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German Pages 217 Year 2002
Joachim Küpper Petrarca
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Petrarca Das Schweigen der Veritas und die Worte des Dichters
von Joachim Küpper
Walter de Gruyter · Berlin · New York 2002
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
앝 Gedruckt auf säurefreiem Papier, 앪 das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt. Die Deutsche Bibliothek ⫺ CIP-Einheitsaufnahme Küpper, Joachim: Petrarca : das Schweigen der Veritas und die Worte des Dichters / von Joachim Küpper. ⫺ Berlin ; New York : de Gruyter, 2002 ISBN 3-11-017557-6
Copyright 2002 by Walter de Gruyter GmbH & Co. KG, 10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Datenkonvertierung: META Systems GmbH, Elstal Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin
Inhalt Vorbemerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance (Überlegungen zum Secretum) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Mundus imago Laurae. Das Sonett „Per mezz’i boschi“ und die ,Modernität‘ des Canzoniere . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 Schiffsreise und Seelenflug. Zur Refunktionalisierung christlicher Bilderwelten im Canzoniere (Mit einem Post-Scriptum zur Singularität des Lyrikers Petrarca sowie zur epistemologischen Differenz von Literarhistorie und Diskursarchäologie) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 (H)er(e)os. Der Canzoniere und der medizinische Diskurs seiner Zeit (Mit einer Nachbemerkung zur Kontingenz des Entstehens von Texten epochalen Rangs) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 Palinodie und Polysemie in der Mariencanzone (Mit einigen Gedanken zu den Bedingungen der Unterschiede von antiker und abendländischer Kunst) . . . . . . . . . . . . . . . . . 162
Vorbemerkung Meine Ausbildung zum Romanisten begann in den frühen siebziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Es gab seinerzeit mancherlei Unrast an den Hochschulen und auch Streit um die richtige (vs. ideologisch verblendete) Auslegung der Texte. Aber es gab keine Kontroverse um den Kanon. Das Studium der Italianistik, das ich neben dem der Französistik (damals noch unter dem Namen ,Romanistik‘) und dem der Geschichte gewählt hatte, war allererst eine Befassung mit Dante, Boccaccio und Petrarca. Ohne die gründliche Kenntnis der Commedia hätte ich mein Mitte der achtziger Jahre verfaßtes Buch über das spanische Barockdrama 1 so nicht geschrieben, ohne das intensive Lesen des Decameron würden für mich H. Blumenbergs und M. Foucaults Beschreibungen der Frühen Neuzeit 2 nicht jene Konkretion erlangt haben 3, deren es bedurfte, um sie für mich zur Basis all meiner späteren Veröffentlichungen zu den Texten jener Epoche zu machen 4. Aber einzig aus meiner Petrarca-Lek1 Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Caldero´n. Untersuchungen zum spanischen Barockdrama. Mit einer Skizze zur Evolution der Diskurse in Mittelalter, Renaissance und Manierismus, Tübingen 1990. 2 Für H. Blumenberg s. die in drei Teile aufgespaltene, erweiterte und überarbeitete Neuauflage von Die Legitimität der Neuzeit (Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a. M. 1980; Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, Frankfurt a. M. 1982; Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a. M. 1983), für M. Foucault das Kap. „La Prose du monde“ in Les Mots et les choses. Une arche´ologie des sciences humaines, Paris 21974 (11966), S. 32-59. 3 S. dazu meinen Aufsatz „Affichierte Exemplarität, tatsächliche A-Systematik. Boccaccios Decameron und die Episteme der Renaissance“, in: K. W. Hempfer (Hrsg.), Renaissance. Diskursstrukturen und epistemologische Voraussetzungen. Literatur - Philosophie - Bildende Kunst, Stuttgart 1993, S. 47-93. 4 Mein Renaissance-Konzept habe ich am ausführlichsten in der „Einleitung“ sowie in der „Diskursskizze Mittelalter - Renaissance - Manierismus“ des in Anm. 1 zitierten Titels entwickelt; weitere wichtige Veröffentlichungen - neben den hier gedruckten PetrarcaStudien -, die allesamt auf abstrakter Ebene in eine ähnliche Richtung argumentieren wie das im Folgenden zu Lesende: Die entfesselte Signifikanz. Quevedos Suen˜os, eine Satire auf den Diskurs der Spät-Renaissance, Egelsbach/Köln/New York 1992; „Mittelalterlich kosmische Ordnung und rinascimentales Bewußtsein von Kontingenz. Fernando de Rojas’ Celestina als Inszenierung sinnfremder Faktizität (mit Bemerkungen zu Boccaccio, Petrarca, Machiavelli
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Vorbemerkung
türe, die 1971, im dritten Studiensemester, begann, ist eine eigenständige Abteilung der Veröffentlichungstätigkeit erwachsen, deren mittlerweile auf fünf Studien angewachsene Früchte hier dem interessierten Leser in toto präsentiert werden 5. Es entspräche den Üblichkeiten, wenn ich dieses Faktum als Reflex einer besonderen Liebe zu den Texten gerade dieses Autors interpretierte. Diese Liebe ist im Laufe der Jahre entstanden, indes, am Beginn war das genannte Faktum ein Produkt der Kontingenz. Die Zufälligkeiten meiner akademischen Vita führten dazu, daß ich nach dem Staatsexamen und der Promotion die Beschäftigung mit dem Italienischen zunächst zurückstellte, zugunsten des Spanischen. Ein anderer Zufall ließ A. Noyer-Weidner und W.-D. Stempel im Sommersemester 1987 den Plan fassen, ein Oberseminar zu Petrarcas Secretum zu veranstalten, zu dem ich als Teilnehmer gebeten wurde. Die zwischenzeitliche, vor allem durch meine Caldero´n-Studien angeregte Befassung mit der theologischen und philosophischen Tradition des Mittelalters eröffnete mir über dieses Seminar den Zugang zu einem Petrarca, welcher ein anderer als derjenige war, der mir noch aus der Studentenzeit vertraut schien und der bis heute ⫺ mit guten Gründen ⫺ die Forschung und Lehre bestimmt, dem Liebeslyriker. So war denn meine erste Veröffentlichung
und Montaigne)“, in: G. v. Graevenitz/O. Marquard (Hrsg.), Kontingenz, München 1998, S. 173-223; „La vida es suen˜o: ,Aufhebung‘ des Skeptizismus, Recusatio der Moderne“, in: F. Wolfzettel/J. K. (Hrsg.), Diskurse des Barock. Dezentrierte oder rezentrierte Welt?, München 2000, S. 383-428; „Welterfahrung und Selbsterfahrung im Arcipreste de Talavera. Zu einigen Aspekten der Vorgeschichte moderner Subjektivität“, Romanistisches Jahrbuch Bd. 50/ 1999, S. 364-400; „Düstere Welt und lichte Perspektive in den Cervantinischen Novelas ejemplares“, in: R. Behrens/R. Galle (Hrsg.), Konfigurationen der Macht in der Frühen Neuzeit, Heidelberg 2000, S. 167-216. 5 Der Secretum-Essay wurde erstveröffentlicht in Poetica Bd. 23/1991, S. 425-475, „Mundus imago Laurae“ erschien erstmals in Romanische Forschungen Bd. 104/1992, S. 52-88, „Schiffsreise und Seelenflug“ in Bd. 105/1993, S. 256-281 derselben Zeitschrift, der Hereos-Artikel gleichfalls dort, in Bd. 111/1999, S. 178-224, und der Aufsatz über die Mariencanzone erscheint parallel in der von G. Regn und K. W. Hempfer herausgegebenen Gedenkschrift für A. Noyer-Weidner (München 2002). - Aus naheliegenden Gründen wurde der Wortlaut der Erstveröffentlichungen gewahrt, ineins damit der eigenständige Charakter der fünf Studien (dies betrifft auch die bibliographischen Details, wie etwa die erste Einführung zitierter Titel oder die Querverweise auf bereits Zitiertes). Korrigiert habe ich meinen seinerzeitigen Hang zum Semikolon, grobe stilistische Unebenheiten sowie alle Lapsus, v. a. in den Zitaten, die mir bei der neuerlichen Lektüre aufgefallen sind. Schließlich wurden die Titel der Essays, durch Aussparung der wiederholten Nennung des Namens von Petrarca, dem neuen Rahmen angepaßt.
Vorbemerkung
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dem Secretum gewidmet, mit anderen Worten, dem Theologen und Philosophen Petrarca. Jeder, der das Gesamt-Œuvre des Autors überblickt, weiß, wie eng die intertextuellen Bezüge zwischen den verschiedenen Abteilungen sind, zwischen der Lyrik, den theologisch-philosophischen Schriften und den Briefen. So lag es nahe, daß die Befassung mit dem Secretum für mich in einer re-lecture des Canzoniere resultierte, unter eben dem Aspekt, der aus einer solchen Perspektive folgert: Welchen Belang haben die extraliterarischen, näherhin theologischen und philosophischen Diskurse der Zeit für die Sammlung lyrischer Gedichte, die in diesem Kontext entstand? Produkt dieser Fragestellung sind die zweite und die dritte hier wiedergedruckte Studie 6. Ungeachtet der (stets relativen) Neuartigkeit des Ansatzes läuft meine Lektüre nicht auf eine völlig neue Deutung hinaus, vielmehr darauf, daß man Petrarcas Lyrik nicht modernistisch fehlinterpretiert, sondern sie im Einklang mit einigen wesentlichen, von ihm selbst entworfenen Textstrategien liest, wenn man den Autor in der Tradition Rousseaus und Hegels als ersten ,Modernen‘ betrachtet. Die vierte Studie dieses Bandes verdankt sich einem neuerlichen Interferieren der Kontingenz. Im Rahmen eines von H. U. Gumbrecht organisierten US-europäischen Unternehmens mit dem Arbeitstitel ,The Medieval Senses‘ stieß ich auf Textzeugnisse einer extraliterarischen, näherhin medizinischen mittelalterlichen Liebestheorie, die mir und der PetrarcaForschung bis dahin unbekannt waren. Es wäre erklärungsbedürftig, wenn der umfassend gebildete und an ,medizinischen‘ Fragen nachweislich interessierte Petrarca diese Texte ignoriert hätte, die damals zum Programm der universitären Lehre gehörten. So ist es denn nicht schwer, im Canzoniere ihr palimpsest-artiges Durchschimmern zu erkennen. Es scheinen sich aus dieser Sicht eine Reihe von Merkmalen der Petrarkischen Lyrik zu erhellen, die man bislang nur vermittels hochspekulativer individual-biographischer Muster einzuordnen wußte. Für mich selbst 6 Welchen Belang sie für den Autor hatten, erhellt aus dessen Gesamtwerk und ist insofern im Prinzip nicht strittig. Aber Texte sind für Leser geschrieben. Statt einer umständlichen Darlegung des Faktums, daß auch in dieser Hinsicht die Dinge seinerzeit völlig anders lagen als heute, begnüge ich mich mit dem Verweis auf die in Anm. 63 des Secretum-Aufsatzes dokumentierte Position von E. Gilson. Hinzuzufügen bliebe, daß es bei einer entsprechenden ,archäologischen‘ Arbeit nicht um die im Bereich der Zeichen per se ausgeschlossene Rekonstruktion des Seinerzeitigen gehen kann. Wohl aber kann - dies ist auch der Anspruch der zwei Studien - die Kenntnisnahme des seinerzeit Präsenten unsere heutige und notwendigerweise unter gegenwärtigen Prämissen stehende Lektüre um einiges bereichern; pointierter ausgedrückt: Es kann sie de-banalisieren.
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Vorbemerkung
aber war der Gewinn dieser Studie nicht zuletzt das, was ich in der „Nachbemerkung“ zu entwickeln versuche: Es ist durchaus möglich, an der Auffassung festzuhalten, daß Petrarca im 14. Jahrhundert Figuren des Denkens und des Schreibens entworfen hat, die für die Moderne von zentralem Belang sind. Indes muß man ihn deshalb nicht mit dem zweifelhaften Anspruch eines übermenschlichen Genies befrachten, und auch nicht die Welt- und Geistesgeschichte mit der Behauptung teleologischer Folgerichtigkeit. Das kontingente Aufeinandertreffen des Diversen kann unter seinerseits zufälligen Kontextbedingungen zum Entstehen von Konfigurationen führen, die erst in sehr viel späterer Zeit zu bewußt reflektierten Mustern werden. Solches anzunehmen bestreitet nicht, daß Petrarca einer der wenigen ganz Großen unserer Überlieferung ist. Aber es eröffnet die Möglichkeit, die in diesem Band passim erhobene Behauptung einer ,Vorläuferschaft‘ Petrarcas für die Moderne in anderen Bahnen als in denen der Geschichtsphilosophie zu denken. Hätte die Historie des Abendlandes auch nur an einer der zahlreichen Gabelungen, an die sie ihr Weg führte, eine andere Richtung genommen, wäre das Œuvre dieses Dichters möglicherweise aus unserem Horizont entschwunden 7. Die fünfte der hier wiedergedruckten Studien ist mit dem letzten Gedicht des Canzoniere befaßt, und sie ist demjenigen gewidmet, dessen oben genanntem Oberseminar es sich wohl verdankt, daß die im Folgenden zu lesenden Studien überhaupt entstanden sind. Aus einer solchen Konstellation könnte man Pathos-Formeln nach der Art ,eines sich schließenden Kreises‘ gewinnen 8. Aber ich selbst würde diese fünf Aufsätze lieber in der Tradition dessen, den sie behandeln, als fragmenta ansehen und mir auf diese Weise das eventuelle Hinzufügen weiterer Bruchstücke gestatten wollen. Auf jeden Fall wird mich die dort abschließend erörterte Frage: was es ist, das ungeachtet des Wurzelns in der antiken Tradition unsere abendländische Kunst von der der klassischen Antike so sehr verschieden macht, weiterhin, und in gründlicherer Weise als in jenem Essay, beschäftigen. Der gemeinsame Titel, unter den die fünf Studien hier gestellt werden, spielt auf den Titel des ersten und insofern ,ältesten‘ der Aufsätze an. 7 Zu einem solchen, a-teleologischen Verständnis von Geschichtlichkeit und Tradition s. Vf., „Kanon als Historiographie. Überlegungen im Anschluß an Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen, zweiter Teil“, in: M. Moog-Grünewald (Hrsg.), Kanon und Theorie, Heidelberg 1997, S. 41-64. 8 Dies um so mehr, als mich bei einer letzten Revision des diesem Band zugrunde liegenden Manuskripts die schmerzliche Nachricht erreicht, daß der Doyen der deutschsprachigen Italianistik am 26. 12. 2001 verstorben ist.
Vorbemerkung
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Aber diese Wahl ist nicht in den rein zeitlichen Verhältnissen begründet. In der Tat scheint mir die Grundsituation des Secretum: ein im inneren Zwist mit sich selbst befangenes Subjekt, das sich mit einer Wahrheit konfrontiert sieht, die ,da‘ (präsent) ist, aber schweigt, die gedankliche Basis all dessen zu konstituieren, was Petrarca geschrieben hat. Es ist dieses Schweigen, das den inneren Konflikt zu einem unabschließbaren macht. Mehr noch: wenn die Veritas in ihrem unerforschlichen Sein zu schweigen beschlossen hat, wird die Suche des Einzelnen nach einer eigenen Wahrheit legitim. Und ist schließlich dieser Eindruck des ,Schweigens‘ der Wahrheitsinstanz nicht nur das Phantasma eines Einzelnen, sondern trifft er den ,Nerv‘ einer ganzen Epoche, erhält auch die Mitteilung von dieser Suche allgemeinen Belang. Von seinen Worten als Dichter erhoffte sich Petrarca nicht weniger als Unsterblichkeit. Ein solcher Anspruch ist nicht allein auf die ästhetisch perfekte Form zu gründen. Er weist darauf hin, daß dieser Dichter seinen subjektiven Weg als ein Unterfangen von generellem Interesse ansah. Das konkrete Sujet, die unglückliche Liebe zu einer Frau, der er den Namen Laura gab und die möglicherweise ein poetisches Konstrukt ist, hat für dieses allgemeine und noch heute virulente Interesse vermutlich nur sekundäre Erheblichkeit. Es ist das bei Petrarca erstmals mit Prägnanz hervortretende, die westliche Kultur prägende Grundmuster des auf das Gespräch mit sich selbst verwiesenen Subjekts, das die bleibende Aktualität seines Werks begründet. Joachim Küpper
Dezember 2001
Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance (Überlegungen zum Secretum) 0. Petrarca und sein Werk nehmen eine Sonderstellung in den Diskussionen um die Schwellenepoche ein, in der sie sich situieren. Es gibt Einwände gegen die vorbehaltlose Zuordnung Dantes zum Mittelalter und Boccaccios zur Renaissance 1, aber bei keinem anderen der berühmten Trias schwanken die Urteile so sehr wie in diesem Fall. Der Einfluß des Petrarca-Bildes von J. Burckhardt 2 hat im deutschsprachigen Bereich verdeckt, daß sich die Auffassungen eines mittelalterlich-christlichen und die eines rinascimental-säkularisierten Petrarca nach wie vor unversöhnlich gegenüberstehen 3, und ob die seit P. de Nolhac oftmals aufgegriffene vermittelnde Position, im Sinn einer geistigen ,Entwicklung‘ des Autors, das Problem löst, ist fraglich 4. Denn in der Tat haben beide Thesen philologisch zunächst recht. Es lassen sich aus fast allen Werken Textbelege in Fülle für die eine wie die andere Auffassung beibringen 5. Aber der philologische Positivismus, der für die vom Canzoniere angestoßene 1 Im Hinblick auf Dante s. v. a. H. R. Jauß, „Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur“, in: H. R. J., Alterität und Modernität der mittelalterlichen Literatur. Gesammelte Aufsätze 1956-1976, München 1977, S. 9-47, bes. S. 24 f.; für Boccaccio vgl. V. Branca, Boccaccio medievale, Firenze 21964 (11956), bes. S. 3-123. 2 Die Kultur der Renaissance in Italien, Wien/Leipzig o. J. (1937; 11860), S. 76-97. 3 S. dazu die die Spannbreite der Auffassungen reflektierenden Beiträge in: A. S. Bernardo (Hrsg.), Francesco Petrarca, Citizen of the World. Proceedings of the World Petrarch Congress, Washington, D. C., April 6-13, 1974, Padova/Albany, N. Y. 1980. 4 Pe´trarque et l’humanisme, 2 Bde., Paris 21907 (11892), bes. Bd. 2, S. 189-237. 5 Was das Secretum angeht, wäre hier die „lectura“ von F. Rico heranzuziehen, die in den Anmerkungen sämtliche identifizierbare, sei es mittelalterlich-christliche, sei es antik-pagane Textzitate nachweist (Vida u obra de Petrarca, Bd. 1, Lectura del Secretum, Padova 1974, passim).
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Evolutionslinie ein taugliches Instrumentarium abgeben mag, greift für das Werk Petrarcas selbst zu kurz. Dieser Dichter ist essentiell rinascimental und in gewisser Weise auch modern, gerade weil er fundamental christlich denkt. Die auf sein Textcorpus bezogenen Behauptungen „widerstreitender Tendenzen“, einer im Taumel der Antiken-Lektüre verloren gegangenen ,Ordnung der Gedanken‘, ja eines „Chaos [von] […] Widersprüchen“ ignorieren die Spezifik der Positionen dieser Zeit 6. Petrarcas Werk ist ein Dokument maximaler Bewußtheit und konzeptueller Schärfe 7. Es kann als Kronzeuge für die von H. Blumenberg entwickelte These einstehen, daß die Moderne sich nicht konstituiert in einem kontinuierlichen Prozeß der Säkularisierung, sondern in Konsequenz eines theologischen Absolutismus, der die Autonomie des Mundanen nicht nur ermöglicht, sondern sie nachgerade erzwingt 8. Die entsprechende Duplizität, die aufbricht in dieser Epoche, markiert alle, selbst die lyrischen Texte Petrarcas, am meisten aber seinen bedeutendsten, zwischen 1347 und 1353 entstandenen lateinischsprachigen Text 9. 6 In der Reihenfolge der Zitate: E. Cassirer, Individuum und Kosmos in der Philosophie der Renaissance, Leipzig/Berlin 1927, S. 39; N. Sapegno, Storia letteraria del Trecento, Milano/Napoli 1963, S. 239 („La sostanza del suo spirito e` costituita da una folla di spunti intellettuali, che l’immaginazione, la sensibilita`, le innumerevoli letture gli offrono, ma che non giungono a chiarirsi e a diventare un complesso ordinato di idee […]“); K. Heitmann, Fortuna und Virtus. Eine Studie zu Petrarcas Lebensweisheit, Köln/Graz 1958, S. 249. Zu den zahlreichen weiteren Vertretern einer solchen Auffassung s. auch die ausführlichen Hinweise bei G. Constable, „Petrarch and Monasticism“, in: Bernardo (Hrsg.), Francesco Petrarca (s. Anm. 3), S. 53-99, hier: S. 55 f. mit Anm. 6. 7 In der Petrarca-Philologie ist diese Erkenntnis jüngeren Datums. Der entsprechende Punkt wird vom Herausgeber der Akten des „World Petrarch Congress“ anläßlich des 600. Todestags des Autors bei seiner Aufzählung der neuen Perspektiven, die dieser bedeutendste Petrarca-Kongreß der letzten Jahrzehnte der Forschung gewiesen habe, an erster Stelle genannt („Petrarch is as much of a giant in the history of ideas as he is in the love lyric […]“ [Bernardo, „Introduction“, in: A. S. B. (Hrsg.), Francesco Petrarca, S. XV-XXIII, hier: S. XXII]). 8 Säkularisierung und Selbstbehauptung [Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, erster und zweiter Teil], Frankfurt a. M. 21983 (11966), bes. S. 185-211, sowie ders., Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner [Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von Die Legitimität der Neuzeit, vierter Teil], Frankfurt a. M. 21982 (11966), bes. S. 109-163; zur näheren Erläuterung s. u., S. 16-20. 9 Zur weiterhin hypothetischen Datierung s. die ausführliche Diskussion bei Rico, Vida u obra de Petrarca (s. Anm. 5), S. 9-16. Rico setzt an, die Erstfassung sei 1347 entstanden, 1349 eine Überarbeitung, 1353 schließlich diejenige Version, die den heutigen Drucken zugrunde liegt und die die einzig tradierte ist. - Die Bedeutung des Secretum wird seit den Anfängen der Petrarca-Philologie gesehen. Schon G. Voigt nennt den Text den „Schlüssel zu allen anderen Werken Petrarcas und die Krone derselben“ (Die Wiederbelebung des classischen Alterthums, 2 Bde., Berlin 1880/1881, Bd. 1, S. 135).
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Jedoch auch die erörternden Schriften dieses Autors sind hochrhetorisierte und damit vom Anspruch her allererst dichterische Texte. Sie geben das Gemeinte nicht unmittelbar preis, sondern verbergen es, in kunstvoller ,Verhüllung‘ 10. In keinem anderen indes affiziert die Rhetorisierung das logische Substrat stärker als im Secretum, bis zu einem Punkt, an dem sich Perspektiven öffnen, die den Autor veranlaßt haben mögen, die Arbeit an dem Text nach jahrelanger, intensiver Befassung abzubrechen und ihn unvollendet zu lassen.
1. Das Secretum ist ein ,Büchlein‘ von großem Raffinement, und es hat als solches seit Beginn der Rezeptionsgeschichte dem Leser jene „dulcedo“ ⫺ gedankliches und ästhetisches Vergnügen ⫺ vermittelt, welche, wie Petrarca im „Prohemium“ vielleicht nicht nur zum Schein sagt, er einzig sich selbst reservieren wollte 11. Den Winkelzügen, taktischen Verschiebungen, rhetorisch kaschierten Ausflüchten, psychologischen Listen, teils auch offenen Impertinenzen zu folgen, mit denen Franciscus sich immer wieder und schließlich definitiv den correptiones seines gestrengen Dialogpartners in diesem Gespräch der Selbst- und Gewissenserforschung entzieht, ist überaus fesselnd, zumal wenn man einbezieht, in 10 Zur genaueren Darstellung dieser älteren, der Moderne nicht mehr geläufigen (man könnte sagen: rhetorischen oder auch allegorischen [vs. symbolischen, im Goetheschen Sinn]) Auffassung von Dichtkunst s. genauer u., S. 46 f. 11 „Hoc igitur tam familiare colloquium ne forte dilaberetur, dum scriptis mandare instituo, mensuram libelli huius implevi. Non quem annumerari aliis operibus meis velim, aut unde gloriam petam (maiora quedam mens agitat), sed ut dulcedinem, quam semel ex collocutione percepi, quotiens libuerit ex lectione percipiam. Tuque ideo, libelle, conventus hominum fugiens, mecum mansisse contentus eris […]“ (Secretum, in: F. P., Prose, hrsg. v. G. Martellotti, P. G. Ricci, E. Carrara u. E. Bianchi, Milano/Napoli 1955, S. 21-215, hier: S. 26). Die Behauptung des Franciscus, das Buch habe private Dimension, wird in gewisser Weise wieder dementiert, wenn er darlegt, warum er der Niederschrift dieses und kein anderes formales Gepräge gegeben hat und sich dabei auf die Dialoge Platos und Ciceros beruft, das heißt Texte, die die Fiktion des ,persönlichen‘ Dialogs als literarisches Verfahren zur Präsentation eines philosophischen Diskurses etabliert haben. Rico vermag sogar Belege dafür beizubringen, unter anderem von Boccaccio, daß die Existenz der Schrift, möglicherweise auch der Text selbst, bereits in der Entstehungszeit bekannt waren (Vida u obra de Petrarca [s. Anm. 5], S. 33). - Zu ,dulcedo‘ als rhetorisch-ästhetische Kategorie s. die Hinweise unter dem Stichwort ,dulcis‘, insbes. auf die Stellen bei Cicero und Quintilian, in H. Lausbergs Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft, München 1960, §§ 336 und 1079.
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welch trockener Form die damals zu Ende gehende hochscholastische Zeit die entsprechenden, nämlich moraltheologischen Fragen verhandelt hatte 12. Aber das Raffinement und die geistige Relevanz des im Secretum Gesagten übersteigen um einiges das bislang Beobachtete, das heißt diejenigen Momente der Auseinandersetzung mit einem an der Epochenschwelle an Kraft verlierenden System der Welt- und Lebensorientierung, die ausdrücklich artikuliert sind. Nicht alles explizit zu machen, dies sei das angemessene Vorgehen, wenn es um bedeutende, aber kontroverse Fragen gehe 13, so läßt der Autor an einer Stelle im dritten Buch den von ihm entworfenen fiktiven Dialogpartner sagen, von dem er im „Prohemium“ behauptet, es sei der zum Zweck von Franciscus’ Errettung aus dem Paradies herabgestiegene Heilige Augustinus. Man kann die Äußerung als knappe Charakterisierung der zentralen Textstrategie auffassen und also als Hinweis darauf, daß in diesem Text mehr noch als üblich neben dem Gesagten auf das nicht Gesagte zu achten ist, genauer, auf Momente, deren Thematisierung sich in Ansehung dessen, was effektiv thematisiert ist, anbieten, ja aufdrängen würde. Dem Großteil der Forschung allerdings geht der Text nach wie vor in einem simplen Zitat des Beicht- und Bekehrungsschemas auf, das vor allem individual-biographisch von Interesse sei. Das Secretum markiere Petrarcas definitive Abwendung von der vorbehaltlosen Antikenbegeisterung seiner Jugend, sowie von anderem, das die kirchliche Lehre als sündhaft begreift 14. Reflektiertere Positionen indes, auch wenn sie die zitierte mise en abıˆme der Textstrategie nicht vermerken, gehen allesamt davon aus, daß das Werk nur sinnvoll zu verstehen sei, wenn man annehme, daß seine Struktur Leerstellen von erheblichem Belang inkorporiere. Naheliegenderweise läuft dies darauf hinaus, daß der Text unterschiedlichste, auf den ersten Blick auch irritierende Deutungen erfahren hat. So hat E. Loos behauptet, daß Petrarca zwar zum Zweck der Demonstration seiner humanistischen Gelehrsamkeit kaum einen der antiken Musterautoren der Zeit nicht zitiere, das wesentliche Vorbild seines Texts, die Consolatio Philosophiae des Boethius, aber rundweg verschweige. Die Vermutung, den Grund dafür in der Vertreibung der Mu-
12 Zu Petrarcas bewußter Distanzierung vom Stil- und Darstellungsideal der aristotelisierenden Scholastik s. auch Rico, Vida u obra de Petrarca, S. 32 f. 13 „Nam in omni sermone, gravi presertim et ambiguo, non tam quid dicatur, quam quid non dicatur attendendum est.“ (Secretum [s. Anm. 11], S. 190) 14 Gemeint sind hier etwa die in Anm. 17 und 18 genannten Titel von F. Tateo und H. Baron.
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sen durch die Philosophie zu Beginn der Consolatio zu sehen, bezieht die Beobachtung auf eine sehr grundsätzliche Problematik ⫺ dort mittelalterliche, hier rinascimentale Einstellung zum Belang von Dichtung und Kunst ⫺, die sicherlich für Petrarcas Denken einigen Stellenwert hat 15. Die These im einzelnen zu diskutieren, erforderte eine eigene Untersuchung. Hier muß der Hinweis genügen, daß im Secretum andere als poetologische Konzepte im Mittelpunkt stehen. Eine derart grundsätzlich durchgeführte Struktur wie die referierte verlangt, zumal wenn man ansetzt, daß jeder Leser das Verschweigen des Vorbilds registriert habe 16, eine stärker auf das semantische Zentrum des Texts bezogene Erklärung als die von Loos angenommene. Daß der Text Wesentliches von dem, was in ihm gemeint ist, nicht unmittelbar preisgebe, ist auch die Grundannahme von F. Ricos monumentaler Studie. Ricos in eine andere Richtung als Loos’ These weisende Behauptung eskamotiert die in der bisherigen Deutungstradition selten einmal problematisierte Lektüre von Augustinus und Franciscus als referenzidentisch mit den historischen Personen, auf die die zwei Namen verweisen. Was Franciscus artikuliere, stehe für eine im Augenblick der Textabfassung bereits überwundene Position des authentischen Francesco, die Positionen ,Augustins‘ entsprächen dem, was der spätere Petrarca vertrete 17. Ricos Vorschlag wird belastet von Fragen, auf die hier nur hingewiesen werden kann 18. Das vorwärtsweisende Moment der Studie besteht 15 „Petrarca und Boethius. Das Verschweigen der Consolatio Philosophiae im Secretum“, in: K. W. Hempfer/G. Regn (Hrsg.), Interpretation. Das Paradigma der europäischen RenaissanceLiteratur. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 1983, S. 258-271. Loos pointiert seine Deutung bis zu der Behauptung, „daß der Augustinus Petrarcas im Grunde Boethius heißen müßte“ (S. 271). Zum zitierten Grund des Verschweigens von Boethius s. S. 267-271. 16 S. dazu „Petrarca und Boethius“, S. 258. 17 Die passim in immer neue Formulierungen gekleidete These findet ihren klarsten Ausdruck, wenn Rico Augustin qualifiziert als „futuro del personaje [d. h. Franciscus], eco del autor“ (Vida u obra de Petrarca [s. Anm. 5], S. 511). - Die These ist nicht völlig originell. Sie begegnet in gewisser Weise bereits in der 1965 erschienenen Darstellung von F. Tateo und wird dort als „formula tradizionale“ qualifiziert („Francesco personaggio eminentemente biografico, era il vecchio Petrarca peccatore, Agostino la nuova coscienza cristiana.“ [Dialogo interiore e polemica ideologica nel Secretum del Petrarca, Firenze 1965, S. 6]). 18 Die Basis der in Anm. 17 zitierten These ist letztlich ein Biographismus traditionellster Observanz. Es ist das aus anderen Texten des Autors extrapolierbare ,Wissen‘ von einer inneren Wandlung Petrarcas, das Rico vor dem Hintergrund seiner Datierung der Endredaktion auf 1353 zu der Annahme führt, das Secretum modelliere einen Franciscus/Francesco, dessen Konversion unmittelbar bevorstehe und die realiter zum Zeitpunkt der Abfassung
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im methodischen Zugriff: Die Positionen der zwei Gesprächspartner sind zunächst als artikulierte Positionen zu beurteilen und nicht als kryptische Hinweise auf dieses oder jenes Erlebnis Francesco Petrarcas; vor allem, wer oder was sich hinter den Namen ,Franciscus‘ und ,Augustinus‘ verbirgt, ist im Hinblick auf das von den Figuren im Text Gesagte zu diskutieren, der von den Namen scheinbar eindeutig aufgerufenen Referenz zu folgen, mag nichts anderes bedeuten, als der reductive fallacy aufzusitzen. Warum indes Petrarca die möglicherweise irreführende Fährte konstruierte, bliebe zu erörtern, und hier liegt die größte Schwäche von Ricos These begründet. Zwar mag in einem ,Bekehrungstext‘ die überwundene Position mit einem Namen versehen werden, der auf den Schreibenden verweist, und die des (schreibenden) Bekehrten mit einem ganz anderen, demjenigen nämlich des ,Lehrers‘ oder Beichtvaters. Dann aber müßte der Text mit einer unzweideutigen Unterwerfung des ,erlebenden Ich‘ unter den Dialogpartner enden. Fehlt solches, wie hier, obwohl das anzitierte Schema es zwingend erforderte, bedeutet eine Behauptung wie die Ricos, die Grenzen der Rekonstruktion der dem Text impliziten ,non dicta‘ zu überschreiten und das Feld freier, das heißt beliebiger Spekulation zu betreten. Den grundsätzlichsten, zugleich philologisch seriösesten Vorschlag zur Deutung der Struktur des Secretum hat K. Heitmann geliefert. In einer Analyse der von den zwei Gesprächspartnern vertretenen ,opiniones‘ stellt er die auf den ersten Blick frappierende Behauptung auf, das eigentlich Verschwiegene sei ein ganzes Gedankengebäude, und zwar dessen, der qua Namen in dem Text allgegenwärtig ist, nämlich Augustins, wobei Petrarca dem Verfahren die Pointe verliehen habe, den fiktiven Augustinus Auffassungen vertreten zu lassen, die nicht nur von denen des authentischen abweichen, sondern die als „antiaugustinisch“ eingeordnet
des Texts bereits vollzogen sei (vgl. Vida u obra de Petrarca, S. 447, S. 459 f., S. 466 u. S. 534). Dies sei, wie es sei, im Text liest man nichts Entsprechendes. Gerade wenn Petrarca nach vollzogener Läuterung, im Jahr 1353, wie von Rico angesetzt, eine „refundicio´n completa“ (S. 461) des Secretum vorgenommen hat, hätte anderes nahegelegen, als es bei der provokativen Schlußpointe zu belassen. Ricos an die referierten Spekulationen anschließender eigenwilliger Umgang mit dem Textbefund (dazu u., Anm. 75) macht nochmals deutlich, wie sehr es auch philologisch wichtig ist, ,Werk‘ und ,Leben‘ tatsächlich als zwei kategorial verschiedene Größen anzusetzen. - Ein perspektivloser Biographismus dominiert nach wie vor die Secretum-Forschung; als ein vorläufiger Höhepunkt in dieser Hinsicht kann die 1985 gedruckte Studie von H. Baron gelten (Petrarch’s Secretum. Its Making and Its Meaning, Cambridge, Mass).
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werden müßten 19. Bezieht man ein, daß Petrarca Augustin-Kenner und -Liebhaber war 20 und er sich der Spezifik der original-Augustinischen Positionen nicht zuletzt auf dem Gebiet der im Secretum zentralen Handlungstheorie bis ins Detail bewußt war 21, daß es sich also um eine 19 „Augustins Lehre in Petrarcas Secretum“, Bibliothe`que d’Humanisme et de Renaissance Bd. 20/ 1960, S. 34-55; wiedergedruckt in: A. Buck (Hrsg.), Petrarca, Darmstadt 1976, S. 282-307 (Zitate: S. 291-302). Heitmann wirft der bis zu diesem Zeitpunkt geleisteten Forschung zu Recht vor, es mangele ihr „an Kenntnis der Gedankenwelt Augustins“ und damit an einer elementaren Voraussetzung zur Einordnung des Texts (S. 284). - Die These eines unAugustinischen Profils von Petrarcas Augustin wird unabhängig von Heitmann vertreten von Ch. Trinkaus, „Petrarch: Man between Despair and Grace“, in: Ch. T., In Our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought, 2 Bde., London 1970, Bd. 1, S. 3-50, hier: S. 5-17, bes. S. 7 f.; Trinkaus beurteilt aber den Stellenwert der Remodellierung als letztlich unerheblich und folgt dem oben kritisierten Klischee eines weniger luziden Petrarca („It matters little […] whether he [Petrarca] […] attributed positions to Augustinus that might well have horrified the Saint, [he] never resolved the contradictions of his ideas, although frequently confusing them.“ [S. 17, ähnlich S. 8 f.]). 20 Zu Petrarcas Wissen um den „diametralen“ Gegensatz zwischen den authentisch Augustinischen Positionen und denen des fiktiven ,Augustin‘ im Secretum s. Heitmann, „Augustins Lehre in Petrarcas Secretum“, S. 291 (Zitat) u. S. 293 f. Petrarca besaß bereits im Alter von 29 Jahren nachweislich Codices von De vera religione, De civitate Dei, De orando Dei, der Confessiones und der Soliloquia, das heißt auch zentrale Schriften der zweiten und Hauptphase von Augustins Schaffen (vgl. B. L. Ullmann, „Petrarch’s Favorite Books“, Transactions of the American Philological Association Bd. 54/1923, S. 21-38, wiedergedruckt in: B. L. U., Studies in the Italian Renaissance, Roma 1955, S. 117-137, bes. S. 123). S. weiterhin den Nachweis von G. Billanovich, daß der Autor die gnadentheologisch zentralen Enarrationes in Psalmos bereits seit 1337 besaß und intensiv studiert hat, allerdings zunächst nur In Psalmos CI-CL, jedoch ab 1355 das komplette Werk („Nella biblioteca del Petrarca“, Italia medioevale e umanistica Bd. 3/1960, S. 1-58, hier: S. 5, S. 10-15 u. S. 16; die einschlägige Forschungsliteratur in Anm. 1 zu S. 27). Eine Aufstellung nicht nur der Werke Augustins, die Petrarca besaß, sondern auch derer, die er ausweislich von Erwähnungen in seinen Texten und in Randglossen zu seinen Codices kannte, bringt P. P. Gerosa, Umanesimo cristiano del Petrarca. Influenza agostiniana, attinenze medievali, Torino 1966, S. 37-54, S. 166-174 u. S. 178 f. (Anm. 103). Man muß in Ansehung dieser Aufstellung Petrarcas Kenntnis des Augustinischen Werks als erschöpfend bezeichnen. Insbesondere alle theoretisch zentralen Schriften, auf die wir uns unten bei der Skizze derjenigen Positionen Original-Augustins stützen, die für das Secretum relevant sind, waren Petrarca bestens vertraut. 21 In De sui ipsius et multorum ignorantia erörtert Petrarca die handlungstheoretische Kontroverse zwischen Augustinismus und Thomismus, die wiederum aufs engste mit den unterschiedlichen gnadentheologischen Auffassungen verbunden ist, in expliziter Manier. Er ergreift dabei ohne Einschränkung Partei für die antirationalistische Lehre Augustins vom Primat des Wollens über den Intellekt, das Wissen („Tutius est voluntati bone ac pie quam capaci et claro intellectui operam dare. Voluntatis siquidem obiectum, ut sapientibus placet, est bonitas; obiectum intellectus est veritas. Satius est autem bonum velle quam verum nosse. Illud enim merito nunquam caret; hoc sepe etiam culpam habet, excusationem non habet. Itaque longe errant qui in cognoscenda virtute, non in adipiscenda, et multo maxime qui
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Struktur handelt, die man kaum der fehlenden philologischen Sensibilität der prä-humanistischen Epochen zurechnen kann 22, handelte es sich um eine Konstruktion, deren Kühnheit im Kontext dieser noch christlich denkenden Zeit so groß scheint, daß die Frage nach dem Warum des Entwurfs sich auf einer Ebene stellte, die an Grundsätzlichkeit der von Petrarca vorgenommenen Remodellierung seines Dialogpartners in nichts nachstünde. Heitmanns Aufsatz ist ein Meilenstein der Secretum-Forschung, weil er die bis heute vorherrschenden biographistischen Fragen ersetzt durch die nach der Substanz des Texts, mehr aber noch, weil er darauf aufmerksam macht, daß das Secretum sein eigentliches Profil erst gewinnt, wenn man über die immanente Betrachtung hinausgeht und die mit dem Namen ,Augustin‘ aufgerufenen Hypotexte einbezieht. Allerdings sind die von Petrarca anvisierten Folien zahlreicher, ihr Verhältnis zueinander ist komplexer, als in der Abhandlung vermutet. Die Argumentation ist unter zwei Aspekten zu ergänzen, was in der Summe auf eine neue Beurteilung des in der zitierten Studie nur teilweise erfaßten Verfahrens des Texts und damit seiner Botschaft hinausläuft. Heitmann qualifiziert, was Petrarca den fiktiven Augustin vertreten läßt, als Morallehre stoischer Provenienz, ja, er bezeichnet diesen Augu-
in cognoscendo, non amando Deo tempus ponunt.“ [in: Opere latine, hrsg. v. A. Bufano u. a., Torino 21977 (11975), Bd. 2, S. 1025-1151, hier: S. 1110; die Qualifizierung der abgewerteten Auffassungen als die der „stult[i] aristotelic[i]“ auf S. 1112]). Das im Verhältnis zum Secretum nachzeitige Entstehungsdatum von De ignorantia (um 1367) ist für den hier diskutierten Aspekt ohne Belang. Entsprechende Festlegungen finden sich in Texten, die parallel zum Secretum entstanden sind, so vor allem in De otio religiosorum, sowie passim in allen nicht in engerem Sinn poetischen Schriften des Autors, soweit man die Jugendphase ausklammert (s. dazu die Fülle von Belegen im sechzehnten Kapitel von Gerosa, Umanesimo cristiano del Petrarca [„Idee madri agostiniane“ (S. 338-358)]). In Ansehung dieses Materials einerseits, dessen andererseits, was dem fiktiven ,Augustin‘ in den Mund gelegt wird, nämlich die dort inkriminierten Positionen, muß man die in der nächsten Anmerkung dokumentierten und weitere ähnliche Deutungen des Secretum, die unterstellen, Petrarca sei überhaupt nicht ,aufgefallen‘, was er getan habe, als Konsequenz einer allzu oberflächlichen Kenntnisnahme von Petrarcas Gesamtwerk bezeichnen. 22 So jedoch die (nicht näher begründete) Vermutung von Loos („Wieviel den Nachgeborenen von Augustinus trennt, ist dem ,Vater des Humanismus‘ offenbar nie bewußt geworden.“ [„Petrarca und Boethius“ (s. Anm. 15), S. 265]). Auch Rico stützt seine Abweisung von Heitmanns Deutung auf die entsprechende pauschale Behauptung („[…] incapaz de percibir - por falta de subsidios eruditos - en que´ medida el De civitate Dei - digamos - venı´a a superar el De vera religione.“ [Vida u obra de Petrarca (s. Anm. 5), S. 68, Anm. 65; die Auseinandersetzung mit Heitmann auf S. 68-71; s. auch S. 108, Anm. 179 u. S. 183 f.]).
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stinus sogar als einen „Häretiker“ 23 in paganer Tradition. Neben den Inhalten stützt sich die Behauptung darauf, daß der Gemeinte fast ohne Ausnahme pagane Autoritäten zitiert, vornehmlich solche in stoischer Tradition, Cicero, Seneca und andere 24. Man darf dies letztere Moment indes, so auffällig es scheint, nicht überbewerten. Es betrifft nicht die Substanz, sondern die Vermittlung des von ,Augustin‘ 25 Gesagten, und damit eine Ebene des Texts, für die der authentische Augustinus in seinen Erwägungen zu wirksamer Didaxe vertreten hatte, man möge nur alles an ,Gewürzen‘ beimischen, was dem zu Belehrenden die ,Speise‘ schmackhaft machen könne 26. Veranschlagt man, daß im „Prohemium“ die Allegorie der Veritas mit eben diesem Argument, dem der Berücksichtigung der Neigungen des zu Belehrenden, begründet, warum sie zur Errettung von Franciscus diesen und keinen anderen Heiligen bemüht habe 27, so wird man die Überfülle der Antiken-Zitate nicht unbedingt als Ausweis von ,Augustins‘ Verhaftetsein in der paganen Antike begreifen müssen, sondern als Hinweis auf die besondere Affinität des zu Belehrenden zum entsprechenden geistigen Horizont, kurz, als Verfahren der Selbst-Inszenierung Petrarcas als Humanist. Die ,augustinischen‘ Positionen sind nämlich schon materialiter betrachtet keineswegs pagan, sie stellen ein Amalgam aus Stoischem und Christlichem dar, und zudem ist der Substanz nach das letztere ohne Einschränkung dominant. Die fiktive Basis-Situation, mit der der Text einsetzt, das Zur-Hilfe-Eilen ,Augustins‘, entspricht dem allein in christlicher Tradition präsenten und in dieser Zeit etwa bei Dante literarisier-
23 Zur These s. „Augustins Lehre in Petrarcas Secretum“ (s. Anm. 19), S. 287 und passim (Zitat: S. 307). 24 Vgl. dazu die Inventarisierung der vom fiktiven Augustin zitierten Autoren („Augustins Lehre in Petrarcas Secretum“, S. 283). 25 Wenn im Folgenden der fiktive Augustin des Secretum gemeint ist, wird dies durch einfache Anführung signalisiert. 26 „[…] inter se habent nonnullam similitudinem uescentes atque discentes, propter fastidia plurimorum, etiam ipsa, sine quibus uiui non potest, alimenta condienda sunt.“ (De doctrina christiana IV, 11 (26)) - Die hier gegebenen Zitate theologischer Quellentexte folgen, was Augustinus angeht, den Texteditionen des Corpus christianorum, series latina, soweit erschienen, ansonsten der Patrologia latina von J.-P. Migne; Thomas von Aquins Schriften werden zitiert nach der Ausgabe Sancti Thomae Aquinatis doctoris angelici Opera omnia. Jussu impensaque Leonis XIII. P. M. edita, Bd. 1 ff., Romae 1882 ff. (,Leonina‘), soweit erschienen, ansonsten nach der Werke-Ausgabe Opera omnia, Paris 1660. 27 „[…] quod pietatis opus melius quam tu nullus hominum prestare potest. Nam et iste tui semper nominis amantissimus fuit; habet autem hoc omnis doctrina, quod multo facilius in auditorum animum ab amato preceptore transfunditur […]“ (Secretum [s. Anm. 11], S. 24).
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ten Konzept der Errettung des Sünders aus einer gefährdenden Situation durch eine Hilfe, die vermittelt wird von einem Wesen, das höher auf der Seinsskala steht als der Sünder selbst und dessen Wohlwollen er dadurch gewonnen hat, daß er ihm bereits seit langem ,dient‘ 28. Das Secretum schließt mit einer Anrufung Gottes seitens beider Dialogpartner und damit nochmals mit dem genuin christlichen Gedanken eines metaphysischen Seins, das ins Diesseits zugunsten derer, die es verehren und seinen Geboten Folge leisten, regulierend eingreifen kann 29. Ungeachtet dieser Akzente an Beginn und Ende als den besonders markierten Punkten eines Texts reicht das nicht unter die Stoizismus-These zu Verrechnende von der Zurückweisung der apatheia zugunsten des peripatetischen, sodann vom Christentum übernommenen Konzepts der ,Zügelung‘ der Affekte 30 bis hin zu der gedanklich damit verbundenen Erbsünden-Lehre 31 und der Vorstellung vom metaphysischen Heil als dem Ziel 28 Zur Rolle der „tre donne benedette“ im Kontext der Errettung des Wanderers aus der „selva selvaggia“ (der ,Verstrickung‘) s. Inf. 2, V. 94-142 (Zitat: V. 124). Das bei Dante und Petrarca präsente Schema kann man als höfische Überformung und Intellektualisierung des Mirakels auffassen (zur Gattung als solcher vgl. U. Ebel, Das altromanische Mirakel. Ursprung und Geschichte einer literarischen Gattung, Heidelberg 1965, bes. S. 39 u. S. 45); die Höfisierung des vom Ursprung her volkstümlichen Musters meint die Konstruktion einer Art himmlischer Feudalität, die Intellektualisierung betrifft die erst damit mögliche Reduktion des Wunderbaren (,Begegnung‘ nicht etwa mit Maria, sondern mit einem [verstorbenen] Menschen [Augustin bzw. Vergil oder Beatrice]), die Eliminierung von Teufelsszenen sowie ähnlicher naiver Akzente. 29 Vgl. Secretum (s. Anm. 11), S. 214. 30 „Mediocritatem sane in omni statu expetendam censeo. […] exinanire naturam non doceo, sed frenare.“ (S. 88) Vgl. auch ebd. das Zitat des original-stoischen Konzepts (hier aus Seneca, Epistulae ad Lucilium 25. 4) und die entsprechende Zurückweisung. Es begegnen bei ,Augustin‘ allerdings auch Formulierungen, die relativ nahe am apatheia-Konzept liegen (s. S. 92-94, „At que maior copia […]“); aber die Einlassungen bleiben dort so allgemein, daß kaum von einer offen nicht-christlichen Tugendenlehre die Rede sein kann. Der Hauptunterschied zwischen stoischer und authentisch christlicher Tugendenlehre ist ohnehin gradueller Natur (vgl. dazu auch ,Augustins‘ Skalierung von ,stoischer‘ und ,peripatetischer‘ Lehre, S. 98). In dieser Hinsicht nicht von einem grundsätzlichen Unterschied, sondern von verschieden strikter Akzentuierung eines verbindlichen Basis-Ideals auszugehen, wird nicht zuletzt dadurch gestützt, daß die christliche Deutung der stoischen Vorstellung seit dem 12. Jahrhundert geläufig ist, und zwar mit Blick auf das Mönchswesen (vgl. L. D. Reynolds, The Medieval Tradition of Seneca’s Letters, Oxford 1965, bes. S. 114). Petrarca selbst hat in seiner zeitlich parallel zum Secretum entstandenen Abhandlung über das Leben der Mönche dieses Konzept explizit aufgegriffen (De otio religiosorum, in: Opere latine [s. Anm. 21], Bd. 1, S. 567-809, hier: S. 694; dort auch die gängige biblische Berufungsinstanz der christlichen Assimilation der apatheia: „Vanitas vanitatum, et omnia vanitas.“ [Eccl 1, 2]). 31 Zur Präsenz der Konzepte von Sündenfall und Erbsünde s. auch die entsprechende Darlegung von ,Augustin‘, Secretum, S. 70 („Nunc ad me oculos […]“); s. weiterhin S. 112 („Nec
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der rechten Lebensführung 32. Das authentisch Stoische wird dadurch nicht konterkariert. Es wird vielmehr reduziert auf die Momente, die dem Christlichen nicht heteronom sind 33, im wesentlichen die Auffasego ut delectet […]“), und dort v. a. „Quod, etsi omnibus notum esse debeat […]“, zur Imperfektion als grundsätzlichster Bedingung des Menschlichen. Insbesondere der Verweis auf die miseria als Folge eines Mangels, das heißt des Fehlens von etwas, das eigentlich dem Menschen zugehörig sei („[…] deesse tibi aliquid sentis […]“ [S. 62]), ist Zitat der von Augustinus entwickelten und bei Thomas aufgegriffenen Erbsündenlehre: Im Zustand paradiesischer Gnade besitzt der Mensch alles, was ihm die leichte Erfüllung der caritas Dei und damit den Zugang zur beatitudo ermöglicht. Mit dem Sündenfall entzieht Gott diese Gnade (,privatio iustitiae originalis‘). Die menschliche Natur ist geschädigt, ihr fehlen die Fähigkeiten zur Abwehr der miseria (vgl. bei Augustin u. a. De civitate Dei XIII, 13, bei Thomas Quaestiones disputatae de malo, qu. 4). - Zum diskutierten Problem s. hingegen Loos, der behauptet, „der Augustinus des Petrarca […] [erwähne] an keiner Stelle das Dogma von der Erbsünde“ („Petrarca und Boethius“ [s. Anm. 15], S. 262). 32 Vgl. als deutlichste Formulierung dieses Orgelpunkts von ,Augustins‘ Belehrungen: „Quid enim aliud suadent quam lapsum etatis negligere et supremi temporis oblivisci? Cuius ut semper memineris, totius nostri colloquii finis est.“ (Secretum, S. 178; weitere markante Aussagen auf S. 188, S. 196 u. S. 198). 33 Es gibt im Secretum viele Stellen, die sich als ,stoisch‘ einordnen ließen, jedoch heißt dies nicht, daß sie spezifisch stoisch wären. Sie haben im christlichen Denken nicht weniger ihren Stellenwert; vgl. etwa die Passage über die Hinfälligkeit und Sterblichkeit des Menschen, aus der die Erkenntnis der vanitas alles Weltlichen und die Hinwendung zum Geistigen folgert (Secretum, S. 52-60). Ganz typisch ist für derartige Passagen, daß im Zuge der Diskussion spezifisch christliche Akzente gesetzt werden, hier etwa der der Vorstellung vom Gericht nach dem Tod und von den Jenseitsreichen (vgl. S. 56, Rede des ,Augustin‘, beginnend mit „Libens hoc audio ex te […]“). - Petrarca hat sich zum Problem des Umgangs mit der antiken Tradition vielfach theoretisch geäußert und, abgesehen von seinen ganz jungen Jahren, stets in dem oben zum Secretum erläuterten Sinn (s. u. a. Familiares 6, 2 [„Ita enim philosophorum sectas amare et approbare permittimur, si a veritate non abhorrent, si nos a nostro principali proposito non avertunt.“]). Weiterhin wäre zu veranschlagen, daß auch der historische Augustinus sich immer wieder auf die bei den paganen Philosophen keimhaft vorhandenen Wahrheiten berufen hat; das Verhältnis von paganer und christlicher Weisheit ist bei dem Kirchenvater hierarchisch angesetzt, im typologisierenden Sinn von unvollkommener Vorwegnahme und Einlösung (De doctrina christiana II, 18 (28); 19 (29); 28 (43); 40 (60); an der zuletzt genannten Stelle die berühmte Allegorese des Diebstahls der goldenen Gefäße beim Auszug aus Ägypten [Ex 3, 21 f.; 11, 2; 12, 35 f.]). - Es gibt allerdings einige Einlassungen ,Augustins‘, bei denen man sich in der Tat fragen könnte, ob sie noch christlich gedeckt sind. Dies betrifft vor allem die ,Kur‘, die er Franciscus zur Heilung der Laura-Liebe vorschlägt. Er rät zu Ortswechsel (S. 164), vor allem jedoch zu anderen Liebschaften, damit Franciscus auf diese Weise vielleicht an Frauen gerate, die ihn weniger obsedieren, was ihm sodann eine Zügelung der luxuria, eventuell sogar eine schließliche Besiegung der Lust durch Abstumpfung oder Überdruß ermöglichen sollte (S. 162). Ohne das Problem grundsätzlicher zu diskutieren, verweist Rico auf die Präsenz entsprechender Gedanken in der mittelalterlichen christlich-didaktischen Literatur (Vida u obra de Petrarca [s. Anm. 5], S. 326 mit Anm. 255; dort auch weiterführende Angaben). An erster
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sung, daß die ratio das Gute zu erkennen vermöge und ein Verhalten, das dieser Erkenntnis folgt, zur Errettung aus der „miseria“ 34 als der Grundbefindlichkeit der an das Begehren ausgelieferten Existenz führe. Akzeptiert man diese Ergänzung des Befunds von Heitmann, die auch eine Richtigstellung bedeutet, das heißt, die vorläufige Einordnung von ,Augustins‘ Position als christlich überformter Stoizismus 35, so ist daran zweierlei bemerkenswert: Die Historie der christlichen Stoizismus-Rezeption reicht bis zu Erasmus. Sie kannte einen Höhepunkt, der mit dem Namen des Pelagius verbunden ist. Bekanntlich hat der authentische Augustinus einen Großteil seiner Reflexion dem Kampf gegen den Pela-
Stelle jedoch wäre hier eine Passage der Confessiones zu veranschlagen, in der Augustinus berichtet, daß, als er nach dem Verlust einer Geliebten Trost bei einer anderen Frau suchte, ihn die Differenz nicht Vergnügen, sondern verstärkte Trauer empfinden ließ, so daß ihm die luxuria zumindest partiell verleidet wurde, was den ersten Schritt zu seiner völligen ,Heilung‘ davon bedeutete (VI, 15 (25)). Aber die Stelle ist bei Original-Augustin ganz anders gemeint als im Secretum. Sie referiert dort nicht auf eine vom Sünder selbst zu befolgende planmäßige Therapie, sondern auf die Unbegreiflichkeit von Gottes Gnade, die dem electus noch das Böse zum Heilsinstrument werden läßt (s. VI, 16 (26)). - Bereits hier tritt zutage, was sich im weiteren Verlauf des Gesprächs immer mehr verdeutlicht: Der fiktive ,Augustin‘ zitiert Original-Augustin, allerdings partiell und entstellend (s. dazu u., Anm. 85, Anm. 93, Anm. 95 und Anm. 101). 34 Heitmann urteilt, die Präsenz des Konzepts in den Äußerungen ,Augustins‘ sei sicherstes Indiz für das zutiefst Unchristliche von dessen Positionen („Augustins Lehre in Petrarcas Secretum“ [s. Anm. 19], S. 298 f.). Indes ist ,miseria‘ in dieser Zeit regulärer Fachterminus für die Bezeichnung des status naturae corruptae, und zwar bereits beim historischen Augustinus (vgl. u. a. Confessiones VII, 21 (27) und X, 23 (33)); in Petrarcas Text selbst wird die christliche Bezogenheit des Konzepts vielfach explizit gemacht (s. u. a. S. 38: „Sine peccato […] nemo fit miser […]“). Mutatis mutandis gilt gleiches für das Gegenkonzept zu miseria, die beatitudo als Lohn des Glaubens und des sich daran knüpfenden rechten Handelns. Vgl. dazu u. a. Soliloquia I, 6, 13 oder auch Confessiones V, 4 (7) sowie De civitate Dei XIV, 4. - Zur Deutung von miseria und beatitudo im von uns vorgeschlagenen Sinn s. auch D. Phillips’ Analyse des Secretum vor dem Hintergrund der wesentlich augustinisch beeinflußten mittelalterlichen Meditationsliteratur („Petrarch’s Doctrine of Meditation“, Vanderbilt Studies in the Humanities Bd. 1/1951, S. 251-275, hier: S. 258 f.). 35 So auch wörtlich die Einschätzung bei Rico („Estoicismo […] cristianizado“ [Vida u obra de Petrarca (s. Anm. 5), S. 182]). Zum christlichen Gepräge des semantischen Substrats des Texts, ungeachtet der zahlreichen Antiken-Zitate, s. weiterhin S. 126-130, S. 190, S. 199 f., S. 384 u. S. 530. Was das exakte Verhältnis von Christlichem und Paganem angeht, bleibt Rico metaphorisch („herman[ar]“ [S. 247; s. auch S. 489]). Die Relation ist, wie oben beschrieben, hierarchisch. Exakter sind die kurzen Bemerkungen bei Phillips, „Petrarch’s Doctrine of Meditation“, S. 265 f. („Petrarch, however, interpreted this emphasis in contemporary Christian terms.“ [bezogenes Objekt ist die stoische Tugendenlehre in ihrer von Seneca vertretenen Variante]).
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gianismus, das Konzept der Selbstheiligung des Menschen 36, gewidmet. Man kann den Angelpunkt seines theologischen Systems, das Prädestinationskonzept, geradezu als Resultat der Auseinandersetzung mit dem ansehen, was die Fachliteratur als „christlichen Stoizismus“ bezeichnet 37. Ungeachtet dieser Korrektur liegt die Beobachtung weiterhin auf der Linie von Heitmanns These eines anti-Augustinischen ,Augustinus‘ bei Petrarca. Allerdings, so scheint es, ist die Provokation des im Secretum Entworfenen noch um einiges höher anzusetzen, wenn man annimmt, daß der Autor nicht nur die Positionen des Kirchenvaters ins Gegenteil verkehrt, sondern ihn zum Sprachrohr derer macht, die dieser Zeit seines Wirkens bekämpft hatte 38.
36 Zur pelagianischen Abweisung der Notwendigkeit von Taufe und Gnade s. den Artikel „(Saint) Augustin“ (Vf.: E. Portalie´), in: Dictionnaire de the´ologie catholique, hrsg. v. A. Vacant/ E. Mangenot, 15 Bde., Paris 1899-1950, Bd. 1, Sp. 2268-2472, hier: Sp. 2298. 37 Vgl. den Artikel „Augustin“, Sp. 2376; s. auch Sp. 2381 f. zur näheren Erläuterung der Affinitäten von stoischen und pelagianischen Positionen. Zu Augustins Auseinandersetzung mit dem originalen Stoizismus s. Sp. 2325. - Ohne namentlich auf den Pelagianismus zu referieren, macht Augustinus in seiner Polemik gegen die stoische Affektenlehre deutlich, was es war, das ihm Stoizismus und Pelagianismus gleichermaßen unannehmbar erscheinen ließ. Die apatheia als menschliche Möglichkeit zu erwägen, ist Hybris, ignoriert die in statu naturae corruptae gesetzten Grenzen menschlichen Vermögens, die selbst die Frömmsten und Gerechtesten zu Sündern werden lassen (De civitate Dei XIV, 8 und 9). Das pelagianische Konzept von Selbstheiligung und nicht-begnadetem Gerechtsein hat also die gleiche geistige Grundlage wie die apatheia-Lehre, das Ignorieren der Erbsünde. 38 Möglichen Flüchtigkeiten seiner Leser hat Petrarca dadurch entgegengearbeitet, daß er seinem Text zahlreiche exakte Verweise auf original-Augustinische Texte bzw. auch markante Stellen, besser, Szenen dieser Texte inkorporiert, Hinweise also, die den Leser geradezu auffordern, sich die authentisch Augustinischen Konzepte zu vergegenwärtigen. So läßt er Franciscus am Ende des ersten Gesprächs des Secretum (s. Anm. 11) sagen, daß dieser ,kurz zuvor‘ auf Augustins De vera religione gestoßen sei und das Buch geradezu begierig gelesen habe („[…] cupidissime perlegi […]“ [S. 66]; s. weiterhin u., S. 30, zum Zitat der Erleuchtungs-Szene im Garten von Mailand). - Gerade in Ansehung dieser Frühschrift könnte man im einzelnen zeigen, inwiefern das von Rico zwecks Widerlegung der These Heitmanns ins Feld geführte Argument, der Petrarkische ,Augustin‘ entspreche dem frühen, vom späten zu unterscheidenden Original-Augustin, nicht zu halten ist (zu Ricos Auffassung s. den Nachweis o., Anm. 22). Zwar ist die Argumentation von De vera religione relativ rationalistisch (s. etwa III (3)). Jedoch bereits hier finden sich die Positionen, die der reife Augustinus in den Mittelpunkt gestellt hat. Man vergleiche etwa zum Prius des Glaubens vor der Erkenntnis und zur Abweisung der Möglichkeit einer rein rationalen Weisheit De vera religione VII (12); VIII (14); IX (17); XLIX (96 und 97). S. weiterhin die prägnanten Formulierungen zur Heilsökonomie in XXIV (45), die die im Secretum herangezogene Medizinalmetapher verwenden: Die ,Arznei der Seele‘ teile sich in ,Autorität und Vernunft‘. Jedoch aus der menschlichen Natur folgere, daß ,weniger die Wissenden als die Glaubenden zum Heil berufen seien‘.
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Die Beobachtung hat indes ein weiteres und gewichtigeres Implikat. Mit dem von Augustinus geführten anti-pelagianischen Konzil von Karthago (418) 39 ist, wie schon angedeutet, das Pelagianismus- beziehungsweise Stoizismus-Problem in der christlichen Tradition nicht definitiv gelöst. Die authentisch pelagianische Position eskamotiert die Relevanz der göttlichen Gnade ganz und gar 40. In dieser Form war das Konzept des Heilserwerbs dem christlichen Denken inakzeptabel. Aber Augustins Gegenkonzept, das der Prädestination, hatte seine gefährlichen Implikate für einen Glauben, der sich im Wortsinn als katholisch definieren wollte. In der abgemilderten Form einer menschlichen Teilhabe am Heilserwerb taucht der von den Pelagianern absolut gesetzte Gedanke in der scholastischen Theologie wieder auf. Dem authentisch Christlichen ist Genüge getan, insofern die Gnade als unabdingbar aufgefaßt wird. Indes ist diese ,allgemein‘, soweit die renati, die Getauften, gemeint sind. Folgen diese dem von der ratio gewiesenen Weg, so ,verweigert ihnen der Herr die Gnade nicht‘. Dies ist die Formulierung, mit der der zur Entstehungszeit des Secretum immer noch einflußreichste Theologe der Epoche, Thomas von Aquin, die intrikate Problematik zu fassen suchte 41. In der Verbindung von metaphysischer Ermöglichung und rational wägendem Handeln, wobei das schließlich Ausschlaggebende dies letztere Moment ist, scheint diese, das heißt die thomistische Position, vom Profil her recht genau mit der ,Kur‘ übereinzustimmen, die der fiktive ,Augustin‘ des Secretum dem widerspenstigen Franciscus zu administrieren sucht, so daß es sich bei dem seltsamen Heiligen nicht um einen paganen ,Häretiker‘, sondern um eine Art thomisierten Augustinus handelte 42. 39 S. dazu den Artikel „Augustin“ (s. Anm. 36), Sp. 2384; die von Augustinus auf dem Konzil vertretenen Positionen sind niedergelegt in seinem Brief an Vitalis (Epistula CCXVII, 5, 16 [„duodecim sententiae contra pelagianos“]). 40 Eine konzise Darstellung der pelagianischen Positionen findet sich im Artikel „Augustin“, Sp. 2380 f. 41 „[…] quia si homo facit quod in se est, Deus ei non denegat gratiam […] Sed illud in nobis esse dicitur quod est in nostra potestate.“ (Summa theologiae Ia IIae, qu. 109, ar. 6; zur Definition der potestas und zur Rolle der ratio in der thomistischen Handlungstheorie s. u., S. 41-44.) 42 Es gibt selbstverständlich im Secretum Äußerungen ,Augustins‘, die Zitate Original-Augustins darstellen. Aber sie betreffen ohne Ausnahme sekundäre Aspekte, das heißt Fragen, die für das eigentliche Problem des Texts, die Möglichkeiten und Wege, der miseria zu entfliehen, nicht direkt einschlägig sind (vgl. als Beispiel ,Augustin‘ zur Schädlichkeit der Neugier, der Erfahrungslust und der literarischen Fiktionen [Secretum (s. Anm. 11), S. 64 u. S. 66] und dazu De vera religione X (18 und 19) sowie XXXV (65)). Gerosa, der dem Secretum ein ganzes Kapitel seines Buchs widmet („Le ,Confessioni‘ del Petrarca“ [Umanesimo cristiano del Petrarca (s. Anm. 20), S. 82-89]), ist diese Übereinstimmung hinreichender Grund, sich von allen weiteren Fragen zum Verhältnis der Aussagen des fiktiven zu denen des authentischen
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Die Argumentation Heitmanns, die trotz ihrer Defizite den weitaus substantiellsten Beitrag zur Secretum-Forschung darstellt, hat wenig Resonanz gefunden. Sie wurde teils mißverstanden, teils aus Sicht einer oberflächlichen Kenntnis von Augustins Schriften abqualifiziert. Aber auch bessere Kenner der Materie behandeln die philologisch, soweit es um das Problem des Un-Augustinischen von Petrarcas ,Augustin‘ geht, schlagende und kaum angreifbare Darlegung mit Indolenz 43. Der Grund dafür mag darin liegen, daß die Funktionshypothese, die Heitmann aus seinen Beobachtungen gewinnt, allzu viele Fragen offenläßt, vor allem aber sich mit dem Problem einer gewissen Disproportion von Aufwand und unterstelltem Ertrag konfrontiert sieht: Die These der Harmonie von Christlichem und Paganem 44 (die sich Petrarca in dieser A-Spezifik ohnehin nie zu eigen gemacht hat 45) hätte sich eventuell um einen geringeren Preis vertreten lassen, als um den, eine Figur namens ,Augustin‘ das Gegenteil dessen verkünden zu lassen, was der historische Augustinus gesagt hat ⫺ eine irritierende Konstruktion, die der Erklärung bedarf und vermutlich als solche, das heißt als den Leser provozierende, intendiert war; vor allem aber eine Konstruktion, die das nicht zu bewirken imstande ist, was Heitmann als Petrarcas Absicht unterstellt. Denn die ,Harmonie‘ von Christlichem und Paganem in den Äußerungen des Petrarkischen ,Augustin‘ stellt sich ja nur um den Preis eklatanter Verfälschung der original-Augustinischen Positionen her. Wenn überhaupt, so würde dem Leser also eher die Disharmonie von authentisch-Augustinischem und Stoischem demonstriert; oder aber ⫺ so Heitmanns implizite Prämisse ⫺ es wußte in jener Zeit niemand mehr etwas (Exaktes) von Augustinus. Das Gegenteil indes ist der Fall. Die Lehren des Kirchenvaters aus der Spätantike befinden sich im Zentrum der geistigen Kontroversen der Epoche.
Augustin entbunden zu fühlen (s. bes. S. 87-90). - Zum ganz anders gelagerten Problem des selektiven und in der Substanz entstellenden Zitierens original-Augustinischer Sätze s. aber u., Anm. 85, Anm. 93, Anm. 95 und Anm. 101. 43 Vgl. etwa Gerosa, Umanesimo cristiano del Petrarca, S. 347 (Anm. 56); Rico, Vida u obra de Petrarca (s. Anm. 5), S. 68-71 (zur Qualität von Ricos Kritik an Heitmann s. auch ausführlich u., Anm. 107); Loos, „Petrarca und Boethius“ (s. Anm. 15), S. 265; Tateo, Dialogo interiore e polemica ideologica (s. Anm. 17), Anm. 1 zu S. 32. 44 Vgl. nochmals „Augustins Lehre in Petrarcas Secretum“ (s. Anm. 19), S. 303-307. 45 S. dazu o., Anm. 33; das Familiares-Zitat artikuliert eine Position, die sich bei Petrarca im Anschluß an, teils auch in wörtlicher Bezugnahme auf die dort angeführten Augustin-Stellen passim findet. Es geht nicht um Harmonie, es geht um Überformung, Assimilation, was natürlich immer eine Legitimierung des Anverwandelten impliziert.
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Das Szenario der philosophischen und theologischen Diskussionen am Ende des 13. und im 14. Jahrhundert erscheint auf den ersten Blick verwirrend. Zumal in der Petrarca-Philologie sind bis zum heutigen Tag die Synthese von E. Gilson und deren Weiterentwicklung durch Blumenberg, die von zentralem Belang auch für die Deutung des Secretum scheinen, ganz unbeachtet geblieben 46. Die wichtigsten Aspekte, die hier einschlägig sind, seien kurz referiert. Bis zum Beginn des 13. Jahrhunderts ist ein wie auch immer verwässerter Augustinismus dominant. Bald nach Gründung der Sorbonne (1200/1215) setzt die Aristoteles-(Averroes-)Rezeption ein, zunächst gegen heftige Widerstände, die sich allerdings rasch verflüchtigen. Bereits Mitte des Jahrhunderts bleiben Dekrete zum Verbot des Aristoteles-Studiums wirkungslos. Thomas von Aquin leistet die christliche Überformung des Aristotelismus. Gilson bewertet dies dogmenhistorisch als ,Triumph des Aristoteles über Augustin‘ 47. Diese neue Theologie hat einen ,durchschlagenden Erfolg‘ 48, der sich dem Faktum verdankt, daß sie eine Systematisierung von Konzepten darstellt, die für den Diskurs des gesamten Mittelalters konstitutiv sind 49. Es war indes gerade die Systematizität der thomistischen Synthese, die den Blick auf die fundamentale Problematik eines im Prinzip seit Jahrhunderten praktizierten Versuchs lenkte, die Welt und das Verhältnis von Welt und Gott zu denken 50. Den unmittelbarsten Zugang zu dieser 46 Gilson, La Philosophie au Moyen aˆge. Des origines patristiques a` la fin du XIVe sie`cle, Paris 2 1962 (11944), bes. Kap. 7 ff.; zu Blumenberg s. o., Anm. 8. 47 S. 540. 48 „[…] [un] succe`s e´clatant […]“ (S. 389) Zum Stellenwert des Aristotelismus in der thomistischen Lehre s. ebd. („Ici Aristote n’est plus accepte´ a` la rigueur et comme tole´re´, son influence s’exerce au centre meˆme de la doctrine, et il n’est aucune de ses parties ou` elle ne se fasse plus ou moins nettement sentir.“). 49 S. dazu u. a. S. 399 („Le monument dans lequel la pense´e du Moyen aˆge atteint a` la pleine conscience de soi et trouve son expression parfaite [est] la Somme the´ologique […]“). 50 An anderer Stelle haben wir anhand von konkretem Textmaterial und mit Bezug auf Blumenberg zu zeigen versucht, inwiefern die von Thomas formulierte Synthese einen Diskurs in die Form der theoretischen Artikulation faßt, der seit der Spätantike präsent ist: Der Hylemorphismus der Scholastik ist die konsequenteste Variante der Kompensation des Ausfalls der Parusie, welch letzterer das christliche Denken mit der Frage nach der Modellierung einer unabsehbar sich erstreckenden irdischen Historie konfrontierte. Die Antwort wurde im Anschluß an die im Bibeltext enthaltenen Hinweise zu einer figuralen Entsprechung von Altem und Neuem Testament in einem diskursiven Verfahren gefunden, das man ,typologisierende Modellierung‘ nennen könnte: Das je Gegenwärtige wird als Wiederauflage biblisch vorgeprägter ,Typen‘ begriffen. Die Kategorien des Neuen und des Kontingenten haben in diesem Weltmodell keinen Stellenwert. Grundlegend ist ein statischer Rationalismus (s. Vf., Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Caldero´n. Untersuchungen zum spanischen Barock-
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Problematik hatten diejenigen, die den Rationalismus gleich welcher Provenienz als untauglich erachteten, die Anhänger Augustins. Das Jahr 1277, in dem sich die entsprechenden Fragen erstmals Bahn brechen, ist ein kapitales Datum in der europäischen Geistesgeschichte 51. Der Pariser Bischof E. Tempier, ein ,dezidierter Augustinist‘ 52, dekretiert die Verurteilung einer Liste von Propositionen, die namentlich den Averroisten ,Siger von Brabant, Boetius von Dacien und anderen‘ zugeschrieben werden, die jedoch inhaltliche Positionen betreffen, die auch für den Thomismus unverzichtbar sind 53: Das aristotelisierende System, gleich welcher Ausprägung, beantworte die Fragen nach der Struktur von Welt und Kosmos und den darin ablaufenden ,Bewegungen‘ allzu perfekt, es lasse der göttlichen Allmacht, das heißt dem, was der Mensch nicht theoretisieren, analysieren, handelnd antizipieren kann, zu wenig, letztlich gar keinen Stellenwert. ⫺ Nicht nur für Tempier, sondern für die gesamte folgende Zeit, bis hin zu Luther, ist Augustin der theologische Gewährsmann derer, die gegen das Konzept einer zwar gotterschaffenen und -gelenkten, gleichwohl gesetzesmäßig funktionierenden und insofern auch menschlicherseits einsehbaren Welt das Argument unumschränkter, kontingenter göttlicher Macht anführen 54.
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drama. Mit einer Skizze zur Evolution der Diskurse in Mittelalter, Renaissance und Manierismus, Tübingen 1990, passim, bes. S. 230-304). S. dazu Gilson, La Philosophie au Moyen aˆge (s. Anm. 46), bes. S. 485, S. 459 f. u. S. 605. S. 394; zu Tempier, seinem augustinistischen Hintergrund und zum Anti-Thomismus des Dekrets von 1277 s. auch den Artikel „Tempier (Etienne)“ (Vf.: P. Glorieux) des Dictionnaire de the´ologie catholique (s. Anm. 36), Bd. 15, Sp. 99-107. Es seien nur paradigmatisch einige der verurteilten Sätze aufgeführt: „Quod Deus non potest irregulariter, id est, alio modo, quam movet, movere aliquid, quia in eo non est diversitas voluntatis.“ - „Quod nichil fit a casu, sed omnia de necessitate eveniunt, et, quod omnia futura, que erunt, de necessitate erunt, et que non erunt, impossibile est esse, et quod nichil fit contingenter, considerando omnes causas.“ („Opiniones ducentae undeviginti Sigeri de Brabantia, Boetii de Dacia aliorumque, a Stephano episcopo Parisiensi de consilio doctorum sacrae scripturae condemnatae“, in: Chartularium universitatis parisiensis, 4 Bde., hrsg. v. H. Denifle, Paris 1891-1899, Bd. 1, S. 543-558, n. 50 u. n. 21). Zur Charakterisierung des Dekrets s. Blumenberg, Säkularisierung und Selbstbehauptung (s. Anm. 8), bes. S. 185-189 u. S. 199-211 sowie Gilson, La Philosophie au Moyen aˆge, S. 559-561 u. S. 561-566; zur Bewertung s. S. 556 („[…] l’aristote´lisme thomiste a(it) subi la censure de l’e´veˆque de Paris, Etienne Tempier.“). Wenn hier und im Folgenden theologische Positionen referiert werden, so gilt, dies sei explizit vermerkt, das fachwissenschaftliche Prinzip, d. h. der Verzicht auf eine aus theologischer Sicht gebotene Differenzierung in einer philologisch-historischen Arbeit. So wäre etwa zum Problem der Kontingenz des göttlichen Willens bei Augustin auszuführen, daß dieser Wille an sich unwandelbar ist und Gott in seiner a-chronischen praescientia alles weiß, was er je wollen wird. Jedoch ist aus menschlicher Perspektive nicht nur der ,Inhalt‘ dieser praescientia uneinsehbar, sie hat auch ein der menschlichen Rationalität überhaupt nicht faß-
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Bei Wilhelm von Ockham findet das epochenkonstituierende Aufbegehren gegen die thomistische Scholastik mit dem Satz „[Deus] ad nihil faciendum obligatur“ 55 seine systematische Form. Ungeachtet der Differenzen im Modus verbleiben Ockhamismus und Augustinismus für die Zeit der Auseinandersetzungen in einer stabilen ,Allianz‘ 56. Erst diese Theologie und Philosophie, die ,via moderna‘, öffnet den Weg für die empirische Wissenschaft 57. Denn der thomistisch-aristotelische Rationalismus erschöpfte sich darin, zwischen Evidenzen und Dogma zu vermitteln 58. Wird aber die Frage des wahren Seins der Welt in den Bereich der arcana Dei verwiesen, entsteht in der dem Menschen eigenen Domäne,
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bares Wesen. Augustin setzt zur Erläuterung die ,wunderbare‘ und ,geheimnisvolle‘ Art, auf die Gott weiß, was er künftig wollen und tun wird, ab von dem Wissen eines Sängers über das noch nicht zu Ende gesungene Lied. Wesentlich ist also die Zurückweisung der Vorstellung eines ,programmierten‘ und insofern vom Menschen möglicherweise zu extrapolierenden Verlaufs der Profan- und Heilsgeschichte (vgl. Confessiones XI, 31 (41) sowie XIII, 4 (5) und 16 (19)). Zur Darstellung des Ockhamismus s. Gilson, La Philosophie au Moyen aˆge (s. Anm. 46), S. 638-656; Zitat: Super quattuor libros sententiarum subtilissimae quaestiones earumque decisiones, in: Wilhelm von Ockham, Opera philosophica et theologica, 12 Bde. (Bde. 1-3: Opera philosophica; Bde. 4-12: Opera theologica, dort jedoch gezählt als Bde. 1-9), hrsg. v. Ph. Boehner u. a., St. Bonaventure, N. Y. 1967 ff., Bde. 1-7 der Opera theologica, hier: In librum secundum, qu. 3-4 (Opera theologica, Bd. 5, S. 59). Zitat: Gilson, La Philosophie au Moyen aˆge, S. 658; diese Allianz betrifft das im Secretum thematische Problem von Gnade und Rechtfertigung sowie das damit verbundene von Willen und ratio. Es ist Ausweis der Schlagkraft des anti-thomistischen Allmacht-Theologumenon, daß es die anderweitigen Differenzen, die seine Vertreter trennt, und die teilweise auch konfliktuell ausgetragen wurden, aufs Ganze gesehen zurücktreten läßt; in diesem Fall wäre dies der Unterschied zwischen (platonischem) Ideenrealismus und Nominalismus sowie zwischen Rhetorik und Logik. - Die integrierende Kraft des Allmacht-Arguments wird nicht zuletzt in Ansehung der intellektuellen Biographie prominenter Theologen der Zeit deutlich. Gregor von Rimini etwa (gestorben 1358), der in den Jahren der Abfassung des Secretum zunächst den augustinistischen Lehrstuhl an der Sorbonne innehatte und danach General des Augustiner-Ordens war, aus dessen Angehörigen sich bekanntermaßen der Großteil von Petrarcas Freundeskreis zusammensetzte, war zugleich einer der einflußreichsten Ockhamisten der ersten Stunde. Die von Gregor vertretenen Positionen charakterisiert Gilson mit den Worten: „Il est en effet remarquable que Gre´goire ait pu confirmer par de nombreuses citations d’Augustin bien des the`ses que l’on se croirait autrement en droit d’expliquer par l’influence diffuse d’Ockham.“ (La Philosophie au Moyen aˆge, S. 661; vgl. auch S. 657). So die Bewertung bei Gilson, der sich damit auf eine Reihe von Autoritäten berufen kann (S. 459 f.). Zum Verhältnis von Glauben und ratio im Thomismus s. auch Gilson, S. 528 („[…] l’accord de droit entre leurs conclusions dernie`res [de la raison, de la foi] est chose certaine […] Il re´sulte de la`, que toutes les fois qu’une conclusion philosophique contredit le dogme, c’est un signe certain que cette conclusion est fausse.“).
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die substantiell eine Domäne des ,nescio‘ ist 59, der Spielraum für eine Welterfahrung, die deshalb dynamisch sein kann, weil sie nicht mehr wahr sein muß. ⫺ Dies letztere indes sind Potentialitäten. Das hier interessierende 14. Jahrhundert ist zunächst die Epoche der Konfrontationen, welche bis an den Rand eines ,richtiggehenden philosophischen und theologischen Schismas‘ führten 60. Mit der allen tradierten Voten eigenen Entschiedenheit hat auch der Autor des Secretum in dieser epochemachenden Auseinandersetzung immer wieder Position bezogen 61, und er, der seinen geliebten Augustinus nicht genug zitieren konnte, wurde denn auch von Boccaccio kurzerhand als ein ,zweiter Ockham‘ apostrophiert 62. Gewiß ist diese Formulierung
59 S. dazu Ockham, Super quattuor libros sententiarum (s. Anm. 55), In librum primum, dist. 38, qu. 1 (Opera theologica, Bd. 4, S. 584 f.). 60 Zu den Kontroversen des 14. Jahrhunderts s. Gilson, La Philosophie au Moyen aˆge (s. Anm. 46), S. 710-719 (Zitat: S. 712). 61 Aus den zahlreichen einschlägigen Festlegungen seien nur zwei besonders prägnante herausgegriffen: „Secreta igitur nature, atque altiora illis archana Dei, que nos humili fide suscipimus, hi superba iactantia nituntur arripere; nec attingunt, nec adpropiant quidem, sed attingere et pugno celum stringere insani ex[is]timant, et perinde est eis ac si stringerent, propria opinione contentis et errore gaudentibus.“ (De ignorantia [s. Anm. 21], S. 1066; die Inkriminierten sind die sich auf Aristoteles berufenden zeitgenössischen Denker [vgl. S. 1064]). Noch deutlicher sind die Aussagen in De remediis utriusque fortunae 1, 46: „Philosophi autem uestri […] insolentis inscitiae leges ponunt: isti uero de naturae arcanis ita disputant quasi e coelo ueniant consilioque Dei omnipotentis interfuerint […]“ (zitiert nach der Ausgabe Opera omnia, 3 Bde., Basel 1554, Bd. 1, S. 1-254, hier: S. 57 f.). 62 Brief an Petrarca, datiert auf 1339 (in: Boccaccio, Opere latine minori, hrsg. v. A. F. Masse`ra, Bari 1928, S. 111-114, hier: S. 113). - Paradigmatisch für die auf die Oberflächenphänomene, insbesondere die traditionelle Etikettierung der Schulen, fixierte spezialisierte Petrarca-Forschung ist das elfte Kapitel bei Gerosa („Suo [del Petrarca] atteggiamento di fronte alla scolastica contemporanea“ [Umanesimo cristiano del Petrarca (s. Anm. 20), S. 180 224]). Unter dem caput ,Scholastik‘ werden Ockhamismus und Averroismus vereint. Thomas von Aquin wird als strikter Gegner des Averroismus bezeichnet. Auf diese Weise kann Petrarcas in der Tat, so etwa in De ignorantia, belegbare Stellungnahme gegen den Averroismus zugleich als anti-ockhamistische Polemik gedeutet werden, von der aber der Thomismus nicht mitbetroffen sei. Der auch von Gerosa als Augustinist verstandene Petrarca wird somit implicite zu jemandem, der sich in einer - wenn auch nicht explizitierten Übereinstimmung mit dem Thomismus befindet, d. h. zum Modell des ,guten Christen‘ schlechthin im Sinne der apologetischen Dogmengeschichte (s. bes. S. 216 u. S. 218). - Zu dieser weithin verbreiteten Deutung von Petrarcas Anti-Averroismus hat P. O. Kristeller alles Notwendige gesagt („Most ambiguous and controversial of all is the term of Averroism which has been applied by historians to one particular trend of medieval Aristotelianism. If we understand by Averroism the use of Averroes’ commentary on Aristotle, every medieval Aristotelian including Aquinas was an Averroist.“ [Renaissance Thought, 2 Bde., New York/ London 1961-1965, Bd. 1, Kap. „The Aristotelian Tradition“, S. 24-47, hier: S. 33]).
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als panegyrisch zu gewichten, aber wenn ein rühmender Vergleich nicht auf eine von der Historie kanonisierte, sondern eine höchst kontroverse Autorität referiert, erschöpft er sich nicht in der rhetorischen Dimension. In der Tat ist nicht nur literarisch und poetologisch, sondern auch philosophisch Petrarca einer der unbedingtesten Vertreter der ,via moderna‘ 63. Dem Secretum, seinem auf den ersten Blick am meisten persönlichen, wenn nicht privaten Text, kommt es zu, die in der Zeit miteinander konfligierenden Grundsatz-Positionen in eine spezifische dialogische Form zu überführen. Es sind die aus dieser unmittelbaren Konfrontation resultierenden Fragen, die dem Text historisch einen Stellenwert zuweisen, der über die Kämpfe der Zeit hinausreicht. Aber die auf den Text bezogenen Behauptungen selbst bedürfen zunächst der Substantiierung. Die folgende Argumentation gliedert sich in drei Abschnitte. Zunächst werden die Positionen der zwei Dialogpartner in Erinnerung gerufen, sodann soll kurz beleuchtet werden, was zum einen der historische Augustin, zum anderen Thomas zu den entsprechenden Problemen gesagt haben. Schließlich geht es in einem letzten Punkt um eine versuchsweise Beantwortung der Funktionsfrage, das heißt der Frage nach Botschaft und historischer Bedeutung des Texts.
2. Das „Prohemium“ des Secretum konstituiert die Gesprächssituation. Dem in Reflexion begriffenen Franciscus erscheint ein von ,unbeschreiblichem Licht‘ umgebenes Wesen, von dem er bald erkennt, daß es die Veritas ist. Diese wird begleitet von einem ,betagten, verehrungswürdi63 Gilson referiert eine Reihe heute vergessener Theologen des 14. Jahrhunderts, deren Positionen recht exakt den von Petrarca vertretenen zu entsprechen scheinen (vgl. insbesondere zu Thomas Bradwardine, De causa Dei [um 1335 - 1344] [La Philosophie au Moyen aˆge (s. Anm. 46), S. 619]). Zum geistigen Konnex zwischen der „the´ologie nouvelle“ des 14. Jahrhunderts und dem Werk Petrarcas s. auch S. 726. - Einen knappen Hinweis auf die Einordnung von Petrarcas Positionen zu Gnade und freiem Willen, zu Erleuchtung und ratio in die zeitgenössische Kontroverse zwischen Thomismus und Ockhamismus bringt Trinkaus, In Our Image and Likeness (s. Anm. 19), Bd. 1, S. 22-24. - Gilson warnt am Ende seiner Synthese ausdrücklich vor einem anachronistischen Mißverständnis, das mutatis mutandis auch für das Secretum entstehen könnte, richtiger, das, ausweislich der (Non-)Rezeptionsgeschichte des Texts in der eigentlichen Moderne entstanden ist, nämlich, es handele sich bei den mit theologischen Fragen befaßten Texten der Zeit um theologische oder gar ,fromme‘ Texte im heutigen Sinn („Le monde imme´diatement donne´, comme nous l’est aujourd’hui celui de la science, est alors celui de la foi.“ [S. 757]).
