zu einer Zeit, als Deutschland schon wieder welkte, wird das Torwächterpotenzial der eigenen „Herkunft“ aus der Provinz erkannt und diese Karte bewusst und kalkuliert eingesetzt. Gestaltungsmerkmale

Traditioneller EZH Î(“Service”)

Discounter Î(“Preis!”)

(SB)-Warenhaus/ Verbrauchermarkt Î (“Größe”)

Marktauftritt

Standort

City

Peripherie

City und Periph.

Raumausstattung

100-800 qm mittel - hochwertig

500-3.000 qm, einfach

1.500-40.000 qm, mittel - hochwertig

Raumorganisation

individuell

selbstähnlich

überwiegend individuell

Warenpräsentation

(hoch)wertig

einfach

praktikabel-hochw.

Service

persönlich

SB

SB + Beratung

Organisation

nicht filialisiert

filialisiert

filialisiert

Preislage

mittel/hoch

niedrig

niedrig - hoch

Sortimentsbreite/-tiefe

schmal, flach

schmal, flach-tief

breit, flach

Kollektionswechsel

zunehmend

Häufige Postenangebote

wenig

Marken/Eigenmarken

hoher Markenanteil

Marken/

Marken Handelsmarken

Sortiment

Handelsmarken

218

Fazit und 10 Tipps für erfolgreiches Einkaufen

Gestaltungsmerkmale

Traditioneller EZH Î(“Service”)

Discounter Î(“Preis!”)

(SB)-Warenhaus/ Verbrauchermarkt Î (“Größe”)

Personal

Entlohnung

Einzelprämien

Umsatzprovision

Gruppenprämien

Flexibilität

hoch

hoch

mittel

Führung

Plantafel

Kostenkontrolle

Einsatzplanung

Lager, Belieferung

dezentrale Belieferung

zentral

Streckenlabel, Cross Docking

Beschaffung

Großhandel, EKVerbund, national

stark vertikalisiert international

produktabhängig, teilw. vertikalisiert international

Kassensysteme

Einfache Lösungen

schlanke Lösungen

aufwändige Lösungen

CRM-Einsatz

persönliche Betreuung

nein, trotz hoher Kundenbdg.

Kundenkarten

Warensteuerung

Systmansätze

individuell, hoch ausgebaut

Standardlösungen

SCM-Einsatz

nein

individuell, hoch ausgebaut

Rudimente

ERP-Einsatz

nein

Standardlösungen

Standardlösungen

Logistik

ITEinsatz

Quelle: Julian von Hassell Asset Trading Abbildung 51: Ein eigener Weg: Das SØR – Geschäftsmodell (grau markiert) im Vergleich zu etablierten Standardmodellen im textilen EZH

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

219

Dass es dem Unternehmen gelungen ist, diese intelligent inszenierte Markenmacht gegenüber seinen Lieferanten so einzusetzen, dass eine maßgebliche Verbesserung der Bilanzstruktur mit einer Verdoppelung der Eigenkapitalquote binnen vier Jahren erreicht werden konnte, ist der zweite große Erfolg. Er stellte die Unterstützung der Banken sicher und ermöglicht es dem – gemessen an den Quandts, Haniels, Boschs, Piëchs bzw. Porsches – kleinen Familienunternehmen, konsequent zu expandieren, während andere, vergleichbare, schließen. Dass diese Markenmacht wie beschrieben so eingesetzt wurde, dass die überlebenswichtigen guten Beziehungen zu den wichtigen Modelieferanten Bestand behielten, ist der dritte große Erfolg. Er trägt zum anhaltend gesunden, rentablen Wachstum des Unternehmens in einem saturierten Verdrängungsmarkt bei. Wir konnten im Einzelnen nachweisen, dass jeder dieser drei Erfolge auf mindestens einen der nachstehenden Punkte zurückgeführt werden kann: „ das bewusste und reflektierte Setzen eigener Unternehmerziele, „ das Identifizieren der Metainteressen der Geschäftspartner und das anschlie-

ßende Setzen gemeinsamer Ziele – gegen anfängliche Widerstände und dennoch schließlich im Einvernehmen mit allen Stakeholdern: Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten, „ das gemeinsame Ableiten einer Vorgehensweise im partnerschaftlichen Ein-

vernehmen, das gemeinsame Gehen durch dick und dünn und das gemeinsame Lernen. Selbst ehemalige Lieferanten sind Rusche und Knoerich heute im In- und Ausland freundschaftlich verbunden, denn sie wurden nie ausgenutzt. Was nun können Sie, gleich welche Größe Ihr Unternehmen hat und haben soll und gleich welcher Unternehmensstrategie Ihr Unternehmen verpflichtet ist, vom Einkaufsvorbild SØR lernen?

5.7.2 10 Tipps für erfolgreiches Einkaufen 1. Vergewissern Sie sich Ihrer persönlichen unternehmerischen Interessen und der daraus abgeleiteten Ziele. Erst wenn Sie wissen, wohin Sie wollen, und wenn Sie diese Ziele gemeinsam mit Mitarbeitern, Kunden und Lieferanten auf ihre Realisierbarkeit und Wünschbarkeit abgestimmt haben, macht es Sinn, spezifische Einkaufsziele zu entwickeln.

