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German Pages 590 [591] Year 2009
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Manfred Gerlach, Claudia Mehler-Wex, Susanne Walitza, Andreas Warnke Christoph Wewetzer (Hrsg.) Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter Grundlagen und Therapie Zweite Auflage
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Prof. Dr. rer. nat. Manfred Gerlach Prof. Dr. med. Andreas Warnke Universitätsklinik und Poliklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Würzburg, Deutschland
Dr. med. Claudia Mehler-Wex Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie/Psychotherapie, Universität Ulm, Deutschland
Dr. med. Susanne Walitza Kinder- und Jugendpsychiatrischer Dienst des Kantons Zürich, Zürich, Schweiz
Prof. Dr. med. Christoph Wewetzer Kliniken der Stadt Köln, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, Köln, Deutschland Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdruckes, der Entnahme von Abbildungen, der Funksendung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Wege und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. © 2009 Springer-Verlag/Wien Printed in Austria Springer-Verlag Wien New York ist ein Unternehmen von Springer Science + Business Media springer.at Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, daß solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürfen. Produkthaftung: Sämtliche Angaben in diesem Fachbuch/wissenschaftlichen Werk erfolgen trotz sorgfältiger Bearbeitung und Kontrolle ohne Gewähr. Insbesondere Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen müssen vom jeweiligen Anwender im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen auf ihre Richtigkeit überprüft werden. Eine Haftung des Autors oder des Verlages aus dem Inhalt dieses Werkes ist ausgeschlossen. Umschlagbilder: Links: www.photos.com/ wide angle view of three children in hammock; rechts: „Regenbogenlinse“ von Alfons Schilling Satz: Composition & Design Services, Minsk, Belarus Druck: Theiss GmbH, 9431 St. Stefan, Österreich, www.theiss.at Gedruckt auf säurefreiem, chlorfrei gebleichtem Papier – TCF SPIN: 12168569 Mit 37 (teils farbigen) Abbildungen Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
ISBN 978-3-211-79274-2 SpringerWienNewYork ISBN 3-211-00825-X 1.Aufl. SpringerWienNewYork
Vorwort zur zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage
Unseren Familien gewidmet Die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka ist zu einem eigenständigen Wissenschaftsgebiet in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie geworden. Die Pharmakotherapie psychisch kranker Kinder und Jugendlicher unterscheidet sich von der der Erwachsenen, da diese eine entwicklungsabhängige Therapie ist, die die entwicklungsabhängigen physiologischen und psychopathologischen Besonderheiten von Kindern und Jugendlichen berücksichtigt und immer in ein Behandlungskonzept eingebunden ist, das eine Beratung, eine Psychotherapie, soziotherapeutische Maßnahmen und eine Rehabilitation umfasst. Dieses Buch ist Lehrbuch und zugleich Nachschlagewerk zur medikamentösen Behandlung von psychiatrischen Störungen bei Kindern, Jugendlichen und Heranwachsenden. Es ist Ratgeber und Leitfaden für Kinderund Jugendpsychiater und -psychotherapeuten, Pädiater und Allgemeinärzte sowie an diesem Gebiet interessierte Psychologen, Pflegekräfte, Lehrer und Sozialpädagogen. Studierenden der Medizin, Pharmazie und anderen Naturwissenschaften soll es einen aktuellen, fächerübergreifenden und umfassenden Überblick über dieses Wissensgebiet verschaffen. Wir haben die bewährte didaktische Gliederung in „Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie“, „Spezielle Neuro-Psychopharma-
kologie“ und „Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie psychiatrischer Störungen im Kindes- und Jugendalter“ unverändert beibehalten. Der dritte Teil des Buches fußt auf den Ergebnissen der internationalen Studienlage, ist aber auch geprägt von der Erfahrung aus der klinischen Praxis der beteiligten Autoren. Jedes Kapitel wurde vollständig über- bzw. neubearbeitet und damit dem heutigen Kenntnisstand angepasst. Um den Nutzen und das Risiko einer Pharmakotherapie dem jeweiligen Kenntnisstand entsprechend korrekt darzustellen, wurden neue Autoren mit entsprechender Kompetenz auf dem jeweiligen Gebiet hinzugenommen. Neu hinzugekommen ist im ersten Teil des Buches ein Kapitel zu „Allgemeinen Aspekten und Besonderheiten der kinder- und jugendpsychiatrischen Notfalltherapie“. Im dritten Teil sind die Kapitel „Alkohol-verursachte Störungen“ und „Substanzbezogene Störungen“ neu hinzugekommen. Wir danken den Autoren, die mit großem Engagement ihre klinische Erfahrung, durch umfassendes Literaturstudium und kollegialem Erfahrungsaustausch ergänzt und abgesichert, in ihren Beiträgen niedergelegt haben. Wir danken der Bibliothekarin, Frau Arnold, für jede erdenkliche Hilfestellung in der Literaturrecherche. Herrn Dr. Scheuerpflug danken wir für die technische Fürsorge bei allen rechnergesteuerten Aufgabenstellungen. Ein ganz besonderer Dank
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Vorwort zur zweiten, überarbeiteten und erweiterten Auflage
gilt dem Springer-Verlag und hier besonders Frau Mag. Franziska Brugger und Frau Petra Naschenweng für die stets fruchtbare und vertrauensvolle Zusammenarbeit.
Wir hoffen, dass auch die 2. Auflage dieses Buches eine positive Resonanz findet und würden uns über jeden Hinweis auf Irrtümer, für Verbesserungsvorschläge und Ergänzungsanregungen freuen.
Würzburg, Ulm, Zürich, Köln, im November 2008
Manfred Gerlach, Claudia Mehler-Wex, Susanne Walitza, Andreas Warnke, Christoph Wewetzer
Vorwort zur ersten Auflage
Das Buch will ein Leitfaden sein zur medikamentösen Behandlung psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Es vermittelt kompakte Grundlagen zur Neuro-Psychopharmakologie, um ein tieferes Verständnis der Therapieprinzipien sowie der Besonderheiten der Neuro-Psychopharmakologie im Kindes- und Jugendalter zu ermöglichen. Hauptzweck ist jedoch die Anleitung für die tägliche Praxis, eine Handreichung sowohl für den Assistenten in der Weiterbildung als auch den Facharzt in der klinischen ambulanten, teilstationären und stationären Arbeit. Die neuro-psychopharmakologische Behandlung ist zu einem eigenständigen Wissenschaftsgebiet in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie geworden. Eine Fülle von Fragen gilt es bei der Verordnung von Psychopharmaka zu beantworten. Besteht für die vorliegende psychische Störung eine neuro-psychopharmakologische Behandlungsindikation? Wenn ja, welche Substanzen stehen zur Verfügung? Nach welchen Kriterien ist die Auswahl des Präparats zu treffen? Inwieweit ist das Wirksamkeitsprofil eines Medikaments empirisch gesichert? Was ist vor der Verordnung diagnostisch zu sichern? Welche Anforderungen sind an Aufklärung und Compliance vorauszusetzen? Wie ist zu dosieren, wie lange und wann ist mit der erwünschten Wirkung und den unerwünschten Wirkungen zu rechnen? Welche medikamentösen Wechselwirkungen sind bei Kombina-
tionsbehandlungen zu beachten? Inwieweit sind die Kontrollen von Wirkung und unerwünschten Wirkungen auch bei ambulanter Therapie gesichert? Ist die Medikation in der akuten Krankheitsphase anders als im weiteren Verlauf der Erkrankung? Sind die kurzfristigen Wirkungen und unerwünschten Wirkungen identisch mit denen, die bei langfristiger Behandlung zu erwarten sind? Wann besteht die Indikation zur medikamentösen Umstellung und wie ist diese durchzuführen? Wann ist die Absetzung des Medikaments angezeigt und wie ist sie zu handhaben? Welche Laborkontrollen sind bei Aufdosierung und bei Dauermedikation erforderlich? Wie ist die Medikation in das Gesamtkonzept der Behandlung integriert? Welches sind die rechtlichen und ethischen Aspekte, die es zu beachten gilt? Sind Kosten und Nutzen abzuwägen? Zu diesen Fragen will das Buch systematisch wirkstoffspezifisch (Kap. B.1–6) und störungs- oder symptomspezifisch (Kap. C.1– C.16) Antwort geben. Im Anhang sind Beispiele für eine dokumentierte Patientenaufklärung aufgeführt. Zur schnellen Übersicht sind weiterhin gängige Neuro-Psychopharmaka in der Kinder- und Jugendpsychiatrie mit ihren Handelsnamen und Dosierungsempfehlungen aufgelistet, um eine Hilfe für die praktische klinische Arbeit zu geben. Die Behandlung psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen umfasst Neuro-Psychopharmako-Therapie, Psycho-
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edukation, Psychotherapie, körperliche Interventionen, soziotherapeutische Maßnahmen und Rehabilitation. Charakteristisch ist nicht die Anwendung einer isolierten Technik (wie etwa die Verordnung einer Substanz durch Spritze oder Tablette; die Konfrontationsübung im Labor), sondern ein der individuellen Entwicklung des Patienten und dem Krankheitsverlauf angepasstes Behandlungsprogramm. Die Neuro-Psychopharmako-Therapie ist also immer Teil eines Behandlungsprogramms. Sie ist nie ohne begleitende Beratung und Verlaufskontrolle von Wirkung und unerwünschter Wirkung und bei vielen psychischen Erkrankungen nicht ohne Psychotherapie, milieuorientierte Intervention und rehabilitative Maßnahmen zielführend und ethisch verantwortbar anzuwenden. Nicht weniger, aber oft gilt für viele Störungen auch das Umgekehrte: Der Verzicht auf indizierte Medikation kann dem Wohl des Patienten abträglich, in mancher Situation sogar Kunstfehler sein. Die Neuro-Psychopharmako-Therapie ist innerhalb weniger Jahrzehnte zu einem unerlässlichen Hilfsmittel in der Behandlung psychischer Störungen auch bei Kindern und Jugendlichen geworden. Rasch hat sich gezeigt, dass Erfahrungen aus der Erwachsenenpsychiatrie nur begrenzt auf das Kindes- und Jugendalter übertragbar sind. Auch gibt es psychische Störungen, die für das Kindes- und Jugendalter original sind (z.B. autistische Störungen, Enuresis, viele Formen der Epilepsie, hyperkinetische Syndrome, Tic-Störungen usw.) und für die eine neuro-psychopharmakologische Behandlungsindikation besteht. Die Neuro-Psychopharmako-Therapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen ist daher – nicht anders als in der Psychotherapie – ein eigenständiger kinder- und jugendpsychiatrischer Schwerpunkt in Aus- und Weiterbildung, in klinischer Praxis, Fortbildung und
Vorwort zur ersten Auflage
somit auch in der Forschung. Die Verordnung von Neuro-Psychopharmaka ist kompliziert und wegen der hohen Wirksamkeit der Präparate mit Können und besonderer ethischer Verantwortung zu handhaben. Die wesentlichen Erkenntnisse für die Handhabung ergeben sich nicht aus doppelblind placebokontrollierten Studien, die bei transkulturell repräsentativen Patientenpopulationen von Kindern und Jugendlichen durchgeführt wurden. Die Erkenntnisse beruhen hingegen im Wesentlichen auf Forschungsergebnissen und Konsensuserfahrungen der Erwachsenenpsychiatrie und internationalem Konsensus auf der Grundlage klinischer Therapieerfahrungen im Rahmen der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Das vorliegende Buch will dieser Entwicklung Rechnung tragen. Es konzentriert sich auf die Neuro-Psychopharmako-Therapie. Den Rahmenbedingungen (notwendige Diagnostik, Gesamtprogramm einer störungs- beziehungsweise symptomspezifischen Behandlung) wird durch Hinweise auf qualifizierte weiterführende Literatur Rechnung getragen. Dies gibt Raum für den ausführlichen Leitfaden medikamentöser Therapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Das Buch fußt auf internationaler klinischer Erfahrung. Es ist aber auch geprägt von der klinischen Praxis der Mitarbeiter der Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie der Universität Würzburg. In der Erfahrung aus klinischer Praxis liegt die Stärke. Eine Schwäche mag die Subjektivität und Begrenztheit der Erfahrung einer Klinik sein. Angesichts der Fülle der Präparate muss sich der Kliniker auf eine Auswahl beschränken, um mit einem Präparat Erfahrung und wissenschaftliche Kenntnisse zu haben. Das Buch ist, soweit es Rezeptbuch ist, zugleich eine Anfrage: Sind die wissenschaftlichen Darlegungen dem Forschungsstand entsprechend? Sind die Indikationen
Vorwort zur ersten Auflage
und Verschreibungsempfehlungen nach dem gegenwärtigen Stand evidenzbasierter Medizin gültig angegeben? Herausgeber und Autoren sind für jeden Hinweis auf Irrtümer, für Verbesserungsvorschläge und Ergänzungsanregungen dankbar. Wir danken den Autoren, die mit großem Engagement ihre klinische Erfahrung, durch umfassendes Literaturstudium und kollegialem Erfahrungsaustausch ergänzt und abgesichert, in ihren Beiträgen niedergelegt haben. Wir danken Frau Rath und Herrn Renner für die Mithilfe in der Erstellung der Präparatelisten. Wir danken den Sekretärinnen Frau Prölß, Frau Springer, Frau Behringer und Würzburg, im März 2004
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Frau Burns für ihre geduldige, sorgfältige Hilfe, den Bibliothekarinnen Frau Schneider und Frau Batliner für jede erdenkliche Hilfestellung in der Literaturrecherche. Herrn Dr. Scheuerpflug danken wir für die technische Fürsorge bei allen rechnergesteuerten Aufgabenstellungen. Dem Springer-Verlag, und hier besonders Herrn Mag. Wolfgang Dollhäubl und Herrn Raimund Petri-Wieder, danken wir für die förderliche Unterstützung der Konzeption, der formalen Gestaltung und die Herausgabe des Buches. Ein ganz besonderer Dank gilt unseren Frauen und Familien, die unsere Arbeit immer wohlwollend unterstützten. Manfred Gerlach Andreas Warnke Christoph Wewetzer
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Inhaltsverzeichnis
Autorenverzeichnis .............................................................................................................................. xxix Verwendete Abkürzungen ................................................................................................................... xxxi A Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie ........................................................................................ 1 A.1
Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie (M. Gerlach) ................................................ 3 A.1.1 Definitionen ................................................................................................................. 3 A.1.2 Prinzipien der Neurotransmission .............................................................................. 6 A.1.2.1 Synapsen als Orte der Vermittlung von Informationen ............................. 6 A.1.2.2 Definition von Neurotransmittern ............................................................. 7 A.1.2.3 Neurotransmitter ......................................................................................... 9 A.1.2.4 Putative Neurotransmitter........................................................................... 9 A.1.2.5 Einzelschritte der chemischen Synapsen-Übertragung .......................... 11 A.1.2.6 Intrazelluläre Signaltransduktion ............................................................. 14 A.1.2.7 Sekundäre und tertiäre Botenstoffe .......................................................... 18 A.1.3 Neurotransmitter und Neurotransmitter-Rezeptoren ............................................. 19 A.1.3.1 Acetylcholin ................................................................................................ 19 A.1.3.1.1 Neuroanatomisches Vorkommen und Funktion ................... 19 A.1.3.1.2 Biosynthese und Inaktivierungsmechanismen ...................... 19 A.1.3.1.3 ACh-Neurorezeptoren............................................................. 20 A.1.3.2 Katecholamine............................................................................................ 27 A.1.3.2.1 Dopamin .................................................................................. 27 A.1.3.2.2 Noradrenalin und Adrenalin .................................................. 32 A.1.3.3 Serotonin .................................................................................................... 39 A.1.3.3.1 Neuroanatomisches Vorkommen ........................................... 39 A.1.3.3.2 Biosynthese und Inaktivierungsmechanismen ...................... 40 A.1.3.3.3 Serotoninerge Rezeptoren ...................................................... 43 A.1.3.4 Aminosäure-Neurotransmitter ................................................................. 50 A.1.3.4.1 Aspartat und Glutamat ........................................................... 50 A.1.3.4.2 GABA ....................................................................................... 58 A.1.4 Molekulare Strukturen im Gehirn als Angriffspunkte von Neuro-Psychopharmaka ........................................................................................... 64 A.1.4.1 Beeinflussung Neurotransmitter-abbauender Enzyme durch Neuro-Psychopharmaka ............................................................................ 65 A.1.4.2 Neurorezeptor-vermittelte Pharmakonwirkungen .................................. 67 A.1.4.2.1 Besetzungstheorie zur Erklärung der Wirkung von Neuro-Psychopharmaka ......................................................... 67
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Inhaltsverzeichnis
A.1.5
A.1.4.2.2 Neuro-Psychopharmaka mit Wirkungen an Neurorezeptoren................................................................. 69 A.1.4.3 Neuronale und gliäre Transportproteine als Angriffspunkte von Neuro-Psychopharmaka ..................................................................... 70 A.1.4.4 Spannungs-abhängige Ionenkanäle als Angriffspunkte von Neuro-Psychopharmaka ..................................................................... 70 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 71 A.1.5.1 Weiterführende Literatur ........................................................................... 71 A.1.5.2 Ausgewählte Literatur ................................................................................ 71
A.2
Besonderheiten der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter (M. Gerlach, K. Klampfl, C. Mehler-Wex, A. Warnke) ...................................... 73 A.2.1 Besondere Voraussetzungen der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen................................................................................... 73 A.2.1.1 Pharmakotherapie als Teil eines therapeutischen Gesamtkonzeptes ...... 73 A.2.1.2 Anwendung außerhalb des Zulassungsbereiches ..................................... 74 A.2.1.3 Probleme des Nachweises der Wirksamkeit von Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter ............................ 77 A.2.1.4 Rechtliche und ethische Fragen im Praxisalltag ....................................... 77 A.2.2 Abhängigkeit der Pharmakotherapie im Kindes- und Jugendalter von alters- und entwicklungsabhängigen organischen, psychischen und psychosozialen Faktoren ........................................................................................... 81 A.2.2.1 Ontogenetische Einflüsse auf die Pharmakokinetik ................................ 81 A.2.2.2 Ontogenetische Einflüsse auf die Pharmakodynamik ............................. 85 A.2.3 TDM als generelle Indikation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie ..................... 86 A.2.4 Literaturverzeichnis ................................................................................................... 88
A.3
Anmerkungen zur Pharmakotherapie in der ambulanten Praxis (K.-U. Oehler, A. Warnke, C. Wewetzer, U. Schupp) ............................................................. 91 A.3.1 Indikationsstellung..................................................................................................... 91 A.3.2 Aspekte der Compliance ............................................................................................ 92 A.3.3 Kontrolle von Wirkung und UAWs ........................................................................... 93 A.3.4 Verlaufskontrolle ........................................................................................................ 94 A.3.5 Kostenaspekte ............................................................................................................. 94 A.3.6 Zusammenarbeit mit der Klinik................................................................................ 94
A.4
Anmerkungen zur Pharmakotherapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung (A. Warnke).................................................. 95 A.4.1 Allgemeine Aspekte und Besonderheiten ................................................................. 95 A.4.2 Allgemeine Therapieprinzipien ................................................................................. 97 A.4.2.1 Autoaggressives, selbstverletzendes Verhalten .......................................... 97 A.4.2.2 Aggressives Verhalten ................................................................................ 97 A.4.2.3 Hyperkinetisches Verhalten ....................................................................... 97 A.4.2.4 Stereotypien................................................................................................ 98 A.4.2.5 Autistische Störungen ................................................................................ 98 A.4.2.6 Schlafstörungen.......................................................................................... 98 A.4.2.7 Andere psychische Störungen ................................................................... 99 A.4.3 Therapie in Krisen- oder Notfallsituationen ............................................................ 99
Inhaltsverzeichnis
A.4.4 A.4.5
A.5
B
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UAWs .......................................................................................................................... 99 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 100 A.4.5.1 Weiterführende Literatur ......................................................................... 100 A.4.5.2 Ausgewählte Literatur .............................................................................. 100
Allgemeine Aspekte und Besonderheiten der kinder- und jugendpsychiatrischen Notfalltherapie (M. Scheifele, A. Warnke, M. Romanos) .................................................... 103 A.5.1 Suizidalität ................................................................................................................ 105 A.5.2 Erregungszustände ................................................................................................... 105 A.5.3 Bewusstseinsstörungen ............................................................................................ 106 A.5.4 Halluzinationen und Wahnvorstellungen .............................................................. 106 A.5.5 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 109
Spezielle Neuro-Psychopharmakologie ........................................................................................ 111 B.1
Antidepressiva (R. Taurines, C. Wewetzer, A. Warnke, M. Gerlach) .................................. 113 B.1.1 Definition, Einteilung, Wirkungsmechanismen ..................................................... 113 B.1.2 Klinische Neuro-Psychopharmakologie ................................................................. 118 B.1.2.1 Anwendungsgebiete ................................................................................. 118 B.1.2.1.1 Monoamin-Wiederaufnahme-Hemmer .............................. 118 B.1.2.1.2 MAO-A-Hemmer: Moclobemid........................................... 120 B.1.2.1.3 α2-Adrenozeptor-Antagonisten ............................................ 120 B.1.2.1.4 Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte .................. 120 B.1.2.2 Klinische Wirksamkeit und Studienlage ................................................. 120 B.1.2.2.1 Monoamin-Wiederaufnahme-Hemmer .............................. 121 B.1.2.2.2 MAO-A-Hemmer: Moclobemid........................................... 127 B.1.2.2.3 α2-Adrenozeptor-Antagonisten ............................................ 127 B.1.2.2.4 Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte .................. 127 B.1.2.3 Dosierungsempfehlungen........................................................................ 127 B.1.2.3.1 Monoamin-Wiederaufnahme-Hemmer .............................. 127 B.1.2.3.2 MAO-A-Hemmer: Moclobemid........................................... 130 B.1.2.3.3 α2-Adrenozeptor-Antagonisten ............................................ 130 B.1.2.3.4 Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte .................. 131 B.1.2.4 UAWs ........................................................................................................ 131 B.1.2.4.1 Monoamin-Wiederaufnahme-Hemmer .............................. 131 B.1.2.4.2 MAO-A-Hemmer: Moclobemid........................................... 134 B.1.2.4.3 α2-Adrenozeptor-Antagonisten ............................................ 135 B.1.2.4.4 Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte .................. 135 B.1.2.5 Arzneimittelwechselwirkungen ............................................................... 135 B.1.2.5.1 Monoamin-Wiederaufnahme-Hemmer .............................. 136 B.1.2.5.2 MAO-A-Hemmer: Moclobemid........................................... 137 B.1.2.5.3 α2-Adrenozeptor-Antagonisten ............................................ 138 B.1.2.5.4 Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte .................. 140 B.1.2.6 Anwendungseinschränkungen ................................................................ 140 B.1.2.6.1 Monoamin-Wiederaufnahme-Hemmer .............................. 140 B.1.2.6.2 MAO-A-Hemmer: Moclobemid........................................... 142 B.1.2.6.3 α2-Adrenozeptor-Antagonisten ............................................ 143 B.1.2.6.4 Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte .................. 143
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Inhaltsverzeichnis
B.1.3 B.1.4 B.1.5
B.1.6
B.2
Dauer der Behandlung ............................................................................................. 143 Notwendige Kontrolluntersuchungen .................................................................... 144 Klinische Pharmakologie ausgewählter Antidepressiva im Überblick .................. 144 B.1.5.1 Amitriptylin ............................................................................................. 146 B.1.5.2 Citalopram ............................................................................................... 147 B.1.5.3 Clomipramin ............................................................................................ 147 B.1.5.4 Doxepin .................................................................................................... 148 B.1.5.5 Escitalopram............................................................................................. 148 B.1.5.6 Fluoxetin ................................................................................................... 149 B.1.5.7 Fluvoxamin ............................................................................................... 149 B.1.5.8 Johanniskrautextrakte.............................................................................. 150 B.1.5.9 Imipramin ................................................................................................ 150 B.1.5.10 Maprotilin ................................................................................................ 151 B.1.5.11 Mianserin ................................................................................................. 151 B.1.5.12 Mirtazapin ................................................................................................ 152 B.1.5.13 Moclobemid ............................................................................................ 152 B.1.5.14 Paroxetin ................................................................................................... 153 B.1.5.15 Reboxetin .................................................................................................. 153 B.1.5.16 Sertralin .................................................................................................... 154 B.1.5.17 Venlafaxin ................................................................................................. 154 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 155 B.1.6.1 Weiterführende Literatur ......................................................................... 155 B.1.6.2 Ausgewählte Literatur .............................................................................. 155
Antiepileptika (Antikonvulsiva) (M. Romanos, M.S. Kerdar, T. Renner, M. Gerlach) ............................................................ 163 B.2.1 Definition, Einteilung und Wirkungsmechanismen ............................................. 163 B.2.2 Klinische Neuro-Psychopharmakologie ................................................................. 167 B.2.2.1 Anwendungsgebiete ................................................................................. 167 B.2.2.1.1 Antiepileptika mit vorwiegender Wirkung auf spannungsabhängige Na+-Kanäle ......................................... 167 B.2.2.1.2 Antiepileptika mit Wirkung auf spannungsabhängige Ca2+-Kanäle ........................................................................... 168 B.2.2.1.3 Antiepileptika mit Wirkung an Rezeptoren exzitatorischer Aminosäuren ................................................ 169 B.2.2.1.4 Antiepileptika mit primärer Wirkung am GABAA-Rezeptor ............................................................. 169 B.2.2.1.5 Antiepileptika, die primär eine Änderung der Konzentration von Neurotransmittern oder Neuromodulatoren bewirken ............................................... 169 B.2.2.1.6 Sonstige Antiepileptika ........................................................ 170 B.2.2.2 Klinische Wirksamkeit und Studienlage ................................................. 170 B.2.2.2.1 Antiepileptika mit vorwiegender Wirkung auf spannungsabhängige Na+-Kanäle ......................................... 171 B.2.2.2.2 Antiepileptika mit Wirkung auf spannungsabhängige Ca2+-Kanäle ........................................................................... 173 B.2.2.2.3 Antiepileptika mit Wirkung an Rezeptoren exzitatorischer Aminosäuren ................................................ 174
Inhaltsverzeichnis
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B.2.2.2.4
B.2.2.3
B.2.2.4
B.2.2.5
B.2.2.6
Antiepileptika mit primärer Wirkung am GABAA-Rezeptor ................................................................... 174 B.2.2.2.5 Antiepileptika, die primär eine Änderung der Konzentration von Neurotransmittern oder Neuromodulatoren bewirken ............................................... 175 B.2.2.2.6 Sonstige Antiepileptika ........................................................ 175 Dosierungsempfehlungen........................................................................ 176 B.2.2.3.1 Antiepileptika mit vorwiegender Wirkung auf spannungsabhängige Na+-Kanäle ......................................... 176 B.2.2.3.2 Antiepileptika mit Wirkung auf spannungsabhängige Ca2+-Kanäle ........................................................................... 180 B.2.2.3.3 Antiepileptika mit Wirkung an Rezeptoren exzitatorischer Aminosäuren ................................................ 180 B.2.2.3.4 Antiepileptika mit primärer Wirkung am GABAA-Rezeptor ................................................................... 181 B.2.2.3.5 Antiepileptika, die primär eine Änderung der Konzentration von Neurotransmittern oder Neuromodulatoren bewirken ............................................... 183 B.2.2.3.6 Sonstige Antiepileptika ........................................................ 183 UAWs ........................................................................................................ 184 B.2.2.4.1 Antiepileptika mit vorwiegender Wirkung auf spannungsabhängige Na+-Kanäle ......................................... 185 B.2.2.4.2 Antiepileptika mit Wirkung auf spannungsabhängige Ca2+-Kanäle ........................................................................... 187 B.2.2.4.3 Antiepileptika mit Wirkung an Rezeptoren exzitatorischer Aminosäuren ................................................ 188 B.2.2.4.4 Antiepileptika mit primärer Wirkung am GABAA-Rezeptor ................................................................... 188 B.2.2.4.5 Antiepileptika, die primär eine Änderung der Konzentration von Neurotransmittern oder Neuromodulatoren bewirken ............................................... 189 B.2.2.4.6 Sonstige Antiepileptika ........................................................ 190 Arzneimittelwechselwirkungen ............................................................... 191 B.2.2.5.1 Antiepileptika mit vorwiegender Wirkung auf spannungsabhängige Na+-Kanäle ......................................... 191 B.2.2.5.2 Antiepileptika mit Wirkung auf spannungsabhängige Ca2+-Kanäle ........................................................................... 195 B.2.2.5.3 Antiepileptika mit Wirkung an Rezeptoren exzitatorischer Aminosäuren ................................................ 195 B.2.2.5.4 Antiepileptika mit primärer Wirkung am GABAA-Rezeptor ................................................................... 196 B.2.2.5.5 Antiepileptika, die primär eine Änderung der Konzentration von Neurotransmittern oder Neuromodulatoren bewirken ............................................... 197 B.2.2.5.6 Sonstige Antiepileptika ........................................................ 197 Anwendungseinschränkungen ................................................................ 198 B.2.2.6.1 Antiepileptika mit vorwiegender Wirkung auf spannungsabhängige Na+-Kanäle ......................................... 198
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Inhaltsverzeichnis
B.2.2.6.2
B.2.3 B.2.4 B.2.5
B.2.6
B.3
Antiepileptika mit Wirkung auf spannungsabhängige Ca2+-Kanäle ........................................................................... 200 B.2.2.6.3 Antiepileptika mit Wirkung an Rezeptoren exzitatorischer Aminosäuren ................................................ 200 B.2.2.6.4 Antiepileptika mit primärer Wirkung am GABAA-Rezeptor ................................................................... 201 B.2.2.6.5 Antiepileptika, die primär eine Änderung der Konzentration von Neurotransmittern oder Neuromodulatoren bewirken ............................................... 202 B.2.2.6.6 Sonstige Antiepileptika ........................................................ 203 Dauer der Behandlung ............................................................................................. 203 Notwendige Kontrolluntersuchungen .................................................................... 203 Klinische Pharmakologie ausgewählter Antiepileptika im Überblick ................... 204 B.2.5.1 Carbamazepin .......................................................................................... 205 B.2.5.2 Clobazam: s. Kap. B.3.5.3......................................................................... 206 B.2.5.3 Clonazepam.............................................................................................. 206 B.2.5.4 Diazepam: siehe Kap. B.3.5.4 ................................................................... 206 B.2.5.5 Ethosuximid ............................................................................................. 206 B.2.5.6 Felbamat ................................................................................................... 207 B.2.5.7 Gabapentin ............................................................................................... 208 B.2.5.8 Lamotrigin................................................................................................ 209 B.2.5.9 Levetiracetam .......................................................................................... 210 B.2.5.10 Lorazepam. Siehe Kap. B.3.5.10............................................................... 211 B.2.5.11 Mesuximid................................................................................................ 211 B.2.5.12 Oxcarbazepin ........................................................................................... 211 B.2.5.13 Phenobarbital ........................................................................................... 212 B.2.5.14 Phenytoin ................................................................................................. 213 B.2.5.15 Pregabilin ................................................................................................. 214 B.2.5.16 Primidon .................................................................................................. 215 B.2.5.17 Rufinamid................................................................................................. 215 B.2.5.18 Sultiam...................................................................................................... 216 B.2.5.19 Tiagabin .................................................................................................... 217 B.2.5.20 Topiramat ................................................................................................. 218 B.2.5.21 Valproinsäure ........................................................................................... 219 B.2.5.22 Vigabatrin ................................................................................................. 220 B.2.5.23 Zonisamid................................................................................................. 220 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 221 B.2.6.1 Weiterführende Lehrbücher .................................................................... 221 B.2.6.2 Ausgewählte Literatur .............................................................................. 221
Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika (J. Seifert, T. Renner, M. Gerlach).............. 225 B.3.1 Definition, Einteilung, Wirkungsmechanismen ..................................................... 225 B.3.2 Klinische Neuro-Psychopharmakologie ................................................................. 229 B.3.2.1 Anwendungsgebiete ................................................................................. 229 B.3.2.1.1 Benzodiazepine ...................................................................... 229 B.3.2.1.2 Antidepressiva mit serotoninerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente .................................... 230 B.3.2.1.3 Niedrigpotente Neuroleptika ............................................... 230
Inhaltsverzeichnis
B.3.3 B.3.4 B.3.5
xvii
B.3.2.1.4 Diverse (Buspiron, Hydroxyzin, Opipramol) ...................... 230 B.3.2.1.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker) ......................... 231 B.3.2.1.6 Antihistaminika ..................................................................... 231 B.3.2.2 Klinische Wirksamkeit und Studienlage ................................................. 231 B.3.2.2.1 Benzodiazepine ..................................................................... 232 B.3.2.2.2 Antidepressiva mit serotoninerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente .................................... 234 B.3.2.2.3 Niedrigpotente Neuroleptika ................................................ 234 B.3.2.2.4 Diverse (Buspiron, Hydroxyzin, Opipramol) ..................... 235 B.3.2.2.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker) ......................... 235 B.3.2.2.6 Antihistaminika ..................................................................... 236 B.3.2.3 Dosierungsempfehlungen........................................................................ 236 B.3.2.3.1 Benzodiazepine ...................................................................... 236 B.3.2.3.2 Antidepressiva mit serotoninerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente .................................... 236 B.3.2.3.3 Niedrigpotente Neuroleptika ................................................ 236 B.3.2.3.4 Diverse Anxiolytika (Buspiron. Hydroxyzin, Opipramol) .. 236 B.3.2.3.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker) ......................... 236 B.3.2.3.6 Antihistaminika ..................................................................... 236 B.3.2.4 UAWs ........................................................................................................ 237 B.3.2.4.1 Benzodiazepine ...................................................................... 237 B.3.2.4.2 Antidepressiva mit serotoninerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente .................................... 237 B.3.2.4.3 Niedrigpotente Neuroleptika ................................................ 237 B.3.2.4.4 Diverse Anxiolytika (Buspiron, Hydroxyzin, Opipramol) .. 237 B.3.2.4.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker) ......................... 237 B.3.2.4.6 Antihistaminika ..................................................................... 238 B.3.2.5 Arzneimittelwechselwirkungen ............................................................... 238 B.3.2.5.1 Benzodiazepine ...................................................................... 238 B.3.2.5.2 Antidepressiva mit serotoninerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente .................................... 238 B.3.2.5.3 Niedrigpotente Neuroleptika ................................................ 238 B.3.2.5.4 Diverse Anxiolytika (Buspiron, Hydroxyzin, Opipramol) .. 238 B.3.2.5.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker) ......................... 238 B.3.2.5.6 Antihistaminika ..................................................................... 238 B.3.2.6 Anwendungseinschränkungen ................................................................ 238 B.3.2.6.1 Benzodiazepine ...................................................................... 238 B.3.2.6.2 Antidepressiva ....................................................................... 241 B.3.2.6.3 Neuroleptika .......................................................................... 241 B.3.2.6.4 Diverse Anxiolytika (Buspiron, Hydroxyzin, Opipramol) .. 241 B.3.2.6.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker) ......................... 242 B.3.2.6.6 Antihistaminika ..................................................................... 242 Dauer der Behandlung ............................................................................................. 242 Notwendige Kontrolluntersuchungen .................................................................... 242 Klinische Pharmakologie ausgewählter Anxiolytika und Hypnotika im Überblick............................................................................................................. 243 B.3.5.1 Alprazolam .............................................................................................. 243 B.3.5.2 Buspiron ................................................................................................... 244
xviii
Inhaltsverzeichnis
B.3.6
B.4
B.3.5.3 Clobazam .................................................................................................. 244 B.3.5.4 Diazepam .................................................................................................. 245 B.3.5.5 Dikaliumchlorazepat ............................................................................... 245 B.3.5.6 Diphenhydramin ..................................................................................... 246 B.3.5.7 Doxylamin ................................................................................................ 246 B.3.5.8 Flunitrazepam .......................................................................................... 247 B.3.5.9 Hydroxyzin ............................................................................................... 247 B.3.5.10 Lorazepam ................................................................................................ 248 B.3.5.11 Lormetazepam ......................................................................................... 248 B.3.5.12 Nitrazepam ............................................................................................... 249 B.3.5.13 Nordazepam ............................................................................................. 249 B.3.5.14 Opipramol ................................................................................................ 250 B.3.5.15 Temazepam............................................................................................... 250 B.3.5.16 Zopiclon ................................................................................................... 251 B.3.5.17 Zolpidem .................................................................................................. 251 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 252 B.3.6.1 Weiterführende Literatur ......................................................................... 252 B.3.6.2 Ausgewählte Literatur ............................................................................. 252
Neuroleptika (C. Mehler-Wex, Ch. Wewetzer, M. Gerlach) ................................................ 255 B.4.1 Definition, Einteilung und Wirkungsmechanismen .............................................. 255 B.4.2 Klinische Neuro-Psychopharmakologie ................................................................. 258 B.4.2.1 Anwendungsgebiete ................................................................................. 258 B.4.2.2 Klinische Wirksamkeit und Studienlage ................................................ 260 B.4.2.3 Dosierungsempfehlungen........................................................................ 261 B.4.2.4 UAWs ....................................................................................................... 262 B.4.2.5 Arzneimittelwechselwirkungen ............................................................... 271 B.4.2.6 Anwendungseinschränkungen ............................................................... 271 B.4.3 Dauer der Behandlung ............................................................................................ 275 B.4.4 Notwendige Kontrolluntersuchungen .................................................................... 276 B.4.5 Klinische Pharmakologie ausgewählter Neuroleptika im Überblick .................... 277 B.4.5.1 Amisulprid ............................................................................................... 277 B.4.5.2 Aripiprazol ............................................................................................... 278 B.4.5.3 Chlorprothixen ........................................................................................ 278 B.4.5.4 Clozapin ................................................................................................... 279 B.4.5.5 Flupentixol .............................................................................................. 279 B.4.5.6 Fluphenazin .............................................................................................. 280 B.4.5.7 Haloperidol .............................................................................................. 280 B.4.5.8 Levomepromazin ..................................................................................... 281 B.4.5.9 Melperon .................................................................................................. 281 B.4.5.10 Olanzapin ................................................................................................ 282 B.4.5.11 Paliperidon ............................................................................................... 282 B.4.5.12 Perazin ..................................................................................................... 283 B.4.5.13 Perphenazin ............................................................................................. 283 B.4.5.14 Pimozid .................................................................................................... 284 B.4.5.15 Pipamperon ............................................................................................. 284 B.4.5.16 Quetiapin ................................................................................................. 285 B.4.5.17 Risperidon ............................................................................................... 285
Inhaltsverzeichnis
B.4.6
B.5
xix
B.4.5.18 Ziprasidon ................................................................................................ 286 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 286 B.4.6.1 Weiterführende Literatur ......................................................................... 286 B.4.6.2 Ausgewählte Literatur .............................................................................. 286
Psychostimulanzien (S. Walitza, M. Romanos, J. Seifert, A. Warnke, M. Gerlach) ........... 289 B.5.1 Definition, Einteilung und Wirkungsmechanismen .............................................. 289 B.5.2 Klinische Neuro-Psychopharmakologie ................................................................. 292 B.5.2.1 Anwendungsgebiete ................................................................................. 292 B.5.2.1.1 Methylphenidat ..................................................................... 292 B.5.2.1.2 Amphetamin .......................................................................... 292 B.5.2.1.3 Atomoxetin ............................................................................ 293 B.5.2.1.4 Modafinil ............................................................................... 294 B.5.2.2 Klinische Wirksamkeit und Studienlage ................................................. 294 B.5.2.2.1 Methylphenidat ..................................................................... 294 B.5.2.2.2 Amphetamin .......................................................................... 297 B.5.2.2.3 Atomoxetin ............................................................................ 297 B.5.2.2.4 Modafinil ............................................................................... 299 B.5.2.3 Dosierungsempfehlungen........................................................................ 299 B.5.2.3.1 Methylphenidat ..................................................................... 299 B.5.2.3.2 Amphetamin .......................................................................... 300 B.5.2.3.3 Atomoxetin ............................................................................ 300 B.5.2.3.4 Modafinil ............................................................................... 300 B.5.2.4 UAWs ........................................................................................................ 300 B.5.2.4.1/2 Methylphenidat und Amphetamin....................................... 300 B.5.2.4.3 Atomoxetin ............................................................................ 305 B.5.2.4.4 Modafinil ............................................................................... 306 B.5.2.5 Arzneimittelwechselwirkungen ............................................................... 306 B.5.2.5.1 Methylphenidat ..................................................................... 306 B.5.2.5.2 Amphetamin .......................................................................... 307 B.5.2.5.3 Atomoxetin ............................................................................ 307 B.5.2.5.4 Modafinil ............................................................................... 307 B.5.2.6 Anwendungseinschränkungen ................................................................ 307 B.5.2.6.1 Methylphenidat ..................................................................... 307 B.5.2.6.2 Amphetamin .......................................................................... 308 B.5.2.6.3 Atomoxetin ............................................................................ 308 B.5.2.6.4 Modafinil ............................................................................... 308 B.5.3 Dauer der Behandlung ............................................................................................ 308 B.5.4 Notwendige Kontrolluntersuchungen .................................................................... 309 B.5.5 Klinische Pharmakologie ausgewählter Psychostimulanzien im Überblick ......... 309 B.5.5.1 Amphetamin ........................................................................................... 310 B.5.5.2 Atomoxetin ............................................................................................... 311 B.5.5.3 Methylphenidat ....................................................................................... 312 B.5.5.4 Modafinil ................................................................................................. 313 B.5.6 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 313 B.5.6.1 Weiterführende Literatur ......................................................................... 313 B.5.6.2 Ausgewählte Literatur .............................................................................. 313
xx
Inhaltsverzeichnis
B.6
Stimmungsstabilisatoren (M. Scheifele, A. Warnke, M. Gerlach) ...................................... 319 B.6.1 Definition, Einteilung und Wirkungsmechanismen .............................................. 319 B.6.2 Klinische Neuro-Psychopharmakologie ................................................................. 320 B.6.2.1 Anwendungsgebiete ................................................................................. 320 B.6.2.2 Klinische Wirksamkeit und Studienlage ................................................. 321 B.6.2.3 Dosierungsempfehlungen........................................................................ 322 B.6.2.4 UAWs ........................................................................................................ 324 B.6.2.5 Arzneimittelwechselwirkungen ............................................................... 324 B.6.2.6 Anwendungseinschränkungen ................................................................ 326 B.6.3 Dauer der Behandlung ............................................................................................. 326 B.6.4 Notwendige Kontrolluntersuchungen .................................................................... 326 B.6.5 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 327 B.6.5.1 Weiterführende Literatur ......................................................................... 327 B.6.5.2 Ausgewählte Literaratur........................................................................... 327
C Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie psychiatrischer Störungen im Kindes- und Jugendalter ........................................................................................ 331 C.1 Aggressives und autoaggressives Verhalten, Impulskontrollstörung, Störung des Sozialverhaltens (C. Mehler-Wex, M. Romanos, A. Warnke) ....................................... 333 C.1.1 Definition, Klassifikation und Zielsymptome ........................................................ 333 C.1.2 Therapeutische Rahmenbedingungen .................................................................... 333 C.1.3 Pharmakotherapie .................................................................................................... 334 C.1.3.1 Neuroleptika ............................................................................................. 334 C.1.3.2 Psychostimulanzien ................................................................................. 337 C.1.3.3 Stimmungsstabilisatoren ......................................................................... 337 C.1.3.4 SSRIs ......................................................................................................... 338 C.1.3.5 Benzodiazepine ........................................................................................ 339 C.1.3.6 Sonstige..................................................................................................... 339 C.1.4 Behandlungsstrategie .............................................................................................. 340 C.1.4.1 Therapie der Akutsymptomatik .............................................................. 340 C.1.4.2 Langzeittherapie ....................................................................................... 340 C.1.4.2.1 Rein symptomatische Therapie ............................................ 340 C.1.4.2.2 Spezifische Behandlung bei psychiatrischer Komorbidität ......................................................................... 341 C.1.5 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 342 C.2 Alkohol-bezogene Störungen (G. A. Wiesbeck, R. Stohler) ................................................ 345 C.2.1 Definition, Klassifikation und Zielsymptome ........................................................ 345 C.2.2 Therapeutische Rahmenbedingungen .................................................................... 346 C.2.3 Wahl der Pharmakotherapie .................................................................................... 346 C.2.3.1 Arzneistoffe zur Behandlung des Entzugssyndroms .............................. 346 C.2.3.1.1 Clonidin ................................................................................. 346 C.2.3.1.2 Carbamazepin........................................................................ 347 C.2.3.1.3 Benzodiazepine ...................................................................... 347 C.2.3.1.4 Clomethiazol ......................................................................... 348 C.2.3.2 Arzneistoffe zur Trinkmengenreduktion beziehungsweise zur Verringerung des Rückfallrisikos ............................................................ 348
Inhaltsverzeichnis
C.2.4
C.2.5
xxi
C.2.3.2.1 Disulfiram .............................................................................. 348 C.2.3.2.2 Naltrexon ............................................................................... 348 C.2.3.2.3 Acamprosat ............................................................................ 349 Behandlungsstrategien ............................................................................................. 349 C.2.4.1 Intoxikation .............................................................................................. 349 C.2.4.2 Entzugssyndrom ...................................................................................... 350 C.2.4.3 Rückfallprophylaxe .................................................................................. 350 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 352
C.3 Angststörungen und Phobien (K. Klampfl, A. Warnke, J. Seifert) ..................................... 353 C.3.1 Definition, Klassifikation und Zielsymptome ........................................................ 353 C.3.1.1 Angststörungen (F41, F93.0) ................................................................... 353 C.3.1.2 Phobische Störungen (F40, F93.1, F93.2) ............................................... 353 C.3.2 Therapeutische Rahmenbedingungen .................................................................... 354 C.3.3 Wahl der Pharmakotherapie .................................................................................... 354 C.3.3.1 Panikstörungen/Agoraphobie sowie Schulangst und -phobie (Schulverweigerung/Trennungsangst) .................................................... 358 C.3.3.2 Soziale Phobien ........................................................................................ 358 C.3.3.3 Generalisierte Angststörungen ................................................................ 359 C.3.3.4 Posttraumatische Belastungsstörung ...................................................... 360 C.3.3.5 Einfache Phobien ..................................................................................... 360 C.3.4 Behandlungsstrategien ............................................................................................ 360 C.3.4.1 Allgemeine therapeutische Maßnahmen ................................................ 360 C.3.4.2 Auswahl der Medikation und Dosierung................................................ 361 C.3.5 Literaturverzeichnis ................................................................................................. 362 C.4 Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störungen (S. Walitza, M. Romanos, A. Warnke).................................................................................. 365 C.4.1 Definition, Klassifikation und Zielsymptome ........................................................ 365 C.4.2 Therapeutische Rahmenbedingungen .................................................................... 366 C.4.2.1 Diagnostische Voraussetzungen .............................................................. 366 C.4.2.2 Therapeutische Voraussetzungen ............................................................ 366 C.4.2.3 Indikation für eine Pharmakotherapie ................................................... 366 C.4.3 Wahl der Pharmakotherapie .................................................................................... 366 C.4.3.1 Medikation der ersten Wahl: Methylphenidat und Amphetamin, in besonderen Fällen auch Atomoxetin .................................................. 367 C.4.3.2 Medikation der dritten Wahl .................................................................. 369 C.4.3.2.1 Psychostimulanzien vom Nicht-Amphetamin-Typ............. 369 C.4.3.2.2 Antidepressiva ...................................................................... 369 C.4.3.2.3 Diverse ................................................................................... 370 C.4.4 Behandlungsstrategien ............................................................................................. 371 C.4.4.1 Kinder im Vorschulalter........................................................................... 371 C.4.4.2 Schulkinder .............................................................................................. 372 C.4.4.3 Therapie von ADHS und komorbiden Störungen ................................. 372 C.4.4.3.1 ADHS mit Störung des Sozialverhaltens .............................. 372 C.4.4.3.2 ADHS und emotionale Störungen, depressive Symptome, Zwangsstörungen .............................................. 373 C.4.4.3.3 ADHS und komorbide Tic-Störungen ................................. 373
xxii
Inhaltsverzeichnis
C.4.5
C.4.4.3.4 ADHS und Epilepsie ............................................................. 374 C.4.4.3.5 ADHS und Intelligenzminderung (IQ β4 > α7) (–)-Nikotin Cytisin (+)-Anatoxin-a Epibatidin RJR-2403 ABT-418 A-85380
(–)-Nikotin Epibatidin SIB-1553A DMPP
α7: DMAC, GTS-21, AR-R17779, Cholin α9, α10: Carbachol, DMPP, Oxotremorin
Epibatidin (+)-Anatoxin-a TMA
Rezeptorsubtyp-selektive Antagonisten
Mecamylamin (β2, β4 > α4) Dihydro-β-erythroidin (β2 > β4) Chlorisondamin (α3β4) α-Conotoxin MII (α3/α6β2) α-Conotoxin PIA (α6β2) Chlorisondamin
Mecamylamin (β2, β4 > α4) Hexamethonium neuronales Bungarotoxin α-Conotoxin AuIB (α3β4) Chlorisondamin
α7: α-Bungarotoxin, Methyllycaconitin α7 > α6 > α3 > α4 = α1: α-Conotoxin IMI α9, α10: α-Bungarotoxin, d-Tubocurarin, Nicotin, Atropin, Muscarin, Strychnin, Bicuculin, Tropisetron
α-Bungarotoxin d-Tubocurarin α-Conotoxin GI α-Conotoxin MI α-Conotoxin SI
Signaltransduktionsmechanismus
N+-/K+-/Ca2+-Fluss
N+-/K+-/Ca2+-Fluss
N+-/K+-/Ca2+-Fluss
N+-/K+-/Ca2+-Fluss
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
Tab. A.1.3. Klassifikation, Nomenklatur und Eigenschaften von nikotinischen Cholinozeptoren (nACh-Rezeptoren) (nach Watling, 2006)
23
24
Tab. A.1.3. (Fortsetzung) Neuronaler (ZNS), α-Bungarotoxin-insensitiver nACh-Rezeptor
Neuronaler (ANS), α-Bungarotoxininsensitiver nAChRezeptor
Neuronaler (ZNS und ANS), α-Bungarotoxinsensitiver nACh-Rezeptor
Neuromuskulärer nACh-Rezeptor
Gewebeexpression
α4, β2: im ZNS weit verbreitet, im Thalamus in hoher Dichte α2: Nucleus interpeduncularis, Retikularissystem, Colliculus inferior, Septum α3: Thalamus, LC, Retina, mediale Habenula α5: Hippocampus, SN, VTA α6: SN, VTA, LC β3: SN, VTA, LC, Retina β4: mediale Habenula, Nucleus interpeduncularis, Retina
Sympathische Ganglien Sensorische Ganglien Chromaffine Zellen Fibroblasten Keratinozyten
α7: Im ZNS weit verbreitet, vor allem im Kortex, Hippocampus, Hypothalamus, Corpus amgydaloideum; autonomes Nervensystem, Gliazellen α9: Cochlea, sensorische Neuronen
Skelettmuskeln
Physiologische Funktion
Postsynaptische Rezeptoren: synaptische Neurotransmission (selten) Präsynaptische Rezeptoren: Modulation der synaptischen Neurotransmission
Synaptische Neurotransmission (sympathische Ganglien) Präsynaptische Regulation der Neurotransmitter-Freisetzung
α7: Postsynaptische Rezeptoren: synaptische Neurotransmission (selten: z.B. im Hippocampus) Präsynaptische Rezeptoren: Modulation der Glutamatund GABA-Freisetzung, synaptische Plastizität, Genregulation
Neuromuskuläre Neurotransmission
ANS, autonomes Nervensystem; GABA, γ-Aminobuttersäure; LC, Locus caeruleus; SN, Substantia nigra; VTA, Area tegmentalis ventralis, ZNS, Zentralnervensystem Chemische Abkürzungen: A-85380, 3-(2[S]-Azedidinylmethoxy)pyridin; ABT-418, (S)-3-Methyl-5-(1-methyl-2-pyrrolidinyl)isoxazol; AR-R17779, (–)-spiro[1-Azabicyclo[2.2.2]oktan-3,5´-oxazolidin-2´-on (4a); DMAC, 3-(4)-Dimethylaminocinnamylidin-anabasein; DMPP, N,N-Dimethyl-N´-phenylpiperazinium-iodid; GTS-21, [3-(2,4-Dimethoxybenzyliden)-anabasein; RJR-2403, N-Methyl-4-(3-pyridinyl)-3-buten-1-amin; SIB-1553A, 4-[[2-(1-Methyl-2 -pyrrolidinyl)ethyl]thio]phenyl-hydrochlorid; TMA, Tetramethylammonium-chlorid
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Akzeptierter Name
Akzeptierter Name
M1-ACh-Rezeptor
M2-ACh-Rezeptor
M3-AChRezeptor
M4-AChRezeptor
M5-ACh-Rezeptor
Molekularbiologische Klassifikation
m1
m2
m3
m4
m5
Rezeptorsubtyp-selektive Agonisten
McN-A-243 (Ganglion) Pilocarpin (relativ zu M3und M5-ACh-Rezeptor) L-689,660 Xanomelin CDD-0097 AC-42
Bethanechol (relativ zu M4-ACh-Rezeptor)
L-689,660 Xanomelin
McN-A-243 (relativ zu M2ACh-Rezeptor)
Nicht bekannt
Rezeptorsubtyp-selektive Antagonisten
Pirenzepin Telenzepin
Methoctramin AF-DX 116 Gallamin (allosterisch) Himbacin Tripitramin
Hexahydro-siladifenidol p-Fluorohexahydro-sila-difenidol 4-DAMP
Tropicamid AF-DX 384
Himbacin
Signaltransduktionsmechanismus
Gq/11 (IP3-/DAG-Erhöhung) NO
Gi (cAMP-Modulation) ↑K+ (G)
Gq/11 (IP3-/DAGErhöhung) NO
Gi (cAMP-Modulation) ↑K+ (G)
Gq/11 (IP3-/DAG-Erhöhung) NO
Gewebeexpression
Gehirn
Herz Glatte Muskeln
Drüsen
Gehirn
Gehirn
Physiologische Funktion
Neuromodulation
Bradykardie Kontraktion
Sekretion
Autorezeptoren
Heterorezeptoren
25
cAMP, zyklisches Adenosin-3´-5´-monophosphat; DAG, Diacylglycerol; IP3, Inositol-1,4,5-triphosphat; K+ (G), G-Protein-gekoppelter Kaliumkanal; NO, Stickstoffmonoxid Chemische Abkürzungen: AC-42, 4-n-butyl-1-[4-(2-Methylphenyl)-4-oxo-1-butyl]-piperidin-hydrochlorid; AF-DX 116, 11-([2-[(Diethylamino)methyl]1-piperidinyl]acetyl)-5,11-dihydro-6-pyridol[2,3-b][1,4]benzodiazepin-6-on; AF-DX 384, 5,11-Dihydro-11-[2-[2-[(N,N-dipropylaminomethyl)piperidin1-yl]ethylamino]-carbonyl]6H-pyridol[2,3-b][1,4]benzodiazepin-6-on; CDD-0097, 5-Propargyloxycarbonyl-1,4,5,6-tetrahydropyrimidin; L-689,660, 1-Azabicyclo[2,2,2]oktan-3-(6-chloropyrazinyl)-maleat; McN-A-243, 4-(N-[3-Chlorophenyl]carbamoyloxy)-2-butynyltrimethylammonium-chlorid; 4-DAMP, 4-Diphenylacetoxy-N-methylpiperidin-methiodid
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
Tab. A.1.4. Klassifikation, Nomenklatur und Eigenschaften von muscarinischen Cholinozeptoren (mACh-Rezeptoren) (nach Watling, 2006)
26
terschieden werden. Zwei α-Untereinheiten und jeweils eine β-, γ- und δ-Untereinheit bilden das typische nACh-Rezeptor-Ionenkanal-Pentamer aus ca. 2380 Aminosäuren (relative Molekülmasse 267757). nACHRezeptoren treten jedoch in einer Vielzahl von Subtypen auf, die sich strukturell in der Art und Kombination ihrer Untereinheiten und funktionell in ihren pharmakologischen und Ionenkanal-Eigenschaften unterscheiden. So hat der wichtigste ganglionische nAChRezeptor vermutlich die Zusammensetzung (α3)2(β4)3, und zwei wichtige nACh-Rezeptoren des Säuger-ZNS die Zusammensetzungen (α4)2(β2)3 bzw. (α7)5 (Bertrand et al., 1993). Die Aktivierung des nACh-Rezeptors durch ACh oder Nikotin führt zum Öffnen der Kanalpore. Aufgrund von MutageneseExperimenten nimmt man an, dass LeucinMoleküle, die in der Mitte der M2-Helix jeder Polypeptidkette lokalisiert sind, für das Öffnen und Schließen des Kanals verantwortlich sind (Labarca et al., 1995). Im geschlossenen Zustand des Ionenkanals ragen die Seitenketten dieser Leucine soweit in die Pore hinein, dass der Ionenfluss verhindert wird. Die Bindung des Agonisten führt zu einer geringen Rotation der N-terminalen, extrazellulären Domäne der einzelnen Untereinheiten, die ihrerseits eine Rotation der M2-α-Helices induziert, woraufhin die Leucin-Seitenketten aus der Pore herausgedreht werden. Infolgedessen strömen Na+ und in geringem Umfang auch Ca2+ entlang ihres elektrischen Gradienten in das Zellinnere ein, K+ verlässt es. Das Zellinnere ist negativ geladen; somit besteht für Na+ und Ca2+ bei offenem Kanal eine auswärts gerichtete elektrische Triebkraft. Die intrazellulären K+-Konzentrationen sind 30-fach höher als die extrazellulären, so dass osmotische Kräfte bezüglich dieses Ions überwiegen und sich die Flussrichtung umkehrt. Eine Aktivierung des nACh-Rezeptors resultiert im Nettoef-
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
fekt in einen in das Zellinnere gerichteten Ionenstrom, wodurch die Nervenzelle depolarisiert und eine exzitatorische Wirkung hervorgerufen wird. Postsynaptische nACh-Rezeptoren im Neokortex und Hippocampus spielen eine zentrale Rolle bei Lern- und Gedächtnisprozessen. Dies kann aus der Tatsache gefolgert werden, dass eine niedrige Dosis Nikotin in Lernparadigmen die Lern- und Gedächtnisaufnahmefähigkeit verbessert und diese Gehirnbereiche bei der Demenz vom Alzheimer-Typ neuropathologisch auffällig verändert sowie von funktionellen Defiziten im cholinergen System begleitet sind. Zentral wirksame, rerversible ACh-Esterase-Hemmer wie Donepezil und Tacrin, die das AChDefizit durch Hemmung des ACh-Abbaus aufheben, werden deshalb in der AlzheimerTherapie verwendet. Im Gegensatz zu den nACh-Rezeptoren gehören die mACh-Rezeptoren zu den Mitgliedern der Familie der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren, die untereinander strukturelle Ähnlichkeiten sowie unterschiedliche Grade in der Aminosäurensequenz-Homologie der Transmembrandomänen aufweisen. Zu der Gruppe von mACh-Rezeptoren gehören fünf Mitglieder, m1–m5 (Abb. A.1.9, Tab. A.1.4), deren Molmasse zwischen 55 und 70 kDa liegt (Waxham, 2003): Die m1-, m3- und m5-mACh-Rezeptoren koppeln überwiegend an G-Proteine, die die Phospholipase C aktivieren (Abb.A.1.6); die m2- und m4Rezeptoren sind an G-Proteine gekoppelt, die sowohl die Adenylat-Cyclase hemmen als auch direkt K+- und Ca2+-Kanäle regulieren. Im Gehirn findet man vorwiegend die m1-, m3- und m4-Subtypen, wobei diese jeweils weit verstreut vorkommen. Man findet diese Rezeptoren sowohl prä- als auch postsynaptisch. Wahrscheinlich werden die durch den mACh-Rezeptor vermittelten Effekte durch die Veränderung der Eigenschaften von ionotropen Rezeptoren bewirkt (Waxham, 2003).
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
Präsynaptische mACh-Rezeptoren sind Teil von wichtigen rückgekoppelten neuronalen Schaltkreisen, die die Freisetzung von ACh regulieren: Je nachdem, welcher Rezeptorsubtyp stimuliert wird, wird entweder die Freisetzung gehemmt – was die typische Wirkung ist – oder aber auch verstärkt, wie im Falle des m5-mACh-Rezeptors.
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droxylase. Die Regulation dieses Enzyms auf der Ebene der Nervenendigungen spielt eine wichtige Rolle bei der kurzfristigen Modulation der Katecholamin-Synthese, die vermittelt durch eine Endprodukt-Hemmung an Veränderungen der neuronalen Aktivität angepasst wird. A.1.3.2.1
Dopamin
A.1.3.2 Katecholamine
Die Neurotransmitter Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin haben alle eine Katecholamin-Struktur: d.h. einen 3,4-dihydroxylierten Benzolring (Abb. A.1.11). Ausgangspunkt für die Biosynthese dieser Neurotransmitter ist jeweils die Aminosäure Tyrosin, die in der Leber synthetisiert wird und auch in der Nahrung enthalten ist, und über die Blut-HirnSchranke ins Gehirn aufgenommen wird. Daraus wird dann mithilfe der folgenden Enzyme das jeweilige Katecholamin gebildet: • • • •
Tyrosin-Hydroxylase, DOPA-Decarboxylase (Aromatische Aminosäure-Decarboxylase), Dopamin-β-Hydroxylase, Phenylethanolamin-N-Methyltransferase.
Es besteht eine große Ähnlichkeit in den Amino- und Nukleinsäurensequenzen der TyrosinHydroxylase, Dopamin-β-Hydroxylase und Phenylethanolamin-N-Methyltransferase, was auf einen hohen Verwandtschaftsgrad hinweist. Im Gegensatz zu den adrenergen Neuronen kommen in den dopaminergen und noradrenergen Nervenzellen nicht alle vier der oben genannten Enzyme vor (Abb. A.1.11): In dopaminergen Neuronen bricht die Synthese auf der Stufe des Dopamins ab, in noradrenergen Neuronen wird sie nur bis zum Noradrenalin weitergeführt. Das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Katecholamin-Synthese ist die Tyrosin-Hy-
A.1.3.2.1.1 Neuroanatomisches Vorkommen und Funktion
Obwohl es nur wenige dopaminerge Neuronen im Gehirn gibt (< 1/100000 Gehirnneuronen) (Girault und Greengard, 2004), spielen diese eine wichtige Rolle in der Regulation verschiedener grundlegender Gehirnfunktionen. Die Dopamin-Konzentrationen (Abb. A.1.1) und die Dichten der Dopamin-Rezeptoren kommen im Gehirn in einem charakteristischen Verteilungsmuster vor, das auf das Vorkommen bestimmter dopaminerger Neuronensysteme hinweist. Die drei wichtigsten dopaminergen Systeme sind (Abb. A.1.12): 1. Das nigro-striatale System. In diesem System projizieren Neuronen von der Substantia nigra pars compacta in das Striatum, das in den Nucleus caudatus und das Putamen unterteilt wird. Die Substantia nigra (Synonym: Nucleus niger) erhielt ihre Bezeichnung durch die dunkle Farbe des Neuromelanins, das in vielen dopaminergen Neuronen vorkommt, die vorwiegend bei ParkinsonKranken degenerieren. Das nigro-striatale dopaminerge System ist vor allem an der Kontrolle willkürlicher Bewegungen beteiligt. Es gibt auch Hinweise dafür, dass dieses System an der Pathogenese der Aufmerksamkeits-Defizit-/HyperaktivitätsStörung (ADHS) beteiligt ist (siehe Kap. B.5). Die Bedeutung des nigro-striatalen dopaminergen Systems für die motori-
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Abb. A.1.11. Biosynthese der Katecholamine Dopamin, Noradrenalin und Adrenalin
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
29
Abb. A.1.12. Die wichtigsten dopaminergen Neuronensysteme im menschlichen Gehirn (aus Gerlach et al., 2007)
sche Kontrolle wurde erstmals klinisch erkannt, als es gelang, die Parkinson-Symptomatik durch Gabe der hirngängigen Vorstufe von Dopamin, l-3,4-Dihydroxyphenylalanin (l-DOPA), zu therapieren (Barbeau et al., 1962; Birkmayer und Hornykiewicz, 1961). Das mesolimbische und mesokortikale System. In diesem System innervieren dopaminerge Neuronen der Area tegmentalis ventralis (englisch ventral tegmental area, VTA) mesolimbische (Nucleus accumbens, Septum, Tractus olfactorium, Corpus amygdaloideum, Nucleus septi lateralis) und mesokortikale Gehirnregionen (frontaler und entorhinaler Kortex, Gyrus cinguli). Das mesolimbische-mesokortikale System ist an der Kontrolle des motivationsbedingten Verhaltens und wahrscheinlich auch an Lern- und Ge-
dächtnisfunktionen beteiligt; Störungen in diesem System spielen vermutlich eine entscheidende Rolle an der Suchtentwicklung von Drogen und Alkohol; eine pathogenetische Rolle wird aber auch bei ADHS diskutiert. Eine Überfunktion dieses dopaminergen Systems wird als eine mögliche Ursache von endogenen (wie sie z. B. bei der Schizophrenie vorkommen) und pharmakotoxischen Psychosen (wie sie z. B. nach chronischer dopaminerger Therapie bei Parkinson-Kranken vorkommen) angesehen. Konsequenterweise therapiert man diese mit Dopamin-Rezeptorantagonisten (Neuroleptika = Antipsychotika, siehe Kap. B.4), die die Wirkung des Dopamins hemmen, in höheren Dosen aber ein Parkinson-Syndrom hervorrufen, da diese dann auch das nigrostriatale System beeinflussen.
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2. Das tubero-infundibulare System. In diesem System projizieren dopaminerge Neuronen des Nucleus arcuatus in den Hypothalamus und regulieren die Freisetzung von Hypophysen-Hormonen. Die am besten untersuchte D2-Dopamin-Rezeptor-vermittelte Wirkung (Einteilung der Dopamin-Rezeptorsubtypen siehe Kap. A.1.3.2.1.3) in diesem System ist die Kontrolle der Synthese und Freisetzung von Prolaktin aus dem HypophysenVorderlappen. Hormonelle Störungen mit Folge einer Hyperprolaktinämie sind mögliche UAWs einer Neuroleptika-Therapie, die durch die Hemmung dieser Rezeptoren verursacht werden. A.1.3.2.1.2 Biosynthese und Inaktivierungsmechanismen
Dopamin wird durch Decarboxylierung von l-DOPA, das aus der Aminosäure Tyrosin durch die Tyrosin-Hydroxylase hergestellt wird, synthetisiert (Abb. A.1.11). Die TyrosinHydroxylase ist das geschwindigkeitsbestimmende Enzym dieser Synthese, wobei der reduzierende Pteridin-Cofaktor, der durch die Pteridin-Reduktase (nicht für Neuronen spezifisch) aus Pteridin synthetisiert wird, benötigt wird. Die Regulation der TyrosinHydroxylase-Aktivität erfolgt durch deren Phosphorylierung, die durch die Aktivität des dopaminergen Neurons ausgelöst wird. An dieser Regulation ist eine cAMP-abhängige Kinase beteiligt, dadurch wird der KM-Wert (Definition siehe Kap. A.1.4.2.1) für den Kofaktor Pteridin erniedrigt und die Affinität für den Feedback-Inhibitor gesenkt, was insgesamt zu einer Aktivierung des Enzyms führt. Das zweite für die DopaminBiosynthese verantwortliche Enzym ist die Aromatische Aminosäuren-Decarboxylase, die l-DOPA in Dopamin überführt. Man hat molekularbiologische und pharmakologische Hinweise dafür, dass dieses Enzym
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
sowohl die Decarboxylierung von l-DOPA als auch von 5-Hydroxytryptophan (siehe Kap. A.1.3.3.2) katalysiert. Die Beendigung der Wirkung von Dopamin in dopaminergen Synapsen erfolgt im nigro-striatalen System überwiegend durch eine Wiederaufnahme von Dopamin (englisch re-uptake) mittels spezifischer Transport-Proteine (Dopamin-Transporter, DAT) in präsynaptische dopaminerge Nervenendigungen (siehe auch Kap. A.1.4.3 und B.5). Diese Wiederaufnahme ist energieabhängig und sättigbar; die Wiederaufnahme-Geschwindigkeit kann mithilfe der Michaelis-Menten-Gleichung für Enzyme beschrieben werden. Der DAT gehört zu einer Familie von Neurotransportern, deren Proteine strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen (Tab. A.1.5). Der DAT und Noradrenalin-Transporter kommen überwiegend nur in der präsynaptischen Membran des jeweiligen Neurons vor (Synonym: Plasmalemm-Transporter), während der vesikuläre Membrantransporter (VMAT-2) dagegen intraneuronal in der Membran von Vesikeln, die die Neurotransmitter vor dem enzymatischen Abbbau schützen, vorkommt. Die Plasmalemm-Transporter sind Substrate für die Proteinkinase-C-abhängige Phosphorylierung, wodurch deren Aktivitäten reduziert werden. Darüber hinaus wird Dopamin metabolisch durch die Katechol-O-Methyl-Transferase (englisch catechol-O-methyltransferase, COMT) und die Monoamin-Oxidase (MAO) inaktiviert (Abb. A.1.13). Letzterer Inaktivierungsmechanismus spielt vor allem im mesokortikalen System eine Rolle, da dort die DAT-Dichte sehr gering ist. Die COMT ist ein zelluläres, vorwiegend in löslicher Form vorkommendes Enzym, das den Transfer einer Methyl-Gruppe von S-Adenosyl-l-methion auf eine der beiden Hydroxylgruppen in Katecholaminen katalysiert. Die MAO ist ein Enzym, das an der äußeren
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
31
Tab. A.1.5. Molekulare und pharmakologische Eigenschaften von humanen Katecholamin-Transportern (nach Kuhar et al., 2005; Watling, 2006) DAT
NET
SERT
VMAT-2
Mechanismus
Na+/Cl–-abhängig
Na+/Cl–-abhängig
Na+/Cl–-abhängig
H+-abhängig
Transmembransegmente
12
12
12
12
Aminosäuren
620
617
630
514
Chromosom
5
16
17
10
Beispiele eines Hemmstoffes
GBR-12909 Nisoxetin GBR-12935 Indatralin Bupropion Mazindol Nomifensin β-CIT Kokain
Citalopram Tomoxetin Desipramin Nortriptylin Imipramin Nomifensin Mazindol Reboxetin Duloxetin Venlafaxin Kokain
Reserpin Paroxetin Sertralin Fluoxetin Clomipramin Imipramin Trazodon Fluvoxamin Venlafaxin β-CIT Kokain
Tetrahydrobenazin
DAT, Dopamin-Transporter; NET, Noradrenalin-Transporter; SERT, Serotonin-Transporter; VMAT-2, vesikulärer Membran-Transporter β-CIT, 2β-Carbomethoxy-3β-(4-iodophenyl)tropan; GBR-12909, 1-[2-[bis(4-Fluorophenyl)methoxy]ethyl]-4[3-phenylpropyl]piperazin; GBR-12935, 1-(2-[Diphenylmethoxy]ethyl)-4-[3-phenylpropyl]-piperazin
Mitochondrienmembran von Neuronen, Gliazellen und anderen Zelltypen lokalisiert ist, und relativ unspezifisch monoaminerge Neurotransmitter wie Dopamin, Noradrenalin, Serotonin (5-Hydroxytryptamin, 5-HT), Neuromodulatoren wie β-Phenethylamin, andere endogene und exogene Monoamine wie Tyramin, aber auch tertiäre Amine wie das dopaminerge Neurotoxin 1-Methyl-4phenyl-1,2,3,6-tetrahydropyridin (MPTP) abbaut. Aufgrund von pharmakologischen Befunden wurden zwei Isoformen mit unterschiedlicher Substrat-Spezifität und Hemmstoff-Sensitivität identifiziert: die Form des Enzyms, die empfindlicher gegenüber Clorgylin reagierte, wurde als A-Form (MAO-A) bezeichnet, während die weniger sensitive Form als B-Form (MAO-B) benannt wurde. Die Existenz zweier Isoformen, die sich in der Primärstruktur unterscheiden, wurde durch molekularbiologische und immun-
zytochemische Untersuchungen bestätigt (Gerlach und Riederer, 2002). Die von den cDNS abgeleiteten Aminosäurensequenzen weisen eine 70%ige Homologie auf. Während im Rattengehirn in vielen Regionen die A-Form überwiegt, kommen beide Formen in vielen Regionen des menschlichen Gehirns annähernd in gleichen Anteilen vor, wobei allerdings im Striatum die B-Form überwiegt (Riederer und Youdim, 1986). Man geht davon aus, dass im menschlichen Gehirn Dopamin überwiegend von der MAO-B verstoffwechselt wird; Noradrenalin und 5-HT werden dagegen vorwiegend von der MAO-A enzymatisch abgebaut (siehe auch Kap. A.1.4.1). A.1.3.2.1.3 Dopamin-Rezeptoren
Die Dopamin-Rezeptoren sind G-Protein-gekoppelte Rezeptoren. Sie wurden ursprünglich
32
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Abb. A.1.13. Enzymatischer Abbau von Dopamin. COMT, Katechol-O-Methyl-Transferase; DOPAC, Dihydroxyphenylessigsäure; HVA, Homovanillinsäure; MAO, Monoamin-Oxidase
aufgrund ihrer unterschiedlichen Wirkung gegenüber der Adenylat-Cyclase in D1- (aktivieren die Bildung von cAMP) und D2-Subtypen (inhibieren die c-AMP-Bildung) eingeteilt. Obwohl man aufgrund molekularbiologischer Unterscheidungsmerkmale mindestens fünf Subtypen von Dopamin-Rezeptoren kennt (Tab. A.1.6), ist die Bedeutung der D3–5-Subtypen für Dopamin-vermittelte Wirkungen im ZNS nicht bekannt. Dies liegt vor allem darin begründet, dass für diese Subtypen keine selektiven Agonisten und Antagonisten zur Verfügung stehen, so dass keine entsprechenden verhaltenspharmakologischen Untersuchungen durchgeführt werden können. Weiterhin gibt es keine eindeutigen Hinweise aus transgenen Tiermodellen, in denen beispielsweise Mäusen gezielt einzelne Gene ausgeschaltet wurden. Man teilt deshalb die Subtypen pharmakologisch nachwievor in D1- (D1,D5) und D2-Familien (D2, D3, D4)
ein (Jaber et al., 1996). Aufgrund der hohen Dichte der D3-Rezeptorsubtypen im mesolimbischen System nimmt man an, dass dieser Subtyp für die Wirkung antipsychotischer und auch antidepressiver Pharmaka verantwortlich sowie an der Entstehung der Drogensucht beteiligt ist. Dopaminerge Rezeptoren kommen sowohl prä- als auch postsynaptisch vor, wobei die präsynaptisch lokalisierten D2-Rezeptoren als so genannte Autorezeptoren bezeichnet werden. A.1.3.2.2
Noradrenalin und Adrenalin
A.1.3.2.2.1 Neuroanatomisches Vorkommen und Funktion
Im peripheren Nervensystem ist Noradrenalin (Synonym Norepinephrin) der Neurotransmitter (fast) aller Synapsen an den Nervenendigungen der postganglionären Nervenfa-
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
33
Tab. A.1.6. Kriterien zur Unterscheidung von Dopamin-Rezeptoren (aus Gerlach et al., 2007) 1. Ursprüngliche pharmakologische Einteilung D1-Rezeptoren
D2-Rezeptoren
Wirkung über G-Protein
ja
ja
Wirkung auf AdenylatCyclase
Stimulation
Hemmung
Selektiver Agonist
SKF38393
Fenoldopam
Selektiver Antagonist
SCH23390
(–)-Sulpirid Domperidon Racloprid
Funktion
Synergistische Beeinflussung der D2-Dopamin-Rezeptor-vermittelten Wirkung auf die Motorik
Vermittlung motorischer Effekte Prolaktin-Senkung
2. Molekularbiologische Einteilung • D1–5 und weitere Subtypen entsprechend der Unterschiede in den Aminosäurensequenzen • Pharmakologische und funktionelle Unterscheidung der einzelnen Subtypen aber nicht möglich 3. Pharmakologische Einteilung • D1 (D1, D5)- und • D2 (D2–4)-Familien SCH23390, 7-Chlor-2,3,4,5-tetrahydro-3-methyl-5-phenyl-1H-3-benzazepin-7-ol; SKF38393, 2,3,4,5Tetrahydro-7,8-dihdroxy-1-phenyl-1H-3-benzazepin-hydrochlorid
sern des Sympathikus. Es bewirkt dort eine Blutdrucksteigerung und erhöht die Herzschlagfrequenz. Im ZNS wird Noradrenalin von Neuronen verwendet, deren Zellkörper im Locus caeruleus, einem Kern des Hirnstamms mit vielen komplexen regulatorischen Funktionen, lokalisiert sind. Dieser sehr kleine Kern hat seinen Namen aufgrund seiner blauen Farbe (caeruleus ist griechisch-lateinischen Ursprungs und bedeutet blau) erhalten. Der Locus caeruleus ist der Zellkörper mit den meisten noradrenergen Neuronen im Gehirn und eine der bemerkenswertesten Strukturen des menschlichen Gehirns. Beim Menschen enthält er lediglich ca. 3000 Neuronen – nicht viel, wenn man an die Milliarden von Nervenzellen in der Großhirnrinde denkt –, dennoch gehen von diesen wenigen Neuronen Axone aus, die sich über enorm weite Entfernungen
erstrecken und in nahezu alle Regionen des Gehirns (Ausnahme: nigro-striatales dopaminerges System) projizieren. Man vermutet daher, dass dieses Kerngebiet an der Regulation einer Vielzahl von Leistungen des Gehirns wie Wahrnehmung, Kognition und Gedächtnisbildung beteiligt ist. Es gibt einige Hinweise dafür, dass Störungen in diesem System den Symptomen der ADHS zugrunde liegen. Eine noradrenerge Aktivierung führt im ZNS in der großen Mehrzahl von Synapsen zu einer Hemmung der synaptischen Nervenimpulsübertragung, in einigen Synapsen aber auch zu einer Weiterleitung oder sogar Verstärkung, was zu einer Verstärkung des Signal-Rausch-Verhältnisses neuronaler Aktivität in diesen Strukturen führt. Neben diesen kurzfristigen Wirkungen noradrenerger Stimulation gibt es Hinweise dafür, dass diese auch zu
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längerfristigen Effekten wie synaptischer Plastizität führt. Weitere Gehirnstrukturen mit noradrenergen Neuronen sind die Medulla oblongata (Teil des Gehirns, das direkt in das Rückenmark übergeht) und der Pons (Brücke zum Stammhirn), die unter anderem den Hypothalamus hemmen. Hierdurch verstärkt Noradrenalin die sympathische Aktivierung. Neuronen mit Adrenalin (Synonym Epinephrin) kommen nur im ZNS in viel geringerer Anzahl als die Noradrenalin- und Dopamin-Neuronen vor, jedoch nicht im sympathischen Nervensystem. Die wichtigste Gruppe von adrenergen Nervenfasern liegt in der rostro-ventro-lateralen Medulla oblongata, einem in den Barorezeptor-Reflex eingeschalteten Kreislaufzentrum. Adrenalin spielt aber im Vergleich zu Noradrenalin nur eine untergeordnete Rolle bei der zentralnervösen Regulation autonomer Funktionen. Vielmehr Adrenalin als im ZNS ist im Nebennierenmark vorhanden, das Adrenalin und Noradrenalin etwa in einem Verhältnis 4 : 1 enthält. A.1.3.2.2.2 Biosynthese und Inaktivierungsmechanismen
Der Ausgangspunkt für die Biosynthese von Noradrenalin und Adrenalin ist die Aminosäure Tyrosin, aus der zunächst Dopamin gebildet wird (Abb. A.1.11). Dieses wird dann in Vesikeln von noradrenergen Neuronen aufgenommen, wo es durch die Dopaminβ-Hydroxylase in Noradrenalin umgewandelt wird. Eine weitere Umwandlung zu Adrenalin ist nur im ZNS, jedoch nicht in den sympathischen Nervenendigungen möglich, da in diesen keine Phenylethanolamin-NMethyltransferase vorhanden ist, die Noradrenalin in adrenergen Neuronen des ZNS zu Adrenalin methyliert, wobei S-Adenosylmethionin (SAM) als Methyl-Donor benötigt wird. Das ist die biochemische Erklärung
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
dafür, warum nur Noradrenalin und nicht auch Adrenalin in den sympathischen Nervenendigungen vorkommt. Der wichtigste Inaktivierungsweg nach Freisetzung von Noradrenalin und Adrenalin ist die Rückaufnahme mittels spezifischer Transporter in präsynaptische Nervenendigungen oder andere umliegende Zellen (z.B. Glia: extraneuronaler Noradrenalin-Transporter, Uptake2). Der Noradrenalin-Transporter gehört wie der DAT zu einer Familie von Neurotransportern, deren Proteine strukturelle Gemeinsamkeiten aufweisen (Tab. A.1.5); dagegen ist dieser für Adrenalin noch nicht bekannt, aber vermutlich von dem für Noradrenalin verschieden. Es gibt Hinweise dafür, dass mehr als 80 Prozent der im synaptischen Spalt freigesetzten Menge an Noradrenalin durch WiederaufnahmeMechanismen inaktiviert werden, wodurch ein Großteil des Neurotransmitters wieder für eine erneute Freisetzung zur Verfügung gestellt wird. Manche trizyklischen Antidepressiva wie Desipramin oder das bei der Therapie von ADHS verwendete Atomoxetin haben eine hohe Affinität zum Noradrenalin-Transporter (siehe Kap. A.1.4.3). Auch Kokain hemmt die Wiederaufnahme von Noradrenalin; es hemmt aber ähnlich stark auch die Aufnahme von Dopamin und 5-HT in ihre jeweiligen Axone. Ein weiterer Inaktivierungsweg ist die metabolische Umwandlung in inaktive Stoffwechselprodukte mittels der schon bei der Dopamin-Inaktivierung beschriebenen Enzyme COMT und MAO (Abb. A.1.14). Spuren von Noradrenalin werden auch über den Blutstrom und zum Teil in die Leber transportiert, wo es ebenfalls von der COMT und der MAO abgebaut wird. A.1.3.2.2.3 Adrenozeptoren
Noradrenalin und Adrenalin stimulieren so genannte Adrenozeptoren, die ebenso wie
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
35
Abb. A.1.14. Enzymatischer Abbau von Noradrenalin. COMT, Katechol-O-Methyl-Transferase; MAO, Monoamin-Oxidase; MHPG, 3-Methoxy-4-hydroxy-phenylglykol; VMA, 3-Methoxy-4-hydroxy-mandelsäure = Vanillinmandelsäure
die Dopamin-Rezeptoren zu der G-Protein-gekoppelten Rezeptor-Familie gehören. Aufgrund der selektiven Wirkung des synthetischen Agonisten Isoproterenol am β-Typ wurden sie ursprünglich in α− und β-adrenerge Rezeptoren eingeteilt. Später wurden die α-Adrenozeptoren aufgrund molekularbiologischer Unterscheidungsmerkmale in zwei Subtypen (α1, α2) mit je drei Mitgliedern (α1A, α1B α1D und α2A, α2B, α2C) unterteilt (Tab. A.1.7–1.9). Beide Subtypen haben gemeinsame strukturelle Merkmale mit den Dopamin-Rezeptoren und alle Subtypen innerhalb jeder Adrenozeptor-Familie scheinen mit demselben primären Signaltransduktions-Mechanismus gekoppelt zu sein (Tab. A.1.7–1.9), was die Frage stellt, ob diese Rezeptoren redundant sind oder aber verschiedene Funktionen aufweisen.