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gen Mann‘, den Franciscus sogleich, bevor noch die Veritas ihn entsprechend apostrophiert, als ,Augustinus‘ identifiziert. Drei Tage dauert das Gespräch zwischen den beiden, dem die Veritas als arbitrierende Instanz beiwohnt 64. Nicht anders als die Eingangsszene von Dantes Commedia ist auch die Situation am Beginn des Secretum allegorisch aufzufassen, und zwar als psychomachisch, als Modellierung einer „intestina discordia“ 65 in Form einer „altercatio“ 66. Dem korrespondiert der im „Prohemium“ eingeführte Titel („Secretum enim meum es et diceris […]“ 67), der auf die Confessiones referiert (das Wort ist dort teils Metapher, teils Metonymie der Seele 68), und schließlich die Qualifizierung von Anlaß und Inhalt des Gesprächs 69. Franciscus, so die Veritas, sei befallen von einer ,schweren, schleichenden Krankheit‘, die drohe, ihn an den Rand des Todes zu bringen, zumal er seinen Zustand ignoriere. ,Augustins‘ Aufgabe sei die des ,Arztes‘, wobei seine Befähigung nicht zuletzt daraus erwachse, daß er in den Tagen seines irdischen Daseins ,ein ähnliches Leiden‘ durchgemacht habe. Setzt man hinzu, daß das folgende Gespräch vorrangig über das Problem des rechten, den Heilsweg befördernden Lebens handelt, daß sein Leitfaden zu einem guten Teil der traditionelle Lasteroktonar ist und schließlich bereits im „Prohemium“ der scheinbar singulären Situation eine allgemeine, und zwar tropologische Dimension zugewiesen wird, liegt die psychomachische Grundsituation in allen Facetten bloß 70. 64 Vgl. Secretum (s. Anm. 11), S. 22-26. 65 So ,Augustin‘ mit Bezug auf des Franciscus Hin- und Hergerissensein zwischen gutem Wollen und schlechtem Handeln, d. h. die Probleme, die in dem Gespräch verhandelt werden (S. 68). 66 S. 36. Die Verschiebung vom ,realen‘ zum verbalen Kampf setzt in der Tradition psychomachischer Texte bereits früh ein, und zwar aus Gründen, die mit dem essentiell didaktischen Interesse des Schemas zusammenhängen (vgl. W. Helmich, Die Allegorie im französischen Theater des 15. und 16. Jahrhunderts, Tübingen 1976, S. 181-195, bes. S. 186 u. S. 190-195). Im Secretum finden sich darüber hinaus zahlreiche explizit agonale Metaphern (eine Auswahl zitiert Rico, Vida u obra de Petrarca [s. Anm. 5], S. 124, Anm. 5). 67 Secretum, S. 26. 68 S. dazu die Abschnitte über die memoria in Buch X, die Petrarca besonders vertraut waren, wie nicht zuletzt sein Zitat aus X, 8 (15) im berühmten Brief über die Mont VentouxBesteigung ausweist (Familiares 4, 1). Augustin identifiziert dort memoria und rationale Seele (animus) („[…] cum animus sit etiam ipsa memoria […]“ [X, 14 (21)]; gleichlautend 17 (26); dort auch die zusätzliche Identifikation „[…] et hoc ego ipse sum […]“). Die wesentliche Eigenschaft der memoria bzw. der Seele ist ihre ,Verborgenheit‘ („[…] memoriae recessus et […] secreti atque ineffabiles sinus eius […]“ [X, 8 (13)]). 69 Zum Folgenden s. Secretum (s. Anm. 11), S. 24-26. 70 „Ubi multa licet adversus seculi nostri mores, deque comunibus mortalium piaculis dicta sint, ut non tam michi quam toti humano generi fieri convitium videretur […]“ (S. 26). Zur Psychomachie als Basisschema der mittelalterlichen christlich-didaktischen Literatur vgl.
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Die Medizinalmetapher steht, von Augustin bis hin zu Thomas, für das Befangensein des Menschen in Sünde, wobei die verschiedenen Prekaritätsgrade die Intensität des Sündigseins anzeigen 71. Geheilt wird diese Krankheit durch Gott-Christus beziehungsweise durch das, was er dem Menschen gegeben hat, um ihn vor den Folgen der Krankheit, dem ewigen Tod, zu retten. Neben der dem gesamten Menschengeschlecht mit
Helmich, Die Allegorie im französischen Theater (s. Anm. 66), S. 183 f., mit Anmerkungen. Das Schema ist bei Petrarca verfremdet, insofern die Psychomachie remimetisiert wird. Recht eigentlich liegt also eine zweifache allegorische Codierung vor. Aber das zugrunde liegende Muster des Kampfs in der Seele, der zugleich ein Kampf um die Seele ist (s. dazu auch ,Augustins‘ abschließende Qualifizierung des gesamten Gesprächs als „lis“ [Secretum, S. 214]), war in der damaligen Zeit so vertraut, daß die mimetische Einkleidung die Spürbarkeit des Referenzschemas nicht irritierte. - Das Stichwort ,Psychomachie‘ fällt auch bei Rico, allerdings ohne die gebotenen Differenzierungen (Vida u obra de Petrarca [s. Anm. 5], S. 125 f., hier: S. 126). Ricos Hinweis ist darüber hinaus ganz anders gemeint als hier. Im Zuge seiner Bekehrungsthese (s. o., Anm. 17) versteht er die Psychomachie als tatsächliches Basisschema des Secretum, und nicht, wie wir, als Folie, die die Abweichung des Franciscus vom verbindlichen (Lebens-)Muster besonders verdeutlicht (s. dazu anschließend). 71 Am Ausgangspunkt der Historie dieser Metapher stehen die biblischen Geschichten über Jesus als Wunderheiler (u. a. Mat 8, 1-4; Marc 8, 22-26), die mit der Ausdehnung der allegorischen Exegese vom Alten aufs Neue Testament, d. h. seit Augustin, entsprechend gedeutet werden. Bei Augustin wird die Vorstellung u. a. ausführlich herangezogen in den Soliloquia, bes. I, 6, 12 und 13, und 14, 26 sowie in den Confessiones (vgl. u. a. IV, 3 (5); V, 10 (18); VI, 1 (1); VII, 8 (12)); zur Medizinalmetapher bei Thomas s. insbes. Summa theologiae Ia IIae, qu. 82, ar. 1: „[…] sicut etiam aegritudo corporalis est quaedam inordinata dispositio corporis, secundum quam solvitur aequalitas in qua consistit ratio sanitatis. Unde peccatum originale languor naturae dicitur.“ S. weiterhin qu. 109, ar. 7. - Die Secretum-Forschung ignoriert weitgehend dieses bis zum Barock auch literarisch allgemein geläufige Bild. Loos etwa folgert aus der Omnipräsenz des Wortfelds ,Krankheit‘ im Secretum, die acedia als einzige Sünde, die im Rezeptwissen der Zeit auch eine nosographische und insofern nicht-willentliche Dimension hatte, sei die eigentliche Hauptsünde des Franciscus, woraus er wiederum schließt, das Interesse Petrarcas sei, sich von Verantwortlichkeit freizusprechen. Dies ist in der Tat ein Angelpunkt des Secretum, allerdings in grundsätzlicherer Form als von Loos vermutet; vor allem aber kollidiert Loos’ Beurteilung des Stellenwerts der acedia im Secretum mit dem Textbefund (s. dazu u., S. 23 f. mit Anm. 73 und Anm. 75; zur Argumentation von Loos s. „Die Hauptsünde der acedia in Dantes Commedia und in Petrarcas Secretum. Zum Problem der italienischen Renaissance“, in: F. Schalk [Hrsg.], Petrarca, 1304-1374. Beiträge zu Werk und Wirkung, Frankfurt a . M. 1975, S. 156-183, hier: S. 172-183). In seiner späteren Veröffentlichung geht Loos so weit, die Krankheitsmetapher in offene Opposition zum christlichen Menschenbild zu bringen („[…] spricht Petrarca ständig von ,morbus‘, ,pestis‘, ,malum‘, ,vulnus‘, obwohl es sich im Sinn der christlichen Moralethik um Sünden handelt.“ [„Petrarca und Boethius“ (s. Anm. 15), S. 261; Hervorhebung von mir; fast schon erstaunlich ist die Einbeziehung des Stichworts malum. Immerhin ist der für diese Zeit verbindliche Sündentraktat „De malo“ betitelt, womit sich Thomas auf eine seit den Vätern etablierte Tradition bezieht]).
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Christi Opfertod gewährten ,Kur‘ stehen auf individual-tropologischer Ebene die vielfältigsten ,Mittel‘ zur Verfügung, an erster Stelle der Glaube mit dem Ritual der Kirche, aber auch die Regungen von ratio, memoria und voluntas, der höheren partes der Seele, welche als gottgeschaffen zu ihrem Ursprung zurückstrebt. Mit dieser Eingangssituation ist eine Folie anzitiert, die Inhalt und Verlauf des Gesprächs vorschreibt. Es kann im Prinzip um nichts anderes gehen als um die moralische Frage im christlichen Sinn, mit dem Ziel heilsbringender Besserung dessen, der in diesem Dialog Gesprächspartner und Integrationsinstanz zugleich ist. Die Folie hat eine Fülle weiterer Implikate, die in der Summe hinauslaufen auf die fiktive Stilisierung der mittelalterlich-christlichen Basis-Anschauungsform für das menschliche Leben schlechthin, sowohl, was Verlauf, als auch, was Werteorientierung betrifft. Jedoch in diesem Fall dient ihre Aktualisierung einem ganz anderen Zweck, nämlich dem, der im Prinzip als unterlegen und korrekturbedürftig markierten Position gleiche Berechtigung, wenn nicht gedankliche Superiorität zuzuschreiben. Wie auch im Canzoniere rekurriert Petrarca im Secretum auf das verbindliche Schema des ,Menschen an sich‘, um die von ihm reklamierte Abweichungsmarge um so deutlicher zu machen 72. Denn der Dialog endet nicht mit der Einsicht des Sünders. Minutiös erhebt der curator ,Augustin‘ im zweiten und dritten Buch die Art der Erkrankung, spricht Franciscus im wesentlichen davon frei, an den gängigen Formen der superbia, an invidia, ambitio, avaritia, gula und ira zu leiden, und sogar die acedia 73 scheint ein Problem, bei dem Besserung in Aussicht steht. ,Kern‘ des Übels sind amor und inanis glo72 Die Verfremdung des psychomachischen Musters nicht zu sehen, führt zu schwerwiegenden Konsequenzen. Tateo etwa deutet Franciscus als allegorischen Menschenvertreter schlechthin, als Repräsentanten des vulgus mit seinem Hang zur Vernachlässigung der religiösen Pflichten, ,Augustin‘ als Sprachrohr der moraltheologischen Orthodoxie. Dementsprechend faßt er alles, was Franciscus sagt, auf als „frutto di una volgare incomprensione“ (Dialogo interiore e polemica ideologica [s. Anm. 17], S. 19-24 [Zitat: S. 24]). Eine gröbere Fehlbeurteilung der Positionen des Franciscus ist kaum denkbar (s. u., passim). 73 Die acedia hat im Secretum nicht den Stellenwert, der ihr etwa für das konzeptuelle Substrat des Canzoniere zukommt, ist gleichwohl unter den minder gefährlichen Sünden des Franciscus die gewichtigste. Im Hinblick auf unseren Vorschlag zum Secretum verdient ein Passus aus De vera religione zitiert zu werden (Petrarca beruft sich, wie schon gesagt, im Secretum auf diesen Text [s. o., Anm. 38]); dort ist die acedia Indiz des Nicht-Erwählt-Seins („Ita uniuersitatis huius conditio atque administratio solis impiis animis damnatisque non placet, sed etiam cum miseria earum multis uel in terra uictricibus uel in caelo sine periculo spectantibus placet […] Nihil enim iustum displicet iusto.“ [XXII (43)]).
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ria, Liebe und das Streben nach Ruhm. Selbst was amor angeht, scheint Franciscus schließlich bereit, den vorgeschriebenen Weg zu gehen, nachdem sein Dialogpartner ihm mit schlagenden Worten nachgewiesen hat, daß es Selbsttäuschung sei, die Laura-Liebe für etwas Geistiges zu halten, und sich hinter dem schillernden Konzept nichts anderes verberge als die geläufige luxuria. Um keinen Preis nachgeben will Franciscus, was die inanis gloria betrifft, deren Substanz er enthüllt, wenn er sagt, es gehe ihm darum, sich mit dem noch zu vollendenden Africa-Epos Unsterblichkeit zu schaffen 74. Die Grundbedingung des Menschlichen transzendieren, gottähnlich oder gar gottgleich werden zu wollen, dieses am Beginn aller Sünde stehende Verlangen nährt auch Franciscus, und er sieht keinen Weg, sich davon zu befreien, so daß letztlich dem gestrengen ,Augustin‘ nichts anderes bleibt, als die Vergeblichkeit seiner Bemühungen einzusehen und Franciscus der göttlichen Gnade anzuempfehlen 75. 74 Die von ,Augustin‘ vertretenen Positionen zur inanis gloria haben, wie fast alle Ausführungen zu den einzelnen Sünden, ein Profil, das man als gemein-christlich bezeichnen könnte; sie finden sich bei Original-Augustin etwa in Confessiones X, 36 (59)-38 (63), aber genauso bei Thomas, etwa in Quaestiones disputatae de malo, qu. 9. Man darf aus ihnen also keine weitergehenden Schlüsse ziehen. 75 Die weniger problematische Variante der superbia, der Stolz auf körperliche Vorzüge, auf Wissen und Können, wird verhandelt auf S. 70-82; die entsprechenden Fehler zählen zu den Sünden, von denen Franciscus behauptet, er sei frei davon, was ihm ,Augustin‘ nicht vorbehaltlos, wohl aber in dem Sinne konzediert, daß das Betreffende nicht eigentlicher Grund seiner miseria sei. Mehr noch gilt dies im Hinblick auf einige der anderen Sünden, die zum Teil nur ganz kurz angesprochen werden (zu invidia s. S. 82; zu ambitio ebd., und auch S. 94-96; zu avaritia S. 82-94; zu gula S. 96; zu ira S. 96-98). Die verbleibenden Sünden sind sodann diejenigen, denen Franciscus so sehr verfallen ist, daß ,Augustin‘ das Schlimmste befürchtet. Zur luxuria s. S. 98-188, zur Laura-Liebe im speziellen S. 136-188, bes. S. 144-154; in den luxuria-Teil eingeschoben ist die Passage zur acedia (S. 106-128). Der gesamte Rest dieses Teils des Werks ist der „gloria hominum“ (S. 188) bzw., wie es mit dem theologisch exakten Terminus heißt, der „inanis glori[a]“ (S. 192) gewidmet (S. 188-214). Einleitend fällt das Stichwort des Strebens nach „immortalita[s]“ (S. 188), das die theologische Problematik der Ruhmsucht benennt. Dementsprechend äußert ,Augustin‘ die Befürchtung, daß der Wunsch nach dieser ,eitlen‘ Franciscus den Weg zur ,wahren Unsterblichkeit‘ verlegen könnte („At valde metuendum est, ne optata nimium hec inanis immortalitas vere immortalitatis iter obstruxerit.“ [S. 188]). - Die eigentliche Frage, die unter dem Stichwort ,gloria‘ verhandelt wird, geht über die individuelle Problematik des ehrgeizigen Dichters Franciscus hinaus. Sie betrifft einen Punkt, der sich aus der Rückschau als das wesentliche differenzierende Moment zwischen den Epochen Mittelalter und Renaissance erweist. ,Augustin‘ verteidigt den alten hierarchischen Monismus. Alles irdische Trachten muß so beschaffen sein, daß es auf das höchste Ziel ausgerichtet ist. Franciscus entwirft den rinascimentalen Gedanken der Pluralität. Das Irdische und das Jenseitige sind zwei unabhängige ordnungssetzende Systeme, die beide gleichermaßen ihre Berechtigung und vor allem ihren je spezifischen Geltungsbereich haben („Est autem aliqua propositi mei
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Der, kurz bevor das Ziel erreicht scheint, am schwersten aller Übel scheiternden Kur, die im zweiten und dritten Buch verabreicht wird, geht im ersten Buch eine grundsätzlichere Diskussion voraus, die, neben der provokativen Schluß-Pointe, die bemerkenswertesten Passagen des Werks beinhaltet. Denn dort wird noch vor der ,Erhebung‘ im einzelnen das abstrakte Problem verhandelt, wie überhaupt ein vernunftbegabter und über die moralischen Pflichten unterrichteter Mensch in seinem Handeln von dem abweichen kann, was er als das einzig Richtige zu erkennen vermag 76. Der Petrarkische ,Augustin‘ ist ein rigoroser Rationalist 77. Von der Offenbarung und dem Mysterium des Glaubens ist bei ihm nicht die ratio. Eam enim, quam hic sperare licet, gloriam hic quoque manenti querendam esse persuadeo ipse michi; illa maiore in celo fruendum erit, quo qui pervenerit, hanc terrenam ne cogitare quidem velit. Itaque istum esse ordinem, ut mortalium rerum inter mortales prima sit cura; transitoriis eterna succedant, quod ex his ad illa sit ordinatissimus progressus. Inde autem regressus ad ista non pateat.“ [S. 198; ,Augustins‘ Position in der dieser Einlassung des Franciscus unmittelbar vorangehenden sowie in der ihr folgenden Rede]). - Zu Franciscus’ direkter Abweisung der Exhortationen ,Augustins‘ und seinem Beharren auf der Ruhmsucht vgl. S. 212-214: Zwar wolle er einst Einsicht und Umkehr üben, sich aber zunächst dem Irdischen widmen, und zwar - dies ist die explizite Feststellung des Scheiterns der Kur -, weil er sein Begehren nicht zu zügeln vermöge („Sed desiderium frenare non valeo.“ [S. 214]). ,Augustin‘ bekräftigt daraufhin seine Position, daß Franciscus’ grundsätzlichster Fehler eine falsche Auffassung des Willens, genauer, das Leugnen des liberum arbitrium sei, und macht mit dem Stichwort „relabimur“ deutlich, daß man am Ende im Prinzip dort steht, wo die Auseinandersetzung begonnen hat, von Einsicht und Heilung also nicht die Rede sein kann („In antiquam litem relabimur, voluntatem impotentiam vocas.“ [S. 214]). - Ricos bereits oben als nicht nachvollziehbar qualifizierte Deutung des Schlusses liest sich wie folgt: „El ,appetitus‘ vehemente ha quedado reducido a la mı´nima expresio´n: a un punto de testarudez […] Francesco va a poner en pra´ctica las instrucciones del Padre.“ (Vida u obra de Petrarca [s. Anm. 5], S. 449 u. S. 447). ,Augustins‘ zitiertes Fazit spielt Rico in seinem Stellenwert völlig herunter (S. 449; s. auch S. 422 f.). Es ist naheliegend, welches Interesse eine solche Lektüre konditioniert. Ricos These verlöre jede Schlagkraft, wenn man nicht eine anstehende Bekehrung, sondern das Beharren auf dem sündhaften desiderium als Schlußpunkt des Texts ansetzt. - Zur von uns vertretenen Deutung s. u. a. Loos, „Die Hauptsünde der acedia“ (s. Anm. 71), S. 176 f.; s. weiterhin N. Iliescu, Il canzoniere petrarchesco e Sant’Agostino, Roma 1962, S. 64, F. Brunis Rezension von Ricos Buch (Medioevo romanzo Bd. 3/1976, S. 144-152) und auch die an Rico gerichteten deutlichen, aber berechtigten Bemerkungen bei Baron, Petrarch’s Secretum (s. Anm. 18), S. 220-223 u. S. 240 f. 76 Es existiert seit längerem in der Secretum-Philologie die These, das erste Buch sei das zuletzt entstandene (1353; zweites Buch: 1349; drittes Buch: 1347). Angesichts seines prinzipiellen Gepräges wäre dies nicht unplausibel. Ob Ricos Kritik an der These und sein Gegenvorschlag das Problem abschließend lösen, kann hier nicht erörtert werden (Vida u obra de Petrarca, S. 13-16; s. auch o., Anm. 9). 77 S. dazu als zugespitzteste Äußerung das Rühmen der ratio als der „fon[s] remediorum“, von der es Hilfe zu erflehen gelte („auxilium imploremus“ [Secretum (s. Anm. 11), S. 184]).
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Rede. Ansatzpunkt seiner Argumentation sind die Evidenzen des Faktischen. Aus diesen sensibilia abstrahiert er die intelligibilia, die höheren, nicht mehr der Sinneswahrnehmung zugänglichen Erkenntnisse, hier im speziellen die der Vergänglichkeit des Menschen und der Vergeblichkeit allen aufs Irdische fixierten Bemühens. Seine daran anschließende, in schroffer Diktion und den dürren Termini der Logik vorgetragene grundsätzlichste Position, die er trotz der Einwände des Franciscus unerschütterlich vertritt, gewinnt in der Mitte des ersten Buchs ihren klarsten Ausdruck, wenn er ultimativ verlangt, Franciscus möge die ,Wahrheit‘ des folgenden ,Satzes‘ anerkennen: […] ut miseriarum suarum perfecta cognitio perfectum desiderium pariat assurgendi […] Desiderium potentia consequitur. 78
Der dem vernunftbegabten Menschen möglichen Einsicht in die Ursachen seiner miseria (cognitio) folge der Wille (desiderium bzw. voluntas), sich aus diesem Zustand zu erheben, und aus dem Willen wiederum folgere die Befähigung (potentia), solches zu tun, so daß prinzipiell nichts dem Beschreiten des rechten Wegs, der zugleich irdische und jenseitige beatitudo verspricht, entgegensteht 79. Was die cognitio angeht, besteht zwischen ,Augustin‘ und Franciscus kein Dissens. Hier kann Franciscus für sein Abweichen vom rechten Weg nur das Argument zeitweiliger Mißachtung der Natur der Dinge ins Feld führen. Der Streit entzündet sich an der zitierten Kausalkette. ,Augustins‘ Einlassungen im ersten Buch laufen im Grunde allesamt auf einen Punkt hinaus: dem Gedanken, es könne irgend etwas diese strikte Kausalität irritieren ⫺ weitere bedingende Einflüsse benennbarer oder auch gar nicht faßbarer Natur ⫺, nicht die geringste Marge zu lassen 80. Im Hinblick auf das Sündigwerden läßt sich Franciscus nach einigem Widerstand zu dem Zugeständnis herbei, daß solches in der Tat nicht als 78 S. 42 f. 79 Vgl. dazu auch: „Quia qui miseriam suam cupit exuere, modo id vere pleneque cupiat, nequit a tali desiderio frustrari.“ (S. 30) 80 Wir zitieren ergänzend einige weitere Formulierungen, mit denen ,Augustin‘ den Gedanken variiert: „Ut, sicut qui se miserum alta et fixa meditatione cognoverit cupiat esse non miser, et qui id optare ceperit sectetur, sic et qui id sectatus fuerit, possit etiam adipisci. Enimvero tertium huiusmodi sicut nonnisi ex secundi, sic secundum nonnisi ex primi defectu prepediri posse compertum est; ita primum illud ceu radix humane salutis subsistat oportet.“ (S. 28 u. S. 30) „Id agere tecum institueram, ut ostenderem, ad evadendum huius nostre mortalitatis angustias ad tollendumque se se altius, primum veluti gradum obtinere meditationem mortis humaneque miserie; secundum vero desiderium vehemens studiumque surgendi; quibus exactis ad id, quo vestra suspirat intentio, ascensum facilem pollicebar […]“ (S. 34)
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zwanghaft, als gegen den Willen des Sünders sich ereignendes Handeln angesehen werden könne 81, so daß sich die Diskussion auf die Frage des rechten, nicht sündhaften Handelns zuspitzt. In diesem Punkt scheint Franciscus die Kausal-Problematik anders gelagert 82. Den Konnex von Einsicht und rechtem Wollen mag er noch konzedieren, aber der Punkt, den er offen bestreitet, ist, daß aus dem Wollen auch die Befähigung zum rechten Handeln folgere: „Dubitari igitur meo iudicio non potest quin multi quidem inviti nolentesque sint miseri.“ 83 Diesem noch zurückhaltend vorgetragenen Zweifel folgt im weiteren Verlauf des Gesprächs die der ,augustinischen‘ Kausalkette diametral entgegenstehende Behauptung, er, Franciscus, wolle durchaus der miseria entgegenwirken, vermöge aber solches nicht („volui nec potui“ 84), sowie die Aufforderung, ,Augustin‘ möge ihm doch sagen, was es denn sei, das ihn trotz Einsicht und aufrichtigem Wollen daran hindere, das Gewünschte handelnd umzusetzen („Quid ergo me retinet?“); und er versagt sich am Ende des ersten Buchs nicht, darauf hinzuweisen, daß diese Frage trotz aller Argumente seitens ,Augustins‘ immer noch offen ist: „Questio illa superest: Quid me retinet?“ 85 Das Problem bleibt ungelöst bis zum Ende des fiktiven Dialogs, ja, sein Ungelöstsein ist Grund des Scheiterns der Kur 86. Denn alle Ein81 ,Augustin‘ insistiert vielfach auf der Freiwilligkeit des Sündigseins („[…] neminem nisi sponte sua in miseriam corruisse.“ [S. 36]; „[…] nec fieri miserum nec esse qui nolit.“ [S. 36]; s. weiterhin S. 32 und zahlreiche entsprechende Formeln im gesamten ersten Buch). 82 Franciscus kleidet die Differenzierung in die Metapher, daß er zwar sehe, daß man nicht gegen seinen Willen falle, nicht aber, daß man aus eigener Kraft sich wieder aufzurichten vermöge („Ut sicut verum est neminem nisi sponte corruere, sic etiam illud verum sit: innumerabiles sponte prolapsos non sua tamen sponte iacere; quod de me ipso fidenter affirmem. Idque michi datum arbitror in penam ut, quia dum stare possem nolui, assurgere nequeam dum velim.“ [S. 38]). 83 S. 30 u. S. 32. 84 S. 40. 85 S. 58 u. S. 62 (gleichlautend S. 60). ,Augustin‘ gibt natürlich eine Antwort, allerdings eine solche, die nichts anderes beinhaltet, als was er schon gesagt hat, und die entsprechend Franciscus’ Problem nicht löst. Der Wille müsse nur stark („vehemens“) sein, dann sei es sehr wohl möglich („neque […] res impossibilis est“), das als richtig Erkannte handelnd umzusetzen (vgl. S. 62 u. S. 64). Dies ist - wie vieles, das ,Augustin‘ in den Mund gelegt wird - durchaus ein Zitat von Original-Augustin, welches indes Entscheidendes ausspart und so das im Original Gemeinte geradezu pervertiert; zur hier von Petrarca anvisierten Stelle in den Confessiones s. u., S. 31 f. mit Anm. 101; die entsprechende Zitiertechnik ist ein systematisches Verfahren des gesamten Texts bzw. der Modellierung des fiktiven ,Augustin‘ (s. auch u., Anm. 93 und Anm. 95). 86 Vgl. auch die heftigste Zuspitzung der Positionen - mangelndes posse hier, mangelndes velle dort - im folgenden Schlagabtausch: Fr.: „Quotiens dixi me ulterius nequivisse?“; Aug.: „Quotiensque respondi, imo verius noluisse?“ (Secretum, S. 40).
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wände ,Augustins‘, es seien unzureichende cognitio oder ein allzu schwacher Wille, die Franciscus hinderten, ein frommes Leben zu führen 87, können diesen nicht überzeugen 88. Zwischen Wollen und Handeln, so seine Position, schiebt sich ein Unverrechenbares, ein menschlicherseits nicht Verantwortbares, ein Kontingentes 89, das Petrarca im letzten Satz seines Buchs mit der Chiffre versieht, die diese Zeit für das KontingenzKonzept entworfen hatte, „Fortuna“ 90. Es ist unerheblich, ob hier die mittelalterliche, von Dante versuchte christianisierte Version oder bereits die agnostizistisch rinascimentale Vorstellung gemeint ist 91. Die zentrale Opposition zwischen ,Augustin‘ und Franciscus ist die zwischen dem Gedanken eines im Wortsinn regulären und dem eines kontingenten Heilswegs, welcher von einem menschlicherseits nicht einsehbaren und insofern auch nicht behebbaren Hindernis („latentis obstaculi“ 92) blokkiert werden kann. Beide Positionen erscheinen in dieser Abstraktion kaum noch vereinbar mit der christlichen Orthodoxie, was Heitmann veranlaßt haben
87 Das Maximum, das ,Augustin‘ konzediert, ist, daß Franciscus ab und an den Willen gehabt haben mag, zu gesunden, jedoch nie in angemessener Stärke („Illa [conscientia tua] tibi dicet nunquam te ad salutem qua decuit aspirasse, sed tepidius remissiusque quam periculorum tantorum consideratio requirebat.“ [S. 44]). Die These eines gewissermaßen natürlichen Hangs zur Sünde in statu naturae corruptae, dem allerdings eine entsprechend nachhaltige Anstrengung parieren könne, ist erzthomistisch (vgl. Quaestiones disputatae de malo, qu. 5). Bei Original-Augustin hingegen wird eine vom fiktiven ,Augustin‘ unterschlagene, unerläßliche Voraussetzung für das Erbringen dieser ,angemessenen‘ Willensanstrengung gefordert, die Gnade, die keineswegs jedem zuteil wird, auch nicht jedem Getauften (s. u., Anm. 157). 88 Gleich nach der ersten Ableitung der Kette ,Erkennen, Wollen, Wirken‘ (sc. des Guten) seitens ,Augustins‘ sagt Franciscus: „Consequentiam istam ego non video.“ (S. 30). Seine Konzessionen gehen an keiner Stelle des Gesprächs weiter als oben beschrieben (s. S. 26 f.), d. h., sie laufen auf eine Differenzierung, nicht aber Einschränkung der grundsätzlichen Position hinaus. 89 Vgl. dazu Franciscus’ konzise Formulierung: „[…] quod prima duo [noscere und odisse (sc. miseriam), also cognitio und voluntas] nostri arbitrii, tertium hoc [depellere (sc. miseriam), also posse] sit in potestate fortune.“ (S. 32). S. dagegen ,Augustins‘ Position: „Ceterum quisquis causarum absentiam equo ferens animo effectus non adesse conqueritur, nec causarum certam tenet ille rationem nec effectuum.“ (S. 118). Beide Aussagen sind Zitate; die des Franciscus referiert auf Original-Augustin, die des fiktiven ,Augustin‘ auf die aristotelischthomistische Bedingungslehre (s. u., S. 39 u. S. 41-44). 90 S. dazu das erste Zitat in Anm. 89 sowie S. 214 („[…] ut […] fortuna non obstrepat.“ [logisch bezogenes Objekt ist Franciscus’ Errettung]). 91 Vgl. bei Dante Inf. 7, V. 61-96; zum gesamten Problem s. A. Doren, „Fortuna im Mittelalter und in der Renaissance“, in: Vorträge der Bibliothek Warburg Bd. 2 (1922/1923), Teil 1, Leipzig/Berlin 1924, S. 71-144. 92 So Franciscus zur Qualifizierung dessen, was ihn ,zurückhält‘ (Secretum [s. Anm. 11], S. 58).
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mag, in dem Text ein Streitgespräch zwischen einem spät-antiken Häretiker und einem dem authentisch Christlichen bereits entfremdeten Denker der Frührenaissance zu sehen. Aber der Autor Petrarca hat den Auffassungen des einen wie des anderen gerade jenes Maß an Christlichem beigefügt, das notwendig ist, um die Diskussion zu einer Auseinandersetzung nicht jenseits, sondern auf dem ,diskursiven Feld‘ der christlichen Rede über den Menschen zu machen, was dann auch dem Text seine Relevanz für diese Zeit schafft. Denn ,Augustin‘ vertritt nicht den Selbstheiligungsgedanken. Der erst im zweiten Buch von ihm explizit gemachte Horizont seiner Einlassungen zur Befähigung, der Sünde zu widerstehen, ist, daß niemand solches ohne göttliche Hilfe vermöge. Allerdings ,pflege‘ Gott die Hilfe demjenigen nicht zu verweigern, der sie ,richtig‘ („rite“) erbittet. Dies ist fast wörtliches Zitat des thomistischen Gnadensatzes 93. Und auch die Position des Franciscus läßt sich nicht als postchristlicher Agnostizismus fassen. Dem Nicht-Benennbaren, das ihn zurückhält, gibt er durchaus einen Namen, wenn auch nicht explizit. Schon im Kontext der an ,Augustin‘ gerichteten Frage „quid ergo me retinet?“ 93 „Continens equidem, nisi cui Deus dederit, esse non potest. Ab Eo igitur munus hoc in primis humiliter et sepe cum lacrimis postulandum est. Solet ille que rite poscuntur non negare.“ (S. 100) S. dazu auch Ricos treffende Zusammenfassung von ,Augustins‘ Gnadenlehre, wobei diesem indes nicht auffällt, wie zutiefst un-Augustinisch eine solche Lehre vom Heilserwerb ist (Vida u obra de Petrarca [s. Anm. 5], S. 97, S. 192 u. S. 373). Er bezeichnet das Konzept als katholisch bzw. orthodox schlechthin („cato´lico“ [S. 189]; „la ortodoxia de la Iglesia“ [S. 97]). Zum thomistischen Gnadensatz s. o., S. 14 f. mit Anm. 41. - Wie sehr sich ,Augustin‘ auf das aktivistische Heilskonzept der scholastischen Phase bezieht, tritt nochmals hervor, wenn Franciscus sagt, er wolle angesichts der Macht der luxuria zu Gott beten und auf die Gnade („gratia“) hoffen. ,Augustin‘ antwortet ihm, er möge vielmehr selbst etwas tun, um sich aus der miseria zu erheben und dabei gleichzeitig Gottes Hilfe erflehen. Tue er solches, sei allerdings trotz allen Augenscheins die Hilfe vielleicht bereits nahe („Aderit Ille tunc forsitan, cum abesse credideris.“ [S. 102]). - Die Passage referiert auf den Bericht über den Kampf mit der luxuria in den Confessiones. Auch hier tritt Petrarcas Basis-Verfahren des selektiven Zitats, das die Aussage ins Gegenteil verkehrt, mit aller Deutlichkeit zutage. Zwar heißt es in VI, 11 (20), ganz wie im Secretum : ,Du hättest es [das Vermögen, enthaltsam zu leben] mir gegeben, wenn ich mit innerem Seufzen an Dein Ohr geschlagen und in festem Glauben meine Sorgen auf Dich geworfen hätte‘. Entscheidend sind aber die im Kontext der Bekehrungsszene narrativ vermittelten und auch explizit gemachten Festlegungen zu dem, was den Sünder dazu bewegt, seine ,Sorgen in festem Glauben nur auf Gott zu werfen‘. Die vorbehaltlose Hinwendung zum Guten ist nicht Voraussetzung, sondern Folge des Gnadenerweises, so daß sich das logische Verhältnis von göttlichem Gebieten und menschlichem Handeln recht eigentlich verkehrt: Das Anflehen ist ein Nachsprechen dessen, was Gott dem Sünder bereits zuvor gesagt hat („Neque […] tu aliquid tale audis a me, quod non mihi tu prius dixeris.“ [X, 2 (2)]). - Zur gesamten Problematik s. auch unsere Kommentierung der Bekehrungsszene, u., S. 31 f.
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insinuiert er eine Antwort, auf die sich dieser ,Augustin‘ um keinen Preis einlassen will: Wenn es für ihn, Franciscus, noch eine Hoffnung auf Heil gebe, so allein die, daß der Allmächtige selbst aus Mitleid es ihm zuteil werden lasse, mit letzter Kraft das Steuer seines Lebensschiffs zu wenden 94. In der Argumentation beider Dialogpartner spielt also das Gnadenkonzept eine Rolle, indes ist die Abfolge von Wollen beziehungsweise Handeln und Gnadenerweis in ,Augustins‘ und Franciscus’ Akzentuierung des Gedankens invers 95. Das von Franciscus anvisierte Argument erreicht seine äußerste Pointierung in einer Replik, mit der er seinen Interlokutor bedenkt, wenn dieser glaubt, wie schon im „Prohemium“ angekündigt 96, seine eigenen Erfahrungen auf Erden als Beispiel für die Richtigkeit der von ihm vertretenen Auffassungen bemühen zu können: Franciscus wisse doch aus der Lektüre der Confessiones, daß er, ,Augustin‘, sobald er nur voll und ganz gewollt, auch vermocht habe, recht zu handeln und sich augenblicklich in einen ganz anderen, neuen Augustinus verwandelt habe 97. Die lapidare Antwort lautet: „Novi equidem, illiusque ficus salutifere, cuius hoc sub umbra contigit miraculum, immemor esse non possum.“ 98 Franciscus weist mit diesem abgründigen Satz auf dasjenige hin, was sein 94 Vgl. Secretum, S. 62. Franciscus zitiert hier fast wörtlich Original-Augustin (vgl. Confessiones VI, 7 (12); dort auch die gubernaculum-Metapher). 95 Franciscus’ Position ist nicht nur auf der Ebene der Metaphorik, sondern auch von der Substanz her ein weiteres Mal Zitat eines original-Augustinischen Gedankens, wie er sich bereits seit den Frühschriften, u. a. in De vera religione, immer wieder findet („[…] uni deo uero collum subdere, nihil de se ipso fidere, illi uni se regendum tuendumque committere. Ita ipso duce homo bonae uoluntatis molestias huius uitae in usum fortitudinis uertit.“ [De vera religione XV (29)]). Zum zeitlichen und Bedingungsverhältnis von göttlicher Gnade und menschlichem Handeln vgl. die folgende Passage aus dem dreizehnten Buch der Confessiones : „[…] nunc inuocantem te ne deseras, qui priusquam inuocarem praeuenisti […] ut audirem de longinquo et conuerterer et uocantem me inuocarem te. Tu enim […] praeuenisti omnia bona merita mea […]“ (1 (1)). - Wie noch anhand weiterer zentraler Stellen des Texts zu erläutern sein wird, ist die pseudo-augustinische eine Art Reduktionsstufe der authentisch Augustinischen Position. Pseudo-Augustin sagt in der Substanz ,nunc inuocantem te ne deseras‘, aber er blendet aus, was nach Original-Augustin vorausgehen muß, damit überhaupt der Mensch sich zu Gott wendet. Der aktive und der passive Part, Bedingendes und Bedingtes, werden auf diese Weise im Vergleich zum Original invertiert. 96 Vgl. Secretum (s. Anm. 11), S. 24. 97 „Itaque postquam plene volui, ilicet et potui, miraque et felicissima celeritate transformatus sum in alterum Augustinum […]“ (S. 40). S. dazu auch die abstrakte Formulierung dieses Konzepts eines ,allgemeinen‘ Gnadenangebots, S. 58 („[…] sed spei plenus quod Dei dextera potens promptaque sit ex tantis malis eruere, dummodo te curabilem prebeas […], non frustra te meditatum esse confide.“). 98 S. 40.
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Interlokutor nicht nur hier, sondern in seiner gesamten Argumentation unterschlägt, daß nämlich im Fall des authentischen Augustinus keineswegs das Wollen hinreichte, um diesen zu einem ,neuen‘ Menschen zu machen, daß es einer göttlichen, alles Rationale übersteigenden Intervention bedurfte, eines miraculum 99. Nicht ohne Grund zitiert Petrarca an diesem Angelpunkt seines Texts das achte Buch der Confessiones. Das Zitat ist pragmatisch ein Verweis, dessen Nachvollzug schlaglichtartig enthüllt, wie die in dem Dialog konstituierten zwei Positionen einzuordnen sind. Was dort Original-Augustin über seine Situation berichtet, entspricht exakt dem im Secretum von Franciscus für die eigene Person Behaupteten 100. Wie später Franciscus, ist Augustinus hin- und hergerissen. Er will, vermag sich aber nicht zu lösen aus den Ketten der Sünde 101. Auch ihm stellt sich die verzweifelte Frage nach dem Grund dieses ,monströsen‘ Zustands 102. In der Antwort, die erst der Bekehrte zu geben vermag, verbirgt sich hinter der sodann auch bei Petrarca herangezogenen Metapher der „aegritudo
99 S. auch den von der Perspektive her begrenzten, im Prinzip aber treffenden Kommentar der Passage bei G. A. Levi, „Pensiero classico e pensiero cristiano nel Secretum e nelle Familiari del Petrarca“, Atene e Roma Bd. 35/1933, S. 63-82, hier: S. 66-68 („Il Petrarca cita Agostino, e leva cio` che gli e` maggiormente proprio, il principio mistico.“ [S. 68]; Levi setzt jedoch an, daß sich Petrarca der ,Opposition‘ zwischen original- und pseudoaugustinischem Heilsweg nicht bewußt war, und zwar, obwohl er meint, daß auch einem prä-reformatorischen Leser der Confessiones das von ihm selbst qualifizierte ,Prinzip‘ nicht entgangen sein könnte [S. 68 f.]); vgl. weiterhin Trinkaus, der zwar das zutiefst un-Augustinische von ,Augustins‘ Version der Bekehrung sieht, nicht aber, daß Franciscus mit seiner Antwort eben diesen Punkt explizit macht („Petrarch“ [s. Anm. 19], S. 9 f.). 100 Augustin selbst hat zu dieser Abstraktion vom Individualbiographischen ermächtigt, wenn er das zentrale Stück seines Lebensberichts als zum Teil wörtliche Paraphrase des Abschnitts des Römerbriefs anlegt, in dem Paulus die gespaltene Natur des erbsündigen Menschen beschreibt (Rom 7, 18-25). 101 Vgl. Confessiones VIII, 8 (19)-12 (30). Nicht nur in bezug auf das Wunder, in bezug auf die gesamte Passage ist, was der Petrarkische Augustin sagt, ein selektives Zitat von OriginalAugustin. Hier tritt die Funktion dieses bereits mehrfach angesprochenen Verfahrens noch einmal besonders deutlich hervor. Es dient der Verkehrung der original-Augustinischen Position, des Gnadengedankens, ins Gegenteil, in das Konzept eines menschenmöglichen Heilserwerbs: Zwar ist in der Tat, um zu Gott zu gelangen, ,nichts anderes nötig, als gehen zu wollen, aber unverzagt und mit voller Kraft, nicht mit einem halbwunden Willen, der einmal dahin, einmal dorthin geworfen wird‘ (8 (19)). Aber Augustin fährt fort: ,[…] und doch tat ich das eine nicht, zu dem ich mich in einer unvergleichlichen Sehnsucht hingezogen fühlte und das ich auch, sofern ich es nur wollen würde, alsbald gekonnt hätte, weil ich es bloß zu wollen brauchte, um es tatsächlich alsbald zu wollen […] und trotzdem geschah es nicht.‘ (8 (20)). 102 „Vnde hoc monstrum? Et quare istuc?“ (Confessiones VIII, 9 (21))
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animi“ 103 das Konzept der Schwächung des Willens durch die Erbsünde 104. Das liberum arbitrium im Wortsinn, das heißt die Fähigkeit, ein gewolltes bonum auch handelnd zu wirken, erlangt Augustinus erst, als Gott selbst seine ,Ketten‘ zerreißt, ihm das ,tolle, lege‘ erschallen läßt und das ,Licht der Gewißheit‘ ins Herz gießt 105. Und er legt im zehnten Buch nochmals dar, daß es kein posse gibt, ohne daß der Herr dem Sünder die Gnade gewährt, so daß ,dieser erst geben muß, wenn geschehen soll, was er befiehlt‘ 106. Franciscus tut an dieser zentralen Stelle des Secretum nichts anderes, als seinen sich auf die Positionen des thomistisch-aristotelischen Rationalismus berufenden Dialogpartner mit der Gnadenlehre des authentischen Augustinus zu konfrontieren 107. Implicite schafft er sich damit, das heißt mit der Behauptung, ihm mangele es am Vermögen, das als
103 Confessiones VIII, 9 (21); zur aegritudo im Secretum (s. Anm. 11) s. u. a. S. 24. 104 „[…] ego eram, qui uolebam, ego, qui nolebam; ego eram. Nec plene uolebam nec plene nolebam. Ideo mecum contendebam et dissipabar a me ipso, et ipsa dissipatio me inuito quidem fiebat, nec tamen ostendebat naturam mentis alienae, sed poenam meae. Et ideo non iam ego operabar illam, sed quod habitabat in me peccatum de supplicio liberioris peccati, quia eram filius Adam. […] Non itaque [uoluntas] plena imperat; ideo non est, quod imperat.“ (Confessiones VIII, 10 (22); der letzte Satz bereits in 9 (21).) 105 Das Wunder in Confessiones VIII, 12 (28 und 29). Vgl. auch die abschließenden Dankesworte des Bekehrten, die nochmals die Verteilung der Gewichte deutlich machen: „[tu] qui potens es ultra quam petimus […] Conuertisti enim me ad te […]“ (12 (30)); s. weiterhin IX, 1 (1): „Dirupisti uincula mea […]“. Zum recht eigentlichen Nicht-Gegebensein eines authentisch freien Willens vor dem Gnadenwunder s. ebd. („Sed ubi erat tam annoso tempore et de quo imo altoque secreto euocatum est in momento liberum arbitrium meum […]?“). 106 „Conforta me, ut possim, da quod iubes et iube quod uis. […] Vnde apparet, sancte deus meus, te dare, cum fit quod imperas fieri.“ (X, 31 (45)) 107 Der Gedanke der Uneinsehbarkeit der Gnadenwahl bildet den Schlußpunkt des Texts. Franciscus fleht zu Gott, ihn zu leiten, und die Kontingenz möge diesem Wunsch nach Heil nicht entgegenstehen („[…] et fortuna non obstrepat.“), so die bedeutungsschweren letzten Worte des Secretum (s. Anm. 11 [S. 214]). - Rico vertritt, wie schon gesagt, daß Heitmanns Behauptung eines anti-Augustinischen ,Augustin‘ völlig abwegig sei (s. o., Anm. 22). Die im Zuge seiner „lectura“ in den Anmerkungen gegebenen Nachweise von ,Augustins‘ Äußerungen aus original-Augustinischen Texten haben eine in zweifacher Hinsicht problematische Basis. Zum ersten: Vieles, was ,Augustin‘ sagt und sich bei Original-Augustin wiederfinden läßt, ist gemein-christlich (s. o., Anm. 74). Zum zweiten: Es lassen sich in der Tat zu der eigentlich interessanten Frage der Handlungstheorie und zur Gnade bei Original-Augustin einzelne Formulierungen finden, die auf den ersten Blick recht nahe an dem liegen, was der Petrarkische Augustin sagt. Aber die Zitate sind, wie erläutert, aus dem Kontext gerissen, das Gemeinte wird dadurch ins Gegenteil verkehrt (s. dazu nochmals o., Anm. 85, Anm. 87, Anm. 93, Anm. 95 und Anm. 101). Rico bemerkt dies nicht; kurz, seine Auseinandersetzung mit der These Heitmanns ist philologisch fragwürdig.
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richtig Erkannte handelnd umzusetzen, konkret, am göttlichen Gnadenerweis, eine von den Positionen des größten Lehrers der christlichen Orthodoxie gedeckte Rechtfertigung seines eigenen, wenig frommen Lebenswegs 108, sei es in der Form, daß er zu den damnati gehöre, sei es, daß ihm die Erleuchtung erst noch bevorstehe, deren Unabsehbarkeit der historische Augustin mit Blick auf die eigene Biographie auf die paradoxe Formel gebracht hat, das Heil sei ihm um so näher gewesen, je tiefer er sich in Sünde verstrickt habe 109. Aber dies ist der weniger interessante Aspekt. Denn es steht in Frage, ob Petrarca sich selbst und anderen gegenüber einer solchen Legitimierung noch bedurfte. Die vom Text geforderte Relevanz ist, wie gesagt, eine abstraktere als die individualethische oder gar biographische: „[…] veritas autem una atque eadem semper est“ ⫺ mit dieser Basis-Formel aller, nicht nur der hochmittelalterlich-christlichen, Orthodoxien läßt sich der fiktive ,Augustin‘ an einer Stelle im zweiten Buch ein 110. Er zitiert dabei Original-Augustin, und ausnahmsweise korrekt 111. Wie es mit der Haltbarkeit dieser Formel vor dem Hintergrund des von Petrarca ersonnenen Dialogs steht, der von der Substanz her die christliche Dogmengeschichte in die Struktur einer abstrakten Opposition überführt, bedarf kaum der Ausführung 112. 108 In seinem Referat der Thesen Ockhams hat Gilson die Konsequenzen der Absolutsetzung des Gnadenkonzepts für die Moraltheologie, die eben schon im 14., und nicht, wie gemeinhin angesetzt, erst im 16. Jahrhundert geistig präsent waren, auf den folgenden Nenner gebracht: „Appliquons enfin les meˆmes me´thodes au proble`me des pre´ceptes moraux et demandons-nous si de tels pre´ceptes sont ne´cessaires. Il n’en est e´videmment rien.“ (La Philosophie au Moyen aˆge [s. Anm. 46], S. 652). Petrarcas Zeitgenosse Jean de Mirecourt etwa vertrat in Radikalisierung dieses Konzepts, daß alle Sünde von Gott ausgehe und man sich dementsprechend nicht dagegen wehren könne („[…] le commerce avec la femme d’autrui n’est plus alors un adulte`re, et sic de aliis peccatis.“). Mirecourts Thesen wurden im Jahr 1347 an der Sorbonne von dem Kanzler Roberto de Bardis, einem Freund Petrarcas, verboten (S. 664 f.). 109 Bezogene Sünde ist die auch für Franciscus besonders einschlägige luxuria („Ego fiebam miserior et tu propinquior.“ [Confessiones VI, 16 (26)]. Man beachte den Gegensatz zu dem vom fiktiven ,Augustin‘ vertretenen Konzept einer ,Annäherung‘ an Gott durch schrittweises Sich-selbst-Befreien aus der miseria). 110 Secretum (s. Anm. 11), S. 134. 111 Die Formel zieht sich passim durch Augustins Werke. Wir zitieren einige markante Stellen aus den Petrarca besonders gut bekannten Schriften (Soliloquia II, 20, 35; gleichlautend u. a. De libero arbitrio II, 12, 33 sowie 34 und 14, 38; De vera religione III (3) sowie XXX (56) und XXXI (57 und 58). An der zuletzt zitierten Stelle sowie in XXXVI (66) wird die veritas in eins gesetzt mit dem Göttlichen selbst bzw. mit dem logos [im Anschluß an Jo 14, 6]). 112 Zur Gegenposition des Franciscus s. im einzelnen u., S. 52 mit Anm. 184; vgl. auch den treffenden Kommentar zu dieser zentralen Stelle des Texts bei A. Noferi, L’esperienza poetica del Petrarca, Firenze 1962, Kap. „Note al Secretum“, S. 235-284, hier: S. 258.
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3. Die implizit in die Kommentierung eingeflossenen Behauptungen zu den Positionen der zwei Kirchenlehrer, auf die das Secretum referiert, bedürfen einer kurzen systematischen Skizze, die keinen fachtheologischen Anspruch erhebt und die sich auf die in Petrarcas Text diskutierten Fragen konzentriert 113. 3.1. Die Augustinischen Confessiones sind ein narrativer Text und insofern eher Rekonkretisierung als Artikulation von Konzepten 114. Aber ein Blick auf die im engeren Sinn theologischen Schriften zeigt, daß das zu den Confessiones Referierte und von Petrarca Herangezogene exakt dem entspricht, was die Grundlagen von Augustins theologischem System ausmacht. Es ist bereits diese Kongruenz von ,biographischer‘ Narration und Argumentation, die im grundsätzlichen Zugriff den Abstand zum späteren System des Thomas signalisiert. Was dieser, wie auch sein fiktives Pendant in Petrarcas Dialog, als taugliches Verfahren zum Erfassen der Wahrheit erachtet, die Logik und im speziellen die Technik des Syllogismus, gilt dem originalen Augustin als fundamental problematisch, ja, er scheut sich nicht, der Wahrheit den Primat im Verhältnis zur logischen Konsistenz zuzumessen, das heißt, veritas und Rationalität als letztlich inkommensurable Größen zu qualifizieren 115. Der Hintergrund dieser grundsätzlichsten Position des Kirchenvaters ist im Kontext seines Wirkens zu suchen. Dieses war bestimmt von der
113 Die wesentlichen Unterschiede zwischen der thomistischen und der augustinischen Position sind deutlich und konzis dargestellt im Artikel „Thomas d’Aquin“ des Dictionnaire de the´ologie catholique (s. Anm. 36) (Vf.: G. Geenen u. a.; in: Bd. 15, Sp. 618-761, hier: Sp. 658-693), wo im Gegensatz zum Artikel „Augustin“ von gedanklich problematischen Harmonisierungsversuchen weitgehend abgesehen wird. 114 Zum zugrunde gelegten Konzept des narrativen Texts s. K. Stierle, „Die Struktur narrativer Texte. Am Beispiel von J. P. Hebels Kalendergeschichte Unverhofftes Wiedersehen“, in: H. Brakkert/E. Lämmert (Hrsg.), Funk-Kolleg Literatur, 2 Bde., Frankfurt a. M. 21979 (11977/1978), Bd. 1, S. 210-233. 115 „Sed haec pars cum discitur [sc. praecepta disputationis], magis ut proferamus ea, quae intellecta sunt, quam ut intellegamus, adhibenda est. Illa uero conclusionum et definitionum et distributionum plurimum intellectorem adiuuat; tantum absit error, quo uidentur sibi homines ipsam beatae uitae ueritatem didicisse, cum ista didicerint.“ (De doctrina christiana II, 37 (55))
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Kontroverstheologie 116. Die gängige Aufteilung in eine frühe und eine späte, eine anti-manichäische und eine anti-pelagianische, eine der These des liberum arbitrium und eine der der Prädestination zuzurechnende Phase übersieht die fundamentale Einheit des Augustinischen Denkens, die seinen Anti-Manichäismus wie seinen Anti-Pelagianismus (trotz oberflächlicher Oppositivität dieser zwei Schulen) erklärt und in der auch eine Beantwortung der Frage nach dem Verhältnis von menschlicher Freiheit und göttlicher Gnade impliziert ist. Augustin ist strikter Monotheist. Alles, was ist, ist von Gott. Da aber Gott das bonum schlechthin ist, kann das Übel in der Welt (malum) keine eigentliche causa efficiens haben. Es ist eine amissio beziehungsweise eine defectio boni, die zu Lasten des Menschen geht. Dies ist in nuce Augustins Bewältigung des Manichäismus, die also dem Menschen eine gewisse Freiheit konzediert, allerdings nur die zum Bösen, das heißt eine solche, die die metaphysische Instanz freispricht von der Verantwortung für das Gegebensein des Gegenteils ihrer selbst 117. So bleibt die den Monotheismus erst fundierende Basis-These des Deus als umfassender causa efficiens gewahrt. Aber es liegt nahe, daß, wenn zur Abwehr des manichäischen Dualismus (Polytheismus) ein Stratum des Seins der Verantwortung des einen Gottes entzogen wird, seine Verantwortung für das Übrige ins Absolute wachsen muß, um nicht den Gedanken von Gott als causa efficiens omnium, das heißt, die Essenz des Konzepts eines Mono-Theos, fragwürdig werden zu lassen. Alles Gute ist von Gott und einzig von Gott, so daß in dieser Hinsicht dem Menschen nichts bleibt, was er efficaciter zu tun vermöchte, was er für sich reklamieren, woran er Ansprüche knüpfen könnte (Anti-Pelagianismus). So darf also der Titel der frühen anti-manichäischen Schrift De libero arbitrio (388⫺395) nicht mißverstanden werden. Selbst in dieser Phase hat Augustin mit dem Konzept nicht gemeint, was später Scholastik und
116 Zu Augustins Positionen s. den zitierten Artikel „Augustin“ (s. Anm. 36), passim, und den Artikel „Augustinisme“ (Vf.: E. Portalie´), in: Dictionnaire de the´ologie catholique (s. Anm. 36), Bd. 1, Sp. 2501-2561. 117 „Mali enim nulla natura est; sed amissio boni mali nomen accepit.“ (De civitate Dei XI, 9) „Nemo igitur quaerat efficientem causam malae uoluntatis; non enim est efficiens sed deficiens, quia nec illa effectio sed defectio. Deficere namque ab eo, quod summe est, ad id, quod minus est, hoc est incipere habere uoluntatem malam.“ (XII, 7) Die fundamentale logische Schwäche des Arguments wird rhetorisch kompensiert: durch den in der Wortwahl (deficiens als logische Opposition zu efficiens) implizierten Appell an die ,historische‘ defectio, den Sündenfall.
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tridentinischer Katholizismus unter dem Schlagwort faßten. Es ging ihm um die Abweisung der manichäischen Behauptung einer Doppelherrschaft des guten und des bösen Prinzips, die impliziert, daß es keine Verantwortlichkeit gebe 118; die Konsequenzen eines solchen Gedankens wären Fatalismus, Auflösung der Sinnhaftigkeit von Kult, Glauben, Jüngstem Gericht, Suspendierung des Erlösungsgedankens ⫺ kurz, die Unterminierung all dessen, was die christliche Lehre definiert 119. Ausdrücklich hat er sich dagegen verwahrt, seine Aussagen in pelagianischem Sinn mißzuverstehen, das heißt als Postulat authentischer Wahlfreiheit, der keine Gnade präexistent sein müsse 120. Bereits in De libero arbitrio spricht Augustin das später, vor allem in De civitate Dei, entfaltete 121 und vom Franciscus des Secretum aufgegriffene Problem des rechten Wollens, aber mangelnden Vermögens an 122. Der Widerspruch zwischen Wollen und Vermögen ergibt sich aus der erbsündigen Natur des
118 Zur Funktion der Schrift s. Retractationes I, 8, 9. Der späte Augustin erklärt dort die teilweisen Konzessionen an das Konzept der Willensfreiheit mit dem angedeuteten pragmatischen Zweck. 119 S. dazu De vera religione XIV (27), wo Augustin ausführt, daß, sobald man die Fundierung der Sünde im liberum arbitrium leugne, man ,dem christlichen Gesetz, ja der Lehre jeder Religion den Boden entziehe‘. Dementsprechend geht es in seinen Werken in immer neuen Formulierungen darum, dem Menschen die Schuld für das Böse anzulasten, d. h., um die Abweisung der Annahme, ,daß Gott eben doch als der Urheber unserer Übeltaten anzusehen ist‘ (De libero arbitrio I, 16, 35). Den Grund dafür legt Augustin in einer Deduktion dar, die den axiomatischen Charakter des Arguments enthüllt: „Non enim aut peccatum esset aut recte factum quod non fieret uoluntate. Ac per hoc et poena iniusta esset et praemium, si homo uoluntatem liberam non haberet. Debuit autem et in supplicio et in praemio esse iustitia, quoniam hoc unum est bonorum quae sunt ex deo. Debuit igitur deus dare homini liberam uoluntatem.“ (II, 1, 3; Hervorhebung von mir). 120 „Quapropter noui heretici Pelagiani, qui liberum sic asserunt uoluntatis arbitrium, ut gratiae dei non relinquant locum, quando quidem eam secundum merita nostra dari adserunt, non se extollant, quasi eorum egerim causam, quia multa in his libris dixi pro libero arbitrio, quae illius disputationis causa poscebat.“ (Retractationes I, 8, 9) 121 S. u., Anm. 122, Anm. 128 und Anm. 134. 122 Wir dokumentieren im Anschluß in Auseinandersetzung mit demjenigen Teil der Forschung, der zwischen den Positionen des ,frühen‘ und des ,späten‘ Augustin einen qualitativen Unterschied sehen möchte, und auch den Deutungen des Secretum, die meinen, das UnAugustinische der Aussagen des fiktiven Augustin als ein Referieren auf die Positionen des frühen Original-Augustin erklären zu können (s. o., Anm. 22), zum jeweiligen Punkt Zitate aus der einen und der anderen Phase. Zum Wollen und Können vgl. etwa De libero arbitrio III, 3, 8 („Augustinus: ,[…] Respondisti enim, quod iam esses beatus si potestas esset, uelle enim te, sed nondum posse dixisti. Vbi ego subieci de te clamasse ueritatem.‘ “). In De civitate Dei faßt Augustinus die „miseria“ des Menschen mit der gleichlautenden Formel „non uiuit ut uult“ (XIV, 24).
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Menschen 123. Überwunden wird dieser Widerspruch einzig mit Hilfe von Gottes misericordia 124, mit anderen Worten, der Gnade 125. Die anthropologischen und handlungstheoretischen, das heißt im Kontext des Secretum interessierenden Positionen des historischen Augustin sind abhängig von dieser seit den Frühschriften vertretenen Absolutsetzung des Allmachtgedankens 126. Zwar hat das liberum arbitrium, so die stets wiederholte, fast formelhafte anti-manichäische Rückversicherung, seinen Stellenwert, doch wenn es um die ,Lösung‘ („solutio“) der Frage geht, wie sich menschliche Freiheit und göttlicher Wille zueinander verhalten, gibt es für Augustin keinen Zweifel: „[…] sed uicit dei gratia“ 127. Die dem Menschen verbleibende Marge reduziert sich auf die Möglichkeit, das Böse zu wählen 128.
123 „[…] resistente carnali consuetudine, quae uiolentia mortalis successionis quodam modo naturaliter inoleuit, uideat quid recte faciendum sit et uelit nec possit implere.“ (De libero arbitrio III, 18, 52; vgl. De civitate Dei XIV, 15 und 11.) 124 Zur göttlichen misericordia, von der man einzig das ,Vermögen‘ („potestas“) empfängt, s. De libero arbitrio III, 22, 65; die entsprechenden Aussagen in De civitate Dei XVII, 4 („Facere igitur iudicium et iustitiam ex Deo est.“) und in XXII, 23 („[…] sed eam [malam concupiscentiam] nobis, quantum diuinitus adiuti possumus, non ei consentiendo subdamus […]“); s. auch XXII, 2 und dort die Herleitung des Gedankens aus Phil 2, 13. 125 Wir verweisen im Anschluß auf einige weitere Konzepte, deren Präsenz zeigt, daß bereits in der frühen Phase das gnadentheologische System Augustins in allen wichtigen Punkten angelegt ist: 1.) Prius des Glaubens vor der Erkenntnis, d. h. Ausschluß eines ,rationalen‘ Heilswegs (De libero arbitrio I, 2, 4, sowie I, 6, 14); 2.) Vorrang des Willens vor dem Verstand (I, 10, 21 sowie III, 1, 2); 3.) Abweisung jedes Heilsanspruchs, der sich auf die opera gründet (III, 16, 45). - De libero arbitrio enthält neben dem Referierten und den verstreut an anderer Stelle zu findenden Festlegungen auf die Existenz des freien Willens (vgl. u. a. I, 12, 25) eine längere Passage in III, 1, 1-5, 15, in der die beiden Positionen in unmittelbaren Kontakt gebracht werden, was in geradezu extremen Aporien resultiert. Die Abschnitte verweisen darauf, daß sich das Problem göttlicher Allmacht und menschlicher Freiheit logisch nicht lösen läßt. 126 Das Prädestinationskonzept ist im Prinzip bereits in De diversis quaestionibus (um 395) angelegt; in der 397 entstandenen Schrift De diversis quaestionibus ad Simplicianum ist sodann die bis zum Ende von Augustins Reflexion bestimmende rigoros zugespitzte Gnadentheologie formuliert (s. v. a. I, 2, 12 und 13; vgl. auch insgesamt die Darstellung im Artikel „Augustin“ [s. Anm. 36], Sp. 2378-2380). 127 So die Zusammenfassung der These von De diversis quaestionibus ad Simplicianum, wie sie Augustin in den Retractationes formuliert hat („In cuius quaestionis solutione laboratum est quidem pro libero arbitrio uoluntatis humanae, sed uicit dei gratia […]“ [II, 27, 1]). Zum komplexen, aber letztlich immer in diesem Sinne angesetzten Verhältnis von menschlichem und göttlichem Willen s. auch die ausführliche Erörterung in De civitate Dei V, 9. 128 Zur Reduktion des freien Willens des erbsündigen Menschen auf den Willen zum Bösen s. De civitate Dei XV, 21 („[…] quae peregrinatur in terris, non fidere libertate arbitrii sui, sed
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Entsprechend der gnadentheologischen Prämisse ist Augustins Handlungstheorie anti-rationalistisch. Nicht etwa geht das Erkennen dem rechten Handeln voraus, sondern erst der von der Gnade ermöglichte Glaube und das damit mögliche rechte Handeln erlauben es, das Wahre zu erkennen 129. Die rationalistische Auffassung gilt ihm als Verkehrung ins Gegenteil („perversum […] est“ 130) der wahren Abhängigkeiten 131. Die Beschränkung menschlicher Autonomie greift nicht nur auf der Ebene des dem Handeln vorausgehenden Erkenntnisakts. Auch das Wollen vermag sich nur innerhalb eines Felds zu entfalten, das das von Gott Gesetzte nicht tangiert 132. Selbst bei ,bestem Willen‘ ist also der Mensch nicht in der Lage, seinen jenseits aller Zeitlichkeit festliegenden Heilsweg
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speret inuocare nomen Domini Dei. Quoniam uoluntas […] a bono potest declinare, ut faciat malum, quod fit libero arbitrio, et a malo, ut faciat bonum, quod non fit sine diuino adiutorio.“); gleichlautend in Retractationes I, 8, 9 („Et quia omnia bona, sicut dictum est et magna, et media et minima ex deo sunt, sequitur ut ex deo sit etiam bonus usus liberae uoluntatis, quae uirtus est […]“); In Johannis Evangelium tractatus CXXIV, tr. V, 1 („Nemo habet de suo, nisi mendacium et peccatum.“); Sermo CLVI, 11, 12 („Cum dico tibi, sine adiutorio Dei nihil agis, nihil boni dico, nam ad male agendum habes sine adiutorio Dei liberam voluntatem; quanquam non est illa libera.“). - Die bei den Secretum-Forschern, die die These eines anti-Augustinischen ,Augustinus‘ zurückweisen, zu findenden Resümees der Handlungstheorie des authentischen Augustinus ignorieren diese zentrale Differenzierung zwischen Freiheit zum Bösen und ,Freiheit‘ zum Guten in statu naturae corruptae (vgl. etwa bei Rico, Vida u obra de Petrarca [s. Anm. 5], S. 64-66). Zur Gnade als Voraussetzung der Erkenntnis s. u. a. De civitate Dei VIII, 9-10. Zu Augustins vorbehaltloser Verurteilung der Möglichkeit einer rein rationalen Erkenntnis, d. h. einer Wahrheitserfahrung, der nicht Glaube und Gnade vorausgehen, s. Confessiones IV, 15 (24 und 25); V, 3 (4 und 5); VI, 5 (8); VII, 1 (2) und 3 (4); X, 5 (7), sowie De vera religione IV (6). „Uerum […] uidere uelle ut animum purges […] perversum certe […] est.“ (De utilitate credendi XVI (34)) „[…] prior est autem in recta hominis eruditione labor operandi quae iusta sunt, quam uoluptas intellegendi quae uera sunt.“ (Contra Faustum manichaeum 22, 52); es gibt bei Augustin passim entsprechende Einlassungen. Analog zu den logischen Widersprüchlichkeiten in der Gnadentheologie finden sich auch im Hinblick auf Vernunft und Glauben isolierte Aussagen, die in einem Spannungsverhältnis zur Generallinie der entsprechenden Argumentation stehen (s. etwa Epistula CXX an Consentius). Mutatis mutandis gilt zum Stellenwert dieser Sätze gleiches wie für die Gnadentheologie (s. o., Anm. 119). „Sic enim velle seu nolle in volentis aut nolentis est potestate, ut divinam voluntatem non impediat, nec superet potestatem.“ (De correptione et gratia XIV (43)). Zum gesamten Problem s. auch die beispielhaft konzise Zusammenfassung von Augustins Position im Artikel „Augustin“ (s. Anm. 36), Sp. 2385 f. („Nul homme n’est bon, vertueux sans le don de Dieu, qui s’appelle graˆce parce qu’il est entie`rement gratuit. […] [La] liberte´ […] n’arrive a` rien sans Dieu; elle de´pend de lui en tout, a` chaque instant.“ [Hervorhebung im Original]).
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zu beeinflussen 133. Daß dieses Konzept nicht, wie es logisch naheliegen, aber kerygmatisch gefährlich sein würde, mit menschlichen Auffassungen von ,Gerechtigkeit‘ konfligiert, hat Augustin versucht, vermittels einer simplifizierenden, gleichwohl erhellenden Reduktion seines Gedankens der zwei Varianten des arbitrium sicherzustellen: Posse in natura, velle in arbitrio, esse in effectu locamus. Primum illud, id est posse, ad Deum proprie pertinet […] duo vero reliqua, hoc est velle et esse, ad hominem referenda sunt, quia de arbitrii fonte descendunt. 134
Der Mensch verfügt zwar über das velle, und er vermag im Prinzip das Gewollte umzusetzen (,effectus‘). Aber ob er über das posse nicht nur virtuell, sondern auch tatsächlich verfügt, hängt von ,Gott selbst‘ ab 135. Nach dem Warum der Gnadenwahl zu fragen, steht dem Menschen nicht nur nicht an, er vermöchte auch nie, Einsicht in deren Sinnhaftigkeit zu gewinnen 136. Die Gnadenwahl ist Reflex des eigentlich Göttlichen, des super-human Transrationalen, sie ist ein Mysterium 137. 133 Zur Absolutheit der Gnadenwahl s. u. a. die apodiktische Festlegung „Certum vero esse numerum electorum, neque augendum, neque minuendum […]“ (De correptione et gratia XIII (39)). 134 De gratia Christi et de peccato originali I, 4 (5); Hervorhebung von mir. Der Gedanke findet sich passim in Augustins Schriften; vgl. die bereits referierte Stelle der Confessiones (s. o., S. 31 f., mit Anm. 101-106) sowie unter anderem De civitate Dei V, 9: „Sicut enim omnium naturarum creator est, ita omnium potestatum dator, non uoluntatum. Malae quippe uoluntates ab illo non sunt […].“ Die oben angesprochene Simplifizierung liegt darin, daß Augustin hier nicht das den Nicht-Begnadeten verfügbare velle erwähnt, welches allerdings in bezug auf das Gute nur virtuell vorhanden ist, da es praktisch folgenlos bleibt. Dasjenige velle, das diesen Namen verdient, insofern es zum rechten Handeln befähigt, existiert nur für die electi. Diesen Unterschied nicht zu sehen, ist konsequenzenreich. So finden sich bei Augustin durchaus Aussagen wie „omnes homines hoc posse, si uelint“; dies klingt auf den ersten Blick thomistisch bzw. pseudo-augustinisch (im Sinne von Petrarcas ,Augustin‘). Original-Augustin allerdings qualifiziert den Satz als pelagianisch und sagt explizit, was der Formel fehlt, um sie zu einem Satz seines Systems zu machen: „sed praeparatur uoluntas a domino“ (Retractationes I, 9, 10). 135 Das entsprechende Konzept ist, vielfältig variiert, eine Art basso continuo, mit dem Augustin in den Confessiones den Bericht über sein Leben begleitet (vgl. als besonders markante Stellen I, 15 (24); II, 7 (15); IV, 6 (11); V, 8 (15); VI, 11 (20); VII, 6 (8); VII, 7 (11); VII, 14 (20); VIII, 1 (1); X, 4 (5)). 136 An einzelnen Stellen hat Augustin diesen Gedanken so weit getrieben, daß er den ansonsten vertretenen Konnex von Erwähltsein, authentisch ,freiem‘ Willen und daraus folgerndem rechten Handeln aufgelöst hat („[…] sic enim homo, licet iam spiritalis […] non iudex neque de illa distinctione iudicat spiritalium uidelicet atque carnalium hominum, qui tuis, deus noster, oculis noti sunt et nullis adhuc nobis apparuerunt operibus, ut ex fructibus eorum cognoscamus eos. […]“ [Confessiones XIII, 23 (33)]). 137 Vgl. dazu u. a. De civitate Dei XIV, 26 („[…] quo certum numerum ciuium in sua sapientia praedestinatum etiam ex damnato genere humano suae ciuitatis impleret, non eos iam meri-
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Wie sich diese authentisch Augustinische Position verhält zu der des ,Augustin‘ des Secretum, insbesondere zum Projekt einer rational gegründeten ,Kurierung‘ des Sünders Franciscus, bedarf keiner Kommentierung im einzelnen. Wichtiger ist, daß auch im Detail, das heißt gerade, was letzteren Punkt angeht ⫺ die Position des Erkennens und Wollens, aber fehlenden Vermögens, das Gewollte zu wirken 138 ⫺, sich bestätigt, was schon in Ansehung der prinzipiellen Ausrichtung der Argumentation vermutet werden konnte: Nicht nur ist der rationalistische ,Augustin‘ des Secretum konzeptuell ein Gegenparadigma des authentischen, die Positionen des widerspenstigen Franciscus 139 sind exakte Zitate der Handlungs- und Gnadentheologie des größten Kirchenvaters 140.
tis, quando quidem uniuersa massa tamquam in uitiata radice damnata est, sed gratia discernens […] Non enim debita, sed gratuita bonitate […]“). 138 Die wohl prägnanteste Formulierung dieser Augustinischen Basis-Position findet sich mit dem Satz „non habent [uoluntates] potestatem nisi quam ille concedit“ in De civitate Dei V, 9. 139 Vgl. gerade zu dem zuletzt gegebenen, zentralen handlungstheoretischen Zitat (S. 39, mit Anm. 134) die oben zitierte exakte Entsprechung bei Franciscus (Anm. 89). 140 Ansatzpunkte zu der hier vorgeschlagenen Einordnung der von den Dialogpartnern des Secretum vertretenen Positionen finden sich in der zitierten Abhandlung von Phillips („Petrarch’s Doctrine of Meditation“ [s. Anm. 34]), die aufgrund des entlegenen Publikationsorts in der Secretum-Philologie kaum Beachtung gefunden hat (s. etwa den beiläufigen Verweis bei Rico, Vida u obra de Petrarca [s. Anm. 5], S. 46, Anm. 21). Phillips ist unserer Kenntnis nach der einzige, der das historische Profil der im Secretum konfligierenden Positionen erfaßt („The author, in short, has brought the argument to the very issue which divided Aristotelian from Augustinian views of morality, the question of the influence of choice and outer action upon the inner spirit. […] Whereas Augustinians leaned toward emphasis upon subjective exercises of prayer and meditation, Thomistic moral theology tended toward an emphasis upon rational choice and objective discipline.“ [S. 260 f.; dort auch weiterführende Literatur zum Stellenwert der Kontroverse in dieser Zeit]). Phillips sieht weiterhin die Remodellierung des historischen Augustin und auch das entsprechende Profil der Äußerungen von Franciscus („[…] that Augustine is an Aristotelian believing that men can influence their desires through their choices. […] Franciscus, on the other hand, adopts the point of view of the medieval Augustinians […]“ [S. 262]), vermag die Beobachtung aber nicht zu deuten, so daß er sie wieder zurücknimmt („Indeed, given the author’s demonstrable awareness of the Augustinian problem of influencing the will, it is hardly possible to believe that he would have attributed to his spokesman, Augustine, the Aristotelian doctrine that choice guided by intellectual appreciation is the key to inner change.“ [S. 262 f.]). - Weiterhin im Sinne unserer These zitierbar, allerdings in dieser Hinsicht weniger profiliert, sind die Aussagen bei W. J. Bouwsma, dessen zahlreiche kurze Hinweise auf die Opposition von christlichem Stoizismus und Augustinismus im Secretum dadurch belastet werden, daß er nicht sieht, daß die Positionen der zwei fiktiven Dialogpartner einander analog oppositiv sind, kurz, daß die christlich-stoischen Thesen systematisch dem fiktiven Augustin, die authentischAugustinischen dem Franciscus zugeschrieben werden („The Two Faces of Humanism. Stoicism and Augustinianism in Renaissance Thought“, in: H. Oberman/Th. A. Brady, Jr.
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3.2. Die ,Katholizität‘ im wörtlichen Sinn ist Signum der thomistischen Position. Demjenigen, der seinem ,inneren Impuls‘ folgt, verweigert Gott die Gnade nicht („[…] quia si homo facit quod in se est, Deus ei non denegat gratiam […]“), so der zentrale und über alle Kontroversen hinweg bis heute für die Ecclesia verbindliche Gnadensatz aus der Theologischen Summe 141. Als Signum ihrer Gottgeschaffenheit verfügt die Seele über den intellectus, der in der Lage ist, aus den Sinneswahrnehmungen (sensibilia) die höheren Einsichten (intelligibilia) zu abstrahieren 142, die wiederum den Willen auf das rechte Ziel hin, die caritas Dei, orientieren. Der Wille ist im Verhältnis zur intellektiven pars eine nachgeordnete Instanz 143, so daß es keine Sünde ohne mangelnde oder falsche cognitio
[Hrsg.], Itinerarium italicum. The Profile of the Italian Renaissance in the Mirror of its European Transformations. Dedicated to Paul Oskar Kristeller on the Occasion of his 70th Birthday, Leiden 1975, S. 3-60, hier: S. 34 [„[…] the Franciscus of the dialogues often seems more truly Augustinian than Augustine himself […]“]; s. aber auch ebd. zum kritisierten Aspekt). - Es sei die Vermutung vorgebracht, daß bei beiden Autoren den referierten Unschärfen in der Qualifizierung der Positionen der Dialogpartner des Secretum das Unvermögen zugrunde liegt, das von Petrarca Ersonnene auf ein existentes Schema des Dialogierens zu beziehen (s. dazu u., S. 47 f.). 141 Summa theologiae Ia IIae, qu. 109, ar. 6. Zum verhandelten Problem s. auch die bei Thomas geläufigen Bezugnahmen auf die Augustinische Prädestinationslehre, deren Essenz indes stets durch Zusätze wie „[…] [Deus] nulli subtrah[i]t debitum […]“ widersprochen wird (Ia, qu. 23, ar. 5; zur Prädestinationsfrage vgl. die ganze quaestio, bes. ar. 3, ad 3um, zur durchaus gegebenen Heilsmöglichkeit derjenigen, die bei Thomas ,reprobati‘ heißen). Dem Gedanken göttlichen Einflusses bei der Entscheidung über den Heilsweg bewahrt Thomas einen begrenzten Stellenwert durch die in der späteren tridentinischen Theologie zentrale Differenzierung nach gratia sufficiens und gratia efficax: „[Christus] ipse est propitiatio pro peccatis nostris, pro aliquibus efficaciter, sed pro omnibus sufficienter, quia pretium sanguinis eius est sufficiens ad salutem omnium; sed non habet efficaciam nisi in electis, propter impedimentum.“ (In Epistulam primam ad Timotheum, 2, lect. 1). Im Klartext: Selbst für den Getauften, der nicht zu den electi gehört, gibt es nach Christi Opfertod nichts, was ihn daran hindern könnte, den Weg des Heils zu beschreiten, wenn er nur selbst will (gratia sufficiens). 142 „Sed quia connaturale est intellectui nostro, secundum statum praesentis vitae, quod ad materialia et sensibilia respiciat […] consequens est ut sic seipsum intelligat intellectus noster, secundum quod fit actu per species a sensibilibus abstractas per lumen intellectus agentis, quod est actus ipsorum intelligibilium, et eis mediantibus intellectus possibilis. Non ergo per essentiam suam, sed per actum suum se cognoscit intellectus noster […]“ (Summa theologiae Ia, qu. 87, ar. 1) 143 „[…] nam velle non possumus quod non intelligimus […]“ (Summa contra gentiles, lib. 3, cap. 26); vgl. weiterhin Summa theologiae Ia IIae, qu. 77, ar. 1 („[…] motus voluntatis […] sequi iudicium rationis.“).
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gibt 144. Soweit es um das ,Kurieren‘ eines Sünders geht, hat also der Appell an die Vernunft den uneingeschränkten Primat, und darüber hinaus ist eine solch rationale ,Kur‘ auch immer eine im Grundsatz wirksame Therapie 145, aufgrund eben des Status der anima rationalis als factura Dei, aufgrund der Immaterialität, die Inkorruptibilität, Möglichkeit der Freiheit von Sünde, impliziert 146. Diesem Rationalismus korrespondiert ein striktes Kausalitäts- und Finalitätsdenken. Einziges nicht bedingtes Sein ist Gott, und dieses So-Sein ist Ausweis seiner Göttlichkeit 147. Für jedes andere Sein und Werden, damit auch jedes Handeln, existieren eine benennbare causa und ein benennbares, im Fall menschlicher Handlungen im voraus absehbares Ziel 148. Aufgrund dieser Gesetzeshaftigkeit allen Seins gibt es für das mit dem intellectus ausgestattete Wesen die Möglichkeit, der Schöpfungs- und Heilsordnung zu folgen 149. Nichts hindert prinzipiell den
144 Die Sünde ist ein ,actus inordinatus‘ (Summa theologiae Ia IIae, qu. 71, bes. ar. 6); einem solchen Handeln liegt zugrunde eine „voluntas carens directione regulae rationis“ (qu. 75, ar. 1); das Zitat fährt fort „et legis divinae“; deren Gebote allerdings stehen nie und nimmer, da ja die ratio das Gottgegebene ist, im Widerspruch zur Vernunft (vgl. insgesamt zum Sündenkonzept qu. 71-75). In qu. 75, ar. 2 erörtert Thomas die gewissermaßen spontan vom appetitus sensitivus angestoßenen Akte. Der appetitus sensitivus vermöge es in der Tat, die ratio vom Beachten der ihr bekannten Regeln des rechten Lebens abzubringen. Aber da die ratio wiederum im Prinzip es vermag, den appetitus zu ,zügeln‘, ist ihr Schweigen ein Willensakt und somit das entsprechende Handeln eine Sünde. Unter welchen Bedingtheiten auch immer, die ratio ist letztlich nach thomistischer Auffassung prinzipiell in der Lage, der Sünde zu parieren. 145 Die deutlichsten Sätze zur Willensfreiheit finden sich in Summa theologiae Ia IIae, qu. 10, bes. ar. 4 („Quia […] voluntas est activum principium non determinatum ad unum, sed indifferenter se habens ad multa. Sic Deus ipsam movet, quod non ex necessitate ad unum determinat, sed remanet motus eius contingens et non necessarius, nisi in his, ad quae naturaliter movetur.“). 146 S. dazu Summa theologiae Ia, qu. 75, ar. 6. Das Konzept einer trotz Erbsünde inkorrupten anima rationalis, deren Hang zur Sünde durch die Verbindung mit dem Körper entsteht (dazu: Quaestiones disputatae de malo, qu. 4, ar. 3), knüpft an die platonistische Auffassung an, die der authentische Augustin angegriffen hatte (zum Verhältnis der Seelen-Konzeptionen von Augustin und Thomas sowie der jeweiligen Relation zum Platonismus s. den Artikel „Augustin“ [s. Anm. 36], Sp. 2330). Zum Referieren des fiktiven ,Augustin‘ auf die platonistische Auffassung vgl. Secretum (s. Anm. 11), S. 46 u. S. 64. 147 Zum Kausalitäts- und Finalitätskonzept s. v. a. Commentaria in octo libros Physicorum Aristotelis, lib. 2, lect. 10 sowie lect. 13 und 14. Zu Gott als nicht bedingtem Sein s. u. a. Summa theologiae Ia, qu. 2, ar. 2. 148 S. dazu auch Gilson, La Philosophie au Moyen aˆge (s. Anm. 46), S. 530 f. Gilson faßt die thomistische Vorstellung mit der Formel einer „se´rie causale“. 149 Vgl. Summa theologiae Ia, qu. 44, ar. 4, sowie Ia IIae, qu. 1, ar. 2 und qu. 94, ar. 2.
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Menschen daran, den rechten Weg zu gehen („[…] potest homo abstinere ab omni peccato mortali […]“ 150). In diesem System bleibt keine Marge für den Gedanken eines Unverrechenbaren, menschlicherseits weder Erkenn- noch Benennbaren, das sich zwischen die Glieder dieser Kette schieben könnte. Auf den ersten Blick erscheint Thomas’ Handlungstheorie in dieser Form pelagianisch und auch von der pagan-rationalistischen Morallehre kaum geschieden. Der Gefahr einer solchen Grenzverwischung, die er selbst mit der Formel „omnes virtutes esse scientias, et omnia peccata esse ignorantias“ 151 gefaßt hat, begegnet Thomas mit Verweis auf das Erbsündenkonzept 152. In statu naturae corruptae ist der Mensch von der Verderbtheit seiner materiellen partes so sehr ,geschwächt‘ 153, daß er nicht in der Lage ist, sich zu einem Höheren als der Liebe zu einem Natürlichen aufzuschwingen, so daß es eine unbegnadete caritas proximorum (eine weltliche Humanität), nicht aber eine unbegnadete caritas Dei gibt 154. Dieser Zustand der Schwächung heißt bei Thomas, wie bei Original-Augustin, wie im Secretum, „languor“ bzw. „aegritudo“ 155. Was der Mensch braucht, um unter dieser von Adam für alle gesetzten Bedingung dem auf dem Gebrauch der Vernunft gründenden Heilsweg folgen zu können, ist ein auxilium, die gratia sanans 156. Diese verwehrt Gott keinem Getauften („Lex nova […] quantum est de se, sufficiens auxilium dat ad non peccandum.“ 157). Allerdings gilt dann ohne Vorbehalt, was auch der Petrarkische ,Augustinus‘ in der thomistischen Vari-
150 Summa theologiae Ia IIae, qu. 109, ar. 8; zum ,Sitz‘ der Todsünde in der rationalen pars der Seele, was wiederum ihre prinzipielle Vermeidbarkeit begründet, s. auch qu. 74, ar. 4. 151 Summa theologiae Ia IIae, qu. 77, ar. 2. 152 Die Nähe von Thomas’ Lehre zu den pelagianischen Auffassungen wird dort besonders deutlich, wo er sich mit ihnen auseinandersetzt. Das einzig differenzierende Moment ist die Relevanz der göttlichen Gnade, die allerdings für die Gutwilligen ,allgemein‘ ist, so daß der Abstand konzeptuell erheblich, auf der Ebene der handlungstheoretischen Pragmatik im Grunde inexistent ist (vgl. u. a. In quattuor libros sententiarum, II, dist. 28, qu. 1, bes. ar. 3). 153 Zur ,Schwächung‘ des Willens zum Guten infolge der Erbsünde („privatio iustitiae originalis“) bei Thomas s. Summa theologiae Ia IIae, qu. 82 und qu. 83. 154 Vgl. Summa theologiae Ia IIae, qu. 109, ar. 5. 155 S. die Nachweise o., Anm. 71. Zu Thomas s. weiterhin Summa theologiae Ia IIae, qu. 109, ar. 7. 156 „[…] in statu naturae corruptae indiget homo […] ad hoc [diligendum Deum […] super omnia] auxilio gratiae naturam sanantis.“ (Summa theologiae Ia IIae, qu. 109, ar. 3) 157 Summa theologiae Ia IIae, qu. 106, ar. 2. Zum Vorhandensein auch der gratia praeveniens für jeden renatus s. qu. 2, ar. 5, ad 1um. Augustin hat sich ausdrücklich dagegen verwahrt, daß die Getauften von der gratuitas des Gnadenerweises ausgenommen seien (vgl. De civitate Dei XXI, 16 sowie 19-22).
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ante der Medizinal-Allegorie, die den Rahmen des Secretum abgibt, mit intransigenter Schärfe proklamiert: Auxilium [Dei est] […] ipsa facultas exequendi […] Facultatem autem dat Deus infundendo virtutem et gratiam, per quas efficitur homo potens et aptus ad operandum. 158
3.3. Im Hinblick auf das original-Augustinische Gedankengebäude kann kein Zweifel sein, daß die zitathafte Bezugnahme des Franciscus auf die zentralen Konzepte des Kirchenvaters, zumal in ihrer bekanntesten, narrativ-,biographischen‘ Form, die Identifikation dessen, worauf hier referiert wird, sichergestellt hat. Der Name von Thomas indes taucht in dem Dialog, wie im übrigen überhaupt bei Petrarca 159, nicht auf, und scheint auch der Bezug dessen, was Pseudo-Augustinus sagt, zu den thomistischen Positionen eindeutig, bleibt doch die Frage nach der Identifizierbarkeit. Denn Thomas ist nicht ,Literat‘. In seinem Werk gibt es keine ,Szenen‘ nach Art der Erleuchtung im Garten von Mailand, deren Aufrufen beim Leser des Secretum für die instantane Herstellung des Konnex hätte sorgen können. Es ist sicherlich nicht allzu spekulativ, den Autor der Divina Commedia als Gewährsmann dafür anzusetzen, was den Gebildeten der Zeit als ,Thomismus‘ präsent war. Nur ein Punkt, der zentrale, um den es im Secretum geht, sei herausgegriffen. Es bedarf nicht des Zitats der gesamten Rede der Dantesken Veritas, Beatrice, aus dem siebten Gesang des Paradiso. Der aus Sicht des Secretum interessierende Kern, in dem das Verhältnis von göttlicher Gnade und menschlichem Vermögen erörtert 158 In Epistulam ad Ephesios 3, lect. 2; Hervorhebung von mir. - Im Artikel „Thomisme“ werden diese und entsprechende Aussagen mit einer Formel zusammengefaßt, die man als Resümee der Positionen des Petrarkischen ,Augustin‘ einsetzen könnte, so, wie er sie im ersten Buch des Secretum vertritt: „A tous les hommes est donne´ un secours suffisant pour qu’ils puissent accomplir les pre´ceptes divins qu’ils connaissent, car Dieu ne commande pas l’impossible […]“ ([Vf.: R. Garrigou-Lagrange], in: Dictionnaire de the´ologie catholique [s. Anm. 36], Bd. 15, Sp. 823-1023, hier: Sp. 980; Hervorhebung im Original). 159 Thomas wird in Petrarcas gesamtem Werk nur ein einziges Mal genannt. Den Kontext bezeichnet Gerosa als ,patriotisch‘: In seiner Polemik gegen diejenigen, die den Papst auf immer in der babylonischen Gefangenschaft halten möchten, führt er eine lange Kette von ,Italienern‘ auf, die belegen soll, daß Frankreich geistig und theologisch ein Land zweiten Rangs ist (Umanesimo cristiano del Petrarca [s. Anm. 20], S. 181; die gemeinte Stelle in der Invectiva contra eum qui maledixit Italie, in: Opere latine [s. Anm. 21], Bd. 2, S. 1153-1253, hier: S. 1220).
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wird, ist von einzigartiger Prägnanz: Dem seit Adams Sünde darniederliegenden Menschengeschlecht („[…]/onde l’umana specie inferma giacque/[…]“) habe der Herr die alles Begreifen übersteigende Gunst der Selbstopferung erwiesen; damit aber sei jedem Menschen („l’uom“) die hinreichende Möglichkeit gegeben, sich aus dem von der Erbsünde bedingten Zustand zu erheben, mit anderen Worten, den Weg zu gehen, der geeignet ist, zum Heil zu führen: che` piu` largo fu Dio a dar se` stesso per far l’uom sufficiente a rilevarsi […] 160
Fast möchte man meinen, Petrarca habe nicht ohne Grund seinen Franciscus und seinen ,Augustinus‘ diese Metapher, die des Darniederliegens und des Sichwiederaufrichtens, wählen lassen, wenn die zwei ihren Dissens auf den Nenner bringen: ,AUGUSTINUS‘: […] ad evadendum huius nostre mortalitatis angustias ad tollendumque se se altius, primum veluti gradum obtinere meditationem mortis humaneque miserie; secundum vero desiderium vehemens studiumque surgendi; quibus exactis ad id, quo vestra suspirat intentio, ascensum facilem pollicebar […] FRANCISCUS: […] innumerabiles sponte prolapsos non sua tamen sponte iacere; quod de me ipso fidenter affirmem […] assurgere nequeam dum velim. 161
So verdeutlicht letztlich dieses eine Bild, seine Verwendung bei den zwei Dialogpartnern sowie seine Tradition bei Augustin zum einen 162, bei Dantes Beatrice als Sprachrohr des zeitgenössischen Thomismus 163 zum anderen, in nuce die Relationen von Sprechern, Positionen und extratextuellem Ort der Positionen des Secretum.