220

Fazit und 10 Tipps für erfolgreiches Einkaufen

2. Opfern Sie niemals – auch nicht in taktischer, vorübergehender Absicht – Ihre gemeinsamen Ziele! Sie schaufeln sonst Ihr eigenes Grab. Ihre Interessen sind integraler Bestandteil Ihres Produkts oder Ihrer Dienstleistung. Suchen Sie das Fundament Ihrer und Ihrer Lieferanten Interessen, Ihr gemeinsames „Metainteresse“, und bauen Sie es zum Fundament Ihrer gemeinsamen Ziele aus. 3. Erarbeiten Sie sich für Ihre Verhandlungen mit den Lieferanten eine Position der unantastbaren Stärke! Wenn Sie eine solche, dank der Größe Ihres Unternehmens, Ihrer Einkaufsmacht oder Ihres Images von Hause aus haben, schätzen Sie sich glücklich. Anderenfalls suchen Sie den Punkt, der Sie für Ihre Lieferanten begehrenswert macht, und bauen Sie ihn aus. Es findet sich fast immer einer. Tun Sie das nicht, werden Sie für Ihre Lieferanten uninteressant und deren Spielball. 4. Arbeiten Sie ausschließlich mit Lieferanten, denen Sie, Ihre Mitarbeiter, Kunden und Partner vertrauen können, und geben Sie dieses Vertrauen zurück. Qualität erschöpft sich für Sie nicht in hochwertigen Produkten und Dienstleistungen und auch nicht in einem niedrigen Preis. Ohne Vertrauen laufen die Schnittstellen zu Ihrem Unternehmen, zu anderen Zulieferern oder zu Ihren Kunden leer oder schlecht. Die Folgen können verheerend sein. Manipulieren Sie nie und missbrauchen Sie nie – selbst wenn ein solches Vorgehen vordergründig für Sie ohne Sanktionen bleibt. 5. Lernen Sie die Interessen Ihrer Lieferanten genau kennen! Lernen Sie diese nach Möglichkeit besser kennen als die Lieferanten selber! Nur dann können Sie ihren Argumenten Paroli bieten – nicht aus Ihrem persönlichen Blickwinkel heraus, sondern aus dem gemeinsamen. Geben Sie sich Mühe, Ihre Lieferanten persönlich kennen zu lernen, informell. Nur so haben Sie die Chance, hinter die Fassade zu steigen und die individuellen Antriebskräfte und Ziele kennen zu lernen. 6. Sparen Sie sich die Mühe, Einkaufsziele und -strategien generalstabsmäßig im stillen Kämmerlein zu entwickeln. Sie werden nie Realität! Beteiligen Sie Ihre Lieferanten und entwickeln Sie gemeinsam Einkaufsziele und -strategien. Die werden mit großer Sicherheit realisiert. Selbst wenn Sie am Reißbrett die Interessen Ihrer Partner treffen, werden sich diese unbeteiligten Interessen übergangen fühlen und Ihre klugen Pläne torpedieren. 7. Kleiden Sie Ihren Einkauf in ein methodisches Korsett. Wir haben dazu einen Vorschlag gemacht. Ein persönlicher, informeller Umgang mit Lieferanten ist eine Stärke. Er wird aber zu einer teuren Schwäche, wenn er ihre Professionalität torpediert. Ihre Partner erwarten Professionalität. Sie selbst

Lieferantennähe: SØR Rusche GmbH

221

schulden sich methodische Sicherheit, um Zeit zu sparen und gefährliche Fehler zu umgehen, die sich im menschlich, allzu menschlichen Miteinander zwangsläufig einschleichen. Bemühen Sie sich um die schriftliche Dokumentation und elektronische Unterstützung Ihres methodischen Weges. Lernen Sie Fragetechniken zu beherrschen. Vergewissern Sie sich, dass Sie im Alltag jederzeit wissen, an welcher Stelle des Einkaufsprozesses Sie stehen, welche Sollbruchstellen und Meilensteine bevorstehen und was zu tun ist, um die nächste Etappe zu erreichen. Seien Sie sich nicht zu vornehm für das kleine Detail. Im Strategieworkshop ist alles einfach. Steinig ist immer nur die Praxis. 8. Organisieren Sie Ihr Unternehmen so, dass Einkauf und Verkauf gut miteinander kommunizieren. Der Verkauf ist Ihr Auge am Markt! Ihr Einkauf kann auch verkaufen – siehe „Tragetaschen“! 9. Lernen Sie nach Maßgabe des gesunden Menschenverstandes. Folgen Sie nicht blind fremdem Rat, aber seien Sie auch nicht beratungsresistent. Wenn Sie wissen, wohin Ihre Reise gehen soll, und wenn Sie dieses Wissen mit Ihren Partnern teilen, dann werden Sie automatisch mögliche nützliche von sicherlich unnützen oder gefährlichen Ratschlägen unterscheiden können – auch wenn diese mit heftiger Emphase vorgetragen werden. 10. Nutzen Sie die Potenziale, über die Ihre mittelständische Organisation im Unterschied zu anonymen Megastrukturen verfügt. Geben Sie sich insbesondere Rechenschaft darüber, dass jeder Lieferant, wenn Sie vertrauensvoll mit ihm umgehen und wenn Sie ihn qualifiziert befragen, ein personifizierter Indikator der Qualität Ihres Unternehmens, der Branche und Konjunktur ist. Er spart Ihnen kostspielige Marktforschung, reines Geld. Bedenken Sie außerdem, dass elektronische Kommunikationswege und Dateninfrastrukturen zwar außerordentlich hilfreiche Werkzeuge sein können, dass diese aber niemals den persönlichen Umgang, das Erforschen individueller Interessen, das Entwickeln gemeinsamer Ziele, das gemeinsame Entscheiden über Alternativrouten oder das einvernehmliche Erkennen von Zielen und Barrieren ersetzen können.

Statt eines Nachworts

6.

223

Statt eines Nachworts: Die mittelständische Methode und das deutsche Sommermärchen

Meine Person ist überhaupt nicht wichtig. Wichtig ist, was die Mannschaft veranstaltet. Jürgen Klinsmann Nach den Beispielen aus der unternehmerischen Praxis möchten wir Ihnen zum Abschluss noch ein Beispiel aus einer anderen Welt präsentieren und aufzeigen, was Sie als mittelständische Unternehmer daraus lernen können.