Mit Hilfe von Rezeptor-Bindungsstudien konnten α1- und α2-Adrenozeptoren sowohl in peripheren Organen als auch weit verbreitet im ZNS nachgewiesen werden, wobei die Anteile beider Subtypen im Gehirn zum Teil erheblich variieren. Generell scheinen α1A- und α1B-Rezeptorsubtypen in höheren Dichten vorzukommen als der α1D-Rezeptorsubtyp. α2A- und α2C-Adrenozeptoren findet man in fast allen Gehirnregionen, während der α2BSubtyp vorwiegend im Thalamus gefunden wird (Pupo und Minneman, 2001). Die physiologische Bedeutung der α1- und α2Adrenozeptoren im Gehirn ist unklar, da es keine subtypselektiven Agonisten und Antagonisten gibt, die die Blut-Hirn-Schranke passieren können. Viele Neuroleptika und Antidepressiva verdrängen in Gehirnhomogenaten radioaktiv markierte Antagonisten
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Tab. A.1.7. Klassifikation, Nomenklatur und Eigenschaften von humanen α1-Adrenozeptoren (nach Watling, 2006) α1A
α 1B
α 1D
Anderer Name
α1a, α1C
α1b
α1d, α1a/d
Rezeptorsubtyp-selektive Agonisten
SKF-89748 A-61603
Nicht bekannt
Nicht bekannt
Rezeptorsubtyp-selektive Antagonisten
(+)-Niguldipin 5-Methylurapidil Ro-70-0004 RS-17053
(±)-Cyclazosin L-765,314
BMY7378
Signaltransduktionsmechanismus
Gq/11 (IP3-/DAG-Erhöhung)
Gq/11 (IP3-/DAG-Erhöhung)
Gq/11 (IP3-/DAG-Erhöhung)
Gewebeexpression
Herz Leber ZNS glatte Muskulatur im Urogenitaltrakt
Milz Niere
Aorta Blase ZNS
Physiologische Funktion
Kontraktion glatter Muskeln Myocyten-Hypertrophie
Kontraktion glatter Muskeln ZNS-Stimulation
Kontraktion glatter Muskeln lokomotorische Aktivität
DAG, Diacylglycerol; IP3, Inositol-1,4,5-triphosphat Chemische Abkürzungen: A-61603, N-[5-(4,5-Dihydro-1H-imidazol-2-yl)-2-hydroxy-5,6,7,8-tetrahydronaphthalen-1-yl)methansulphonamid; BMY7378, 8-[2-[4-(2-Methoxyphenyl)-1-piperazinyl]ethyl]-8-azaspiro[4,5]dekan-7,9-dion; L-765,314, 4-Amino-2-[4-[1-(benzyloxycarbonyl)-2(S)-[[(1,1-dimethylethyl)amino]carbonyl]piperaziny]-6,7dimethoxyquinazolin; RS-17053, (N-[2-(2-Cyclopropylmethoxyphenoxy)ethyl]-5-chloro-α,α-dimethyl-1H-indol-3ethanamin
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Akzeptierter Name
Akzeptierter Name
α2A
α 2B
α 2C
α 2D
Anderer Name
–
–
–
α2A
Rezeptorsubtyp-selektive Agonisten
Oxymetazolin (partieller Agonist)
Nicht bekannt
Nicht bekannt
Nicht bekannt
Rezeptorsubtyp-selektive Antagonisten
BRL 44408
Prazosin ARC 239 Imiloxan Rauwolscin
Prazosin ARC 239 MK-912
BRL 44408
Signaltransduktionsmechanismus
Gi (cAMP-Modulation)
Gi (cAMP-Modulation)
Gi (cAMP-Modulation)
Gi (cAMP-Modulation)
Gewebeexpression
ZNS Lunge Blutgefäße Skelettmuskel
Thalamus Lunge Niere
ZNS Lunge
Aorta
Physiologische Funktion
Hemmung der Neurotransmission Vasokonstriktion
Kontraktion glatter Muskeln Thermoregulation
Modulation der Neurotransmission Vasokonstriktion
Hemmung der Neurotransmission
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
Tab. A.1.8. Klassifikation, Nomenklatur und Eigenschaften von humanen α2-Adrenozeptoren (nach Watling, 2006)
cAMP, zyklisches Adenosin-3´-5´-monophosphat Chemische Abkürzungen: ARC 239, 2-[2-[4-(o-Methoxyphenyl)piperazin-1-yl]ethyl]4,4-dimethyl-1,3-(2H,4H)isoquinolindion; BRL 44408, (2-[2H-(1Methyl-1,3-dihydroisoindol)methyl]-4,5-dihydroimidazol; MK-912, ((2S,12bS)1´,3´-Dimethylspiro(1,3,4,5´6,6´,7,12b-octahydro-2H-benzo[b]furo[2,3a] quinazolin)-2,4´-pyrimidin-2´-on
37
38
Tab. A.1.9. Klassifikation, Nomenklatur und Eigenschaften von humanen β-Adrenozeptoren (nach Watling, 2006) Akzeptierter Name
β1
β2
β3
−
−
Atypischer β
Noradrenalin Xamoterol Denopamin T-0509
Procaterol Salbutamol Fenoterol
BRL 37344 CL 316243 SB-226552
Rezeptorsubtyp-selektive Antagonisten
CGP20712A Betaxolol Atenolol
ICI-118,551 Butoxamin α-Methylpropanolol
SR 58894 SR 59230A
Signaltransduktionsmechanismus
Gs (cAMP-Erhöhung)
Gs (cAMP-Erhöhung)
Gs (cAMP-Erhöhung)
Gewebeexpression
Herzkranzarterie Niere Herz ZNS
Niere Lunge Herz ZNS
Fettgewebe Gastrointestinaltrakt vaskuläres Endothelium
Physiologische Funktion
Stimulation des Herzens koronare Vasodilatation
Kontraktion glatter Muskeln
Adipozyten-Lipolyse Blasenrelaxation Thermogenese
cAMP, zyklisches Adenosin-3´-5´-monophosphat Chemische Abkürzungen: BRL 37344, (±)-(R*,R*)-(4-[2-(3-Chlorophenyl)-2-hydroxyethyl]amino)propyl)phenoxy)acetat; CGM20712A, (±)-2-Hydroxy-5[2-[[2-hydroxy-3-[4-[1-methyl-4-(trifluoromethyl)-1H-imidazol-2-yl]phenoxy]propyl]-amino]ethoxy]-benzamid-methansulfonat; CL 316243, (R,R)-5-[2-[[2(3-Chlorophenyl)-2-hydroxyethyl]-amino]-propyl]-1,3-benzodioxol-2,2-dicarboxylat; ICI-118,551, (±)-1-[2,3-(Dihydro-7-methyl)-1H-inden-4-yl)oxy]3-[(1methylethyl)amino]-2-butanol; SB-226552, (S)-4-{2-[2-Hydroxy-3-(4-hydroxyphenoxy)propylamino]ethyl}-phenoxymethylcyclohexylphosphinsäure; SR 58894; 3-(2-Allylphenoxy)-1-[(1S)-1,2,3,4-tetrahydronaphth-1ylamino-(2S)-2-propanol-hydrochlorid; SR 59230A, 3-(2-Ethylphenoxy)-1[(1S)-1,2,3,4tetrahydronaphth-1-ylamino)-(2S)-propanol-oxalat; T-0509; [(–)-(R)-1-(3,4-Dihydroxyphenyl)-2-[(3,4-dimethoxyphenethyl)-amino]ethanol
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Anderer Name Rezeptorsubtyp-selektive Agonisten
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
für α1-Adrenozeptoren von ihren Bindungsstellen (Snyder, 2002). Die α1-adrenergen Antagonisten sind hoch wirksame antihypertensive und sedierende Arzneistoffe; man nimmt deshalb an, dass die antihypertensiven und sedierenden UAWs vieler Neuroleptika und Antidepressiva durch die Blockade der α1-Adrenozeptoren verursacht werden. Die Stimulation von α2-Adrenozeptoren führt ebenso wie die von D1-DopaminRezeptoren zu einer Hemmung der Adenylat-Cylase, wodurch K+-Kanäle geöffnet und Ca2+-Kanäle geschlossen werden. α2Adrenozeptoren im ZNS vermitteln eine Dämpfung des Sympathikustonus. Über sie senkt Clonidin, ein selektiver α2-adrenerger Agonist, den Blutdruck. Auch die hemmenden Autorezeptoren, die präsynaptisch an noradrenergen Neuronen lokalisiert sind, gehören zum α2-adrenergen Subtyp. An Postmortem-Gewebe konnte gezeigt werden, dass α2-adrenerge Rezeptoren zum Teil in hoher Dichte im Kortex, Globus pallidus, Nucleus accumbens und Thalamus vorkommen (Nicholas et al., 1996), also Gehirnregionen, die in neuronalen Regelkreisen vorhanden sind, die an der Initiierung und Ausführung von Motorik sowie der Vermittlung kognitiver Prozesse beteiligt sind. Man nimmt deshalb an, dass diese Rezeptoren die Motorik modulieren, die Aufmerksamkeitsleistung und Kognition beeinflussen und an der Pathogenese von Dyskinesien beteiligt sind. Die β-adrenergen Rezeptoren werden in drei Subtypen (Tab. A.1.9) eingeteilt, die von entscheidender pharmakologischer Bedeutung sind. Die β1- und β2-Adrenozeptoren kommen weit verbreitet vor, wobei der β1Subtyp überwiegend im Herzen und zerebralen Kortex vorkommt und der β2-Subtyp in der Lunge und im Cerebellum dominiert. In vielen Fällen kommen beide Subtypen jedoch auch gemeinsam in demselben Gewebe vor und vermitteln zum Teil denselben physiologischen Effekt. Im Gehirn
39
kommen beide Rezeptorsubtypen vor, ohne dass deren physiologische Funktion unterschieden werden kann. Der dritte Subtyp des β-adrenergen Rezeptors wird aufgrund pharmakologischer Kriterien von den beiden ersten Subtypen unterschieden. Im Gegensatz zu den beiden anderen Subtypen kommt der β3-Rezeptor nur in geringen Dichten im ZNS vor (Pupo und Minneman, 2001). Veränderungen in der Funktion dieses Subtyps werden beim Menschen mit der erblichen Fettleibigkeit (Adipositas), der Kontrolle des Lipid-Metabolismus und der Entstehung von Diabetes in Zusammenhang gebracht. A.1.3.3
Serotonin
A.1.3.3.1 Neuroanatomisches Vorkommen
Der größte Teil des 5-HT im menschlichen Körper kommt nicht im Gehirn, sondern in den enterochromaffinen Zellen und in den Blutplättchen vor. Nahezu alle serotoninergen Neuronen des Gehirns gehen von einer Gruppe von Kernen in der Mittellinie des Hirnstammes aus, den so genannten RapheKernen, eine Bezeichnung, die sich von dem griechischen Wort für Naht ableitet. Die Projektionsareale dieser Neuronen sind, ähnlich wie die der noradrenergen Nervenzellen im Locus caeruleus, weit über das gesamte Gehirn und das Rückenmark verstreut. Das limbische System, das Septum, der Hippocampus und Hypothalamus werden vor allem durch Nervenfasern der medianen Raphe-Kerne innerviert, während dorsale Raphe-Kerne in das Striatum projizieren und auf dortige Neuronen eine hemmende Aktivität ausüben. Der Neokortex wird von Nervenfasern beider Kerngebiete innerviert. Es scheint morphologische Unterschiede der serotoninergen Nervenendigungen zu geben. Serotoninerge Axone der medianen Raphe-Kerne schauen unter dem Lichtmikroskop relativ grob aus und zeigen kugel-
40
förmige Varikositäten, während Axone der dorsalen Raphe-Kerne sehr fein aussehen und typischerweise pleomorphe Varikositäten aufweisen. Darüber hinaus sind dorsale serotoninerge Raphe-Neuronen im Vergleich zu medianen Neuronen vulnerabler gegenüber der neurotoxischen Wirkung von 3,4-Methylendioxy-N-methyl-amphetamin (MDMA), das im allgemeinen Sprachgebrauch als Ecstasy bezeichnet wird und wegen seiner aufputschenden Wirkung in der Diskoszene häufig konsumiert wird. Der Gebrauch kann zu schweren psychischen Schäden (z.B. Depressionen, Angststörungen, Gedächtnisstörungen) und zur Neurodegeneration serotoninerger und auch dopaminerger Neuronen führen. Die Wirkung beruht unter anderem darauf, dass Ecstasy die Wiederaufnahme von 5-HT in serotoninerge Nervenendigungen hemmt und dadurch zu erhöhten 5-HT-Spiegeln in serotoninergen Synapsen führt. Nicht in allen Projektionsarealen der Raphe-Kerne werden serotoninerge Synapsen nachgewiesen, obwohl man dort die Freisetzung von 5-HT messen kann. Man nimmt an, dass in solchen Arealen 5-HT eine dynamische, hormonähnliche und modulierende Funktion ausübt. 5-HT wird praktisch mit fast allen Arten des Verhaltens (appetitives, emotionales, motorisches, kognitives und autonomes) in Zusammenhang gebracht, jedoch ist unklar, ob 5-HT dieses Verhalten spezifisch beeinflusst oder eher allgemein durch Modulation der ZNS-Aktivität bestimmt, in dem es insbesondere den Tonus der Gehirnaktivität in Bezug zum Vigilanz-Status beeinflusst. Serotoninerge Neuronen des ZNS sind an der Regulation des Schlaf-Wach-Rhythmus, der Nahrungsaufnahme, der Körpertemperatur, bei der Entwicklung der Drogensucht und der Steuerung der Stimmungslage beteiligt. Demzufolge nimmt man an, dass Störungen des serotoninergen Systems ätiologisch rele-
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
vant für affektive Erkrankungen (wie Angstund Zwangserkrankungen) sind. Jedoch wird eine Dysfunktion des serotoninergen Systems auch bei der Schizophrenie und der Depression angenommen. A.1.3.3.2 Biosynthese und Inaktivierungsmechanismen
5-HT wird durch die Enzyme TryptophanHydroxylase (l-Tryptophan-5-Monooxygenase) und Aromatische Aminosäuren-Decarboxylase aus der Aminosäure Tryptophan gebildet (Abb. 1.15). Der erste Schritt der Biosynthese von 5-HT ist der Transport des Tryptophans vom Blut in das Gehirn mittels eines spezifischen Transportmechanismus, wobei die Hauptquelle für diese Aminosäure Nahrungsproteine sind. Die Verfügbarkeit von Tryptophan begrenzt die Geschwindigkeit der Synthese. Weil Tryptophan eine essentielle Aminosäure ist, steigt die Synthese, wenn die Nahrung mehr Tryptophan enthält. Man hat das bei der Therapie von Schlafstörungen und Depressionen mit Tryptophan auszunutzen versucht, jedoch mit zweifelhaftem Erfolg. Andere Neutrale Aminosäuren wie Phenylalanin, Leucin und Methionin konkurrieren mit Tryptophan an diesem Transportmechanismus. D.h., eine erniedrigte Zufuhr von 5-HT durch die Nahrung bei gleichzeitiger Gabe von anderen Aminosäuren, die mit 5-HT an dessen Aufnahmemechanismus konkurrieren, führt zu einer erniedrigten 5-HT-Konzentration im Gehirn und ändert Verhaltensweisen, die durch 5-HT beeinflusst werden. Das geschwindigkeitsbestimmende Enzym der Biosynthese von 5-HT ist wahrscheinlich die Tryptophan-Hydroxylase, die nur in serotoninergen Neuronen vorkommt und eine 50%ige Homologie mit der Aminosäurensequenz der Tyrosin-Hydroxylase, dem geschwindigkeitsbestimmenden Enzym der Katecholamin-Synthese, aufweist. Es ist
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
Abb. A.1.15. Serotonin-(5-HT-)Metabolismus
41
42
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
wahrscheinlich, dass die homologe Aminosäurensequenz das aktive Zentrum des jeweiligen Enzyms darstellt. Zu unterscheiden ist eine vor allem peripher wirksame Tryptophan-Hydroxylase-1 (Vorkommen peripher und in der Epiphyse) und eine zentral wirksame Tryptophan-Hydroxylase-2. Das andere an der 5-HT-Biosynthese beteiligte Enzym ist die Aromatische AminosäurenDecarboxylase, die sowohl in serotoninergen als auch in katecholaminergen Neuronen identifiziert wurde. Die Beendigung der Wirkung von 5-HT in serotoninergen Synapsen erfolgt überwiegend durch eine Wiederaufnahme von 5-HT mittels eines Na+/Cl–-abhängigen Transportsystems in präsynaptische serotoninerge Neuronen (Tab. A.1.5). Dieses Transportsystem gehört zu einer Transporterfamilie, deren Mitglieder eine ähnliche Struktur haben und ATP-abhängig Dopamin, Noradrenalin oder 5-HT gegen einen Konzentrationsgradienten befördern (Tab. A.1.5). Es wurden Wirkstoffe identifiziert, die selektiv die jeweiligen Transporter blockie-
ren (Tab. A.1.10). Beispielsweise hemmen sekundäre Amine wie das Desipramin, ein trizyklisches Antidepressivum, effektiver den Transport von Noradrenalin als den von 5-HT. Im Gegensatz hierzu sind einige der neueren Antidepressiva (so genannte selektive 5-HT-Wiederaufnahme-Hemmer, SSRIs, abgeleitet von selective serotonin reuptake inhibitors) wie das Paroxetin wirksamer bei der Hemmung der Wiederaufnahme von 5-HT als von Noradrenalin. Für das Gen, das für den humanen 5-HTTransporter kodiert, gibt es einen funktionellen Polymorphismus innerhalb der PromoterRegion, der die Transkription und daher die Expression und Funktion des 5-HT-Transporters beeinflusst. Die lange Variante (l/l) ist verglichen mit der kurzen (s/s) und der heterozygoten (s/l) Form mit einer größeren Expression und Funktion des Transporters assoziiert, wodurch ein Einfluss auf die serotoninerge Neurotransmission erwartet wird. Diese Annahme regte eine Vielzahl von Forschungsaktivitäten an und zeigte eine Assoziation zwischen diesem Polymorphismus
Tab. A.1.10. Ki-Werte von synthetischen Hemmstoffen der Plasmalemm-Monoamin-Transporter (nach Torres et al., 2003) Hemmstoff
Dopamin-Transporter
Noradrenalin-Transporter
Serotonin-Transporter
Kokain
267
872
392
GBR 12935
21,5
225
6514
Bupropion
2784
1389
45026
Nisoxetin
477
5,1
383
Desipramin
78720
4
61
Nortriptylin
13920
3,4
161
Mazindol
27,6
3,2
153
Imipramin
24576
67
7,7
Amitriptylin
3000
100
14,7
Citalopram
10000
> 1000
5,4
Paroxetin
–
312
0,25
– nicht bestimmt; Die Ki-Werte sind in nMol angegeben. Je kleiner dieser Wert ist, umso effektiver wird der jeweilige Transporter gehemmt.
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
und bestimmten Persönlichkeitsmerkmalen (wie Ängstlichkeit und negative Emotionalität), verschiedenen neuropsychiatrischen Erkrankungen (wie Depression, Angststörungen, Autismus, Essstörungen) und einer unterschiedlichen Ansprechrate auf Psychopharmaka, insbesondere auf SSRIs (Murphy et al., 2001). 5-HT wird neben der Wiederverwendung in serotoninergen Neuronen auch enzymatisch vor allem durch die MAO-A und die Aldehyd-Dehydrogenase (Abb. A.1.15) metabolisiert. Serotoninerge Neuronen enthalten sowohl MAO-A also auch MAO-B. Die dabei gebildete 5-Hydroxyindolessigsäure (5-HIAA, abgeleitet von 5-hydroxyindoleacetic acid) wird durch den Urin ausgeschieden. Selektive Hemmstoffe der MAO-A wie Moclobemid und Tranylcypromin erhöhen den Gehalt an 5-HT und vermindern die Verstoffwechselung in 5-HIAA. Dies erklärt entsprechend der 5-HT-Mangelhypothese der Depression deren antidepressive Wirksamkeit. In der Zirbeldrüse (Epiphyse, ein Endorgan des photo-neuroendokrinen Systems, das zwischen den beiden Hirnhemisphären außerhalb der Blut-Hirn-Schranke liegt) wird 5-HT zudem mittels der 5-HT-N-Acetyl-Transferase und der 5-HydroxyindolO-Methyl-Transferase in das Hormon Melatonin umgewandelt (Abb. A.1.15). Dieses wird abhängig vom Schlaf-Wach-Rhythmus produziert (nur nachts beziehungsweise bei Dunkelheit). A.1.3.3.3 Serotoninerge Rezeptoren
Im ZNS und in peripheren Körpergeweben konnte mit Hilfe pharmakologischer, elektrophysiologischer, biochemischer und molekularbiologischer Methoden gezeigt werden, dass 5-HT seine Wirkung durch eine Vielfalt von Neurorezeptoren ausübt. Man unterscheidet 13 humane Subtypen
43
aufgrund pharmakologischer und struktureller Kriterien sowie der Signaltransduktionsmechanismen und unterteilt diese in sieben strukturell-definierte Klassen 5-HT1 – 5-HT7 (Tab. A.1.11–A.1.13). Die Rezeptorsubtypen, von denen bisher nur Gene identifiziert wurden und nicht eindeutig eine physiologische Funktion nachgewiesen wurde, sind in den Tabellen in Kleinbuchstaben geschrieben. Mit Ausnahme des 5-HT3-Rezeptors, der ein ionotroper Rezeptor ist, gehören alle anderen 5-HT-Klassen zu der Familie der G-Protein-gekoppelten Rezeptoren. Für viele der 5-HT-Subtypen gibt es keine selektiven Agonisten und Antagonisten, wodurch die Erforschung ihrer physiologischen Funktion erschwert ist. Da es wenig selektive Radioliganden und keine spezifischen Antikörper gibt, ist auch die regionale Verteilung der 5-HT-Rezeptorsubtypen und die subzelluläre Lokalisation im menschlichen Gehirn kaum untersucht. Vieles was bisher über die regionale ZNS-Verteilung bekannt ist, stammt aus Untersuchungen an Nagetieren mit Genexpressions-Analysen. Die so erzielten Ergebnisse zeigen ein unterschiedliches Muster der regionalen ZNS-Verteilung der jeweiligen 5-HT-Rezeptorsubtypen und lassen damit auf unterschiedliche Funktionen dieser Rezeptoren schließen. 5-HT-Rezeptoren werden generell eine physiologische Bedeutung an der Schmerzentstehung, aber auch beim anaphylaktischen Schock oder allgemein bei allergischen Reaktionen, bei der Aktivierung von Thromboxan A2 vor der irreversiblen Thrombozyten-Aggregation, bei der Entstehung von Migräne, bei Motilitätsstörungen im Gastrointestinaltrakt, bei der Regulation des Schlaf-Wach-Rhythmus und Appetits sowie der Blutdruck- und Temperaturkontrolle zugesprochen. Diese Annahmen wurden vor allem aus der Tatsache abgeleitet, dass serotoninerge Raphe-Neuronen weitgehende und
44
Tab. A.1.11. Klassifikation, Nomenklatur und Eigenschaften von humanen 5-HT1-Rezeptoren (nach Watling, 2006) 5-HT1A
5-HT1B
5-HT1D
5-ht1e
5-ht1f
Anderer Name
−
5-HT1D
5-HT1D
5-HT1E
Rezeptorsubtyp-selektive Agonisten
R(+)-8-OH-DPAT U-92016A R(+)-UH-301
Sumatriptan Zolmitriptan L-694,247
BRL 54443
Rezeptorsubtyp-selektive Antagonisten
WAY 100635 S(–)-UH-301 NAN-190 S(–)-Pindolol Spiperon Gi/o (cAMP-Modulation)
Sumatriptan Zolmitriptan L-694,247 CGS12066 GR 55562 SB-216641 GR 127935 SB-224289
5-HT1E 5-HT6 LY-334370 LY-344864 BRL 54443
GR 127935 BRL 15572
Nicht bekannt
Nicht bekannt
Gi/o (cAMP-Modulation)
Gi/o (cAMP-Modulation)
Hippocampus Corpus amygdaloideum Raphe-Kerne Auerbach-Plexus
Striatum Hippocampus Raphe-Kerne Sympathische Neuronen vaskuläre glatte Muskeln
Striatum Hippocampus Dorsale Raphe-Kerne Trigeminalganglion Vaskuläre glatte Muskeln
Gi/o (cAMPModulation) Kortex Thalamus Hippocampus Uterus
Somatodendritischer Autorezeptor in den RapheKernen und Hippocampus Somatodentritischer HeteroRezeptor im AuerbachPlexus
Präsynaptischer Autorezeptor im Hippocampus und sympathischen Neuronen Kontraktion glatter Muskeln
Somatodendritischer Autorezeptor in den RapheKernen und Hippocampus Präsynaptischer Autorezeptor von sympathischen Nervenzellen
Gi/o (cAMP-Modulation) Parietalkortex Striatum Bulbus olfactorius Corpus amygdaloideum Gliazellen Nicht bekannt
Signaltransduktionsmechanismus Gewebeexpression
Physiologische Funktion
Hemmung des Trigeminalganglions
cAMP, zyklisches Adenosin-3´-5´-monophosphat Chemische Abkürzungen: BRL 15572, 3-[4-(3-Chlorophenyl)piperazin-1-yl]-1,2-diphenyl-2-propanol; BRL 54443, 3-(1-Methylpiperidin-4-yl)-1H-indol-5-ol; CGS12066, 7-Trifluoromethyl-4-(4-methyl-1-piperazinyl)pyrrolo[1,2-a]quinoxalin; GR 55562, 3-[3-Dimethylamino)propyl]-4-hydroxy-N-[4-pyridinyl(phenyl] benzamid; GR 127935, N-[Methoxy-3-(4-methyl-1-piperizinyl)phenyl]-2´-methyl-4´(5-methyl-1,2,4-oxadiazol-3-yl)[1,1-biphenyl]-4-carboxamid; L-694,247, 2-[5[3-(4-Methylsulphonylamino)benzyl-1,2,4-oxadiazol-5-yl]1H-indol-3-yl]ethanamin; LY-334370, 4-Fluoro-N-[3-(1-methyl-4-piperidinyl)-1H-indol-5-yl]-benzamid; LY-344864, (R)-N-[3-Dimethylamino-2,3,4,9-tetrahydro-1H-carbazol-6-yl]-4-fluorobenzamid; NAN-190, 1-(2-Methoxyphenyl)-4-(4-[2-phthalimido]butyl)piperazin; SB-216641, N-[3-(2-Dimethylamino)ethoxy-4-methoxyphenyl]-2´-methyl-4´-(5-methyl-1,2,4-oxadizaol-3-yl)-(1,1´-biphenyl)-4-carboxamid; SB-224289, 2,3,6,7-Tetrahydro-1´-methyl-5-[2´-methyl-4´(5-methyl-1,2,4-oxadiazo-l-3-yl)biphenyl-4-carbonyl]furo[2,3f]indol-3-spiro-4´piperidin-hydrochlorid; U-92016A, (+)-R-2-Cyano-N,N-dipropyl-8-amino-6,7,8,9-tetrahydro-3H-benz[e]indol; UH-301, 5-Fluoro-8-hydroxy-2-dipropylamino-1,2,3,4-tetrahydronaphthalin; WAY 100635, N-(2-(4-(2-Methoxyphenyl)-1-piperazinyl)ethyl)-N-(2-pyridyl)-cyclohexancarboxamidtrichlorid; 8-OH-DPAT, 8-Hydroxy-2-(di-n-propylamino)tetralin
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Akzeptierter Name
Akzeptierter Name
5-HT2A
5-HT2B
5-HT2C
Anderer Name
D 5-HT2
5-HT2F
5-HT1C
Rezeptorsubtyp-selektive Agonisten
α-Methyl-5-HT DOI DOB
α-Methyl-5-HT BW723C86
α-Methyl-5-HT m-CPP YM348 Tegaserol (Partialagonist)
Rezeptorsubtyp-selektive Antagonisten
Ketanserin AMI-193 ML 100907 R102444
SB-204741 RS 127445 EGIS-7625 LY272015
RS 102221 SB-242084
Signaltransduktionsmechanismus
Gq/11 (IP3-/DAG-Erhöhung)
Gq/11 (IP3-/DAG-Erhöhung)
Gq/11 (IP3-/DAG-Erhöhung)
Gewebeexpression
Kortex Hippocampus Striatum Vaskuläre und nicht-vaskuläre Thrombozyten glatter Muskeln
Vaskuläre und gastrointestinale glatte Muskeln Magenboden Uterus Vaskuläres Endothelium
Plexus choroideus Striatum Hippocampus Hypothalamus
Physiologische Funktion
Wahrscheinlich inhibitorische Wirkung Aktivierung von Thrombozyten Kontraktion glatter Muskeln
Kontraktion glatter Muskeln NO-abhängige Vasorelaxation
Regulation der Cerebrospinalflüssigkeit
45
DAG, Diacylglycerol; IP3, Inositol-1,4,5-triphosphat, NO, Stickoxid Chemische Abkürzungen: AMI-193, 8-[3-(4-Fluorophenoxy)propyl]-1,3,8-triazaspiro[4,5]dekan-4-on; BW723C86, 1-[5(2-Thienylmethoxy)-1H-3-indolyl] propan-2-amin-hydrochlorid; m-CPP, 1-(m-Chlorophenyl)piperazin; DOB, 2,5-Dimethoxy-4-bromoamphetamin; DOI, 1-(2,5-Dimethoxy-4-iodophenyl)2-aminopropan; EGIS-7625, 1-Benzyl-4-[2-nitro-4-methyl-5-amino)-phenyl]-piperazin; LY272015, 6-Methyl-1,2,3,4-tetrahydro-1-[3,4-dimethoxyphenyl) methyl-9H-pyrido[3,4b]indol]-hydrochlorid; ML 100907, (±)-2,3-Dimethoxyphenyl-1-[2-(4-piperidin)-methanol; R102444, (2R,4R)-4-Lauroyloxy-2-[2[2-[2-(3-methoxy)phenyl]ethyl]phenoxy]ethyl-1-methylpyrrolidin-hydrochlorid; RS 102221, 8-[5-(5-Amino-2,4-dimethoxyphenyl)-5-oxopentyl]-1,3,8triazaspiro[4,5]dekan-2,4-dion; RS 127445, 2-Amino-4-(4-fluoronaphthyl-1-yl)-6-isopropylpyrimidin; SB-204741, N-(1-Methyl-5-indolyl)-N-(3-methyl5-isothazolyl-harnsäure; SB-242084, 6-Chloro-5-methyl-1-[2-(2-methylpyridyl-3-oxy)-pyrid-5-yl-carbamoyl]indolin; YM348, S-2-(7-Ethyl-1H-furo[2,3-g] indazol-1-yl)-1-methylethylamin
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
Tab. A.1.12. Klassifikation, Nomenklatur und Eigenschaften von humanen 5-HT2-Rezeptoren (nach Watling, 2006)
5-HT3
5-HT4
5-ht5
5-ht6
5-HT7
Anderer Name
M
−
5-HT5a 5-HT5b
−
5-HT1-ähnlich 5-HTY
Rezeptorsubtyp-selektive Agonisten
SR 57227A 2-Methyl-5-HT 1-m-Chlorophenyl-biguanid 5-HTQ
BIMU 8 RS 67596 ML 10302 SC 53116
LSD
LSD 5-CT
5-CT
Rezeptorsubtypselektive Antagonisten
Granisetron Ondansetron Tropisetron
GR 113808 SB-204070 RS 100235
Nicht bekannt
Ro 04-6790 Ro 63-0563
SB-204070 Clozapin
Signaltransduktionsmechanismus
Ionenkanal-Rezeptor
Gs (cAMP-Erhöhung)
Nicht bekannt
Gs (cAMP-Erhöhung)
Gs (cAMP-Erhöhung)
Gewebeexpression
Striatum Substantia nigra Hippocampus Nervenendigungen des autonomen Nervensystems Sensorische Neuronen
Striatum Substantia nigra Hirnstamm Herzmuskel Parasympathische Nervenendigungen glatte Muskeln
Hippocampus Kortex Cerebellum Rückenmark Habenula
Striatum Nucleus accumbens Hippocampus
Hippocampus Hypothalamus Raphe-Kerne Vaskuläre und gastrointestinale glatte Muskeln Sympathische Ganglionzellen
Physiologische Funktion
Erregung sympathischer und parasympathischer Nervenzellen
Relaxation glatter Muskeln Herzmuskelkontraktion Exzitatorische cholinerge Wirkung
Nicht bekannt
Wahrscheinlich Modulation cholinerger Neuronen im ZNS
Relaxation glatter Muskeln Neuromodulation im ZNS
cAMP, zyklisches Adenosin-3´-5´-monophosphat Chemische Abkürzungen: BIMU 8, endo-N-8-Methyl-8-azabicyclo[3.2.1]okt-3-yl)-2,3-dihydro-3-isopropyl-2-oxo-1H-benzimidazol-1-carboxamid-hydrochlorid; GR 113808, [1-2[(Methylsulphonyl)amino]ethyl]-4-piperidinyl]methyl-1-methyl-1H-indol-3-carboxylat; LSD, Lysergsäurediethylamid; ML 10302, 2-(1-Piperidinyl)ethyl-4-amino-5-chloro-2-methoxybenzoat; Ro 04-6790, 4-Amino-N-(2,6-bis-methylamino-pyrimidin-4-yl)-benzosulfonamid; Ro 63-0563, 4-Amino-N-(2,6-bis-methylamino-pyridin-4-yl)-benzosulfonamid; RS 67596, 1-(4-Amino-5-chloro-2-methoxyphenyl)-3-(1-n-butyl-4-piperidinyl)-1-propanon; RS 100235, 1-(8-Amino-7-chloro-1,4-benzodioxan-5-yl)-5-((3-(3,4-dimethoxyphenyl)prop-1-yl)piperidin-4-yl)propan-1-on; SB-204070, 1-Butyl-4-piperidinylmethyl-8-amino-7-chloro-1,4-benzoioxan-5-carboxylat; SC 53116, (1S-cis)-4-Amino-5-chloro-N-[(hexahydro-H-pyrrolizin-1-yl)methyl]-2-methoxybenzamid; SR 57227A, 4-Amino-(6-chloro-2-pyridyl)-1-piperidin-hydrochlorid; 5-CT, 5-Carboxamidotryptamin; 5-HTQ, N,N,N-Trimethylserotoniniodid
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Akzeptierter Name
46
Tab. A.1.13. Klassifikation, Nomenklatur und Eigenschaften weiterer humaner 5-HT-Rezeptor-Klassen (nach Watling, 2006)
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
intensive Kontakte zu Blutgefäßen haben und dieser neurovaskuläre Kontakt eine Art Kommunikationskanal für neuroendokrinologisch wirksame Substanzen darstellt. In einigen Fällen hat man mit der so genannten Gen-Knock-out-Strategie (bei der man Mäuse mit einem klar definierten Gendefekt durch Entfernung eines bestimmten Gens aus dem Erbgut erzeugt) versucht, die physiologische Funktion der einzelnen 5-HT-Rezeptorsubtypen aufzuklären. Mäuse, denen z.B. der 5-HT1B-Rezeptor fehlt, entwickeln sich scheinbar normal, sind aber in einem Verhaltenstest aggressiver als Wildtyptiere. In Verhaltensexperimenten mit naiven Tieren konnte auch bei einer Reihe von 5-HT1A- und 5-HT1B-Rezeptor-Agonisten das Vorliegen antiaggressiver Eigenschaften gezeigt werden. Solche Agonisten werden wegen ihrer selektiven Fähigkeit, antiaggressives Verhalten ohne gleichzeitige Sedierung in Ratten und Mäusen hervorzurufen, auch als „Serenics“ bezeichnet. Diese Befunde und die Ergebnisse der Gen-Knock-out-Experimente legen den Schluss nahe, dass 5-HT1BRezeptoren aggressives Verhalten modulieren. Obwohl solche Experimente weiterhin zur Aufklärung der spezifischen Funktion der vielen verschiedenen Rezeptor-Klassen und -Subtypen, die im Gehirn von Säugetieren existieren, beitragen werden, unterliegen diese Versuche einigen Einschränkungen. Erstens könnte unter gewissen Umständen eine andere Untereinheit oder ein anderer Rezeptorsubtyp in der Lage sein, den Verlust eines Gens, das entweder für einen Teil oder für einen kompletten verwandten Subtyp kodiert, zu kompensieren. In einer solchen Situation könnte es vorkommen, dass kein offensichtlicher Phänotypus (Erscheinungsbild im Gegensatz zum Genotypus) zu beobachten ist. Zweitens wäre es möglich, dass der homozygote Verlust eines Genprodukts sich schon im frühen Entwicklungsstadium letal auswirkt. In einem solchen Fall ist es
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nicht möglich, die Konsequenzen des fehlenden Genprodukts in einem späteren Stadium, beispielsweise erwachsenen Tieren, zu untersuchen. Alle 5-HT-Rezeptorsubtypen können prinzipiell sowohl prä- als auch postsynaptisch vorkommen. Der 5-HT1A- und 5-HT1DRezeptor scheinen vor allem präsynaptisch an Zellkörpern und Dendriten (als somatodendritische Autorezeptoren) der dorsalen RapheKerne lokalisiert zu sein (Tab. A.1.11). Der 5-HT1B-Rezeptor ist dagegen vorwiegend präsynaptisch an serotoninergen Nervenendigungen vorhanden. 5-HT-Autorezeptoren spielen vor allem eine Rolle bei der negativen Rückkopplungsmodulation der serotoninergen Neurotransmission. Die Aktivierung dieser Rezeptoren bewirkt eine Öffnung von präsynaptischen Ca2+-Kanälen und damit eine Hyperpolarisation der Nervenzelle, wodurch eine Hemmung der Spontanaktivität serotoninerger Neuronen und der präsynaptischen 5-HT-Freisetzung bewirkt werden. Die Verabreichung geringer Dosen des selektiven 5-HT1A-Agonisten 8-Hydroxy-2-(di-npropylamino)tetralin (8-OH-DPAT) in die dorsalen Raphe-Kerne der Ratte führt zu einer Reduktion der Feuerungsrate serotoninerger Neuronen und zu einer verminderten Freisetzung von 5-HT im Striatum; höhere Konzentrationen rufen zusätzlich einen depolarisierenden Effekt an postsynaptischen Rezeptoren hervor. Dagegen wird durch die Gabe von selektiven 5-HT1B- und 5-HT1DRezeptoragonisten in 5-HT-innervierte Gehirnareale sowohl die Synthese als auch die Freisetzung von 5-HT induziert, nicht aber eine erniedrigte Feuerungsrate hervorgerufen. Die Hemmung somatodendritischer 5-HT1A-Autorezeptoren hat bei Nagern allerdings nur einen geringen Effekt auf die extraneuronale 5-HT-Konzentration, diese potenziert aber die durch selektive 5-HTWiederaufnahme-Hemmer hervorgerufene Erhöhung der 5-HT-Konzentration. Man
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nimmt deshalb an, dass die Desensitivierung dieser Autorezeptoren der Grund für den unter chronischer, nicht aber akuter, Therapie mit 5-HT-Wiederaufnahme-Hemmern beobachteten Effekt der Erhöhung der synaptischen 5-HT-Konzentration ist. Der 5-HT1A-Rezeptor kommt im Gehirn in hoher Dichte in kortikalen und limbischen Strukturen des Gehirns vor (z.B. Hippocampus, entorhinaler Kortex, Septum, Corpus amygdaloideum, frontaler Kortex). Aufgrund dieses Verteilungsmusters nimmt man an, dass dieser 5-HT-Rezeptorsubtyp eine Rolle bei kognitiven oder integrativen Funktionen und auch bei emotionalen Zuständen spielt. Die Aktivierung von 5-HT1ARezeptoren im ZNS resultiert in einer Reihe von physiologischen und Verhaltensreaktionen. Beispielsweise führt sie zur Ausschüttung des adrenocorticotropen Hormons. Man hat Hinweise dafür, dass der 5-HT1ARezeptor bei affektiven Störungen wie der Angststörung und Depression beteiligt ist. So wurden im Hippocampus von verstorbenen Patienten mit depressiven Störungen erniedrigte 5-HT1A-Rezeptorbindungsdichten nachgewiesen. Bei Schizophrenie-Erkrankten wurden dagegen erhöhte Bindungsdichten im frontalen Kortex und in den BrodmannArealen 10 und 11 gefunden. Die Stimulation des 5-HT1A-Autorezeptors erzeugt in der Ratte einen anxiolytischen Effekt; die des postsynaptischen Rezeptorsubtyps führt dagegen zu angstauslösenden Effekten. Neuere anxiolytische Wirkstoffe wie Buspiron haben eine hohe Affinität zum 5-HT1A-Rezeptor. Der 5-HT1B-Rezeptor kommt im ZNS in hoher Dichte in den Basalganglien, vor allem im Striatum, vor, was auf eine Funktion in der motorischen Kontrolle hinweist. Man nimmt deshalb auch eine Fehlfunktion dieses Rezeptorsubtyps bei der ParkinsonKrankheit an. Die Stimulation des postsynaptischen 5-HT1A-Rezeptors moduliert die Freisetzung anderer Neurotransmitter wie
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
von ACh im Hippocampus und Dopamin im präfrontalen Kortex. Postsynaptische Rezeptoren findet man auch an zerebralen Arterien and anderen vaskulären Geweben. Sumatriptan und Zolmitriptan, die Agonisten des 5-HT1B- und 5-HT1D-Rezeptors sind (Tab. A.1.11), werden klinisch bei der Migräne-Therapie verwendet. Diese Wirkstoffe führen durch die Stimulation von 5-HT1BRezeptoren zu einer Verengung meningealer Blutgefäße. Die Aktivierung von 5-HT1DRezeptoren wird als entzündungshemmender Mechanismus angenommen, wodurch die Freisetzung von entzündungsfördernden Neuropeptiden aus den meningealen Trigeminusfasern gehemmt wird. Allerdings sind auch die Koronararterien mit 5-HT1BRezeptoren ausgestattet und können durch diese Wirkstoffe zur Kontraktion gebracht werden: Diese sind deshalb bei Patienten mit koronarer Herzkrankheit kontraindiziert. Der Nachweis des Vorkommens von 5-HT1D-Rezeptoren im ZNS ist aufgrund des Fehlens selektiver Radioliganden schwierig zu bewerkstelligen. Genexpressions-Untersuchungen wiesen geringe Mengen an mRNA für diesen Rezeptorsubtyp in den Basalganglien, den dorsalen Raphe-Kernen und dem Locus caeruleus nach, was darauf hinweist, dass diese Rezeptoren vorwiegend an axonalen Nervenendigungen von sowohl serotoninergen als auch nicht-serotoninergen Neuronen vorkommen. Der 5-HT2A-Rezeptorsubtyp kommt postsynaptisch sowohl im peripheren Nervensystem als auch im ZNS vor, wobei die höchste Dichte im frontalen Kortex vorliegt. Hohe Dichten findet man auch im Claustrum, eine Region, die Verbindungen zum visuellen Kortex, Teilen des limbischen Systems (z.B. Corpus amygdaloideum, Hippocampus) und den Basalganglien hat. Im Kortex kommt der 5-HT2A-Rezeptor sowohl an lokalen GABAergen Interneuronen als auch an pyramidalen glutamatergen Projek-
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
tionsneuronen vor. Die hohe Dichte dieses 5-HT-Rezeptors innerhalb des Kortex lässt vermuten, dass dieser Rezeptor eine Rolle bei kognitiven und integrativen Funktionen spielt. Die Aktivierung des 5-HT2A-Rezeptors im ZNS resultiert in einer Erhöhung der Körpertemperatur und einer vermehrten Ausschüttung des adrenocorticotropen Hormones. Der Rezeptor wird auch mit den halluzinogenen Effekten von 5-HT2A-Rezeptor-Agonisten in Verbindung gebracht. Schließlich ist dieser Rezeptorsubtyp im Zusammenhang mit der antipsychotischen Wirkung von Neuroleptika von Interesse. Die so genannten atypischen Neuroleptika (siehe Kap. B.4) wie beispielsweise Clozapin und Olanzapin sind Antagonisten mit einer hohen Affinität für den 5-HT2A-Rezeptor und der Dopamin-D2-Rezeptorfamilie. Der 5-HT2B-Rezeptor kommt beim Menschen überwiegend in peripheren Geweben vor. So wurden sehr hohe Konzentrationen an 5-HT2B-mRNS in der Plazenta, Lunge, Leber, Niere, im Herz, Dünndarm und Magen nachgewiesen. Dagegen wurden im Gehirn nur vergleichsweise geringe Mengen im Cerebellum, zerebralen Kortex, Corpus amygdaloideum, Substantia nigra, Nucleus caudatus, Thalamus, Hypothalamus und Retina gefunden. Die funktionelle Rolle von 5-HT2B-Rezeptoren ist kaum bekannt, da es bis vor kurzem keine wirklich selektiven Agonisten gegeben hat (Tab. A.1.12). Dieser 5-HT-Rezeptorsubtyp kommt aber auch in einer Reihe von Blutgefäßen vor. Die Kontraktion der renalen Arterie wird zum Teil durch den 5-HT2B-Rezeptor vermittelt. Antagonisten dieses Rezeptors wurden für einen möglichen klinischen Einsatz bei der Behandlung von Migräneattacken entwickelt. Der 5-HT2C-Rezeptor wurde im Gehirn des Menschen und der Ratte mit der höchsten Dichte in Epithelzellen des Plexus choroideus nachgewiesen. Dies hat zu der Vermutung geführt, dass die Aktivierung dieses
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Subtyps durch 5-HT an der Regulation der Zusammensetzung und des Volumens der Cerebrospinalflüssigkeit beteiligt ist. 5-HT2CRezeptoren wurde aber auch in weiteren Regionen des Gehirns in wesentlich geringeren Mengen nachgewiesen, insbesondere in Teilen des limbischen Systems (Hypothalamus, Hippocampus, Septum, Neokortex) und Regionen, die in Zusammenhang mit der Motorik stehen (Substantia nigra, Globus pallidus). Das Fehlen selektiver 5-HT2CRezeptor-Agonisten und -Antagonisten ist der Grund für das sehr begrenzte Wissen zur Funktion dieses 5-HT-Subtyps im ZNS. Wie bereits oben erwähnt, gehört der 5-HT3-Rezeptor im Gegensatz zu den anderen 5-HT-Rezeptorsubtypen zu der Rezeptorfamilie der Liganden-gekoppelten Ionenkanäle. Charakteristisch für diese Rezeptorfamilie ist, dass es zusätzlich zu der eigentlichen Ligandenerkennungsstelle pharmakologisch unterscheidbare Bindungsstellen gibt, wodurch der Rezeptor moduliert wird. Alkohol und Narkosemittel sind Beispiele für solche modulatorisch wirkenden Agonisten. Der 5-HT3-Rezeptor ist sowohl im peripheren Nervensystem als auch im ZNS weit verbreitet (Tab. A.1.13). Die höchste Bindungsdichte findet man in allen Schichten der Area postrema, im Nucleus tractus solitarius und der Substantia gelatinosa im Rückenmark sowie in Kernen des unteren Gehirnstamms (wie im Nucleus trigeminalis und im dorsalen vagalen Komplex). Das Vorkommen dieses Rezeptors im Rückenmark lässt vermuten, dass dieser an der Modulation nozizeptiver Mechanismen beteiligt ist. Die Stimulation des 5-HT3-Rezeptors ermöglicht die Freisetzung von Substanz P im Rückenmark. Die Lokalisation von Bindungsstellen dieses Rezeptors in kortikalen und limbischen Regionen des Gehirns deckt sich mit tierexperimentellen Befunden, die auf ein anxiolytisches, antidepressives und kognitives Potenzial von 5-HT3-Rezeptor-
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Antagonisten hinweisen. Die Beobachtung, dass durch 5-HT3-Rezeptoren die Aktivität dopaminerger Neuronen im VTA moduliert wird, hat zur Entwicklung der Hypothese geführt, dass 5-HT3-Rezeptor-Antagonisten antipsychotisch wirksam sind und die Fähigkeit besitzen, den Belohnungseffekt von Alkohol und anderen missbräuchlich verwendeten Drogen zu reduzieren. Die therapeutische Wirksamkeit von Odansetron, einem Antagonisten dieses Rezeptors, beim Einsatz gegen die durch Chemotherapie hervorgerufene Emesis und Nausea, wird durch die Blockade von 5-HT3-Rezeptoren der Darmmucosa erklärt. Der 5-HT4-Rezeptor kommt in hoher Dichte im Striatum, der Substantia nigra und im Tuberculum olfactorium, aber auch im Hippocampus vor, wie RadioligandenBindungsstudien zeigten. Der postsynaptisch vorkommende 5-HT-Rezeptorsubtyp moduliert die Freisetzung verschiedener Neurotransmitter wie ACh, Dopamin und GABA, aber auch indirekt die von 5-HT. Die Aktivierung dieses Rezeptors bewirkt in Ratten und Affen eine Verbesserung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Allerdings wurde die Gedächtnis verbessernde Wirkung in klinischen Studien noch nicht eindeutig belegt. Der 5-HT7-Rezeptor ist das bislang jüngst identifizierte Mitlgied der G-Protein-gekoppelten 5-HT-Rezeptoren. Aufgrund fehlender selektiver Agonisten und Antagonisten sind die Verteilung im ZNS und die Funktion nur bedingt bekannt. Es wird diskutiert, dass dieser Rezeptor eine Rolle am circadianen Rhythmus spielt. Es gibt aber zunehmend Hinweise dafür, dass dieser Rezeptor auch bei psychiatrischen Erkrankungen eine Rolle spielt. Atypische Neuroleptika wie Clozapin und Risperidon sowie einige Antidepressiva zeigten eine hohe Affinität zum 5-HT7-Rezeptor.
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
A.1.3.4
Aminosäure-Neurotransmitter
ACh und die biogenen Amine werden in der Regel nur in bestimmten Neuronen synthetisiert. Dagegen sind die Aminosäure-Neurotransmitter, GABA und Glutamat Zwischenprodukte gängiger biochemischer Reaktionswege. l-Asparagin- und l-Glutaminsäure sind proteinogene Aminosäuren und daher Bausteine fast aller Proteine. Unter physiologischen Bedingungen liegen sie als Salze vor, deshalb werden die Begriffe Aspartat und Glutamat häufig synonym verwendet. Durch die Reaktion der Transaminierung ist die Glutaminsäure das Schlüsselprodukt des Aminosäuren-Stoffwechsels. Glutamat ist darüber hinaus in GABAergen Neuronen die Vorstufe des namensgebenden Neurotransmitters, zu dem es decarboxyliert wird (siehe Kap. A.1.3.4.2). A.1.3.4.1
Aspartat und Glutamat
A.1.3.4.1.1 Neuroanatomisches Vorkommen
Glutamat ist wahrscheinlich der am häufigsten im Gehirn und Rückenmark verwendete erregende Neurotransmitter; ca. 80–90 Prozent der im Gehirn vorkommenden Synapsen arbeiten mit Glutamat als Neurotransmitter. Die Repolarisation von Membranen, die während der glutamatergen Aktivität depolarisiert werden, trägt zu etwa 80 Prozent des Energieverbrauchs im Gehirn bei. Die erregende Wirkung von sehr geringen Mengen Aspartat und Glutamat (etwa 10 fMol) auf fast alle Neuronen ist aufgrund elektrophysiologischer Untersuchungen schon sehr lange bekannt. Obwohl der eindeutige Neurotransmitter-Nachweis dadurch erschwert wurde, dass beide Aminosäuren an einer Reihe physiologischer Prozesse beteiligt sind (nur ca. 30 Prozent der im ZNS gemessenen Glutamat-Konzentrationen gehören zur Neurotransmitter-Menge), gibt es heutzuta-
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
ge keine Zweifel an der NeurotransmitterFunktion von Glutamat. Aspartat wird dagegen eher nicht als klassischer Neurotransmitter angesehen (Tab. A.1.2), weil es nicht in synaptischen Vesikeln gespeichert zu sein scheint, sondern wahrscheinlich direkt aus dem Zytosol präsynaptischer Nervenendigungen freigesetzt wird. Viele der vom Kortex in das Striatum, den Thalamus, den Gehirnstamm und das Rückenmark projizierenden Neuronen, sowie afferente, intrinsische und efferente Neuronen des Hippocampus, verwenden Glutamat als Neurotransmitter. Entsprechend der Innervierungsdichte werden regional unterschiedliche Aspartat- und GlutamatKonzentrationen in den jeweiligen Projektionsarealen nachgewiesen (Abb. A.1.16). Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Aspartat und Glutamat ca. 1000-fach höher konzentriert vorkommen als biogene Amine wie z.B. Dopamin (Abb. A.1.1). Man geht davon aus, dass Aspartat und Glutamat eine wesentliche Rolle bei kortikal und hippocampal gesteuerten kognitiven Funktionen (Lernen und Gedächtnisbildung), bei pyramidal und extrapyramidal vermittelten motorischen Funktionen (Bewegungsinitiierung) und bei der Synaptogenese spielen. Störungen der glutamatergen Neurotransmission sind an der Pathogenese der Epilepsie sowie akuter (Schlaganfall) und chronischer neurodegenerativer Erkankungen (Alzheimer-Demenz, Amyotrophe Lateralsklerose = ALS, Chorea Huntington, Parkinson-Krankheit) beteiligt. A.1.3.4.1.2 Biosynthese und Inaktivierungsmechanismen
Aspartat und Glutamat sind nicht-essenzielle Aminosäuren, die nicht die Blut-HirnSchranke überwinden können. Beide Aminosäuren werden im Gehirn aus Glukose, die im Blutkreislauf enthalten ist, synthetisiert (Abb. A.1.17). Durch Glykolyse und
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Reaktionen innerhalb des Citrat-Zyklus entstehen die Zwischenstufe α-Ketoglutarat, aus der mithilfe anderer Blut-Hirn-Schrankengängiger Aminosäuren (wahrscheinlich Leucin, Isoleucin, Valin) Glutamat gebildet wird. α-Ketoglutarat steht in einem Fließgleichgewicht mit Glutamat und wird immer wieder durch den Citrat-Zyklus metabolisiert. Durch Verschiebung der Aminogruppe mittels der Aspartat-Amino-Transferase zwischen α-Ketoglutarat und einem anderen CitratZyklus-Zwischenprodukt, Oxalacetat, entsteht Aspartat. Glutamat wird, wie oben erwähnt, im Gegensatz zu Aspartat mittels spezifischer Transportsysteme in Vesikel aufgenommen und dort für die Freisetzung gespeichert. Es wurden bisher drei so genannte vesikuläre Glutamat-Transporter (VGLUT1- VGLUT3) kloniert. Diese sind multimere Proteinkomplexe, die sehr effektiv ATP- und H+-abhängig Glutamat gegen einen Konzentrationsgradienten in die Vesikel transportieren: Die Konzentration von Glutamat in Vesikeln wird auf 60–250 mMol geschätzt, die zytosolische Konzentration liegt dagegen nur bei wenigen mMol (Hassel und Dingledine, 2005). Der größte Teil des freigesetzten Glutamats wird wahrscheinlich in Astrozyten durch Glutamat-Transportersysteme aufgenommen, wo es zu Glutamin abgebaut wird (Abb. A.1.17). Dieses wird dann in glutamaterge Neuronen aufgenommen, wo es erneut für den Einsatz im Glutamat- und GABANeurotransmitter-Pool zur Verfügung steht. Gegenwärtig gibt es nur wenige Hinweise für einen extrazellulären Glutamat-Abbau im ZNS. Als zwitterionische polare Moleküle sind Aspartat und Glutamat nicht in der Lage, über Membranen mit einer Lipid-Doppelschicht zu diffundieren. Hierfür stehen Na+abhängige Glutamat-Transporter, die mit einem elektrochemischen Gradienten gekoppelt sind und damit den Transport von Aspartat und Glutamat gegen einen Kon-
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Abb. A.1.16. Regionale Verteilung von Aspartat, Glutamat und GABA im menschlichen Post-mortemGehirn (nach Gerlach et al., 1996). Dargestellt sind die Mittelwerte ± S.E.M. fr Ktx, frontaler Kortex; GPl, Globus pallidus pars lateralis; GPm, Globus pallidus pars medialis; Gprä, Gyrus präcentralis; Gpost, Gyrus postcentralis; N acc, Nucleus accumbens; NCcau, Cauda Nucleus caudatus; NCcap, Caput Nucleus caudatus; CNcorp, Corpus Nucleus caudatus; Put, Putamen pars anterior; SNc, Substantia nigra pars compacta; SNr, Substantia nigra pars reticulata; STN, Nucleus subthalamicus; Thala, Nucleus anterior thalami; Thalcm, Nucleus centromedianus thalami; Thalm, Nucleus medialis thalami; Thalva, Nucleus ventralis anterior thalami; Thalvl, Nucleus ventralis lateralis thalami
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
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Abb. A.1.17. Axodendritische synaptische glutamaterge Neurotransmission (nach Hassel und Dingledine, 2005). AMPA-R, α-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolpropionsäure-Rezeptor; EAAT1, Exzitatorischer Aminosäuren-Transporter Typ 1; EAAT2, Exzitatorischer Aminosäuren-Transporter Typ 2 (Synonym Glutamat-Aspartat-Transporter), EAAT3/4, Exzitatorische Aminosäuren-Transporter Typ 3 und 4; Gl, Glutaminase; Gln, Glutamin; GlnT1, GlnT2, Glutamin-Transporter; Glu, Glutamat; mGlu-R, metabotroper Glutamat-Rezeptor; NMDA, NMDA, N-Methyl-D-aspartat-Rezeptor
zentrationsgradienten ermöglichen, zur Verfügung (Abb. A.1.17). Es gibt viele Hinweise dafür, dass deren Hauptaufgabe darin besteht, die freien Konzentrationen von Aspartat und Glutamat im extrazellulären Spalt der exzitatorischen Synapse möglichst gering zu halten und damit eine übermäßige Stimulation von glutamatergen Rezeptoren zu verhindern (siehe nachfolgenden Abschnitt zu Exzitotoxizität). l-Aspartat und l-Glutamat haben eine ähnliche Affinität für diese Transporter und werden deshalb mit etwa gleicher Geschwindigkeit befördert. Wie auch bei vielen anderen Transportsystemen im ZNS, wird d-Aspartat etwa
gleich schnell transportiert, nicht jedoch d-Glutamat. Es wurden mehrere Mitglieder der Na+-abhängigen Glutamat-TransporterFamilie kloniert, die sich in ihrer regionalen und zellulären Verteilung unterscheiden: der Glutamat-Aspartat-Transporter, der dem humanen Transporter EAAT1 (für excitatoric amino acid transporter) entspricht, kommt überwiegend nur in Astrozyten vor; der Glutamat-Transporter-1, der dem humanen EAAT2 entspricht, kommt sowohl in Astrozyten als auch Neuronen vor; dagegen werden die EAAT3 und EAAT4 vorwiegend in Neuronen exprimiert. Im Unterschied zu den Transportersystemen für biogene Amine
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ist die Na+-abhängige Glutamat-Transporter-Familie nicht von Cl–-Ionen abhängig. A.1.3.4.1.3 Rezeptorsubtypen
Da Glutamat auf postsynaptische Rezeptoren eine erregende Wirkung ausübt, werden die Glutamat-Rezeptoren auch als Exzitatorische-Aminosäuren-Rezeptoren bezeichnet. Diese werden in Liganden-gesteuerte Ionenkanäle und in G-Protein-gekoppelte Rezeptoren unterteilt (Abb. A.1.18). Jede dieser beiden Rezeptor-Klassen wird in drei weitere funktionell definierte Gruppen unterteilt, die aus verschiedenen molekularen Familien von Rezeptorgenen zusammengesetzt sind. Aufgrund der Analogie mit anderen Liganden-gekoppelten Ionenkanälen geht man davon aus, dass ionotrope Glutamat-Rezeptoren aus heteromeren Gruppen (wahrschein-
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
lich tetramer) von homologen Rezeptor-Untereinheiten, die jeweils durch verschiedene Gene kodiert werden, zusammengesetzt sind (Abb. A.1.18). Ein Charakteristikum dieser Rezeptoren ist, dass eine unterschiedliche Zusammensetzung der Untereinheiten zu funktionell verschiedenen Rezeptoren führt, was impliziert, dass eine große Vielfalt an glutamatergen Rezeptoren im Gehirn vorliegt. So besteht beispielsweise der NMDARezeptor (NMDA ist das Akronym von N-Methyl-d-aspartat) aus der NR1-Rezeptoruntereinheit und einer Kombination aus einer NR2-Rezeptoruntereinheit oder mehreren dieser Untereinheiten (A–D) sowie einer dritten Untereinheit NR3 (A,B). Die glutamatergen Ionenkanal-Rezeptoren werden in pharmakologisch und funktionell unterschiedliche Rezeptoren eingeteilt: den NMDA-, AMPA- (von α-amino-3-hydroxy-5-
Abb. A.1.18. Molekulare Einteilung der Glutamat-Rezeptoren (nach Hassel und Dingledine, 2005). AMPA, α-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolpropionsäure; cAMP, zyklisches Adenosin-3´-5´-monophosphat; Glu, Glutamat, IP3, Inositol-1,4,5-triphosphat; NMDA, N-Methyl-D-aspartat
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
methyl-4-isoxazolepropionic acid) und KainatRezeptor. Alle diese Rezeptoren sind für Ca2+-, K+- und Na+-Ionen durchlässig, wobei der Grad der Durchlässigkeit für diese Ionen von der Zusammensetzung der Untereinheiten des Rezeptors abhängig ist. Beispielsweise lässt der AMPA-Rezeptor, der GluR2-Untereinheiten enthält, vorwiegend Na+-Ionen von der extrazellulären Seite in den intrazellulären Raum durch; für Ca2+-Ionen ist dieser Rezeptortyp dagegen nur wenig durchlässig. Endogene Liganden für den NMDA-Rezeptor sind Glutamat und Aspartat. Letzteres aktiviert nur diesen Glutamat-Rezeptorsubtyp und übt keine Effekte auf die anderen Ionenkanal-Rezeptoren aus. Der NMDA-Rezeptor gehört zu den am besten kontrollierten Neurotransmitter-Rezeptoren und weist besondere Charakteristika auf (Abb. A.1.20): Es gibt nicht weniger als sechs verschiedene Bindungsstellen für endogene Liganden, die die Wahrscheinlichkeit der Öffnung der Kanalpore beeinflussen. Diese setzen sich unter anderem aus zwei Bindungsstellen für zwei verschiedene Agonisten, Glutamat und Glycin, zusammen: Für die Öffnung des NMDARezeptorkanals sind sowohl Glutamat als auch Glycin erforderlich. Die Glycin-Bindungsstelle unterscheidet sich pharmakologisch von der des klassischen inhibitorischen GlycinRezeptors in der Weise, dass diese nicht durch Strichnin gehemmt und nicht durch β-Alanin aktiviert wird. Da weder Glycin noch Glutamat allein den NMDA-gekoppelten Ionenkanal öffnen können, bezeichnet man beide auch als Ko-Agonisten. Weiterhin gibt es ein Polyamin-Bindungsstelle, die ebenfalls die Aktivierung reguliert, sowie verschiedene weitere Bindungsstellen für Mg2+-, H+- und Zn2+-Ionen, deren Aufgabe es ist, den durch die Agonisten-Aktivierung hervorgerufenen Ionendurchfluss zu hemmen. Schließlich beeinflusst auch der Redoxstatus des NMDA-Rezeptors die durch dessen Aktivierung hervorgerufene Reaktion: Eine der
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drei Paare von Cystein-Gruppen kann entweder in reduzierter (wodurch die NMDAaktivierte Rezeptorantwort verstärkt wird) oder aber in oxidierter Form vorliegen, wobei Disulfid-Brücken vorhanden sind (wodurch die NMDA-aktivierte Rezeptorantwort vermindert wird). Bei normalem Ruhepotenzial ist der NMDA-Rezeptor durch Mg2+-Ionen verschlossen. Erst durch Teildepolarisation (unter anderem durch die Aktivierung von AMPA-Rezeptoren) wird er geöffnet, wobei die Mg2+-Ionen durch die elektrostatische Abstoßung durch die Öffnung der Kanalpore ausgestoßen werden, so dass Ca2+-Ionen in die Nervenzelle einströmen können. Neben Mg2+ gibt es weitere Spannungs-abhängige Hemmstoffe des NMDA-Rezeptorkanals wie MK801 (Dizocilpin); Ketamin, ein Narkosemittel; Phencyclidin (PCP), das früher als Narkosemittel eingesetzt wurde und heute eine weit verbreitete Designerdroge („Angel Dust“) ist, die unter anderem albtraumartige Halluzinationen hervorruft; oder Memantin, das als Antidementivum in der Alzheimer-Therapie zugelassen ist. Autoradiographische Rezeptorbindungsuntersuchungen zeigten, dass die ionotropen Glutamat-Rezeptoren vor allem postsynaptisch lokalisiert sind und die regionale Verteilung ihrer Dichten im menschlichen Gehirn deutlich differiert. Das regionale Verteilungsmuster ist für die NMDA- und AMPA-Rezeptoren ähnlich und unterscheidet sich von dem der Kainat-Rezeptoren. Man fand hohe Bindungsdichten der AMPA- und NMDA-Rezeptoren im zerebralen Kortex, Hippocampus, lateralen Septum, Striatum, Corpus amygdaloideum und der molekularen Schicht des Cerebellums; hohe KainatRezeptorbindungsdichten wurden dagegen in der CA3-Region des Hippocampus, im Kortex und lateralen Septum nachgewiesen. Die physiologische und pathophysiologische Funktion der postsynaptischen ionotropen Glutamat-Rezeptoren wurde
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intensiv mittels molekularer und pharmakologischer Methoden untersucht. Die nach Öffnung des Ionenkanals durch die postsynaptische Membran in die Nervenzelle zusammen mit Na+- einströmenden Ca2+-Ionen (Abb. A.1.19) bewirken durch Anschaltung von Second-Messenger-Kaskaden langfristige metabolische und strukturelle Veränderungen und erhöhen anhaltend die Effizienz der Erregungsübertragung. Es zeigte sich, dass NMDA-Rezeptoren eine wichtige Rolle bei der Plastizität sowohl im sich entwickelnden als auch im erwachsenen Gehirn spielen. Postsynaptische AMPA-Rezeptoren sind an der Signalübermittlung der meisten
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
schnellen exzitatorischen Synapsen im ZNS beteiligt. Beide Glutamat-Rezeptorsubtypen spielen eine Rolle bei bestimmten Formen der Plastizität wie der so genannten Langzeitpotenzierung (LTP, von long-term potentiation) oder der so genannten Langzeitdepression (long-term depression, LDP). Die LTP ist elektrophysiologisch nachweisbar; sie tritt jedoch nur dann ein, wenn gleichzeitig andere Synapsen an demselben Neuron aktiviert werden. Dadurch besteht die Möglichkeit für logische Verknüpfungen, wie sie für Lernvorgänge erforderlich sind. Die Rolle der Kainat-Rezeptoren ist weniger klar, es gibt aber Hinweise dafür, dass diese
Abb. A.1.19. Schematische Darstellung des NMDA-Rezeptors. Bei normalem Ruhepotenzial ist er durch Mg2+-Ionen verschlossen. Dargestellt sind nur einige der modulatorischen Bindungsstellen. D-AP5, D-2Amino-5-phosphonopentansäure; NMDA, N-Methyl-D-aspartat; PCP, Phencyclidin; 2R-CPPene, 3-(2Carboxypiperazin-4-yl)1-propyl-1-phosphonsäure
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
Rezeptoren im Hippocampus und im Rückenmark präsynaptisch lokalisiert sind und die Neurotransmitter-Freisetzung beeinflussen. Übermäßige Stimulation ionotroper Glutamat-Rezeptoren ruft jedoch auch neurotoxische Effekte hervor und führt zum Untergang von Neuronen, welche mit diesen Rezeptoren ausgestattet sind. Man spricht in diesem Fall von Exzitotoxizität. Der Begriff Exzitotoxizität impliziert zwei paradoxe Wirkungsweisen von Exzitatorischen Aminosäuren wie Glutamat, Aspartat, NMDA und Kainat: eine physiologische, erregende (exzitatorische) und eine unphysiologische, neurotoxische Wirkung. Die Tatsache, dass solche Aminosäuren neurotoxisch wirksam sind, wurde erstmals zu Beginn der 70iger Jahre des vorigen Jahrhunderts von Olney bei tierexperimentellen Untersuchungen erkannt (siehe Olney, 1978): Die orale Gabe von Glutamat und chemisch verwandter Substanzen führte bei jungen Tieren zu akuten Nervenzelluntergängen in Gehirnregionen, die nicht gut durch die Blut-Hirn-Schranke geschützt sind. Vorwiegend war dies der Nucleus arcuatus im Hypothalamus. Histologische Untersuchungen zeigten, dass immer postsynaptische glutamaterge Zellstrukturen wie Dendriten und Zellkörper betroffen waren, während präsynaptische Nervenendigungen und nicht-neuronale Zellen intakt blieben. Man geht heute davon aus, dass die neurotoxische Wirkung Exzitatorischer Aminosäuren vor allem durch den unkontrollierten Ca2+-Einstrom in die Nervenzelle infolge übermäßiger Stimulation des NMDA- und AMPA-Rezeptors verursacht wird. Dies führt zu einer ungeregelten Aktivierung von Ca2+abhängigen Enzymen (wie der Ca2+/Calmodulin-abhängigen Proteinkinase II, Proteinkinase C, Phospholipase A2, NO-Synthetase und Endonucleasen), wodurch Lipide und Proteine abgebaut und freie Radikale erzeugt werden und infolge dessen die Nervenzelle irreversibel geschädigt wird.
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Erhöhte Glutamat-Freisetzung, Schädigungen des NMDA-Rezeptors und GlutamatTransporters sowie charakteristische zytopathologische Veränderungen wurden bei einer Reihe von akuten und chronischen neurodegenerativen Erkrankungen nachgewiesen: Hierzu gehören der Schlaganfall und epileptische Anfälle, die akute Neuronenuntergänge hervorrufen. Chorea Huntington, Alzheimer-Krankheit, ALS und ParkinsonKrankheit sind dagegen Beispiele für eine chronische Neurodegeneration. Bisher wurden acht humane Subtypen des metabotropen Glutamat-Rezeptors (mGluR1-mGluR8) identifiziert. Alle der rekombinanten Rezeptoren werden durch Glutamat stimuliert, jedoch ist die Wirksamkeit sehr unterschiedlich ausgeprägt und variiert zwischen 2 nMol (mGluR8) und 1 mMol (mGluR7). Aufgrund der Aminosäurensequenz-Homologie, der Pharmakologie und Kopplung an bestimmte Second-MessengerSysteme werden diese in drei Gruppen unterteilt (Abb. A.1.18). Es gibt mittlerweile zumindest einige für die jeweiligen Gruppen selektive Agonisten. 3,5-Dihydroxyphenylglycin (DHPG) scheint ein selektiver Agonist der Gruppe I zu sein, 2R,4R-4Aminopyrrolidin-2-4-dicarboxylat (ADPC) ist hoch selektiv für die zur Gruppe II gehörenden Rezeptoren (440 nMol) und lAmino-4-phosphonobutyrat (l-AP4) ist ein selektiver Agonist der Gruppe III. Eine interessante Entwicklung in der Pharmakologie der metabotropen Glutamat-Rezeptoren ist die Entdeckung allosterischer Modulatoren bestimmter Rezeptorsubtypen. Diese Wirkstoffe binden an die Transmembrandomäne, um entweder die durch Glutamat hervorgerufene Aktivierung positiv oder negativ zu modulieren. Das Fehlen selektiver Agonisten und Antagonisten für die jeweiligen Subtypen erschwert die Erforschung der physiologischen Rolle der verschiedenen metabotro-
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pen Rezeptoren. Ebenso wenig systematisch erforscht ist die regionale Verteilung im menschlichen Gehirn. Metabotrope Glutamat-Rezeptoren scheinen im ZNS weit verbreitet vorzukommen und sind prä- und postsynaptisch lokalisiert. Die Aktivierung präsynaptisch lokalisierter metabotroper Glutamat-Rezeptoren verhindert die Weiterleitung sowohl exzitatorischer glutamaterger als auch hemmender GABAerger Neurotransmission, wahrscheinlich durch Beeinflussung von Spannungs-abhängigen Ca2+-Kanälen. Die postsynaptisch vorkommenden Rezeptoren modulieren die Ionenkanalaktivität einer ganzen Reihe von Liganden- und Spannungs-kontrollierten Ionenkanälen. Ob eine Aktivierung zu einer Hemmung oder Potenzierung des Rezeptors führt, hängt davon ab, welcher Teil des Signaltransduktions-Mechanismus beeinflusst wird und an welchen Neuronentypen diese Rezeptoren vorkommen. Beispielsweise verstärkt die Aktivierung metabotroper Glutamat-Rezeptoren in hippocampalen Pyramidalzellen die durch die Aktivierung von NMDA-Rezeptoren hervorgerufenen Effekte. In cerebellären Körnerzellen führt dagegen die Aktivierung zu einer Hemmung der durch die Aktivierung von NMDA-Rezeptoren hervorgerufenen Erhöhung intrazellulärer Ca2+-Konzentrationen. Untersuchungen an genetisch veränderten Mäusen wiesen auf mögliche physiologische Funktionen der metabotropen Glutamat-Rezeptoren hin. Mäuse, denen das mGluR1-Gen fehlte, zeigten Symptome einer cerebellären Dysfunktion wie ataxischer Gang, Intentionstremor und Dysmetrie. Darüberhinaus wurde bei diesen Mäusen eine verschlechterte motorische Koordination und Mängel in der LTP beobachtet.
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
A.1.3.4.2
GABA
A.1.3.4.2.1 Neuroanatomisches Vorkommen
Die GABA ist der wichtigste inhibitorische Transmitter im Säugetierhirn und die erste Aminosäure, für die eine Neurotransmitter-Funktion aufgrund von elektrophysiologischen Befunden vermutet wurde. Die neuroanatomische Verteilung GABAerger Neuronen im menschlichen Gehirn ist nur unzureichend bekannt. Dies hängt vor allem damit zusammen, dass es keine hinreichend zuverlässigen und eindeutigen Methoden zum Nachweis GABAerger Neuronensysteme gibt. Die Identifikation mithilfe von Antikörpern gegen das GABA-synthetisierende Enzym Glutaminsäure-Decarboxylase kann nicht an menschlichem Post-mortem-Gewebe durchgeführt werden, da die Glutaminsäure-Decarboxylase ein Sauerstoffabhängiges Enzym ist, dessen Aktivität nach dem Tod rasch abnimmt. Untersuchungen der Wiederaufnahme-Stellen mit radioaktiv markierter GABA legten den Schluss nahe, dass GABA in fast allen Gehirnregionen vorkommt und je nach untersuchter Gehirnregion 25–45 Prozent der Nervenendigungen GABA als Neurotransmitter verwenden. Die direkte Messung von GABA in Postmortem-Gewebe ist ebenso mit Problemen behaftet. Da GABA auch im Proteinstoffwechsel gebildet wird, weiß man nicht genau, welcher Anteil der gemessenen GABAMenge der Neurotransmitter-Masse zuzuordnen ist. Man geht davon aus, dass 70–80 Prozent der gefundenen GABA-Konzentration zur Neurotransmitter-Masse gehören, doch dürfte der tatsächliche Anteil geringer sein, da GABA auch in Gliazellen vorkommt (siehe Gerlach et al., 1996). Ähnlich wie für den Aminosäuren-Neurotransmitter Glutamat gezeigt, kommt die GABA in regional unterschiedlichen Konzentrationen vor (Abb. A.1.16), was auf ihre Neurotransmit-
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
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Abb. A.1.20. Der γ-Aminobuttersäure-(GABA-)Stoffwechselweg
ter-Funktion hinweist. Immunhistochemische Untersuchungen am Rattenhirn zeigten, dass es sowohl GABAerge Projektionsneuronen mit zum Teil sehr langen Fortsätzen (z.B. kortiko-nigrale, striato-pallidale, nigro-thalamische) als auch GABAerge Interneuronen (wie beispielsweise Körnerzellen des Bulbus olfactorius, Purkinje-Zellen und Korbzellen des Cerebellums) gibt. A.1.3.4.2.2 Biosynthese und Inaktivierungsmechanismen
Die Biosynthese der GABA erfolgt im so genannten GABA-Stoffwechselweg. Dieser geschlossene Regelkreis gehört zu einem Nebenweg des Citrat-Zyklus, der für die Synthese, Bereitstellung und Metabolisierung von GABA verantwortlich ist (Abb. A.1.20). Glukose ist die Hauptquelle für die GABASynthese, jedoch können auch Pyruvat und andere Aminosäuren als Vorstufen verwen-
det werden. Der erste Schritt im GABAStoffwechselweg ist die Transaminierung von α-Ketoglutarat, das aus dem GlukoseMetabolismus im Citrat-Zyklus stammt und durch die GABA-Oxalacetat-Transaminase in Glutamat überführt wird. Daraus wird durch die Glutamat-Decarboxylase GABA synthetisiert. Die Glutamat-Decarboxylase kommt präsynaptisch nur in Neuronen vor, die GABA als Neurotransmitter benutzen. GABA wird durch die GABA-OxalacetatTransaminase in Succinatsemialdehyd abgebaut. Um die Bereitstellung von GABA sicherzustellen, erfolgt diese Transaminierung generell nur dann, wenn das Ko-Substrat α-Ketoglutarat vorhanden ist, um die Aminogruppe, die von GABA entfernt wird, aufzunehmen. Deshalb kann ein Molekül GABA nur dann gebildet werden, wenn ein Molekül der Vorstufe vorhanden ist. Succinatsemialdehyd wird dann durch die Succinatsemialdehyd-Dehydrogenase in Succinat
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
oxidiert und steht damit im Citrat-Zyklus wieder zur Verfügung. Die Beendigung der synaptischen Wirkung von GABA erfolgt überwiegend durch eine Wiederaufnahme in präsynaptische Nervenendigungen und umliegende Gliazellen mittels spezifischer Transportsysteme, den so genannten membranständigen GABA-Transportern (Synonym: PlasmalemmTransporter). Von diesen sind eine Reihe von Subtypen kloniert worden. Alle sind sowohl temperatur- als auch ionenabhängig und in der Lage, den Transport von GABA in beiden Richtungen zu bewerkstelligen. Unabdingbar ist auch die Abhängigkeit von extrazellulären Na+-Ionen und zusätzlich von Cl–-Ionen. Die Familie der membranständigen GABATransporter sind Glykoproteine mit 12 Transmembran-Regionen und einer Molekülmasse von 80 kDa, die keine AminosäurensequenzHomologie mit den GABA-Rezeptoren, aber Ähnlichkeiten mit anderen Na+-abhängigen Transportern besitzen. Die membranständigen Transporter unterscheiden sich von den vesikulären GABA-Transportern durch die Anzahl der Transmembran-Regionen (10) und die Unabhängigkeit von der extrazellulären Na+-Ionenkonzentration.
GABA, das in präsynaptische Nervenendigungen aufgenommen wird, kann wieder für eine erneute Freisetzung verwendet werden; dagegen wird GABA, das in Gliazellen transportiert wird, durch die GABA-Oxalacetat-Transaminase in Succinatsemialdehyd abgebaut und kann zumindest nicht mehr resynthetisiert werden, da in Gliazellen keine Glutamat-Decarboxylase vorhanden ist. Erst durch den Umweg über den Citrat-Zyklus kann die Resynthese erfolgen. In Gliazellen wird GABA zu Glutamin abgebaut, das zurück in Neuronen befördert wird, wo es durch die Glutaminase zu Glutamat umgewandelt wird, das dann wieder in den GABA-Stoffwechselweg eintreten kann. A.1.3.4.2.3 Rezeptorsubtypen
Die Wirkung von GABA erfolgt durch mindestens zwei Klassen von GABA-Rezeptoren, den GABAA- und GABAB-Typ, die sich in ihren pharmakologischen, elektrophysiologischen und biochemischen Eigenschaften unterscheiden (Tab. A.1.14). Ähnlich wie ACh und Glutamat verwendet GABA sowohl Rezeptoren, die an Liganden-gesteuerte Ionenkanäle gekoppelt sind (GABAA-Rezeptor-
Tab. A.1.14. Klassifikation, Nomenklatur und Eigenschaften humaner GABA-Rezeptor-Klassen (nach Watling, 2006) Akzeptierter Name
GABAA
GABAB
NeurotransmitterErkennungsstelle
Allosterische modulatorische Stelle
Agonisten
Isoguvacin Muscimol THIP Piperidin-4-sulfonsäure
Nicht zutreffend
(R)-Baclofen 3-Aminopropylphospinsäure 3-Aminopropylmethylphosphinsäure
Antagonisten
Bicucullin SR 95531
Ro 15-1788 (Flumazenil) ZK 93426
Phaclofen 2-Hydroxy-saclofen CGP35348 CGP55845 SCH-50911
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
61
Tab. A.1.14. (Fortsetzung) Akzeptierter Name
GABAA
GABAB
NeurotransmitterErkennungsstelle
Allosterische modulatorische Stelle
Indirekte Agonisten
γ−Vinyl-GABA
Nicht zutreffend
Nicht zutreffend
Positive Modulatoren
Nicht bekannt
Allopregnanolon Barbiturate (Phenobarbital, Pentobarbital, Thiobarbital) Flunitrazepam Diazepam Alprazolam Zolpidem
CGP7930 CGP13501
Negative Modulatoren
Nicht bekannt
Pregnenolon DMCM FG 7142
Nicht zutreffend
Partielle Modulatoren
Nicht bekannt
Bretazenil Imidazenil
Nicht zutreffend
Kanal-Blocker
TBPS Picrotoxin
Nicht relevant
Nicht zutreffend
Signaltransduktionsmechanismus
Cl–-Einstrom
Moduliert GABAA-aktivierten Cl–-Kanal
Gs (cAMP-Zunahme) Gi (cAMP-Modulation) ↑K+ (G) ↓Ca2+ (G)
Physiologische Funktion
Neuronale Hemmung
Modulation der neuronalen Hemmung
Beeinflussung langsamer inhibitorischer postsynaptischer Potenziale Auto- und Heterorezeptoren-gekoppelte Neurotransmitter-Freisetzung Beeinflussung der K+- und Ca2+-Leitfähigkeit Hemmung der AdenylatCyclase Stimulation der MAPKinase
cAMP, zyklisches Adenosin-3´-5´-monophosphat; Ca2+ (G), G-Protein-gekoppelter Calciumkanal; K+ (G), G-Protein-gekoppelter Kaliumkanal; MAP-Kinase, Mitogen-aktivierte Protein-Kinase Chemische Namen: CGP13501, 3-(3´,5´-Di-tert-butyl-4´-hydroxyphenyl-2,2-dimethylpropanal; CGP35348; 3-Aminopropyl-diethoxymethylphosphinsäure; CGP55845, (3-[1-(S)-(3,4-Dichlorophenyl)ethyl]amino-2(S)-hydroxypropyl-benzyl-phosphinsäure; CGP7930, 2,6-Di-tert-butyl-4-(3-hydroxy-2,2-dimethyl-propyl)phenol; DMCM, Methyl-6,7-dimethoxy-4-ethyl-β-carbolin-3-carboxylat; FG 7142, N-Methyl-β-carbolin3-3-carboxamid; SCH-50911 (+)-(S)-5,5-Dimethylmorpholinyl-2-essigsäure; SR 95531, 2-(3´-Carboxy2´-propyl)-3-amino-6-(4-methoxyphenyl)-pyridaziniumbromid; TBPS, t-Butylbicyclophosphorothionat; THIP, 4,5,6,7-Tetrahydroisoxazolo[5,4-c]pyridin-3-ol; ZK 93426, 5-Isopropyl-4-methyl-β-carbolin-3carboxylatethylester
62
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Abb. A.1.21. Modell der Struktur des GABAA-Rezeptor-Typs. Der Schnitt durch den makromolekularen Proteinkomplex soll die Angriffspunkte einer Reihe von Neuro-Psychopharmaka verdeutlichen, die die Kanal-Aktivität beeinflussen
Klasse), als auch Rezeptoren, die G-Proteingesteuerte Signaltransduktionskaskaden beeinflussen (GABAB-Rezeptor-Klasse). Der GABAA-Rezeptor-Typ ist ein Liganden-gekoppelter Cl–-Kanal (so genannter GABAA-Rezeptor-Chloridkanal-Komplex), dessen Aktivierung durch GABA und Agonisten wie Muscimol (das im Fliegenpilz Amanita muscaria vorkommt) zum unmittelbaren Öffnen der Kanalpore führt (Abb. A.1.21). Der klassische Antagonist ist das Antikonvulsivum Bicucullin, das die Aktivität des Rezeptors durch Verminderung der KanalöffnungsFrequenz und der mittleren Öffnungszeit reduziert. Elektrophysiologische Untersuchungen dieses Rezeptortyps zeigten, dass durch dessen Aktivierung eine erhöhte Leitfähigkeit resultiert: Das Gleichgewichtspotenzial liegt nahe dem Ruhepotenzial von –70 mV. Diese Erhöhung der Leitfähigkeit geht häufig mit einer Membranhyperpolarisation einher, wodurch eine erhöhte Feuerungsraten-Schwelle resultiert und in einer
Reduktion der Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines Aktionspotenzials mündet. Das Endergebnis ist eine neuronale Hemmung. Andererseits, kann die vermehrte Durchlässigkeit für Cl–-Ionen im Falle einer erhöhten intrazellulären Cl–-Konzentration auch die Zielzelle depolarisieren. Dies kann wiederum das Neuron dazu veranlassen, zu feuern oder den Eintritt von Ca2+-Ionen via Spannungs-abhängiger Kanäle zu ermöglichen, ein Mechanismus, dem eine physiologische Bedeutung insbesondere in embryonalen Neuronen zugeschrieben wird. Die GABA-Rezeptoren sind die Hauptangriffspunkte einer Vielzahl von NeuroPsychopharmaka wie Benzodiazepine, Barbiturate, intravenös applizierte und gasförmige Narkosemittel, Neurosteroide und möglicherweise auch Alkohol. Diese Wirkstoffe werden zum Teil schon sehr lange in der Behandlung von Patienten eingesetzt, ohne dass man ursprünglich deren Wirkmechanismus kannte. Beispielsweise wird
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
Phenobarbital seit 1912 zur Therapie von Epilepsien verwendet. Ein anderes Beispiel sind die Benzodiazepine wie Diazepam und Chlordiazepoxid, die vor über 50 Jahren in die Patientenbehandlung eingeführt wurden und heute zu den am meisten verwendeten Neuro-Psychopharmaka gehören. Sie besitzen eine anxiolytische, sedierende, muskelrelaxierende und antikonvulsive Wirkung und werden vor allem bei Angst- und Spannungszuständen, Depressionen und Schlafstörungen eingesetzt. Bei hoher Dosierung können gegenläufige Symptome wie Euphorie, Erregtheit und Schlaflosigkeit auftreten. Erst mit der Aufklärung der Wirkungsweise des GABAA-Rezeptors wurden die molekularen Wirkorte und -mechanismen von Barbituraten und Benzodiazepinen verstanden. Die Analyse der Primärstruktur des GABAA-Rezeptor-Typs mittels molekularer Klonierungstechniken zeigte, dass dieser Rezeptorkomplex zu der Großfamilie der Liganden-gesteuerten Ionenkanäle gehört. Ähnlich wie beispielsweise der nACh-Rezeptor (Abb. A.1.10) oder der serotoninerge 5-HT3-Rezeptor ist er aus verschiedenen Untereinheiten zusammengesetzt. Diese Untereinheiten weisen eine Aminosäurensequenz-Homologie mit Untereinheiten anderer Liganden-gesteuerter Rezeptoren auf und werden durch multiple Gene kodiert. Der GABAA-Rezeptor-Chloridkanal-Komplex ist ein pseudosymmetrisches Pentamer, das die Lipiddoppelmembranen durchspannt und den Cl–-Kanal formt. Die Bindung von GABA und strukturellen Analoga mit agonistischen Aktivitäten (Tab. A.1.14) an die GABA-Rezeptorerkennungsstelle (Abb. A.1.21) öffnet diesen Kanal. Jede GABAA-Rezeptor-Untereinheit enthält vermutlich vier α-helikale membrandurchspannende Domänen (M1–M4) mit überwiegend hydrophoben Eigenschaften, von denen eine oder mehrere die Kanalpore bilden. Es wurden wenigstens 19 verschiedene,
63
aber eng verwandte Polypeptide identifiziert, aus denen diese Untereinheiten zusammengesetzt sein können: α1-6, β-1-3, γ1-3, δ, ε, φ, π und ρ1-3. Die verschiedene Verteilung der jeweiligen mRNAs und Polypeptide im Gehirn ist in Übereinstimmung mit Daten, die auf deren regionale Vielfalt bezüglich physiologischer Funktionen, Pharmakologie und Biochemie hinweisen. Man kann sicher davon ausgehen, dass Kombinationen aus verschiedenen Untereinheiten mit unterschiedlichen pharmakologischen Eigenschaften und Cl–-Kanaldurchlässigkeiten in verschiedenen neuronalen Populationen vorkommen, und möglichweise sogar an verschiedenen Orten an Membranen von Nervenzellen. Die ρ-Subeinheiten werden vorwiegend in der Retina exprimiert, wo sie wahrscheinlich homomere Cl–-Kanäle mit neuen pharmakologischen Eigenschaften bilden. Aufgrund der Insensitivität gegenüber sowohl Bicucullin als auch Baclofen (non-A, non-B) wurde dieser Rezeptor auch als GABAC-Typ klassifiziert. Der GABAA-Rezeptor-Typ enthält zusätzlich zu der GABA-Erkennungsstelle, die sich auf der Zwischenfläche der α/β-Untereinheiten befindet, vier weitere Liganden-Bindungsdomänen (Abb. A.1.21), wodurch dessen Aktivierung allosterisch (d.h., die Aktivierung führt zu einer Konformationsänderung des Proteins) moduliert wird. Wirkstoffe, die an diese Erkennungsstellen binden, sind allein nicht in der Lage, den Ionenkanal zu öffnen. Durch deren Bindung wird die Affinität von GABA zu der GABA-Erkennungsstelle erhöht und dadurch die Durchlässung des Kanals für Cl–-Ionen vergrößert und damit die hemmende Funktion GABA-erger Neuronen verstärkt. Benzodiazepine und Barbiturate (siehe Kap. B.3) sind Agonisten der Liganden-Bindungsdomänen des GABAA-Rezeptors (Abb. A.1.21). Die Affinität der Benzodiazepine zu diesen Bindungsstellen korreliert eng mit ihrer klinischen Wirkung.