4. Der Feststellung, daß in diesem Text Franciscus sich zu einer Art Sprachrohr des authentischen Augustinus macht, haftet mit Blick auf das Ge160 Par. 7, V. 28 und V. 115 f. 161 Secretum (s. Anm. 11), S. 34 u. S. 38. 162 „Sed quia hoc anima peccatis suis obruta et implicata per se ipsam uidere ac tenere non posset, nullo in rebus humanis ad diuina capessenda interposito gradu, per quem ad dei similitudinem a terrena uita homo niteretur […]“ (De vera religione X (19)) 163 Im Hinblick auf die thomistische Orthodoxie von Beatrices zitiertem Gnadensatz s. die hier in Anm. 141 u. S. 43, mit Anm. 157, gegebenen Hinweise.
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samtwerk des Autors nichts Ungewöhnliches an, genauer, es wäre erklärungsbedürftig, wenn es sich anders verhielte. Überall dort, wo Petrarca auf die Fragen des Verhältnisses von ratio und rechtem Handeln, von opera und Gnade eingeht, sind seine Einlassungen Augustin-Zitate 164. Das eigentlich irritierende Moment ist also die hybride Form, die der Autor für die Modellierung des Dialogpartners gewählt hat. Welchem Interesse kann es dienen, vermittels der Etikettierung des fiktiven Interlokutors als ,Augustinus‘ das Faktum zu verschleiern, daß dieser den Thomismus vertritt? Der Einfall ist ein in mehrfacher Hinsicht wohlerwogener Kunstgriff, aber er hat als Verfahren der ,Verschleierung‘, ungeachtet seiner spezifischen Ausgestaltung, in dieser Zeit zunächst eine poetologische Dimension: Aufgabe des Dichters sei es, die ,Wahrheit‘ (verum) zu sagen, allerdings, im Unterschied zum erörternden Diskurs der Philosophen und Theologen, in einer Einkleidung, deren Aussagen im Hinblick auf das eigentlich Gemeinte ,verschoben‘ seien („obliquis figurationibus“), so Laktanz, der wiederum zitiert wird von Isidor. Im Anschluß an die einzigartige Resonanz der Etymologiae gewinnt das Zitat in Hoch- und Spätmittelalter topischen Stellenwert. Es dient den Dichtern zur Verteidigung gegen die scholastische Attacke auf die litterae. Prominente Vertreter sind unter anderem Petrarcas Freund Petrus Berchorius 165, sodann Boccaccio und nicht zuletzt Petrarca selbst, der sich in seiner Koronations-Oratio von 1341 explizit darauf beruft. Aus Sicht der Zeit ist das ,verquere‘ Verhältnis der Namen zu den Positionen, das die Identität dieser Positionen zunächst wie ,verschleiert‘ (involucrum, integumentum, velamen), kein exzeptionelles, vielmehr ein Moment, das signalisiert, daß dieser Text, als zugleich ästhetischer und philosophischer, eine ,Wahrheit‘ verbirgt 166. ⫺ Wie diese indes näher zu 164 Dies hier zu dokumentieren, liefe auf eine eigene Abhandlung hinaus. Es sei nur verwiesen auf Gerosa, der den Konsens desjenigen Teils der Forschung resümiert, der sich mit der Frage befaßt hat, wenn er die Aspekte, in denen Petrarca von Augustin abweicht, als ,äußerst geringfügig‘ bezeichnet. Der Dissens, wenn überhaupt, betrifft einen Punkt, der hier nicht einschlägig ist, die Frage der Heilsfunktion des paganen Rom (Zitat: Umanesimo cristiano del Petrarca [s. Anm. 20], S. 50; zur Sache vgl. bes. Kap. 16, „Idee madri agostiniane“ [S. 338-358]). 165 Zu Petrarcas Freundschaft mit Petrus Berchorius s. im einzelnen Gilson, La Philosophie au Moyen aˆge (s. Anm. 46), S. 743; vgl. auch die an Petrus gerichteten Familiares 22, 13 und 14. 166 Die Poetik des integumentum ist in allen angesprochenen Aspekten und zahlreichen weiteren, die hier nicht zur Diskussion kommen, dokumentiert bei Chr. Meier, „Überlegungen zum gegenwärtigen Stand der Allegorie-Forschung. Mit besonderer Berücksichtigung der Mischformen“, Frühmittelalterliche Studien Bd. 10/1976, S. 1-69. Zu Petrus Berchorius s. insbes.
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fassen wäre und inwieweit ihr Beschaffensein die Spezifik der von Petrarca ersonnenen ,Verhüllung‘ der Positionen seines Texts erklären kann, bliebe zu diskutieren. Die semiotische Struktur der älteren, an das Konzept des integumentum gebundenen Dichtung ist eine andere als die der neueren (,symbolischen‘). Denn die Vorstellung des ,Schleiers‘ besagt, daß das eigentlich Gemeinte konstituiert ist. Es bedarf nur des Wissens um das je spezifische Prinzip der allegorischen Encodierung, um das eine durch das andere (,aliud […] aliud‘ 167) ersetzen und sodann die Substanz des Texts in vorbehaltloser Prägnanz erfassen zu können. So ist auch die Kryptik des Secretum eine relative. Die sich in der Forschungslage dokumentierenden Schwierigkeiten, den Text zu erfassen, verweisen allererst auf den Zeitenabstand. Nicht nur die Notorietät der inhaltlichen Positionen, darüber hinaus die des pragmatischen Schemas, auf das die Vermittlung zurückgreift, ermöglichten den Zugriff auf das Gemeinte. Denn die Eristik und zumal das hier zugrunde gelegte Modell der disputatio ist die damals gebräuchliche Form des universitären Lehrgesprächs. Der Lehrer (magister) überträgt dem Schüler die Rolle des Defendenten, nimmt selbst die des Opponenten ein, macht sich gewissermaßen zum advocatus diaboli, und er gibt auf diese Weise dem Auszubildenden die Gelegenheit, die von beiden als richtig erachteten Positionen anzubringen, vor allem aber, seine Virtuosität in Auseinandersetzung mit den gegnerischen Thesen zu schulen 168. Glänzend besteht Franciscus diese Prüfung; nicht
S. 13-17, zur scholastischen Gegenposition S. 18 f. u. S. 25; zu dem auch für das Secretum einschlägigen Implikat einer Rezeptibilität integumental codierter Texte auf verschiedenen Ebenen s. S. 20. Das Laktanz-Zitat in Divinae institutiones 1, 2, 25; zu Isidor s. Etymologiae 8, 7, 10; zu Petrarcas eigenen Äußerungen s. v. a. die erwähnte Oratio („Scire decet, preclarissimi viri, poete officium atque professionem, quam multo, imo fere omnes, opinantur; nam, ut eleganter ait Lactantius, Institutionum libro primo: ,Nesciunt qui sit poetice licentie modus, quousque progredi fingendo liceat, cum officium poete in eo sit ut ea que vere gesta sunt in alia specie, obliquis figurationibus, cum decore aliquo conversa traducat. Totum autem quod referas fingere, id est ineptum esse et mendacem potius quam poetam.‘ “ [„Collatio laureationis“, in: Opere latine (s. Anm. 21), Bd. 2, S. 1255-1283, hier: S. 1270]; ähnlich gelagerte und noch weitaus detailliertere Bezugnahmen auf die sog. theologische Poetik in Familiares 10, 4). - Nach wie vor zentral für die Frage (und ,Inspirationsquelle‘ für alle spätere Forschung) ist K. Vossler, Poetische Theorien in der italienischen Frührenaissance, Berlin 1900. 167 „[…] aliud verbis aliud sensu ostendit […]“, so bekanntlich Quintilians Definition der Allegorie (Institutio Oratoria 8, 6, 44). 168 Zur scholastischen Disputationstechnik, die sich seit dem frühen 12. Jahrhundert herausbildet, s. M. Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, 2 Bde., Freiburg i. Br.
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nur im dogmatischen, auch im philologischen Sinn erweist er sich als ein perfekter Augustinist 169. Bemerkenswert bleibt ungeachtet dessen ein weiterer ,formaler‘ Aspekt, und dieser verweist auf diesen Text als ganz singulären und in seiner Sinnstruktur kontingenten Text, der vom Autor und seinen ursprünglichen Intentionen nicht mehr kontrolliert wird. Das im Wortsinn abrupte Ende, das auch das Ende einer jahrelangen, immer wieder erneuerten Befassung markiert, ist zumal vor dem Hintergrund der rhetorischen und poetologischen Konzepte dieser Zeit ein ganz unverrechenbares Moment, das als formales Analogon einer tatsächlichen und durch keine logische und poetische Form zu bezwingenden Offenheit erscheint, die hier aufbricht. Die im Secretum thematische Problematik ist in Ansehung des moralphilosophischen Werks von Petrarca ohne jede Spezifik. Sie konstituiert das gedankliche Gerüst der zeitlich parallelen Abhandlung De otio religiosorum, der beträchtlich später entstandenen Schrift mit dem Titel De sui ipsius et multorum ignorantia, sie begegnet in De remediis utriusque 1909-1911, Bd. 2, S. 16-21; zur spezifischen Form der universitären disputatio s. J. Le Goff, Les Intellectuels au Moyen aˆge, Paris 1985 (11957), S. 100-104, hier: S. 102. 169 Es ist ein Reflex des im Prinzip unvermeidlichen Narzißmus literaturwissenschaftlicher Befassung mit Texten, die im Laufe ihrer Wirkungsgeschichte zu bedeutenden Werken geworden sind, den Aspekt, daß ihrer Entstehung in der Regel nicht nur, aber eben auch recht triviale Gesichtspunkte zugrunde gelegen haben mögen, ganz auszublenden. Für das Secretum sei in dieser Hinsicht eine Vermutung vorgebracht, die sich auf drei Momente stützt: das ,Prüfungsschema‘ als Referenzfolie, die Überfülle der Antiken-Zitate, die sich im Anschluß an ein von Petrarca in De otio religiosorum artikuliertes verfremdungstheoretisches Argument als ein recht deutlicher Hinweis darauf verstehen läßt, daß der Text für einen Kreis geistlich gebildeter Leser konzipiert war, und schließlich Petrarcas Ambitionen im Hinblick auf eine geistliche Karriere, wobei er sogar, so zumindest E. H. Wilkins, an die Erlangung des Kardinalspurpurs gedacht hat. Kurz: Mit dem Secretum empfiehlt sich der Autor bei geeigneter Adresse als perfekter Kenner jener Theologie, von deren Grundlagen aus die zeitgenössische Offensive gegen den mehr und mehr dem Häresis-Verdacht anheimfallenden Thomismus geführt wurde. Schon die jahrzehntelange weitere Befassung zeigt, daß sich das Interesse von diesem primären pragmatischen Impuls, der unter anderem am Beginn des Projekts gestanden haben mag, völlig gelöst hat. Aber zur Erhellung der spezifischen Variante der dialogischen Form, die für die weitergehende Intention des Texts nicht mehr von zentralem Belang ist, dürfte der genannte Aspekt von Bedeutung sein. (Zu Petrarcas geistlichen Ambitionen s. Wilkins, „Petrarch’s Ecclesiastical Career“, Speculum Bd. 28/ 1953, S. 754-775; das Zitat aus De otio religiosorum [s. Anm. 30], auf das wir oben Bezug nehmen, hat folgenden Wortlaut: „[…] inter seculares sacris stilum testimoniis condire soleo, sic inter ecclesiasticos et religiosos viros secularibus literis delector, que et prime et aliquandiu michi sole fuerunt et ubi consonant nostris, nescioquid oportuni admodum, licet peregrini, auxilii videtur accedere.“ [S. 730].)
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fortunae, nicht zuletzt in zahlreichen Familiares 170. Was der Autor mit diesem Text im speziellen beabsichtigte, macht er auf den ersten Seiten explizit: Wie die Africa auf die Aeneis, so repliziere das Secretum auf das Genus des antiken Dialogs, insbesondere die später ausdrücklich genannten Tusculanae disputationes des Cicero 171. Es ist das wesentlichste Merkmal dieses Bezugsschemas, daß die miteinander konfligierenden Positionen sich nicht nach dem einfachen Muster von ,irrig‘ und ,richtig‘ zueinander verhalten, sondern zwei unabhängige, in sich schlüssige gedankliche Systeme konstituieren, deren Vereinheitlichung oder Reduktion auf eine ,wahre‘ Wahrheit gar nicht angestrebt ist 172. ⫺ Der Horizont dieser Form, die nicht nur Form ist, war der Polytheismus. Aus dem Blickwinkel der neuen Religion hatte der historische Augustinus das antikisch verstandene Genus des Dialogs als Einfallstor von Pluralität und Relativismus gebrandmarkt 173. 170 S. dazu die Textbelege, die Gerosa für Petrarcas Augustinismus bringt (Umanesimo cristiano del Petrarca [s. Anm. 20], passim, bes. Kap. 9 [S. 137-155], Kap. 12 [S. 225-245] u. Kap. 16 [S. 338-358]). 171 Zur Africa und Aeneis s. Secretum (s. Anm. 11), S. 22; zu Cicero im speziellen s. S. 26. Petrarca bezieht sich dort insbesondere auf das Weglassen der Inquit-Formeln, das er von Cicero gelernt habe; die Limitierung der Referenz auf diesen banalen Aspekt ist natürlich ironisch zu verstehen. Die weitere Einlassung, Cicero habe seine Technik des Dialogs von Plato gelernt (der ja ein anderes Konzept des Dialogs vertritt als Cicero), ist im Hinblick auf Petrarcas Plato-Kenntnisse zu gewichten. - Die Tusculanen werden im Secretum passim zitiert und auch explizit von Franciscus als ihm wohlbekannt apostrophiert (s. u. a. S. 66). 172 Zur Charakterisierung des Ciceronianischen Modells des Dialogs s. die knappen, aber hinreichenden Bemerkungen bei G. Kennedy, The Art of Rhetoric in the Roman World. 300 B. C.-A. D. 300, Princeton, N. J. 1972, S. 208 f. (dort auch die Absetzung vom ,rhetorischen‘ Dialog nach dem sokratischen Muster) u. S. 264 f. Die prägnanteste Beschreibung des philosophischen Prinzips, das seinem Verständnis des Dialogs zugrunde liegt, hat Cicero im Hortensius geliefert, der bekanntlich nur in Fragmenten erhalten ist; die hier gemeinte Stelle ist bei Augustinus (Contra academicos I, 3, 7) tradiert („[…] placuit enim Ciceroni nostro beatum esse, qui veritatem investigat, etiamsi ad eius inventionem non valeat pervenire. Ubi hoc, inquit, Cicero dixit? - Et Licentius: quis ignorat eum adfirmasse vehementer nihil ab homine percipi posse nihilque remanere sapienti nisi diligentissimam inquisitionem veritatis, propterea quia, si incertis rebus esset assensus, etiamsi fortasse verae forent, liberari errore non posset, quae maxima est culpa sapientis? quam ob rem si et sapientem necessario beatum esse credendum est et veritatis sola inquisitio perfectum sapientiae munus est, quid dubitamus existimare beatam vitam etiam per se ipsa investigatione veritatis posse contingere?“ [frg. 91 A 1; zitiert nach: L. Straume-Zimmermann, Ciceros Hortensius, Frankfurt a. M. 1976, S. 194; zum Stellenwert des Zitats für das Ciceronianische Konzept des Dialogs s. auch den Kommentar der Herausgeberin, S. 196]). 173 Vgl. Contra academicos, passim. In Buch I des Texts wird das von Cicero vertretene, in der vorhergehenden Anmerkung zitierte Konzept exponiert. In Buch III erläutert Augustin die (unter anderem moralischen) Konsequenzen eines solchen Relativismus und setzt dagegen
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Den damit an ihn ergangenen Rat hat der, wie es im Secretum zu Recht heißt, obsessionell auf den literarischen Nachruhm (gloria) fixierte Franciscus nicht befolgt. Der Ehrgeiz, der erste zu sein, der in nachantiker Zeit einen Dialog dieser Art schreibt, treibt ihn dazu, der die Epoche intrigierenden theologischen und moralphilosophischen Frage in diesem Text diese und keine andere Form zu geben. Partiell dient diese Form noch dem von Petrarca überall verfolgten apologetischen Interesse. Denn der Pseudo-Augustinus des Dialogs, der unter Heranziehung authentischer Zitate des Kirchenvaters ganz andere, nämlich thomistische Positionen vertritt, ist letztlich nichts anderes als eine Allegorie des Verfahrens, mit dem Thomas versucht hatte, seine aristotelisierende Theologie in eine Kontinuität zu stellen, die auch Legitimität impliziert hätte, ein Versuch, der bereits von den zeitgenössischen Augustinisten als das qualifiziert wurde, als was er hier, im Secretum, vermittels der abgründigen Repliken des ,Philologen‘ Franciscus erscheint, als Verfälschung 174. Mag der Harmonismus des Thomas, die komplette Rationalisierung des Verhältnisses von Gott und Welt, Petrarca, im Einklang mit den bedeutenderen seiner Zeitgenossen, als Irrweg erschienen sein, so ist er vor der gegenteiligen Konsequenz andernorts doch immer zurückgeschreckt. Wie auch sein großes Vorbild verharrt er vor den Abgründen, die sich mit dem Konzept eines kontingenten göttlichen Willens auftun 175, ja, er geht in den anderen Texten soweit, Zuflucht zu suchen in einer Formel, die fast jenem ,in renatis enim nihil odit Deus‘ entspricht, das man zweihundert Jahre später denen entgegenhalten sollte, die sich nicht länger scheuten, zu sagen, daß das Augustinische Gotteskonzept
das Konzept der ,einzigen und im höchsten Maße wahren Philosophie‘ („una uerissimae philosophiae disciplina“), die eben keine im Dialogieren ,gefundene‘ sei (19, 42). 174 S. dazu Gilson, La Philosophie au Moyen aˆge (s. Anm. 46), S. 453. Zu Thomas’ Art und Weise der Bezugnahme auf Augustinus s. auch o., Anm. 141. 175 Was Augustinus angeht, sei hier auf die oben apostrophierten Widersprüchlichkeiten verwiesen (Anm. 119 und Anm. 125) und sodann auf das folgende Zitat aus De civitate Dei V, 10: „Quocirca nullo modo cogimur, aut retenta praescientia Dei tollere uoluntatis arbitrium, aut retento uoluntatis arbitrio Deum (quod nefas est) negare praescium futurorum, sed utrumque amplectimur, utrumque fideliter et ueraciter confitemur: illud, ut bene credamus; hoc, ut bene uiuamus.“ In einer Randglosse zu dem Pseudo-Ambrosianischen Traktat De vocatione omnium gentium (Parisinus 1757) greift Petrarca diese Position wörtlich auf: „Tractat hic liber difficillimam questionem a multis et ab Augustino precipue integro volumine agitatam, quod inscribitur De gratia et libero arbitrio. Quarum, ni fallor, disputationum omnium hec summa est: Et gratiam Dei esse et arbitrii libertatem, nec unam per aliam tolli. Hoc inconcussa pietate s[ustinen]dum.“ (zitiert bei Gerosa, Umanesimo cristiano del Petrarca [s. Anm. 20], S. 347.)
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kein liberum, einzig ein servum arbitrium zulasse 176. Verderbenbringend („pestiferis“) sei es, die ,schwierige‘ Frage von Gnade und Freiheit überhaupt analytisch zu behandeln („scrutare“), vor allem aber müsse man sich jeder kontroversen Erörterung des Problems strikt enthalten („et contentionibus abstinendum“) 177. Dies ist nachzeitig gesprochen, und es beurteilt aus der Rückschau dasjenige Projekt, zu dem im Secretum nicht moralphilosophischer und theologischer, sondern allererst literarischer Ehrgeiz den Autor getrieben hatte: Die antikisch verstandene Form des Dialogs treibt eine Pointierung der Positionen hervor, die einen Rekurs auf jene Zonen logischer Dunkelheit, mit denen sowohl Thomas als auch Augustin die Antwort auf die eigentliche Frage zu umgehen versucht hatten 178, nicht länger zuläßt. Nicht zuletzt der iterative Modus, mit dem im Secretum die prägnanteste Zuspitzung dieses epochenkonstituierenden Schlagabtauschs gefaßt ist,
176 Zum zentralen Satz des tridentinischen Erbsündendekrets s. den Artikel „Pe´che´ originel“ (Vf.: M. Jugie u. a.), in: Dictionnaire de the´ologie catholique (s. Anm. 36), Bd. 12, Sp. 275-624, hier: Sp. 524. Bei Petrarca heißt es: „[…] dignus est parcere, dignus nichil odisse omnium que fecit […]“ (De otio religiosorum [s. Anm. 30], S. 628). Die oben vorgenommene Einschränkung auf eine annähernde Entsprechung bezieht sich nicht nur auf die Wortwahl im einzelnen. Obwohl der Satz sicherlich die prägnanteste Formulierung jener Heilsgewißheit darstellt, die bei Petrarca in der Regel nicht zu finden ist, wohnt ihm mit dem ,dignus est‘ der Gedanke menschlicher Unterstellung und damit möglicher Verkürzung dessen inne, was eben letztlich, laut Petrarca, arcana Dei sind, ein Aspekt, der in der apodiktischen Formel des tridentinischen Dekrets ausgeschlossen ist. 177 „Deoque gratias tacitus mecum ago, qui hoc michi, seu iners modestum, dedit ingenium, animumque non vagum, neque altiora se querentem, neque his scrutandis curiosum, que quesitu difficilia, pestifera sint inventu […]“ (De ignorantia [s. Anm. 21], S. 1068). Das letztere Zitat aus der in Anm. 175 genannten Randglosse in Parisinus 1757, das folgendermaßen anschließt: „[…] de reliquo supervacuis inquisitionibus, que humanas vires ingenii excedunt, et contentionibus abstinendum.“ Nur als ein Beispiel für die von Petrarca in den nichtdialogischen Erörterungen des Problems gesuchte harmonisierende Lösung seien einige Sätze aus De otio religiosorum zitiert. Zunächst läßt er sich dort mit Formeln ein, die zum Teil wörtlich mit Sätzen des Secretum übereinstimmen: „[…] in me est omnis impossibilitas assurgendi […] ego salvari nequeo […]“ (S. 626). Dementsprechend fällt auch das Stichwort von der unumschränkten Allmacht Gottes („infinita potentia“ [S. 628]). Der logische Hiatus liegt sodann darin, daß von den Spezifizierungsebenen dieser Macht nur diejenigen Erwähnung finden, deren Existenz für den heilsbegehrenden Menschen von positivem Belang sind („infinita Dei bonitas“ [ebd.; viele weitere einschlägige Passagen in diesem Text]). Als am meisten kondensiertes Dokument des Versuchs eines harmonisierenden Ausweichens vor den letzten Konsequenzen des im Prinzip von Petrarca vertretenen gnadentheologischen Konzepts kann Familiares 17, 10 gelten. 178 Zu Augustin sei im grundsätzlichen zurückverwiesen auf Anm. 117 u. Anm. 125, zu Thomas auf Anm. 141.
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deutet an, was das Resultat dieser Hybridisierung von antikischer Form und monotheistischer Problematik ist: FRANCISCUS: Quotiens dixi me ulterius nequivisse? ,AUGUSTINUS‘: Quotiensque respondi, imo verius noluisse? 179
Die an dieser Stelle des Dialogs hervortretende Irreduktibilität zweier logisch und dogmatisch gleich fundierter Positionen unterminiert aufs nachhaltigste das von ,Augustin‘ vertretene Konzept der ,einen und auf immer mit sich identischen Wahrheit‘ 180. Die Existenz einer solchen Wahrheit bleibt in diesem Text unbestritten, richtiger, sie wird mit der personifizierenden Vergegenwärtigung recht eigentlich bekräftigt. Aber die Allegorie der Veritas, hinter der sich niemand anderes als der christliche Gott selbst verbirgt 181, jener Gott, der zu Zeiten des fiktiven Interlokutors noch gesprochen hatte (,tolle, lege‘), schweigt in diesem von Anfang bis Ende kontroversen Gespräch. Sie nimmt die ihr übertragene Rolle der arbitrierenden Instanz nicht wahr 182, sieht vielmehr dem in resignierender Erschöpfung nach drei Tagen kontingent statthabenden Versickern des geistigen Kampfs („in antiquam litem relabimur“ 183) tatenlos zu und überläßt auf diese Weise die Dialogierenden der ,unübersehbaren Fülle‘ möglicher Positionen („opinionum ingens varietas“). Ihrem Schweigen supplieren die Diskurse der Dialogierenden; diese gewinnen im Zeichen faktischer Absenz des Logos die Autonomie („libertas iudicandi“ 184). Die im Modus dieser Rede gefällten ,Urteile‘ indes können dann, als perspektivische und differentiell gegründete (,lis‘), letztlich nur noch von subjektiver Verbindlichkeit (,opiniones‘) sein. So bleiben auch schon in diesem Text aus der Frührenaissance ,einzig die Wörter‘ 185. Aber er verweist mit seinem Profil auf einen Zusammen179 Secretum (s. Anm. 11), S. 40. 180 S. 134. 181 Zur Absicherung dieser Deutung in Ansehung der Apostrophierung Gottes bei Augustin s. o., Anm. 111. Unter anderem in Familiares 21, 10 nimmt Petrarca direkt auf Augustins geläufige Bezeichnung Gottes als ,lebendige Wahrheit‘ Bezug („Cum enim Deus veritas viva sit […] ut ait pater Augustinus […]“). 182 In dem nachzeitigen „Prohemium“ heißt es dementsprechend: „[…] illa [i. e. die Allegorie der Veritas] de singulis in silentio iudicante, submotisque procul arbitris […]“ (Secretum [s. Anm. 11], S. 26). 183 S. 214. 184 Beide Zitate: S. 134. 185 „So´lo quedan palabras“, so die Formulierung, mit der J. L. Borges seine Allegorie der Wahrheitssuche, die Suche nach der Unsterblichkeit, an deren Ende der Wunsch nach dem Wiederfinden der Sterblichkeit (der Kontingenz, dem Nicht-Wissen) steht, in einer „pos-
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hang, der den Texten der eigentlichen Moderne bereits fremd geworden ist: daß die Bedingung der Verflüchtigung der Substanz, die am Ende dieser Moderne als deren prägnantestes Signum hervortritt, der, so mag es sein, auch noch vom Autor des Secretum gehegte unbedingte Glaube an ihr Gegebensein war 186.
data“ kommentiert („El inmortal“, in: J. L. B., El Aleph, Madrid/Buenos Aires 1977, S. 7-28, hier: S. 27 f.). 186 Das Bedingungsverhältnis von striktem Monotheismus und Entstehung der geistigen, vor allem auch wissenschaftlichen Moderne ist in der wohl prägnantesten Form behauptet worden von A. Gehlen (Urmensch und Spätkultur. Philosophische Ergebnisse und Aussagen, Bonn 1956, passim, bes. S. 64 u. S. 285). Allerdings konzentriert Gehlen den Blick auf den historischen Beginn des Monotheismus und die damit verbundene Profanierung der Natur, was erst den Gedanken ihrer Veränderung möglich gemacht habe. Auf diese Weise bleibt die Frage offen, warum die nicht-christlichen Monotheismen keine Moderne hervorgebracht haben. Es scheint, daß, um eine Moderne zu konstituieren, es nicht nur eines rationalisierten Naturverhältnisses, sondern darüber hinaus eines dynamischen Wahrheitsbegriffs bedarf.
Mundus imago Laurae. Das Sonett „Per mezz’i boschi“ und die ,Modernität‘ des Canzoniere 0. Das Sonett „Per mezz’i boschi“ gilt als eines der eindrucksvollsten Gedichte von Petrarcas Sammlung, und wenn es ungeachtet dessen zu den in neuerer Zeit weniger diskutierten zählt 1, so nicht zuletzt deshalb, weil auf den ersten Blick die zwei grundsätzlichen Thesen, die die PetrarcaDeutung dominieren, es abschließend zu erfassen scheinen. Selten einmal gewinnt die Einordnung Petrarcas als desjenigen, der nach der Zeit der Dunkelheit und der Herrschaft der logifizierenden Scholastik die Wiedergeburt der litterae initiiert hat, schlagendere Evidenz als in diesem Fall, in dem unverkennbar eine Bezugnahme auf eines der bekanntesten Zeugnisse antiker Liebeslyrik vorliegt 2. Selten einmal scheint anderer1 Außer den in den folgenden Anmerkungen genannten Untersuchungen sind für die letzten Jahrzehnte, so scheint es, nicht mehr als eine kürzere Abhandlung und eine ausführlichere Studie zu nennen: F. Maggini, „Un’ode di Orazio nella poesia del Petrarca“, Studi Petrarcheschi Bd. 3/1950, S. 7-12, sowie D. De Robertis, „La traversata delle Ardenne. Sonetti CLXXVI e CLXXVII“ = Lectura Petrarce VI (1986), in: Memorie della Accademia Patavina di Scienze, Lettere ed Arti. Classe di Scienze Morali, Lettere ed Arti, Bd. 18 (1985/1986), S. 209-231. 2 Über die primäre Referenz auf Horaz hinaus (dazu anschließend) sei „jedes Detail unseres Sonetts […] ein Zitat aus römischer Dichtung“, so B. König („Petrarcas Landschaften. Philologische Bemerkungen zu einer neuen Deutung“, Romanische Forschungen Bd. 92/1980, S. 251-282; zu „Per mezz’i boschi“: S. 270-276 [Zitat: S. 272]). König würdigt in seiner Argumentation auch die Bezüge von Petrarcas Landschaftsgedichten zur volkssprachlichen Lyrik, welche er als „eine zweite Folie“ bezeichnet (S. 253). Was „Per mezz’i boschi“ betrifft, verweist er in dieser Hinsicht auf Dantes Sonett „Cavalcando l’altr’ier“, einschließlich der Prosa-Kommentierung (Vita Nova IX). Der Konnex scheint allerdings weniger prägnant als der zu Horaz; der Sprecher der Vita Nova verläßt in dem entsprechenden Kapitel traurig die Stadt, in der die Geliebte wohnte, und meint, in der Natur dem Liebesgott Amor zu begegnen (vgl. bei König S. 254 f.). König kommt im weiteren Verlauf auf diesen einen der zwei „Ausgangspunkt[e]“ des Sonetts auch nicht mehr zurück. - Was die These der Renaissance der litterae angeht, ist für „Per mezz’i boschi“ weiterhin zu verweisen auf A. NoyerWeidner, „Was bedeutete Dante für die beiden anderen ,Kronen von Florenz‘, insbesondere für Petrarca? (Mit einem Ausblick auf die Danterezeption vom 16. bis 18. Jahrhundert)“
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seits der Apostrophierung Petrarcas als eines Dichters, der eine Tradition eröffnet, ,an der wir immer noch teilhaben‘, mehr an Überzeugungskraft zuzukommen als in Ansehung dieses Sonetts, das sich zur Versprachlichung des Affekts einer Ressource bedient, die mit der Romantik prägend geworden ist für die post-klassische, moderne Literatur: der metaphorisch verstandenen Darstellung des naturhaften Raums bzw. der Landschaft 3. Die erstzitierte Behauptung, das Sonett als eine Nachahmung der Horazischen Ode „Integer vitae“ zu begreifen, findet ihre Rechtfertigung in der den zwei Texten eigenen, hochgradig spezifischen Basis-Situation: In beiden Gedichten durchstreift der Sprecher eine dem Menschen feindliche Natur, achtet indes die allseits drohenden Gefahren gering, und der Grund dafür ist seine Liebesleidenschaft. So sehr diese Filiation Bestand haben dürfte, so sehr kann ihre unmittelbare Evidenz dazu verleiten, diejenigen Momente der Konstellation zu verdrängen, die die These der ,Renaissance‘ der litterae problematisch machen. Bei einem näheren Blick auf die zwei Gedichte stellen sich Unterschiede heraus, die von um so größerem Belang sind, als sie die Strukturachse der Horazischen und vielleicht eines bedeutenden Teils der lateinischen Liebeslyrik überhaupt, die des Petrarkischen Canzoniere zum anderen betreffen. Bei Horaz verleiht der Affekt dem Sprecher die Qualitäten des Heros. Diese Transformation ist als ein ,objektives‘ Faktum modelliert. Der Sprecher wähnt sich nicht sicher, weil ihm die Leidenschaft den Blick für die Realitäten verstellte; ein Wolf, schrecklicher noch ,als die Löwen, die Jubas Steppe hervorbringt‘, flieht in der Tat vor ihm, der ⫺ sorglos, obgleich ohne Waffen ⫺ seine Geliebte besingend im Sabinerwald umherstreift 4. ⫺ Der Horizont einer solchen Figuration ist die in der Epik modellhaft gefaßte und die antike als wesentlich kriegerische Welt kon-
(1982), wiedergedruckt in: A. N.-W., Umgang mit Texten, hrsg. v. K. W. Hempfer u. G. Regn, 2 Bde., Stuttgart 1986, Bd. 1, S. 193-201, bes. S. 196-198. 3 Zu dieser These, deren Tradition nicht weniger lang und ehrwürdig ist als die zunächst referierte, vgl. in neuerer Zeit v. a. K. Stierle, Petrarcas Landschaften. Zur Geschichte ästhetischer Landschaftserfahrung, Krefeld 1979, bes. S. 42-44 (Zitat: S. 16; s. auch S. 51). Mit unserer oben versuchten Einordnung ist bereits angedeutet, daß u. E. die zwei Thesen einander nicht so unmittelbar konfrontativ sind, wie dies Königs Kritik an Stierle nahelegt. 4 „Namque me silva lupus in Sabina,/ Dum meam canto Lalagen et ultra/ Terminum curis vagor expeditis,/ Fugit inermem:// Quale portentum neque militaris/ Daunias latis alit aesculetis/ Nec Iubae tellus generat leonum/ Adria nutrix.“ (V. 9-16)
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stituierende Opposition von heroisch-agonalem Leben und Affekt 5. Der ästhetische Effekt der Ode basiert darauf, daß sie der Liebesleidenschaft zuschreibt zu begründen, was diese nach allgemein akzeptiertem Verständnis konterkariert. Eher denn als ,Nachahmung‘ müßte man vor diesem Hintergrund „Per mezz’i boschi“ als eine dialogische Replik auf die Horazische Ode bezeichnen. Eine ,objektiv‘ verwandelnde Dimension kommt der LauraLiebe gerade nicht zu. Die Transformationen, die auch dieser LiebesAffekt auslöst, haben einzig imaginären Status („parme“ [V. 7 und V. 9]); bereits zu Beginn macht der Sprecher explizit, daß seine Indolenz angesichts der drohenden Gefahren keine vernünftige Grundlage hat, daß sie als ein von der Liebes-cogitatio bewirktes Verkennen der Realitäten einzustufen ist („o penser’ miei non saggi!“ [V. 5]); und die bei Horaz konstituierte Situation der Konfrontation, die erst die Behauptung der heroisierenden Dimension der Leidenschaft beglaubigt, fällt bei Petrarca in eine beziehungsreiche praeteritio 6. ⫺ So haben gewiß die Horazische 5 Zu der Auffassung, daß basale Strukturen literarischer Texte Modellierungen je historisch spezifischer Weltbilder und Wertehierarchien darstellen, s. Ju. M. Lotman, Die Struktur literarischer Texte, München 1972, S. 300-401. 6 Angesichts der von König in praktisch jedem Satz eingeklagten Exaktheit, was das ,close reading‘ des je besprochenen Texts im Verhältnis zu möglichen Referenztexten angeht, fällt die Großzügigkeit besonders auf, mit der hier im Sinne der These von der Renaissance der litterae das bei Petrarca zu Lesende mit dem ,Vorbild‘ identifiziert wird („[…] die Horazische Ode liefert nicht nur ein einzelnes Wort, sondern die motivische Konstellation, die Petrarca in ein italienisches Gedicht [mit seiner durch eine eigene Tradition bestimmten Welt und Sprache] ,übersetzt‘ - die Situation des Dichters nämlich, der in der Waldeinsamkeit die Geliebte besingt [et vo cantando … lei] und der ungefährdet bleibt, wo andere Waffen brauchen […]“ [„Petrarcas Landschaften“ (s. Anm. 2), S. 273]). - Es sei ausdrücklich gesagt, daß mit unseren obigen Bemerkungen die Horazische Ode noch nicht in toto erfaßt ist. Wie schon das Incipit andeutet, geben die Verse 1-8 dem Konzept des gefahrlos sich in den Gefährdungen Bewegens zunächst ein generell moralisierendes, näherhin stoisches Profil („Integer vitae scelerisque purus/ Non eget Mauris iaculis neque arcu/ […]“); die Diskussionen um die Horazischen Affinitäten des Petrarkischen Sonetts konzentrieren sich auf die in V. 9 ff. entwickelte Spezifizierung des Konzepts auf die Situation des Liebenden und Dichtenden hin. Bezöge man, was sicherlich sinnvoll wäre, die ersten acht Verse der Ode mit ein, ergäbe sich ein weiterer Aspekt, unter dem antike Vorlage und Petrarkische Antwort nachhaltig differieren, ist doch das moralische Sein des Petrarkischen Liebenden, ausweislich des Texts (des Canzoniere), mit dem Konzept der ,integritas‘ gerade nicht zu fassen. Trotz dieser Opposition von moralischem Sein und Affekt bleibt auch der Petrarkische Liebende auf seinem Weg unversehrt. Man ermißt an der hier nur knapp skizzierten Struktur ein weiteres Mal das dem Canzoniere eigene, ja vielleicht originäre Liebes-Konzept: Der Affekt bedarf nicht des Rückhalts in einer wie auch immer zu fassenden Objektivität (einer Norm, einer Empirie), es ist sein wesentlichstes Merkmal, nur noch im Sprechenden selbst einen Rückhalt zu haben.
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Ode und auch die von einigen Kommentatoren genannte Elegie III. 16 des Properz Petrarca die Anregung vermittelt 7, ein Sonett wie „Per mezz’i boschi“ zu schreiben, und in einzelnen Formulierungen hat er sich sicherlich auf diese oder auch weitere antike Texte bezogen 8. Aber die These der Wiedergeburt der litterae ist für dieses Gedicht in seiner Spezifik letztlich erst dann überzeugend angesetzt, wenn man sie nicht im Sinne von ,Nachahmung‘, sondern einer bewußten Replik und auch eines Superioritätsreklamats versteht 9, welches mit dieser Referenz erst seine ganze Prägnanz gewinnt 10. Vor allem aber ist der antikische Horizont
7 „Nec tamen est quisquam, sacros qui laedat amantis:/ Scironis media sic licet ire via./ Quisquis amator erit, Scythicis licet ambulet oris:/ Nemo adeo, ut noceat, barbarus esse volet./ Luna ministrat iter, demonstrant astra salebras,/ Ipse Amor accensas percutit ante faces,/ Saeva canum rabies morsus avertit hiantis:/ Huic generi quovis tempore tuta via est./ Sanguine tam parvo quis enim spargatur amantis/ Improbus? ecce suis fit comes ipsa Venus.“ (V. 11-20) Der Abstand des Petrarkischen Sonetts zu dieser Vorlage ist im Konkreten anders, auf abstrakterer Ebene indes ähnlich zu beurteilen wie für den Fall der Horazischen Ode. Auch bei Properz kommt der Liebe eine ,objektiv‘ verwandelnde Macht zu. Die Verantwortlichkeit ist hier allerdings den zuständigen mythischen Instanzen zugeschrieben. Der Horaz-Text erscheint, verglichen mit diesem, pointierter. Properz bezieht sich mit seiner Version von dem Wagemut und der Kraft, die die Liebe verleiht, auf die traditionellen weltinterpretierenden Ressourcen des Polytheismus, die eine Modellierung im Zeichen der Diversität ermöglichen, ohne daß dafür eine weitergehende Begründung zu liefern wäre. Bei Horaz hingegen scheint es um einen Einspruch gegen die Abwertung der Liebe aus der Sicht eines sozialen Gefüges zu gehen, das seine Normen aus einer kriegerischen Vergangenheit bezog. 8 Im Hinblick auf V. 11 verweist ein Teil der Kommentatoren auf Georg. IV 19 („[…] tenuis fugiens per gramina rivus.“ [Konsultiert wurden die Kommentare von E. Chio`rboli, von G. Carducci/S. Ferrari, von N. Zingarelli, von M. Barbi und von G. Contini; Verweise im einzelnen werden im Folgenden nur gegeben, soweit sachlich geboten]); eine Fülle weiterer Folien in der antiken Lyrik, teils auch Epik und Tragödie, die z. T. noch nicht in die Kommentare eingegangen sind, nennen De Robertis und König (s. o., Anm. 1 u. Anm. 2). 9 Auf ein bleibendes Problem, welches mit der These von Petrarca als Dichter der Renaissance der litterae verbunden ist, hat im übrigen König selbst hingewiesen. Die Leser des Canzoniere seien schwerlich in der Lage gewesen, „in jedem Fall [zu] bemerken“, wie sehr sich Petrarca „auf die Welt der Alten“ beziehe; denn: „welcher Zeitgenosse verfügte schon über Petrarcas Belesenheit?“ Die damit gestellte grundsätzliche Frage bleibt ohne Beantwortung („Petrarcas Landschaften“ [s. Anm. 2], S. 257). 10 In einer Analyse der Canzone „Nel dolce tempo“, die in besonders akzentuierter Manier auf den Horizont der antiken Mythologie Bezug nimmt, hat K. Stierle gezeigt, inwiefern die Behauptung einer direkten Kontinuität bedeutet, Petrarcas Antiken-Rezeption „in die falsche Perspektive eines naiven Humanismus“ zu rücken. Auch im Fall dieser Canzone ist die imitatio so modelliert, daß sie eine „Differenz“ signalisiert, welche wiederum auf den Anspruch der „Überlegenheit“ verweist („Metamorphosen des Mythos. Petrarcas Kanzone ,Nel dolce tempo‘ [Rime XXIII]“, in: W. Haug/B. Wachinger [Hrsg.], Traditionswandel und
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nur einer von mehreren diskursiven Kontexten, auf die das Sonett Bezug nimmt. Der Text ist an erster Stelle ein Text dieser Zeit, affiziert von den ästhetischen und extra-ästhetischen diskursiven Verwerfungen, die das Ende des Hochmittelalters kennzeichnen 11. Die (unvermeidbaren) Begrenztheiten der letzteren der zwei eingangs genannten Auffassungen sind anderer Natur. Sie erwachsen nicht aus einer teilweise generösen Realisierung selbstgestellter Ansprüche, vielmehr aus einer bewußt gewählten und in ihrer Partialität reflektierten Prämisse. Ungeachtet mancherlei Einwände, die zum Teil gewiß Bestand haben dürften, hat die bei H. Friedrich angedeutete und von K. Stierle entwickelte Behauptung, dieses und vergleichbare Gedichte markierten ästhetisch und philosophisch die Vorwegnahme einer Grundkonfiguration der Moderne 12, ,philologisch‘ und zumal historisch so sehr Recht, daß man zwar die entsprechende Perspektive als Ausfluß eines methodischen und auch philosophischen ,choix‘ qualifizieren, sie aber schwerlich als ,abwegig‘ schlechthin einordnen kann 13. Weder der Verweis auf die Regeln der lateinischen Schulgrammatik noch der auf die standardisierte Eigennamen-Graphie ist geeignet, gegen die Tatsache zu reden, daß sich einige der prominentesten Begründer ästhetischer Positionen der Moderne in Petrarca, und vor allem eben in Sonetten wie diesem wiederer-
Traditionsverhalten, Tübingen 1991, S. 24-45 [Zitate: S. 33 u. S. 36]). - Die genannte Abhandlung von Maggini, die die Horazischen Affinitäten von „Per mezz’i boschi“ erstmals ausführlicher dargelegt hat, ist frei von den Rigorismen, die die Weiterverarbeitungen dieser Entdeckung bei König und De Robertis kennzeichnen. Für Maggini schließen sich AntikenImitation und ,Modernität‘ nicht aus; er qualifiziert „Per mezz’i boschi“ als Dokument eines „romanticismo ante litteram che pur nella imitazione dei classici crea una poesia nuova e moderna“. In Anbetracht der Kürze der Studie bleibt der Gedanke naheliegenderweise ohne nähere Ausführung („Un’ode di Orazio nella poesia del Petrarca“ [s. Anm. 1], S. 9; vgl. auch S. 10). 11 Mit der obigen Bemerkung zum Epochenbruch an der Wende vom 13. zum 14. Jahrhundert nehmen wir Bezug auf H. Blumenbergs Thesen (vgl. v. a. die in mehrere Bände aufgeteilte überarbeitete Version von Die Legitimität der Neuzeit, Frankfurt a. M. 1966 [Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner ; Der Prozeß der theoretischen Neugierde; Säkularisierung und Selbstbehauptung]). 12 Friedrichs Deutung in Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt a. M. 1964, S. 210-214; zu Stierle s. o., Anm. 3. 13 Die zitierte Qualifizierung ist bei König auf Stierles Deutung des Sonettschlusses bezogen, aber sie entspricht nach Substanz und Diktion demjenigen, was König für richtig erachtet, über Stierles Petrarca-Lektüre (und damit eben auch über die einer Reihe anderer, beginnend mit Rousseau und Hegel) mitzuteilen („Petrarcas Landschaften“ [s. Anm. 2], S. 271, Anm. 60).
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kannt haben 14. Dieses Wiedererkennen steht im Zeichen der Subjektivität 15, welche ein Zentrum der Ich- und Weltfiguration der romantischen Moderne darstellt. Ist es ein wesentliches Moment von Subjektivität, ein Bewußtsein jenseits aller Normierungen zu konstituieren, so bedarf sie paradoxerweise als Komplement des Rückhalts in der Identität. Diese allerdings kann dann keine kurrente, sondern muß notwendigerweise immer eine reflektierte, ja entworfene sein. Wenn hier Petrarca und kein anderer zum Referenzpunkt einer Teleologie wurde, als deren Produkt die ästhetische Moderne sich inszenieren konnte, um ihrer essentiell denormierten Rede den Belang zu sichern, kommt der entsprechenden Deutung der Texte eine Legitimität zu, die durch den (kultur-)historischen Prozeß selbst garantiert wird. Ungeachtet dessen, so sei behauptet, ist der Rückgriff der Romantiker der Moderne, so sehr er ein Konstrukt impliziert, anderes als eine Konstruktion divagierender Beliebigkeit. Auf den Preis, der für dieses Verständnis von Petrarcas Landschaftsgedichten zu entrichten ist, weisen bereits Friedrich und Stierle hin: Die lyrischen Landschaften des Dichters sind mit den romantisch-modernen Pendants nicht identisch schlechthin. Ihnen eignet ein Moment nicht, das als prägendes Merkmal der letzteren erscheint, die Impräzision des zu ästhetischer Anschauung Gebrachten, das Sich-Verlieren schließlich des Blicks in der Ferne, im ,infini‘ 16. Diese Differenz ist um so belangvoller, als sie ihre Entsprechung auf der Ebene der Funktionalisierung findet, 14 M. a. W.: Königs Kritik nimmt offensichtlich die Implikate der methodischen Grundlage von Stierles Lektüre, der Hermeneutik, nicht wahr (s. dazu die ersten beiden Seiten der Rezension, auf die wir auch mit unserer obigen Bemerkung Bezug nehmen und auf denen, gekleidet in eine Reihe rhetorischer Fragen, etwas skaliert wird, was schwerlich sinnvoll skaliert werden kann, eine ,historisierende‘ und eine hermeneutische Sicht auf Petrarca). Unabhängig von diesem Problem stört in Königs Besprechung die Apodiktik, mit der der Verfasser auf der ausschließlichen ,Richtigkeit‘ auch seiner Deutungen en de´tail insistiert. Man vermißt die Sensibilität für die tendenzielle Offenheit von Texten, die als literarische sich durch eben dies Moment von anderen Textsorten abheben („Kein Wort, kein Buchstabe deutet darauf hin, daß durch dieses ragionare con Amore Trost gespendet und Erleichterung verschafft wird.“ Pensoso bedeute bei Petrarca „nie […] einfach ,nachdenklich‘, ,in Nachdenken versunken‘.“ „[…] mit ,gehen‘ hat die ,Formel‘ [vo pensando] nichts zu tun.“ [Zitate: S. 262, S. 268 (Anm. 47; Hervorhebung im Original) u. S. 270 (Anm. 58)]). 15 S. dazu im einzelnen Stierle, Petrarcas Landschaften (s. Anm. 3), S. 34, S. 39, S. 40, S. 42 sowie S. 67-81 (u. passim). 16 Vgl. Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik (s. Anm. 12), S. 212 f. u. S. 228 sowie Stierle, Petrarcas Landschaften, S. 21 (Stierle differenziert an der zitierten Stelle nach „Nahlandschaft“ und „Fernlandschaft“ und sieht letztere, die Landschaft der perspektivischen Tiefe, die zum Objekt einer vorrangig ästhetischen Betrachtung werden kann, eher in Petrarcas lateinischsprachigen Texten realisiert [zur Argumentation im einzelnen s. auch S. 34 u. S. 39]). -
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näherhin der der metaphorischen Identifikationen. Wo Chateaubriands Rene´ eine indefinite ,flamme future‘ sucht und zu erkennen glaubt, deren Ungreifbarkeit sich ihm schließlich als Projektion des eigenen unsagbaren Ich enthüllt 17, schaut der Petrarkische Sprecher die eine und konkrete Geliebte in einer geradezu mimetischen Exaktheit. ⫺ Der Narzißmus, der sich in den literarisierten Landschaften der Romantiker metaphorisch inszeniert, konstituiert die Strukturachse des romantischen Weltbezugs. In den Texten begegnet er dementsprechend auch zuweilen in unverhüllter Explizität, am deutlichsten vielleicht in den Worten der Schlegelschen Lucinde an Julius, den Geliebten, es sei er selbst, den er
Modellprägend für das entsprechende Repertoire ist im romanischen Bereich Chateaubriand; dessen Naturtableaus setzen sich v. a. aus Elementen wie den folgenden zusammen: ,les nuages errants‘, ,les vapeurs‘, ,les profondeurs de la foreˆt‘, ,l’immensite´ de l’horizon‘, ,le vide‘; die korrespondierenden Verben sind sodann nicht, wie bei Petrarca, die BasisVerben der sinnlichen Wahrnehmung (,vedere‘, ,udire‘), sondern deren aspektuelle Varianten, wobei die Kategorie ,Aspekt‘ durchweg in einer Weise besetzt ist, die sich mit dem Konzept der Indefinität fassen ließe (,se perdre‘, ,se confondre‘, ,s’effacer‘ [alle Zitate begegnen passim in Rene´, zitiert nach der Ausgabe Œuvres romanesques et voyages, hrsg. v. M. Regard (Bibliothe`que de la Ple´iade), Paris 1969, Bd. 1, S. 117-146; zum Argumentationszusammenhang s. auch Vf., „Zum romantischen Mythos der Subjektivität. Lamartines Invocation und Nervals El Desdichado“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur Bd. 98/1988, S. 137165]). 17 Der ,Zustand‘ („e´tat“), in dem er sich einst befunden habe, sagt Rene´, sei „presque impossible a` de´crire“; verursacht worden sei er von einer „e´trange blessure de mon cœur, qui n’e´tait nulle part et qui e´tait partout: Je ne […] savais pas […] ce que je de´sirais. […] je cherch[ais] […] un bien inconnu […] Il me manquait quelque chose pour remplir l’abıˆme de mon existence […] je l’embrassais dans les vents: je croyais l’entendre dans les ge´missements du fleuve: tout e´tait ce fantoˆme imaginaire, et les astres dans les cieux, et le principe meˆme de vie dans l’univers.“ Die Diagnose dieses Zustands wird in expliziter Manier erst am Ende des Texts artikuliert, und zwar von Chactas („Je vois un jeune homme enteˆte´ de chime`res […] tous ces maux dont vous vous plaignez sont de purs ne´ants. […] Jeune pre´somptueux qui avez cru que l’homme se peut suffire a` lui-meˆme!“ [S. 128-131 u. S. 144 f.]). - Empirisch gesehen ist der romantische Diskurs naheliegenderweise aus Sicht des entwickelten Konzepts nicht homogen. Zumal populärere Vertreter, wie etwa Lamartine, manifestieren in dieser Hinsicht Momente der Ungleichzeitigkeit des Gleichzeitigen; das im Titel unseres in Anm. 16 nachgewiesenen Aufsatzes genannte Gedicht ist paradigmatisch für einen so verstandenen romantischen Diskurs, Gedichte wie „Souvenir“ und „A Elvire“ hingegen weisen Strukturen personaler Identifikation auf, die sich bereits in den Objekt- (Natur-) Beschreibungen älterer Lyrik finden lassen. Ausschlaggebend ist die Integrationsfähigkeit des aus den Texten zu entwickelnden Konzepts; inwiefern das hier zugrunde gelegte, das wir von C. Schmitt beziehen, in der Lage ist, auch über den Bereich der strikt literarisch verstandenen Romantik hinaus einiges zu leisten, hat dieser in seinem Buch Politische Romantik gezeigt (München/Leipzig 21925 (11919), passim).
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in ihr erblicke, und sie nichts anderes als die ,Wunderblume seiner Fantasie‘ 18. Man kann aus einer Perspektive, die unvermeidlich von Texten wie dem Chateaubriands oder dem Fr. Schlegels geprägt ist, auch bereits das Petrarkische Liebeskonzept unter das Zeichen eines ,lustvollen Leidens‘ stellen, das letztlich Selbstgenuß sei. Veranschlagt man die sichtlichen Differenzen der Versprachlichung, das Ausfallen der narzißtischen Explizität, vor allem aber das Nicht-Vorhandensein einer Subjektphilosophie, die erst dem ästhetischen Konzept der romantischen Moderne Sinnhaftigkeit zu verleihen imstande war, ergibt sich eine Frage, die bislang, so scheint es, noch keiner ausführlicheren Diskussion zugeführt wurde: diejenige nach den in der Struktur des Sonetts selbst angelegten Momenten, die trotz aller sichtlichen Differenzen erklären könnten, warum dieser und kein anderer Text (seine vermeintlichen antiken ,Vorbilder‘ gar), wenn vierhundert Jahre später sich die Moderne eine geschichtsphilosophisch gegründete Legitimität entwirft, zu einem zentralen Referenzpunkt werden konnte. 1. 1.1. Zur besseren Überschaubarkeit der Analyse, die in ihrem ersten Teil ein Nachvollzug des bei Petrarca Gesagten sein soll, sei der Text einleitend ins Gedächtnis gerufen: Per mezz’i boschi inhospiti et selvaggi, onde vanno a gran rischio uomini et arme, vo securo io, che´ non po` spaventarme altri che ’l sol ch’a` d’amor vivo i raggi; et vo cantando (o penser’ miei non saggi!) lei che ’l ciel non poria lontana farme, ch’i’ l’o` negli occhi, et veder seco parme donne et donzelle, et sono abeti et faggi. Parme d’udirla, udendo i rami et l’o`re, et le frondi, et gli augei lagnarsi, et l’acque mormorando fuggir per l’erba verde.
18 Zitat: Lucinde, in: Kritische Friedrich Schlegel-Ausgabe, hrsg. v. E. Behler, München/Paderborn/ Wien 1962, Bd. 5, S. 1-82, hier: S. 78 f. Zum wesentlich narzißtischen Profil der romantischen Liebe vgl. Schmitt, Politische Romantik, S. 115-152, bes. S. 122 f.
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Mundus imago Laurae Raro un silentio, un solitario horrore d’ombrosa selva mai tanto mi piacque: se non che dal mio sol troppo si perde. 19
Das erste Quartett konstituiert jene Situation, die das Gedicht mit seinen antiken Referenztexten gemein hat. Der Sprecher befindet sich in einer dem Menschen feindlichen Natur 20, nimmt allerdings die mannigfachen Gefährdungen als solche nicht wahr und bezeichnet die Liebe bzw. die Geliebte als das einzige, was in der Lage wäre, ihm Furcht einzuflößen 21. Das zweite Quartett und die beiden Terzette thematisieren das diesem Text Spezifische. Die ,Sicherheit‘, mit der der Sprecher sich in den ,boschi inhospiti et selvaggi‘ bewegt, erweist sich als ein Moment subjektiver Projektion: Das Inventar der zivilisationsfernen Natur, welches ihn eigentlich daran gemahnen sollte, daß er sich in einem Raum der Unwirtlichkeit und der Gefährdungen aufhält, verweist ihn auf ganz anderes, die Geliebte, die ungeachtet ihrer tatsächlichen Abwesenheit ihm zur Anwesenden wird, da sie ihn bis zu dem Grad fesselt, seine Wahrnehmungsraster zu dominieren („ch’i’ l’o` negli occhi“ [V. 7]). Allerdings, so scheint es, ist letztlich diese imaginäre Anwesenheit doch nur als ein Surrogat der tatsächlichen verstanden. Denn das Wohlgefallen, das sich der Sprecher im zweiten Terzett zuschreibt, ist ein gebrochenes im wört-
19 Der Text des Canzoniere wird hier und im Folgenden zitiert nach der von G. Contini besorgten Ausgabe (Nuova universale Einaudi, Torino 1964). 20 Der Biographismus, der eher als Modernismen anderer Natur einem Teil der traditionellen Petrarca-Philologie einen Zugang zu dem Text verstellt, dokumentiert sich im Fall dieses Sonetts darin, daß alle Kommentatoren, übrigens ohne die geringsten Reserven, statuieren, der in V. 1 f. apostrophierte Wald sei der Ardenner Wald (dies gilt auch noch für den Kommentar G. Regns in den Anmerkungen zu seinem Neudruck einer Auswahl aus der zweisprachigen Canzoniere-Ausgabe von K. Förster [Mainz 1987, hier: S. 254]). Berufungsinstanz dabei ist die Erwähnung des Ardenner Walds wenn auch nicht in diesem, so doch in dem folgenden Sonett, und sodann Familiares 1, 5, 15 f., wo Petrarca von einer Reise durch diesen Wald berichtet, in Formulierungen, die denen des Sonetts entsprechen - allerdings nur zum Teil; daß insbesondere die Frage der schützenden Instanz in dem biographischen Dokument und in dem Sonett ganz verschieden beantwortet wird („Sed incautos, ut aiunt, Deus adiuvat.“), ist dann wohl keiner weiteren Beachtung mehr wert. - Man könnte Kommentierungen wie die zitierte in das Kuriositätenkabinett einer obsoleten Variante von Philologie verweisen, wenn dieses Beiwerk nicht dafür sorgte, daß allgemein mit dem Stichwort ,Ardenner Wald‘ die Frage nach dem Sinnpotential der „boschi inhospiti et selvaggi“ von Canz. CLXXVI als abschließend beantwortet angesehen wird. 21 Vgl. aber auch die anders akzentuierende Kommentierung bei Leopardi, die von Carducci/ Ferrari übernommen wird („[V.] 4. Scherza colla opposizione del sole, detto allegoric. per Laura, e della oscurita` de’ boschi, dicendo che solo quello gli puo` far paura e non questa (L).“).
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lichen Sinn. Die Sonnenmetapher aus V. 4, die in V. 14 wieder aufgenommen wird, verdeutlicht, daß die ,ombrosa selva‘ zwar zum Ort imaginierter Präsenz der Geliebten werden kann, realiter aber der Ort ihrer Nicht-Anwesenheit bleiben muß. Es ist vielleicht diese im letzten Vers formulierte Reserve, die das Sonett am nachhaltigsten von seinen romantischen Pendants unterscheidet: Der essentielle Narzißmus der romantischen Liebessituation, der der Non-Präsenz des Objekts letztlich die affektisch höhere Qualität zuspricht, findet sich bei Petrarca eher nicht 22. Den Kern des Gedichts konstituiert ungeachtet dessen die bereits genannte imaginäre Substitution der Elemente des naturhaften Raums durch die Gestalt der Geliebten. Seinen eigentlichen Belang erhält das Verfahren dadurch, daß dieser explizit gemachten eine weitere, implizite Substitution entspricht, die sich auf zweifache Weise erschließt: durch die Kontexte, auf die das vom Sprecher ins Spiel gebrachte Material verweist, sowie durch die Struktur der von ihm selbst vollzogenen Deutung des Wahrgenommenen. Genauer gefaßt: Was aus einer modernen Sicht einzig eine Opposition von pragmatisch-vernünftiger und wahnhaft-entrückter Deutung der Signale sein könnte, die das primär Wahrgenommene vermittelt („o penser’ miei non saggi!“ [V. 5]), oder aber maximale Verdichtung einer Erinnerungssituation 23, hat unter Veranschlagung der dem Gedicht zeitgenössischen Praktiken der Welt-Hermeneutik eine spezifischere und für seine Botschaft belangvolle Dimension. 1.2. Um Zugang zu dieser Dimension zu erlangen, ist ein näherer Blick auf dasjenige von Gewinn, was die metaphorischen Landschaften Petrarcas in diesem, aber auch in anderen Gedichten konstituiert. Es handelt sich 22 Die Diskussion des Sonetts konzentriert sich in der traditionellen Forschung auf die Entschlüsselung dieses letzten Verses, wobei allerdings die Unterschiede zwischen den einzelnen möglichen Auffassungen im Hinblick auf das Gedichtganze nicht allzu erheblich zu sein scheinen. Die ausführlichste mir bekannte Dokumentierung der Kontroverse bringt N. Zingarelli in der von ihm besorgten Textausgabe [Le Rime di Francesco Petrarca, Bologna 1964, S. 915], den jüngsten Beitrag dazu liefert De Robertis [„La traversata delle Ardenne“ (s. Anm. 1), S. 227 f.]). 23 Zu der ersten der zwei möglichen, genauer, der zwei bislang üblichen Deutungen, s. u., Anm. 32; die zweite der genannten Alternativen ergäbe sich aus der in der Forschung bis heute stillschweigend angesetzten Auffassung, die Gedichte des Zyklus seien nichts als poetisierende ,Einkleidungen‘ von einer Art narrativem Lebensbericht. Eine solche Sicht machte es legitim, „Per mezz’i boschi“ als ,Steigerung‘ einer ,Situation‘ zu lesen, die im Gedicht CXXV dargestellt wird: Auch dort sieht der Sprecher ,überall‘ in der Natur Laura,
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durchweg nicht um komplette Szenarien oder Tableaus, vielmehr um fragmentarische Elemente des naturhaften Raums, die in der Regel in abstrakter, ja generischer Form apostrophiert sind, als Bäume, als Licht, Luft, Wasser, Felsen 24. „Per mezz’i boschi“ repräsentiert in dieser Hinsicht bereits das äußerste an Konkretion. Dieser Konzision in der Thematisierung der Objekte korrespondiert eine aus romantisch-moderner Sicht gleichermaßen ungewöhnliche Konzision der sekundären Wahrnehmung, literarisch, der Metaphorisierung. Das Maximum an Indefinität, das sich der Text in dieser Hinsicht gestattet, ist die Periphrase. Nicht weniger markant sind die Grenzen, die das Sonett von den seinerzeit gängigen literarischen Landschaften trennt. Ohne Zweifel zwar nimmt der Sprecher in dieser Hinsicht Bezug auf einen Topos, den E. R. Curtius ausführlich beschrieben hat 25. Dessen identifizierbare Geschichte beginnt bei Homer. Die Grundelemente sind „Hain, Quell [und] Au“ 26. Es ist für Petrarcas Sonett nicht unerheblich, daß es sich auf die Erfüllung dieses rudimentären Schemas beschränkt, d. h., an den mannigfachen konkretisierenden Variationen, die der Topos bei den lateinischen Klassikern, den Mittellateinern und den volkssprachlichen Dichtern erfahren hat, nicht teil hat bzw. nicht teil haben will 27. Mit anderen Worten: Die Ausgestaltung des Naturszenarios ist so konventionell, daß es schwerfällt anzusetzen, „Per mezz’i boschi“ erschöpfe sich darin, die Petrarkische Variante des Topos zu präsentieren. Aus demselben Grund scheint die Naturschilderung überfordert, wenn man in ihr die Signalisierung einer (Antiken-)Nachfolge sehen möchte. Sicherlich läßt sich bei Vergil ähnliches finden, aber es ist eben topisch, und zwar über die antike Klassik hinaus, und dieses Faktum nimmt dem Material als sol-
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aber er gibt einen ,mimetisch‘ plausiblen Grund dafür an; diese ,pflegte‘ („ebbe in costume“) sich an den Orten, in deren Wassern, Pflanzen und Blumen der Sprecher sie erkennt, einst aufzuhalten (V. 64-74). Was theoretisch gegen eine solche Unterstellung konsequenter Narrativität des Zyklus spricht, bedarf vielleicht keiner Erläuterung im einzelnen. S. dazu nochmals die bereits gegebenen Hinweise auf die entsprechende Beobachtung bei Friedrich (o., Anm. 12) sowie Stierle, Petrarcas Landschaften (s. Anm. 3), S. 41 u. S. 82 f. „Rhetorische Naturschilderung im Mittelalter“ (1942), wiedergedruckt in: A. Ritter (Hrsg.), Landschaft und Raum in der Erzählkunst, Darmstadt 1975, S. 69-111 (in unwesentlich veränderter Form auch als Kap. 10 von Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter [„Die Ideallandschaft“]). S. 74. Zur Tradition des Verfahrens vgl. im einzelnen das bei Curtius angeführte Material (passim). Die mit dem obigen Zitat noch nicht erfaßten Elemente (Schatten, singende Vögel, umgebender düsterer Wald) sind gleichermaßen konventionell.
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chem jene Spezifik des Verweisungszusammenhangs, an die sich vernünftigerweise erst entsprechende Behauptungen knüpfen könnten 28. Das dem Gedicht Eigene, das erst durch die bewußt nüchterne Bezugnahme auf ein Schema zumal der Liebeslyrik in seiner Prägnanz hervortritt, ist ein Moment, welches es in der überschaubaren Tradition in dieser Form nicht gibt: Die Elemente des naturhaften Raums, die Bäume, die Gräser, die Wasser, die Vögel, konstituieren hier kein ,Szenario‘, vor dessen Hintergrund sich das eigentlich zu Thematisierende, die Liebessituation, ,angemessen‘ entfalten könnte. Sie werden vielmehr dem Sprecher zu Bildern einer personalen Instanz, die real und aktuell nicht anwesend ist, und zwar der Geliebten 29. ⫺ Es ist hier nicht möglich, die 28 S. hingegen die Argumentation bei König, „Petrarcas Landschaften“ (s. Anm. 2), S. 270-276 („Das Verbum placere aber - wer gebraucht es für Wälder und Waldesschatten? Vergil läßt es den unglücklich liebenden Corydon aussprechen […]“ [S. 275]). König bezieht sich an einer einzigen Stelle seiner Argumentation auf Curtius, allerdings in einer Weise, die das bei Curtius Gemeinte ins Gegenteil verkehrt. Den Hinweis auf die allgemeine Kenntnis der ersten Ekloge ,vom ersten Jahrhundert der Kaiserzeit bis zur Goethezeit‘, der bei Curtius das Postulat topischen Charakters des dort entworfenen Naturszenarios fundiert, glaubt König für seine Behauptung in Anspruch nehmen zu können, das „charakteristische Kolorit“ der Landschaften des Canzoniere verdanke sich Petrarcas Vergil-Rezeption (vgl. S. 275 f. mit Anm. 79; dort auch das Curtius-Zitat). 29 Zum ,zeichenhaften‘ Charakter der Landschaften in Petrarcas Lyrik s. bereits Stierle, Petrarcas Landschaften (s. Anm. 3), S. 35 f. u. S. 39. - Mit dem genannten Moment setzt sich das Sonett grundsätzlich von der volkssprachlich-lyrischen Tradition des Topos ab, dem ,Natureingang‘ der provenzalischen Dichtung (weiterhin grundlegend zu diesem Verfahren: D. Scheludko, „Zur Geschichte des Natureingangs bei den Trobadors“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur Bd. 60/1937, S. 257-334; dort auch alles zur Beurteilung des Problems erforderliche Material. Selbst eine [aus Sicht des bei Petrarca zu Lesenden noch ganz unspezifische] „Verbindung des Frühlings mit der Person der Geliebten stellt […] eine Seltenheit in der Trobadordichtung dar“ [S. 320]; zu zwei Gedichten von Bornel, die als einzige von dem bei Scheludko dokumentierten Material eventuell eine gewisse Nähe zu dem Petrarkischen Verfahren haben, s. S. 309). - Zur Diskussion der Frage mit direktem Bezug auf Petrarca s. auch A. Noyer-Weidner, „Lyrik und Logik in Petrarcas Canzoniere. Zur ,Gedanklichkeit‘ in gattungsverschiedenen Gedichten: ,Solo e pensoso‘ und ,Chiare, fresche e dolci acque‘ “ (1975), wiedergedruckt in: Umgang mit Texten (s. Anm. 2), Bd. 1, S. 224-261. Noyer-Weidner erörtert die Problematik anhand der im Titel seines Aufsatzes genannten Canzone, die im Hinblick auf die Funktionalisierung der Natur mit „Per mezz’i boschi“ nicht unmittelbar zu vergleichen ist. Die Bemerkung, daß bei den Provenzalen der „Natureingang nicht nur an sich, sondern auch in dem Sinne konventionell [war], daß er zugunsten des eigentlichen Themas ohne weiteres beiseite geschoben werden konnte“, trifft aber uneingeschränkt, was in dieser Hinsicht mit Blick auf das bei uns besprochene Sonett zu sagen wäre (Zitat: S. 251; vgl. insgesamt S. 250-253). - Die Kritik, die jüngst J. Gruber an der Auffassung der Konventionalität des Natureingangs bei den Trobadors geübt hat, erscheint überzogen („Natureingang und Trobar natural in der occitanischen Trobadorlyrik“, in: Th. Stemmler [Hrsg.], Natur und Lyrik. Viertes Kolloquium der Forschungsstelle für europäische
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zahlreichen Gedichte der Sammlung zu besprechen, die sich des Verfahrens der Naturmetaphorik bedienen. So bleibt nur, darauf hinzuweisen, daß „Per mezz’i boschi“ keinen Einzelfall konstituiert. In fast allen diesen Gedichten geht es darum, ins Bild zu fassen, daß, wie es in Canz. CXVI mit einer fast schon metasprachlichen Präzision heißt, der Liebende, ,wohin er auch blickt‘, nichts anderes sieht und zu sehen vermag als das Bild („l’imagine“ [V. 13]) Lauras, der Geliebten 30.
Lyrik des Mittelalters, Mannheim 1991, S. 61-100 [mit reichem Material und Bibliographie der neueren Forschungsliteratur]). - König hebt auch im Hinblick auf das hier diskutierte Moment des Sonetts v. a. auf die antike Tradition ab. Das Motiv der imaginären Präsenz der Geliebten identifiziert er bei Ovid („[…] ante oculos facies stabit, ut ipsa, tuos […]“ [Remedia amoris 584]). König konzediert: „In der Konkretisierung der donna und der Landschaftselemente, in denen sie und ihre Begleiterinnen erscheinen (et sono abeti et faggi), geht Petrarca allerdings weiter als Ovid an dieser Stelle; aber es bleiben Elemente, die […] aus antiker Literatur stammen.“ (S. 273 f.; in der zugehörigen Anm. 68 der Verweis auf Properz, Elegien I. 18, V. 20 [„fagus et Arcadio pinus amica deo“]). Zwei Dinge sind zu diesem paradigmatischen - Ausschnitt der Argumentation zu bemerken: Es greift gedanklich zu kurz, mit der Identifizierung der einzelnen ,Elemente‘ die Frage nach der Struktur, die sie bei Petrarca konstituieren, bereits als beantwortet anzusehen. Zum zweiten fällt ein weiteres Mal eine gewisse Tendenz zu analytischer Nachlässigkeit auf: Bei Ovid ,erscheint‘ die Geliebte nicht in ,abstrakterer‘ Form in ,Landschaftselementen‘ als bei Petrarca, ihre Präsenz bleibt dort ganz virtuell; das für Petrarcas Sonett eigentlich konstitutive Verfahren findet sich in der antiken ,Vorlage‘ nicht. (Gleiches gilt für ein Vergilisches ,Vorbild‘ des Verfahrens, das F. Rico anführt [Vida u obra de Petrarca, Bd. 1, Lectura del Secretum, Padova 1974, hier: S. 334 mit Anm. 281].) 30 „[…]/ Ivi non donne, ma fontane et sassi,/ et l’imagine trovo di quel giorno/ che ’l pensier mio figura, ovunque io sguardo.“, so das zweite Terzett von „Pien di quella ineffabile dolcezza“ (der Tag [des innamoramento] ist metonymisch aufzufassen). Nur auf zwei weitere besonders einschlägige Stellen sei hier verwiesen: „Se lamentar augelli, o verdi fronde/ mover soavemente a l’aura estiva,/ o roco mormorar di lucide onde/ s’ode d’una fiorita et fresca riva,// la` ’v’io seggia d’amor pensoso et scriva,/ lei che ’l ciel ne mostro`, terra n’asconde,/ veggio, et odo, et intendo ch’anchor viva/ di sı´ lontano a’ sospir’ miei risponde.“ (CCLXXIX, V. 1-8); vgl. weiterhin „Di pensier in pensier, di monte in monte“ (CXXIX), bes. V. 40-43 („I’ l’o` piu´ volte (or chi fia che mi ’l creda?)/ ne l’acqua chiara et sopra l’erba verde/ veduto viva, et nel tronchon d’un faggio/ e ’n bianca nube […]“). Außerhalb des lyrischen Œuvres begegnet die für „Per mezz’i boschi“ prägende Struktur einschließlich der expliziten Artikulation dessen, was in dem Sonett indirekt codiert ist, wörtlich in Ep. metr. 1, 6, in der bekanntlich der Sprecher dasjenige, was als Substrat dem Canzoniere zugrunde liegt, in Form einer richtiggehenden Narration präsentiert („Insequitur tamen illa iterum et, sua iura retentans,/ nunc vigilantis adest oculis […]./ […] sic salvus ab istis/ eruar insidiis ut sepe per avia silve,/ dum solus reor esse magis, virgulta tremendam/ ipsa representant faciem truncusque reposte/ ilicis et liquido visa est emergere fonte,/ obviaque effulsit sub nubibus aut per inane/ aeris aut duro spirans erumpere saxo/ credita suspensum tenuit formidine gressum./ Hos michi nectit Amor laqueos; spes nulla superstes,/ ni Deus omnipotens tanto me turbine fessum/ eripiat manibusque suis de faucibus hostis/ avulsum
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Auf den ersten Blick scheint die oben gestellte Frage nach der Legitimität des romantischen Rekurses auf Petrarca damit beantwortet. Ist auch das ,Bild‘ von der Geliebten, das in den romantischen Naturtableaus entworfen wird, in concreto ein ganz anderes als hier bei Petrarca, scheint doch das Verfahren der metaphorischen Identifikation als solches, das offensichtlich bei Petrarca erstmals begegnet, dem entsprechenden Rekurs hinreichende Fundierung zu schaffen. Indes sei behauptet, daß dieser Konnex zwischen Petrarkischer und romantischer Dichtung ein Phänomen der Manifestationsebene ist und paradoxerweise die von den Romantikern konstruierte Filiation ihre volle Legitimität erst dann gewinnt, wenn man den Text, näherhin sein zentrales Verfahren, aus einer Perspektive ansieht, die der Moderne fremd geworden ist 31: Was aus einer späteren Sicht nur bedeuten könnte, daß die Intensität der Liebes-cogitatio den Sprecher über das ,wahre‘ Wesen der Welt und der Dinge hinwegtäuscht 32, ist für die Diskurswelt, der das Gedicht noch zugehört, von anderer, spezifischerer Signifikanz. Das zentrale Verfahren des Sonetts spielt auf eine der Zeit ,selbstverständliche‘ (H. Brinkmann) extra-ästhetische diskursive Praxis und ein daran geknüpftes Weltmodell an. Die Deutung der Natur als eines
hac saltem tutum velit esse latebra.“ (V. 126 f. und V. 144-155, zitiert nach: F. P., Opere, hrsg. v. G. Ponte, Milano 1968, S. 356-358). 31 Man begäbe sich auf das Terrain geschichtsphilosophischer Spekulation, setzte man an, daß diese Filiation eine von den Romantikern selbst nicht erfaßte ,objektive‘ Dimension hätte. Es liegt näher, zunächst eine gewisse Kontingenz der Konstellation anzusetzen. Was veranlaßt, nach den weitergehenden ,Gründen‘ dieser Konstellation zu fragen, ist vor allem, daß sich diese von den Romantikern entworfene Perspektive als resistent erwiesen hat (im Unterschied zu der Unzahl anderweitiger legitimatorischer Referenzen, die die romantische Theorie sich konstruierte, gedacht ist hier etwa an V. Hugos Cromwell-Vorwort). Zum zweiten wäre allerdings auch zu erwägen, daß der oben im Anschluß entwickelte Aspekt von Petrarcas Landschafts-Lyrik dem 18. und frühen 19. Jahrhundert zwar nicht mehr selbstverständlich, jedoch nicht derart verschlossen war wie einem heutigen Verständnis. F. Ohlys lapidarer Satz „Das Mittelalter endet erst bei Goethe“ setzt sich zumal aus diskurshistorischer Sicht den mannigfachsten Einwänden aus. Er hat aber insofern Berechtigung, als bis zum Übergang zur eigentlichen Moderne in den Randzonen des Diskurses eine Reminiszenz der Praktiken der älteren Epistemai erhalten blieb, wenn auch in vielfältig entstellter Form. Dies gilt vor allem für den hier interessierenden Aspekt, das ,Naturverständnis‘ (Zitat Ohly: „Synagoge und Ecclesia. Typologisches in mittelalterlicher Dichtung“ [1966], wiedergedruckt in: F. O., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung, Darmstadt 1977, S. 312-337, hier: S. 336). 32 S. dazu die Einordnung bei Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik (s. Anm. 12), S. 215, sowie bei Stierle, Petrarcas Landschaften (s. Anm. 3), S. 44.
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Bereichs des Seins, der nicht in sich selbst aufgeht, sondern dem darüber hinaus zeichenhafte Dimension zukommt, gehört zu den fundierenden Konzepten des vorneuzeitlichen Diskurses 33. Der Verweisungszusammenhang, den dieses Konzept etabliert, ist in der ,regulären‘ Verwendung des Verfahrens ein höchst eindeutiger. Jener, dessen sekundäre Präsenz in der Natur eine ubiquitäre ist, ist kein anderer als derjenige, der nach orthodoxer Vorstellung diese Natur ,nach seinem Bilde‘ geschaffen hat. Die im Text der Genesis zunächst nur für die ,Krone der Schöpfung‘ reklamierte bildhafte Anwesenheit des Göttlichen 34 geht mit dem Paulus-Wort von dem ,verborgenen Wesen Gottes, das an dem Geschaffenen sinnfällig werde‘, auf das Verständnis der gesamten Schöpfung über, die in toto als ,vestigium‘ (Augustinus) bzw. als ,imago Dei‘ begriffen wird. Naheliegenderweise ist es vor allem das von zivilisatorischer Aktivität nicht affizierte Stratum der Welt, in neuzeitlicher Terminologie die ,Natur‘, welches zum privilegierten ,Zeichen‘ (signum) wird, das den gläubigen Christen überall die Perfektion, die pulchritudo und bonitas seines Gottes erkennen läßt 35. ⫺ Petrarca nimmt in seinen lateinischsprachigen Texten, vor 33 Brinkmann hat in seiner Darstellung der im Folgenden skizzierten Problematik dieses grundlegende Merkmal des prä-modernen Weltverständnisses mit dem Satz gefaßt „Alles, was zur sichtbaren Welt gehört, kann im Grundsatz auf Grund einer Analogie zum Zeichen für das Unsichtbare werden.“ (Mittelalterliche Hermeneutik, Tübingen 1980, bes. S. 75-153, hier: S. 137). - An der oben gewählten Formulierung (,vorneuzeitlicher Diskurs‘) mag der Mangel an historischer Differenzierung auffallen. In der Tat bestehen zwischen mittelalterlichem und rinascimentalem Diskurs erhebliche Unterschiede, allerdings auch Gemeinsamkeiten; diese letzteren betreffen u. a. und aus Gründen, die hier nicht zur Diskussion stehen, das ,Naturverständnis‘. Für alle weitergehende Diskussion sei auf unseren Versuch verwiesen, das Verhältnis der zwei Phasen des prä-modernen Diskurses in einer ,Skizze‘ zu umreissen, sowie auf unsere Diskussion des Verhältnisses von mittelalterlicher und rinascimentaler Signaturenlehre (vulgo: ,Naturverständnis‘) in einer kleineren Abhandlung zu Quevedo (Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Caldero´n. Untersuchungen zum spanischen Barockdrama. Mit einer Skizze zur Evolution der Diskurse in Mittelalter, Renaissance und Manierismus, Tübingen 1990, S. 230-304; Die entfesselte Signifikanz. Quevedos Suen˜os, eine Satire auf den Diskurs der Spät-Renaissance, Egelsbach/Köln/New York 1992, bes. S. 6-21). 34 „Et ait [Deus]: ,Faciamus hominem ad imaginem et similitudinem nostram.‘ “ (Gen 1, 26) 35 Vgl. Rom 1, 20; die Auslegung des Paulus-Worts bei Augustin in Confessiones X, 6 (8-10); s. auch De vera religione XX (38) - XXIII (44) sowie LII (101), v. a. aber De civitate Dei X, 14. Es bedarf vielleicht keiner Ausführung im einzelnen, daß für Augustinus das Geschaffene nur jenen zum vestigium Dei wird, die über die rechte ,Einstellung‘ zum Geschaffenen verfügen, d. h. den electi. Diese Differenzierung ist auch für den Augustin-Kenner Petrarca und insbesondere für die in Canz. CLXXVI modellierte ,Deviation‘ vom rechten Verständnis der Schönheit des Weltlichen von Belang, aber die Frage von Petrarcas Augustinismus soll hier ganz ausgeklammert bleiben (dazu: Vf., „Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance [Überlegungen zum Secretum]“,
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allem in De ignorantia, in De vita solitaria und in De otio religiosorum immer wieder auf das entsprechende Verständnis des Geschaffenen Bezug, wobei die dezidiert generische Apostrophierung der ,Natur‘ in „Per mezz’i boschi“ für eine nicht nur konzeptuelle, sondern auch wörtliche Parallelität sorgt 36. Im Kontext dieses allegorischen Naturverständnisses, dessen Stellenwert für diese Zeit in gültiger Form von F. Ohly beschrieben wurde 37,
wiedergedruckt in dsem. Bd., S. 1-53). - Der Satz ,Mundus imago Dei est‘, auf den wir mit dem Titel unseres Aufsatzes anspielen, ist eine topische Formel, die bis zum Ende des Barock immer wieder begegnet (vgl. dazu W. Harms, „Mundus imago Dei est. Zum Entstehungsprozeß zweier Emblembücher Jean Jacques Boissards“, Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte Bd. 47/1973, S. 223-244). Eine ,zeichentheoretische‘ Terminologie für das Verhältnis zwischen Schöpfer und Geschaffenem findet sich in der Prä-Moderne passim. Die Forschung verweist in diesem Zusammenhang an erster Stelle auf Hildegard von Bingen („Deus, qui omnia creavit, hominem ad imaginem et similitudinem suam fecit, et in ipso tam superiores quam inferiores creaturas signavit […]“ [Liber divinorum operum simplicis hominis, in: Patrologia latina, Bd. 197, Sp. 739-1038, hier: Sp. 744]). - H. Blumenberg hat der stärker intellektualisierten Variante der Vorstellung, der des liber naturae, seine Studie Die Lesbarkeit der Welt gewidmet (Frankfurt a. M. 1981). Auch für diese Variante ist Augustinus die erste wichtige Gewährsinstanz („[…] liber tibi sit orbis terrarum […]“ [Enarrationes in Psalmos, hier: in Ps XLV, 7]). Dogmenhistorischer Horizont der tendenziell gefährlichen Proklamation des Geschaffenen zu einer Art von zweitem Offenbarungstext ist der Kampf gegen das gnostische Verständnis der Schöpfung als korrupt ex origine, als Produkt des Bösen an sich (vgl. Blumenberg, S. 33-35 sowie S. 48-51, und bes. S. 50 zur Verpflichtung der Lektüre im ,Buch der Natur‘ auf den von dem ,ersten Buch‘, der Schrift, gesetzten Rahmen; zur mittelalterlichen Tradition s. S. 51-57, zu den rinascimentalen Transformationen S. 58-107). 36 In De sui ipsius et multorum ignorantia bringt Petrarca einleitend das oben genannte PaulusZitat und entwickelt dann unter gleichzeitigem Rekurs auf Ciceros De natura deorum das Konzept einer zeichenhaft zu verstehenden Objektwelt („[…] ut ex his omnibus, que videmus, esse Deum et factorem et rectorem omnium cogitemus. Hec enim fere disputationis illius [i. e. Cicero] summa est, ut celestibus atque terrestribus pene cuntis expositis, celi scilicet speris ac sideribus, tum stabilitate ac fecunditate terrarum, maris ac fluminum oportunitatibus temporumque varietatibus ac ventorum, herbis quoque et plantis et arboribus atque animantibus, miris volucrum et quadrupedum et piscium naturis […]“ (usw.) [in: Opere latine, hrsg. v. A. Bufano u. a., 2 Bde., Torino 1977, Bd. 2, S. 1025-1151, hier: S. 1078-1082 (Zitat: S. 1080)]). - Auf den Konnex von Petrarcas „ästhetischer und [der traditionellen] religiöse[n] Landschaftsaneignung“ hat, soweit überschaubar, erstmals K. Stierle aufmerksam gemacht („Die Entdeckung der Landschaft in Literatur und Malerei der italienischen Renaissance“, in: H.-D. Weber [Hrsg.], Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, S. 33-52, bes. S. 34 f. [dort auch das Zitat] u. S. 38-40). 37 Die wichtigsten einschlägigen Veröffentlichungen des Autors sind wiedergedruckt in F. O., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung (s. Anm. 31); zentral ist vor allem die Studie „Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter“ (1958) (S. 1-31; vgl. insbesondere S. 5-20); weiterhin ist zu verweisen auf das Kap. „L’Univers, miroir des symboles“ bei M.
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hat auch der Mensch seinen Platz, insofern er Teil des Geschaffenen ist. Allerdings hat er seinerseits den Status eines Zeichens, dessen Schönheit auf die Perfektion des Schöpfers verweist 38. Als Ebenbild („sembianza“) des Göttlichen ist er, so läßt Petrarca die Personifikation des Amor in Canz. CCCLX sagen, wie alle ,vergänglichen Dinge‘, Bestandteil einer Stufenleiter („scala“), die zu betrachten es gestattet, sich geistig zum „fattor“, zur „alta cagion prima“ emporzuschwingen 39. Wie im Fall von „Per mezz’i boschi“ die Seinsskala in allen ihren Stufen zu durchlaufen, vom Unbelebten („l’acque“) über das Vegetative („[gli] abeti“, „[i] faggi“) bis hin zum Sensitiven („gli augei“), dann aber auf der Ebene des Beseelten zu verharren, bedeutet, dasjenige, was auch nur Zeichen ist und sein kann, zur Substanz zu erklären, bedeutet, wie Petrarca selbst im Secretum die Essenz seines Liebesaffekts faßt, ,das Geschaffene an die Stelle des Schöpfers zu setzen und auf diese Weise die Hierarchie des Seins („ordo“) umzustürzen‘ 40. M. Davy, Initiation a` la symbolique romane (XII e sie`cle), Paris 1977 (11955), S. 148-174. An den spezifizierten Stellen bei Ohly und Davy findet sich eine Fülle von Belegen für das mittelalterliche Naturverständnis, die hier der Ökonomie halber nicht des einzelnen zitiert werden sollen. 38 „Omnis homo, in quantum homo est, diligendus est propter deum, deus uero propter se ipsum.“ (De doctrina christiana I, 27 (28); vgl. auch den gesamten Passus sowie I, 22 (20).) Für Petrarca selbst ist sicherlich in dieser Hinsicht Augustinus die erste Gewährsinstanz. Die allgemeine Verbreitung des Konzepts in dieser Zeit dürfte sich eher der Resonanz der entsprechenden Gedanken bei Hugo von St. Viktor verdanken (s. dazu Ohly, „Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter“, S. 30 f. sowie Davy, Initiation a` la symbolique romane, S. 170-172). 39 „Anchor, et questo e` quel che tutto avanza,/ da volar sopra ’l ciel li avea dat’ ali,/ per le cose mortali,/ che son scala al fattor, chi ben l’estima:/ che´, mirando ei ben fiso quante et quali/ eran vertuti in quella sua speranza,/ d’una in altra sembianza/ potea levarsi a l’alta cagion prima;/ […]“ (V. 136-143). Die Worte der Amor-Personifikation sind praktisch wörtliches Zitat der in Anm. 35 genannten Stelle aus De civitate Dei. Wenn Petrarca in seinen lateinischsprachigen Texten das Konzept anspricht, wird der Rekurs auf Augustin noch deutlicher (vgl. etwa De remediis utriusque fortunae 1, 37: „Magna tamen ingenia nec nummis delectari nec omnino alia quam virtutis pulchritudine tangi decet, nisi ut per haec brevia quae delectant oculos, experrecta mens, in amorem ac desiderium aeternae pulchritudinis rapiatur, quo de fonte, quicquid est pulchrum prodit.“ [zitierte Ausgabe: Opera omnia, 3 Bde., Basel 1554, Bd. 1, S. 1-254, hier: S. 45]). 40 „Ista [Laura] […] cui omnia debere te asseris, ista te peremit […] Ab amore celestium elongavit animum et a Creatore ad creaturam desiderium inclinavit […] [et] pervertit ordinem.“ (Secretum, in: F. P., Prose, hrsg. v. G. Martellotti, P. G. Ricci, E. Carrara u. E. Bianchi, Milano/Napoli 1955, S. 21-215, hier: S. 146 f.; Bezugspunkt bei Augustin ist De vera religione XXXVI (67) und XXXVII (68). Der Gedanke, daß ein entsprechendes Vertauschen der hierarchischen Positionen von Schöpfer und Geschaffenem ,fluchwürdig‘ [,dignus morte‘]
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Obwohl der fiktive Augustinus, den Petrarca im Secretum zum Gesprächspartner seines literarischen Widerparts namens Franciscus macht, diesem ohne Umschweife sagt, daß solche ,Perversion‘ bedeute, den Weg ins ewige Verderben zu gehen, und ihn beschwört, auf den rechten Weg zurückzukehren, künftighin wieder ,alles, was den Augen begegne oder dem cogitierenden Geist, auf den Einen zu beziehen‘ 41, sei, gehört allerdings zum Grundinventar der Glaubenssätze der neuen Religion und auch ihrer abrahamitischen Vorstufe [vgl. Rom 1, 21-32; dort auch das Zitat]). - Das Secretum und den Canzoniere in ein Verhältnis wechselseitiger Erhellung zu rücken, ist seit langem Gemeingut der Petrarca-Philologie; ungeachtet dessen sei auf die Entsprechung der zitierten Stelle hingewiesen, die sich in „Quel’antiquo mio dolce empio signore“ findet: „Questi [Amor] m’a` fatto men amare Dio/ ch’i’ non deveva, et men curar me stesso:/ […]“ (V. 31 f.); Amor repliziert, daß dem Sprecher eine falsche Sicht Lauras eigen sei und er deshalb die in der Schau des irdisch Schönen angelegten Möglichkeiten nicht habe nutzen können („Mai nocturno fantasma/ d’error non fu sı´ pien com’ei ver’ noi:/ ch’e` in gratia, da poi/ che ne conobbe, a Dio et a la gente.“ [V. 131-134; anschließend die bei uns in Anm. 39 zitierte Erläuterung des ,rechten‘ Verständnisses des irdisch Schönen]); weiterhin zentral für den diskutierten Zusammenhang sind die Verse 91-108 von „I’ vo pensando“. - Einen Höhepunkt der anachronistischen Banalisierungen dessen, was Petrarca in „Per mezz’i boschi“ letztlich sagt, stellen die Einordnungen bei F. De Sanctis dar, die kommentarlos zitiert seien: „Va errando per la selva Ardenna, e col pensiero a Laura gli parea di veder non pur lei, ma con essa insieme le sue amiche. Niente di piu` poetico che questo gioco d’immaginazione. Un lettore prosaico potrebbe riflettere: - Forse erano alberi, e li prendea per donne -; e la situazione caduta nella realta` diviene ridicola per il contrasto subitaneo fra il parere e l’essere: - Parevano donne, ed erano alberi -. Ma il bello e` che il Petrarca racconta la sua avventura in modo da metter proprio in rilievo questo contrasto, ed eccitare senza volerlo un riso irresistibile: ,Ch’i’ l’ho negli occhi; e veder seco parme/ Donne e donzelle, e sono abeti e faggi.‘ - ,O pensier miei non saggi!‘, dice il poeta, disposto a rider di se stesso.“ (Saggio critico sul Petrarca, hrsg. v. N. Gallo, Torino 1983 (11952), S. 119). De Robertis’ (implizite) Kritik an De Sanctis, das „ch’i’ l’ho negli occhi“ sei eine eher ,psychologisch‘ denn ,poetisch‘ zu verstehende Formulierung („psicologico prima che poetico“), könnte von Gewinn sein, wenn man das vorneuzeitliche Konzept der Psyche einbezöge; es steht allerdings in Frage, ob De Robertis die Bemerkung in einem solchen Sinne gemeint hat („La traversata delle Ardenne“ [s. Anm. 1], S. 222). 41 „Quicquid vel oculis vel animo cogitantis occurrit, ad hoc unum refer.“ (Secretum, S. 208; wir verzichten bewußt auf eine Übersetzung des ,cogitare‘, da der Terminus bekanntlich auch in Petrarcas Liebes-Diskurs seinen Stellenwert hat). Das im Secretum nur ganz abstrakt gefaßte Konzept hat Petrarca in De otio religiosorum konkreter entwickelt, und eben auch für die Schönheiten der Natur. Was der Sprecher von Canz. CLXXVI tut, bezeichnet er dort als „insania“. Das ,rechte‘ Verständnis der Schönheit des Geschaffenen wird mit der folgenden rhetorischen Frage umrissen: „Si nitidum solis iubar et apricas terras et florentes ramos et prata virentia […], si, id quod omnibus maius est, dilecti faciem cernere et colloqui dulce est, quale illud spectaculum erit, unde ceteris contigit ut placerent? Quicquid oculos aut aures, quicquid omnino sensus aut animum delectat, a quo, precor, idipsum ut delectaret habuit, nisi ab illo qui delectabilia cunta non tantum supereminet, sed creavit […]?“ (in: Opere latine [s. Anm. 36], Bd. 1, S. 567-809, hier: S. 774).