6.1 Vom „Glückskind des deutschen Fußballs“ … Wenn Sie das Wort „Lichtgestalt“ hören, oder „Glückskind des deutschen Fußballs“, dann denken Sie mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit an Franz Beckenbauer. Das ist sein Credo: Erfolg durch ein „glückliches Händchen“. Da wird er als Spieler Weltmeister und später als Trainer führt er ebenfalls eine deutsche Nationalmannschaft zur begehrtesten Trophäe des Weltsports mit den Worten: „ (...) gehts raus und spuilts Fußball“. Sicher hat der Trainer Franz Beckenbauer mehr zu bieten als diesen einen Satz, aber niemand, nicht einmal er selbst, hat je den Versuch unternommen nachzuweisen, dass dem so wäre. Es geht die Geschichte um, Mehmet Scholl, einer der besten und erfolgreichsten Fußballer unserer Zeit, habe einst bei der Anreise zu einem Europapokalspiel mit dem FC Bayern dieses besondere Erlebnis mit Beckenbauer gehabt: Während des Landeanflugs gab es heftige Turbulenzen, der Pilot musste durchstarten, und Angst machte sich im Flugzeug breit. Auch bei Mehmet Scholl, der so gar nicht ängstlich wirkt. Er hörte, wie ein italienischer Kollege schon ein Gebet anstimmte und sah, wie seine Nachbarn nervös und Hilfe suchend um sich

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Vom „Glückskind des deutschen Fußballs“ …

blickten. Scholl drehte sich ebenfalls um und sah, hinter ihm sitzend, Franz Beckenbauer ins lächelnde Gesicht. Sofort stellte sich bei ihm das wohlige Gefühl von Sicherheit ein; Franz Beckenbauer ist hier! Was soll da schon passieren?, dachte er sich und war sofort beruhigt. Der Stil von Beckenbauer passt nicht nur in sein Metier, er passte auch in die Zeit, in der er als Trainer aktiv war, die 80’er Jahre, und zu seiner Generation. „Mir sann mir“, alles im Aufschwung, den nehmen wir mit. Beckenbauer – Erfolgsmensch aus glücklicher Fügung, er und nur er, ist der Vater dieses Erfolges und dieser war nicht übertragbar, wie die Zeit nach ihm (1990-2004) zeigte. Er selbst war es, der kurz nach seiner Amtszeit erklärte, die Ausstrahlung seiner Person „übertünche, dass einiges falsch laufe beim DFB“ im Hinblick auf die Nationalmannschaft. Nach seinem Rücktritt zeigte sich, wie Recht er hatte. Eine beispiellose Zeit begann, eine Leidenszeit mit Verzweiflungsflanken aus dem Mittelfeld, Stoppfehlern und 1-2-3-Ballverlust-Szenen en masse. Beckenbauer hatte so intensiv aus sich heraus gewirkt, dass nach seinem Weggang ein regelrechtes Vakuum entstand. Nur mit dem Satz: „Der Star ist die Mannschaft“, wie Bundes-Berti ihn prägte, ließ sich das nicht kompensieren. In den 90ern betrat ein anderer Fußballlehrer die Bühne, beinahe (eine andere Formulierung verkneifen wir uns an dieser Stelle) wäre dieser auch Nationaltrainer geworden. Er wurde als Zampano bekannt, die totale Begeisterung als Erfolgsmethode, über glühenden Kohlen laufen und Tschaka-Hokuspokus inklusive. Richtig: Christoph Daum. Sein Credo: Erfolg beginnt im Kopf – und ist planbar. Allein den Beweis blieb er schuldig. Dass Erfolg mit Begeisterung und Leidenschaft zusammenhängt, das hat er uns gezeigt. Und dass sich mit Emotionen kurzfristige Strohfeuer erzeugen lassen auch, allerdings nicht, dass damit Erfolg strategisch und vor allem langfristig planbar ist. Als aktuelles Beispiel sei hier sein gegenwärtiges Wirken beim 1.FC Köln genannt. Kaum ein gutes Vorbild für mittelständische Planungen, die oft über mehrere Generationen gehen müssen. Beckenbauer und Daum, jeder auf seine Weise, haben uns nur gezeigt, dass sie es können. Gehen sie weg, bricht alles zusammen. Sie haben uns nie gezeigt, wie sie es machen, auch nicht, dass diesem „Wie“ eine bestimmte Methode oder ein Vorgehensmodell zu Grunde liegt, geschweige denn, dass ihre Erfolge übertragbar gewesen wären – etwa als Methode, die sowohl im Fußball als auch in der Wirtschaft funktionieren könnte. Sie haben uns nur aufgezeigt, dass wir, die wir ein Unternehmen auf den Weg gebracht haben, dieses steuern, inspirieren und führen, anscheinend eben nicht ersetzbar sind. Aber ist das wirklich so? Ist das wahr? Und ist das zeitgemäß?