64
Die Tatsache, dass Benzodiazepin-Bindungsstellen bei allen Wirbeltieren evolutionär konserviert sind, wurde als ein Indiz für deren physiologische Bedeutung angesehen und hat zur Suche nach ihren endogenen Agonisten geführt. In Analogie zu der Wirkungsweise von Endorphinen nahm man an, dass Benzodiazepin-ähnliche Stoffwechselprodukte im Körper synthetisiert werden und regulierend im ZNS eingreifen. Bisher sind jedoch diese endogenen Agonisten und Antagonisten nicht bekannt. Als mögliche Kandidaten werden u.a. die Purine Inosin, Hypoxanthin und Methylisoguanosin, Nikotinamid und einzelne hormonelle Wirkstoffe wie Prostaglandin A oder der diazepam binding inhibitor diskutiert. Alle diese Substanzen haben jedoch eine um mehrere Größenordnungen geringere Bindungsaffinität als die Benzodiazepine (Ki = 3–10 nM), so dass man heute eher annimmt, dass Benzodiazepine endogen synthetisiert werden können. Allerdings sind der Syntheseweg und die daran beteiligten Enzymsysteme noch nicht bekannt. Der GABAA-Rezeptor-Chloridkanal-Komplex kommt vor allem postsynaptisch vor und wurde sowohl in Zellkörpern, Dendriten und Axonen von Neuronen gefunden. Die regionale Verteilung im menschlichen Post-mortem-Gehirn wurde vor allem mittels Bindungsstudien mit radioaktiven Benzodiazepinen erforscht: hohe Bindungsdichten wurden in den CA1- und CA3-Regionen des Hippocampus, in den Purkinje- und Granula-Zellen des Cerebellums, im Striatum und im Rückenmark nachgewiesen. Der GABAB-Rezeptor ist ein metabotroper Rezeptor, der über G-Proteine die Durchlässigkeit von K+- und Ca2+-Ionen beeinflusst (Tab. A.1.14). Pharmakologisch wurde dieser Rezeptor anhand der Insensitivität gegenüber den GABAA-Antagonisten Bicucullin und bestimmten GABAA-spezifischen Agonisten identifiziert. Das Krampf-
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
gift und GABA-Analogon (–)Baclofen (β-(4Chlorophenyl)-γ-aminobuttersäure) ist ein potenter und selektiver Agonist. Die GABABRezeptor-Klasse gehört zur Gruppe III der GProtein-gekoppelten Rezeptoren, die strukturelle Ähnlichkeiten mit den metabotropen Glutamat-Rezeptoren aufweisen. Bisher wurden zwei Untereinheiten, R1 und R2, kloniert. Wahrscheinlich besteht ein physiologisch funktionstüchtiger Rezeptor aus einem Dimer beider Untereinheiten, wobei die R1-Untereinheit die GABA-Bindungsstelle enthält und die R2-Untereinheit mit dem G-Protein interagiert. Der GABAB-Rezeptor-Typ kommt sowohl post- als präsynaptisch vor. Eine Aktivierung führt zu einer prä- und postsynaptischen Erregungshemmung mittels verschiedener Effektorsysteme (Tab. A.1.14). Es gibt bisher wenige Rezeptorbindungsuntersuchungen bezüglich der regionalen Verteilung im menschlichen Gehirn. Hohe Bindungsdichten scheinen in den Dendriten von Purkinje-Zellen und Nervenendigungen von Granula-Zellen des Cerebellums vorzukommen. A.1.4
Molekulare Strukturen im Gehirn als Angriffspunkte von Neuro-Psychopharmaka
Die Wirkung von Neuro-Psychopharmaka kommt durch die Beeinflussung der Neurotransmission zustande. Die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie am häufigsten verwendeten Wirkstoffe haben folgende molekularen Angriffspunkte: • • • •
Enzyme des Neurotransmitter-Stoffwechsels, Neurorezeptoren, neuronale und gliäre Transportproteine, Spannungs-abhängige Ionenkanäle.
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
A.1.4.1 Beeinflussung Neurotransmitterabbauender Enzyme durch Neuro-Psychopharmaka
Die Hemmung von Neurotransmitter-abbauenden Enzymen ist ein häufig angewandtes Wirkungsprinzip von Neuro-Psychopharmaka. Dadurch kommt es sowohl zu einer Verstärkung als auch zu einer zeitlichen und räumlichen Modulation der durch den Neurotransmitter hervorgerufenen Wirkung. Tabelle A.1.15 zeigt Beispiele von NeuroPsychopharmaka mit diesem Wirkmechanismus. Im Kap. A.1.3.2.1.2 wurde bereits erörtert, dass monoaminerge Neurotransmitter wie Dopamin, Noradrenalin und 5-HT, Neuromodulatoren wie β-Phenethylamin sowie andere endogene oder exogene Monoamine wie beispielsweise Tyramin durch die MAO abgebaut werden. Durch Hemmung der MAO-B mit selektiven Wirkstoffen wird im menschlichen Gehirn vor allem die synaptische Konzentration von β-Phenethylamin und Dopamin erhöht; selektive MAO-AHemmung führt dagegen zu einer Zunahme der Noradrenalin- und 5-HT-Konzentration. Ähnlich wie bei der Pharmakon-Rezeptor-Interaktion (siehe nachfolgender Abschnitt) kommt es bei der Wechselwirkung der MAO mit dem Hemmstoff zunächst
65
zur Bildung eines Pharmakon-EnzymKomplexes. Die dadurch ausgelöste EnzymHemmung kann kompetitiv und reversibel oder nicht-kompetitiv und irreversibel sein. Eine kompetitive Hemmung liegt vor, wenn der Wirkstoff mit dem Substrat um dessen Bindung reversibel konkurriert. Reversible MAO-Hemmer haben eine enge Strukturverwandtschaft mit den Substraten des Enzyms (Abb. A.1.22), sie werden im Gegensatz zu diesen jedoch typischerweise nicht metabolisiert. Bei der nicht-kompetitiven Hemmung reagiert der Wirkstoff irreversibel mit dem aktiven Zentrum der MAO. Solche Hemmstoffe werden auch als so genannte „Suizid“-Inhibitoren bezeichnet, da sie nach Wechselwirkung mit dem aktiven Zentrum des Enzyms oxidiert und an das aktive Zentrum kovalent gebunden werden. Typische irreversible MAO-Hemmstoffe wie Clorgylin, Phenelzin, Selegilin oder Tranylcypromin (Tab. A.1.16) haben im Gegensatz zu den kompetitiven, reversiblen Hemmstoffen eine lange Wirkzeit, da erst durch die Neusynthese des Enzyms dessen biologische Wirkung wiederhergestellt wird. Es gibt eine Reihe von Hemmstoffen, die selektiv die jeweilige Form des Enzyms beeinflussen (Tab. A.1.16). Selektive MAOA-Hemmer werden heute als Antidepressiva angewendet (siehe Kap. B.1); selektive MAO-
Tab. A.1.15. Beispiele von Neuro-Psychopharmaka, die durch Hemmung von Neurotransmitter-abbauenden Enzymen wirken Klasse
Wirkmechanismus
Hauptindikationen
Antiepileptika Vigabatrin, Valproinsäure
Hemmung der GABA-Transaminase Erhöhung der präsynaptischen GABAKonzentration Verstärkung der GABA-Wirkung
Behandlung verschiedener Epilepsieformen
Antidepressiva Tranylcypromin, Moclobemid
Hemmung der MAO-A Erhöhung der präsynaptischen Noradrenalin- und Serotonin-Konzentration
Depression Angsterkrankungen
MAO-A, Isoform der Monoamin-Oxidase
66
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Tab. A.1.16. Beispiele einiger typischer Monoamin-Oxidase-(MAO-)Hemmstoffe. Die Einteilung erfolgt entsprechend ihrer Selektivität und der Reversibilität ihrer Hemmung (nach Gerlach und Riederer, 2002)
Irreversibel
Nicht-selektiv
MAO-A-selektiv
MAO-B-selektiv
Isocarboxazid Phenelzin Tranylcypromin
Clorgylin
Lazabemid Pargylin Rasagilin Selegilin
Reversibel
Befloxaton Brofaromin Cimoxaton Moclobemid Toloxaton
Abb. A.1.22. Chemische Formeln von Noradrenalin und reversiblen und irreversiblen Monoamin-Oxidase-Typ-A-(MAO-A-)Hemmstoffen
B-Hemmstoffe haben dagegen eine Bedeutung als Wirkstoffe bei der Behandlung der Parkinson- und Alzheimer-Krankheit. Die
selektiven MAO-Hemmer haben den Vorteil, dass es bei gleichzeitiger Einnahme von Tyramin-reichen Nahrungsmitteln (wie z.B.
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
Käse) nicht zum Auftreten des so genannten Cheese-Effektes – kommt (Blackwell et al., 1967). Der Cheese-Effekt führt zum Auftreten von hypertensiven Krisen mit Symptomen wie stark pochendem Herzschlag, Gesichtsrötung, Schwitzen, Übelkeit und Erbrechen. Dieser Effekt wird durch Tyramin, ein blutdrucksteigerndes Sympathomimetikum, verursacht. Tyramin wird durch beide MAO-Isoenzyme abgebaut. Bei selektiver Hemmung einer Isoform steht für die Metabolisierung des Tyramins immer das jeweilige andere Isoenzym zur Verfügung. Bei der Therapie mit dem selektiven MAO-A-Hemmer Moclobemid muss daher im Gegensatz zu Tranylcypromin, einem unselektiven Hemmstoff, eine spezielle Diät nicht eingehalten werden. A.1.4.2
Neurorezeptor-vermittelte Pharmakonwirkungen
Die Bindungseigenschaften der Neurorezeptoren sind die Grundlage für die Wirkung und Spezifität eines Neuro-Psychopharmakons, das über Rezeptoren wirkt. Da die Zahl dieser Rezeptoren wie die anderer körpereigener, funktionaler Proteine begrenzt ist, ist die Ligandenbindung daher sättigbar. Diese ist ferner stereoselektiv und im Gegensatz zu enzymatischen Reaktionen ohne chemische Veränderung des Liganden reversibel. A.1.4.2.1 Besetzungstheorie zur Erklärung der Wirkung von NeuroPsychopharmaka
Es gibt zahlreiche pharmakologische Rezeptor-Theorien, die den Effekt von Wirkstoffen auf Zellen beschreiben und voraussagen können (Kenakin, 2004). Lange Zeit (1937) bevor man überhaupt wusste, was ein Rezeptor genau ist und wie dessen molekulare Struktur aussieht, nutzte A.J. Clark systematisch mathematische Verfahren, die in der
67
Enzymkinetik angewandt wurden, um den Effekt von chemischen Substanzen auf Gewebe zu beschreiben. Er war damit einer der Begründer der Besetzungs-Theorie (occupation theory), die später durch das operationale Modell der Rezeptorfunktion abgelöst wurde (Kenakin, 2004). Mit dem Beginn der biochemischen Bindungstechniken bekam man die Möglichkeit, einige der Moleküle zu untersuchen, die an der Vermittlung der extrazellulären Signale in das Zellinnere beteiligt sind; daraus wurde das erweiterte ternäre Komplex-Modell entwickelt, mit dem man das G-Protein-gekoppelte Rezeptorverhalten theoretisch beschreiben konnte (Kenakin, 2004). Die Besetzungs-Theorie geht davon aus, dass die Wirkung eines Agonisten umso größer ist, je mehr Rezeptoren besetzt sind; ferner setzt sie voraus, dass der Agonist zu allen Rezeptoren die gleiche Affinität besitzt. Damit entspricht die Besetzungs-Theorie dem Michaelis-Menten-Modell zur Erklärung kinetischer Eigenschaften einiger Enzyme. Für den einfachsten Fall einer reversiblen Neurotransmitter-Rezeptor-Wechselwirkung gilt folgende Gleichung 1, wobei [R] für die Konzentration des freien Rezeptors, [A] für die Konzentration des freien Agonisten und [RA] für die Konzentration des Rezeptor-Agonisten-Komplexes steht und die Konstanten k+1 und k–1 die Assoziationsbzw. die Dissoziationsgeschwindigkeit darstellen: k +1
[R ]+ [A ] [RA ] → biologische Wirkung (1) k −1
Man erhält sigmoide Dosis-Wirkungs-Kurven und kann daraus die NeurotransmitterKonzentration berechnen, bei der die Hälfte der maximalen Wirkung (EC50, für effector concentration 50 Prozent) erreicht wird. Entsprechend der Michaelis-Menten-Theorie
68
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
kann man die Dissoziationskonstante KD des Rezeptor-Liganden-Komplexes (entspricht dem KM-Wert von Enzymen) bestimmen. Diese wird als Maß für die Affinität des Agonisten zum Rezeptor angesehen und ergibt sich nach dem Massenwirkungsgesetz aus: KD =
k −1 [A ]× [R ] = k +1 [RA ]
(2)
Ein niedriger KD-Wert entspricht dabei einer hohen Affinität und ist Folge einer hohen Assoziations- (k+1) oder niedrigen Dissoziationsgeschwindigkeit (k–1). Der von einem Pharmakon A ausgelöste Effekt EA verhält sich zum maximal möglichen Effekt Emax wie die Konzentration der besetzten Rezeptoren [RA] zur Gesamtkonzentration der Rezeptoren [Bmax]: EA [RA ] = E max [Bmax ]
(3)
Da die Gesamtkonzentration der Rezeptoren [Bmax] = [R] + [RA] ist, erhält man durch Einsetzen in 3) und entsprechende Umformungen Gleichung 4; eine Michaelis-MentenGleichung, bei der die Reaktionsgeschwindigkeiten v und vmax durch die biologischen Wirkungen EA und Emax ersetzt sind sowie die Substrat-Konzentration durch [A]: EA =
E max × [A ] K D + [A ]
(4)
EA erhält man beispielsweise aus der Messung von cAMP in Zellen oder Gehirnhomogenaten, die G-Protein-gekoppelte Neurorezeptoren besitzen, durch die doppelt-reziproke Auftragung 1/[EA] gegen 1/[A]. Analog zur Lineweaver-Burk-Analyse der Enzym-Kinetik kann man daraus Emax und KD graphisch ermitteln.
Wie oben erwähnt, wird ein Wirkstoff dann als Agonist bezeichnet, wenn er sowohl eine Affinität zu einem Neurorezeptor hat als auch nach der Bildung des Agonisten-Rezeptor-Komplexes eine Wirkung auslöst (intrinsic activity). Letztere ist ein Maß dafür, welche maximale Wirkung mit einem Pharmakon in dem jeweiligen biologischen System zu erreichen ist. Meist wird diese jedoch als relative intrinsic activity α angegeben. Diese ist dem Quotienten aus dem von dem Agonisten ausgelösten Effekt EA und dem in dem biologischen System maximal möglichen Effekt Emax proportional. Die maximale relative intrinsic activity ergibt sich aus EA/Emax = 1. Agonisten mit einer relativen intrinsic activity von 1 werden volle Agonisten, Pharmaka mit einer intrinsic activity zwischen 0 und 1 werden partielle Agonisten genannt. Einschränkend muss man jedoch sagen, dass die Besetzungs-Theorie – wie viele Theorien – nur bedingt gilt. So kann ein biologisches System bei Vorliegen einer Rezeptorreserve, die bei G-Protein-gekoppelten Rezeptoren vorhanden ist, bereits maximal stimuliert sein, wenn nur ein Teil der Rezeptoren besetzt ist. Die Besetzungstheorie sagt auch nichts darüber aus, welche physiko-chemischen Veränderungen bei der Liganden-Rezeptor-Wechselwirkung auftreten. Diese werden im ZweiZustände-Modell berücksichtigt. Danach liegt ein Rezeptor in einem inaktiven (Ruhe-) und einem aktiven (aktivierten) Zustand (Konformation) vor. Die beiden Zustände stehen in einem dynamischen Gleichgewicht, das in Abwesenheit eines endogenen oder exogenen Liganden meist nahezu vollständig zur inaktiven Seite verschoben ist. Die Besetzungs-Theorie berücksichtigt auch nicht die Tatsache, dass Neurorezeptoren keine statischen Einheiten sind, und sowohl die Anzahl der Rezeptoren als auch deren zelluläre Reaktion durch chronische Stimulation oder Hemmung verändert werden. Das Phänomen
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
der Desensitivierung beschreibt die Beobachtung, dass durch chronische Agonisten-Stimulation die zelluläre Reaktion als Folge der Entkopplung des Rezeptors von Effektormechanismen vermindert ist. Das andere Extrem ist die so genannte Downregulation, die typischerweise durch einen langsameren zeitlichen Verlauf und weitreichendere molekulare Anpassungen wie Rezeptorprotein-Abbau gekennzeichnet ist. Chronische Behandlung mit Antagonisten resultiert oft in einer verstärkten zellulären Rezeptorantwort, die durch eine kompensatorische Erhöhung der Rezeptorendichte und/oder Ansprechrate hervorgerufen wird. Dieses Phänomen wird als Supersensitivität oder Sensitivierung bezeichnet.
69
A.1.4.2.2 Neuro-Psychopharmaka mit Wirkungen an Neurorezeptoren
Viele Neuro-Psychopharmaka sind exogene Liganden (Agonisten, Antagonisten) von Neurorezeptoren, die nach der Interaktion mit diesen entweder direkt Liganden-gesteuerte Ionenkanäle beeinflussen (Ionenkanal-Rezeptoren) oder längerfristige metabolische Reaktionen, Funktionsänderungen durch Genexpression und Modifikation der neuronalen Erregbarkeit durch indirekte Modulation von Ionenkanälen (G-proteingekoppelte Rezeptoren) hervorrufen. Tabelle A.1.17 zeigt Beispiele von Neuro-Psycho-
Tab. A.1.17. Beispiele von Neuro-Psychopharmaka, die über Neurorezeptoren wirken Neuro-PsychopharmakaKlasse Antiepileptika Barbiturate, Benzodiazepine
Felbamat Anxiolytika und Hypnotika Benzodiazepine (Zaleplon, Zolpidem, Zopiclon) H1-Antihistaminika (Diphenhydramin, Doxylamin) neue Anxiolytika (Buspiron, Gepiron) Neuroleptika typische (Haloperidol, Benperidol) atypische (Clozapin, Olanzapin, Quetiapin, Resperidon)
NMDA, N-Methyl-D-aspartat
Wirkmechanismus
Agonisten der Bindungsstelle des GABAARezeptor-Chloridkanal-Komplex Verstärkung der GABA-Wirkung vermutlich Agonist der Glycin-Bindungsstelle des NMDA-Rezeptors Agonisten der Bindungsstelle des GABAARezeptor-Chloridkanal-Komplex Verstärkung der GABA-Wirkung Antagonisten des H1-Histamin-Rezeptors
Hauptindikationen Behandlung verschiedener Epilepsieformen
Unruhe, Angst- und Spannungszustände psychovegetative Störungen
Agonisten des serotoninergen 5-HT1ARezeptors Antagonisten der Dopamin-D2-Rezeptorfamilie Hemmung der Dopamin-Wirkung Antagonisten der Dopamin-D2-Rezeptorfamilie Hemmung der Dopamin-Wirkung zusätzlich Antagonisten des serotoninergen 5-HT2A/2C-Rezeptors Hemmung der Serotonin-Wirkung
Schizophrenien, Manie, organische Psychosyndrome, Erregungs- und Angstzustände, Alkoholentzugssyndrom
70
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Tab. A.1.18. Beispiele von Neuro-Psychopharmaka, die die Transportsysteme von Neurotransmittern hemmen Neuro-PsychopharmakaKlasse Antidepressiva Imipramin, Desipramin
SSRIs (Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin) Antiepileptika Tiagabin
Psychostimulanzien Methylphenidat
Atomoxetin
Amphetamine (R,S-Amphetamin, Fenetyllin)
Wirkmechanismus
Unselektive Hemmung der Wiederaufnahme von Katecholaminen Verstärkung der Wirkung von Noradrenalin und 5-HT Vorwiegend Hemmung der 5-HT-Wiederaufnahme Verstärkung der 5-HT-Wirkung Selektiver GABA-WiederaufnahmeHemmer Verstärkung der GABA-Wirkung Hemmung der Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme Verstärkung der Wirkung von Dopamin und Noradrenalin Selektive Hemmung der NoradrenalinWiederaufnahme Verstärkung der Wirkung von Noradrenalin Freisetzung von Dopamin und Noradrenalin Hemmung der Dopamin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme Verstärkung der Wirkung von Dopamin und Noradrenalin
Hauptindikationen Depressionen Angsterkrankungen Zwangserkrankungen
Behandlung verschiedener Epilepsieformen AufmerksamkeitsDefizit-/HyperaktivitätsStörung (ADHS) Narkolepsie
5-HT, Serotonin; SSRIs, selective serotonin reuptake inhibitors
pharmaka, die ihre Wirkung an Neurorezeptoren entfalten. A.1.4.3 Neuronale und gliäre Transportproteine als Angriffspunkte von NeuroPsychopharmaka
Es gibt eine Reihe von Neuro-Psychopharmaka, die ihre Wirkung durch Hemmung der Wiederaufnahme von Neurotransmittern entfalten. Ein wichtiges Beispiel sind die Antidepressiva, die selektiv bzw. unselektiv die noradrenerge und serotoninerge Neuro-
transmission durch Blockade der Noradrenalin- bzw. 5-HT-Transporter beeinflussen. Weitere Beispiele sind in Tab. A.1.18 zusammengefasst. A.1.4.4 Spannungs-abhängige Ionenkanäle als Angriffspunkte von Neuro-Psychopharmaka
Spannungs-abhängige Ionenkanäle werden im Gegensatz zu den Liganden-gekoppelten Ionenkanälen durch Änderung des Membranpotenzials geöffnet und geschlossen. Na+-, Ca2+- und Cl–-Ionenkanäle sind in der Regel
A.1 Grundlagen der Neuro-Psychopharmakologie
im Ruhezustand geschlossen. Wird nun zu Beginn eines Aktionspotenzials die Membran depolarisiert, so kommt es durch eine Konformationsänderung des Kanalproteins zu einer Kanalöffnung. Nach einer gewissen Zeit wird dieser spontan wieder geschlossen. Anschließend geht der Ionenkanal in einen nicht aktivierbaren Zustand über. Dagegen sind K+-Ionenkanäle auch im Ruhezustand offen und für K+-Ionen durchlässig sowie während des gesamten Aktionspotenzials aktivierbar. Außer durch Membranpotenzialänderungen können zentrale Spannungs-abhängige Ionenkanäle auch durch NeuroPsychopharmaka beeinflusst werden. Die Antiepileptika Carbamazepin, Phenytoin, Lamotrigin, Topiramat und Valproinsäure blockieren vor allem Spannungs-abhängige Na+-, aber auch Ca2+- Ionenkanäle, und unterdrücken dadurch die Entstehung repetitiver Entladungen. Charakteristisch für ihren Effekt ist die Abhängigkeit der Wirkung von der Öffnungswahrscheinlichkeit eines Kanals (so genannte use dependence): Je häufiger dieser pro Zeiteinheit geöffnet wird, desto stärker wird er durch das Antiepileptikum gehemmt. Dies erklärt, warum normal reagierende Neurone wesentlich weniger beeinflusst werden als Neurone mit hoher Entladungsfrequenz. Die Valproinsäure wirkt aber nicht nur durch eine Blockade von Na+-Ionenkanälen, sondern auch durch die Hemmung der GABA-Transaminase (Tab. A.1.15). Aufgrund dessen eignet sich Valproinsäure für die Behandlung zahlreicher Epilepsie-Formen (so genanntes BreitspektrumAntiepileptikum) (Mutschler et al., 2008). A.1.5
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A.2 Besonderheiten der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter M. Gerlach, K. Klampfl, C. Mehler-Wex, A. Warnke
A.2.1
Besondere Voraussetzungen der Therapie mit NeuroPsychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen
A.2.1.1 Pharmakotherapie als Teil eines therapeutischen Gesamtkonzeptes
Die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka (Abb. A.2.1) ist bei speziellen Symptomen und psychiatrischen Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter Teil eines mehrere Ebenen umfassenden Behandlungskonzeptes, das auch begleitende psycho- und soziotherapeutische Maßnahmen einschließt (Gerlach und Wewetzer, 2008; Herpertz-Dahlmann et al., 2008). Dies gilt im Besonderen für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit ADHS, Tics und dem Gillesde-la-Tourette-Syndrom, Ausscheidungsstörungen (Enuresis, Enkopresis), Psychosen, Persönlichkeits-, Zwangs-, Panikstörungen und Angsterkrankungen sowie depressiven Syndromen. Eine aus der Diagnose abgeleitete unmittelbare Indikation für eine medikamentöse Therapie gibt es bei verschiedenen Formen von Psychosen (wie Schizophrenie, drogeninduzierten Psychosen, affektiven- und schizo-affektiven Psychosen) sowie für die Akutbehandlung bei Zuständen mit erheblicher Selbst- und/oder Fremdgefährdung. Für andere kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankungen oder Störungen trifft
dies aber nicht in gleichem Maße zu. Ausschlaggebend für die Entscheidung zu einer Pharmakotherapie sind hierbei unter anderem die folgenden, auf die Erkrankung oder Symptomatologie und auf den Patienten bezogenen Faktoren (Gerlach und Wewetzer, 2008): •
• •
• •
•
das Wissen über den Verlauf der zu behandelnden Erkrankung (z.B. Gefahr der Chronifizierung, Rückfallrisiko, Entwicklung von komorbiden Störungen, Mortalität); der Schweregrad der Symptomatik; die aus der Symptomatik resultierenden Beeinträchtigungen im Befinden des Patienten und die hieraus erwachsenden Einschränkungen der sozial-adaptiven Fähigkeiten und der sozialen Integration, die eine Beeinträchtigung der Lebensqualität bei den betroffenen Kindern und Jugendlichen zur Folge haben; der Grad der Fremd- und Selbstgefährdung (Suizidalität); das Alter des Patienten (z.B. keine Psychostimulanzien-Therapie bei zweijährigem Kleinkind) und die Einwilligung und Compliance von Patient und Bezugspersonen (z.B. keine unretardierten Psychostimulanzien bei Drogenmissbrauch).
Die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter ist also in unter-
74
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Abb. A.2.1. Einordnung der medikamentösen Behandlung in das Gesamtkonzept kinder- und jugendpsychiatrischer Therapie. Aus: Blanz et al., 2006 (Mit freundlicher Genehmigung des Schattauer-Verlages). MAS-Achsen I bis VI des Multiaxialen Klassifikationsschemas (Remschmidt et al., 2001). Gegenstand dieses Buches ist nur die medikamentöse Therapie psychischer Störungen. Angestrebt wird eine krankheitsspezifische Medikation (z.B. neuroleptische Behandlung der schizophrenen Psychose; Psychostimulanzien-Therapie der Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störung). Oft ist die Medikation symptombezogen (z.B. neuroleptische Behandlung impulsiv-aggressiver Erregungszustände oder Therapie der Schlafstörung). Die Entwicklungsorientierung ergibt sich aus altersspezifischen Gesichtspunkten der Medikation (z.B. die antidepressive Wirkung der trizyklischen Antidepressiva ist für Kinder nicht sicher, jedoch für das Erwachsenenalter nachgewiesen; viele Neuro-Psychopharmaka haben nur eine Zulassung zur Therapie psychischer Störungen bei Erwachsenen, nicht bei Personen unter 18 Jahren). Die Verlaufsorientierung berücksichtigt den Spontanverlauf einer Störung beziehungsweise den Therapieverlauf bei der Medikationsentscheidung und -dosierung (z.B. ist die Medikation im akuten Erregungszustand eines Patienten mit Schizophrenie eine andere bzw. anders dosiert als in der Rehabilitationsphase). Fortschrittsorientierung beinhaltet die Verpflichtung, Medikationsentscheidungen stets auch nach dem neuesten wissenschaftlichen Stand auszurichten (z.B. aktuell die Medikation von Retardpräparaten in der Psychostimulanzien-Therapie oder die Nutzung der Möglichkeit, eine Praxis nach den Richtlinien der Sozialpsychiatrievereinbarung einzurichten)
schiedlichem Umfang Teil eines Gesamtbehandlungskonzeptes (Abb. A.2.1). Dies gilt in besonderem Maße für die oben genannten kinder- und jugendpsychiatrischen Erkrankungen. Zu den weiteren Bausteinen der Behandlung gehören die Einbeziehung der Eltern beziehungsweise der Familie, des schulischen beziehungsweise beruflichen Umfeldes sowie die Maßnahmen zur sozialen Integration.
A.2.1.2 Anwendung außerhalb des Zulassungsbereiches
Fertigarzneimittel werden entsprechend vorgegebener Richtlinien eingehend auf ihre Wirksamkeit und Unbedenklichkeit bei bestimmungsgemäßem Gebrauch geprüft. Dies geschieht vor allem durch verschiedene Phasen der klinischen Prüfung:
A.2 Besonderheiten der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter
•
•
•
•
Phase I, erste Anwendung eines Wirkstoffes am Menschen, in der Regel an gesunden Erwachsenen; Phase II, erste kurze Prüfungen zur Wirksamkeit und relativen Unbedenklichkeit an einer begrenzten Zahl von stationären Patienten; Phase III, konfirmatorische Studien zum Nachweis der Wirksamkeit und Unbedenklichkeit an einer großen Anzahl von Patienten; Phase IV, Studien nach der Zulassung zur Prüfung des Einflusses auf Lebensdauer und Lebensqualität und Herausfinden neuer Indikationen oder toxischer Spätschäden.
Nach Fertigstellung der Studien der Phase III werden die Ergebnisse der präklinischen und klinischen Prüfungen den Gesundheitsbehörden (z.B. BfArM in Deutschland oder EMEA in London) vorgelegt, die nach eingehender Überprüfung die Zulassung und damit die Befugnis, das neue Arzneimittel in den Verkehr zu bringen, erteilen oder versagen. Zwei wichtige Indikations- und somit Zulassungsbereiche sind zu unterscheiden: Die hinsichtlich des Alters des Patienten und die hinsichtlich der Art der Störung beziehungsweise der Symptomatik einer Erkrankung. Weitere Zulassungsbereiche sind unter anderem die geschlechtsspezifische Anwendung, die Dosis, die Dauer der Therapie, der Applikationsweg und die Darreichungsform. Die größte Anzahl der in Deutschland in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verwendeten Neuro-Psychopharmaka ist offiziell nicht für Kinder und Jugendliche, sondern nur für Patienten im Erwachsenenalter (18 Jahre und älter; altersbezogene Indikation) zugelassen. Ausnahmen sind beispielsweise das Methylphenidat, das zur Behandlung von ADHS im Kindes- und Jugendalter
75
zugelassen ist, oder Fluvoxamin, ein SSRI, das für Kinder ab dem achten Lebensjahr für Zwangsstörungen zugelassen ist. Die Gründe dafür, dass für viele im Kindes- und Jugendalter angewandten Arzneimittel keine altersbezogene Zulassung vorliegt, sind vielfältig. Im Vordergrund steht die umsatzund ertragsorientierte Zulassungspolitik der Arzneimittelhersteller, die bislang bevorzugt und häufig ausschließlich die Patientengruppen beziehungsweise die Indikationen berücksichtigte, bei denen Aussicht bestand, dass die Forschungs- und Investitionsmittel durch entsprechende Umsätze refinanziert werden können. Dies hatte zur Konsequenz, dass für kleinere Patientengruppen mit seltenen Erkrankungen zwar grundsätzlich das gleiche Behandlungsrecht gesellschaftlich zugestanden wird, jedoch die vom Arzneimittelgesetz garantierten Wirksamkeits- und Sicherheitskriterien bei der Arzneimittelanwendung faktisch nicht umgesetzt wurden. Zusätzlich zu den wirtschaftlichen Gründen ergeben sich unter anderem folgende praktische Probleme bei der Arzneimittelprüfung bei Kindern und Jugendlichen: • •
•
•
•
unvorhersehbare Arzneimittelreaktion, anfänglich nicht erkennbare Spätfolgen auf Wachstum und mögliche psychomotorische Entwicklungsstörungen, schwierige Vorhersage der Dosis-Wirkungs-Beziehung allein aufgrund von Untersuchungen an Erwachsenen, Bewältigung multipler medikolegaler und ethischer Probleme bei der Durchführung der Arzneimittelprüfung bei nicht einwilligungsfähigen Patienten, fehlende Infrastruktur für die multizentrische Arzneimittelprüfung mit Schwierigkeiten bei der Patientenrekrutierung.
Da Kindern und Jugendlichen eine Therapie mit Neuro-Psychopharmaka nicht vorenthalten werden kann, werden in der
76
Kinder- und Jugendpsychiatrie häufig Arzneimittel außerhalb des zugelassenen Altersbereiches und zum Teil auch außerhalb der zugelassenen Behandlung eines bestimmten Symptoms oder einer bestimmten Störung verabreicht (so genannte „Off label“- oder „Unlicensed“-Anwendung). Diese Anwendung ist im Rahmen eines individuellen Heilversuches unter bestimmten Voraussetzungen (siehe Kap. A.2.1.4) möglich, z.B. wenn die grundsätzliche Wirksamkeit und ein diesbezüglicher Einsatz des Medikamentes bereits bekannt sind. Der behandelnde Arzt muss aber im Einzelfall eine sehr ausgewogene Risiko-Nutzen-Abwägung hinsichtlich der Vorteile und Risiken des Einsatzes eines Medikamentes treffen, denn nur so kann er den Patienten hinreichend aufklären (Fegert, 1999a). Die Off-label-Anwendung eines Neuro-Psychopharmakons bedeutet aber, dass die behandelten Kinder und Jugendliche einem höheren Risiko für eine unwirksame Pharmakotherapie und unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAWs) ausgesetzt sind als Erwachsene. Es hat eine Reihe von nationalen und internationalen Bemühungen gegeben, der Diskriminierung von Kindern und Jugendlichen hinsichtlich einer adäquaten Arzneimitteltherapie ein Ende zu setzen (Seyberth et al., 2002). Unter Federführung der Internationalen Konferenz für Harmonisierung wurden Leitlinien für die Arzneimittelentwicklung und -prüfung bei Kindern und Jugendlichen entwickelt. Diese setzten sich mit allgemeinen Überlegungen zur Notwendigkeit für eine Kinderarzneimittelentwicklung, mit dem adäquaten Zeitpunkt, Kinder in die Arzneimittelentwicklung einzubeziehen, mit dem geeigneten Studiendesign und mit den ethischen und juristischen Aspekten bei Studien mit Kindern auseinander. Damit in den relevanten Altersgruppen und Entwicklungskategorien eine Arzneimittelprüfung je Indikationsgebiet vorgenommen werden
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
kann, hat man sich international auf fünf wesentliche Altersgruppen beziehungsweise Entwicklungsstadien geeinigt (Seyberth et al., 2002). Für die Kinder- und Jugendpsychiatrie sind nur die zwei letzten Gruppen interessant: • •
das Kindesalter vom 2. bis zum 11. Lebensjahr und das Adoleszentenalter (12–18 Jahre) mit der endokrinologischen Umstellung in der Pubertät.
Die von der Internationalen Konferenz für Harmonisierung entwickelten Leitlinien schlugen sich in der EU-Verordnung über Kinderarzneimittel nieder, die ab dem 26. Januar 2007 in Kraft trat und unmittelbar in jedem Mitgliedsstaat gilt (Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung BMGS, 2007). Von diesem Zeitpunkt an müssen in Europa alle Arzneimittel (Ausnahme: das Arzneimittel ist für die Anwendung an Kindern und Jugendlichen nicht geeignet), für die eine Zulassung beantragt wird, auch in klinischen Studien an Kindern getestet worden sein. Die Anforderungen an die klinische Prüfung sind einem Forschungs- und Entwicklungsprogramm, dem pädiatrischen Prüfkonzept, niederzulegen. Jedes Prüfkonzept muss dann einem eigens dafür bei der Europäischen Arzneimittelagentur (EMEA) eingerichteten Ausschuss aus Wissenschaftlern der EU-Mitgliedstaaten zur Billigung vorgelegt werden. Als Ausgleich für diese neuen Anforderungen werden den pharmazeutischen Unternehmen Anreize und Vergünstigungen in Form von verlängerten Schutzfristen (der 20-jährige Patentschutz wird um sechs Monate verlängert) bei der Vermarktung der Arzneimittel gewährt. Auch bei Arzneimitteln, die bereits auf dem Markt sind, können solche Vorteile eingeräumt werden, wenn ihre Anwendbarkeit bei Kindern und Jugendlichen nachträglich
A.2 Besonderheiten der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter
auf der Basis eines pädiatrischen Prüfkonzeptes belegt wird. Für die Förderung der Zulassungen von „Nachahmerpräparaten“ (Generika) für Kinder und Jugendliche sind Finanzhilfen der EU vorgesehen. Arzneimittel, die speziell für die Anwendung bei Kindern und Jugendlichen zugelassen wurden, sollen künftig auch ein besonderes Symbol auf der Verpackung erhalten. • A.2.1.3 Probleme des Nachweises der Wirksamkeit von NeuroPsychopharmaka im Kindes- und Jugendalter
Die Prüfung der Wirksamkeit von NeuroPsychopharmaka im Kindes- und Jugendalter ist unter anderem aufgrund folgender Probleme schwierig (Steck, 2002): •
•
Die Symptome des Kindes sind zum Teil sehr wechselhaft und vom entsprechenden Kontext abhängig. Deswegen ist man auf Beobachtungen durch Eltern, Lehrer und Erzieher angewiesen. Die Angaben können daher divergieren und wenig objektiv und unzuverlässig sein. Die Wirkung eines Medikaments ist in verschiedenen Anforderungssituationen unterschiedlich erkennbar (siehe z.B. Wirkung von Psychostimulanzien, Kap. B.5.2). Viele klinischen Veränderungen des Kindes und Jugendlichen sind reifungsabhängig. Die Symptomatik ist beim Kind mit seinem kognitiven, affektiven und psychosozialen Entwicklungsprozess verbunden. Das Kind kann Krankheitsmerkmale oft nur ungenügend wahrnehmen und benennen; das Vorschulkind hat nicht die gleiche Krankheitseinsicht des Jugendlichen. Prodromale Entwicklungen sind bei manchen Krankheitsbildern unspezifisch, da sich das Vollbild einer Störung im Einzelfall über Jahre ausbildet, bevor die endgültige Diagnose ge-
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sichert ist. Dies gilt etwa für autistische, schizophrene und manisch-depressive Störungen. Bei längerfristigen Therapien und Längsschnittuntersuchungen können eventuell Reifungsvorgänge oder nicht erfasste psychosoziale Faktoren für die beobachteten klinischen Veränderungen wichtiger sein als die Einwirkung des Medikamentes. Komorbidität erschwert die Beurteilung störungsspezifischer Wirksamkeit einer Medikation. Ein Beispiel dafür ist die Komorbidität von depressiver Störung und ADHS und Tic.
Auf weitere Probleme beim Nachweis der Wirksamkeit wurde bereits im vorigen Kapitel A.2.1.2 hingewiesen. A.2.1.4 Rechtliche und ethische Fragen im Praxisalltag
Die Diagnostik ist Voraussetzung der Behandlung. Nur im akuten Notfall (bei akuter Selbst- oder Fremdgefährdung) kann sich im Einzelfall die Notwendigkeit ergeben, allein aufgrund des aktuellen psychopathologischen Befundes eine Entscheidung zur symptomatischen medikamentösen Behandlung zu treffen. Eine solche Notfallsituation ist die Ausnahme. In der Regel setzt bereits die Diagnostik und so auch die Behandlung die Einwilligung nicht nur des Patienten, sondern im Kindesund Jugendalter auch der Sorgeberechtigten voraus. Bei Kindern und Jugendlichen gilt der Grundsatz der „stellvertretenden Einwilligung“, wonach vorrangig die Entscheidung zur Einwilligung in Diagnostik und Therapie bei den Sorgeberechtigten liegt. Die stellvertretende Einwilligung wird dann zum Problem, wenn die Interessen der Sorgeberechtigten dem Kindeswohl widersprechen, z. B. wenn die Eltern nicht in der Lage sind, für das Kind Sorge zu tragen (z. B. bei schwergra-
78
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
diger geistiger Beeinträchtigung oder eigener psychiatrischer Erkrankung) oder wenn Eltern dem Kindeswohl zuwider handeln (z. B. bei dem Münchhausen-by-proxy-Syndrom, der artifiziellen Störung, verursacht durch eine Bezugsperson, indem diese dem Kind absichtlich Schädigungen zufügt). Eine Beteiligung des Kindes ist entsprechend seines Alters beziehungsweise seiner Entwicklung anzustreben. Dabei ist die Frage ungeklärt, ab welcher Entwicklungsreife dem Kind eine Einwilligungsfähigkeit zugestanden werden muss. In manchen Bundesländern wird auch Personen unter 18 Jahren eine eigenständige Einwilligungsfähigkeit zur Heilbehandlung zugesprochen. Dies ist in der Praxis auch bei Jugendlichen der Fall, die willlentlich eine legale eigenständige Existenz unabhängig vom Elternhaus aufgebaut haben (mündige Minderjährige). Bei Studien wird von Seiten der Ethik-Kommissionen auch z. T. schon für Kinder, zumindest aber für Jugendliche ab 14 Jahren eine altersentsprechende Aufklärung und Einverständniserklärung gefordert, die jedoch in Abhängigkeit von der psychiatrisch bedingten Einwilligungsfähigkeit steht. Ethische Grundsätze für eine therapeutische Maßnahme gehen davon aus, dass die Maßnahme wirksam und der zu behandelnden Störung angemessen ist und die Behandlung nach Einwilligung des Patienten beziehungsweise der Sorgeberechtigten (im Scheidungsfalle des sorgeberechtigten Elternteils) erfolgt (informed consent). Die Arzt-Patienten-Beziehung ist durch folgende ethische Grundsätze bestimmt (American Psychiatric Association, 2002; Warnke et al., 2008): • •
die Störung, die zu behandeln ist, sollte definiert sein; der Patient beziehungsweise die Eltern sollten über die Therapieziele und über das Behandlungsverfahren aufgeklärt sein;
• •
Schweigepflichtsregelungen sind einzuhalten; der Behandlungsplan sollte auf allgemein akzeptierten klinischen und wissenschaftlichen Behandlungsstandards gründen (wie sie z.B. in den Leitlinien der Fachgesellschaften beschrieben sind, z.B. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al., 2007).
Wie im Kap. A.2.1.2 bereits beschrieben, werden in der Kinder- und Jugendpsychiatrie viele Medikamente außerhalb der zugelassenen Indikation im Rahmen eines „individuellen Heilversuchs“ angewendet. Dies ist aber nur dann möglich, wenn grundsätzlich die klinische Wirksamkeit und Verträglichkeit des Medikaments am Menschen bekannt und gesichert ist. Bei der so genannten Off-label-Anwendung sind darüber hinaus folgende Gesichtspunkte besonders zu beachten: •
•
Der Patient beziehungsweise die Sorgeberechtigten müssen darüber informiert sein, dass das verordnete Medikament keine Zulassung hat; die Sorgeberechtigten beziehungsweise der Patient müssen der Medikation zustimmen; über Wirkung und UAWs des Medikaments, die zugelassenen Behandlungsalternativen und über das Recht, jederzeit den Heilversuch abbrechen zu dürfen, sind die Sorgeberechtigten aufzuklären und diese Aufklärung ist zu dokumentieren (Dahl, 2002). Der Patient beziehungsweise die Sorgeberechtigten müssen darauf hingewiesen werden, dass es bei der Off-label-Anwendung erstattungsrechtliche Probleme bei gesetzlich Versicherten gibt, da nach dem Wirtschaftlichkeitsgebot des Sozialgesetzes die Gesetzliche Krankenkasse nicht zur Kostenübernahme eines Arzneimit-
A.2 Besonderheiten der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter
•
teleinsatzes außerhalb der zugelassenen Behandlungsindikationen verpflichtet ist. Entsprechend eines Urteils des Bundessozialgerichtes vom 19.03.2002 (Az.: B1 KR 37/00 R) ist die Verschreibung von Medikamenten außerhalb ihrer zugelassenen Indikation jedoch unter folgender Voraussetzung möglich: Das Vorliegen einer schwerwiegenden lebensbedrohlichen oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigenden Erkrankung, für die keine andere Therapie verfügbar ist und aufgrund der Datenlage die begründete Aussicht besteht, dass ein kurativer oder palliativer Behandlungserfolg erzielt werden kann. Im Hinblick auf den letzten Punkt ist es günstig, wenn sich der behandelnde Arzt auf Empfehlungen von Fachgesellschaften oder auf Ergebnisse von Konsensuskonferenzen berufen kann. Neben diesen erstattungsrechtlichen Problemen bei der Off-label-Anwendung von Arzneimitteln gibt es Unsicherheiten bezüglich des Haftungsrechtes. Nach Meinung des Rechtsanwaltes Herbert Wartensleben (2002) haftet jedoch der Hersteller für alle Schäden, die bei bestimmungsgemäßen Gebrauch eines Arzneimittels entstehen. Der Begriff „bestimmungsgemäß“ umfasst sowohl Indikationsangaben im Beipackzettel/Fachinformationen, als auch wissenschaftlich allgemein anerkannte Therapiegewohnheiten, die in Beipackzettel/Fachinformationen nicht als Kontraindikationen ausgeschlossen werden.
Im Folgenden sind Leitfragen zur Aufklärung über die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka beispielhaft angeführt (nach Fegert, 1999b): 1. Was ist der Name des Medikamentes? Gibt es noch andere Bezeichnungen für dieses Medikament?
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2. Was ist über die Wirksamkeit dieses Medikamentes bei anderen Kindern, die eine vergleichbare Problematik wie mein Kind haben, bekannt? 3. Wie wird das Medikament meinem Kind helfen? Wie lange muss ich warten, bis ich positive Wirkungen sehe? Was ist ein Kriterium dafür, wann und ob es erfolgreich wirkt? 4. Was sind die üblichen Nebenwirkungen dieser Behandlung? 5. Was sind seltene oder ernste Nebenwirkungen, welche auch immer vorkommen können? 6. Kann man von der Medikation abhängig werden? Besteht eine Suchtgefahr? 7. Wie ist die empfohlene Dosierung? Wie oft am Tag muss die Medikation eingenommen werden? 8. Gibt es Routineuntersuchungen wie EKG, Blutwerte usw., die zunächst durchgeführt werden müssen, bevor das Kind das Medikament nehmen kann? Müssen ähnliche Laborkontrollen während der Einnahme der Medikation erfolgen? 9. Dokumentiert ein Kinder- und Jugendpsychiater die Reaktion meines Kindes auf die Medikation, und nimmt er im Zweifelsfall eine Veränderung der Dosierung vor, wenn dies nötig ist? Wie oft wird der Fortschritt evaluiert und wer tut dies? 10. Gibt es andere Medikamente oder Nahrungsmittel, die mein Kind vermeiden muss, solange es die Medikation einnimmt? 11. Gibt es Aktivitäten, die mein Kind vermeiden muss, während es die Medikation nimmt? Wird hinsichtlich bestimmter Aktivitäten zur Vorsicht geraten? 12. Wie lange wird mein Kind die Medikation einnehmen müssen? Wie kommt es zu der Entscheidung, die Behandlung zu beenden? 13. Was kann ich machen, wenn sich ein Problem herausstellt (z.B. wenn mein Kind
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
körperlich krank wird, wenn eine Medikamentengabe vergessen wurde, wenn sich Nebenwirkungen zeigten)? 14. Was sind die Kosten der Behandlung (gibt es Unterschiede zwischen Markenmedikamenten und Generika)? 15. Müssen Lehrer, Sozialarbeiter, Hortbetreuer oder andere Personen über die Behandlung informiert werden? Eine grundsätzliche Hilfestellung für Indikationsfragen der Medikation sind die Leitlinien der Deutschen Fachgesellschaften für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie et al., 2007). Richtlinien zu einem Aufklärungsgespräch hat die Deutsche Krankenhausgesellschaft veröffentlicht (1992). Folgende Gesichtspunkte sind zu beachten: •
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Das Aufklärungsgespräch muss mit dem Patienten beziehungsweise den sorgeberechtigten Eltern (am besten mit beiden Elternteilen) durch einen Arzt erfolgen. Die Grundzüge der Behandlung sind zu erklären, ohne dass alle Einzelheiten ausgeführt werden müssen. Über Risiken und UAWs sind Kinder und Jugendliche, sobald und soweit sie die vorgesehene Maßnahme verstehen können, möglichst aufzuklären, immer jedoch die Sorgeberechtigten. Dabei ergibt sich die Frage, inwieweit über jedes nur erdenkliche Risiko aufgeklärt sein muss. Auch wenn gerichtliche Entscheidungen vorliegen, dass über jede mögliche UAW aufzuklären sei, so ist dies doch in der Praxis meistens nicht der Fall. In den Beipackzetteln sind alle jemals gemeldeten UAWs aufgeführt, auch wenn ein kausaler Zusammenhang der „Nebenwirkung“ mit dem Medikament nicht als kausal erwiesen sein muss. Auch kann
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eine unbegrenzte Aufklärung über seltene und dann vielleicht auch schwerwiegende UAWs unangebrachte Ängste provozieren, die eine effektive Behandlung behindern. In jedem Fall sollte nicht nur die UAW, sondern auch ihre Wahrscheinlichkeit im Aufklärungsgespräch angesprochen werden. Zusätzlich empfiehlt es sich, den Eltern entsprechende Aufklärungsbögen für das verordnete Präparat auszuhändigen (Beispiele siehe Appendix A). Eine schriftliche Bestätigung über die Aufklärung ist nicht generell notwendig, das Aufklärungsgespräch sollte jedoch dokumentiert sein. Im Fall der Verordnung von Clozapin ist eine standardisierte Dokumentation vorgeschrieben (siehe Kap. B.4.2). Bei der Verordnung der typischen Neuroleptika sollte in jedem Fall dann über das Risiko der Spätdyskinesie aufgeklärt werden, wenn die Medikation voraussichtlich länger als vier bis sechs Wochen verordnet wird (Schatzberg et al., 2003). Bei der Verordnung eines nicht zugelassenen Medikaments sind die Aufklärungsgesichtspunkte, die oben angeführt sind, zu beachten. Patient und Eltern sollten auch wissen, dass sie jederzeit ihre Einwilligung zum individuellen Heilversuch widerrufen können. Sollte der Patient eine Medikation in einem Krankheitszustand erhalten haben, in dem er selbst keine hinreichende Einwilligungsfähigkeit hatte, sollte das Aufklärungsgespräch dann nachgeholt oder wiederholt werden, wenn der Krankheitsverlauf eine verbesserte Aufklärung ermöglicht und die Einwilligung der Sorgeberechtigten durch eine Einwilligung des Patienten selbst ergänzt werden kann.
A.2 Besonderheiten der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter
A.2.2
Abhängigkeit der Pharmakotherapie im Kindesund Jugendalter von altersund entwicklungsabhängigen organischen, psychischen und psychosozialen Faktoren
Da es bei Kindern und Jugendlichen eine alters- und entwicklungsabhängige Veränderung der Körperanatomie, der Körpergewebezusammensetzung, der Leber- und Ausscheidungsfunktionen, des endokrinologischen Systems, der Gehirnzellen sowie der Reifung und Funktion des ZNS gibt, muss man davon ausgehen, dass sich die Pharmakokinetik und Pharmakodynamik im Kindes- und Jugendalter unterscheiden und vom Erwachsenenalter abweichen. Dies erklärt die häufig unvorhersehbaren UAWs unter der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka bei Kindern und Jugendlichen sowie die schwierige Vorhersage der Dosis-Wirkungs-Beziehung allein aufgrund von Untersuchungen im Erwachsenenalter. Die kinder- und jugendpsychiatrische Therapie mit Neuro-Psychopharmaka ist eine alters- und entwicklungsbezogene Therapie, die diese pharmakokinetischen und pharmakodynamischen Besonderheiten berücksichtigt und die therapeutische Wirksamkeit auf eine normale Entwicklung bezieht. Da jedes Entwicklungsstadium seine spezifische Physiologie und Psychophathologie aufweist, ist es nachvollziehbar, dass die Pharmakotherapien in einem Bezug zum Alter des Kindes stehen; die Wirkung beim Säugling ist nicht die gleiche wie beim 17-jährigen Jugendlichen. Bei längerfristigen Therapien und Längsschnittuntersuchungen können eventuell Reifungsvorgänge oder nicht erfasste psychosoziale Faktoren für die beobachteten klinischen Veränderungen wichtiger sein als die Einwirkung des Arzneistoffes. Die Abb. A.2.2 veranschaulicht die Interaktion möglicher alters- und entwicklungs-
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abhängiger Faktoren und ihren Einfluss auf die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka. Diese Faktoren sind jedoch weder unter Berücksichtigung der Pubertät noch im Hinblick auf zu erwartende Geschlechtsunterschiede in der Verstoffwechslung der Arzneistoffe oder hinsichtlich der durch Geschlechtsunterschiede in der körperlichen Reife (Fettmasse, Muskelmasse, Hormonspiegel) bedingten Besonderheiten genügend untersucht worden. Weitere entwicklungsabhängige Faktoren mit einem möglichen Einfluss auf die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka sind speziell im Jugendalter eventuell vorkommende alterstypische Besonderheiten wie Non-Compliance, Veränderungen im Essverhalten (z.B. anorektische oder bulimische Entwicklungen), der Konsum von Nikotin und Alkohol sowie komorbider Substanzmissbrauch. A.2.2.1 Ontogenetische Einflüsse auf die Pharmakokinetik
Wesentliche Faktoren, die die Pharmakokinetik beeinflussen und in Abhängigkeit von Alter und Entwicklungsgrad unterschiedliche Auswirkungen haben können, sind unter anderem das Körpergewicht, die Aufnahme des Pharmakons durch den Magen (Säuregrad), die Entleerungsfrequenz des Magens, die prozentuale Verteilung des Körperfetts, der Hormonspiegel, der Leberstoffwechsel, die Regulation, Expression und Funktion von fremdstoffmetabolisierenden Enzymen sowie der Blutfluss im jeweiligen Zielorgan. So ist die gastrointestinale Resorption bei Kindern typischerweise effektiver als bei Erwachsenen. Weiterhin variiert in Abhängigkeit von der körperlichen Entwicklung des Kindes oder Jugendlichen die prozentuale Verteilung des Körperfetts erheblich; bei schlanken und körperlich aktiven Schulkindern ist die Speicherung lipophiler Neuro-Psychopharmaka im Vergleich zu
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Abb. A.2.2. Mögliche alters- und entwicklungsabhängige Faktoren und deren Einfluss auf die NeuroPsychopharmakologie im Kindes- und Jugendalter (modifiziert nach Rogers, 1994)
Erwachsenen vermindert, was z. B. bei Diazepam zu einer kürzeren Plasmahalbwertszeit (Tab. A.2.1) führt. Die verkürzte Halbwertszeit könnte durch die bei Kindern erhöhte glomeruläre Filtrationsrate und die dadurch verstärkte renale Elimination verursacht werden. Zur rascheren Elimination kann auch ein effektiverer Arzneistoffmetabolismus bei-
tragen, da Kinder im Vergleich zu Erwachsenen proportional (in Relation zum Körpergewicht) eine größere Leber haben. Die bei Kindern rascher verlaufende Elimination des Arzneistoffes ist auch Erklärung dafür, dass man bei mit NeuroPsychopharmaka behandelten Kindern und Jugendlichen unter gleichen Dosierungen
Tab. A.2.1. Altersabhängige pharmakokinetische Parameter von Diazepam (nach Morselli et al., 1978) Altersgruppe
Halbwertszeit (h)
Verteilungsvolumen (l/kg)
Relative Clearance (ml/h/kg)
Säuglinge
10,6 ± 2
1,3 ± 0,2
98,5 ± 13,8
Kinder
17,3 ± 3
2,6 ± 0,5
102,1 ± 9,7
Erwachsene
24,1 ± 5
2,3 ± 0,3
66,7 ± 5,4
A.2 Besonderheiten der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter
niedrigere Talspiegel als bei Erwachsenen beobachtet (Talspiegel bedeutet, dass zu diesem Zeitpunkt die niedrigste Wirkstoffkonzentration vorliegt; d.h., diese wurde mindestens 12 Stunden nach letzter Einnahme und unmittelbar vor erneuter Einnahme des Arzneimittels ermittelt). Abbildung A.2.3 zeigt dies für das Neuroleptikum Chlorpromazin. Ähnliche Ergebnisse wurden auch für die trizyklischen Antidepressiva Nortriptylin und Clomipramin nachgewiesen (Morselli et al., 1978). Das Protein-Bindungsvermögen ist bei Kindern dagegen niedriger als bei Erwachsenen; dies könnte bei gleicher Dosierung zu einer erhöhten Bioverfügbarkeit der verabreichten Arzneistoffe führen und das erhöhte Auftreten von UAWs erklären. Ein wichtiges Enzym-System der Leber ist das Cytochrom-P450(CYP)-System. CYP-Enzyme sind an den Reaktionen des so genannten Phase-I-Metabolismus betei-
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ligt und übertragen ein Sauerstoffatom aus molekularem Sauerstoff auf das Arzneistoffsubstrat. Die Leber enthält 90–95 Prozent der gesamten CYP-Enzymmenge, wobei 60–65 Prozent davon auf Enzyme entfallen, die den Arzneistoffmetabolismus katalysieren (Starke, 2001). CYP 3A4 ist das wichtigste Enzym, das ca. 30 Prozent des CYP-Enzymgehaltes ausmacht. Sechzig Prozent aller therapeutisch eingesetzter Arzneistoffe sind CYP-3A4-Substrate. Die Isoformen der 2C-Familien machen 30 Prozent, CYP 1A2 etwa zehn Prozent, CYP 2A6, CYP 2B6 und CYP 2D6 zusammen etwa zehn bis 15 Prozent und CYP 2E1 etwa fünf Prozent des CYP-Gehaltes aus (Starke, 2001). Bei vielen der in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verwendeten Neuro-Psychopharmaka (wie trizyklische Antidepressiva, SSRIs, typische und atypische Neuroleptika) wird der Metabolismus nahezu ausschließlich oder teilweise durch CYP 2D6 katalysiert.
Abb. A.2.3. Chlorpromazin-Plasmakonzentrationen bei Kindern- und Jugendlichen (8–15 Jahre) mit psychiatrischen Erkrankungen im Vergleich zu Erwachsenen (nach Rivera-Calimlin et al., 1979). Die Konzentrationen wurden zehn Stunden nach Einnahme des Wirkstoffes bestimmt
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Durch Mutationen in Genen von bestimmten arzneistoffabbauenden Enzymen kann es dazu kommen, dass diese nicht mehr exprimiert werden oder in ihren katalytischen Eigenschaften verändert sind. Als Folge des veränderten Arzneistoffmetabolismus kommt es bei den betroffenen Patienten zu erheblichen Abweichungen in der Pharmakokinetik bestimmter Arzneistoffe. Individuen mit einem defizienten Metabolismus bestimmter Arzneistoffe bezeichnet man als so genannte defiziente Metabolisierer (englisch: poor metabolisers) im Unterschied zu den normalen Metabolisierern (englisch extensive metabolisers). Für alle zwölf am Arzneimittelstoffwechsel beteiligten CYP-Enzyme wurden genetische Polymorphismen gefunden (Schwab et al., 2002). Eingehende Untersuchungen zur klinischen Relevanz liegen für die Enzyme CYP 2D6, CYP 2C9 und CYP 2C19 vor. Die Häufigkeit defizienter Metabolisierer bei den bekannten genetischen Polymorphismen des Arzneistoffmetabolismus ist unterschiedlich. Beispielsweise wird das CYP 2D6 und CYP 2C1 in fünf bis zehn bzw. zwei bis fünf Prozent der europäischen Population nicht exprimiert (Starke, 2001). Da bei den defizienten Metabolisierern die Elimination des NeuroPsychopharmakons erheblich eingeschränkt ist, kommt es in diesen Fällen zur Kumulation des Wirkstoffes und daraus resultierend auch zu wirkstoffkonzentrationsabhängigen UAWs (z.B. kardiale Nebenwirkungen bei trizyklischen Antidepressiva). Die Genexpression der CYP-Enzyme ist zwar bis zum Ende des ersten Lebensjahres abgeschlossen, Messungen der Enzymaktivitäten wiesen jedoch darauf hin, dass sich die Aktivitäten der jeweiligen Enzyme altersabhängig unterschiedlich entwickeln (Kearns et al., 2003). Zusammenfassend kann man feststellen, dass Kinder- und Jugendliche unterschiedlich, in Abhängigkeit von Alter und Entwick-
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
lungsstadium, und anders als Erwachsene Neuro-Psychopharmaka durch den Gastrointestinaltrakt aufnehmen, im Organismus verteilen, speichern und verstoffwechseln und aus dem Organismus ausscheiden. Somit können nach Einnahme gleicher Dosen unterschiedliche Wirkstoffspiegel bei Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen vorliegen, welche eine individuelle Dosisanpassung der Medikation erfordern. Aufgrund der vielen unterschiedlichen, auf die Pharmakokinetik eines Neuro-Psychopharmakons Einfluss nehmenden Faktoren ist jedoch eine sichere Vorhersage der individuell erforderlichen Dosierung nicht möglich. Eine individuelle Dosisanpassung ist mit dem so genannten Therapeutischen Drug-Monitoring (TDM) in einfacher Art und Weise kostengünstig möglich. Unter TDM versteht man die Bestimmung von Plasma- oder Serumspiegeln mit dem Ziel, Informationen über die individuelle Pharmakokinetik des betreffenden Patienten zu bekommen und dadurch, falls erforderlich, die Dosierung gezielt anpassen zu können. Die Strategie des TDM im Rahmen einer Therapie mit Neuro-Psychopharmaka basiert auf der Ansicht, dass die Konzentrationen der Wirkstoffe (Arzneistoff und aktive Metaboliten) im Blut ein besseres Maß für ihre Konzentrationen am Wirkort (Gehirn) darstellen als die Dosen (Baumann et al., 2004). Ferner geht sie davon aus, dass eine definierbare Beziehung zwischen der BlutKonzentration eines Wirkstoffes und des klinischen Effektes (therapeutischer Effekt, UAWs, toxische Wirkungen) besteht. Diese Korrelation konnte für die trizyklischen Antidepressiva Nortriptylin, Imipramin und Desipramin bei Erwachsenen nachgewiesen werden (Baumann et al., 2004).
A.2 Besonderheiten der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter
A.2.2.2 Ontogenetische Einflüsse auf die Pharmakodynamik
Hinsichtlich der Pharmakodynamik muss man berücksichtigen, dass bei Kindern und Jugendlichen die neuronale Reifung des Gehirns noch nicht abgeschlossen ist. Bildgebende Verfahren weisen darauf hin, dass sich die Neuronenzahl in verschiedenen Gehirnregionen unterschiedlich entwickelt. In Abb. A.2.4 ist die Abhängigkeit zwischen dem Alter und der Dichte der so genannten „Grauen Substanz“ dargestellt. Der Begriff „Graue Substanz“ kennzeichnet Bereiche des ZNS, die viele Nervenzellkörper, aber nur wenig myelinisierte Axone beinhalten. Im Gegensatz dazu besteht die so genannte „Weiße Substanz“ aus unzähligen Axonen,
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von denen die meisten von Myelin, einer glänzenden, fettigen Substanz, die Licht stark reflektiert und namensgebend für diese ZNS-Bereiche war, umhüllt sind. Ein weiterer, für die Pharmakodynamik von Neuro-Psychopharmaka wichtiger Aspekt ist die Tatsache, dass sich zeitlebens neue Nervenzellkontakte (Synaptogenese) in großer Zahl bilden, gleichzeitig es aber auch zu einer Synapsenelimation (englisch: pruning) als physiologischen Vorgang im Laufe der Ontogenese des ZNS kommt. Die Synapsenbildung und -elimination finden lebenslang statt und sind wesentliche Bedingung neuronaler Plastizität, Regeneration und Lernfähigkeit. Bei der Geburt, die mitten in der Phase des intensivsten Wachstums liegt, ist erst gut die Hälfte der Abermilliar-
Abb. A.2.4. Kortikale und subkortikale Gehirnentwicklung beim Menschen in Abhängigkeit vom Alter (nach Andersen, 2005). Dargestellt sind die Veränderungen in der Dichte der „Grauen Substanz“, die mithilfe von längsschnittlichen kernspintomographischen Untersuchungen (Giedd et al., 1996; Giedd et al., 1999) ermittelt wurden. Aus: Gerlach und Wewetzer, 2008 (Mit freundlicher Genehmigung des Schattauer-Verlages)
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den synaptischen Kontakte des Erwachsenen vorhanden. Beim Ungeborenen und beim Säugling entstehen jede Minute an die zwei Millionen neuer Synapsen. Später folgt eine Phase etwas langsamerer, gleichmäßigerer Entwicklung, die bis zur Pubertät anhält. Danach verringert sich das Tempo auf einen Wert, der während des Erwachsenenalters gleich bleibt. Erst im hohen Alter nimmt die Synapsenbildung plötzlich deutlich ab. In phylogenetisch älteren Regionen wie dem Striatum und mit der Motorik assoziierten kortikalen Arealen kommt es früher zu einer Synapsenelimination als in später entwickelten Regionen, die mit kognitiven Prozessen assoziiert sind (Thompson et al., 2000). Neben der entwicklungsabhängigen Synapsenbildung und -elimination verändert sich wahrscheinlich zeitlebens abhängig von Region und Neurotransmitter unterschiedlich die Ausstattung an Neurotransmitter-metabolisierenden Enzymen, Neurorezeptoren und von an der Signaltransduktion beteiligten Molekülen (Seeman et al., 1987; Kornhuber et al., 1989; Konradi et al., 1992; Retz et al., 1996). Abbildung A.2.5 veranschaulicht beispielhaft die Synaptogenese und Entwicklung des glutamatergen Systems im menschlichen Gehirn. Die oben besprochenen Veränderungen in der Ontogenese des ZNS sind die Ursache dafür, dass es alters- und entwicklungsabhängige Unterschiede in der Wechselwirkung des Neuro-Psychopharmakons mit dessen molekularen Angriffspunkten und in der daraus resultierenden Wirkung gibt. Es kann deshalb nicht ohne weiteres angenommen werden, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene gleichermaßen auf vergleichbare Plasmakonzentrationen von Neuro-Psychopharmaka ansprechen. Diese Annahme bestätigen erste Ergebnisse aus noch laufenden Untersuchungen, in der ein TDM der Quetiapin-Therapie von jugendlichen Schizophrenie-Patienten durchge-
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
führt wurde (Gerlach et al., 2007). Mehr als 50 Prozent der in dieser Studie gemessenen Quetiapin-Plasma-Talspiegel lagen oberhalb des für Erwachsene empfohlenen Referenzbereiches; bei keinem der jugendlichen Patienten wurden jedoch schwerwiegende UAWs beobachtet. A.2.3
TDM als generelle Indikation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
Aufgrund der oben beschriebenen Besonderheiten der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter wird das TDM als eine generelle Indikation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie angesehen (Baumann et al., 2005; Gerlach et al., 2006). Das TDM bietet die Chance einer größeren Sicherheit in der Behandlung mit Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter sowie die Möglichkeit, die individuelle Therapie effektiver zu gestalten und somit die Krankheitsdauer zu verkürzen. Zur Ermittlung der notwendigen Referenzwerte für TDM im Kindes- und Jugendalter sind jedoch standardisierte Untersuchungen notwendig, die weitere Aspekte zum Verständnis des Stoffwechsels und der pharmakologischen Effekte bei Kindern und Jugendlichen beitragen können. Infolgedessen wurde Ende 2008 ein so genanntes „Kompetenznetz Therapeutisches Drug Monitoring Kinder- und Jugendpsychiatrie e.V.“ (Kompetenznetz TDM KJP) gegründet, in dem sich zahlreiche kinderund jugendpsychiatrische Kliniken zusammenschlossen, um ein standardisiertes TDM in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu gewährleisten. Das datenschutzrechtlich und ethisch geprüfte Projekt sieht vor, in einer internetbasierten Datenbank standardisiert Daten der klinischen RegelNeuro-Psychopharmaka-Behandlung von Kindern und Jugendlichen pseudonymisiert
A.2 Besonderheiten der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter
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Abb. A.2.5. Synaptogenese und die Entwicklung der glutamatergen Neurotransmission im menschlichen Gehirn. a Synapsendichte im frontalen Kortex; b Glutamat-Konzentrationen im Putamen; c Dichte der MK-801-Rezeptorbindungsstelle, die ein Maß für die Dichte des N-Methyl-D-aspartat-Rezeptors, eines Glutamat-Rezeptorsubtyps, darstellt (nach Retz et al., 1996). Aus: Gerlach und Wewetzer, 2008 (Mit freundlicher Genehmigung des Schattauer-Verlages)
zu erfassen. Hierzu gehören für den Metabolismus relevante Angaben zum Patienten (Alter, Entwicklungsstand, Drogen- oder Nikotingebrauch, hepatische oder renale Funktionsstörungen etc.), die genaue Dokumentation der Medikation (Dosis, Be-
handlungsbeginn, gegebenenfalls Komedikation) und die standardisierte Beurteilung der klinischen Wirksamkeit sowie der UAWs im Behandlungsverlauf. Parallel werden in zentralen Labors gemäß den methodischen Richtlinien der AGNP (Arbeitsgemeinschaft
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
für Neuropsychopharmakologie und Pharmakopsychiatrie) die Blutspiegel der NeuroPsychopharmaka bestimmt und ebenfalls in die Datenbank eingebunden. Somit soll ermöglicht werden, über Korrelationen zwischen Blutspiegeln und therapeutischer Wirksamkeit bzw. UAWs therapeutische Blutspiegelbereiche für Neuro-Psychopharmaka alters- und entwicklungsspezifisch neu zu definieren. Übergeordnete Ziele des Kompetenznetzes sind somit die Förderung der Patientensicherheit durch Vorbeugung von Über- und Unterdosierungen sowie UAWs, die Unterstützung einer möglichst raschen Dosisoptimierung (z. B. verkürzte Hospitalisierungsdauer) sowie die Bereitstellung einer Struktur zur Qualitätssicherung der Behandlungsdokumentation. Weitere Informationen finden sich unter www.tdm-kjp.de. A.2.4
Literaturverzeichnis
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A.3 Anmerkungen zur Pharmakotherapie in der ambulanten Praxis K.-U. Oehler, A. Warnke, C. Wewetzer, U. Schupp
Im Bereich der ambulanten Praxis ergeben sich im Vergleich zur Pharmakotherapie im stationären Rahmen einige Besonderheiten. Diese betreffen Aspekte • • • • • •
der Indikation, der Compliance, der Kontrolle von Wirkung und unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs), der Verlaufskontrolle, der Kosten und der Zusammenarbeit mit der Klinik.
A.3.1
Indikationsstellung
Die Indikation zur Behandlung mit NeuroPsychopharmaka ist in der ambulanten ebenso wie in der stationären Behandlung primär störungs- beziehungsweise symptomspezifisch bestimmt. Unterschiede ergeben sich aus den stationären bzw. ambulanten Rahmenbedingungen. Leichtere Schweregrade einer Störung lassen es im ambulanten Bereich häufiger zu, psychische Störungen durch Maßnahmen der Psychoedukation, Erziehungsberatung, Elterntraining und Psychotherapie hinreichend zu behandeln. Dies gilt für nahezu alle Störungsbilder, wenn man von psychotischen Erkrankungen und Epilepsie absieht. Umgekehrt ergibt sich ambulant im akuten Notfall eher als stationär eine Indikation zur medikamentösen Intervention, da im Zustand akuter Erregung, Selbst- oder Fremdgefährdung in der ambulanten Praxis
der beschützende Rahmen mit intensiver personeller Betreuung, der unter Umständen eine medikamentöse Intervention überflüssig macht, nicht gewährleistet werden kann. Die Indikation zur Medikation ist schließlich bei medikamentösen Interventionen stärker als im stationären Bereich abhängig von der Bereitschaft und den Möglichkeiten von Patient und Eltern, die Verordnung im familiären und außerfamiliären Alltag des Kindes oder Jugendlichen durchzuführen und hinsichtlich Wirkung und UAWs zu kontrollieren. Bei kurzfristigen medikamentösen Interventionen ist dieser Gesichtspunkt im stationären Bereich nicht in gleichem Ausmaß bedeutsam, da stationär die Verabreichung des Medikaments und die Wirksamkeitskontrolle durch das Fachpersonal übernommen werden können. Schließlich müssen bei medikamentösen Interventionen im Rahmen einer ambulanten Behandlung mögliche UAWs stärker berücksichtigt werden. Dies gilt vor allem für die Auslösung von Frühdyskinesien bei der Verordnung von insbesondere klassischen Neuroleptika. Die ambulante Applikation setzt voraus, dass die Wirksamkeit im familiären und auch außerfamiliären (z.B. Tagesstätte, Schule) Rahmen kontrolliert und die kurzfristige Konsultationsmöglichkeit eines Arztes vor Ort (z.B. des Hausarztes) gewährleistet werden kann. Bedeutsam ist auch, dass bei vielen Medikamenten eine Latenz bis zum Eintritt der Wirkung besteht. So tritt etwa die Wirkung der Antidepressiva verzö-
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
gert ein, während UAWs (z.B. Ermüdung, kognitive Beeinträchtigung) unter Umständen rasch eintreten. Während eine solche Dissoziation von Wirkung und UAWs im stationären Rahmen durch heilpädagogische Struktur, milieutherapeutische und psychotherapeutische Maßnahmen überbrückt werden können, ist dies im ambulanten Rahmen in der Regel nicht hinreichend möglich, so dass vorübergehend eine Zusatzmedikation (z.B. Benzodiazepine bei Schlaflosigkeit, schwerwiegender akuter ängstlicher Erregung, Suizidalität) indiziert sein kann. Somit ist die Indikation einer medikamentösen Intervention im ambulanten Bereich durch folgende Fragen bestimmt: •
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•
Ist eine medikamentöse Intervention erforderlich oder sind andere Maßnahmen (z.B. Elternberatung, Psychotherapie) ausreichend? Ist die Kontrolle von Wirkung und UAWs (insbesondere lebensbedrohlicher wie Agranulozytose) gewährleistet? Sind mit der Medikation lebensbedrohliche UAWs oder UAWs, die die Compliance gefährden, zu erwarten? Besteht eine zeitliche Dissoziation zwischen der verzögert einsetzenden erwünschten Wirkung und der vorzeitig einsetzenden UAW und ist aus diesem Grund eine überbrückende, vorübergehende Zusatzmedikation erforderlich? Sind Patient und Eltern und gegebenenfalls außerfamiliäre Bezugspersonen in der Lage, die Verordnung verlässlich und richtig durchzuführen? Sind im ambulanten Rahmen die notwendigen psychopathologischen und medizinischen Kontrollen sichergestellt?
A.3.2
Aspekte der Compliance
Aspekte der Compliance sind im ambulanten Rahmen von herausragender Bedeutung. Während im stationären Bereich Patient und Eltern oft durch eine vorausgehende ambulante Behandlung mit der Frage der Medikation befasst waren und oft auch bereits mit einer Medikation vertraut sind, ist dies bei der Erstvorstellung in der ambulanten Praxis selten der Fall. Bei stationärer Aufnahme sind Patient und Eltern häufiger über die Krankheit und Therapiemöglichkeiten informiert, so dass sie bereits ein Vorverständnis für eine mögliche medikamentöse Behandlung mitbringen. Bei der Erstvorstellung im ambulanten Bereich ist hingegen immer vor der Medikation (von den seltenen akuten Notfallsituationen abgesehen) eine ausführliche Erklärung der Art und Symptomatik des Krankheitsbildes, der Ätiologie, der Prognose und der Behandlungsmöglichkeiten, von denen die medikamentöse eine Teilkomponente darstellt, notwendig. Bei Indikation einer medikamentösen Intervention ergibt sich im zweiten Schritt die Aufgabe, über die Medikation aufzuklären (siehe Kap. A.2 und B.1–5). Notwendig sind Informationen über die genaue Zielsymptomatik, den Wirkstoff, seine Wirkung, seine UAWs, den Zeitpunkt des Wirkungseintrittes, die Dosierung, die voraussichtliche Dauer der Medikation und die erforderlichen psychopathologischen und medizinischen Kontrollen, die für Dosisabänderungen oder Präparatewechsel ausschlaggebend sein können und ein konkretes Maß für den Medikationserfolg darstellen. Ängste, Vorbehalte und irreführende Vorurteile (z.B.: „Psychopharmaka machen süchtig“; „Psychopharmaka sind gefährlich“; „Psychopharmaka verändern das Wesen einer Person“; „Psychopharmaka betäuben und machen arbeitsunfähig“) sind aufzugreifen und aufzufangen. Hierbei empfiehlt es sich, mögliche Vorbehalte und
A.3 Anmerkungen zur Pharmakotherapie in der ambulanten Praxis
für die Compliance hinderliche Vorurteile aktiv anzusprechen. Die Compliance zur Medikation ist im ambulanten Bereich nicht nur von Patient und Eltern abhängig, sondern oft auch von anderen familiären und außerfamiliären Bezugspersonen. Im familiären Rahmen ist es oft wichtig, nicht nur ein Elternteil, sondern Vater und Mutter (besonders bei getrennt lebenden Eltern mit Sorge- beziehungsweise Umgangsrecht) zu instruieren. Außerfamiliär sind compliancesichernde Informationen dann notwendig, wenn die Zielsymptome und UAWs wesentlich im außerfamiliären Lebensrahmen zu beobachten sind oder die Medikation nicht im familiären Rahmen erfolgt. Dies gilt etwa für Kinder mit ADHS, die den Kindergarten, die Schule, die Tagesstätte oder den Hort besuchen oder vollstationär in einer Heimeinrichtung leben. Fehlt die Kooperation von Erziehungspersonal oder Lehrkraft, so können Medikation und Wirkungsaspekte in der Compliance nicht optimal gesichert werden. Schriftliche Informationsblätter und standardisierte Fragebögen zu Wirkung und UAWs des verordneten Medikamentes sind für die Sicherung der regelrechten ambulanten Medikation und Compliancekontrolle wichtige Hilfen (siehe Appendix). Für die Compliance ergibt sich eine Besonderheit zusätzlich dann, wenn die Zulassung des Medikamentes für das Kindes- beziehungsweise Jugendalter nicht vorliegt („off-label“). In diesem Fall sind die in Kap. A.2 angegebenen Kriterien der Aufklärung von Patient und Eltern besonders sorgfältig zu beachten. A.3.3
Kontrolle von Wirkung und UAWs
Die Kontrolle von Wirkung und UAWs ist im ambulanten Bereich besonders schwierig. Wirkung und UAWs werden nicht durch geschultes Personal – wie im stationären
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Bereich –, sondern von „medizinischen Laien“, nämlich Patient und Bezugspersonen im Lebensalltag beobachtet. Deshalb sind sowohl das Kind beziehungsweise der Jugendliche, je nach kognitiver Entwicklung und Einsichtsfähigkeit, als auch die verantwortlichen Bezugspersonen in Familie und Lebensraum des Patienten (Kindergarten, Tagesstätte, Schule, Hort, Berufsfeld) hinreichend aufzuklären. Während im stationären Bereich kognitive Einschränkungen nicht für die Bewältigung des Alltags entscheidend sein müssen, können im ambulanten Bereich die gleichen Einschränkungen wesentlich behindern. So können etwa im Einzelfall Neuroleptika die Verkehrstüchtigkeit, die schulische und berufliche Leistungsfähigkeit beeinträchtigen und die Compliance gefährden. Im Allgemeinen empfiehlt es sich daher, in der ambulanten Behandlung die Medikation langsam aufzudosieren und während der Aufdosierungsphase engmaschig Wiedervorstellungstermine anzubieten. Die positive Wirkung und UAWs geraten insbesondere bei längeren Therapieverläufen unter Umständen in Vergessenheit. Schließlich sind manche UAWs erst nach längerfristiger Medikation und somit auch erst nach Entlassung aus stationärer Behandlung klinisch manifest. Beispiele dafür sind die Gewichtszunahme bei neuroleptischer Medikation, insbesondere der atypischen Neuroleptika, oder auch das Risiko der Agranulozytose bei der Einnahme von Clozapin. Die Lithiumsalz-Medikation stellt aufgrund des engen therapeutischen Bereiches (siehe Kap. B.6) hohe Anforderungen an die Compliance. Besonderheiten sind auch bei anderen phasisch oder fluktuierend verlaufenden Erkrankungen wie z.B. TicStörungen zu beachten, um nicht spontane Symptom-Änderungen mit MedikamentenWirkungen zu verwechseln. Auf der anderen Seite werden Beschwerden vor Beginn der Medikation häufig nicht mehr erinnert und
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
kleinste Veränderungen der Befindlichkeit unter Umständen zu rasch mit einer mangelnden Wirksamkeit in Verbindung gebracht. Diese Besonderheiten der Kontrolle von Wirkung und UAWs sowie der Blutspiegel bei ambulanter Behandlung geben bei der Verordnung einer Medikation zu folgenden Fragen Anlass: •
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Ist eine Kontrolle von Wirkung und UAWs in den relevanten Alltagssituationen des Patienten gewährleistet? Ist für den Patienten eine längerfristige Kontrolle der psychopathologischen und organischen Entwicklung unter Medikation gewährleistet, so dass auch verzögert einsetzende Wirkungen und UAWs kontrolliert und erkannt werden? Sind zu dem relevanten Krankheitsbild Informationsschriften verfügbar und ausgehändigt? Sind zu der verordneten Medikation Aufklärungsbögen ausgehändigt und gegebenenfalls auch unterschrieben? Haben Patient beziehungsweise die Eltern die Fähigkeit und Möglichkeit, im Bedarfsfall Kontakt mit einem kompetenten Arzt (z.B. ortsnahen Hausarzt) aufzunehmen?