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beharrt Franciscus auf seiner Position, weniger allerdings, weil er es nicht vermöchte, seinen Affekt zu zügeln, sondern aus dem Verlangen nach Ruhm (gloria), den tatsächlich er sich mit seiner Art von Liebesdichtung bleibend erworben hat 42. So erscheint denn jene ,Deviation‘, die sich der Sprecher des Canzoniere am Ende des Zyklus attestiert 43, nicht als eine erst aus der Rückschau erkannte, sondern als eine immer schon bewußte. Richtiger: Es ist konstitutives Merkmal des hier herangezogenen Sonetts, vielleicht aber der Sammlung als Ganzes, die Versprachlichung des Affekts vermittels eines Verfahrens zu organisieren, das die Geliebte als Zentrum des Kosmos, genauer, des von diesem Sprecher gesehenen Kosmos erscheinen läßt, welcher sich mit der zweifachen, der grundsätzlichen und der konkreten Besetzung seiner Perspektive, einen ganz singulären, insofern aus einer historisch späteren Perspektive dann auch als ,subjektiv‘ aufzufassenden Weltbezug zuschreibt. 1.3. Die vorgeschlagene Deutung des zentralen Verfahrens von „Per mezz’i boschi“ bliebe brüchig, gewännen nicht auch die weiteren Elemente des Gedichts aus einer solchen Sicht eine Dimension: Wenn in V. 4 das höch-
42 Zu des Franciscus Insistieren auf seiner Haltung und zum oben genannten Grund dafür s. Secretum, S. 188-214; es ist dieser Aspekt, der sich als Indiz einer genuin humanistischen Re-Interpretation der gesamten Figur begreifen läßt; denn die traditionelle Antwort auf die Frage nach der Ursache des Verharrens auf der beseelten Stufe der Seinsskala ist diejenige, die auch der textimmanente Sprecher des Canzoniere suggeriert, der Verweis auf die Macht der Liebe (in den theologischen Texten: der concupiscentia). Diese Differenz zwischen Secretum und Canzoniere dürfte im übrigen das stärkste, da von Petrarca selbst artikulierte Argument für den Status des Canzoniere als eines Texts sein, der alles, eben nur nicht ,Dokument‘ ist - eine Annahme, die, obwohl theoretisch weitgehend akzeptiert, in der Praxis der Auslegung weithin vernachlässigt wird. Konsequent durchgeführt würde sie verpflichten, sämtliche Aussagen und auch einzelne Wörter der Sammlung, die bislang, wie etwa der vermeintliche Ardenner Wald von „Per mezz’i boschi“, als ,mimetisch‘ gedeckt keiner weiteren Beachtung mehr wert waren, auf die Manifestationen desjenigen ,champ discursif ‘ zu beziehen, in dem das Konzept gloria seinen Ort hat, das literarische (welches allerdings, nota bene, für diesen Autor nicht mit dem identisch war, was eine bis heute übliche Praxis der Kommentierung zumeist unreflektiert unterstellt). (Zur concupiscentia als Ursache der oben näher umrissenen Verfehlung s. die Hinweise bei E. Gilson, La Philosophie au Moyen aˆge. Des origines patristiques a` la fin du XIVe sie`cle, Paris 21962 (11944), S. 441-443, bes. S. 443.) 43 S. dazu v. a. die Verse 6 und 7 von „I’ vo piangendo i miei passati tempi“ („Re del cielo invisibile immortale,/ soccorri a l’alma disvı¨ata et frale,/ […]“).
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ste Gestirn als Metapher für Laura in Anspruch genommen wird, so hat dies aus der hier ins Spiel gebrachten Perspektive erst dadurch seine Tragweite, daß in der Natur-Allegorese seit Clemens von Alexandrien und mit Verbindlichkeit für diese Zeit die Sonne für den christlichen Gott selber steht 44. Die Substitution gewinnt eine zusätzliche Pointe, wenn mit der Formulierung „ch’a` d’amor vivo i raggi“ explizit auf die seit der Spät-Antike präsente, bei Thomas von Aquin zitierte und von Dante zu allgemeiner Kenntnis gebrachte Vorstellung Gottes als eines Liebe irradiierenden Wesens Bezug genommen wird 45. ⫺ Der Wald, in dem der Sprecher sich bewegt und von dem keiner der Kommentatoren glaubt, seinen Lesern verschweigen zu dürfen, es sei der Ardenner Wald 46, gewinnt in Ansehung des basalen Verfahrens des Texts zum einen, des effektiv Gesagten zum anderen, einen neuen Akzent. Wenn diese Dante-Reminiszenz, die letztlich ein wörtliches Zitat ist 47, im Unter44 Bezugspunkt ist Mal 4, 2 („Et orietur vobis timentibus nomen meum sol iustitiae […]“); zur Auslegung auf die Geburt Christi hin s. in dieser Zeit etwa Thomas von Aquin, Reportationes super evangelium Johannis, cap. 9, 264. Petrarca bezieht sich auf die Vorstellung von Christus als Sonne u. a. in De otio religiosorum (s. Anm. 41), S. 634-636 u. S. 658, in Familiares 6, 5, 13, v. a. aber in Canz. CCCLXVI, V. 2 f. - Im Hinblick auf die weiteren unten angesprochenen, vor allem aber auf diese Metapher ist natürlich immer ein Vorbehalt zu machen. Die Sonne als Bild für die Geliebte ist dem Liebes-Diskurs traditionell, ohne daß dies andere als rühmende Implikate hätte. Was der Petrarkischen Indienstnahme ihr Profil verleiht, ist der (textimmanente) Kontext, näherhin die dem Sonett eingeschriebene kohärente Struktur sekundärer Verweise. 45 Vgl. u. a. Summa theologiae Ia, qu. 93, ar. 2 (dort auch die theologisch exakte Eingrenzung des Geltungsbereichs dieser und ähnlicher Metaphern). - Einzelne Formulierungen bei Dante liegen so nah an den bei Petrarca gewählten, daß auch diese Dimension keinem zeitgenössischen Leser entgangen sein sollte; man vergleiche insbes. Par. 33, V. 77 („vivo raggio“) sowie 10, V. 83 f. („lo raggio de la grazia, onde s’accende/ verace amore“) (viele weitere ähnliche Stellen). 46 Auch in dieser Hinsicht markiert die ,Lectura‘ von De Robertis einen Gipfelpunkt der absonderlichen Identifikationen, zu denen ein vorbehaltloser Biographismus führt; zu dem in V. 10 f. genannten ,Murmeln der Wasser‘ läßt sich der Zitierte folgendermaßen ein: „complice forse la piu` recente impressione o raffigurazione delle belle colognesi che a maniche rimboccate ,candidas in gurgite manus ac brachia lavabant, nescio quid blandum peregrino murmure colloquentes‘ “. („La traversata delle Ardenne“ [s. Anm. 1], S. 223; das Zitat aus Familiares 1, 5, wo Petrarca über seine Reise in die nördlichen Gefilde berichtet.) 47 Auf die Dante-Reminiszenz der zitierten Stelle, v. a. aber auf ihre Indienstnahme als einer „bewußte[n] Gegenfolie“ hat Noyer-Weidner hingewiesen („Was bedeutete Dante für die beiden anderen ,Kronen von Florenz‘?“ [s. Anm. 2], S. 196-198 [Zitat: S. 198]). - Es gibt selbstverständlich auch in der antiken Literatur, v. a. bei Vergil, düstere und unwirtliche Wälder in Fülle. Sich mit dem entsprechenden Hinweis zu begnügen, wenn es um die „ombrosa selva“ bei Petrarca geht (König, „Petrarcas Landschaften“ [s. Anm. 2], S. 275 f.; s. auch die nicht ganz durchsichtigen Formulierungen in Anm. 2 auf S. 252), ist nicht nur
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schied zu zahlreichen anderen nicht dem Prozeß der Umarbeitung zum Opfer fiel, so vielleicht deshalb, weil auch diese ,selva selvaggia‘, wie seit Gregor dem Großen und Augustinus üblich 48, für eine Situation der Gefährdung und der Verirrungen, des Verlusts der rechten Welt- und Lebensorientierung stehen soll 49. ⫺ Die ,Gefahren‘, die in einem ,wilden Wald‘ drohen, finden ebenfalls im Kontext der Natur-Allegorese ihren Platz; diese gehen naheliegenderweise in der betreffenden Zeit von den nicht eigens genannten wilden Tieren aus, die im Anschluß an Jer 5, 4⫺6 50, und in dieser Zeit etwa bei Dante, aber auch bei Petrarca selbst 51
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aus dem genannten Grund unbefriedigend, sondern auch, weil zu Petrarcas Zeit die beiden Traditionsstränge, für die aus heutiger Sicht Dante zum einen, Vergil zum anderen stehen, nicht als distinkt begriffen wurden. Im grundsätzlichen wäre hier zu verweisen auf den von Petrarca passim vertretenen Gedanken einer ,Aufhebung‘ der Leistungen der paganen Antike im christlichen Denken, und im konkreten auf Texte wie die Aeneis-Allegorese von Bernardus Sylvestris, in der es etwa zu der Formulierung „in […] silvam“ (Aeneis VI, 179) heißt: „in collectionem temporalium bonum, umbrosam et inviam quia non est nisi umbra.“ (G. Riedel [Hrsg.], Commentum Bernardi Silvestris super sex libros Eneidos Vergilii, Greifswald 1924, S. 62; s. dazu auch das unten von uns gegebene Seniles-Zitat [S. 80].) Vgl. v. a. Confessiones X, 35 (56); zur Allegorese des Waldes s. insgesamt H.-J. Spitz, Die Metaphorik des geistigen Schriftsinns. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends, München 1972, S. 130-133. Zum Verhältnis zwischen Petrarkischem und Danteschem Dichten, das sich nicht zuletzt in der je diversen Indienstnahme der Natur-Metaphorik dokumentiert, s. auch K. Stierle, „,Di pensier in pensier, di monte in monte‘. Landschaftserfahrung und Selbsterfahrung in Petrarcas Canzoniere “, Italienisch H. 22/1989, S. 21-34, bes. S. 24 f. - Im Anschluß an Castelvetros Hinweis auf Ps 22, 4 („Nam, etsi ambulavero in medio umbrae mortis, non timebo mala, quoniam tu mecum es. Virga tua, et baculus tuus, ipsa me consolata sunt.“) ignoriert ein Teil der Kommentatoren die Kontexte, auf die das Sonett referiert, nicht völlig. Repräsentativ für die wenig profilierte Einordnung der entsprechenden Momente ist Zingarellis Bemerkung „vediamo percio` la fusione del pensiero religioso con l’amore“ (Le Rime [s. Anm. 22], S. 913). Zu Castelvetros Hinweis wäre zu bemerken, daß die Allegorese der Orte der Düsternis in der Tat u. a. auf diesen Bibelvers zurückgeht. Veranschlagt man die gesamte Bedeutungsstruktur des Gedichts, hat die Vermutung auf einer sehr abstrakten Ebene also recht. Im konkreten allerdings knüpft Petrarca an andere, historisch spätere, vor allem aber detailliertere Praktiken der Natur-Allegorese an. So sind denn im einzelnen die Gemeinsamkeiten mit Ps 22 eher gering. Der metaphorische Stellenwert des Naturinventars („virga“; „baculus“) ist ein ganz anderer als in Canz. CLXXVI, und das Motiv eines tatsächlichen, ,objektiven‘ Schutzes vor den Gefährdungen gibt es, wie schon erläutert, bei Petrarca gerade nicht. „Forsitan pauperes sunt et stulti, ignorantes viam Domini, iudicium Dei sui […] Idcirco percussit eos leo de silva, lupus ad vesperam vastavit eos […]“. Vgl. Inf. 1, V. 31-60. Petrarca zitiert die Allegorie u. a. in De otio religiosorum (s. Anm. 41) („[ …] nichil erit ab adversario formidandum. Nunquam tamen desinet tanquam leo rugiens lupusque famelicus circum ovilia vestra versari: obiciet ille vobis in fide scrupulos, quibus pedes ad salutem properantes vulneret, tardet, impediat.“ [S. 614-616]).
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als Allegorien der Sünden und Laster gedeutet werden. Sich sorglos in einem solchen Raum zu bewegen, unter Verzicht selbst auf die von den anderen mitgeführten Waffen, welch letztere in allegorischem Verständnis auf die Panoplie des Christenmenschen verwiesen 52, faßt in nuce, daß dieser Sprecher mit der traditionellen Beurteilung von amor als ,Bedrohung‘ des (ewigen) Lebens gebrochen hat. ⫺ Das in den Versen 7⫺14 entworfene Naturtableau nimmt, wie schon angedeutet, unverkennbar auf das Inventar des locus amoenus Bezug. In einer Skizze, die sich weitgehend auf nicht-gedrucktes Material stützt, hat W. Stammler gezeigt, daß in der hier interessierenden Zeit im Anschluß an Cant 4, 12 die Allegorese des locus amoenus als eines Orts geistiger ,Lust‘ (piacere), näherhin der Begegnung mit dem Göttlichen, allgemein verbreitet war. Besonderes Interesse verdient die Beobachtung, daß sich auch das Verfahren personaler Identifikation finden läßt, und zwar im Hinblick auf jene Maria, von der der Sprecher des Canzoniere in CCCLXVI sagt 53, daß er es um Lauras willen versäumt habe, ihr die gebührende Verehrung entgegenzubringen 54. Und wenn er, wie es im letzten Terzett heißt, sich an diesem Ort, der zudem ein Ort der umbra, der Abwesenheit von 52 „Propterea accipite armaturam Dei, ut possitis resistere in die malo, et in omnibus perfecti stare. State ergo succinti lumbos vestros in veritate, et induti loricam iustitiae […] in omnibus sumentes scutum fidei, in quo possitis omnia tela nequissimi ignea extinguere; et galeam salutis assumite, et gladium spiritus […]“ (Eph 6, 13-17). Petrarca verwendet das Konzept des rechten, christlichen Lebens als einer ,militia‘ passim, so etwa in Familiares 10, 3, 3 f. und 25 und in Familiares 16, 2, 4. Die detaillierteste Bezugnahme auf die Vorstellung findet sich in De otio religiosorum („Circumspicite semper et velut in acie galeati loricatique strictis gladiis state, nec bellatores egregios frangat labor, qui quantuscunque sit, premio par non erit […] hostes vestros nostis optime […] Occurrite paratibus impiis et vitate tria in primis hostium atque armorum genera, mundi laqueos, carnis illecebras, demonum dolos.“ [S. 602]). - Es ist nur eine weitere Facette der biographistischen Reduktionismen, denen die Deutung dieses Sonetts gemeinhin unterliegt, daß die ,Gefährdungen‘ ohne weiteres auf die kriegerischen Auseinandersetzungen bezogen werden, die sich in dem Jahr, als Petrarca den Ardenner Wald durchquerte, dort zugetragen haben. In dem Sonett ist allerdings nicht die Rede von den Gefahren, die von Bewaffneten drohen, sondern von Gefahren, die selbst Bewaffneten drohen. 53 Mit diesem Hinweis ist auch bereits gesagt, was dagegen spricht, die zumal in dieser Zeit allgemein verbreitete säkularisierte Version der Allegorie des locus amoenus, die Deutung als Liebesgarten, als Referenzfolie des Sonetts zu erwägen: Der Text, verstanden als Zyklus, macht die hier dem singulären Gedicht unterstellte Bedeutungsdimension explizit. 54 „Maria wird direkt zum Garten, wie es in deutschen Predigten und Dichtungen bis zum Ende des Mittelalters ertönt […]“ („Der allegorische Garten“ [1960], wiedergedruckt in: Ritter [Hrsg.], Landschaft und Raum in der Erzählkunst [s. Anm. 25], S. 248-261 [Zitat: S. 249 f.]). Die germanistische Materialbasis ist in Ansehung der Transnationalität zumal des allegorischen Diskurses in diesem Kontext nicht von Belang.
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Licht, allegorice, der Gott- und Wahrheitsferne ist 55, gefällt, verweist dies darauf, daß er die Fehlorientierung, der er mit der Substitution Gottes durch die Geliebte anheimgefallen ist, sei es in ihrer Tragweite ignoriert, sei es bewußt bejaht.
2. Die genannten und mögliche weitere Kontexte, die der Text aufruft, sind hermeneutisch allesamt als Potentialitäten zu begreifen; die oben angedeuteten nehmen auf diejenigen Bezug, die der Zeit vertraut waren und die Petrarca selbst, sei es im Canzoniere, sei es in anderweitigen Schriften, in explizit allegorischer Form verwendet 56. Dies mag unserem Vorschlag die wünschenswerte externe Substantiierung aus einer Perspektive ex post verschaffen. Für den Kern des bei Petrarca Intendierten allerdings sind sie nicht von unerläßlichem Belang. Sie sind in der Lage, dem in dem Sonett explizit gemachten Konzept vom Kosmos als vestigium Laurae ergänzende und in ihrer Suggestivität auch ästhetisch reizvolle Facetten hinzuzufügen, die bei einer modernen Lektüre ausschöpfen zu wollen auf nichts anderes hinausliefe als auf ein Ignorieren des Faktums des Zeitenabstands. Es ist vor allem die der Zeit selbstverständliche Anschauung von Natur und Schöpfung als eines vestigium Dei, die der vorgeschlagenen Deutung ihren Horizont verleiht. Ungeachtet dessen sei die Frage gestellt, ob in Petrarcas Werk das so verstandene Sonett „Per mezz’i boschi“ eine isolierte Struktur darstellt oder aber Erscheinungsform eines umfassenderen Phänomens ist. Die Frage differenziert sich nach zwei Aspekten, zum einen in den der Präsenz einer entsprechenden, auf die Spezifik des im Canzoniere modellierten Affekts abhebenden Natur-Allegorese in anderen Texten des Autors, zum anderen in den analoger Verfahren in dem Gedichtzyklus selbst, Verfahren näherhin, die eine ähnliche Bezugnahme auf vorgängige Diskursschemata mit entsprechend gleichgerichtetem Interesse dokumentieren. 2.1. Es bedarf nicht des Hinausgehens über das Textcorpus des Canzoniere, um die explizite Präsenz des auf den Affekt bezogenen zeichenhaften 55 Die Opposition umbra/verum begegnet explizit in Canz. CCLXIV, V. 72. 56 S. im einzelnen die Nachweise o., Anm. 36, Anm. 44, Anm. 51, Anm. 52 und Anm. 55 sowie u., S. 77 mit Anm. 57, S. 79 mit Anm. 64 und S. 80 mit Anm. 65.
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Naturverständnisses bei Petrarca nachzuweisen. In dem Gedicht LIV, einem Madrigal mit dem Incipit „Perch’al viso d’Amor portava insegna“, entwirft der Sprecher seine Lebensgeschichte in allegorischer Encodierung. Das innamoramento wird zur Begegnung mit einer „pellegrina“ (V. 2); der Sprecher folgt ihr („Et lei seguendo su per l’erbe verdi“ [V. 4]). Dann jedoch ertönt ,von fern eine erhabene Stimme‘ mit den Worten: „Ahi, quanti passi per la selva perdi!“ (V. 6). Nachdenklich („pensoso“) hält der Angeredete im Schatten eines „bel faggio“ inne (V. 7 f.), erkennt, als er um sich schaut, wie gefahrenvoll der Weg ist, den er geht, und kehrt, fast schon ist es Mittag, um 57. Die basale Metapher, die das Gedicht zu einer Allegorie (metaphora continuata) ,ausspinnt‘, ist offensichtlich die der ,Bildlichkeit des Weges‘ 58, und zwar in ihrer christlichen Variante. Das Leben ist als eine Reise („viaggio“) verstanden, näherhin als Pilgerreise, womit auch bereits das angestrebte Ziel benannt ist. Der Affekt ist als eine der drohenden Gefahren begriffen, aus denen der Sprecher, angestoßen durch eine göttliche admonitio und kraft seiner Reflexion, sich noch rechtzeitig zu lösen vermag. Wenn auch die für das Sonett „Per mezz’i boschi“ ins Spiel gebrachte Decodierung des Waldes und der dort drohenden Gefahren durch den Text dieses Madrigals eine weitere Stützung erfährt, wird man Entsprechendes für die anderen Natur-Elemente, die in diesem letzteren Gedicht gleichfalls begegnen, nicht ohne weiteres behaupten können. Zumindest scheint der allegorische Horizont der „erbe verdi“ und des „bel faggio“ nicht eindeutig markiert. Vorerst gilt festzuhalten, daß das allegorische Verständnis der ,Reise‘ durch eine zivilisationsferne Natur dem Canzoniere im Prinzip immanent ist, und daß weiterhin die Decodierung der potentiell polysemen Allegorie dort, wo sie im Text selbst begegnet, den Bahnen folgt, die hier im Hinblick auf das Sonett entwickelt wurden. Blickt man nochmals auf das Madrigal und auf das Sonett zurück, fällt ein Moment unmittelbar auf, das die Versprachlichung des Szenarios betrifft: Sämtliche Naturelemente müssen sich mit einer generischen 57 Aus Gründen der Konvenienz sei das Gedicht hier im ganzen zitiert: „Perch’al viso d’Amor portava insegna,/ mosse una pellegrina il mio cor vano,/ ch’ogni altra mi parea d’onor men degna.// Et lei seguendo su per l’erbe verdi,/ udı´’ dir alta voce di lontano:/ Ahi, quanti passi per la selva perdi!// Allor mi strinsi a l’ombra d’un bel faggio,/ tutto pensoso; et rimirando intorno,/ vidi assai periglioso il mio vı¨aggio;// et tornai indietro quasi a mezzo ’l giorno.“ Eine parallele Konstruktion charakterisiert Canz. CCXIV. 58 Zu Geschichte und Funktion dieser Allegorie vgl. ausführlich W. Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970.
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Apostrophierung begnügen. Diese Distanznahme zu möglicher Konkretion ist im übrigen für die Intention des Texts nicht ohne Belang. Petrarca geht es nicht darum, eine wie auch immer dialogische Replik auf das System der Natur-Allegorese im einzelnen zu formulieren 59, es geht ihm vielmehr um eine Replik auf das daran gebundene Weltmodell. Eine Ausnahme von dieser Formulierungsinstruktion des Referierens auf die Stufen der Seinsskala als solche bilden die Bäume („abeti et faggi“ bzw. „un bel faggio“). Der Referenztopos schreibt das Element „Mischwald“ vor 60. Die Tradition bietet Belege für die eine wie die andere Baumart 61. Die konkreten Besetzungen bei Petrarca wechseln. Bemerkenswert ist, daß in fast allen Fügungen diejenige Baumart begegnet, die in dem Madrigal als einzige präsent ist 62. Die Konsultation der gängigen allegorischen Enzyklopädien scheint hier nicht weiterzuführen 63. E. Gilson hat in diesem Zusammenhang einen Hinweis gegeben, der mittlerweile in die Kommentierung von Pe-
59 Hinreichendes Beispielmaterial für das Verfahren der Allegorese einzelner Gesteins-, Pflanzen- und Tierarten, das in Spät-Antike und Hoch-Mittelalter die aus moderner Sicht z. T. absonderlichsten Verästelungen erfahren hatte, findet sich bei Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik (s. Anm. 33), S. 93-123 (dort auch die wesentlichen Quellentexte und die neuere Forschungsliteratur). 60 Zitat: Curtius, „Rhetorische Naturschilderung“ (s. Anm. 25), S. 76. 61 Vgl. S. 75 f. (und passim). 62 „Faggio“ bzw. „faggi“ begegnet in Canz. X, V. 6; XXIII, V. 117; L, V. 33; LIV, V. 7; CXXIX, V. 42; CXLVIII, V. 5; CLXXVI, V. 8. Die Gedichte X, CXLVIII, CLXXVI haben zusätzlich „abete“ bzw. „abeti“, die zwei erstgenannten als dritte Baumart „pino“ (welche sich isoliert in CXXIX, V. 27 findet) und nur das zweite auch noch „genebro“; CCCLXIII, V. 4 führt zwei Baumarten ein, die ansonsten in der Sammlung keine Erwähnung finden, „querce“ und „olmi“ (der ,lauro‘ stellt ein anders gelagertes Problem dar). 63 Aus dem bei Stammler angeführten Material, das in dieser Hinsicht repräsentativ ist, erhellt, daß die Allegorese von Blumen, Kräutern, Obst- und ,exotischen‘ Bäumen eine gängige Praxis ist. Keine Belege konnten wir finden für eine spezifische Allegorese gängiger Laubbäume; sie vertreten, wenn sie begegnen, die Variante ,Baum‘ des Vegetativen schlechthin und verweisen in dieser A-Spezifik naheliegenderweise immer direkt auf Gott-Christus (vgl. dazu die unter dem Index-Begriff ,arbre‘ aufgeführten Stellen bei Davy, Initiation a` la symbolique romane [s. Anm. 37]; s. weiterhin Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik [s. Anm. 33], S. 116-123 sowie die Stichwörter ,arbor‘, ,abies‘ und ,quercus‘ in derjenigen allegorischen Enzyklopädie, die, so Ohly, den „Endpunkt d[er] dem Mittelalter eigene[n] lexikalische[n] Tradition“ repräsentiert [Hieronymus Lauretus, Silva allegoriarum totius sacrae scripturae (Barcelona 11570; Köln 101681; Nachdruck München 1971); Zitat Ohly: „Einleitung“, in: F. O., Schriften zur mittelalterlichen Bedeutungsforschung (s. Anm. 31), S. IX-XXXIV, hier: S. XIII]). Der Grund für diesen Sachverhalt ist vermutlich darin zu sehen, daß die entsprechenden Bäume ,literal‘ zu wenig spezifisch sind, als daß ihre Allegorese auf Spezifika hin (bestimmte Tugenden, Laster, o. ä.) hätte plausibel erscheinen können.
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trarcas Prosa-Texten, nicht aber, soweit überschaubar, in die des Canzoniere eingegangen ist: Im zweiten Buch seines Lobs der Einsamkeit (De vita solitaria) bezieht sich Petrarca auf dasjenige, was Bernhard von Clairvaux zu dem Thema gesagt hat. Dieser, der in seiner Zeit an Wissen und Bildung von niemandem überboten worden sei, habe stets hervorgehoben, daß er dies umfassende Wissen nicht einer Ausbildung im geläufigen Sinn, vielmehr der einsamen meditatio in der Natur verdanke („in silvis et in agris“) und er keine anderen Lehrmeister gehabt habe als Eichen und Buchen („preter quercus et fagos“). ⫺ Für Petrarca, der ,wünscht, ähnliches von sich sagen zu können‘, bestand kein Zweifel, welche Lehre im Konkreten es war, die Bernhard in der Natur empfangen hatte, auf wen oder was ihn die Eichen und Buchen verwiesen hatten. Und das Erkennen der Schönheit des Göttlichen wiederum ließ bei jenem sodann einen Wunsch, einen ,Impetus‘ entstehen: den nach der nicht nur vermittelten, sondern unverhüllten Schau und Präsenz desjenigen, der sich in der Natur symbolisch enthüllt („per solitudinem celum petens“) 64. Den Sprecher des Canzoniere haben die Bäume des einsamen Waldes („abeti et faggi“) die vermittelte Präsenz einer anderen Instanz schauen 64 Der Hinweis bei Gilson in der kurzen Abhandlung „Sur deux textes de Pe´trarque“, Studi petrarcheschi Bd. 7/1961, S. 35-50, hier: S. 36-42; Gilson weist nach, daß sich Petrarca mit der zitierten Stelle nicht auf einen Original-Text von Bernhard, sondern auf eine Biographie aus der Feder von dessen Zeitgenossen Guillaume de Saint-Thierry bezieht. Zum Rang der Lehren des Bernhard von Clairvaux für die Generalisierung des Verständnisses der Natur als Zeichen des Göttlichen s. Ohly, „Vom geistigen Sinn des Wortes im Mittelalter“ (s. Anm. 37), S. 19, Davy, Initiation a` la symbolique romane, S. 150 sowie Brinkmann, Mittelalterliche Hermeneutik, S. 85 mit Anm. 308. - Die Stelle in De vita solitaria, auf die wir uns oben beziehen, lautet folgendermaßen: „Solebat enim dicere: omnes se quas sciret literas, quarum nescio an alius sua etate copiosior fuerit, in silvis et in agris didicisse, non hominum disciplinis sed meditando et orando, nec se ullos unquam magistros habuisse preter quercus et fagos. Quod ideo libenter refero, quia siquid et michi nosse datum esset, idem de me vere dicere vellem, et nisi fallor possem.“ (in: Opere latine [s. Anm. 36], Bd. 1, S. 261-565, hier: S. 438; alle weiteren oben gegebenen Zitate ebd.; die Herausgeber verweisen im Anmerkungsapparat auf die von Gilson identifizierte Quelle.) - De Robertis, der es sich nicht nehmen läßt, auf entlegene, bestenfalls vage an das bei Petrarca Gesagte anklingende ,Parallelstellen‘ zu verweisen, soweit es eben antike Parallelstellen sind, berücksichtigt die Studie von Gilson nicht, was um so erstaunlicher ist, als der Bd. 7 der Studi petrarcheschi eine Art Grundbuch der neueren Petrarca-Forschung darstellt. Man muß das Faktum, zumal angesichts von De Robertis’ Hinweis auf die Existenz der Praxis der Natur-Allegorese bei Petrarca selbst (s. u., Anm. 65), als Indiz einer von der Humanismus-These induzierten Perspektiven-Beschränkung einordnen. - Auch König, der im Bemühen um die Demonstration philologischer eruditio noch um einiges über De Robertis hinausgeht, entgeht der oben skizzierte Zusammenhang.
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und deren unvermittelte Gegenwärtigkeit herbeiwünschen lassen. Wie dieser ,Weg‘ in den Termini jener Natur-Allegorese zu beschreiben wäre, die allen zitierten Texten den Hintergrund verleiht, hat Petrarca schließlich selbst in den Seniles explizit gemacht: Sylva uero uita haec, umbris atque erroribus plena, perplexisque tramitibus atque incertis, et feris habitata, hoc est, difficultatibus et periculis multis atque occultis, infructuosa et inhospita, et herbarum nitore et cantu auium et aquarum murmure, id est, breui et caduca specie, et inani ac fallaci dulcedine rerum, praetereuntium atque habitantium accolarum oculos atque aures interdiu leniens ac demulcens […] 65
Alle Landschaftselemente, die sich in „Per mezz’i boschi“ finden, kehren hier wieder, mit Ausnahme der ,Bäume‘. Deren fundamentale Untauglichkeit für die hier durchgeführte Allegorese ad malam partem verdankt sich dem Faktum, daß von den Elementen der Natur dieses einen speziellen Rang in den Geschichten desjenigen Kults hat, der dem mittelalterlich-allegorischen Verständnis der Natur das Profil verleiht. Der Baum verweist direkt auf die Erlösungstat Christi und damit auf das zentrale Wissen, das es in dieser Welt und aus der ,Natur‘ zu gewinnen gilt. Dies ist der Grund, der Bernhard den Bäumen die Auszeichnung zuteil werden läßt, sie als quasi unmittelbare Zeichen des Göttlichen zu qualifizieren. Und aus der Rückschau gewinnt dann auch das Faktum, daß der „in sylva“ verstrickte Sprecher des Canzoniere die Gestalt der Geliebten in diesem, aber keinem anderen Stratum der Natur wiedererkannte, seine am meisten pointierte Facette 66. 65 „Fran. Petrarcha Frederico Aretino De quibusdam fictionibus Virgilii“ (Sen. 4, 5, in: Opera omnia [s. Anm. 39], Bd. 2, S. 867-874, hier: S. 869). Der Brief ist im ganzen einschlägig für die bei uns diskutierte Fragestellung, v. a. auch im Hinblick auf den Gegenstand, den Petrarca dort erörtert („de quibusdam fictionibus Virgilii“): Antiken-Zitat und christlichallegorische Weltauslegung schließen einander aus Sicht des Diskurses dieser Zeit nicht aus (s. dazu auch bereits o., Anm. 47). - Im Unterschied zu der anderen bei uns genannten post-antiken Referenzfolie entgeht De Robertis diese nicht, aber er tut sie als für die Deutung unerheblich ab („La testimonianza della Senile non puo` assumersi ovviamente a norma d’interpretazione […]“ [„La traversata delle Ardenne“ (s. Anm. 1), S. 224]). Man vermißt eine Begründung für diese Beurteilung, nicht zuletzt angesichts des Faktums, daß Petrarca bekanntlich im Prooemialsonett des Canzoniere auf die Substanz der zitierten Stelle referiert („[…] e ’l pentersi, e ’l conoscer chiaramente/ che quanto piace al mondo e` breve sogno.“). 66 In „Per mezz’i boschi“ selbst ist die Identifikation der Gestalt der Geliebten mit einem Baum metonymisch verschlüsselt, indem im Kontext einer stilnovistisch inspirierten (imaginären) Begegnungssituation die Metapher nur für die Begleiterinnen Lauras explizit gemacht wird. In anderen Gedichten findet sie sich ausdrücklich, am deutlichsten vielleicht in den bereits zitierten Versen aus „Di pensier in pensier, di monte in monte“ (s. Anm. 30); dort sorgt im übrigen die Zuspitzung der Metapher auf den ,tronco‘ für eine noch größere Nähe zu der oben erläuterten orthodoxen Allegorese („I’ l’o` piu´ volte […] veduto viva […] nel
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2.2. Petrarcas ,deviatorische‘ Bezugnahme auf das Verständnis der Natur als einer imago Dei 67 gewinnt ihre ganze Relevanz erst dadurch, daß vom Verfahren her ein solches Referieren auf die Bilderwelten des offiziellen Diskurses textorganisierende Qualität zu haben scheint. Es kann in diesem Rahmen auf den entsprechenden Aspekt nur hingewiesen werden: Nicht nur die Vorstellung des liber naturae, das komplette Register der Allegorien, vermittels deren der orthodox-christliche Diskurs seiner normativen Sicht der Welt und des Lebens des Einzelnen Anschaulichkeit verliehen hatte, wird in Petrarcas Zyklus aufgerufen. Das Bild des Lebens als einer Reise über das Meer, das des Lebens als einer Pilgerfahrt, das des Erkennens des verum als des Erklimmens einer Stufenleiter, das der Vereinigung mit dem Göttlichen schließlich als eines Flugs der Seele gen Himmel begegnen passim im Canzoniere. Die Tendenz der Bezugnahme auf diese vorgängigen Schemata ist immer diejenige, die Petrarca selbst mit der zitierten admonitio des fiktiven Augustin des Secretum ins Konzept gefaßt hat. Die Refunktionalisierungen der orthodoxen Allegorien sollen nichts anderes signalisieren, als was der Dichter mit dem Rahmen, den er im ersten und letzten Gedicht seiner Sammlung gegeben
tronchon d’un faggio […]“. Zum Stellenwert des Holzes, insbesondere des Baumstamms, in der orthodoxen Natur-Allegorese s. v. a. H. Rahner, Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, S. 339-352). Die Allegorese des ,faggio‘ als Bild der göttlichen doctrina oder als Bild Christi ist naheliegenderweise auch von Belang für die Deutung von V. 7 f. des Madrigals „Perch’al viso d’Amor portava insegna“. - In Auseinandersetzung mit Königs a-strukturaler Lektüre ist nochmals auf den hier angesprochenen Komplex hinzuweisen: Belege für den ,fagus‘ gibt es natürlich nicht nur bei Bernhard von Clairvaux, sondern auch in der antiken Literatur (s. die Nachweise in „Petrarcas Landschaften“ [s. Anm. 2], S. 273 f. mit Anm. 68; König zitiert, wie bereits gesagt [Anm. 29], im speziellen Properz I. 18, V. 20 [„fagus et Arcadio pinus amica deo“; die kommentarlose Gleichsetzung von ,pinus‘, das als ,pino‘ auch zum Vokabular des Canzoniere gehört, und ,abies‘ (,abete‘) frappiert ein wenig in der so sehr auf philologischer Exaktheit insistierenden Rezension]). Bei Petrarca geht es um Spezifischeres, die Deutung eines „faggio“ als ,Repräsentant‘, im wörtlichen und im zeichentheoretischen Sinn, einer personalen und abwesenden Instanz. In dieser Hinsicht erscheint uns die Vita des Bernhard die einschlägigere Referenz. Der eigentlich entscheidende Gesichtspunkt ist aber auch hier der kontextuelle: Die oben vorgeschlagene Deutung erhält ihre Berechtigung daraus, daß sie dem entspricht, was der Zyklus als Ganzes über den Liebes-Affekt mitteilt und was der Autor in seinen anderen Texten zu dieser Problematik sagt. 67 In Anlehnung an die Qualifizierung des (den Worten nach) reuevollen Sprechers als „alma disvı¨ata“ (Nachweis o., Anm. 43).
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hat, explizit macht, daß es die ,Geliebte‘, nicht länger der christliche Gott war, die diesem Leben Sinn und Zentrum verliehen hat 68. Die eindringlichste sprachliche Form im engeren Sinn gewinnt das Konzept mit einem Verfahren, von dem H. Friedrich gezeigt hat, daß es trotz aller unvermeidlichen Reminiszenzen ein ganz neues Verfahren darstellt. Die mit diesem Terminus oberflächlich eingeordneten LauraParonomasien, die fast alle auf die Geliebte bezogenen Gedichte des Zyklus markieren, signalisieren aufs sinnfälligste, daß diesem Sprecher der gesamte Kosmos zum vestigium Laurae wird, replizieren sie doch auf jene Technik der Deutung, vermittels deren spätestens seit Isidor von Sevilla die Omnipräsenz Gottes nicht allein in der Welt der Dinge, sondern auch der der Zeichen zur Evidenz gebracht wurde. 68 Es muß hier bei ganz rudimentären Verweisen bleiben. Das auf das hier besprochene folgende Sonett („Mille piagge in un giorno“) vergleicht den Sprecher mit einem ohne Steuer und Mastbaum bzw. Segel im Meer dahintreibenden Schiff. Die gleiche Metapher konstituiert den Horizont der Gedichte LXXX, CXXXII, CLXXXIX, CCXXXV, CCLXIV (bes. V. 81-87) sowie CCLXXII und begegnet angelegentlich in zahlreichen weiteren. Bedeutung und Stellenwert der Allegorie für den orthodox-christlichen Diskurs sind von Rahner eingehend beschrieben worden: Die Fahrt über das Meer steht für das Leben. Winde und Stürme symbolisieren die drohenden Gefährdungen, d. h. das Böse in allen seinen Varianten; Segel, Mastbaum und Ruder verweisen auf die ,Dispositive‘, mit deren Hilfe es möglich ist, trotz aller Gefahren schließlich in dem ,Hafen‘ (dem Paradies) anzukommen, d. h. Gottvater, Christus, Heiliger Geist (sowie Schrift, Verkündigung und Ritual der Kirche) (vgl. v. a. das Kap. „Antenna crucis“ in Symbole der Kirche [s. Anm. 66], S. 237-564). - Die Allegorie des Schauens der ,alta cagion prima‘ als eines Aufstiegs auf einer Stufenleiter bzw. als eines Flugs der Seele begegnet, wie schon gesagt, in „Quel’antiquo mio dolce empio signore“, in CCLXIV (bes. V. 6-8) und in CCCLXV (bes. V. 1-4); ihre Re-Interpretation gewinnt die prägnantesten Akzente in CLXVII: Die Schönheit Lauras, näherhin der süße Klang ihrer Stimme, der zunächst die Seele wünschen läßt, gen Himmel zu fliegen, hält den Sprecher dann doch im Irdischen zurück. Die orthodoxe Deutung der Metapher findet sich (im Anschluß an Phaidros 246) bei Augustinus, v. a. in Confessiones X, 33 (50) sowie in Enarrationes in Psalmos CXXI, 1. - Die Vorstellung des Lebens als einer Pilgerreise begegnet, wie bereits gesagt, in „Perch’al viso d’Amor portava insegna“, die Metapher des bivium im speziellen in CCLXIV (bes. V. 117-126). Das berühmte Sonett „Movesi il vecchierel canuto et biancho“ nimmt auf eine ansatzweise remimetisierte Variante der Lebensreise-Allegorie Bezug, auf die Praxis der Pilgerfahrt zum Sitz des Nachfolgers Petri und zum Zweck der Schau der „sembianza“ Christi (in allen mir bekannten Kommentaren banalisierend gedeutet), welchem im Fall des Ich des Gedichts die Suche nach ,bildhaften Entsprechungen‘ Lauras gegenübersteht. - Was die Forschung angeht, sei hier auf zwei Titel hingewiesen, die dem Problem mehr als die übliche flüchtige Beachtung schenken, zum einen K. Fosters Deutung des Canzoniere (Petrarch. Poet and Humanist, Edinburgh 1984, S. 23-140, bes. S. 71-80), zum anderen A. Kablitz’ substantielle Studie „,Era il giorno ch’al sol si scoloraro per la pieta` del suo factore i rai‘. Zum Verhältnis von Sinnstruktur und poetischem Verfahren in Petrarcas Canzoniere “, Romanistisches Jahrbuch Bd. 39/1988, S. 45-72.
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Es ist nicht modernistische Demimetisierung einer wie auch immer von den biographischen facta gedeckten stilisierten Rede, wenn man diese Substitution im eigentlichen Sinn als eine poetologische Metapher begreift. Denn Petrarcas fiktives Pendant Franciscus bekennt sich an der zitierten Stelle des Secretum dazu, daß primäres Zentrum seines Lebens nicht amor, sondern das Streben nach gloria war, zum Zweck der Erlangung von ,immortalitas‘. Diese zu sichern, bedarf es einer Rede, die Perspektiven öffnet. Wenn auch für die folgenden zwei Jahrhunderte diese Perspektiven zunächst nicht genutzt wurden, sondern die Liebeslyrik sich im Zeichen einer strikt verstandenen ,Ästhetik der Imitation‘ auf die variierende Überbietung des Petrarkischen Modells konzentrierte, erwächst doch die bleibende Resonanz des Modells aus dieser Ressource: der Inszenierung von Subjektivität als der bestimmenden Funktion von Literatur in der Moderne 69 in der negativen und zugleich nur je singulär sinnhaften Replik auf die je verbindliche Norm ästhetisch einen ,Weg‘ gewiesen zu haben, der erst aus Sicht einer späteren Phase der Diskurshistorie sich als ein solcher ausmachen mochte. 3. Literarische als wesentlich de-pragmatisierte Texte sind Erscheinungen einer relativ rezenten Stufe der kulturellen Entwicklung. Im Fall des Dramas und der (Liebes-)Lyrik gestattet der Neueinsatz der zivilisatorischen Dynamik nach dem Ende der tenebrae einen Einblick in den Konnex zwischen pragmatischem ,Ursprung‘ und de-pragmatisierter literarischer Gattung. Für das Drama ist dies die kultische Vergegenwärtigung, für die Liebeslyrik die Situation der Werbung. Auf ihrer ersten schriftlich tradierten Stufe bewahrt die Liebeslyrik diese Reminiszenz der pragmatischen Situation in unmittelbar erkennbarer Form. Die Trobador-Lyrik ist stilisierte und formalisierte Werbungsrede, und der kommunikative Horizont, der einer solchen Rede erst den Sinn verleiht, ist zahlreichen Gedichten auch noch formal inhärent. Man kann nur darüber spekulieren, ob es das Bedürfnis nach formaler Signalisierung der De-Pragmatisierung oder anderes ist, das den Anstoß 69 Zur Vermeidung von Mißverständnissen sei gesagt, daß aus der hier gewählten methodischen Perspektive diese Funktionsbestimmung nicht für das ,Literarische‘ schlechthin, sondern für den literarischen Diskurs einer bestimmten Epoche gilt. Literarische Diskurse sind de-pragmatisierte Diskurse, die einer Vielzahl sekundärer funktionaler Indienstnahmen offenstehen (einschließlich im übrigen pragmatischer).
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für die weitere Evolution der Gattungen gibt. Auf jeden Fall scheint es eine Konstante der Entwicklung zu sein, daß bereits nach relativ kurzer Zeit sich die jeweilige Gattung formal so transformiert, daß der pragmatische Ursprung sich nur noch einer historischen Betrachtung erschließt und nicht mehr unmittelbar evident wird. Im Fall der europäischen Lyrik ist dieser Punkt mit dem erreicht, was J. Schulze die ,sizilianische Wende‘ genannt hat 70. Die These trifft Wesentliches, insofern erst mit der Ablösung der lyrischen Rede von der „Partnerbezogenheit“ (gemeint sind eher die Residuen der inszenierten dialogischen Struktur) 71 der Spielraum für diejenige Form entsteht, die konstituiert, was sodann gemeinhin als Liebeslyrik verstanden wird. Diese Wende zugleich als eine Wende zum ,Subjektivismus‘ zu deuten, wird aber den Texten nicht gerecht und gewichtet die modellprägende Relevanz zu gering, die eben Petrarca, nicht aber den Sizilianern zukommt. Mit dem sizilianischen Typus entstehen neue Möglichkeiten der lyrischen Rede. Sie in paradigmatischer Weise zu nutzen, war dem Späteren vorbehalten 72. Dessen Leistungen sind allerdings nicht voraussetzungslos. Sie basieren auf einer Bilanz, die die Sizilianer bzw. die Stilnovisten noch selbst gezogen hatten: Eine lyrische Rede, die nicht mehr stilisierte Werbungsrede ist, kann sich in ihrem Relevanzanspruch nicht länger auf die Selbst-
70 „Die sizilianische Wende der Lyrik“, Poetica Bd. 11/1979, S. 318-342. 71 Vgl. bes. S. 324-342 (Zitat: S. 328). Die mißverständlichen Implikate dieser Formulierung hat jüngst A. Kablitz in der Fußnote 11 (von subaufsatzähnlicher Länge) seiner Studie „Intertextualität als Substanzkonstitution. Zur Lyrik des Frauenlobs im Duecento: Giacomo da Lentini, Guido Guinizelli, Guido Cavalcanti, Dante Alighieri“ (Poetica Bd. 23/1991, S. 20-67) Schulze angelastet. Allerdings, so scheint es, tendiert Kablitz seinerseits zu Überspitzungen, wenn er die in Petrarcas Sammlung gewiß noch enthaltenen Gedichte nach Art einer Werbungsrede als Kronzeugen gegen die von Schulze postulierte Wende anführt. 72 Der Anspruch des unter 3. versuchten Abrisses ist systematisch. Das Interesse gilt v. a. der aus einer diskurshistorischen Sicht zentralen Frage nach den Möglichkeiten, das in der Romantik zu beobachtende Wiederauftauchen von Strukturen, die in gewisser Weise bereits Petrarcas Canzoniere auszeichnen, anders als geschichtsphilosophisch zu erklären. Aus diesem Grund und nur in dieser Hinsicht ist hier die prä-Petrarkische Historie der Liebes-Lyrik in den Blick genommen. Ginge es um eine Modellierung von ,Abläufen‘, wären vielfältigste Differenzierungen angezeigt, so etwa im Fall des zuletzt thematisierten Evolutionsschubs diejenige, daß zwar Petrarca das ,non-dialogische‘ Redeschema von den Sizilianern übernimmt, nicht aber dessen originäre Implikate, die Ersetzung der (stilisierten) affektischen Rede durch die Analysis des Affekts in einer formal-abstrakten Terminologie. Der propositionale Gehalt der post-sizilianischen Lyrik ist als Reaktivierung provenzalischer Schemata zu bewerten. Insgesamt dürften sich zur Theoretisierung aller gebotenen Differenzierungen die formalistischen Kategorien empfehlen; zur Beschreibung der Sachverhalte selbst vgl. die in Anm. 71 zitierte Studie von Kablitz.
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verständlichkeit des kommunikativen Akts berufen; sie bedarf einer Legitimation. Die Antwort auf diese Frage wird bei den Sizilianern, teils schon den Provenzalen gefunden, und sie steckt im Prinzip den Spielraum, in dem lyrische Rede sich in der folgenden Evolution bewegt, gültig ab: Die Intensität des Gefühls sei so groß, daß es den Sprecher zur Versprachlichung von etwas dränge, das als solches sich unmittelbarer Versprachlichung entzieht und als privat sui generis auch nicht zur Mitteilung bestimmt ist 73. Dieser wesentlich sublimative Aspekt hat wiederum ein Implikat, das an den Textzeugnissen ablesbar ist. Plausibel wird ein solches Sagen des nicht für das Sagen Bestimmten erst, wenn es gelingt, der außergewöhnlichen Intensität dessen, was zur Versprachlichung drängt, Plausibilität zu verleihen. Die elementarste, allerdings im Zuge der Gattungsevolution immer wieder aufgegriffene Lösung dieses Problems besteht darin, der auslösenden Instanz exzeptionelle Qualitäten zuzuschreiben. Sizilianische und stilnovistische Lyrik kann als das Ausschöpfen des damit gegebenen Schemas begriffen werden 74. Die grundsätzlichen Verfahren sind der rühmende und der überbietende Vergleich. Die Realisierungsvarianten des ersteren der zwei Verfahren beziehen naheliegenderweise die Schönheit (ersatzweise auch die Tugend) der zu Rühmenden auf alle Aspekte der Objektwelt, die sich nach den Konventionen der Zeit für ein solches Unterfangen eignen. Auf dieser Ebene gibt es bereits auf jener Stufe der Evolution eine detaillierte Naturmetaphorik. Aber die betreffenden Elemente haben, wenn auch zuweilen wörtlich identisch
73 Diese Basis-Figur begegnet in den unterschiedlichsten Varianten. Im Prinzip wäre hier zu differenzieren nach dem Modell unmittelbarer Mitteilung zum einen, mythologischer Rhetorisierung zum anderen (,Inspiration‘ durch Amor). 74 Dies hier im einzelnen zu dokumentieren, liefe auf eine eigene Abhandlung hinaus. Für unsere Zwecke hinreichend ist im Prinzip die Darstellung bei Friedrich (Epochen der italienischen Lyrik [s. Anm. 12], Kap. 1 [S. 1-83]); zum Stellenwert der Struktur für die provenzalische Lyrik s. den zweiten Teil des Aufsatzes von D. Scheludko, „Religiöse Elemente im weltlichen Liebeslied der Trobadors“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur Bd. 60/ 1937, S. 18-35, bes. S. 19 (die im Titel der Studie sich reflektierende These zum Ursprung des Verfahrens dürfte problematisch sein). Im Hinblick auf die folgenden Stadien der Entwicklung vgl. die Skizze der Tradition der „Loblyrik“, die B. König präsentiert hat („Dolci rime leggiadre. Zur Verwendung und Verwandlung stilnovistischer Elemente in Petrarcas Canzoniere [Am Beispiel des Sonetts ,In qual parte del ciel‘]“, in: F. Schalk [Hrsg.], Petrarca, 1304-1374. Beiträge zu Werk und Wirkung, Frankfurt a. M. 1975, S. 113-138, bes. S. 121-125 [Zitat: S. 121]). König unterscheidet die genannten von den „Gedichten der Qualen der Liebe“, die er einem anderen „poetische[n] Them[a]“ zuordnet (S. 123). Was den (virtuellen) pragmatischen Horizont angeht, sind die zwei Themen als Einheit zu begreifen.
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mit Formulierungen des Canzoniere, eine ganz andere Funktion. Dort sind sie Metaphern der Exzeptionalität, hier Indizien einer wirklichkeitstransformierenden Macht des Affekts. Die Schlichtheit von Petrarcas Naturmetaphern ist kein Moment von Mimetismus, sie verweist auf die Ablösung des Repertoires von der Funktion metaphorischer Modellierung von Exzeptionalität 75. Dieses Verfahren nämlich birgt ein Problem, das in Ansehung seiner zweiten Realisierungsvariante noch ungleich deutlicher wird. Die Zuschreibung außergewöhnlicher Schönheit unterliegt in ihrer je konkreten Form der Automatisierung und hebt sich auf diese Weise auf. Exzeptionalität kann immer nur durch je neue Metaphern des Exzeptionellen begründet werden. Angesichts der Begrenztheit des geeigneten Materials tritt zunächst der überbietende Vergleich (,piu` di‘) an die Stelle der ,einfachen‘ Metapher, wird seinerseits zur fixen Formel und führt aufgrund der dem Verfahren inhärenten Dynamik diese Variante des lyrischen Diskurses in relativ kurzer Zeit bis zu einem Gipfel, der zugleich ein vorläufiges Ende der Gattungsevolution markiert. Es verbleibt als Möglichkeit der Zuschreibung von Exzeptionalität schließlich nur noch die Behauptung transhumaner Qualitäten, und auch diese erschöpft sich definitiv, wenn die behauptete Qualität denjenigen Bereich erklimmt, der sich der Versprachlichung entzieht. Dantes in der Commedia artikulierte Absage an den dolce stil novo artikuliert sich dogmatisch 76. Es kann aus einer Perspektive ex post nicht darum gehen, die ideologische Problematik gering zu gewichten, mit der sich diese Variante des Liebesdiskurses konfrontiert sah und die sich bereits in den gewundenen Formulierungen der Stilnovisten dokumentiert. Aber ungeachtet dieser Problematik war die frühe Liebeslyrik auch
75 Um dem Gesagten ein Minimum an Anschaulichkeit zu sichern, seien die beiden Quartette von Guido Guinizellis Sonett „Io voglio del ver la mia donna laudare“ zitiert, an denen sich zum einen die Distanz des bis dahin Üblichen zu dem, was wir die Schlichtheit von Petrarcas Naturmetaphorik nennen, zum anderen auch das Moment unterschiedlicher Wirkung von (scheinbar) Identischem beobachten läßt: Guinizellis „verde river’ “ haben eben deshalb einen ganz anderen Stellenwert als die Entsprechung bei Petrarca, weil sie Bestandteil einer Aufzählung sind, deren integrierender semantischer Nenner die Exzeptionalität ist („Io voglio del ver la mia donna laudare/ed asembrarli la rosa e lo giglio:/ piu` che stella dı¨ana splende e pare,/ e cio` ch’e` lassu` bello a lei somiglio.// Verde river’ a lei rasembro e l’aˆre,/ tutti color di fior’, giano e vermiglio,/ oro ed azzurro e ricche gioi per dare:/ medesmo Amor per lei rafina meglio.“ [zitiert nach der Ausgabe von G. Contini, Poeti del Duecento, 2 Bde., Milano/Napoli 1960, hier: Bd. 2, S. 472]). 76 Vgl. v. a. Purg. 26, V. 73-148.
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ästhetisch in die Sackgasse geraten. Das Verfahren der Legitimierung lyrischer Rede vermittels der Behauptung ,objektiver‘ Qualitäten der Geliebten ist in dem Moment an sein Ende gelangt, in dem auf der Skala der Möglichkeiten das are¯ton erreicht war 77. Es liefe auf die Annahme eines nur im Modell möglichen absoluten Bruchs hinaus, wenn man verträte, der Canzoniere Petrarcas verzichte auf diese Variante der Legitimierung lyrischer Rede. Bekanntermaßen enthält die Sammlung eine Reihe von Gedichten, die dem Rühmen der, sei es physischen, sei es moralischen Qualitäten der Geliebten gewidmet sind 78. Allerdings sind auch hier schon die Akzente anders gesetzt. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf die physischen Qualitäten, die den eigentlich modellprägenden Faktor ausmachen 79. Laura wirkt eben deshalb konkreter und ,irdischer‘ 80, weil sich das Rühmen ihrer Schönheit von dem Imperativ absoluter Außergewöhnlichkeit, der notwendig zu Manierismen führt, lösen konnte. Mit anderen Worten: Die Legitimation dieser lyrischen Rede erwächst nicht mehr primär aus den ,objektiven‘ Qualitäten der Geliebten 81. Die Intensität des Affekts, die erst den sublimierenden Impuls, näherhin die Versprachlichung, plausibilisiert, ist inszeniert als eine ,subjektive‘ Größe 82. 77 Repräsentativ ist hier v. a. Guido Cavalcantis berühmtes Sonett „Chi e` questa che ve`n“, bes. V. 3 f., V. 5 f., V. 9 und V. 12-14 (gedruckt in: Contini, Poeti del Duecento [s. Anm. 75], Bd. 2, S. 495); die oben gemeinte ideologische Problematik wird unmittelbar einsichtig in Ansehung der ,orthodoxen‘ Parallelstelle bei Dante (Par. 33, passim, bes. V. 55 f.); zum are¯ton als Merkmal des Göttlichen vgl. erstmals Plato, Siebenter Brief 341 c. 78 Dem Nachweis dieses Konnex gilt der in Anm. 74 zitierte Aufsatz von König. Der Verfasser bezeichnet denn auch Petrarcas entsprechend zu veranschlagende Gedichte kurzerhand als „stilnovistisch“ („Dolci rime leggiadre“, S. 126-138 [Zitat: S. 127]); s. weiterhin die erschöpfende Zusammenstellung der Gedichte dieses Typs bei Foster, Petrarch (s. Anm. 68), S. 73. 79 Das Rühmen moralischer Qualitäten dürfte darauf verweisen, daß die physischen Überbietungsressourcen begrenzt sind bzw. das Register zu Banalität tendiert. Aber das damit eröffnete Repertoire ist seinerseits eng, da moralische Qualität virtuell, d. h. rein konzeptuell und deshalb hochgradig standardisiert ist. Im Fall weiblicher Figuren reduziert es sich für die Bedürfnisse dieses Diskurses letztlich auf zwei Qualitäten, ,Tugend‘ als solche und castitas. 80 Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik (s. Anm. 12), S. 207. 81 Am deutlichsten wird dies in Gedichten, die in provenzalischer und stilnovistischer Tradition schwerlich denkbar wären, so etwa in „Erano i capei d’oro a l’aura sparsi“. Die exzeptionellen physischen Qualitäten, die das Sonett zunächst thematisiert, sind im Moment der Sprechsituation nur noch erinnerte Qualitäten. Das Gedicht gewinnt seinen Effekt daraus, daß der Sprecher behauptet, sein Affekt sei ungeachtet des Alters und der damit möglicherweise einhergehenden physischen Veränderungen Lauras nicht weniger intensiv als einst („[…] et se non fosse or tale,/piagha per allentar d’arco non sana.“). 82 Dieser Zusammenhang wird in der zitierten Studie von König nicht hinreichend deutlich. Es trifft sicherlich zu, daß „eines der Hauptthemen des Canzoniere […] das Thema des ,Frauenlobs‘ im stilnovistischen Sinne“ ist („Dolci rime leggiadre“ [s. Anm. 74], S. 126). Aber
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Ihre eindringlichste Gestalt erreicht diese neue Ressource der lyrischen Rede mit der in den Landschaftsgedichten modellierten Behauptung einer die Welt, besser, die Sicht dieses Liebenden auf die Welt transformierenden Macht des Affekts. Hier liegt denn auch das Interesse der Moderne an Petrarca begründet 83: Diejenige Antwort, die dieser Dichter auf die Frage nach einer neuen Legitimierung der lyrischen Rede gefunden hatte, koinzidierte mit derjenigen, die nach dem Sich-Erschöpfen des rationalistischen Diskurses die philosophische und die ästhetische Rede auf die Frage nach der Legitimierbarkeit einer neuen, sinnhaften Rede überhaupt entwarf 84.
die Innovation Petrarcas erschöpft sich nicht in der Rekombination stilnovistischer und prästilnovistischer Elemente im Zeichen einer von der Augustinus-Lektüre induzierten „Zwiespältigkeit“, was die Bewertung des Liebesaffekts angeht (vgl. S. 125-138 [Zitat: S. 130]). Eine dem philologischen Positivismus verpflichtete Analyse suggeriert notwendig, trotz expliziter besserer Einsicht, einen Eindruck von den Texten, den wohl niemand wird ernsthaft vertreten wollen. Petrarca ist noch diesseits jeder wissenschaftlichen Erörterung gerade nicht, als was er in der kritisierten Untersuchung letztlich erscheint, ein besonders virtuoser Stilnovist, und sein Canzoniere ist schwerlich mit der Formel zu fassen, die ihm in Königs allzu sehr auf die lyrischen Intertexte fixierten Untersuchung appliziert wird („[…] einer der Schlußsteine des großen Gebäudes der mittelalterlichen volkssprachlichen Lyrik […]“ [S. 114]). 83 - und das Desinteresse an denjenigen Texten, die auf der Ebene des Details oft wörtlich mit denen Petrarcas übereinstimmen; obwohl die ,Ästhetik der Imitation‘ (Ju. M. Lotman) gewiß zahlreiche Aspekte des Canzoniere erklären kann, gewinnt der Zyklus als Ganzes seinen Stellenwert aus anderem als dem Spannungsverhältnis zu seinen Vorgängern in einer eng verstandenen literarischen (gar lyrischen) Reihe. Petrarca war vieles, eines nicht: der erste Petrarkist. - Diese Bemerkung gibt Gelegenheit, explizit zu machen, was indes selbstverständlich ist: Unser oben unternommener Versuch ist als Beschreibung einer von mehreren Textstrategien zu begreifen, die erst in der Summe den singulären Rang Petrarcas ausmachen. 84 Schmitts polemisch gemeinte Rede von der Romantik als einer Epoche des ,subjektivierten Occasionalismus‘, d. h. der Selbstvergottung des Individuums, eröffnet, analytisch gewendet, gerade auch im Hinblick auf das hier zu Petrarca diskutierte Verfahren entscheidende Perspektiven. Bedeutet doch solche Selbstbezüglichkeit, daß nicht länger, wie noch zu Beginn der Moderne, Norm gegen Norm gesetzt, sondern De-Normierung zum Basis-Verfahren der (zunächst ästhetischen) Rede erhoben wird. Das Paradigma ,Pluralität‘, das den Beginn der Moderne begründet, wird ersetzt, besser, überboten, durch das Paradigma ,Innovation‘ (Zitat Schmitt: Politische Romantik [s. Anm. 17], S. 3-28, hier: S. 24).
Schiffsreise und Seelenflug. Zur Refunktionalisierung christlicher Bilderwelten im Canzoniere (Mit einem Post-Scriptum zur Singularität des Lyrikers Petrarca sowie zur epistemologischen Differenz von Literarhistorie und Diskursarchäologie) * 0. Die Frage, die hier anhand eines prominenten und eines weniger prominenten Sonetts des Petrarkischen Canzoniere diskutiert werden soll, betrifft die Stellung der Sammlung im Kontext der Diskurse der Zeit, in der sie entstand. Mit dieser a-spezifischen Formulierung ist gesagt, daß das Interesse nicht nur den literarischen, sondern den sinnvollerweise als Folie anzusetzenden Diskursen überhaupt gelten soll. Aller methodische Streit um den Anspruch der Diskursarchäologie ist hier überflüssig, denn eine solche Perspektive ist im Werk des Autors selbst grundgelegt. Petrarca hat nicht nur Gedichte verfaßt, sondern darüber hinaus literarische Briefe, philosophisch-theologische Traktate sowie fiktive Dialoge, Texte, die ungeachtet ihres rhetorischen Raffinements nicht vorrangig ästhetisch funktionalisierte im modernen Sinne sind, und er hat zwischen seinen lyrischen und den eher pragmatischen Texten enge und engste intertextuelle Bezüge hergestellt. Die letzteren behandeln allesamt Grundfragen des Selbstverständnisses der Epoche, und das heißt, sie referieren auf den in dieser Zeit noch dominierenden Diskurs, den christlichen, ohne daß dies Ausweis besonderer Frömmigkeit des Autors wäre. Es ist Indiz des Anspruchs, zu den bestimmenden Kontroversen der Epo* Die folgende Argumentation geht zurück auf einen Vortrag auf dem Internationalen Kongreß des Deutschen Italianisten-Verbandes, Berlin 1993. Dem damaligen Vorsitzenden und späteren Ehrenpräsidenten des Verbandes, A. Noyer-Weidner, sei gedankt für die Einladung, den Diskutierenden für zahlreiche Anregungen, die in die vorliegende Version eingegangen sind, und allen Zuhörern für ihre Geduld.
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che etwas beitragen zu wollen. Dieser Anspruch dokumentiert sich auch im lyrischen Teil des Gesamt-Œuvres, welcher erst in einer Zeit, der die von Petrarca postulierte Pluralität der Sub-Diskurse bereits selbstverständlich war, auf die Dimension eines ausschließlich ästhetischen Textes reduziert wurde ⫺ eine Amputation, die schon allein deshalb immer problematisch bleibt, weil sie der Frage nach den Ursachen der transhistorischen Resonanz einer Dichtung ausweicht, die vom rein literarischen Konzept her an das prä-moderne Paradigma vom Text als ars, an die Rhetorik gebunden ist.
1. Das erste und weniger prominente Sonett, das hier zur Diskussion kommen soll, ist das einhundertneunundachtzigste Stück der Sammlung, und es hat folgenden Wortlaut: Passa la nave mia colma d’oblio per aspro mare, a mezza notte il verno, enfra Scilla et Caribdi; et al governo siede ’l signore, anzi ’l nimico mio. A ciascun remo un penser pronto et rio che la tempesta e ’l fin par ch’abbi a scherno; la vela rompe un vento humido eterno di sospir’, di speranze et di desio. Pioggia di lagrimar, nebbia di sdegni bagna et rallenta le gia` stanche sarte, che son d’error con ignorantia attorto. Celansi i duo mei dolci usati segni; morta fra l’onde e` la ragion et l’arte, tal ch’incomincio a desperar del porto. 1
Gegenstand des Gedichts ist offensichtlich eine Reise übers Meer. Wie diese Reise aufzufassen ist, erhellt aus denjenigen Momenten des Texts, die die Sprachwissenschaft in der lingua franca der modernen Welt als ,categorical mistakes‘ bezeichnet. Da die Durchbrechungen der semantischen Kohärenz ⫺ die Gedanken als Ruderleute, die Seufzer als Winde,
1 Petrarcas Canzoniere wird zitiert nach der von G. Contini besorgten Ausgabe (Nuova universale Einaudi, Torino 1964).
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die Tränen als Regen ⫺ allesamt in dieselbe Richtung deuten, ist die Decodierung der Allegorie, über der das Sonett operiert, auch abseits aller diskurshistorischen Erwägungen zunächst kein größeres Problem. D. Ponchiroli, der Kommentator der Contini-Ausgabe, vermerkt zu V. 1 „nave: cioe`, la vita“, zu „’l fin“ in V. 6 verweist er auf „la morte“, das „l’arte“ in V. 13 versteht er als elliptisch, ergänzt „di navigare“ und legt dies letztere aus als „vivere“. In der Tat steht mit diesen Hinweisen ein Schlüssel zur Verfügung, der die Übersetzung der Allegorie aus dem Gesagten ins Gemeinte, gemäß der Quintilianischen Formel ,aliud verbis, aliud sensu ostendit‘ 2, ohne größere Schwierigkeiten ermöglicht: Das Leben des Sprechers ist als eine Seereise voller Gefahren konzeptualisiert, Steuermann des Schiffs, d. h. richtunggebendes Prinzip, ist Amor, die Liebe, für ungestümen Vortrieb sorgt der ,desio‘, die Tränen andererseits beeinträchtigen das rechte Funktionieren der Takelage und verlangsamen die Reise, und da die ,dolci usati segni‘, die Himmelszeichen, Sterne, die einst die Richtung zu weisen pflegten ⫺ die Augen Lauras ⫺, sich dem Blick entziehen, verzweifelt der Reisende am Ziel, dem Erreichen des Hafens, das in dieser Lesart für das, sei es sinnliche, sei es sublimativ verstandene Zur-Ruhe-Kommen in der Geliebten stehen müßte. So sehr die skizzierte Decodierung, die man auf den Nenner einer stilnovistischen Lektüre bringen könnte, eines der semantischen Strata trifft, die das Gedicht konstituieren, so sehr bedeutete es, sich mit einer oberflächlichen Sicht zu begnügen, wenn man sein Potential damit bereits als erschöpft ansähe. Wie im Fall der skizzierten primären Allegorie sind es auch im Fall der weiteren Schichten, die erst dem Text seine ganze Suggestivität verleihen, gewisse semantische Brüche, die darauf verweisen, daß mit der referierten Allegorese noch nicht alles gesagt ist. Welches Vergessen etwa, mit dem das Schiff randvoll beladen ist (,colma d’oblio‘), meint V. 1? Das Vergessen der Geliebten, nach der doch, ausweislich V. 7 f., der Reisende sich unablässig sehnt (,un vento […] eterno/ di sospir’, di speranze et di desio‘)? Warum, so wäre an die Adresse der herkömmlichen Lektüre zu fragen, ist der ,signore‘, der das Ruder führt und mit dem offensichtlich auf Amor verwiesen wird, als Feind des Reisenden apostrophiert, wo doch das Ziel der Reise die Geliebte ist? Warum ist die Liebes-cogitatio, der ,penser‘, als ,schuldig‘ qualifiziert, warum vor allem wird dieser mit dem ,pronto‘ des V. 5 und dem Relativsatz des V. 6 (,che la tempesta e ’l fin par ch’abbi a scherno‘) mit dem
2 Institutio Oratoria 8, 6, 44.
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Etikett der Unbekümmertheit versehen, ein Moment, das in diametralem Gegensatz zu dem steht, was in anderen Texten der Sammlung über das ,pensare‘ zu lesen ist? Woher schließlich rührt die Atmosphäre absoluter Düsternis, die über dem Szenario liegt und die im Kontext der primären Allegorie schwer zu verorten ist, welche wenn nicht ein amoenes, so doch zumindest ein zwiespältiges setting erwarten ließe; hier indes, über die todbringenden mythischen Meeresungeheuer (,Scilla et Caribdi‘) hinaus, nichts als Nacht, Winter, Sturm, ein ewig feuchter Wind, Regen und Nebel. Und welchen sinnvollen Platz könnten die zahlreichen Abstrakta, die das Gedicht rhythmisieren, in der primären Allegorie finden, das schon genannte Vergessen, der Irrtum (ignorantia), der Tod schließlich, den ,la ragion et l’arte‘ in den Wellen finden? ⫺ Vor allem der letztgenannte Aspekt ist es, der der verbreiteten und nächstliegenden Deutung des Texts als Manifest einer Zerspaltenheit zwischen sublimativer LauraLiebe und kraß-sinnlichem, möglicherweise auf andere Objekte gerichteten Begehren im Wege steht 3. Ist doch der ,Tod der Vernunft‘ in anderen
3 Vgl. u. a. A. Foresti, Anedotti della vita di Francesco Petrarca, Brescia 1928, Kap. 13 (S. 92-97 [wiedergedruckt als Kap. 14 der erweiterten Neuausgabe, Padova 1974]); Foresti geht so weit, dem in dem Gedicht Gesagten ein konkretes biographisches Faktum zu unterstellen, das Erlebnis Petrarcas im Avignon des Jahres 1342, aus dem seine Tochter Francesca hervorging, aber die entsprechende Lektüre des Texts ist in weniger pointierter Form die allgemein akzeptierte. - Herangezogen wurden die Kommentare von G. Carducci/S. Ferrari, von E. Chio`rboli, von G. Leopardi, von R. Ramat, von S. Rigutini, von F. Neri und von N. Zingarelli; s. weiterhin R. Verde, Studio sulle Rime del Petrarca, Catania 1939, S. 113-115 u. S. 166 f.; A. Noferi, L’esperienza poetica del Petrarca, Firenze 1962, S. 270; K. Foster, Petrarch. Poet and Humanist, Edinburgh 1984, S. 53, S. 60 u. S. 72-75; E. H. Wilkins, Vita del Petrarca e La formazione del Canzoniere, Milano 1964 (amerikan. Originalfassungen: 1951 u. 1961), S. 59 f. (Die Referenzen beziehen sich auf beide in dieser Abhandlung diskutierte Sonette; der in Zingarellis Kommentar zu Canz. CLXXXIX erwähnte Titel [„Sul tema letterario della tempesta, dissi in un opusculo nuziale, La nave del Petrarca, Palermo 1904“] ist bibliographisch nicht nachweisbar [catalogo cumulativo della Biblioteca Nazionale di Firenze; catalogue ge´ne´ral des auteurs/Bibliothe`que Nationale; British Library Catalogue; National Union Catalog] und hat in der wissenschaftlichen Literatur keine Resonanz gefunden). - Bruchstücke der von uns im Folgenden versuchten Deutung finden sich auch in der zitierten Literatur, so z. B. die Deutung des Schiffs als Seele sowie die des Hafens als ,la salvezza‘; sie sind dort allerdings durchweg ohne systematische Dimension. V. a. unterbleibt der Versuch, sie mit der Deutung des Texts als mundaner Liebesallegorie auf einen Nenner zu bringen. Auf diese Weise sind sie Indizien eines kulturellen Wissens, das noch in Fragmenten, nicht aber als System präsent ist, besser: war, als die betreffenden Kommentare (bzw. die Archi-Kommentare, auf die sich die späteren beziehen) entstanden; zur näheren Auseinandersetzung mit dem für Canz. CLXXXIX einschlägigen dieser Archi-Kommentare, dem von A. Tommasi, s. u., Anm. 24.
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Gedichten des Zyklus Folge der Laura-Liebe 4, so daß es rätselhaft bleibt, daß dieser Tod hier eintritt und gerade deshalb der Reisende droht, das Ziel der Reise, Laura ⫺ so zumindest wäre in Anlehnung an die akzeptierte Deutung zu lesen ⫺, zu verfehlen. Die hier nur kurz aufgezeigten semantischen Brüche finden, so sei behauptet, allesamt ihre Erklärung, wenn man das Sonett über das unmittelbar Gesagte hinaus auf das diskursive Repertoire seiner Epoche bezieht. Kaum eine Allegorie, so H. Rahner in seiner Abhandlung Antenna crucis 5, hatte in christlicher Zeit eine solch ubiquitäre Präsenz wie die des Lebens als einer Schiffsreise. Wie fast alle Allegorien, deren sich der christliche Diskurs bemächtigte, ist auch diese antiken Ursprungs 6, aber ihre eigentliche Karriere hinsichtlich Verbreitung und Ausgestaltung en de´tail setzt erst in der Spätantike ein. Ihre Resonanz bricht nicht ab bis zum Ende des Barock. Die auf das Leben des Einzelnen bezogene, gewissermaßen tropologische Variante eröffnet Augustinus mit dem Satz „Navigantes sunt animae in ligno saeculum transeuntes“ 7. Als Grund für die herausragende Prominenz dieses Bildbereichs nennt der zitierte Rahner die Unmittelbarkeit, mit der der Mastbaum des Schiffs sich einer Auslegung auf das Kreuz Christi hin fügt. Insofern ist es bereits ein erhebliches Indiz für die Relation der Petrarkischen Version der Allegorie zu ihrer orthodoxen Standard-Form, daß zwar in dem Text alle erdenklichen Teile des Schiffs bildhaft in Dienst genommen sind (das Steuer, die Ruder, die Segel, die Wanten [,sarte‘]), der Mastbaum aber gar keine Erwähnung findet; er, bzw. das, wofür er steht, die Erlösungstat Christi, die wiederum auf das Befangensein des Reisenden, des Men-
4 Vgl. v. a. LXXIII, V. 22-26 („Ma pur conven che l’alta impresa segua/ continüando l’amorose note,/ sı´ possente e` ’l voler che mi trasporta;/ et la ragione e` morta,/ che tenea ’l freno, et contrastar no ’l pote.“). 5 Gedruckt als Kapitel von H. R., Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, S. 237-564. 6 S. dazu die Nachweise der antiken Quellen, die Rahner den einzelnen Abschnitten seiner Untersuchung voranstellt („Antenna crucis“, passim); die antike Allegorese konzentrierte sich auf die Vorstellungen des Schiffs des Staates, des Schiffs der Seele und des Schiffs des Weltalls (s. S. 319-336). - Für Petrarcas Sonett dürften, was die antiken Bezüge angeht, insbes. von Bedeutung sein Ovid, Ars amatoria I, 6-8 sowie Tristia I, 11, 1-34. 7 Sermo LXIII, 1 (in: Patrologia latina, Bd. 38, Sp. 424); s. weiterhin Enarrationes in Psalmos XXXIV, 1, 3 („Navis tua cor tuum.“ [Die Schriften von Augustinus werden, soweit möglich, nach den Ausgaben des Corpus christianorum zitiert; wenn der Rückgriff auf die Editionen der Patrologia latina nötig war, ist dies vermerkt.]) Zur gesamten Historie der tropologischen Variante der Allegorie s. „Antenna crucis“, S. 387-392; antiker Referenzpunkt ist v. a. Phaidon 85 d.
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schen, im originale peccatum verweist, ist in der Beschreibung dieses Schiffs gewissermaßen ,vergessen‘, dem ,oblio‘ anheimgefallen, wie in V. 1 gesagt wird 8. Versteht man diese rätselhafte Formulierung des Gedichteingangs in diesem Sinne, d. h. als Apostrophierung eines Lebens, dessen wesentliches Merkmal es ist, der Seinsvergessenheit zu unterliegen 9, gewinnen, so scheint es, auch die anderen oben aufgezeigten semantischen Unverrechenbarkeiten ihren Ort: Nacht und Winter sind die gängigen Apostrophierungen der Abwesenheit des christlichen Gottes (des Lichts, der Sonne der Liebe) 10, die mythischen Meeresungeheuer versinnbildlichen traditionell die sittlichen Gefährdungen, die im Zuge der Lebensreise drohen 11, der ,Herr‘, der diesem Schiff die Richtung gibt, ist nicht, wie vorgesehen, Gott-Christus 12, sondern in der Tat der ,nimico‘ des Reisenden, der altböse Feind, insofern er nicht Allegorie von caritas, der Liebe zu Gott, sondern von amor ist, der Liebe zum Geschaffenen, die nur in Tod und Verderben führen kann 13. Nicht das Pneuma des Geistes treibt dieses Schiff 14, sondern ,un vento di desio‘ (V. 7 f.) 15, welcher (hier übrigens explizit gemacht) in der orthodoxen Allegorese für die luxuria 8 Zum zentralen Stellenwert des Mastbaums bereits in den pagan-antiken ,nautischen‘ Texten s. „Antenna crucis“, S. 362-375; zur oben skizzierten christlichen Allegorese s. S. 260 f. sowie S. 375-394. 9 Einen Hinweis in dieser Richtung gibt Noferi (s. o., Anm. 3); nicht ganz deutlich wird, inwieweit Fosters Zuordnung des Sonetts zu den „penitential poems“ im oben entwickelten Sinne gemeint ist (Petrarch [s. Anm. 3], S. 60 u. ö.). 10 Zu Nacht und Kälte als Bildern des regnum des Antichristen s. „Antenna crucis“ (s. Anm. 5), S. 297. 11 S. dazu S. 295 u. S. 449; angesichts der Omnipräsenz des Augustinischen Intertexts im Canzoniere verdient es erwähnt zu werden, daß bei Augustinus Scylla und Charybdis für die Gefahren der Häresie stehen (s. S. 300), was auf die zuweilen explizite und implizit allgegenwärtige Laura-Idolatrie zu beziehen wäre, die auch Gegenstand des hier diskutierten Sonetts ist. 12 Zu Christus als Steuermann des Schiffs in der orthodoxen Allegorese s. „Antenna crucis“, S. 264 (u. passim). 13 Die Opposition von caritas und amor sowie die Qualifizierung der beiden als Quelle alles Guten bzw. alles Bösen („inde omne bonum vel malum“) wird bei Petrarcas theologischem Gewährsmann, Augustinus, am deutlichsten entwickelt in dem kurzen Text De substantia dilectionis (in: Patrologia latina, Bd. 40, Sp. 843-848 [Zitat: Sp. 843]). 14 Zum Hl. Geist als ,gutem Wind‘ s. „Antenna crucis“ (s. Anm. 5), S. 264. 15 Zu den näheren Qualifizierungen des Windes („humido“, „eterno“) sei, was das ,eterno‘ angeht, auf Dante verwiesen (s. u., S. 97), was das ,humido‘ betrifft, der entsprechende Passus aus Hieronymus Lauretus zitiert: „Humentia loca […] sunt terrenorum hominum mentes, quas humor carnalis concupiscentiae, cum replet, fluidas facit. Sunt etiam opera voluptuosa, vel sunt loca genitalia libidinem designantia.“ (Silva allegoriarum totius sacrae scripturae, Barcelona 11570; Köln 101681; Nachdruck München 1971).
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steht 16, und, auch dies entspricht der Referenzfolie, übermächtig ist, das Segel zu zerreißen, d. h. das Schiff in den Untergang zu treiben droht 17. Die Ruderer werden nicht von der eigentlich vorgesehenen sapientia gestellt 18, sondern vom ,penser‘, der als ,pronto et rio‘, als schnell oder sogar vorschnell qualifiziert ist, der also seine Funktion, die des Abwägens, nicht wahrnimmt und der moralischen Gefährdungen, der Stürme und deren Konsequenz, des ewigen Todes, nicht achtet. Error und ignorantia winden sich dementsprechend schlangengleich (,attorto‘) um die Wanten, diejenigen Taue, die den, wie hier behauptet wurde, mit Bedacht in eine praeteritio fallenden Mastbaum zu halten hätten, die aber bereits ,matt‘ geworden sind und deshalb den Mastbaum, der natürlich auch dieses Schiff, wie das Lebensschiff eines jeden renatus, überragt, zu Fall zu bringen drohen, so daß er seine Funktion, die einen glücklichen Ausgang der Reise verbürgt, definitiv nicht mehr zu erfüllen imstande ist 19. Das Schiff reist im Regen, der mit Bezug auf die Sintflut als Strafe für das gottvergessene Sein steht 20, umgeben ist es von Nebeln, den Täuschungen der Dämonen 21, die ratio, der gottebenbildliche Teil des Menschen, der es diesem im Prinzip ermöglichen könnte, die Lebensreise zu meistern, und auch die ars (,arte‘), das Wissen um die rechte Umsetzung der Anweisungen der ratio 22, sind dementsprechend für die16 S. „Antenna crucis“ (s. Anm. 5), S. 301 (sowie Dante, Inf. 5). 17 Zum ,Schiffbruch der Sünde‘ s. „Antenna crucis“, S. 444. 18 Zur sapientia als Ruderer des orthodox verstandenen Seelenschiffs s. „Antenna crucis“, S. 311. 19 Die Taue stehen in der orthodoxen Allegorese für das, was Schiff (Seele) und Mastbaum (Gott-Christus) gewissermaßen zusammenhält, für die caritas Dei (s. S. 308); das ,stanco‘ spielt in der glücklichsten Weise auf diesen Kontext an, insoweit die ,Mattigkeit‘ (acedia) aus der Abwesenheit der caritas Dei resultiert („Sed tristari de bono divino, de quo caritas gaudet, pertinet ad speciale vitium, quod acedia vocatur.“) und demgemäß zur Reorientierung der Liebe auf die corporalia führt, zur Perversion der caritas zu luxuria („[…] sicut illi qui non possunt gaudere in spiritualibus delectationibus transferunt se ad corporales […]“ [Summa theologiae IIa IIae, qu. 35, ar. 2 sowie ar. 4]). 20 Vgl. dazu das Stichwort ,pluvia, pluere, imber‘ bei Hieronymus Lauretus (s. Anm. 15) („Imber inundans est vis divinae punitionis […]“; als Hinweis auf eine weitergehende Deutung als die oben vorgeschlagene sei folgender Passus zitiert: „Pluvia sensim labens significare potest blande illabentes voluptatis illecebras et profluvium luxuriae […]“); zu den Tränen, aus denen dieser Regen gemacht ist, wäre zu bemerken, daß sie Manifestation der Traurigkeit (acedia) sind, welche, wie schon gesagt, in reziproker Relation zum vitium der luxuria steht; die Tränen geben also, allegorisch gesehen, der mit dem Regen anvisierten Gottvergessenheit ein ganz bestimmtes Profil. 21 Zur Allegorese der nebulae s. „Antenna crucis“ (s. Anm. 5), S. 296. 22 S. dazu das Stichwort „ars“ bei Hieronymus Lauretus (s. Anm. 15) („Ars quae dicitur recta ratio rerum factibilium […] Artifex aliquando dicitur Deus, aut sapientia […]“). - So sehr man dies aus moderner Sicht zunächst vermuten würde, das ,arte‘ in seiner primären Bedeu-
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sen Reisenden schon dem Tod anheimgefallen, so daß er sich ⫺ dies als letzte Etappe einer Reise im Zeichen des ,oblio‘ ⫺ der desperatio überantwortet. Gipfel der Stilisierung des Diskurses als einer mise en abıˆme dessen, worauf dieser Diskurs verweist, ist dabei, daß der Sprecher vermeint, seine Reise führe ins Verderben, weil sich ihm die ,dolci usati segni‘ entziehen. Es ist vielmehr dies, die Augen der Geliebten zum Leitstern erhoben zu haben, was ihn ins Verderben zu führen droht. Dementsprechend waren sie schon zuvor, als sie ihm noch leuchteten, unvermeidlich Gestirne der Finsternis, ohne die lebenspendende Kraft der wahren Liebe, Gestirne der Nacht, des Winters, der Kälte und des Todes. ⫺ Es sei nur angefügt, nicht aber ausgeführt, daß wie in anderen vergleichbaren Fällen auch im Fall dieses Sonetts der Autor des Texts, verstanden als Zyklus, seinen Leser nicht ohne Hinweise gelassen hat, wie die Allegorie der Schiffsreise intendiert ist 23. In einer Sestine mit dem Incipit „Chi e` fermato di menar sua vita/ su per l’onde fallaci et per li scogli/ scevro da morte con un picciol legno“ hat er die Allegorie in ihrer orthodoxen Version zitiert und auf die Lebenssituation des Sprechers des Canzoniere bezogen: „L’aura soave [gemeint ist natürlich die Geliebte] a cui governo et vela/ commisi entrando a l’amorosa vita/ et sperando venire a miglior porto,/ poi mi condusse in piu´ di mille scogli.“ Doch, so heißt es dann in dieser Sestine, demjenigen, der ihm einst das Leben geschenkt hat („che mi produsse in vita“), gefällt es schließlich, ihn zumindest von Ferne den wahren Hafen erblicken zu lassen („quell’ altra vita“), dessen „[i]nsegne“ der Reisende denn auch von der Spitze des Mastbaums aus („di su da la gomfiata vela“) zu erkennen in der Lage ist. Unsere Kommentierung des Sonetts ist an diesem Punkt noch nicht zu Ende. Ohne Zweifel verleiht ihm die aufgezeigte sekundäre Folie, die im Kontext des Diskurskosmos dieser Zeit eine selbstverständlich präsente
tung durchbricht keineswegs die hier ausgesponnene metaphora continuata (etwa im Sinne eines Verweises auf die Dichtkunst). In der Prä-Moderne zählt die navigatio zu den artes mechanicae (s. P. O. Kristeller, Humanismus und Renaissance, Bd. 2, München 1974, S. 173). 23 Zu einer parallelen Konstellation s. unsere Kommentierung der intertextuellen Bezüge von Canz. CLXXVI („Per mezz’i boschi“) und Canz. LIV („Perch’al viso d’Amor portava insegna“ [„Mundus imago Laurae. Das Sonett „Per mezz’i boschi“ und die ,Modernität‘ des Canzoniere“, wiedergedruckt in dsem. Bd., S. 54-88, hier: S. 77]; dort auch passim Argumentationen, die für das in der vorliegenden Abhandlung verfolgte Interesse einschlägig sind).