Statt eines Nachworts

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6.2 … zum deutschen Sommermärchen Um beim Fußball zu bleiben, der eine hervorragende Quelle für Metaphern rund um das erfolgreiche Agieren in Systemen ist, schauen wir uns als Vergleich unser allseits geliebtes „Sommermärchen“ an. Jürgen Klinsmann hat nicht die Ausstrahlung eines Franz Beckenbauer, auch nicht den inszenierten Auftritt eines Christoph Daum. Fast bieder wirkt er, wenn ihm die Familie und der kalifornische Sandstrand wichtiger sind als all’ der Ruhm der Fußballwelt. Was Klinsmann mit den oben angesprochenen Menschen gemeinsam hat, ist die Fähigkeit, ehrliche und aufrichtige Begeisterung für seine Sache zu empfinden und diese auch zu vermitteln. Damit wäre eine Schlüsselqualifikation für erfolgreiches unternehmerisches Wirken bereits klar benannt. Und natürlich hat Klinsmann auch den Fußballsachverstand, das steht außer Zweifel. Welche Begeisterungsfähigkeit in ihm steckt, wird wunderbar deutlich in der sagenhaften Dokumentation von Söhnke Wortmann, die einen einzigartigen Blick hinter die Kulissen zulässt. Dieser Film sei Ihnen wärmstens empfohlen als Anschauungsunterricht in Sachen Motivation. Was Klinsmann von Beckenbauer oder Daum unterscheidet, ist die Tatsache, dass er, bevor er sich an das Versprühen von Begeisterung macht, sorgfältig und mit schwäbischer Akribie und Präzision einen Plan entwickelt. Das „System Klinsmann“, das kurz vor und während der WM durch die Medien geisterte, stand schon im Kopf, bevor Klinsmann seinen Dienst antrat. In den Grundzügen entwickelt in den wenigen Monaten, nachdem ihn Berti Vogts, gewissermaßen als Botschafter des DFB, im Frühjahr 2004 gefragt hatte, ob er als Nationaltrainer zur Verfügung stünde. Er machte seine Zusage abhängig von der Bedingung, dieses System umsetzen zu dürfen. Ohne diese Eingeständnisse des DFB hätte er später im Sommer 2004 den Posten gar nicht erst übernommen. Und wenn wir vom „System Klinsmann“ sprechen, dann ist damit nicht ein taktisches System gemeint ist wie: 4-4-2, 4-2-4 oder etwas Ähnliches. Sondern ein umfassendes, stellenweise revolutionäres System der Organisation innerhalb des DFB. Ein ebenso weit reichendes System der Veränderung des Trainingbetriebes, der Sichtung der Gegner, der Vorbereitung der WM, einfach alles rund um die Nationalmannschaft ist hier gemeint, kurzum; ein Managementsystem. Klinsmann baute eine eigene „Abteilung Nationalmannschaft“ innerhalb des Deutschen Fußball-Bundes auf, insgesamt 25 Personen umfasste dieser Stab einschließlich ihm selbst. Und damit war er der erste Trainer, der eben nicht nur seine Spezis mitbrachte, die ihm zuarbeiteten, um seinen Glanz noch heller erstrahlen zu

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… zum deutschen Sommermärchen

lassen, sondern echte Experten, die auf Augenhöhe mit ihm agierten und die wie eine Riege nebeneinander handelten und auch eigenständig Anerkennung dafür ernten „durften“. Veränderung als Erfolgschance war der Ausgangs- und Ansatzpunkt für dieses System. Die Installation eines permanenten Veränderungs- und Verbesserungsprozesses bildet die Basis des Klinsmannschen Vorgehensmodells: von der Analyse der Spiele und Spieler über deren Dokumentation in Datenbanken bis hin zu einer umfassenden physischen und psychischen Spielerbetreuung, die in einer nie gekannten Perfektion auf jeden Spieler und seinen individuellen physischen und psychischen Betreuungsbedarf einging. Der Mensch im Mittelpunkt allen Denken und Handelns. Klinsmann sprach nicht nur von Teamwork, er praktizierte es mit Leidenschaft und in einer Art und Weise wie keiner vor ihm. Er hatte keine Angst davor zuzugeben, dass es Dinge gibt, in denen andere besser waren bzw. sind als er selbst. Er umgab sich sogar mit Menschen, die ihm in ihrer jeweiligen Disziplin um Längen voraus waren und sind. Mit Andy Köpke als Torwarttrainer, der unvoreingenommen den Wettbewerb um die Nr. 1 eröffnete – das gab es vorher im deutschen Fußball noch nie – und der ein modernes Torwartspiel trainierte. Dann Oliver Bierhoff, ein Betriebswirt und echter Managementprofi, der über das nötige Auftreten verfügte, um ihm alles vom Hals zu halten, was Vermarktung und Management betraf und der deshalb zeitweise mehr in der Öffentlichkeit stand als Klinsmann selber. Darüber hinaus Joachim Löw, der wohl beste Taktiktrainer, den es in Deutschland gibt. Mit dem Profi Mark Verstegen holte sich Klinsmann den weltweit besten Fitnesstrainer, und damit den besten, den eine deutsche Nationalmannschaft je hatte. Für das Zeitmanagement ließ er sich vom ehemaligen McKinsey-Chef Herbert A. Henzler beraten, bei der Hotelakkreditierung während der WM vom ehemaligen brasilianischen Coach, die Spielbeobachtung der Gegner brachte er mit Urs Siebenthal auf eine neues, ungekanntes Niveau. Und so ließe sich ein ganzes Buch schreiben über Klinsmanns Raffinesse innerhalb des Projektes „Challenge 2006“. Klinsmann ist der erste Nationaltrainer, der wirklich Verantwortung und Kompetenzen aus der Hand gab, und damit keine „One Man Show“ aufzog, sondern ein integriertes Konzept aufbot, bei dem ein Rädchen ins andere griff. Komplementäre Charaktere und komplementäre Fähigkeiten bildeten ein einzigartiges Erfolgsnetz. Und das waren nur die sichtbaren Vorbereitungen. Mit kaum vorstellbarer Akribie und Detaillierung plante Klinsmann sein Projekt mit Unterstützung seiner amerikanischen Partner, den Kommunikationsprofis Mark Hoban und Warren Mersereau. Klinsmann dachte und handelte überhaupt als erster Bundestrainer in zeitgemäßen Projektstrukturen. Er hatte die ganze WM wie ein Projekt organisiert und aufbereitet: „Challenge 2006“. An jede Kleinigkeit war