A.3.4
Verlaufskontrolle
Zur Sicherung der Compliance und Kontrolle der psychopathologischen Entwicklung unter Medikation sowie der Kontrolle der Laborwerte haben sich die Aushändigung von Informationsschriften, Dokumentationsbögen, regelmäßige telefonische Kontaktaufnahmen sowie langfristig vereinbarte
Termine zur Blutbildkontrolle beziehungsweise von Blutspiegelkontrollen (z.B. Lithium, Antiepileptika) sowie von EKG und EEG bewährt. A.3.5
Kostenaspekte
In der ambulanten Behandlung spielen wirtschaftliche und gesundheitspolitische Rahmenbedingungen zunehmend eine Rolle. So müssen bei der Verordnung von Medikamenten auch die Kosten (Budget) berücksichtigt werden. Dies betrifft insbesondere Medikamente, die noch unter Patentschutz stehen und noch nicht als Generika vorliegen, also vor allem neuere atypische Neuroleptika und Stimmungsstabilisatoren. Darüber hinaus sind retardierte MethylphenidatPräparate wie auch Atomoxetin bei ADHS im Vergleich zu schnell wirksamen Methylphenidat deutlich teurer, so dass es ratsam ist, die Indikation für eine Umstellung genau zu prüfen. A.3.6
Zusammenarbeit mit der Klinik
Wenn bei teilstationärer oder stationärer Behandlung eine Medikation verordnet wird oder eine Umstellung einer zuvor ambulant schon eingesetzten Medikation erfolgt, ist eine enge Kooperation, auch parallel zur stationären Behandlung, zwischen den verordnenden Ärzten dringend zu empfehlen. Etwaige Schwierigkeiten in der Einnahme und Kontrolle von Wirkung und UAWs können gemeinsam antizipatorisch angegangen werden und eine weitere Steigerung der Compliance für die Einnahme der Medikation nach Entlassung lässt sich erwarten.
A.4 Anmerkungen zur Pharmakotherapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung A. Warnke
A.4.1
Allgemeine Aspekte und Besonderheiten
Die Wahrscheinlichkeit, psychisch zu erkranken, ist bei Menschen mit geistiger Behinderung wesentlich erhöht. Eine pharmakologische Therapie einer manifest gewordenen Intelligenzminderung gibt es nicht. Hingegen gibt es für manche Erkrankung, die eine Intelligenzminderung zur Folge hat, präventive pharmakologische Möglichkeiten, wie etwa Impfungen, die vor Infektionen, die mit dem Risiko zerebraler Schädigung einhergehen, schützen. Dazu gehören auch diätetische Maßnahmen wie z.B. die Phenylalanin-freie Kost bei Phenylketonurie oder aber die hormonelle Substitution bei angeborener Hypothyreose durch rechtzeitige Therapie mit l-Thyroxin innerhalb der ersten vier Lebenswochen. Bei bereits manifest gewordener Intelligenzminderung zielt die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka hingegen nicht mehr auf ihre Behebung, sondern auf psychopathologische Symptome bzw. psychische Erkrankungen der Kinder und Jugendlichen mit Intelligenzminderung ab. Die Indikationen zur medikamentösen Therapie sind daher grundsätzlich keine anderen als bei Menschen ohne geistige Behinderung. Die Medikation ist immer nur Teil einer Betreuung, die pädagogische, psychotherapeutische und soziointegrative Maßnahmen beinhaltet. Die Prävalenz der psychopharmakologischen Behandlung ist, besonders in Einrich-
tungen für Menschen mit Behinderung, sehr hoch (12–40%; Meins, 2005). Dafür gibt es mehrfache Gründe: •
•
Die Psychotherapie ist für Menschen mit geistiger Behinderung nach wie vor nur sehr unzureichend entwickelt und oft fehlen die notwendigen Rahmenbedingungen und therapeutischen Qualifikationen. Diagnostische Schwierigkeiten und die Schweregrade der psychischen Störungen tragen zusätzlich dazu bei, dass Notfallsituationen und Überforderung von Bezugspersonen die psychopharmakologischen Interventionen begründen.
Klinische Studien zur Behandlung psychischer Störungen beim Menschen mit Intelligenzminderung fehlen weitestgehend. Somit leiten sich die Empfehlungen wesentlich aus Erfahrungswerten (Konsensus) einer Summe von Heilversuchen ab (zur Übersicht: Matson et al., 2000; Robertson, 2000; Häßler et al., 2005; Meins, 2005; Warnke, 2006; Schanze 2007; Warnke, 2008). Bei der Medikation von Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung ist eine Reihe von Besonderheiten zu beachten: •
Die Diagnostik ist erheblich erschwert, da mit zunehmenden Schweregrad der Behinderung die Symptomatik oft nur sehr schwer zu eruieren ist.
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Aus gleichen Gründen ist die Beurteilung von Wirkung und unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) einer Medikation schwierig. Die Ursache der geistigen Behinderung ist oft unbekannt, sodass eine kausale Behandlung nicht möglich ist. Die pharmakologische Behandlung muss nach den beobachtbaren Verhaltenssymptomen und im Zusammenhang mit ihrem situativen Auftreten erfolgen (also auf Grundlage einer Verhaltensanalyse). Dies ist umso mehr notwendig, je weniger sich der Mensch mit geistiger Behinderung mitteilen kann. Psychiatrische und organische Komorbidität sind mit zunehmenden Schweregrad der geistigen Behinderung gehäuft, so dass eine medikamentöse Mehrfachbehandlung die Regel ist und somit die Kontrolle von Wirkung, UAWs und medikamentösen Wechselwirkungen wesentlich erschwert ist. Bei einer Hirnschädigung können die regelhaften medikamentösen Wirkungen ausbleiben, aufgrund der besonderen zerebralen Vulnerabilität sind ungewöhnliche und auch paradoxe Wirkungen möglich (Barron und Sandman, 1985; Handen et al., 1991; Kalachnik et al., 2002; King, 2007). Die Compliance ist erschwert, da mit zunehmendem Grad der geistigen Behinderung die Mitteilungsfähigkeit und eigenständige Verhaltenskontrolle reduziert sind und Medikation und Wirkungskontrolle durch Bezugspersonen geschehen muss. Besonders kritisch ist die Indikation zur Medikation zu stellen, wenn sie vorrangig durch eine Überlastung der Bezugspersonen begründet wird. Die Medikation darf nicht Versorgungsmängel in Institutionen der Behindertenhilfe kompensieren (Schanze, 2007).
Die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka ist begrenzt auf psychische Störungen der internationalen Klassifikationssysteme (ICD-10, DSM-IV) und schwergradigen psychopathologischen Symptomen, die Selbst- und Fremdgefährdung beinhalten (z.B. Selbstverletzung, Suizidalität, schwere aggressive Impulskontrollstörungen) und auf Indikationen mit denen erst Zugang zu pädagogischen und psychotherapeutischen Maßnahmen gewonnen werden kann. Häufig ist ein Off-Label-Gebrauch zu beachten (s. Kap. A.2; Matson et al., 2000; Häßler et al., 2005). Die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka ist schon allein aus all diesen Voraussetzungen bei Menschen mit Intelligenzminderung besonders kritisch zu handhaben. Die Indikationsstellung wird dadurch verschärft, dass die Einwilligungsfähigkeit der Patienten oft nicht gegeben ist. Schanze (2007) formulierte folgende Richtlinien, die allgemeingültig sind, aber bei Menschen mit Intelligenzminderung besonders zu beachten sind: •
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Vor jeder Behandlung stehen die Diagnostik und die Einschätzung des Erfolgs der bislang eingesetzten Therapieverfahren. Lassen Sie sich unter dem Eindruck einer Krise nicht zu vorschnellem pharmakologischem Handeln verleiten. Beachten Sie den rechtlichen Rahmen Ihres Handelns. Berücksichtigen Sie den Willen Ihres Patienten und informieren Sie ihn soweit als möglich von Ihren Maßnahmen. Menschen mit Intelligenzminderung reagieren häufig auf zentral wirksame Arzneistoffe sehr vulnerabel. Die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka ist selten allein wirksam. Die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka muss in ein individuelles multidimensionales Therapiekonzept integriert sein.
A.4 Anmerkungen zur Pharmakotherapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
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Beschreiben Sie die Behandlungsziele bzw. das Zielsymptom möglichst genau. Der Effekt auf definierte Behandlungsziele muss systematisch dokumentiert werden. Nach der psychischen Stabilisierungsphase muss die Medikation auf eine Erhaltungsdosis reduziert werden. Lange verordnete Neuro-Psychopharmaka müssen einer kritischen Überprüfung unterzogen werden. Setzten sie lange verordnete Medikamente nicht zu schnell ab. Reduzieren Sie die Tagesdosis monatlich um ca. 20 Prozent. Im Rahmen der Reduktion von anticholinerg wirksamen Arzneimitteln kommt es häufig in den ersten Tagen nach Dosisreduktion zu einem anticholinergen Ungleichgewicht und damit eventuell zu einem kurzen Auftreten von Unruhe und Gereiztheit. Beachten Sie die eventuell vorkommenden psychischen UAWs. Eine Verschlechterung der Symptomatik unter Ein- oder Aufdosierung ist für solche UAWs typisch. Es gelten die allgemeinen Prinzipien der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka (Compliance, Pharmakodynamik, Pharmakokinetik, etc.). Und zu ergänzen ist: die Medikation bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung hat Bezugspersonen zur Voraussetzung, die für eine verlässliche Dosierung, Einnahme und Wirkungskontrolle Sorge tragen.
Im Folgenden werden die Therapieprinzipien der wichtigsten psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung besprochen.
A.4.2
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Allgemeine Therapieprinzipien
A.4.2.1 Autoaggressives, selbstverletzendes Verhalten
Die klinischen Erfahrungen in der Behandlung des selbstverletzenden autoaggressiven Verhaltens bei Menschen mit Intelligenzminderung konzentrieren sich auf typische und atypische Neuroleptika, Antidepressiva und Naltrexon. Bei Naltrexon sind die Ergebnisse widersprüchlich. Es empfehlen sich daher folgende Arzneistoffklassen (Aman, 1993; Lewis et al., 1996; Racusin et al., 1999; Häßler et al., 2005): • •
Neuroleptika, bevorzugt atypische Neuroleptika (s. Kap. B.4 und C.15), SSRIs (s. Kap. B.1 und C.1).
A.4.2.2 Aggressives Verhalten
In den klinischen Studien dominierten typische und atypische Neuroleptika (s. Kap. B.4 und C.1). Die neuroleptische Medikation ist oft mit dem Nachteil verbunden, dass Allgemeinbefinden und Leistungsfähigkeit beeinträchtigt werden. Diese UAWs sind bei Medikation mit atypsichen Neuroleptika vermindert. Risperidon hat für diese Indikation eine Zulassung, weil die Wirkung auf aggressives und selbstverletzendes Verhalten in randomisiert doppelblind und placebokontrolliert durchgeführten Studien nachgewiesen werden konnte (Buitelaar et al., 2001; Cohen et al., 2001; Zarcone et al., 2001; Aman et al., 2002; Mc Cracken et al., 2002). Fraglich ist die aggressionshemmende Wirkung von SSRIs. Im Einzelfall sind Lithiumsalz-Präparate und Valproinsäure (s. Kap. B.6) hilfreich. A.4.2.3 Hyperkinetisches Verhalten
Zu der Therapie hyperkinetischen Verhaltens von Menschen mit Intelligenzminde-
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
rung sind vorrangig Psychostimulanzien indiziert. Psychostimulanzien sind bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung allerdings seltener hinreichend wirksam und UAWs sind häufiger und dann auch ausgeprägter als in der Population der Kinder und Jugendlichen ohne Intelligenzminderung (Aman et al., 1991; Aman und Langworhty, 2000; Handen et al., 1991, 1992, 1994). Als Vorgehen lässt sich empfehlen: • • •
Medikation erster Wahl: Psychostimulanzien (s. Kap. B.5 und C.4), Medikation zweiter Wahl: Atypische Neuroleptika (s. Kap. B.4 und C.4), Medikation dritter Wahl: Antidepressiva (s. Kap. B.1 und C.4)
A.4.2.4 Stereotypien
Stereotypien können durch Neuroleptika abgeschwächt werden. Tiaprid, Pimozid, Haloperidol und Risperidon sind Beispiele für gebräuchliche Arzneimittel (Baumeister et al., 1998). A.4.2.5 Autistische Störungen
Eine störungsspezifische Medikation, die Kernsymptome autistischer Störungen lindert, gibt es nicht. Medikamentöse Ansätze richten sich auf Begleitstörungen bzw. Komorbiditäten: Epilepsie, Auto- und Fremdaggressionen, Impulskontrollstörungen, Hyperaktivität und Depression stehen im Vordergrund (Aman und Langworhty, 2000). Seit 2006 ist Risperidon in den USA zugelassen zur Behandlung von Aggression, selbstverletzendem Verhalten und Unruhezuständen bei Kindern mit Autismus (Mc Dougle et al., 1998; Mc Cracken et al., 2002). Am umfangreichsten sind die Erfahrungen mit Haloperidol (Anderson et al., 1989). Haloperidol vermindert Unruhezustände, Stereotypien und Hyperaktivität. Fluvox-
amin hat sich in einer Doppelblind-Studie bei Erwachsenen mit Autismus als wirksam erwiesen: Repititives Verhalten und Aggressivität wurden gemindert, soziales Verhalten verbessert (McDougle et al., 1996). Auch erwies sich Clomipramin in einer DoppelblindStudie hilfreich in der Therapie von stereotypen zwanghaften Verhaltensweisen (Gordon et al., 1993). Auf UAWs (QT-Verlängerung, Tremor, Tachykardie und auch zerebrale Anfälle) ist besonders zu achten. Buspiron scheint eine Alternative sein zu können bei ängstlich aggressiver Verhaltensstörung (King und Davanzo, 1996; Verhoeven und Tuinier, 1996; Buitelaar et al., 1998). A.4.2.6 Schlafstörungen
Studien spezifisch zur medikamentösen Therapie der Schlafstörungen bei Menschen mit geistiger Behinderung sind extrem selten, obwohl die Schlafstörungen ein häufiges Problem darstellen. Grundsätzlich gelten die Angaben zur Medikation bei Schlafstörungen von Kindern und Jugendlichen ohne geistige Behinderung (Kap. C.16). Bei Personen mit geistiger Behinderung werden relativ häufig Antidepressiva zur Schlafregulation eingesetzt. Die besten Studien liegen jedoch zu Melatonin vor, das in Deutschland jedoch nicht für diese Indikation zugelassen ist. In der randomisierten kontrollierten Cross-overStudie von Coppola et al. (2004) wurden Schlafstörungen bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Intelligenzminderung erfolgreich mit Melatonin behandelt. Die maximale Tagesdosis betrug 9 mg pro Tag. Wirksame Schlafregulierung gelang mit Melatonin auch in zwei weiteren Studien (Jan, 2000; Pillar et al., 2000). Mit der Dosierung von 3 mg Melatonin pro Tag wurde in der Studie von Pillar et al. bei zwei Patienten die Medikation über 18 Monate nach Abschluss der Studie fortgeführt.
A.4 Anmerkungen zur Pharmakotherapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
Die übliche Dosis, die schlafanstoßend wirkt, liegt bei 1–5 mg pro Tag. Die Einnahme erfolgt ½ bis 1 Stunde vor dem Zubettgehen. Die individuelle Dosis wird in Schritten von je 1 mg titriert (weiterführend s. Kap. C.16). A.4.2.7 Andere psychische Störungen
Die medikamentöse Behandlung von Epilepsie (Antiepileptika), schizophren-psychotischen Störungen (Neuroleptika), Depression (Antidepressiva), Zwängen und Angststörungen (SSRIs) und affektiven Störungen (Neuroleptika, SSRIs, Stimmungsstabilisatoren) erfolgt entsprechend den Medikationsrichtlinien bei Kindern und Jugendlichen ohne Intelligenzminderung (Matson et al., 2000; Häßler et al., 2005). Diese Richtlinien sind den entsprechenden klinischen Kapiteln dieses Buches (C.1–C.18) zu entnehmen. Am überzeugendsten sind die Behandlungsergebnisse bei der störungsspezifischen Indikation, der Behandlung psychotischer Störungen, von Depressionen, Zwängen und hyperkinetischem Verhalten. A.4.3
Therapie in Krisen- oder Notfallsituationen
Das Ideal der medikamentösen Behandlung setzt Diagnose, eine Verhaltensanalyse, psychoedukative Rahmenbedingungen (Erklärung der Diagnose, der therapeutischen Alternativen, Aufklärung zum Medikament usw.) und eine Einwilligungserklärung zu einem möglichst zugelassenen Präparat voraus. In der Notfallsituation ist die Ausgangslage eine ganz andere (vgl. Schanze, 2007). Der Patient oder seine Bezugspersonen sind akut erregt und hilflos, extrem leidend, Selbst- oder Fremdgefährdung sind massiv, die Kräfte des Personals erschöpft, der Patient ohne Krankheitseinsicht. Die Angehöri-
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gen erwarten rascheste Entlastung. Zeit und Möglichkeit zur Diagnostik sind nur unzureichend gegeben, eine Einwilligungserklärung ist nicht zu erhalten. In solcher Krisensituation ist die Versuchung, aber auch oft zugleich die Notwendigkeit groß, im „Schnellverfahren“ zum Medikament zu greifen. Deshalb ist Teil der Dokumentation die Feststellung, dass es sich um eine Akutmedikation handelt, die es hinsichtlich Indikation, Wirkung und UAWs kurzfristig und zunächst kontinuierlich zu überprüfen gilt und vorläufig nur als „Übergangsmedikation“ gelten kann. Als Arzneimittel in den Notfallsituationen kommen regelhaft in Frage (weiterführend: Schanze, 2007): • • •
Anxiolytika wie Lorazepam (beruhigend), Sedativa wie Diazepam (sedierend), Neuroleptika wie Pipamperon, Melperon, Haloperidol (psychomotorisch beruhigend und sedierend).
Bei fehlender Wirkung und starken UAWs ist ein Therapeutisches Drug-Monitoring (TDM) dringend indiziert (s. Kap. A.2.3). A.4.4
UAWs
Die oft eingeschränkte Mitteilungsfähigkeit der Patienten mit geistiger Behinderung, Medikation mit mehreren verschiedenen Arzneimitteln und die unter Umständen veränderte zerebrale Empfindlichkeit sind Anlass, bei Kindern und Jugendlichen mit Intelligenzminderung in besonderer Weise auf UAWs zu achten. Es empfiehlt sich dringend die Durchführung eines TDM (s. Kap. A.2.3). Auf einige der häufigen UAWs wird im Folgenden hingewiesen: •
Das anticholinerge Syndrom (niederpotente Neuroleptika, trizyklische Antidepressiva) mit den Symptomen Erregung,
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
motorische Unruhe, Dysartrie, Desorientierung, Halluzinationen, zerebrale Anfälle; periphere Symptome sind Obstipation, Harnverhalt, Fieber, Mydriasis und Tachykardie. Obstipation. Sie kann bei Patienten mit schwerer geistiger Behinderung, wenn übersehen, in Folge der Beschwerden zu uncharakteristischen Verhaltensweisen wie Kopfschmerzen, Unruhe, Depression oder Schlafstörungen führen. Die Obstipation tritt gehäuft auf bei niederpotenten Neuroleptika, trizyklischen Antidepressiva, Benzodiazepinen und Carbamazepin. Extrapyramidal-motorische Störungen. Akathisie, stereotypes Blickverhalten „parkinsonoide Psychomotorik“ dürfen nicht als „Ausdruck der schweren geistigen Behinderung“ missdeutet werden. Hyperaktivität, Unruhe oder aggressive Agitiertheit sind insbesondere bei Antiepileptika, Benzodiazepinen und SSRIs zu beachten.
A.4.5
Literaturverzeichnis
A.4.5.1 Weiterführende Literatur Bouras N, Holt G (eds) (2007) Psychiatric and behavioral disorders in intellectual and developmental disabilities, 2nd edn. Cambridge University Press, Cambridge Häßler F, Fegert JM (Hrsg) (2005) Geistige Behinderung und seelische Gesundheit. Schattauer, Stuttgart Reis S, Aman M (eds) (1998) Psychotropic medications and developmental disabilities: The international consensus handbook, Ohio State University, Nisonger Center, Columbus Remschmidt H, Mattejat F, Warnke A (Hrsg) (2008) Therapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Thieme, Stuttgart Schanze C (Hrsg) (2007) Psychiatrische Diagnostik und Therapie bei Menschen mit Intelligenzminderung. Schattauer, Stuttgart
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A.4 Anmerkungen zur Pharmakotherapie psychischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen
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101
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A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
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A.5 Allgemeine Aspekte und Besonderheiten der kinder- und jugendpsychiatrischen Notfalltherapie M. Scheifele, A. Warnke, M. Romanos
Die psychopharmakologische Behandlung in der kinder- und jugendpsychiatrischen Notfallsituation hat besondere Voraussetzungen, die auf die Medikationsentscheidung einwirken. Erregung und Hilflosigkeit von Patient und Angehörigen können sich mit dem dringenden Wunsch und auch der Forderung verbinden, dass der Arzt mit einer Medikation entlasten möge. Aber auch umgekehrt: waren im Vorfeld psychotherapeutische und psychopharmakologische Maßnahmen nicht hilfreich oder mit ungünstigen unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) behaftet, so kann bei Patient und Sorgeberechtigten eine ablehnende Haltung gegenüber jeglicher Therapie, insbesondere auch Medikation vorliegen; oder umgekehrt, die Erwartung einer endlich medikamentösen Hilfe bestehen. Selbst- und Fremdgefährdung und ein richterlicher Beschluss sind Voraussetzungen für die geschlossene Unterbringung. So kommen Patienten häufig bereits durch einen vorausgehenden richterlichen Unterbringungsbeschluss im Rahmen des Betreuungsgesetzes und die Aufnahme erfolgt gegen ausdrücklichen Willen des Kindes oder Jugendlichen. Fehlen nun Kooperationsbereitschaft, Krankheits- und Behandlungseinsicht, so fehlt auch Einsicht in die Notwendigkeit oder auch nur Sinnhaftigkeit einer Medikation. Obligat ist in aller Regel vor Beginn der Therapie eine sorgfältige Diagnose, die sich
aus ausführlicher psychiatrischer pädiatrischer/internistischer und neurologischer körperlicher Untersuchung ergeben hat. Dazu gehört das Erheben eines psychopathologischen Befundes und der Anamnese. Solche Diagnostik ist jedoch im akuten Notfall, insbesondere in Extremfällen von Fremdaggressivität oder akuter psychotischer Symptomatik nicht immer realisierbar. Dann kann die Erstbehandlung nicht diagnosespezifisch, sondern nur symptomorientiert erfolgen. Aus all diesen Gründen sind nicht nur die Versuchung, sondern auch die Notwendigkeit groß, rasch zur medikamentösen Hilfe zu greifen. In der Regel ist die Medikation in der Notfallsituation daher als „Übergangsmedikation“ anzusehen. Teil der Dokumentation der medikamentösen Intervention ist eine Angabe darüber, in welcher Weise und wann diese Notfallmedikation hinsichtlich ihrer Integration zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern ist. Die akute Suizidalität kann auch Widerstand gegen jede lebenserhaltende ärztliche Maßnahme beinhalten – bei Kindern (was sehr selten vorkommt) und Jugendlichen ist akute Suizidalität jedoch in den meisten Fällen Ausdruck von fehlendem Lebenswillen. Wenn in der Notfallsituation aufgrund der Befindlichkeit des Patienten (fehlende Krankheitseinsicht, akuter Erregungszustand, akute Suizidalität) eine Einwilligung nicht gewonnen werden kann und auch
104
eine regelrechte Aufklärung zur Medikation nicht möglich ist, so ist die Überwachung der Befindlichkeit des Patienten (Beobachtung der Wirkung und möglichen UAWs) besonders anspruchsvoll und es ist auch Teil der Dokumentation, dass baldmöglichst Einwilligung und Aufklärung nachgeholt werden. So sehr in der Notfallbehandlung die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Vordergrund stehen mag, so sind gleichzeitig die Kriterien der Psychoedukation und Psychotherapie integrierter Teil des Gesamtkonzeptes der Behandlung: Die Begegnung gerade auch im Moment der Akutmedikation ist eine Begegnung mit dem akut hilfsbedürftigen Menschen, dem Patienten; die Behandlungsmaßnahme ist nicht gegen den Patienten, sondern gegen die selbst- und fremd gefährdende Symptomatik und die Erkrankung gerichtet. Die Medikation ersetzt nicht die therapeutische und pflegerische Zuwendung, sie setzt viel mehr ausreichend Zeit für den Patienten voraus, ebenso möglichst einen ruhigen Behandlungsraum mit Möglichkeit des konzentrierten Gesprächs mit dem Patienten. Das ärztliche Gespräch in den ersten Minuten der Erstbegegnung kann wesentlich die Behandlungseinsicht und Bereitschaft des Patienten zur indizierten Medikamenteneinnahme bestimmen. Wenn möglich, ist in der Notfallsituation die Fremdanamnese zu erheben. Gerade wenn der Patient nicht für sich sprechen kann, sind die Angaben der Bezugspersonen hilfreich für die Behandlungsentscheidung. Sind mutmaßliche Einwilligung oder der rechtfertigende Notstand (§ 34 StGB) gegeben, so ist eine ärztliche Behandlungsmaßnahme straffrei möglich. In diesem Fall ist das Behandlungsvorgehen sorgfältig zu dokumentieren.
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Dazu gehört: •
• • • •
• • • •
Beschreibung der Umstände beim Notfallgeschehen (Ausgangssituation, Vorgang der Benachrichtigung), psychopathologischer Befund, körperlich/neurologischer Befund, gegebenenfalls Laborbefunde, wenn möglich: Information zu Krankheitsanamnese (Eigen- und Fremdanamnese), Verdachtsdiagnose, Angaben zum therapeutischen Vorgehen, Planung der rechtlichen Schritte (Unterbringung, Einschaltung des Richters), Anschrift von Bezugspersonen.
Bei der individuellen Auswahl des Medikamentes sind folgende Kriterien zweckdienlich: •
•
•
Der Arzt ist mit dem Medikament hinsichtlich Dosierung, Wirkung, UAWs und Wechselwirkung mit anderen Arzneimitteln vertraut (Zeit zum Nachschlagen gibt es eher nicht und Unwissen über mögliche Komplikationen sollte nicht sein); die Medikation kann sowohl oral als auch parenteral erfolgen (sie ist leicht und flexibel handhabbar); die Medikation sichert eine rasche Wirkung.
In der notfallpsychiatrischen Behandlung genügt es in der Regel, folgende NeuroPsychopharmaka zur Verfügung zu haben: • ein hoch- und ein niederpotentes Neuroleptikum, • ein Benzodiazepin aus der Gruppe der Anxiolytika und Sedativa, • ein Antiepileptikum.
A.5 Allgemeine Aspekte und Besonderheiten der Notfalltherapie
Wenn eine Therapie mit Neuro-Psychopharmaka notwendig ist, so kommen also insbesondere Anxiolytika oder sedierende Psychopharmaka, z.B. Lorazepam oder niederpotente Neuroleptika wie Melperon oder Pipamperon zur Anwendung (siehe Kap. B.3 und B.4). Benzodiazepine, wie z.B. Lorazepam, haben den Vorteil, dass sie sehr schnell wirken und auch bei Vorerkrankungen und Polipharmakotherapie vergleichsweise gut verträglich sind. Eine Absetzung der Benzodiazepin-Medikation ist innerhalb von vier Wochen anzustreben, um Gewöhnung und Suchtentwicklung zu vermeiden. Bei hoher Dosierung und bei i.v. Gabe können Benzodiazepine zu einer Atemdepression führen (siehe Kap. B.3). Tabelle A.5.1 gibt einen Überblick zur medikamentösen Akutbehandlung psychiatrischer Notfälle. Das Vorgehen bei epileptischen Anfällen wird in Kap. C.10 behandelt (vgl. Abb. C.10.1). A.5.1
Suizidalität
Suizidalidät ist immer als Notfall zu behandeln, auch wenn eine suizidale Handlung als „appellativ“ oder „demonstrativ“ benannt sein sollte. Suizidalität gibt auch immer Anlass, die Indikation einer medikamentösen Intervention (rasche Entlastung) zu prüfen. Die Bandbreite der Ursachen und Auslöser einer Suizidalität reicht von krisenhaften Lebensumständen ohne zugrunde liegende kinder- und jugendpsychiatrische Erkrankung bis hin zur Suizidalität im Rahmen von schweren psychischen Störungen wie z.B. einer Depression oder schizophrenen Psychose. Zeit für den Patienten, ein vertrauensvolles Gespräch und geduldiges Zuhören in ruhigem Raum sind grundsätzlich günstige Voraussetzung jeder weiteren Intervention. Wenn eine Therapie mit Neuro-Psychopharmaka in der Akutsituation notwendig ist (z.B. bei hoher Erregung mit akutem Drang zu suizidaler Handlung, Suizidalität in akuter
105
Psychose ohne Krankheitseinsicht, schwere Depression oder ungelöstes Konflikterleben ohne Distanzierung zu Suizidhandlung), kommen insbesondere Benzodiazepine, wie vor allem Lorazepam, als anxiolytische oder dämpfende Psychopharmaka oder niederpotente Neuroleptika wie Melperon oder Pipamperon zur Anwendung. Auf die Vorteile und die Problematik der Anwendung von Lorazepam wurde bereits oben hingewiesen. Die Langzeitbehandlung richtet sich nach der Grunderkrankung. Wichtig ist es, keine Verschreibung einer Menge eines Präparates vorzunehmen, die für einen erneuten Suizidversuch ausreicht. A.5.2
Erregungszustände
Erregungszustände sind gekennzeichnet durch Enthemmung, Antriebssteigerung und Kontrollverlust, wobei letzteres häufig zu Fremdaggressivität führt. Im Kindes- und Jugendalter treten Erregungszustände besonders häufig im Rahmen der Hyperkinetischen Störung des Sozialverhaltens sowie der einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung, einer Störung des Sozialverhaltens, Impulskontrollstörungen, hirnorganischen Psychosyndromen nach Konsum von Alkohol und anderen Drogen oder auch bei akuten psychotischen Episoden auf. Bei der Behandlung von Erregungszuständen haben sich dämpfende, niederpotente Neuroleptika bewährt, wie z. B. Pipamperon oder Levomepromazin, wobei dabei UAWs wie orthostatische Dysregulation mit Kollapsneigung und kardiovaskuläre UAWs wie Tachykardien zu beachten sind (siehe Kap. B.4). Daher müssen vor der Erstanwendung sowie in regelmäßigen Abständen nach Medikamenten-Gabe die Vitalparameter (RR/Puls) erhoben und im Verlauf kontrolliert und dokumentiert werden. Bei akuten
106
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Erregungszuständen empfiehlt sich bei unklarer Anamnese in jedem Fall ein Drogenschnelltest vor Medikation, da je nach Ursache akuter Intoxikation eine Kontraindikation zu einem Medikament bestehen könnte. Sind die Erregungszustände z. B. durch schizophrene Psychosen ausgelöst, ist die Gabe von hochpotenten Neuroleptika, z. B. Haloperidol, möglich, wobei unter der Behandlung mit klassischen Neuroleptika im Kindes- und Jugendalter häufig mit extrapyramidal-motorischen UAWs zu rechnen ist. Es kann auch sehr selten zur Entwicklung eines potentiell lebensbedrohlichen Malignen Neuroleptischen Syndroms kommen. Es bietet sich daher auch die Gabe von atypischen Neuroleptika wie Olanzapin an, z. B. in der Darreichungsform als Schmelztablette (wie Zyprexa Velotab® oder als Pulver zur Herstellung einer i.m. Injektionslösung (Zyprexa® 10 mg Pulver) zur schnellen Beherrschung von Agitationszuständen. Auch hierbei sind UAWs zu beachten, wie z. B. Bradykardie mit oder ohne Hypotonie. Eine konstante klinische Überwachung ist deshalb obligat. Wirken die Erregungszustände eher angstgetönt, bietet sich die Gabe von Benzodiazepinen, z. B. Lorazepam, als alleinige Medikation oder zusätzlich zur Therapie mit Neuroleptika an. Weiterführende Hinweise zur Behandlung von Erregungszuständen finden sich in den Kapiteln „aggressives und autoaggressives Verhalten, Impulskontrollstörung, Störung des Sozialverhaltens“ (C.1) und „drogenbedingter Störungen“ (C.7). A.5.3
Bewusstseinsstörungen
Bei gestörter Bewusstseinslage besteht die Gefahr einer vitalen Bedrohung, sie kann sich als Benommenheit, Somnolenz, Sopor oder Koma äußern. Nach (unter Umständen
lebensrettender) Notfallbehandlung (z. B. antiepileptische Behandlung bei Grand-malAnfall) ist die Diagnostik – je nach Ursache oder Allgemeinbefinden in jeweils indizierter Fachklinik – vorrangig, weitere psychopharmakologische therapeutische Maßnahmen sind nachrangig. Qualitativ verändertes Bewusstsein kommt z. B. bei Dämmerzuständen im Rahmen einer epileptischen Erkrankung oder bei der katatonen Schizophrenie auch im Kindes- und Jugendalter vor, wenn auch selten. Bei starker Erregung bzw. Verwirrtheit können Benzodiazepine oder Haloperidol indiziert sein. Weiterführende Hinweise zur Behandlung von Bewusstseinsstörungen mit Neuroleptika, Anxiolytika oder Sedativa finden sich in den Kap. B.3 und B.4. A.5.4
Halluzinationen und Wahnvorstellungen
Sie sind die häufigsten Symptome der paranoid-halluzinatorischen Schizophrenie. Bei der Behandlung von schizophrenen Psychosen kommen vor allem hochpotente Neuroleptika, im Kindes- und Jugendalter atypische Neuroleptika wie z. B. Olanzapin, Quetiapin, Ziprasidon oder Risperidon zum Einsatz. Antipsychotisch hoch wirksam ist als atypisches Neuroleptikum das Clozapin, das erst verordnet werden darf, wenn zwei andere Neuroleptika nicht ausreichend gewirkt haben oder wegen schwerwiegender UAWs abgesetzt werden mussten (siehe Kap. B.4). Wenn die Patienten sehr geängstigt sind, empfiehlt sich überlappend auch der Einsatz von Benzodiazepinen, z. B. Lorazepam, bis die antipsychotische Wirkung einsetzt. Clozapin und Benzodiazepine dürfen nicht wegen der Möglichkeit eines Atemstillstandes in Kombination gegeben werden, besonders bei der i.v. Gabe von Benzodiazepinen.
A.5 Allgemeine Aspekte und Besonderheiten der Notfalltherapie
107
Tab. A.5.1. Medikamentöse Akutbehandlung psychiatrischer Notfälle Akute Symptomatik
Empfohlene Medikation (Beispiele)
Wiederholbarkeit pro Tag
Maximale Tagesdosis in mg*
Schwere Erregungszustände mit ausgeprägter Aggressivität, Unruhe oder ausgeprägten psychotischen Symptomen
Haloperidol 10 mg i.v. plus Lorazepam 2 mg i.v. (Krampfschutz, langsam 2 mg/min injizieren!)
2–3 Cave: UAWs (vgl. Kap. B.4)
Haloperidol 30 (–60) Lorazepam 6 (–7,5)
Kasuistisch günstige Effekte durch atypische Neuroleptika, z.B. Risperidon Lingualtbl. (Risperdal Quicklet® 0.5/1 mg) p.o. Ziprasidon 10 mg p.o. oder i.m.
Nach Verträglichkeit
Max. Dosierung wie bei Schizophrenie 6–8
Cave: kardiale Effekte!
80–160
20 Cave: bei i.m. Gabe Einzeldosis über 10 mg nicht ratsam
Olanzapin 5–10 mg p.o. (Zyprexa velo tab®) oder Zyprexa® i.m.
Leicht- bis mittelgradige Erregungszustände mit Aggressivität, leichten oder keinen psychotischen Symptomen
Mittel-/niedrigpotente Neuroleptika: Chlorprothixen 50 mg p.o. Pipamperon 30 mg p.o. Levomepromazin 25–50 mg i.m./p.o. (Cave: kardiovaskuläre und vegetative UAWs, Atemdepression) Melperon p.o. 12,5–50 mg
Erregungszustände mit ausgeprägter Angstreaktion
Benzodiazepine: Lorazepam 2,5 mg p.o. (z.B. Tavor expidet®)
Suizidalität
Benzodiazepine: Lorazepam 2,5 mg p.o. (z.B. Tavor expidet®) Mittel-/niedrigpotente Neuroleptika: Melperon 25–50 mg p.o. Chlorprothixen 25–50 mg i.m./p.o.
Selbstverletzendes Verhalten, Schneidedruck
Mittel-/niedrigpotente Neuroleptika: Melperon 25–50 mg Pipamperon 30 mg p.o. Chlorprothixen 50 mg i.m./p.o. Levomepromazin 50 mg i.m./p.o. (s.o) Benzodiazepine: Lorazepam 2,5 mg p.o. (z.B. Tavor expidet®)
2–4 3–4 2–3
100–200 2–6/kg Körpergewicht 150
2–4
100 (300 bei psychotischen Erregungszuständen)
3
7,5
3
7,5
2–4 2–4
50–100 100–200
2–4 3–4 2–4 2–3
50–100 2–6/kg Körpergewicht 100–200 150
3
7,5
108
A. Allgemeine Neuro-Psychopharmakologie
Tab. A.5.1. (Fortsetzung) Akute Symptomatik
Empfohlene Medikation (Beispiele)
Halluzination und Wahn
Akut: Lorazepam 2,5 mg p.o. (z.B. Tavor expidet®) bis Neuroleptikum wirkt Risperidon Lingualtbl. (Risperdal Quicklet ®) 1 mg Olanzapin 5–10 mg buccal (Zyprexa velo tab®) oder Zyprexa® i.m. Haloperidol 10 mg i.v. plus Lorazepam 2 mg i.v. (s.o.) Langfristig: atypische Neuroleptika (Kap. B.4)
Frühdyskinesie
1–2 Ampullen Biperiden i.m. oder i.v. langsam applizieren
Malignes neuroleptisches Syndrom (MNS)
Cave: vitale Gefährdung! Notfall-Labor: alkalische Phosphatase, Creatininkinase und Transaminasen erhöht TDM durchführen (MNS auch bei atyp. Neuroleptika und in therapeutischen Bereichen möglich) Internistisch-neurologische Untersuchung: Rigor, Akinesie (EPMS), Fieber Therapie: sofortige Absetzung des Neuroleptikums, Kühlung, parenterale Flüssigkeitszufuhr; Überweisung in internistische Intensivtherapie Vgl. Kap. B.4
Synkope/Tetanie infolge Hyperventilation
Rückatmung in Plastikbeutel Diazepam 5–10 mg p.o. oder i.v.
Bewusstseinsstörungen
Zunächst somatische Abklärung, außer: schwerer Erregungszustand, s.dort.
Wiederholbarkeit pro Tag
Maximale Tagesdosis in mg*
3
7,5
6
6
1–4
20
2–4 2–4
30 8
1–2 Cave: delirante Zustände bei Kombination mit anderen anticholinergen Pharmaka
2–8
1–2
10
*Empfehlungen der maximalen Tagesdosis für Kinder < 14 Jahren (Rote Liste): Haloperidol ab 3. Lebensjahr p.o. 0,025mg/kg Körpergewicht bis max. 0,2 mg/kg Körpergewicht; Chlorprothixen 0,5–1 mg/ kg Körpergewicht; Pipamperon und Levomepromazin 1mg/kg Körpergewicht; Lorazepam 0,05 mg/kg Körpergewicht. i.m., intramuskulär; i.v., intravenös; p.o. peroral
A.5 Allgemeine Aspekte und Besonderheiten der Notfalltherapie
A.5.5
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B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
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B.1 Antidepressiva R. Taurines, C. Wewetzer, A. Warnke, M. Gerlach
B.1.1
Definition, Einteilung, Wirkungsmechanismen
Unter dem Begriff „Antidepressiva“ (der ältere Begriff „Thymoleptika“ wird heute nicht mehr verwendet) wird eine chemisch und pharmakologisch heterogene Klasse von Neuro-Psychopharmaka zusammengefasst, die ursprünglich vorwiegend bei Patienten mit depressiven Symptomen eingesetzt wurde, heute aber eine weit über die depressive Störung hinausgehende therapeutische Anwendung findet. So werden diese Wirkstoffe auch bei Zwangs-, generalisierten Angst-, Panik-, phobischen und Ess-Störungen, mutistischen Verhaltensweisen und ADHS mit gutem klinischen Erfolg eingesetzt. Aufgrund der Na+-Kanal-blockierenden Wirkung der trizyklischen Antidepressiva eignen sich diese auch zur Behandlung neuropathischer Schmerzen. Der Oberbegriff Antidepressiva ist deshalb heute formal gesehen nicht mehr ganz korrekt. Gemeinsam ist allen Antidepressiva, dass sie bei therapeutischem Einsatz einen positiven Effekt auf sämtliche Symptome des depressiven Syndroms zeigen. Sie heben eine pathologisch gesenkte Grundstimmung und können in geringem Umfang auch depressive Wahngedanken beseitigen. Einige können dabei auch den Antrieb steigern oder psychomotorische Unruhe dämpfen. Darüber hinaus führen Antidepressiva auch zum Abklingen somatischer und vegetativer Symptome im Rahmen einer Depression.
Die Einteilung der Antidepressiva erfolgte ursprünglich nach der chemischen Struktur in trizyklische und tetrazyklische Antidepressiva (siehe Abb. B.1.1 und B.1.2), wobei man mehr oder weniger implizierte, dass es sich eher um eine pharmakologisch homogene Wirkstoffgruppe handelt, deren Mitglieder neben einer unterschiedlichen Hemmwirkung auf die neuronale Wiederaufnahme der Neurotransmitter Noradrenalin und Serotonin (5-HT) (siehe Kap. A.1.3.2.2 und A.1.3.3) noch antagonistische Eigenschaften an vielen Neurorezeptoren zeigen. Später kamen Antidepressiva mit völlig anderen chemischen Strukturen und anderen pharmakologischen Eigenschaften (z.B. SSRIs) hinzu (Abb. B.1.3). Wir möchten die Antidepressiva aufgrund ihrer biologischen Angriffspunkte und Wirkmechanismen in vier Gruppen einteilen: • • • •
Monoamin-Wiederaufnahme-Hemmer, Monoamin-Oxidase-Typ-A-(MAO-A-) Hemmer, α2-Adrenozeptor-Antagonisten und sonstige Antidepressiva (wie z. B. Johanniskraut).
Trizyklische Antidepressiva sind im Gegensatz zu den SSRIs oder selektiven NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmern nicht-selektive Monoamin-Wiederaufnahme-Hemmer, (Tab. B.1.1). Wir werden in diesem Kapitel und anderen Kapiteln dieses Buches aber die
114
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Abb. B.1.1. Strukturformeln von Imipramin abgeleiteten trizyklischen Antidepressiva (aus Müller und Möller, 2002a). INN, international non-proprietary name, Freiname
nach der chemischen Grundstruktur ausgerichtete internationale Bezeichnung beibehalten, da sich diese Klasse an Wirkstoffen auch in ihrem pharmakologischen Profil von den neueren 5-HT- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmern unterscheidet. Eine unter klinisch-therapeutischen Gesichtspunkten relevante Klassifikation ist die
Einteilung in Antidepressiva mit vorhandener bzw. nicht vorhandener zusätzlicher sedativhypnotischer Wirkung (Müller und Möller, 2002c). Diese Wirkkomponente ist unabhängig von der eigentlich anti-depressiven Komponente zu sehen und führte dazu, dass einige Antidepressiva auch als primäre Hypnotika eingesetzt werden können (siehe Kap. B.3).
B.1 Antidepressiva
115
Abb. B.1.2. Strukturformeln einiger tetrazyklischer Antidepressiva (aus Müller und Möller, 2002b)
Antidepressiva ohne initiale Sedierungspotenz sind
Antidepressiva mit primär sedativ-hypnotischer Wirkung sind
•
•
•
•
die MAO-A-Hemmer Moclobemid und Tranylcypromin, trizyklische Antidepressiva wie Clomipramin, Desipramin, Imipramin und Dibenzipin, SSRIs und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer wie Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin, Venlafaxin und Reboxetin.
tri- und tetrazyklische Antidepressiva wie Maprotilin, Amitriptylin, Doxepin, Mianserin, Trimipramin und Trazodon.
Der genaue Wirkungsmechanismus der Antidepressiva ist nur teilweise bekannt, da die Ätiopathogenese der Depression nur ansatzweise bekannt ist. Modellvorstellungen gehen davon aus, dass die Depression durch
Tab. B.1.1. Einteilung von Antidepressiva entsprechend ihren biologischen Angriffspunkten Wirkmechanismus Monoamin-Wiederaufnahme-Hemmung Trizyklische Antidepressiva (zusätzlich Antagonisten verschiedener NeurotransmitterRezeptoren) SSRIs (abgeleitet von Selective Serotonin Reuptake Inhibitors) (Keine Affinität zu anderen NeurotransmitterRezeptoren) (Selektive) Noradrenalin-WiederaufnahmeHemmer (Keine bzw. geringe Affinitäten zu anderen Neurotransmitter-Rezeptoren) Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer
Beispiele
Amitriptylin, Amitriptylinoxid, Clomipramin, Doxepin, Desipramin, Imipramin, Nortriptylin, Opipramol, Trimipramin, Dibenzipin Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin Reboxetin, Maprotilin
Duloxetin, Venlafaxin
Nicht bzw. selektive Monoamin-OxidaseTyp-A-(MAO-A-)-Hemmer
Tranylcypromin, Moclobemid
α2-Adrenozeptor-Antagonisten
Mianserin, Mirtazapin
Sonstige Antidepressiva
Johanniskraut, Sulpirid, Trazodon
116
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Abb. B.1.3. Strukturformeln von selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRIs, abgeleitet von Selective Serotonin Reuptake Inhibitors) (aus Müller und Möller, 2002b)
eine Wechselwirkung zwischen belastender Erfahrung (Stress) und Krankheitsveranlagung (Diathese) verursacht wird (Vollmayr et al., 2002). Dieses Konzept betrachtet depressive Störungen als Folge eines komplexen Zusammenspiels von belastenden Umweltereignissen, genetischer und aktueller physiologischer Prädisposition und früheren Lerner-
fahrungen. Es postuliert, dass Stress, Lebensereignisse und Lernerfahrungen sich in biologischen Veränderungen niederschlagen und die menschliche Psyche sich in biologischen Veränderungen im ZNS manifestiert. Wie in Kap. A.1 beschrieben, gibt es zahlreiche experimentelle und klinische Befunde, wonach Antidepressiva in den Stoffwechsel
B.1 Antidepressiva
117
Die Hemmung ist bei den verschiedenen Wirkstoffen verschieden stark ausgeprägt (Tab. B.1.2). Diese Primärwirkung und die Beobachtung, dass ein Reserpin-induzierter Monoamin-Mangel depressive Symptome auslösen kann, führten zu der nun schon über 30 Jahre alten Vermutung, dass Depressionen auf eine Verminderung der noradrenergen und/oder serotoninergen Neuro-
der Neurotransmitter 5-HT und Noradenalin eingreifen und die Wirkung dieser Neurotransmitter beeinflussen. Die meisten Antidepressiva hemmen primär die neuronale Wiederaufnahme der Monoamine Noradrenalin und/oder 5-HT aus dem synaptischen Spalt (siehe Abb. A.1.3, Tab. A.18), wodurch die noradrenerge und/oder serotoninerge synaptische Signalübertragung verstärkt wird.
Tab. B.1.2. Inhibitionskonstanten (Ki-Werte in nMol) von Antidepressiva für Wiederaufnahme-Stellen von Noradrenalin und Serotonin sowie für Neurotransmitter-Rezeptoren (nach Müller und Möller, 2002d). Je kleiner dieser Wert, umso höher ist die Beeinflussung Wirkstoff(gruppe)
NA
5-HT
H1
M
α1
α2
5-HT2
1
10
24
940
18
Monoamin-Wiederaufnahme-Hemmer Trizyklische Antidepressiva Amitriptylin
14
84
Clomipramin
28
5
31
37
38
>1000
54
Desipramin
0,6
180
60
66
100
>1000
350
Doxepin
18
220
0,2
23
24
>1000
27
Imipramin
14
41
37
46
31
>1000
150
Nortriptylin
2
154
6
37
55
>1000
41
Trimipramin
510
>1000
0,3
58
24
680
32
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRIs) Citalopram
>1000
1
470
>1000
>1000
>1000
>1000
Fuoxetin
143
14
>1000
590
>1000
>1000
280
Fluvoxamin
500
7
>1000
>1000
>1000
>1000
>1000
Paroxetin
33
0,7
>1000
110
>1000
>1000
>1000
Sertralin
220
3
>1000
630
380
>1000
>1000
(Selektive) Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Maprotilin
7
>1000
2
570
90
>1000
120
Reboxetin
9
>1000
>1000
>1000
>1000
>1000
>1000
Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer Venlafaxin
210
39
>1000
>1000
>1000
>1000
>1000
α2-Adrenozeptor-Antagonisten Mianserin
42
>1000
0,4
820
34
73
7
Mirtazapin
–
–
0,5
500
500
10
5
Die Ki-Werte für die Wiederaufnahme von Noradrenalin (NA) und Serotonin (5-HT) wurden in RattenhirnSynaptosomen bestimmt. Die Ki-Werte für die histaminergen H1-, muscarinergen Acetylcholin-(M-), adrenergen α1- und α2- und serotoninergen 5-HT2-Rezeptoren wurden an humanem Post-mortem-Gehirngewebe bestimmt. –, nicht untersucht
118
transmission im ZNS beruhen (MonoaminMangel-Hypothese der Depression). Auch der Wirkungsmechanismus von MAO-A-Hemmern passt zur MonoaminMangel-Hypothese der Depression. Wie im Kap. A.1.3.2.1.2 besprochen, ist die A-Isoform des MAO-Enzyms im menschlichen Gehirn für den Abbau von Noradrenalin und 5-HT verantwortlich. Wenn durch dessen Hemmung Noradrenalin und 5-HT in den jeweiligen Axonendigungen nicht mehr abgebaut werden können, steigt kurzfristig deren Gehalt in den jeweiligen Synapsen. Im Ergebnis erfolgt eine Verstärkung der noradrenergen und serotoninergen Neurotransmission. Als weiterer Angriffpunkt von Antidepressiva ist eine bei den einzelnen Arzneistoffen unterschiedlich starke Antagonisierung von Neurotransmitter-Rezeptoren, insbesondere der α-adrenergen, histaminergen und serotoninergen Rezeptoren (Tab. B.1.2), zu nennen. Das Wirkprofil wird dadurch wesentlich mitbestimmt (z.B. sedierende Wirkung durch Hemmung des Histamin-H1-Rezeptors, anxiolytischer Effekt durch Blockade des serotoninergen 5-HT2-Rezeptors). Der primäre Effekt vieler Antidepressiva auf die Beeinflussung der synaptischen Konzentration an Noradrenalin und/oder 5-HT kann aber nur teilweise eine antidepressive Wirkung erklären. Obwohl dieser Effekt innerhalb kurzer Zeit nach Einnahme eines Antidepressivums eintreten sollte, tritt die antidepressive Wirkung erst nach einer Latenz von zwei bis vier Wochen auf. Eine Erklärung ist, dass durch den primären Effekt der Antidepressiva ein langfristiger regulativer Eingriff in Signaltransduktionskaskaden stattfindet und Genexpressionsveränderungen (siehe Kap. A.1.2.6) hervorgerufen werden (Lesch, 2002; Holsboer et al., 2008). Tierexperimentelle Untersuchungen zeigten, dass durch die Gabe von Antidepressiva eine Erhöhung der Konzentration des se-
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
kundären Botenstoffes cAMP bewirkt wird, wodurch vermehrt das „cAMP Response Element Binding Protein“ (CREB) phosphoryliert wird. CREB ist ein Transkriptionsfaktor, der im Zellkern die Expression zahlreicher Gene reguliert, die mit antidepressiven Wirkmechanismen in Verbindung gebracht werden. Der Nervenwachstumsfaktor BDNF (für Brain Derived Neurotrophic Factor) ist ein Beispiel für ein durch CREB-reguliertes Protein. BDNF beeinflusst in der Embryogenese und im Erwachsenenalter entscheidend die Neurogenese und neuronale Plastizität. Im Folgenden werden wir die Antidepressiva, die in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verwendet werden, in der Reihenfolge ihrer biologischen Angriffspunkte und Wirkmechanismen ausführlich besprechen. B.1.2
Klinische NeuroPsychopharmakologie
B.1.2.1
Anwendungsgebiete
B.1.2.1.1
Monoamin-WiederaufnahmeHemmer
B.1.2.1.1.1
Trizyklische Antidepressiva
Anwendungsgebiete der trizyklischen Antidepressiva sind nach der Roten Liste: • • • • • •
• •
depressive Symptomatiken unabhängig von der nosologischen Einordnung, Zwangserkrankungen (Clomipramin), Phobien und Panikstörungen (Clomipramin), Angstsyndrome (Doxepin), generalisierte Angststörungen (Opipramol), langfristige Schmerzbehandlung (Amitriptylin, Clomipramin, Doxepin, Imipramin, Trimipramin), Kataplexie, Narkolepsie (Clomipramin), leichte Entzugssyndrome bei Alkohol-, Medikamenten- oder Drogenabhängigkeit (Doxepin),
B.1 Antidepressiva
• •
• • •
Schlafstörungen und funktionelle Organbeschwerden (Doxepin), Adjuvans bei Magen-Darm-Erkrankungen, die durch eine psychische Überbelastung mitverursacht sind, funktionelle Organbeschwerden (Doxepin), somatoforme Störungen (Opipramol), Enuresis und Pavor nocturnus (Imipramin, Clomipramin).
Eingesetzt werden trizyklische Antidepressiva aber auch in der Behandlung der Bulimie und Anorexie und bei Kindern mit ADHS (bei letzterem als Mittel der 3. Wahl). Auf der Basis der wenigen kontrollierten Studien zur Wirksamkeit von trizyklischen Antidepressiva im Kinder- und Jugendbereich sind nur einige dieser Antidepressiva für diese Altersgruppe zugelassen. Clomipramin und Imipramin sind ab einem Alter von fünf Jahren zugelassen. Das Indikationsgebiet bezieht sich jedoch auf die funktionelle Enuresis. B.1.2.1.1.2
SSRIs
Anwendungsgebiete der SSRIs sind nach der Roten Liste: • • • • • • •
depressive Symptomatik unabhängig von der nosologischen Einordnung, Zwangsstörungen (Citalopram, Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin), Bulimia nervosa (Fluoxetin), Panikstörungen und/oder Agoraphobie (Citalopram, Paroxetin), soziale Phobie (Citalopram, Paroxetin), generalisierte Angststörung (Paroxetin), posttraumatische Belastungsstörung (Paroxetin).
Eingesetzt werden SSRIs aber auch bei aggressivem und impulsivem Verhalten sowie bei Autoaggression, Alkohol- und Drogen-
119
entzugs-Behandlung, bei Kindern mit Mutismus, Gilles-de-la-Tourette-Syndrom, ADHS, Trichotillomanie, Trennungsangst, bei tiefgreifenden Entwicklungsstörungen wie Autismus und Rett-Syndrom sowie bei unklaren Schmerzzuständen und Anorexia nervosa. Von den SSRIs ist Fluvoxamin ab dem achten Lebensjahr für die Behandlung der Zwangsstörung zugelassen. Fluoxetin ist ebenfalls ab dem Alter von acht Jahren bei mittelgradigen bis schweren depressiven Episoden zugelassen, wenn die Depression nach vier bis sechs Sitzungen nicht auf eine psychologische/psychotherapeutische Behandlung anspricht. B.1.2.1.1.3
Selektive NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer
B.1.2.1.1.3.1 Maprotilin
Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste depressive Erkrankungen. Bevorzugt wird Maprotilin bei ängstlich-agitierter Depression mit Schlafstörungen eingesetzt. Zusätzlich zu den Anwendungsgebieten der Roten Liste findet es Verwendung bei der Therapie von Enuresis und Pavor nocturnus und Schulverweigerung. Es liegt keine Zulassung für das Kindesund Jugendalter vor. B.1.2.1.1.3.2 Reboxetin
Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste depressive Syndrome. Zusätzlich zu den Anwendungsgebieten der Roten Liste wird Reboxetin im Rahmen der Behandlung einer ADHS eingesetzt. In einigen klinischen Studien wurde Reboxetin auch zur Behandlung der Enuresis verwendet. Es liegt keine Zulassung für das Kindesund Jugendalter vor.
120
B.1.2.1.1.4
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
5-HT- und NoradenalinWiederaufnahme-Hemmer: Venlafaxin
Anwendungsgebiete für Venlafaxin sind nach der Roten Liste: •
• • • •
depressive Erkrankungen einschließlich Depression mit begleitenden Angstzuständen, Erhaltungstherapie und Rezidivprophylaxe depressiver Erkrankungen, die generalisierte Angststörung, Panikstörung mit und ohne Agoraphobie, soziale Phobie.
B.1.2.1.3
α2-Adrenozeptor-Antagonisten
B.1.2.1.3.1
Mianserin
Das Anwendungsgebiet sind nach der Roten Liste depressive Störungen. Bevorzugt wird Mianserin bei ängstlich-agitierter Depression mit Schlafstörungen eingesetzt. Zusätzlich zu den Anwendungsgebieten der Roten Liste findet es Verwendung bei der Therapie von Enuresis und Pavor nocturnus, Schulverweigerung und Mutismus. Es liegt keine Zulassung für das Kindesund Jugendalter vor. B.1.2.1.3.2
Über die Anwendungsgebiete der Roten Liste hinaus wird Venlafaxin im Rahmen der Behandlung einer ADHS eingesetzt. Der Arzneistoff kommt zusätzlich zum Einsatz bei Kindern und Jugendlichen mit Autismus-Spektrum-Störungen oder BorderlinePersönlichkeits-Störung. Es liegt keine Zulassung für das Kindesund Jugendalter vor. B.1.2.1.2
MAO-A-Hemmer: Moclobemid
Anwendungsgebiete für Moclobemid sind nach der Roten Liste: • •
depressive Syndrome und soziale Phobie.
Über die Anwendungsgebiete der Roten Liste hinaus wird Moclobemid im Rahmen der Behandlung einer ADHS eingesetzt. Darüber hinaus wird der Wirkstoff bei Panikstörung, bipolarer Störung und Dysthymie verwendet. Es liegt keine Zulassung für das Kindesund Jugendalter vor. In der klinischen Behandlung im Kindes- und Jugendalter spielt Moclobemid kaum mehr eine Rolle.
Mirtazapin
Das Anwendungsgebiet sind nach der Roten Liste depressive Erkrankungen (Episoden einer Major Depression). Bevorzugt wird Mirtazapin bei ängstlich-agitierter Depression mit Schlafstörungen eingesetzt. Zusätzlich zu den Anwendungsgebieten der Roten Liste findet es Verwendung bei der Therapie von Angsterkrankungen (sozialer Phobie) und Schlafstörungen. Es liegt keine Zulassung für das Kindesund Jugendalter vor. B.1.2.1.4
Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte
Das Anwendungsgebiet sind nach der Roten Liste leichte bis mittelschwere depressive Episoden. Johanniskraut ist zur Behandlung depressiver Symptomatiken ab dem Alter von 12 Jahren zugelassen. B.1.2.2
Klinische Wirksamkeit und Studienlage
Durch Antidepressiva werden eine ganze Reihe von Symptomen der Depression positiv beeinflusst (Ambrosini, 2000). So verbessern sich nicht nur die Stimmung und die Antriebslage, sondern auch die Konzentration und
B.1 Antidepressiva
121
Tab. B.1.3. Klinisches Wirkungsspektrum verschiedener Antidepressiva (modifiziert nach BezchlibnykButler et al., 2007) Wirkstoff
Wirkung Antidepressiv
Aktivierend
Sedierend
Anxiolytisch
Trizyklische Antidepressiva Amitriptylin
+++
–
++
++
Clomipramin
+++
+++
–
+
Doxepin
++
–
+++
++
Desipramin
++
+++
–
+
Imipramin
+++
++
+
++
Nortriptylin
+++
+++
–
++
Selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRIs) Citalopram
+++
++
–
++
Fluoxetin
+++
+
–
++
Fluvoxamin
+++
+
–
++
Paroxetin
+++
–
–
++
Sertralin
+++
–
–
++
Moclobemid
+++
++
–
++
Venlafaxin
+++
+
–
++
Mirtazapin
+++
–
++
++
Trazodom
+++
–
++
++
Diverse
–, keine oder sehr schwache Wirkung; +, leichte Wirkung; ++, mittlere Wirkung; +++, starke Wirkung
die Aufmerksamkeit. Komplexe psychische Befindlichkeiten wie Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen werden positiv beeinflusst. Schuldgefühle, Gefühle der Wertlosigkeit sowie ein negativistisches Denken treten in den Hintergrund. Nicht zuletzt verbessern Antidepressiva Appetit- und Schlafstörungen. Tabelle B.1.3 fasst das klinische Wirkungsspektrum verschiedener Antidepressiva zusammen. B.1.2.2.1
Monoamin-WiederaufnahmeHemmer
B.1.2.2.1.1
Trizyklische Antidepressiva
Trizyklische Antidepressiva haben sich bei der Behandlung von Depressionen erwachsener
Patienten bewährt und mit dieser Stoffgruppe besteht die größte klinische Erfahrung. In Studien mit erwachsenen depressiven Patienten zeigten sie sich bei ca. 50 Prozent der Patienten als wirksam und einem Placebo überlegen (Storosum et al., 2001; Walsh et al., 2002). Die stimmungsaufhellende Wirkung trizyklischer Antidepressiva tritt nach ein bis vier Wochen ein. Sedierende Effekte treten sehr schnell auf und Schlafstörungen bessern sich schon nach Tagen. Im Kinder- und Jugendbereich liegen einige wenige placebokontrollierte Studien zur Wirksamkeit bei depressiver Symptomatik vor. Papanikolaou und Mitarbeiter (2006) schlossen in ihre Meta-Analyse zur Wirksamkeit von trizyklischen Antidepressiva und
122
SSRIs bei der kindlichen und jugendlichen Depression 18 kontrollierte und 23 offene Studien ein (ausführlichere Darstellung der Studienergebnisse s. Kap. B.1.2.2.1.2). Die Autoren konnten keine Unterschiede in der Wirksamkeit von trizyklischen Antidepressiva gegenüber Placebo feststellen, wenn entweder nur die kontrollierten oder zusätzlich auch die offenen Studien in die Berechnung eingeschlossen wurden (weitere, ältere Meta-Analysen für den Kinder- und Jugendbereich s. Hazell et al., 1995, 2002; Maneeton und Srisurapanont, 2000; Cohen et al., 2004). Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass die folgenden trizyklischen Antidepressiva mit einem Evidenzgrad II (es liegt also mindestens eine randomisierte, placebokontrollierte Studien vor) einem Placebo bei der Behandlung der kindlichen Depression nicht signifikant überlegen sind: Amitriptylin (Kashani et al., 1984; Kye et al., 1996; Birmaher et al., 1998), Desipramin (Boulos et al., 1991; Kutcher et al., 1994, Klein et al., 1998), Clomipramin (Sallee et al., 1997), Imipramin (Petti und Law, 1982; Puig-Antich et al., 1987; Preskorn et al., 1987) und Nortriptylin (Geller et al., 1989, 1990, 1992). Der in den meisten Studien und MetaAnalysen an Kindern und Jugendlichen fehlende Wirksamkeitsnachweis könnte durch verschiedene methodische Einschränkungen bedingt sein, beispielsweise durch eine oft kleine Fallzahl oder die Verwendung heterogener Untersuchungsinstrumente zur Beurteilung des Behandlungserfolges. Auf eine weitere methodische Schwäche bisheriger Studien und Meta-Analysen wird in der Stellungnahme der TDM-Gruppe der AGNP (2008) hingewiesen: Der bestmögliche Beleg für die Medikamenten-Wirksamkeit ist seit langem eine positive Beziehung zwischen der Arzneimittel-Dosis (noch genauer dem Plasmaspiegel) und der Wirkung.
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Die TDM-Gruppe der AGNP kritisiert: „Für neue Antidepressiva ist die Datenlage bezüglich des Nachweises einer PlasmaspiegelWirksamkeits-Beziehung…unzureichend… Wenn die üblichen placebokontrollierten Wirksamkeitsstudien durch PlasmaspiegelMessungen begleitet werden, lassen sich … Fehlerquellen vermeiden oder verringern, wie Nichteinnahme oder abnorme Verstoffwechselung der Studienmedikation. Die Darstellung von Dosis- und PlasmaspiegelWirksamkeits-Beziehungen für Antidepressiva wird unmittelbar in therapeutische Verbesserungen umgesetzt werden, wie etwa eine verbesserte Dosierung, Erkennen von Interaktionen und möglichem Vorliegen genetischer Besonderheiten des Metabolismus der Wirkstoffe.“ Im Bewusstsein der methodischen Schwächen bisheriger Studien zur Wirksamkeit von trizyklischen Antidepressiva können die positiven Erfahrungen im klinischen Alltag mit dieser Substanzgruppe besser eingeordnet werden. Unsere klinischen Erfahrungen (A.W., C.W.) sprechen dafür, dass trizyklische Antidepressiva bei „Major Depression“ eine positive Wirkung erzielen. Bei der Behandlung der ADHS reduzierte Nortriptylin in einer placebokontrollierten Studie sowohl die ADHS- als auch die oppositionelle Symptomatik signifikant (Prince et al., 2000). In Zusammenschau der sonstigen Daten aus offenen Studien konnte eine begrenzte Wirksamkeit von trizyklischen Antidepressiva bei ADHS berichtet werden, die derjenigen von Psychostimulanzien unterlegen ist (zur Übersicht siehe Wood et al., 2007). Eine placebokontrollierte Doppelblind-Studie zur Therapie der chronischen Tic-Störung und komorbiden ADHS mit Desipramin erbrachte eine signifikante Besserung der Tic- und ADHSSymptome und eine gute Verträglichkeit des trizyklischen Antidepressivums (Spencer et al., 2002). Insgesamt spielt diese Substanz-
B.1 Antidepressiva
klasse jedoch bei der Behandlung der ADHS in der Klinik kaum eine Rolle. Bei der Behandlung der Zwangsstörung im Kindes- und Jugendalter zeigte Clomipramin in mehreren randomisierten, kontrollierten Studien eine signifikante Wirksamkeit (Flament et al., 1985; Leonard et al., 1989; deVeaugh-Geiss et al., 1992). In einer Meta-Analyse von randomisierten, kontrollierten Studien zu SSRIs und Clomipramin wirkte Clomipramin noch effektiver als SSRIs (Geller et al., 2003). Es traten jedoch unter Clomipramin mehr UAWs und Studienabbrüche auf als unter den SSRIs. In einer offenen Studie zum Vergleich der Clomipramin-Wirkung bei Zwangssymptomen bei Erwachsenen und Jugendlichen zeigte sich für beide Gruppen eine Wirksamkeit, jedoch ein stärkerer Effekt in der ErwachsenenGruppe (Ulloa et al., 2007). In der Meta-Analyse von Glazener et al. (2003) zur Bedeutung von trizyklischen Antidepressiva bei der Enuresis nocturna, in die 54 randomisierte Untersuchungen eingeschlossen wurden, verringerte sich unter Medikation die Einnässfrequenz. Ohne gleichzeitige verhaltenstherapeutische Interventionen kam es jedoch bei der Absetzung der Medikation in den meisten Fällen zu Rezidiven. Deshalb ist ein umfassendes Behandlungskonzept mit Beratung und Verhaltenstherapie für eine dauerhafte Remission unerlässlich (siehe Kap. C.9). B.1.2.2.1.2
SSRIs
Im Erwachsenenbereich ist die Wirksamkeit von SSRIs bei depressiven Erkrankungen in zahlreichen kontrollierten Studien belegt. In ihrer Meta-Analyse zur Wirksamkeit von SSRIs bei Depressionen im Erwachsenenalter schlossen Williams et al. (2000) 25 placebokontrollierte Studien zu Fluvoxamin, Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin ein. 90 Prozent dieser Untersuchungen waren
123
Kurzzeitstudien mit einem Beobachtungszeitraum von sechs bis acht Wochen. Diese Analyse schloss auch Vergleiche zwischen SSRIs und tri-/tetrazyklischen Antidepressiva ein. Zusammengefasst zeigten alle diese Antidepressiva-Klassen eine signifikante Wirksamkeit gegenüber Placebo bei der Behandlung depressiver Symptomatiken und der Dysthymie im Erwachsenenalter. Die SSRIs unterschieden sich in der Wirksamkeit nicht von tri- oder tetrazyklischen Antidepressiva. Es konnten im Rahmen der Meta-Analyse auch keine Wirkunterschiede der einzelnen SSRIs untereinander festgestellt werden. In den letzten Jahren haben sich die SSRIs in der klinischen Behandlung von depressiven Symptomen auch im Kinder- und Jugendbereich immer stärker etabliert (Edwarts und Anderson, 1999; Keller et al., 2001; Moreno et al., 2007). Dies liegt sicherlich nicht nur an einer guten Wirksamkeit, sondern auch an der leichten Handhabbarkeit und der relativ guten Verträglichkeit. Günstig auch im Hinblick auf eine Fahrtauglichkeit ist, dass SSRIs kaum die psychomotorischen und kognitiven Funktionen negativ beeinflussen. In mehreren Studien im Kinder- und Jugendbereich zeigte sich bei depressiven Störungen eine Überlegenheit von SSRIs im Vergleich zur Placebo-Gabe (Übersichten und Meta-Analysen: Heiser und Remschmidt, 2002; Cohen et al., 2004; Holtmann et al., 2006; Hetrick et al., 2007; Usala et al., 2008). In die Meta-Analyse von Papanikolaou et al. (2006) wurden 18 kontrollierte und 23 offene Studien zur Wirksamkeit verschiedener Antidepressiva eingeschlossen. Die Odds Ratios für SSRIs lagen bei 1,84 (95% Konfidenzintervall 1,35–2,50) für kontrollierte und 1,83 (95% Konfidenzintervall 1,40– 2,40) für kontrollierte und unkontrollierte Studien, was ebenfalls auf einen generellen signifikanten Effekt der SSRIs gegenüber Placebo spricht.
124
Die beste Studienlage im Kindes- und Jugendalter existiert für Fluoxetin, das in mehreren randomisierten, kontrollierten Studien gegenüber einem Placebo bei der Behandlung von depressiven Syndromen überlegen war (Emslie et al., 1997, 2002, 2008). Simeon und Mitarbeiter (1990) stellten in einer kontrollierten Untersuchung nur einen positiven Trend von Fluoxetin gegenüber Placebo fest, jedoch keine signifikante Überlegenheit. In randomisierten, kontrollierten Vergleichen von Fluoxetin-Monotherapie, Placebo, kognitiver Verhaltenstherapie (Cognitive Behavioral Therapy, CBT) und „Fluoxetin plus CBT“ wurden die besten Ergebnisse durch die zwei Therapieoptionen mit Fluoxetin erzielt. Dabei war die Kombination „Fluoxetin plus CBT“ der medikamentösen Monotherapie noch überlegen (March et al., 2004; Pathak et al., 2005; March et al., 2007a). Ähnliche Ergebnisse berichteten Brent und Kollegen in ihrer randomisierten, kontrollierten Untersuchung (2008). Sie publizierten, dass Kinder und Jugendliche, die nicht auf einen bestimmten SSRI ansprachen, mehr von einer Umstellung auf einen anderen SSRI oder Venlafaxin profitierten, wenn sie gleichzeitig eine kognitive Verhaltenstherapie erfuhren. In einer weiteren randomisierten, kontrollierten Untersuchung an Patienten dieser Altersklasse mit Depression, Störung des Sozialverhaltens und Substanzmissbrauch reduzierte „Fluoxetin plus CBT“ depressive Symptome (gemessen mit der Childhood Depression Rating Scale-Revised) effektiver als CBT oder Placebo alleine (Riggs et al. 2007). In derselben Studie ließ sich dieser Effekt jedoch mit dem Manual Clinical Global Impression Improvement Treatment Response nicht darstellen. Goodyer et al. (2008) konnten in ihrer randomisierten Untersuchung zur Major Depression im Kindes- und Jugendalter im Vergleich einer SSRI-Medikation mit „SSRI plus CBT“ jedoch keine verbesserte Wirksamkeit unter der Kombinationstherapie feststellen.
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Sertralin war ebenfalls in kontrollierten Studien gegenüber Placebo überlegen (Wagner et al., 2003; Pössel und Hautzinger, 2006). In einer in der ersten Phase placebokontrolliert durchgeführten Doppelblind- und in der zweiten Phase offen durchgeführten Studie, führte Sertralin gegenüber Placebo zu einem rascher eintretenden, anhaltenden Therapieerfolg (Donnelly et al., 2006; Rynn et al., 2006). Eine Besserung der depressiven Symptomatik bei guter Verträglichkeit von Sertralin konnte auch in einer offenen Langzeitstudie über 24 Wochen beobachtet werden (Alderman et al., 2006). Für Citalopram wurde von Wagner et al. (2004a) in einer randomisiert und kontrolliert durchgeführten Doppelblind-Studie eine signifikante Überlegenheit von Citalopram gegenüber Placebo bei der Depressionsbehandlung im Kindes- und Jugendalter festgestellt. Zu einem übereinstimmenden Ergebnis kamen Pössel und Hautzinger in ihrer Meta-Analyse (2006). In einer weiteren kontrollierten Doppelblind-Untersuchung wurde jedoch kein Effekt beobachtet (Von Knorring et al., 2006). Für Paroxetin ist die Studienlage nicht einheitlich. In manchen randomisierten, kontrollierten Studien zeigte sich Paroxetin einem Placebo überlegen (Keller et al., 2001; Wagner et al., 2004b), in anderen nicht (Emslie et al., 2006). Paroxetin und Clomipramin waren in einer randomisierten MulticenterStudie ähnlich wirksam bei der Behandlung der kindlichen und jugendlichen Depression (Braconnier et al., 2003). Wie bereits für die trizyklischen Antidepressiva diskutiert, kann der fehlende Wirksamkeitsnachweis in einzelnen Studien durch verschiedene methodische Schwächen erklärt werden (siehe Kap. B.1.2.2.1.1). In der klinischen Praxis zeigt sich ganz eindeutig, dass SSRIs depressive Symptome im Kindes- und Jugendalter bessern.
B.1 Antidepressiva
Bei der Behandlung der generalisierten Angststörung, sozialen Phobie und Trennungsangst reduzierte sich die Angstsymptomatik unter SSRIs (zur Übersicht siehe z.B. Masi et al., 2001; Segool und Carlson, 2008). Fluoxetin besserte in einer offenen Studie die Angstsymptomatik bei Kindern und Jugendlichen mit Trennungsangst oder sozialer Phobie (Birmaher et al., 1994). Rynn und Mitarbeiter (2001) stellten in einer placebokontrollierten Doppelblind-Studie zur Behandlung der generalisierten Angststörung im Kindes- und Jugendalter eine signifikant bessere Wirksamkeit von Sertralin im Vergleich zu Placebo fest. Ebenfalls in einer randomisierten, placebokontrollierten Untersuchung zeigte sich Paroxetin bei der Behandlung der sozialen Phobie im Kindesund Jugendalter einer Placebo-Gabe überlegen (Wagner et al., 2004b). Eindeutig positiv wirken SSRIs bei der Behandlung von Zwangserkrankungen im Kindes- und Jugendalter (Geller et al., 2003). In kontrollierten Studien waren Fluoxetin (Riddle et al., 1992; Geller et al., 2001; Liebowitz et al., 2002), Fluvoxamin (Riddle et al., 2001), Sertralin (March et al., 1998) und Paroxetin (Geller et al., 2004) der PlaceboBehandlung überlegen. Sertralin zeigte in einer offenen Studie selbst über 24 Wochen Beobachtungszeit noch einen positiven Effekt auf Zwangssymptome (Alderman et al., 2006). In einer randomisiert und kontrolliert durchgeführten Studie wurde CBT alleine, Sertralin-Monotherapie, „Sertralin plus CBT“ mit einer Placebo-Gabe verglichen (Pediatric OCD Treatment Study Team, 2004). Alle drei aktiven TherapieFormen waren einer Placebo-Gabe überlegen. Die höchste Remissionsrate zeigte sich unter Kombinationsbehandlung („Sertralin plus CBT“), sie unterschied sich jedoch nicht signifikant von derjenigen unter „CBT ohne SSRI“. In einer weiteren randomisierten, aber nicht placebokontrollierten Unter-
125
suchung konnte im Vergleich von GruppenCBT und Sertralin-Monotherapie unter beiden Behandlungsformen nach 12 Wochen eine Symptombesserung festgestellt werden, jedoch ohne signifikanten Unterschied zwischen den beiden Gruppen (Asbahr et al., 2005). Neun Monate später wurden in der CBT-Gruppe jedoch signifikant weniger Zwangssymptome beschrieben im Vergleich zur Sertralin-Gruppe. Bei der Behandlung der Posttraumatischen Belastungsstörung zeigte Sertralin in Kombination mit CBT in einer randomisierten, placebokontrollierten Untersuchung gegenüber „Placebo plus CBT“ einen positiven Trend, jedoch keine signifikante Überlegenheit (Cohen et al., 2007). Sertralin und Fluoxetin besserten in einer offenen Studie die depressive Symptomatik bei der Behandlung einer Depression bei komorbider Epilepsie. Bei zwei von 38 Patienten verstärkte sich die epileptische Symptomatik unter Sertralin- oder Fluoxetin-Medikation, alle anderen Patienten vertrugen die beiden SSRIs gut (Thome-Souza et al., 2007). In offenen Studien zur Behandlung mutistischer Verhaltensweisen erwies sich unter den SSRIs insbesondere Fluoxetin als wirksam (Carlson et al., 1999; Kaakeh und Stumpf, 2008). Bei der Behandlung von Autismus-Spektrum-Störungen im Erwachsenenalter wurde in einer Meta-Analyse zu drei kontrollierten und zehn offenen Untersuchungen eine positive Wirkung von SSRIs auf assoziierte Symptome wie beispielsweise Ängstlichkeit oder repetitive Verhaltensweisen beobachtet (Kolevzon et al., 2006). Im Kindes- und Jugendbereich zeigte sich mit einem offenen Studiendesign ebenfalls eine positive Wirksamkeit (z.B. Steingard et al., 1997). Eine retrospektive Untersuchung an jugendlichen Patientinnen mit Anorexia nervosa erbrachte keine bzw. nur eine geringe
126
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Wirksamkeit von SSRIs auf die Essproblematik und auf assoziierte Symptome wie depressive und zwanghafte Verhaltensweisen (Holtkamp et al., 2005). Weitere Studien mit größeren Patientengruppen fehlen jedoch für diesen Bereich. B.1.2.2.1.3
Selektive NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer
B.1.2.2.1.3.1 Maprotilin
Für den Kinder- und Jugendbereich liegen kaum empirisch gesicherte Daten vor. Im Erwachsenenbereich konnte jedoch in randomisierten Doppelblind-Studien für Maprotilin bei der Depressions-Behandlung eine ähnliche Wirksamkeit wie für SSRIs festgestellt werden (de Jonghe et al., 1991; Szegedi et al., 1997). B.1.2.2.1.3.2 Reboxetin
In mehreren offenen Kurzzeit-Studien (Mozes et al., 2005; Ratner et al., 2005; TehraniDoost et al., 2008) und einer ebenfalls unkontrollierten Follow-up-Studie über 18–36 Monate (Toren et al., 2007) wurde für Reboxetin eine positive Wirkung auf Symptome der ADHS und assoziierte Verhaltensweisen wie Aggressivität, Angst oder Depression festgestellt. Auch war Reboxetin effektiv bei der Enuresis-Behandlung. In einer Fall-Studie, in die Kinder mit ADHS und komorbider Enuresis eingeschlossen wurden, besserte sich die Einnäss-Symptomatik unter Reboxetin-Gabe (Toren et al., 2005). In einer offenen Untersuchung von Kindern und Jugendlichen mit therapieresistenter Enuresis sistierte die Symptomatik in 59 Prozent der Fälle unter Reboxetin-Monotherapie oder Kombinationstherapie mit Desmopressin (Néveus, 2006).
B.1.2.2.1.4
5-HT und NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer: Venlafaxin
Venlafaxin wurde in der klinischen Praxis bei der Behandlung depressiver Erkrankungen im Erwachsenenalter mit sehr gutem Erfolg eingesetzt (Weller et al., 2000). In MetaAnalysen, in die randomisierte kontrollierte Studien eingeschlossen waren, wurden für den Erwachsenenbereich signifikant höhere Remissionsraten unter Venlafaxin als unter SSRIs gesehen (z.B. Entsuah et al., 2001; Smith et al., 2002). In einer offenen Studie hatte sich Venlafaxin auch bei Jugendlichen mit Depression als antidepressiv wirksam gezeigt. Hingegen war in einer placebokontrollierten Studie mit 40 Kindern und Jugendlichen die Kombination mit „Venlafaxin plus Psychotherapie“ der Behandlung mit „Placebo und Psychotherapie“ nicht überlegen (Mandoki et al., 1997). Auch Emslie und Mitarbeiter (2007) konnten in zwei randomisierten, placebokontrollierten Multicenter-Studien keine Überlegenheit von Venlafaxin ER (Extended Release) gegenüber Placebo feststellen. Post-Hoc-Analysen zeigten jedoch eine deutlichere Verbesserung der „Children’s Depression Rating Scale-Revised“ bei Gabe des Verums im Vergleich zum Placebo in der Gruppe der Adoleszenten im Alter von 12–17 Jahren (p < 0,5), nicht jedoch in der Gruppe der jüngeren Kinder. Unter Venlafaxin traten häufiger suizidale und feindselige Gedanken auf, jedoch kam es in keinem Fall zu einem vollendeten Suizid. Bei der Behandlung der sozialen Phobie und generalisierten Angststörung im Kindes- und Jugendalter erbrachte Venlafaxin in randomisierten, kontrollierten Studien eine signifikant bessere Wirkung als eine Placebo-Medikation (March et al., 2007b; Rynn et al., 2007).