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war 24, eine semantische Dichte und Komplexität, die über die bislang übliche Deutung als allegorisch gefaßter Liebesklage hinausgeht, vor allem weil sie impliziert, daß, worüber der Sprecher klagt, zwar Grund seines Unglücks ist, aber eines Unglücks, welches anderer Art ist, als er vermeint. Das von ihm zum Gegenstand der Klage erhobene Unerfülltbleiben der Laura-Liebe verleiht dem ,vento di desio‘ eine zunächst metaphorisch aufzufassende Eternität, die sich, man denke an Inf. 5, bruchlos in die wahre Eternität zu prolongieren droht. ⫺ Indes, Petrarca ist nicht Dante, anders gewendet, er ist nicht Aristoteliker und Thomist, sondern Augustinist 25. Es ist dies, was dem kommentierten Sonett eine weitere und dann irreduzible Komplexität verleiht, welche über die Opposition von Liebessujet und orthodoxer Morallehre, die in den zwei bislang kommentierten Schichten des Texts angelegt ist, hinausgeht und die das eigentlich Spezifische und auch das Moderne dieses Autors ausmacht. Die Erläuterung dieses Zusammenhangs soll im Anschluß an die Kommentierung des zweiten der beiden Sonette erfolgen, die hier besprochen werden. 24 Wie sehr sich mit dem Einsetzen des rationalistischen Diskurses die Verständnisvoraussetzungen ändern, zeigt die ,Verteidigung‘ Petrarcas und eben auch dieses Sonetts gegen die Einwände Muratoris, die Tommasi zu Beginn des 18. Jahrhunderts formuliert hat (Difesa delle tre canzoni degli occhi e di alcuni sonetti, e varj passi delle Rime di Francesco Petrarca dalle opposizioni del signor Lodovico Antonio Muratori, composta da G. Bartolommeo Casaregi, G. Tommaso Canevari, e Antonio Tommasi, Lucca 1709; zu Canz. CLXXXIX: S. 155-222; die Argumente Muratoris sind abgedruckt S. 195-211). Dem Frühaufklärer Muratori ist der hier geführte allegorische Diskurs völlig fremd und logisch suspekt („E dico piu` tosto, che le sarte, le quali ,sono d’error con ignoranza attorto‘, hanno bisogno d’un buon Comento, affinche` appaia una convenevole somiglianza fra le corde d’una vera Nave, e quelle della Nave immaginata dal Poeta.“ [S. 207]). Aber auch dem Kleriker Tommasi ist der Horizont des Sonetts nur noch in Schwundstufen präsent. So identifiziert er zwar das Schiff als Seele des Sprechers (S. 162), setzt sich anhand des letzten Verses qualifiziert mit Muratoris Deutung des Gedichts als rein mundaner Liebesallegorie auseinander (s. bes. S. 179), tendiert aber, was das Inventar der Schiffahrtsallegorie im einzelnen betrifft, zu einer banalisierenden Deutung („L’aspro mare, la mezza notte, il verno, e gl’infami scogli Scilla, e Cariddi, sono le turbolenze del Secolo, le tenebre della universale ignoranza, la cattiva, e trista stagione, in cui viveva il Petrarca […] Il Vento ,di sospir, di speranze, e di desio‘ si dice non solo ,eterno‘, cioe`, che mai non vien meno: ma ancora ,umido‘, che e` quanto a dir procelloso; poiche` per tale aggiunto s’esprime l’Austro, il quale ci suol portar la burrasca.“ [S. 162-165]). Dementsprechend verbleibt ihm angesichts der historisch naiven, aber durchaus nicht unbegründeten Fragen Muratoris nach der logischen Konsistenz des Sonetts schließlich nur noch die ironische Abqualifizierung des gegnerischen Qualitätsurteils (vgl. S. 210). 25 Zur Diskussion um den Augustinismus Petrarcas s. im einzelnen Vf., „Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance (Überlegungen zum Secretum)“, wiedergedruckt in dsem. Bd., S. 1-53.
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2. Dieses zweite, das einhundertsiebenundsechzigste Stück der Sammlung, hat folgenden Wortlaut: Quando Amor i belli occhi a terra inchina e i vaghi spirti in un sospiro accoglie co le sue mani, et poi in voce gli scioglie, chiara, soave, angelica, divina, sento far del mio cor dolce rapina, et sı´ dentro cangiar penseri et voglie, ch’i’ dico: Or fien di me l’ultime spoglie, se ’l ciel sı´ honesta morte mi destina. Ma ’l suon che di dolcezza i sensi lega col gran desir d’udendo esser beata l’anima al dipartir presta raffrena. Cosı´ mi vivo, et cosı´ avolge et spiega lo stame de la vita che m’e` data, questa sola fra noi del ciel sirena.
Der Reiz dieses Sonetts, das zu den prominentesten des Zyklus gehört, erwächst ohne Zweifel daraus, daß es im Unterschied zum Regeltypus des Petrarkischen Liebesgedichts nicht in Narzißmus aufgeht. Es ist eines der wenigen, in denen von Laura als einer ihrerseits Liebenden die Rede ist, die die Augen niederschlägt, als sie des Liebenden ansichtig wird und der sich als Indiz ihrer Verfassung ein Seufzer entringt, welchen ⫺ so das singulär schöne Bild des ersten Quartetts ⫺ Amor mit den Händen zu einer ,voce‘ formt, d. h. zu einem Wort, das erkennen läßt, wer es aus dem Liebesseufzer gewonnen hat, zu einem Liebeswort also, das Laura an den Sprecher richtet 26, so daß die Ekstase, von der im zweiten Quartett die Rede ist, nicht nur als Aktivierung eines Topos zu begreifen ist, sondern aus der Exzeptionalität der pragmatischen Situation heraus in der glücklichsten Weise motiviert erscheint. Der eigentliche Gegenstand des Sonetts, der von Beginn dieses zweiten Quartetts an entwickelt wird, bedarf, so scheint es, kaum einer Kommentierung. Es hybridisieren sich hier die zwei Varianten des Konzepts 26 Die Kontroverse, ob es sich bei der ,voce‘ um ein (Gruß-)Wort oder um den Gesang Lauras handelt, wird kurz nachgezeichnet im Kommentar von Chio`rboli (welcher sich anders entscheidet als wir; u. E. trägt die Deutung als Gesang V. 1, genauer, der dort konstituierten Begegnungssituation, nicht hinreichend Rechnung).
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eines Aufschwungs der Seele zum Göttlichen, wie sie aus Plato bekannt sind, die ,rapina‘ als Entrückung, die, angeregt durch das Wahrnehmen des irdisch Schönen, bewirkt, daß der Schauende temporär eine Vorahnung, die zugleich Anamnesis ist, des wahren Schönen gewinnt 27, sowie der eigentliche Flug der Seele nach dem Dahinscheiden 28, wobei Petrarca seiner Modellierung der ästhetisch-sinnlichen Ekstase dadurch besondere Eindringlichkeit verleiht, daß er die ,rapina‘ zum Auslöser des Verlangens nach definitiver Schau des Reichs des Schönen zu stilisieren scheint, des Wunsches nach Reduktion des dann noch lebendigen Körpers auf die Dimension der ,ultime spoglie‘ 29. Der Gestus der Bezugnahme auf diesen Topos entspricht dabei dem Verfahren, dem der Zyklus immer dann folgt, wenn er Repertoires kanonisierter Diskurse aufruft. Das lyrische Ich folgt dem Weg, den diese offiziellen Diskurse zum verbindlichen erklären, durchweg nicht 30, sondern es thematisiert, inwiefern und warum es davon abweicht, nutzt also die Norm als Folie der Stilisierung von De-Normierung. In diesem Fall: die Schönheit der Stimme Lauras, die gemäß der platonischen Theorie das Verlangen nach dem Aufstieg vom minder Schönen zum wahrhaft Schönen auslöst, erscheint ihm so groß, daß sie seine Seele ⫺ ,al dipartir presta‘ ⫺ bremst und im Irdischen festhält. Die aufgerufene partielle Legitimierung des sinnlich Schönen als eines Vehikels des Aufschwungs zum immateriell Schönen aktualisiert auf diese Weise mit aller Prägnanz, daß der Sprecher ganz im Irdischen befangen bleibt, und der melancholische, keineswegs triumphalistische Ton, der diesem Verharren im Nicht-Normenkonformen verliehen ist, reflektiert einen Zwiespalt, der in den lyrischen und anderweitigen Texten dieses Dichters omnipräsent ist, das Syndrom von Wollen und Nicht27 Symposion 210 a-212 c. 28 Phaidros 245 c-249 d, bes. 249 a-d. 29 Die Kommentatoren, ausgenommen Leopardi, setzen die sprachliche Evidenz von V. 7 voraus, was durch die unzweideutige Verständlichkeit der Formulierung „ultime spoglie“ sicherlich z. T. gerechtfertigt ist. Gleichwohl sei angemerkt, daß das „fien“ im Anschluß an G. Rohlfs historisch als Latinismus mit der Wurzel ,fieri‘ und semantisch als Äquivalent von ,saranno‘ aufzufassen ist (Historische Grammatik der italienischen Sprache und ihrer Mundarten, 3 Bde., Bern 1954-1972, § 592, „Archaische und sporadische Futurformen“; Rohlfs führt als Autoren Dante, Boccaccio und Machiavelli an). 30 Der Deutlichkeit halber sei gesagt, was indes aufgrund des oben unmittelbar anschließend in Erinnerung gerufenen Bildungshorizonts Petrarcas evident sein dürfte: Der vom Autor des Canzoniere zitierte Plato ist weitgehend ein vermittelter Plato; das Problem der gängigen Kommentierungen dieses und vergleichbarer Gedichte ist, von den zwei diskursiven Repertoires, über die sich der Platonismus an Petrarca vermittelte, stets nur das unmittelbar naheliegende einzubeziehen (dazu auch u., Anm. 39).
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Können, in den Worten der zweifach bezogenen, pagan-antiken und christlichen Intertextualität, die er so sehr schätzte, „et veggio ’l meglio, et al peggior m’appiglio.“ 31 Bei aller Perfektion der ästhetischen Form, die diesem Sonett in der Rezeption stets einen besonderen Rang gesichert hat, scheint der Text philologisch gesehen außerordentlich unaufregend, insofern er zum ersten von der Botschaft her nicht über das im Canzoniere überall Präsente hinausgeht, und zum zweiten, was das Intertextuelle betrifft, ohne Zweifel auf das Symposion sowie den Phaidros Bezug nimmt, so daß man auch in dieser Hinsicht bei einer erzbekannten Konstellation wäre, dem Bild von Petrarca als erstem Humanisten. Diese Einordnung des Sonetts findet sich dementsprechend so, wie sie hier skizziert wurde, in mehr oder minder konziser Form in den autoritativen Kommentaren und in der Sekundärliteratur, soweit diese auf den Text eingeht 32. Bei genauerer Betrachtung indes stellen sich zwei Probleme. Zum ersten: Bei Plato ist im Symposion nicht vom Klang, sondern vom menschlichen Körper als Paradigma des irdisch Schönen die Rede, ein Register, das aufzugreifen, wie etwa die spätere petrarkistische Tradition zeigt, zumal im Kontext eines Liebessonetts durchaus nahe gelegen hätte. Zwar führt Plato im Hippias dann auch den Klang unter den Manifestationen der irdischen Erscheinungsformen des Schönen auf 33, aber den Hippias hat der Vater des Humanismus, der zu dieser sublimen Würde aufstieg, ohne des Griechischen mächtig gewesen zu sein, nicht gekannt 34. Warum also, so die erste Frage, die zu beantworten steht, läßt Petrarca in einem Sonett, das eine von den Sinnen vermittelte ästhetische Ekstase zum Gegenstand hat, das humanistisch gesehen Naheliegende, das Lob der Körperlichkeit der Geliebten, beiseite und kapriziert sich auf ein Register, das aus Sicht der antiken Tradition eher peripheren Status hat, die Schönheit des Klangs, näherhin der Stimme? Die zweite Frage, die zu beantworten stünde, wäre die, ob die Bezugnahme auf das Platonische Konzept des Aufstiegs vom irdisch Schönen 31 CCLXIV, V. 136; bezogen sind Ovid, Met. VII, 20 f. und Augustinus, Confessiones VIII, 8 (19)-VIII, 12 (30); vgl. bes. VIII, 10 (22). 32 Zur herangezogenen Literatur s. o., Anm. 3; es sei gesagt, daß der pagan-antike Horizont des Sonetts dort eher vorausgesetzt als erläutert und nachgewiesen wird, was aber sicherlich auch auf den Status des Platonismus als selbstverständlich präsentes Bildungswissen (in der betreffenden Zeit, in dem betreffenden Land) zu beziehen ist. 33 Vgl. 297 e-298 b; s. auch Timaios 47 c-e. 34 Dazu im einzelnen: P. de Nolhac, Pe´trarque et l’humanisme, 2 Bde., Paris 21907 (11892), Bd. 2, Kap. 8 („Pe´trarque et les auteurs grecs“).
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zum wahren Schönen, das eine philosophische Legitimierung, und sei es eine partielle, dieses irdisch Schönen und im Anschluß daran des Sinnlichen impliziert, hier mit der von den Kommentatoren behaupteten Eindeutigkeit vorliegt. Sieht man noch einmal in den Text, so steht dort, daß der Klang von Lauras Stimme den Sprecher in den Zustand der ,dolce rapina‘ versetzt, in welchem er sodann verspürt, daß seine ,penseri et voglie‘ eine Veränderung erfahren; daß sie sich jedoch von dem Verlangen des Genusses des irdisch Schönen auf den Wunsch nach Schau des metaphysisch Schönen reorientierten, ist nicht gesagt, es ist eine Extrapolation von uns Lesern, die wir die Ellipse, die das Objekt ausspart, auf das sich die ,voglie‘ im Anschluß an das ,cangiar‘ richten, ohne weiteres vermittels des Registers ergänzen, das das Sonett anzitiert. Befördert wird diese gedankliche Nachlässigkeit dadurch, daß auch die folgenden fünf Verse (7⫺11) auf ein Konzept zu referieren scheinen, das zu dem zunächst zitierten in semantischem Konnex steht, die Platonische Vorstellung des Flugs der Seele zum Göttlichen, ins Reich der Ideen und also der Schönheit, nach Ende des irdischen Lebens. Es wurde bereits gesagt, daß aus Sicht der Platonischen Tradition das, was Petrarca hier in die Verse eines einzigen Sonetts faßt, als gedankliche Hybride aufzufassen wäre. Denn bei Plato ist von einem von der Schau des irdisch Schönen ausgelösten Todeswunsch an keiner Stelle die Rede, und ein solcher Gedanke wäre auch ganz unantikisch. Bei Petrarca andererseits ist von einer Schau des wahrhaft Schönen, die die ,anima‘ nach dem Abstreifen der ,ultime spoglie‘ zu gewärtigen hätte, mit keinem Wort die Rede, so daß das in dem Sonett tatsächlich Gesagte sich darauf reduziert, daß der Sprecher durch den Klang der Stimme der Geliebten in eine sinnliche Ekstase versetzt wird, die in ihm die Erwartung auslöst, in diesem Zustand und augenblicklich dahinzuscheiden. Es könnte damit durchaus auch gemeint sein, daß er die Süße des zugleich sinnlichen und ästhetischen Genusses als eine nicht mehr zu transzendierende höchste Form des Erlebens begreift und auf diesem Gipfel des Glücks wünscht, mit der wechselvollen irdischen Existenz abzuschließen, ohne überhaupt der Problematik einer eventuellen, wie auch immer gearteten jenseitigen Existenz einen Gedanken zu widmen. Einer solchen Lesart wären dann auch die Verse des ersten Terzetts kompatibel. Platonisch gesehen ist es überaus inkonsistent, daß das irdisch Schöne denjenigen, der bereits das Trachten auf Höheres gerichtet hat, dann doch zurückhält. Die Legitimierung des Sinnlichen, die in dem Konzept des Aufstiegs angelegt ist, beruht ja gerade auf der Annahme, daß dieses Sinnliche, sobald es dem Betrachter eine schwache Vorahnung
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des wahren Schönen vermittelt hat, für diesen, als Unvollkommenes, jedes Interesse verliert 35. Anders bei Petrarca: Der Sprecher schwankt zwischen dem Wunsch, auf dem Gipfel der beatitudo zu sterben, und dem Verlangen, diese beatitudo, gemeint ist damit, wie V. 10 explizit macht, der sinnliche Genuß („col gran desir d’udendo esser beata“), zu prolongieren, und er entscheidet sich letztlich für diese Möglichkeit, im Bewußtsein durchaus der vielfältigen Problematik dieser Entscheidung, auf die in einzigartiger Prägnanz das letzte Wort des Sonetts, die funkelnde mythische Metapher der Sirene, verweist. Platonisch ist sie diejenige, die die Sphärenmusik intoniert 36, welche wiederum die der reinen Schönheit der Idee am meisten angenäherte Form des Schönen repräsentiert, mythologisch gesehen ist sie diejenige, deren süße Stimme den, der sich davon locken läßt, in Tod und Verderben stürzt 37. Diese, die hier apostrophierte Sirene, ist zwar eine ,sirena del ciel‘, jedoch eine solche, die ,fra noi‘ ihre ,voce chiara, soave, angelica, divina‘ ertönen läßt, so daß offen bleibt, ob sie und das, was sie vermittelt, letzte Vorstufe des Wahren oder aber Vehikel des Verderbens sind, wobei die allusiv kopräsente Vorstellung der Parze, derjenigen also, die den Lebensfaden (,lo stame de la vita‘) nicht nur spinnt und zieht, sondern der es auch zukommt, ihn nach eigenem Gutdünken zu durchtrennen, eher zugunsten der Isotopie der Bedrohlichkeit wiegt 38. Vielleicht lohnt angesichts der mannigfachen, hier nur kurz umrissenen Probleme, das Sonett als ein Dokument der Plato-Rezeption in der europäischen Liebeslyrik zu lesen oder auch als Absage an das Liebeskonzept des lyrischen Intertexts der Sammlung, das des dolce stil novo, d. h. als Dokument einer vermittelten, prä-humanistischen Plato-Rezeption 39, der Versuch, sich nach anderen diskursiven Repertoires umzu35 Auch die vielzitierte Passage Phaidros 249 e-257 b, die dem Sinnlichen einen höheren Stellenwert einräumt als ihr Pendant im Symposion, kennt keinen Zweifel daran, daß letztlich das physisch Schöne immer die Sublimation des sinnlichen Affekts bewirkt. Grund dafür ist, daß das physisch Schöne platonisch bzw. pagan-antik gesehen zwar ein Unvollkommenes, jedoch kein prinzipiell Korrumpiertes ist. 36 Vgl. Politeia 617 b (s. aber auch Kratylos 403 d, wo die Sirenen als chthonische Wesen charakterisiert werden). 37 S. dazu Odyssee XII, 39-54 (und auch 158-200). 38 S. hingegen die gänzlich platonisierende Deutung bei Foster („She is a trace of the Divine Beauty“ [Petrarch (s. Anm. 3), S. 73]). 39 Natürlich ist das eine wie das andere auch eine Dimension des Texts, wie aus anderen Stücken der Sammlung erhellt. In dem Streitgespräch zwischen Liebendem und Amor vor dem Sitz der Ratio, das Canz. CCCLX inszeniert, vertritt Amor die Position des dolce stil novo, exemplifiziert sie u. a. anhand des Klangs von Lauras Stimme („et sı´ dolce ydı¨oma/ le diedi, et un cantar tanto soave,/ che penser basso o grave/ non pote´ mai durar dinanzi
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schauen, vor deren Hintergrund der Text mehr als eine nur flüchtig unterstellte Kohärenz gewinnen würde. ⫺ Natürlich ist das in der bisherigen Diskussion um den Text ubiquitäre Stichwort ,Plato‘ nicht abwegig schlechthin. Zu suchen wäre nach einem Register der platonistischen Tradition, das zum ersten das bei Plato eher indolent verhandelte Problem des Klangs und der Stimme als Paradigma des irdisch Schönen privilegiert, das zum zweiten die für Original-Plato und die gesamte pagan-antike Rezeption distinktive Figur des Aufstiegs vom sinnlich Schönen zum geistig Schönen problematisiert zugunsten des Konzepts der Gefährdung des Subjekts durch die Faszination des schönen Scheins, nach einem Register, das zum dritten Petrarca nicht nur bekannt, sondern vertraut gewesen sein sollte und dessen mise en discours in diesem Kontext zugleich textimmanent und texttranszendent Plausibilität haben sollte, d. h. nicht nur in diesem, sondern auch in anderen Stücken der Sammlung als Folie nachweisbar sein müßte. Dieses Register, welches in dem Sonett „Quando Amor i belli occhi a terra inchina“ nachgerade zitiert wird, ist Augustins Theorie des Schönen. Petrarcas geistiger Konterpart, der einzige, den er zur Würde eines fiktiven Dialogpartners erhob, war Platoniker wider Willen, aus dem immanenten Zwang einer Theologie heraus, der er wie kein zweiter in der christlichen Tradition Profil verliehen hat. In seiner Auseinandersetzung mit Manichäismus und Gnosis sah sich Augustinus mit den Konsequenzen der Behauptung der Korruption alles Irdischen konfrontiert, die dem Christentum deshalb unverzichtbar ist, weil sie aus dem Dogma der Erbsünde folgert, welch letzteres erst in der Lage ist, die Erlösungsbedürftigkeit der Welt zu begründen und damit Christi Opfertod den Sinn zu verleihen. Die Gnosis steigert den Gedanken der Verderbtheit des Irdischen bis zum Konzept absoluter und originärer Korruption, bestreitet von daher den Mythos des Gottgeschaffenseins und der Gottebenbildlichkeit der Welt, welche als Produkt eines fundamental bösen Demiurgen erscheint, auf die der Mensch nur reagieren kann vermittels radikaler Weltabwendung, so die antike Variante, oder des Versuchs gleich
a lei.“ [V. 101-104]) und legt im weiteren Verlauf die platonische Konzeption des irdisch Schönen als eines Vehikels des Aufschwungs dar (vgl. bes. V. 136-143). Der Liebende indes beschuldigt Amor, ihn ins Verderben geführt zu haben, d. h. dementiert das zugleich platonistische und stilnovistische Konzept der Legitimierung des irdisch Schönen aufs gründlichste. Auch diese Absage an Platonismus und Stilnovismus hat ihren Referenzpunkt letztlich in der Augustinischen Theologie, aber im Fall des von uns behandelten Sonetts sind die intertextuellen Relationen unmittelbar (s. anschließend).
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radikaler Weltverwandlung, letztlich Neuschöpfung, so die in der Moderne dominierende Variante des gnostischen Konzepts 40. Augustinus konnte nicht anders als dagegen eine zumindest partielle Legitimierung des Irdischen setzen, andernfalls wäre das christliche Konzept eines gnädigen Schöpfergottes nicht erst mit dem Einsetzen der romantisch-modernen Episteme in den Sedimentschichten des Diskurses versunken. Er bedient sich dazu des Platonischen Gedankens einer abgestuften Teilhabe des Irdischen, das aber immer nur Schein bleibt, am wahren Sein, muß indes angesichts der Unverzichtbarkeit des Erbsünden-Dogmas dasjenige, was bei Plato eine Stufenleiter ist, die zu erklimmen keine prinzipiellen Schwierigkeiten stellt, zugunsten einer logisch komplexen, letztlich paradoxen Figur ersetzen, die die Auflösung des Paradoxon dem Menschen zumutet 41. Naheliegenderweise handelt Pe40 Zur von H. Jonas und H. Blumenberg beschriebenen, teils verdeckten, teils unverhüllten Präsenz der Gnosis in der gesamten abendländischen Geschichte bis auf den heutigen Tag s. H. J., Gnosis und spätantiker Geist, 2 Bde., Göttingen 1934/1954 (31964/21966), ders., The Gnostic Religion. The Message of the Alien God and the Beginnings of Christianity, Boston 2 1973 (11958) sowie die in drei Teile aufgespaltene überarbeitete Neuauflage von H. B., Die Legitimität der Neuzeit (Aspekte der Epochenschwelle: Cusaner und Nolaner, Frankfurt a. M. 1982; Der Prozeß der theoretischen Neugierde, Frankfurt a. M. 1980; Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a. M. 1983; was Blumenberg angeht, ist v. a. der letztgenannte Titel einschlägig). 41 In dem oben aufgezeigten Hiat liegen die Grenzen der weitverbreiteten Qualifizierung der Augustinischen Ästhetik als platonistisch, näherhin als Plotinisch, begründet. Zwar ist schon bei Plotin und aus Gründen, die in eine ähnliche Richtung weisen wie später bei dem Kirchenvater, der Körper weitgehend durch den Klang als Paradigma des sinnlich Schönen ersetzt, jedoch hält Plotin, eben weil er kein Erbsündendogma in die Argumentation zu integrieren hatte, an dem Platonischen Konzept des Aufstiegs, das das Konzept einer Seinshierarchie ohne prinzipiellen Bruch voraussetzt, sowie an der vorbehaltlosen Legitimierung des (sublimativ verstandenen) irdisch Schönen und im Anschluß daran der Kunst bzw. des Kunstwerks fest (Enneades, passim, vgl. hier bes. VI, 7, 32-55). Augustinus hat in Confessiones IV, 10 (15)-15 (24) die original-Platonische bzw. platonistische Position zitiert und sie unzweideutig bewertet, als eine der zahlreichen irrigen Auffassungen, denen er vor seiner Bekehrung anhing („Haec tunc non noueram et amabam pulchra inferiora et ibam in profundum […] Sed tantae rei cardinem in arte tua nondum uidebam, omnipotens, qui facis mirabilia solus, et ibat animus per formas corporeas et pulchrum, quod per se ipsum, aptum autem, quod ad aliquid accommodatum deceret, definiebam et distinguebam et exemplis corporeis astruebam. Et conuerti me ad animi naturam, et non me sinebat falsa opinio, quam de spiritalibus habebam, uerum cernere.“ [IV, 13 (20) sowie 15 (24)]). - Bezeichnend für die oben gemeinten Paradoxien der Augustinischen Theologie ist die Auseinandersetzung mit Plotins Theorie des Schönen, die Augustinus in De civitate Dei X, 14 führt: „De prouidentia certe Plotinus Platonicus disputat eamque a summo Deo, cuius est intellegibilis atque ineffabilis pulchritudo, usque ad haec terrena et ima pertingere flosculorum atque foliorum pulchritudine conprobat; quae omnia quasi abiecta et uelocissime pereuntia decentissimos formarum suarum numeros habere non posse confirmat, nisi inde formentur, ubi
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trarcas Gewährsmann, wenn er im Anschluß an Plato das Konzept einer Art Teilhabe des irdisch Schönen am metaphysisch Schönen entwickelt, nicht über die Schönheit des Körpers, welche aus christlicher Sicht immer nur Stimulans der luxuria ist, derjenigen Sünde, deren Heftigkeit das deutlichste Indiz des Verfallenseins an die Erbsünde ist 42. Er wählt für seine Zwecke ein unverfänglicheres Repertoire des irdisch Schönen, ein weniger an die Materialität gebundenes sinnlich Erfahrbares, die Schönheit des Klangs. Seine Legitimierung des irdisch Schönen entwikkelt Augustinus nicht ausschließlich, aber doch vorrangig in einem Traktat, der sich schon vom Titel her auf diesen ontologisch am wenigsten problematischen Teilbereich des irdisch Schönen beschränkt, in De musica 43. Zwei Dinge sind es, die die Schönheit des Klangs vor den anderen irdischen Manifestationen des Schönen auszeichnen. Wie alles, was die Sinne wahrzunehmen vermögen, ist zwar auch der Klang gebunden an die korrupte Materialität, entspricht jedoch als wesentlich zahlenhaft organisiertes Stratum des irdischen Seins nicht dem anderweitigen Geschaffenen als solchem, sondern dem von Gott in der Schrift geoffenbarten Prinzip der Schöpfung („sed omnia in mensura, et numero et pondere disposuisti.“ [Sap 11, 21]) 44. Das zweite Argument, das Augustinus beforma intellegibilis et incommutabilis simul habens omnia perseuerat. Hoc Dominus Iesus ibi ostendit, ubi ait: ,Considerate lilia agri, non laborant neque neunt. Dico autem uobis, quia nec Salomon in tota gloria sua sic amictus est, sicut unum ex eis. Quod si faenum agri, quod hodie est et cras in clibanum mittitur, Deus sic uestit: quanto magis uos, modicae fidei?‘ Optime igitur anima humana adhuc terrenis desideriis infirma ea ipsa, quae temporaliter exoptat bona infima atque terrena uitae huic transitoriae necessaria et prae illius uitae sempiternis beneficiis contemnenda, non tamen nisi ab uno Deo expectare consuescit, ut ab illius cultu etiam in istorum desiderio non recedat, ad quem contemptu eorum et ab eis auersione perueniat.“ 42 Dazu: De civitate Dei XIV, bes. 9, 10 und 16. Da auch Augustinisch gesehen die Schönheit Attribut Gottes ist, spricht der Kirchenvater mit Blick auf die Folgen der Erbsünde (Hinfälligkeit und Tod) dem Körper als sterbliche Hülle die Schönheit ab. Wahrhaft schön ist einzig der Auferstehungsleib (dazu: XII, 19), so daß das Verfallensein an die physische Schönheit auch insofern Indiz fundamentaler Sündenverhangenheit ist, als es auf das Ignorieren des Wesens des Schönen verweist. 43 Der platonistische Bezugspunkt der Argumentation dokumentiert sich am deutlichsten in VI, 14, wo Augustinus den Gedanken entwickelt „Ad Dei amorem provocatur anima ex numerorum et ordinis ratione quam in rebus diligit“ (in: Patrologia latina, Bd. 32, Sp. 1081-1194, hier: Sp. 1186). 44 „Corpora enim tanto meliora sunt, quanto numerosiora talibus numeris.“ (De musica VI, 4 (7)), so der Kernsatz einer Hierarchisierung des Körperhaften nach dem Maßstab der ,Zahlenhaftigkeit‘, modern gesprochen, der Abstraktion; zu den mannigfachen Differenzierungen dieser Legitimierung der wohlgeformten Töne, die allesamt dem Interesse dienen, ein im Wortsinn ästhetisches Verständnis des Klangs als geistig und moralisch minderwertig zu brandmarken, s. die anschließenden Kapitel. Das oben zitierte und im gesamten sechsten
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müht, führt noch näher an den hier interessierenden Text heran, wo nicht vom Klang in Form der Musik, sondern in Form der ,voce‘ die Rede ist. Der Klang ist auch deshalb den anderen Erscheinungsformen des Irdischen überlegen, weil er das Medium ist, in dem sich der logos vermittelt. Seine Auszeichnung vor allem anderen Irdischen allerdings existiert nur und insoweit, wie er menschlich unverzichtbarer Repräsentant des logos ist 45. Die phone von ihrem Signifikat zu lösen und als reinen Klang zu begreifen, gar zu genießen, heißt nichts anderes, als sich der Aisthesis zu überantworten, den Weg der „voluptas aurium“ zu gehen, welch letztere metaphysisch problematischer noch als die anderen voluptates ist, weil aufgrund ihrer Affinität zum Genuß der wahren Geordnetheit sie geeignet ist, den Hörenden im Moment des Genusses über ihren Status hinwegzutäuschen, welcher sich gleichwohl aus der Rückschau unzweideutig enthüllt: „Ita in his pecco non sentiens et postea sentio.“ 46 ⫺ Manifest wird die fundamental problematische Dimension des Klangs, die ihn trotz reduzierter Körperlichkeit als Register einer durch die Erbsünde korrumpierten Welt ausweist, darin, daß im Unterschied zum logos, der instantan präsent ist, sich die phone immer nur entfalten kann in jener Zeitlichkeit, die Gott mit allen Konsequenzen, darunter als gravierendste Verfall und Tod, in Reaktion auf den Fall der Stammeltern seiner originär ,guten‘ Schöpfung hinzugefügt hat 47. Buch des Traktats bezogene Diktum aus der Weisheit Salomos (s. bes. VI, 11 (29) sowie 17 (57) und (58)) ist bekanntlich einer der Basis-Sätze der älteren ,christlichen‘ Ästhetik. Bei Augustinus ist der Gedanke allerdings nicht zum Zweck der Ermächtigung des Ästhetischen, sondern zum Zweck maximaler Beschränkung aller legitimen Aisthesis in Dienst genommen. 45 Augustinus entwickelt seine Sprachauffassung in De trinitate XV, 10-16; s. hier v. a. 10 (19), 11 (20) sowie 15 (24). - Zum Stellenwert der Augustinischen Theorie von Klang und Sprache für Petrarcas Dichtung s. auch schon A. Kablitz, „Verwandlung und Auflösung der Poetik des fin’amors bei Petrarca und Charles d’Orle´ans. Transformationen der spätmittelalterlichen Lyrik diskutiert am Beispiel der Rhetorik des Paradox“, in: W.-D. Stempel (Hrsg.), Musique naturele. Interpretationen zur französischen Lyrik des Spätmittelalters, München 1995, S. 261-350. 46 Confessiones X, 33 (49); zur näheren theologischen Begründung der Problematik einer rein ästhetischen Betrachtung der Schönheit der Welt (und der noch größeren der bewußten Produktion rein ästhetisch funktionalisierter Gebilde, in moderner Terminologie, von Kunst) s. De musica VI, 13 (37)-(42). 47 Zum Verlorensein an die Zeitlichkeit als Konsequenz und Indiz der Erbsünde s. v. a. Confessiones XI, bes. 30 (40), wo Augustinus differenziert nach der Kreatur im geläufigen Sinne und der ,creatura super tempora‘, dem zwar nicht gottgleich ewigen, aber, da nicht erbsündig, gleichwohl nicht zeitlichen Stratum des Geschaffenen, den Engeln; zur Gebundenheit der menschlichen Rede an die Zeitlichkeit s. Confessiones IV, 10 (15); zur Zeitlichkeit selbst
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Blickt man aus dieser Perspektive zurück auf unseren Text, wird deutlich, daß, was dem Sprecher dieses einhundertsiebenundsechzigsten Stücks des Canzoniere widerfährt, anhand der von Augustinus als besonders prekär bezeichneten Variante des ästhetischen Genusses die allem irdisch Schönen unverbrüchlich eingeschriebene Gefährdung exemplifiziert: „Obligata enim anima amore terreno, quasi uiscum habet in pennis; uolare non potest.“ 48, so die bei Petrarca in diesem Sonett aufgegriffene Metapher, die der Kirchenvater in seiner Auslegung von Ps CXXI zur Illustration seiner These gewählt hatte. Und mit der Frage „Beatam uitam quaeritis in regione mortis: non est illic. Quomodo enim beata uita, ubi nec uita?“ 49 hat Petrarcas christlicher Lieblingsautor auch bereits das Verdikt über jenen Versuch der Gewinnung der beatitudo artikuliert, von dem der Sprecher des Sonetts vermeint, dies zumindest bleibe, wenn schon der eigentliche volus nicht glückt. Indes, angesichts des Augustinischen Intertexts, auf den das Sonett referiert, wird man in dem, was platonisch gesehen als ein Scheitern des Aufstiegs zum wahrhaft Schönen erscheinen muß, christlich ein Scheitern, gewiß, ein Gegenparadigma zu der gelingenden Entrückung, die einst Augustinus und Monica zuteil wurde 50, jedoch zugleich eine Manifestation jener Gnade sehen müssen, in der auch der Sünder Franciscus aufgehoben ist, selbst wenn er dies nicht weiß oder wissen will. Der Himmel verweigert ihm einen Tod, der nur ihm, dem Sünder, als ,honesta‘ erscheint, der aber als Tod auf dem Gipfel sinnlichen Genusses ein metaphysisch verderblicher sein müßte, und überantwortet ihn aufs neue jenem Leben (,vita‘), das ihm die Vorsehung, und nicht, wie er vermeint,
der abstraktesten Kategorie von Zahl und Geordnetheit, die dem menschlichen Geist eigen ist, den numeri iudiciales, s. De musica VI, 7 (17)-(19). 48 Enarrationes in Psalmos CXXI, 1 (wir zitieren nur den Kernsatz; zur genaueren Beurteilung des Verhältnisses des Sonetts zu dieser Folie ist der gesamte Passus heranzuziehen). 49 Confessiones IV, 12 (18); s. auch die Parallele in De musica VI, 14 (46). 50 S. dazu Confessiones IX, 10 (23-26); Bedingung dieses Seelenflugs und der dabei gewonnenen Vorahnung des Göttlichen und des ewigen Lebens, die dem bereits getauften Augustinus und seiner kurz vor dem Hinscheiden stehenden Mutter gewährt werden, ist, daß sich beide von Beginn an bewußt sind, ,daß kein Entzücken der Sinne, so groß es auch sei, würdig ist, mit den Wonnen jenes Lebens verglichen, ja, in diesem Zusammenhang auch nur erwähnt zu werden‘ („[…] ut carnalium sensuum delectatio quantalibet in quantalibet luce corporea prae illius uitae iucunditate non comparatione, sed ne commemoratione quidem digna uideretur […] Et adhuc ascendebamus interius cogitando et loquendo et mirando opera tua et uenimus in mentes nostras et transcendimus eas, ut attingeremus regionem ubertatis indeficientis, ubi pascis Israhel in aeternum ueritate pabulo, et ibi uita sapientia est, per quam fiunt omnia ista […]“ [IX, 10 (24)]).
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die mythische Parze zumißt und dessen Ausgang, so zumindest die damals noch autoritative Lehre, sich daran entscheidet, ob dieser Erlebende und Sprechende es vermag, augenblicklich oder später, das letzte Wort seines Texts, ,questa sola fra noi del ciel sirena‘, richtig zu deuten 51. In den abschließenden Gedichten der Sammlung behauptet der Sprecher, diese Wende vollzogen zu haben. Augustinisch gesehen indes entbehrt dieses fast klischeehafte Erbringen einer Bekehrung aller Garantien. Nichts hindert einen allmächtigen Gott, den Gerechten und Bekehrten der Verdammnis zu überantworten, nichts, den weltverlorenen Sünder ins Paradies aufzunehmen 52. So ist zwar dem Menschen Franciscus eine Auslegung des ambivalenten Schlußworts seines Texts abverlangt. Aber aus Sicht derjenigen Theologie, die Petrarca vertrat, bleibt es metaphysisch bedeutungslos, ob jene Sirene, deren süßem Klang der Sprecher dieses Sonetts rückhaltlos erliegt, die Himmelssirene oder ihr mythischer Kontrapost ist. Die von der göttlichen Autorität geforderte Entscheidung dient einzig der Demonstration schrankenloser Allmacht. Was als Dimension menschlich sinnvollen Handelns bleibt, ist, die unaufhebbare Komplexität des Irdischen zu sagen und ihr durch die Ästhetisierung zu einer Dignität zu verhelfen, die vielleicht in der Lage ist, die unverfügbare wahre durch eine mundane immortalitas, die über die Zeiten dauernde gloria des Dichters zu substituieren 53. H. Blumenbergs These, daß aus der Erkenntnis grundsätzlicher Unverfügbarkeit Gottes, die sich seit Ende des 13. Jahrhunderts Bahn brach, die ,Selbstermächtigung‘ des Menschen und damit die Moderne resultiere 54, bedarf im Hinblick auf die weltmodellierenden Diskurse der Differenzierung. Nicht Augustinus, auch nicht Petrarca, Descartes ist der geistige Vater der modernen Welt. Anders liegen die Dinge im Fall der ästhetischen Diskurse. Wenn im Zeichen eines übermächtigen Gottes der
51 Den hier und im folgenden Passus gestreiften Zusammenhang, Petrarcas Position in der Kontroverse zwischen Thomismus und Augustinismus, welche alsbald nach Thomas’ Tod einsetzte und von der wesentliche Impulse für den Beginn der geistigen Moderne ausgingen, haben wir ausführlicher in der oben zitierten Veröffentlichung diskutiert (s. Anm. 25). 52 S. dazu v. a. Confessiones XIII, 23 (33). 53 Dieser Gedanke ist das provokative Ergebnis des Dialogs, den Petrarcas fiktiver Konterpart Franciscus mit ,Augustinus‘ im Secretum über die Frage des rechten Lebens und des Heils führt (s. dazu auch unsere Kommentierung des Secretum [„Das Schweigen der Veritas“ (s. Anm. 25), bes. S. 24]). 54 Zu Blumenbergs Argumentation s. Säkularisierung und Selbstbehauptung (s. Anm. 40), passim, bes. S. 156-266 (Zitat: S. 169).
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theologische Diskurs als Register des ,souci de soi‘ 55 fundamental sinnlos wird, verbleibt das Regnum ästhetischer Kultivierung der Rede des Ichs über sich selbst und damit das einer Unsterblichkeit, die aus dem von dem Humanisten Petrarca mit Vehemenz postulierten transhistorischen Sein des Kunstschönen emaniert. Der singuläre Rang des Ästhetischen bei Petrarca und dessen Verständnis als einer sich selbst genügenden Funktion der Rede, im Kontext dieser Zeit ein revolutionäres Konzept, ist Reflex der aus der Augustinus-Lektüre gewonnenen Erkenntnis irreduzibler metaphysischer Unverfügbarkeit. So kann der Wortlaut von „Quando Amor i belli occhi a terra inchina“ als Allegorie des gesamten Zyklus, vor allem seiner diskursiven Modernität verstanden werden. Die Konsequenzen dessen, was hier beschrieben wird, sind eskamotiert zugunsten der Beschreibung dessen, was menschlich möglich ist, soweit man nur bereit ist, sich dem Faszinosum des süßen Klangs zu überlassen, einer unio aesthetica, die das aus der Ferne und nur noch matt aufleuchtende Bild der unio mystica gänzlich verdrängt hat.
3. Die vorgetragene Argumentation erlaubt es, abschließend einige Erwägungen zu zwei eingangs gestreiften Problemen grundsätzlicheren Belangs zu formulieren, zum einen zur Frage nach der Singularität des Lyrikers Petrarca in seiner Zeit, zum anderen nach den Differenzen von traditioneller Literarhistorie und Diskursarchäologie, Differenzen, die auf der Manifestationsebene jeweiliger e´nonciations, wie vielleicht an dem oben Entwickelten deutlich wurde, sich zuweilen so sehr nivellieren, 55 Im Zeichen dieses Konzepts hat M. Foucault in seiner Histoire de la sexualite´ versucht, dem Siegeszug des Christentums in der Spätantike eine andere als die dogmatische und eine andere als die älteren, bestenfalls schwach-rationalen Erklärungen zu schaffen: Der Diskurs der ,Selbstsorge‘ gehört zum diskursiven Inventar der paganen Antike, und er erfährt in der prä-christlichen Spätantike einen einzigartigen Aufschwung (Stoizismus). Die christliche Religion, bzw. das, was von dieser Religion bereits existierte, bevor sie durch Hybridisierung mit der paganen Metaphysik die aus späterer Zeit vertraute Gestalt annahm, lieferte mit der Verbindung von Selbstsorge und Heilsversprechen ein diskursives Syndrom, das dem zugrundeliegenden Interesse in prägnanterer Weise Rechnung zu tragen erlaubte als die paganen e´nonce´s des Diskurses des souci de soi. - Unbeantwortet bleibt in dem nicht vollendeten Projekt, in welchem Verhältnis diese (Re-)Modellierung der Diskurshistorie seitens des späten Foucault zu den Positionen der Subjektphilosophie steht. (Zu Foucaults These s. v. a. die Bde. 2 und 3 des Projekts [L’Usage des plaisirs, Paris 1984; Le Souci de soi, Paris 1984]; s. weiterhin „Le Combat de la chastete´“, Communications H. 35/ 1982, S. 15-25).
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daß das eine (nur) als nomenklatorisch innovierte Variante des anderen erscheinen mag. Zum ersten: Petrarcas Lyrik ist nicht singulär als ästhetisches Artefakt. So schwierig es sein dürfte, selbst für die Epoche einer normativen Ästhetik verbindliche Maßstäbe zu definieren, so sehr dürfte Einigkeit darüber bestehen, daß das Niveau der Stücke des Canzoniere schwankt (wir haben diesem Aspekt durch die Auswahl der zwei besprochenen Sonette Rechnung zu tragen versucht) und, wichtiger noch, daß ,Vorläufer‘, v. a. aber Nachfolger Petrarcas in dieser Hinsicht Gleichwertiges geleistet haben. Dementsprechend ist die gemeinte Singularität auch kein Phänomen der Spezialisten- bzw. Professionellen-Diskurse, wohl aber des allgemeinen kulturellen Bewußtseins, und doch ist sie, so sei behauptet, in dieser Hinsicht anderes als eine Manifestation historischer Ignoranz. Die Texte der Vorläufer und Nachfolger, die der Stilnovisten und der Petrarkisten, gehören der ,literarischen Reihe‘ (im formalistischen Sinne) und nur dieser zu. Indiz dieses Fakts ist ihre jeweilige intertextuelle Dimension, besser, Gerichtetheit. Gerade hier liegt der fundamentale Unterschied zur Lyrik Petrarcas begründet. Dessen Canzoniere dialogiert ohne Zweifel mit der von den Vorgängern begründeten Tradition, und er ist Folie für das vielfältig verzweigte Gebäude des europäischen Petrarkismus, aber er dialogiert darüber hinaus mit demjenigen extra-literarischen Diskurs, den man mit M. Foucault den Diskurs des ,souci de soi‘ nennen kann und der sich in dieser Epoche konkretisiert als augustinistisch akzentuierte Abwendung von der Scholastik 56. Ästhetisch und ideologisch ist Petrarcas Rede von begrenzter Originalität. Einzigartig ist, zumindest für diese Epoche, daß sie eine ästhetische Antwort auf eine Frage gibt, die außerhalb der ästhetischen Diskurse gestellt wird und für die in dieser Zeit aus Gründen, die wiederum außerhalb des Regnums des Ästhetischen und vermutlich in dem der reinen Kontingenz liegen, die überkommenen Antworten nicht mehr greifen. Die Wissensdiskurse im engeren Sinne brauchen eine geraume Zeit, bis sie vermögen, eine positive Alternative des von Wilhelm von Ockham auf den Nenner gebrachten ,nescio‘ 57 zu formulieren, das auch am Ausgangspunkt der Petrarkischen Lyrik steht. 56 Dazu: „Das Schweigen der Veritas“ (s. Anm. 25), passim. 57 Zur Beschreibung der Position Ockhams sowie zur oben formulierten Kritik an Blumenbergs Modellierung des Beginns der Moderne s. im einzelnen Vf., Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Caldero´n. Untersuchungen zum spanischen Barockdrama. Mit einer Skizze zur Evolution der Diskurse in Mittelalter, Renaissance und Manierismus, Tübingen 1990, Kap. 4 .
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Descartes’ Rationalismus definiert sich weiterhin als metaphysisch garantiert, hat sich aber im Unterschied zu seinem aristotelisch-thomistischen Vorgänger-Paradigma von dem Konzept reziproker Entsprechung der dogmatischen und der rationalen Rede über die Welt befreit. Gleichwohl mündet er, nachdem er die westliche Welt über einhundertfünfzig Jahre reguliert hatte, in eben jene Aporie, in die letztlich jeder Rationalismus führt, die der Unverfügbarkeit des letzten Grunds. Die philosophischen Diskurse der Moderne mögen sich nicht zu einem unmittelbaren Rückgriff auf die lapidare Formel Ockhams verstehen und ,lösen‘ das Problem durch Subjektivierung und Historisierung. Wie wenig bündig diese Lösung philosophisch ist 58, zeigt sich, wenn neuerlich der ästhetische Diskurs eintritt bzw. eintreten muß, um zu sagen, was konzeptuell nur als Abwesenheit von Sagbarkeit zu formulieren ist: Mit der romantischen Revolution wird verbindlich, was in der Frührenaissance eine weithin einmalige Erfahrung blieb. Man könnte das der romantischen Moderne eigentümliche Phänomen der Hypostasierung eines Ästhetischen ,an sich‘ als Versuch interpretieren, zu verdecken, daß diese Moderne eine Stufe repräsentiert, die im Interesse einer vorbehaltlosen Dynamisierung der Ebene der Konzepte vom Ästhetischen (vom NichtKonzeptuellen) einklagt, zu sagen, was dieses eo ipso nicht sagen kann, das, was (immer) ist und bleibt. Ein solcher Gedanke gestattete es, eine Reihe von Aspekten unserer Zivilisation zu erklären, die ansonsten rätselhaft bleiben müßten. Dazu gehört das seit mehr als einhundertfünfzig Jahren konstante, wenn nicht sich verstärkende und in der Postmoderne sich vollends hysterisierende Dementi, das die Realität Hegels vielleicht beeindruckendster Prognose, der vom ,Ende der Kunstperiode‘, bereitet, dazu gehört auch, daß die Gedichte eines Lyrikers aus dem Florenz des 14. Jahrhunderts zu denjenigen Fragmenten des texte ge´ne´ral zählen, die die kulturelle Moderne weiterhin rezipiert. Zu dem zweiten Problem, das in diesem Post-Scriptum andiskutiert werden soll: Die Literarhistorie ist eine Erfindung des 19. Jahrhunderts. Ihre Ermöglichungsstruktur ist die Ablösung eines normativen durch einen letztlich historistischen Begriff des Kunstschönen. Im Unterschied zur ersten Phase ,historisch‘-ästhetischer Reflexion in unserer Kultur, die sich in der Querelle des anciens et des modernes manifestiert, geht es 58 Wie überaus produktiv die Absage an das überkommene Konzept von Erkenntnis und Wahrheit, die sich hinter den Chiffren des transzendentalen Subjekts und der Historie als Seinsprinzip alles Seienden verbirgt, für die performativen Diskurse ist, hat Foucault in Les Mots et les choses gezeigt (Paris 21974 (11966), Teil 2, S. 226-398).
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der Literarhistorie bei der Relationierung ästhetischer Artefakte aus verschiedenen Epochen nicht mehr um die Frage eines ,besser‘ oder ,schlechter‘, sondern um die der prozeßhaft gedachten ,Entstehung‘ des Späteren aus dem Früheren. Die Abgründe der Literarhistorie liegen in den entsprechenden Objektivitätsreklamaten begründet, die, sei es einem organologischen Referenzdiskurs, dem der Biologie, sei es einem mechanistisch verkürzten geschichtsphilosophischen Horizont entlehnt sind 59. Zum anderen aber liegen sie begründet in den Zwängen, die ihr ihre eigene Ermöglichungsstruktur auferlegt. Foucault hat versucht, diese Zwänge mit den Konzepten der Tiefendimensionalität sowie der Historisierung zu beschreiben, wobei der Konnex zwischen den zwei Aspekten unbefriedigend bleibt 60. Festzuhalten ist, daß im Bereich der Literarhistorie sich der letztere Aspekt als Gegenstand des Diskurses selbst, der erstere als tragendes argumentatives Schema manifestiert. Die Literarhistorie beschreibt ,Entwicklungen‘, und sie tut dies, indem sie, bezogen auf ein jeweiliges Werk, dessen ,verdeckte‘ und bislang nicht wahrgenommene Abhängigkeiten enthüllt. Historie und nicht ,ideale Chronik‘ (im Sinne A. C. Dantos) ihres Gegenstandes ist sie allerdings auch insofern, als sie ungeachtet des ihr immanenten Relativismus an ein unreflektiertes, der Geschichtsphilosophie entlehntes Konzept von ,Entfaltung‘ und ,Entwicklung‘ und damit der impliziten Valorisierung des zeitlich Späteren als eines ,Besseren‘ gebunden bleibt. Das ,Bessere‘ der Literarhistorie ist immer als ein ,besser für uns‘ aufzufassen. Schon hier wird der Grad der ,Modernität‘ eines ästhetischen Artefakts zum Maßstab seines Werts. Die literarische Hermeneutik hat dem, was Ergebnis der Modellierung ästhetischer Artefakte nach dem Muster der Literarhistorie ist und was dort uneingestanden bleibt, eine philosophische Grundlage verliehen, damit aber zugleich das Konzept der Literarhistorie dekonstruiert. Sie bestreitet nicht die Faktizität ,objektiver‘ Einflüsse und Entwicklungen, wohl aber deren Pertinenz. Ungeachtet dieser theoretischen Abfertigung lebt die Literarhistorie fort, und bei fortschreitender Professionalisierung 59 Zur gesamten Argumentation s. H. R. Jauß’ Auseinandersetzung mit der Literarhistorie traditioneller Provenienz (Literaturgeschichte als Provokation, Frankfurt a. M. 31973 (11970); vgl. insbes. „Literaturgeschichte als Provokation der Literaturwissenschaft“ [S. 144 - 207]). 60 Im Kontext einer Veröffentlichung, die den naturalistischen Diskurs zum Gegenstand hat, haben wir versucht, Möglichkeiten einer Integration der Aspekte ,Tiefendimensionalität‘ und ,Historisierung‘ zu diskutieren („Vergas Antwort auf Zola. Mastro-Don Gesualdo als ,Vollendung‘ des naturalistischen Projekts“, in: W. Engler/R. Schober [Hrsg.], 100 Jahre RougonMacquart im Wandel der Rezeptionsgeschichte, Tübingen 1995, S. 109-136).
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bringt sie eine immer größere Fülle von e´nonciations hervor, die ihr uneingestandenes Dilemma in zuweilen grotesker Pointierung bloßlegen: ,Historisierung‘ der Zeitachse, geschichtsphilosophischer Werte-Relativismus und tiefendimensionaler Argumentationsmodus kumulieren zu einem Syndrom, das die konstitutive geschichtsphilosophische Basis-Annahme pervertiert und die (Literar-)Historie zu einer Involution geraten läßt, deren letzter Punkt das bei J. L. Borges ironisch apostrophierte Aleph selber wäre. Ist ,Entwicklung‘ Prinzip der historischen Abfolge, ,Modernität‘ das Telos und ,Originalität‘ der implizite Wertmaßstab 61, ist notwendig das je Frühere das Eigentliche, insofern in ihm das, was kommt, bereits ,angelegt‘ oder gar ,vorweggenommen‘ ist. So belehrt uns die traditionelle Literarhistorie darüber, daß nicht Petrarca, sondern, sei es Cavalcanti, seien es die Sizilianer oder vielleicht schon Vergil und Horaz am Beginn dessen stehen, was wir in der Moderne Lyrik nennen, daß die klassische Tragödie aus dem Geist der Pastorale geboren sei, daß die Romantik mit dem beginne, was zweckmäßigerweise sogleich PräRomantik genannt wird, daß die mittelalterliche Lachkultur die wesentlichen Strukturen des modernen Romans vorwegnehme (etc.). Sie belehrt uns, daß die Dinge nicht so sind, wie das kulturelle Bewußtsein sie verzeichnet. Die Diskursarchäologie ist sicherlich nicht frei von den Zwängen, die die Strukturen der romantisch-modernen Episteme weiterhin ausüben. Aber sie geht auf Distanz zu dem Versuch, ,hinter‘ der Fassade der Sedimentschichten unseres kulturellen Gewordenseins die ,eigentliche‘, wahre Geschichte der Dinge zu enthüllen. Konkret und mit Rekurs auf den oben entwickelten Versuch: Sie fragt nach den Gründen, die uns den als Faktum gegebenen Rang Petrarcas in unserem kulturellen Bewußtsein plausibel machen könnten, nicht danach, wie man diesem Bewußtsein nachweisen kann, daß es historisch unaufgeklärtes Bewußtsein ist. Insofern ist sie Paradigma des zynischen Diskurses. Sie partizipiert nicht länger an dem ,grand projet‘ einer Besserung der Welt, zu dessen Seitensträngen auch die Literarhistorie gehört. Ihr Zynismus und ihr A-Mora-
61 Auch die bis heute weithin unter einer uneingestandenen geschichtsphilosophischen Prämisse stehende Historiographie tendiert zu einer solchen involutiven Argumentation. Aber der entsprechende Hang wird dort durch das notwendige Akzeptieren des je epochenspezifisch Dominanten als des ,Realen‘, die Hegel mit seiner Identifikation des Wirklichen und des Vernünftigen gefaßt hat, gebremst. Die Historie der (literarischen) Fiktionen kennt keine Ebene des ,Realen‘. Unter dem Diktat der Modellierungsfigur der ,Entwicklung‘ ist auf diese Weise hier immer das ,Originelle‘ im Recht.
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lismus ist indes nicht dezisionistisch (nietzscheanisch), sondern Resultat der Einsicht in den Preis, v. a. auch in das Scheitern des grand projet. Da sie argumentiert (und nicht dekonstruiert), ist sie rationalistisch im überkommenen Sinne. Aber diese Rationalität ist ihr keine Rationalität der ,Welt‘, auch nicht der Weltmodelle, sondern nur unentrinnbare Eigenschaft des animal rationale selbst, und insofern jeder analytische Diskurs Manifestation des Befangenseins in einem ,stade spe´culaire‘, dessen Jenseits aus dieser Sicht als ein Mythos des 19. Jahrhunderts erscheinen muß.
(H)er(e)os. Der Canzoniere und der medizinische Diskurs seiner Zeit (Mit einer Nachbemerkung zur Kontingenz des Entstehens von Texten epochalen Rangs) * 0. Am Ende des 20. Jahrhunderts haben medizinischer und literarisch-geisteswissenschaftlicher Diskurs das Stadium völliger Separation erreicht, epistemologisch, und auch pragmatisch. Gab es vor einiger Zeit noch den Typus des humanistisch gebildeten Mediziners und den des in den exakten Wissenschaften bewanderten Intellektuellen, so ist mit heutigen Medizinstudenten ein Gespräch über Literatur, ja, über Geistiges generell kaum möglich, und von den Intellektuellen werden die Naturwissenschaften weithin nur noch als das Bedrohliche, als das Kultur-, wenn nicht Lebensfeindliche schlechthin wahrgenommen. Was die Gliederung des diskursiven Felds (,champ discursif‘) 1 angeht, hat sich damit eine Situation ergeben, die von den Verhältnissen der prä-neuzeitlichen Phase 2 im grundsätzlichen differiert. Alle bedeutenden Philosophen der * Der vorliegende Aufsatz geht zurück auf einen Vortrag im Rahmen des Symposions ,The Medieval Senses‘ (II), das auf Einladung von H. U. Gumbrecht vom 29. 3. bis zum 1. 4. 1998 im Einstein-Forum/Potsdam stattfand. Ich danke dem Einladenden für die Gelegenheit, meine Ideen zu präsentieren, den Teilnehmern für Anregung und Kritik. 1 Zu M. Foucaults Konzept des diskursiven Felds s. L’Arche´ologie du savoir, Paris 1969, S. 75-84, hier: S. 84. 2 Wir halten auch in dieser Veröffentlichung an der in unseren anderen Petrarca-Studien vertretenen Auffassung fest, daß man aus guten Gründen den Autor als einen der ,Väter‘ dessen ansehen kann, was wir Moderne nennen („Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance [Überlegungen zum Secretum]“, wiedergedruckt in dsem. Bd., S. 1-53; „Mundus imago Laurae. Das Sonett „Per mezz’i boschi“ und die ,Modernität‘ des Canzoniere“, wiedergedruckt in dsem. Bd., S. 54-88; „Schiffsreise und Seelenflug. Zur Refunktionalisierung christlicher Bilderwelten im Canzoniere [Mit einem Post-Scriptum zur Singularität des Lyrikers Petrarca sowie zur epistemologischen Differenz von Literarhistorie und Diskursarchäologie]“, wiedergedruckt in dsem. Bd., S. 89-114). Den Terminus ,Neuzeit‘ reservieren wir in Übereinstimmung mit der Sprachregelung der Historiographie für den Abschnitt des Moderne-Prozesses, der begann, als die
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Antike und des Mittelalters waren zugleich Naturphilosophen wissenschaftlichen Anspruchs. Aristoteles hat nicht nur eine Metaphysik und eine Poetik, sondern auch eine Physik verfaßt, sowie eine Reihe von Schriften (De anima, De partibus animalium, um nur die wichtigsten zu nennen), die ein Modell der menschlichen Physis entwerfen. Mit gewissen Verschiebungen gilt Gleiches für Albertus Magnus und für Thomas von Aquin. Die Gründe für diese Unterschiede zwischen Einst und Jetzt müssen hier nicht interessieren. Die beschriebenen Verhältnisse behalten Gültigkeit bis zu Descartes. Von Relevanz für die hier zu diskutierende Frage ist indes, daß man die Relation zwischen empirisch-wissenschaftlichen, insbesondere medizinischen, und ,humanistischen‘ Diskursen 3 nicht nach dem Modell einer kontinuierlichen Auseinanderentwicklung beschreiben kann. Es läßt sich vielmehr beobachten, daß die Affinität dieser zwei Diskurse zeitweise noch nachhaltiger war als seit der Antike gewohnt. Die entsprechende Phase situiert sich zwischen dem Beginn des 12. und dem Ende des 14. Jahrhunderts, und sie steht im Zeichen der Rezeption des Aristotelismus. Damit sind bereits die Hintergründe dieser besonderen Nähe angedeutet. Aristoteles wurde im Westen bekannt durch arabische Vermittlung. Das Bestreben der islamischen Wissenschaft, sich die Diskurse der Antike anzueignen, konzentrierte sich zunächst nicht auf diejenige Abteilung der Werke des Stagiriten, für die sein Name an erster Stelle steht. Der Islam braucht als Monotheismus nicht unbedingt eine Philosophie. Ähnlich wie sein abendländisches Pendant ließ er sich aus opportunistischen Gründen auf eine Rezeption des antiken Wissens ein, indes aus handfesteren als das Christentum 4, aus Interesse für die Therapie der gegebene Welt nicht mehr nur in Autonomie von Tradition und Autorität gedacht wurde, sondern als sie mit den Entdeckungen faktisch eine andere Gestalt gewonnen hatte als im Zeitalter der Tradition. 3 Wir verwenden das Konzept des ,humanistischen Diskurses‘ für eine Formation, die sich ihrerseits in der Moderne des 19. Jahrhunderts im Sinne strikter Separation aufgelöst hat, für das Ineins der Produktion von (literarischen) Texten und der Reflexion auf Texte und Historie (modern: ,Geisteswissenschaften‘). 4 Zum Profil der arabischen Aristoteles-Rezeption s. P. O. Kristeller, „Die aristotelische Tradition“, in: P. O. K., Humanismus und Renaissance, Bd. 1, München 1974, S. 30-49, bes. S. 33. - Es sei die Hypothese riskiert, daß der Grund für dieses unterschiedlich ansetzende Interesse an der antiken Philosophie kein unterschiedlich hoher Grad an Intellektualisierung war. Die Probleme, die der christliche Monotheismus hatte und die er aus der Substanz des Eigenen nicht zu lösen vermochte, waren philosophischer Natur. Das Christentum mit seinem prekären Trinitätskonzept ,brauchte‘ die antike Logik und Rhetorik, um intellektuell überhaupt akzeptabel zu werden; als es dieses Niveau erreicht hatte, erwies sich allerdings
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Dysfunktionen des menschlichen Körpers. Und es scheint, als sei die westliche Aufmerksamkeit für den arabisch überformten Aristoteles an ihrem Beginn gleichermaßen pragmatisch begründet gewesen 5: Antworten zu finden auf Fragen, welche die Hybride aus Judaismus und klassischer Philosophie, die man Christentum nennt, vernachlässigt hatte, Fragen nach dem Umgang mit der materiellen Welt, insbesondere mit dem materiellen Part des Menschen, dem Körper 6. Wie sich dies im einzelnen darstellt, soll hier nicht ausgebreitet werden, entscheidend ist, daß, was für spätere Jahrhunderte auseinanderfiel, der ,philosophische‘ und der ,medizinisch-pragmatische‘ Aristoteles, in der hier interessierenden Zeit ein einziges Textcorpus konstituierte, welches als einheitliches Ganzes gelesen und nach Art der scholastischen Textauslegung immer wieder kommentiert wurde. Die mit ,Aristoteles‘ und dem Aristotelismus Vertrauten, die Humanisten, waren auf diese Weise auch in den medizinisch avancierten Diskursen bewandert. ⫺ Aus heutiger Sicht frappierend ist das Organisationsschema der damaligen italienischen Universitäten, Bologna und Padua, das auch in Montpellier Gültigkeit hatte und das die beschriebenen Verhältnisse reflektiert: Die Medizin und die Artisten-Fakultät bildeten eine Einheit, innerhalb deren die Medizin die bedeutendste Disziplin war. Darüber hinaus wurden die Fächer des quadrivium weithin von Professoren gelehrt, die sich an erster Stelle als Mediziner verstanden. Ein separates Fach ,Philosophie‘ gab es nicht 7.
die Kombination von Mythos und Logik als durchschlagend. Der Islam ist gewissermaßen Monotheismus in Reinkultur. Er konnte sich in seinen liberalen Phasen unmittelbar jenen Fragen der pragmatischen ,Weltverbesserung‘ zuwenden, die das Christentum erst zu interessieren begannen, als es in einem über Jahrhunderte sich hinziehenden Prozeß in seiner Qualität als Weltmodell eine schlüssige Form gefunden hatte. 5 Wie wir noch des Näheren ausführen werden, beginnt die mittelalterliche Aristoteles-Rezeption mit Constantinus Africanus (s. u., S. 124). 6 Natürlich gehört das Aufbrechen dieser Fragen in eben jenen Kontext, den H. Blumenberg mit Blick auf die Frage nach den Prinzipien einer innerweltlichen Geschichte diskutiert hat: Mit dem Ausfallen der Nah-Erwartung auf Parusie wird das Sich-Einrichten in der gegebenen Welt zu einem Problem, dem man nicht länger die Relevanz absprechen kann (Säkularisierung und Selbstbehauptung, Frankfurt a. M. 1983, S. 46-63). 7 S. im einzelnen P. O. Kristeller, „The School of Salerno. Its Development and its Contribution to the History of Learning“, in: P. O. K., Studies in Renaissance Thought and Letters, Bd. 1, Roma 1956, S. 495-551, hier: S. 496, S. 510, S. 516 f., S. 545 u. S. 551, sowie ders., „Petrarca, der Humanismus und die Scholastik“, in: A. Buck (Hrsg.), Petrarca, Darmstadt 1976, S. 261-281, bes. S. 275-278; s. weiterhin K. Bergdolt, Arzt, Krankheit und Therapie bei Petrarca. Die Kritik an Medizin und Naturwissenschaft im italienischen Frühhumanismus, Weinheim 1992, S. 10-16 u. S. 24-26.
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Petrarca hat einige Jahre die artes liberales und danach Jurisprudenz studiert, und zwar in Bologna und Montpellier. Was sein Interesse am medizinischen Diskurs angeht, bedarf es indes nicht einmal der Spekulation. Er hat einen Text Invective contra medicum verfaßt. Vom Titel her würde man einen Beitrag zur Gattung der Ständesatire vermuten, wie sie in späterer Zeit aus Quevedos Suen˜os oder Molie`res Le malade imaginaire bekannt ist, eine grobkomische und bittere Attacke auf die Unfähigkeit der Mediziner, welche behaupten, das Leben zu bewahren und doch unvermeidlicherweise irgendwann zu Kündern des Todes werden. K. Bergdolt hat indes gezeigt, daß der Text nach Intention und Gegenstand gewiß satirisch, mehr aber noch philosophisch ist und er ein Zeugnis der Parteinahme Petrarcas für die via moderna darstellt 8. Die Angriffe zielen auf die epistemologische Basis des medizinischen Averroismus, auf das Postulat, die gegebene Welt könne durch einen Diskurs erklärt werden, der auf der Ratio gründet. Es fällt kein polemisches Wort gegen die (pseudo-)aristotelische Medizin als solche, allenfalls gegen deren inkompetente Anwendung durch diejenigen, welche sich in der Prätention, ,philosophi‘ zu sein, von ihrer eigentlichen Aufgabe, dem Studium der Heilkunst, ablenken lassen 9. ⫺ So irritierend dies in Ansehung
8 Zu den Invective s. die ausführliche Darstellung bei Bergdolt, Arzt, Krankheit und Therapie bei Petrarca, S. 33-66. Das Gesagte gilt ungeachtet dessen, daß der Text einen (anonym bleibenden) individuellen Adressaten hat, den die zitierte Forschungsliteratur als den Leibarzt von Papst Clemens VI. identifiziert hat. 9 Wir bringen nur einige wenige Zitate aus dem Text, um unsere Behauptungen zu belegen: „Hec non adversus medicinam - quod sepe testatus sum - neque adversus excellentes medicos, […] sed adversus te delirantesque similiter dicta sint.“ (in: Opere latine, hrsg. v. A. Bufano u. a., Torino 21977 (11975), Bd. 2, S. 818-981, hier: S. 844). „Ad quam [mortem] differendam medicina forte aliquid, tu profecto nichil; […] Certe ipsa michi vivas - modo voces habeat - medicina grates actura sit, si eorum presentem infamiam fando nudavero […]“ (S. 846). Gleichlautend S. 868: „[…] medicos veros novi, et ingenio et ea que in omnium artium arte ponenda est discretione pollentes, quibus, ut arbitror, eo molestior es quo te pressius intuentur, et professionem suam tua non ambigunt ignorantia deformari. […] Utcunque se res habeat, nichil ego aut adversus medicinam, aut adversus ministrum eius locutus inveniar […] Parce, oro, philosophe: non te, sed ignorantiam persequebar […]“ (S. 868 u. S. 870). „Itaque contra medicinam nichil omnino: quod milies dixi et, ut video, non sufficit. Siquid autem contra medicos locutus videor, clamo et cupio me studiosum omne genus audiat: contra te tantum tuique similes dictum est […]“ (S. 912). Zur Kritik an den ,philosophischen‘ Prätentionen der zeitgenössischen Mediziner s. S. 850, S. 882 u. S. 884; auf S. 920 der Vorwurf, daß das Begehren der Medizin, die Schöpfung und deren Geheimnisse zu entschlüsseln und zu beherrschen, Hybris sei. - Zur Richtigstellung der älteren These von Petrarca als einem Gegner der zeitgenössischen Medizin als solcher s. Bergdolt, Arzt, Krankheit und Therapie bei Petrarca, S. 61-63 u. S. 143.
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des Titels der Schrift wirken mag, letztlich ist es naheliegend. Denn gegen den aristotelischen Diskurs vom Körper zu polemisieren, wäre schwer möglich gewesen. Zu damaliger Zeit existierte kein ernstzunehmendes Gegenmodell. Es gab allenfalls das obskure Wissen der volkstümlichen Erfahrungswelten. Im Vergleich dazu gewährleistete der aristotelische Medizinal-Diskurs ein Höchstmaß an Kompetenz. Dementsprechend wurden dessen im engeren Sinn medizinische Aussagen auch von den Gegnern des Aristotelismus als gültiges Wissen akzeptiert 10. Neben diesem Aspekt, der auf die Verhältnisse dieser spezifischen Phase abhebt, ist ein zweites Moment zu nennen, welches das aus späterer Sicht eher ungewöhnliche Phänomen erklärt, daß ein höchst artifizieller lyrischer Text auf einen Diskurs über die Dysfunktionen des Körpers Bezug nimmt. Dieses zweite Moment betrifft einen Unterschied zwischen prä-neuzeitlichen und modernen Vorstellungen der Relation von Körper und Seele. Es mag zunächst provokativ wirken zu sagen, daß gemessen an heutigen, zumal lebensweltlichen Vorstellungen das prämoderne Konzept durch einen sehr weitreichenden Materialismus gekennzeichnet war. Was man seit dem 19. Jahrhundert als rein ,psychische‘ Phänomene einordnen würde, welche sich in somatischen Symptomen niederschlagen können, ohne daß zwischen Psyche und Soma ein
10 Dazu auch A. Buck, „Die Medizin im Verständnis des Renaissancehumanismus“, in: Humanismus und Medizin, hrsg. v. G. Keil/R. Schmitz, Weinheim 1984, S. 181-198 (was Petrarca angeht, vertritt Buck die ältere These eines generellen Anti-Medizinismus). Zum selektiven Profil des aus moderner Sicht zumeist als pauschal mißverstandenen Anti-Aristotelismus des 14. Jahrhunderts, u. a. auch bei Petrarca, s. A. Kamp, Petrarcas philosophisches Programm. Über Prämissen, Antiaristotelismus und ,Neues Wissen‘ von De sui ipsius et multorum ignorantia, Frankfurt a. M./Bern/New York/Paris 1989, S. 18-21. - Es geht in dem in seinen Auswirkungen maßgeblich von Blumenberg beschriebenen Streit zwischen Averroisten und Thomisten einerseits und Nominalisten andererseits nicht um das Ziel einer Tilgung des gesamten Aristoteles aus dem Fundus des legitimen Wissens. Was die Logik angeht, war niemand ein aufmerksamerer Leser der Zweiten Analytik als Wilhelm von Ockham. Der Nominalismus bestreitet einzig das dem Aristotelismus innewohnende Kosmos-Konzept, den Gedanken einer abschließend festliegenden und insofern schlüssig beschreibbaren Ordnung der Welt. Teil einer solchen (sei es gegebenen, sei es nicht gegebenen) Ordnung wäre allerdings auch der menschliche Körper, so daß bei strikter Betrachtung eine nominalistische Basis-Prämisse die Sinnhaftigkeit eines jeden Medizinaldiskurses bestreiten müßte. Daß dies ausweislich der Texte nicht der Fall ist, dürfte zwei Gründe haben: Für die philosophischtheologische Kontroverse steht die Frage der Ordnung der Schöpfung im Mittelpunkt (Kosmos oder Kontingenz). Der menschliche Körper ist hier ein Aspekt minderer Relevanz. Zum anderen kann man vermutlich ein opportunistisches Moment veranschlagen. Auch die härtesten Nominalisten dürften sich nicht geweigert haben, gegebenenfalls einen Diskurs zu bemühen, der in ,vitalen‘ Fragen der einzig seinerzeit ernstzunehmende war.
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strikter Bedingungszusammenhang herrschte, wird aus Sicht der aristotelisch-galenischen Medizin als psycho-somatisches Komplex-Phänomen mit eineindeutigen Relationen aufgefaßt. Der Grund dafür dürfte sein, daß seinerzeit das Konzept der Seele wesentlich transparenter, aber auch reduktiver war, als es in den Diskursen ist, die im Zeichen von ,la science de l’homme‘ 11 entstanden sind. Unter dem Positivismus wird die Seele zum Sammelbegriff für alles, was eine materialistisch gedachte Empirie (noch) nicht erklären kann. Die Psyche ist das Andere, Abgründige, ,Unheimliche‘ schlechthin, das sich einer Erfassung durch die Diskurse von ,normal science‘ per definitionem entzieht. Ganz anders das prä-moderne Konzept der anima 12: Diese ist aufgefaßt als eine Art Vitalprinzip, welches dem Lebenden seinen Rang in der Hierarchie der Wesen in ihrer Gesamtheit zuweist. Sie ist auf diese Weise ihrerseits als hierarchisch gegliedert gedacht und umfaßt von daher Aspekte des Belebt-Seins, die rein materieller Natur sind und somit außerhalb dessen liegen, was das moderne Konzept ,Psyche‘ meint, das auf das Menschliche beschränkt ist. Die anima besteht aus einer pars vegetativa, welche der Mensch mit Pflanzen- und Tierwelt teilt, einer pars sensitiva, die Menschen und Tieren gemein ist, und schließlich der spezifischen, die Gottebenbildlichkeit verleihenden pars rationalis. Alle diese Teile haben Fähigkeiten, Vermögen (virtutes). Die sensus interiores sind diejenigen virtutes, die das von den Sinnen im heutigen Verständnis (sensus exteriores) Wahrgenommene verarbeiten. Sie sind auf diese Weise zu verstehen als Instanzen der pars sensitiva, partizipieren indes an der Rationalität 13. Das Wahrgenommene gelangt zunächst in den sensus communis, der eine Art Behältnis der mental repräsentierten, aber noch unkoordinierten Einzel-Wahrnehmungen meint. Die erste Bearbeitungsinstanz ist die virtus imaginativa oder phantastica, die diese Daten zu mentalen Bildern der äußeren Welt synthetisiert. Die virtus cogitativa kombiniert und trennt, d. h. ordnet 11 Mit ,science de l’homme‘ bezeichnet M. Foucault das diskursive Paradigma der romantischen Moderne, das in etwa mit Beginn des 19. Jahrhunderts einsetzt und zumindest lebensweltlich bis heute die Diskurse reguliert (Les Mots et les choses. Une arche´ologie des sciences humaines, Paris 21974 (11966), S. 355-398). 12 Vorzüglich zur Konzeption der Seele bei Aristoteles und Hippokrates M. Ciavolella, „La tradizione dell’aegritudo amoris nel Decameron“, Giornale storico della letteratura italiana H. 147, S. 496-517, hier: S. 502-509; instruktiv auch die Skizze bei R. Schnell, Causa amoris. Liebeskonzeption und Liebesdarstellung in der mittelalterlichen Literatur, Bern/München 1985, S. 241-245. 13 S. dazu De anima 410 b 25 und 432 a 1-10.
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diese Bilder. Die virtus estimativa beurteilt das Wahrgenommene nach dem Kriterium ,gut‘ (nützlich, angenehm) oder ,schlecht‘ (schädlich, unangenehm), die virtus memorativa schließlich hält die Wahrnehmungen und Urteile fest 14. ⫺ Die ,Seele‘ ist mittelalterlich eine Instanz, in der sich integriert, was man in der Moderne nach den Gesichtspunkten ,Wahrnehmung‘, ,Gefühl‘ und ,Vernunft‘ separiert 15. ⫺ In den Medizinaldiskursen steigert sich dieser Somatismus zu einem Materialismus in Reinkultur: Die hippokratisch-galenische Humoralpathologie macht die seelischen Prädispositionen (die ,Temperamente‘), damit auch das Handeln, von der Komplexion der Körpersäfte (humores) abhängig, welche ihrerseits der willentlichen Verfügung entzogen ist, bestimmt sie sich doch nach Kontingenz, hier der Geburt, und nach Akzidenz, hier der Irregularität von Organfunktionen (vulgo: ,Krankheiten‘). Es ist von dieser ,holistischen‘ Vorstellung des Menschen her vielleicht weniger erstaunlich, daß Störungen in Bereichen, welche heutzutage als seelisch aufgefaßt würden, zu damaliger Zeit der Kompetenz der Medizin unterlagen. Fast provozierend mag es indes wirken, daß auch das spätestens seit der Romantik am wenigsten somatische aller Gefühle, die
14 Die maßgebliche Quelle für die mittelalterliche Lehre der virtutes der Seele ist Avicenna, Liber Canonis (= Canon medicinae), lib. I, fen. I, doc. 6, cap. 1-6 (S. 23-26 der Ausgabe Venezia 1507). Konzis zum Modell der Seelenvermögen M. Ciavolella, „Mediaeval Medicine and Arcite’s Love Sickness“, Florilegium Bd. 1/1979, S. 222-241, bes. S. 225-237; Ciavolella faßt das entsprechende Modell der Körper-Seele-Beziehung mit der glücklichen Formulierung eines „interlacing network of vital currents“ (S. 230). Zur teilweise schwankenden Terminologie s. M. F. Wack, Lovesickness in the Middle Ages. The Viaticum and Its Commentaries, Philadelphia 1990, S. 90 (mit weiterführender Literatur in Anm. 23): „Since one faculty (virtus) could exercise several different functions, each of which had its own name, the terminology of the inner senses and their functions can be confusing.“ 15 S. dazu De anima 403 a 4-403 b 19, 413 a 1-5 und 414 a 10. Das Gesagte gilt unter dem Vorbehalt dessen, was im Anschluß dargelegt wird, d. h. mit Bezug auf die auf Zwecke und Ziele gerichtete Vernunft. - Was wir modern ,Erkenntnis‘ nennen, ist im aristotelischaverroistischen Modell der Tätigkeit des intellectus agens (nous poietikos) vorbehalten, welcher aus dem von den genannten virtutes bereitgestellten Material die species rei, das von der Materialität befreite ,Wesen‘ der Objekte, die Universalien, abstrahiert. Der intellectus agens ist ewig und a-personal (s. De anima 429 a 10-430 a 26). Daß die mittelalterliche AristotelesRezeption von einem heftigen Streit um diese Kategorie begleitet war, liegt auf der Hand. Der nous poietikos paßt nicht in das Weltmodell des Monotheismus. Er ist eine Art Integrationsinstanz dessen, was christlich zerfällt in die divina sapientia einerseits und das menschliche (insofern immer unzulängliche) Erkennen der veritas andererseits. Ihn dem Menschen vorbehaltlos zuzusprechen, liefe auf ein Leugnen des Dogmas der Erbsünde hinaus. Die Ratio auf die zweckhafte Vernunft (nous pathetikos) zu limitieren, bedeutete andererseits, den Horizont menschlichen Begreifens und Erkennens aufs Mundane zu reduzieren.
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Liebe im Sinne nicht von flüchtigem sexuellem Begehren, sondern von andauernder, verzehrender Leidenschaft, ein Gegenstand der medizinischen Diskurse war. Insofern diese immer dann aufgerufen sind, wenn es Irritationen regulärer Abläufe zu beheben gilt, ist der ins Auge gefaßte Aspekt das Liebesleid. Dieses galt als reguläre Krankheit (morbus), was aber keineswegs die Reduktion auf eine Sexualpathologie impliziert. Jedoch ist dieser Aspekt nicht ausgeklammert. Der mittelalterliche medizinische Diskurs behandelt die unglückliche Liebe als körperlich-seelische Konstellation von Dysfunktionen, welche im einzelnen beschrieben, in ihren Zusammenhängen erläutert und für die Therapien diskutiert werden 16. Der skizzierte Diskurs über den Menschen hatte seinen Ursprung in einem anders organisierten Weltmodell 17. Welche Sprengkraft er zu entwickeln in der Lage war, wird deutlich, wenn man sich die Konsequenzen der humoralpathologischen Anthropologie für die christlich zentrale Kategorie der Verantwortlichkeit vergegenwärtigt. Wo die offizielle Theologie auf der grundsätzlich möglichen Entscheidung insistiert (liberum arbitrium), tritt hier ein Syndrom von Kontingenz und Akzidenz ein. Luxuria ist nicht peccatum, sondern morbus. Deutlich wird vielleicht schon an diesem Punkt, worin die Attraktion dieses aristotelischaverroistischen Konzepts 18 für den Augustinisten Petrarca bestanden ha16 Man könnte für den hier verfolgten begrenzten Zweck vielleicht sagen, daß der aristotelischgalenisch inspirierte anthropologische Diskurs eine Art mittlere Position zwischen den zwei alternativen anthropologischen Diskursen darstellt, die im 20. Jahrhundert herrschen. In unserer Zeit gibt es zum einen den strikten somatischen Materialismus, der jedes ,Gefühl‘ als physisch determiniert versteht und in der zeitgenössischen klinischen Psychiatrie seine Domäne hat. Sodann gibt es den lebensweltlich und (hoch- sowie trivial-)literarisch herrschenden, in allen Varianten der freudianisch inspirierten Psychologie und Psychiatrie grundlegenden anthropologischen Diskurs, der die ,Empfindungen‘ als etwas spezifisch Menschliches, als etwas quasi-Transzendentes ansetzt, das sich jeder physiologischen Reduktion entzieht. 17 Sich hier über den antiken Polytheismus und dessen einschlägige Implikate auszulassen, dürfte überflüssig sein. Was den relativen Materialismus des islamischen Monotheismus angeht, sei nur verwiesen auf das Ausfallen eines Konzepts wie des der Erbsünde (welches ja erst den mythischen Rahmen für die christliche Abwertung der Materialität abgibt), und auch auf die Diesseitigkeit der islamischen Vorstellungen vom Paradies. 18 D. Jacquart verweist darauf, daß in dem berühmten anti-averroistischen Dekret des Pariser Bischofs E. Tempier aus dem Jahr 1277 zwei Verurteilungen enthalten sind, die möglicherweise auf das hereos-Konzept zielen, zumindest aber verdeutlichen, in welch unüberbrückbarem Spannungsverhältnis hereos zur orthodox-christlichen Theologie steht: „Quod voluntas manente passione et scientia particulari in actu non potest agere contra eam. […]“ - „Quod homo agens ex passione coacte agit.“ („Opiniones ducentae undeviginti Sigeri de Brabantia, Boetii de Dacia aliorumque, a Stephano episcopo Parisiensi de consilio doctorum sacrae
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ben könnte: in der Suspendierung, hier dann nicht aus theologischer, sondern aus naturphilosophischer Sicht, jener Kategorie orthodoxchristlicher Theologie, deren Gültigkeit zuzugestehen ihn gehindert hätte, den Text zu schreiben, mit dem er sich weltliche Unsterblichkeit schaffen wollte 19.
1. 1.0. Die Krankheit, um die es in den betreffenden Traktaten geht, trägt den Namen amor hereos, oder kurz hereos 20. Sie taucht auf in einem Kapitel scripturae condemnatae“, in: Chartularium universitatis parisiensis, 4 Bde., hrsg. v. H. Denifle, Paris 1891-1899, Bd. 1, S. 543-558, n. 129 u. n. 136). Jacquart setzt an, daß aufgrund dieser Sätze danach in Paris nur noch wenige hereos-Traktate entstanden seien und sich die Diskussion, was Frankreich angeht, auf die medizinische Fakultät im fernen Montpellier konzentriert habe („La maladie et le reme`de d’amour dans quelques e´crits me´dicaux du Moyen aˆge“, in: D. Buschinger/A. Cre´pin [Hrsg.], Amour, mariage et transgressions au Moyen aˆge, Göppingen 1984, S. 93-101, hier: S. 95). - Zu unserer Beurteilung des wesentlichen Unterschieds zwischen hereos und dem christlichen Verständnis der weltlichen Liebe s. auch Schnell, Causa amoris (s. Anm. 12), S. 245 („[…] doch nehmen die Mediziner einen nahezu zwangsläufigen, notwendigen Verlauf vom ersten Erblicken bis zum Eintreten der Liebeskrankheit an, während nach moraltheologischer Ansicht der Primat des Verstandes die Möglichkeit einer Abkehr von den sinnlichen […] Verlockungen einräumt und diese Abkehr geradezu fordert.“). 19 Zur inanis gloria, zu des Franciscus Beharren darauf, eben um sich mit seiner Dichtung, insbesondere der Lyrik, Zugang zu einer irdisch verstandenen „immortalitas“ zu verschaffen, s. Secretum, in: Prose, hrsg. v. G. Martellotti, P. G. Ricci, E. Carrara u. E. Bianchi, Milano/ Napoli 1955, S. 21-215, hier: S. 188-214 (Zitat: S. 188). 20 Die grundlegende Studie in der aktuellen Forschungsliteratur ist das Buch von Wack, Lovesickness in the Middle Ages (s. Anm. 14). Wie so oft in der Geschichte der Philologie ist das von Wack ,Entdeckte‘ eine auf den zeitgenössischen Stand gebrachte Wiederentdeckung von Funden der positivistischen Philologie des 19. Jahrhunderts. Wir nennen nur die wichtigsten Titel: H. Crohns, „Zur Geschichte der Liebe als ,Krankheit‘ “, Archiv für Kulturgeschichte Bd. 3/1905, S. 66-86; J. L. Lowes, „The Loveres Maladye of Hereos“, Modern Philology Bd. 11/1913/1914, S. 491-546; O. Bird, „The Canzone d’Amore of Cavalcanti According to the Commentary of Dino del Garbo. Text and Commentary“, Medieval Studies Bd. 2/ 1940, S. 150-203 und Bd. 3/1941, S. 117-160. Als neuere Titel sind erwähnenswert B. Nardi, „L’amore e i medici medievali“, in: Studi in onore di Angelo Monteverdi, Modena 1959, Bd. 2, S. 517-542; H. Schadewaldt, „Der Morbus amatorius aus medizinhistorischer Sicht“, in: Das Ritterbild in Mittelalter und Renaissance, hrsg. v. Forschungsinstitut für Mittelalter und Renaissance, Düsseldorf 1985, S. 87-104; Jacquart, „La maladie et le reme`de d’amour dans quelques e´crits me´dicaux du Moyen aˆge“ (s. Anm. 18); Ciavolella, „La tradizione dell’aegritudo amoris nel Decameron“ (s. Anm. 12); ders., „Mediaeval Medicine and Arcite’s Love Sickness“
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des Texts, der am Ende des 11. Jahrhunderts das griechisch-arabische medizinische Wissen erstmals im Westen bekannt machte, im Viaticum des Constantinus Africanus (gestorben 1087) 21. Das Viaticum und auch Constantinus’ Pantegni (Totum continens) sind Übertragungen arabischer Texte, die sich ihrerseits berufen auf Galen und vermittelt darüber auf das Corpus Hippocraticum. Die bei Constantinus zu findenden Aussagen sind noch vergleichsweise knapp. Ende des 12. Jahrhunderts setzt die Karriere des Konzepts ein. Gerardus Bituricensis glossiert Constantinus’ Text, und zwar unter Einbeziehung der Kategorien des Canon medicinae (Avicenna) 22 und von De anima (Aristoteles) 23. Damit gewinnt der Diskurs über hereos die Dignität der Wissenschaftlichkeit. Die bis zum Ende des 14. Jahrhunderts in rascher Folge erscheinenden, von den berühmtesten Medizinern, ja, sogar späteren Päpsten 24 verfaßten Traktate haben die Form des scholastischen Kommentars. Mit Beginn des 15. Jahrhunderts versiegt die Produktivität des Diskurses. Die literarischen Texte transportieren ihn noch eine geraume Zeit fort. Aber schon die Chaucer-Herausgeber des späten 16. Jahrhunderts kennen den Terminus nicht mehr und emendieren „eros“, wo im Original „[the loueris maladye of] hereos“ steht 25. Die von M. Simonin vorgebrachte These,
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(s. Anm. 14); ders., La ,malattia d’amore‘ dall’Antichita` al Medioevo, Roma 1976; A. Giedke, Die Liebeskrankheit in der Geschichte der Medizin (diss. med.), Düsseldorf 1983; D. Jacquart/C. Thomasset, „L’amour ,he´roı¨que‘ a` travers le traite´ d’Arnaud de Villeneuve“, in: J. Ce´ard (Hrsg.), La folie et le corps, Paris 1985, S. 143-158. Grundlegend zu Constantinus und seiner Wirkung: G. Baader, „Die Schule von Salerno“, Medizinhistorisches Journal Bd. 13/ 1978, S. 124-145 und Kristeller, „The School of Salerno“ (s. Anm. 7), passim. Der unter dem oben zitierten Namen bekannt gewordene Text heißt im Original Viaticum peregrinantis, und er trägt seinen Namen, weil er Informationen für Reisende vermitteln soll, die keinen Arzt aufzusuchen in der Lage sind, was aufgrund der damaligen Ärztedichte recht oft vorkam. Das Kapitel über die Liebeskrankheit zirkulierte auch als separater Text. Diese geringfügig überarbeitete Teilveröffentlichung mit Titel Liber de hereos morbo stammt vermutlich von Constantinus’ Schüler Johannes Afflacius. Ungeachtet seines Status als vulgarisierendes Kompendium blieb das Viaticum bis zur Aufnahme von Avicennas Canon medicinae am Ende des 13. Jahrhunderts der Basis-Text der universitären Lehre (dazu: Wack, Lovesickness in the Middle Ages, S. 48), und es blieb dies im 14. Jahrhundert neben dem Canon. Der Canon medicinae (s. Anm. 14) enthält selbst eine Passage über die Liebeskrankheit („De ilisci“, lib. III, fen. 1, tr. 4, c. 24 [zitierte Ausgabe: S. 191]). Dazu ausführlich Ciavolella, „La tradizione dell’aegritudo amoris nel Decameron“ (s. Anm. 12), S. 505-509. Petrus Hispanus wurde Papst unter dem Namen Johannes XXI. The Knight’s Tale I, 1373 f.; dazu im einzelnen Lowes, „The Loveres Maladye of Hereos“ (s. Anm. 20), S. 492-495.