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gedacht, auf jede Befindlichkeit wurde eingegangen, ein riesiges Netz aus Interessensbalancen, Zielen, Wegen und Handlungsfeldern war bis ins Detail ausgearbeitet. „Alle Maßnahmen im Vorfeld spiegeln sich heute in der Leistung der Mannschaft wider“, lautet dann auch sehr zutreffend das Resümee von Oliver Bierhoff nach dem begeisternden Sieg gegen Polen in Dortmund. Nur wer an diesen Maßnahmen und ihrer Planung mitgearbeitet hat, mag ermessen können, was hier gemeint war. Der Ausgang ist bekannt, wann wurde jemals im deutschen Fußball eine Drittplatzierung derart gefeiert? Fast scheint es, als habe dieses Turnier weit mehr als nur Fußball zum Inhalt gehabt. Doch nun der entscheidende Unterschied zu den oben genannten anderen Trainern im deutschen Fußball und deren Arbeitsergebnissen: Klinsmanns Weggang hinterließ keinen Bruch! Das ist die eigentliche Sensation seiner Arbeit! Nahtlos setzt die Nationalmannschaft unter „Jogi“ Löw die Erfolgsserie der WM fort, auch in der Spielweise ist kein Unterschied festzustellen. Fast so, als hätte Klinsmann sein „System“ darauf ausgerichtet, auch nach seinem Fortgang weiter funktionieren zu können. Erreicht hat er diesen Effekt durch ein simples Prinzip. Die einzige Funktion, die Klinsmann tatsächlich im Verlauf seines Projektes unersetzbar einnahm, war die eines Reizpunktes, eines Aktivpostens, der wie ein Pol in einem Kraftfeld wirkt, der die Aktivitäten im Sinne der Zielsetzung gleichsinnig ausrichtete. Nun gab sich Klinsmann vor- und rechtzeitig Mühe, dass nach seinem Weggang an seine Stelle ein Leitbild trat, eines, mit dem sich alle genau so stark identifizieren konnten wie mit ihm als Person. Was genau dieses Leitbild ist, wissen wir nicht, es könnte sein Ideal vom begeisternden Fußballspiel sein, aber wie gesagt, wir wissen es nicht. Das ist aber auch nicht entscheidend. Entscheidend ist, dass das erfolgreiche „Funktionieren“ des Unternehmens Nationalmannschaft nicht von ihm als Person, sondern von der Organisationsform abhängt. So machte sich Klinsmann ersetzbar.

6.3 Was Mittelständler aus diesem Beispiel lernen können Und damit sind wir bei dem, was man als Mittelständler aus dem Beispiel lernen kann, mehr noch, lernen muss. Man kann praktisch alles vollkommen verändern: alle Abläufe, alle Verfahren, das gesamte Tagesgeschäft, ja sogar das Produkt und seine Beschaffenheit (hier: Fußball), ohne dass eine Abhängigkeit zur Ursache der Veränderung also dem, der verändert hat (hier: Klinsmann) entsteht.

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Was Mittelständler aus diesem Beispiel lernen können

Möglich wird dies durch die Übertragung von Verantwortung auf verschiedene Personen im Rahmen eines durchdachten Konzepts und durch das Etablieren eine Leitbildes, das stärkere Strahlkraft hat als der Unternehmer selbst, so dass es an die Stelle des Unternehmers treten kann, wenn er nicht (mehr) da ist. Dieses Leitbild, der Klinsmannsche Fußball, ist das mittelständische Produkt, so wie wir es im zweiten Kapitel präsentiert haben. Durch diese professionelle Umsetzung der Veränderungen hat Klinsmann die Grundlage für seine Entbehrlichkeit geschaffen. So wurde ein erfolgreiches Fortwirken seines Projekts auch nach seinem Abschied sichergestellt. Das schuf Vertrauen bei den Spielern. Denn die wollen jetzt wieder in der Nationalmannschaft spielen. Und Sie wollen doch auch die besten verfügbaren Mitarbeiter für Ihren Betrieb. Unsere Erfahrung hat gezeigt, dass qualifizierte Fachkräfte zum einen schwer zu finden und zum anderen schwer zu halten sind. Gerade die wirklich guten Mitarbeiter halten Sie nur in einem Unternehmen, in dem diese auch eine Chance auf Verwirklichung ihrer Vorstellungen haben. Auch bei den Zuschauern hat Klinsmann mit seinem Projekt für Begeisterung gesorgt und genau so wird es Ihnen mit Kunden gehen, Sie machen aus ihnen echte Fans. Und letztlich hat er sicher auch eine neue Vertrauensgrundlage bei den Sponsoren geschaffen. Ähnliches wird Ihnen bei Ihren Anteilseignern, Kapitalgebern und oder den Banken gelingen. Und das ist schließlich das, was den erfolgreichen Unternehmer oder Manager auszeichnet, dass er erreicht, entbehrlich zu sein. Ihm gelingt es, das Vertrauen, das man in ihn hat, von seiner Person auf seine Organisation zu übertragen. Er vermag Begeisterung für Ziele zu wecken, die Mitarbeiter, Zulieferer und Kunden genauso teilen wie Klinsis Zuschauer, Mitarbeiter, Zulieferer und Sponsoren. Das soll und muss verstanden werden, wenn Sie eine Plattform für dauerhaften Erfolg errichten wollen. Unternehmen – egal ob groß oder klein, inhabergeführt oder managementgeführt, Kapitalgesellschaft oder Personengesellschaft, börsennotiert oder nicht – sind, wie wir in diesem Buch dargelegt haben, immer dann erfolgreich, wenn diejenigen, die sie führen, an ihre Produkte und Verfahren glauben oder in sie versessen sind und außerdem die Größe haben, die legitimen Interessen der Mitarbeiter, Zulieferer und Kunden gleichermaßen zu achten und zum Erfolg zu führen. Wir haben zu zeigen versucht, dass dies keine Herkulesaufgabe ist, wenn man über die richtige Einstellung verfügt. Wir hoffen, wir konnten außerdem zeigen, dass es möglich ist, mit dieser richtigen Einstellung auf methodisch sicherem Weg Jahr für Jahr neue, weitere Erfolgshorizonte in den Blick zu nehmen. Dafür wünschen wir Ihnen von Herzen alles Gute!