B.1 Antidepressiva
B.1.2.2.2
MAO-A-Hemmer: Moclobemid
Moclobemid zeigt eine gute Wirksamkeit in der Behandlung einer Depression oder Dysthymie im Erwachsenenalter (Woggon, 1993; Versiani et al., 1997). Für den Kindes- und Jugendbereich ist es jedoch kaum untersucht, es liegen nur einige Fallberichte und offene Studien vor. Dabei wurde bei der ADHS eine Verbesserung der Konzentrationsleistung und des Verhaltens beobachtet (Trott et al., 1992). In einer kleinen Patientengruppe von 20 Kindern und Jugendlichen war Moclobemid bei depressiver Symptomatik nach fünf Wochen Behandlung einem Placebo nicht signifikant überlegen (Avci et al., 1999). B.1.2.2.3
α2-Adrenozeptor-Antagonisten
B.1.2.2.3.1
Mianserin
Im Erwachsenenalter zeigt sich Mianserin zur Depressionstherapie in kontrollierten Studien wirksamer als Placebo und vergleichbar mit trizyklischen Antidepressiva (z.B. McGrath et al., 1985; Wilcox et al., 1994). Für den Kindes- und Jugendbereich liegen kaum empirisch gesicherte Daten vor. In einer offenen Studie zur Wirksamkeit von Mianserin bei depressiven Kindern und Jugendlichen wurde in einem Beobachtungszeitraum von 60 Tagen eine positive Wirksamkeit bei guter Verträglichkeit des Wirkstoffes berichtet (Dugas et al., 1985). B.1.2.2.3.2
Mirtazapin
Bei der Depressionsbehandlung im Erwachsenenalter wirkt Mirtazapin rasch und signifikant besser als ein Placebo (Bech, 2001). Für den Kindes- und Jugendbereich liegen kaum empirisch gesicherte Daten vor. Mirtazapin hat nach Ergebnissen aus offenen Studien (Schlamp, 1999; Haapasalo-Pesu et al., 2004) sowie aus eigenen klinischen Erfahrungen (Ch.W., A.W.) einen guten an-
127
tidepressiven Effekt bei kindlichen und jugendlichen Depressionen gezeigt. Bei Kindern und Jugendlichen mit sozialer Phobie konnte in einer offenen Pilotstudie eine signifikante Reduktion der Angstsymptomatik und der komorbiden depressiven Symptome unter Mirtazapin beobachtet werden (Mrakotsky et al., 2008). Zur Wirksamkeit bei Autismus-Spektrum-Störungen und anderen tiefgreifenden Entwicklungsstörungen liegt eine offene Untersuchung vor, in der Mirtazapin kaum die assoziierte Symptomatik wie beispielsweise Aggressionen, selbstverletzendes Verhalten, ängstliches und depressives Verhalten besserte (Posey et al., 2001). B.1.2.2.4
Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte
Für den Erwachsenenbereich sind die Ergebnisse zur Wirksamkeit von Johanniskrautextrakten gegenüber Standard-Antidepressiva und Placebo uneinheitlich (Werneke et al., 2004). Im Kindes- und Jugendalter wurden bisher keine kontrollierten Studien zur Depressionbehandlung veröffentlicht. In offenen Untersuchungen wird eine Wirksamkeit und gute Verträglichkeit beschrieben (Findling et al., 2003; Simeon et al., 2005). In einer placebokontrollierten Untersuchung zur Wirksamkeit bei ADHS im Kindes- und Jugendalter reduzierte Johanniskraut die Kernsymptome nicht besser als ein Placebo (Weber et al., 2008). B.1.2.3
Dosierungsempfehlungen
B.1.2.3.1
Monoamin-WiederaufnahmeHemmer
B.1.2.3.1.1
Trizyklische Antidepressiva
Die Aufdosierung sollte langsam durchgeführt werden (Cave: zu schnelle Aufdosie-
128
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
rung kann zu zerebralen Krampfanfällen führen). Mit einer niedrigen Dosis beginnend, kann diese je nach klinischer Wirkung alle vier bis fünf Tage gesteigert werden. In der Regel reicht aufgrund der längeren Halbwertszeiten von trizyklischen Antidepressiva eine Einmaldosis zur Nacht aus, wenn die Erhaltungsdosis erreicht ist. Sinnvoll ist es, im Fließgleichgewicht (Steady state) ein therapeutisches Drug-Monitoring (TDM, siehe Kap. A.2.3) durchzuführen. Die orientierenden therapeutischen Blut-Spiegelbereiche von Antidepressiva
bei Erwachsenen sind Tab. B.1.4 zu entnehmen. Eine Infusionsbehandlung erbringt keine gesicherten Vorteile gegenüber einer oralen Medikation und ist nur besonderen Indikationen vorbehalten. Die Absetzung der Medikation beziehungsweise die Umstellung auf ein anderes Antidepressivum (siehe Kap. B.1.3) muss langsam ausschleichend erfolgen. Cave: zu rasche Absetzung kann ein „Absetzungssyndrom“ mit häufig grippeähnlichem Bild provozieren: Fieber, vermehrtes Schwitzen,
Tab. B.1.4. Orientierende therapeutische Blut-Spiegelbereiche von Antidepressiva bei Erwachsenen (Baumann et al., 2004) Wirkstoff
ng/ml
Anwendung von TDM als RoutineUntersuchung
Amitriptylin plus Nortriptylin
89–200*
Sehr sinnvoll
Citalopram
30–130
Sinnvoll
Clomipramin plus Norclomipramin
175–450*
Sehr sinnvoll
Desipramin
100–300
Sinnvoll
Doxepin plus Nordoxepin
50–150*
Sinnvoll
Escitalopram
15–80
Wahrscheinlich sinnvoll
Fluoxetin plus Norfluoxetin
120–300
Sinnvoll
Fluvoxamin
150–300
Wahrscheinlich sinnvoll
Imipramin plus Desipramin
175–300*
Sehr sinnvoll
Maprotilin
125–200
Sinnvoll
Mianserin
15–70
Sinnvoll
Mirtazapin
40–80
Sinnvoll
Moclobemid
300–1000
Wahrscheinlich sinnvoll
Nortriptylin
70–170
Sehr sinnvoll
Paroxetin
70–120
Sinnvoll
Reboxetin
10–100
Wahrscheinlich sinnvoll
Sertralin
10–50
Sinnvoll
Tranylcypromin
0–50
Nicht empfohlen
Trazodon
650–1500
Sinnvoll
Trimipramin
150–350
Sinnvoll
Venlafaxin plus O-Desmethylvenlafaxin
195–400*
Sinnvoll
TDM, Therapeutisches Drug-Monitoring; *Konzentration der Summe der Muttersubstanz und aktive(r) Metabolite(n)
B.1 Antidepressiva
Kopf- und Muskelschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindelzustände und Ängste. Auch kann es nach plötzlicher Absetzung der Medikation innerhalb von ein bis zwei Tagen zu einer deutlichen Verschlechterung der Stimmungslage kommen. Überdosierung und Intoxikation mit trizyklischen Antidepressiva kann aufgrund kardialer UAWs zu Todesfällen führen. B.1.2.3.1.2
SSRIs
Die Aufdosierung erfolgt langsam, weil eine zu schnelle Aufdosierung zu einem pharmakogenen Delir führen kann. Dosiserhöhungen sollten nach Erreichung des Fließgleichgewichtes durchgeführt werden (ca. acht Wochen bei Fluoxetin, sonst eine Woche). Da Kinder SSRIs schneller resorbieren und metabolisieren als Erwachsene, können die notwendigen Dosierungen höher liegen als die für den Erwachsenenbereich empfohlenen. Ein TDM im Fließgleichgewicht (siehe Kap. A.2.3) ist für die meisten SSRIs sinnvoll (Tab. B.1.4). Bei den SSRIs ist eine einmalige Gabe am Morgen ausreichend. Eine Ausnahme stellt Fluvoxamin dar: es hat eine Plasmahalbwertszeit zwischen zehn und 22 Stunden und deshalb sind bei höheren Dosierungen zwei Tagesdosen sinnvoll. Eine antidepressive Wirkung der SSRIs zeigt sich in der Regel nach ein bis vier Wochen. Nach Remission wird generell empfohlen, die SSRI-Behandlung für weitere sechs bis neun Monate fortzuführen, eine Entscheidung ist jedoch individuell zu treffen. Für die Einnahme von Sertralin gilt, dass es zu den Mahlzeiten eingenommen werden sollte; dabei sollte das gleichzeitige Trinken von Grapefruitsaft vermieden werden. Fluvoxamin-Tabletten sollten für die bessere Resorption unzerkaut geschluckt werden und auch hier sollte gleichzeitiges Trinken von Grapefruitsaft vermieden werden.
129
Die Absetzung und Umstellung der Medikation sind langsam vorzunehmen. Dies gilt insbesondere für die SSRIs mit einer kurzen Plasmahalbwertszeit (z.B. Fluvoxamin). Plötzliche Absetzung der Medikation können zu Schwindel, Gangstörungen, gastrointestinalen Beschwerden, Sensibilitätsstörungen und Verschlechterung der psychischen Befindlichkeit führen, weshalb SSRIs schrittweise reduziert werden sollen (nicht um mehr als 25% der Dosis wöchentlich). In der Behandlung der Zwangsstörung und der Bulimie sind höhere Tagesdosen als bei der Depressionsbehandlung nötig. Die Toxizität von SSRIs ist bei Überdosierung und Intoxikation als insgesamt gering einzustufen. Bei Überdosierung kann es zu Übelkeit, Erbrechen, Antriebssteigerung, Erregung, Tachykardie und sehr selten auch zu Krampfanfällen kommen. Todesgefahr besteht bei extrem hohen Dosen wie z.B. 6000 mg Fluoxetin. B.1.2.3.1.3
Selektive NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer
B.1.2.3.1.3.1 Maprotilin
Maprotilin sollte individuell, in geringer Dosis beginnend langsam auftitriert werden. Bei jungen Schulkindern können zweibis dreimal täglich 10 mg gegeben werden. Zur Behandlung der Enuresis nocturna sollte die erste Gabe gegen 17 Uhr erfolgen, die zweite unmittelbar vor dem Schlafengehen. Bei älteren Schulkindern und Jugendlichen wird empfohlen, die Initialdosis von 25–50 mg auf 50–150 mg aufzudosieren, die Maximaldosis beträgt 200 mg täglich. Generell wird eine zweimalige Gabe pro Tag empfohlen, eine einmalige Einnahme ist jedoch aufgrund der langen Halbwertszeit möglich. Auch kann Maprotilin als Infusionstherapie eingesetzt werden. In einer Untersuchung zur Toxizität verschiedener Antidepressiva wurde der „fatale
130
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Toxizitäts-Index“ (= f-Index) bestimmt, der aussagt, wie viele letale Intoxikationen es pro einer Million verordneter, definierter Tagesdosen (zwischen 1991 und 1997 in Wien) gab (Frey et al., 2002). Dabei war der f-Index für Maprotilin niedriger als für einige trizyklische Antidepressiva, wie z.B. Doxepin. B.1.2.3.1.3.2 Reboxetin
Die Medikation bei Erwachsenen mit Reboxetin sollte nach Angaben in der Fachinformation mit einer Initialdosis von 2–4 mg/ Tag beginnen. Eine Standarddosis von 4–8 mg sollte auf zwei Gaben verteilt werden. Es wird empfohlen, die Maximaldosis von 12 mg nicht zu überschreiten. B.1.2.3.1.4
5-HT und NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer: Venlafaxin
Venlafaxin sollte langsam aufdosiert werden. Die Anfangsdosis beträgt ein- bis zweimal 37,5 mg täglich. Bei nicht eintretender Wirksamkeit sollte die Tagesdosis jeden zweiten bis dritten Tag schrittweise um 37,5 mg erhöht werden. Die Tageshöchstdosis liegt bei Erwachsenen bei 375 mg pro Tag. Auch Venlafaxin sollte nicht plötzlich und abrupt abgesetzt werden. Absetzungsphänomene können Schwindel, Kopfschmerzen, Schlafstörung sowie eine allgemeine Schwäche und Nervosität sein. Empfohlen wird daher, das Präparat über einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen auszuschleichen. Durch die Gabe eines Retardpräperates lässt sich die Rate an UAWs reduzieren. Aber auch bei plötzlicher Absetzung des Retardpräparates kann es zu den oben genannten Absetzungsphänomenen kommen.
B.1.2.3.2
MAO-A-Hemmer: Moclobemid
Für Moclobemid sollte eine Anfangsdosis um 150 mg pro Tag gewählt werden. Bei einigen Kindern und Jugendlichen kommt es unter dieser Dosierung schon zur Symptomverbesserung. Die meisten Patienten benötigen jedoch eine Tagesdosis zwischen 300 und 450 mg pro Tag, die in zwei Gaben nach den Mahlzeiten verabreicht wird. Eine spezielle Diät muss bei der antidepressiven Therapie mit Moclobemid im Gegensatz zur Behandlung mit dem nicht-selektiven Hemmstoff Tranylcypromin nicht eingehalten werden. Im Erwachsenenbereich zeigten sich bei der Dosierung bis 600 mg pro Tag keine dramatischen Blutdrucksteigerungen. Bei einem ausgeprägten Konsum Tyramin-haltiger Lebensmittel (z.B. bestimmte Käsesorten oder auch Sauerkraut) kann es jedoch zu vorübergehenden Kopfschmerzen kommen. Moclobemid zeigte einen niedrigen fatalen Toxizitäts-Index, also eine im Vergleich z.B. zu einigen trizyklischen Antidepressiva relativ geringe Anzahl von Intoxikationen pro Million verordneter, definierter Tagesdosen (Frey et al., 2002). B.1.2.3.3
α2-Adrenozeptor-Antagonisten
B.1.2.3.3.1
Mianserin
Mianserin sollte mit einer Initialdosis von 10–30 mg/Tag langsam aufdosiert werden. Bei jungen Schulkindern können zwei- bis dreimal 10 mg täglich gegeben werden, bei älteren Schulkindern und Jugendlichen liegt die Standarddosis bei 30–90 mg. Die Einnahme erfolgt in drei Gaben. Aufgrund der sedierenden Wirkung empfiehlt sich dabei eine höhere Abenddosis. Mianserin zeigte einen niedrigen fatalen Toxizitäts-Index, also eine im Vergleich z.B. zu einigen trizyklischen Antidepressiva relativ geringe Anzahl von Intoxikationen pro
B.1 Antidepressiva
Million verordneter, definierter Tagesdosen (Frey et al., 2002). B.1.2.3.3.2
Mirtazapin
Mirtazapin sollte beginnend mit einer Dosis von 15 mg pro Tag langsam auf 45 mg aufdosiert werden. Kinder und Jugendliche können mit der 15-mg-Dosis schon befriedigende klinische Verbesserungen zeigen. Da Mirtazapin eine deutliche Sedierung hervorrufen kann, hat sich eine einmalige Abenddosierung bewährt. Bei höheren Dosen ist eine zweimal tägliche Gabe möglich. Bei Mirtazapin besteht auch die Möglichkeit einer Infusionsbehandlung. Besonders bei einer bestehenden Hypotonie sollte sehr vorsichtig und einschleichend dosiert werden. B.1.2.3.4
Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte
Nach der Fachinformation kann eine antidepressive Therapie „soweit nicht anders verordnet“ bei Kindern und Jugendlichen über 12 Jahren mit Johanniskraut-Trockenextrakt dreimal täglich 300 mg erfolgen. Nach Gabe einer initialen Dosis von 300 mg/Tag kann bei ausbleibender Wirkung die Dosis schrittweise auf 300–900 mg erhöht und auf drei Gaben täglich verteilt werden. B.1.2.4
UAWs
Das Ausmaß der Blockade der Wiederaufnahmesysteme verschiedener Monoamine (5-HT und Noradrenalin, aber auch Dopamin) und der Antagonisierung zentraler und peripherer Neurotransmitter-Rezeptoren (Tab. B.1.2) prägt das Bild der unter der Therapie mit Antidepressiva auftretenden gewünschten Wirkungen und UAWs. So ergeben sich klassenspezifische Profile der gewünschten klinischen Effekte, aber auch
131
der UAWs. In Tab. B.1.5 sind diese dem pharmakodynamischen Profil gegenübergestellt. B.1.2.4.1
Monoamin-WiederaufnahmeHemmer
B.1.2.4.1.1
Trizyklische Antidepressiva
In Tab. B.1.5 sind unter der Therapie mit trizyklischen Antidepressiva auftretende UWAs zusammengefasst. Diese Wirkstoffklasse zeigt eine geringe therapeutische Breite und ein gegenüber anderen Antidepressiva-Klassen erhöhtes Risiko für einen letalen Ausgang bei Intoxikationen (Henry et al., 1995; Shah et al., 2001). Deshalb sollten besonders bei Hinweisen auf eine Suizidalität keine maximalen Dosen rezeptiert und die Betreuung intensiviert (z.B. stationäre Behandlung) werden. Bei Überdosierung verstärken sich in der Regel die bekannten unerwünschten anticholinergen Wirkungen. Hinzukommen können bei Überdosierung Übererregung, Myoklonien, Halluzinationen, Atemdepression bis hin zu Krampfanfällen. Herzrhythmusstörungen können auftreten, die einer intensiv-medizinischen Behandlung mit Monitorüberwachung bedürfen. Kardial kann es zu Verbreiterung des QRS-Komplexes kommen. Auftreten kann auch ein zentrales anticholinerges Syndrom: symptomatisch kommt es zu zentralem Fieber, Mydriasis, Miktionsstörung (bis hin zum Harnverhalt), Obstipation (bis hin zum paralytischen Ileus) und Herzrhythmusstörungen mit Tachykardie. Psychopathologisch zeigen die Patienten Orientierungsstörungen, massive Erregung bis hin zu deliranten Symptomen, Sinnestäuschungen sowie optischen und akustischen Halluzinationen. Bei Verschlechterung des Zustandsbildes kann es zu Krampfanfällen bis hin zu Somnolenz und Koma kommen. Die Therapie besteht in der sofortigen Absetzung der anticholinerg wirkenden
132
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Tab. B.1.5. Vergleich der pharmakodynamischen Effekte von Antidepressiva mit gewünschten klinischen und arzneistoffspezifischen unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) (nach Bezchlibnyk-Butler und Virani, 2007) Effekt
Klinische Wirkung
UAWs
Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmung
Antidepressiv
Tremor, Tachykardie, Unruhe, Schwitzen, Blutdrucksteigerung, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Erektions- bzw. Ejakulationsstörungen
Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmung
Antidepressiv, positiv bei Angst- und Zwangsstörungen
Gastrointestinale Probleme, Übelkeit, Erbrechen, Appetitminderung, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Schwitzen, innere Unruhe, Nervosität, Akathisie, sexuelle Funktionsstörungen
Dopamin-Wiederaufnahme-Hemmung
Antidepressiv, positiv bei ADHS
Erregung, Unruhe, Antriebssteigerung
Blockade des muscarinischen AcetylcholinRezeptors
Möglicherweise antidepressiv
Obstipation, Harnretention, Verschwommensehen, Verwirrtheit, Gedächtnisstörungen, Sinustachykardie, QRS-Veränderungen
Blockade des serotoninergen 5-HT1-Rezeptors
Antidepressiv, anxiolytisch, antiaggressiv
Blockade des serotoninergen 5-HT2-Rezeptors
Antidepressiv, anxiolytisch, antipsychotisch, positiv bei Migräne und Schlafstörungen
Hypotonie, Ejakulationsstörungen, Sedierung, Gewichtszunahme
Blockade des DopaminD2-Rezeptors
Antipsychotisch
Extrapyramidal-motorische UAWs, endokrine Veränderungen, sexuelle Funktionsstörungen
Blockade des histaminergen H1-Rezeptors
Keine
Sedierung, Gewichtszunahme, orthostatische Hypotonie
Blockade des adrenergen α1-Rezeptors
Keine
Orthostatische Hypotonie, Schwindel, reflektorische Tachykardie, Sedierung
Blockade des adrenergen α2-Rezeptors
Antidepressiv
Sexuelle Dysfunktion, Priapismus
Hemmung der Monoamin-Oxidase, Typ A
Antidepressiv
Mundtrockenheit, Schwindel, Kopfschmerzen, Sedierung, Übelkeit, Hautveränderungen
Arzneistoffe. Die Patienten sollten intensiv-medizinisch überwacht werden. Bei ausgeprägter Symptomatik kann 2–4 mg Physostigmin intramuskulär (i.m.) oder intravenös (i.v.) verabreicht werden. Diese Maßnahme bedarf in jedem Fall einer intensiv-medizinischen Behandlung mit Monitorüberwachung.
Die unter der Therapie mit trizyklischen Antidepressiva vorkommenden UAWs können durch folgende Maßnahmen vermieden oder im Schweregrad abgemildert werden: •
Ableitung eines EKGs vor Behandlungsbeginn und bei Erreichung der therapeutisch wirksamen Dosis.
B.1 Antidepressiva
• •
•
•
•
•
Verwendung von Retardpräparaten. Falls möglich, Dosisreduktion bei ausgeprägten Tachykardien oder Gabe eines β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker) wie z.B. Metoprolol. Keine Gabe von deutlich antriebssteigernden Arzneistoffen (z.B. Desipramin) am Abend. Vermehrtes Trinken oder Lutschen von zuckerfreien Bonbons oder Kaugummi bei Mundtrockenheit. In Einzelfällen Gabe von Pilocarpin (10–15 mg/Tag). Vermehrte Flüssigkeitszufuhr bei Obstipation. Zusätzlich sollte man auf die Ernährung achten (z.B. vermehrter Konsum von Joghurt, Sauerkraut, Pflaumen etc.). Vorsicht bei Hinweisen für einen paralytischen Ileus, eine mögliche Maßnahme ist die Gabe von Carbachol 1–4 mg/Tag p.o. Gabe von Carbachol (1–4 mg/Tag) oder ACh-Esterase-Hemmstoffen (z.B. Distigmin, 2,5–5 mg/Tag) bei Miktionsstörungen, bei akutem Harnverhalt Gabe von 0,25 mg Carbachol i.m. oder s.c.
B.1.2.4.1.2
SSRIs
SSRIs sind gut verträgliche Arzneistoffe, die in den bisher durchgeführten klinischen Studien nur wenig gravierende UAWs zeigten. Diese treten verstärkt zu Beginn der Therapie auf und können sich im Verlauf wieder legen. Die wichtigsten UAWs sind: Kopfschmerzen, Appetitlosigkeit, Übelkeit, Diarrhoe, Gewichtsabnahme, Mundtrockenheit, Schwitzen, sexuelle Funktionsstörungen, allergische Reaktionen oder gelegentlich extrapyramidal-motorische Störungen. SSRIs können bei bipolarer affektiver Erkrankung eine manische Episode auslösen. Kardiale UAWs treten im Gegensatz zu trizyklischen Antidepressiva selten auf. Unter Paroxetin wurden vereinzelt Leberfunktionsstörungen beobachtet. SSRIs weisen keine sedierende Wirkung auf, sondern zeigen einen aktivierenden Ef-
133
fekt, möglicherweise mit Agitiertheit, Ruhelosigkeit, Schlafstörungen, Irritabilität und sozialer Enthemmung. Aus diesem Grund wird die Medikation als Einmalgabe am Morgen empfohlen Aufgrund der antriebssteigernden Wirkung der SSRIs und der dadurch oft befürchteten erleichterten Umsetzung suizidaler Impulse, ergab sich in den letzten Jahren wegen einiger Publikationen eine kontroverse Debatte zu einer vermeintlich erhöhten Suizidalität unter SSRIs. Ausgangspunkt für die Diskussion war eine Meta-Analyse der amerikanischen Zulassungsbehörde Food and Drug Administration (FDA), in die 24 placebokontrollierte Studien zum Einsatz von neun verschiedenen Antidepressiva im Kindes- und Jugendalter eingeschlossen wurden. Unter SSRIs wurde in dieser MetaAnalyse ein fast zweifach erhöhtes Risiko suizidaler Ereignisse berichtet. Die englische Zulassungsbehörde „Medicines and Healthcare Products Regulatory Agency“ (MHRA) sprach daraufhin eine explizite Kontraindikation für den Einsatz von Paroxetin bei Minderjährigen aus, die FDA in den USA beschränkte sich auf die Empfehlung, Paroxetin nicht bei depressiven Kindern und Jugendlichen einzusetzen. Im Rahmen der SSRI-Debatte wurde in einigen nachfolgenden Untersuchungen und Meta-Analysen von einer Zunahme suizidalen Verhaltens besonders unter Paroxetin und Venlafaxin berichtet (z.B. Apter et al., 2006; Hetrick et al., 2007). In anderen Veröffentlichungen konnte ein solcher Zusammenhang nicht gefunden werden oder es zeigte sich eine Abnahme von suizidalen Gedanken und Selbstverletzungen unter Medikation mit SSRIs (z.B. Wong et al., 2004; Isacsson et al., 2005; Gibbons et al., 2006; March et al., 2006; Zuckerman et al., 2007; Goodyer et al., 2008). Nach einer wiederholten Analyse der SSRI-Daten konnte bei der Therapie von
134
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
kindlichen und jugendlichen Depressionen, von Angst- und Zwangserkrankungen ein günstiges Nutzen-Risiko-Profil der SSRIs festgestellt werden (Whittington et al., 2004; Hammad et al., 2006). In den Studien fanden sich keine vollendeten Suizide unter Medikation. Fluoxetin, gefolgt von Sertralin und Citalopram weisen nach der Meta-Analyse der FDA von den SSRIs die niedrigsten relativen Risiken für eine Zunahme suizidaler Gedanken und parasuizidaler Handlungen auf. In den aktuellsten Meta-Analysen wurde kein erhöhtes Risiko für suizidale Gedanken und Handlungen unter Fluoxetin, Citalopram, Sertralin und auch unter Paroxetin, das zuvor kritisch bewertet worden war (Übersicht: Fegert und Herpertz-Dahlmann, 2005), beschrieben. Das Suizidrisiko für diese Antidepressiva wurde bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen auf unter ein Prozent geschätzt (Pössel und Hautzinger, 2006; Bridge et al., 2007). B.1.2.4.1.3
Selektive NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer
Unter Maprotilin ist die Anfallsbereitschaft höher als bei anderen Antidepressiva. B.1.2.4.1.3.2 Reboxetin
Unter der Medikation mit Reboxetin ist ein Schwindelgefühl möglich sowie Schlafstörungen, Agitiertheit und Nervosität. Häufig beschreiben Patienten eine Mundtrockenheit und Miktionsbeschwerden. Zusätzlich können kardiovaskuläre (Tachykardie, Hypotonie, Schwindel) und gastrointestinale UAWs (Obstipation oder Diarrhoe, Übelkeit, Erbrechen), sexuelle Funktionsstörungen und vereinzelt epileptische Anfälle auftreten. B.1.2.4.1.4
5-HT und NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer: Venlafaxin
UAWs bei der Therapie mit Venlafaxin sind Sedierung, Schlafstörung, gastrointestinale Beschwerden, Blutdruckanstieg, Schwindel, sexuelle Dysfunktion und Kopfschmerzen. Aber auch eine vermehrte Agitiertheit und erhöhte Nervosität werden beschrieben. Selten zeigen sich Mundtrockenheit, Schwitzen, Harnretension und Obstipation.
B.1.2.4.1.3.1 Maprotilin
Unter der Behandlung mit Maprotilin ist besonders zu Therapiebeginn die Reaktionsfähigkeit durch eine starke Sedierung eingeschränkt. Deshalb empfiehlt sich eine abendliche Einnahme. UAWs unter der Therapie mit Maprotilin können Gewichtszunahme, Mundtrockenheit und gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Diarrhoe etc. sein. Autonome UAWs sind bei der Medikation mit Maprotilin nur wenig seltener als bei trizyklischen Antidepressiva. Es wird dabei von Schwindel, Akkomodationsstörungen, Miktionsstörungen sowie orthostatischer Hypotonie berichtet.
B.1.2.4.2
MAO-A-Hemmer: Moclobemid
Unter einer Therapie mit Moclobemid wurden als UAWs Mundtrockenheit, Schwindel, Hypotonie, Kopfschmerzen, eine vermehrte Müdigkeit oder Übelkeit beschrieben. Selten verursacht Moclobemid Juckreiz, Hautausschlag oder ein Hitzegefühl. Bei Patienten mit bipolarer affektiver Störung kann Moclobemid eine manische Symptomatik auslösen. Bei Patienten mit schizophrener Psychose kann die Symptomatik verstärkt werden. Aufgrund der Antriebssteigerung unter Moclobemid müssen depressive Patienten mit suizidalen Impulsen zu Beginn
B.1 Antidepressiva
der Symptomatik engmaschig überwacht werden. B.1.2.4.3
α2-Adrenozeptor-Antagonisten
B.1.2.4.3.1
Mianserin
Unter der Behandlung mit Mianserin ist besonders zu Therapiebeginn die Reaktionsfähigkeit durch eine starke Sedierung eingeschränkt. Deshalb empfiehlt sich eine abendliche Einnahme. UAWs unter der Therapie mit Mianserin können Gewichtszunahme, Mundtrockenheit und gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Diarrhoe etc. sein. Weiterhin können eine orthostatische Hypotension, Tremor, Dyskinesien, Leberfunktionsstörungen, Blutbildveränderungen (Leukopenie, Agranulozytose, Thrombopenie), eine erhöhte Anfallsbereitschaft, Gynäkomastie, Exantheme, Ödeme sowie Gelenkschmerzen und -schwellungen auftreten. B.1.2.4.3.2
Mirtazapin
Unter der Behandlung mit Mirtazapin ist besonders zu Therapiebeginn die Reaktionsfähigkeit durch eine starke Sedierung eingeschränkt. Deshalb empfiehlt sich eine abendliche Einnahme. UAWs unter der Therapie mit Mirtazapin können Gewichtszunahme, Mundtrockenheit und gastrointestinale Beschwerden wie Übelkeit, Diarrhoe etc. sein. Selten finden sich unter Mirtazapin Schlafstörungen, Unruhe und Übererregbarkeit. Im Unterschied zu den trizyklischen Antidepressiva und den SSRIs sollen Mirtazapin und Mianserin nicht zu ausgeprägten sexuellen Funktionsstörungen führen.
135
B.1.2.4.4 Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte
Unter Behandlung mit Johanniskrautextrakten können allergische Hautreaktionen, eine vermehrte Müdigkeit oder selten eine Unruhe auftreten. Vor allem bei hellhäutigen Personen, die starker Sonnenbestrahlung ausgesetzt sind, können durch Photosensibilisierung sonnenbrandähnliche Reaktionen hervorgerufen werden. B.1.2.5
Arzneimittelwechselwirkungen
Die wichtigsten Wechselwirkungen zwischen den Antidepressiva und anderen Arzneimitteln finden auf der Ebene der Biotransformation statt, wo CYP-Enzyme (siehe Kap. A.2.2.1) eine wesentliche Rolle spielen. Antidepressiva haben alle, soweit bisher bekannt ist, eine hemmende Wirkung auf die CYP-Enzyme (Tab. B.1.6), während z.B. Antiepileptika diese sowohl hemmen als auch stimulieren können. Eine Hemmung der Enzyme des CYP-Systems führt zu einem langsameren Abbau des jeweiligen Wirkstoffes mit der Folge, dass zum Beispiel die Plasmaspiegel in den toxischen Bereich ansteigen und so verstärkt UAWs auftreten können. Andererseits führen Enzyminduktoren zu einer schnelleren Biotransformation der verabreichten Pharmaka. Wird der Enzyminduktor wieder abgesetzt und nicht gleichzeitig die Dosis des zusätzlich applizierten Pharmakons reduziert, besteht wegen des abklingenden Induktionseffektes die Gefahr einer unter Umständen gefährlichen Überdosierung. Mittels eines TDM (siehe Kap. A.2.3) kann der Serum-/Plasmaspiegel bei Beginn einer Ko-Medikation überwacht werden.
136
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Tab. B.1.6. Einfluss von Antidepressiva auf Cytochrom-P450-(CYP-)Enzyme (nach Mula und Trimble, 2003) Wirkstoff
CYP1A2
Fluoxetin Paroxetin Citalopram Sertralin Fluvoxamin Venlafaxin Reboxetin Amitriptylin Clomipramin Imipramin Moclobemid Mianserin Trazodon Mirtazapin Nefazodon
CYP2C9/10/19
CYP2D6
CYP3A4
, Enzym-Hemmung Dort wo ein Freiraum ist, ist die Wirkung nicht bekannt
B.1.2.5.1
Monoamin-WiederaufnahmeHemmer
B.1.2.5.1.1
Trizyklische Antidepressiva
Die Tab. B.1.7 fasst mögliche Wechselwirkungen trizyklischer Antidepressiva mit anderen Wirkstoffen zusammen. B.1.2.5.1.2
SSRIs
In Tab. B.1.8 sind mögliche Wechselwirkungen zwischen SSRIs und Arznei-, Nahrungs-, Genuss- und Suchtmitteln sowie die daraus resultierenden klinischen Effekte zusammengestellt. Um eine seltene, aber bedrohliche UAW beziehungsweise Wechselwirkung kann es sich beim Serotonin-Syndrom handeln. Hier kommt es zu einer zentralen serotoninergen Überaktivität. Dieses Syndrom stellt eine lebensbedrohliche Komplikation dar. Lebensbedrohlich wird es dann, wenn Herzrhythmusstörungen, Krampfanfälle bis hin zu komatösen Erscheinungen auftreten. Die
Therapie besteht in der sofortigen Absetzung der Medikation. Besondere Beachtung gilt hier dem Fluoxetin aufgrund des aktiven Metaboliten und der dadurch langen Halbwertszeit. Aufgrund des starken Fiebers sollten die Patienten gekühlt werden, es sollte auch auf ausreichendes Trinken geachtet werden und wenn nötig eine Infusionsbehandlung durchgeführt werden. In Einzelfällen bedarf es einer intensiv-medizinischen therapeutischen Maßnahme. Medikamentös kann man Methysergid in ansteigender Dosierung verordnen. B.1.2.5.1.3
Selektive NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer
B.1.2.5.1.3.1 Maprotilin
Zu möglichen Arzneimittelwechselwirkungen im Kindes- und Jugendalter liegen bisher nur wenige Erfahrungen vor. Bei der Kombination von Maprotilin mit psychotropen Substanzen wie Alkohol und Benzodiazepi-
B.1 Antidepressiva
137
Tab. B.1.7. Für den Kindes- und Jugendbereich relevante Wechselwirkungen von trizyklischen Antidepressiva (modifiziert nach Bandelow et al., 2006) Wechselwirkung mit
Auswirkungen
anderen Antidepressiva
Erhöhung der Plasmaspiegel der trizyklischen Antidepressiva und deren UAWs. Verstärkung der antidepressiven Wirkung.
Anticholinergika
Erhöhung der Plasmaspiegel, Verlängerung der Überleitungszeit, Verstärkung anticholinerger Effekte.
Antikoagulanzien
Verstärkung der gerinnungshemmenden Wirkung mit Blutungsneigung.
Alkohol
Verstärkung z.B. dämpfender Wirkungen mit Sedierung.
Antikonvulsiva wie z.B. Carbamazepin, Valproinsäure
Carbamazepin: Erniedrigung der Antidepressiva-Plasmaspiegel Valproinsäure: Erhöhung der Antidepressiva-Plasmaspiegel.
Cannabis
Besonders kardiale Wirkungen: mit Tachykardie bis hin zu Stimmungslabilität, Verwirrtheitszustände und delirante Zustände.
Insulin
Verminderte Insulinsensitivität möglich.
Hypnotika, z.B. Benzodiazepine
Verstärkung von Sedierung und Reaktionszeitverlängerung bis hin zu Atemdepression.
Kalziumantagonisten
Verminderung der antihypertensiven Effekte.
Kontrazeptiva
Erhöhung der Plasmaspiegel der trizyklischen Antidepressiva.
Lithiumsalz-Präparate
Verstärkung der antidepressiven Wirkung möglich.
Methylphenidat
Verminderung des Abbaus mit Anstieg der Plasmaspiegels der trizyklischen Antidepressiva möglich.
Neuroleptika
Verstärkung anticholinerger Wirkungen, Anstieg der Plasmaspiegel der Neuroleptika, QT-Verlängerung möglich.
Rauchen
Induktion von CYP1A2 mit Erniedrigung der Plasmaspiegel.
Sympathomimetika (z.B. Anästhetikum)
Verstärkung des Blutdruckes und des Pulses.
nen können sich sedierende Effekte deutlich verstärken. Für selektive Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer typische UAWs sind in der Tab. B.1.9 zusammengefasst.
B.1.2.5.1.3.2 Reboxetin
Für selektive Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer typische Arzneimittelwechselwirkungen sind in der Tab. B.1.9 zusammengefasst.
B.1.2.5.1.4
5-HT und NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer: Venlafaxin
Für 5-HT- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer typische Arzneimittelwechselwirkungen sind in der Tab. B.1.10 zusammengefasst. B.1.2.5.2
MAO-A-Hemmer: Moclobemid
Tabelle B.1.11 fasst Wechselwirkungen zwischen Moclobemid und für die Kinder- und
138
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Tab. B.1.8. Für den Kindes- und Jugendbereich relevante Wechselwirkungen von selektiven SerotoninWiederaufnahme-Hemmern (SSRIs) und Arznei-, Sucht-, Genuss- und Nahrungsmitteln (modifiziert nach Bandelow et al., 2006) Wechselwirkung mit
Auswirkungen
anderen Antidepressiva
Erhöhung der Plasmakonzentrationen trizyklischer Antidepressiva (gilt insbesonders für Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin; in höheren Dosierungen auch bei Sertralin). Verstärkung der antidepressiven Wirkung, aber auch der möglichen UAWs.
Antikonvulsiva (Carbamazepin, Phenytoin, Valproinsäure)
Erhöhung der Plasmakonzentrationen von Carbamazepin und Phenytoin, Erniedrigung der Plasmakonzentrationen der SSRIs, häufig gastrointestinale Probleme bei der Kombination von Fluvoxamin und Carbamazepin Erhöhung der Valproinsäure-Plasmakonzentrationen, insbesondere in der Kombination mit Fluoxetin.
Alkohol
Verstärkung sedierender UAWs.
Benzodiazepinen
Erhöhung der Plasmakonzentrationen der Benzodiazepine, insbesonders in der Kombination mit Fluvoxamin und Fluoxetin; Verstärkung UAWs wie Sedierung, Antriebssteigerung und Gedächtnisstörung.
β-AdrenozeptorAntagonisten (β-Blocker)
Steigerung der Wirkung, dadurch auch Anstieg der UAWs wie Ohnmachtsanfälle, Bradykardie, Antriebsstörung.
Cannabis
Verstärkung der Antriebsstörung möglich.
Grapefruitsaft
Erhöhung der Plasmakonzentrationen von Sertralin und Fluvoxamin.
Insulin
Verstärkung der Insulinempfindlichkeit (Hypoglykämien möglich).
Koffein
Bei übermäßigem Genuss, insbesondere in der Kombination mit Fluvoxamin deutlich erhöhte Koffein-Plasmakonzentrationen; UAWs wie Unruhe, Zittern, Schlafstörung möglich.
LithiumsalzPräparaten
Eventuell Erhöhung der Lithium-Plasmakonzentration; mögliche Verstärkung der UAWs bei Kombination mit Fluoxetin und Fluvoxamin, Schwindel, Kopfschmerzen und Krampfanfälle möglich; Bei Kombination mit Sertralin und Paroxetin vermehrt Tremor, Zittern und Übelkeit. Steigerung der antidepressiven Wirkung möglich.
Neuroleptika
Steigerung der Neuroleptika-Plasmakonzentrationen, dies gilt besonders bei Kombination mit Clozapin oder Fluvoxamin und in vermindertem Maß auch für die Kombination mit Fluoxetin; vermehrt Steigerung der extrapyramidal-motorischen UAWs möglich. Verbesserung einer möglichen Negativ-Symptomatik bei Psychosen. Additive Wirkverstärkung bei der Behandlung von Zwangserkrankungen möglich.
Psychostimulanzien
Verstärkte Wirkung bei der Behandlung von Depressionen, Dysthymie, Zwangserkrankung und ADHS.
Rauchen
Verminderung der Plasmakonzentrationen, gilt besonders für Fluvoxamin.
Jugendpsychiatrie relevante Arznei-, Nahrungs- und Suchtmittel zusammen.
B.1.2.5.3
α2-Adrenozeptor-Antagonisten
B.1.2.5.3.1
Mianserin
Zu möglichen Arzneimittelwechselwirkungen im Kindes- und Jugendalter liegen bis-
B.1 Antidepressiva
139
Tab. B.1.9. Für den Kindes- und Jugendbereich relevante Wechselwirkungen selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer mit Arznei-, Sucht- und Genussmitteln (modifiziert nach Bandelow et al., 2006) Wechselwirkung mit
Auswirkungen
anderen Antidepressiva
Interaktionen in den CYP3A4-(und CYP2D6-)Systemen und damit Erhöhung der Plasmakonzentrationen möglich.
Lithiumsalz-Präparaten
Engmaschige Überwachung der Therapie notwendig, da keine Studien vorliegen.
Neuroleptika
Interaktionen in den CYP3A4-(und CYP2D6-)Systemen und damit Erhöhung der Plasmakonzentrationen möglich (z.B. Risperidon, Clozapin).
ZNS-dämpfenden Wirkstoffen wie Sedativa, Hypnotika, Schmerzmittel, Alkohol
Eventuell orthostatische Erhöhung der Herzfrequenz. Kein Hinweis für verstärkte Alkoholwirkung.
Tab. B.1.10. Für den Kindes- und Jugendbereich relevante Wechselwirkungen von Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmern (z.B. Venlafaxin) mit anderen Wirkstoffen (nach Bandelow et al., 2006) Wechselwirkung mit
Auswirkungen
anderen Antidepressiva
Verstärkung der antidepressiven Wirkung, aber auch mögliche Erhöhung von UAWs (Serotonin-Syndrom).
Anticholinergika
Verstärkung von anticholinergen UAWs möglich.
Lithiumsalz-Präparaten
Fallbericht über Serotonin-Syndrom.
Neuroleptika
Erhöhung der Plasmaspiegel möglich.
Psychostimulanzien
Fallbericht über Serotonin-Syndrom (Amphetamin).
Tab. B.1.11. Für den Kindes- und Jugendbereich relevante Wechselwirkungen von Moclobemid mit anderen Arzneistoffen (modifiziert nach Bandelow et al., 2006) Wechselwirkung mit anderen Antidepressiva: Trizyklische Antidepressiva SSRIs
Auswirkungen Steigerung der Plasmakonzentrationen der Antidepressiva möglich. Zunahme von UAWs wie Gewichtszunahme, Hypotonie und anticholinergen Wirkungen (z.B. Harnverhalt). Steigerung von UAWs wie Schlafstörungen, Kopfschmerzen. Bei Kombination mit Fluoxetin und Fluvoxamin kann der Abbau von Moclobemid verzögert werden: deshalb Verstärkung serotoninerger UAWs möglich.
Antiphlogistika
Die Wirkung von z.B. Ibuprofen kann deutlich gesteigert werden.
Lithiumsalz-Präparaten
Steigerung antidepressiver Wirkung möglich.
L-Tryptophan
Steigerung serotoninerger UAWs mit Gefahr des Auftretens eines Serotonin-Syndroms.
Sympathomimetika
Steigerung des Blutdrucks mit Gefahr des Auftretens einer hypertensiven Krise möglich.
140
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
her nur wenige Erfahrungen vor. Bei der Kombination von Mianserin mit psychotropen Substanzen wie Alkohol und Benzodiazepinen können sich sedierende Effekte deutlich verstärken. Der Mianserin-Plasmaspiegel kann bei gleichzeitiger Gabe von Induktoren des CYP3A4-Systems (wie z.B. Phenytoin, Carbamazepin oder Phenobarbital) absinken. Durch Hemmung von CYP3A4 (z.B. durch Erythromycin) dagegen steigt die Mianserin-Plasmakonzentration an. B.1.2.5.3.2
B.1.2.5.4
Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte
Für den kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich relevante Interaktionen wurden für Theophyllin und Midazolam beobachtet. Bei gleichzeitiger Einnahme von Paroxetin oder Sertralin kann deren Wirksamkeit verstärkt werden. Wird gleichzeitig mit anderen photosensibilisierenden Arzneimitteln therapiert, kann die phototoxische Wirkung von Johanniskraut verstärkt werden. Bei Anwenderinnen oraler hormoneller Kontrazeptiva können Zwischenblutungen auftreten.
Mirtazapin
Zu möglichen Arzneimittelwechselwirkungen im Kindes- und Jugendalter liegen bisher nur wenige Erfahrungen vor. Bei der Kombination von Mirtazapin mit psychotropen Substanzen wie Alkohol und Benzodiazepinen können sich sedierende Effekte deutlich verstärken. Unter der Therapie mit Mirtazapin kann es in der Kombination mit einem SSRI zur Verstärkung von UAWs kommen. Aber auch eine positive Verbesserung ist bei Kombination möglich, so können sich Schlafstörungen bessern und die antidepressive Potenz kann gesteigert werden. Durch SSRIs induzierte sexuelle Funktionsstörungen können mit einer Kombinationsbehandlung gemildert werden. Bei der Kombination mit LithiumsalzPräparaten sollen Wirkungsverstärkungen auftreten. Dies bezieht sich sowohl auf eine verbesserte antidepressive Wirkung als auch auf die Steigerung von UAWs. Bei gleichzeitiger Gabe von Mirtazapin und Psychostimulanzien kann es zur Verstärkung von Unruhe und Antriebssteigerung kommen. Dies gilt es besonders bei der Behandlung von bipolaren Störungen zu beachten.
B.1.2.6
Anwendungseinschränkungen
B.1.2.6.1
Monoamin-WiederaufnahmeHemmer
B.1.2.6.1.1
Trizyklische Antidepressiva
Anwendungseinschränkungen bestehen bei •
•
kardialen Vorschädigungen; dies gilt besonders für alle Erregungsleitungsstörungen am Herzen (nach Empfehlung der FDA) werden die folgenden EKG-/Blutdruck-/ Puls-Veränderungen bei Kindern unter Behandlung mit trizyklischen Antidepressiva als bedenklich eingestuft: QRS-Intervall > 30% der Normbreite oder > 120 ms, PRIntervall > 200 ms, Blutdruck systolisch > 140 mmHg oder diastolisch > 90 mmHg, Herzfrequenz in Ruhe > 130/min). Gleichzeitiger Gabe eines trizyklischen Antidepressivums und eines SSRI, die zu deutlich erhöhten Plasmaspiegeln der trizyklischen Antidepressiva führen kann.
Vorsicht ist geboten •
bei der Kombinationstherapie mit anderen Neuro-Psychopharmaka, die zur deutlichen Verstärkung der sedierenden Wirkung führen kann;
B.1 Antidepressiva
•
•
•
•
bei zerebralen Anfällen in der Vorgeschichte oder Myoklonien (Senkung der Krampfschwelle durch trizyklische Antidepressiva); bei plötzlicher Absetzung eines trizyklischen Antidepressivums – es kann auch hier zu einem so genannten Absetzsyndrom wie bei den SSRIs kommen (siehe unten); bei bipolarer Störung, da trizyklische Antidepressiva manische Episoden induzieren können; bei Suizidalität, da bei Behandlungsbeginn unter bestimmten trizyklischen Antidepressiva der Antrieb bei depressiven Patienten deutlich gesteigert sein kann, ohne dass es zu einer Verbesserung der Stimmungslage gekommen ist.
141
RIs das Risiko für Fehlgeburten erhöhen. Beschrieben wurden bei den Neugeborenen, deren Mütter SSRIs eingenommen hatten, Entzugssymptome wie Unruhe und Zittern. Für Sertralin, Paroxetin, Fluvoxamin, Fluoxetin und Citalopram wurden Konzentrationen in der Muttermilch nachgewiesen. Fluoxetin und Fluvoxamin sollen nach Empfehlungen in der Fachinformation nicht in der Stillzeit angewendet werden. Für Sertralin, Citalopram und Paroxetin sollte der Nutzen gegen ein mögliches Risiko abgewogen werden. Vorsicht ist geboten bei • • •
Epilepsie oder anderen organischen Hirnschädigungen, Suizidalität (s.o.) und hoher Dosis oder Kombination eines SSRI mit anderen Neuro-Psychopharmaka, die in das serotoninerge System eingreifen können, da ein 5-HT-Syndrom auftreten kann und es in Extremfällen zu einer Rhabdomyolyse kommen kann.
Während der Schwangerschaft ist eine strenge Indikationsstellung angeraten, auch wenn eine teratogene Wirkung bisher nicht nachgewiesen wurde. Eine Gabe im ersten Trimester sollte möglichst vermieden werden. Eine strenge Indikationsstellung ist auch bei stillenden Müttern gegeben, da trizyklische Antidepressiva auch über die Muttermilch aufgenommen werden.
B.1.2.6.1.3
B.1.2.6.1.2
B.1.2.6.1.3.1 Maprotilin
SSRIs
Selektive NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer
Anwendungseinschränkungen bestehen
Anwendungseinschränkungen bestehen
•
•
•
bei der Intoxikation mit zentralnervös dämpfend wirkenden Arzneistoffen. Dies gilt auch für Alkohol, es kann zu einer verstärkten Dämpfung und Potenzierung der Alkoholwirkung kommen. Insgesamt ist das Risiko für schwerwiegende Komplikationen jedoch gering. In der Schwangerschaft für Citalopram, Fluvoxamin, Fluoxetin und Paroxetin; für Sertralin gilt eine strenge Indikationsstellung. Eine teratogene Wirkung hat sich bisher nicht gezeigt. Unklar ist, ob die SS-
• • • •
bei akuten Intoxikationen mit psychotropen Wirkstoffen, bei schweren Leber- und Nierenfunktionsstörungen, erhöhter Krampfbereitschaft, Manie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Hypotonie).
Während der Schwangerschaft darf Maprotilin der Fachinformation nach (zur Bewertung dieser Datenquelle siehe Kap. B.1.5.)
142
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
nur nach strenger Nutzen-Risiko-Abwägung eingesetzt werden, weil keine ausreichenden Erfahrungen vorliegen. Da Maprotilin in die Muttermilch übergeht, darf es in der Stillzeit nicht angewendet werden. B.1.2.6.1.3.2 Reboxetin
Anwendungseinschränkungen sind: • • • • •
akute Intoxikationen mit psychotropen Wirkstoffen, schwere Leber- und Nierenfunktionsstörungen, erhöhte Krampfbereitschaft, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Manie.
Reboxetin ist nach Empfehlungen in der Fachinformation in der Schwangerschaft und Stillzeit kontraindiziert (zur Bewertung dieser Datenquelle siehe Kap. B.1.5.). B.1.2.6.1.4
5-HT und NoradrenalinWiederaufnahme-Hemmer: Venlafaxin
Anwendungseinschränkungen sind: • • •
akute Intoxikationen mit psychotropen Wirkstoffen, erhöhte Krampfbereitschaft, massive Leber- und Nierenfunktionsstörungen.
Eine teratogene Wirkung während der Schwangerschaft ist nicht bekannt, jedoch gibt es Hinweise für ein vermehrtes Auftreten von spontanen Aborten. Nach Empfehlungen in der Fachinformation sollte Venlafaxin nur in der Schwangerschaft verschrieben werden, wenn es eindeutig erforderlich ist (zur Bewertung dieser Datenquelle siehe Kap. B.1.5). Nach Venlafaxin-Gabe in der Schwangerschaft kann es beim Neugeborenen zu Entzugserscheinungen und Komplikationen kommen,
so dass eine respiratorische Unterstützung notwenig wird. Venlafaxin und sein aktiver Metabolit O-Desmethyl-Venlafaxin gehen in die Muttermilch über. Deshalb sollte in der Stillzeit sorgfältig der Vorteil des Stillens für das Kind mit der Notwendigkeit einer Venlafaxin-Therapie abgewogen werden und ggf. abgestillt werden. Venlafaxin geriet in den Fokus der oben bereits detailliert aufgeführten Diskussion (Kap. B.1.2.4.1.2) um ein vermeintlich erhöhtes Risiko suizidaler Gedanken und Handlungen unter serotoninergen Antidepressiva, weshalb der Hersteller seit September 2003 vor der Anwendung dieses Wirkstoffes unterhalb des 18. Lebensjahres warnt. Zur Handhabung von Venlafaxin als einem Vertreter der selektiven 5-HT-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer bei der Behandlung der kindlichen und jugendlichen Depression stellt die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (Stellungnahme vom 24.03.2004, http://media.dgkjp.monks. de/mediadb/media/dgkjp/stellungnahmen/ ssri-12004.pdf) fest: „Am wenigsten geklärt ist die Situation bei den kombinierten Serotonin-und Noradrenalin-WiederaufnahmeHemmern, so dass hier besondere Vorsicht geboten ist…“. B.1.2.6.2 MAO-A-Hemmer: Moclobemid
Anwendungseinschränkungen bestehen: •
•
bei Kombination mit SSRIs, da die Gefahr des Hervorrufens eines SerotoninSyndroms besteht, bei akuten Intoxikationen mit psychotropen Wirkstoffen.
Zur Anwendung von Moclobemid in der Schwangerschaft liegen keine ausreichenden Daten vor, jedoch konnte tierexperimentell eine diaplazentare Verteilung beobachtet werden. Nur ein geringer Anteil des Wirk-
B.1 Antidepressiva
stoffes gelangt in der Stillzeit in die Muttermilch. In der Fachinformation wird deshalb empfohlen, in der Schwangerschaft und Stillzeit eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung vorzunehmen (zur Bewertung dieser Datenquelle siehe Kap. B.1.5). B.1.2.6.3
α2-Adrenozeptor-Antagonisten
B.1.2.6.3.1
Mianserin
Anwendungseinschränkungen bestehen bei: • • • • •
akuter Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, schweren Leber- und Nierenfunktionsstörungen, erhöhter Krampfbereitschaft, Manie und Herz-Kreislauf-Erkrankungen (Hypotonie).
Zur Anwendung von Mianserin in der Schwangerschaft beim Menschen liegen keine ausreichenden Daten vor. Tierexperimentell konnte jedoch keine teratogene Wirkung gezeigt werden. In der Fachinformation wird deshalb empfohlen, in der Schwangerschaft eine sorgfältige Nutzen-Risiko-Abwägung vorzunehmen (zur Bewertung dieser Datenquelle siehe Kap. B.1.5). Obwohl nur ein sehr geringer Anteil der Substanz in die Muttermilch gelangt, sollte bei zwingender Indikation nach Empfehlung in der Fachinformation abgestillt werden. B.1.2.6.3.2
Mirtazapin
Anwendungseinschränkungen und Empfehlungen zur Anwendung in der Schwangerschaft und während des Stillens (siehe B.1.2.6.3.1).
143
B.1.2.6.4 Sonstige Antidepressiva: Johanniskrautextrakte
Anwendungseinschränkungen sind: • • • •
bekannte Überempfindlichkeit gegen die Extrakte, bekannte Lichtüberempfindlichkeit, schwere depressive Symptomatik, Therapie mit interagierenden Arzneistoffen.
In der Schwangerschaft und Stillzeit sollten Johanniskrautextrakte nach der Fachinformation nur bei strenger Indikationsstellung angewendet werden, da bisher kaum ausreichend Erfahrungen zu einer möglichen teratogenen Wirkung vorliegen (zur Bewertung dieser Datenquelle siehe Kap. B.1.5). B.1.3
Dauer der Behandlung
Eine antidepressive Medikation sollte nach Abklingen der depressiven Symptomatik für ca. sechs Monate fortgeführt werden. Über diesen Zeitraum hinweg sollte die Dosis, mit der ein Wirkungsoptimum beobachtet wurde, beibehalten werden. Nach diesem Zeitraum kann die Medikation bei Beschwerdefreiheit langsam über Wochen ausgeschlichen werden. Sollte es schon zu drei deutlichen depressiven Episoden im Sinne einer unipolaren Depression gekommen sein, so besteht die Indikation zu einer längerfristigen bis lebenslangen Rezidivphrophylaxe. Dabei haben sich bei Erwachsenen Antidepressiva, aber auch Stimmungsstabilisatoren (siehe Kap. B.6) wie Lithiumsalz-Präparate, Carbamazepin oder auch Valproinsäure als wirksam erwiesen. Bei der Behandlung von Zwangserkrankungen kann der Therapieerfolg meist erst nach einem Zeitraum von circa zehn Wochen Behandlung beurteilt werden. Eine Umstellung auf ein anderes Medikament
144
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
ist – wenn nicht zuvor UAWs einen Wechsel notwendig machen – erst nach dieser Zeitdauer indiziert. Eine Pharmakotherapie ist bei der Zwangserkrankung längerfristig zu planen und ein Absetzversuch ist meist erst nach sechs Monaten Behandlung sinnvoll. Der Großteil der Patienten benötigt eine 12bis 18-monatige medikamentöse Therapie (Leonard et al., 1989; Cook et al., 2001). Bei Angsterkrankungen sollte sich die Dauer der Psychopharmakotherapie auch nach den bestehenden komorbiden Störungen richten. Nach vier bis sechs Monaten medikamentöser Therapie kann in Abhängigkeit vom Symptomverlauf die Medikation stufenweise reduziert werden. B.1.4
Notwendige Kontrolluntersuchungen
Unter Berücksichtigung der Empfehlungen aus dem Erwachsenenbereich haben sich die in den Tab. B.1.12 und B.1.13 zusammen gestellten Vorgehensweisen in der
kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis bewährt. Sinnvoll ist es im Fließgleichgewicht (Steady state) beim Auftreten von UAWs, bei Umstellung, Komedikation oder medikamentöser Augmentation ein TDM (siehe Kap. A.2.3) durchzuführen. Die orientierenden therapeutischen Blut-Spiegelbereiche von Antidepressiva bei Erwachsenen sind Tab. B.1.4 zu entnehmen. B.1.5
Klinische Pharmakologie ausgewählter Antidepressiva im Überblick
Die folgende Zusammenstellung beruht auf den Angaben der Fachinformationen über Arzneimittel (FIs, im Englischen SPC, von Summary of Product Characteristics). Diese müssen gemäß den gesetzlichen Vorschriften (§ 11a AMG) vom pharmazeutischen Unternehmer erstellt werden. Das verwendete wissenschaftliche Material beinhaltet die Ergebnisse eigener Studien, die für die
Tab. B.1.12. Empfohlene Kontrolluntersuchungen bei der Therapie mit trizyklischen Antidepressiva (nach Benkert und Hippius, 2007) Untersuchung
vor Therapie
1. Monat
2. Monat
3. Monat
4. Monat
5. Monat
6. Monat
Danach
BB
+
++
++
++
++
+
+
Vierteljährlich
Transaminasen
+
+
+
+
+
Vierteljährlich
Harnstoff/ Kreatinin
+
+
+
+
Halbjährlich
RR/Puls
+
+
+
+
Vierteljährlich
EKG
+
+
EEG
+
(+)
Natrium
+
+
+
+
BB, Blutbild; RR, Blutdruck +, Kontrolle einmal im Monat; ++, Kontrolle zweimal im Monat. (+), Kontrolle bei auffälligem EEG-Vorbefund oder Auftreten von unerwünschten Arzneimittelwirkungen
B.1 Antidepressiva
145
Tab. B.1.13. Empfohlene Kontrolluntersuchungen bei Therapie mit nicht-trizyklischen Antidepressiva (nach Benkert und Hippius, 2007) Untersuchung
vor der Therapie
1. Monat
BB
+
+
3. Monat
6. Monat
Danach
+
Halbjährlich
Transaminasen
+
+
+
Halbjährlich
Harnstoff/Kreatinin
+
+
+
Halbjährlich
+
Vierteljährlich
RR/Puls
+
+
EKG
+
+
EEG
+
Natrium
+
+
+ +
BB, Blutbild; RR, Blutdruck +, Kontrolle einmal im Monat
Zulassung oder nach Einführung auf dem Markt erstellt wurden, die Spontanerfassung von etwa UAWs und Arzneimittelwechselwirkungen im Rahmen eines Pharmakovigilanzsystems sowie allgemein zugängliches bibliographisches Material. Für Generika dienen FI der Orginalprodukte als Grundlage. Maßgeblich sind hier aber auch MusterFIs der Zulassungsbehörde (Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, BfArM). Nicht selten entstehen so sehr umfassende klinisch-pharmakologische Texte. Von wissenschaftlichen Publikationen und Monographien unterscheiden sie sich dabei prinzipiell durch geringere Transparenz, d.h., das Zustandekommen von Inhalten ist für den Nutzer oft nicht nachvollziehbar, die Methoden sind nicht dargestellt und es gibt keine Quellenangaben. Daher ist die Überprüfung der Herkunft der Inhalte letztlich auch nicht recherchierbar. Wesentliche Kriterien, die bei der Erstellung einer wissenschaftlichen Publikation erfüllt sein müssen, liegen also für FIs nicht vor. Darüber hinaus werden bei der Abfassung von FI-Texten auch rechtliche Aspekte berücksichtigt, um den Hersteller haftungsrechtlich zu schützen. So kann es vorkommen, dass eine Kontraindikation als solche
benannt ist, weil diese nicht geprüft wurde. Weder das pharmakologische Wirkprinzip, noch Hinweise aus klinischen Studien oder Meldungen von UAWs begründen die Kontraindikation. Daher werden FIs für wissenschaftliche Publikationen nur selten verwendet. Ein weiterer Mangel von FIs besteht in der unzureichenden Systematik der Darstellung pharmakokinetischer Informationen. Sie ist für die Wirkstoffe auf sehr unterschiedliche Weise umgesetzt, oft fehlen auch wesentliche Kenndaten eines Arzneimittels (Ulrich et al., 2007). Dies wird offensichtlich, wenn man beispielsweise wissen will, welche Konzentrationen eines Medikamentes im Blut im Fließgleichgewicht (Steady state) bei therapeutischen Dosen eines Medikamentes zu erwarten sind. Für die wenigsten NeuroPsychopharmaka findet man dazu Angaben. Sie können auch nicht aus den pharmakokinetischen Kenndaten wie Clearance, Verteilungsvolumen, Bioverfügkeit oder Eliminationshalbwertszeit (t1/2), errechnet werden, weil selbst diese Daten oft fehlen. Diese Situation ist ein Problem für die Anwendung von TDM (Ulrich et al., 2007). Im Folgenden werden die wichtigsten pharmakologischen Kenndaten ausgewähl-
146
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
ter Antidepressiva benannt. Diese entstammen teilweise FIs, sind aber dennoch eine
Orientierungshilfe in der klinischen Handhabung.
B.1.5.1 Amitriptylin Pharmakodynamische Eigenschaften
Trizyklisches Antidepressivum; Wiederaufnahme-Hemmung von 5-HT und Noradrenalin, Verstärkung der 5-HT- und Noradrenalin-Wirkung im ZNS; hochaffiner Antagonist des serotoninergen 5-HT2A und adrenergen α1-Rezeptors, mittelaffiner Antagonist des muscarinergen ACh- und histaminergen H1-Rezeptors.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 2–6 h, t1/2 16–22 h (Muttersubstanz), ca. 30 h (aktiver Metabolit Nortriptilin); Proteinbindung ca. 94%, Bioverfügbarkeit 43–45%; Metabolismus durch CYP1A2, -2B6, -2C9, -2C19, -2D6, -3A4.
Anwendungsgebiete
Alle Formen des depressiven Syndroms, langfristige Schmerzbehandlung im Rahmen eines therapeutischen Gesamtkonzeptes; keine Zulassung im Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Initialdosis 25–50 mg/Tag, Standarddosis 75–150 mg/Tag (Kinder- und Jugendliche unter 16 Jahren). Maximaldosis 300 mg/Tag (Erwachsene im stationären Rahmen), verteilt auf 2 Gaben; bei Schlafstörungen höhere Abenddosis.
UAWs
Müdigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme, Akkomodationsstörungen, Miktionsstörungen sowie orthostatische Hypotonie.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, akuter Harnverhalt, Glaukom, Erregungsleitungsstörungen, Bradykardie, angeborenes langes QT-Syndrom, schwere Leber- oder Nierenschäden, erhöhte Anfallsbereitschaft, Störungen der Blutbildung, Hypokaliämie, gleichzeitige Behandlung mit Arzneimitteln, die das QT-Intervall im EKG verlängern oder eine Hypokaliämie hervorrufen können.
B.1 Antidepressiva
147
B.1.5.2 Citalopram Pharmakodynamische Eigenschaften
SSRi; selektive Hemmung der Wiederaufnahme von 5-HT, Verstärkung der 5-HT-Wirkung im ZNS; keine nennenswerte Affinität zu NeurotransmitterRezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 3–4 h, t1/2 33–36 h: Proteinbindung ca. 80%, Bioverfügbarkeit 80%; Metabolismus durch CYP2C19, -2D6, -3A4.
Anwendungsgebiete
Depressive Erkrankungen und Panikstörung mit und ohne Agoraphobie; keine Zulassung im Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Initialdosis 10–20 mg/Tag, Standarddosis 20–40 mg/Tag, Maximaldosis 60 mg/Tag (alle Angaben für Erwachsene), als Einmalgabe am Morgen.
UAWs
Übelkeit, Unruhe, Schwitzen, Diarrhö, seltener Appetitlosigkeit, Erbrechen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, sexuelle Dysfunktion, Mundtrockenheit, Blutungen.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, schwere Leber- und Nierenschäden, erhöhte Anfallsbereitschaft, Diabetes mellitus, Manie/Hypomanie oder schizophrene Psychose in der Anamnese, bekannte Blutungsstörungen, gleichzeitige Anwendung von Arzneimitteln, die das QT-Intervall verlängern, eine Hypokaliämie/Hypomagnesiämie verursachen können oder das Blutungsrisiko erhöhen; gleichzeitige Anwendung von serotoninergen Arzneimitteln und Johanniskraut, suizidale Verhaltensweisen.
B.1.5.3 Clomipramin Pharmakodynamische Eigenschaften
Trizyklisches Antidepressivum; vorwiegende Hemmung der Wiederaufnahme von 5-HT und Noradrenalin, weniger von Dopamin; Verstärkung der 5-HT- und Noradrenalin-Wirkung im ZNS; mittelaffiner Antagonist des adrenergen α1-, muscarinergen ACh- und histaminergen H1-Rezeptors.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 3–4 h, t1/2 21–25 h (Muttersubstanz), ca. 35 h (aktiver Metabolit Desmethylclomipramin); Proteinbindung 98%, Bioverfügbarkeit 45%; Metabolismus durch CYP1A2, -3A4, -2C19, -2D6, -2C9.
Anwendungsgebiete
Depressive Syndrome, Zwangsstörung, Phobien und Panikstörungen, langfristige Schmerzbehandlung, Kataplexie, Schlaflähmung, Narkolepsie; ab dem 5 Lebensjahr zugelassen für funktionelle Enuresis.
Dosierung
Initialdosis 10–25 mg/Tag, Standarddosis 5- bis 7-Jährige 20 mg, 8- bis 14-Jährige 20–50 mg, über 14-Jährige 50–150 mg/Tag; Maximaldosis 300 mg/Tag, verteilt auf 2 Gaben.
UAWs
Mundtrockenheit, Verschwommensehen, Obstipation, Miktionsstörungen, Tachykardie, Schwindel, Kopfschmerzen, Unruhe, Appetitsteigerung, gastrointestinale Störungen, Erregungsleitungsstörungen, Überempfindlichkeitsreaktionen, Tremor, Muskelkrämpfe, Hypotonie und sexuelle Funktionsstörungen.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, akuter Harnverhalt, Glaukom, Erregungsleitungsstörungen, schwere Leber- oder Nierenschäden, erhöhte Anfallsbereitschaft, Stenosen im Bereich des Magen-Darm-Kanals, Störungen des Blutbildes, suizidale Verhaltensweisen.
148
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
B.1.5.4 Doxepin Pharmakodynamische Eigenschaften
Trizyklisches Antidepressivum; Hemmung vor allem der Wiederaufnahme von 5-HT und Noradrenalin, Verstärkung der 5-HT- und Noradrenalin-Wirkung im ZNS; mittelaffiner Antagonist adrenerger α1- und α2-Rezeptoren sowie des serotoninergen 5-HT2A-Rezeptors, hochaffiner Antagonist des muscarinergen ACh- und histaminergen H1-Rezeptors.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 2–4 h, t1/2 13–22 h (Muttersubstanz), ca. 40 h (aktiver Metabolit Desmethyldoxezepin); Proteinbindung ca. 90%, Bioverfügbarkeit 25%; Metabolismus durch CYP1A2, -3A4, -2C19, -2D6, -2C9.
Anwendungsgebiete
Depressive Syndrome unabhängig von ihrer nosologischen Einordnung, Angstsyndrome, leichte Entzugssyndrome bei Alkohol- und Substanzabhängigkeit, Unruhe, Angst, Schlafstörungen und funktionelle Organbeschwerden; keine Zulassung im Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Initialdosis 10–25 mg/Tag, Standarddosis 75–150 mg/Tag, Maximaldosis 300 mg/Tag (für Erwachsene; bei Kindern geringere Dosis); verteilt auf 2 Gaben bis 100 mg können als Einmaldosis am Abend gegeben werden; bei Schlafstörungen höhere Abenddosis.
UAWs
Müdigkeit bis Sedierung, Schwindel, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme, Akkomodationsstörungen, Miktionsstörungen sowie orthostatische Hypotonie.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, akuter Harnverhalt, Glaukom, Erregungsleitungsstörungen, schwere Leber- oder Nierenschäden, erhöhte Anfallsbereitschaft, Hypokaliämie, Störungen des blutbildenden Systems.
B.1.5.5 Escitalopram Pharmakodynamische Eigenschaften
S-Enantiomer von Citalopram. SSRI; selektive Hemmung der Wiederaufnahme von 5-HT, Verstärkung der 5-HT-Wirkung im ZNS; keine nennenswerte Affinität zu Neurotransmitter-Rezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 4–5 h, t1/2 27–32 h; Proteinbindung ca. 56%, Bioverfügbarkeit 80%; Metabolismus durch CYP3A4, -2C19, -2D6.
Anwendungsgebiete
Depressive Erkrankungen und Panikstörung mit und ohne Agoraphobie, soziale Phobie, generalisierte Angststörung, Zwangsstörung; keine Zulassung im Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Initialdosis 5 mg/Tag, Standarddosis 5–20 mg/Tag, Maximaldosis 20 mg/ Tag (für Erwachsene), als Einmalgabe am Morgen.
UAWs
Übelkeit, Unruhe, Schwitzen, Diarrhö, Obstipation, Verwirrtheit, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Schlafstörungen, Kopfschmerzen, sexuelle Dysfunktion, Mundtrockenheit.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, schwere Leber- und Nierenschäden, Manie/Hypomanie in der Anamnese, erhöhte Anfallsbereitschaft, Diabetes mellitus, bekannte Blutungsneigung, gleichzeitige Anwendung von Arzneimitteln, die eine Hyponatriämie oder Thrombozytenfunktionsstörung verursachen können, gleichzeitige Behandlung mit serotoninergen Arzneimitteln, suizidale Verhaltensweisen.
B.1 Antidepressiva
149
B.1.5.6 Fluoxetin Pharmakodynamische Eigenschaften
SSRI; Verstärkung der 5-HT-Wirkung im ZNS; keine nennenswerte Affinität zu Neurotransmitter-Rezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 6–8 h, t1/2 ca. 50 h (Muttersubstanz), 160–360 h (aktiver Metabolit Norfluoxetin); Proteinbindung 94%, Bioverfügbarkeit 70–85%; Metabolismus durch CYP1A2, -3A4, -2C19, -2C9, -2D6, -2E1.
Anwendungsgebiete
Depressive Erkrankungen unterschiedlicher Genese, Zwangsstörung und Bulimie; Zulassung bei einer mittelgradigen bis schweren Episode einer “Major Depression“ ab dem Alter von 8 Jahren, wenn die Depression nach vier bis sechs Sitzungen nicht auf eine psychologische Behandlung anspricht.
Dosierung
Initialdosis 10–20 mg/Tag, Standarddosis bei Kindern 20 mg, bei Erwachsenen 20–60 mg/Tag, Maximaldosis 80 mg/Tag (Erwachsene), als Einmalgabe am Morgen.
UAWs
Unruhe, Atemnot, Kopfschmerzen, Schlafstörungen; seltener Übelkeit, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Schwitzen, gastrointestinale Beschwerden, sexuelle Dysfunktion, Haut- oder Schleimhautblutungen, Gelenk- und Muskelschmerzen, Halluzinationen, manische Reaktion, Hypotonie, Hyponatriämie, Harnverhalt, Mundtrockenheit.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, schwere Leber- und Nierenschäden, Diabetes mellitus, bekannte Blutgerinnungsstörung, Manie/Hypomanie in der Anamnese, gleichzeitige Behandlung mit serotoninergen Arzneimitteln, erhöhte Anfallsbereitschaft, suizidale Verhaltensweisen.
B.1.5.7 Fluvoxamin Pharmakodynamische Eigenschaften
SSRI; Verstärkung der 5-HT-Wirkung im ZNS; keine nennenswerte Affinität zu Neurotransmitter-Rezeptoren.
Pharmakokinetischen Eigenschaften
tmax 1,5–8 h, t1/2 9–25 h; Proteinbindung 77%, Bioverfügbarkeit 60%; Metabolismus durch CYP1A, -2D6.
Anwendungsgebiete
Depressive Erkrankungen; ab dem 8. Lebensjahr für die Zwangsstörung zugelassen.
Dosierung
Initialdosis 25–50 mg/Tag, Standarddosis 50–200 mg/Tag. Maximaldosis 200 mg/Tag, aufgrund der kurzen t1/2 verteilt auf zwei Gaben pro Tag.
UAWs
Übelkeit, Benommenheit, Obstipation, Appetitlosigkeit; seltener Atemnot, Kopfschmerzen, Tachykardie, Hypotonie, Muskel- und Gelenkschmerzen, Schlafstörungen, Hyponatriämie, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Schwitzen, sexuelle Dysfunktion, Mundtrockenheit, Antriebssteigerung.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, schwere Leber- und Nierenschäden, Diabetes mellitus, bekannte Blutgerinnungsstörung, Manie/Hypomanie in der Anamnese, gleichzeitige Behandlung mit serotoninergen Arzneimitteln, erhöhte Anfallsbereitschaft, suizidale Verhaltensweisen.
150
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
B.1.5.8 Johanniskrautextrakte Pharmakodynamische Eigenschaften
Wahrscheinliche Wirksubstanz Hypericum-Extrakt. Wahrscheinlich 5-HTund Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmung; Herunterregulierung von 5-HT-Rezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
t1/2 von Hypericum-Extrakt ca. 35 h, Induktion von CYP3A4, CYP 1A2.
Anwendungsgebiete
Leichte bis mittelschwere depressive Episode, psychovegetative Störungen, depressive Verstimmungen, Angst und nervöse Unruhe; ab dem 12. Lebensjahr zugelassen.
Dosierung
Johanniskraut-Trockenextrakt (z.B. Jarsin®): Initialdosis 300 mg/Tag, Standarddosis 300–900 mg/Tag, verteilt auf drei Gaben.
UAWs
Allergische Hautreaktionen, Photosensibilisierung, Müdigkeit; selten Unruhe.
Anwendungsbeschränkungen
Bekannte Lichtüberempfindlichkeit der Haut.
B.1.5.9 Imipramin Pharmakodynamische Eigenschaften
Trizyklisches Antidepressivum; Wiederaufnahme-Hemmung von 5-HT und Noradrenalin, Verstärkung der 5-HT- und Noradrenalin-Wirkung im ZNS; hochaffiner Antagonist des α2-adrenergen und histaminergen H1-Rezeptors, mittelaffiner Antagonist des serotoninergen 5-HT2A- und muscarinischen ACh-Rezeptors.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 1–4 h, t1/2 10–25 h; Proteinbindung 90%, Bioverfügbarkeit 30–75%; Metabolismus durch CYP1A2, -3A4, -2B6, -2C19, -2D6, -2C9.
Anwendungsgebiete
Depressive Syndrome unabhängig von ihrer nosologischen Einordnung, langfristige Schmerzbehandlung, Enuresis und Pavor nocturnus; zugelassen ab dem 5. Lebensjahr für die funktionelle Enuresis.
Dosierung
Initialdosis 10–50 mg/Tag, Standarddosis 5- bis 8-Jährige 20 mg, 9- bis 14-Jährige 20–50 mg, ab 15 Jahren 50–80 mg (oder 1–2 mg/kg Körpergewicht), Maximaldosis 2,5 mg/kg Körpergewicht, verteilt auf 2 Gaben.
UAWs
Mundtrockenheit, Verschwommensehen, Obstipation, Miktionsstörungen, Tachykardie, Manie/Hypomanie, Kopfschmerzen, Photosensibilität, Schlafstörungen, Unruhe, Tremor, zerebrale Krampfanfälle, Erregungsleitungsstörungen, allergische Reaktionen, Gewichtszunahme, Schwindel, Zittern, Hypotonie und sexuelle Funktionsstörungen.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, akuter Harnverhalt, Glaukom, Erregungsleitungsstörungen, schwere Leber- oder Nierenschäden, erhöhte Anfallsbereitschaft, Störungen der Blutbildung, suizidale Verhaltensweisen.
B.1 Antidepressiva
B.1.5.10
151
Maprotilin
Pharmakologische Eigenschaften
Tetrazyklisches Antidepressivum; vor allem Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, Verstärkung der Noradrenalin-Wirkung im ZNS; mittelaffiner Antagonist des α1-adrenergen und histaminergen H1-Rezeptors, schwach affiner Antagonist des muscarinischen ACh-Rezeptors.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 9–16 h, t1/2 40–50 h; Proteinbindung ca. 88%, Bioverfügbarkeit 60–90%; Metabolismus durch CYP2D6.
Anwendungsgebiete
Depressive Erkrankungen, ängstliche-, dysphorische und reizbare Verstimmungszustände, psychosomatische Beschwerden; keine Zulassung bei Kindern und Jugendlichen.
Dosierung
Initialdosis 25–50 mg/Tag, Standarddosis 50–150 mg/Tag, Maximaldosis 200 mg/Tag (alle Angaben für Erwachsene), verteilt auf 2 Gaben; bei Schlafstörungen höhere Abenddosis.
UAWs
Müdigkeit, Schwindel, Mundtrockenheit, Gewichtszunahme, Akkomodationsstörungen, Miktionsstörungen, allergische Reaktionen, Tremor, Kopfschmerzen, Unruhe, Obstipation, Erregungsleitungsstörungen sowie orthostatische Hypotonie; erhöhte Anfallsbereitschaft, deutlicher als bei anderen Antidepressiva.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, akuter Harnverhalt, Glaukom, Erregungsleitungsstörungen, schwere Leber- oder Nierenschäden, Störungen der Blutbildung, Stoffwechselerkrankungen (z.B. Diabetes mellitus), erhöhte Anfallsbereitschaft.
B.1.5.11
Mianserin
Pharmakodynamische Eigenschaften
Tetrazyklisches Antidepressivum; mittel- bzw. hochaffiner Antagonist des α2-adrenergen und histaminergen H1-Rezeptors; Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, zusätzlich Antagonist des serotoninergen 5-HT2A- und 5-HT2C-Rezeptors und des α1-adrenergen Rezeptors, geringe Affinität zu muscarinergen ACh-Rezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 3–5 h, t1/2 20–35 h; Proteinbindung ca. 90%, Bioverfügbarkeit 30%; Metabolismus durch CYP2D6.
Anwendungsgebiete
Depressive Störungen; keine Zulassung bei Kindern und Jugendlichen.
Dosierung
Initialdosis 10–30 mg/Tag, Standarddosis 30–90 mg/Tag (für Erwachsene), verteilt auf 3 Gaben; höhere Abenddosis.
UAWs
Müdigkeit, Schwindel, orthostatische Hypotonie, Zittern, Dyskinesien, Blutbildveränderungen (Leukopenie, Agranulozytose, Thrombopenie), erhöhte Anfallsbereitschaft, Exanthem, Gewichtszunahme, Gelenkschmerzen und -schwellungen, Ödeme, Leberfunktionsstörungen, Gynäkomastie, Änderungen des Blutzuckerspiegels, Hypomanie.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, Glaukom, schwere Leber- oder Nierenschäden, Blasenentleerungsstörungen, erhöhte Anfallsbereitschaft. Regelmäßig wöchentliche Blutbildkontrollen vom Hersteller empfohlen!
152
B.1.5.12
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Mirtazapin
Pharmakodynamische Eigenschaften
Tetrazyklisches Antidepressivum; hochaffiner Antagonist des α2adrenergen, serotoninergen 5-HT2A-, 5-HT2C- und 5-HT3- sowie des histaminergen H1-Rezeptors, schwachaffiner Antagonist des adrenergen α1-Rezeptors, kaum Affinität zum muscarinergen ACh-Rezeptor.
Pharmakinetische Eigenschaften
tmax 2 h, t1/2 20–40 h; Proteinbindung ca. 85%, Bioverfügbarkeit 50%; Metabolismus durch CYP1A2, -2C9, -2D6, -3A4.
Anwendungsgebiete
Depressive Störungen; keine Zulassung bei Kindern und Jugendlichen.
Dosierung
Initialdosis 15 mg/Tag, Standarddosis 15–45 mg/Tag, Maximaldosis 45 mg/ Tag (für Erwachsene), Einmalgabe bevorzugt am Abend.
UAWs
Müdigkeit und Sedierung, Mundtrockenheit, Appetit- und Gewichtszunahme, Schwindel, orthostatische Hypotonie.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Substanzen, Glaukom, schwere Leber- oder Nierenschäden, Blasenentleerungsstörungen, Diabetes mellitus, erhöhte Anfallsbereitschaft, kardiale Vorschädigung.
B.1.5.13
Moclobemid
Pharmakodynamische Eigenschaften
Selektiver, reversibler Hemmer der MAO-A; Verstärkung der Wirkung von 5-HT und Noradrenalin im ZNS; keine Affinität zu Neurotransmitter-Rezeptoren und -Wiederaufnahme-Stellen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 1 h, t1/2 1–3 h; Proteinbindung ca. 50%, Bioverfügbarkeit 50–80%; Metabolismus durch CYP2C19.
Anwendungsgebiete
Depressive Syndrome, soziale Phobie; keine Zulassung für Kinder und Jugendliche.
Dosierung
Initialdosis 150 mg/Tag, Standarddosis 300–450 mg/Tag, Maximaldosis 600 mg/Tag (für Erwachsene), verteilt auf 2–3 Gaben nach den Mahlzeiten.
UAWs
Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Übelkeit, Müdigkeit, orthostatische Hypotonie, Mundtrockenheit, Sehstörungen oder Parästhesien, Überempfindlichkeitsreaktionen, Schwindel, Erregung, innere Unruhe, Anstieg des Prolaktin-Spiegels oder der Leberenzyme.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, schwere Leber- oder Nierenschäden, gleichzeitige Behandlung mit serotoninergen Wirkstoffen, suizidale Verhaltensweisen.
B.1 Antidepressiva
B.1.5.14
153
Paroxetin
Pharmakologische Eigenschaften
SSRI; Verstärkung der Wirkung von 5-HT im ZNS; keine nennenswerte Affinität zu Neurotransmitter-Rezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax ca. 5 h, t1/2 ca. 10–20 h; Proteinbindung 91%, Bioverfügbarkeit > 90%; Metabolismus durch CYP2D6.
Anwendungsgebiete
Depressive Erkrankungen, generalisierte Angststörung, Panikstörung mit und ohne Agoraphobie, soziale Phobie, posttraumatische Belastungsstörung, Zwangsstörung; keine Zulassung für Kinder und Jugendliche.
Dosierung
Initialdosis 10–20 mg/Tag, Standarddosis 20–50 mg/Tag, Maximaldosis 60 mg/Tag (für Erwachsene), als Einmalgabe am Morgen.
UAWs
Nausea, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Tremor, sexuelle Dysfunktion; seltener Übelkeit, Unruhe, Erbrechen, Schwitzen, Diarrhö, Obstipation, Appetitstörungen, Mundtrockenheit, Blutgerinnungsstörungen, Sehstörungen, Hyper-/Hypotonie, Exanthem, Harnretention.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, schwere Leber- und Nierenschäden, erhöhte Anfallsbereitschaft, Akathisie, Glaukom, kardiale Vorerkrankung, Hyponatriämie, Hämorrhagien, suizidale Verhaltensweisen.