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das mit Reformation und Gegenreformation sich hysterisierende Sündenbewußtsein habe der Vorstellung von luxuria als morbus den Garaus gemacht, dürfte einiges für sich haben 26. 1.1. Das Konzept hereos vorzustellen, wird dadurch erleichtert, daß die Traktate hochstandardisiert sind. Kontroverse Auffassungen gibt es nur in Randbereichen. Unsere Skizze hybridisiert die zentralen Aussagen einiger wichtiger Traktate, vor allem der von Constantinus Africanus, von Gerardus Bituricensis (spätes 12. Jahrhundert), von Petrus Hispanus (erste Hälfte des 14. Jahrhunderts), von Bona Fortuna (erste Hälfte des 14. Jahrhunderts) sowie angelegentlich der Texte von Arnaldus de Villanova (Ende des 13. Jahrhunderts) und von Bernardus Gordonius (Beginn des 14. Jahrhunderts) 27. 26 „Aegritudo amoris et res literaria a` la Renaissance: Re´flexions pre´liminaires“, in: Ce´ard (Hrsg.), La folie et le corps (s. Anm. 20), S. 83-90. - Eines der letzten, allerdings auch prägnantesten Zeugnisse der literarischen Präsenz von hereos dürfte Ronsards „Je veux chanter en ces vers ma tristesse“ sein („[…] Mais ma raison est si bien corrompue/ Par une fausse et vaine illusion,/ Que nuict et jour je la [la maıˆtresse] porte en la veue¨,/ Et sans la voir j’en ay la vision.// Comme celuy qui contemple les nue¨s,/ Fantastiquant mille monstres bossus,/ Hommes, oiseaux, et Chimeres cornues,/ Tant par les yeux ses esprits sont deceus,// Et comme ceux, qui d’une haleine forte,/ En haute mer, a` puissance de bras/ Tirent la rame, ils l’imaginent torte,/ Et toutesfoys la rame ne l’est pas;/ […]// Voila` comment, pour estre fantastique,/ En cent facX ons ses beautez j’appercX oy,/ Et m’esjouı¨s d’estre melancholique,/ Pour recevoir tant de formes en moy.// Aimer vrayment est une maladie,/ Les medecins la scX avent bien juger,/ Nommant ce mal fureur de fantasie,/ Qui ne se peut par herbes soulager.“ [Œuvres comple`tes (Bibliothe`que de la Ple´iade), 2 Bde., Paris 1950, Bd. 1, S. 120-122]). 27 Die Traktate der ersten vier Genannten zitieren wir nach Wack (Lovesickness in the Middle Ages [s. Anm. 14]). Wack gibt eine kritische Edition, die sich in jedem einzelnen Fall auf eine Reihe der zahlreichen überlieferten Manuskripte stützt. Wie stets bei Projekten dieser Art sind die getroffenen editorischen Entscheidungen nicht unanfechtbar, und die englische Übersetzung der Originale ist nicht frei von Mißverständnissen. Insgesamt jedoch stellen die Ausgaben ein sehr brauchbares Arbeitsinstrument dar. Der Text von Constantinus findet sich auf S. 186-193, der von Gerardus auf S. 198-205, der Traktat von Petrus Hispanus ist in zwei formal voneinander abweichenden Versionen überliefert, die Wack ,A‘ und ,B‘ nennt und die sie beide druckt (S. 214-229 u. S. 232-251), der Traktat von Bona Fortuna findet sich auf S. 254-265. Wack zählt die Zeilen ihrer Editionen durch. Wir übernehmen diesen Modus; entsprechende Namen mit einfachen Zahlenangaben verweisen also im Folgenden auf diese Ausgabe der genannten Texte. - Die wesentlichen Passagen des einflußreichen Traktats von Arnaldus de Villanova bringt Ciavolella, La ,malattia d’amore‘ dall’Antichita` al Medioevo (s. Anm. 20), S. 77-84, der hereos gewidmete Abschnitt des Lilium medicinae von Bernardus Gordonius ist gedruckt bei Lowes, „The Loveres Maladye of Hereos“ (s. Anm. 20), S. 499-502.
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Der seltsame Name der Krankheit ist nicht mit letzter Gewißheit zu klären 28. Die Traktate etymologisieren ihn nach bekanntem mittelalterlichen Muster und ,finden‘ auf diese Weise, daß das Wesen des Leidens die Liebe (eros) ist, daß diese Liebe für die Betroffenen zu einer Art absolutem Herrn (mlt. herus) werde, und schließlich, daß die vorrangig Gefährdeten die Adligen seien (heroici), paradoxerweise indes: Weil sie in der gemeinten Zeit keine ,heroischen‘ Funktionen mehr haben, verfügen sie über jene zeitlichen und materiellen Spielräume, welche dem morbus hereos günstige Bedingungen schaffen 29. Frappierend ist an erster Stelle, daß der ,Sitz‘ der Krankheit das Hirn ist. Hereos bezeichnet eine Dysfunktion der Operationen des Hirns und der dort angesiedelten Fähigkeiten/Vermögen (virtutes). Die elementarste, besser, die am unmittelbarsten wahrnehmbare dieser Dysfunktionen ist die ,profundatio cogitationis‘, eine Hypertrophie derjenigen Operation, die den generischen Namen für die Aktivitäten des Hirns abgibt 30. Beginnend mit Constantinus betonen alle Traktate, daß die Hypertrophie der cogitatio mit einem sehr starken physischen Begehren einhergeht („[hereos] [e]st autem magnum desiderium cum nimia concupiscentia et afflictione cogitationum“) 31. Eine richtiggehende Aitiologie liefern erst die nach Constantinus entstandenen, sich auf den Canon medicinae berufenden Trakate. Der affizierte Teil des Hirns ist derjenige, in welchem die virtus estimativa ihren Sitz hat, jene Fähigkeit der anima, die die Aufgabe hat, zu beurteilen, ob ein Wahrgenommenes gut oder schlecht für den Wahrnehmenden
28 Es liegt hier natürlich eine irrige Lesart von gr. eros zugrunde (im Viaticum [„amor qui et eros dicitur“ (S. 186)] findet noch der originale Terminus Verwendung); die Sprache der originalen Referenztexte war ja selbst Petrarca nur in Ansätzen vertraut. Die Lesart ist vermutlich erklärbar als Kontamination mit lat. heros, was auf den ersten Blick absurd erscheint, aber auf den Topos von Liebe als Kampf zu beziehen wäre, der die gesamte lateinische Liebeslyrik durchzieht. Wack nennt als ersten Beleg für die Kontamination die erwähnte separate Veröffentlichung des Liebes-Kapitels des Viaticum durch Johannes Afflacius, welcher die von Constantinus kreierte Adjektiv-Variante zu eros (*eriosus; belegt sind eriosis und eriosos [s. Wack, Lovesickness in the Middle Ages, S. 183]) durch Formen von heroicus ersetzt (Wack, S. 46 f.). 29 S. dazu insbes. Petrus Hispanus, B, 20-29. 30 „Amor [hereos] est melancolica sollicitudo mentis cum profunditatione cogitacionum in qua figitur mens propter pulchritudinem […] est mentis insania qua vagatur animus per inania crebris doloribus permiscens gaudia […] est […] cogitacionis in eadem [in re amata] assiduitas“ (Petrus Hispanus, B, 6-15). 31 Constantinus Africanus, 3.
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ist 32. Diese Fähigkeit ist in einem Maße geschädigt („defectus“ 33), daß sie selbst dann eine positive Einschätzung einer Person gibt, wenn diese in keiner Weise ein geeignetes Objekt (,conveniens‘) für den Affizierten darstellt („ad personam quam estimatiua iudicat esse conuenientem, licet non sit.“) 34. Die Fehlbeurteilung betrifft sowohl die sinnlich wahrnehmbaren Aspekte (forma sensata) als auch die forma insensata, die Absichten („amicicia et inimicicia et sic de aliis“ 35) der betreffenden Instanz: „In amore hereos estimat virtus estimativa aliquam mulierem […] esse meliorem [forma insensata] vel pulchriorem [forma sensata] omnibus aliis cum non sit ita […]“ 36. Das entsprechende Bild verfestigt sich in der anima des Liebenden in einer Art und Weise, daß dieser völlig unsensibel für Wahrnehmungen, näherhin: von Merkmalen und Reaktionen der Geliebten wird, die in Widerspruch zu dem stehen, was er als gegeben annimmt: „Causa ergo huius passionis est error uirtutis estimatiue que inducitur per intentiones sensatas ad apprehendenda accidencia insensata que forte non sunt in persona. Unde credit aliquam esse meliorem et nobiliorem et magis appetendam omnibus aliis. […] unde si qua sunt sensata non conueniencia occultantur a non sensatis intentionibus anime uehementer infixis.“ 37 Die Dysfunktion der virtus estimativa verursacht Dysfunktionen der anderen virtutes, und zwar der, die die ,mentalen‘ partes der Seele beherrschen, wie auch der, die die körperlichen partes regulieren. In den post-Constantinischen Aitiologien wird die Hypertrophie des Nachdenkens, die dort noch eine Art General-Symptom darstellt, als erste dieser ,Folge‘-Dysfunktionen 38 aufgefaßt: „[…] et tunc [virtus estimativa] inperat virtuti cogitative ut profundet se in formam illius rei. Et sic in amore hereos est profundacio cogitationis“ 39. Die zweite und in ihren Konsequenzen schwerwiegendste, da den Realitätsbezug irritierende dieser Folge-Dysfunktionen betrifft die virtus imaginativa, dasjenige Vermögen, welches die Aufgabe hat, das von den sensus exteriores Wahrgenommene zu konzeptuellen Bildern der Außenwelt zu synthetisieren: „Estimatiua 32 „[…] intentiones formarum sensibilium, […] propter bonitatem vel maliciam […]“ (Petrus Hispanus, B, 156-161). 33 Petrus Hispanus, A, 17 f.; s. auch 92 („corruptio“). 34 Gerardus Bituricensis, 21 f. 35 Petrus Hispanus, A, 32-35. 36 Petrus Hispanus, A, 37-39 (Hervorhebung von mir). 37 Gerardus Bituricensis, 7-15. 38 Constantinus Africanus, 17 („subsequentia“). 39 Petrus Hispanus, A, 39-41.
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[…] imperat imaginationi ut defixum habeat intuitum in tali persona.“ 40 Mit anderen Worten: Die virtus imaginativa des Affizierten vergegenwärtigt nicht mehr vorrangig die Außenwelt, sondern ,fixiert‘ sich („figitur“) 41 auf das permanente Repräsentieren des Liebesobjekts. Das Zustandekommen dieser Fixierung wird unter Rekurs auf die Humoralpathologie erklärt. Die Hyperfunktion der estimativa entzieht dem angrenzenden Hirnventrikel, in dem die imaginativa ihren Sitz hat, Energie bzw. Hitze, so daß dieser kalt und trocken wird („frigida“, „sicca“) 42. Da ein ,Eindruck‘/,Abdruck‘ (,impressio‘), der in eine trockene Substanz erfolgt, stabiler ist als ein Abdruck in eine feuchte Substanz 43, ist die Vorstellungskraft des von hereos Befallenen nicht in der Lage, sich von der „fortis inpressio alicuius dilecte“ 44 zu lösen, die sie empfangen hat. ⫺ Hervorzuheben wäre, daß das Bild der Begehrten, welches die virtus imaginativa des Affizierten zu vergegenwärtigen nicht lassen kann, kein ,objektives‘, sondern ein solches ist, das von der dysfunktionierenden virtus estimativa positiv verzerrt worden ist. Der Liebeskranke glaubt, das „extrinsicum apprehensum“ sei geeignet für ihn und erwidere sein Werben („putatur conveniens et amicum“) 45, und die forma sensata, die Physis, die er als wohlgefälliger denn die aller anderen Frauen sonst wahrnimmt 46, kann die einer beliebigen sein („forma alicuius mulieris“) 47. Bona Fortuna geht so weit, diese Dysfunktion der estimativa als eine ,Verhüllung‘ der gesamten ratio zu bezeichnen, in deren Folge die Unterscheidungs- (,discernere‘) und Urteilskraft (,iudicium‘) ganz außer Kraft gesetzt sind 48. Die geschädigten mentalen virtutes ,befehlen‘ dann den virtutes, welche den Körper und dessen Teile regieren, Aktivitäten zu entfalten, um das Begehren zu erfüllen: „[…] et eam mandat virtuti irascibili et concupiscibili, que sunt virtutes motive […] Et tunc huiusmodi virtutes inpe40 Gerardus Bituricensis, 15-18. 41 Gerardus Bituricensis, 23. 42 „Ymaginatiua autem uirtus figitur circa illud propter malam complexionem frigidam et siccam que est in suo organo, quia ad mediam concauitatem ubi est estimatiua trahuntur spiritus et calor innatus ubi estimatiua fortiter operatur.“ (Gerardus Bituricensis, 23-27) 43 „[…] et quod inprimitur in sicco fortius inprimitur quam quod inprimitur in humido […]“ (Petrus Hispanus, A, 148 f.) 44 Petrus Hispanus, A, 145. 45 Bona Fortuna, 34 f. (Hervorhebung von mir). 46 „[…] quod placet ipsi patienti super omnia […]“ (Bona Fortuna, 37). 47 Bona Fortuna, 35 (Hervorhebung von mir). 48 „Ista autem movent rationem et obvolvunt ita quod non discernit sed ducitur tamen super cogitationem quasi iam habeat determinatum iudicium ad unam partem.“ (41-44)
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rantes inperant virtuti motive que est in nervis ut moveant membra ad prosecucionem illius rei.“ 49 Die Ausschließlichkeit der mentalen Fixierung reflektiert sich in der entsprechenden Ausschließlichkeit des Begehrens („[…] unde concupiscibilis hoc solum concupiscit.“) 50. Einige Traktate stellen die Frage nach der Aitiologie dieser Aitiologie, diskutieren also, was die Ursache der basalen Dysfunktion der virtus estimativa sein könnte. Petrus Hispanus beobachtet, daß hereos vor allem junge Männer befällt, die unmittelbar zuvor ihr erstes physisches Erlebnis hatten. Eben weil diese Begegnung als überwältigend wahrgenommen werde, entstehe das Verlangen nach alsbaldiger Wiederholung. Es sei dieses Verlangen, was die Urteilskraft so sehr beeinträchtige, daß die Betreffenden Frauen, die nicht besonders schön sind, als schöner denn alle anderen, und Frauen, die keinerlei Anstalten machen, ihnen ihre Gunst zu schenken, als ,conveniens‘ ansehen, als bereit, mit ihnen ,zusammenzukommen‘: „Unde […] est primus coitus qui maxime est delectabilis, quare maxime appetunt coitum. […] defectus estimative qui est maxime in pueris […] valet ad generationem amoris hereos.“ 51 Der zweite große Komplex, der in den Traktaten diskutiert wird, ist die Symptomatologie („sign[a] que signant egritudinem“) 52. Als Anzeichen der permanenten Präokkupation mit dem Liebesobjekt werden genannt Geistesabwesenheit („si aliquis de aliquo loquatur, uix intelliget“) 53, Schlaflosigkeit („uigilia“) 54, Weinen, sobald der Kranke an die Geliebte denkt (da er permanent an sie denkt, bedeutet dies ein fast ständiges Weinen), Weinen selbst während des Schlafs („etiam in sompno accidit eis […] fletus“) 55, unmotiviertes Lachen („Facies istorum est similis faciei ridentis“) 56, plötzlicher Wechsel von Lachen zu Weinen und vice versa („de facili ridet et de facili de fletu ad risum mouetur“) 57, hektisches Augenrollen („oculi […] cito mobiles propter anime cogitationes“) 58, häufiges und tiefes Seufzen („suspiria profunda“; „hanelant cum suspirio“) 59, permanente Traurigkeit ohne erkennbaren Grund („Tristi49 50 51 52 53 54 55 56 57 58 59
Petrus Hispanus, A, 42-46. Gerardus Bituricensis, 19. Petrus Hispanus, A, 173-178. Bona Fortuna, 48 f. Gerardus Bituricensis, 32 f. Constantinus Africanus, 21 f. und Bona Fortuna, 58 f. Bona Fortuna, 61 f. Bona Fortuna, 56 f. Gerardus Bituricensis, 38 f. Constantinus Africanus, 18 f. Petrus Hispanus, B, 36 f. und Bona Fortuna, 68.
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cia sine causa“) 60, schließlich Hang zu Einsamkeit („querunt solitudinem“) 61. Und wenn dann die Kranken fern aller menschlichen Gesellschaft sind, so Bona Fortuna, weinen oder singen sie („et quando sunt soli tunc flent aut cantant“) 62. ⫺ Der soeben genannte Terminus tristicia, lat. für gr. melancholia, deutet bereits an, daß die Traktate hereos in die Nähe der Melancholie rücken 63. Was das exakte Verhältnis der zwei Leiden angeht, differieren die Aussagen mit einer gewissen Spannbreite. Einige Autoren begnügen sich mit dem Hinweis auf die Affinitäten der Symptomatik („est […] similis melancolie“) 64, andere fassen morbus hereos als Variante der Melancholie auf („hereos est sollicitudo melancolica cum profundatione cogitationis“) 65, und die meisten betrachten ihn als eine Form beginnender Melancholie („unde remanet dispositio melancolica“) 66, was wiederum impliziert, daß ein hereos, welcher unbehandelt bleibt, im Vollbild des betreffenden Leidens resultiert („Unde si non eriosis succuratur ut cogitatio eorum auferatur et anima leuigetur, in passionem melancolicam necesse est incidant“ 67). Der dritte Komplex, der der Therapie, ist der aus moderner Sicht am wenigsten erstaunliche. Die Ratschläge sind in weiten Teilen identisch mit den Ovidischen remedia amoris, welche wiederum von den antiken Vorstufen des hereos-Diskurses derivieren, indes seit jeher Bestandteil des literarischen Diskurses über die Liebe gewesen sind. Für leichtere Fälle raten die Traktate zu mäßigem Weingenuß, zu Unterhaltung mit guten Freunden, zu geselligem Leben, zu Bädern, zu Konzentration auf die Probleme des Alltags („occupatio […] in necessariis occupationibus […] ut inducatur ad hoc quod sollicitus sit de victu et vestitu“) 68. Bei schweren Fällen ist der wichtigste Ratschlag, den Ort zu wechseln („mu60 61 62 63
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Petrus Hispanus, B, 36. Bona Fortuna, 60. Bona Fortuna, 60-62. Zur Herausbildung des Verständnisses der Melancholie und auch der Temperamentenlehre bis zu der hier behandelten Zeit ist grundlegend H. Flashar, Melancholie und Melancholiker in den medizinischen Theorien der Antike, Berlin 1966. Gerardus Bituricensis, 2 f. Petrus Hispanus, A, 77 f. Gerardus Bituricensis, 27 f. Constantinus Africanus, 28-30; s. auch Bona Fortuna, 29 f. („quando non curantur fiunt melancolici vel manici“). Wack beobachtet, daß im Zuge der Avicenna-Rezeption hereos in den Traktaten des 14. Jahrhunderts immer näher an das Krankheitsbild der melancholia heranrückt (Lovesickness in the Middle Ages [s. Anm. 14], S. 100-102); dies wäre kompatibel mit dem Stellenwert der acedia in Petrarcas Selbstmodellierung bzw. in seiner Modellierung des Sprechers des Canzoniere. Bona Fortuna, 150-158.
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tatio […] regionis“) 69, mit der Absicht, die cogitatio von ihrer obsessionellen Fixierung abzubringen: „Dicendum quod a patria exire competit in amore hereos quia talis exitus facit videre res pulcras et loca amena et in quibus paciens figit suam cogitationem. Et per consequens retrahit ymaginationem suam a sua amasia et facit patientem oblivisci sue amasie, quod maxime competit in cura amoris hereos.“ 70 Bernardus Gordonius konkretisiert dies folgendermaßen: „et quod vadat per loca ubi sint prata, fontes, montes, nemora, odores boni, pulchri aspectus, cantus avium.“ 71 ⫺ Das zweite dieser Mittel für schwere Fälle ist, mit gleicher Absicht, der therapeutische Sex („Ualet etiam consorcium et amplexus puellarum, plurimum concubitus ipsarum, et permutatio diuersarum“) 72. ⫺ Die einzige Medizin im modernen Verständnis ist ein Aufguß von Kräutern, der in verschiedenen Spezifizierungen beschrieben wird. 1.2. Mit wenigen Sätzen sei hereos von den anderen in der Geschichte unserer Zivilisation auftretenden Liebeskonzeptionen abgegrenzt. Es sei behauptet, daß wir im wesentlichen drei solcher Konzeptionen kennen: die platonische, die höfische und hereos 73. Die implizierte Separation von hereos und höfischer Liebe mag überraschen. In einem Großteil der Literatur werden die beiden Konzepte miteinander identifiziert 74. Dafür gibt es Gründe 75, indes, die Unterschiede erscheinen gewichtiger. Die hö69 70 71 72 73
Bona Fortuna, 153. Petrus Hispanus, A, 189-194. Bernardus Gordonius, in: Lowes (s. Anm. 20), S. 501. Gerardus Bituricensis, 53-55. Es liegt nahe, daß die drei Modelle viel gemein haben und diese Gemeinsamkeiten auch die Liebesdiskurse anderer Kulturen umfassen. Ungeachtet aller ,Differenz‘ gibt es anthropologische Konstanten, die in unserer Zugehörigkeit zu einer Species begründet sind. Aber hier geht es zunächst darum, die Unterschiede aufzuweisen. 74 S. die in Anm. 20 zitierten Titel; weitere Literatur, die das Liebeskonzept von De amore mit hereos identifiziert, nennt Schnell, Causa amoris (s. Anm. 12), S. 50, Anm. 190. 75 Legt man Andreas Capellanus zugrunde, springt natürlich das zu Beginn von De amore genannte Moment der cogitatio ins Auge („Amor est passio quaedam innata procedens ex visione et immoderata cogitatione formae alterius sexus […]“ [I, 1; zitiert nach der Ausgabe von E. Trojel, München 1964, S. 3]). Aber die Konzeption des gesamten Buchs als eines Regelwerks (s. u. a. I, 6, S. 19, S. 30 u. S. 105 f. sowie II, 8, S. 295-312) mit Musterdialogen, usw., dürfte das von uns oben gemeinte Moment unmittelbar verdeutlichen. Von hierher sind auch weitere partielle Affinitäten zu gewichten. Wenn die dreißigste der ,regulae amoris‘ lautet: „Verus amans assidua sine intermissione coamantis imaginatione detinetur“, so ist dies keine Beschreibung eines Zustands, sondern Formulierung einer erfolgversprechenden Maxime („regulas iam dictas in scriptis reportaverunt et eas per diversas mundi partes cunctis amantibus ediderunt.“ [II, 8, S. 312]). Zudem wäre darauf zu verweisen, daß das in
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fische Liebe ist ein soziales Ritual. Sie ist ein ,willentlicher‘ Akt und keine ,Affektion‘ (keine ,Krankheit‘). Der amour courtois stellt einen Code dar, er realisiert sich in Akten der Kommunikation. Die ausgetauschten Signale haben eine fixe Bedeutung, sie sind nicht offen für subjektive Interpretation. Es gibt keinen Hiat zwischen dem ,wahren‘ Verhalten der Herrin und dessen Deutung durch ihren Verehrer, und auch keine subjektiv verzerrte Wahrnehmung der ,Qualitäten‘ der Herrin; diese gründen auf deren sozialem Rang. ⫺ Der rituelle Status bedingt zum zweiten, daß die höfische Liebe eine Inszenierung ist, in der das Liebesbegehren möglicherweise weitgehend vehikuläre Funktion hat 76. Das heißt nicht, daß die Gefühle nur ,gespielt‘ wären. Aber sie sind weniger ,tief‘ als diejenigen, die von dem potentiell lebensbedrohenden morbus hereos gemeint sind. Es ist dieser Aspekt: ,Tiefe‘, Authentizität, non-ritueller, non-codierter Status, was hereos auf den ersten Blick an das romantische Liebeskonzept heranrücken läßt. Aber auch hier erscheinen bei näherem Hinsehen die Unterschiede erheblich. Das romantische Konzept ist eine der zahlreichen Varianten des platonischen Modells, die es in der westlichen Geschichte gibt 77. Die Platonische Liebe in ihrer originären Grundform
seiner Funktion umstrittene dritte Buch von einer Prämisse ausgeht, welche aus Sicht des Konzepts hereos per se ausgeschlossen ist: der einer willentlichen Vermeidbarkeit der Liebe. 76 Von singulärer Prägnanz zum Phänomen der höfischen Liebe: G. Duby, Que sait-on de l’amour en France au XII e sie`cle?, Oxford 1983. Duby streicht insbesondere den funktionalen Aspekt heraus. Die höfische Liebe als „jeu e´ducatif“, als „syste`me pe´dagogique“ dient dem Zweck, die (jungen) Männer in eine Disziplinierung jener naturhaften Aggressivität einzuüben, auf die das Feudalsystem als kriegerische Ordnung angewiesen ist, die jedoch in unkontrollierter Form systemstörende Dimension gewinnen müßte („[…] canalisant leur puissance agressive, les disciplinant, les domestiquant.“ [alle Zitate: S. 16]). Das material- und umfangreiche Buch von Schnell (s. Anm. 12), das entgegen dem vom Untertitel Suggerierten ein Buch über die höfische Liebe darstellt (zu hereos s. die beiläufigen Bemerkungen S. 19, S. 114, S. 144 u. S. 292), ist naheliegenderweise in seinen Festlegungen weniger prägnant als die Skizze von Duby, kann jedoch gleichfalls für unser Argument angeführt werden (s. bes. S. 137, S. 150 u. S. 170). 77 Aus einer rein positivistischen Sicht erfaßt die medizinische Dissertation von Giedke (s. Anm. 20) die von uns anvisierten Unterschiede ungleich konziser als die genannten literarhistorischen Arbeiten; zur Abgrenzung vom höfischen Konzept zitieren wir nur einen Satz zu De amore: Andreas Capellanus „beschreibt in seinem Werk […] die Liebe als eine erlernbare Kunst. Liebende mußten sich demnach ganz bestimmten Vorschriften und Regeln unterordnen. Diese Regeln entsprechen weitgehend den Symptomen, die bis dahin von den Ärzten als Ausdruck der Liebeskrankheit angesehen wurden.“ (S. 46) Die Abgrenzung zu modernen Modellierungen der unglücklichen Liebe gelingt Giedke deshalb so treffsicher, weil sie für die entsprechenden Verhältnisse die medizinischen Publikationen des 18., 19.
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leugnet nicht die sinnliche Dimension. Aber sie dissoziiert Sinnliches und Geistiges in Form einer Abfolge 78, und sie impliziert ein Werturteil, das in der Gedankenfigur des ,Aufstiegs‘ enthalten ist. Letztlich sind körperliche Schönheit und alle physischen Aspekte der Liebe niedrig 79. Eine solche Wertung und der sich daran knüpfende sublimative Impetus sind dem Konzept hereos von seinem medizinischen Ansatz her fremd. Es ist vermutlich überflüssig zu diskutieren, warum die westliche Zivilisation zumindest bis zum Ende der klassischen Moderne das platonische Modell bevorzugt hat, und nicht das höfische, oder gar hereos. Das tradierte Weltmodell des Okzidents ist christlich gegründet. Die damit seit jeher angelegten, im Lauf der Entwicklung sich akzentuierenden Tendenzen zu Verinnerlichung und Subjektivierung 80 entzogen ritualisierten Verhaltenskonzepten mehr und mehr die Grundlage. Dies waren ungünstige Bedingungen für das Modell der höfischen Liebe. Was Körper und Seele angeht, induziert das christliche Moment Dissoziierung und Hierarchisierung. Dies waren ungünstige Bedingungen für ein Liebeskonzept wie hereos 81. Gleichwohl ist es dieses ideologisch marginalisierte Konzept gewesen, das einigen Texten die Basis verleiht, die an der Spitze des literarischen Kanons rangieren. Der historisch späteste dieser Texte ist der Quijote (welcher eine zugleich parodistische und ernstgemeinte Version präsentiert), davor liegt Shakespeares Hamlet 82, und der erste ist möglicherweise Petrarcas Canzoniere 83.
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und 20. Jahrhunderts konsultiert, die ihrerseits nicht ohne Rückwirkung auf Literatur und Lebenswelt geblieben sind. Vor allem, so beobachtet Giedke, löst sich im 18. Jahrhundert die für hereos typische Verbindung von sinnlichem Begehren und einer auf eine einzelne Person gerichteten passio auf. Es entstehen die Krankheitsbilder der Erotomanie (welche eine platonische Fixierung auf einen unerreichbaren Partner bezeichnet und das medizinische Pendant zur narzißtischen Liebe der Romantik darstellt) und der Satyriasis bzw. Nymphomanie (welche ein dissolutes, an keinen bestimmten Partner gebundenes Begehren meinen [s. S. 106-164]). S. Symposion 210 a ff. (Aufstieg von dem Genuß, den die Schau körperlicher Schönheit bereitet, zu dem Genuß, der aus der Anschauung der immateriellen Schönheit der reinen Ideen resultiert). Luzid zu dem Unterschied ,Hereos - platonisches Konzept‘ die kurzen Bemerkungen bei Schadewaldt, „Der Morbus amatorius aus medizinhistorischer Sicht“ (s. Anm. 20), S. 96. Dazu Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Wir führen dies hier nicht aus, aber es dürfte deutlich sein, daß das neurotisierende Verständnis der Liebe, das der Freudianismus entwirft und das zumal in der Literatur und Lebenswelt der späten Moderne und der Postmoderne eine bestimmende Stellung erreicht hat, Affinitäten zu einer Sicht hat, wie sie im Konzept hereos impliziert ist. S. v. a. II, 2, 146-150 (dazu Lowes, „The Loveres Maladye of Hereos“ [s. Anm. 20], S. 543). Bereits zeitgenössisch vertritt Dino del Garbo, Cavalcantis Canzone „Donna me prega“ beziehe sich auf das mit hereos gemeinte Liebeskonzept. Indes scheint es sich eher so zu
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2. 2.0. Die angedeutete These der Präsenz des hereos-Diskurses im Canzoniere plausibel zu machen, erforderte im Prinzip, die signifikante Rekurrenz von Termini bzw. Konzepten sowie von Verknüpfungen von Termini bzw. Konzepten aufzuzeigen, deren ,archäologische‘ Zuordnung sich nach zwei Aspekten bemißt: der Entsprechung zum hereos-Diskurs sowie der Abweichung von anderen, etwa modernen, am je gegebenen Ort zu erwartenden Termini bzw. Konfigurationen von Termini. Dies kann hier nur ansatzweise geleistet werden. Zunächst soll der Blick auf einige solcher historisch signifikanten Konzepte gerichtet werden, wobei das Problem der statistischen Relevanz in den Fußnoten diskutiert wird. Zur Beurteilung des Aspekts der Strukturalität der Phänomene 84 sollen sodann zwei Canzonen angesehen werden. Danach ist auf einige durchgängige Merkmale des Canzoniere hinzuweisen, die sich vielleicht einem anderen als dem bislang üblichen Verständnis öffnen könnten. Schließlich wird ein kurzer Abriß jener Aspekte des in den Canzoniere eingegangenen hereos-Diskurses präsentiert, die bis dahin noch nicht angesprochen werden konnten. Die Erörterung aller übergreifenden Fragen ist einem separaten Schlußteil vorbehalten, der in Form einer Nachbemerkung auch die im Sub-Titel dieser Abhandlung genannten abstrakteren Probleme diskutiert.
verhalten, daß der Mediziner del Garbo, der eine genaue Kenntnis der hereos-Traktate hatte, die Canzone in entsprechendem Sinne vereindeutigt. Da deren Wortlaut dunkel ist, ist dies im Prinzip möglich. Gleichwohl spricht vieles gegen del Garbos Deutung, die jedoch in neuerer Forschungsliteratur über Cavalcanti/del Garbo in der Regel ohne weiteres übernommen wird (s. v. a. Bird, „The Canzone d’Amore of Cavalcanti“ [s. Anm. 20]). 84 Was die historische Signifikanz betrifft, ist zu betonen, daß unsere Behauptungen nur unter dem Vorbehalt der Strukturalität gelten. Es versteht sich, daß in zahlreichen einzelnen Aspekten die im Folgenden genannten Merkmale der Petrarkischen Lyrik sich auch aus der Tradition der prä-Petrarkischen volkssprachlichen Lyrik erklären lassen (zu einem solchen, auf umfassender Kenntnis der entsprechenden Texte gründenden Unterfangen vgl. den Aufsatz von B. König [s. Anm. 85]). Außer dem Moment der Strukturalität wäre in dieser Hinsicht, mutatis mutandis, zu insistieren auf dem, was wir oben zur Abgrenzung von hereos, höfischer und platonischer Liebe gesagt haben (s. S. 131-133). Zum dritten möchten wir auf den in unseren folgenden Analysen besonders herausgestellten Aspekt der subjektivierenden imaginatio des Sprechers des Canzoniere verweisen. Dieses Moment archäologisch durch Rekurs auf die lyrische Tradition zu erklären, erschiene nach unserer Kenntnis des Gegenstands schwierig.
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2.1. Seit Beginn der Petrarca-Philologie hat ein Moment die Leser des Canzoniere irritiert, und dieses Moment ist Anlaß gewesen zu Kontroversen zwischen Petrarca-Lesern von Rang 85. Die Irritation entzündet sich daran, daß, wenn das Liebesempfinden bezeichnet wird, in der Sammlung ein Terminus Verwendung findet, der nach der modernen Ordnung des semantischen Feldes in Opposition zum Konzept ,Gefühl‘ steht: ,pensare‘ oder ,pensieri‘ 86 (lat. ,cogitare‘ bzw. ,cogitatio‘). Als ersten Schritt unseres Arguments würden wir festhalten wollen, daß damit möglicherweise auf die Annahme des hereos-Konzepts referiert ist, die Essenz der Liebesleidenschaft sei das Sich-Verlieren in der cogitatio (,profundatio cogitationis‘) 87, einem beständigen, ja ausschließlichen Denken an die 85 S. K. Stierle, Petrarcas Landschaften. Zur Geschichte ästhetischer Landschaftserfahrung, Krefeld 1979, bes. S. 36-44, und B. König, „Petrarcas Landschaften. Philologische Bemerkungen zu einer neuen Deutung“, Romanische Forschungen Bd. 92/ 1980, S. 251-282, hier: S. 256-259. 86 Ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit dokumentieren wir im Folgenden die zentralen Termini und Konzepte des hereos-Diskurses in den ersten einhundert Gedichten des Canzoniere. Für den Rest der Sammlung begnügen wir uns mit dem Hinweis auf Verse, die über das in diesem ersten Drittel der Sammlung zu Findende in besonderer Weise hinausgehen bzw. von singulärer Prägnanz sind. Eine unaufwendige Überprüfung unserer Behauptungen für die Teile des Zyklus, deren Auswertung wir nicht dokumentieren, ist möglich anhand der von K. McKenzie besorgten Concordanza delle rime di Francesco Petrarca, New Haven 1912, bzw. jetzt auch der CD-ROM-Ausgabe von Petrarcas Werken (hrsg. v. P. Stoppelli [Archivio italiano], Roma 1998). - „[…]/ d’amorosi penseri […]“ (X, V. 12); „[…] i be’ pensier’ celati,/ […]“ (XI, V. 5); „Da lei ti ve`n l’amoroso pensero,/ […]“ (XIII, V. 9); „[…]/ l’anima […]/ […] con molto pensiero indi si svelle.“ (XVII, V. 13 f.); „[…] miro pensoso le crudeli stelle,/ […]“ (XXII, V. 15); „Da me son fatti i miei pensier’ diversi:/ […]“ (XXIX, V. 36); „Allor saranno i miei pensieri a riva/ che foglia verde non si trovi in lauro;/ […]“ (XXX, V. 7 f.); „Dentro pur foco, et for candida neve,/ sol con questi pensier’,/ […]“ (XXX, V. 31 f.); „I’ dico a’ miei pensier’ […]“ (XXXII, V. 5); „[…] del pensiero amoroso che m’atterra,/ […]“ (XXXVI, V. 2); „Allor mi strinsi a l’ombra d’un bel faggio,/ tutto pensoso; […]“ (LIV, V. 7 f.); „Vaghi pensier’ che cosı´ passo passo/ scorto m’avete a ragionar tant’ alto,/ […]“ (LXX, V. 21 f.); „L’amoroso pensero/ ch’alberga dentro, […]“ (LXXI, V. 91 f.); „[…] un sol dolce penser l’anima appaga;/ […]“ (LXXV, V. 6); „Amor, con cui pensier mai non amezzo,/ […]“ (LXXIX, V. 5); „Cosı´ potess’io ben chiudere in versi/ i miei pensier’ […]“ (XCV, V. 1 f.). 87 Zwei Dinge sind zu dem Faktum zu sagen, daß ungeachtet des Insistierens auf dem ,pensare‘ bei Petrarca in der Regel das ,Herz‘ und nicht das ,Hirn‘ als Sitz der Liebe apostrophiert wird. Zum ersten: Die entsprechenden Stellen gehören fast ausnahmslos in den Kontext der Amor-Allegorie, die Petrarca von den Stilnovisten übernimmt. Der Liebesgott ,schießt‘ seine Pfeile durch die Augen in das Herz des Liebenden, welches augenblicklich ,verwundet‘ ist („Trovommi Amor del tutto disarmato/ et aperta la via per gli occhi al core/ che di lagrime son fatti uscio et varco:// pero` al mio parer non li fu honore/ ferir
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Geliebte („[…] e ’l pensier mio,/ ch’e` sol di lei, sı´ ch’altra non v’a` parte“) 88. Aus einer solchen Sicht würde Petrarcas ,Lyrik des pensare‘ weder ein intellektualisiertes noch ein platonisch a-körperliches Liebesverständnis implizieren. Sie wäre zu sehen als Bezugnahme auf ein Konzept von nicht zuletzt auch physisch gemeinter Passion, mit dem indes eine Reihe weiterer, aus moderner Sicht eher befremdliche Konfigurationen einhergehen. Deren wichtigste wäre die Kollokation zweier Komplexe, die ähnlich häufig wie das ,pensare‘ begegnen. Fast kein Gedicht der Sammlung verzichtet auf die Inszenierung der ,Tränen‘ des Liebenden, woran sich wiederum das Beklagen (,lagnarsi‘, ,lamentar‘) 89 der ,affann[i]‘ 90, die Selbstthematisierung als ,müde‘, ,erschöpft‘, ,bedauernswert‘ (,lasso‘) 91 bindet,
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me de saetta in quello stato,/ a voi armata non mostrar pur l’arco.“ [III, V. 9-14]). Mit anderen Worten, der Terminus ,Herz‘ im Canzoniere ist rhetorisch aufzufassen. Es sei gesagt, daß die Amor-Personifikation zuweilen auch ihren Sitz in der ,Seele‘ (anima, animus) hat, die wiederum physiologisch im Hirn angesiedelt ist („Amor, che dentro a l’anima bolliva,/ […]“ [LXVII, V. 5]). In Übereinstimmung mit unserer Deutung der Stellung des ,Herzens‘ im Canzoniere dann auch LXXII, V. 29 f., wo das ,Herz‘ als Sitz des (Liebes-)Gedankens apostrophiert ist („[…]/ empiendo d’un pensier alto et soave/ quel core ond’a`nno i begli occhi la chiave.“). S. weiterhin Stellen wie CXCVIII, bes. V. 13 f., wo explizit der „intellecto“ als ,Sitz‘ der Liebe des Sprechers apostrophiert ist („da ta’ due luci e` l’intellecto offeso,/ et di tanta dolcezza oppresso et stanco.“ [s. auch CLXXXII, V. 1-4; CCCLX, V. 89 f.]). - Als Alternative zu dieser rhetorischen Lektüre des Terminus ,core‘ könnte man diejenigen hereosTheoretiker anführen, die wie Arnaldus de Villanova einen humoralpathologisch gegründeten Versuch machen, die orthodox-aristotelische These vom Herzen als dem Sitz der Gefühle mit Avicennas Zuweisung der Gefühle zum Hirn zu harmonisieren: Der Anblick des Liebesobjekts führt zu vermehrter Aktivität des Herzens. Die entsprechende Erwärmung bewirkt, daß ein Überschuß an pneuma/spiritus produziert wird, der ins Hirn aufsteigt. Die pneuma-Hypertrophie im Hirn induziert eine Dysfunktion der virtus estimativa, was wiederum dem angrenzenden Hirnventrikel, dem Sitz der imaginativa, Hitze entzieht, welcher folglich erkaltet bzw. erstarrt und auf diese Weise fortan das Bild des Liebesobjekts wie ,eingedruckt‘ in sich trägt (s. Arnaldus de Villanova, in: Ciavolella, La ,malattia d’amore‘ dall’Antichita` al Medioevo [s. Anm. 20], S. 75-77). Die entsprechende spiritus-Theorie findet Eingang in die Gedichte Canz. XVII, bes. V. 5-11; XLVII, bes. V. 1 f.; CXLVII, V. 1-8 und CXCVIII, V. 1-14. LXI, V. 13 f.; gleichlautend LXXII, V. 37-45 („Vaghe faville, angeliche, beatrici/ de la mia vita, ove ’l piacer s’accende/ che dolcemente mi consuma et strugge:/ come sparisce et fugge/ ogni altro lume dove ’l vostro splende,/ cosı´ de lo mio core,/ quando tanta dolcezza in lui discende,/ ogni altra cosa, ogni penser va fore,/ et solo ivi con voi rimanse Amore.“); s. auch CLXIX, V. 1 f. („Pien d’un vago penser che me desvia/ da tutti gli altri […]“); „Pasco la mente d’un sı´ nobil cibo,/ ch’ambrosia et nectar non invidio a Giove,/ che´, sol mirando, oblio ne l’alma piove/ d’ogni altro dolce […]“ (CXCIII, V. 1-4). S. u. a. XXXVIII, V. 5; LXXXIV, V. 4; CCV, V. 5; CCCXI, V. 7; CXXXII, V. 6. LXXII, V. 15; XII, V. 2; LXI, V. 5; LXII, V. 12. Das Wort begegnet so häufig, daß hier der Verweis auf den entsprechenden Eintrag in der Petrarca-Konkordanz genügen möge (Beispiele: XIV, V. 1; XV, V. 4).
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ein Syndrom von Leiden („la doglia mia“) 92, Mattigkeit („[i]l corpo stancho ch’a gran pena porto“) 93 und Weinen (,lagrime‘) 94 bis hin zum Genießen dieses Weinens 95. Damit einher geht, zuweilen sogar im Rahmen eines einzigen Verses 96, die permanente Apostrophierung eines heftigen physischen Begehrens: „cieco“ bzw. „possente“ bzw. „fermo“ oder auch „vago desir“ 97, „ardente“ bzw. „caldo desio“ 98, „bram[a]“ 99, „amorosa“
92 LXXI, V. 6; CLV, V. 7; CCXXIII, V. 14; CCLV, V. 3. 93 „Io mi rivolgo indietro a ciascun passo/ col corpo stancho ch’a gran pena porto,/ […]“ (XV, V. 1 f.); „[…]/ veggio a molto languir poca mercede,/ […]“ (CI, V. 5); s. weiterhin CLXXIV, V. 12; CCXXIV, V. 2; CCXLIV, V. 7. 94 „[…] gli occhi […]/ che di lagrime son fatti uscio et varco:/ […]“ (III, V. 10 f.); „[…] anzi che sian venute/ l’ore del pianto, […]“ (XIV, V. 11 f.); „[…] et gli occhi in terra lagrimando abasso.// Talor m’assale in mezzo a’ tristi pianti/ […]“ (XV, V. 8 f.); „Piovonmi amare lagrime dal viso/ […]“ (XVII, V. 1); „[…]/ che le lagrime mie si spargan sole.“ (XVIII, V. 14); „[…]/ pero` con gli occhi lagrimosi e ’nfermi/ […]“ (XIX, V. 12); „[…]/ poi quand’io veggio fiammeggiar le stelle/ vo lagrimando […]“ (XXII, V. 11 f.); „[…] i’ piango a l’ombra e al sole;/ […]“ (XXII; V. 21); „Lagrima anchor non mi bagnava il petto/ ne´ rompea il sonno […]“ (XXIII, V. 27 f.); „[…]/ piansi molt’anni il mio sfrenato ardire:/ […]“ (XXIII, V. 143); „Amor piangeva, et io con lui talvolta,/ […]“ (XXV, V. 1); „Lagrima dunque che dagli occhi versi/ […]“ (XXIX, V. 29); „[…] sempre piangendo andro` per ogni riva,/ […]“ (XXX, V. 33); „[…]/ per gli occhi che di sempre pianger vaghi/ […]/ Et io son un di quei che ’l pianger giova;/ et par ben ch’io m’ingegni/ che di lagrime pregni/ sien gli occhi miei […]/ Et per pianger anchor con piu´ diletto,/ […]“ (XXXVII, V. 63-97); „[…]/ et par che dica: Or ti consuma et piagni.“ (XXXVIII, V. 8); „Pero` i dı´ miei fien lagrimosi et manchi,/ […]“ (XLVI, V. 5); „Per lagrime ch’i’ spargo a mille a mille,/ […]/ Qual foco non avrian gia` spento et morto/ l’onde che gli occhi tristi versan sempre?“ (LV, V. 7 und V. 11 f.); „Ma, lasso, […]/ anzi piango al sereno et a la pioggia/ […]“ (LXVI, V. 19 f.); „[…] il fin de’ miei pianti,/ […]“ (LXXII, V. 72); „Lagrime omai dagli occhi uscir non ponno,/ […]“ (LXXXIII, V. 9); „Occhi, piangete […]“ (LXXXIV, V. 1); „[…]/ quel dolce loco, ove piangendo torno/ […]“ (LXXXV, V. 3); „[…] onde conven ch’eterne/ lagrime per la piaga il cor trabocchi.“ (LXXXVII, V. 7 f.); „[…]/ forse non avrai sempre il viso asciutto:/ ch’i’ mi pasco di lagrime […]“ (XCIII, V. 13 f.); „[…]/ fanno le luci mie di pianger vaghe.“ (C, V. 14) 95 „Lagrimar sempre e` ’l mio sommo diletto,/ […]“ (CCXXVI, V. 5). Das Motiv des permanenten Weinens wohl am nachhaltigsten im ersten Quartett von CCXVI („Tutto ’l dı´ piango; et poi la notte, quando/ prendon riposo i miseri mortali,/ trovomi in pianto, et raddopiarsi i mali:/ cosı´ spendo ’l mio tempo lagrimando./ […]“). 96 „Benedett[i] […]/ […]/ e i sospiri, et le lagrime, e ’l desio; […]“ (LXI, V. 9-11; s. weiterhin CLXIV, V. 5 [„[…] penso, ardo, piango […]“]). 97 LVI, V. 1; CLXI, V. 3; XXII, V. 24; CLXXVIII, V. 6; s. weiterhin XXIII, V. 147; LVII, V. 2; LXXIII, V. 78; CXLVII, V. 11; CLXXXI, V. 14. 98 XXXVII, V. 50; VI, V. 1; XVIII, V. 10 und V. 13; LXXIII, V. 17; LXXIX, V. 4; CXIII, V. 8; CXXVII, V. 52; XLVII, V. 5 und V. 14; XLVIII, V. 12; LXXI, V. 18 f. („[…]/ ma contrastar non posso al gran desio,/ lo quale e` ’n me […]“); LXXXV, V. 13; XCV, V. 11; XCVI, V. 3; CCXXXVI, V. 5. 99 CXVI, V. 5; s. weiterhin LXXI, V. 5; CLXVIII, V. 4; CCVII, V. 34.
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bzw. „fera“ bzw. „vil voglia“ 100, „voglia ardente“ 101, „infiammate voglie“ 102, „fero ardore“ 103, „sfrenato ardire“ 104. Die moderne Unkenntnis des Syndroms hereos hat dazu geführt, daß das Insistieren des Sprechers auf seinem ,desio‘ zugunsten des Aspekts von Weinen und Klagen fast ganz ausgeblendet worden ist. In der Tat äußert sich in der Moderne sinnliches Begehren nicht in Tränen, soweit es sich um das eines Mannes handelt; die Kollokation ist für weibliche Liebende reserviert 105. Aus späterer Sicht erscheint ein hereos-Kranker wie effeminiert 106. Dementsprechend haben Autoritäten wie H. Fried100 101 102 103 104
CCLXX, V. 66; XXIII, V. 3; CLIV, V. 14. CCXC, V. 13; LXXIII, V. 2 („accesa voglia“); CXXXII, V. 5; XXXVII, V. 94. CCCLI, V. 3 f.; CLXXIII, V. 10 („voglie […] accese“); LIII, V. 69; LXXIII, V. 2. CLXI, V. 2; s. u. a. auch CLXXV, V. 7 und V. 12; CXCIV, V. 14; CCIII, V. 1 und V. 9. XXIII, V. 143; s. auch CXL, V. 8; XXIX, V. 11 („sfrenata voglia“). - Am nachdrücklichsten ist, auch dies in Übereinstimmung mit dem Referenzdiskurs, die Thematisierung eines heftigen sinnlichen Begehrens in dem Sonett, welches das Datum der Begegnung des Liebenden mit Laura gibt und eines der wenigen ist, in denen unzweideutig die Präsenz Lauras keine imaginierte, sondern eine reale ist („Voglia mi sprona, Amor mi guida et scorge,/ Piacer mi tira […]/ […]/ regnano i sensi, et la ragion e` morta;/ de l’un vago desio l’altro risorge./ […]/ Mille trecento ventisette, a punto/ su l’ora prima, il dı´ sesto d’aprile,/ nel laberinto intrai, ne´ veggio ond’esca.“ [CCXI]). Über die omnipräsenten generischen Verweise auf die ,voglia‘ bzw. den ,desio‘ des Sprechers hinaus ist außer diesem Gedicht das Madrigal Canz. LII von einer kaum verhüllten sinnlichen, ja, sexuellen Explizität, die man bei dem platonisierenden Petrarca, so, wie ihn uns die moderne Sekundärliteratur zeichnet, nicht vermuten würde und wie sie aus eben diesem Grund in der Regel unbemerkt bleibt. Zu verweisen wäre weiterhin auf das erste Quartett von CXLVII („Quando ’l voler che con duo sproni ardenti,/ et con un duro fren, mi mena et regge/ trapassa ad or ad or l’usata legge/ per far in parte i miei spirti contenti,/ […]“). 105 Soweit Liebende männlichen Geschlechts weinen, wie in der Romantik, ist der Aspekt des Begehrens defizient. Die zwei Konzepte schließen sich in späterer Zeit aus, besser: Sie sind komplementär distribuiert. 106 Wenn Wack ausführt: „[…] Gerard’s [de Berry] addition of the symptom, then, obliquely indicates that amor heros is incompatible with the conventions of masculine adult social behavior […]. The symptoms of the disease, as outlined by Constantine and Avicenna, and as synthesized by Gerard and other medieval physicians, essentially feminize the male lover.“ (Lovesickness in the Middle Ages [s. Anm. 14], S. 64 f.), wird deutlich, daß H. Friedrichs (Ab-) Qualifizierung des Liebenden des Canzoniere durchaus Vorstellungen von Männlichkeit (gender) zugrunde liegen, die auch bereits im Mittelalter Gültigkeit hatten. Nur hat sich, wie wir hier ohne Beweisführung behaupten, ungefähr im 16. Jahrhundert mit dem Versinken des Konzepts hereos eine andere Relation von Liebe und Männlichkeit etabliert als zuvor: Ist die Liebe (im Sinne von passio und nicht zu verwechseln mit Ehe oder Sexualität) verstanden als eine Krankheit, als eine Dysfunktion, äußert sie sich notwendigerweise in einer Abweichung vom ,Normalen‘, von den Stereotypen männlichen Verhaltens (im Sinne von gender). Ist die (Leidenschafts-)Liebe, wie später, Bestandteil der akzeptierten und insofern normalen Formen männlichen Verhaltens, äußert sie sich in Formen, die mit dem übrigen Verhaltensrepertoire des ,Mannes‘ kompatibel sind.
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rich den im Canzoniere modellierten Sprecher immer wieder als unmännlich eingestuft, ja, den Text als Ganzes auf dieser Grundlage abgewertet und die dort modellierte Passion als ,Idiopathie‘ eines Autors angesehen, der vielleicht einiges von der Dichtung, aber kaum etwas von der Liebe verstand 107. Die Dinge scheinen anders zu liegen: Die Kollokation von Tränen und Begehren gehört zum Basisinventar des hereos-Diskurses, einschließlich der tendenziellen Effeminierung des Verhaltens des Liebenden, was indes nicht das Ausfallen, sondern das Gegebensein eines nachhaltig sinnlichen Begehrens signalisiert. Die LauraLiebe ist schwerlich als platonisierend zu fassen 108. 2.2. Der erste der zwei längeren Texte, die besprochen werden sollen, ist die Canzone „Di pensier in pensier, di monte in monte“, welche wir hier der besseren Übersichtlichkeit halber (in Ausschnitten) in Erinnerung rufen: Di pensier in pensier, di monte in monte mi guida Amor […] […] Se ’n solitaria piaggia, rivo o fonte, se ’nfra duo poggi siede ombrosa valle, ivi s’acqueta l’alma sbigottita; et come Amor l’envita, or ride, or piange […] […] onde a la vista huom di tal vita experto diria: Questo arde, et di suo stato e` incerto.
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Per alti monti et per selve aspre trovo qualche riposo: ogni habitato loco e` nemico mortal degli occhi miei. A ciascun passo nasce un penser novo de la mia donna […] […]
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Ove porge ombra un pino alto od un colle talor m’arresto, et pur nel primo sasso disegno co la mente il suo bel viso. Poi ch’a me torno, trovo il petto molle
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107 „Kein Zweifel, daß sie [Petrarcas Liebesdichtung] zuweilen effeminierte Züge aufweist.“ (Epochen der italienischen Lyrik, Frankfurt a. M. 1964, S. 179; s. auch S. 159, S. 164 u. S. 166.) 108 S. hingegen Friedrich, Epochen der italienischen Lyrik, S. 163 („platonisierende[s] Gedankengut“; „Die Laura-Liebe des Canzoniere ist gewiß nicht naturhaft oder sinnlich […]“).
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(H)er(e)os de la pietate; et alor dico: Ahi lasso, dove se’ giunto! et onde se’ diviso! Ma mentre tener fiso posso al primo pensier la mente vaga, et mirar lei, et oblı¨ar me stesso, sento Amor sı´ da presso, che del suo proprio error l’alma s’appaga: […]
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I’ l’o` piu´ volte (or chi fia che mi ’l creda?) ne l’acqua chiara et sopra l’erba verde veduto viva, […] […] Poi quando il vero sgombra quel dolce error, pur lı´ medesmo assido me freddo, pietra morta in pietra viva, in guisa d’uom che pensi et pianga et scriva.
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Ove d’altra montagna ombra non tocchi, verso ’l maggiore e ’l piu´ expedito giogo tirar mi suol un desiderio intenso; […]
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Neben einigen nicht uninteressanten, aber in dieser Canzone nicht zentralen Aspekten der Aitiologie (das Ineins von Lachen und Weinen [V. 8]; die permanente Thematisierung des Weinens und Klagens in anderen Kontexten [V. 30⫺32 und V. 52]; die gleichzeitige Thematisierung des „desiderio intenso“ [V. 55]; schließlich die Flucht des Liebenden vor menschlicher Gesellschaft [,querunt solitudinem‘], was den thematischen Rahmen des Gedichts abgibt), erscheinen vor allem zwei Momente auffällig: zunächst die semantische Achse der profundatio cogitationis, die sich durch den gesamten Text zieht und die nicht als Gedankenverlorenheit schlechthin, sondern als das permanente, ja, obsessionelle Denken an Laura markiert ist („A ciascun passo nasce un penser novo/ de la mia donna“ [V. 17 f.]). Der zweite Aspekt, der in Form einer Isotopie die Canzone durchzieht, wäre gleichfalls als Fixierung zu bezeichnen, jedoch nicht der virtus cogitativa, sondern der virtus imaginativa 109. Am deutlichsten wird dies in V. 28 f.: „et pur nel primo sasso/ disegno co la mente il suo bel viso.“ Gesagt ist hier, daß das Bewußtsein des Sprechers („la mente“) eine bild109 Eine Analyse der gesamten Canzone gibt K. Stierle, „ ,Di pensier in pensier, di monte in monte‘. Landschaftserfahrung und Selbsterfahrung in Petrarcas Canzoniere“, Italienisch H. 22/1989, S. 21-34; schon Stierle hebt auf die zwei oben genannten Isotopien ab, die er freilich in den Kontext nicht des medizinischen, sondern des poetischen Diskurses einrückt.
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hafte Vorstellung der Geliebten entwirft und er Laura dann effektiv ,sieht‘ bzw. sie zu sehen glaubt („I’ l’o` piu´ volte […]/ ne l’acqua chiara et sopra l’erba verde/ veduto viva“ [V. 40 ⫺ 42]). ⫺ Die reguläre Aufgabe der virtus imaginativa, daran sei erinnert, wäre es, die von den sensus exteriores aufgenommenen Daten zu synthetisieren und auf diese Weise der ratio ein adäquates Bild der Objektwelt zu vermitteln. Hier jedoch überblendet die imaginativa in Permanenz das tatsächlich Wahrnehmbare mit dem, was bereits im Bewußtsein des Sprechers präsent, da wie ,eingedrückt‘ (,impresso‘) 110 ist. Dieser Irrtum („error [di] l’alma“ [V. 37]) ist indifferent im Hinblick auf das objektiv Wahrnehmbare („et pur nel primo sasso/ disegno“), und er hat obsessionellen Status: In allen erdenklichen Gegenständen der Objektwelt erblickt die dysfunktionierende virtus imaginativa des Sprechers immer nur Laura. Dieser ist sich, wie schon zitiert, des Faktums bewußt, daß seine imaginativa dysfunktioniert, kann oder will dies aber nicht ändern. Der Grund dafür ist, daß er den Irrtum als lustvoll empfindet („del suo proprio error l’alma s’appaga“ [V. 37]). Und wenn dann das Gegebene in seiner Qualität als Tatsächliches („il vero“ [V. 49]) sich so nachhaltig bemerkbar macht, daß es den „error“ eskamotiert, ändert sich der physische Zustand des Liebenden; er wird kalt („me freddo“) und erstarrt („pietra morta in pietra viva“ [V. 51]). ⫺ Gewiß haben Erkalten und Erstarren ihre metaphorische Dimension in der Tradition der lyrischen Rede über die Liebe, aber man wird auch daran erinnern dürfen, daß humoralpathologisch beides zu den Symptomen jener Melancholie gehört, die in den Traktaten als das Folge-Leiden von hereos bezeichnet wird, einer Melancholie, die in Form der Klage über das eigene Geschick (,Ahi lasso‘) fast jedem Gedicht des Canzoniere inhärent ist und die in Petrarcas lateinischsprachigen Selbstkommentierungen unter dem Namen figuriert, den sie im traditionellen Sündenkatalog hat, als acedia 111. Von Belang für das hier verfolgte Argument ist aber vor allem, daß an der Canzone zwei zentrale Momente des Krankheitsbildes von hereos deutlich werden, die Fixierung der cogitatio sowie die Dysfunktion der virtus imaginativa, und daß genau diese beiden Punkte, insbesondere aber der letztere, vor dem Horizont der Tradition des lyrischen Diskurses über die Liebe stets als ungewöhnlich, ja, irritierend registriert worden sind. Nur sind diese Abweichungen nicht, wie man bislang angenommen hat, ,individualpsychologischer‘ Natur, sie sind Referenzen auf 110 S. dazu u., S. 147 (zu Canz. CCCLX, V. 128). 111 S. v. a. Secretum (s. Anm. 19), S. 106-128.
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ein damals allgemein bekanntes Krankheitsbild. Möglicherweise wird dieser Aspekt sogar im Text selbst explizit gemacht. Nicht jedermann, indes ⫺ wie es heißt ⫺ die ,Experten‘ könnten an dem beschriebenen Verhalten erkennen, woran der Sprecher leidet („onde a la vista huom di tal vita experto/ diria: Questo arde, et di suo stato e` incerto.“ [V. 12 f.]) 112. 2.3. Das zweite Gedicht, das hier angesehen werden soll, ist die Canzone CCCLX, „Quel’antiquo mio dolce empio signore“, ein Text, der sich am Ende der Sammlung situiert und die Leiden des Ichs aus der Rückschau analysiert. Diese Beschreibung ist angelegt als altercatio zwischen dem Sprecher und der Personifikationsallegorie der Liebe, Amor. Der Sprecher klagt über sein zurückliegendes Leben, Amor hebt dessen positive Aspekte hervor, und der Streit vollzieht sich vor „la reina/ che la parte divina/ tien di nostra natura e ’n cima sede“ (V. 2⫺4), vor der Ratio. Die konstituierte Situation ist als psychomachisch zu verstehen. Die Vernunft ist keine abstrakte Instanz, sondern die Ratio des Ichs; der Sprecher, der Klage führt über sein Liebesleid, ist der leidende Teil des Ichs, Amor repräsentiert dessen liebenden Teil 113. Bezeichnend ist, dies schon vorweg, daß die Ratio dem Urteil ausweicht, um das sie gebeten wird, welcher von beiden, das Ich als Klagender oder als Liebender, recht hat mit seiner Sicht der Dinge: „,Nobile donna, tua sententia attendo.‘/ Ella allor sorridendo:/ ,Piacemi aver vostre questioni udite,/ ma piu´ tempo bisogna a tanta lite.‘“ (V. 154⫺157). Die Ratio ist nicht in der Lage, einen Richtspruch zu fällen, übersetzt aus der Allegorie in den Klartext: Sie steht nicht über dem Streit, sie ist selbst impliziert, ihre Fähigkeit zum ,Judizieren‘ und ,Diszernieren‘ ist in Mitleidenschaft gezogen („rationem […] obvolvunt“) 114. 112 Ein Hinweis darauf, daß auch andere von dem im Canzoniere thematisierten Leiden befallen sind, findet sich ebenfalls in XXIII, wo der Sprecher von sich sagt, daß in der Zeit, bevor er dem Liebesleid verfiel, ihm das, was dann ,noch nicht in ihm war, unerklärlich war, wenn er es bei anderen beobachtete‘ („Lagrima anchor non mi bagnava il petto/ ne´ rompea il sonno, e quel che in me non era,/ mi pareva un miracolo in altrui.“ [V. 27 - 29]). 113 Dies wird evident u. a. in V. 75, wo ,la Ragione‘ angeredet wird mit den Worten: „ ,Giudica tu, che me conosci et lui.‘ “ 114 Das Zitat oben, Anm. 48; gleichlautend: „[…]/ sı´ possente e` ’l voler che mi trasporta;/ et la ragione e` morta,/ che tenea ’l freno, et contrastar no ’l pote.“ (LXXIII, V. 24-26); CXLI, V. 7-11: „[…]/ che ’l fren de la ragion Amor non prezza,/ e chi discerne e` vinto da chi vo`le.// E veggio ben quant’elli a schivo m’a`nno,/ e so ch’i’ ne morro` veracemente,/ che´ mia vertu´ non po` contra l’affanno;/ […]“; CCXL, V. 5-7: „I’ nol posso negar, donna, et nol nego,/ che la ragion, ch’ogni bona alma affrena,/ non sia dal voler vinta; […]“.
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Das Interessante an der Canzone ist aber die aus zwei divergierenden Perspektiven erfolgende Beschreibung des Zustands des Liebenden. […] ivi [dinanzi a la reina] […] mi rappresento carco di dolore, […] e ’ncomincio: ,Madonna, il manco piede giovenetto pos’io nel costui regno [dell’amore], ond’altro ch’ira et sdegno non ebbi mai; et tanti et sı´ diversi tormenti ivi soffersi, ch’alfine vinta fu quell’infinita mia patı¨entia, e ’n odio ebbi la vita. Cosı´ ’l mio tempo infin qui trapassato e` in fiamma e ’n pene: et quante utili honeste vie sprezzai, quante feste, per servir questo lusinghier crudele! […] O poco me`l, molto aloe` con fele! […] Questi [Amor] m’a` fatto men amare Dio ch’i’ non deveva, et men curar me stesso: per una donna o` messo egualmente in non cale ogni pensero. Di cio` m’e` stato consiglier sol esso, sempr’ aguzzando il giovenil desio a l’empia cote […] […] Misero [me], a che quel chiaro ingegno altero, et l’altre doti a me date dal cielo? che´ vo cangiando ’l pelo, ne´ cangiar posso l’ostinata voglia: cosı´ in tutto mi spoglia di liberta` questo crudel ch’i’ accuso, ch’amaro viver m’a` vo`lto in dolce uso. Cercar m’a` fatto deserti paesi, […] dure genti et costumi, […] ne´ costui ne´ quell’altra mia nemica ch’i’ fuggia, mi lasciavan sol un punto; […]
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(H)er(e)os Poi che suo fui non ebbi hora tranquilla, ne´ spero aver, et le mie notti il sonno sbandiro, et piu` non ponno per herbe o per incanti a se´ ritrarlo. Per inganni et per forza e` fatto donno sovra miei spirti; et non sono` poi squilla, ov’io sia, in qual che villa, ch’i’ non l’udisse. […] […] Quinci nascon le lagrime e i martiri, le parole e i sospiri, di ch’io mi vo stancando, et forse altrui. Giudica tu, che me conosci et lui.‘ […]
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(Der Sprecher der folgenden Verse ist Amor, d. h., der liebende Part des Ichs.) ,[…] Ei sa che ’l grande Atride et l’alto Achille, […] lasciai cader in vil amor d’ancille: et a costui di mille donne electe, excellenti, n’elessi una, qual non si vedra` mai sotto la luna, […] Questi fur con costui li ’nganni mei.
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Questo fu il fel […] […] Et per dir a l’extremo il gran servigio, da mille acti inhonesti l’o` ritratto, che´ mai per alcun pacto a lui piacer non poteo cosa vile: giovene schivo et vergognoso in acto et in penser, poi che fatto era huom ligio di lei ch’alto vestigio li ’mpresse al core, et fecel suo simı´le. […] Mai nocturno fantasma d’error non fu sı´ pien com’ei ver’ noi: […] Di cio` il superbo si lamenta et pente. […]‘
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Im Unterschied zu „Di pensier in pensier, di monte in monte“ ist das hervorstechende Merkmal dieser Canzone nicht die privilegierte Thema-
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tisierung eines oder zweier zentraler Aspekte des hereos-Diskurses, sondern die, man könnte sagen, fast komplette Referenz auf die Aitiologie, die Symptomatik, ja, die kurativen Komponenten in all ihren vielfältigen Aspekten. Nach dem bislang Gesagten dürften längere Erläuterungen überflüssig sein. Nur einige besonders markante Punkte sollen hervorgehoben werden. In den Versen 9 ff. („Madonna, il manco piede […]“) gibt der Sprecher eine dem Schema gemäße Beschreibung des Verlaufs der Krankheit. Das Alter, in dem er ihr verfiel, war die Jugend („giovenetto“). Die Erkrankung resultiert in Leiden („tormenti“), die Fixierung ist einseitig („altro ch’ira et sdegno/ non ebbi mai“). Das Leiden, das sich im Fall dieses Erkrankten als therapieresistent erweist („che´ vo cangiando ’l pelo,/ ne´ cangiar posso l’ostinata voglia“ [V. 41 f.]), resultiert schließlich („alfine“ [V. 14]) in jener Abscheu vor dem Leben, die das zentrale Symptom der Krankheit ist, in die ein lang andauernder morbus hereos zu münden pflegt, der Melancholie. Deren humoralpathologisches Indiz, der Überschuß an Galle, begegnet in V. 24 („molto […] fele“), nochmals in V. 106 („Questo fu il fel“), und man wird bei der Dichte dieser Anspielungen auch die mehrfachen Apostrophierungen von Bitterkeit („In quanto amaro a` la mia vita avezza“ [V. 25]; „amaro viver“ [V. 45]) entsprechend einordnen dürfen, als jener bittere Geschmack, der im Mund beim Verbrennen des Überschusses an Galle entsteht 115, wobei die Hitze im Körper des Melancholikers, einem eigentlich ,kalten‘ Temperament, durch die luxuria, das ,Brennen‘ der Begierde („ostinata voglia“ [V. 42]), erzeugt wird. ⫺ Was die körperlichen Symptome betrifft, wäre neben dem überall Präsenten, wie dem permanenten Weinen („le lagrime“ [V. 72]) und den Seufzern („i sospiri“ [V. 73]), insbesondere auf die extensive Thematisierung des totalen Verlusts des Schlafes hinzuweisen (V. 61 ff.). Der Aspekt der Therapie scheint in nahezu kompletter Breite zitiert. Die von den Ärzten propagierte Kur vermittels von Kräutern hat sich als unwirksam erwiesen 116, das gleiche gilt für das von der offiziellen Medi115 „Si igitur de humoribus aliud est adustum quod cognoscitur per adustionem et siccitatem oris et lingue et per amaritudinem gutturis […]“ (Bona Fortuna, 97-99); s. dazu auch Wack, Lovesickness in the Middle Ages (s. Anm. 14), S. 61, mit Anm. 38. 116 Die Kur des Kräutertranks begegnet ausführlich in LVIII, V. 9-11 („Et col terzo bevete un suco d’erba/ che purghe ogni pensier che ’l cor afflige,/ dolce a la fine, et nel principio acerba.“). Das Sonett richtet sich an einen Freund, der gleichfalls vom Liebesleid betroffen ist, und das Ende des Gedichts deutet an, daß im Fall dessen, der hier den Ratschlag erteilt, das remedium sich als unwirksam erwiesen hat; gleichlautend LXXV, V. 3 („[…]/ et non gia` vertu´ d’erbe […]“); s. weiterhin CCXIV, wo die „medicine“ auch auf das remedium des Kräutertranks referieren dürften („Ma, lasso, or veggio che la carne sciolta/ fia di quel
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zin nicht aestimierte volkstümliche Mittel des Zaubers („et piu´ non ponno/ per herbe o per incanti a se´ ritrarlo.“ [V. 63 f.]). Ebenso versagt haben das seit jeher anempfohlene Mittel der Ablenkung durch das Reisen („Cercar m’a` fatto deserti paesi,/ […] ne´ costui ne´ quell’altra mia nemica/ ch’i’ fuggia, mi lasciavan sol un punto“ [V. 46 und V. 54 f.]), des weiteren die Strategien der Zerstreuung, sei es durch nützliche Beschäftigung, sei es durch Feste und Lustbarkeiten („et quante utili honeste/ vie sprezzai, quante feste“ [V. 17 f.]). Und Amor deutet in seiner Verteidigungsrede an, daß das von den Autoritäten nahegelegte remedium des therapeutischen Sex aufgrund einer singulär obsessionellen Fixierung hier gar nicht erst zur Anwendung hat gebracht werden können („da mille acti inhonesti l’o` ritratto,/ che´ mai per alcun pacto/ a lui piacer non poteo cosa vile“ [V. 122⫺124]). Die ,intellektuelle‘ Dimension des Leidens ist apostrophiert als Vernachlässigung nicht nur der jenseitigen Dinge, sondern auch der Selbstsorge (souci de soi), was letztere betrifft mit einem Terminus, der nicht nur, aber auch medizinische Dimension hat („Questi m’a` fatto […]/ men curar me stesso“ [V. 31 f.]). Sodann ist auch hier die profundatio cogitationum (V. 33 f.) hervorzuheben. Als Ursache ist der „giovenil desio“ benannt (V. 36), der von einem ,consiglio‘ (V. 35), d. h. von einem actus der virtus estimativa, fehlgeleitet worden sei, wobei die Dysfunktion der estimativa hier so weit geht, daß das liberum arbitrium in seiner Funktion ganz außer Kraft gesetzt ist („cosı´ in tutto mi spoglia/ di liberta` questo crudel ch’i’ accuso“ [V. 43 f.]). An der Rechtfertigung Amors (die, daran sei erinnert, im Rahmen der psychomachischen Grundsituation zu verstehen ist als Rede des liebenden Parts des Ichs) fällt die für den hereos-Diskurs typische Überschätzung der Qualitäten der Geliebten auf: Diese sei schöner als alles, was sich auch in Zukunft noch auf Erden bewegen werde („una,/ qual non si vedra` mai sotto la luna“ [V. 98 f.]), eine Aussage, die in ihrer Irrealität 117 darauf angelegt ist, das Dysfunktionieren der estimativa bloßzulegen ⫺ weshalb denn die ,inganni‘, auf die Amor in V. 105 abhebt, eben nodo ond’e` ’l suo maggior pregio/ prima che medicine, antiche o nove,/ saldin le piaghe ch’i’ presi in quel bosco,/ […]“ [V. 19-22]). 117 Es ist eben nicht gesagt, daß Laura schöner ist als alle Frauen ihrer Zeit oder schöner als alle Frauen, die je gelebt haben (was im Kontext des Frauenlob-Topos nicht weiter bemerkenswert wäre), sondern schöner als alle Frauen, die es je geben wird, eine Aussage, die nur dann vernünftig sein könnte, wenn Gott selbst sie tätigte (was hier aber nicht auf die bei Petrarca ansonsten durchaus zu findende Selbstvergottung verweist, sondern auf den Realitätsverlust des Sprechers).
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nicht, wie aus dessen Sicht gemeint, ironisch, sondern als tatsächlich gegeben zu verstehen sind. Beschlossen werden soll der hier versuchte Kommentar mit einem Hinweis auf V. 126⫺132, wo möglicherweise der hereos-Diskurs nach Art eines Palimpsest durch den Petrarkischen Diskurs hindurchscheint. In diesen Versen erklärt Amor, wie das Ich zum „huom ligio/ di lei [di Laura]“ geworden ist: Bei deren Anblick habe sich ihr Bild in sein Herz ,eingedrückt‘ 118. Referiert scheint damit auf das zitierte Konzept des Sich-,Imprimierens‘ eines Bildes der Geliebten ins Bewußtsein des Liebenden, woraus wiederum die Fixierung resultiert 119. Man beachte aber vor allem, daß von einem „vestigio“ die Rede ist und nicht von quasiphotographischer Repräsentation. Was sich ins Bewußtsein des Liebenden eingedrückt hat, ist eine Metonymie Lauras, und zwar ,un’alto vestigio‘, eine aufs Positive beschränkte Kontiguität, aus der er dasjenige Bild extrapoliert hat, welches ihn obsediert. Die Konsequenz dieses Akts sei gewesen: „et fecel suo simı´le“ (V. 128). Diese ,Laura‘, so Amor (im Klartext: der Liebende als der sich selbst täuschende Part des Sprechers), habe den Liebenden ihrer selbst ähnlich gemacht 120, und er sei dann ihr ,huom ligio‘ geworden. ⫺ Mit den hochkonzentrierten Formulierungen des Passus scheint auf das in den Traktaten herausgestellte Entbrennen der Leidenschaft als Folge des Glaubens des Liebenden abgehoben, die Geliebte sei ein ,konvenientes‘ Objekt seines Begehrens, und seine Liebe werde erwidert. Denn die ,Similaritätsrelation‘ besteht hier nicht zwischen Liebendem und Geliebter, sondern zwischen ihm und jenem Bild, das sich in seinem Bewußtsein fixiert hat und dessen prekärer Bezug zur ,tatsächlichen‘ Gestalt der Betreffenden mit den zitierten Versen bloßgelegt wird. ⫺ Der liebende Part des Ichs ist sich der Bedingungen, denen die Annahme unterliegt, es gebe ein solches ,Gefolgschafts‘-Verhält118 Grammatisch ist die Formulierung aktivisch, bezogen auf Laura („’mpresse“); es läge auf der Linie unserer Deutung der gesamten Canzone, in der hier möglicherweise implizierten Unterstellung einer ,aktiven‘ Rolle Lauras beim Zustandekommen der Liebe eine weitere jener Selbsttäuschungen des liebenden Parts des Ichs zu sehen, als dessen Sprachrohr Amor fungiert. Vernünftiger aber ist es, nach grammatischem und logischem Subjekt zu unterscheiden. Ins ,Herz‘ einzudrücken vermag sich nur ein Wahrgenommenes, und das Wahrnehmen mag ein Akt sein, dessen sich der Wahrnehmende nicht erwehren kann, es läßt sich aber schwerlich als aktives Handeln des Wahrgenommenen begreifen. 119 Parallel dazu wäre eine Vielzahl der Stellen zu konsultieren, die in der zitierten Konkordanz unter dem Eintrag ,impresa‘ bzw. ,imprimere‘ aufgeführt sind. 120 Zugrunde liegt hier die aristotelische, dort allerdings nicht körperlich gemeinte (Nikomachische Ethik 1159 a und b), sodann entsprechend refunktionalisierte und in dieser Form in der volkssprachlichen Lyrik seit jeher geläufige Theorie der Anziehung aufgrund von Ähnlichkeit.
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nis 121, nicht bewußt (obwohl er dies im Laufe der Jahrzehnte an der indifferenten Reaktion der Betreffenden hätte ermessen können), weshalb denn die von Amor polemisch gemeinte Apostrophierung der gesamten Liebesgeschichte als eines „nocturno fantasma/ d’error“, wie er sich nie größer zugetragen habe (V. 131 f.), exakt den Punkt zu treffen scheint. 2.4. Was das in seinen Konsequenzen weitreichendste Moment des hereosPhänomens ausmacht, die Dysfunktion der virtus imaginativa (,errore‘) 122, ist, recht betrachtet, eine Art Orgelpunkt von Petrarcas Sammlung. In ähnlich eindringlicher Form, wie die entsprechende Konfiguration in den beschriebenen Versen von Canz. CCCLX begegnet, ist sie am Beginn des Bandes in Canz. L präsent: Das erste, intensive Betrachten der Geliebten führt dazu, daß sich deren Antlitz, vermittelt über einen Akt der virtus imaginativa („imaginando“), in eine pars (der Seele) ,einmeißelt‘ (d. h. in einem Material fixiert, welches ,kalt‘ und ,trocken‘ [,frigida‘, ,sicca‘] 123 ist), so daß es weder mit Gewalt noch mit Geschick oder Sachverstand (ars) 124 von dort entfernt werden kann: „Misero me, che volli/ quando primier sı´ fiso/ gli tenni nel bel viso/ per iscolpirlo imaginando in parte/ onde mai ne´ per forza ne´ per arte/ mosso sara` […]“ 125. Man könnte vielleicht sogar den Gedanken erwägen, daß das Konzept der Sammlung als Ganzer auf eben dem Kontrast zwischen subjektiv121 Das hier (wie schon in der vorausliegenden volkssprachlichen Tradition) in den Liebesdiskurs übernommene Konzept der feudalen politischen Theorie impliziert unabdingbar Reziprozität. 122 Außer den schon zitierten Stellen aus den beiden ausführlich besprochenen Canzonen sei hingewiesen auf LXXXIX, V. 12-14 („Misero me, che tardo il mio mal seppi;/ et con quanta faticha oggi mi spetro/ de l’errore, ov’io stesso m’era involto!“); s. weiterhin CLXXVIII, V. 8; CCXXIV, V. 4; CCLXIV, V. 45 („ardor fallace“) und CCCLXIV, V. 6. 123 S. o., S. 128, mit Anm. 42. 124 Bei aller Polyvalenz, die der Terminus ,ars‘ bei Petrarca sicherlich haben kann, erinnern wir daran, daß das Wort auch die Fächer des universitären Curriculums bezeichnet. Die Medizin zählt zu den artes mechanicae. 125 L, V. 63-68. M. Santagata weist in seinem Kommentar auf einen Vergil-Vers hin, der geeignet ist, die syntaktische Struktur des Satzes zu erhellen („Heu heu, quid volui misero mihi?“ [Ecl. II, 58]); das ,volli‘ ist also nicht als Hilfs-, sondern als Vollverb gemeint, der Sprecher beklagt aus der Rückschau, was er einst getan hat, und richtet an sich selbst die (rhetorische) Frage nach dem, was er damit gewollt hat, m. a. W., wie er nur hat tun können, was er getan hat (F. P., Canzoniere, hrsg. v. M. S., Milano 1996, S. 260).
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wahnhafter Wahrnehmung und objektiv Wahrnehmbarem gründet, dessen Zustandekommen in den zitierten Versen beschrieben wird, zumal der Canzoniere allererst aus diesem Moment seine Originalität im Verhältnis zur Tradition gewinnt. Denn nicht nur in „Di pensier in pensier, di monte in monte“, sondern in überaus zahlreichen anderen Gedichten ,sieht‘ der Sprecher aus dem Gefallen (,piacere‘) heraus, welches er an Laura nimmt, die Geliebte in Dingen der Objektwelt, die zuweilen einen vagen metonymischen, oft aber auch gar keinen nachvollziehbaren Konnex zu ihr haben („[…]/ e ’l suo parlare, e ’l bel viso, et le chiome/ mi piacquen sı´ ch’i’ l’o` dinanzi agli occhi,/ ed avro` sempre, ov’io sia, in poggio o ’n riva.“) 126. ⫺ Eine zweite Realisierungsvariante der Struktur,
126 XXX, V. 4-6; gleichlautend XCVI, V. 5-8: „Ma ’l bel viso leggiadro che depinto/ porto nel petto, et veggio ove ch’io miri,/ mi sforza; onde ne’ primi empii martiri/ pur son contra mia voglia risospinto.“ S. weiterhin CCLXIV, V. 102-108, wo zusätzlich die Aktivität der vom ,piacere‘ fehlgeleiteten und dann fehlleitenden virtus imaginativa apostrophiert wird („Et questo ad alta voce ancho richiama/ la ragione svı¨ata dietro ai sensi;/ ma perch’ell’oda, et pensi/ tornare, il mal costume oltre la spigne,/ et agli occhi depigne/ quella che sol per farmi morir nacque,/ perch’a me troppo, et a se stessa, piacque.“); s. auch CVII, V. 5-11: „Fuggir vorrei: ma gli amorosi rai,/ che dı´ et notte ne la mente stanno,/ risplendon sı´, ch’al quintodecimo anno/ m’abbaglian piu` che ’l primo giorno assai;// et l’imagine lor son sı´ cosparte/ che volver non mi posso, ov’io non veggia/ o quella o simil indi accesa luce.“; gleichlautend CXVI, V. 5-14: „[…] et o` sı´ avezza/ la mente a contemplar sola costei,/ ch’altro non vede, et cio` che non e` lei/ gia` per antica usanza odia et disprezza.// In una valle chiusa d’ogni ’ntorno,/ ch’e` refrigerio de’ sospir’ miei lassi,/ giunsi sol cum Amor, pensoso et tardo.// Ivi non donne, ma fontane et sassi,/ et l’imagine trovo di quel giorno/ che ’l pensier mio figura, ovunque io sguardo.“; „Ovunque gli occhi volgo/ trovo un dolce sereno/ pensando: Qui percosse il vago lume./ Qualunque herba o fior colgo/ credo che nel terreno/ aggia radice, ov’ella ebbe in costume/ gir fra le piagge e ’l fiume,/ et talor farsi un seggio/ fresco, fiorito et verde.“ (CXXV, V. 66-74; man beachte, daß der metonymische Konnex zwischen den Blumen, die der Sprecher pflückt und denen, zwischen denen sich Laura zu bewegen pflegte, ein rein subjektiver ist [„[…]/ credo che nel terreno/ aggia radice, […]“], dessen objektiver Status allein schon durch die generische Qualifizierung der Pflanzen [„Qualunque herba o fior colgo […]“] in Frage gestellt wird). S. weiterhin CLVIII, V. 1-4 („Ove ch’i’ posi gli occhi lassi o giri/ per quetar la vaghezza che gli spinge,/ trovo chi bella donna ivi depinge/ per far sempre mai verdi i miei desiri.“); CLXXVI, V. 5-8: „[…]/ et vo cantando (o penser’ miei non saggi!)/ lei che ’l ciel non poria lontana farme,/ ch’i’ l’o` negli occhi, et veder seco parme/ donne et donzelle, et sono abeti et faggi.“ S. weiterhin CXXVII, V. 71-98: „Se mai candide rose con vermiglie/ in vasel d’oro vider gli occhi miei/ allor allor da vergine man colte,/ veder pensaro il viso di colei/ […]/ Ma pur che l’o`ra un poco/ fior’ bianchi et gialli per le piaggie mova,/ torna a la mente il loco/ e ’l primo dı´ ch’i’ vidi a l’aura sparsi/ i capei d’oro, ond’io sı´ su´bito arsi./ […]/ perch’agli occhi miei lassi/ sempre e` presente, ond’io tutto mi struggo./ Et cosı´ meco stassi,/ ch’altra non veggio mai, ne´ veder bramo,/ ne´ ’l nome d’altra ne’ sospir’ miei chiamo.“ S. auch CXLIII: „Quand’io v’odo parlar sı´ dolcemente/ com’Amor proprio a’ suoi seguaci instilla,/
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bei der der Aspekt der dysfunktionierenden estimativa hinzukommt, ließe sich in all den Gedichten beobachten, in denen mit ähnlich nachhaltiger Rekurrenz der Sprecher zu sehen und zu hören meint, die Geliebte erwidere seine Gefühle, und er dann doch erkennen muß, daß die ihn liebende Laura eine Projektion seiner Vorstellung ist 127, die mit der ,tatsächlichen‘ Laura nichts gemein hat: „[…]/ ed ella ne l’usata sua figura/ tosto tornando […]/ […]/ [disse]: ,I’ non son forse chi tu credi.‘“ 128 ⫺ Das dritte und für die Sammlung wichtigste Moment in dieser Hinsicht ist ein Aspekt, in dem sich beides, die Dysfunktion der estimativa und die obsessionelle Fixierung der imaginativa, unmittelbar verbindet: Nach dem in Canz. CCLXVIII thematisierten Tod Lauras ,sieht‘ der Sprecher diese weiterhin bzw. meint sie zu sehen, und zwar so, wie er sagt, daß er sie zu Lebzeiten gesehen habe. Die Formulierungen, in denen von […]/ Trovo la bella donna allor presente/ ovunque mi fu mai dolce o tranquilla/ […]/ Le chiome a l’aura sparse, et lei conversa/ indietro veggio; […]“ (V. 1-10). 127 Dementsprechend ist in zahlreichen Gedichten Laura nach dem Schema der spröden Herrin modelliert, so, wie es aus der provenzalischen und stilnovistischen Lyrik überkommen ist und sich dann in der höfischen Literatur und auch im späteren Petrarkismus überall findet (vgl. etwa XLIV, V. 13 f.: „[…]/ ne´ lagrima pero` discese anchora/ da’ be’ vostr’occhi, ma disdegno et ira.“; s. weiterhin CCIII, bes. V. 9 und V. 12-14 und CCXXXIX, V. 10-12). Der Unterschied zu diesem Stereotyp ist, daß der Sprecher des Canzoniere nicht nur wünscht und fleht, Laura möge sich ihm gegenüber anders geben, sondern vielfach der Auffassung verfällt, sie verhalte sich ihm gegenüber tatsächlich als Liebende. Dieses absolute Verkennen des Faktischen scheint in der Tradition der mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Liebesdichtung nicht zu finden zu sein, zumindest nicht mit der bemerkenswerten Insistenz, wie es sich in Petrarcas Sammlung findet. 128 Wir zitieren die gesamte Szene, deren halluzinatorisch-phantasmatischer Status unzweideutig ist: „Questa che col mirar gli animi fura,/ m’aperse il petto, e ’l cor prese con mano,/ dicendo a me: Di cio` non far parola./ Poi la rividi in altro habito sola,/ tal ch’i’ non la conobbi, oh senso humano,/ anzi le dissi ’l ver pien di paura;/ ed ella ne l’usata sua figura/ tosto tornando, fecemi, oime` lasso,/ d’un quasi vivo et sbigottito sasso.// Ella parlava sı´ turbata in vista,/ che tremar mi fea dentro a quella petra,/ udendo: I’ non son forse chi tu credi.“ (XXIII, V. 72-83). Man wird in dieser und ähnlichen Stellen eine Referenz auf die Dysfunktion der virtus estimativa im Hinblick auf die forma insensata, die Intentionen des geliebten Objekts, erkennen können; abweisende Signale (,inimicicia‘) werden als positive Signale (,amicicia‘) gedeutet (s. o., S. 127). - Auch bei der aus der Rückschau formulierten („[…] et se non fosse or tale“) Kommentierung der ersten Begegnung in „Erano i capei d’oro a l’aura sparsi“ stellt der Sprecher den Befund einer positiven Reaktion Lauras auf seine Blicke unter den Vorbehalt ,mi parea‘, sowie den der Unentscheidbarkeit, ob es sich tatsächlich um pietas gehandelt habe oder nicht („[…]/ e ’l viso [di Laura] di pietosi color’ farsi,/ non so se vero o falso, mi parea:/ […]“ [XC, V. 5 f.]); krasser dann in CLXIX, V. 3 f.: „[…]/ ad or ad ora a me stesso m’involo/ pur lei cercando che fuggir devria;/ […]“, und in CCCXII, V. 13 f.: „[…]/ […] per lo gran desire/ di riveder cui non veder fu ’l meglio.“
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den jeweiligen Begegnungen berichtet wird, sind parallel, wenn nicht identisch 129. Die der toten Laura zugeschriebenen Reaktionen sind allerdings auf positive Signale beschränkt. Sie wartet auf ihn 130, setzt sich zu ihm aufs Bett, erweist ihm pietas, spricht mit ihm 131, apostrophiert ihn als „Fedel mio caro“ 132 und verfällt selbst dem Seufzen und Weinen 133. 129 Die am Ende von CCLXX geäußerte Perspektive („Morte m’a` sciolto, Amor, d’ogni tua legge:/ quella che fu mia donna al ciel e` gita,/ lasciando trista et libera mia vita.“ [V. 106-108]) wird sich als Illusion erweisen. Bereits in CCLXXIII heißt es: „Anima sconsolata, che pur vai/ giugnendo legne al foco ove tu ardi?“ (V. 3 f.). In CCLXXVII wird in V. 10 gesagt, daß Laura tot ist („e` sotterra“), aber die ersten neun Verse des Sonetts konstituieren eine Situation, die sich in nichts von den Gedichten ,in vita‘ unterscheidet, bis hin zum Motiv von Laura als einer vom Sprecher (lediglich) imaginierten ,scorta‘ und ,guida‘, nur daß es sich nunmehr um keine Imagination handelt, die in Widerspruch zum Tatsächlichen steht, sondern um eine Imagination, die ein nicht mehr vorhandenes Tatsächliches ersetzt („S’Amor novo consiglio non n’apporta,/ per forza converra` che ’l viver cange:/ tanta paura et duol l’alma trista ange,/ che ’l desir vive, et la speranza e` morta;// onde si sbigottisce et si sconforta/ mia vita in tutto, et notte et giorno piange,/ stanca senza governo in mar che frange,/ e ’n dubbia via senza fidata scorta.// Imaginata guida la conduce,/ che´ la vera e` sotterra […]“). S. weiterhin: „Se lamentar augelli, o verdi fronde/ mover soavemente a l’aura estiva,/ o roco mormorar di lucide onde/ s’ode d’una fiorita et fresca riva,// la` ’v’io seggia d’amor pensoso et scriva,/ lei che ’l ciel ne mostro`, terra n’asconde,/ veggio, et odo, et intendo ch’anchor viva/ di sı´ lontano a’ sospir’ miei risponde.// ,Deh, perche´ inanzi ’l tempo ti consume?/ - mi dice con pietate - a che pur versi/ degli occhi tristi un doloroso fiume?// Di me non pianger tu, che´’ miei dı´ fersi/ morendo eterni, et ne l’interno lume,/ quando mostrai de chiuder, gli occhi apersi.‘ “ (CCLXXIX); „Quante fı¨ate, al mio dolce ricetto/ fuggendo altrui et, s’esser po`, me stesso,/ vo con gli occhi bagnando l’erba e ’l petto,/ rompendo co’ sospir’ l’aere da presso!// Quante fı¨ate sol, pien di sospetto,/ per luoghi ombrosi et foschi mi son messo,/ cercando col penser l’alto diletto/ che Morte a` tolto, ond’io la chiamo spesso!// Or in forma di nimpha o d’altra diva/ che del piu´ chiaro fondo di Sorga esca,/ et pongasi a sedere in su la riva;// or l’o` veduto su per l’erba fresca/ calcare i fior’ com’una donna viva,/ mostrando in vista che di me le ’ncresca.“ (CCLXXXI); s. weiterhin CCLXXXII sowie CCLXXXIII, CCXCI und CCCI. 130 „Ella, contenta aver cangiato albergo,/ si paragona pur coi piu´ perfecti,/ et parte ad or ad or si volge a tergo,// mirando s’io la seguo, et par ch’aspecti […]“ (CCCXLVI, V. 9-12). S. weiterhin CCCV, V. 1-8: „Anima bella da quel nodo sciolta/ che piu´ bel mai non seppe ordir Natura,/ pon’ dal ciel mente a la mia vita oscura,/ da sı´ lieti pensieri a pianger volta.// La falsa opinı¨on dal cor s’e` tolta,/ che mi fece alcun tempo acerba et dura/ tua dolce vista: omai tutta secura/ volgi a me gli occhi, e i miei sospiri ascolta.“ 131 „Ma chi ne´ prima simil ne´ seconda/ ebbe al suo tempo, al lecto in ch’io languisco/ vien tal ch’a pena a rimirar l’ardisco,/ et pietosa s’asside in su la sponda.// Con quella man che tanto desı¨ai,/ m’asciuga li occhi, et col suo dir m’apporta/ dolcezza ch’uom mortal non sentı´ mai.“ (CCCXLII, V. 5-11) 132 „[…]/ co la sua vista, over co le parole,/ intellecte da noi soli ambedui:// ,Fedel mio caro, assai di te mi dole,/ ma pur per nostro ben dura ti fui‘,/ dice, et cos’ altre d’arrestare il sole.“ (CCCXLI, V. 10-14) 133 CCCLVI, V. 11-13.