Statt eines Nachworts

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Anmerkungen

1ȱȱ NiccolòȱMacchiavelli,ȱDerȱFürst,ȱStuttgartȱ1961,ȱS.135.ȱ 2ȱȱ DerȱSeniorenquotientȱwirdȱunterschiedlichȱdefiniert.ȱDaherȱnennenȱwirȱanȱdieserȱStelleȱ

keineȱZahlen.ȱȱ 3ȱȱ ObwohlȱderȱFachweltȱschonȱüberȱJahrzehnteȱbekannt,ȱistȱdieȱrapideȱAlterungȱDeutschȬ

landsȱ inȱ denȱ kommendenȱ Jahrenȱ erstȱ seitȱ derȱ Veröffentlichungȱ vonȱ Frankȱ SchirrmaȬ chersȱ „Dasȱ MethusalemȬKomplott“,ȱ Münchenȱ 2004.ȱ alsȱ Themaȱ vonȱ hoherȱ Brisanzȱ inȱ dasȱöffentlicheȱBewusstseinȱgedrungen.ȱȱ 4ȱȱ SoȱderȱBefundȱvonȱMarkusȱThomzik,ȱBerndȱKriegesmannȱundȱErichȱStaudtȱin:ȱFacilityȱ

Management,ȱderȱKampfȱumȱMarktanteileȱbeginnt,ȱFrankfurtȱa.M.ȱ1999,ȱS.ȱ211.ȱ 5ȱȱ Thomasȱ Lünendonk,ȱ Andreasȱ Griesȱ (Hg.),ȱ Facilityȱ Managementȱ Kompendiumȱ 2006,ȱ

Jahrbuchȱ fürȱ infrastrukturelle,ȱ technischeȱ undȱ kaufmännischeȱ GebäudebewirtschafȬ tung,ȱFrankfurtȱa.ȱM.ȱ2005,ȱS.ȱ11.ȱ 6ȱȱ BüromarktstudieȱBullwienȱAG,ȱ1999.ȱ 7ȱȱ Derȱ Immobilienflächenbestandȱ derȱ Deutschenȱ Bahnȱ AGȱ beträgtȱ –ȱ eigenenȱ Angabenȱ

zufolgeȱ–ȱimȱDezemberȱ2006ȱrundȱ1,35ȱMrd.ȱqm.ȱ 8ȱȱ Dieȱ USȱ amerikanischeȱ SoftwareȬFirmaȱ Rationalȱ Roseȱ –ȱ 2002ȱ vonȱ IBMȱ übernommenȱ –ȱ

entwickelteȱeineȱgleichlautendeȱMetaspracheȱzurȱBeschreibungȱvonȱSoftware.ȱ 9ȱȱ EinȱVerfahrenȱzurȱgrobenȱAufwandsermittlungȱvonȱProgrammierleistungen.ȱ 10ȱȱ WernerȱTroxler,ȱFührenȱheißt,ȱZürich,ȱ1999.ȱ 11ȱȱ ImȱAmerikanischenȱeinȱhoffnungsvollerȱsportlicherȱAnfänger.ȱȱ 12ȱȱ Diesȱistȱdieȱ(zumȱZeitpunktȱderȱVeröffentlichungȱdiesesȱBuches)ȱvierthöchsteȱLiga.ȱ 13ȱȱ PublicȱPrivateȱPartnerships:ȱRealisierungȱundȱoptionaleȱVorfinanzierungȱvonȱBauȬȱundȱ

Entwicklungsleistungen,ȱ dieȱ dieȱ öffentlicheȱ Hand,ȱ eineȱ Kommuneȱ oderȱ sonstigeȱ GeȬ bietskörperschaft,ȱ anschließendȱ durchȱ periodischeȱ Überweisungenȱ ausȱ demȱ VerwalȬ tungshaushaltȱbezahlt.ȱ 14ȱȱ ZumȱbesserenȱVerständnis:ȱDieȱAbteilungen,ȱdieȱmitȱdemȱGrundstücksankauf,ȱmitȱderȱ

EntwicklungȱdesȱBaurechtsȱfürȱeineȱspezifischeȱNutzungȱsowieȱdieȱdamitȱverbundenenȱ Planungenȱzuständigȱwaren,ȱwurdenȱalsȱ„Vertriebsabteilungen“ȱbezeichnet.ȱ 15ȱȱ Immanuelȱ Kant,ȱ Kritikȱ derȱ praktischenȱ Vernunft.ȱ Grundlegungȱ zurȱ Metaphysikȱ derȱ

Sitten,ȱSuhrkampȱTaschenbuchȱWissenschaftȱ56,ȱFrankfurtȱamȱMain,ȱ1974ȱ(1.ȱAuflage),ȱ S.ȱ140.ȱ 16ȱȱ TimȱKreimer,ȱDerȱDeutscheȱTextileinzelhandelȱausȱVerbrauchersicht,ȱHg:ȱKPMGȱDeutȬ

scheȱ TreuhandȬGesellschaftȱ Aktiengesellschaftȱ Wirtschaftsprüfungsgesellschaft,ȱ Köln,ȱ 2005,ȱS.ȱ3.ȱ

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Anmerkungen

17ȱȱ Privateȱ Labels:ȱ Handelsmarken.ȱ Entsprechendeȱ Produkteȱ sindȱ üblicherweiseȱ günstigerȱ

fürȱ denȱ Verbraucherȱ alsȱ Industriemarken,ȱ daȱ sieȱ trotzȱ gleichwertigerȱ Qualitätȱ kostenȬ günstigerȱproduziertȱwerden.ȱInzwischenȱbietenȱaberȱexklusiveȱStoresȱwieȱdieȱgenannȬ tenȱauchȱexklusiveȱPrivateȱLabels.ȱȱ 18ȱȱ Herrenoberbekleidung,ȱ ursprünglichȱ bedeuteteȱ dasȱ Akronym:ȱ HerrenȬAnzüge,ȱ KnaȬ

benȬAnzüge.ȱ 19ȱȱ erstmalsȱerhobenȱvonȱBostonȱConsultingȱGroup:ȱStudieȱüberȱdenȱeuropäischenȱTextilȬ