B.1.5.15
Reboxetin
Pharmakodynamische Eigenschaften
Selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, Verstärkung der Wirkung von Noradrenalin im ZNS; keine nennenswerte Affinität zu adrenergen und muskarinergen Rezeptoren, schwacher Effekt auf die 5-HT-Wiederaufnahme, keine Beeinflussung der Dopamin-Wiederaufnahme.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 2 h, t1/2 ca. 13 h; Proteinbindung 97%, Bioverfügbarkeit 60%; Metabolismus durch CYP3A4.
Anwendungsgebiete
Depressive Erkrankungen; keine Zulassung bei Kindern und Jugendlichen.
Dosierung
Initialdosis 2–4 mg/Tag, Standarddosis 4–8 mg/Tag, Maximaldosis 12 mg/ Tag (für Erwachsene), verteilt auf 2 Gaben.
UAWs
Schlafstörungen, Agitiertheit, Somnolenz, Ängstlichkeit, Schwitzen, Mundtrockenheit, Obstipation, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhö, Miktionsbeschwerden, Tachykardie, Hypotonie, Schwindel, sexuelle Dysfunktion, Akkomodationsstörungen, Appetitstörungen, epileptischer Anfall.
Anwendungsbeschränkungen
Erhöhte Anfallsbereitschaft, Kombination mit MAO-Hemmern, Glaukom, gleichzeitige Anwendung von blutdrucksenkenden Medikamenten, Harnretention, kardiale Erkrankungen, schwere Leber- und Nierenschäden, Manie, suizidale Verhaltensweisen.
154
B.1.5.16
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Sertralin
Pharmakodynamische Eigenschaften
SSRI; Verstärkung der Wirkung von 5-HT im ZNS; keine nennenswerte Affinität zu Neurotransmitter-Rezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 4–8 h, t1/2 ca. 25 h; Proteinbindung 98%, Bioverfügbarkeit 70%; Metabolismus durch CYP3A4, 3A4, -2B6, -2C19, -2C9, -2D6.
Anwendungsgebiete
Depressive Erkrankungen, keine Zulassung bei Kindern und Jugendlichen.
Dosierung
Initialdosis 25–50 mg/Tag, Standarddosis 50–150 mg/Tag, Maximaldosis 200 mg/Tag (für Erwachsene), als Einmalgabe am Morgen und nicht auf nüchternen Magen.
UAWs
Diarrhö, Tremor, Mundtrockenheit; seltener Unruhe, Atemnot, Kopfschmerzen, Schlafstörungen, Übelkeit, Diarrhoe, Obstipation, Schwindel, Appetitlosigkeit, Erbrechen, Schwitzen, sexuelle Dysfunktion, Exanthem.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, schwere Leber- und Nierenschäden, Manie/Hypomanie in der Anamnese, Blutgerinnungsstörungen, erhöhte Anfallsbereitschaft, suizidales Verhalten.
B.1.5.17
Venlafaxin
Pharmakodynamische Eigenschaften
5-HT- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, Verstärkung der Wirkung von 5-HT und Noradrenalin im ZNS; keine nennenswerte Affinität zu Neurotransmitter-Rezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 2–4 h, t1/2 4–5 h; Proteinbindung 30%, Bioverfügbarkeit 13%; Metabolismus durch CYP3A3/4, -2C9, -2C19, -2D6.
Anwendungsgebiete
Depressive Erkrankungen unterschiedlicher Genese, generalisierte Angststörung, soziale Phobie, Panikstörung mit und ohne Agoraphobie; keine Zulassung bei Kindern und Jugendlichen.
Dosierung
Initialdosis 37,5–70 mg/Tag, Standarddosis 75–150 mg/Tag, Maximaldosis 375 mg/Tag (für Erwachsene), 2 Gaben pro Tag.
UAWs
Schlafstörung, Kopfschmerzen, erhöhte Nervosität, Agitiertheit, Mundtrockenheit, Schwitzen, gastrointestinale Beschwerden (z.B. Obstipation, Übelkeit), Blutdruckanstieg, Tachykardie und orthostatische Hypotonie, Hypertonie, Leberwertveränderungen, Appetitstörungen, Hyponatriämie, Erhöhung des Prolaktin-Spiegels, der Cholesterin- oder/und der Leberwerte, extrapyramidalmotorische Reaktionen, Sehstörungen, Parästhesien, Zittern, Exanthem.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation mit psychotropen Wirkstoffen, schwere Leber- und Nierenschäden, bekannte kardiale Erkrankung, Glaukom, Blutgerinnungsstörung, Manie in der Anamnese, erhöhte Anfallsbereitschaft, suizidale Verhaltensweisen.
B.1 Antidepressiva
B.1.6
Literaturverzeichnis
B.1.6.1 Weiterführende Literatur Bandelow B, Heise CA, Banaschewski T, Rothenberger A (2006) Handbuch Psychopharmaka für das Kindes- und Jugendalter. Deutsche Überarbeitung von Bezchlibnyk-Butler KZ, Virani AS (Eds) Clinical Handbook of Psychotropic Drugs for Children and Adolescents. Hogrefe Verlag, Göttingen Bonn Bern Wien Bazire S (ed) (2007) Psychotropic drug directory. Bath Press, Quay Books Division, Bath Benkert O, Hippius H (Hrsg) (2007) Kompendium der Psychiatrischen Pharmakotherapie, 6. Aufl. Springer, Berlin Bezchlibnyk-Butler KZ, Jeffries JJ, Virani AS (eds) (2007) Clinical handbook of psychotropic drugs, 17. Aufl. Hogrefe & Huber Publishers, Seattle Toronto Göttingen Bern Bezchlibnyk-Butler KZ, Virani AS (eds) (2007) Clinical handbook of psychotropic drugs for children and adolescents, 2. Aufl. Hogrefe & Huber Publishers, Seattle Toronto Göttingen Bern Holsboer DF, Gründer, G Benkert O (2008) Handbuch der Psychopharmakotherapie. Springer Medizin Verlag, Heidelberg Nissen G, Fritze J, Trott GE (Hrsg) (2004) Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter, 2. Aufl. Urban & Fischer, München Riederer P, Laux G, Pöldinger W (Hrsg) (2002) Neuro-Psychopharmaka. Ein Therapie-Handbuch, Band 3: Antidepressiva, Phasenprophylaktika und Stimmungsstabilisierer. Springer, Wien New York
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B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva) M. Romanos, M.S. Kerdar, T. Renner, M. Gerlach
B.2.1
Definition, Einteilung und Wirkungsmechanismen
Antiepileptika (synonym Antikonvulsiva) sind Neuro-Psychopharmaka zur symptomatischen Behandlung der verschiedenen Epilepsieformen, die unter Umständen lebenslang eingenommen werden müssen. Die Ziele der Behandlung von epileptischen Patienten mit Antiepileptika sind Anfallsfreiheit und möglichst wenige unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs) der medikamentösen Therapie. Ein ideales Antiepileptikum erhöht die Krampfschwelle, ohne die normale motorische Erregbarkeit zu beeinflussen. Antiepileptika heilen die Epilepsie nicht, können aber zu einer weitgehenden oder völligen Aufhebung der klinischen Symptomatik führen und dem Patienten ein normales Leben ermöglichen. Ein epileptischer Anfall entsteht durch abnorme elektrische Entladung im Großhirn. Dadurch kommt es zu einer Erniedrigung der Krampfschwelle mit abnormen motorischen Reaktionen wie tonischklonischen Krämpfen und Zuckungen. Es können – in der Reihenfolge abnehmender Häufigkeit – jedoch auch Bewusstsein, Sensibilität, vegetatives Nervensystem, Denkvorgänge, Erinnerung, Wahrnehmung und Emotionen gestört sein, je nachdem welcher Teil des Großhirns von den epileptischen Anfällen (mit)erfasst wird. Epileptische Anfälle dauern, abgesehen vom Status epilepti-
cus, nur kurz, das heißt Sekunden bis wenige Minuten. Epilepsien sind chronische Erkrankungen, bei denen es zu wiederholten Anfällen kommt. Die Anfälle, bei denen in den meisten Fällen kein direkter Anlass erkennbar ist, sind das wesentliche Merkmal der Krankheit Epilepsie. Epilepsien gehören zu den häufigsten chronischen Erkrankungen des ZNS. Die Prävalenz beträgt weltweit 0,5 bis ein Prozent ohne wesentliche ethnische oder geografische Unterschiede. Obwohl Epilepsien in jedem Lebensalter auftreten können, werden bereits vor dem 10. Lebensjahr etwa 50 Prozent und bis zum 20. Lebensjahr etwa zwei Drittel davon manifest (Mutschler et al., 2008). Die Antiepileptika sind eine chemisch und pharmakologisch sehr heterogene Arzneistoffgruppe, deren Wirksamkeit teils zufällig, teils durch rationale experimentelle und klinische Studien entdeckt wurde. Die ersten Substanzen, die klinisch verwendet wurden, waren Bromidsalze (z.B. Kaliumbromid, KBr), die 1857 in die EpilepsieTherapie eingeführt wurden, heute aber aufgrund ihrer schlechten Verträglichkeit nur noch sehr selten eingesetzt werden (Löscher und Schmidt, 1994). Die moderne Pharmakotherapie von Epilepsien begann 1912, als der deutsche Neurologe Alfred Hauptmann erstmals über die antiepileptische Wirkung des Schlafmittels Phenobarbital berichtete. Bis zur Entdeckung der antiepileptischen
164
Wirkung von Phenobarbital waren Barbiturate ausschließlich aufgrund ihrer sedativ/ hypnotischen Wirkung (siehe Kap. B.3) verwendet worden. Ausgehend von der Grundstruktur der Barbiturate wurden in den folgenden Jahrzehnten zahlreiche Antiepileptika mit dem Ziel entwickelt, den Abstand zwischen der erwünschten antikonvulsiven Wirkung und der unerwünschten sedativen Wirkung zu erhöhen. Dadurch gelang in den 30er-Jahren des vorigen Jahrhundert die Entdeckung von Phenytoin (Diphenylhydantoin) und anderen Hydantoinen, die im Gegensatz zu den Barbituraten kaum noch sedativ wirkten, in den 40er-Jahren die Entwicklung der Oxazolidindione mit dem Prototyp Trimethadion und in den 50er-Jahren die Entwicklung von Primidon (Desoxyphenobarbital), das im Organismus zu Phenobarbital metabolisiert wird, sowie der Succinimide mit dem Prototyp Ethosuximid (Löscher, 2006a). Nachdem man sich bei der Entwicklung neuer Antiepileptika lange Zeit an der Struktur von Barbituraten orientierte, entdeckte man in den 50er- und 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts antiepileptische Wirkstoffe mit chemischen Strukturen, die sich vollkommen von denen der Barbiturate unterscheiden. Ein Beispiel ist Carbamazepin, das eine strukturelle und pharmakologische Ähnlichkeit mit klassischen Neuroleptika (siehe Kap. B.4.1) und trizyklischen Antidepressiva (siehe Kap. B.1.1) aufweist. Weitere Beispiele sind Salze der Valproinsäure (Valproat) oder Benzodiazepine mit dem Prototyp Diazepam. Ab den 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wurden dann durch zunehmende Kenntnis über die Pathomechanismen von Epilepsien sowie der Etablierung eines durch die US-amerikanischen National Institutes of Health finanzierten „Antiepileptic Drug Development“-(ADD-)Programms weitere, innovative Antiepileptika wie Vigabatrin, Gabapentin oder Lamotrigin entwickelt und
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
als antiepileptische Medikamente zugelassen. Aus historischer Sicht kann man deshalb die Antiepileptika in Arzneistoffe der ersten, zweiten und dritten Generation einteilen. Aus klinischer Sicht werden die Antiepileptika nach ihrer Wirksamkeit gegen spezielle Anfallsformen eingeteilt (Elger und Bauer, 2006) und gemäß dieser Klassifikation auch therapeutisch eingesetzt (siehe Kap. C.10). Man unterscheidet hierbei Antiepileptika zur Therapie von: •
•
•
Anfällen fokalen Ursprungs mit sich daraus entwickelnder Ausweitung zu sekundär generalisierten Anfällen, meist Folge einer Strukturstörung des Kortex (symptomatische Genese). Carbamazepin, Oxcarbazepin, Valproinsäure, Lamotrigin, Gabapentin und Topiramat werden hierfür vorrangig verwendet; dagegen finden Phenytoin, Primidon und Phenobarbital aufgrund ihrer potenzieller UAWs kaum noch Anwendung. So genannten primär generalisierten Anfällen im Rahmen einer genetischen Disposition zur Epilepsie wie Absencen, myoklonisch-impulsiven Anfällen, Grand mal (Valproinsäure, Topiramat, Lamotrigin) sowie Anfällen multifokalen Ursprungs, meist als Folge einer diffusen Hirnschädigung (Clobazam, Topiramat, Vigabatrin, Valproinsäure).
Eine zweite wesentliche Kategorie der Klassifikation aus klinischer Sicht, ist die Einteilung nach ihrer Metabolisierung, die wesentliche Hinweise zur potentiellen Interaktionen der Antiepileptika untereinander oder mit anderen Arzneistoffen, Genuss- und Nahrungsmitteln beinhaltet (Elger und Bauer, 2006). Hierbei unterscheidet man: •
Antiepileptika mit starker hepatischer Enzyminduktion (Carbamazepin, Phe-
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
•
• •
nytoin, Phenobarbital, Primidon, Felbamat); Antiepileptika mit geringer hepatischer Enzyminduktion (Oxcarbamazepin, Topiramat, Tiagabin, Benzodiazepine, Ethosuximid); Antiepileptika mit hepatischer Enzyminhibition (Valproinsäure) sowie Antiepileptika ohne hepatischer Enzyminduktion (Vigabatrin, Gabapentin, Levetiracetam).
Der Wirkungsmechanismus der Antiepileptika ist nur ansatzweise bekannt. Epileptische Anfälle entstehen infolge plötzlicher lokaler (fokaler) oder multifokaler Entladungen von Neuronen des Großhirns. Als mögliche pathophysiologische Ursachen werden folgende Mechanismen diskutiert (Löscher, 2006b): •
•
•
Störungen der Membranfunktion, z.B. durch Veränderungen der Eigenschaften von Ionenkanälen der Membran; morphologische oder funktionelle Änderung der Verschaltung zwischen Neuronen oder Neuronen-Verbänden mit der Folge der Entwicklung eines epileptischen Netzwerks oder Veränderung der Neurotransmission, z.B. Überwiegen exzitatorischer oder Insuffizienz inhibitorischer Einflüsse auf das Neuron.
Entsprechend der molekularen Angriffspunkte und Wirkmechanismen können die Antiepileptika pharmakologisch eingeteilt werden in Antiepileptika, die vorwiegend auf • • •
spannungsabhängige Na+-Kanäle wirken, einen Einfluss auf spannungsabhängige Ca2+-Kanäle vom T-Typ besitzen, als Antagonisten an Rezeptoren exzitatorischer Aminosäuren (siehe Kap. A.1.3.4.1.3) wirken,
165
• •
am GABAA-Rezeptor (siehe Kap. A.1.3.4.2.3) wirken oder durch Änderung der Konzentration von Neurotransmittern oder Neuromodulatoren antikonvulsiv wirken.
Wir möchten an dieser Stelle betonen, dass diese Wirkungsmechanismen aus didaktischen Gründen vereinfacht dargestellt sind und die tatsächliche Situation sehr viel komplexer ist. Beispielsweise wurden für Phenytoin anhand einer Literaturrecherche über 150 verschiedene zellulären und molekularen Wirkmechanismen ermittelt (Löscher, 2006b); trotzdem wird dieser Wirkstoff in der Regel als selektiver Modulator spannungsabhängiger Na+-Kanäle eingestuft. Das Problem der Komplexizität der zellulären und molekularen Wirkeffekte von Antiepileptika wird dadurch erhöht, dass durch die rasant wachsenden Erkenntnisse über die neurobiologische Funktionen des Gehirns ständig neue Angriffspunkte oder Wirkungsmechanismen gefunden werden, die erklären können, warum viele Antiepileptika neben ihrer gewünschten primären Wirkung eine Vielzahl weiterer Wirkungen bei neurologischen und psychiatrischen Erkrankungen haben (z.B. Valproinsäure und Topimarat als Stimmungsstabilisierer, siehe Kap. B.6). Ein Überblick zu den in der Kinder- und Jugendpsychiatrie verwendeten Antiepileptika und ihren Wirkmechanismen gibt die Tab. B.2.1. Wir werden im Folgenden die klinische Neuro-Pharmakologie dieser Wirkstoffe im Detail besprechen und uns an der oben genannten pharmakologischen Gliederung orientieren.
166
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Tab. B.2.1. Vorwiegende Angriffspunkte und Wirkmechanismen von Antiepileptika Pharmakodynamischer Effekt
Beispiele
Primäre Hemmung spannungsabhängiger Na+-Kanäle Reduktion der Fähigkeit von Neuronen, Salven hochfrequenter Aktionspotentiale abzufeuern
Carbamazepin, Lamotrigin, Oxcarbazepin, Phenytoin, Valproinsäure, Zonisamid (zusätzlich: Hemmung von Ca2+-Kanälen des T-Typs, Hemmung der Carboanhydrase, Glutamat-vermittelte antiexzitatorische Wirkung und Modulation GABAerger Neurotransmission)
Verlängerung der Refraktärzeit spannungsabhängiger Na+-Kanäle
Rufinamid
Primäre Hemmung von Ca2+-Kanälen des T-Typs Verhinderung von T-Typ-Ca2+-Strömen in thalamo-kortikale Neuronen
Ethosuximid, Mesuximid
Hemmung anderer Ca2+-Kanäle
Pregabalin (GABA-Analogon, bindet an eine auxiliäre Untereinheit spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle im ZNS, vgl. Gabapentin) Levetiracetam (partielle Inhibition von Ca2+-Kanälen vom N-Typ, Verminderung der Ca2+-Freisetzung aus intraneuronalen Speichern, zudem Bindung an SNAP2A)
Primäre Hemmung der glutamatergen Erregungsübertragung
Felbamat (hemmt Glycin-Bindungsstelle des NMDARezeptors, zusätzlich: Hemmung spannungsabhängiger Na+-Kanäle und Ca2+-Kanäle des T-Typs, Barbituratähnliche Wirkung am GABA-Rezeptor) Topiramat (hemmt AMPA-Rezeptor, zusätzlich: Hemmung spannungsabhängiger Na+-Kanäle, Hemmung der Carboanhydrase, verstärkt GABAerge Neurotransmission)
Verstärkung der GABA-Wirkung Agonisten der Bindungsstelle des GABAARezeptor-Cl–-Komplexes
Barbiturate (Phenobarbital, Primidon) Benzodiazepine (Clonazepam, Diazepam, Lorazepam)
Erhöhung der GABA-Synthese
Gabapentin (aktiviert Glutamat-Decarboxylase, zusätzlich: Hemmung spannungsabhängiger Ca2+-Kanäle vom Nicht-T-Typ, Öffnung von neuronalen ATP-abhängigen K+-Kanälen)
Hemmung der GABA- Wiederaufnahme
Tiagabin
Hemmung der GABA-Transaminase
Vigabatrin (GABA-Analogon)
Andere Wirkmechanismen Hemmung der Carboanhydrase
Sultiam
Induktion azidotischer Stoffwechsellage AMPA, α-Amino-3-hydroxy-5-methyl-4-isoxazolepropionic acid; GABA, γ-Aminobuttersäure; NMDA, NMethyl-D-aspartat
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
B.2.2
Klinische NeuroPsychopharmakologie
B.2.2.1
Anwendungsgebiete
B.2.2.1.1
Antiepileptika mit vorwiegender Wirkung auf spannungsabhängige Na+-Kanäle
B.2.2.1.1.1
Carbamazepin
Carbamazepin ist für alle Alterstufen zur Behandlung fokaler und sekundär generalisierter sowie gemischter Anfälle zugelassen. Retardpräparate sind gemäß der Roten Liste unter sechs Jahren kontraindiziert. Anwendungsbeschränkungen bestehen für Tabletten und Saft unter sechs Jahren. Für die meisten Präparate werden Dosierungsempfehlungen ab dem ersten Lebensjahr genannt. Die Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste: • •
•
•
fokale, komplex fokale und generalisiert tonisch-klonische Anfälle, die Alkohohlentgiftung von Erwachsenen, wo es zur Vermeidung von Entzugskrämpfen verwendet wird, manisch-depressive Erkrankungen, wo es als Stimmungsstabilisator verwendet wird, und die Behandlung der Trigeminusneuralgie.
B.2.2.1.1.2
Lamotrigin
Lamotrigin wird unter zwei Jahren aufgrund mangelnder Erfahrungen nicht empfohlen. Es ist für Kinder zwischen zwei und 12 Jahren als Zusatztherapeutikum bei verschiedenen Epilepsieformen, ab dem 12. Lebensjahr auch als Monotherapie zugelassen. Im Erwachsenenalter besteht eine Zulassung als Rückfallprophylaxe depressiver Episoden im Rahmen bipolarer Störungen. Die Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste:
167
• •
• • •
•
Epilepsien mit Absencen, atypischen Absencen und atonischen Anfällen; myoklonische, generalisiert tonisch-klonische und therapierefraktäre komplexfokale Anfälle; Manien, bipolare affektive Störungen, neuralgische Schmerzen wie diabetische Neuropathie und chronische therapieresistente Schmerzen und Migräne mit Auren.
B.2.2.1.1.3
Oxcarbazepin
Oxcarbazepin ist bei Kindern ab sechs Jahren und Erwachsenen für die Indikation fokale Anfälle mit oder ohne sekundär generalisierte tonisch-klonische Anfälle in Monound Kombinationstherapie zugelassen. Die Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste: • •
•
fokale, komplex fokale und generalisiert tonisch-klonische Anfälle, bipolare affektive Störungen, wo es als Stimmungsstabilisator verwendet wird, und die Behandlung der akuten Manie.
B.2.2.1.1.4
Rufinamid
Rufinamid ist ab dem vierten Lebensjahr in der Zusatzbehandlung bei Anfällen im Rahmen des Lennox-Gastaut-Syndroms zugelassen. B.2.2.1.1.5
Phenytoin
Für die Anwendung von Phenytoin gibt es keine Altersbeschränkung. Die Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste: •
fokale sowie sekundär generalisierte tonisch-klonische Anfälle,
168
• •
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
die Akutbehandlung des Status epilepticus und Krämpfe bei Neugeborenen als i.v. Applikation.
B.2.2.1.1.6
Valproinsäure
Für die Anwendung von Valproinsäure gibt es keine Altersbeschränkung. Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste: •
• • •
generalisierte Epilepsien mit tonischklonischen, tonischen, klonischen, myoklonischen Anfällen und generalisierten Absencen, das Lennox-Gastaut-Syndrom, das West-Syndrom und ein Status epilepticus, als i.v. Applikation.
B.2.2.1.1.7
Zonisamid
Zonisamid ist in Deutschland nur als Zusatztherapie ab dem 18. Lebensjahr zugelassen, in Japan jedoch bereits ab dem 1. Lebensjahr seit 1989 als Monotherapie. Die Anwendung wird in der deutschen Fachinformation (Zonegran®, Stand März 2005) für Kinder und Jugendliche aufgrund fehlender Daten zur Wirksamkeit und Unbedenklichkeit nicht empfohlen. In den europäischen Zulassungsstudien (www.emea.europa.eu/humandocs/ PDFs/EPAR/zonegran/5651905en6.pdf ) wurden jedoch auch Patienten ab 12 Jahren eingeschlossen, die unter einer Dosierung von 6 mg/kg Körpergewicht hinsichtlich der Serumspiegel mit jungen Erwachsenen vergleichbar waren. Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste: •
partielle Anfälle mit oder ohne sekundäre Generalisierung.
B.2.2.1.2
Antiepileptika mit Wirkung auf spannungsabhängige Ca2+Kanäle
B.2.2.1.2.1
Ethosuximid
Für die Anwendung von Ethosuximid gibt es keine Altersbeschränkung. Nach der Roten Liste sind die Anwendungsgebiete: • • •
pyknoleptische, komplexe und atypische Absencen, myoklonisch-astatische Anfälle und die juvenile myoklonische Epilepsie.
B.2.2.1.2.2
Mesuximid
Für die Anwendung von Mesuximid gibt es keine Altersbeschränkung. Nach der Roten Liste sind die Anwendungsgebiete: • •
Petit mal im Rahmen gemischter Epilepsien, Absencen, die mit anderen Antiepileptika nicht ausreichend therapierbar sind.
Gegebenfalls ist ein zusätzlicher Grand-malSchutz zu bedenken. B.2.2.1.2.3
Pregabalin
Pregabalin ist im Kindes- und Jugendalter nicht zugelassen. Nach der Roten Liste sind die Anwendungsgebiete: • •
•
periphere und zentrale neuropathische Schmerzen, Epilepsie zur Zusatztherapie von partiellen Anfällen mit und ohne sekundäre Generalisierung, Behandlung von generalisierten Angststörungen.
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
B.2.2.1.3
B.2.2.1.3.1
Antiepileptika mit Wirkung an Rezeptoren exzitatorischer Aminosäuren
•
zur Add-on-Therapie für Kinder ab vier Jahren und Erwachsenen bei Lennox-Gastaut-Syndrom zugelassen, wenn eine Behandlung mit anderen Antiepileptikla erfolglos blieb.
B.2.2.1.3.2
Topiramat
Topiramat ist bei Kindern ab zwei Jahren und Erwachsenen zur Monotherapie von Epilepsie unabhängig vom Epilepsie-Syndrom oder Anfallstyp sowie zur Kombinationsbehandlung für fokale Anfälle, primär generalisierte tonisch-klonische Anfälle und beim Lennox-Gastaut-Syndrom zugelassen. Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste: • •
Epilepsie und die Migräne-Prophylaxe (mit und ohne Aura) bei Erwachsenen.
B.2.2.1.4 B.2.2.1.4.1
Antiepileptika mit primärer Wirkung am GABAA-Rezeptor Benzodiazepine
Nach der Roten Liste sind die Anwendungsgebiete: •
•
•
•
Felbamat
Nach der Roten Liste ist Felbamat •
169
Primäre Unterbrechung des Status epilepticus: Zulassung für i.v.- oder i.m.Gabe für Lorazepam, Diazepam, Clonazepam ohne Altersbeschränkung. Symptomatische Behandlung von akuten und chronischen Angst-, Spannungsund Erregungszuständen. Zusatztherapie bei primär generalisierten und fokalen Epilepsien ohne Alters-
•
beschränkung (Fachinformation Antelepsin®, Clonazepam, Stand Juni 2002). Prämedikation vor chirurgischen/diagnostischen Eingriffen und postoperative Medikation. Zustände mit erhöhtem Muskeltonus.
B.2.2.1.4.2
Phenobarbital
Für Phenobarbital besteht keine Altersbeschränkung. Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste: •
fokale und generalisierte Anfälle.
Für die parenterale Applikation: • • •
Epilepsie, Status epilepticus und Narkosevorbereitung.
B.2.2.1.4.3
Primidon
Für Primidon besteht keine Altersbeschränkung. Als Antiepileptikum der zweiten Wahl sind die Anwendungsgebiete nach der Roten Liste: • • • •
fokale Anfälle, generalisiert tonisch-klonische Anfälle, Absencen und myoklonische Anfälle (Impulsiv-Petitmal).
B.2.2.1.5
Antiepileptika, die primär eine Änderung der Konzentration von Neurotransmittern oder Neuromodulatoren bewirken
B.2.2.1.5.1
Gabapentin
Nach der Roten Liste sind die Anwendungsgebiete:
170
• •
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
fokale und sekundär generalisierte Anfälle und periphere neuropathische Schmerzen.
Gabapentin ist sowohl für die Monotherapie bei Kindern ab 12 Jahren und Erwachsenen als auch für die Kombinationstherapie bei Kindern ab sechs Jahren und Erwachsenen zugelassen. B.2.2.1.5.2
Tiagabin
Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste: •
fokale sowie sekundär generalisierte Anfälle in Form einer Add-on-Therapie.
Für diese Indikation ist es für Erwachsene und Kinder über zwölf Jahre zugelassen. B.2.2.1.5.3
Vigabatrin
Nach der Roten Liste sind die Anwendungsgebiete: •
•
infantile Spasmen als Monotherapie (WestSyndrom; Arzneistoff der ersten Wahl) sowie als Add-on-Therapie bei pharmakoresistenten fokalen und sekundär generalisierten Anfällen.
B.2.2.1.6
Sonstige Antiepileptika
B.2.2.1.6.1
Levetiracetam
Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste: • • •
partielle Anfälle mit oder ohne Generalisierung, primär generalisierte tonisch-klonische Anfälle, Zusatzbehandlung der juvenilen-myoklonischen Epilepsie (Janz-Syndrom).
Levetiracetam ist in Deutschland zur Monotherapie bei partiellen Anfällen mit oder ohne sekundäre Generalisierung für Patienten ab 16 Jahren mit neu diagnostizierter Epilepsie zugelassen. Weiterhin ist Levetiracetam zur Zusatztherapie bei partiellen Anfällen mit oder ohne sekundäre Generalisierung bei Erwachsenen und Kindern ab vier Jahren sowie bei myoklonischen Anfällen bei Erwachsenen und Jugendlichen ab 12 Jahren mit juveniler myoklonischer Epilepsie und bei primär generalisierten tonischklonischen Anfällen zugelassen. B.2.2.1.6.2
Sultiam
Für Sultiam besteht keine Altersbeschränkung. Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste • • •
die Rolando-Epilepsie, benigne fokale Epilepsien und Grand-mal-Anfälle in Kombination mit anderen Antiepileptika.
B.2.2.2
Klinische Wirksamkeit und Studienlage
Es soll an dieser Stelle ausdrücklich betont werden, dass die objektive Bewertung der klinischen Wirksamkeit der verschiedenen zur Verfügung stehenden Antiepileptika nicht möglich ist, da mit den Wirkstoffen der ersten und zweiten Generation keine oder beziehungsweise nur wenige klinischen Studien durchgeführt wurden, die den heutigen Standards zur Durchführung klinischer Studien (kontrolliert, konfirmatorisch) genügen. Die einzelnen Antiepileptika haben eine sehr unterschiedliche Wirksamkeit bei den verschiedenen Anfallsformen (Abb. B.2.1). Ein Großteil der Antiepileptika wirkt nur bei fokalen oder fokal eingeleiteten generalisierten tonisch-klonischen (Grand-mal-)Anfäl-
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
171
Abb. B.2.1. Wirksamkeit der Antiepileptika bei verschiedenen Epilepsieformen (modifiziert nach Krämer, 2000)
len, während beispielsweise Valproinsäure und Lamotrigin – mit gewissen Einschränkungen auch Topiramat – bei allen oder zumindest fast allen Anfallsformen wirksam sind. Nach Doose (1998) ist etwa bei 80 Prozent der Kinder mit einer medikamentösen Therapie (Mono- beziehungsweise Kombinationstherapie) mit den herkömmlichen Antiepileptika eine Anfallsfreiheit zu erreichen, dies in der Regel auch ohne nennenswerte UAWs. Die im Folgenden genannten Evidenzgrade sind der zum Zeitpunkt der Drucklegung neuesten und umfangreichsten MetaAnalyse entnommen (Glauser et al., 2006a). Evidenzgrad A wurde definiert auf der Grundlage mindestens einer Klasse-I-Studie (doppelblinde placebokontrollierte Studie oder Meta-Analyse in gutem Studiendesign mit ausreichender Stichprobengröße sowie Behandlungsdauer, mit Wirksamkeitsnachweis und guter statistischer Auswertung) oder mindestens zwei Klasse-II-Studien (keine überlegene Wirksamkeit nachgewiesen oder keine ausreichende Studiendauer). Evidenzgrad B beruht auf einer Klasse-IIStudie, Evidenzgrad C auf mindestens zwei Klasse-III-Studien (nicht doppelblind oder nicht placebokontrolliert), Evidenzgrad D
auf einer Klasse-III-Studie, Evidenzgrad E auf offenen Klasse-IV-Studien (alle prospektiven Studien, die nicht unter I-III fallen) oder Expertenmeinungen. Evidenzgrad F ist Antiepileptika ohne jeden Wirknachweis vorbehalten oder bei Hinweisen auf eine Verschlechterung der Anfallsituation. B.2.2.2.1
Antiepileptika mit vorwiegender Wirkung auf spannungsabhängige Na+Kanäle
B.2.2.2.1.1
Carbamazepin
Carbamazepin gehört zu den wichtigsten und am häufigsten verwendeten Antiepileptika. Es ist bei der Therapie von einfachen und komplex-fokalen sowie bei generalisierten tonisch-klonischen Anfällen das Mittel der ersten Wahl. Die Wirksamkeit konnte insbesondere in vergleichenden randomisierten, zum Teil auch doppelblind durchgeführten Studien nachgewisen werden (Marson et al., 2007; Saetre et al., 2007). Eine Meta-Analyse belegte eine hohe Wirksamkeit von Carbamazepin in der Behandlung von Partialepilepsien bei Erwachsenen (Evidenzgrad A). Für Kinder ist die Datenlage bezüglich Carbamazepin schlechter (Evidenzgrad
172
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
C für Partialepilepsien und generalisierte Epilepsie; Glauser et al., 2006a). Zur Therapie von Absencen ist Carbamazepin nicht geeignet, da unter einer Medikation sogar eine Zunahme der Anfallsfrequenz auftreten kann (Snead und Hosey, 1985). B.2.2.2.1.2
Lamotrigin
Da Lamotrigin zu den Antiepileptika der dritten Generation (s.o.) zählt, gibt es eine Reihe von klinischen Studien, die dessen Wirksamkeit bei der Therapie von Epilepsien sowohl als Mono- als auch Add-on-Therapeutikum belegen. Die besten Ergebnisse wurden bei Epilepsien mit Absencen (Evidenzgrad C; Glauser et al., 2006a), beim Lennox-GastautSyndrom und anderen symptomatischen generalisierten Epilepsien erzielt. Wirksam ist es auch in der Behandlung von myoklonischen, generalisiert tonisch-klonischen und therapierefraktären komplex-fokalen Anfällen (Thomé-Souza et al., 2003; McDonald et al., 2005; Valencia et al., 2008). In einer retrospektiven Auswertung der Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Epilepsie in Monotherapie zeigte, dass nur 16 Prozent keine Verbesserung und lediglich drei Prozent eine Verschlechterung der Anfallfrequenz aufwiesen (Valencia et al., 2008). In einer Meta-Analyse der randomisierten kontrollierten Studien bei Erwachsenen erwies sich Lamotrigin als ebenso wirksam wie Carbamazepin oder Phenytoin bei besserer Verträglichkeit (Mullens, 1998). Eine neuere Meta-Analyse beschreibt Lamotrigin als effektiv bei fokalen und primär generalisierten Anfällen (Evidenzgrad C; Glauser et al., 2006a). Eine große randomisierte Studie zur Langzeit-Wirksamkeit von verschiedenen Antiepileptika zeigte, dass Lamotrigin die wirksamste Substanz in der Behandlung von Partialepilepsien ist (Marson et al., 2007). Dagegen ist es bei generalisierten Anfällen weniger wirksam.
B.2.2.2.1.3
Oxcarbazepin
Oxcarbazepin ist das 10-Keto-Analogon von Carbamazepin. In der Leber wird es rasch zu dem eigentlichen Hauptwirkstoff, das Hydroxy-Derivat, reduziert. Obwohl der Wirkungsmechanismus dem von Carabamazepin entspricht, ist es besser als dieses verträglich und ersetzt es dementsprechend auch zunehmend in der Therapie von einfachen und komplex-fokalen sowie generalisierten tonisch-klonischen Anfällen (Schmidt und Elger, 2004). Für Oxcarbamazepin liegt für den Kinder- und Jugendbereich eine deutlich bessere Studienlage vor, als es dies für Carbamazepin der Fall ist. Die Wirksamkeit bei fokalen Epiepsien ist in einer doppelblinden randomisierten kontrollierten Studie sowie weiteren kontrollierten, jedoch nicht doppelblinden Studien nachgewiesen (Evidenzgrad A; Guerreiro et al., 1997; Glauser et al., 2006a). Im Erwachsenenbereich erwies sich Oxcarbazepin als wirksam bei generalisierten Anfällen (Evidenzgrad C), dieser Nachweis fehlt jedoch bislang bei Kindern und Jugendlichen. B.2.2.2.1.4
Rufinamid
Rufinamid ist das jüngste Antiepileptikum von den hier behandelten. Deshalb liegen zur Zeit noch wenige Ergebnisse von klinischen Studien vor. In einer randomisierten doppelblinden placebokontrollierten Studie wurde die Wirksamkeit von Rufinamid bei Lennox-Gastaut-Syndrom-assoziierten Anfällen belegt (Glauser et al., 2008). B.2.2.2.1.5
Phenytoin
Phenytoin wirkt stark antikonvulsiv, im Gegensatz zu den mit ihm chemisch verwandten Barbituraten wirkt es nur sehr schwach sedativ. Bei Erwachsenen, jedoch nicht bei Kindern, wurde die hervorragende Wirk-
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
samkeit bei fokalen Anfällen mehrfach belegt (Evidenzgrad A). Bei anderen Indikationen fehlen bislang Wirksamkeitsnachweise aus doppelblinden randomisierten kontrollierten Studien (Glaser et al., 2006a). B.2.2.2.1.6
Valproinsäure
Die Valproinsäure (beziehungsweise das entsprechende Salz, das Valproat) wird als so genanntes Breitspektrum-Antiepileptikum bezeichnet, da es sich bei der Behandlung zahlreicher Epilepsie-Formen als klinisch wirksam erwiesen hat. Da dieser Wirkstoff zu den Antiepileptika der zweiten Generation zählt, gibt es nur wenige klinische Studien, die den heutigen Standards der klinischen Prüfung von Arzneimitteln genügen. Obwohl es allgemein hin als Arzneistoff der 1. Wahl bei Absencen empfohlen wird, ist die Evidenz diesbezüglich noch nicht durch doppelblinde randomisierte placebokontrollierte Studien belegt, mehrere methodisch schwächere Studien konnten jedoch die Wirksamkeit nachweisen (Evidenzgrad C), was für die Alternativwirkstoffe Lamotrigin und Ethosuximid jedoch gleichermaßen zutrifft. Gleiches gilt für Valproat hinsichtlich generalisierter Anfälle im Kindesalter, bei fokalen Anfällen sowie bei der RolandoEpilepsie (ebenfalls Evidenzgrad C; Glauser et al., 2006a). In der i.v. Applikation wird Valproinsäure auch zur Behandlung eines Status epilepticus verwendet, dabei gilt es nicht als Arzneistoff der ersten Wahl zur Unterbrechung eines Status epileptikus. B.2.2.2.1.7
Zonisamid
Aufgrund seiner vielfältigen Wirkungsmechanismen (s. Tab. B.1) gilt es als ein Antiepileptikum mit breiten therapeutischen Einsatzmöglichkeiten. Zonisamid wird in der Behandlung der refraktären fokalen Epi-
173
lepsien zur Zusatztherapie eingesetzt. (Sackellares et al., 2004; Brodie, 2006). Eine Übersichtsarbeit über 14 japanische, offene Studien kam zu dem Schluss, dass Zonisamid bei Kindern mit guter Verträglichkeit angewendet werden kann und effektiv bei fokalen und generalisierten Epilepsieformen als Add-on- und als Monotherapie ist (Glauser und Pellock, 2002). Eine neue amerikanische, offene Studie an 109 Kindern im Alter von 3–15 Jahren bestätigte diese Schlussfolgerung (Shinnar et al., 2008). B.2.2.2.2
Antiepileptika mit Wirkung auf spannungsabhängige Ca2+Kanäle
B.2.2.2.2.1
Ethosuximid
Ethosuximid ist klinisch nur bei verschiedenen generalisierten Epilepsie-Formen wirksam, während eine Grand-mal-Symptomatik eher verstärkt wird. Für die Indikation Absencen-Epilepsie konnte die Wirksamkeit in kontrollierten, randomisierten Studien nachgewiesen werden (Evidengrad C; Glauser et al., 2006a). B.2.2.2.2.2
Mesuximid
Mesuximid wird zum N-Desmethyl-Derivat von Ethosuximid metabolisiert, so dass eine zum Ethosuximid analoge Wirkung eintritt. Im Übrigen gilt das zu Ethosuximid erwähnte. B.2.2.2.2.3
Pregabalin
Pregabalin ist im Erwachsenenalter als Zusatztherapie bei fokalen Anfällen mit oder ohne sekundäre Generalisierung zugelassen, wobei zur Drucklegung, abgesehen von drei kontrollierten Zulassungsstudien, keine weiteren publizierten kontrollierten Studien vorlagen, welche die Wirksamkeit belegten.
174
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Eine einzelne Meta-Analyse der verfügbaren Daten folgerte jedoch eine gute Wirksamkeit bei Partialepilepsien (Beydoun et al., 2008). Gemäß Fachinformation wird die Anwendung bei Patienten unter 12 Jahren nicht empfohlen, da die Datenlage in dieser Altersgruppe unzureichend sei. Da Pregabalin auch bei Schmerzsyndromen (neuropathische Schmerzen), Angststörungen, depressiven Syndromen und Alkoholabhängigkeit eingesetzt wurde, könnte der Arzneistoff insbesondere für diese psychiatrischen Fachgebiete in Zukunft relevant werden. B.2.2.2.3
Antiepileptika mit Wirkung an Rezeptoren exzitatorischer Aminosäuren
B.2.2.2.3.1
Felbamat
Felbamat ist sowohl bei fokalen als auch bei sekundär generalisierten Anfällen wirksam, insbesondere jedoch bei der Behandlung des Lennox-Gastaut-Syndroms (Jensen, 1994). Die Wirksamkeit wurde bislang jedoch nicht in randomisierten doppelblind kontrollierten Studien nachgewiesen (Hancock und Cross, 2003). Auch in der Behandlung des therapierefraktären West-Syndroms wurde Felbamat eingesetzt (Mikati et al., 2002). B.2.2.2.3.2
Topiramat
Da Topiramat zu den Antiepileptika der dritten Generation zählt, gibt es eine Reihe von klinischen Studien, die dessen Wirksamkeit bei der Therapie von Epilepsien belegen. In einer Meta-Analyse wurde die Effektivität bei Erwachsenen und Kindern mit Partialepilepsien sowie bei generalisierten tonisch-klonischen Anfällen nachgewiesen (Evidenzgrad C; Glauser et al., 2006a). Kein Wirksamkeitsnachweis besteht für Absencen oder die Rolando-Epilepsie.
B.2.2.2.4
Antiepileptika mit primärer Wirkung am GABAA-Rezeptor
B.2.2.2.4.1
Benzodiazepine
Die langwirksamen Benzodiazepine Clonazepam, Clobazam und Diazepam sowie das mittellangwirksame Lorazepam werden in der Regel nur zur Unterbrechung eines Status epilepticus und aufgrund des erheblichen Abhängigkeitspotenzials und zusätzlicher Gewöhnungseffekte (s. Kap. B.3.2.1) in der Langzeitbehandlung verschiedener Epilepsieformen nur zurückhaltend angewendet (Dulac et al., 1983; Canadian Study Group for Childhood Epilepsy, 1998; Siemes und Bourgeois, 2001; Bleich et al., 2002). Infolge Toleranzentwicklung besteht die Gefahr eines Rezidivs (Ernst und Steinhoff, 2007). B.2.2.2.4.2
Phenobarbital
Nach klinischer Erfahrung ist Phenobarbital vor allem bei Grand-mal-Anfällen wirksam, wobei einfach fokale Anfälle besser auf eine Behandlung ansprechen als komplex-fokale Störungen. Eine Meta-Analyse zeigte jedoch, dass Phenobarbital bei Kindern und Erwachsenen sowohl bei fokalen wie primär generalisierten Anfallsformen wirksam ist (jeweils Evidenzgrad C). Kein Wirksamkeitsnachweis besteht für Absencen oder die Rolando-Epilepsie (Glauser et al., 2006a). B.2.2.2.4.3
Primidon
Die klinische Erfahrung hat gezeigt, dass Primidon ähnlich wie der aktive Metabolit Phenobarbital vor allem bei Grand-malAnfällen wirksam ist, wobei einfach-fokale Anfälle besser auf eine Behandlung ansprechen als komplex-fokale Störungen. Primidon scheint außerdem bei psychomotorischen und myoklonischen Anfällen besser wirksam zu sein als Phenobarbital. Diese etwas unterschiedliche Wirksamkeit hängt
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
möglicherweise damit zusammen, dass beim metabolischen Abbau von Primidon nicht nur Phenobarbital entsteht, sondern noch zwei weitere aktive Metaboliten, und möglicherweise Primidon auch eine Eigenwirkung besitzt (Levy et al., 2002). Aktuelle Studien, welche den heutigen Anforderungen entsprechen, existieren nach unserem Wissen nicht. Primidon wird nur noch sehr selten in der Indikation Epilespie eingesetzt. Für andere Indikationsbereiche wie bipolare Störung oder Tremor gibt es jedoch Wirksamkeitsnachweise aus klinischen Studien (z.B. Schaffer et al., 1999). B.2.2.2.5
Antiepileptika, die primär eine Änderung der Konzentration von Neurotransmittern oder Neuromodulatoren bewirken
B.2.2.2.5.1
Gabapentin
In klinischen Untersuchungen hat Gabapentin sich in der Mono- und Add-on-Therapie bei einfach- und komplex-fokalen Anfällen mit oder ohne sekundäre Generalisierung als gut wirksam erwiesen (Anhut et al., 1994; The US Gapabentin Study Group, 2001). Für die Behandlung von Erwachsenen mit Partialepilepsien besteht Evidenzgrad C, für Kinder fehlen entsprechende randomisiert kontrolliert durchgeführte Studien bislang (Glauser et al., 2006a). Gabapentin ist möglicherweise bei Rolando-Epilepsie wirksam (Evidenzgrad D; Glauser et al., 2006a). B.2.2.2.5.2
Tiagabin
Da Tiagabin zu den Antiepileptika der dritten Generation zählt, gibt es eine Reihe von klinischen Studien, die dessen Wirksamkeit bei der Therapie von Epilepsien belegen. Gut wirksam ist Tiagabin in der Zusatzbehandlung von fokalen und sekundär generalisierten Anfällen. In einer doppelblinden randomisiert und placebokontrolliert
175
durchgeführten Studie konnte gezeigt werden, dass Tiagabin eine signifikante Reduktion der fokalen, der komplex-fokalen Anfälle sowie der sekundär generalisierten tonisch-klonischen Anfälle bewirkt hat. 33 Prozent der Patienten mit fokalen Anfällen wiesen eine Reduktion von 50 Prozent oder mehr auf (Crawford et al., 2001). B.2.2.2.5.3
Vigabatrin
In einer prospektiv randomisiert und placebokontrolliert durchgeführten Studie an 40 neu diagnostizierten Kindern mit West-Syndrom wurde die Wirksamkeit von Vigabatrin bei der Monotherapie von infantilen Spasmen nachgewiesen (Appleton et al., 1999). Darüber hinaus ist es in der Add-on-Therapie bei einer bestehenden, nicht optimalen Behandlung mit anderen Antiepileptika bei einfach- und komplex-fokalen Anfällen wirksam, wobei die Evidenzlage nur im Erwachsenenbereich für Partialepilepsien hinreichend ist (Evidenzgrad C; Mumford und Dam, 1989; Glauser et al., 2006a). Bei der Behandlung der generalisierten Epilepsien wie z. B. Myoklonus-Epilepsie oder LennoxGastaut-Syndrom hat sich Vigabatrin als unwirksam gezeigt, es ist sogar eine Häufung der Anfälle unter Vigabatrin beschrieben worden (Michelucci und Tassinari, 1989). B.2.2.2.6
Sonstige Antiepileptika
B.2.2.2.6.1
Levetiracetam
Bezüglich der Datenlage waren die bis 2006 publizierten Studien nicht ausreichend, um in einer Meta-Analyse eine Aussage über die antiepileptische Wirksamkeit von Levetiracetam zu treffen (Glauser et al., 2006a). Neuere Studien mit einem randomisiert kontrollierten Doppelblind-Design belegen die Wirksamkeit von Levetiracetam als Addon-Therapie in der Behandlung idiopathi-
176
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
scher generalisierter Epilepsien mit myoklonischen Anfällen (Noachtar et al., 2008) und therapieresistenten Partialepilepsien (Glauser et al., 2006b). Auch in sehr jungen Patienten unter zwei Jahren erwies sich Levetiracetam in einer retrospektiven Auswertung als wirksam (Krief et al., 2008). In einer retrospektiven Vergleichstudie zwischen Carbamazepin und Levetiracetam zur initialen Monotherapie der fokalen Epilepsie konnte eine gleichwertige Wirkung der beiden Antiepileptika gezeigt werden (Perry et al., 2008). Die Wirksamkeit der antiepiletischen Wirkung von Levetiracetam konnte auch bei therapierefraktären fokalen Epilepsien selbst nach einer misslungenen chirurgischen Epilepsie-Behandlung belegt werden (Motamedi et al., 2003). B.2.2.2.6.2
Sultiam
Zu Sultiam existieren kaum kontrollierte Studien, welche die Wirksamkeit belegen. Lediglich in einer doppelblind kontrollierten randomisierten Studie konnte die Überlegenheit von Sultiam bei Rolando-Epilepsie über Placebo demonstriert werden (Rating et al., 2000), weitere retrospektive Analysen zeigten die Vergleichbarkeit der Wirksamkeit von Carbamazepin und Sultiam (Kramer et al., 2002). Sultiam wird in den Ländern, in denen es verfügbar ist, als ein Arzneistoff der ersten Wahl in der Behandlung von Rolando-Epilepsien angesehen (Wheless et al., 2007). B.2.2.3
Dosierungsempfehlungen
Generell erfolgt die Dosierung nach klinischen Gesichtspunkten. Das heißt, man beginnt mit einer geringen Dosierung und steigert in geeigneten Intervallen, bis die Anfälle (bei noch akzeptablen UAWs) verschwunden sind.
B.2.2.3.1
Antiepileptika mit vorwiegender Wirkung auf spannungsabhängige Na+Kanäle
B.2.2.3.1.1
Carbamazepin
Die klinisch wirksame Tagesdosis beträgt für Carbamazepin bei Kindern 20–25 mg/ kg Körpergewicht. Dabei wird einschleichend und beginnend mit einer Tagesdosis von 5–10 mg/kg Körpergewicht dosiert, die in drei Einzeldosen verabreicht wird. Die Erhöhung kann alle fünf bis sieben Tage erfolgen (die fünffache Halbwertszeit gilt als die Zeit, die für das Erreichen eines Fließgleichgewichts benötigt wird!). Aufgrund der Induktion des CYP3A4-Enzyms kann eine Dosisanpassung noch Wochen nach dem Therapiebeginn notwendig werden. In Tab. B.2.2 ist eine Dosierungsempfehlung für die Einstellung auf Carbamazepin zusammengefasst. B.2.2.3.1.2
Lamotrigin
In Tab. B.2.3 sind Dosierungsempfehlungen sowohl für die Mono- als auch die Kombinationstherapie mit Lamotrigin zusammengefasst. B.2.2.3.1.3
Oxcarbazepin
Die Tab. B.2.4 zeigt die Vorgehensweise bei einer Medikation mit Oxcarbazepin. Falls ein Patient von Carbamazepin auf Oxcarbazepin umgestellt werden muss, kann Carbamazepin sofort durch Oxcarbazepin ersetzt werden. Dabei ist zu beachten, dass in höheren Dosierungen eine 1:1-Umstellung erfolgt, bei niedrigen Dosierungen ist sogar eine Dosiserhöhung auf das 1,5-fache möglich und empfehlenswert, da Oxcarbazepin weniger UAWs aufweist als Carbamazepin.
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
177
Tab. B.2.2. Dosierungsempfehlungen für die antiepileptische Therapie mit einem unretardierten („unret.“) oder retardierten („ret.“) Carbamazepin-Präparat (Fachinformation Tegretal® 200 mg und Tegretal retard® 200 mg, Stand September 2004). Alle Angaben sind Tagesdosierungen. Vor dem 6. Lebensjahr ist Carbamazepin nur in unretardierter Form zugelassen. Die Aufdosierung soll „langsam“ erfolgen. Je nach Verträglichkeit und Setting (stationär/ambulant) können die angegebenen Steigerungsschritte täglich bis wöchentlich vorgenommen werden. Die Erhaltungsdosis beträgt im Allgemeinen für Kinder 10–20 mg/kg Körpergewicht Alter (Jahre)
1–3
4–5
6–10
11–15
Über 15
Darreichungsform
unret.
Anfangsdosis
20–60 mg
unret.
unret./ret
unret./ret
unret./ret
100–200 mg
200 mg
200 mg
Anzahl Gaben
1
1–2
200 mg
Aufdosierung (täglich bis wöchentlich)
20–60 mg (alle 2 Tage)
100–200 mg
100–200 mg
100–200 mg
200 mg
Erhaltungsdosis
200–400 mg
200–400 mg
600 mg
600– 1200 mg
800– 1200 mg
Anzahl Gaben
1–2
1–2
ret.:1 (abends); unret.: 2
ret.: 2 (morgens/abends); unret.: 3
Tab. B.2.3. Dosierungsempfehlungen für Lamotrigin (nach Fachinformation Lamictal®, Stand Juni 2006). Unter 12 Jahren darf Lamotrigin nicht als Monotherapie angewendet werden. VPA, Valproinsäure (Cytochrom P450-(CYP-)Hemmung); OXC; Oxcarbazepin. CYP-Induktor: z.B. Phenytoin, Carbamazepin, Phenobarbital, Primidon, orale Kontrazeptiva. Alter
2–11 Jahre (mg/kg Körpergewicht)
Ab 12 Jahre und Erwachsene (mg)
+VPA
Kombinationsbehandlung +CYPInduktor
+OXC
Monotherapie
1. und 2. Woche
0,15*
0,6**
0,3*oder**
3. und 4. Woche
0,3*
1,2**
Aufdosierungsschritte alle 1–2 Wochen
0,3
1,2
Erhaltungsdosis
Kombinationsbehandlung +VPA
+CYPInduktor
+OXC
25*
jeden 2. Tag 25
50*
25*
0,6*oder**
50*
25*
100**
50*
0,6
50–100
max. 25–50
max. 100
50–100
100– 1–5*oder**, 5–15*oder**, 1–10*oder**, 100– 200– 100– max. 200 max. 400 max. 200 200*oder** 200*oder** 400** 200*oder** mg/Tag mg/Tag mg/Tag
*Gabe einmal täglich **Gabe aufgeteilt auf zwei Einzeldosen morgens und abends
178
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Tab. B.2.4. Dosierungsempfehlungen für die Mono- und Kombinationstherapie mit Oxcarbazepin. Es sind die Tagesdosen angegeben Kinder ab 6 Jahren
Erwachsene
Initialdosis
8–10 mg/kg Körpergewicht, in 2 Einzeldosen
600 mg (8–10 mg/kg Körpergewicht), in 2 Einzeldosen*
Aufdosierung wöchentlich
Max. 10 mg/kg Körpergewicht
Zwischen 150 bis 30, max. 600 mg
Erhaltungsdosis
30 (bis max. 46) mg/kg Körpergewicht, in 2–3 Einzeldosen
600 bis 2400 mg, in 2–3 Einzeldosen
*300 mg als Startdosis verbessert die Verträglichkeit Tab. B.2.5. Dosierungsempfehlungen für Rufinamid nach Fachinformation, Stand April 2008. Die Therapie muss durch einen Pädiater oder Neurologen initiiert werden, der Erfahrungen in der Therapie von Epilepsie hat. Die Tagesdosis sollte auf 2 Gaben (morgens/abends) verteilt und jeweils zu einer Mahlzeit eingenommen werden < 30 kg
30–50 kg
50–70 kg
>70 kg
Körpergewicht Ohne VPA
Mit VPA
Initialdosis
200 mg
200 mg
400 mg
400 mg
400 mg
Steigerungszeitraum
2 Tage
Mind. 2 Tage
2 Tage
2 Tage
2 Tage
Steigerungsdosis
200 mg
200 mg
400 mg
400 mg
400 mg
Max. Enddosis
1000 mg
600 mg
1800 mg
2400 mg
3200 mg
VPA, Valproat
B.2.2.3.1.4
Rufinamid
Die Vorgehensweisen bei der Dosierung von Rufinamid ist in der Tab. B.2.5 zusammengefasst. B.2.2.3.1.5
Phenytoin
In Tab. B.2.6 sind Dosierungsempfehlungen für die antiepileptische Therapie mit Phenytoin zusammengefasst. Da die Wirkung von Phenytoin nur langsam einsetzt und die Biotransformation interindividuell sowie in Abhängigkeit von der Dosis stark schwankt, kann die Tagesdosis nur allmählich gesteigert werden. In der Regel dauert es mehrere Wochen, bis die voll wirksame therapeutische Tagesdosis von 200–300 mg erreicht
ist. Die Erhaltungsdosis ist unter Kontrolle der Serumspiegel (therapeutischer Bereich: 10–20 μg/ml) einzustellen. Eine schnellere Aufdosierung ist zum Beispiel anzustreben, wenn die Anfallssituation des Patienten dies erforderlich macht. In diesem Fall erhalten Erwachsene am ersten Tag 1000 mg, verteilt auf drei Einzeldosen (400–300–300) im Abstand von zwei Stunden und am zweiten Tag als Erhaltungsdosis insgesamt 300 mg. Die weitere Dosierung richtet sich wiederum nach den Serumspiegeln. Bei Kindern bis zwölf Jahren gibt man am ersten Tag 5–8 mg/kg Körpergewicht, am zweiten Tag bei über sechsjährigen 150–200 mg/Tag als Erhaltungsdosis unter Kontrolle des Serumspiegels. Bei Kindern unter sechs Jahren sollte unter Spiegelkontrolle vorsich-
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
179
Tab. B.2.6. Dosierungsempfehlungen für Phenytoin nach Fachinformation Zentropil®, Stand März 2006. Es sind die Tagesdosen angegeben Alter in Jahren
Einschleichende Aufdosierung
Schnelle Aufsättigung
Initial
Aufdosierung alle 3 Tage
Initial
Ab 2. Tag
6 Jahre: 200 mg
s.o.
Ab 13 (bzw. ab 50 kg Körpergewicht)
Bis zu 300 mg
Nach Spiegel
1000 mg
Nach Spiegel
Cave: ab 25 μg/ml toxische Effekte!
tig weiterdosiert werden (25–50 mg/Tag), da der Spiegel in höheren Dosisbereichen der verabreichten Dosis nicht linear, sondern exponentiell folgt. B.2.2.3.1.6
Zieldosis
Zur Behandlung eines Status epilepticus kann die Initialdosis von 15–25 mg/kg Körpergewicht in einer 1:1-Verdünnung mit fünfprozentiger Glukose i.v. appliziert werden.
Valproinsäure
Die durchschnittlich klinisch wirksame Dosierung wird bei Erwachsenen und Jugendlichen mit 1,2–1,8 g pro Tag angegeben. Bei Kindern beträgt die mittlere Tagesdosis in der Regel 30, bei Jugendlichen 25 und bei Erwachsenen 20 mg/kg Körpergewicht. Bei entsprechender Indikation kann bis 100 mg/ kg Körpergewicht gesteigert werden, wobei einschleichend dosiert wird. Die Initialdosis für die retardierte Form beträgt in der Regel 5–10 mg/kg Körpergewicht, die alle vier bis sieben Tage um etwa 5 mg/kg Körpergewicht erhöht werden sollte. Die Tagesdosis kann auf ein bis zwei Einzelgaben verteilt werden. Die volle Wirkung ist in einigen Fällen erst etwa vier bis sechs Wochen nach Therapiebeginn zu beobachten. Ein Fließgleichgewicht stellt sich nach ein bis drei Tagen ein. Der Serumspiegel sollte 100 μg/ml nicht überschreiten.
B.2.2.3.1.7
Zonisamid
Die folgenden Dosierungsempfehlungen beruhen auf den Erfahrungen aus der Anwendung bei Kindern und Jugendlichen in Japan (Glauser und Pellock, 2002) sowie auf den Ergebnissen einer amerikanischen offenen Studie (Shinnar et al., 2008): die Initialdosierung beträgt 1 mg/kg Körpergewicht und sollte ein- bis zweimal wöchentlich um jeweils 2 mg/kg Körpergewicht auf ein Maximum von 12 mg/kg Körpergewicht gesteigert werden. Bei Erwachsenen wird eine Gesamttagesdosis von 300–500 mg empfohlen. Eine signifikante Wirkung ist ab einem Serumspiegel von 20 μg/ml vorhanden. Der therapeutische Bereich bei Erwachsenen liegt bei 10–40 μg/ml Serum.
180
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Tab. B.2.7. Dosierungsempfehlungen für Ethosuximid. Aufgeführt sind die Einzeldosen in mg, die zweimal täglich verabreicht werden (nach Fachinformation Petnidan®, Stand November 2003) Zeitraum
Säuglinge und Kinder < 2 Jahren*
Kinder 2–5 Jahre*
Kinder 6–9 Jahre*
Kinder über 9 Jahre und Erwachsene
1.–3. Tag
–
125
–
250
250
250
250
4.–7- Tag
–
250
125
250
250
375
250
250 500
2. Woche
125
250
250
250
250
500
500
500
3. Woche
250
250
250
250
375
500
500
750
Ab 4. Woche
250
250
250
250
500
500
750
750
Durchschnittliche Erhaltungsdosis
20 mg/kg Körpergewicht
500–1000
500–1000
1000–2000
* Säuglinge und Kleinkinder sollten mit der Darreichungsform Saft behandelt werden Tab. B.2.8. Dosierungsempfehlungen für Mesuximid (nach Fachinformation Petinutin®, Stand April 2008). Die Tagesdosis sollte auf mehrere Gaben verteilt und jeweils während einer Mahlzeit eingenommen werden Alle Altersstufen Initialdosis (mg/Tag)
150
Aufdosierung wöchentlich (mg/Tag)
150
Erhaltungsdosis
9,5–11 mg/kg Körpergewicht Max. 15 mg/kg Körpergewicht d.h. 300- max. 1200 mg
B.2.2.3.2
B.2.2.3.2.1
Antiepileptika mit Wirkung auf spannungsabhängige Ca2+Kanäle Ethosuximid
Die Vorgehensweisen bei der Dosierung von Ethosuximid sind in der Tab. B.2.7 zusammengefasst. B.2.2.3.2.2
Mesuximid
Die Vorgehensweisen bei der Dosierung von Mesuximid sind in der Tab. B.2.8 zusammengefasst.
B.2.2.3.2.3
Pregabalin
Pregabalin wird in zwei bis drei Einzeldosen pro Tag verabreicht. Die Initialdosis beträgt täglich 150 mg, welche nach einer Woche auf 300 mg erhöht und nach einer weiteren Woche auf eine Maximaldosis von 600 mg gesteigert werden kann. Bei vollständig renaler Ausscheidung ist die Dosis bei Nierenfunktionsstörungen individuell anzupassen. B.2.2.3.3
Antiepileptika mit Wirkung an Rezeptoren exzitatorischer Aminosäuren
B.2.2.3.3.1
Felbamat
In Tab. B.2.9 ist die Vorgehensweise bei der Dosierung von Felbamat in der Kombinati-
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
181
Tab. B.2.9. Dosierungsempfehlungen für Felbamat in einer Antiepileptika-Kombinationstherapie (nach Fachinformation Taloxa®, Stand Dezember 2006). Es sind die Tagesdosen angegeben Kinder ab 4 bis 14 Jahren
Jugendliche ab 14 Jahren und Erwachsene
Initialdosis
7,5–15 mg/kg Körpergewicht, in 2–3 Einzeldosen
600–1200 mg, in 2–3 Einzeldosen
Aufdosierung alle 2 Wochen
7,5 mg/kg Körpergewicht
600–1200 mg
Erhaltungsdosis
45 mg/kg Körpergewicht, in 3–4 Einzeldosen
Bis 3600 mg, in 3–4 Einzeldosen
Felbamat soll nicht höher als 3600 mg/Tag dosiert werden. Zu Beginn der Behandlung wird die Dosis von Carbamazepin, Phenytoin und/oder Valproinsäure um 20–30 Prozent reduziert Tab. B.2.10. Dosierungsempfehlungen für die Therapie mit Topiramat (nach Fachinformation Topamax®). Es sind die Tagesdosen angegeben Startdosis 1x abends
1–2-wöchentliche Steigerung
Initiale Zieldosis in 2 Einzeldosen
Kinder (ab 2 Jahre)
0,5–1 mg/kg Körpergewicht
ca. 1 mg/kg Körpergewicht
3–6 mg/kg Körpergewicht (Monotherapie) 5–9 mg/kg Körpergewicht (Addon-Therapie)
Erwachsene
20–50 mg
20–50 mg
100 mg (Monotherapie) 200 mg (Add-on-Therapie)
Bei normaler Nierenfunktion kann die Dosis auch bis 500 mg/Tag in der Monotherapie in zwei Einzeldosen gesteigert werden. Eine langsame Steigerung führt zu einer besseren Verträglichkeit und weniger UAWs
onstherapie mit anderen Antiepileptika zusammengefasst. B.2.2.3.3.2
Topiramat
In Tab. B.2.10 ist die Vorgehensweise für eine Einstellung auf eine antiepileptische Therapie mit Topiramat zusammengefasst. B.2.2.3.4
Antiepileptika mit primärer Wirkung am GABAA-Rezeptor
B.2.2.3.4.1
Benzodiazepine
Die Dosierung erfolgt individuell abhängig von der Wahl des Benzodiazepins, der
Symptomatik, des Alters und des Körpergewichts. Die mittlere Tagesdosis beträgt bei Clobazam für Kinder 0,2–1,0 mg/kg Körpergewicht und bei Erwachsenen 5–40 mg. Diazepam und Clonazepam werden als Wirkstoffe der ersten Wahl in der Notfallbehandlung zur Unterbrechung eines Status epilepticus eingesetzt. Die Verabreichung sollte nach Möglichkeit i.v. erfolgen. Bei fehlendem venösem Zugang wird Diazepam rektal verabreicht. Dabei erhalten Säuglinge bis 1/2 Ampulle (0,01–0,07 mg/kg Körpergewicht), Klein- und Schulkinder bis eine Ampulle (0,01–0,05 mg/kg Körpergewicht) und Erwachsene ein bis zwei Ampullen (0,01–0,03 mg/kg Körpergewicht) Clona-
182
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
zepam. Für Diazepam sind die Dosierungen wie folgt: Säuglinge bis eine Ampulle (0,3–0,5 mg/kg Körpergewicht, als Rectiole 5 mg, nicht bei Säuglingen unter vier Monaten); Klein- und Schulkinder bis eine Ampulle (0,2–0,4 mg/kg Körpergewicht, als Rectiole 10–20 mg, ab 15 kg Körpergewicht); Erwachsene ein bis zwei Ampullen (0,15–0,25 mg/kg Körpergewicht, als Rectiole: 20–30 mg). Auch Lorazepam kann zur akuten Behandlung eines epileptischen Status, z.B. durch geschulte Familienangehörige, als Erstversorgung angewendet werden, insbesondere dann, wenn eine rektale Applikation nicht möglich ist oder als stigmatisiserend empfunden wird. Für diesen Fall ist eine buccale Applikation geeignet (Tavor expidet® 1 mg/2,5 mg) (Ernst und Steinhoff, 2007). B.2.2.3.4.2
Phenobarbital
Kinder erhalten eine Tagesdosis von Phenobarbital zwischen 3 und 4 mg/kg Körpergewicht in ein bis zwei Einzeldosen, Erwachsene je nach Bedarf 1–3 mg/kg Körpergewicht in einer Einzeldosis. Die maximale Einzel-
dosis beträgt für Erwachsene 400 mg, die maximale Tagesdosis 800 mg. Insbesondere während der Eindosierungsphase sollte regelmäßig ein TDM (siehe Kap. A.2.3) erfolgen. Die therapeutische Konzentration liegt zwischen 10 und 40 μg/ ml. B.2.2.3.4.3
Primidon
Primidon sollte einschleichend nach der in Tab. B.2.11 skizzierten Vorgehensweise dosiert werden. Die Tagesdosis sollte dabei auf zwei bis drei Einzelgaben verteilt werden. Die Erhaltungsdosis für Kinder ist ca. 10–30 mg/kg Körpergewicht und bei Jugendlichen und Erwachsenen 10–20 mg/kg Körpergewicht (Tab. B.2.11). Insbesondere während der Eindosierungsphase sollte regelmäßig ein TDM (siehe Kap. A.2.3) erfolgen. Der wirksame Blutspiegel liegt für Primidon zwischen 4 und 15 μg/ml und für seinen Metaboliten Phenobarbital zwischen 10 und 40 μg/ml.
Tab. B.2.11. Dosierungsempfehlungen für Primidon (nach Fachinformation Mylepsinum®, Stand Februar 2008). Die Dosierungen sind in mg angegeben. Abweichend von diesem Schema kann die Gesamtdosis auf drei Gaben verteilt werden Alter
Säuglinge
Bis 2 Jahre
2–5 Jahre
6–9 Jahre
Ab 9 Jahre und Erwachsene
Tag
m
a
m
a
m
a
m
a
m
a
1–3
0
62,5
0
62,5
0
62,5
62,5
62,5
62,5
62,5
4–7
62,5
62,5
0
125
0
125
62,5
125
125
125
2. Woche
62,5
62,5
125
125
62,5
125
125
250
250
250
3.Woche
62,5
125
125
167,5
125
250
250
250
375
375
Ab 4.Woche
125
125
125
167,5
250
250
250
500
375
375
Erhaltungsdosis a, abends; m, morgens
250–500
500–750
750–1000
750–1500
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
B.2.2.3.5
B.2.2.3.5.1
183
Antiepileptika, die primär eine Änderung der Konzentration von Neurotransmittern oder Neuromodulatoren bewirken Gabapentin
Die klinisch wirksame Tagesdosis liegt bei Kindern zwischen 30 und 50 mg/kg Körpergewicht. Die Therapie wird mit einer Tagesdosis von 10–15 mg/kg Körpergewicht begonnen, die in drei Einzeldosen appliziert wird, und jeden Tag um 10 mg (maximal 100 mg wenn verträglich!) gesteigert wird. Die wirksame Dosis soll so innerhalb von etwa drei Tagen erreicht werden. Die tägliche Initialdosis beträgt bei Erwachsenen 600 mg, die in zwei Einzeldosen am ersten Tag verabreicht wird. Diese wird dann auf 900 mg (drei Einzeldosen) am zweiten Tag erhöht und dann täglich (bis zu alle 2–3 Tage) in 300-mg-Schritten, je nach Verträglichkeit, bis auf 1200 beziehungsweise 2400 (oder bis 4800) mg (entsprechend 15 bis 30 mg/kg Körpergewicht) gesteigert.
B.2.2.3.5.2
Tiagabin
Die vom Hersteller empfohlene Anfangsdosis beträgt 7,5–15 mg pro Tag, die in drei Einzeldosen und stets zu den Mahlzeiten eingenommen wird. In wöchentlichen Abständen wird diese dann um 5–15 mg/Tag auf eine tägliche Erhaltungsdosis erhöht, die bis zu 70 mg betragen kann und deren Höhe davon abhängt, ob die zusätzlich eingenommenen Antiepileptika die CYP-Enzyme hemmen. Im Falle CYP-hemmender Antiepileptika beträgt die Erhaltungsdosis 30–50 mg/Tag und bei Antiepileptika ohne CYPhemmende Wirkung 15–30 mg/Tag. B.2.2.3.5.3
Vigabatrin
In Tab. B.2.12 sind die Dosierungsempfehlungen für eine antiepileptische Therapie mit Vigabatrin zusammengefasst. B.2.2.3.6
Sonstige Antiepileptika
B.2.2.3.6.1
Levetiracetam
Die Tagesdosis wird stets auf zwei gleich große Einzeldosen verteilt und kann unabTab. B.2.12. Dosierungsempfehlungen für Vigabatrin (nach Fachinformation Sabril®, Stand Oktober 2007). Vigabatrin wird ein- oder zweimal täglich vor oder nach den Mahlzeiten eingenommen. Für Vigabatrin sind spezielle Hinweise der Fachinformation obligat zu beachten (Reservemedikament!). Körpergewicht
Anfangsdosis
Wöchentliche Steigerung
Optimale Einstellung pro Tag
Säuglinge und Kleinkinder
< 10 kg
40 mg/kg Körpergewicht
Keine Angabe.
40–100 mg/kg Körpergewicht West-Syndrom bis 150 mg/kg Körpergewicht
Kinder
10–15 kg 15–30 kg 30–50 kg
40 mg/kg Körpergewicht
20 mg/kg Körpergewicht
500–1000 mg 1000–1500 mg 1500–3000 mg
Jugendliche oder Erwachsene
> 50 kg
1000 mg
500 mg
2000–3000 mg
184
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
hängig von den Mahlzeiten eingenommen werden (Fachinformation Keppra®, Stand Dezember 2007). Als Monotherapie ab 16 Jahren wird eine Initialdosis von 500 mg/ Tag gewählt, die nach zwei Wochen auf 1000 mg erhöht wird. Abhängig vom klinischen Ansprechen kann bis auf max. 3000 mg/Tag gesteigert werden. Als Zusatztherapie wird Levetiracetam gewichtsabhängig dosiert: Kinder und Jugendliche ab vier Jahren über 50 kg sowie Erwachsene nehmen täglich initial 1000 mg ein, Steigerungen sind um jeweils 1000 mg/Tag alle zwei bis vier Wochen auf max. 3000 mg möglich. Kinder und Jugendliche unter 50 kg erhalten initial 20 mg/kg Körpergewicht. Steigerungen um max. 20 mg/kg Körpergewicht innerhalb zwei Wochen sind bis auf eine maximale Tagesdosierung von 60 mg/ kg Körpergewicht möglich. B.2.2.3.6.2
Sultiam
Die Tagesdosis beträgt für Kinder 5–10 mg/ kg Körpergewicht, die in zwei bis drei Einzeldosen verabreicht wird; bei Erwachsenen beträgt sie zwischen 400 und 800 mg (max. 2000 mg). Die Initialdosis beträgt für Kinder 50 und für Erwachsene 100 mg pro Tag, diese wird in 50-mg-Schritten aufdosiert.
te in antikonvulsiv wirksamen Dosen nicht sedativ beziehungsweise hypnotisch wirken und unter chronischer Anwendung nur geringe UAWs besitzen. Bei vergleichbarer antikonvulsiver Wirkung von Phenobarbital, Primidon, Phenytoin, Carbamazepin und Valproinsäure werden die letzten beiden Antiepileptika unter Berücksichtigung des Risikos von UAWs im Erwachsenalter und auch im Kindes- und Jugendalter bevorzugt (Wheless et al., 2007). Diese Wirkstoffe sind weniger sedierend als Phenobarbital und Primidon. Phenytoin macht häufig eine Gingivahyperplasie und ist wegen seiner Sättigungskinetik schlechter steuerbar als Carbamazepin und Valproinsäure. Einige Antiepileptika der zweiten und dritten Generation scheinen zudem bei ähnlich hoher Wirksamkeit und besserer Verträglichkeit in Zukunft einen zunehmend wichtigeren Platz in der Behandlung kindlicher Epilepsien einzunehmen (Glauser et al., 2006a; LaRoche, 2007; Stefan und Feuerstein, 2007). Um das Risiko des Auftretens von UAWs möglichst gering zu halten, muss man generell •
• B.2.2.4
UAWs
Die medikamentöse Behandlung epileptischer Anfälle dauert in der Regel Jahre, nicht selten Jahrzehnte. Die hierdurch bedingten Belastungen für die betroffenen Patienten erfordern eine sorgfältige Indikationsstellung. Dabei ist das Risiko der unterlassenen Therapie dem Risiko des Auftretens von UAWs unter der Antiepileptika-Therapie gegenüberzustellen. Bei wiederholtem Auftreten von Anfällen ist in der Regel das Risiko der unterlassenen Therapie größer als das Risiko der UAWs. Ein ideales Antiepileptikum soll-
einschleichend und so niedrig wie möglich, aber ausreichend hoch dosieren, um Anfälle möglichst sicher zu vermeiden und den Patienten klinisch und laborchemisch (Kontrolle der Blutspiegel, des Blutbildes, des Urins, der Leberfunktion) sorgfältig überwachen.
Die hier genannten UAWs beruhen allesamt auf den Fachinformationen (FIs), welche mit Einschränkungen betrachtet werden müssen (vgl. B.1.5).
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
B.2.2.4.1
Antiepileptika mit vorwiegender Wirkung auf spannungsabhängige Na+Kanäle
B.2.2.4.1.1
Carbamazepin
Als UAWs kommen besonders zu Beginn der Therapie gastrointestinale Beschwerden mit Übelkeit und Erbrechen vor. Weiterhin kann es zu Müdigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Doppelsehen, Sehstörung, Ataxie, Dyskinesien und Leukopenien kommen. Als allergische Reaktion sind Hautausschläge mit etwa zehn Prozent relativ häufig, selten kann es auch zu einem Stevens-Johnson-Syndrom und/oder einem medikamentös induzierten Lupus erythematodes, zu aplastischer Anämie oder Agranulozytosen (1:200000) kommen. Eine Hyponatriämie, welche meist klinisch irrelevant bleibt, sowie kognitive Störungen sind als chronische UAWs möglich. Für Carbamazepin wurde eine Teratogenität mit kleinen und großen Malformationen beschrieben. Die Inzidenzrate für eine Spina bifida ist in der Literatur mit 0,5 Prozent angegeben (Siemes und Bourgeois, 2001). Diese erhöht sich in einer Kombinationstherapie mit Valproinsäure. B.2.2.4.1.2
Lamotrigin
Als UAWs können Müdigkeit, Tremor, Ataxie, das Sehen von Doppelbildern, Nystagmus, Schwindel sowie Exantheme und – selten – andere, schwerwiegende allergische Haut- und Schleimhaut-Reaktionen auftreten. Die allergischen Reaktionen machen sich durch eine blasse Schwellung der Haut, vor allem im Gesichtsbereich (Quincke-Ödem), eventuell unter Mitbeteiligung der Schleimhäute im Mund, Rachen, Kehlkopf und Magen-Darm-Trakt. In seltenen Fällen kann eine Hautabschälung und Fieber (StevensJohnson-Syndrom) sowie ein Lyell-Syndrom
185
auftreten. Trotz des Schweregrads sind diese Symptome in den meisten Fällen reversibel, in einigen Fällen bleiben auch nach der Absetzung von Lamotrigin irreversible Vernarbungen zurück. B.2.2.4.1.3
Oxcarbazepin
Als UAWs kommen besonders zu Beginn der Therapie gastrointestinale Beschwerden mit Übelkeit und Erbrechen vor. Die UAWs sind im Vergleich zum Carbamazepin deutlich geringer, da beim metabolischen Abbau von Oxcarbazepin kein Epoxid entsteht. Weiterhin kann es zu Müdigkeit, Schwindel, Kopfschmerzen, Doppelsehen, Sehstörung, Ataxie, Dyskinesien und Leukopenien kommen. Als allergische Reaktion sind Hautausschläge mit etwa zehn Prozent relativ häufig, selten kann es auch zu einem StevensJohnson-Syndrom oder einem medikamentös induzierten Lupus erythematodes, zu aplastischer Anämie oder Agranulozytosen (1:200000) kommen. Eine Hyponatriämie, welche meist klinisch irrelevant bleibt, sowie kognitive Störungen sind als chronische UAWs möglich. Im Gegensatz zu Carbamazepin wurde für Oxcarbazepin keine teratogene Wirkung beschrieben. B.2.2.4.1.4
Rufinamid
In einer randomisierten pacebokontrollierten doppelblinden Studie an über 130 Personen mit Lennox-Gastaut-Syndrom wurde Rufinamid als gut verträglich beschrieben. Die häufigsten UAWs waren Müdigkeit (24,3% Verum vs 12,5% Placebo) und Erbrechen (21,6% vs 6,3%) (Glauser et al., 2008). Gemäß Fachinformation kann Rufinamid darüber hinaus zu Kopfschmerzen, Diplopie und Schwindel mit Gangstörungen sowie zu Appetitminderung mit Gewichtsabnahme und zu Angst und Schlaf-
186
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
losigkeit führen. Häufig werden gastrointestinale Beschwerden, Ausschläge, Epistaxis und Rückenschmerzen genannt, gelegentlich treten allergische Reaktionen und eine Leberenzymerhöhung auf. Patienten, die Auschläge entwickeln, müssen engmaschig überwacht werden, um eine Überempfindichkeitsreaktion frühzeitig zu erkennen. Unter Rufinamid wurden Fälle von Status epilepticus beobachtet. Bei Verschlechterung der Anfallssituation unter Rufinamid sollte die Medikation gegebenenfalls abgesetzt werden. B.2.2.4.1.5
Phenytoin
Als UAWs werden Blickrichtungsnystagmus, Verschwommensehen, Diplopie, Ataxie, verwaschene Sprache, Tremor, Konzentrationsschwierigkeiten, Müdigkeit, Schläfrigkeit und unwillkürliche drehende Bewegungen des Körpers berichtet. Weitere mögliche UAWs sind allergische Hautreaktionen (Exantheme) sowie Osteoporose und Osteomalazie. Selten kommt es zu einer Vaskulitis oder hämatotoxischen Effekten wie aplastischer Anämie oder Panzytopenie. Zahnfleischwucherungen (Gingivahyperplasien) können Zahnarztbehandlungen erforderlich machen. Bei Frauen und Kindern kann es zu einem starken Wachstum der Haare (Hirsutismus) kommen. Nach langjähriger Behandlung kann sich eine Vergröberung der Gesichtszüge entwickeln. Auch Kleinhirnatrophien mit konsekutiven zerebellären Ataxien können auftreten. Selten treten Akne, Lymphadenopathien und Leberentzündungen (Hepatitis) auf. B.2.2.4.1.6
Valproinsäure
Häufig genannte UAWs sind gastrointestinale Beschwerden, die wegen der verzögerten Freisetzung bei den retardierten Präparaten seltener auftreten. Weiterhin kann eine mä-
ßig ausgeprägte Erhöhung des AmmoniakSpiegels vorkommen, die die Leberfunktion aber nicht beeinträchtigt, und nur beim Auftreten zusätzlicher neurologischen Symptome weitere Untersuchungen erfordert. Gelegentlich kann es auch zu Appetitschwankungen, zu einer Gewichtszunahme oder –abnahme, zu Haarausfall (reversibel), Tremor, Parästhesien und Schläfrigkeit kommen. Schwerwiegende allergische Reaktionen, die gelegentlich auftreten können, sind Thrombopenien und Leukopenien. Diese bilden sich oft spontan unter Beibehaltung der Medikation zurück, jedoch immer nach Absetzung von Valproinsäure. In Einzelfällen wurde eine Knochenmarksdepression mit Lymphopenien, Neutropenien, Anämien und Panzytopenien beschrieben. Gelegentlich wurde auch eine erniedrigte Konzentration von Fibrinogen und/oder Faktor VIII mit entsprechend verlängerter Blutungszeit beschrieben. In Einzelfällen wurde auch über auftretene Hypothermien berichtet (Arzneimittelkommission der deutschen Ärzteschaft, 2003). Besonders bedeutsam sind die zwar seltenen, jedoch teilweise tödlich verlaufenden Leberfunktionsstörungen (vor allem im Kleinkindesalter). Daher ist eine genaue Aufklärung des Patienten und gegebenenfalls ihrer Eltern über mögliche Frühsymptome einer Leberschädigung dringend erforderlich. Weiterhin sind Kontrollen der Thrombozytenzahl und der Gerinnungsparameter sowie der Leberfunktion durchzuführen. Die Valproinsäure hat eine teratogene Wirkung. Das Risiko für Neuralrohrdefekte (Spina bifida) beträgt ein bis zwei Prozent. Durch die kontinuierliche Einnahme von Folsäure, die bereits vor einer geplanten Schwangerschaft beginnen muss, kann das Risiko deutlich reduziert werden. Pränataldiagnostische Untersuchungen (Ultraschall,
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
α-Fetoprotein-Bestimmung) können zusätzlich durchgeführt werden. Während der Valproinsäure-Plasmaspiegel bei Schwangeren im ersten und zweiten Trimenon annährend konstant bleibt, kann er im letzten Trimenon trotz gleicher Dosierung sowohl stark ansteigen (wegen veränderter Plasmabindung) als auch abfallen (aufgrund erhöhter renaler und hepatischer Clearance). B.2.2.4.1.7
Zonisamid
Sehr häufig vorkommende UAWs sind Anorexie, Agitiertheit, Reizbarkeit, Verwirrungszustände, Depression, Ataxie, Schwindel, Gedächtnisbeeinträchtigung, Schläfrigkeit, Diplopie; häufig vorkommende sind Überempfindlichkeit, Aufmerksamkeitsstörungen, Sprachstörungen, Bauchschmerzen, Diarrhoe, Übelkeit, Hautausschlag, Fieber, Gewichtsabnahme; gelegentlich kommen Pneumonie, Harnwegsinfektion, Hypokaliämie, psychotische Störungen, Wut, Aggression, Suizidgedanken, Suizidversuch, Anfälle, Erbrechen, Cholezystitis, Cholelithiasis, Harnsteine, Nephrolithiasis vor; sehr selten sind Agranulozytose, aplastische Anämie, Leukozytose, Leukopenie, Lymphadenopathie, Panzytopenie, Thrombozytopenie, metabolische Azidose, Halluzinationen, Schlaflosigkeit, Amnesie, Koma, Grand-MalAnfall, myasthenisches Syndrom, Malignes Neuroleptisches Syndrom, Dyspnoe, Aspirationspneumonie, Respirationsstörungen, Pankreatitis, Leberzellschädigung, Anhidrose, Erythema multiforme, Pruritus, StevensJohnson-Syndrom, Rhabdomyolyse, Hydronephrose, Niereninsuffienz, abnormer Urin, Erhöhung der Kreatinphosphokinase im Blut, Erhöhung des Blutharnstoffs, abnormer Leberfunktionstest und Hitzschlag.