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In diesen letzteren Fällen wird explizit gemacht, daß der Sprecher geträumt bzw. halluziniert hat 134. Dies legt die Frage nahe, ob nicht abgesehen von der Situation des innamoramento auch die vielen Begegnungen ,in vita di madonna Laura‘, die er andeutet, insbesondere diejenigen, in denen er ihr im Gegensatz zu den sdegno-Gedichten eine positive Reaktion auf sein Liebeswerben zuschreibt, reine Kopfgeburten gewesen sein könnten 135, ob die Angebetete nicht seit jeher eine imaginierte, eine
134 „[…]/ onde l’anima mia dal dolor vinta,/ mentre piangendo allor seco s’adira,/ sciolta dal sonno a se stessa ritorna.“ (CCCLVI, V. 12-14); gleichlautend CCCLIX, V. 67-71 („I’ piango; et ella il volto/ co le sue man m’asciuga, et poi sospira/ dolcemente, et s’adira/ con parole che i sassi romper ponno:/ et dopo questo si parte ella, e ’l sonno.“). 135 Die rein imaginative, aber permanente Präsenz Lauras im Bewußtsein des Sprechers führt dazu, daß er bereits ,in vita di madonna Laura‘ visionäre Begegnungen mit der Geliebten erlebt, die den memoriellen Visionen nach derem Tod entsprechen (in welch letzteren Laura dem Sprecher mit positiven Signalen, etwa mit einem Gruß gegenübertritt, was im Hinblick auf die weniger deutlich als Vision markierten Grußsonette die Frage eröffnet, die oben angesprochen wird); vgl. etwa CXI: „La donna che ’l mio cor nel viso porta,/ la` dove sol fra bei pensier’ d’amore/ sedea, m’apparve; et io per farle honore/ mossi con fronte reverente et smorta.// Tosto che del mio stato fussi accorta,/ a me si volse in sı´ novo colore/ ch’avrebbe a Giove nel maggior furore/ tolto l’arme di mano, et l’ira morta.// I’ mi riscossi; et ella oltra, parlando,/ passo`, che la parola i’ non soffersi,/ ne´ ’l dolce sfavillar degli occhi suoi.// Or mi ritrovo pien di sı´ diversi/ piaceri, in quel saluto ripensando,/ che duol non sento, ne´ sentı´’ ma’ poi.“ Eine ähnliche visionäre Begegnung in CXXVI, V. 40-63: „Da’ be’ rami scendea/ (dolce ne la memoria)/ una pioggia di fior’ sovra ’l suo grembo;/ et ella si sedea/ humile in tanta gloria,/ coverta gia` de l’amoroso nembo./ […]/ Quante volte diss’io/ allor pien di spavento:/ Costei per fermo nacque in paradiso./ […]/ e ’l volto e le parole e ’l dolce riso/ m’aveano, et sı´ diviso/ da l’imagine vera,/ ch’i’ dicea sospirando:/ Qui come venn’io, o quando?;/ credendo esser in ciel, non la` dov’era.“ (man beachte hier die im Referenzdiskurs wie auch bei Petrarca eher seltene Aktivierung der Erklärung der Vision vermittels der memoria [dazu auch: CXXVII, V. 15-28 sowie CLVII, V. 1-8; CLXXV, V. 13 f.], v. a. aber das Insistieren auf dem Unterschied zwischen subjektiv Gesehenem und ,imagine vera‘, schließlich die vermittels der Vision sich herstellende Nivellierung der Grenze zwischen Diesseits und Jenseits, Tod und Leben [V. 63]). S. weiterhin Texte wie LXIII, wo der Sprecher Laura dankt für den Gruß, den er, wie wir sagen würden, gemeint hat wahrzunehmen (s. dazu das direkt folgende Gedicht LXIV, wo berichtet wird, daß Laura vermeidet, ihn zu grüßen). S. auch CLV, wo er behauptet „Piangea madonna“, dann aber ergänzt: „Quel dolce pianto mi depinse Amore,/ anzi scolpı´o, et que’ detti soavi/ mi scrisse entro un diamante in mezzo ’l core;/ […]“ (V. 5 und V. 9-11); noch deutlicher scheint die Situation in den Quartetten von CLVI, wo der von der Erinnerung an die Begegnung mit Laura gefesselte Sprecher äußert, daß, was er tatsächlich sieht (,miro‘), ihm wie ,Traum, Schatten und Rauch‘ erscheint. Wenn er dann, was er einst ,gesehen‘ hatte, das Weinen Lauras, aus seiner Erinnerung heraus beschreibt, liegt nahe, daß dieses Erinnerte in seiner Qualität Produkt eben jener Verwechslung von Realem und Imaginiertem ist, die ihm das Reale als Traum erscheinen läßt („I’ vidi in terra angelici costumi/ et celesti bellezze al mondo sole,/ tal che di rimembrar mi giova et dole,/ che´ quant’io miro par sogni, ombre
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Figur virtueller Natur war, für deren Entwurf die ,reale‘ Laura nichts war als ein Vorwurf 136. 2.5. Nach Art einer Aufzählung sei abschließend auf die systematische Präsenz jener Aspekte von hereos hingewiesen, die bislang nur anhand isoet fumi;// et vidi lagrimar que’ duo bei lumi,/ ch’a`n fatto mille volte invidia al sole;/ et udı´’ sospirando dir parole/ che farian gire i monti et stare i fiumi.“). - Zu dem gesamten hier diskutierten Komplex wäre freilich zu sagen, daß bekanntermaßen die Aufteilung des Zyklus nach den Gesichtspunkten ,in vita di madonna Laura‘ und ,in morte di madonna Laura‘ („Madonna e` morta“ in CCLXVIII, V. 4) nicht von Petrarca selbst stammt und die Anordnung der Gedichte ohnehin keine strikt chronologische ist (s. etwa CCXI, das nochmals das innamoramento thematisiert, und das anschließende Gedicht CCXII, wo im zweiten Terzett gesagt ist, daß die Leiden des Sprechers schon zwanzig Jahre andauern). Indes gibt es Gedichte, in denen explizit gemacht wird, daß Laura tot ist und der Sprecher sie dennoch ,sieht‘ („Se quell’aura soave de’ sospiri/ ch’i’ odo di colei che qui fu mia/ donna, or e` in cielo, et anchor par qui sia,/ et viva, et senta, et vada, et ami, et spiri,// ritrar potessi, or che caldi desiri/ movrei parlando! […]“ [CCLXXXVI, V. 1-6]; „Tornami a mente, anzi v’e` dentro, quella/ ch’indi per Lethe esser non po` sbandita,/ qual io la vidi in su l’eta` fiorita,/ tutta accesa de’ raggi di sua stella.// Sı´ nel mio primo occorso honesta et bella/ veggiola, in se´ raccolta, et sı´ romita,/ ch’i’ grido: ,Ell’e` ben dessa; anchor e` in vita‘,/ e ’n don le cheggio sua dolce favella.// Talor risponde, et talor non fa motto./ I’ come huom ch’erra, et poi piu´ dritto estima,/ dico a la mente mia: ,Tu se’ ’ngannata.// Sai che ’n mille trecento quarantotto,/ il dı´ sesto d’aprile, in l’ora prima,/ del corpo uscı´o quell’anima beata.‘ “ [CCCXXXVI]). Und es gibt Gedichte, in denen vom Tod Lauras nicht die Rede ist, so daß man annimmt, sie lebe noch, die Situation sei keine halluzinierte, sondern eine ,reale‘, und der Sprecher sie in eben der Art und Weise sieht, wie in den Gedichten, in denen gesagt ist, daß sie tot ist (s. dazu die Beispiele am Beginn dieser Anm.). 136 Von hierher liegt die seit Rousseau und Hegel nicht abreißende Vereinnahmung des Canzoniere als eines Stücks romantischen Diskurses avant la lettre nahe, und eine solche Lektüre ist auch keineswegs abwegig (dazu u., Pkt. 3.). Mit Blick auf die Gesamtheit des bislang Ausgeführten sollte aber deutlich sein, was das im Canzoniere zugrunde liegende Liebeskonzept von dem der Romantik trennt: die massiven physischen Implikate, welche es ja erst sind, die zu dem oben skizzierten Realitätsverlust führen. Das Liebeskonzept des Canzoniere läuft nicht auf spekuläre Selbst-Liebe, Narzißmus hinaus. Es ist von daher auch frei von einer emphatischen Identifikation des Ichs mit dem Absoluten, besser, es setzt sich von einer solchen Identifikation ab. Evident werden diese Verhältnisse in den letzten Gedichten der Sammlung. Wenn das Petrarkische Ich eine Art Eins-Werden mit dem Absoluten anstrebt, impliziert dies die recusatio der Liebe. - Zum Ausschluß aller Mißverständnisse sei gesagt, daß natürlich auch die oben apostrophierte ,reale‘ Laura keine tatsächliche Person ist, sondern eine Textinstanz. Nichts läge uns ferner als zu insinuieren, der Mensch Petrarca habe an hereos gelitten. Unbeschadet eigener stattgehabter oder nicht-stattgehabter Erfahrung modelliert er, so unsere These, in seinem Canzoniere einen Sprecher, der nach Art der in den Traktaten beschriebenen Kranken konzipiert ist - was indes weitreichende literar-,
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lierter Beispiele erwähnt werden konnten. Auf der Ebene der Symptomatik begegnen das beständige Seufzen 137; das Weinen selbst im Schlaf 138; das unvermittelte Hin und Her (,vaneggiar‘) zwischen Lachen und Weinen 139; die unsteten Bewegungen der Augen 140; das Bedürfnis nach Einsamkeit 141; das vielfache Insistieren auf der frühen Jugend als dem Beginn der Erkrankung 142, die sich in ihren beiden Dimensionen, als heftiges Begehren und mattes Leiden, über Jahrzehnte hinzieht 143; der Ver-
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möglicherweise auch geistesgeschichtliche Konsequenzen hatte (dazu gleichfalls unten, Pkt. 3.). „Voi ch’ascoltate in rime sparse il suono/ di quei sospiri […]“ (I, V. 1 f.); „Quando io movo i sospiri a chiamar voi, […]“ (V, V. 1); „[…] un vento angoscioso di sospiri,/ […]“ (XVII, V. 2); „[…]/ non o` mai triegua di sospir’ […]“ (XXII, V. 10); „[…] et quasi in ogni valle/ rimbombi il suon de’ miei gravi sospiri/ […]“ (XXIII, V. 12 f.); „[…]/ per lei sospira l’alma, […]“ (XXIX, V. 34); „[…] oggi a` sett’anni/ che sospirando vo di riva in riva/ la notte e ’l giorno, al caldo ed a la neve.“ (XXX, V. 28-30); „[…]/ et come spesso indarno si sospira.“ (XXXII, V. 14); „[…]/ piu´ folta schiera di sospiri accoglia!/ […]“ (XXXVII, V. 68); „[…] et voi sı´ pronti a darmi angoscia et duolo,/ sospiri […]“ (XLIX, V. 12 f.); „[…]/ pero` ch’o` sospirato sı´ gran tempo/ […]“ (LXX, V. 12); „[…] quell’accesa voglia/ che m’a` sforzato a sospirar mai sempre,/ […]“ (LXXIII, V. 2 f.); „[…]/ per fuggir de sospir’ […]“ (LXXIV, V. 4); „[…] et or con gran fatica/ […]/ in liberta` ritorno sospirando.“ (LXXVI, V. 6-8); „[…]/ di sospir’ molti mi sgombrava il petto,/ […]“ (LXXVIII, V. 5); „Onde piu´ volte sospirando indietro/ dissi: […]“ (LXXXIX, V. 9 f.); „Io son […] sı´ vinto,/ […] de la lunga guerra de’ sospiri,/ […]“ (XCVI, V. 1 f.). „[…]/ spesso dal somno lagrimando desta,/ […]“ (VIII, V. 4); „[…] mia speme […]/ giunse nel cor, non per l’usata via,/ che ’l sonno tenea chiusa, e ’l dolor molle;/ […]“ (XXXIII, V. 9-11); „Lagrime triste, et voi tutte le notti/ m’accompagnate, […]“ (XLIX, V. 9 f.); „[…]/ perche´ dı´ et notte gli occhi miei son molli?“ (L, V. 62). „[…] quella speranza/ che ne fe’ vaneggiar sı´ lungamente,/ e ’l riso e ’l pianto, […]“ (XXXII, V. 9-11); „[…]/ che l’extremo del riso assaglia il pianto,/ […]“ (LXXI, V. 88); „De’ passati miei danni piango et rido,/ […]“ (CV, V. 76); „Pascomi di dolor, piangendo rido;/ […]“ (CXXXIV, V. 12); „Simil fortuna stampa/ mia vita, che morir poria ridendo,/ […]“ (CXXXV, V. 80 f.); „[…] e ’l cor si lagna/ […] e ’n vista asciutta et lieta,/ piange […]“ (CL, V. 9-11); „Questa humil fera […]/ […]/ in riso e ’n pianto […]/ mi rota […]“ (CLII, V. 1-4). „Gli occhi invaghiro allor sı´ de’ lor guai,/ […]“ (XCVII, V. 5) „Solo et pensoso i piu´ deserti campi/ vo mesurando a passi tardi et lenti,/ et gli occhi porto per fuggire intenti/ ove vestigio human l’arena stampi.“ (XXXV, V. 1-4); s. u. a. CCXXXVII, V. 25 („Le citta` son nemiche, amici i boschi,/ […]“); CCLIX, V. 1-3 („Cercato o` sempre solitaria vita/ (le rive il sanno, et le campagne e i boschi)/ per fuggir questi ingegni sordi et loschi,/ […]“); s. weiterhin CCLXXXVIII; CCXCII, V. 4. „Questa mia donna mi meno` molt’anni/ pien di vaghezza giovenile ardendo,/ […]“ (CXIX, V. 16 f.); s. weiterhin u. a. CCVII, V. 13. „[…] [il] mio primo giovenile errore/ quand’era in parte altr’uom da quel ch’i’ sono, […]“ (I, V. 3 f.); „[…]/ ch’i’ son gia` pur crescendo in questa voglia/ ben presso al decim’anno,/ ne´ poss’indovinar chi me ne scioglia.“ (L, V. 54-56); „Quel foco ch’i’ pensai che fosse spento/ dal freddo tempo et da l’eta` men fresca,/ fiamma et martı´r ne l’anima rinfresca.“ (LV, V. 1-3); in CCCLXIV wird die Dauer des Leidens richtiggehend beziffert: „Tennemi Amor anni ventuno ardendo,/
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weis darauf, daß die ,fera voglia‘, die später zum Unglück des Sprechers wurde, bereits in ihm keimte, als Amor ihn noch mied 144; die Unbezwingbarkeit des Begehrens 145; das beständige Preisen der Geliebten als schöner denn alle anderen Frauen 146 (wobei explizit gemacht wird, daß das Ich in seiner Singularisierung der donna von der communis opinio abweicht, was er aber nicht als sein Problem, sondern als das der anderen sieht 147); schließlich das Hintanstellen nicht nur aller Frauen 148, sondern auch aller anderweitigen ,diletti‘ zugunsten des Sich-Sehnens nach der Geliebten 149. Und selbst der Aspekt, daß der von der dysfunktionierenden virtus imaginativa seinen Ausgang nehmende, in den Gedanken wurzelnde ,desio‘ seine Befehle an die membra kommuniziert, ist hier
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[…]/ poi che madonna e ’l mio cor seco inseme/ saliro al ciel, dieci altri anni piangendo.“ (V. 1-4). „Nel dolce tempo de la prima etade,/ che nascer vide et anchor quasi in herba/ la fera voglia che per mio mal crebbe,/ perche´ cantando il duol si disacerba,/ cantero` com’io vissi in libertade,/ mentre Amor nel mio albergo a sdegno s’ebbe.“ (XXIII, V. 1-6). Gleichlautend XC, V. 7 f. („Erano i capei d’oro a l’aura sparsi“), wo der Sprecher sagt, daß er den ,Zunder der Liebe‘ schon in der Brust trug, weshalb es denn nicht verwunderlich gewesen sei, daß er beim Anblick Lauras sofort entflammte („[…]/ i’ che l’e´sca amorosa al petto avea,/ qual meraviglia se di su´bito arsi?“). - Wir deuten diese Stellen als Referenz auf die bei Petrus Hispanus formulierte Kausal-Erklärung von hereos: Zugrunde liegt das rein physische Begehren, das der Jugend zugehörig ist und sich auf ein letztlich beliebiges Objekt fixiert. „[…] travı¨ato e` ’l folle mi’ desio/ […]/ ne´ mi vale spronarlo, o dargli volta,/ […]“ (VI, V. 1-7). „[…]/ quanto ciascuna e` men bella di lei/ […]“ (XIII, V. 3); „Non fur gia` mai veduti sı´ begli occhi/ o ne la nostra etade o ne’ prim’anni,/ […]“ (XXX, V. 19 f.); „Amor e ’l ver fur meco a dir che quelle/ ch’i’ vidi, eran bellezze al mondo sole,/ mai non vedute piu´ sotto le stelle.“ (CLVIII, V. 9-11) „Parra` forse ad alcun che ’n lodar quella/ ch’i’ adoro in terra, errante sia ’l mio stile,/ faccendo lei sovr’ogni altra gentile,/ santa, saggia, leggiadra, honesta et bella.// A me par il contrario […]/ […]/ et chi no ’l crede, venga egli a vedella;// sı´ dira` ben: Quello ove questi aspira/ e` cosa da stancare Athene […]/ Lingua mortale al suo [sc. di Laura] stato divino/ giunger non pote: […]“ (CCXLVII, V. 1-13); in CCXLVIII, V. 3 f., dann die Bezichtigung, daß diejenigen, die nicht einsehen, daß Laura ,als einzige eine Sonne‘ ist, ,blind‘ sind („[…]/ ch’e` sola un sol, non pur a li occhi mei,/ ma al mondo cieco […]“); in anderen Gedichten nicht mit dieser massiven Abqualifizierung der communis opinio, sondern in Form der Aussage, daß Laura für den Sprecher die Schönste ist („[…]/ tal che null’altra [donna] fia mai che mi piaccia.“ (XX, V. 4); „Et se di lui fors’altra donna spera,/ vive in speranza debile et fallace:/ […]“ [XXI, V. 5 f.]). „Anima [i. e. des Sprechers] […]/ […]/ pocho prezando quel ch’ogni huom desia;/ […]“ (XIII, V. 7-11); „Gli occhi […]/ […]/ […] a`nno a schifo ogni opera mortale:/ […]/ Amor in altra parte non mi sprona,/ ne´ i pie’ sanno altra via, ne´ le man come/ lodar si possa in carte altra persona.“ (XCVII, V. 5-14) „[…]/ tutti gli altri diletti/ di questa vita o` per minori assai,/ et tutte altre bellezze indietro vanno.“ (LXXIII, V. 64-66)
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aufgegriffen 150, wobei verdeutlicht wird, daß die Mattigkeit (,lasso‘), von der im Canzoniere passim die Rede ist, keine körperliche meint, sondern jene Erschöpfung und Teilnahmslosigkeit, die, ausgelöst von der Hypertrophie der cogitatio, zum Krankheitsbild der Melancholie gehört 151. ⫺ Auf der Ebene der Therapie werden der Versuch, sich durch den Kontakt mit anderen Frauen über die Nicht-Zugänglichkeit des wahren Objekts des Begehrens hinwegzuhelfen 152, und vor allem die mutatio regionis genannt 153. Da aber alle Therapieversuche scheitern, stellt sich im Laufe der Jahre das Vollbild der Melancholie ein, matte Hoffnungs- und Teilnahmslosigkeit, acedia, tristitia, Todesgedanken, wenn nicht gar Todeswünsche 154. 3. 3.1. Akzeptiert man die These, daß der Sprecher des Canzoniere nach dem Schema des medizinischen Diskurses über hereos modelliert ist, impli150 „[…]/ et che’ pie’ miei non son fiaccati et lassi/ a seguir l’orme vostre in ogni parte/ perdendo inutilmente tanti passi;/ […]“ (LXXIV, V. 9-11) 151 Das mit der Melancholie/ acedia einhergehende Versinken des Willens in matter Teilnahmslosigkeit etwa in CXVIII: „Rimansi a dietro il sestodecimo anno/ de’ miei sospiri, […]/ […]/ Or qui son, lasso, et voglio esser altrove;/ et vorrei piu´ volere, et piu´ non voglio;/ et per piu´ non poter fo quant’io posso;// et d’antichi desir’ lagrime nove/ provan com’io son pur quel ch’i’ mi soglio,/ ne´ per mille rivolte anchor son mosso.“ (V. 1 f. und V. 9-14). Die Lebensmüdigkeit, das Sich-nicht-Wehren gegen den Tod (der Seele) u. a. in CXLI, V. 14: „[…]/ et cieca al suo morir l’alma consente.“ Metaphorisch präsent sind acedia bzw. Melancholie u. a. in CLIII, V. 10 („[…]/ che ’l nostro stato e` inquı¨eto et fosco,/ […]“). Eine humoralpathologische Referenz findet sich in CCXVI, V. 5 („In tristo humor vo li occhi consumando,/ […]“). 152 „[…] cosı´, lasso, talor vo cerchand’io,/ donna, quanto e` possibile, in altrui/ la disı¨ata vostra forma vera.“ (XVI, V. 12-14) 153 „[…]/ le man bianche sottili/ et le braccia gentili,/ […]/ mi celan questi luoghi alpestri et feri;/ […]“ (XXXVII, V. 98-104); „[…]/ i’ fuggia le tue mani, et per camino,/ agitandom’i ve`nti e ’l ciel et l’onde,/ m’andava sconosciuto et pellegrino:/ […]“ (LXIX, V. 9-11); „O poggi, o valli, o fiumi, o selve, o campi,/ o testimon’ de la mia grave vita,/ quante volte m’udiste chiamar morte!“ (LXXI, V. 37-39); s. weiterhin CLXI, V. 7 f. 154 „Questa speranza mi sostenne un tempo:/ or vien mancando, et troppo in lei m’attempo. […]/ Ogni loco m’atrista ov’io non veggio/ quei begli occhi soavi/ che portaron le chiavi/ de’ miei dolci pensier’, mentre a Dio piacque;/ et perche´ ’l duro exilio piu` m’aggravi,/ s’io dormo o vado o seggio,/ altro gia` mai non cheggio,/ et cio` ch’i’ vidi dopo lor mi spiacque“ (XXXVII, V. 15-40); „[…]/ tal ch’io non penso udir cosa gia` mai/ che mi conforte ad altro ch’a trar guai.“ (XXXVII, V. 95 f.). Bereits in LXXIX heißt es: „[…]/ che´ la morte
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zierte dies, daß der Liebesgeschichte, die der Zyklus präsentiert, zunächst nichts besonders ,Individuelles‘ innewohnt 155. Gleichwohl erledigt sich damit nicht die Lektüre des Canzoniere als eines Dokuments frühneuzeitlicher Subjektivität. Auch von einem archäologischen Standpunkt aus ist eine solche Sicht gerechtfertigt, wenn man die Relation zum theologischen Diskurs in Betracht zieht 156. Abgesehen davon und mit Bezug auf die Liebesgeschichte im engeren Sinne müßte man diese Deutung als eine hermeneutische Potentialität ansehen, die zu aktivieren allerdings nicht willkürlich scheint. Ihre Möglichkeit, wenn nicht gar Unentrinnbarkeit resultiert aus dem Umbruch basaler weltmodellierender Konzepte, der sich in der Zeit vollzogen hat, welche Petrarca von der eigentlichen Moderne trennt 157. Sie ist auf diese Weise abhängig vom Verlauf der Geschichte nach Entstehen des Canzoniere, sie deriviert aber nicht unmittelbar von der Struktur der Sammlung als solcher. In seinem Bewußtsein ein Bild der Welt zu zeichnen („disegno co la mente“), das vom konsentierten Bild abweicht, würde man modern als ,subjektiv‘ oder zumindest potentiell subjektiv bezeichnen. Aus der Sicht von Petrarcas Zeit würde man es zunächst als pathologisch qualifizieren müssen. Was uns ermächtigt, dem Canzoniere und insbesondere der dort inszenierten Liebesgeschichte eine subjektivierende Perspektive zu imple-
s’appressa, e ’l viver fugge.“ (V. 14; gleichlautend die anschließenden Gedichte LXXX, bes. V. 4 und V. 23 f., LXXXI, bes. V. 14, und LXXXII, bes. V. 5). 155 Nicht recht verständlich geworden ist uns Wacks Behauptung, der Diskurs über hereos selbst sei schon als Indiz des Entstehens einer (mittelalterlichen) Subjektivität aufzufassen („[…] Gerard’s [de Berry] chapter on love, together with the Salernitan and Avicennan texts on which it rests, may be seen as an important contribution to medieval subjectivity.“ [Lovesickness in the Middle Ages (s. Anm. 14), S. 59]). 156 Zu einem solchen Ansatz s. unsere oben zitierten zwei Studien zum Canzoniere (Anm. 2); was die Vereinbarkeit der von uns dort vorgeschlagenen und der hier unternommenen Lektüre angeht, verweisen wir im Konkreten auf unsere kurze Bemerkung oben, S. 122 f., sowie in gattungstheoretischer Hinsicht auf K. Stierles These vom lyrischen Text als dem Ort der Simultaneität unauslotbar vielfältiger Kontexte („Die Identität des Gedichts Hölderlin als Paradigma“, in: O. Marquard/K. St. [Hrsg.], Identität, München 1979, S. 505-552). Was Petrarca betrifft, hat Stierle diese These u. a. fruchtbar gemacht in der Studie „Metamorphosen des Mythos. Petrarcas Kanzone ,Nel dolce tempo‘ (Rime XXIII)“, in: W. Haug/ B. Wachinger (Hrsg.), Traditionswandel und Traditionsverhalten, Tübingen 1991, S. 24-45 (s. bes. S. 34 zum Phänomen einer „sich überlagernde[n] Doppelreferenz sowohl auf Ovid wie auf Augustin“). 157 Unsere Gedanken zur Frage der Kanonisierung, die auch den Horizont der obigen Festlegungen ausmachen, haben wir dargelegt in „Kanon als Historiographie - Überlegungen im Anschluß an Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen, zweites Stück“ (in: M. Moog-Grünewald [Hrsg.], Kanon und Theorie, Heidelberg 1997, S. 41-64).
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mentieren, ist, daß der Autor den pathologischen Status, den er dem von ihm modellierten Sprecher zuschreibt, produktiv macht: Indem er die in den Traktaten zu findende Beschreibung der Liebeskranken, ,flent aut cantant‘ 158, wörtlich nimmt und das ,cantare‘ im humanistischen, klassisch-Vergilischen Sinne interpretiert, transponiert Petrarca eine pathologische Sicht in einen literarischen Diskurs. Da von Aristoteles bis zu Ju. M. Lotman Dichtung, Literatur, als ein Diskurs gilt, der nicht ein Besonderes, sondern ein Allgemeines mitteilt, führt er mit seinem Canzoniere das Konzept ein, daß ein subjektiver Blick auf die Welt von ,allgemeiner‘ Relevanz sein kann. Er führt ein, was in späterer Zeit ,Perspektivismus‘ genannt wurde. Aber es steht in Frage, ob er sich dessen bewußt war. 3.2. Daß der Canzoniere zu einer der wichtigsten Stationen in der ,Entwicklung‘ abendländischer Subjektivität zählt, ist seit Hegels Lektüre eine Position, die man allenfalls gegen Mißverständnisse verteidigen, damit in ihrem oftmals emphatischen Anspruch limitieren 159, kaum aber sinnvoll bestreiten kann. Unsere Geschichte ist so verlaufen, wie sie verlaufen ist, ob mit höherer, mit immanenter oder mit gar keiner Notwendigkeit, darüber läßt sich diskutieren, nicht indes über das Faktisch-Sein dieser und nur dieser Geschichte. Nicht einmal der übermächtige Gott, den Wilhelm von Ockham entwirft, hat die Macht, das Vergangene zu ändern 160. Und weil nach Petrarca Luther kam, nach diesem Rousseau, Kant und Hegel, ist der Canzoniere ohne Zweifel ein zentrales Dokument der Geschichte westlicher Identität, verstanden als Entfaltung von Subjektivität. Interessant im Hinblick auf die angedeuteten weitergehenden Aspekte wäre die Frage, wie der Text in diese Linie hineingekommen ist, die ja schon mit Augustinus beginnt. Privilegiert man eine Lektüre der Gedichtsammlung vor dem Horizont der Augustinischen Folie 161, liegt die Antwort auf der Hand: Petrarcas Augustinus-Rezeption ist eine be158 159 160 161
S. o., S. 130, mit Anm. 62. Wir haben dies in unseren beiden anderen Canzoniere-Studien versucht (s. Anm. 2). S. Tractatus de praedestinatione, bes. qu. 1. S. dazu in neuerer Zeit etwa K. Stierle, „Die Entdeckung der Landschaft in Literatur und Malerei der italienischen Renaissance“, in: H.-D. Weber (Hrsg.), Vom Wandel des neuzeitlichen Naturbegriffs, Konstanz 1989, S. 33-52, und, mit teilweise anderer Akzentuierung, unsere zwei bereits zitierten Canzoniere-Studien (Anm. 2).
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wußte, sie erfolgt aus einem im wesentlichen noch heute gültigen Verständnis des Augustinischen Texts heraus, sie gehorcht einer wohldefinierten Intention. Kurz: hier liegt die Logik des Konzepts ,Tradition und Nachfolge‘ zugrunde 162. Natürlich löst sich damit die Ausgangsfrage nicht, sie verschiebt sich auf den Prä-Text, zu Augustinus, von diesem auf dessen Prä-Text, zu Paulus, und dort bricht sie dann mit eben der Vehemenz auf, wie sie sich, mutatis mutandis, für die hier versuchte Lektüre des Canzoniere stellt: So, wie sich die Paulinische Theologie nicht als konsequente Fortschreibung eines ihr Vorausgehenden begreifen läßt, ist auch die bei Petrarca unternommene Überführung eines nosologischen in einen literarischen Diskurs nicht ableitbar aus dem, was seinem Canzoniere literarisch vorausliegt. Beide Texte sind Synthetisierungen von diskursiven Rastern, die in dieser Form zuvor noch nicht zusammengeführt worden waren. Damit entsteht die Frage nach der Bewußtheit derer, die hier Raster differenter Horizonte hybridisiert haben, sowie die nach den Intentionen. Was Petrarca betrifft, hatten wir bereits bezweifelt, daß ihm an den Effekten gelegen war, welche wir aus heutiger Sicht in einer Struktur erkennen, die eine pathologische (insofern individuelle, partikuläre) Perspektive in einen Text überführt, der als literarischer nicht Mitteilung von Besonderem (von Einzelnem), sondern nur von Allgemeinem sein kann. Aber dieser Zweifel muß natürlich Hypothese bleiben. Auf weniger unsicherem Terrain bewegen wir uns, wenn wir die Frage diskutieren, warum Petrarca den hereos-Diskurs in einen Text wie den Canzoniere integriert hat, und nicht in einen literarischen Text anderweitiger Art. Es liegt nahe, daß das Konzept hereos in dieser Zeit nicht nur Petrarca, sondern auch andere poetae fasziniert hat, welche über das erzliterarische Sujet des Liebesleids schrieben. Einer der Gemeinten ist Petrarcas Zeitgenosse Boccaccio. Im Decameron sind die Referenzen auf das Konzept Legion 163. Wir zitieren für unser hier verfolgtes Argument 162 In diesem Fall ist natürlich das Konzept ,Nachfolge‘ der Intention nach polemisch gewendet. Die Augustinische Tradition wird zwecks Legitimierung des Neuen in Anspruch genommen. Insofern ist Petrarcas Nachfolge-Konzept Ermöglichungsstruktur von ,Modernität‘, im Sinne eines Sich-Lösens vom verbindlichen Charakter des Tradierten. 163 S. Ciavolella, „La tradizione dell’aegritudo amoris nel Decameron“ (s. Anm. 12) sowie ders., „Mediaeval Medicine and Arcite’s Love Sickness“ (s. Anm. 14); in dem letztzitierten Aufsatz bringt Ciavolella den Beleg, daß Boccaccio mit dem Konzept als solchem vertraut war (S. 234). In den „chiose“ zum Teseida verweist der Autor den entsprechend interessierten Leser auf Dino del Garbos Auslegung von „Donna me prega“ unter dem Aspekt hereos („[…] chi disidera di vederlo, legga la canzone di Guido Cavalcanti ,Donna mi priega, etc.‘,
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nur eine Stelle, die das gesamte Problemfeld erhellt. Wenn dort das zentrale Symptom, die obsessionelle Fixierung der virtus imaginativa, mit Bezug auf Giachetto, eine Figur der Novelle II, 8, exponiert werden soll, ist dies mit einem Satz abgetan: „sı´ forte di lei s’innamoro`, che piu´ avanti di lei non vedeva.“ 164 Mit anderen Worten: Zu einer Quelle von Subjektivierung, zu einem Entwurf ganz neuer und noch nicht dagewesener sprachlicher Möglichkeiten, Blicke-auf-Welt zu modellieren, kann die pathologische Fixierung der imaginativa einzig unter den Bedingungen der Ich-Form werden, literarisch: in der Lyrik oder allenfalls in der Autobiographie. Warum aber schreibt Petrarca Lyrik, und nicht Novellistik? Hier wären wir bei den ganz banalen ,Triebfedern‘ des geschichtlichen Prozesses angelangt, in diesem Fall bei Petrarcas selbsteingestandener inanis gloria, die ihn alle niederen Genera verschmähen ließ. Aber dieses Erklärungsmodell erklärt seinerseits letztlich nichts, nicht nur, weil es so banal und deshalb untauglich ist, das Entstehen von Exzeptionellem zu erklären. Wichtiger noch ist, daß es eben dieses Bestreben war: einen Text des höchsten Niveaus der Gattungshierarchie zu verfassen, welches Petrarca dasjenige seiner Werke schreiben ließ, das vermutlich zu allen Zeiten die geringste Resonanz gefunden hat, das Africa-Epos 165. 3.3. Der erste Versuch, literarische Evolution unter Rekurs auf biologische Beschreibungsmodelle zu theoretisieren, stammt von den Formalisten. Obwohl er nicht ohne noch heute aktuelle Meriten ist, scheint dieser Versuch auf zweifache Weise kompromittiert. Das dort zugrunde liegende Evolutionsmodell der ,Vererbung‘ (,Großväter-Enkel-Relationen‘, usw.) ist wissenschaftlich obsolet. Zudem hat die Geschichte des 20. Jahrhunderts das Denken des Kulturellen in den Kategorien des Biologischen unter eine Art Tabu gestellt. Ungeachtet dessen sei anhand des in dieser Abhandlung diskutierten Falls der Gedanke ins Spiel gebracht, Phänomene von Geschichtlichkeit, von kulturellem Werden, in Analogie zu Modellen biologischer Evolution zu denken: als linear (d. h.: non-zirkulär und non-reversibel), als
e le chiose che sopra vi fece Maestro Dino del Garbo.“ [Teseida, in: Tutte le opere, hrsg. v. V. Branca, Bd. 2, Milano 1964, S. 245-664, hier: S. 464 (ad VII, 50)]). 164 Decameron, hrsg. v. C. Segre, Milano: Mursia 1987, S. 146-159, hier: S. 151. 165 S. Secretum (s. Anm. 19), S. 192-194.
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prozeßhaft (d. h.: als notwendiges Angewiesensein des zeitlich Späteren auf das zeitlich Frühere), aber als non-teleologisch (d. h.: ohne absehbares Ziel und ohne Bewußtsein der Handelnden für die Wirkungen dessen, was sie tun). Das ,Neue‘ wäre in einem solchen Modell das Produkt zufälliger Kombinatorik, in diesem Fall des Aufeinandertreffens eines nosologischen Diskurses und eines lyrischen Diskurses, die auch nicht hätten aufeinandertreffen können (,quod potest esse et non esse‘ 166). Im letzteren Fall wäre die literarische und geistesgeschichtliche Wirkung des Kontakts von hereos und literarischem Diskurs im wesentlichen auf das beschränkt geblieben, was wir aus Boccaccio zitiert haben. Die Biologie sagt, daß sich Neues nur dann ,durchsetzt‘ (Wirkung entfaltet), wenn es so beschaffen ist, daß es in eine ihrerseits sich permanent und ohne übergreifende Logik verändernde Umwelt paßt. Der literarische Subjektivismus des Canzoniere hätte vermutlich kaum Resonanz gefunden, wenn theologisch-philosophisch der Nominalismus mit seiner Privilegierung des Partikulären nicht günstige Bedingungen dafür geschaffen hätte. Aber dies zu sagen, läuft nicht auf eine Wiederbelebung geschichtsphilosophisch inspirierter Diskurs-Hierarchien hinaus. Denn der literarische Subjektivismus des Canzoniere schuf seinerseits günstige Bedingungen für die philosophische via moderna. Man lese einige Seiten Ockham und dann einige Seiten Petrarca, um sich eine Vorstellung zu machen, wie es mit der Resonanz des Konzepts einer Dignität des Partikulären bestellt gewesen wäre, wenn der Sentenzenkommentar des venerabilis inceptor dessen einzige Manifestation geblieben wäre. Um sich zu geschichtsmächtiger Wirkung zu entfalten, bedarf der abstrakte Diskurs von Philosophie und Wissenschaft konkomitanter Phänomene in den anderen diskursiven Feldern. Ein literarischer Diskurs andererseits, der ohne Bezug zum zeitgenössischen Diskurs des ,Allgemeinen‘ bleibt, mag so originell sein, wie er will, er wird nur originell bleiben, schärfer formuliert: skurril. ,Wirkung‘ entfaltet er erst unter geeigneten Bedingungen. Wenn er denn Wirkung entfaltet und die Evolutionslinie, an deren Beginn er steht, über lange Zeit trägt, wird er zu einem der großen Texte der Tradition 167, ungeachtet dessen, daß er in Aspekten Momente jener Skurrilität bewahrt, die Merkmal von Hybridisierung sind. Es ist die Rezeption, die diese Momente des Irregulären zugunsten des Bildes eines quasi-klassischen Ebenmaßes glättet. 166 So die klassisch-scholastische Definition des Kontingenten, u. a. bei Thomas von Aquin (Quaestiones disputatae de veritate, qu. 2, ar. 12, sc. 3). 167 Zu einem solchen, in Relation zur kontingenten Geschichtlichkeit sich bemessenden Konzept der Bestimmung dessen, was kanonisierte Texte von (nicht minder gut gemachten) nicht-kanonisierten Texten trennt, s. unseren in Anm. 157 zitierten Aufsatz.
Palinodie und Polysemie in der Mariencanzone (Mit einigen Gedanken zu den Bedingungen der Unterschiede von antiker und abendländischer Kunst) 0. Am Ende des Canzoniere steht eine Serie von Reuegedichten. Die ersten drei dieser Texte sind Sonette. Sie sind von der Redesituation her als Gebete an Gottvater gestaltet, wobei sich die Nachbildung des Schemas von Gedicht zu Gedicht verstärkt. Kennte man den Zyklus nicht, würde man annehmen wollen, daß mit dem letzten dieser Sonette alles gesagt wäre 1. Was im Prooemialsonett, das aus einer retrospektiven Situation heraus entworfen ist, bereits angekündigt wurde: die dort zunächst weltlich (stoisch 2) begründete Absage an die sodann folgende Geschichte einer mundanen Liebe, wird mit dem Sonett „I’ vo piangendo i miei passati tempi“ nach Art einer poetisch in Dienst genommenen figura auf höherer, geistig-religiöser Ebene eingelöst. Das anzitierte Schema des itinerarium mentis ⫺ Vorleben in Sünde, Einsicht und Umkehr ⫺ wäre damit ,erfüllt‘ 3.
1 „I’ vo piangendo i miei passati tempi/ i quai posi in amar cosa mortale,/ senza levarmi a volo, abbiend’io l’ale,/ per dar forse di me non bassi exempi.// Tu che vedi i miei mali indegni et empi,/ Re del cielo invisibile immortale,/ soccorri a l’alma disviata et frale,/ e ’l suo defecto di Tua gratia adempi:// sı` che, s’io vissi in guerra et in tempesta,/ mora in pace et in porto; et se la stanza/ fu vana, almen sia la partita honesta.// A quel poco di viver che m’avanza/ et al morir, degni esser Tua man presta:/ Tu sai ben che ’n altrui non o` speranza.“ (Der Canzoniere wird zitiert nach der Ausgabe von M. Santagata, Milano: Mondadori 1996.) 2 Dieser stoische Akzent v. a. im letzten Vers („che quanto piace al mondo e` breve sogno.“); die eher weltliche Akzentuierung der Reue (obwohl auch dort von „pieta`“, „perdono“ und „’l pente`rsi“ die Rede ist) wird besonders deutlich in den beiden Terzetten (Verlust des guten Rufs und Scham). 3 Zum Schema der figura s. E. Auerbach, „Figura“, Archivum romanicum Bd. 22/1938, S. 436-489. Zu meiner Einordnung von Canz. CCCLXV s. auch B. König, „Das letzte Sonett des Canzoniere. Zur ,architektonischen‘ Funktion und Gestaltung der ,ultime rime‘
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Aber der Canzoniere endet dann doch nicht mit dieser idealen Entsprechung von Prooemial- und Schlußsonett, von weltlicher und geistiger Reue. Mit einer hochrhetorisierten Canzone, d. h. einem Gedicht, welches formal den Anspruch erhebt, das ihm vorhergehende zu überbieten 4, wendet sich der Sprecher an Maria, die Muttergottes. Die Bewegung von Gottvater zu Maria ist um so auffälliger, als der große Vorgänger Dante, dessen „Santa Orazione“ dem letzten Gedicht des Canzoniere wie ein Palimpsest unterlegt ist 5, die rechte Abfolge von Marien- und Petrarcas“, in: K. W. Hempfer/G. Regn (Hrsg.), Interpretation. Das Paradigma der europäischen Renaissance-Literatur. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner zum 60. Geburtstag, Wiesbaden 1983, S. 239-257, hier: S. 239 u. passim. Vor dem Hintergrund seiner Analyse dieses vorletzten Gedichts des Zyklus beurteilt König die Mariencanzone als eine Art Epilog. Sie resümiert die gesamte Sammlung, und dies würde aus Sicht meines Arguments auch heißen müssen: Sie nimmt die in den Sonetten CCCLXIII, CCCLXIV und CCCLXV stilisierte Abwendung von der Generallinie der Sammlung zumindest teilweise wieder zurück. - König hat in seinem Aufsatz, unabhängig von der hier in den Mittelpunkt gerückten Canzone, darauf hingewiesen, daß man bei diesem Autor in die Irre geht, wenn man anzitierte normative Schemata unbesehen zum Wortsinn nimmt. König geht insbesondere ein auf des alten Petrarca bekannte Apostrophierungen seiner Lyrik als „ ,Jugendverirrungen‘ “ bzw. „ ,Jugendtorheiten‘ “; dagegen sei das Faktum zu halten, daß derjenige, der dies schrieb, im selben Zeitraum beträchtliche Energien darauf verwandte, diese ,Nichtigkeiten‘ durch Überarbeitung zu perfektionieren (s. S. 245 f.). 4 G. Gorni und M. Santagata haben mit viel Akribie im Detail herausgearbeitet, daß der erste Eindruck, es handele sich um ein schlichtes Gedicht („preghiera cristiana“ [Gorni, S. 217]), das insofern ,glaubwürdig‘ die Demut des Sprechers symbolisierte, oberflächlich ist. - Ich widme dieser Frage keine Aufmerksamkeit, da bei den Zitierten alles in dieser Hinsicht Belangvolle im Prinzip gesagt ist, möchte aber unterstreichen, daß dieser Aspekt: die Feststellung eines markiert hohen formalen Anspruchs des letzten Texts der Sammlung, unverzichtbarer Bestandteil auch meiner These ist (Gorni, „Petrarca Virgini [Lettura della canzone CCCLXVI, ,Vergine bella‘]“, Lectura Petrarce VII/ 1987, S. 201-218; zu Santagatas Argumenten s. den Kommentar zu der Canzone in der von ihm besorgten Ausgabe des Texts [s. Anm. 1]). 5 „ ,Vergine madre, figlia del tuo figlio,/ umile e alta piu` che creatura,/ termine fisso d’etterno consiglio,/ tu se’ colei che l’umana natura/ nobilitasti sı`, che ’l suo fattore/ non disdegno` di farsi sua fattura./ Nel ventre tuo si raccese l’amore/ per lo cui caldo nell’etterna pace/ cosı` e` germinato questo fiore./ Qui se’ a noi meridı¨ana face/ di caritate, e giuso, intra i mortali,/ se’ di speranza fontana vivace./ Donna, se’ tanto grande e tanto vali,/ che qual vuol grazia ed a te non ricorre,/ sua disı¨anza vuol volar sanz’ali./ La tua benignita` non pur soccorre/ a chi domanda, ma molte fı¨ate/ liberamente al dimandar precorre./ In te misericordia, in te pietate,/ in te magnificenza, in te s’aduna/ quantunque in creatura e` di bontate./ Or questi, che dall’infima lacuna/ dell’universo infin qui ha vedute/ le vite spiritali ad una ad una,/ supplica a te, per grazia, di virtute/ tanto, che possa con li occhi levarsi/ piu` alto verso l’ultima salute./ E io, che mai per mio veder non arsi/ piu` ch’ i’ fo per lo suo, tutti miei preghi/ ti porgo, e priego che non sieno scarsi,/ perche` tu ogni nube li disleghi/ di sua mortalita` co’ prieghi tuoi,/ sı` che ’l sommo piacer li si dispieghi./ Ancor ti priego, regina, che puoi/ cio` che tu vuoli, che conservi sani,/ dopo tanto veder, li affetti
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Gotteslob im Bewußtsein des Lesers präsent hält 6. So durchkreuzt der formale Aufstieg vom Sonett zur Canzone den ontologischen Abstieg von Gott zu Maria, und entgegen der orthodoxen Reue des letzten Sonetts endet der Canzoniere, wie ich behaupten möchte, in jenem Zwiespalt von Irdischem (von materiell Schönem, als Körperliches und zugleich Ästhetisches) und Geistigem, der den gesamten Zyklus zeichnet, wobei sich hier wie dort die Balance letztlich dem Irdischen zuzuneigen scheint 7. Denn den Gipfel des jeweils Möglichen markiert das letzte Gedicht des Canzoniere von seinem formalen, nicht von seinem moraltheo-
suoi./ Vinca tua guardia i movimenti umani:/ vedi Beatrice con quanti beati/ per li miei preghi ti chiudon le mani!‘ “ (Par. 33, V. 1-39); zur Relation der Mariencanzone zu Dante s. A. Noyer-Weidner, „Zur Mythologieverwendung in Petrarcas Canzoniere (mit einem Ausblick auf die petrarkistische Lyrik)“, in: F. Schalk (Hrsg.), Petrarca, 1304 - 1374. Beiträge zu Werk und Wirkung, Frankfurt a. M. 1975, S. 221-242, hier: S. 227; s. weiterhin G. Rabuse, „Petrarcas Marienkanzone im Lichte der ,Santa Orazione‘ Dantes“, ebd., S. 243-254. 6 Petrarcas Text apostrophiert Maria abschließend als „Vergine humana“, in Dantes „Santa Orazione“ heißt es abschließend: „Vinca tua [sc. di Maria] guardia i movimenti umani“ (Par. 33, V. 37). - M. Perugi hat unter Berufung auf eine Veröffentlichung von U. Mölk die oben behauptete Ungewöhnlichkeit von Petrarcas Anordnung des Gottes- und des Marienlobs bestritten („Lanfranco Cigala nell’epilogo dei Rerum vulgarium fragmenta“, Studi medievali Bd. 32/1991, S. 833-841, hier: S. 833). Mölk sagt hingegen, soweit ich sehe, nur, daß am Ende des dichterischen Schaffens von Guiraut Riquier, des ,letzten Trobadors‘, ein Marienlied steht, nachdem in dessen zuvor entstandenen Gedichten zuweilen von Gott die Rede war („Belh Deport. Über das Ende der provenzalischen Minnedichtung“, Zeitschrift für Romanische Philologie Bd. 78/1962, S. 358-374; S. 371 ff. des Aufsatzes unterrichten über Refunktionalisierungen des Frauen- zum Marien-Lob bei anderen Provenzalen). Was eben bei all diesen ,Vorgängern‘ Petrarcas ausfällt, ist die Struktur des Zyklus. Ohne dieses seitens des Autors mit Nachdruck eingesetzte Verfahren hätte auch dessen Mariencanzone nicht die Dimension, die ich hier postulieren möchte. 7 Die weithin akzeptierte Deutung, der ich in meinen kursorischen Bemerkungen zu Canz. CCCLXVI in anderweitigen Veröffentlichungen bislang selbst gefolgt bin, sieht die Canzone als Stilisierung einer Palinodie. Ich zitiere hier nur einige besonders wichtige Titel: N. Iliescu, Il Canzoniere petrarchesco e Sant’ Agostino, Roma 1962, S. 90-100; F. Montinari, Studi sul Canzoniere del Petrarca, Roma 1958, bes. S. 45; M. Santagata, „Introduzione“ [zu der schon zitierten Textausgabe (Anm. 1)], S. XIII - XCVI, bes. S. LXXVIII, S. LXXXIII, S. LXXXVII u. S. XCII; im eigentlichen Kommentar zu der Canzone hat Santagata diese Auffassung eines palinodesken, ja, poenitentialen Charakters des Texts noch wesentlich akzentuiert (S. 1401-1416); A. Kablitz, „ ,Era il giorno ch’al sol si scoloraro per la pieta` del suo factore i rai‘. Zum Verhältnis von Sinnstruktur und poetischem Verfahren in Petrarcas Canzoniere“, Romanistisches Jahrbuch Bd. 39/1988, S. 45-72, bes. S. 66-72; L. Pietrobono, „ ,Vergine bella che di sol vestita‘ “, Annali della cattedra petrarchesca Bd. 2/1931, S. 135-162 (mit Verweisen auf die ältere Forschung; Pietroboni sieht andererseits, wenn auch in begrenztem Umfang, diejenigen Strukturen des Gedichts, die eine Verrechnung unter das Reueschema problema-
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logischen Anspruch her. Vor allem aber: Mit dem Abstieg von Gottvater als Quell der Gnade selbst zu Maria als einer vermittelnden Instanz suggeriert das Ich des Canzoniere nicht nur ⫺ auf der Linie dessen, was der Franciscus des Secretum vertritt 8 ⫺, daß es zu jenen gehört, deren Rufen sich dieser Gott verschließt 9, es revoziert auf der Ebene der sprachlichen Register die Abwendung von der Laura-Liebe, die sich in den drei Reuesonetten ereignet hatte, es kehrt, was den Aspekt der Signifikanten angeht, auf jenes Territorium zurück, welches der gesamte ,Rest‘ des Zyklus vermessen hatte: das des Frauenlobs 10.
tisch machen [s. bes. S. 156]); P. Boitani, The Tragic and the Sublime in Medieval Literature, Cambridge 1989, Kap. 7 („ ,His desir wol fle withouten wynges‘: Mary and Love in Fourteenth-Century Poetry“), S. 177-222 (zu „Vergine bella“: S. 197-205). Die in ihrer Konzision, intellektuellen Energie und theologischen Informiertheit beeindruckendste Studie dieser Observanz ist ohne Zweifel die von E. Williamson („A Consideration of ,Vergine bella‘ “, Italica Bd. 29/1952, S. 215-228). Der einzige, aber nicht unentscheidende Aspekt, den ich gegen Williamson anzuführen hätte und der dann dazu führt, daß meine Lektüre von der des Zitierten im grundsätzlichen differiert, ist der, daß sich Williamson ganz auf dieses eine Gedicht und dessen immanente Struktur konzentriert, d. h., die Verweisstrukturen ignoriert, die daraus resultieren, daß es Teil eines durchkomponierten Zyklus ist. 8 S. Secretum, S. 32, S. 58, S. 62, S. 214 u. passim (zitiert nach: F. P., Prose, hrsg. v. G. Martellotti, P. G. Ricci, E. Carrara u. E. Bianchi, Milano/Napoli 1955, S. 21-215); mit allen Verweisen auf das Secretum, die sich in dieser Abhandlung finden, nehme ich Bezug auf meine an anderer Stelle ausführlich vorgetragene Interpretation des Texts („Das Schweigen der Veritas. Zur Kontingenz von Pluralisierungsprozessen in der Frührenaissance [Überlegungen zum Secretum]“, wiedergedruckt in dsem. Bd., S. 1-53). 9 Über die oben angedeutete Frage ist die umfangreiche Literatur zu der Mariencanzone ziemlich konsequent hinweggegangen. Wenn auch in den letzten Jahrzehnten das Bewußtsein dafür, daß Petrarca nicht nur Humanist schlechthin, sondern ,christlicher Humanist‘ war, in bemerkenswerter Weise gewachsen ist, fehlt es nach wie vor weithin an Sensibilität dafür, daß Petrarcas Christentum (ob authentisch oder inszeniert, bleibt dabei ganz dahingestellt) sich nicht auf ,Lippenbekenntnisse‘ nach der Art des puren Zitierens von Wörtern und Floskeln beschränkt. Petrarcas Schriften, auch die volkssprachlichen, sind durchdrungen von einer reflektierten Auseinandersetzung mit den Basisfiguren und -strukturen der christlichen Theologie, so, wie er diese aus dem bedeutendsten seiner christlichen Lehrer, aus Augustinus, adaptiert hat. - Ob die oben ins Spiel gebrachte Möglichkeit: daß das Ich sich an Maria wendet, weil sein Gebet auf direktem Wege keinen Zugang zum ,Re del cielo‘ findet, die (auf der Ebene der fiktiven Situation) einzig plausible ist, kann hier offen bleiben. Nur ist es für einen Autor wie Petrarca eine höchst bemerkenswerte und insofern interpretationsbedürftige Struktur, daß er nach der Anrufung Gottvaters eine Anrufung Mariens plaziert. 10 Es geht mir hier zunächst nur um die Identität der Signifikanten; daß im Fall Lauras ,körperliche‘, im Fall Mariens ,geistige‘ Schönheit gemeint ist, ist eine Frage, die ich später diskutiere.
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1. Vergine bella, che, di sol vestita, coronata di stelle, al sommo Sole piacesti sı` che ’n te Sua luce ascose, amor mi spinge a dir di te parole; ma non so ’ncominciar senza tu’ aita, et di Colui ch’amando in te si pose. Invoco lei che ben sempre rispose, chi la chiamo` con fede: Vergine, s’a mercede miseria extrema de l’humane cose gia` mai ti volse, al mio prego t’inchina, soccorri a la mia guerra, bench’i’ sia terra, et tu del ciel regina. Vergine saggia, et del bel numero una de le beate vergini prudenti, anzi la prima, et con piu` chiara lampa; o saldo scudo de l’afflicte genti contra’ colpi di Morte et di Fortuna, sotto ’l qual si triumpha, non pur scampa; o refrigerio al cieco ardor ch’avampa qui fra i mortali sciocchi: Vergine, que’ belli occhi che vider tristi la spietata stampa ne’ dolci membri del tuo caro figlio, volgi al mio dubio stato, che sconsigliato a te ve`n per consiglio. Vergine pura, d’ogni parte intera, del tuo parto gentil figliuola et madre, ch’allumi questa vita et l’altra adorni, per te il tuo figlio, et quel del sommo Padre, o fenestra del ciel lucente altera, venne a salvarne in su li extremi giorni; et fra tutti terreni altri soggiorni sola tu fosti electa, Vergine benedetta, che ’l pianto d’Eva in allegrezza torni. Fammi, che puoi, de la Sua gratia degno, senza fine o beata, gia` coronata nel superno regno. Vergine santa, d’ogni gratia piena, che per vera et altissima humiltate salisti al ciel onde miei preghi ascolti,
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Palinodie und Polysemie in der Mariencanzone tu partoristi il fonte di pietate, et di giustitia il sol, che rasserena il secol pien d’errori oscuri et folti; tre dolci et cari nomi a`i in te raccolti, madre, figliuola et sposa: Vergine glorı¨osa, donna del Re che nostri lacci a` sciolti et fatto ’l mondo libero et felice, ne le cui sante piaghe prego ch’appaghe il cor, vera beatrice. Vergine sola al mondo senza exempio, che ’l ciel di tue bellezze innamorasti, cui ne´ prima fu simil ne´ seconda, santi penseri, atti pietosi et casti al vero Dio sacrato et vivo tempio fecero in tua verginita` feconda. Per te po` la mia vita esser ioconda, s’a’ tuoi preghi, o Maria, Vergine dolce et pia, ove ’l fallo abondo`, la gratia abonda. Con le ginocchia de la mente inchine, prego che sia mia scorta, et la mia to`rta via drizzi a buon fine. Vergine chiara et stabile in eterno, di questo tempestoso mare stella, d’ogni fedel nocchier fidata guida, pon’ mente in che terribile procella i’ mi ritrovo sol, senza governo, et o` gia` da vicin l’ultime strida. Ma pur in te l’anima mia si fida, peccatrice, i’ nol nego, Vergine, ma ti prego che ’l tuo nemico del mio mal non rida: ricorditi che fece il peccar nostro prender Dio, per scamparne, humana carne al tuo virginal chiostro. Vergine, quante lagrime o` gia` sparte, quante lusinghe et quanti preghi indarno, pur per mia pena et per mio grave danno! Da poi ch’i’ nacqui in su la riva d’Arno, cercando or questa et or quel’altra parte, non e` stata mia vita altro ch’affanno. Mortal bellezza, atti et parole m’a`nno tutta ingombrata l’alma.
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Palinodie und Polysemie in der Mariencanzone Vergine sacra et alma, non tardar, ch’i’ son forse a l’ultimo anno. I dı` miei piu` correnti che saetta fra miserie et peccati sonsen’ andati, et sol Morte n’aspetta. Vergine, tale e` terra, et posto a` in doglia lo mio cor, che vivendo in pianto il tenne et de’ mille miei mali un non sapea: et per saperlo, pur quel che n’avenne foˆra avenuto, ch’ogni altra sua voglia era a me morte, et a lei fama rea. Or tu, Donna del ciel, tu nostra Dea (se dir lice, et convensi), Vergine d’alti sensi, tu vedi il tutto, et quel che non potea far altri, e` nulla a la tua gran vertute: por fine al mio dolore; ch’a te honore, et a me fia salute. Vergine, in cui o` tutta mia speranza che possi et vogli al gran bisogno aitarme, non mi lasciare in su l’extremo passo. Non guardar me, ma Chi degno` crearme; no ’l mio valor, ma l’alta Sua sembianza, ch’e` in me, ti mova a curar d’uom sı` basso. Medusa et l’error mio m’a`n fatto un sasso d’umor vano stillante: Vergine, tu di sante lagrime et pie adempi ’l meo cor lasso, ch’almen l’ultimo pianto sia devoto, senza terrestro limo, come fu ’l primo non d’insania vo`to. Vergine humana et nemica d’orgoglio, del comune principio amor t’induca: miserere d’un cor contrito humile. Che se poca mortal terra caduca amar con sı` mirabil fede soglio, che devro` far di te, cosa gentile? Se dal mio stato assai misero et vile per le tue man’ resurgo, Vergine, i’ sacro et purgo al tuo nome et penseri e ’ngegno et stile, la lingua e ’l cor, le lagrime e i sospiri. Scorgimi al miglior guado, et prendi in grado i cangiati desiri.
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Palinodie und Polysemie in der Mariencanzone Il dı` s’appressa, et non pote esser lunge, sı` corre il tempo et vola, Vergine unica et sola, e ’l cor or conscı¨entia or morte punge. Raccomandami al tuo Figliuol, verace homo et verace Dio, ch’accolga ’l mı¨o spirto ultimo in pace.
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„Vergine bella“ ⫺ diese Apostrophe, mit der die Canzone einsetzt, markiert denn auch schon, wie ich zeigen möchte, das wesentliche Prinzip, nach dem sie konstruiert ist. Dasjenige der beiden Wörter, welches das durch Position und grammatische Funktion privilegierte ist, verweist im Kontext der Zeit mit ziemlicher Eindeutigkeit auf Maria. Das zweite, ihm beigegebene Wort hat zwar auch seinen Stellenwert in den Marienlob-Diskursen, figuriert dort aber nicht, struktural gesprochen, an der Spitze der ,semantic features‘. Schön, richtiger: an erster Stelle schön, diese Qualifikation ist eher für solche weiblichen Wesen reserviert, die ganz irdisch sind, vor allem für diejenigen, die ein jeweiliger Sprecher aufgrund ihrer physischen Qualitäten bewundert und umwirbt 11. Da die Canzone von der Pragmatik her keinen eigenständigen Status hat, ihr vielmehr das in den voraufliegenden Gedichten Gesagte implizit ist, ruft das ,bella‘ im Bewußtsein des Lesers unvermeidlich diejenige bewunderte und umworbene Instanz auf, die im Zentrum jener Gedichte stand, Laura. Auch diese, so die im Canzoniere konstruierte Geschichte 12, ist immer keusch geblieben, ohne daß dies Merkmal jedoch so sehr im Vordergrund stünde, daß man es als dominantes ansetzen würde. Kurz: das erste Wort der Canzone verweist auf Maria, kann aber ohne weiteres, d. h. ohne das außerhalb dieser Canzone konstituierte ,Bild‘ der Betreffenden zu irritieren, auch auf Laura bezogen werden, für das zweite Wort gilt gleiches, mit der Maßgabe, daß die beiden Frauennamen gegeneinander auszutauschen wären. Oder etwas abstrakter formuliert: das Gedicht ist dominant eine Anrufung Mariens 13. Aber die Apostrophie11 Natürlich gibt es das Qualifikativ ,bello‘ in der spirituellen Bedeutung auch im orthodoxen Diskurs, man denke nur an Dante. Aber wie bei jeder Ausstattung eines Terminus mit einer sekundären Bedeutung ist dann ein Kontext verlangt, der die Eindeutigkeit des Gemeinten herstellt. - Man beachte im übrigen auch, daß Dante in seiner „Santa Orazione“ das Epitheton ,bella‘ nicht verwendet (s. Anm. 5). 12 Es geht hier nur um die ,textuelle‘ Laura, und nicht jene (möglichen) realen Pendants, denen man den Status der verheirateten Frau, der mehrfachen Mutter, etc., nachsagt. 13 Die Bezüge der Canzone zu den unterschiedlichsten Varianten des religiösen Diskurses (Bibel [ Altes und Neues Testament ], Kirchenväter, hohe und volkstümliche Tradition von Mariengebet und -lob) sind im Zuge intensiver Recherchen so gründlich herausgearbeitet worden, daß allenfalls Ergänzungen im Bereich von Details denkbar scheinen. Wichtig sind v. a. folgende Veröffentlichungen: C. Cavedoni, „La canzone di Francesco Petrarca in lode
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rungen der Muttergottes scheinen mit einiger Systematik so angelegt, daß sie zwar im Rahmen des traditionellen Marienlobs bleiben, jedoch aus dem Repertoire der Möglichkeiten nicht vorrangig jene auswählen, die aus dessen Sicht, d. h. letztlich: dogmatisch, zu dominieren hätten, sondern diejenigen, die mit dem semantischen Feld kompatibel sind, welches sich in den voraufliegenden Gedichten unter dem caput ,Laura‘ konstituiert hatte.
della beatissima Vergine Maria, illustrata co’ riscontri delle sacre scritture, de’ santi padri e della liturgia della chiesa“, in: C. C., Opuscoli religiosi, letterarj e morali, Bd. 10, Modena 1861, S. 3-20 (unter Bezugnahme auf die entsprechenden Vorarbeiten von L. Castelvetro bis L. Muratori). Cavedonis Beobachtungen liegen allen späteren Kommentaren, bis hin zu dem von Santagata, zugrunde. Auch Pietrobono (s. Anm. 7), S. 147 f., listet die wesentlichen zitathaften Referenzen auf biblische und liturgische Texte auf; s. weiterhin R. Soriani, „Dos composiciones a la Virgen: Fray Luis de Leo´n y Francesco Petrarca (una muestra de sorprendente analogı´a)“, Revista chilena de literatura Bd. 43/1993, S. 31-65; zur biblischen und mittelalterlich-theologischen Referenz der seit dem 19. Jahrhundert oftmals als gewagt oder mißglückt oder auch besonders ,poetisch‘ beurteilten Formulierung „Con le ginocchia de la mente inchine,/ prego […]“ (V. 63 f.) s. G. Martellotti, „Le ginocchia della mente“ (1961), wiedergedruckt in: G. M., Scritti petrarcheschi, hrsg. v. M. Feo/S. Rizzo, Padova 1983, S. 285-288. - M. Casali hat im einzelnen gezeigt, daß Petrarca in den Passagen des Canzoniere, die auf Schemata des religiösen Diskurses Bezug nehmen, oftmals eigene, lateinischsprachige Texte zitiert, die dem entsprechenden Diskurs zuzurechnen sind, und zwar insbesondere die Psalmi penitentiales („Petrarca ,penitenziale‘: dai Salmi alle Rime“, Lettere italiane Bd. 20/1968, S. 366-382; zu Canz. CCCLXVI s. S. 378 f.). Vermutlich liegen die Psalmi entstehungsgeschichtlich vor dem letzten Gedicht des Canzoniere, aber die Frage der Priorität zu diskutieren, ist für den hier verfolgten Kontext überflüssig. Der Hinweis von Casali möge für etwas stehen, das aus meiner (und anderweitiger) Sicht in Ansehung nicht zuletzt des Secretum als gesichert anzunehmen ist: daß Petrarca mit dem, was ich hier ,religiösen Diskurs‘ nenne, bestens vertraut war. Bezugnahmen positiver oder auch offen oder verdeckt polemischer Natur müssen als bewußte aufgefaßt werden, können nicht der ,Unkenntnis‘ eines ,eigentlich‘ nur an Literatur Interessierten zugeschlagen werden. - Inwieweit die letzten Subtilitäten von Petrarcas Bezugnahmen auf den religiösen Diskurs allgemeinem Verständnis zugänglich waren, muß offen bleiben. Aber auch den nicht mit den biblischen Originaltexten Vertrauten waren die Schemata, auf die Petrarca referiert, und insbesondere der, prima facie, enorm große Schematismus des Gesagten bekannt, und zwar aus der (anonymen) volkssprachlichen laudes-Tradition des Hochmittelalters (s. dazu A. di Rosa, „Le laude nella cultura poetica medioevale. Note per una ricerca“, in: Dal Medioevo al Petrarca. Miscellanea di studi in onore di Vittore Branca, Bd. 1, Firenze 1983, S. 449-458 [zu „Vergine bella“, mit reichem Material aus der laudes-Dichtung: S. 451 ff.]). - Die These der Präsenz des religiösen Diskurses wird in m. E. problematischer Weise überdehnt bei G. Pozzi, „Petrarca, i padri e soprattutto la Bibbia“, Studi Petrarcheschi, nuova serie, Bd. 6/1989, S. 125-169; für den gesamten Canzoniere (zu „Vergine bella“: S. 126-130) weist Pozzi nach, daß dieser in einem eminent höheren Maße die Väter, v. a. aber die Bibel, insbesondere die bilderreichen Bücher des Alten Testaments zitiert, als selbst diejenigen annehmen würden, für die kein Zweifel besteht, daß Petrarcas Humanismus ein christlich markierter ist. Um
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„Amor mi spinge a dir di te parole“ (V. 4), mit diesem Satz faßt der Sprecher nach der über drei Verse sich hinziehenden Apostrophe die Intention, mit der er sich an die Angeredete wendet. Abstrahiert man vom Kontext, würde man dieses Programm, mit dem der folgende, die gesamte Canzone integrierende Sprechakt bezeichnet ist, ohne weiteres einem zeitgenössischen mundanen Liebesdiskurs zuordnen. Daß er indes den marianischen Kontext nicht irritiert, liegt in der Polyvalenz des Terminus ,amor‘ begründet, in dem zusammenkommt, was in der Urform des religiösen Diskurses, auf den hier Bezug genommen ist, nach eros und agape getrennt wird. Zwischen dem Incipit und diesem höchst ambiguen vierten Vers, der letztlich auf die externe Ermöglichungsstruktur des Verfahrens verweist, über dem die Canzone operiert, liegt ein Vers, an dem sich nochmals beobachten läßt, was schon an dem Incipit auffällt: „[…] al sommo Sole/ piacesti sı` che ’n te Sua luce ascose“ ⫺ dies
Mißverständnissen vorzubeugen, betont Pozzi, daß sich die von ihm behauptete Petrarkische Bibelsprache durch ein entscheidendes Moment von Entsprechendem bei Dante unterscheide: Der Jüngere vindiziere keine allegorische Deutbarkeit seines Texts (S. 158). Viele der enorm zahlreichen Belege, die Pozzi bringt, sind schlagend. Bei einer noch größeren Anzahl indes stellt sich die Frage, ob hier eine signalisierte (d. h.: semiotisch relevante) Referenz auf die Bibel vorliegt, oder ob es sich nicht um Phänomene des Ausgreifens ursprünglich biblischer Bilder und Wendungen in das gehobene volgare einer Kultur handelt, die ungeachtet aller beginnenden Modernität in einem Maße von den Texten der christlichen Tradition geprägt war, wie dies aus späterer, zumal heutiger Sicht kaum noch vorstellbar erscheint. - Es sei nur der Vollständigkeit halber angefügt, daß - wie allgemein bekannt - das Marienlob schon vor Petrarca in den lyrischen Diskurs Eingang gefunden hatte. Zum entsprechenden Schema als Bestandteil ,profaner‘ Lyrik im Altfranzösischen und im Okzitanischen s. die gedrängte, aber höchst substantielle Studie von Perugi (s. Anm. 6), passim (mit reicher Dokumentierung der älteren Forschung, einschließlich der deutschsprachigen [D. Scheludko, V. Lowinsky]). Der im Titel genannte Cigala (gest. 1258) gilt Perugi v. a. in formaler Hinsicht (zehnstrophige Canzone) als Vorbild von Canz. CCCLXVI. Das Dilemma von Perugis Studie ist dasjenige, das praktisch alle Arbeiten kennzeichnet, denen es letztlich um den Nachweis einer nur begrenzten Originalität (wenn nicht: Unoriginalität) Petrarcas geht: Es ist richtig, daß es vor Petrarca Marienlob-Dichtung im Kontext mundaner Liebeslyrik, also mit palinodesker Funktion gab. Aber daß es vor Petrarca keine strikten, eine Biographie modellierende Zyklen nach Art von dessen Canzoniere gibt, ändert den Stellenwert solcher Marienlieder. Hinzu kommt, daß Petrarca nicht nur Lyriker ist und die palimpsestartige Präsenz seiner quasi-autobiographischen und moralphilosophischen Schriften im Canzoniere (und damit wiederum von deren philosophischen und theologischen Folien) dafür sorgt, daß die konzeptuelle Prägnanz der Lyrik dieses Canzoniere eine ganz andere ist als in den Texten der volkssprachlichen Vorgänger. Erst dies: den Liebesdiskurs in den Kontext von Moralphilosophie und Philosophie gestellt zu haben und für diesen Diskurs damit einen bis dahin nicht gekannten Rang zu reklamieren, macht den kanonischen Stellenwert von Petrarcas Canzoniere aus.
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scheint eindeutig auf Maria zu referieren. Aber diese Eindeutigkeit ist allererst eine aus dem Kontext extrapolierte. Denn das Faktum der Inkarnation Christi, vermittels der Geburt durch eine irdische Frau, ist hier nicht proprie, sondern figurativ codiert, und die dieses Faktum bezeichnenden Metaphern, die nicht von Petrarca gesetzte, sondern in dem zitierten religiösen Diskurs standardisierte sind, scheinen solche, die den Kontext eines mundanen Liebesdiskurses nicht ausschließen 14. Was in den originalen Texten und in deren autoritativer Auslegung ein Akt der Wahl ist, dessen Logik arkan bleibt 15: die Bestimmung Mariens zur Gottesmutter, wird hier zu einer Wahl, deren Logik das Gefallen („piacesti“) ist 16. Und der dort vom Schleier des Mysteriums verborgene Akt der Zeugung wird hier mit einem Satz gefaßt („che ’n te Sua luce ascose“), der das Eins-Werden zweier personaler Instanzen stilisiert, mit einer Formulierung, die zwar bar jeder kruden Körperlichkeit ist, aber gerade in dieser Zurichtung auch aus dem Repertoire jenes Diskurses einer diskret verhüllten Sinnlichkeit stammen könnte, vermittels dessen der Sprecher des Canzoniere Laura seine Liebe anträgt. Der in diesem dritten Vers formulierte Gedanke scheint mit dem Wortlaut von V. 6: „[…] Colui ch’amando in te si pose“ noch einmal beträchtlich in Richtung ,Sinnlichkeit‘ bzw. ,Fleischlichkeit‘ verschoben 17. Zum anderen ist er jedoch auch als poetisch überaus gelungene Formulierung des Paradoxons der Inkar-
14 Im Fall Petrarcas kommt natürlich hinzu, daß er das mythologische Repertoire der Ovidischen Metamorphosen passim auf die Liebe des Sprechers appliziert, besonders, wie allgemein bekannt, die Geschichte von der Liebe Apolls, des Sonnengottes, zu der dann in einen ,lauro‘ verwandelten Daphne (zur Funktionalisierung des Mythos im Canzoniere s. NoyerWeidner, „Zur Mythologieverwendung in Petrarcas Canzoniere“ [s. Anm. 5], passim). 15 S. Luc 1, 28 und 30 („Et ingressus Angelus ad eam dixit: ,Ave, gratia plena. Dominus tecum, benedicta tu in mulieribus. […]‘ Et ait Angelus ei: ,Ne timeas, Maria, invenisti enim gratiam apud Deum.‘ “). 16 Dieser Aspekt des ,Gefallens‘ allerdings auch, wie Santagata in seinem Kommentar zu V. 3 zu Recht hervorhebt, im offiziellen Marianismus („[…] sola sine exemplo placuisti Domino nostro Iesu Christo […]“ [Beata Dei genetrix, Maria, in: Breviarium Romanum, Officium S. Mariae in Sabbato, ad laudes]). - Zur Kommentierung aus meiner Sicht s. u., Pkt. 3. 17 Ich hebe hier nochmals ein Moment hervor, das meine gesamte Argumentation kennzeichnet: Es ist nicht so, daß Petrarca Maria eine ,Fleischlichkeit‘ zuschriebe, die ihr in der Tradition nicht zukäme. Gorni etwa verweist auf Dante („Nel ventre tuo si raccese l’amore“ [Par. 33, V. 7]) und bringt sodann eine Reihe von Zitaten aus zeitgenössischen laudes, die eine ähnliche, oft noch drastischere Körperlichkeit ausweisen („Petrarca Virgini“ [s. Anm. 4], S. 213 f.). Aber was den ganzen Unterschied der Maria etwa bei Dante zu der bei Petrarca ausmacht, ist, daß letzterer dieses Marienlob in einen mundanen Liebesdiskurs-Zyklus mit deutlichen sinnlichen Akzenten einbettet.
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nation lesbar: Das Kind, das Maria in ihrem Leib trägt, ist zugleich auch der Vater. Das an Laura appellierende Potential der noch nicht näher angesehenen Teile dieser drei ersten Verse des Texts („che, di sol vestita,/ coronata di stelle“) erwächst vorrangig daraus, daß die metaphorischen, insofern nicht eindeutig referierenden Paradies-Attribute, die hier auf Maria bezogen sind, in höchst prominenten Laura-Lob-Gedichten auf jene bezogen wurden 18, eben, um deren absolut exzeptionellen Status unter allen Frauen zu markieren, eine subjektive, auf den Sprecher des Canzoniere bezogene Seinshierarchie, in der Laura den Platz innehat, der in der ,objektiven‘ Hierarchie Maria zukommt, der ,ersten unter allen Frauen‘. Es bedarf nicht des Nachweises im einzelnen, daß die den Rest der ersten Strophe bestimmende Bitte an die Jungfrau, die sich in der Formel „soccorri a la mia guerra“ (V. 12) konzentriert, in genau dieser Form auch in zahlreichen an Laura gerichteten Gedichten zu finden ist. Dabei strapaziert Petrarca auch hier nicht die Grenzen des dogmatisch Erlaubten, wie beispielhaft an der Qualifizierung des Zustands des Sprechers („la mia guerra“) demonstriert sei. Die Auseinandersetzung mit der Sünde ist, wie Bibel und spätere Bibeldichtung sagen, ,Kampf‘ 19, aber auch die mundane Liebe ist, wie die lateinischen Lyriker formulieren, ,Krieg‘ (,militia‘, ,bellum‘ 20), wobei die im Canzoniere zu beobachtende tendenzielle Transformation des Liebeskampfs von einer Auseinandersetzung zwischen Liebendem und Geliebter zu einem Kampf in der Seele des Liebenden die zweifache Beziehbarkeit der Formulierung noch erhöht. Aus Ökonomiegründen werde ich nunmehr zu einer stärker selektiven Besprechung der Canzone übergehen. So möchte ich hier noch einmal resümieren, was mir auch für die folgenden Strophen, allerdings mit Variationen, von Belang erscheint: Es gibt keine Formulierung in dieser ersten Strophe, die das Schema des Marienanrufs irritierte. Petrarca geht es nicht um eine Subversion der Reue durch das Einbringen von Momenten, die als solche dem Schema heteronom wären. Aber aus dem Spektrum dessen, was das Muster ,Marienlob‘ vorhält, werden offensichtlich solche Elemente ausgewählt, die zugleich, sei es auf das Phänomen der korporealen Liebe als solche, sei es auf die Liebe des Sprechers zu Laura bezogen werden können. 18 S. u. a. Canz. XVII, V. 11; CLIII, V. 7; CLVII, V. 10. 19 S. v. a. Eph 6, 10-20; ausgearbeitet wird das Schema in Prudentius’ Psychomachia. 20 Ovid, Amores I, 9, bes. V. 1-4.
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Man müßte eventuell die letzten Wörter dieser ersten Strophe („tu del ciel regina“), die ja ⫺ im Unterschied zu ,virgo pulchra‘ ⫺ das primäre Marienattribut aufrufen (,regina coeli‘), davon ausnehmen, obwohl aufgrund von Petrarcas Deifizierung von Laura auch hier wieder Einschränkungen möglich wären 21. Aber für den gesamten Rest der Canzone ließe sich festhalten, daß kaum etwas, was dort über Maria gesagt wird, nicht auch über eine mundane Geliebte nach der Art, wie Petrarca sie in seinem Canzoniere entworfen hat, gesagt werden könnte. Diese zweifache Beziehbarkeit gilt für die weiteren Strophen der Canzone nicht in jedem Fall im selben Maße. Aber es ist nicht ohne Grund, daß Petrarca in dieser ersten Strophe in so durchgängiger Manier ambig formuliert. Er konditioniert damit den Blick seines Lesers für die entsprechende Struktur in den folgenden Strophen. Die zweite Strophe setzt ein mit etwas, von dem ich behauptet hatte, Petrarca würde es meiden, so daß man, sollten die folgenden Beobachtungen Bestand haben, reformulieren müßte, daß er es im Prinzip meidet: das Strapazieren der Register des religiösen Diskurses zugunsten einer um so stärkeren Insinuation von Repertoires, die eher in die Domäne des Diskurses der mundanen Liebe gehören. Dies geschieht indes in einer Weise, die verdeutlicht, wie sehr es dem Autor um die Wahrung einer orthodox unangreifbaren Generallinie zu tun ist, nämlich vermittels einer Bibelreferenz, dem Verweis auf die Parabel von den klugen und den törichten Jungfrauen (Mat 25, 1⫺13). Maria, die hier einleitend als „Vergine saggia“ angeredet wird (nicht anders als ,bella‘ eine im standardisierten Marien-Diskurs durchaus zu findende, aber weniger prominente Apostrophierung), sieht sich den „vergini prudenti“ zugeordnet, ja, sogar („anzi“) als deren ,erste‘ qualifiziert, „et con piu` chiara lampa“ (V. 16). Und Petrarca fährt auf dieser Linie fort, mit einer weiteren eindeutig markierten Bibelreferenz, wenn er auf Maria eine der dichterisch wirkungsmächtigsten dort entworfenen Allegorien appliziert, die vom Glauben als der Panoplie des Christenmenschen 22. Was nun all diese sichtlich orthodoxen Referenzen verdecken, ist dies: Maria ist, wie dieses Paradoxon des Glaubens hier gefaßt ist, „del tuo parto gentil figliuola et madre“ (V. 28), aber sie nimmt in bezug auf
21 Ich bringe weiter unten einige Belegstellen für diese im Prinzip indes erzbekannte Struktur (S. 188-190). 22 „[…]/ o saldo scudo de l’afflicte genti/ contra’ colpi di Morte et di Fortuna,/ sotto ’l qual si triumpha, non pur scampa;“ (V. 17-19); bezogen ist, wie schon gesagt (s. Anm. 19), Eph 6, 10 ff.
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Christus, soweit überschaubar, in der Regel nicht die dritte der Rollen ein, die, anthropologisch, eine Frau im Verhältnis zu einem Mann einnehmen kann. Gerade diese dritte Rolle indes ist es, auf die mit dem Verweis auf die biblische Parabel alludiert wird: Jene Jungfrauen, denen Maria hier subsumiert ist, warten bekanntlich auf Christus, den Bräutigam. Die Parabel ist eine der Quellen des Komplexes, der ,Brautmystik‘ heißt und der die abendländische Literatur in vielfältigster Weise inspiriert hat. Aber ,Braut Christi‘ ist die Kirche oder die Seele des Einzelnen 23, nicht Maria. Als eine der abstraktesten, am stärksten kulturalisierten 24 Erscheinungsformen des religiösen Bewußtseins hat die christliche Lehre, bei allem gewagten Ausgreifen, dasjenige Grundtabu, das die patriarchalische Stufe der Zivilisation auszeichnet, das Verbot des Inzests zwischen Mutter und Sohn, immer gewahrt 25.
23 - und in einem zwar auch geistigen, aber noch stärker individualisierten und insofern in gewisser Hinsicht ,wörtlicherem‘ Verständnis natürlich jede Nonne. 24 Hier verstanden im Sinne Freuds. 25 Zum Ausschluß von Mißverständnissen sei gesagt, daß ich hier über den religiösen Diskurs handele und nicht über dessen stets heftig umstrittene mystische Randzonen; aus dem gleichen Grund sei explizit gemacht, daß entsprechende Momente bei Petrarca nicht dort veranschlagt werden können. Schon für den Dante der Commedia kann man darüber diskutieren, ob ,Mystik‘ nicht ein eher schiefes Etikett ist. Was den Jüngeren betrifft, dürfte unstrittig sein, daß ihm jedes mystische Bewußtsein abgeht. Gerade in seiner Religiosität ist Petrarca, was er auch als Dichter stets ist: luzid, rational, gedanklich scharf. ,Unschärfe‘ ist bei ihm immer ein im Interesse der Reflexion bewußt hergestellter Effekt. - Es ist ein Dilemma aller mir bekannten Kommentare zu der Canzone, auch der neuesten, daß dort selten einmal der Schritt von traditioneller zu struktural aufgeklärter Philologie vollzogen ist. So vermag etwa Santagata sehr wohl einen Beleg aus Bernhards Liber de passione Christi beizubringen, in dem Maria über ihren Sohn klagt: „Nihil vivere amarius est quam vivere mihi post tuam mortem. Tu mihi pater, tu mihi mater, tu mihi sponsus, tu mihi filius, tu mihi omnia eras.“ (Patrologia latina Bd. 182, Sp. 1136; s. bei Santagata den Kommentar zu V. 47). Aber Santagata erörtert nicht, ob diese oder ähnliche Belege isolierten oder repräsentativen Status, d. h., welchen diskursiven Belang sie haben. Auf diese Weise erscheint alles, was Petrarca in seiner Canzone über Maria sagt, gleichermaßen gedeckt durch die Tradition des religiösen Diskurses, auf die er referiert. Gerade dies aber ist ein schiefes Bild. Petrarca sagt (vermutlich) nichts, was sich nicht als ein bereits mariologisch Gesagtes belegen ließe. Aber er privilegiert systematisch Randzonen jenes Diskurses, und zwar solche, die mit seinem Laura-Lob kompatibel sind. - Für mein Argument spricht, daß selbst Pozzi, der ansonsten in seinem Nachweis von Biblischem bei Petrarca oft allzu weit geht, hervorhebt, eine mariologische Applikation der Parabel von den Jungfrauen sei „non comune“ („Petrarca, i padri e soprattutto la Bibbia“ [s. Anm. 13], S. 128). Pozzis intensive Suche fördert als ,Quelle‘ einen Text zutage, in dem indes nicht Maria, sondern die Hl. Agnese, bzw. Agata, bzw. Cecilia als eine aus dem Kreis der ,klugen Jungfrauen‘ gepriesen werden (S. 128 f.).
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Warum indes Petrarca daran liegt, Maria nun auch mit der Rolle der ,Braut‘ auszustatten 26, liegt auf der Hand. Es ist eben diese und nur diese Rolle, die zu bewirken vermag, daß sich jenes beständige ,shifting‘ zwischen Marienlob und Laura-Lob, zwischen geistiger und weltlicher Liebe, um das es ihm nach meiner Lesart zu tun ist, im Bewußtsein der Rezipienten seines Texts ereignen kann. Im unmittelbaren Anschluß an die zwei Bibelreferenzen läßt der Autor denn auch das Pendel besonders weit in Richtung Laura-Diskurs ausschwingen: Wenn auch der Blick auf Maria geeignet sein mag, jene (sinnliche) Liebe ,abzukühlen‘, die den ,törichten‘ Liebenden wie eine Glut verzehrt, so hatte doch in den voraufliegenden Gedichten des Zyklus zwar nicht für die ,mortali‘ in ihrer Gesamtheit, wohl aber für den, der hier spricht, Laura in ihrer kühlen Sprödigkeit diese Funktion übernommen 27, und sie war dafür zuweilen angeklagt, zuweilen als gewissermaßen ,sittigende‘ Instanz, nicht anders als hier Maria, gepriesen worden. Die zweite Strophe schließt mit Formeln, die zunächst das Gegengewicht zu den ,korporealen‘ Akzenten der ersten acht Verse herzustellen scheinen, mit der verbalen Nachbildung einer Pieta`. Indes dürfte abgesehen von der Geburt, die in ihrem physischen Verlauf nicht dargestellt wird, die Klage Mariens um ihren zu Tode gemarterten Sohn diejenige Szene aus dem Leben der Himmelskönigin sein, die sie am nachhaltigsten in ihrer körperlichen, aufs Menschliche beschränkten Rolle erscheinen läßt, als „Vergine humana“, wie die letzte Strophe beginnen wird (V. 118) 28. Provokativ in mehrfacher Hinsicht sind dann allerdings die Schlußverse der zweiten Strophe, mit denen diese Pieta` vom Sprecher rhetorisch in Dienst genommen wird: So, wie die Jungfrau einst ihren gemarterten Sohn angesehen habe, möge sie nun ihn, den Sprecher, ansehen. Die ,Liebesmartern‘, das Hin- und Hergerissensein zwischen Hoffen auf Erfüllung und Enttäuschung, zwischen sinnlichem Begehren und Heilssorge, werden in Analogie gesetzt zu authentisch körperlichen Martern. Im Zuge dieser Parallele rückt sich der Sprecher ⫺ bei einem theo26 Dies dann später auch noch einmal in aller Explizität (s. V. 46 f.). 27 So u. a. in CCCLXIII, wo im Hinblick auf die tote Laura gesagt wird: „Non e` chi faccia et paventosi et baldi/ i miei penser’, ne´ chi li agghiacci et scaldi,/ […]“ (V. 6 f.); s. u. a. auch CXIX, V. 26-32 (viele entsprechende Stellen). 28 Die Körperlichkeit des Gekreuzigten wird hier dadurch besonders akzentuiert, daß die Formel der ,dolci membri‘ auch in zahlreichen Laura-Lob-Gedichten zur Bezeichnung der Physis der ,Angebeteten‘ verwendet wird (vgl. CXXVI, V. 2 [„belle membra“] und CLXXXIV, V. 10 f. [„[…] quelle belle care membra honeste/ che specchio eran di vera leggiadria;“]).