markt,ȱ1990;ȱanschließendȱimȱAuftragȱderȱSØRȱRuscheȱGmbHȱerhobenȱvonȱDroegeȱ&ȱ Comp.,ȱ1999.ȱȱ 20ȱȱ ThomasȱRusche,ȱDasȱKleidergen:ȱSØR;ȱChronikȱ1965ȱȬȱ2006ȱ;ȱSØRȬGeneseȱinȱfünfȱAkȬ

ten,ȱOelde,ȱȱHolterdorf,ȱ2006,ȱS.ȱ31.ȱ 21ȱȱ Carstenȱ Schmelting,ȱ Torstenȱ Schmalbach:ȱ Wettbewerbsvorteileȱ durchȱ funktionsüberȬ

greifendesȱLieferantenmanagement,ȱin:ȱBeschaffungsmanagement,ȱRevueȱdeȱl’acheteurȱ Nr.ȱ324,ȱ5/2006,ȱS.13ȱ 22ȱȱ Bestellungȱ aufgrundȱ einerȱ adȱ hocȱ auftauchenden,ȱ unvorhersehbarenȱ ModeentwickȬ

lung.ȱ 23ȱȱ BestellungȱvonȱBasisȬArtikeln,ȱdieȱfürȱdenȱHandelsabnehmerȱvomȱLieferantenȱlangfrisȬ

tigȱverfügbarȱgehaltenȱwerden.ȱ 24ȱȱ ALDIȱNordȱoderȱALDIȱSüdȱ–ȱesȱspieltȱkeineȱRolle.ȱ 25ȱȱ LEHȱ=ȱLebensmittelȱEinzelhandel.ȱ

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Literaturverzeichnis

HAASIS, HEINRICH / FISCHER, THOMAS R. / SIMMERT, DIETHARD (HG.): Mittelstand hat Zukunft, Praxishandbuch für eine erfolgreiche Unternehmenspolitik, Wiesbaden 2007. KAPLAN; ROBERT S. / NORTON, DAVID P.: The Balanced Scorecard, Translating Strategy into Action, Boston1996. KRÜGER, WOLFGANG / KLIPPSTEIN, GERHARD / MERK, RICHARD / WITTBERG, VOLKER (HG.): Praxishandbuch des Mittelstands, Leitfaden für das Management mittelständischer Unternehmen, Wiesbaden 2007. PUFAHL, MARIO A. / LAUX, DAVID / GRUHLER, JÖRG: Vertriebsstrategien für den Mittelstand. Die Vitaminkur für Absatz, Umsatz und Ertrag, Wiesbaden 2006. SCHEIBELER, ALEXANDER A. W.: Balanced Scorecard für KMU, Kennzahlenermittlung mit ISO 9001:2000 leicht gemacht, Berlin 2003 (3. überarb. Aufl.). SCHIRRMACHER, FRANK: Das Methusalem-Komplott, München 2004. SIMON, HERMANN: Die heimlichen Gewinner: Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer (Hidden Champions), Frankfurt am Main 1996. SIMON, HERMANN: Hidden Champions des 21. Jahrhunderts. Die Erfolgsstrategien unbekannter Weltmarktführer, Frankfurt am Main 2007. SIMON, HERMANN: Hidden Champions: Lessons from 500 of the World’s Best Unknown Companies, Boston 1996. SIMON, HERMANN: Der gewinnorientierte Manager, Abschied vom Marktanteilsdenken, Frankfurt am Main 2006. TROXLER, WERNER: Führen heißt, Zürich 1999. VOHL, HANS-JÖRG: Balanced Scorecard im Mittelstand Hamburg 2004. WIEDEKING, WENDELIN: Anders ist besser, München 2006.

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Stichwort- und Namensverzeichnis

Stichwort- und Namensverzeichnis

A Ablauforganisation 74, 89 ALDI 213 Alsters, Verena 163 Aufbauorganisation 74

B Basel II 13 Basel-II-Richtlinien 21 Bauunternehmung Tecklenburg GmbH 139 ff. Beckenbauer, Franz 223 Beschaffungsmarketing 187 Besprechungskalender 104 Beucke, Eberhard 98, 124 Bröcker, Wilhelm Th. 90 Burchard Führer Unternehmensgruppe 39 ff. Businessplan 29, 34

C CapGemini Ernst &Young Systems GmbH 84 Category Management 214 Coaching 119 Commitment 37 Computer gestütztes Facility Management (CAFM) 85 Controlling 36 Corporate Behaviour 191

D Daum, Christoph 224

E Efficient Consumer Response (ECR) 214 Eigenkapitalquote 21 Einheitskonditionen 199 Einkaufen 216, 219 Einkaufsstrategie 206 Einzelgespräche 96 Einzelhandel 180 Electronic Data InterchangeSystem (EDI 211

F Facility Management 84 Factoringinstitute 21 Fehler 37 Finanzierung 12 Flughafen Athen 123 freier Kapitalmarkt 12 Führen 83, 135 Führer, Burchard 39 ff. Führer, Susanne 42 Führungskräftetraining 114 Function Point-Methode 109 f.

G geschlossene Fragen 30

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Stichwort- und Namensverzeichnis

Görze, Rita 99, 118

H HOCHTIEF Software GmbH 84 ff. HS Heimservice GmbH 40, 43

I Ich-AG 26 Immobilienvertrieb 155 Incentives 71 Interesse 20, 27, 30 Interessensmanagement 26

J Jütten, Jens 163

Management by objectives 76, 90 Marke 161 Meilensteinplan 29 mezzanines Kapital 21 Mitarbeiter 26, 113 Mitarbeitergespräch 119 Mittelstand Definition 12 Stärke 16

mittelständische Managementmethode 14, 19, 28

N Nachfolgeregelung 14 Nische 39

O K

Kaiser, Markus 108 Kiwitt, Ulrich 124 Klinsmann, Jürgen 225 ff. Knoerich, Thomas 194 Kolbe, Peter 98 Kölges, Peter 108, 117 Kreditvergabe 14 Kunden 27