187
B.2.2.4.2
Antiepileptika mit Wirkung auf spannungsabhängige Ca2+Kanäle
B.2.2.4.2.1
Ethosuximid
UAWs treten bei ca. 15 Prozent der mit Ethosuximid behandelten Patienten auf. Überwiegend handelt es sich dabei um Übelkeit, Erbrechen, Singultus und Bauchschmerzen. Gelegentlich können Lethargie, Zurückgezogenheit, Kopfschmerzen, Schlaf- und Appetitstörungen, Gewichtsverlust, Stuhlunregelmäßigkeiten, Ataxie und Ängstlichkeit auftreten; selten können auch paranoid-halluzinatorische Erscheinungen vorkommen. Daher ist Vorsicht geboten bei Patienten mit psychiatrischer Anamnese. In Einzelfällen wurde über reversible Dyskinesien nach der ersten Einnahme berichtet. In diesen Fällen ist eine Absetzung der Medikation und gegebenenfalls die i.v. Gabe von Diphenhydramin erforderlich. Selten können allergische Reaktionen wie Exantheme und das Stevens-Johnson-Syndrom auftreten. Ebenfalls selten wurden Lupus erythematodes, Leukopenien und Agranulozytosen beobachtet und in Einzelfällen kam es zu aplastischen Anämien und Panzytopenien. B.2.2.4.2.2
Mesuximid
Unter der Therapie mit Mesuximid werden ähnliche, aber häufiger auftretende UAWs wie unter der Therapie mit Ethosuximid beschrieben (Levy et al., 2002). Möglicherweise hängt dies damit zusammen, dass beim Abbau von Ethosuximid unwirksame Metabolite entstehen, während Mesuximid zu dem für die Wirkung verantwortlichen NDesmethyl-Derivat verstoffwechselt wird. B.2.2.4.2.3
Pregabalin
In der Fachinformation werden eine Vielzahl von potentiellen UAWs aufgeführt, deren Zusammenhänge mit der Medika-
188
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
tion nicht eindeutig geklärt sind. Als sehr häufig (95%; Metabolisierung über CYP3A4 mit nur geringer Induktion.
Anwendungsgebiete
Für Erwachsene seit 2005 zur Zusatztherapie bei fokalen Anfällen mit oder ohne sekundäre Generalisierung zugelassen, noch keine Zulassung für das Kindes-und Jugendalter.
Dosierung
Kinder: Zieldosis 4–12 mg/kg Körpergewicht; Erwachsene Tagesdosis: 300–500 mg.
UAWs
Anorexie, Ataxie, Schwindel, Diplopie. Selten Aufmerksamkeitsstörungen, Übelkeit, Gewichtsabnahme. Sehr selten Nierensteine, psychotische Symptome.
Anwendungsbeschränkungen
Die pharmakodynamische Wechselwirkung mit Carboanhydrase-Hemmern wie Topiramat führt zu hitzebedingten Erkrankungen und Nephrolithiasis. Auch die Kombination mit Anticholinergika ist zu vermeiden.
B.2 Antiepileptika (Antikonvulsiva)
B.2.6
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“This page left intentionally blank.”
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika J. Seifert, T. Renner, M. Gerlach
B.3.1
Definition, Einteilung, Wirkungsmechanismen
Unter die Begriffe Anxiolytika und Tranquillantien (Synonyme: Ataraktika, Psychosedativa, Sedativa, Tranquilizer) werden eine Reihe von Neuro-Psychopharmaka zusammengefasst, die • • • •
eine vorwiegend dämpfende Wirkung auf die Psyche haben, die Angst vermindern, affektiv entspannen und Erregungszustände sowie deren somatischen Begleiterscheinungen mildern.
Gegenwärtig werden in vielen Psychopharmaka-Lehrbüchern unter den Begriffen „Anxiolytika, Tranquilizer oder Hypnotika“ nahezu ausschließlich Benzodiazepine aufgelistet. Diese begriffliche Zuordnung wird jedoch dem klinischen Wissensstand nicht gerecht. Tatsächlich sind inzwischen bestimmte „Antidepressiva“ Therapeutika erster Wahl zur Behandlung von Schlafstörungen und durchaus nicht die „klassischen“ Hypnotika; und selbst bestimmte Neuroleptika sind störungsspezifisch auch in der Indikation „Tranquilizer“, „Sedativa“ oder „Hypnotika“ erste Wahl. Dieses Kapitel fasst dem Wissensstand entsprechend die Substanzgruppen zusammen, die für die Pharmakotherapie der Zielsymptome „Erregungsstörung“, „Angststörung“ und „Schlafstörung“ klinisch in der Kinderund Jugendpsychiatrie in Frage kommen.
Viele Anxiolytika, wie insbesondere die Benzodiazepine, wirken darüber hinaus auch krampfhemmend und muskelrelaxierend. In höherer Dosierung sind Anxiolytika auch schlafanstoßend, während andererseits nicht alle Schlafmittel (Hypnotika) auch anxiolytische Eigenschaften aufweisen. Mit der in den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts eingeleiteten Entwicklung spezifischer Anxiolytika ist der frühere Begriff „Sedativa“, der nach dem heutigen Wissensstand nicht mehr präzise genug ist, sehr stark in den Hintergrund getreten. Er wird im Wesentlichen noch im Zusammenhang mit Tagessedation benutzt, meint hier aber eigentlich „Anxiolyse“ beziehungsweise „Tranquillisierung“ (Müller und Hartmann, 1995). Ideale Anxiolytika wirken über einen weiten Dosierungsbereich ausschließlich entspannend und angstlösend, ohne die hypnotischen unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) hervorzurufen (Abb. B.3.1). Hypnotika unterscheiden sich von den idealen Anxiolytika durch eine steile Dosis-Wirkungs-Kurve (Abb. B.3.1): der anxiolytische Effekt geht rasch in eine hypnotische und (bei höherer Dosierung) narkotische Wirkung über. Anxiolyse, Schlafinduktion und Narkose werden daher bei diesen Arzneistoffen als unterschiedliche Phasen eines Kontinuums angesehen, welche durch unterschiedliche Intensitätsstufen einer zentral dämpfenden, vigilanz-
226
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Abb. B.3.1. Dosis-Wirkungskurven für Anxiolytika und Hypnotika
mindernden Wirkung gekennzeichnet sind. Zu den Vertretern der „Hypnotika“ gehören die Barbiturate ebenso wie auch Ethanol als Nicht-Arzneimittel. Barbiturate werden in diesem Kapitel nicht weiter besprochen, da sie aufgrund der gegenüber Benzodiazepinen geringeren therapeutischen Breite und wegen des damit verbundenen erhöhten Letalitätsrisikos (Atemdepression) bei Intoxikation, sowie wegen der Toleranzentwicklung, in der klinischen Anwendung nahezu obsolet sind. Das Chloralhydrat (Chloraldurat) wird noch als Einschlafmittel eingesetzt (s. Kap. C.16). Anxiolytika und Hypnotika sind chemisch und pharmakologisch eine heterogene Gruppe von Neuro-Psychopharmaka (Tab. B.3.1). Dazu zählen neben den bereits oben erwähnten Barbituraten die
•
Benzodiazepine als klassische Vertreter dieser Klasse von Neuro-Psychopharmaka. Sie gehören zu den weltweit am häufigsten verordneten Medikamenten in fast allen Disziplinen der Medizin.
Zu dieser Klasse gehören aber auch: •
• •
•
Antidepressiva mit serotoninerger und/ oder antihistaminerger Wirkkomponente, niedrigpotente Neuroleptika (Definition s. Kap. B.4), diverse Arzneistoffe wie Buspiron, Hydroxyzin und Opipramol mit unterschiedlichen Wirkmechanismen, β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker),
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
227
Tab. B.3.1. Pharmakodynamische Effekte von Anxiolytika und Hypnotika Substanzgruppe
Primäre pharmakodynamische Effekte
Benzodiazepine
Agonisten der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-RezeptorCl–-Kanal-Komplexes. Verstärkung der hemmenden Funktion zentraler GABAerger Neuronen.
Antidepressiva mit serotoninerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente
Wiederaufnahme-Hemmer von Serotonin oder Monoamin-Oxidase-Typ-A-(MAO-A-)Hemmer und/oder Antagonisten von Histamin-H1,2-Rezeptoren. Verstärkung der Wirkung zentraler serotoninerger Neuronen.
Niederpotente Neuroleptika
D2-Dopamin-Rezeptorantagonisten, hemmen die Bindung von Dopamin an die entsprechenden Neurorezeptoren und damit die durch Dopamin hervorgerufene Wirkung im ZNS. Zusätzliche substanzspezifische antagonistische Wirkungen an adrenergen, histaminergen und/oder serotoninergen Rezeptoren.
Diverse Anxiolytika
• • •
Buspiron
5-HT1A-Rezeptor-Partialagonist, D2-Dopamin-Rezeptorantagonist; keine sedierenden, muskelerschlaffenden und antikonvulsiven Eigenschaften.
Hydroxyzin
H1-Histamin-Rezeptorantagonist, zusätzlich antikonvulsive, antiemetische, anticholinerge und lokalanästhetische Eigenschaften.
Opipramol
Starker Sigmaligand, hochaffiner Antagonist histaminerger Rezeptoren, niedrigaffiner Antagonist dopaminerger D2-, serotoninerger 5-HT2A- und adrenerger α1-Rezeptoren.
β-AdrenozeptorAntagonisten (β-Blocker)
Antagonisten von β−adrenergen Rezeptoren, Hemmung des vegetativen Nervensystems.
Antihistaminika
Antagonisten peripherer und/oder zentraler Histamin-H1,2-Rezeptoren.
Antihistaminika, bestimmte Phytopharmaka und bestimmte Antiepileptika.
Die Antidepressiva, Antiepileptika und Neuroleptika werden ausführlich in den Spezialkapiteln B.1, B.2 und B.4 besprochen. Wir erörtern in diesem Kapitel nur diejenigen Vertreter, die eine Rolle in der Therapie von Angst- und Schlafstörungen in der Kinderund Jugendpsychiatrie spielen. Nicht weiter besprochen werden pflanzliche Präparate verschiedener Herkunft (Baldrian, Hopfen, Melisse und andere), die in der Naturheilkunde zur Sedierung und Beruhigung im Sinne einer Anxiolyse eingesetzt werden.
Auf Baldrian wird im Kapitel zu Schlafstörungen (C.16) weiter eingegangen. Extrakte der Kava-Kava-Wurzel (piper methysticum) zeigten bei Spannungszuständen eine Wirksamkeit und waren für diese Indikation zugelassen; aufgrund der Hepatotoxizität von Kava-Kava-Extrakten wurde die Zulassung durch das BfArM jedoch im Jahr 2002 entzogen. In den aktuellen Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (Blanz et al., 2007) werden pflanzliche Wirkstoffe zur Behandlung von Phobien und Angststörungen nicht empfohlen und spielen in der medikamentösen Behandlung von Angststörungen und Phobien keine relevante
228
Rolle, während bei Schlafstörungen Phytopharmaka Anwendung finden (s. Kap. C.16). Ebenso nicht besprochen werden Antiepileptika, die auch als Anxiolytika und Hypnotika eingesetzt werden könnten, da es bisher nur wenige und nahezu ausschließlich mit Erwachsenen durchgeführte Wirksamkeitsstudien gibt, und diese auch nicht zur Behandlung von Angststörungen und Phobien empfohlen werden. Unter dem Begriff Benzodiazepine verstand man ursprünglich nur eine chemische Klasse von Arzneistoffen, die sich vom 1,4-Benzodiazepin-Grundgerüst ableiteten (Abb. B.3.2). Typische Beispiele sind Chlordiazepoxid (das erste Benzodiazepin, das in die Klinik eingeführt wurde), Diazepam,
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Lorazepam und Oxazepam. Aufgrund ihrer Wirkung als Agonisten der BenzodiazepinBindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–Kanal-Komplexes (Tab. B.3.1, siehe auch Kap. A.1.3.4.2.3) hat sich später dann in den pharmakologischen Lehrbüchern die Bezeichnung Benzodiazepine für eine pharmakologische Substanzgruppe durchgesetzt. Hierzu gehören neben den 1,4-Benzodiazepinen das 1,5-Benzodiazepin Clobazam, das 1,4-Thienodiazepin Clotiazepam, 1,4Imidazolbenzodiazepine wie z.B. das Midazolam oder Flumazenil, 1,4-Triazolobenzodiazepine wie z.B. Alprazolam und Triazolam, aber auch Zopiclon und Zolpidem; Wirkstoffe, die von ihrer Struktur nicht zu den Benzodiazepinen gehören (Abb. B.3.2).
Abb. B.3.2. Strukturformeln von pharmakologisch definierten Benzodiazepinen
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
Wenn im Folgenden von Benzodiazepinen gesprochen wird, dann verstehen wir hierunter die pharmakologisch definierte Substanzgruppe. Das Clonazepam wird in Deutschland primär als Antiepileptikum eingesetzt, es wird deshalb in diesem Kapitel nicht weiter besprochen. Der Arzneistoff wird jedoch unter anderem in den USA auch in der pharmakologischen Behandlung von Angst- und Panikstörungen angewendet. Die Wirkungsmechanismen der Anxiolytika und Hypnotika sind nur ansatzweise bekannt, da die pathophysiologischen Korrelate der Zielsymptome Schlaf, Müdigkeit, Erregung und Angst nur unzureichend verstanden sind. Die Ursachen von Angsterkrankungen sind störungsspezifisch unterschiedlich und grundsätzlich multifaktoriell begründet, wobei biologische, Temperaments- und familiäre Faktoren sowie Lernerfahrungen in ungünstiger Weise zusammenwirken (Blanz und Schneider, 2008). Befunde, die mithilfe bildgebender Verfahren an erwachsenen Patienten mit Angsterkrankungen erhoben wurden, sowie Erkenntnisse aus tierexperimentellen Untersuchungen (z.B. auditorische AngstKonditionierung) weisen auf eine zentrale Rolle des Corpus amygdaloideum bei der Entstehung von Angst und Furcht hin. Dieses Kerngebiet liegt unmittelbar vor dem Hippocampus, das die zentrale Schaltstelle des limbischen Systems ist. Der basolaterale Teil der Amgydala erhält Informationen von sämtlichen Sinnessystemen. Der kortikomediale Teil entsendet Projektionsneuronen in den Hypothalamus und beeinflusst so die Freisetzung von Stresshormonen sowie das vegetative Nervensystem. Deren Effekte wirken als Gefühle wieder auf das Gehirn zurück. Die anxiolytische Wirksamkeit von Benzodiazepinen und bestimmten Antidepressiva wie z.B. SSRIs legen nahe, dass eine Dysfunktion der GABA- und serotoniner-
229
gen Neurotransmission in der Pathogenese von Angststörungen eine Rolle spielt. Die biologischen Angriffspunkte der Anxiolytika und Hypnotika sind ausführlich in den Kap. A.1.3.4.2.3, A.1.4.2 und A.1.4.3 besprochen. Tabelle B.3.1 fasst diese nochmals kurz zusammen. Im Folgenden wird die klinische Pharmakologie dieser Klasse von Neuro-Psychopharmaka besprochen. B.3.2
Klinische NeuroPsychopharmakologie
B.3.2.1
Anwendungsgebiete
B.3.2.1.1 Benzodiazepine
Nach der Roten Liste sind dies: • • •
•
• • • • • •
Unruhe, Angst- und Spannungszustände, psychosomatische Beschwerden, in Kombination mit Antidepressiva die Initialbehandlung ängstlich-agitierter Depressionen sowie in Kombination mit Neuroleptika die Akutbehandlung schizophrener Psychosen und Manien (Diazepam, Lorazepam). Krisenintervention bei akuter Suizidalität, funktionelle Schlafstörungen, Behandlung von Muskelspasmen oder Muskelverspannungen, spastische Paresen bei Querschnittsgelähmten, epileptische Anfälle (s. Kap. B.2) und Narkose.
Im Kindes- und Jugendalter werden Benzodiazepine vor allem in der Akutbehandlung schizophrener Psychosen (in Kombination mit Neuroleptika), bei akuter Suizidalität, bei Angststörungen, bei Epilepsien, funktionellen Schlafstörungen sowie in der Anästhesie eingesetzt. Zugelassen für das Kindes-
230
und Jugendalter sind Clobazam, Diazepam, Flunitrazepam (ab 6 Jahren), Nordazepam (ab 14 Jahren), Temazepam (ab 14 Jahren). B.3.2.1.2 Antidepressiva mit serotoninerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente
Die Anwendungsgebiete dieser Antidepressiva (s. Kap. B.1) sind: •
•
Beruhigung und Schlafinduzierung (z.B. Imipramin, Mianserin, Doxepin, Amitriptylin) und verschiedene Angsterkrankungen (Panik, Phobien, Zwangsstörungen), bei denen vor allem SSRIs wie z.B. Fluoxetin, Paroxetin, Fluvoxamin oder Sertralin, aber auch Venlafaxin (ein selektiver Serotonin- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer) und das trizyklische Antidepressivum Clomipramin sowie der MAO-A-Hemmer Moclobemid die Arzneistoffe der ersten Wahl darstellen.
In der Kinder- und Jugendpsychiatrie sind SSRIs inzwischen in der pharmakologischen Behandlung von Angststörungen und Phobien Mittel der ersten Wahl, obwohl bisher noch kein SSRI im Kindes- und Jugendalter für diesen Indikationsbereich zugelassen ist. Fluoxetin hat die Zulassung für die Behandlung mittel- bis schwergradiger depressiver Episoden ab dem 8. Lebensjahr, Fluvoxamin für die Therapie von Zwangsstörungen ebenfalls ab dem 8. Lebensjahr. Nach den aktuellen Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes und Jugendalter (Blanz et al., 2007) sind trizyklische Antidepressiva wegen der höheren Auftretenswahrscheinlichkeit von UAWs bei der Therapie von Angststörungen als Arzneistoffe der zweiten Wahl eingestuft, ihr Einsatz ist eher bei komorbiden depressiven Episoden erfolgversprechend.
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
B.3.2.1.3 Niedrigpotente Neuroleptika
Anwendungsgebiete niedrigpotenter Neuroleptika mit stärker sedierender Komponente (siehe Kap. B.4; z.B. Thioridazin, Sulpirid, Fluspirilen) sind: • • •
die Behandlung von Angst und ängstlich-depressiven Zuständen, Schlafinduktion, generalisierte Angsterkrankungen und ängstlich-depressive Syndrome.
Entsprechende Indikationen gelten übergreifend sowohl für Erwachsene als auch für das Kindes- und Jugendalter. Keines der atypischen Neuroleptika hat für die genannten Indikationen eine Zulassung im Kindesund Jugendalter. In Ausnahmefällen werden hochpotente Neuroleptika, ohne stark sedierende Wirkung, in niedriger, unter der neuroleptischen Schwelle liegender Dosierung zur Behandlung von Angst- und ängstlich-depressiven Zuständen sowie zur Schlafinduktion verwendet. B.3.2.1.4 Diverse (Buspiron, Hydroxyzin, Opipramol)
Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste: für Buspiron •
akute und chronische Angstzustände;
für Hydroxyzin • • •
akute und chronische Angstzustände, Pruritus, Urtikaria;
für Opipramol
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
• • •
Angst- und Spannungszustände (generalisierte Angststörung), Schlafstörungen, vegetativ-funktionelle Organbeschwerden (somatoforme Störungen).
Die genannten Neuro-Psychopharmaka werden gemäß den Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen zur Behandlung von Angststörungen bei Kindern und Jugendlichen (Blanz et al., 2007) derzeit nicht empfohlen. B.3.2.1.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker)
Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste unter anderem: • •
situationsbedingte Ängste (z.B. Propranolol) und posttraumatische Belastungsstörung.
Nach den aktuellen Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes und Jugendalter (Blanz et al., 2007) werden β-Blocker primär bei der Therapie von Panikstörungen, generalisierten Angststörungen und bei der emotionalen Störung mit Trennungsangst des Kindesalters, jeweils zur Minderung der vegetativen Begleitsymptomatik, empfohlen. Eine altersbezogene Zulassungsbeschränkung liegt für β-Blocker gemäß der Roten Liste (2008) nicht vor. B.3.2.1.6 Antihistaminika
Anwendungsgebiete sind nach der Roten Liste: • •
Schlafstörungen (Diphenhydramin, Doxylamin) und akute Unruhe- und Erregungszustände (Promethazin).
231
Die Antihistaminika werden gemäß den aktuellen Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes und Jugendalter (Blanz et al., 2007) bei Kindern und Jugendlichen nicht empfohlen. Promethazin ist ab dem zweiten Lebensjahr bei strenger Indikationsstellung zugelassen. B.3.2.2 Klinische Wirksamkeit und Studienlage
Wie oben erwähnt, wirken Anxiolytika und Hypnotika in Abhängigkeit von der jeweiligen Substanzklasse und der Dosierung primär anxiolytisch, sedativ, hypnotisch, antiaggressiv, muskelrelaxierend und/oder antikonvulsiv. Daraus ergibt sich ein relativ breites Indikationsspektrum. Anxiolytika sind bei Angststörungen, Unruhe und Spannungszuständen, Schlafstörungen, psychosomatischen Beschwerden, sowie auch als Adjuvans in der Behandlung depressiver Episoden, schizophrener Psychosen, beim Alkoholentzugssyndrom sowie bei zerebralen Anfallsleiden symptomatisch wirksam. Die Therapie mit Anxiolytika und Hypnotika kann immer nur symptomatisch wirken, da sie auf einer ätiologisch unspezifischen Wirkebene angreifen. Anxiolytika und Hypnotika therapieren nicht kausal, sondern sie entlasten symptomatisch. Deshalb muss in jedem Einzelfall kritisch geprüft werden, welche zusätzliche, ätiologisch spezifische Medikation beziehungsweise Psychotherapie indiziert ist. Das therapeutische Spektrum der zu besprechenden Substanzklassen erstreckt sich über die akute Entlastung und/oder die phasenweise, adjuvante Behandlung von Angst- und Schlafstörungen. Wie bereits beschrieben, sollten „ideale“ Anxiolytika prinzipiell über einen weiten Dosierungsbereich ausschließlich entspannend und angstlösend wirken, ohne die hypnotischen UAWs wie Benommenheit, Schläfrig-
232
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
keit, Ataxie oder Sprachstörungen hervorzurufen (Abb. 3.1). Die Bewertung von UAWs ist demnach wesentlich abhängig von der jeweiligen therapeutischen Zielsetzung. Besonders die substanz- und dosisabhängigen hypnotischen Wirkungen sind bei den Zielsymptomen Angst und Anspannung unerwünscht. Im Einzelfall kann jedoch die schlaffördernde Wirkung jedoch durchaus erwünscht sein.
B.3.2.2.1 Benzodiazepine
Benzodiazepine wirken vergleichsweise rasch und effizient, zeigen keine ausgeprägten UAWs, sollten aber wegen ihres Suchtpotenzials nur kurzzeitig (max. ca. 6 Wochen) eingesetzt werden. Die verschiedenen Benzodiazepine unterscheiden sich vor allem in der Wirkung am GABAA-Rezeptor-Chloridkanal-Komplex und der Pharmakokinetik (Tab. B.3.2), jedoch
Tab. B.3.2. In Deutschland im Handel vorkommende Benzodiazepine mit ihrer Affinität zur Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-Kanal-Komplexes und der Eliminationshalbwertszeit (t1/2) (nach Müller und Hartmann, 1995) Benzodiazepin
IC50 (nmol)
t1/2 (h)
Alprazolam
20
10–18
Bromazepam
18
12–24
Brotizolam
1
4–8
Chlordiazepoxid
350
10–18*
Clobazam
130
10–30*
Clonazepam
2
24–56
Clorazepat
59
2–3*
Clotiazepam
2
3–15
Desmethyldiazepam
9
50–80
Diazepam
8
30–45*
Flunitrazepam
4
10–25*
Flurazepam
15
2*
Loprazolam
6
7–8
Lorazepam
4
10–18
Lormetazepam
4
9–15
Medazepam
870
2*
Metaclazepam
930
18–20*
Midazolam
5
1–3
Nitrazepam
10
20–50
Oxazepam
18
5–18
Prazepam
110
1–3
Temazepam
16
6–16
Tetrazepam
34
12
Triazolam
4
2–4
Die Affinität ist angegeben als halbmaximale Hemmkonzentration der spezifischen Bindung an der Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-Kanal-Komplexes in vitro (IC50). Je kleiner dieser Wert ist, desto höher ist die Affinität. Ein Stern bedeutet, dass aktive Metabolite mit längerer t1/2 gebildet werden.
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
233
Tab. B.3.3. Wirkungsprofil von Benzodiazepinen in Abhängigkeit ihrer Plasmahalbwertszeiten (nach Bandelow et al., 2006) Benzodiazepin
Hypnotisch
Anxiolytisch
Antikonvulsiv
Kurzwirksame Benzodiazepine (Plasmahalbwertszeit 24 h) Chlordiazepoxid
?
++
?
Clobazam
++
+
?
Clonazepam
+
++
+++
Diazepam
++
+++
+
Dikaliumclorazepat
+
++
?
Flurazepam
+++
+
Medazepam
+
++
?
Nitrazepam
+++
+
++
Nordazepam
++
+
Prazepam
++
+ gering, ++ mittelgradig, +++ stark, ? keine Angaben
nur wenig im Wirkprofil (Tab. B.3.3). Vielfach ist es nur eine Frage der Dosierung, welche Wirkung im Vordergrund steht. Die Benzodiazepine zeigen eine symptomatische klinische Wirksamkeit zur Bewältigung akuter krisenhafter Situationen mit Angst, Panikattacken, hyperemotionalen Zuständen und epileptischen Konvulsionen. Es gibt keinen in randomisiert, kontrolliert durchgeführten Studien gesicherten Nachweis
für die Wirksamkeit von Benzodiazepinen in der Behandlung von Angst- und phobischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Witek et al., 2005). Bei Angsterkrankungen mit schwereren und/oder chronisch-rezidivierenden Verlaufsformen stellen gegenwärtig Antidepressiva (primär SSRIs), wegen des nicht gegebenen Abhängigkeitsrisikos, die therapeutische Alternative der ersten Wahl dar. Die Kombinationsbehandlung mit Benzodiaze-
234
pinen und SSRIs, vor allem in der Akut- und Kurzzeitbehandlung von Patienten mit Angststörungen und depressiven Episoden, kann die Prognose gegenüber der pharmakologischen Monotherapie signifikant verbessern (Dunlop and Davis, 2008). In der Therapie von Schlafstörungen repräsentieren die Benzodiazepine nach wie vor die dominierende Substanzgruppe. Weiteres hierzu siehe Kap. C.16. B.3.2.2.2 Antidepressiva mit serotoninerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente
Antidepressiva sind primär bei der Behandlung affektiver Störungen indiziert (s. Kap. B.1). Antidepressiva mit einer starken antihistaminergen oder antiserotoninergen Wirkkomponente sind aber auch in der Therapie von Angst- und phobischen Erkrankungen sowie von Zwangsstörungen wirksam. Mittel der ersten Wahl sind SSRIs, deren Wirksamkeit in kontrollierten Studien bei Kindern und Jugendlichen mit verschiedenen Angststörungen und bei Phobien belegt wurde (Maia and Rohde, 2007). Bei der Therapie von generalisierter Angststörung, sozialer Phobie und Trennungsangst verringerte sich die Angstsymptomatik unter SSRIs (Segool and Carlson, 2007). Fluoxetin besserte in einer offenen Studie die Angstsymptomatik bei Kindern und Jugendlichen mit Trennungsangst oder sozialer Phobie (Birmaher et al., 1994). Rynn und Mitarbeiter (2001) stellten in einer placebokontrollierten Studie zur Behandlung der generalisierten Angststörung im Kindes- und Jugendalter eine signifikant bessere Wirksamkeit von Sertralin im Vergleich zu Placebo fest. Ebenfalls in einer randomisiert placebokontrolliert durchgeführten Untersuchung zeigte sich Paroxetin bei der Therapie der sozialen Phobie im Kindes- und Jugendalter einer Placebo-Gabe überlegen (Wagner et al.,
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
2004). Kontrollierte randomisierte Studien mit erwachsenen Patienten bestätigen hier ebenfalls die Wirksamkeit von SSRIs (Hansen et al., 2008). B.3.2.2.3 Niedrigpotente Neuroleptika
Die so genannten atypischen Neuroleptika besitzen neben ihrer antipsychotischen Wirkung auch substanzabhängig, in unterschiedlichem Ausmaß adrenerge, histaminerge und serotoninerge Effekte (s. Kap. B.4), wodurch sie zusätzlich dämpfend auf die Psyche und das vegetative Nervensystem wirken können. Unter besonderen Indikationsstellungen werden deshalb niedrigpotente Neuroleptika mit stärker sedierender Komponente (z.B. Thioridazin, Sulpirid, Fluspirilen) in niedriger, unterhalb der neuroleptischen Schwelle liegenden Dosierung zur Behandlung von Angst und ängstlich-depressiven Zuständen sowie zur Schlafinduktion eingesetzt. In Ausnahmefällen stellen auch hochpotente Neuroleptika, ohne stark sedierende Wirkung (z.B. Clozapin, Risperidon, Flupentixol) eine therapeutische Alternative bei generalisierten Angsterkrankungen und bei ängstlich-depressiven Syndromen dar. Durch eine überwiegend parenterale Gabe ergibt sich hier insbesondere bei Compliance-Problemen der Vorteil eines Dosierungsintervalles von ein bis zwei Wochen. Das Risiko des Auftretens von Dyskinesien bedarf jedoch bei der genannten Indikationsstellung besonderer Berücksichtigung! Neuroleptika sollten bei Angststörungen nur in der Akutbehandlung angewendet werden oder wenn andere Therapiemöglichkeiten versagt haben oder nicht vertragen wurden. Zur Indikation Angststörungen und Phobien wurden bisher keine dem heutigen wissenschaftlichen Standard entsprechen-
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
235
den Studien im Kinder- und Jugendbereich durchgeführt (Ravindran et al., 2007). Gleiches gilt für Erwachsene, bei denen lediglich für das Trifluoperazin eine signifikante Wirksamkeit bei generalisierter Angststörung gezeigt werden konnte (Gao et al., 2006).
sedierenden UAWs dominieren (Möller et al., 2001). Alle diese Wirkstoffe sind jedoch entweder wegen der UAWs oder nicht sicher belegter Wirksamkeit in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Medikationen der zweiten bis dritten Wahl.
B.3.2.2.4 Diverse (Buspiron, Hydroxyzin, Opipramol)
B.3.2.2.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker)
Buspiron, das nicht über das GABA-System wirkt und ein 5-HT1A-Rezeptor-Partialagonist sowie ein Dopamin-D2-Rezeptorantagonist ist, besitzt klinische Wirksamkeit bei akuten und chronischen Angstzuständen (Volz et al., 1994; Boerner, 2007). Allerdings ist der Wirkungseintritt langsamer als bei den Benzodiazepinen. Hydroxyzin ist ein Histamin-H1-Rezeptor-Antagonist. Die Substanz ist mit verschiedenen Antihistaminika und Spasmolytika chemisch verwandt und hat sedierende sowie antikonvulsive, antiemetische, anticholinerge und lokalanästhetische Eigenschaften. In placebokontrollierten Doppelblindstudien konnte bei der Behandlung von Patienten mit generalisierter Angststörung für Hydroxyzin eine geringe Effektstärke (0,45) nachgewiesen werden (Hidalgo et al., 2007). Opipramol zählt chemisch zu der Klasse der Dibenzazepine. Der Wirkstoff hat eine gewisse Strukturverwandschaft mit trizyklischen Antidepressiva, aber auch einigen Neuroleptika und wird in letzter Zeit vorwiegend bei der Behandlung von Erwachsenen mit ängstlich-depressiven Syndromen und somatoformen (funktionellen, psychosomatischen) Störungen eingesetzt (Möller et al., 2001). Opipramol hemmt im Unterschied zu den trizyklischen Antidepressiva nicht die Aufnahme von Serotonin und hat auch keine anticholinergen Effekte. Deshalb ist das Nebenwirkungsmuster anders als bei den trizyklischen Antidepressiva, wobei die
Die β-Blocker wie Propranolol und Oxprenolol eignen sich unter Umständen zur begleitenden symptomatischen Therapie besonders bei situationsbedingten Ängsten (z.B. Prüfungsangst) sowie bei der posttraumatischen Belastungsstörung, wobei sie primär die damit verbundenen vegetativen („sympathischen“) Symptome mindern bzw. unterdrücken. Die Wirksamkeit, insbesondere bei Kindern- und Jugendlichen, ist in kontrollierten Studien nicht belegt. Ausreichende empirische Evidenz liegt diesbezüglich bisher nur für das Erwachsenenalter vor. Bereits in den 60er-Jahren des letzten Jahrhunderts wurde in einer placebokontrollierten Doppelblindstudie mit Crossover-Design die Wirkung von β-Blockern bei Angststörungen untersucht (GranvilleGrossman und Turner, 1966). In dieser Studie zeigte sich, dass β-Blocker bei Angstzuständen lediglich die vegetativ und β-adrenerg vermittelte somatische Angstkomponente (z.B. Tachykardie, Herzklopfen, Zittern, Schweißausbruch, Diarrhoe u.a.) reduzieren können, eine eigentliche anxiolytische Wirkung, d. h. eine Reduktion der psychischen Angstsymptome und des Angsterlebens, konnte nicht festgestellt werden. Dieses Ergebnis wurde mehrfach in nachfolgenden Studien bestätigt, so dass β-Blocker bei Angststörungen als nur bedingt wirksam einzustufen sind (Kornischka et al., 2007).
236
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
B.3.2.2.6 Antihistaminika
B.3.2.3.3 Niedrigpotente Neuroleptika
Antihistaminika sind Antagonisten von Histamin-Rezeptoren (H1, H2), die die Wirkung von Histamin aufheben oder abschwächen. Während H1-Antihistaminika der zweiten Generation selektiv nur periphere Rezeptoren hemmen, haben die Wirkstoffe der ersten Generation (wie z.B. Diphenhydramin, Doxylamin und Promethazin) zusätzlich eine Wirkung auf zentrale H1-Rezeptoren. Histaminerge Neuronen des Hirnstamms sind an der Regulation der Vigilanz und des Schlaf-Wach-Rhythmus beteiligt. Eine Hemmung dieser Neuronen bewirkt zentral dämpfende Effekte, die bei der Therapie von Schlafstörungen ausgenutzt werden. Im Vergleich zu den eigentlichen Hypnotika ist die schlafinduzierende Wirkung dieser Antihistaminika nicht so stark ausgeprägt, ihre Toxizität ist jedoch höher als die von Benzodiazepinen oder ähnlich wirkenden Substanzen. Promethazin ist auch sedativ-hypnotisch wirksam. Es wird besonders im Kindes- und Jugendalter noch als länger wirkendes Hypnotikum bei akuten Erregungszuständen oder bei Schlafstörungen eingesetzt. Die Wirksamkeit von Antihistaminika in der Therapie von Angststörungen und Phobien ist bei Kindern und Jugendlichen in kontrollierten Studien nicht belegt.
Nach Möglichkeit ist eine Niedrigdosis-Behandlung (unterhalb der neuroleptischen Wirkung) anzustreben; die erforderliche Tagesdosis richtet sich nach der klinischen Wirksamkeit bezüglich der Zielsymptomatik und folgt im Übrigen den grundlegenden Dosierungsempfehlungen der jeweiligen Neuroleptika (s. Kap. B.4.3).
B.3.2.3
Dosierungsempfehlungen
B.3.2.3.1 Benzodiazepine
Die mittleren Tagesdosen für die im Kinderund Jugendbereich wichtigen Benzodiazepine sind unter B.3.5 angegeben. B.3.2.3.2 Antidepressiva mit serotoninerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente
Angaben zur Dosierung der Antidepressiva finden sich im Kap. B.1.3.
B.3.2.3.4 Diverse Anxiolytika (Buspiron. Hydroxyzin, Opipramol)
Zu Behandlungsbeginn beträgt die Dosierung von Buspiron dreimal täglich 5 mg, bei Bedarf kann die Tagesdosis auf 20–30 mg, verteilt auf mehrere Einzeldosen, gesteigert werden. Die empfohlene Tagesdosis von Hydroxyzin bei Angststörungen im Kindes- und Jugendalter beträgt 25–75 mg, verteilt auf zwei bis drei Einzelgaben. Für Opipramol ist die empfohlene Tagesdosis 50–150 mg (für Kinder ab 6. Lebensjahr und Jugendliche), die bevorzugt auf eine abendliche, eventuell zwei Tagesgaben mit einschleichender Dosierung verteilt wird. B.3.2.3.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker)
Die mittlere orale Einzeldosis beträgt für Oxprenolol und Propranolol 10–80 mg. Bevorzugt wird die bedarfsweise, zeitlich möglichst begrenzte Applikation. B.3.2.3.6 Antihistaminika
Diphenhydramin wird oral in Dosen von 25–50 mg zwei- bis dreimal täglich verabreicht. Doxylamin wird oral in Dosen von 12,5 mg zwei- bis viermal täglich verabreicht. Promethazin wird oral in Dosen von 25 mg ein- bis zweimal täglich verabreicht.
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
B.3.2.4
UAWs
Die hier genannten UAWs beruhen überwiegend auf den Fachinformationen (FIs), welche mit Einschränkungen betrachtet werden müssen (vgl. B.1.5). B.3.2.4.1 Benzodiazepine
Die wichtigste UAW bei der Anwendung von Benzodiazepinen ist die häufige Gewohnheitsbildung (psychische Abhängigkeit), bei der die übliche Dosierung nicht erhöht wird (so genannte low-dose dependency). Sie beruht darauf, dass es, insbesondere nach chronischer Einnahme, bei plötzlicher Absetzung des Präparates zu vermehrter Angst oder Schlaflosigkeit kommt und die Patienten daher erneut zu dem Arzneimittel greifen. Man muss daher zur Vermeidung eines Rebound-Effektes das anxiolytisch wirksame Benzodiazepin langsam, ausschleichend absetzen. Eine physische Abhängigkeit mit Dosissteigerung (so genannte high-dose dependency, siehe Kap. B.5.2.4) ist selten. Die Benzodiazepine gehören mit zu den verträglichsten Medikamenten. Die überwiegende Zahl der UAWs sind als dosisabhängige, überschießende Wirkeffekte einzuordnen, die insbesondere zu Beginn der Therapie auftreten. Dazu gehören im Wesentlichen Schläfrigkeit oder Tagesmüdigkeit, Konzentrationsstörungen, verminderte Aufmerksamkeit. In selteneren Fällen treten Kopfschmerzen, Doppelsehen, Artikulationsstörungen, Appetitsteigerung (ohne und mit Gewichtszunahme), Blutdruckreduktion, Ataxie, Muskelschwäche, exanthematische Hautreaktionen und allergische Reaktionen auf. Auch können paradoxe Reaktionen in Form von Schlafstörungen, Unruhe, Agitation, akuten Angstzuständen, aggressiven Durchbrüchen, Erregungszuständen, Halluzinationen oder Albträumen auftreten. Eine Einschränkung der Fahrtüchtigkeit ist möglich. In seltenen Fällen kommt es zu
237
Menstruationsstörungen und zu einer Abnahme der Libido. B.3.2.4.2 Antidepressiva mit serotoninerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente
Angaben zu den UAWs finden sich im Kap. B.1.4. B.3.2.4.3 Niedrigpotente Neuroleptika
Ausführliche Angaben zu den UAWs finden sich im Kap. B.4.4. Einen Überblick zu den UAWs und Empfehlungen zur Therapie geben die Tab. B.4.3–5. B.3.2.4.4 Diverse Anxiolytika (Buspiron, Hydroxyzin, Opipramol)
Für Buspiron wurden unter anderem gastrointestinale Beschwerden, Kopfschmerzen, Schwindel, verstärktes Schwitzen, Schlaflosigkeit, Schwächegefühl und Gynäkomastie beschrieben. Die Nebenwirkungen von Hydroxyzin und Opipramol entsprechen weitgehend denen anderer zentral wirkenden Antihistaminika und sind dosisabhängig. Opipramol hat ein von den Antidepressiva abweichendes Nebenwirkungsmuster und ist besser verträglich als diese. B.3.2.4.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker)
Bei der Anwendung von β-Blockern in der Therapie situationsbedingter Ängste sind insbesondere die Herzkreislaufwirkungen, mit Verstärkung einer latenten Herzinsuffizienz, Blutdruckabfall und/oder Bradykardie-Neigung, zu beachten.
238
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
B.3.2.4.6 Antihistaminika
Bei den zentral wirksamen Antihistaminika ist die zusätzliche anticholinerge Wirkkomponente zu beachten, die im Einzelfall zu einem akuten Glaukomanfall oder Harnverhalt führen kann. Ebenso wie bei anderen sedierenden Arzneistoffen, ist mit einer Minderung der Reaktionsfähigkeit zu rechnen. Außerdem wirken sie prokonvulsiv und haben partiell anticholinerge Eigenschaften. Bei der Intoxikation kommt es zu Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma, begleitet von Hypotonie und anticholinergen Symptomen bis hin zum Delir. Als symptomatisches Antidot kommt der hirngängige Cholinesterase-Hemmer Physostigmin in Frage, der sowohl (wenn auch nur zeitlich relativ kurz begrenzt) die delirante Symptomatik unterdrückt als auch einen Weckeffekt hervorruft. B.3.2.5
Arzneimittelwechselwirkungen
B.3.2.5.1 Benzodiazepine
Wichtige Arzneimittelinteraktionen sind in Tab. B.3.4 zusammengefasst. B.3.2.5.2 Antidepressiva mit serotoninerger und/oder antihistaminerger Wirkkomponente
Wichtige Arzneimittelinteraktionen sind in den Tab. B.1.7–B.1.9 zusammengefasst.
clobemid sollte wegen der Gefahr einer hypotonen Krise vermieden werden. B.3.2.5.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker)
Eine klinisch relevante Wechselwirkung von β-Blockern ist die Verzögerung des Wiederanstiegs des Blutzuckerspiegels nach Gabe von Insulin oder von oralen Antidiabetika. Dadurch besteht die Gefahr verlängerter hypoglykämischer Reaktionen. Außerdem kommt es bei den Patienten, insbesondere unter der Therapie mit nicht-selektiven β-Blockern wie Oxprenolol und Propranolol, nicht zu den üblichen, durch Sympathikus-Stimulation ausgelösten Warnsymptomen, da β-Blocker die sympathischen Impulse unterdrücken. B.3.2.5.6 Antihistaminika
Die Wirkung von Analgetika, Hypnotika, Narkotika und Alkohol kann durch die oben genannten zentral wirksamen H1-Antihistaminika verstärkt werden. Durch die zusätzliche, antimuscarinerge Wirkkomponente wird die anticholinerge Wirkung von Parasympatholytika und einigen Antidepressiva verstärkt. B.3.2.6
Anwendungseinschränkungen
B.3.2.6.1 Benzodiazepine
Anwendungseinschränkungen bestehen bei B.3.2.5.3 Niedrigpotente Neuroleptika
Wichtige Arzneimittelinteraktionen sind in Tab. B.4.6 zusammengefasst. B.3.2.5.4 Diverse Anxiolytika (Buspiron, Hydroxyzin, Opipramol)
Eine Kombination von Buspiron und Hydroxyzin mit dem MAO-A-Hemmer Mo-
• • •
einer Intoxikation mit zentral dämpfenden Pharmaka und Alkohol, Überempfindlichkeit auf Benzodiazepine und ausgeprägter Ateminsuffizienz (Hyperkapnie).
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
239
Tab. B.3.4. Für den Kinder- und Jugendbereich relevante Wechselwirkungen von Anxiolytika und Hypnotika mit Arznei-, Sucht-, Genuss- und Nahrungsmitteln (nach Bandelow et al., 2006) Wechselwirkung mit Wirkstoffklasse bzw. Wirkstoff
Wirkung
Allopurinol
Verminderter Abbau und erhöhte t1/2 der Benzodiazepine, die oxidativ metabolisiert werden, führt zu Wirkungsverstärkung.
Amiodaron
Reduzierter Abbau und erhöhter Plasmaspiegel von Midazolam.
Anästhetika wie Ketamin Inhalationsanästhetika (z.B. Halothan) Propofol, Thiopental Opiate
Verlängerte Erholungsphase bei Diazepam-Gabe durch verminderten Abbau. Verminderte Proteinbindung von Diazepam, verstärkte DiazepamWirkung. Verstärkung des sedierenden Effektes, verstärkte Anästhesie mit Idazolam. Verstärkung der atemdepressorischen Wirkung und Hypoventilation, besonders bei Kombination mit Midazolam.
Antibiotika z.B. Erythromycin, Clarythromycin Chloramphenicol GyraseHemmer: Ciprofloxazin, Enoxazin
Reduzierter Abbau und erhöhter Plasmaspiegel von Midazolam, Triazolam (ca. 54%), Alprazolam (1,6-fach) und Diazepam; keine Wechselwirkungen mit Azythromycin. Reduzierter Abbau von Benzodiazepinen, die oxidativ verstoffwechselt werden. Reduzierter Abbau von Diazepam.
Antidepressiva trizyklische Antidepressiva z.B. Desipramin, Imipramin SSRIs Fluoxetin, Fluvoxanmin Sertralin
Erhöhter Plasmaspiegel von Desipramin bei Kombination mit Alprazolam. Bei Kombination von Triazolam und Desipramin wurden Hypothermien berichtet. Die appetitmindernde Wirkung von Desipramin kann durch Benzodiazepine verstärkt werden. Reduzierter Abbau, erhöhte t1/2 von Alprazolam und Diazepam bei Kombination mit Fluoxetin oder Fluvoxamin (Wirkungsverstärkung). Um ca. 13% verminderte Diazepam-Clearence bei Kombination mit Sertralin.
Antiepileptika z.B. Carbamzepin Phenobarbital Phenytoin Valproinsäure
Verstärkter Abbau und erniedrigte Plasmaspiegel von Alprazolam und Clonazepam. Verstärkter Abbau von Diazepam, additiv verstärkte ZNS-Dämpfung. Verminderter Phenytoin-Plasmaspiegel bei Kombination mit Clonazepam. Erhöhter Phenytoin-Spiegel und verstärkte Toxizität bei Diazepam und Chlordiazepoxid. Verminderte Midazolam-Plasmaspiegel durch Induktion von CYP3A4. Verdrängung von Diazepam aus der Proteinbindung führt zu erhöhten Plasmaspiegeln; Hemmung des Abbaus von Clonazepam und Lorazepam, dadurch Wirkungsverstärkung.
Antimykotika z.B. Itraconazol, Ketoconazol, Fluconazol
Reduzierter Abbau und verlängerte t1/2 von Chlordiazepoxid und Midazolam, reduzierter Abbau von Triazolam; Dosis um 50 bis 75% reduzieren.
240
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Tab. B.3.4. (Fortsetzung) Wechselwirkung mit Wirkstoffklasse bzw. Wirkstoff
Wirkung
β-AdrenozeptorAntagonisten (β-Blocker) z.B. Propranolol
Verlängerte t1/2 und verminderte Clearence von Diazepam und Bromazepam (keine Wechselwirkungen mit Alprazolam, Lorazepam oder Oxazepam).
Cimetidin
Reduzierter Abbau der oxidativ verstoffwechselten Benzodiazepine (bei Ranitidin, Famotidin oder Nizatidin tritt dieser Effekt nicht auf); Anstieg der cmax von Alprazolam um 86%.
Digoxin
Reduzierter Abbau und Elimination von Digoxin.
Disulfiram
Erhöhter Plasmaspiegel von Triazolam (um 100%) und Midazolam, verursacht durch einen verminderten Abbau durch CYP3A4.
Grapefruitsaft
Reduzierter Abbau von Alprazolam, Diazepam, Midazolam und Triazolam führt, bedingt durch Hemmung des CYP3A4, zu einem Anstieg der cmax und Steigerung der Bioverfügbarkeit.
Johanniskraut-Präparate
Verkürzung der t1/2 von Alprazolam (um bis zu 50%), bedingt durch gesteigerten Abbau.
Koffein
Kann den sedierenden Effekt aufheben oder Schlafstörungen verstärken.
Lithiumsalz-Präparate
Erhöhte Inzidenz sexueller Dysfunktion (bis 49%) bei Kombination mit Clonazepam, verstärkte ZNS-Effekte.
Omeprazol
Erhöhtes Risiko von Ataxie und Sedierung durch reduzierten Abbau der Benzodiazepine, die oxidativ verstoffwechselt werden (nicht bei Lansoprazol).
Neuroleptika z.B. Clozapin
Verstärkte Sedierung, Hypersalivation, Hypotonie (Kollaps, Delir, Atemstillstand möglich).
Östrogen z.B. orale Kontrazeptiva
Reduzierter Abbau von Benzodiazepinen, die oxidativ verstoffwechselt werden.
Probenecid
Verminderte Lorazepam-Clearence (um 50%).
Proteaseinhibitoren z.B. Ritonavir
Erhöhte Plasmaspiegel von Benzodiazepinen (z.B. Triazolam), die oxidativ durch CYP3A4 verstoffwechselt werden.
Rauchen
Verstärkte Chlordiazepoxid- und Diazepam-Clearence (um bis zu 50%) durch Enzyminduktion.
Tuberkulostatika z.B. Isoniazid, Rifampicin
Gehemmter Abbau von Benzodiazepinen, die oxidativ verstoffwechselt werden (Triazolamausscheidung um bis zu 75% vermindert). Gesteigerter Abbau von Benzodiazepinen, die oxidativ metabolisiert werden, durch Enzyminduktion von CYP3A4 (Diazepam um 300%, Midazolam um 83%).
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
241
Tab. B.3.4. (Fortsetzung) Wechselwirkung mit Wirkstoffklasse bzw. Wirkstoff
Wirkung
ZNS-dämpfende Pharmaka z.B. Barbiturate, Antihistaminika, Alkohol
Verstärkte ZNS-dämpfende Wirkung, in hoher Dosierung Koma oder Ateminsuffizienz möglich. Alprazolam: verstärkte Aggressivität bei Alkoholikern möglich. Die Gehirnkonzentrationen verschiedener Benzodiazepine werden durch Alkohol verändert: Triazolam-Konzentration vermindert, Diazepam-Konzentration erhöht, keine Änderung bei Chlordiazepoxid.
Cmax, maximale Arzneistoffkonzentration; t1/2, Halbwertszeit; SSRIs, selective serotonin reuptake inhibitors, selektiver Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer
Vorsicht ist geboten:
B.3.2.6.3 Neuroleptika
•
Absolute und relative Kontraindikationen sind in Tab. B.4.7 zusammengefasst.
•
•
Bei der Anwendung: um Missbrauch und eine low-dose dependency zu vermeiden, ist die Indikation streng zu stellen und die verordnete Dosis minimal zu halten sowie die Dauer der Medikation zu kontrollieren. Im Straßenverkehr, in der Schule, am Arbeitsplatz und in der Freizeit, da eine Einschränkung der Verkehrstüchtigkeit und der Fähigkeit zur Bedienung von Fahrzeugen sowie eine Beeinträchtigung des Lern-/Leistungsvermögens möglich sind. Bei der adjuvanten Therapie von Schlafstörungen aufgrund der Gefahr der Entwicklung einer low-dose dependency. Es sollte so bald als möglich eine Klärung der Ursachen für die Schlafstörung erfolgen, die dann eine gezieltere Behandlung, z.B. mit Antidepressiva oder verhaltenstherapeutischen Maßnahmen, ermöglicht.
B.3.2.6.4 Diverse Anxiolytika (Buspiron, Hydroxyzin, Opipramol)
Anwendungseinschränkungen bestehen für Buspiron bei • • • •
Für Hydroxyzin sind diese: • • • •
B.3.2.6.2 Antidepressiva
Die Anwendungseinschränkungen sind im Kap. B.3.1.6 beschrieben.
schweren Leber- und Nierenfunktionsstörungen, akutem Engwinkelglaukom, anamnestisch bekannten Krampfanfällen und Myasthenia gravis.
Engwinkelglaukom, schwere Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Epilepsie, v.a. bei Erwachsenen: Prostata-Adenom mit Restharnbildung.
Für Opipramol sind diese: • •
Engwinkelglaukom, Störung der Blutbildung,
242
• • • •
Pylorusstenose, schwere Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Epilepsie, v.a. bei Erwachsenen: Prostatahyperplasie.
B.3.2.6.5 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker)
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Relative Kontraindikationen sind zerebrale Anfallsleiden und Asthma bronchiale. B.3.3
Dauer der Behandlung
Die Anwendung von Anxiolytika und Hypnotika muss gezielt erfolgen und ständig kritisch geprüft werden, da eine Daueranwendung die Gefahr einer psychischen Abhängigkeit erhöht.
Anwendungseinschränkungen bestehen bei • • • • •
obstruktiven Bronchialerkrankungen, Asthma bronchiale; AV-Block II. und III. Grades, sinuatrialem Block, Sinusknoten-Syndrom; Bradykardie < 50/min, ausgeprägter Hypotonie und Diabetes mellitus.
Vorsicht ist geboten: •
•
•
Bei Beendigung der Therapie. Um so genannte Rebound-Effekte (z.B. Gefahr der Auslösung von Angina-Pectoris-Anfällen) zu vermeiden, ist eine langsame Dosisreduktion erforderlich. Bei jugendlichen Diabetikern, da es zu einer Verstärkung von Hypoglykämien mit Neigung zu Ketoazidose kommen kann. Bei metabolischer Azidose z.B. nach längerem „Fasten“ oder Mangelernährung im Rahmen einer Anorexia nervosa.
B.3.2.6.6 Antihistaminika
Anwendungseinschränkungen bestehen bei • • •
Engwinkelglaukom, Obstruktionen des Darmes und der Harnwege (Restharn) sowie Intoxikationen mit Alkohol und anderen zentral dämpfenden Wirkstoffen.
Nach Möglichkeit sollte die Anwendung von Benzodiazepinen bei Angststörungen der Krisenintervention vorbehalten sein und einen kontinuierlichen Therapiezeitraum von maximal vier bis sechs Wochen nicht überschreiten. Die anxiolytische Behandlung mit anderen Arzneimitteln sollte ebenfalls auf Krisensituationen beschränkt und dem Einsatz bei schweren Symptomausprägungen mit der Tendenz zur Chronifizierung vorbehalten bleiben, wobei spätestens nach sechs Monaten eine Absetzung beziehungsweise Ausschleichen der Medikation angestrebt werden sollte. Ein wesentliches Ziel der psychopharmakologischen (Begleit)Behandlung von Angststörungen ist die initiale Unterstützung der Anwendbarkeit und Effektivitätssteigerung psychotherapeutischer ausgerichteter Therapiemaßnahmen. B.3.4
Notwendige Kontrolluntersuchungen
Die Therapie mit Benzodiazepinen bedarf keiner routinemäßigen Kontrollen klinischchemischer oder elektrophysiologischer Parameter im Indikationsbereich der Angststörungen. Bei Patienten mit Leber- und Nierenfunktionsstörungen kann die Wirkstoffelimination reduziert sein.
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
243
Vor der Behandlung mit β-Blockern sind die Kontraindikationen beziehungsweise Anwendungsbeschränkungen bei verschiedenen Herz-Kreislauferkrankungen, Störungen der Lungenfunktion und Stoffwechselstörungen (siehe oben) dringend zu beachten. In Abhängigkeit von der jeweiligen Erkrankung oder funktionellen Organstörung sind die notwendigen klinisch-chemischen und physikalisch-technischen Kontrolluntersuchungen im Einzelfall nach internistischen Kriterien festzulegen.
der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter (s. Kap. A.2) generell indiziert (Gerlach et al., 2006). Für den Erwachsenenbereich sind die anzustrebenden therapeutische Plasmaspiegelwerte (in alphabetischer Reihenfolge) wie folgt (nach Baumann et al. 2004): Alprazolam 20–40 ng/ml, Buspiron 3 ng/ml, Clonazepam 20–40 ng/ml, Diazepam plus aktive Metabolite 300–400 ng/ml, Lorazepam 10– 15 ng/ml, Midazolam 6–15 ng/ml, Zolpidem 90–325 ng/ml, Zopiclon 60–75 ng/ml.
Bezüglich der empfehlenswerten Kontrolluntersuchungen bei Therapie mit Antidepressiva und Neuroleptika wird auf die Kap. B.1.4 und B.4.4 verwiesen. Die generelle Bestimmung von Blutspiegeln unter der Therapie (Therapeutisches Drug-Monitoring, TDM) erlangt als Instrument der Dosisoptimierung und Vermeidung von UAWs zunehmend Bedeutung, wenngleich mangels altersspezifischer therapeutischer Bereiche für Kinder und Jugendliche weiterhin der klinische Verlauf entscheidend sein sollte für die Dosisanpassungen. Ein TDM ist aufgrund der Besonderheiten
B.3.5
Klinische Pharmakologie ausgewählter Anxiolytika und Hypnotika im Überblick
Die folgende Zusammenstellung beruht auf den Angaben der Fachinformationen über Arzneimittel (FIs) und der Roten Liste (2008). Unter Kap. B.1.5 wurde ausführlich zur Erstellung der FIs und deren Problematik berichtet. Im Folgenden werden die wichtigsten pharmakologischen Kenndaten ausgewählter Anxiolytika und Hypnotika aufgeführt. Sie sollen eine Orientierungshilfe in der klinischen Handhabung sein.
B.3.5.1 Alprazolam Pharmakodynamische Eigenschaften
Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-KanalKomplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 1–2 h, t1/2 12–15 h; Proteinbindung 80%, Bioverfügbarkeit 80%; Metabolismus durch CYP 3A4.
Anwendungsgebiete
Panikstörung mit und ohne Agoraphobie, generalisierte Angststörung. Keine Zulassung für Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Beginn mit 0,125–0,25 mg bis max. 2–4 mg/Tag verteilt auf 2–4 Einzelgaben.
UAWs
Wie bei allen Benzodiazepinen.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen.
244
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
B.3.5.2 Buspiron Pharmakodynamische Eigenschaften
Serotonin-5-HT1A-Rezeptor-Partialagonist und Dopamin-D2-Antagonist.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 1–1,5 h, t1/2 2–3 h; Proteinbindung ca. 95%, Bioverfügbarkeit 4%; Metabolismus durch CYP 3A4.
Anwendungsgebiete
Anxiolytikum mit verzögertem Wirkungseintritt; besonders bei generalisierten Angststörungen; Alternative zu Benzodiazepinen. Keine Zulassung für Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Keine offiziellen Dosisangaben für Kinder und Jugendliche. Dosierung stationär 15–60 mg/Tag, ambulant 15–30 mg/Tag.
UAWs
Übelkeit, Durchfall, Kopfschmerzen, Nervosität, Magenbeschwerden, Schwindel, Erregung, Schlaflosigkeit, Benommenheit und Dysphorie.
Anwendungsbeschränkungen
Gleichzeitiger Alkoholgenuss. Kombination mit Moclobemid ist wegen der Gefahr einer hypertonen Krise nicht zu empfehlen.
B.3.5.3 Clobazam Pharmakodynamische Eigenschaften
Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-KanalKomplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 0,25–4 h, t1/218 h; Proteinbindung 85–91%, zur Bioverfügbarkeit sind keine Daten vorhanden; Metabolismus durch CYP 3A4, -2C19.
Anwendungsgebiete
Anxiolytikum, Adjuvans bei psychotischen Angstzuständen. Kinder im Alter von 6 Monaten bis 3 Jahren sollten nur in Ausnahmefällen bei zwingender Indikation mit Clobazam antikonvulsiv behandelt werden.
Dosierung
Keine offiziellen Dosisangaben für Kinder und Jugendliche. Kleinkinder 0,2–1,0 mg/kg Körpergewicht, Schulkinder 5–20 mg/Tag, Erwachsene 15–50 mg/Tag.
UAWs
Wie bei allen Benzodiazepinen.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen. Bei gleichzeitiger Gabe mit Antiepileptika werden EEG-Kontrolle sowie Blutspiegelbestimmungen empfohlen.
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
245
B.3.5.4 Diazepam Pharmakodynamische Eigenschaften
Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-KanalKomplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 1 h, t1/2 24–48 h; Proteinbindung 95–99%, Bioverfügbarkeit 80%; Metabolismus durch CYP 3A4.
Anwendungsgebiete
Anxiolytikum, komplizierter Halluzinogenrausch („Horrortrip“), Behandlung ängstlich-erregter, psychotischer Patienten; in der Akutphase zumeist in Kombination mit Haloperidol. Therapie des Status epilepticus. Ab 6 Monaten bei strenger Indikationsstellung.
Dosierung
Diazepam kann oral, parenteral (i.v. und i.m.) sowie rektal appliziert werden. Es zeigt nach oraler Verabreichung den schnellsten Wirkungseintritt aller Benzodiazepine. I.v.-Injektionen müssen langsam erfolgen (Cave! Atemdepression). Orale Dosierungen: Säuglinge 0,5–2 mg/Tag, Kleinkinder 1–6 mg/Tag, Schulkinder 6–10 mg/Tag; bei Erwachsenen 2–15 mg/ Tag, im stationären Bereich bis zu 100 mg/Tag bzw. beim Status epilepticus nach Bedarf (unter intensiv-medizinischer Überwachung). Rektale Applikation als Mikroklistier á 5–10 mg zur Anfallskupierung.
UAWs
Wie bei allen Benzodiazepinen. Bei parenteraler Gabe sind lokale Gefäßreaktionen bis hin zur Thrombophlebitis beschrieben; diese sind bei rektaler Applikation (z.B. Stesolid® u.a.) wesentlich geringer.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen.
B.3.5.5 Dikaliumchlorazepat Pharmakodynamische Eigenschaften
Aktiver Metabolit Nordazepam: Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-Kanal-Komplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax0,5 h, t1/2 50–80 h; Proteinbindung, keine Angaben; Bioverfügbarkeit 10%; Metabolisierung über Nordazepam; Metabolismus durch CYP3A4 und -CYP3C19.
Anwendungsgebiete
Anxiolytikum und Hypnotikum. Keine Zulassung im Kinder- und Jugendbereich (Ausnahme: Prämedikation vor chirurgischen Eingriffen).
Dosierung
Bei Kindern 0,3–1,25 mg/kg Körpergewicht, bei Erwachsenen 20 bis max. 10 mg/Tag. Bei i.v. Gabe kommt es wegen des Prodrug-Prinzips zu einem verzögerten Wirkungseintritt (tmax ca. 1 h.) und im Vergleich zur oralen Gabe geringeren Sedierung und geringeren Bioverfügbarkeit.
UAWs
Wie bei allen Benzodiazepinen.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen.
246
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
B.3.5.6 Diphenhydramin Pharmakodynamische Eigenschaften
H1-Histamin-Antagonist.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 1–2 h, t1/2 4–6 h, Proteinbindung 70–85%; Bioverfügbarkeit 50%; Metabolismus durch CYP 2D6 (ca. 80%) und -3A4 (ca. 10%).
Anwendungsgebiete
Schlafstörungen, Antihistaminikum, Antiemetikum. Zulassung ab 12 Jahren.
Dosierung
Keine offiziellen Dosisangaben für Kinder. Jugendliche erhalten 12,5–50 mg täglich; Erwachsene 50–150 mg pro Tag.
UAWs
Phototoxische Reaktionen der Haut, Spätdyskinesien. Im Übrigen wie beim Hydroxyzin.
Anwendungsbeschränkungen
Eingeschränkte Leberfunktion, Herzrhythmusstörungen, Asthma bronchiale, Pylorusstenose.
B.3.5.7 Doxylamin Pharmakodynamische Eigenschaften
H1-Histamin-Antagonist.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 2–4 h, t1/2 8–10 h; Proteinbindung, keine Angaben; Bioverfügbarkeit, keine Angaben; Induktion von CYP 2B, schwache Induktion von CYP2A, -3A.
Anwendungsgebiete
Schlafstörungen, Antihistaminikum, Antiemetikum. Keine Zulassung im Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Bei Kindern bis zu 25 mg pro Tag; bei Jugendlichen und Erwachsenen 25–50 mg täglich.
UAWs
Siehe Hydroxyzin.
Anwendungsbeschränkungen
Siehe Hydroxyzin.
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
247
B.3.5.8 Flunitrazepam Pharmakodynamische Eigenschaften
Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-KanalKomplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 1–2 h, tmax 10–30 h; Methylflunitrazepam (aktiver Metabolit) 20–30 h; Proteinbindung ca. 80%, Bioverfügbarkeit 80–90%; Metabolismus durch CYP2C19 und -3A4.
Anwendungsgebiete
Hypnotikum. Zulassung ab 6 Jahren.
Dosierung
Neben der oralen Einnahme kann der Arzneistoff auch i.v. und i.m. appliziert werden. Für Kinder und Jugendliche liegen keine offiziellen Dosisangaben vor. Bei Erwachsenen 0,5–2 mg, unter stationären Behandlungsbedingungen bis zu 4 mg, bevorzugt als abendliche Einmaldosis.
UAWs
Wie bei allen Benzodiazepinen. Flunitrazepam wird, wegen seiner besonderen psychotropen Effekte infolge der raschen und massiven Anfluting ins Gehirn, in der Drogenszene verwendet. Sowohl die orale als auch die parenterale Applikationsform werden deshalb der Betäubungsmittelverschreibungs-(BTM-)Verordnung unterstellt; die 1-mg-Tablette wurde hinsichtlich der Galenik so verändert, dass eine missbräuchliche i.v. Anwendung nicht mehr möglich ist.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen.
B.3.5.9 Hydroxyzin Pharmakodynamische Eigenschaften
H1-Histamin-Antagonist; zusätzlich anticholinerg, antiemetisch, spasmolytisch und analgetisch wirksam.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax2 h, t1/2 7–20 h; Proteinbindung, keine Angaben; Bioverfügbarkeit, keine Angaben; Hemmung von CYP2D6.
Anwendungsgebiete
Angststörungen. Zulassung ab 6 Jahren.
Dosierung
Kinder 25–50 mg, Erwachsene 30–75 mg, unter stationären Behandlungsbedingungen 100–200 mg täglich, verteilt auf 2–3 Einzelgaben.
UAWs
Anticholinerge Effekte, Minderung der Reaktionsfähigkeit, prokonvulsive Eigenschaften.
Anwendungsbeschränkungen
Engwinkelglaukom, Obstruktionen des Darmes und der ableitenden Harnwege sowie Intoxikationen mit Alkohol und anderen zentral dämpfenden Wirkstoffen; eventuell Epilepsie und Asthma bronchiale.
248
B.3.5.10
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Lorazepam
Pharmakodynamische Eigenschaften
Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-KanalKomplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax1–2 h, t1/2 12–16 h; Proteinbindung 88–93%, Bioverfügbarkeit 95%; Metabolisierung durch Glucuronisation, keine Verstoffwechslung durch CYP3A4-Enzyme.
Anwendungsgebiete
Anxiolytikum und Sedativum. Nach empirischer Beurteilung besondere Wirksamkeit in der Behandlung des depressiven beziehungsweise katatonen Stupors. Keine Zulassung im Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Keine offiziellen Dosisangaben für Kinder und Jugendliche. Bei Erwachsenen 0,25–5 mg/Tag, stationär bis zu 10 mg/Tag, verteilt auf 2–4 Einzelgaben mit vorzugsweisem Dosisschwerpunkt zur Nacht. In der ExpidetDarreichungsform löst sich die Tablette bereits im Mund, wodurch eine sichere und schnelle Resorption gewährleistet wird. Bei i.v. Applikation besteht ein geringeres Atemdepressionsrisiko als bei Diazepam.
UAWs
Wie bei allen Benzodiazepinen. In einigen pharmakoepidemiologischen Studien wurde das höchste Abhängigkeitspotenzial von allen Benzodiazepinen gefunden.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen.
B.3.5.11
Lormetazepam
Pharmakodynamische Eigenschaften
Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-KanalKomplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax2 h, t1/2 8–14 h; Proteinbindung ca. 85%, Bioverfügbarkeit 72–80%; Metabolismus durch CYP3A4.
Anwendungsgebiete
Hypnotikum. Keine Zulasssung im Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Keine offiziellen Dosisangaben für Kinder und Jugendliche. Bei Erwachsenen 0,5–1 mg/Tag, im stationären Behandlungssetting bis zu 2 mg.
UAWs
Neben den für Benzodiazepine typischen UAWs können anterograde Amnesien sowie Rebound-Insomnien nach Absetzung vorkommen.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen.
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
B.3.5.12
249
Nitrazepam
Pharmakodynamische Eigenschaften
Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-KanalKomplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax0,5–5 h, t1/2 20–38 h; Proteinbindung ca. 85–88%, Bioverfügbarkeit 54–93%; Metabolismus möglicherweise durch CYP3A.
Anwendungsgebiete
Ein- und Durchschlafstörungen, besonders wenn außerdem eine anxiolytische Wirkung am Tag erwünscht ist. Nitrazepam wird auch als Antiepileptikum (z.B. bei BNS-Krämpfen) eingesetzt. Keine Zulassung im Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Bei Schlafstörungen erhalten Säuglinge 0,25–2,5 mg, Kleinkinder 2,5–5 mg und Erwachsene 2,5–10 mg, unter vollstationären Therapiebedingungen bis zu 20 mg/Tag.
UAWs
Neben den für Benzodiazepine typischen UAWs können trotz der nur mittellangen t1/2 Hang-over-Effekte auftreten.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen.
B.3.5.13
Nordazepam
Pharmakodynamische Eigenschaften
Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-KanalKomplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax1 h, t1/2 50–100 h; Antacida führen insbesondere bei Einmaldosierung zu einer langsameren Resorption und zu geringeren Wirkspiegeln; die gleichzeitige Einnahme von Zimetidin oder oralen Antikonzeptiva kann die t1/2 weiter verlängern. Proteinbindung ca. 96%, Bioverfügbarkeit 100%; Metabolismus durch CYP3A4.
Anwendungsgebiete
Anxiolytikum und Hypnotikum. Zulassung ab 14 Jahre.
Dosierung
Bei Kindern 0,3–1,25 mg/kg Körpergewicht, bei Erwachsenen 20 bis maximal 100 mg/Tag.
UAWs
Wie bei allen Benzodiazepinen.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen.
250
B.3.5.14
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Opipramol
Pharmakodynamische Eigenschaften
Starker Sigmaligand, hochaffiner Antagonist histaminerger Rezeptoren, niedrigaffiner Antagonist dopaminerger D2-, serotoninerger 5HT2A- und adrenerger α1-Rezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 3 h, t1/2 6–9 h; Proteinbindung 91%, Bioverfügbarkeit 100%; Metabolismus durch CYP2D6 u.a.
Anwendungsgebiete
Angst- und Spannungszustände (generalisierte Angststörung), auch bei zusätzlicher Präsenz depressiver Symptome; somatoforme Störungen. Zulassung ab 6 Jahren.
Dosierung
Für Kinder (ab 6. Lebensjahr) und Jugendliche 50–100 mg, vorzugsweise als einmalige, abendliche Dosis, eventuell 2 Tagesgaben mit einschleichender Dosierung.
UAWs
Ähnlich denen trizyklischer Antidepressiva (B.1.2.4.1.1).
Anwendungsbeschränkungen
Leberfunktionsstörungen, Nierenerkrankungen, erhöhte zerebrale Anfallsbereitschaft; Blutbildkontrollen bei fieberhaften Infekten.
B.3.5.15
Temazepam
Pharmakodynamische Eigenschaften
Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-KanalKomplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax1 h, t1/2 5 h; Proteinbindung 96–98%, Bioverfügbarkeit 100%; Metabolismus durch CYP3A-Enzym.
Anwendungsgebiete
Einschlafstörungen und Angststörungen. Zulassung ab 14 Jahren.
Dosierung
Kinder 10 mg; Erwachsene 10–40 mg, bei hospitalisierten Patienten bis 60 mg.
UAWs
Bei höheren Dosierungen sind Hang-over-Effekte möglich. Im Übrigen treten die für Benzodiazepine typischen UAWs auf.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen.
B.3 Anxiolytika/Tranquillantien und Hypnotika
B.3.5.16
251
Zopiclon
Pharmakodynamische Eigenschaften
Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-KanalKomplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax1–2,5 h; t1/2 5–7 h, kann bei älteren Patienten bzw. bei hepatischer Insuffizienz auf ca. 8–11 h verlängert sein, während bei Patienten mit Nierenfunktionsstörungen keine relevanten Veränderungen auftreten; Proteinbindung ca. 45%, Bioverfügbarkeit 80%; Metabolismus durch CYP3A4, für N-Desmethyl-Zopiclon CYP2C8.
Anwendungsgebiete
Ein- und Durchschlafstörungen. Keine Zulassung im Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Kinder 3,75 mg; Erwachsene 3,75–7,5 mg; unter stationären Therapiebedingungen bis zu 15 mg/Tag.
UAWs
Neben den für Benzodiazepine mit kurzer t1/2 typischen UAWs können besonders bei höherer Dosierung Tagessedierung mit vermehrter Müdigkeit und eingeschränktem Reaktionsvermögen sowie Gedächtnisstörungen auftreten. Darüber hinaus wurden eine vermehrte Mundtrockenheit sowie ein bitterer Geschmack im Mund beschrieben. Das Risiko für eine Toleranzentwicklung sowie für Reboundeffekte bzw. Entzugssymptome nach Absetzung, ist als vergleichsweise gering einzustufen.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen.
B.3.5.17
Zolpidem
Pharmakodynamische Eigenschaften
Agonist der Benzodiazepin-Bindungsstelle des GABAA-Rezeptor-Cl–-KanalKomplexes; Verstärkung der hemmenden Funktion GABAerger Neuronen.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax0,5–3 h; t1/2 ca. 1–3,5 h, insbesondere bei einer verringerten renalen Clearence oder einer Leberinsuffizienz kann sich die diese deutlich auf bis zu ca. 10–12 h verlängern; Proteinbindung 92%, Bioverfügbarkeit 70%; Metabolismus primär durch CYP3A4 (CYP1A2, -2C9, -2C19 und -2D6 gering).
Anwendungsgebiete
Einschlafstörungen. Keine Zulassung im Kinder- und Jugendbereich.
Dosierung
Kinder erhalten 5 mg; Erwachsene 10–20 mg; im höheren Lebensalter und im Falle einer Nieren- oder Leberinsuffizienz 5 bis max. 10 mg.
UAWs
Unter Zolpidem können alle für Benzodiazepine typischen UAWs auftreten, besonders Tagessedierung, Benommenheit, eingeschränktes Reaktionsvermögen sowie Kopfschmerzen, Übelkeit und Schwindelgefühl, wobei die UAWs insgesamt geringer sein sollen als unter den hypnotisch wirkenden Benzodiazepinen mit längerer t1/2. Hang-over-Effekte, Rebound-Effekte sowie Abhängigkeitsentwicklungen und Entzugserscheinungen sind selten.
Anwendungsbeschränkungen
Wie bei allen Benzodiazepinen.
252
B.3.6
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Literaturverzeichnis
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B.4 Neuroleptika C. Mehler-Wex, Ch. Wewetzer, M. Gerlach
B.4.1
Definition, Einteilung und Wirkungsmechanismen
Neuroleptika sind Neuro-Psychopharmaka, die vor allem zur Behandlung von schizophrenen Psychosen, von psychotischen Symptomen bei anderen Erkrankungen (z.B. affektiven, organisch begründeten) und Manien verwendet werden. Man bezeichnet deshalb Neuroleptika häufig auch als Antipsychotika. Neuroleptika dämpfen psychomotorische Erregungszustände und verringern affektive Spannungen, Angst und Wahnwahrnehmungen. Bis zur Mitte des letzten Jahrhunderts stand man den meisten psychischen Erkrankungen, insbesondere den Psychosen, nahezu hilflos gegenüber. Erst mit der Einführung des ersten Neuroleptikums, Chlorpromazin, im Jahre 1952 wurden umwälzende Fortschritte (unter anderem Abbau von Zwangsmaßnahmen, Vereinfachung der Pflege und Unterbringung, Verkürzung des Klinikaufenthaltes, erleichterte Wiedereingliederung in die Gesellschaft) bei der Behandlung psychiatrischer Patienten erzielt. Nach der chemischen Struktur und gleichzeitig den pharmakologischen Eigenschaften unterscheidet man • •
konventionelle, typische (klassische, ältere) Neuroleptika und so genannte atypische Neuroleptika.
Zu den typischen Neuroleptika gehören die älteren Neuroleptika mit einer trizyklischen
Struktur sowie die Butyrophenone und Diphenylbutylpiperidine. Diese zeichnen sich dadurch aus, dass sie häufiger extrapyramidalmotorische unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs) hervorrufen und vor allem die Positiv-Symptomatik der Schizophrenie (Halluzinationen, Wahn, Ich-Störungen, formale Denkstörungen, schwerwiegende Verhaltensauffälligkeiten) günstig beeinflussen. Zu den atypischen Neuroleptika zählt man neuere trizyklische Neuroleptika, Benzamid-, Benzisoxazol- und Benzisothiazol-Derivate sowie Neuroleptika mit anderen chemischen Strukturen (Aripiprazol, Risperidon, Ziprasidon). Diese sind dadurch charakterisiert, dass sie im Vergleich mit den typischen Neuroleptika entweder kaum (Clozapin) oder zumindest wesentlich weniger extrapyramidal-motorische UAWs hervorrufen und auch die Negativ-Symptomatik (Antriebslosigkeit, Interessenverlust, kognitive Beeinträchtigungen) günstig beeinflussen. Klinisch kann man die Neuroleptika unter Berücksichtigung der verschiedenen Wirkungsqualitäten und abhängig vom Ausmaß der Blockade des Dopamin-D2-Rezeptors dimensional unterteilen in (König, 1998; Mutschler et al., 2008): •
Hochpotente Neuroleptika mit − hoher D2-Rezeptor-Affinität und entsprechend hoher antipsychotischer Wirksamkeit (neuroleptische Potenz) schon bei niedriger Dosierung,
256
•
•
− relativ geringer Sedierung sowie − geringer Affinität zu anderen Rezeptoren und entsprechend niedrigem Risiko vegetativer UAWs. Mittelpotente Neuroleptika mit − mittlerer D2-Rezeptor-Affinität und entsprechend mittelgradiger antipsychotischer Wirksamkeit, − stärkerer Sedierung sowie − mäßiger Affinität zu muscarinischen, histaminergen, serotoninergen und/ oder adrenergen Rezeptoren und höherem Risiko vegetativer UAWs. Niedrigpotente Neuroleptika mit − geringer D2-Rezeptor-Affinität und entsprechend geringer antipsychotischer Wirksamkeit, − (dosisabhängig) deutlich sedierenden Effekten sowie − ausgeprägter Affinität zu muscarinischen, histaminergen, serotoninergen und/oder adrenergen Rezeptoren und entsprechend hohem Risiko vegetativer UAWs.
In Tab. B.4.1 sind einige Neuroleptika nach ihrer neuroleptischen Potenz zusammengefasst. Als Bezugsarzneistoff dient Chlorpromazin, dessen neuroleptische Potenz gleich eins gesetzt wird. Bei den älteren (typischen) Neuroleptika, weniger dagegen (bis nicht) bei den atypischen Neuroleptika, nehmen mit steigender neuroleptischer Potenz die extrapyramidal-motorischen UAWs (siehe Kap. B.4.2.4) zu, die sedierenden UAWs und die vegetativen UAWs dagegen ab. Die Pathogenese schizophrener und anderer Psychosen ist wie der Mechanismus der antipsychotischen Wirkung von Neuroleptika nur zum Teil bekannt. Im Falle der Schizophrenie wurden bisher eine Reihe von genetischen und umweltbedingten Faktoren (u.a. mütterliche Virusinfekte, Schwangerschaftsund Geburtskomplikationen oder CannabisKonsum) identifiziert (zur Übersicht: Falkai,
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie Tab. B.4.1. Einteilung der Neuroleptika nach ihrer neuroleptischen Potenz (nach Mutschler et al., 2008) 1. Niederpotente Neuroleptika Amisulprid Chlorpromazin Chlorprothixen Levomepromazin Melperon Pipamperon Promethazin Sulpirid Thioridazin 2. Mittelpotente Neuroleptika Clopenthixol Clozapin Perazin Ziprasidon Zotepin Zuclopenthixol 3. Hochpotente Neuroleptika Benperidol Bromperidol Flupentixol Fluphenazin Fluspirilen Haloperidol Olanzapin Perphenazin Pimozid Risperidon Sertindol
2007). Die Hypothese der entwicklungsbedingten Störungen (Marenco und Weinberger, 2000) sieht insbesondere schizophrene Erkrankungen mit frühem Beginn, d.h. im Kindes- oder frühen Jugendalter, als Folge einer Störung der Neurogenese. Dieses Modell stützt sich auf zahlreiche neurobiologische Auffälligkeiten wie z.B. hirnatrophische Veränderungen, abnormale kortikale Zytoarchitektur oder Mangel an neurotrophen Faktoren, die bei jungen Patienten im Vergleich zu älteren oft ausgeprägter sind.
B.4 Neuroleptika
Unstrittig ist, dass Neuroleptika in die synaptische Neurotransmission und damit in die Informationsübertragung von Neuronen modulierend eingreifen. Neurorezeptoren als biologische Angriffspunkte von Neuroleptika wurden bereits in den Kap. A.1.3 und A.1.4.2 besprochen. Es gibt eine Reihe von Hinweisen aus Post-mortem- und bildgebenden Untersuchungen, dass bei Patienten mit einer Psychose das mesolimbische, dopaminerge System (siehe Kap. A.1.3.2.1) überaktiv ist (Dopamin-Hypothese der Schizophrenie; siehe Carlsson, 2006). Die Überaktivität dieses Systems wird mit der PositivSymptomatik in Verbindung gebracht. Dopamimetika wie l-DOPA (die metabolische Vorstufe von Dopamin) oder Amphetamine (setzen Dopamin frei) können pharmakotoxische Psychosen verursachen. Darüber hinaus sind weitere mit dem dopaminergen System interagierende NeurotransmitterSysteme (vor allem Glutamat im Sinne eines Glutamat-Mangels; aber auch 5-HT, und GABA) betroffen. Nahezu alle Neuroleptika sind Antagonisten der Dopamin-D2-Rezeptorfamilie: ihre neuroleptische Potenz korreliert vor allem mit ihrer in vitro ermittelten Affinität zum D2-Dopamin-Rezeptor. Durch die Antagonisierung von D2-Rezeptoren im mesolimbischen System wird die Wirkung der überaktiven dopaminergen Neuronen der Area tegmentalis ventralis vermindert und die dopaminerge Neurotransmission normalisiert (siehe Kap. A.1.3.2.1). Dagegen führt die Antagonisierung von D2-Rezeptoren im Striatum zum Auftreten extrapyramidal-motorischer UAWs wie Parkinsonismus, Akathisie und Dystonie. Bei den atypischen Neuroleptika trägt auch die Hemmung anderer Neurotransmitter-Rezeptoren (insbesondere des serotoninergen 5-HT2-Rezeptors) zur antipsychotischen Wirkung bei; die wird für die Abschwächung der Negativ-Symptomatik
257
verantwortlich gemacht. Die sedierende Wirkung einiger Neuroleptika beruht vermutlich auf der Blockade des histaminergen H1-Rezeptors. Von den bisher beschriebenen Neuroleptika unterscheiden sich Aripiprazol, das als Neuroleptikum zugelassen ist, und Bifeprunox (DU-127090), das in klinischer Entwicklung ist, dadurch, dass diese an D2Rezeptoren als Partialagonist/-antagonist wirken (Lieberman, 2004). Beide Wirkstoffe gehören zu der pharmakologischen Klasse von partiellen Dopamin-Rezeptoragonisten (Definition von partiellen Agonisten siehe Kap. A.1.4.2.1). Diese lösen selbst in hohen Konzentrationen nur eine kleine Wirkung am Rezeptor aus, die kleiner als die Wirkung (reiner) Agonisten ist. Partielle Agonisten wirken dualistisch, weil sie das Gleichgewicht von inaktivem zu aktivem Rezeptor verschieben. Das heißt, sie besitzen sowohl agonistische als auch antagonistische Eigenschaften; bei Anwesenheit von Konzentrationen eines vollen Agonisten, die einen größeren Effekt hervorrufen als eines partiellen Agonisten, schwächt letzterer die Wirkung des vollen Agonisten ab (partielle antagonistische Wirkung); bei niedrigen Konzentrationen oder Abwesenheit eines vollen Agonisten wirkt ein partieller Agonist dagegen agonistisch. Partielle Dopamin-Rezeptoragonisten sollten also deshalb nicht nur die PositivSymptomatik der Schizophrenie beeinflussen, die durch die übermäßige Aktivität des mesolimbischen, dopaminergen Systems verursacht wird, sondern auch die NegativSymptomatik, die in Verbindung mit einer verminderten Aktivität des mesokortikalen, dopaminergen Systems gebracht wird. Klinische Studien bestätigten dieses Konzept und wiesen in Langzeitstudien an Patienten mit Schizophrenie oder schizoaffektiver Störung eine signifikante Besserung der Positivund Negativ-Symptome nach (Lieberman, 2004).