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logisch bewußten Autor wie Petrarca schwerlich unbemerkt ⫺ in eine höchst gewagt anmutende Analogie zu Christus selbst ein, wenn auch zu jenem ganz körperlichen Christus, der im Interesse des Heils für einen Moment der Heilsgeschichte sterblicher Mensch geworden war. ⫺ Diese nun nicht mehr ambiguen (zweifach beziehbaren), sondern die Seinsgrenzen in Frage stellenden Parallelisierungen sind aus den voraufliegenden Gedichten der Sammlung bekannt mit Bezug auf Laura 29. Ich würde dort wie hier in Zweifel ziehen wollen, daß Petrarca damit für Laura oder den Sprecher auf eine das Menschliche ,objektiv‘ übersteigende Dimension prätendieren möchte 30. Es scheint in diesen Fällen zum einen um das Markieren eines subjektiven Abweichens von jener Seinshierarchie zu gehen, um deren objektiven Status der Sprecher weiß, d. h. um eine Metapher, die transportiert, was im Secretum mit dem Syndrom des ,volui nec potui‘ gefaßt ist 31. Bemerkenswert wäre also, daß auch dieses Dokument einer explizit gemachten Reue durchaus nicht frei ist von massiven Zeugnissen der, wie dort ,Augustinus‘ sagt, andauernden ,Pervertierung der rechten Ordnung‘ im Bewußtsein des Sprechers 32. Hier, 29 Am provozierendsten wohl in Canz. IV: „Que’ ch’infinita providentia et arte/ mostro` nel suo mirabil magistero,/ che crio` questo et quell’altro hemispero,/ et mansueto piu´ Giove che Marte,// vegnendo in terra a ’lluminar le carte/ ch’avean molt’anni gia` celato il vero,/ tolse Giovanni da la rete et Piero,/ et nel regno del ciel fece lor parte.// Di se´, nascendo, a Roma non fe’ gratia,/ a Giudea sı`, tanto sovr’ogni stato/ humiltate exaltar sempre gli piacque;// ed or di picciol borgo un sol n’a` dato,/ tal che natura e ’l luogo si ringratia/ onde sı` bella donna al mondo nacque.“ 30 Wie dies etwa bei Dante der Fall sein mag, wenn jener seinem Wanderer das Privileg der Gottesschau sowie prophetische Fähigkeiten zuspricht. 31 Secretum (s. Anm. 8), S. 40. 32 Secretum, S. 146 f. („Ista [Laura] […] cui omnia debere te asseris, ista te peremit […] Ab amore celestium elongavit animum et a Creatore ad creaturam desiderium inclinavit […] [et] pervertit ordinem.“); zur oben im Anschluß angesprochenen Kontroverse um fama und immortalitas s. S. 188-214; zur Kommentierung s. ausführlich Vf., „Das Schweigen der Veritas“ (s. Anm. 8). - P. Williams insistiert in ihrer Analyse der Abweichung des Gedichts vom obligaten Beichtschema sehr stark auf dem Augustinischen Subtext und setzt die Canzone auf dieser Linie ganz mit dem Secretum gleich („Canzoniere 366: Petrarch’s Critique of Stoicism“, Italian Studies Bd. 51/1996, S. 27-43; s. bes. S. 37). So, wie es dort dem Sünder Franciscus nicht gelinge, sich aus eigener Kraft aus der Sünde zu befreien, gelinge ihm in dieser Canzone die Ablösung von Laura nicht. Sein Wille sei gespalten, so daß ihm nur die Bitte an Maria bleibe, bei ihrem Sohn um Gnade für ihn einzukommen. - Trotz partieller Berührungspunkte behaupte ich letztlich ganz anderes als Williams, die ja die Bitte an Maria als non-ambig sieht. Auch möchte ich hervorheben, daß Williams’ Hinweis auf das Secretum zwar, was das Konzeptuelle betrifft, berechtigt ist. Aber die Kritisierte sieht nicht, daß zwischen der diskursiven Dialektik des Dialogs und dem (im positiven, Petrarkischen Sinne) ,vagen‘ Gestus der Canzone Welten liegen, was die Versprachlichung betrifft.
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wo nicht Laura, sondern der Sprecher selbst tendenziell deifiziert ist, würde diese ,Verkehrung‘ wohl auf das Verlangen nach jener immortalitas zu beziehen sein, die er sich durch die fama zu erwerben gedenkt, welche ihm die Versprachlichung seiner Martern einbringen könnte. Wichtiger scheint mir aber im vorliegenden Fall das zweite Implikat der Struktur: Die Parallelisierung der Kreuzesmartern Christi mit den Liebesmartern des Sprechers macht besonders deutlich, daß es dem Autor des Texts um eine an die Wörter, die Signifikanten sich bindende Konfusion der Diskurse von eros und von agape zu tun ist. Wenn meine basale Behauptung trifft, daß es Petrarca in seiner Mariencanzone darum geht, in einem religiösen Diskurs den weltlichen Liebesdiskurs stets mitschwingen zu lassen, ohne aber diesen letzteren in eine Position der Dominanz zu bringen, liegt nahe, daß nach dieser hochriskanten zweiten Strophe sich das Pendel in Richtung eines ,frommen‘ Mariengebets im üblichen Sinne zu bewegen hat. In der Tat folgen zwei Strophen, die sich ganz auf Mariens Rolle als Muttergottes konzentrieren, die als solche (akzidentell) das Heil in die Welt gebracht hat, so, wie Eva die Sünde in die Welt gebracht hat. Dementsprechend tritt der von ihr Geborene („tu partoristi“ [V. 43]) in diesen zwei Strophen zwar nochmals als Gekreuzigter auf, jedoch nicht als gemarterter Leib, sondern als sich selbst opfernder Gott („[i]l Re che nostri lacci a` sciolti“ [V. 49]). Die Zonen der zweifachen Beziehbarkeit konzentrieren sich hier auf das Ende der jeweiligen Strophen, und sie sind vergleichsweise diskret. Wichtig erscheint an diesen Schlüssen vor allem, daß das Mitschwingen des mundanen Liebesdiskurses auch hier nicht zum Erliegen kommt, es sich vielmehr in diesen die zwei Eingangsstrophen gewissermaßen re-äquilibrierenden Strophen fortsetzt, um dann in der fünften und sechsten Strophe einen neuen Gipfel zu erklimmen. Das Ende der dritten Strophe erscheint mit dem Zitat der antithetischen Typologie Maria/Eva und mit der dort formulierten Bitte auf den ersten Blick ganz orthodox („Vergine benedetta,/ che ’l pianto d’Eva in allegrezza torni./ Fammi, che puoi, de la Sua gratia degno“ [V. 35 ⫺ 37]). Die Problematik dieser Bitte wird deutlich, wenn man sich die offizielle Gnadenlehre vergegenwärtigt: Im paradiesischen Urzustand verfügt das gottebenbildliche Wesen über die iustitia originalis. Mit dem Sündenfall ist dieses prinzipielle Gerecht-Sein-Können und damit auch Gerechtfertigt-Sein zunächst verspielt. Nach Jesu Christi Opfertod ist es jedem Menschen möglich, diesen Status wiederzuerlangen, allerdings nicht aus eigener Kraft (und insofern als ,Recht‘), sondern vermittels der Gnade. Um diese zu erlangen, bedarf es des Bekenntnisses durch die Taufe und
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sodann des aufrichtigen Versuchs, nach Gottes Geboten zu leben. Dieser Versuch dokumentiert sich in der Kontrolle der sündigen Impulse und, bei fallweisem Versagen, durch Reue, Beichte und Buße 33. ⫺ Der Sprecher bittet in diesen Versen im Klartext um Befreiung von seiner Sündenschuld. Denn dies ist das einzige, dessen er als Getaufter bedarf, um der göttlichen Gnade ,würdig‘ zu sein 34. Diese Befreiung allerdings vermag nur Gott zu gewähren; Maria kann ihren Sohn darum bitten, sie ist aber nicht in der Lage, solches zu wirken 35. Hinter der frommen Bitte („Fammi, che puoi“) verbirgt sich, daß Maria unzuständigkeitshalber angerufen wird, anders ausgedrückt: daß sie um ihrer selbst willen apostrophiert ist. Dezidiert hält der Sprecher am durchgängigen Bezug auf einen weiblichen Adressaten fest, und es ist erst diese ⫺ gegen das orthodox Gebotene ⫺ durchgehaltene Konstanz, was die Möglichkeit eröffnet, die mundane Lesart der Canzone stets präsent zu halten. ⫺ Gleichwohl mögen sich Zweifel daran regen, ob man diesen isolierten Vers ohne weiteres auf einen Liebesdiskurs hin umbesetzen könnte. Aus Sicht einer Zeit, die schon bald nach Petrarca beginnt, stünde dem entgegen, daß es nicht das angerufene weibliche Wesen selbst ist, sondern eine dritte Instanz, welche die (in mundaner Lesart) ,Gunst‘ („gratia“) zu erteilen hätte, um die gebeten wird. Zu veranschlagen sind hier indes jene höfisierenden Komplizierungen und Ritualisierungen, die für den Liebesdiskurs der Phase davor typisch sind und deren Horizont die auch noch bei Petrarca zu findende Konstellation aus Liebendem, Geliebter 33 Die oben skizzierten Verhältnisse umreißen das traditionschristliche (katholische) Verständnis, so, wie es in dieser Zeit etwa bei Thomas v. Aquin zu finden ist. Nun könnte man argumentieren, daß Petrarca als Autor und als stilisierte Figur, etwa als Franciscus des Secretum, dem Thomismus eher fernstand und Augustinist war. Aus Augustinischer wie aus späterer protestantischer Perspektive gibt es auch für den Getauften, Gläubigen und Reuigen keine ,Gnadenwürdigkeit‘. Aber es gibt erst recht keinen Marianismus. Was die theologischen Implikate angeht, ist die Canzone an dem Schema zu messen, auf das sie referiert, hier das des orthodoxen itinerarium mentis, welchen zu beschreiten dann garantiert, am rechten Ziel anzulangen. 34 Mit diesem Konzept: der Gnade würdig sein, gelingt es Petrarca, den Aspekt der gratuitas des göttlichen Gnadenerweises in poetischer Verdichtung zu bewahren. Wer einer Gabe würdig ist, wird diese Gabe in der Regel bekommen. Aber er hat kein Recht darauf. 35 Dementsprechend heißt die dogmatisch korrekte Form der Marienanrufung bekanntlich ,ora pro nobis‘. - Ich klammere hier das Problem der priesterlichen Mittlerstellung aus, das anders gelagert ist. Zentral ist, daß, was die himmlischen Instanzen anbelangt (d. h. diejenigen, an die man sich in einem Gebet wendet), in der Sündenvergebung nur für den trinitarischen Gott selbst Platz ist. Alles andere wäre ja auch, was die Kritiker des Katholizismus - angesichts der orthodoxen Auslegung unzutreffenderweise - seit jeher behaupten: Polytheismus.
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und Liebesgott ist. ⫺ In der vierten Strophe konzentriert sich die doppelte Beziehbarkeit auf den letzten Vers. Das nach ,appagamento‘ dürstende Herz ist eine Metapher des christlichen Diskurses, und die primäre Bedeutung ist hier durch den Kontext („ne le cui sante piaghe/ prego ch’appaghe il cor […]“ [V. 51 f.]) deutlich markiert. Andererseits ist nach Aristotelischer Lehre das Herz der Sitz des Liebesgefühls, und so sind denn in den Laura-Gedichten jene Verse Legion, in denen um ein Stillen des entsprechenden Begehrens gebeten wird. Gemäß dem sich immer deutlicher herauspräparierenden Muster macht sich das mitschwingende mundane Moment in der fünften und in der sechsten Strophe bis an die Grenze der semantischen Dominanz bemerkbar. Durch sparsame, aber wirkungsvolle orthodoxe Schlußakzente werden beide Strophen gegen das Dominant-Werden des mitschwingenden Moments gesichert. In der fünften figuriert, bezogen auf den Sprecher, ein prominentes, logisch intrikates gnadentheologisches Paulus-Zitat 36: „ove ’l fallo abondo`, la gratia abonda.“ (V. 62). Obwohl sich Petrarca, wie aus anderen Schriften erhellt, der Abgründe der Gnadentheologie sehr bewußt ist, scheint er hier nicht an erster Stelle die möglichen ,entlastenden‘ Implikate des Satzes von der Unvermeidlichkeit der Sünde anzuvisieren, als vielmehr, nach den noch zu kommentierenden Beinahe-Grenzüberschreitungen, die Rückkehr zu diskursiv eindeutig referenzierbaren, eben: religiösen Schemata zu markieren. In der sechsten Strophe schließlich wird das entsprechende Moment durch die Apostrophierung des ,altbösen Feinds‘ gewährleistet, den Maria nicht über die Seele des Sprechers triumphieren lassen möge (V. 74 f.) 37. 36 Rom 5, 20 („Ubi autem abundavit delictum, superabundavit gratia“). Es ist bekannt, daß die Deutung des Paulinischen Diktums in der folgenden Dogmengeschichte, v. a. in der Reformation, höchst umstritten war. 37 Ich schlage den leisen Zweifel an der eindeutigen Referenzierbarkeit, der mich angesichts der abschließenden drei Verse der Strophe (V. 76-78) befällt, dann doch eher meiner protestantischen Sozialisation zu, als daraus ein Argument zu machen. Aber abgesehen davon, ob Momente der wechselseitigen Vorteilsberechnung in der Heilsökonomie ihren legitimen Platz haben oder nicht, es bleibt festzuhalten, daß zwar nicht der Inhalt des dort insinuierten Güter-Tausches, wohl aber das entsprechende (Sprach-)Handlungsschema als solches in mundanen Kontexten einen prominenten Stellenwert hat, allererst im Bereich der Feudalität, und von dort ausgehend - in jener Zeit - auch in der Domäne der Liebesbeziehungen. - M. Petrini bringt ein Zitat, welches dem Passus entspricht. Allerdings sehe ich einen wesentlichen, bei Petrini nicht diskutierten Unterschied darin, daß Petrarca bzw. der Sprecher der Canzone das dort allgemein gehaltene Argument, in typischer superbia, auf die singuläre eigene Person zuspitzt und auf diese Weise eine Art Verpflichtung Mariens konstruiert, zugunsten seiner Person bei Gott zu intervenieren. („O Maria, multum audeo: nam nos tibi teque nobis naturae necessitudo devinxit, ut per nos id habeas esse quod es, nos vero per te id esse quod sumus: si enim nulla nostra pertransisset transgressio, non
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Ganz anders aber der Beginn der zwei Strophen; in der fünften markiert der zweite Vers sogleich den Höhepunkt der entsprechenden Struktur: Die ,einzigartige‘ Jungfrau habe ,mit ihrer Schönheit den Himmel sich in sie verlieben gemacht‘ („[…] che ’l ciel di tue bellezze innamorasti“ [V. 54]). Wie schon an dem Incipit fällt das ,foregrounding‘ der Schönheit der Angeredeten auf. Vor allem aber wird die Interpretation als einer rein geistig-moralischen Schönheit durch das hier eingesetzte Derivat des schon für sich genommen ambiguen Terminus ,amor‘: innamorare, und zwar in seiner eher aktivischen Variante 38 (jemanden in sich verlieben machen), zu einer allenfalls noch mit-denkbaren Möglichkeit. Hinzu kommt, daß es im dreihundertsechsundsechzigsten Gedicht eines Texts, der eine auf einem innamoramento gründende Vita thematisiert, schlechterdings unmöglich ist, von der mundanen Referenz des Terminus zu abstrahieren. Anders gewendet: Wäre es Petrarca nicht um genau diesen Effekt gegangen, hätte er für die ,Wahl‘, die der Himmel unter den Frauen traf, andere Kriterien thematisieren können als ein Sich-Verlieben aufgrund von Schönheit. Was in einem isolierten Marienlob-Gesang eventuell noch als poetische Metapher möglich wäre, gerät hier dadurch in die Zone des Riskanten, daß die Metapher bereits, als eigentlich verstandene, semantisch besetzt ist. Wäre auf diese Weise die Laura-Liebe das Eigentliche, und das Marienlob (nur) eine Metapher? Es bleibt bei dieser Frage, Antworten auf die von ihm eröffneten Probleme gibt dieser Text, obgleich Schlußtext, nicht. Und wie wäre schließlich jene ,iucunditas‘ zu verstehen, die die Angebetete, wenn sie nur wollte, in das Leben des Sprechers zu bringen vermöchte (V. 59)? Auch hier gilt, daß Traurigkeit, Melancholie (acedia) esset secuta nostra redemptio, et, si redimi nos non fuisset necesse, neque parere te redemptorem.“ [M. P., „La canzone alla Vergine“, Critica letteraria Bd. 82/1994, S. 33-42, hier: S. 36 (ohne Angabe der Fundstelle); der entsprechende Hinweis findet sich in dieser bzw. in noch stärker rudimentärer Form in den meisten der von mir zitierten einschlägigen Untersuchungen. Das Zitat wird dort, wie auch bei Petrini, stets Augustinus zugeschrieben. Ich habe den Passus in den Schriften des Bischofs von Hippo nicht identifizieren können und bezweifle, daß er dort zu finden ist.]) 38 Es sollte evident sein, daß das ,Aktiv‘ v. a. grammatisch zu verstehen ist. Der Wortlaut insinuiert nicht etwa, Maria habe (semantisch) aktiv gehandelt, gar ,kokettiert‘, um den beschriebenen Effekt zu erreichen. Indes zählen in einem Diskurs, der ambig dort ist, wo vom Referenzschema her Unzweideutigkeit geboten wäre, auch solche Nuancen. Die zitierte Formel ist nicht heterodox, aber sie ,paßt‘ vom ganzen Profil her eher zu dem Beginn einer weltlichen Liebe als zu der entscheidenden Etappe der Heilsgeschichte, und sie wird tendenziell problematisch, wenn sie im Kontext eines Zyklus figuriert, dessen Thema eine eben solche weltliche Liebesgeschichte ist.
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nach dem Heilsakt, an dem Maria akzidentell teil hat, eine Sünde ist. Aber sehe ich die Dinge völlig falsch, wenn ich meine, jene ,Freude‘ (gaudium), mit der ein getaufter Christ auf die Welt und sein Leben blicken sollte, sei mit ,iocondo‘ zumindest schief bzw. mißverständlich bezeichnet, mit der Absicht eben jenes semantischen shifting, von dem ich behaupte, es konstituiere das grundlegende Verfahren der Canzone? ,Iucunditas‘ ist ein Wort, welches sich zwar in die Volkssprachen tradiert hat (bezeichnenderweise nicht in alle), aber zu einem raren Wort geworden ist. Jene ,mittlere‘ Zone des Wohlbehagens, des Eins-Seins mit dem Gegebenen, fällt in christlicher Zeit als ,Angenehmes‘ der Abwertung anheim 39. Was in der iucunditas zusammenkommt, das Sinnenhaft-Körperliche und das Geistige, tritt auseinander und entfaltet sich zur Opposition von ,piacere‘ und ,gioia‘ 40. Im Rest der fünften und zu Beginn der sechsten Strophe referiert der Sprecher auf zwei der bekanntesten Allegorien der christlich-didaktischen Literatur: der des Lebens als einer Wanderung (V. 64 f.) und der als einer Reise über das Meer (V. 66⫺71) 41. Beide Allegorien werden hier in ihrer orthodoxen Zurichtung zitiert. Die Jungfrau möge ihn geleiten und dafür Sorge tragen, daß er letztlich doch ans rechte Ziel, d. h. ins Paradies gelange, ungeachtet dessen, daß sein Weg ein ,gewundener‘ war. Ausführlicher noch die Schiffahrtsallegorie: Der Sprecher sei mit seinem (Lebens-)Schiff in einen ,schrecklichen Sturm‘ geraten, das Ruder („governo“) sei bereits zerbrochen, so daß er den unmittelbaren Tod (der Seele) fürchtet. In dieser Situation bittet er Maria, gemäß ihrem traditionellen Beinamen ,stella maris‘, ihm zum Leitstern zu werden und aus der Gefahr zu erretten. Was nun diese zwei auf den ersten Blick authentisch-orthodoxen Allegorien sekundär so problematisch macht, ist dies: Während derjeni39 Dies betrifft bekanntermaßen auch noch die säkularisierten Varianten des christlichen Diskurses, etwa den Diskurs der philosophischen Ästhetik (s. etwa I. Kant, Kritik der Urteilskraft, § 3). 40 S. A. Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch, Heidelberg 1939, Eintrag ,iucundus‘; W. v. Wartburgs FEW und W. Meyer-Lübkes REW verzeichnen das Etymon überhaupt nicht. Um alle Mißverständnisse auszuschließen: Zentral ist allein der Aspekt der Dissoziierung und sodann der oppositiven Konzeptualisierung jener zwei Arten von Glück/Freude; ,placere‘ bezeichnet in der Regel die sinnliche Variante, aber es kann natürlich auch in einem je gegebenen Fall, dann in metaphorischer Verwendung, die ,geistige‘ Freude bezeichnen (vgl. etwa das schon zitierte Mariengebet aus der Commedia [Anm. 5], V. 33). 41 Die zwei grundlegenden Darstellungen zu dem Komplex sind W. Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970, und H. Rahner, „Antenna crucis“, in: H. R., Symbole der Kirche. Die Ekklesiologie der Väter, Salzburg 1964, S. 239-564.
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gen Phase seines Lebens, von der der Sprecher hier sagt, er wolle ihr abschwören, hatte er eben diese Allegorien auf Laura bezogen und also profaniert 42. Die ,dritta via‘, von der er zuweilen abgewichen ist, war dort der Weg des Laura-Kults 43. Und wenn er in Canz. CLXXXIX über den Verlust seines Leitsterns und den bevorstehenden Tod in den Wogen des Meeres klagt, so referiert er damit auf die Geliebte, die zu jenem Zeitpunkt nicht mehr unter den Lebenden weilt. 44 Nun könnte man behaupten, daß wenn sich die Dinge so verhalten wie skizziert, doch genau dies authentische Reue sei: die ,falsche‘, ,irregeleitete‘ Indienstnahme einer Struktur zu revozieren und sie durch die richtige zu ersetzen. Zumindest im Kontext dieser beiden Allegorien, die ja als solche für sich abgeschlossene, kleine Geschichten konstituieren, fehlt es dazu aber an einem entscheidenden Moment, der expliziten Kontrastierung von einstiger ,fehlerhafter‘ und nunmehriger ,rechter‘ Haltung. Die hier auf Maria applizierte Metapher des Leitsterns wird an anderer Stelle der Sammlung auf eine andere Frau und ein anderes Verständnis des polysemen Terminus ,amor‘ bezogen. Das einzige Moment, das den Schluß auf eine Hierarchisierung der beiden Verwendungskontexte erlaubte, ist die zeitliche Abfolge. Dessen konklusiver Status wird indes durch die dem Leser vertrauten Relapsus konterkariert 45.
42 S. v. a. „Passa la nave mia colma d’oblio“, sowie „Chi e` fermato di menar sua vita“; s. weiterhin CXXXII, V. 11; CCVI, V. 26; CCLXXVII, V. 7 f. 43 Vgl. CXIX, V. 84-87: „ ,[…]/ et se mai da la via dritta mi torsi,/ duolmene forte, assai piu` ch’i’ non mostro;/ ma se de l’esser vostro/ fossi degno udir piu`, del desir ardo.‘ “ (Rede des Ichs an Laura); anhand der anderen hier figurierenden Allegorie auch mit plakativer Deutlichkeit in V. 13-15 („[…]/ tal che, s’i’ arrivo al disiato porto,/ spero per lei gran tempo/ viver […]“). 44 Ich habe in meiner Deutung des Gedichts argumentiert, daß der Autor Petrarca die Sprecherinstanz so modelliert, daß diese sich - unbewußt - mit dem, was sie sagt, moraltheologisch die Diagnose stellt. Entsprechendes ließe sich für zahlreiche Gedichte des Zyklus behaupten. Aber im Kontext des Liebesdiskurses hat das Sonett natürlich zunächst die Funktion der Trauer über das (physische) Entzogensein von Laura. Das Schema, über dem die Klage operiert, die ja als Klage nicht notwendigerweise dieses Schema zitieren müßte, sorgt dann für die Struktur der dem (fiktiven) Sprecher unbewußten Selbstbewertung („Schiffsreise und Seelenflug. Zur Refunktionalisierung christlicher Bilderwelten im Canzoniere [Mit einem Post-Scriptum zur Singularität des Lyrikers Petrarca sowie zur epistemologischen Differenz von Literarhistorie und Diskursarchäologie]“, wiedergedruckt in dsem. Bd., S. 89-114). 45 Die religiöse Formel des „miserere“ begegnet bereits in „Padre del ciel“ (V. 12). Das Gedicht trägt die Nr. LXII, und die zeitliche Erstreckung der Liebesgeschichte wird dort mit elf Jahren angegeben (V. 9). Dagegen zu halten wäre Canz. CCCLXIV, das bekanntlich mit dem Vers anhebt „Tennemi Amor anni ventuno ardendo“.
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So bewirkt denn das Ausfallen einer sprachlichen Markierung der Hierarchien, daß in der Anrufung des Leitsterns Maria die Vorstellung von Laura als Leitstern subdominant weiterhin präsent ist. Dieses Meiden der Vereindeutigung fällt nicht zuletzt deshalb auf, weil Petrarca in dem unmittelbar vorhergehenden Gedicht unter Verwendung des gleichen Metaphernmaterials demonstriert hatte, wie sich solche Eindeutigkeit sprachlich herstellen läßt: „sı` che, s’io vissi in guerra et in tempesta,/ mora in pace et in porto […]“ (CCCLXV, V. 9 f.). Das Einstige und das Jetzige sind dort durch die Tempora strikt getrennt. Dem korrespondiert eine gleich strikte Trennung auf der Ebene der Metaphorik. ,Krieg‘, ,Sturm‘, ,Frieden‘ und ,Hafen‘, Termini, die in der Canzone allesamt mit Maria verbunden werden, so, wie sie in den Laura-Lob-Gedichten allesamt mit Laura verbunden wurden, sind dissoziiert. „Guerra“ und „tempesta“ stehen für das, was war, der Wunsch nach einem Ende „in pace et in porto“ für das, was in der Gegenwart des reuigen Sprechers ist. In der Canzone hingegen eröffnet die skizzierte semantische Unschärfe zumindest als Möglichkeit etwas, das im weiteren Verlauf mit einer Deutlichkeit akzentuiert wird, welche das Gesagte eventuell doch über die Grenzen eines Reuediskurses hinausgehen macht: Es könnte sein, daß die Hinwendung zu Maria nicht in der Erkenntnis der ab ovo gegebenen Sündhaftigkeit der Hinwendung zu Laura motiviert ist, sondern darin, daß die weltliche Liebe ohne Erfüllung blieb und zu dem Zeitpunkt, in dem der Sprecher sich artikuliert, auf Weltliches nicht mehr zu hoffen ist. Dies wiederum hieße, daß die prinzipielle Entsagung der irdischen Liebe, die der Text zu formulieren scheint, eine vermeintliche wäre. Die Palinodie wäre eine akzidentelle. Damit wiederum wäre das in dem Mariengebet mitschwingende Moment, der Diskurs der weltlichen Liebe, als Potentialität bewahrt 46. Diese Möglichkeit drängt sich auch deshalb ins Bewußtsein des Lesers, weil die Klage über das vergangene Leben, die in der siebten Strophe anhebt, im Grunde nicht von den zahlreichen Klage-Gedichten zu unterscheiden ist, mit denen der Sprecher seine über Jahrzehnte andauernde Liebesgeschichte orchestriert 47. Vor allem wissen wir als Leser der 46 Die eventuellen Konsequenzen eines solchen Bewahrens des mundanen Liebesdiskurses als einer Möglichkeit werden in der unmittelbar vorhergehenden Anmerkung genannt. 47 Das Faktum wird klar erfaßt in den immer und immer wieder zitierten Worten von F. De Sanctis: „[…] abbondante di contrapposti e di pensieri ingegnosi, ma povera d’immagini e d’affetto, vorrebbe essere un inno, e casca nell’elegia; vorrebbe spaziare ne’ cieli, e rimane nella terra.“ (Saggio critico sul Petrarca, hrsg. v. E. Bonora [= Opere, Bd. 10], Bari 1954, S. 214). Gemäß dem Geist der Literaturwissenschaft seiner Zeit sieht De Sanctis die Konstellation
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Sammlung, daß das Lamentieren über ,[la] mia pena‘, über ,[il] mio grave danno‘, über die ,affanni‘, die ,doglia‘, den ,pianto‘ und die daraus resultierende Todeserwartung, wenn nicht Todessehnsucht („et sol Morte n’aspetta“ [V. 91]), den Sprecher in keiner Weise von seiner Liebe zu kurieren vermochten. Und so gipfelt denn diese möglicherweise nur vermeintliche Abkehr in einem Akt, den man mit Hegel den einer ,Versöhnung mit der Wirklichkeit‘ 48 nennen könnte: Wenn aufgrund von Lauras Sprödigkeit diese Liebe unerfüllt blieb, so war dies gut, nicht jedoch, weil der ,Vollzug‘ den Sprecher bleibend in die luxuria gestürzt hätte, sondern „era a me morte, et a lei fama rea.“ (V. 97). Was über die möglichen Konsequenzen für Laura gesagt wird, schließt es aus, daß der Tod, den in diesem Fall der Sprecher zu gewärtigen gehabt hätte, der der Seele gewesen wäre. Auch für einen selbstbewußten Menschen wie den Sprecher des Canzoniere (um nicht zu sagen: Petrarca) ist schwerlich anzunehmen, daß er einem Handeln für die eigene Person metaphysische Dimension zumäße, das für andere nur rein weltliche („fama“) Konsequenzen hätte. Jener ,Tod‘, der ihn in diesem Fall ereilt hätte, ist wohl zu verstehen wie die vielen metaphorischen Tode, die er im Zuge seiner Liebesgeschichte zu erleiden behauptet, als Bild des maximalen Unglücklichseins 49. Kurz: die Laura-Liebe war aus Sicht des Sprechers, wie er schon zuvor gelegentlich und nunmehr in aller Deutlichkeit erkennt, intrinsisch unglücklich, gleich, ob sie nun, wie tatsächlich, unerfüllt blieb, oder ob sie Erfüllung gefunden hätte. Primär aus resignierender Einsicht in die Notwendigkeit seines Unglücks, so scheint es in dieser Strophe, allenfalls sekundär aus Sündenbewußtsein wendet er sich Maria zu, als der ,Frau‘, die nun auch nicht mehr in Opposition zu Laura gesetzt, sondern im Verhältnis zu jener skaliert wird: Wenn die hervorstechende Eigenschaft Lauras die „vertute“ war, so ist diese doch ein ,Nichts‘ im Verhältnis zu der entsprechenden Eigenschaft Mariens („e` nulla a la tua gran vertute“ [V. 102]). Nochmals schwingt das Pendel zurück, in der vorletzten Strophe. Nunmehr wird das zurückliegende Leben doch mit dem Terminus „erbiographistisch, als Indiz des ,Unvermögens‘ Petrarcas, sich von Laura zu lösen. Diese Begrenztheiten ändern nichts an der Richtigkeit der Beobachtung. 48 Der berühmte Aphorismus von der Identität des Wirklichen und des Vernünftigen, einschließlich der oben zitierten Kommentierung, in der „Vorrede“ zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts. 49 Ich möchte also die einigermaßen banalisierende Deutung als eines physischen Todes infolge eines Übermaßes an Glück eher ausschließen, halte sie aber im Gegensatz zu der anderen genannten Variante für durchaus möglich.
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ror“ belegt (V. 111), der Sprecher bittet Maria um Hilfe für seinen gottebenbildlichen Part, d. h. für seine Seele („Non guardar me […]/ no ’l mio valor, ma l’alta Sua sembianza,/ ch’e` in me, ti mova a curar d’uom sı` basso.“ [V. 108⫺110]), marginalisiert mit dieser Relativierung des Leibes auch seine sehr konkreten fleischlichen Sünden, insinuiert aber mit der vielfach als seltsam empfundenen Apostrophierung der sanftmütigen Laura als einer „Medusa“ (V. 111) 50 nun nochmals, daß nicht die weltliche Liebe als solche verurteilenswert, sondern seine persönliche Liebe akzidentell unglücklich gewesen sei, und scheint sich mit der abschließenden Qualifizierung seiner einstigen Haltung als „insania“ (V. 117) ⫺ einem pathologischen und nicht moralphilosophischen bzw. -theologischen Terminus ⫺ fast ganz von der Verantwortung für sein Tun freisprechen zu wollen. So ist denn in der zehnten und letzten Strophe die Himmelskönigin wieder allererst zu dem geworden, was sie schon mit dem Incipit aus Sicht des Sprechers zu sein schien, zu einer menschlichen Instanz, die der Sprecher im Namen des ,gemeinsamen Ursprungs‘, d. h. der korporealen Verfaßtheit, um Liebe („amor“) bittet. Andererseits fällt hier erstmals und zum einzigen Mal das Stichwort der ,contritio‘ (V. 120), so daß, verstärkt durch die religiöse Formel des „miserere“, jener „amor“ eindeutig als caritas besetzt scheint. Was aber ist, wenn es um contritio ginge, d. h. um eine von der Ratio reflektierte, unzweideutig gewollte und definitive Abkehr vom Einstigen, von den unmittelbar folgenden Versen zu halten, in denen Maria mit einem auf den Liebesdiskurs referierenden Terminus apostrophiert ist (,cosa gentile‘) und sie zu Laura nicht in Opposition gesetzt, sondern, wie schon im Falle der ,vertute‘, als ein Wesen bezeichnet wird, das ,mehr‘ von dem habe bzw. dem ,mehr‘ von dem zukomme, für das der Sprecher bislang dachte, Laura
50 Der mythische Name dient hier auch der Einführung des Aspekts der ,Versteinerung‘ infolge von übergroßem Unglück. Über die noch heute geläufige metaphorische Dimension hinaus hat diese Metapher einen eigenen Stellenwert im Rahmen des medizinischen Diskurses über die Liebe, von dem ich an anderer Stelle behauptet habe, daß der Canzoniere auf ihn referiere („(H)er(e)os. Der Canzoniere und der medizinische Diskurs seiner Zeit [Mit einer Nachbemerkung zur Kontingenz des Entstehens von Texten epochalen Rangs]“, wiedergedruckt in dsem. Bd., S. 115-161). - K. Foster deutet das Stichwort ,Medusa‘ als Indiz einer „revulsion from her [Laura]“ („Beatrice or Medusa“, in: Italian Studies Presented to Eric R. Vincent, hrsg. v. Ch. P. Brand, K. F. u. U. Limentani, Cambridge 1962, S. 41-56, hier: S. 41), setzt allerdings hinzu, daß die mythologische Metapher, entgegen dem, was man zunächst denken würde, nicht als negative Qualifizierung von Laura gemeint ist: „If she harmed her lover the fault was his; it was his ,error‘ that made her a Medusa.“ (S. 53).
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repräsentiere den Gipfel („Che se poca mortal terra caduca/ amar con sı` mirabil fede soglio,/ che devro` far di te, cosa gentile?“ [V. 121 ⫺ 123]). Isoliert man die drei Verse, möchte man meinen, der Sprecher habe endlich die seiner Liebe einzig Würdige gefunden, nachdem er bislang einer Frau angehangen hat, die dies recht eigentlich nicht verdiente und die nur vermeintlicherweise war, was ⫺ wie er nunmehr weiß ⫺ nur Maria ist: „Vergine sola al mondo senza exempio“ (V. 53). In der Tat ist Maria genau dies. Die Formulierung ist orthodox gesehen unangreifbar. Eben weil dies so ist, reicht denn als immanent glaubwürdiger Akt der tätigen Reue hin, daß der Sprecher sich und seine Werke, insbesondere seine Liebesdichtung, ,reinigt und heiligt‘, indem er sie Maria darbietet („Vergine, i’ sacro et purgo/ al tuo nome et penseri e ’ngegno et stile,/ la lingua e ’l cor, le lagrime e i sospiri“ [V. 126 ⫺ 128]). Er vernichtet die Zeugnisse seiner sündhaften Vergangenheit nicht; er korrigiert sie nicht; er beläßt sie, wie sie sind, und widmet sie (schlicht) um 51. Aber die zitierte Apostrophe aus V. 53 ist, und dies ist das entscheidende Moment, auch ganz anders als orthodox auffaßbar. In den LauraLob-Gedichten diente sie der Singularisierung der Geliebten aus Sicht des Sprechers 52. Diese Konstellation ist es, was der zunächst so glaubwürdigen Reue durch Umwidmung die abgründigen Akzente verleiht. 2. Ich hoffe, mit der rudimentären Besprechung der Canzone folgendes gezeigt zu haben: Der Text erbringt das Schema der Marienanrufung. Er 51 Mit der Autorität seines Standes hat Foster (O. P.) zu diesem Akt ,tätiger Reue‘ alles Notwendige gesagt: „But it was by then, of course, too late; and he knew it. Placing ,Vergine bella‘ at the end of his book, he was well aware that the Muse of the Canzoniere as a whole was not Mary but Laura.“ („Beatrice or Medusa“, S. 50). - Foster selbst gewinnt seine Skepsis gegen ein Wörtlichnehmen des Reueschemas aus anderen Ressourcen als ich. Er identifiziert den Sprecher des Canzoniere mit dem realen Autor (was im Stil seiner Generation nicht problematisch ist) und gewinnt aus dessen späteren Werken, v. a. dem Triumphus Aeternitatis und dem Triumphus Mortis, ein eher positives Bild der Laura-Liebe: Weil diese sich dem Liebenden verweigert habe und früh verstorben sei, habe sie letztlich doch mitgeholfen, dessen Blick aufs Wesentliche zu lenken (S. 53 f.). 52 Santagata nennt folgende Stellen: „o belta` senza exempio altera et rara“ (CCXCV, V. 10); „[colei] che fu sola a’ suoi dı` cosa perfetta“ (CCCXXV, V. 43); „et da colei che fu nel mondo sola“ (CCCLX, V. 120). - Zu dem semantisch parallelen V. 133 („Vergine unica et sola“) verweist Santagata, was die entsprechende Qualifizierung Lauras angeht, auf CLXXXV, V. 11 („[…] bellezza unica et sola“).
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überschreitet dessen Vorgaben nicht. Er tut dies aber auf eine Weise, die systematisch jene Zonen des marianischen bzw. religiösen Diskurses privilegiert, die in Abstraktion vom expliziten Kontext gleichermaßen Anwendung auf eine mundane Liebes-Rede finden könnten. Dies kann allerdings nur dann die von mir behaupteten Effekte auslösen, wenn andererseits der mundane Liebesdiskurs des Zyklus, dem die Canzone zugehört, mit einiger Markiertheit solche Zonen privilegiert, die, mutatis mutandis, gleichermaßen in einem religiösen Diskurs ihren Platz haben könnten. Den seit dem 19. Jahrhundert immer wieder geführten Nachweisen, daß dieser oder jener in der Canzone auf die Himmelskönigin bezogene Terminus zuvor schon für Laura Anwendung gefunden hatte, ist aus meiner Sicht nichts Wesentliches hinzuzufügen 53. Aber es kann hier nicht bei einem Verweis auf die Forschung bleiben. Zumindest einige der schlagendsten Überschneidungen zwischen Laura- und Mariendiskurs, nunmehr nicht in Form einer ,Humanisierung‘ der Himmelskönigin, sondern einer ,Sakralisierung‘ Lauras, seien in Erinnerung gerufen, um das von Petrarca in der Canzone verwendete Verfahren voll zur Anschauung kommen zu lassen, bevor ich mich dann zu Perspektiven einer weitergehenden Einordnung des Textbefunds äußern werde. Die Sonnenmetapher, mit der die Himmelskönigin einleitend gefaßt wird, findet in zahlreichen Gedichten, am nachhaltigsten wohl in der Canzone „Una donna piu` bella assai che ’l sole“ (CXIX), nicht weniger auch auf Laura Anwendung, von der an anderer Stelle denn auch gesagt wird: „[…] sparisce et fugge/ ogni altro lume dove ’l vostro splende“ (LXXII, V. 40 f.). In Canz. XC heißt es: „Non era l’andar suo cosa mortale,/ ma d’angelica forma, et le parole/ sonavan altro che pur voce humana:// uno spirto celeste, un vivo sole/ fu quel ch’i’ vidi […]“ (V.
53 Zu den Parallelen zwischen den Apostrophierungen Mariens und den vorangehenden Apostrophierungen Lauras s. eingehend A. S. Bernardo, Petrarch, Laura and the ,Triumphs‘, New York, N. Y. 1974, S. 153-159, sowie J. Tilden, „Spiritual Conflict in Petrarch’s Canzoniere“, in: Schalk (Hrsg.), Petrarca, 1304-1374 (s. Anm. 5), S. 287-319, hier: S. 314; s. weiterhin die Auflistung einiger dort übersehener Stellen bei F. Suitner, Petrarca e la tradizione stilnovistica, Firenze 1977, S. 157-165, hier: S. 158 f. Wichtig an Suitners Aufsatz ist die von ihm keiner weitergehenden Interpretation zugeführte Beobachtung, daß Petrarcas Marienlob, rein positivistisch gesehen, deshalb eine so große Nähe zum Laura-Lob erreichen kann, weil dies letztere eine Fortführung des stilnovistischen Frauenlobs darstellt (Suitner erinnert an zahlreiche bekannte ,idolatrisierende‘ Formulierungen bei Cavalcanti und Cino da Pistoia [S. 160 f.]), das wiederum sich aus dem Fundus des „lessico e stilemi di provenienza biblica ed agiografica“ bedient hatte (S. 160).
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9⫺13). Dementsprechend wird auch Laura als Mittlerin zum Heil bezeichnet: „Gentil mia donna, i’ veggio/ nel mover de’ vostr’occhi un dolce lume/ che mi mostra la via ch’al ciel conduce;/ […]/ Questa e` la vista ch’a ben far m’induce,/ et che mi scorge al glorı¨oso fine;“ (LXXII, V. 1⫺8). Das in der Canzone auf Maria applizierte ,vera beatrice‘ (V. 52) mag auf den ersten Blick wie eine Absage an eine ,falsa beatrice‘ erscheinen, für die Laura einzusetzen wäre. Doch ist zumal im Kontext eines religiös affiliierten Diskurses zu veranschlagen, daß ,verus‘ in der Terminologie der figura die einlösende Instanz markiert 54, so daß sich als Alternative zum Konzept einer Opposition von Maria und Laura das der Vorwegnahme und Erfüllung denken ließe. Sieht man indes diejenigen Gedichte an, in denen Laura als ,beatifizierende‘ Instanz qualifiziert ist, wird man auch diese letztere Möglichkeit noch als allzu vorsichtig bezeichnen müssen. In nicht wenigen Stücken des Zyklus ist niemand anders denn Laura die ultimative ,beatrice‘ („dolce del mio penser hora beatrice,/ che vince ogni alta speme, ogni desio.// Et se non fusse il suo fuggir sı` ratto,/ piu` non demanderei: che s’alcun vive/ sol d’odore […]/ […]/ i’ perche´ non de la vostra alma vista?“ [CXCI, V. 7⫺14]) 55. Dementsprechend finden sich auch Stellen, an denen das Ansichtig-Werden von Laura rundweg mit der visio beatifica des Paradieses selbst verglichen wird („Conobbi allor sı` come in paradiso/ vede l’un l’altro […]“ [CXXIII, V. 5 f.]). Aber diejenige Passage aus den Laura-Lob-Gedichten, die das hier zur Anwendung kommende Verfahren der doppelten Bezogenheit ohne Zweifel am stärksten ins Bewußtsein der Leser hebt, ist das erste Quartett von Canz. CCXLVII: „Parra` forse ad alcun che ’n lodar quella/ ch’i’ adoro in terra, errante sia ’l mio stile,/ faccendo lei sovr’ogni altra gentile,/ santa, saggia, leggiadra, honesta et bella.“ Mit dem einleitenden
54 S. die bereits zitierte Studie von Auerbach (Anm. 3). 55 Man könnte argumentieren, daß (bekanntermaßen) in dem ersten Quartett des Gedichts die ,felicita`‘, die der Anblick Lauras zu verleihen imstande ist, aufs Irdische begrenzt wird. Dagegen wäre zu halten, daß in den oben zitierten Versen dann aber gesagt ist, jene ,Beatifikation‘ siege über alle ,andere Hoffnung, jedes andere Verlangen‘. - Ohne dies zu begründen, behauptet Santagata mit Bezug auf die zitierten Verse (sowie auf Canz. LXXII, V. 37 f.): „VERA BEATRICE: ,tu che veramente rendi beati‘, a differenza di Laura, che pure era sembrata ,beatrice‘ “ (Kommentar zu V. 51 f.). Die von Santagata angenommene Eindeutigkeit findet sich in Petrarcas Formulierung nicht. Man kann sie ohne Zweifel unterstellen (d. h., wie Santagata es tut, den Text als Palinodie lesen). Aber es stünde dann zu fragen, warum Petrarca selbst nicht Eindeutigkeit hergestellt hat, zumal ja das Schema ,Reue‘ die Distanzierung von allem Lavieren zwingend einfordern würde.
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Vers des zweiten Quartetts: „A me par il contrario; […]“ wird der in der ersten Strophe immerhin noch benannte Gedanke, das Loben Lauras in Termini, wie sie dann später auf Maria appliziert werden, sei, was die sprachlichen Register betrifft, ein ,Mißgriff‘ („errante sia ’l mio stile“), offensiv zurückgewiesen. Und im letzten Terzett schließlich ist unter implizitem Rekurs auf den von Dante in Par. 33, V. 55 f. gestalteten Gedanken vom Göttlichen als einem Nicht-Versprachlichbaren 56 Laura gewissermaßen deifiziert: „Lingua mortale al suo stato divino/ giunger non pote […]“ (V. 12 f.) 57.
3. Die hier in den Mittelpunkt gerückten Prozesse sekundärer Destabilisierung eines primär Gemeinten haben ein wesentlich anderes Profil als die von einer dekonstruktiven Lektüre anvisierten. Es wäre ein für jene Schule charakteristischer Sophismus, das Faktum, daß in der Canzone explizit gesagt wird, es ginge nunmehr um Refunktionalisierung, schon mit dem Vorbringen dieses Anspruchs relativiert sehen zu wollen. Aber auch wenn man das entsprechende Postulat des Sprechers zunächst akzeptiert, vermag dies die in den ersten dreihundertzweiundsechzig Gedichten des Zyklus etablierte Funktionalisierung, als dort festgeschrie56 „[…] il mio veder fu maggio/ che ’l parlar nostro […]“ (in der Tradition Platos [Siebenter Brief 341 c]). 57 S. weiterhin CCXXVIII, V. 13 f. („et con preghiere honeste/ l’adoro e ’nchino come cosa santa“); CCCVI, V. 12 f. („suoi santi vestigi/ tutti rivolti a la superna strada“); eine erschöpfende Auflistung der Stellen, an denen die Marien-Attribute ,saggia‘, ,pura‘, ,intera‘, ,benedetta‘, ,santa‘, ,dolce‘, ,chiara‘ und ,sacra‘ auf Laura appliziert werden, bringt Tilden, „Spiritual Conflict in Petrarch’s Canzoniere“ (s. Anm. 53), S. 314, Anm. 124. - Die Problematik solcher mundanen Refunktionalisierungen des religiösen Diskurses über die Liebe, die den Stilnovisten möglicherweise in der Tat nicht mit letzter Prägnanz bewußt gewesen sein mag, liegt seit Dantes in der Commedia vollzogenen Abkehr von den Ambiguitäten des Stilnovismo und seiner Hinwendung zu einer strikten Separierung von amor und caritas bloß. Es ist diese Folie, vor deren Hintergrund Petrarca schreibt. Jene Zweideutigkeiten haben seit dann anderen Status als noch kurze Zeit zuvor. Sie sind bewußte und wahrnehmbare Zweideutigkeiten. Dies gilt bereits für das Laura-Lob in den den drei Schlußgedichten vorangehenden Gedichten des Canzoniere, um so mehr aber für das letzte Gedicht, das ja zunächst nach dem Schema von Einsicht und Umkehr gestaltet ist. Wenn sich in diese Manifestation der Reue wiederum Ambiguitäten ,einschleichen‘, die auf der semantischen Affinität des Diskurses von amor und caritas beruhen, so kann von ,Einschleichen‘ schwerlich die Rede sein. Es handelt sich um intendierte Ambiguitäten, die auf diese Weise zu Bestandteilen der Botschaft werden.
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bene, im Bewußtsein des Lesers nicht zu löschen. Das Gegenteil dessen zu sagen, was man zuvor gesagt hat, kann nur gelingen, wenn man, wie es der Sprecher in den Gedichten CCCLXIII und CCCLXIV durchführt, andere sprachliche Zeichen verwendet als zuvor oder Eindeutigkeit herstellt nach dem einzigen Muster, das ⫺ wie uns die strukturale Linguistik gelehrt hat ⫺ in der Lage ist, die ,Nebel‘ des Ungefähren 58 zu lichten, dem der Opposition 59. Im Falle einer Re-Semiotisierung wäre dies ein Gegenüberstellen von einstiger und nunmehriger Bedeutung, nach dem Schema, wie es Petrarca selbst in Canz. CCCLXV durchexerziert hat 60. Reaktiviert man, wie es in der Canzone geschieht, die schon einst genutzten Zeichen und verzichtet dabei auf die explizite Exklusion der einstigen Referenz, bleibt deren dort etablierte Bedeutung ko-präsent 61. Sie bleibt es vor allem, wenn die Signifikanten-Signifikate-Relationen, mit denen hier operiert wird, nicht nur in diesem, d. h. dem Petrarkischen Diskurs, sondern auch außerhalb dieses Diskurses in der einen wie in der anderen Weise als stabile Muster existieren. Die semantische Destabilisierung in Petrarcas Mariencanzone beruht also, kurz gesagt, nicht auf dem Gegebensein aller Zeichen in Oppositionen, sondern auf dem Spiel mit der doppelten Codierung bestimmter Zeichen. Die auf der syntagmatischen Ebene der Canzone sich herstellenden Vereindeutigungen in Richtung der jeweils einen ⫺ geistigen ⫺ Bedeutung werden fortlaufend durch die paradigmatische Ebene, die Verwendungskontexte des gesamten vorhergehenden Zyklus, problematisiert, auf der die gemeinten Termini durchweg in der anderen, mundanen, körperlich-sinnlichen Bedeutung semantisiert sind. Die Effekte des hier zu beobachtenden Verfahrens sind weitreichend. Sie laufen auf die Unterminierung des Akts der contritio hinaus 62, inso58 In eher positiver Qualifizierung könnte man das bei dem Cartesianer F. de Saussure inkriminierte Ungefähre natürlich auch als das Ambigue bzw. das Allusive bezeichnen. 59 In Anlehnung an de Saussures berühmte Qualifizierung des noch nicht auf sprachliche Termini gebrachten ,Fühlens‘ bzw. ,Denkens‘ („comme une ne´buleuse“ [Cours de linguistique ge´ne´rale, hrsg. v. Ch. Bally/A. Sechehaye, Lausanne/Paris 1916, S. 155]). 60 S. o., S. 184. 61 Was König für die intertextuelle Relation zwischen dem letzten Sonett des Canzoniere (CCCLXV) und der Canzone CCLXIV gezeigt hat: daß dort die „Position des Anfangs in ihr Gegenteil umgeschlagen [ist,] [a]ber in ihrer Umkehrung […] die alte Position als überwundene noch im neuen und letzten Gedicht gegenwärtig“ ist, gilt, mutatis mutandis, nicht weniger für die Relation der Mariencanzone zur Laura-Lob-Dichtung („Das letzte Sonett des Canzoniere“ [s. Anm. 3], S. 254). 62 Hier ist vielleicht der Punkt, nochmals zu verdeutlichen, warum ich ungeachtet der von mir passim behaupteten Subdominanz des mundanen Liebesdiskurses einleitend postuliert hatte, daß sich „die Balance letztlich dem Irdischen zuzuneigen scheint“. An jener Stelle
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fern sie dessen Endgültigkeit in Frage stellen. Denn so, wie im Rahmen des Codes dieses Zyklus das Laura-Lob zu einem Marienlob refunktionalisiert, umgewidmet werden kann, wäre dies auch vice versa möglich. Diese Perspektive verliert nicht zuletzt deshalb den Charakter des Spekulativen, weil dem Leser des Zyklus, wie schon erwähnt, das Schema der Reue mit anschließendem Relapsus nur zu gut bekannt ist 63. Vor allem aus Sicht des moraltheologischen Systems, an das die Canzone von ihrem Grundgestus her appelliert, stellt sich die Frage nach der Ermöglichungsstruktur jener Ambiguitäten, die Petrarca ja nicht kreiert hat, die er vielmehr nur durch konsequente Überblendung der jeweiligen doppelten Referenzen in maximaler Weise nutzt und deren Existenz er auf diese Weise ins Bewußtsein hebt. Wie kann ein Diskurs, der die mundane Liebe als luxuria verurteilt, die Existenz solcher Zonen der zweifachen Referenzierbarkeit hinnehmen, zumal dies, unter anderem, dazu führt, abgründigen Texten wie dieser Petrarkischen Canzone letztlich Unangreifbarkeit zugestehen zu müssen? Keineswegs, weil er das Phänomen nicht bemerkte; aber dieser Diskurs ist aus seinen eigenen inneren Bedingtheiten wehrlos gegen eine derartige, seinen dogmatisch fixierten Intentionen zuwiderlaufende Indienstnahme. Mit der einen Seite der Problematik, der Deifizierung der Geliebten, wäre man unschwer fertiggeworden, auch ohne von jedem Dichter einzuverlangen, was der Dante der Commedia im Hinblick auf das tut, was er in der Vita Nova getan hatte: abzuschwören. Die Vergöttlichung der ,Angebeteten‘ gehört seit den ersten antiken Zeugnissen zum Repertoire des Liebesdiskurses 64. In einem polytheistischen System mit seinen zahl(s. o., S. 164) hatte ich explizit zunächst nur auf die unterschiedlich hohen ästhetischen valeurs verwiesen. Aber es war bereits dort mitgemeint, was erst hier, in Ansehung der Canzone als ganzer, voll hervortreten kann: Vom Referenzschema aus betrachtet, dem Akt der contritio, ist eine schwankende Reue eben keine Reue und verurteilenswerter als das schlichte Unterlassen des Bereuens. 63 Ich verweise nochmals auf Canz. LXII: „Padre del ciel, dopo i perduti giorni,/ dopo le notti vaneggiando spese/ con quel fero desio ch’al cor s’accese/ mirando gli atti per mio mal sı` adorni,// piacciati omai, col Tuo lume, ch’io torni/ ad altra vita et a piu` belle imprese,/ sı` ch’avendo le reti indarno tese,/ il mio duro adversario se ne scorni.// Or volge, Signor mio, l’undecimo anno/ ch’i’ fui sommesso al dispietato giogo/ che sopra i piu` soggetti e` piu` feroce:// miserere del mio non degno affanno;/ reduci i pensier’ vaghi a miglior luogo;/ ramenta lor come oggi fusti in croce.“; s. weiterhin LXXXI, und v. a. CCLXIV, dessen letzter Vers den Gedanken des Relapsus explizit macht („et veggio ’l meglio, et al peggior m’appiglio.“). 64 Ich habe in einer früheren Veröffentlichung zur romantischen Lyrik diesem Problem einige Seiten gewidmet („Zum romantischen Mythos der Subjektivität. Lamartines Invocation und Nervals El Desdichado“, Zeitschrift für französische Sprache und Literatur Bd. 98/1988, S. 137-165, hier: S. 142-145 [alle erforderlichen Nachweise dort]).
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reichen Abstufungen zwischen Göttlichem und Menschlichem muß man das Verfahren nicht notwendigerweise darauf beschränkt sehen, Metapher zu sein. Aber de facto ist es auch bereits dort weitgehend das, was es späterhin, unter monotheistischen Bedingungen, einzig sein kann, und was es ungeachtet aller Problematik zu einem ,beherrschbaren‘ Phänomen macht: rhetorische Figur, deren Gemeintes das Lob bzw. die Hervorhebung der Geliebten ist 65. Gewiß ist Petrarca hier weiter gegangen als die Vorgänger, auch als der Dante der Vita Nova. Aber ich hatte bereits angedeutet, daß ich in Ansehung der Unbedingtheit des Dogmas von dem einen Gott zweifeln würde, ob Petrarcas Laura-Christus-Parallelen mehr als auf den Gipfel getriebene, sicherlich riskante, aber letztlich doch uneigentlich gemeinte Formeln sind. Die Herrin des Canzoniere ist keine Göttin in einem irgend ontologischen Sinn. Sie ist dem Sprecher zu seiner innerweltlichen ,Göttin‘ geworden, was ihn hindert, die Gedanken auf jenen Gott zu richten, von dessen Existenz und Einzigartigkeit er indes weiß. So wäre, was Petrarca seinen Sprecher in den ersten dreihundertzweiundsechzig Gedichten der Sammlung sagen läßt, moraltheologisch problematisch, ontologisch ist es dies nicht. Die ,Angelisierung‘ oder auch Deifizierung Lauras ist legitimiert durch die Figur der Metapher: Die entsprechenden Formeln meinen nicht, was sie auf der Ebene der verba ,ostendieren‘. Die Marge für das, was Petrarca in der Mariencanzone tut, entsteht daraus, daß es sich im Fall der Schemata des religiösen Diskurses, den er hier zitiert, nicht spiegelbildlich verkehrt verhält. Wäre dem so, ginge die Rechnung der ,Umwidmung‘ auf: Wenn gleichermaßen, wie für Laura gilt, daß ihr quasi-göttlicher Status Metapher ist, für Maria gelten würde, daß ihr Status als ,vergine bella‘ (nur) Metapher wäre, reichte es hin, den ,fleischlichen‘ verba der ersten dreihundertzweiundsechzig Gedichte einen ,geistigen‘ Sinn zuzuschreiben, kurz: sie allegorice zu lesen, und sie würden damit augenblicklich eine komplett andere, ,fromme‘ Bedeutung erlangen.
65 Die oftmals als schwer erklärlich registrierte Zunahme der Deifizierung der GeliebtenFiguren in der volkssprachlichen Liebeslyrik, im Vergleich zur Antike, hat m. E. hier ihren Grund. Es ist recht abwegig, den Dichtern jener Zeit eine solch provokative Subversivität zu unterstellen, wie man dies müßte, wollte man die entsprechenden Formeln wörtlich verstehen. Gerade weil sie nicht ontologisch gemeint sein konnten, waren sie möglich (d. h.: nur moraltheologisch problematisch, was sich indes durch die schon vor Petrarca geläufigen Reue-Gedichte heilen ließ).
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Die skizzierte Bedingung trifft indes nicht zu. Zwar gilt für Maria gewissermaßen („se dir lice, et convensi“ [V. 99] 66) proprie, was für Laura nur figuraliter gilt, eine „dea“ zu sein, zumal nach ihrem physischen Tod, der sie in unmittelbare Nähe zu ihrem Sohn bringt, der dann (nur noch) Gott ist. Aber sie ist zugleich ein ,fleischliches‘, menschliches Wesen. Dies wiederum ist Konsequenz eines ,Faktums‘, dem in der Canzone mit der Apostrophierung der ,dolci membri‘ des Sohnes jener Frau Explizität verliehen wird: Verbum caro factum est 67. Der Gedanke eines einzigen und allmächtigen Gottes, der als solcher die anthropomorphen Begrenztheiten der polytheistischen Stammesgottheiten hinter sich läßt und der nur vermittels dieser Abstraktion zu einem potentiell universellen Gott werden konnte, wird in der Religion, die wir das Christentum nennen, durch das Konzept der Inkarnation ⫺ das einer ,Menschlichkeit‘ nicht in einem ,halben‘ 68, sondern einem wörtlichen, leidenden und auch sterblichen Sinne ⫺ zu einer Instanz, die jenes Bedrohliche und Menschenferne wieder ablegt, das den Momenten der Abstraktheit und Allmacht innewohnt, d. h. zu einer Instanz, die (glaubwürdig) ,Liebe‘ gibt und die man also wiederlieben kann 69. 66 Mit dieser, wie mir scheint, einzigartig gelungenen Formulierung gelingt es Petrarca, im Rahmen des dogmatisch Erlaubten zu bleiben: Maria ist keine Göttin, aber für sie ist das ,Göttin-Sein‘ nicht eine Metapher, sondern etwas, das als Formel ,erlaubt‘ und ,angemessen‘ sein mag, wenn es darum geht, ihren nicht in die regulären ontologischen Raster passenden Status sprachlich zu fassen. - Bezeichnend ist, daß Cavedoni in seiner, man wird sagen dürfen, erschöpfenden Aufstellung von Zitaten des religiösen Diskurses in der Canzone für die Formulierung „Tu nostra Dea“ eben - entgegen seiner eigenen Behauptung - keinen Referenzbeleg beibringen kann. Wenn Augustinus Maria ,forma Dei‘ nennt, Anselm sie als ,Deifera‘ apostrophiert und Petrus Damiani sie als ,tota Deificata‘ bezeichnet (s. bei Cavedoni [Anm. 13], S. 16), so ist dies anderes als die bei Petrarca gewählte Qualifizierung als Göttin - die zum einen der Anrufung Mariens nach der von Gottvater zumindest auf der Ebene der Worte eine allerdings rein vordergründige Legitimität zu verleihen imstande ist, zum anderen das Oszillieren des Reuediskurses in Richtung Liebesdiskurs in Gang hält, ist doch seit der Antike die Anrede der Geliebten als ,Göttin‘, wie schon dargelegt, ein Standardelement der rühmenden bzw. werbenden Rede. 67 Jo 1, 14. Es sei daran erinnert, daß in den Gedichten des Laura-Lobs das Preisen der ,membri‘ eine prominente Rolle hat (s. die Beispiele oben, Anm. 28). 68 Die Götter etwa des griechischen Himmels sind ,Menschen‘, insofern sie kämpfen, lieben, usw. Aber sie leiden und sterben nicht. Eine rein körperliche Beziehung mit ihnen einzugehen, ist, wie die vielen Beispiele zeigen, problemlos möglich. Weil sie aber des wesentlich Menschlichen, der Sterblichkeit, entraten, ist eine affektive Beziehung zu ihnen als Person (und nicht als Hypostase einer Polis, o. ä.) schwerlich denkbar. 69 Es scheint, daß es diese religionsgeschichtlich höchst ungewöhnliche Gott-Mensch-Relation ist, die den Westen davor bewahrt hat, Patriarchat und Post-Patriarchat, Gesetz und Freiheit, als instantan zu wählende Alternativen sehen zu müssen, und die den Weg von dem einen zu dem anderen Paradigma in Form eines Übergangs der longue dure´e ermöglicht hat. Dies
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Der Preis, den das Christentum für diese Bedingung seiner singulären Resonanz zu entrichten hatte, war kein geringer. Er reflektiert sich in der nicänischen Formel von Jesus als ,wahrem Menschen‘ und ,wahrem Gott‘. Das Konzept ,Jesus Christus‘ steht jenseits der Zeichenrelation mit ihrer Dissoziierbarkeit von Gesagtem und Gemeintem. Weder das Mensch- noch das Gott-Sein ist Metapher, beide Seiten des Zeichens sind zugleich substantielles Sein. ⫺ Wie aber ist dieses Transrationale des Göttlichen gegen das Menschliche distinkt zu machen, angesichts dessen, daß das christliche Dogma im Unterschied zu anderen Religionen, die die Vorstellung des Gott-Menschen kennen, den Gedanken mit allen Konsequenzen durchführt? Der Gott wird geboren von einer Frau 70. Mit dieser Annahme geht jene Zone, in der die semiotische Standard-Relation von Signifikanten und Signifikaten suspendiert ist, sich die metaphorische Relation von proprium und figuratum nicht mehr strikt durchführen läßt, auf den (rein) menschlichen Bereich über. Marias Status als (Gottes-)Gebärerin zu akzeptieren, die Jungfrauenschaft aber nicht als substantielles Sein 71, sondern als Metapher aufzufassen, zieht, wie sich ist wohl der Punkt, an dem sich seit mehr als tausend Jahren der Islam vergeblich abarbeitet. Die vielbeschworene (und unbestrittene) Blüte der islamischen Wissenschaft, lange vor der christlichen, indiziert ja nichts anderes, als daß Monotheismus gleichbedeutend ist mit einem Rationalitätsschub. Aber dem Islam mit seinem abstrakten Patriarchen-Gott gelingt nicht jene Flexibilisierung des Gesetzes, die sich gegenüber den Wächtern der theologischen Orthodoxie wohl nur im Zeichen eines ,Gottes der Liebe‘ rechtfertigen läßt (und dem Judaismus gelingt sie fraktionell, je nachdem, wie stark die jeweilige theologische Schule das Moment der Liebe, konkret, die messianische Hoffnung macht). Was im Westen möglich war: die Moderne gewissermaßen Schritt für Schritt auch theologisch zu legitimieren, bis sie dann als eigenständiges System in der Welt war, scheint islamisch schwer möglich. So bleibt nur das Muster des harten Schnitts, das eines absoluten laizistischen Traditionsbruchs. Davor schrecken, verständlicherweise, auch kühne dortige Geister zurück. 70 Es bedürfte genauer und schlechterdings nicht zu komplettierender Recherchen, um sagen zu können, daß das Christentum die einzige Religion ist, die das Schema der Geburt des Gottes durch eine menschliche Frau kennt (,Halbgötter‘ sind ein völlig anders gelagertes Phänomen). Die einzige solche monotheistische Religion ist es gewiß, aber das ist nicht schwer. In allen heute noch einigermaßen bekannten Religionen, die die Figur des Menschen kennen, der auch Gott ist, erfolgt die Fleischwerdung ,übernatürlich‘, nicht durch reguläre Geburt. 71 Daß Maria ihrerseits auch ,fleischlich‘ anderes ist als andere ,vergini humane‘, nämlich ,unbefleckt Empfangene‘, ist ein Moment der späteren Dogmengeschichte, in deren Verlauf man möglicherweise daran gedacht hat, Dinge einzudämmen, wie sie hier an Petrarca zur Anschauung kommen. Man kann die Dogmatisierung der Unbeflecktheit Mariens von der Erbsünde auch als Versuch sehen, jene Schranken fix zu definieren, deren Nicht-Gegebensein im ursprünglichen Dogma Petrarca ausbeutet. An die Stelle der Opposition Gott Mensch tritt die von Gott sowie nicht-erbsündigen ,Fleischlichen‘ (Jesus, Maria) einerseits und erbsündigen Fleischlichen (alle restlichen Menschen) andererseits. Aber die Konstruk-
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an der protestantischen Theologie spätestens des 20. Jahrhunderts beobachten läßt, in einer Art notwendigen Involution auch die Bereinigung der semiotischen ,Irregularitäten‘, was den Sohn betrifft, nach sich. Inkarnation und göttliches Sein Jesu werden zu Symbolen, Bildern, Metaphern für die Zuwendung des Gottes zu den Menschen. Mit dieser Bereinigung ist es dann allerdings auch, konsequenterweise, rasch um die Resonanz geschehen. ⫺ Wenn aber nicht nur für Jesus Christus selbst, sondern auch für Maria die Durchführung der Zeichenrelation, die Dissoziierung des Metaphorischen und des Eigentlichen, nie ganz gelingen kann, was erlaubt es dann, die Möglichkeit einer solchen Dissoziation für alle anderen ,Jungfrauen menschlichen Geschlechts‘ mit einer solchen Radikalität zu vindizieren, daß sich an der Frage der Verehrung der einen und der anderen die von Himmel und Hölle entschiede? Es geht dabei nicht, wie ja auch der Text der Canzone explizit macht, um eine Gleichstellung Mariens mit anderen ,vergini humane‘. Es geht darum, zu fragen, ob nicht so, wie Maria eine Manifestation der Hybride von Menschlichem und Mehr-als-Menschlichem ist, welche auf ontologisch höherem Niveau ihr Sohn repräsentiert, jene anderen Frauen, auf niedrigerem Niveau als die Gottesmutter selbst, an der Dimension eines Mehrals-Menschlichen teilhaben könnten. Diese Frage markiert die Marge, in deren Rahmen Petrarcas Canzone operiert. Ich setze hier bewußt einen neutralen Terminus. Denn es bedeutete, sich in die Zonen des definitiv Nicht-Wißbaren zu begeben, wollte man behaupten, die Fragen, die die Canzone stellt, seien in subversiver Absicht formulierte, und nicht solche, die für den Sprecher (hier dann wohl richtiger: den Autor) in der Tat offene Fragen waren bzw. blieben: Wenn Maria ,humane‘, ,schöne‘, ,strahlende‘ Frau, zugleich aber proprie Heilsinstrument ist, wäre es dann nicht denkbar, daß jene ,salute‘, die eine andere menschliche, strahlend schöne Frau spendet, auch anders als strikt metaphorisch verstanden werden könnte? ⫺ Dies ist denn der Punkt, in dem das hier zu beobachtende Phänomen das der ,regulären‘ Polysemie überschießt, welch letzteres ja zunächst nicht mehr meint als eine zwei- oder mehrfache Referenzierbarkeit eines Zeichens. Ginge es in der Mariencanzone nur um eine solche reguläre Polysemie, wäre das
tion ist künstlich, insofern sie Fragen offen läßt, was Marias Mutter betrifft: Wie konnte diese ,unbefleckt‘ empfangen? Und wenn sie dies konnte, was bedeutet dies wiederum für die Mutter der Mutter (usw.)? Kurz: es ist unabänderlich die Inkarnation des Gottes selbst, was die scharfe Grenzziehung göttlich/menschlich unterläuft. ,Ordnung‘ läßt sich hier nur herstellen, indem man die Inkarnation metaphorisch versteht.
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Resultat nichts anderes als jenes Schwanken zwischen Geistigem und Sinnlichem, das der gesamte Zyklus stilisiert. Der eigentliche Effekt dieser abschließenden Canzone scheint aber ein anderer zu sein. Wenn in den voraufliegenden Gedichten die auch dort schon vielfach zu beobachtenden Versuche, die Laura-Liebe zu rechtfertigen, indem für diese Liebe eine Art Heilsfunktion vindiziert wurde, als Indiz erscheinen mochten, wie sehr sich im Bewußtsein des Sprechers ⫺ eben infolge dieser Liebe und als Ausweis ihres prinzipiellen Fehlgeleitetseins ⫺ grundlegende Ordnungen, die Scheidung von Mundanem und Geistigem, von Metaphorischem und Eigentlichem, verwirrt hatten, so wird in der Mariencanzone der Kern dieses Ordnungsdiskurses selbst in Anspruch genommen, um die unabdingbare Geltung der semiotischen Standard-Relation von Zeichen und Bezeichneten in Frage zu stellen. Eine Antwort ergeht in dem Text nicht 72. Die Denkfigur der Gegenüberstellung von ,Ordnung‘ und ,Perversion‘ 73, so, wie sie der ,Augustinus‘ des Secretum vertritt, sieht sich konfrontiert mit der Figur der Übergänglichkeit, deren Ränder ⫺ das rein Materielle, das rein Geistige ⫺ wohldefiniert sind, deren ,mittlere‘ Zone aber keine scharfen Delimitierungen zuläßt.
4. Dies unterscheidet denn auch den christlichen Monotheismus, in dessen prä-reformatorischer Variante, vom Platonismus. Denn Platos Skala ist eine Stufenleiter im Wortsinn. Sie ermöglicht den Aufstieg, aber die Stufen selbst bleiben distinkt 74. Das materiell Schöne ist ein ganz Materiel72 Insofern erscheinen mir die, wie nicht anders zu erwarten, seit geraumer Zeit vorliegenden und aus z. T. höchst prominenter Feder hervorgegangenen Einsprüche gegen die dominierende Palinodie-These letztlich genauso wenig überzeugend („Parlando alla Vergine, s’incontra in Laura […]“ [De Sanctis, Saggio critico sul Petrarca (s. Anm. 47), S. 214]). Auch das gleichfalls in diese Richtung weisende, jedoch abgewogenere Urteil von S. Sturm scheint zu stark vereindeutigend („In the ,Canzone alla Vergine‘ […] love poetry itself is ultimately redeemed through rededication.“ [„The Poet-Persona in the Canzoniere“, in: Francis Petrarch. Six Centuries Later, hrsg. v. A. Scaglione, Chicago 1975, S. 192-212, hier: S. 211 f.]). 73 Zu des ,Augustinus‘ entsprechenden Einlassungen in jenem Text s. das bereits gebrachte Zitat (Anm. 32). 74 S. Symposion 209 d-212 c; meine obigen Festlegungen gelten auch für die Lobrede auf die Liebe zum schönen Körper als vierter und höchster Form der manı´a, wie sie Sokrates im Phaidros als ,Palinodie‘ (243 b) der einleitenden Verurteilung der Liebe vorträgt (welch letztere durchaus Anklänge an die christliche Position zur sinnlichen Liebe hat). Auch hier
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les, und das Schöne der Idee ein ganz Immaterielles. Der (schöne) Körper ist eidolon des metaphysisch Schönen. Der Konnex stellt sich, wenn überhaupt, nur im Bewußtsein her. Die Relation von physisch und metaphysisch Schönem ist verweisend, sie ist zeichenhaft 75. Die tatsächliche Präsenz des einen bedeutet immer die tatsächliche Non-Präsenz des anderen. Auf den ersten Blick erscheint der Abgrund, der christlich betrachtet Gott und Welt trennt, tiefer als bei Plato. Denn das physisch Schöne hat christlich gesehen noch nicht einmal eine zeichenhafte (ethisch: eine vehikuläre) Legitimität. Es ist vielmehr in seiner Zwieschlächtigkeit ⫺ als Schönes und zugleich Vergängliches ⫺ die am meisten konzentrierte Erscheinungsform der vanitas des sinnlich Reizvollen 76. Aber dieser Delegitimierung des physisch Schönen steht die Valorisierung des Physischen als solchem gegenüber 77. Denn christlich gesehen ist der Abgrund gilt, daß es eine ,effektive‘ Integrations- oder Hybridisierungsstufe von sinnlich schön und metaphysisch schön nicht gibt. 75 Es ist dabei unerheblich, ob die Relation ikonisch, analogisch oder vollends arbiträr ist. Das wesentliche Moment ist, daß bei Plato die verweisende Instanz und diejenige, auf die verwiesen wird, distinkt bleiben, in welcher Richtung man auch die Verweisrelation ansieht (Zeichenhaftigkeit ist nichts anderes als das). - Auf eben dieses Distinkt-Bleiben hebt auch die Passage des Parmenides ab, in der Plato das von ihm eingeführte Konzept der ,Teilhabe‘ (methexis) gegen Mißverständnisse zu garantieren versucht, die der Name provoziert. Das Verhältnis des Irdischen zu den Ideen als ein effektiv materielles Teil-Haben zu verstehen, würde das wesentliche Merkmal der Ideen, deren Eins- und Ungeteiltsein, unterminieren (s. 130 a-133 a). Es ist andererseits fast erwartbar, daß nach Plotins Hinweggehen über diese Original-Platonischen Differenzierungen ,participatio‘ in allen Schulen der christlichen Theologie, von Augustinus bis Thomas, zu einem zentralen Begriff für die Modellierung des Verhältnisses von Welt und Gott aufsteigen konnte. Auf dem Boden eines kreationistischen Verständnisses des Diesseitigen, das sich steigert bis zur Vorstellung einer tatsächlichen Fleischwerdung des Gottes, gewinnt das Konzept ,Teilhabe‘, und zwar gerade in einem ,effektiv‘-materiellen Sinne, jene Evidenz, welche ihm unter dem Vorzeichen eines anderen Weltmodells Aristoteles in seiner Plato-Kritik bestritten hatte. 76 Ich verweise hier nur auf ein Beispiel für diese Gedankenfigur aus der Epoche der christlich geprägten Kunst, die Personifikation der ,Frau Welt‘ in der mittelalterlichen Bildenden und Wort-Kunst, eine Instanz, die in der spanisch-barocken Wiederaufnahme dieser Tradition bekanntlich ,hermosura‘ heißt. - Zum gesamten Komplex ,Christentum/physisch Schönes‘ s. auch meine ausführliche Argumentation zu Caldero´ns El prı´ncipe constante, in dem diese Problematik thematisch ist (Diskurs-Renovatio bei Lope de Vega und Caldero´n. Untersuchungen zum spanischen Barockdrama. Mit einer Skizze zur Evolution der Diskurse in Mittelalter, Renaissance und Manierismus, Tübingen 1990, S. 305-382; dort auch alle Verweise auf die kanonische Forschungsliteratur zu der Fragestellung). 77 Bei einer detaillierten Darlegung dessen, was ich oben in Form einer Skizze entwickle, wäre natürlich eine Bemerkung zu denjenigen Phasen der abendländischen Kulturgeschichte zu verlieren, in denen die Unterschiede zwischen Platonismus und Christentum systematisch
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zwischen Gott und Welt effektiv, real, fleischlich überbrückt worden, durch das Geborenwerden des Gottes aus einer irdischen Frau, die ⫺ katholisch ⫺ nicht nur metaphorisch ,vergine humana‘ ist, sondern ontologisch Mensch und doch nicht nur Mensch. Die Verurteilung des Verfallenseins an das physisch Schöne im Sinne der Heilssorge ist ein zentrales Anliegen aller christlichen Theologie und Verkündigung. Aber die Verurteilung des Physischen an sich kann auf der Grundlage jenes Dogmas, das die universelle Resonanz des Christentums erklären dürfte ⫺ die Abstraktion von den Anthropomorphismen durch den Entwurf des einen Gottes, die Wiedergewinnung des Diesseits der Abstraktion durch den Gedanken der Inkarnation ⫺ nie ganz gelingen 78. In dieser Zone, in der das ,Fleischliche‘ ganz materiell, aber zugleich immateriell, geistig ist, entzündet sich die Kontroverse um die Margen des Sinnlichen, die aus Sicht des Geistigen noch eventuell legitim sein können. Legitimität erwächst dem Sinnlichen im Rahmen dieses Paradigmas nicht dadurch zu, daß es ein Schönes ist, sondern nur insoweit es auch ein Geistiges ist. Dies macht die Kunst (die eben deshalb abendländisch einen ungleich höheren Stellenwert hat als antik) zum letztlich
harmonisiert werden und die dementsprechend eine Kunst hervorgebracht haben, die wir ,klassisch‘ im Sinne des Epochenbegriffs nennen, die also den antiken Maßgaben des Idealschönen Rechnung zu tragen sucht. Doch es ist bezeichnend, daß abendländisch dies immer isolierte Phasen geblieben sind. Zwar ist auch christlich die Schöpfung, insofern sie ,gut‘ ist (Gen 1, 31), ,schön‘. Aber die Kontinuität des Terminus verdeckt, daß das christliche Konzept des pulchrum ein anderes ist als das antike des kalon. Letzteres meint ein Idealschönes, das sich im materiell Gegebenen nur unvollkommen, und vor allem nur in einem (eng) begrenzten Stratum des Gegebenen realisiert. Die christliche Rede von der pulchritudo der Schöpfung meint eine Attitüde positiver Akzeptanz des gesamten Geschaffenen, das eben, da es von Gott ist, auch nach dem Sündenfall weiterhin ein Wohlgeordnetes ist. Sap 11, 21, die zentrale biblische Berufungsinstanz des christlichen Verständnisses der pulchritudo, ist in dieser Hinsicht bezeichnend: „sed omnia in mensura, et numero et pondere disposuisti“ (Hervorhebung von mir). Pagan-antik wäre eine solche absolute Generalisierung der Harmonieprämisse unvorstellbar. Mit anderen Worten: die christliche pulchritudo integriert das physisch Schöne und das physisch Häßliche. Die pulchritudo ist nicht als Bewertung des Physischen, sondern des Geistigen der Materialität gedacht. Genau dies meint auch Augustin, wenn er im Anschluß an Clemens die Schöpfung als ein ,Lied‘ bzw. als einen ,Gesang‘ beschreibt, die Gott mit allen erdenklichen Stilfiguren geschmückt habe, und er dann fortfährt, daß die schönste dieser Stilfiguren die Antithese sei (Clemens Alexandrinus, Protreptikos I, 5 [bes. 1] und I, 7; Augustinus, De civitate Dei XI, 18). 78 Es sei denn zu den schon skizzierten protestantischen Bedingungen, mit den ebendort genannten Konsequenzen.
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einzigen Ort 79, wo außerhalb des Opferrituals der Eucharistie diese Grundfigur des christlichen Weltverständnisses zur Anschauung gebracht werden kann 80. Diese Kunst mag dann durchaus auch eine sinnlich schöne sein. Aber im Unterschied zur Antike ist dies keine notwendige, vor allem keine hinreichende Bedingung 81, mit deren Erfüllung bereits die Rechtfertigung der materiellen Artefakte sichergestellt wäre. Insofern ist das sinnlich Schöne in christlicher Zeit nur noch ein akzidentelles Moment 82. Die abendländische Kunst ist nicht durch ein normatives Konzept des Schönen gefesselt. Die Inkarnation hat auch die foeditas (potentiell) geheiligt, freilich nicht als solche, sondern ⫺ wie das ,Schöne‘ ⫺ nur und insoweit jenes Häßliche zugleich ein Geistiges ist 83. 79 Ohne hier ausführlicher werden zu wollen: Man erwäge nur einmal einen Gegenstand, wie er als philosophischer Gegenstand in Platos Dialogen passim begegnet, den physisch schönen Körper, als möglichen Gegenstand unserer abendländischen Philosophie (zu dem Phänomen, daß sich in postmodernen Zeiten diese Dinge wieder geändert haben, äußere ich mich im letzten Absatz dieses Aufsatzes). 80 Ich übergehe hier bewußt ein naheliegendes Implikat meines Arguments: Wenn ein Diskurs, der nicht strikt zwischen proprium und figuratum trennen kann, sich auf ein Terrain begibt, in dem diese Trennung konstitutiv ist, den rhetorisierten und mehr noch den poetischen Diskurs, werden die Dinge natürlich gewissermaßen instantan dogmatisch gefährlich. Andererseits läßt sich traditionschristlich die Kunst schwerlich verbieten oder auch nur eindämmen. Eine Religion, die mit dem Anspruch der Katholizität auftritt, bedarf der bildhaften Encodierung ihrer Dogmen. 81 Gibt es in der paganen Antike eine ästhetische oder geistige (philosophische) Dignität des Nicht-Schönen? Wie die gesamte Problematik, die ich hier berühre, bedürfte dies einer ausführlichen Erörterung. Als Hinweis sei nur die Bemerkung gestattet, daß sowohl das Häßliche der Komödie wie auch das Nicht-Schöne der Tragödie (das Grausame) weniger eine geistige als eine ,pragmatische‘ Dimension zu haben scheinen (die Erhellung des zu Vermeidenden im erstgenannten, Katharsis im zweitgenannten Fall - eine rein ästhetisierende Deutung dieser letzteren Kategorie erscheint mir als ein modernes Mißverständnis, das allerdings, folgt man H.-G. Gadamer, von einer gewissen Unvermeidlichkeit ist). In der von allen pragmatischen Weiterungen freien Bildenden Kunst jener Zeit scheint das Häßliche keinen nennenswerten Raum gehabt zu haben. 82 Die Indifferenz der christlichen Kunst gegenüber dem sinnlich Schönen reflektiert sich auch in der a-systematischen Disponibilität der Verwendungskontexte. Der menschgewordene Gott kann dargestellt sein als Gipfel des physisch Schönen, aber er wird auch dargestellt in seiner foeditas, als entstellter und insofern nach klassischen Maßstäben ,häßlicher‘ Körper. In beiden Varianten ist er indes Inkarnation der höchstmöglichen Form geistiger Schönheit. Vice versa gilt diese Indifferenz auch für den Antagonisten Gottes, der als Luzifer bekanntlich von berückender physischer Schönheit ist, zugleich aber als Summe des physisch Abjekten zur Darstellung kommt und in beiden Varianten das Höchstmaß des moralisch und geistig Häßlichen repräsentiert. 83 Ohne dies hier auszuführen, sei nur gesagt, daß all meine obigen Ausführungen sich einzig auf die Verhältnisse der geschaffenen Welt beziehen. Dort, wo es den Dualismus des Physischen und des Geistigen nicht mehr gibt, im Paradies, gibt es, wie nicht zuletzt aus Dante
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Im weiteren Verlauf, wenn sich das Verständnis des Geistigen, spätestens seit Hegel, von der Bildersprache unserer Traditionsreligion gelöst hat 84, ist diese mehr als nur zeichenhafte Integration von sinnlich Erfahrbarem und Geistigem das, was wir im Westen ,Kunst‘ schlechthin nennen. Noch die provokantesten ästhetischen Experimente des Modernismus haben als ,Kunst‘ nur Bestand, wenn sie ihre oftmals abjekte Materialität in einer den Artefakten beigegebenen Programmatik als das Mitgegeben-Sein eines praetermateriell Geistigen zu erklären vermögen. Es ist erst in postmoderner Zeit, daß die Wirkung dieser Grundfigur zu verlöschen scheint. In Frage steht indes, ob man jenes Ineins von Hoch und Niedrig, von Scherz und (begrenztem) Ernst, die, sei es ironische, sei es skeptische Eskamotierung der Anschauungsform des Praetermateriellen, das die de-pragmatisierten Hervorbringungen unserer Zeit kennzeichnet, später einmal ,Kunst‘ nennen wird, oder ob es bei dem Verdikt desjenigen bleibt, der wohl wie keiner vor und keiner nach ihm den Gedanken der Historizität alles Seienden gedacht hat: daß alles, und eben auch die ,Kunst‘, ein historisches Phänomen ist, daß sie einen Anfang hat, eine Geschichte und ein Ende 85.
erhellt, auch keinen Hiatus zwischen ästhetisch und geistig Schönem. Aber Dante selbst hat mit seinem Explizitmachen der Versprachlichungsthematik darauf verwiesen, daß das dort von ihm versuchte Denken des Jenseitigen in den Kategorien eines diesseitigen Bewußtseins ein riskantes, möglicherweise ein notwendig immer unzureichendes Unterfangen bleiben muß. Wo es keine ,Sinne‘ gibt, kann es keine Sinneswahrnehmung geben und insofern auch kein Konzept des materiell Schönen. Die Rede über das rein geistig Schöne des Paradieses in den Kategorien der Anschaulichkeit ist insofern eo ipso (nur) Metapher. 84 Diese bei Hegel auf den Nenner des Konzepts gebrachte Entwicklung beginnt natürlich schon mit der Reformation. Diese schafft den Marianismus gänzlich, aber auch die ,materiellen‘ Varianten der christlichen Kunst (außer der ,immateriellen‘ Musik) weitgehend ab, unter anderem aus Gründen, die in der Lektüre von Petrarcas Mariencanzone nochmals plausibel werden können. Aber das bedeutet nicht das Ende der dort zutage tretenden Problematik. Diese verlagert sich (nur) in die Domäne eines seit dann mehr und mehr eigenständigen Felds der Praxis namens ,Kunst‘, das es zumindest mit dieser prononcierten Eigenständigkeit zuvor nicht gegeben hatte. 85 Ich würde also in Zweifel ziehen wollen, daß es eine Rückkehr zu den ästhetischen Konzepten der paganen Antike geben kann, d. h. zu einem auf das sinnlich Wahrnehmbare (die ,Oberfläche‘) begrenzten Schönen, dessen Qualität als Schönes notwendigerweise nur durch normative Konzepte zu sichern wäre. Das gedankliche Paradigma eines perfekten, aber ums Geistige unbekümmerten Schönen scheint mir in der späten Moderne ganz in die Warenästhetik übergegangen zu sein. Es mag sein, daß alles, was früher ,künstlerische‘ Energie war, in Zukunft von dieser Sphäre absorbiert wird, und darüber zu klagen, wäre naiv. Nur gäbe es unter solchen Bedingungen die Kunst als separate Form menschlicher Praxis nicht mehr.
Text – Übersetzung – literaturwissenschaftliche Modellanalysen Herausgegeben von Dag Nikolaus Hasse 2002. 322 Seiten. Broschiert. ISBN 3-11-017012-4 (de Gruyter Texte)
Die Autobiographie Peter Abaelards gehört zu den bekanntesten Texten des Mittelalters, insbesondere wegen der Liebesgeschichte zu Heloise, von der sie berichtet. Dieser Text wird nun erstmals in einer lateinischdeutschen Ausgabe vorgelegt und durch Interpretationen erschlossen, die aus der Perspektive von sieben verschiedenen Literaturtheorien des 20. Jahrhunderts geschrieben sind.
쐽 The City of Scholars New Approaches to Christine de Pizan Edited by Margarete Zimmermann and Dina De Rentiis 1994. XI, 314 pages. Hardcover. ISBN 3-11-013879-4 (European Cultures 2)
Erich Auerbach
쐽 Dante als Dichter der irdischen Welt 2., um ein Nachwort von Kurt Flasch ergänzte Auflage der Erstausgabe von 1929 2001. 237 Seiten. Broschiert. ISBN 3-11-017039-6
Bereits 1929 erschien Auerbachs Buch zu Dante, das trotz des Titels einen Gesamtüberblick über das dichterische Schaffen des italienischen Nationaldichters gibt. Auerbach spürte in der Göttlichen Komödie, dem Hauptwerk Dantes, viele Realismen auf. Rückbezüge auf die Welt des Irdischen bleiben auch im Grauen der Hölle, in der Hoffnung des Fegefeuers und in der religiösen Ekstase des Paradieses deutlich. Dante schildert beispielsweise viele Zeitgenossen und ihre Sünden, die entsprechend gebüßt werden. Bei Auerbach wird das Universum Dantes eindrucksvoll lebendig.
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de Gruyter Literaturwissenschaft
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