L Leads 166, 203 Lieferanten 27, 205 López de Arriortúa, José Ignacio 182

M maax² 113 Machiavelli, Niccolò 39

OBW 85 Opel 182 Oracle 25 Organisation 117

P Pflegewirtschaft 51 Porsche AG 70 Potenzialanalyse 103 Preisstrategie 55 Private Equity 12, 21 Private Label 194 Produktgestaltung 46, 51 Produktinnovation 50 Produktivitätsquote 113 Produktkommunikation 57 Produktmanagement 48, 68, 80, 111, 118 Programmpolitik 54

235

Stichwort- und Namensverzeichnis

PWS-Konzept (pay when sold) 202

Stellenbeschreibung 108 Supplier Rating 208

Q Qualität 52

R Rack Jobbing 214 Racky, Bardo 90, 124 Rating 13, 21 Rational Rose-Implementierung 109 Reorganisation 159 Reuter, Edzard 70 Roßbach, Rocco 118 Rusche, Doris 192 Rusche, Egon 185 Rusche, Thomas 180 ff.

S SAP 25 Schrempp, Jürgen 70 Schulung 108 Seniorenpflege 40 Service 51 SØR Rusche GmbH 179 ff. Sortiment 211 Stakeholderanalyse 29 Stakeholders 23 Standort 72

T Tecklenburg, Gerhard 145 Tecklenburg, Hermann 140 ff. Textilindustrie 179 Thämmig, Kosmas 163 Tragetaschen 196 Turn-around 84, 103, 131

V Veränderungsprozesse 102 Vergütungssystem 154 Verkaufen 175 Verkäufer 117 Verkäuferschulung 194 Vertrieb 57, 113, 140, 150

W Warenwirtschaft 211

Z Ziel 31, 62, 116 Produktziele 63 Unternehmensziele 63 Vertriebsziele 63

Danksagung

237

Danksagung

Dieses Buch verdankt sich dem Erfolg der vielen Unternehmen, die wir in den zurückliegenden gut 20 Jahren in unterschiedlichen Rollen und Funktionen führen, begleiten oder beobachten durften. Ganz besonders möchten wir uns daher bei allen unseren heutigen und ehemaligen Kollegen und Geschäftspartnern bedanken, deren Tun und deren Zeugnis im Mittelpunkt dieses Buches stehen. Alle vier in dieses Buch aufgenommenen Unternehmensgeschichten wären ohne die sehr aktive, disziplinierte und bescheidene Mitarbeit der Inhaber, Manager, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Unternehmen nicht möglich gewesen. Ausdrücklich bedanken wir uns bei Burchard Führer, Bardo Racky, Hermann Tecklenburg, Dr. Dr. Thomas Rusche und Herrn Thomas Knoerich für anregende, offene und neue Erkenntnisse zu Tage fördernde Gespräche. Wir danken jenen Freunden, Kollegen und Geschäftspartnern, denen wir es zugemutet haben, dieses Buch aus mittelständischem, aus Konzern- und auch aus Beraterblickwinkel ganz oder teilweise zu redigieren. Dankbar erinnern wir uns der vielen Gespräche, die wir in den zurückliegenden Jahren mit dem 2005 plötzlich verstorbenen Bielefelder Mathematiker und Bonner Unternehmensberater Prof. Ulrich Hirsch führen durften, einem Systemtheoretiker und Unternehmensberater von scharfem Verstand und trockenem Humor. Er verbarg seine große Menschlichkeit hinter der sprichwörtlich-angelsächsischen stiff upper lip ebenso gut wie die meisten anderen Mittelständler, denen wir im Lauf der Jahre begegnet sind. Mit großem Respekt und dankbarer Freundschaft denkt Julian v. Hassell an die sehr intensiven Diskussionen mit dem indischen Wirtschaftsnobelpreisträger des Jahres 1998, Prof. Amartya Sen in Trinity’s Master’s Lodge im Sommer 2002 zurück. Er zeigte mir, dass Menschlichkeit eine Funktion wirtschaftlichen Erfolges ist. Ich fühle mich geehrt, zu seinen Freunden zählen zu dürfen. Wir möchten auch unseren Familien danken, die in den letzten Jahren immer weniger von uns sahen. Dies sind unsere Ehefrauen und Kinder Palvasha, Jahangir, Harun und Harris v. Hassell sowie Simone mit Naomi, Zara und Chloé Rickes. Und: vielen Dank, Kerstin Schriefers, für die Unterstützung im Kampf gegen Formatierung, und übergroße Dateien!

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Die Autoren

Die Autoren

Sven Rickes ist als Investor und Unternehmer in der Immobilienwirtschaft und im Beratungs- und Beteiligungsgeschäft aktiv. Mit RICKES CONSULTING begleitet er seit 1997 erfolgreich Unternehmen im Veränderungs- und Krisenmanagement. Er war viele Jahre im Management mittelständischer Unternehmen tätig, gilt als Vertriebs- und Führungsexperte und kann auf außergewöhnliche Projekterfolge verweisen. Seine Vertriebsmethode maax² wird bei vielen mittelständischen Unternehmen erfolgreich eingesetzt. www.rickes-consulting.de

Julian von Hassell begleitet mittelständische Unternehmen und Investoren im Rahmen von strukturierten Nachfolgeregelungen, Beteiligungs- und Reengineering-Prozessen. Er war viele Jahre erfolgreich in leitender Position im Mittelstand tätig – bis 2006 als Geschäftsführer eines Softwarehauses in Frankfurt a. M. Julian von Hassell studierte Wissenschaftsgeschichte, Wissenschaftstheorie und Logik in München und Cambridge. Seine Methode der Vertriebssteuerung anhand messbarer Prozessmerkmale wird heute in zahlreichen großen und kleinen Unternehmen erfolgreich eingesetzt. Er publiziert regelmäßig in der Wirtschaftspresse. www.vonhassell.de