258
B.4.2
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Klinische NeuroPsychopharmakologie
B.4.2.1 Anwendungsgebiete
Nach der Roten Liste sind diese wie folgt (siehe auch Tab. B.4.2): • •
Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis, akute psychotische Syndrome,
• • • • • • • •
Angst- und Spannungszustände, schizoaffektive Erkrankungen, Impulskontroll-Störungen, (auto-)aggressives Verhalten, Tic-Störungen, Entzugserscheinungen (Drogen, Medikamente), Alkoholdelir, wahnhafte Depression und Einschlafstörungen.
Tab. B.4.2. Psychiatrische Indikationen für Neuroleptika (Dosierungsempfehlungen für Kinder und Jugendliche) Indikation
Geeignete Neuroleptika
Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis
Hochpotente typische oder antipsychotisch wirksame atypische Neuroleptika Akut z.B. Haloperidol 5–10 mg i.v. Olanzapin 10 mg i.m. oder als Schmelztablette Längerfristig atypische Neuroleptika
Motorische Agitation Erregungszustände (eventuell mit fremd- oder selbstgefährdenden, destruktiven Verhaltensweisen und Verweigerung der Medikationseinnahme)
Mittel- bis hochpotente typische oder atypische oder sedierende Neuroleptika Akut z.B. Haloperidol 5–10 mg i.v. oder Olanzapin 5–10 mg i.m. oder Ziprasidon 10 mg i.m. oder Chlorprothixen 50 mg i.m. oder Levomepromazin 50 mg i.m. Mittelfristig z.B. Chlorprothixen 3 x 30 mg p.o.
Psychomotorische Anspannung (Aggressivität, ängstliche Unruhe)
Mittel- bis niedrigpotente typische oder sedierende atypische Neuroleptika akut z. B. Chlorprothixen i.m. oder p.o. (s. o.) mittelfristig z.B. Levomepromazin bis 4 x 50 mg p.o.
Schizoaffektive Erkrankungen manische Phasen maniforme Enthemmung
Antipsychotisch wirksame atypische Neuroleptika z.B. Olanzapin (jeweils bis 20 mg p.o.), Quetiapin (schrittweise Aufdosierung in mehreren Tagen bis ca. ≥ 400mg/Tag)
Phasenprophylaxe
Z.B. Olanzapin (niedrig dosiert)
Impulskontrollstörungen (z.B. bei ADHS)
Sedierende oder atypische Neuroleptika längerfristig z.B. Pipamperon 4 x 30 mg p.o. oder Risperidon 0,25–2 mg/Tag
(Auto-)aggressives Verhalten bei geistiger Behinderung, Autismus oder Entwicklungsverzögerung
Gute Erfahrungen längerfristig mit Risperidon 0,5–2 mg p.o. zur Nacht Eventuell Quetiapin 50–300 mg, Ziprasidon 20–60 mg
Alkoholdelir (vor allem mit hohem Blutalkoholspiegel)
Hochpotente typische Neuroleptika Haloperidol 5–10 mg i.v., mehrfach wiederholbar
B.4 Neuroleptika
259
Tab. B.4.2. (Fortsetzung) Indikation
Geeignete Neuroleptika
Tics (auch: Gilles de la TouretteSyndrom) Stereotypien Dyskinesien Hemiballismus Choreo-athetotische Bewegungsstörungen
Tiaprid 150–300 mg/Tag p.o. (verteilt auf 3 Einzelgaben) Risperidon 0,5–3 mg/Tag (verteilt auf 2–3 Gaben, langsam schrittweise eindosieren!)
Akute oder chronische Schmerzzustände
Niedrigpotente typische Neuroleptika (über serotoninergen Wirkanteil) z.B. Levomepromazin, Thioridazin p.o.
Bewegungsdrang und innere Anspannung bei Anorexia nervosa
Vor allem sedierende atypische Neuroleptika mittelfristig z.B. Melperon 4 x 25 mg/Tag p.o.
Paranoides Gedankengut bei Anorexia nervosa (Körperschemastörung, Gewichtsphobie etc.)
Kleinere offene Studien über gute Erfahrungen mit niedrig dosierten atypischen Neuroleptika, z.B. Olanzapin 2,5–10 mg/ Tag oder Quetiapin ca. 150–300 mg p.o. mittelfristig
Einschlafstörungen
Niedrigpotente typische Neuroleptika z.B. Levomepromazin 25–50 mg p.o. zur Nacht
Wahnhafte Depression
Niedrig dosierte hochpotente typische Neuroleptika oder atypische Neuroleptika z.B. Risperidon 0,5–2 mg p.o. abends
ADHS, Aufmerksamkeits-Defizit/Hyperaktivitäts-Störung, i.m., intramuskulär, i.v., intravenös, p.o., per oral
Typische, hochpotente Neuroleptika und atypische Neuroleptika wurden primär zur Behandlung von akuten psychotischen Syndromen wie paranoiden und paranoid-halluzinatorischen Zuständen sowie von chronischen Schizophrenien entwickelt. Sie werden zudem vermehrt eingesetzt zur symptomatischen Behandlung von aggressiven, autoaggressiven, angespannten oder agitierten Zustandsbildern. Mittelpotente Neuroleptika werden überwiegend als Adjuvanzien zur Sedierung beziehungsweise zur Hilfestellung bei sehr leichten gedanklichen Verwirrungen verwendet. Schwach potente Neuroleptika wirken weniger antipsychotisch, aber dafür umso mehr sedierend. Sie werden deshalb zur Sedierung beziehungsweise Anspannungsreduktion bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen eingesetzt.
Unter besonderen Indikationsstellungen verwendet man die atypischen Neuroleptika in niedriger, deutlich unter der neuroleptischen Schwelle liegender Dosierung auch zur Behandlung von Angst und ängstlichdepressiven Zuständen sowie zur Schlafinduktion (siehe Kap. B.3.2.4). Tabelle B.4.2 fasst die Anwendungsgebiete der Neuroleptika und Therapieempfehlungen für den Kinder- und Jugendbereich zusammen. Es soll an dieser Stelle nochmals betont werden, dass nur wenige der Neuroleptika für die aufgeführten Indikationen im Kindes- und Jugendalter offiziell zugelassen sind. Clozapin ist lizensiert für Jugendliche ab 16 Jahren zur Psychose-Therapie, Risperidon ab dem 5. Lebensjahr zur Behandlung von aggressiv-impulsiven Verhaltensweisen im Rahmen von Intelligenzminderung. Die
260
FDA erteilte 2007 für die USA die Zulassung von Risperidon zur Behandlung von Schizophrenie beziehungsweise manischen oder gemischten affektiven Episoden ab dem 13. beziehungsweise 10. Lebensjahr; dies ist in Deutschland noch nicht der Fall. Insofern bedarf es besonderer Aufklärung der Erziehungsberechtigten und der Einholung eines schriftlichen Einverständnisses vor Behandlungsbeginn (siehe Kap. A.2.1.4). B.4.2.2 Klinische Wirksamkeit und Studienlage
Primär klinisch sichtbar wird nach Neuroleptika-Gabe die sedierende Wirkung, die jedoch insbesondere bei psychosebedingten, akut aggressiv oder ängstlich getönten Erregungszuständen erwünscht ist, um für den Patienten eine rasche Spannungsreduktion oder Anxiolyse mit besserer affektiver Distanzierungsfähigkeit zu erreichen. Die antipsychotische Wirksamkeit der Neuroleptika entfaltet sich unmittelbar oder meist erst klinisch relevant im Laufe von Tagen bis ca. zwei Wochen. Die Gründe sind nicht endgültig bekannt. Da Neuroleptika vor allem über G-Protein-gekoppelte Rezeptoren wirken, kann man den verzögerten Wirkungseintritt am ehesten dadurch erklären, dass in den Zielneuronen regulatorische Effekte und Funktionsänderungen durch Modulation der Genexpression hervorgerufen werden (siehe Kap. A.1.2.6). Das Wirkungs- und Nebenwirkungsprofil der Neuroleptika ergibt sich aus den Affinitäten zu den verschiedenen NeurotransmitterRezeptoren. Wie bereits oben erwähnt, korreliert die antipsychotische Potenz der Neuroleptika mit ihrer in vitro ermittelten Affinität zum D2-Dopamin-Rezeptor. Je höher die D2Rezeptor-Affinität, desto höher ist das Risiko des Auftretens extrapyramidal-motorischer UAWs und umso geringer ist die Wirkung auf andere zentralnervöse Rezeptorsysteme, d.h. desto geringer ist das Spektrum an
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
UAWs. Wie andere Neuro-Psychopharmaka werden Neuroleptika bei verschiedenen Indikationen symptomatisch eingesetzt (z.B. bei Aggressivität, Anspannung). Neuroleptika können psychische Krankheiten nicht heilen, sondern nur so genannte Zielsymptome wie z.B. Halluzinationen, Wahn, Ich-Störungen oder Antriebslosigkeit beeinflussen. Diese Zielsymptome bestimmen letztlich die Wahl des jeweiligen Neuroleptikums (siehe Kap. C.15). Es existieren nur sehr wenige nach dem heutigen wissenschaftlichen Standard durchgeführte Studien zu den typischen Neuroleptika im Kinder- und Jugendbereich. Interessanterweise überwiegen hier Studien zu Indikationen wie Aggressivität und Impulsivität bei autistischen Störungen oder Tic-Störungen. Für den Einsatz typischer Neuroleptika bei Psychosen hingegen gibt es nur wenige klinische Untersuchungen. Bezüglich atypischer Neuroleptika liegen bei Kindern und Jugendlichen die meisten Erfahrungen mit Clozapin (erwiesene antipsychotische Wirksamkeit, Remschmidt et al., 2001), Olanzapin und Risperidon vor. Bislang wurden zur Indikation Schizophrenie nur vier doppelblinde, randomisierte Studien zu atypischen Neuroleptika im Kindes- und Jugendalter publiziert, wobei es sich um keine placebokontrollierten Untersuchungen handelte, sondern um Vergleiche gegenüber Haloperidol oder zwischen den zuletzt genannten drei atypischen Neuroleptika (Kumra et al., 1996; Sikich et al., 2004; Mozes et al., 2006; Shaw et al., 2006). Ganz aktuell wurde eine doppelblinde, placebokontrollierte Studie zu Aripiprazol bei jugendlichen Schizophrenie-Patienten veröffentlicht (vgl. Kap. C.15.4.1). Zusammenfassend zeigten die atypischen Neuroleptika gegenüber Haloperidol eine ebenbürtige Wirksamkeit auf Positiv-Symptome sowie eine Überlegenheit bei Negativ-Symptomen. Clozapin zeigte die stärkste Wirksamkeit.
B.4 Neuroleptika
Zwei größere offene Studien belegten günstige Effekte von Olanzapin und Quetiapin (vgl. Kap. C.15.4.1). Im Bereich bipolar manischer Störungen bei Kindern und Jugendlichen waren Olanzapin (2,5–20 mg/Tag) und Quetiapin (400–600 mg/Tag) nach drei bzw. vier Wochen besser wirksam als Placebo bzw. Divalproex (DelBello et al., 2006; Tohen et al., 2007). Bei Tic-Störungen wurde für Risperidon in einer mittleren Tagesdosis von 2,5 mg (1–6 mg) nach acht Wochen eine Überlegenheit gegenüber Placebo gezeigt (60% Response versus 26%; Dion et al., 2002). Die Zulassung für diese Indikation verfiel jedoch mangels Insistenz von Seiten der Pharmaindustrie. Risperidon (niedrig dosiert) ist außerdem mit drei doppelblinden, randomisierten, placebokontrollierten Studien führend in der Studienlage zu (auto-)aggressiven Verhaltensweisen bei Minderjährigen (Zulassung ab dem 5. Lebensjahr bei Intelligenzminderung, Response-Raten 63–76% versus 0–33% unter Placebo; Aman et al., 2002; Ravishankar et al., 2006; Pandina et al., 2007), gefolgt von Olanzapin (10 mg/Tag) mit einer solchen Studie (Response 50% versus 20% unter Placebo; Hollander et al., 2006). B.4.2.3 Dosierungsempfehlungen
Die Einstellung des Patienten auf Neuroleptika muss individuell erfolgen, da die individuelle Ansprechbarkeit sehr unterschiedlich ist. Deshalb müssen auch die Erhaltungsdosen individuell festgelegt und die Dosierungen der im Kap. B.4.5 aufgelisteten Neuroleptika als Richtwerte angesehen werden. Im Bereich der Kinder- und Jugendpsychiatrie ist auf Grund der erwähnten dürftigen Studienlage und der in der Regel für diese Altersgruppe fehlenden Medikationszulassung mit besonders niedrigen Dosierungen zu beginnen und in vorsichtigen, kleinen Schrit-
261
ten die Dosisanhebung vorzunehmen. Dies gilt insbesondere für Kinder jüngeren Alters und niedrigen Körpergewichts. Sinnvoll ist hier ein Therapeutisches Drug-Monitoring (TDM, siehe Kap. A.2.3). Um bei Patienten mit ComplianceProblemen zuverlässige Wirkspiegel zu gewährleisten, kann man Retard-Präparate (z.B. Paliperidon ER, für extended release, oder Quetiapin prolong) und so genannte Depot-Präparate einsetzen. Paliperidon ist der aktive Hauptmetabolit von Risperidon und ist noch nicht zur Therapie von Kindern und Jugendlichen zugelassen. Die Gabe von Paliperidon ER ermöglicht eine gleichmäßigere Freisetzung des Wirkstoffes über 24 Stunden (Haen und Hargarter, 2007). Depot-Präparate sind in öliger Lösung veresterte Neuroleptika, die intramuskulär (i.m.) appliziert werden. Depot-Präparate wirken je nach Dosierung ein bis vier Wochen und ersparen dem Patienten die tägliche Einnahme von Tabletten. Problematisch können allerdings auftretende UAWs sein, die aufgrund der Depotform über längere Zeit persistieren. Auch ist eine Feineinstellung der Dosis schwierig und zeitaufwändig. Als Akutmedikation eignen sich Depot-Neuroleptika somit nicht. Bei Kindern und Jugendlichen ist ein Depot-Präparat nur in Ausnahmefällen bei ausgeprägt unzuverlässiger Medikamenten-Einnahme sinnvoll. Es ist ratsam, die Einstellung des Präparates zunächst oral vorzunehmen, gegebenenfalls unter stationären Bedingungen und mit Mundkontrolle. Wenn die Indikation zu einer Umstellung auf Depotmedikation gegeben ist – im Kindes- und Jugendalter eher selten – so sollte dies dann erfolgen, wenn mit oraler Gabe eine ausreichende Dosierung erreicht wurde. Als Depotform sollte möglichst auf den gleichen Arzneistoff umgestellt werden (z. B. Flupentixol 10 mg/Tag per oral [p.o.] entsprechen Flupentixol-decanoat 40 mg/2 Wochen i.m.; Haloperidol-
262
decanoat wird in 15–20-facher Höhe der oralen Dosis alle vier Wochen i. m. verabreicht). Nach Injektion kann sich ein zunächst erhöhter Plasmaspiegel mit größerem Risiko für UAWs ergeben. Im Verlauf tritt ein konstanter Wirkspiegel ein. Gegenwärtig sind nur typische Neuroleptika als Depot-Präparate sowie das atypische Neuroleptikum Risperidon erhältlich. Wegen der gefürchteten extrapyramidal-motorischen UAWs wird auch Risperidon-Depot nur in Einzelfällen eingesetzt; bislang gibt es keine Erfahrungswerte aus klinischen Studien zu Depot-Neuroleptika bei jungen Patienten. Hoch- und niedrigpotente Neuroleptika miteinander zu kombinieren ist häufig klinischer Standard, insbesondere im Anfangsstadium der Behandlung, um eine zusätzliche Sedierung oder Anspannungsreduktion zu erzielen. Parallel kommen oft Benzodiazepine zum Einsatz. Bei chronifizierten Verläufen, die sich zumeist erst im Erwachsenenalter zeigen, wird bisweilen ein hochpotentes typisches Neuroleptikum mit einem antipsychotisch wirksamen atypischen Neuroleptikum kombiniert. Besondere Einschränkungen sind jedoch bei Clozapin zu berücksichtigen (siehe weiter unten unter B.4.2.6). Prinzipiell sind Kombinationen atypischer Neuroleptika vorzuziehen. B.4.2.4 UAWs
Die hier genannten UAWs beruhen allesamt auf den Fachinformationen (FIs), welche mit Einschränkungen betrachtet werden müssen (vgl. B.1.5). In Einstellungs- und auch Umstellungsphasen sind Müdigkeit, Konzentrationseinbußen und orthostatische Beschwerden besonders häufig auftretende, jedoch in der Regel vorübergehende UAWs. Auch andere UAWs können während der Therapie rückläufig sein beziehungsweise sistieren. Für die
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Beibehaltung eines Neuroleptikums müssen Wirkungen und UAWs gegeneinander abgewogen werden. Manche UAWs können bei Persistenz Indikation für eine Begleitmedikation sein. Entsprechende Empfehlungen sind in Tab. B.4.3 aufgeführt. Neuroleptika weisen sehr unterschiedliche Rezeptorbindungsprofile auf, die sich in einem entsprechend unterschiedlichen Spektrum an UAWs widerspiegeln (Tab. B.4.3). Die vegetativen Nebenwirkungen werden durch die Hemmung von adrenergen α1- und mACh-Rezeptoren und die dadurch verringerten sympathischen und/oder parasympathischen Erregungsübertragungen verursacht. Unter der Therapie mit typischen Neuroleptika und auch bei manchen atypischen Neuroleptika können zusätzlich extrapyramidalmotorische UAWs (Tab. B.4.4) infolge der Blockade nigro-striataler dopaminerger Rezeptoren und hormonelle Störungen infolge der Hemmung von Dopamin-Rezeptoren im tubero-infundibularen System (siehe Kap. A.1.3.2.1) auftreten. Das Risiko des Auftretens extrapyramidal-motorischer UAWs ist bei den klassischen, typischen Neuroleptika höher als bei den atypischen Wirkstoffen. Klinisch sind extrapyramidal-motorische UAWs gekennzeichnet durch die in Tab. B.4.4 aufgeführten Symptome. Die Häufigkeit und Schwere dieser UAWs sind bei den typischen Neuroleptika abhängig von deren neuroleptischen Potenz, der Dosierung und der individuellen Disposition des Patienten. So kommt es bei Kindern und Jugendlichen unter der Therapie mit Haloperidol ab einer Tagesdosis von 10–15 mg häufig zu diesen UAWs, wobei Kinder und Jugendliche häufiger Parkinson-Syndrome und Dystonien äußern; seltener Akathisien, die häufiger bei Erwachsenen mittleren Alters auftreten. Auch für das atypische Neuroleptikum Risperidon sind extrapyramidal-motorische UAWs ab einer Tagesdosis von 4–6 mg nahezu die Regel.
B.4 Neuroleptika
263
Tab. B.4.3. Nicht-dopaminerge pharmakodynamische Effekte und daraus resultierende unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs) von Neuroleptika Wirkort
Symptome
Therapievorschlag
M1-5-Acetylcholin-Rezeptoren
Mund- und Nasentrockenheit
Befeuchtung der Schleimhäute (Trinkmenge erhöhen, zuckerfreie Bonbons etc.)
Akkommodationstörungen
Oft rückläufig
Obstipation (cave: paralytischer Ileus)
Trinken, balaststoffreiche Ernährung
Akuter Harnverhalt Miktionsstörungen
Cholinergikum, z. B. Carbachol 0,25 mg i.m. oder i.v., Carbachol 1–4 mg/Tag p.o. oder ACh-Esterase-Hemmer, z. B. Distigmin 2,5–5 mg p.o.
Speichelfluss (?) Gedächtnisstörungen Cave: Glaucomanfall
Anticholinergika, z. B. Pirenzepin 25–100 mg/Tag
H1-HistaminRezeptor
Sedierung, Müdigkeit
Meist vorübergehend!
Gewichtszunahme (?) Cave: Verstärkung anderer zentral dämpfender Wirkstoffe
Siehe letzte Zeile unter 5-HT2
Adrenerger α1-Rezeptor
Hypotonie, orthostatische Dysregulation, Schwindel
Kneippen, eventuell Dihydroergotamin 2–6 mg/Tag oder Etilefrin 20–60 mg/Tag
Reflextachykardie
β-Adrenozeptor-Antagonist, z. B. Propranolol 10–30 mg/Tag
Sedierung
Meist nur vorübergehend!
Verstopfte Nase Cave: Verstärkung der Wirkung anderer adrenerger α1Rezeptorantagonisten
Nasentropfen, z. B. Xylometazolin
Sedierung
Meist nur vorübergehend!
Appetitzunahme Gewichtszunahme
Diät, Sportprogramm; eventuell Umsetzung auf Neuroleptikum mit geringerem Risiko der Gewichtszunahme: (Risiko*: Clozapin > Olanzapin >> Risperidon, Quetiapin >Haloperidol>Fluphenazin> Amisulprid, Ziprasidon, Aripiprazol)
Serotonin-5 HT2-Rezeptor
Günstiger Effekt: Senkung des Risikos für Auftreten von extrapyramidal-motorischen UAWs und Prolaktin-Anstieg
Besondere Notfälle sind kursiv geschrieben. ACh, Acetylcholin; i.m., intramuskulär, i.v., intravenös; p.o., per oral * vgl. Baptista et al., 2002 und Remschmidt et al., 2000
Clozapin ist das einzige atypische Neuroleptikum, bei dem bisher keine dieser UAWs unter einer Monotherapie beschrieben wurden, nur in Kombination mit LithiumsalzPräparaten wurden in Einzelfällen solche UAWs beobachtet.
Mögliche Gründe für das deutlich geringere Risiko des Auftretens von extrapyramidal-motorischen UAWs unter der Therapie mit atypischen Neuroleptika sind nach Riederer et al. (1998), dass diese
264
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Tab. B.4.4. Extrapyramidal-motorische unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs) der NeuroleptikaTherapie Bewegungsstörung
Klinische Manifestationsformen
Symptome
Frühdyskinesien
Orofaziale Dyskinesien
Okulogyre Krise (Bulbusverdrehungen) Zungen-Schlund-Krämpfe Rabbit-Syndrom (Zuckungen des Nasolabial-Übergangs)
Dystonien im Hals- und Schulterbereich, seltener: Rumpfbereich Opistotonus
Retrocollis Torsionsdystonie
Parkinsonoid
Rigor (Zahnradphänomen) Hypokinese Tremor
Neuroleptika-bedingtes ParkinsonSyndrom
•
•
• •
Akathisie
Sitzunruhe Trippelbewegungen rastloses Umherlaufen „Kribbeln“ der Fußsohlen
Spätdyskinesien
Zungenwälzen, Saugen, Schmatzen Grimassieren athetotische Bewegungen
Malignes Neuroleptisches Syndrom
Rigor Stupor Bewusstseinsstörungen Vegetative Symptomatik Hohes Fieber
weniger als 80 Prozent der striatalen Dopamin-D2-Rezeptoren besetzen (Ergebnis einer Studie, die die D2-RezeptorBlockade durch radioaktiv markierte typische und atypische Neuroleptika mittels Positronen-Emissions-Tomographie bei schizophrenen Patienten überprüfte; demnach besetzten atypische Neuroleptika 70–80 Prozent, Clozapin sogar nur 50–60 Prozent der D2-Rezeptoren; Farde et al., 1988); einen hohen Quotienten der Affinitäten der serotoninergen 5-HT2- zu DopaminD2- Rezeptoren haben; durch den 5-HT2-Antagonismus vor diesen Nebenwirkungen schützen und in der Regel vor allem im mesolimbischen dopaminergen System wirken.
Bezüglich des Auftretens der extrapyramidalmotorischen UAWs ist zu beachten, dass: •
•
•
Diese zu 90 Prozent innerhalb der ersten fünf Tage nach Behandlungsbeginn beziehungsweise nach einer Dosiserhöhung auftreten. Extrapyramidal-motorische Symptome ausgesprochen stigmatisierend und auf den Patienten ängstigend wirken können, was die Compliance des Patienten gefährdet. Eine vorherige Aufklärung des Patienten und der Familie ist deshalb unbedingt notwendig. Treten extrapyramidal motorische Symptome auf, so sollten sie umgehend behandelt werden (Tab. B.4.5). Neu auftretende verlängerte Antwortlatenzen, Gedankenabrisse und vermeintliche Abwesenheitszustände, die nur schwer
B.4 Neuroleptika
265
Tab. B.4.5. Therapie von extrapyramidal-motorischen unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) (nach Nissen et al., 2004) Manifestationsform
Empfehlungen zur Intervention
Frühdyskinesien
Anticholinergika, z. B. Biperiden.
akut
Bei schwerer Dyskinesie: Biperiden 2 mg i. v. (kann bei Restsymptomatik nach wenigen Minuten wiederholt werden) bei leichten Anzeichen: Biperiden nicht-retardiert 2 mg p.o.
Prophylaxe
Biperiden als Retardpräparat täglich 2–4 mg morgens (p.o.)
Neuroleptika-bedingtes Parkinson-Syndrom
Anticholinergika, z.B. Biperiden als Retardpräparat täglich 2–4 mg morgens p.o.
Akathisie
Üblicherweise Anticholinergika, z. B. Biperiden (Vorgehensweise wie bei Frühdyskinesien): alternativ Benzodiazepine, alternativ β-Adrenozeptor-Antagonisten, z. B. Propranolol 20 mg/Tag, bei Bedarf Erhöhung in 20-mg/Tag-Schritten bis max. 100 mg.
Spätdyskinesien
Wenn möglich, sofortige Umsetzung auf Clozapin (wegen sehr geringem Risiko für extrapyramidal-motorische UAWs). Alternativ Umsetzung auf atypische Neuroleptika mit potenziell geringerem Risiko für extrapyramidal-motorische UAWs (z.B. Olanzapin, Quetiapin).
Malignes neuroleptisches Syndrom
Absetzung des Neuroleptikums, Gabe von Dopamin-Rezeptoragonisten (z. B. Bromocriptin 7,5–16 mg/Tag) oder des Muskelrelaxans Dantrolen 4–10 mg/kg Körpergewicht/Tag.
i.v., intravenös, p.o., per oral
•
•
•
von den primären psychiatrischen, formal gedanklichen Symptomen zu unterscheiden sind, auch Anzeichen einer Frühdyskinesie sein können. Nicht selten betroffene Patienten auch deutlich sichtbare Dyskinesien dissimulieren, indem sie diese in das vorhandene Wahnsystem integrieren. Extrapyramidal-motorische UAWs auch nach längerfristig stabiler NeuroleptikaDosierung, z. B. stressinduziert, neu auftreten können. Von therapeutischer Seite besteht dann die Gefahr, dies als Rückfall in eine schizophrene, katatone Symptomatik fehlzudeuten, die NeuroleptikaDosis anzuheben und somit die Dyskinesien zu verstärken. Die Steigerung von extrapyramidal-motorischen UAWs in Anforderungs- und Stresssituationen auch zur Früherken-
•
•
•
nung genutzt werden kann (z. B. Stellung von Rechenaufgaben verstärken diskrete Dyskinesien) bzw. Anzeichen einer generellen Überforderung sein können. Als Soforthilfe bei akuter Dyskinesie sich die intravenöse (i.v.) Applikation von Anticholinergika eignet, wodurch die Symptomatik sofort behoben wird (z. B. Biperiden 2 mg). Kinder und Jugendliche besonders bezüglich der Entwicklung extrapyramidalmotorischer UAWs beobachtet werden sollten und bei ersten Anzeichen z. B. Biperiden als Retardpräparat täglich p.o. erhalten sollten, um eine weitere Symptomausprägung, die zusätzlich ängstigt, unbedingt zu verhindern. Sofern es das klinische Bild zulässt, sich im Verlauf eine behutsame Reduktion der Neuroleptika-Dosis beziehungsweise
266
Umstellung auf ein atypisches Neuroleptikum nach Abklingen der Akutphase empfiehlt. So genannte Spätdyskinesien, eine Manifestationsform von extrapyramidal-motorischen UAWs (Tab. B.4.4), sind unwillkürliche rhythmische „Kau-Bewegungen“ von Mund und Zunge, aber auch unwillkürliche Bewegungen im Bereich von Nacken, Rumpf und Extremitäten. Spätdyskinesien treten im Gegensatz zu den Frühdyskinesien erst Monate nach Beginn der Neuroleptika-Therapie bei etwa 20 Prozent der Patienten auf; ab etwa dem fünften Behandlungsjahr nimmt die Inzidenzrate signifikant ab. Im Schlaf sistieren die Symptome. Bei den Dyskinesien handelt es sich im Gegensatz zum medikamenteninduzierten hypokinetischen Parkinsonismus um ein hyperkinetisches Syndrom. Die Ursache dieser UAW ist nicht bekannt. Diskutiert wird, dass durch die postsynaptische Dopamin-Rezeptorblockade die Zahl der Dopamin-Rezeptoren ansteigt (so genannte Rezeptor-Hochregulation) beziehungsweise die Rezeptoren empfindlicher auf eine Stimulation reagieren (so genannte Supersensitivierung; siehe Kap. A.1.4.2.1). Diese Phänomene können zusätzlich durch Hemmung der Dopamin-Autorezeptoren (siehe Kap. 1.3.2.1) verstärkt werden. Risikofaktoren für das Auftreten von Spätdyskinesien sind • • • •
• •
weibliches Geschlecht, höheres Lebensalter, lange Therapie mit hohen NeuroleptikaDosen, anticholinerge Begleitmedikation beziehungsweise prophylaktische anticholinerge Therapie, zusätzliche Therapie mit LithiumsalzPräparaten und strukturelle Hirnschäden.
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Die Prävalenzrate für Spätdyskinesien unter Neuroleptika-Therapie beträgt, bezogen auf alle Altersklassen, durchschnittlich 24 Prozent, wobei die Zahlenangaben zwischen 0,5 und 70 Prozent variieren (Kulkarni und Naidu, 2003). Die Symptomatik tritt meist zwischen dem dritten Behandlungsmonat und dem dritten Behandlungsjahr auf. Für das Kindes- und Jugendalter gibt es keine verbindlichen Zahlen zur Prävalenz. Es gibt bisher keine zufrieden stellende Therapie der durch Neuroleptika induzierten Spätdyskinesien, daher kommt der Vermeidung dieser UAWs durch die Gabe möglichst niedriger, jedoch noch ausreichend wirksamer Neuroleptika-Dosen besondere Bedeutung zu. Bei ersten Anzeichen einer Spätdyskinesie ist eine möglichst rasche Umstellung auf das einzige „echte“ atypische Neuroleptikum Clozapin prognostisch am günstigsten. Eine besonders gefährliche, allerdings seltene UAW ist das Maligne Neuroleptische Syndrom. Früherkennungszeichen sind insbesondere die Zunahme extrapyramidal-motorischer UAWs (vor allem Rigor), verbunden mit Fieber und Veränderungen der kardiovaskulären Parameter (vegetative Dysautonomie mit Tachykardie, Herzrhythmusstörungen, Hyperhidrosis). Häufig sind Bewusstseinseintrübungen bis hin zum Stupor. Seltenere Symptome sind Muskelkrämpfe, Myoklonien und Pyramidenbahnzeichen. Erregungszustände sind kaum zu beobachten. Die Kontrolle des Blutbildes, des Urins und der Leberfunktion zeigt einen Anstieg der Kreatininkinase und Blutkörperchen-Senkungs-Geschwindigkeit, eine Leukozytose, eine Transaminasen-Erhöhung, eine Myoglobinurie mit Dunkelfärbung des Urins. Da im Einzelfall die Laborwerte auch innerhalb des Normbereichs liegen können, ist das klinische Bild diagnostisch ausschlaggebend. Trotz Behandlung (siehe Tab. B.4.5) liegt die Mortalität bei etwa 20 Prozent. Die
B.4 Neuroleptika
Todesursache ist meist ein durch Rhabdomyolyse bedingtes Nierenversagen. Eine Studie mit Patienten im Kindes- und Jugendalter zeigte, dass erste Symptome eines Malignen Neuroleptischen Syndroms im Mittel innerhalb der ersten vier bis elf Tage nach Beginn einer neuroleptischen Medikation (maximal nach 59 Tagen) auftreten (Silva et al., 1999). Die Zeitspanne zwischen dem Auftreten des ersten Symptoms und der Ausbildung des vollen Syndroms betrug durchschnittlich 18 Tage. Nach der Absetzung des Neuroleptikums bildete sich die Symptomatik innerhalb von durchschnittlich elf Tagen zurück. Für eine stationäre psychiatrische Inanspruchnahmepopulation neuroleptisch behandelter Patienten schwanken die Häufigkeitsangaben zwischen 0,07 und 2,4 Prozent (Schatzberg et al., 2003). Bei Kindern unter sechs Jahren trat es bereits nach nur einmaliger Neuroleptika-Gabe auf. Im Zeitraum von über drei Jahrzehnten ist in der Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie kein einziger Fall eines neuroleptisch behandelten Patienten mit Malignem Neuroleptischem Syndrom publiziert worden. Therapeutisch ist die sofortige Absetzung des Neuroleptikums erforderlich sowie eine adäquate Volumensubstitution und symptomatische Fiebersenkung. Umgehend notwendig sind ein internistisches Konsil und die Verlegung auf eine internistische Intensivstation. Dabei erwiesen sich Dantrolen (p.o. bei Kindern ab fünf Jahren, Beginn mit 1 mg/kg Körpergewicht, steigerbar auf max. 200 mg/Tag; ab 50 kg Körpergewicht Beginn mit zweimal 25 mg/Tag, max. steigerbar auf 400 mg/Tag; i.v.: 2,5 mg/kg Körpergewicht, max. Tagesdosis 10 mg/kg Körpergewicht) und Bromocriptin (10–30 mg/Tag; max. 60 mg/Tag) am effektivsten in der medikamentösen Therapie des Malignen Neuroleptischen Syndroms (Silva et al., 1999).
267
Differenzialdiagnostisch muss vom Malignen Neuroleptischen Syndrom eine perniziöse Katatonie unterschieden werden. Diese ist gekennzeichnet durch Fieber, Stupor, Haltungsstereotypien, Katalepsie, Negativismus. Hier sind unmittelbar vor Entwicklung des Syndroms psychotische Symptome und schwere Erregungszustände sowie choreatiforme Bewegungsstörungen häufig. Die vegetative Begleitsymptomatik ist oft geringer ausgeprägt als beim Malignen Neuroleptischen Syndrom. Die Therapie bei perniziöser Katatonie besteht in der hochdosierten Gabe antipsychotisch wirksamer Neuroleptika beziehungsweise der Elektrokonvulsionstherapie. Durch die Hemmung von Dopamin-Rezeptoren im tubero-infundibularen System (siehe Kap. A.1.3.2.1) kann es – insbesondere unter der Therapie mit typischen Neuroleptika – zu hormonellen Störungen im Sinne einer Hyperprolaktinämie kommen. Charakteristisch sind Libidoverlust, bei weiblichen Patienten zusätzlich Zyklusstörungen, Spannungsgefühle in der Brust und Galaktorrhö und bei männlichen Patienten Gynäkomastie und Potenzstörungen. Nach Remschmidt et al. (2000) ist das Risiko einer Prolaktin-Spiegelerhöhung wie folgt einzuschätzen: Haloperidol, Amisulprid, Sulpirid >> Risperidon > Ziprasidon > Olanzapin > Clozapin, Quetiapin. Aripiprazol scheint keinen Einfluss auf die tubero-infundibuläre Prolaktin-Sekretion zu nehmen. Tendenziell nähert sich der Prolaktin-Spiegel unter längerfristiger Neuroleptika-Therapie nach durchschnittlich einem Jahr wieder dem Normbereich, wodurch die hormonellen Störungen sistieren. Es wird empfohlen, klinische Zeichen der Hyperprolaktinämie regelmäßig zu eruieren und bei Auftreten entsprechender Symptome den Prolaktin-Spiegel zu bestimmen. Gleichzeitig müssen Hypothyreoidismus,
268
renale Störungen (Serumkreatinin!), bei Mädchen Schwangerschaft oder Kontrazeptiva-Effekte auf den Prolaktin-Spiegel ausgeschlossen werden. Unterhalb 200 ng/ mL können leichte Dosisreduktionsversuche unter weiterer Beobachtung und Kontrolle ausreichend sein bzw. der Wechsel zu Aripiprazol, Quetiapin oder Clozapin kann erwogen werden. Oberhalb von 200 ng/mL sind die genannten Maßnahmen sehr dringend anzuraten, bei Persistenz sollte zur Abgrenzung eines Hypophysenadenoms oder parasellären Tumors eine Bildgebung der Sella turcica stattfinden (Correll und Carlson, 2008). Unter der Therapie mit Neuroleptika, insbesondere unter der Gabe von Clozapin, wurden auch Blutbildveränderungen beschrieben. Deshalb ist die Anwendung von Clozapin mit besonderen Auflagen wie unter anderem schriftlicher Aufklärung und regelmäßiger Kontrollen vor allem der Leukozyten und neutrophilen Granulozyten verbunden. Leukozytopenien kommen in bis zu 30 Prozent der mit Neuroleptika behandelten Patienten zu Therapiebeginn vor und erfordern, außer engmaschigen Blutbildkontrollen, keine weiteren Konsequenzen, sofern 3000/mm3 nicht unterschritten werden. Eine Agranulozytose im eigentlichen Sinne liegt erst bei Granulozyten < 1000/mm3 vor. Ursächlich für die Blutbildveränderungen scheint eine allergisch-toxische Disposition bezüglich neuroleptischer Medikation zu sein. Als Ausdruck einer möglichen allergischen Komplikation kann eine Eosinophilie auftreten (meist vorübergehend in der zweiten bis vierten Behandlungswoche; therapeutische Konsequenz in der Regel nicht notwendig). Veränderungen des weißen Blutbildes (Agranulozytosen und Neutropenien) sind am häufigsten unter Clozapin zu erwarten, jedoch ist in Abhängigkeit des
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Ausmaßes nicht immer eine therapeutische Konsequenz notwendig. Das Risiko für pathologische Veränderungen des weißen Blutbildes ist nach Grohmann et al. (2001): Clozapin > Perazin > Risperidon > Olanzapin > Chlorprothixen > Haloperidol (0,01 Prozent). Wegen des erhöhten Risikos einer durch Clozapin induzierten Agranulozytose (ca. 1 Prozent) sind strenge Kontroll-Richtlinien in der Behandlung zu berücksichtigen (siehe auch weiter unten unter B.4.2.6). Durch Senkung der Krampfschwelle (Ausnahme: Melperon ist antikonvulsiv) kann es bei maximal einem Prozent aller mit Neuroleptika behandelten Patienten zu zerebralen Krampfanfällen kommen. Eine Häufung besteht bei Phenothiazinen mit aliphatischer Seitenkette (z. B. Levomepromazin) und Clozapin. Allgemeine EEG-Veränderungen unter Neuroleptika sind relativ häufig und erfordern außer regelmäßigen Kontrollen keine therapeutischen Konsequenzen (vor allem bei Clozapin sind intermittierend generalisierte, hochgespannte, frequenzverlangsamte Gruppen zu erwarten, bei allgemeiner Frequenzund Amplitudenlabilität). Nach einem durch Neuroleptika induzierten zerebralen Anfall empfiehlt sich eine Dosisreduktion beziehungsweise Umsetzung der Medikation. Bei guter Wirksamkeit des Neuroleptikums auf die Psychopathologie kann die Kombination mit einem Antiepileptikum erwogen werden, um dem Patienten das Präparat zu erhalten (z. B. Phenytoin oder Valproinsäure; engmaschiges TDM zu empfehlen). Ein im Zusammenhang mit der Neuroleptika-Therapie diskutiertes Problem sind mögliche Veränderungen der kardialen Reizleitung. QTc-Zeit-Verlängerungen durch Neuroleptika induzierte Blockaden von Ionen-Kanälen sind ein internistisch bedeutsamer Aspekt, da sie mit dem Risiko von Torsade de pointes und Kammerflimmern verbunden sein können (Glassman und Bigger, 2001). Besonders gehäuft vorzukommen
B.4 Neuroleptika
scheinen diese unter der Therapie mit typischen Neuroleptika der Phenothiazin-Klasse und manchen der atypischen Neuroleptika. Ein geringeres Risiko haben Haloperidol und Olanzapin. Nach Glassman und Bigger (2001) ergibt sich folgende Abstufung hinsichtlich der durchschnittlichen QTc-ZeitVeränderungen: Thioridazin (+35,6 msec) >> Sertindol (bis zu +30 msec) > Ziprasidon (+20,3 msec) > Quetiapin (+14,5 msec) > Risperidon (bis +11,6 msec) > Olanzapin (bis +6,8 msec) > Haloperidol (+4,7 msec). Als weitere mögliche kardiale UAWs sind zu nennen: ST-Strecken-Senkungen, abgeflachte T-Wellen und Arrhythmien (Cave: plötzlicher Herztod!). In den größeren kinder- und jugendpsychiatrischen Untersuchungen zu Olanzapin, Risperidon, Clozapin und Quetiapin (oben zitierte Studien) kam es jedoch nicht zu klinisch relevanten kardialen UAWs. Für Aripiprazol wurde ein solcher Nebeneffekt verneint, jedoch ist die Studienlage zu Kindern und Jugendlichen noch unzulänglich. In kleinen offenen Studien zu aggressivimpulsiven Verhaltensweisen, bei z.B. autistischen Minderjährigen, induzierte Ziprasidon bei Dosierungen um 60 mg keine signifikanten kardialen UAWs. Leberfunktionsstörungen. Allergisch bedingt können innerhalb der zweiten bis vierten Behandlungswoche mit Neuroleptika die Epithelien der Gallengänge verquellen und Anzeichen einer intrahepatischen Cholestase vorhanden sein. Der resultierende Anstieg von Transaminasen und alkalischer Phophatase ist meist passager, oft begleitet von anderen allergischen Symptomen (Urtikaria, Eosinophilie etc.). Eine Ab- beziehungsweise Umsetzung der Medikation ist in der Regel nicht erforderlich (Ausnahme: Ikterus-Zeichen). Im Verlauf scheint eine Desensibilisierung einzusetzen.
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Gewichtszunahme. Eine Appetitsteigerung der atypischen Neuroleptika wird vermutlich durch die antagonistischen Affinitäten zum Histamin-H1- und 5-HT2c-Rezeptor vermittelt. Am ausgeprägtesten ist diese UAW unter Clozapin und Olanzapin. Bei Clozapin entwickelten Kinder und Jugendliche unabhängig von der Dosis eine Gewichtszunahme von ca. 6–6,5 kg in sechs Wochen, bei Olanzapin um 4 kg. Allerdings zeigte eine 45-Wochen-Follow-up-Studie, dass Olanzapin mit durchschnittlich 15-kg-Gewichtssteigerung (entsprechend 30% des Ausgangsgewichts) noch vor Clozapin (8,5 kg bzw. 13%) und Risperidon (6,4 kg bzw. 10%) lag (Fleischhaker et al., 2008). Während bei Risperidon sich nach 12 Wochen ein Plateau der Gewichtszunahme einstellte, zeichnete sich dies für Clozapin erst ab der 40. Behandlungswoche und bei Olanzapin auch nach 45 Wochen noch nicht ab. Bei Risperidon sind auch im Niedrigdosis-Bereich Angaben von 1–2 kg Gewichtszunahme pro Monat im ersten Halbjahr der Behandlung von Kindern und Jugendlichen publiziert worden. Für Quetiapin in Dosierungen zwischen 400 und 800 mg werden unterschiedliche Ergebnisse berichtet, wobei Dosiseffekte hier eine Rolle zu spielen scheinen. So wurden unter 800 mg Tagesdosis Quetiapin bereits innerhalb des ersten Monats 1,5 kg an durchschnittlicher Gewichtszunahme gemessen, unter 225 mg jedoch nach 16 Wochen keine Gewichtsveränderung. Unter Ziprasidon wurden unter niedrigen Dosierungen (20–60 mg) Gewichtsneutralität oder leichte –abnahme beobachtet. Zu Aripiprazol existieren keine empirischen Daten für Minderjährige, Erwachsene nehmen zumeist 1–2 kg ab (zur Übersicht siehe Stigler et al., 2004). Eine Übersichtsarbeit zu möglichen Therapieversuchen gegen die Appetitzunahme unter atypischen Neuroleptika bei Erwachsenen ergab keine signifikanten bzw. sicheren
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Erfolge von Orlistat, Sibutramin, Fluoxetin, Topiramat, Amantadin, Nizatadin, Cimetidin und Metformin (Werneke et al., 2002). Zu Kindern und Jugendlichen gibt es nur wenige Kasuistiken (Horrigan et al., 2001; Lessig et al., 2001): Bei einem 11-Jährigen mit Störung des Sozialverhaltens erbrachte die Kombination von Olanzapin und 10 mg Amphetamin die Reduktion des bereits zugenommenen Gewichts, desgleichen die Kombination von 50 mg Topiramat zu 75 mg Quetiapin bei einem 14-jährigen Mädchen mit Major Depression und psychotischen Symptomen. Kleinere offene Studien sind für Amantadin und Metformin durchgeführt worden: Amantadin 200–300 mg/Tag stabilisierte die Gewichtsinduktion durch verschiedene atypische Neuroleptika bei neun- bis 16-jährigen Patienten (Gracious et al., 2002). Bei 19 zehn- bis 18-jährigen Patienten stoppte die Beigabe von dreimal täglich 500 mg Metformin zu Valproinsäure und Olanzapin oder Risperidon die rasche Gewichtszunahme (Morrison et al., 2002). Glukose- und Fettstoffwechselstörungen. Bereits bei niedriger Neuroleptika-Dosierung wurde in Einzelfällen eine Hyperglykämie mit Hemmung der Insulin-Sekretion und reduzierter Glukose-Toleranz berichtet. Neuerkrankungen wurden insbesondere unter Olanzapin und Clozapin beobachtet, vor allem bei Patienten mit einer Disposition für Diabetes; für Kinder und Jugendliche beziehen sich die meisten Kasuistiken auf Clozapin: Die Hyperglykämie trat meist innerhalb von sechs Wochen bis sechs Monaten nach Medikationsbeginn auf (Stigler et al., 2004). Ursächlich für die Häufung einer Typ-II-diabetischen Stoffwechsellage bei schizophrenen Patienten könnte unter anderem die durch Neuroleptika induzierte Zunahme an Fettgewebe sein. Auch wurde gezeigt, dass mit Olanzapin behandelte Patienten deutlich niedrigere Serumkonzentrationen des durch Adipozyten sezernierten, Insulin-sensitiven
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Zytokins Adiponectin aufwiesen (Ayanthi et al., 2006). Als weitere Risikofaktoren gelten überhöhte Plasmaspiegel vor allem von Clozapin und erhöhte Werte von Hämoglobin A1c (als Indikator eines latenten Diabetes mellitus); diskutiert werden darüber hinaus Polymorphismen des 5-HT2C-Rezeptor-Gens (Assoziation mit metabolischem Syndrom bei Neuroleptika-Therapie). Möglicherweise bedingt der 5-HT1A-Antagonismus mancher Neuroleptika eine Reduktion der InsulinAusschüttung durch die β-Zellen der Pankreas. Bei bereits bestehendem Diabetes mellitus scheinen besonders Olanzapin, Clozapin und auch Quetiapin in Einzelfällen erhöhte Glukose-Werte zu bedingen (Wirshing et al., 1998). Kaum Einfluss auf den Glukose-Stoffwechsel üben Aripiprazol und Ziprasidon aus (Baptista et al., 2002). Triglyzeride und Cholesterol steigen vor allem unter Clozapin und Olanzapin an; Risperidon und Ziprasidon können die Triglyzerid-Spiegel mitunter senken; Amisulprid und Aripiprazol scheinen bezüglich des Fettstoffwechsels neutral zu sein (Baptista et al., 2002; DeNayer et al., 2007). Aus bisherigen Studien ist ein ätiologischer Zusammenhang zwischen Neuroleptika-Therapie und Fettstoffwechsel-Erkrankungen nicht eindeutig zu begründen; hinsichtlich Diabetes-Erkrankungen ist dies jedoch nicht auszuschließen: In einer siebenjährigen US-amerikanischen Follow-up-Studie entwickelten 18,4 Prozent der mit atypischen Neuroleptika behandelten erwachsenen Patienten einen Diabetes mellitus versus nur 6,6 Prozent in der allgemeinen Klinikpopulation (Henderson et al., 2007). Regelmäßige Kontrollen der Blutglukoseund Blutfett-Werte sind somit unbedingt zu empfehlen. In Einzelfällen wird eine Umsetzung oder eine Reduktion der Medikation erforderlich, worunter die Stoffwechselproblematik in der Regel sistiert.
B.4 Neuroleptika
271
Intoxikation mit Neuroleptika. Diese kann auftreten, wenn zu schnell aufdosiert wird oder wenn mit Anticholinergika und anderen Arzneistoffen kombiniert wird, die die therapeutischen Wirkspiegel erhöhen (siehe Arzneimittelwechselwirkungen). Weitere Faktoren, die die Vergiftungsgefahr vergrößern, sind das Vorliegen einer hirnorganischen Schädigung oder ein niedrigeres Lebensalter. Die Vergiftungen äußern sich – abhängig vom Wirkstofftyp – in Delir (Verwirrtheit, Agitation, eventuell Halluzinationen; vor allem nachts!) sowie anticholinerg bedingten Herzrhythmusstörungen und Hypotonie.
rungs-, Genuss- und Suchtmitteln sind in Tab. B.4.6. zusammengefasst. Die wichtigsten Wechselwirkungen finden dabei auf der Ebene der Biotransformation statt, wodurch die Wirkspiegel der Neuroleptika entweder erniedrigt oder erhöht werden und infolge dessen die antipsychotische Wirksamkeit verringert beziehungsweise die UAWs verstärkt sowie die Vergiftungsgefahr erhöht werden. Um eine Dosierung innerhalb des therapeutischen Bereichs zu gewährleisten und eine vorzeitige Umsetzung zu vermeiden, ist ein TDM indiziert (siehe auch Kap. B.4.4).
Die Behandlung einer Intoxikation besteht darin, das Neuroleptikum abzusetzen und eventuell eine Magenspülung mit Aktivkohle durchzuführen. Falls notwendig, kann man Benzodiazepine zur Sedierung, Acetylcholin-Esterase-Hemmer und Parasympathomimetika (Physostigmin, Carbachol, Neostigmin) sowie Antiarrhythmika zur Behandlung der Herz-Kreislaufbeschwerden einsetzen. Katecholamine zur Behandlung des Schockzustandes sind wegen der Verstärkung der kardialen Arrhythmie obsolet; stattdessen ist eine Volumensubstitution indiziert.
B.4.2.6 Anwendungseinschränkungen
B.4.2.5 Arzneimittelwechselwirkungen
Wie oben unter Dosierungsempfehlungen erwähnt, ist es insbesondere im Anfangsstadium der Behandlung häufige klinische Praxis, hoch- und niedrigpotente Neuroleptika miteinander zu kombinieren, um eine zusätzliche Sedierung oder Anspannungsreduktion zu erzielen. In Abhängigkeit des Rezeptorprofils des jeweiligen Neuroleptikums kann es deshalb zu einer Steigerung der neuroleptischen Potenz und Veränderung des Spektrums an UAWs kommen. Wichtige Wechselwirkungen zwischen Neuroleptika und anderen Arznei-, Nah-
Diese bestehen bei • • • • • •
einer Intoxikation mit zentral dämpfenden Neuro-Psychopharmaka und Alkohol, Epilepsien, hämatologischen Erkrankungen, kardiovaskulären Erkrankungen, endokrinen Störungen sowie Leber- und Nierenfunktionsstörungen.
In Tab. B.4.7 sind diese und weitere Anwendungseinschränkungen sowie die empfohlenen Therapiemaßnahmen zusammengefasst. Vorsicht ist geboten: •
In der Schwangerschaft und Stillzeit. Eine erwiesene teratogene Wirkung von Neuroleptika gibt es nicht, jedoch ist ein teratogenes/mutagenes Risiko bei Einnahme vor allem in den ersten drei Schwangerschaftsmonaten nicht auszuschließen. Bei Phenothiazinen mit aliphatischer Seitenkette (z. B. Chlorpromazin) erscheint das Risiko für Malformationen (vor allem Mikrozephalien, Dysmelien) etwas höher zu sein. Die Kenntnisse über die Wirkung von Neuroleptika auf den Fetus beschränken sich jedoch meist auf Ein-
272
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Tab. B.4.6. In der Kinder- und Jugendpsychiatrie relevante Wechselwirkungen von Neuroleptika mit anderen Arznei-, Nahrungs-, Genuss- und Suchtmitteln (nach Dietmaier, 1998) Wechselwirkung mit
Effekt
Empfehlung
ACE-Hemmer (z.B. Captopril, Enalapril)
Blutdruckabfall
Blutdrucküberwachung
Alkohol
Sedierung
Mäßiger Alkoholgenuss
Antazida, Adsorbenzien
Komplexbildung mit reduzierter Resorption der Neuroleptika
Keine zeitgleiche Einnahme (mind. 1 h dazwischen)
Antiarrhythmika (z.B. Chinidin)
Verstärkung kardialer Effekte (QTVerlängerungen)
EKG-Kontrolle
Antibiotika Doxycyclin, Griseofulvin, Rifampicin Chloramphenicol, Clarithromycin, Erythromycin
Beschleunigter NeuroleptikaMetabolismus Hemmung des hepatischen Metabolismus mit Erhöhung der Blutspiegel
Andere Antibiotika wählen Kontrollen der Blutspiegel
Anticholinergika
Synergistische Verstärkung anticholinerger UAWs Fraglich: Abschwächung der antipsychotischen Potenz
Vorsicht vor allem bei niedrigpotenten Neuroleptika
Antidepressiva
Erhöhte Plasmaspiegel der Neuroleptika mit höherem Risiko für UAWs Synergismus vor allem bei trizyklischen Antidepressiva. Cave QTVerlängerung (trizyklische Antidepressiva) Maprotilin senkt Krampfschwelle! (vor allem keine Kombination mit Clozapin!) Kombination Mianserin + Clozapin meiden (additives Leuko- u. Granulozytopenie-Risiko)
SSRI günstiger, Citalopram zeigt geringste CYP2D6-Inhibition bei Spiegelerhöhungen Dosisanpassung ungünstig: Fluvoxamin o. Fluoxetin + Clozapin (10-bzw. 2-fache Spiegelerhöhung des Clozapin) Anmerkung: für Clozapin, Flupentixol, Risperidon, Sulpirid und Thioridazin sind gute antidepressive Effekte per se berichtet worden
Antidopaminergika (z.B. Metoclopramid)
Erhöhung des Risikos von extrapyramidal-motorischen UAWs
Weniger ZNS-wirksame Präparate wählen (z.B. Domperidon)
Antihistaminika (z.B. Promethazin, Diphenhydramin)
Arrhythmien, QT-Verlängerungen, Sedierung, Delir
EKG-Kontrollen
Antikoagulanzien (Warfarin, Phenprocoumon)
Verlängerte Blutungszeit
PTT-Kontrollen
α-Rezeptorantagonisten (z.B. Noradrenalin, Adrenalin, Clonidin)
Synergismus (Hypotonie, Reflextachykardie)
Blutdrucküberwachung
Benzodiazepine
Sedierung
Oft erwünschter Synergismus Cave: Clozapin+Benzodiazepine (Atemdepression)
B.4 Neuroleptika
273
Tab. B.4.6. (Fortsetzung) Wechselwirkung mit
Effekt
Empfehlung
β-AdrenozeptorAntagonisten (β-Blocker)
Höhere Plasmaspiegel der Neuroleptika
Eventuell Dosisreduktion
Carbamazepin
Reduktion der Neuroleptika-Spiegel Cave: Kombination mit Clozapin wegen Blutbildveränderungen!
Dosisanpassung
Clozapin
Verstärkte UAWs, Delir, Krampfanfälle
Kombination mit trizyklischen, niedrigpotenten und DepotNeuroleptika meiden! Spiegelbestimmungen
Diuretika
Hypotonie
Blutdrucküberwachung
Grapefruitsaft
Hemmung des hepatischen Metabolismus und Anstieg der NeuroleptikaSpiegel
Meiden!
Insulin
Blutzuckersenkung
Glukosespiegel-Kontrollen
Kaffee, Tee
Ausfällung der Neuroleptika im Magen und Wirkungsverlust Angstzustände
Mäßiger Konsum
H2-Histamin-Rezeptorantagonisten
Cimetidin erhöht NeuroleptikaSpiegel
Besser: Ranitidin, Famotidin
Lithiumsalz-Präparate
Risiko von UAWs für beide Arzneistoffe erhöht Cave: extrapyramidal-motorische Störungen, Neurotoxizität, Malignes Neuroleptisches Syndrom
Engmaschige ärztliche Kontrollen, vor allem bei Clozapin
Milch
Ausfällung der Neuroleptika im Magen und Wirkungsverlust
Reduzierter Milch-Konsum, Neuroleptika nicht mit Milch einnehmen!
Opiatartige Analgetika
Sedierung Verstärkung der UAWs von Neuroleptika
Überwachung
Ovulationshemmer, Östrogene
Reduzierter hepatischer Metabolismus der Neuroleptika mit verstärkten UAWs Cave: Einschränkung der kontrazeptiven Wirkung!
Überwachung Gynäkologische Beratung
Phenytoin
Spiegelsenkung der Neuroleptika durch CYP-Enzyminduktion
Spiegelkontrollen, Dosisanpassung
Rauchen
Spiegelsenkung mancher Neuroleptika durch CYP1A2-Enzyminduktion
Meiden! Raucher benötigen z.T. bis zu doppelt höhere Neuroleptika-Dosen!
Valproinsäure
Höhere Valproinsäure-Spiegel unter Phenothiazin-Neuroleptika mit Erhöhung des Risikos von UAWs
Spiegelkontrollen, Dosisanpassung, Überwachung
ACE, Hemmstoff des angiotensin converting enzyme; CYP, Cytochrom P-450; PTT, partielle Thromboplastinzeit; SSRI, selective serotonin reuptake inhibitor; UAWs, unerwünschte Arzneimittelwirkungen
274
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Tab. B.4.7. Absolute und relative Kontraindikationen der Therapie mit Neuroleptika in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Kontraindikation
Empfehlung
Epileptische Anfälle
Vermeiden ictugener Neuroleptika (vor allem niedrigpotente typische und sedierende atypische Neuroleptika; Ausnahme: Melperon); möglichst Monotherapie mit einem hochpotenten typischen oder antipsychotisch wirksamen atypischen Neuroleptikum, kein Clozapin!
Hämatologische Erkrankungen (vor allem Leukopenien)
Clozapin induziert am häufigsten Veränderungen des weißen Blutbildes, Haloperidol wesentlich seltener (siehe Kap. B.4.2.4) Trizyklische Antidepressiva meiden!
Erkrankungen, die durch anticholinerge Wirkung ungünstig beeinflusst werden (Harnverhalt, Engwinkelglaukom, Pylorusstenose)
Vermeidung vor allem von niedrigpotenten Neuroleptika wegen erhöhter Affinität zu ACh-Rezeptoren.
Kardiovaskuläre Erkrankungen (Arrhythmien, Long-QT-Syndrom, Störungen der Erregungsleitung, Hypotonie)
Vorsichtig einschleichende Dosierung mit engmaschigen EKGKontrollen; QTc-Zeit-Verlängerungen vor allem problematisch bei manchen atypischen Neuroleptika (siehe Kap. B.4.2.4).
Endokrine Störungen Prolaktin-Erhöhungen, z.B. Phäochromozytom Diabetes mellitus Typ II
Quetiapin und Clozapin bewirken nach bisherigem Kenntnisstand keine Prolaktin-Erhöhung (siehe Kap. B.4.2.4). Regelmäßige Kontrollen des Glukose-Spiegels.
Leber- und Nierenfunktionsstörungen
Neuroleptika unter Metabolismus-Aspekt wählen, regelmäßige Kontrollen des Plasmaspiegels.
Schwangerschaft und Stillzeit
Siehe Kap. B.4.2.6.
Überempfindlichkeit auf bestimmte Inhaltsstoffe
Umstellung auf ein verträgliches Neuroleptikum.
ACh, Acetylcholin.
zelfall-Kasuistiken, so dass eine generelle Aussage nicht getroffen werden kann. Eine Übereinstimmung scheint jedoch zu bestehen bezüglich einer Häufung von Retinopathien des Säuglings nach Einnahme trizyklischer Neuroleptika durch die Mutter während der Schwangerschaft. Postnatal können unter Einwirkung typischer Neuroleptika im letzten Schwangerschaftsdrittel passager Parkinsonoid-ähnliche Bewegungsstörungen des Säuglings auftreten. Die Angaben zu NeuroleptikaKonzentrationen in der Muttermilch sind ausgesprochen uneinheitlich (bis zu 85
•
Prozent). Sinnvollerweise sollte baldmöglichst abgestillt werden. In der Kombinationstherapie mit Clozapin. Eine Kombination von Clozapin mit trizyklischen Depot-Neuroleptika, Olanzapin, Carbamazepin, Oxcarbazepin, Lamotrigin oder Mianserin erhöht das Risiko von Blutbildveränderungen. In Kombination mit niedrigpotenten Neuroleptika können anticholinerge UAWs verstärkt und das Risiko für Krampfanfälle erhöht werden. Trizyklische Antidepressiva (vor allem Maprotilin) senken zusätzlich die Krampfschwelle und ver-
B.4 Neuroleptika
längern die QTc-Zeit. Günstiger sind SSRIs wie Citalopram. Die Begleitmedikation mit Benzodiazepinen erfordert eine engmaschige Überwachung wegen des Risikos einer Atemdepression. Folgende Kotherapeutika können den ClozapinWirkspiegel beeinflussen: Fluvoxamin, Fluoxetin, Paroxetin, Erythromycin, Ketoconazol, Cimetidin, Ethinylöstradiol oder Ritonavir erhöhen den Plasmaspiegel; Carbamazepin, Phenytoin oder Rifampicin dagegen senken die Plasmakonzentrationen (Hiemke et al., 2000). Cave: Eine durch Lithiumsalz-Präparate induzierte Leukopoese kann eine Clozapin-bedingte Granulozytopenie maskieren! Die Verkehrstüchtigkeit und Befähigung zu Schulbesuch beziehungsweise Berufsausübung werden durch NeuroleptikaTherapie im Vergleich zum unbehandelten Krankheitsstadium verbessert beziehungsweise wieder hergestellt. Die Frage der Verkehrstüchtigkeit ist individuell zu beantworten. Das Gleiche gilt für die Verrichtung bestimmter Aufgaben am Arbeitsplatz (z.B. Arbeit an Maschinen etc.). Problematisch sind jedoch Kombinationen mit Alkoholoder Drogenkonsum, manchen Kotherapeutika (Tab. B.4.6) sowie medikamentöse Umstellungsphasen. Für die Praxis empfiehlt sich bei der Fragestellung nach Verkehrstüchtigkeit unter Neuroleptika eine Durchführung von standardisierten (Dauer-)Aufmerksamkeits-, Reaktions- und Konzentrationstests, ähnlich wie bei der Diagnostik eines ADHS. Diese Befunde können zusammengefasst dem Patienten als Schriftstück zur Vorlage mitgegeben werden. Eine pauschale Beurteilung der Verkehrs- oder Erwerbsfähigkeit sollte aus juristischen Gründen jedoch vermieden und den jeweils zuständigen Institutionen überlassen werden.
275
B.4.3
Dauer der Behandlung
Bei Erkrankungen aus dem schizophrenen Formenkreis ist bei Erstmanifestation eine Beibehaltung der antipsychotischen Medikation für die Dauer von mindestens einem Jahr anzuraten. Erholt sich der Patient sehr rasch und vollständig unter Neuroleptika und besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass es sich nur um eine kurze psychotische Episode, z. B. drogeninduziert, handelt, kann innerhalb eines Jahres vorsichtig reduziert und abgesetzt werden. Bei einem Rezidiv sollte das Medikament für fünf Jahre eingenommen werden. Absetzungsversuche sollten prinzipiell keinesfalls abrupt erfolgen, sondern immer in kleinschrittigen Dosisreduktionen über mindestens sechs Monate verteilt (s. auch Kap. C.15). Bei anderen Indikationsbereichen (siehe Tab. B.4.2), in denen vor allem mittel- bis niedrigpotente Neuroleptika oder geringe Dosen atypischer Neuroleptika eingesetzt werden, z. B. mit dem Ziel einer Sedierung, Anspannungsreduktion, gedanklichen Distanzierungsfähigkeit oder Minderung von Impulsivität, kann die Medikation unter der Voraussetzung guter vegetativer Verträglichkeit über Jahre hinweg fortgesetzt werden. Dies ist von großer Bedeutung insbesondere bei schweren (auto-)aggressiven Verhaltensstörungen, beispielsweise im Rahmen eines Autismus oder einer geistigen Behinderung. Hier kann eine neuroleptische Behandlung zur Gewährleistung einer besseren Lebensqualität mitunter lebenslang erforderlich sein. Hochpotente, klassische Neuroleptika sollten wegen des Risikos der Spätdyskinesien bei langfristiger Therapienotwendigkeit immer Mittel der letzten Wahl sein. Die empfohlenen Kontrolluntersuchungen (siehe nachfolgendes Kapitel) sollten regelmäßig durchgeführt werden.
276
B.4.4
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Notwendige Kontrolluntersuchungen
•
Unter Berücksichtigung der Empfehlungen aus dem Erwachsenenbereich hat sich die in Tab. B.4.8 zusammengefasste Vorgehensweise in der kinder- und jugendpsychiatrischen Praxis bewährt. Die generelle Bestimmung von Blutspiegeln unter der Therapie (TDM, siehe Kap. A.2.3) erlangt als Instrument der Dosisoptimierung und Vermeidung von UAWs zunehmend Bedeutung, wenngleich mangels altersspezifischer therapeutischer Bereiche für Kinder und Jugendliche weiterhin der klinische Verlauf für die Dosisanpassungen entscheidend sein sollte. Ein TDM ist aber aufgrund der Besonderheiten der Therapie mit Neuro-Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter (siehe Kap. A.2) generell indiziert und als zusätzliches Screening sinnvoll (Gerlach et al., 2006)
•
•
•
•
zur Kontrolle bei fraglicher Compliance hinsichtlich der Medikamenteneinnahme; beim unzureichenden Ansprechen auf ein Neuroleptikum, um eine Dosierung innerhalb des therapeutischen Bereichs zu gewährleisten und vorzeitige Umsetzung der Medikation zu vermeiden; bei Rauchern (je nach Nikotinkonsum ist der Plasmaspiegel um bis zu 50 Prozent niedriger als bei Nichtrauchern mit gleicher Dosis); bei Clozapin, um Überdosierungen und ein erhöhtes Risiko der ernsten UAWs zu vermeiden und bei Kombinationstherapien, um auf Spiegelveränderungen mit Dosisanpassung reagieren zu können.
Für den Erwachsenenbereich sind die anzustrebenden therapeutische Plasmaspiegelwerte (in alphabetischer Reihenfolge) wie folgt:
Tab. B.4.8. Empfohlene Kontrolluntersuchungen unter der Therapie mit Neuroleptika (modifiziert nach Benkert und Hippius, 2006) Untersuchung
Vorher 1.Monat 2.Monat 3.Monat 4.Monat 5.Monat 6.Monat Danach
Blutbild Trizyklische Neuroleptika Clozapin
Ja Ja
+ ++
+ ++
+ ++
+
+
+ +
Vierteljährlich
Ja
++++
++++
++++
++++
++
+
Thioridazin
++++
++++
++++
++
+
Vierteljährlich Monatlich
Ja
++++
Kreatinin
Ja
+
+
+
Halbjährlich
Transaminasen Trizyklische Neuroleptika
Ja Ja
+ +
+
+ +
+ +
Halbjährlich Vierteljährlich
Blutdruck/Puls
Ja
+
+
+
+
Vierteljährlich
EKG Thioridazin
Ja Ja
+ +
+
+
EEG Clozapin
+ +
+ +
+ Halbjährlich +
Halbjährlich
die Anzahl der „+“ gibt die Häufigkeit der empfohlenen Kontrollen pro angegebenem Zeitraum an; die jeweils fett gedruckte Zeile gibt die Regel der Kontrollhäufigkeiten für alle Neuroleptika an, Ausnahmen sind jeweils darunter genannt
B.4 Neuroleptika
277
Amisulprid 100–400 ng/ml, Chlorprothixen 20–200 ng/ml, Clozapin 350–600 ng/ml, Haloperidol 5–17 ng/ml, Melperon 50 ng/ ml, Levomepromazin 15–60 ng/ml, Olanzapin 20–80 ng/ml, Perphenazin 0,6–2,4 ng/ml, Perazin 100–230 ng/ml, Pimozid 15–20 ng/ ml, Quetiapin 70–170 ng/ml (für Kinder und Jugendliche zeichnen sich hier höhere Werte ab; siehe Gerlach et al., 2007), Risperidon plus 9-Hydroxyrisperidon 20–60 ng/ml, Sulpirid 200–1000 ng/ml, Zotepin 12–120 ng/ml und Ziprasidon 50–120 ng/ml (Baumann et al., 2004). Für Kinder und Jugendliche gibt es keine altersspezifischen Angaben. Die Ausnahme ist Clozapin, da unter der Therapie mit diesem Neuroleptikum aufgrund des Agranulozytose-Risikos die Bestimmung des Blutspiegels Teil der regelmäßigen Routinediagnostik sein sollte. Nach Remschmidt et al.
(2001) scheint der Clozapin-Plasmaspiegel bei Kindern und Jugendlichen unter vergleichbarer Dosis geringfügig höher als bei Erwachsenen zu sein. B.4.5
Klinische Pharmakologie ausgewählter Neuroleptika im Überblick
Die folgende Zusammenstellung beruht auf den Angaben der Fachinformationen über Arzneimittel (FIs) und der Roten Liste (2008). Unter Kap. B.1.5 wurde ausführlich zur Erstellung der FIs und deren Problematik berichtet. Im Folgenden werden die wichtigsten pharmakologischen Kenndaten ausgewählter Neuroleptika benannt. Sie sollen eine Orientierungshilfe in der klinischen Handhabung sein.
B.4.5.1 Amisulprid Pharmakodynamische Eigenschaften
Atypisches Neuroleptikum; hoch affiner D2- und D3-Dopamin-Rezeptorantagonist.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 2 h, t1/2 18 h, Proteinbindung ca. 16%, Bioverfügbarkeit 43–48%; kein hepatischer Metabolismus, renale Elimination.
Anwendungsgebiet
Psychosen, explizit auch Negativsymptomatik, keine Zulassung für Kindesund Jugendalter.
Dosierung
Erwachsene: 400 – max. 1200 mg/Tag bei Positivsymptomatik, verteilt auf zwei Gaben; bei Negativsymptomatik 50–300 mg/Tag.
UAWs
Unruhe, erhöhte Prolaktin-Spiegel, Hypotension, Mundtrockenheit, kaum Gewichtszunahme, selten extrapyramidal-motorische Störungen.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation, Nierenschäden, hirnorganische Störung.
278
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
B.4.5.2 Aripiprazol Pharmakodynamische Eigenschaften
Atypisches Neuroleptikum; Dopamin-D2-Rezeptorpartialagonist, Serotonin-5-HT2A-Rezeptorantagonist.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 3–5 h, t1/2 75 h; Proteinbindung ca. 99%, Bioverfügbarkeit 87%; Metabolismus vor allem durch CYP3A4 und -2D6.
Anwendungsgebiet
Schizophrenie, keine Zulassung für Kindes- und Jugendalter.
Dosierung
Erwachsene: 15–30 mg/Tag bei Positivsymptomatik, Einmalgabe (i.d.R. morgens).
UAWs
Benommenheit, Schlaflosigkeit, Schläfrigkeit, extrapyramidale Symptome (v.a. Akathisie, Tremor), Verschwommensehen, Tachykardie, orthostatische Hypotonie, Übelkeit, Dyspepsie, Obstipation, Kopfschmerzen.
Anwendungsbeschränkungen
Leberinsuffizienz
B.4.5.3 Chlorprothixen Pharmakodynamische Eigenschaften
Niedrigpotentes typisches Neuroleptikum; mittelaffiner D1- und D2-Dopamin-Rezeptorantagonist, hohe Affinität zum serotoninergen 5-HT2- und muscarinergen ACh-Rezeptor, geringe Affinität zum histaminergen H1und adrenergen α1-Rezeptor.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 2 h, t1/2 8–12 h; Proteinbindung ca. 99%, Bioverfügbarkeit 23–64%; Metabolismus durch v.a. CYP3A4 und -2D6.
Anwendungsgebiete
Unruhe, Erregungszustände, Schlafstörungen, Entzug, Psychosen; für Kinder ab 3 Jahren zugelassen.
Dosierung
Bei Kindern 0–1 mg/kg Körpergewicht/Tag; bei Erwachsenen über 150 mg/Tag nur unter stationären Bedingungen (max. 800 mg/Tag); einschleichende Dosierung empfohlen, drei- bis viermal 15–30 mg als Tagesdosis oft ausreichend.
UAWs
Wie niedrigpotente typische Neuroleptika (Tab. B.4.3). Besonderheiten: zerebrale Krampfanfälle, Bein- und Beckenvenenthrombosen (Einzelfälle), Körpertemperaturschwankungen, Müdigkeit, kognitive Einschränkungen, passagerer Transaminasen-Anstieg, Leukopenie, Thrombopenie, Eosinophilie.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikation und andere für typische Neuroleptika spezifische (siehe Tab. B.4.7).
B.4 Neuroleptika
279
B.4.5.4 Clozapin Pharmakodynamische Eigenschaften
Atypisches Neuroleptikum; hochaffiner Dopamin-D1-, Serotonin-5-HT2CHistamin-H1- und ACh-M1-Rezeptorantagonist, mittelaffiner Dopamin-D4-, D3-, adrenerger α1- und niedrigaffiner Dopamin-D2-Rezeptor-Antagonist.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 2–4 h, t1/2 6 h (Muttersubstanz) beziehungsweise 25 h (pharmakologisch gering aktive Metaboliten); Proteinbindung ca. 95%, Bioverfügbarkeit 50–60%; Metabolismus v.a. durch CYP1A2, -2D6 und -3A4.
Anwendungsgebiete
Psychosen ab 16 Jahren.
Dosierung
Erwachsene Tag 1 1x12,5 mg, Tag 2 2x12,5 mg, dann 25-mg-Schritte alle 1–3 Tage, ab 100 mg/Tag 50-mg-Schritte alle 1–3 Tage, ab 600 mg 100mg-Schritte möglich; Verteilung auf 3–4 Einzelgaben.
UAWs
Initial passagere Leukozytose und/oder Eosinophilie, um den 10. Behandlungstag Temperaturerhöhung möglich. Cave: Agranulozytose (1%, meist zwischen 6. und 14. Behandlungswoche), EEG-Veränderungen, zerebrale Krampfanfälle (1%), Hypersalivation, Hypotonie, Tachykardie, EKG-Veränderungen, anticholinerge Effekte, Leberfunktionsstörungen, Hyperglykämie, Ketoacidose, Hautreaktionen, Gewichtszunahme.
Anwendungsbeschränkungen
Kinder unter 16 Jahren, hämatologische Erkrankungen, Epilepsie, HerzKreislauf-Erkrankungen, Leberfunktionsstörungen, Intoxikation, Arzneimittelallergie, Prostatahypertrophie.
B.4.5.5 Flupentixol Pharmakodynamische Eigenschaften
Hochpotentes typisches Neuroleptikum; hochaffiner Dopamin-D2-Rezeptorantagonist, mittlere Affinität zum adrenergen α2-Rezeptor, geringe Affinität zum histaminergen H1- und serotoninergen 5 HT2-Rezeptor, keine Affinität zu adrenergen und ACh-Rezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 4 h, t1/2 22–36 h (aktive Metaboliten); Proteinbindung ca. 99%, Bioverfügbarkeit 40–50%; Metabolismus v.a. durch CYP3A4.
Anwendungsgebiete
Psychosen, niedrig dosiert bei Depressionen und Angststörungen; keine Zulassung für Kindes- und Jugendalter.
Dosierung
Erwachsene 5–60 mg/Tag, verteilt auf 1–3 Gaben; kann sofort hoch dosiert gegeben werden.
UAWs
Extraypramidal-motorische Störungen, Müdigkeit, Hyperprolaktinämie, Gewichtszunahme, gelegentlich anticholinerge und antiadrenerge Effekte, zerebrale Krampfanfälle; selten cholestatische Hepatitis und Photosensibilisierung, Thrombosen, Körpertemperaturschwankungen, corneale Pigmenteinlagerungen bei Langzeittherapie.
Anwendungsbeschränkungen
Akute Intoxikation, andere für typische Neuroleptika spezifische (siehe Tab. B.4.7).
280
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
B.4.5.6 Fluphenazin Pharmakodynamische Eigenschaften
Hochpotentes typisches Neuroleptikum; hochaffiner Dopamin-D1- und D2Rezeptorantagonist, geringe Affinität zum Dopamin-D3-, D4-, serotoninergen 5-HT2-, adrenergen α1- und histaminergen H1-Rezeptor.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 3 h, t1/2 20 h; Proteinbindung ca. 91–92%, Bioverfügbarkeit 20%; Metabolismus v.a. durch CYP3A4.
Anwendungsgebiete
Psychosen, psychomotorische Erregungszustände; für Kinder ab 12. Lebensjahr zugelassen.
Dosierung
Erwachsene 10–20 mg/Tag, verteilt auf 3–4 Einzelgaben, sofort aufdosierbar; als Erhaltungsdosis meist 3–10 mg/Tag ausreichend.
UAWs
Müdigkeit, verworrene Träume, extrapyramidal-motorische Störungen, Körpertemperaturschwankungen, EEG-Veränderungen, Veränderungen im Liquoreiweiß, Bein- und Beckenvenenthrombosen (Einzelfälle), Pneumonien, Leberfunktionsstörungen, Hirnödeme, angioneurotisches Ödem.
Anwendungsbeschränkungen
Kinder unter 12 Jahren; Hypertonie, zerebrale Arteriosklerose, Epilepsie, subkortikale Hirnschäden, extreme Hitze, phosphorhaltige Insektizide.
B.4.5.7 Haloperidol Pharmakodynamische Eigenschaften
Hochpotentes typisches Neuroleptikum; hochaffiner Dopamin-D2-Rezeptorantagonist, mittelaffiner Dopamin-D1-, D3-, D4- und adrenerger α1Rezeptorantagonist; geringe Affinität zum serotoninergen 5-HT2-Rezeptor, keine Affinität zum Histamin-H1- und ACh-M1-Rezeptor.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 3–6 h, t1/2 24 h (oral), 14h (i.v.); Proteinbindung ca. 92%, Bioverfügbarkeit 60%; Metabolismus v.a. durch CYP1A2, -2D6 und -3A4.
Anwendungsgebiete
Psychosen, Manie, Erregungszustände, Dyskinesien/Tics, adjuvante Schmerztherapie, Stottern, Autismus, nicht-psychotische Angstsyndrome, Erbrechen; für Kinder ab 3 Jahren.
Dosierung
Ab 3. Lebensjahr 0,025 mg/kg Körpergewicht, max. 0,2 mg/kg Körpergewicht; bei Jugendlichen und Erwachsenen 5–30 mg/Tag (max. 100 mg) auf 1–3 Einzeldosen (max. 10 mg) verteilt, Schwerpunkt abends; kann sofort hoch dosiert gegeben werden.
UAWs
Häufig extrapyramidal-motorische Störungen, Müdigkeit, Hyperprolaktinämie; selten anticholinerge und antiadrenerge Effekte; sehr selten zerebrale Krampfanfälle, Blutbildveränderungen, cholestatische Hepatitis, Bein- und Beckenvenenthrombosen, periphere Ödeme, Körpertemperaturschwankungen, kognitive Einschränkungen, Haarausfall, Atemnot.
Anwendungsbeschränkungen
Kinder unter 3 Jahren; komatöse Zustände und andere für typische Neuroleptika spezifische (siehe Tab. B.4.7).
B.4 Neuroleptika
281
B.4.5.8 Levomepromazin Pharmakodynamische Eigenschaften
Niedrigpotentes typisches Neuroleptikum; niedrigaffiner D2-Antagonist, hohe Affinität zum histaminergen H1- (antipruriginöse Wirkung!), serotoninergen 5 HT2- und adrenergen α1-Rezeptor, geringe Affinität zu ACh-Rezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 2–3 h, t1/2 30 h; Proteinbindung nicht bekannt, Bioverfügbarkeit 50%; Metabolismus v.a. durch CYP3A4.
Anwendungsgebiete
Psychosen, Erregungszustände, Schmerzen, zugelassen für Kinder und Jugendliche; nach Auskunft der Arzneimittelfirma gibt es keine Altersbeschränkung.
Dosierung
Kinder 1 mg/kg Körpergewicht/Tag; Erwachsene 3–4 x 15–50 mg/Tag, einschleichende Dosierung, max. 600 mg/Tag.
UAWs
Müdigkeit, sonstige für niedrigpotente Neuroleptika charakteristische UAWs.
Anwendungsbeschränkungen
Kreislaufschock, hirnorganische Erkrankungen.
B.4.5.9 Melperon Pharmakodynamische Eigenschaften
Niedrigpotentes atypisches Neuroleptikum; hochaffiner serotoninerger 5-HT2-Rezeptorantagonist, mittelaffiner Dopamin-D4-Rezeptorantagonist, niedrigaffiner Dopamin-D2-, D3-, adrenerger α1- und Histamin-H1-Rezeptorantagonist. Hat als einziges Neuroleptika antikonvulsive Wirkung (deshalb einsetzbar bei Kindern mit Epilepsie).
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 1,5 h, t1/2 3–4 h; Proteinbindung ca. 50%, Bioverfügbarkeit 60%; CYPMetabolismus: nicht bekannt.
Anwendungsgebiete
Unruhe und Erregungszustände, Schlafstörungen, Neurosen, ab 12. Lebensjahr.
Dosierung
3–4 x 12,5–25 mg/Tag, schrittweise Aufdosierung, max. 200 mg/Tag; keine Angaben für Kinder.
UAWs
Müdigkeit; sonstige für atypische Neuroleptika charakteristische Nebenwirkungen, extrapyramidal-motorische Störungen nicht ausgeschlossen.
Anwendungsbeschränkungen
Intoxikationen
282
B.4.5.10
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Olanzapin
Pharmakodynamische Eigenschaften
Atypisches Neuroleptikum; hochaffiner Dopamin-D2- und serotoninerger 5-HT2-Rezeptorantagonist, mittelaffiner Dopamin-D1-, D4-, adrenerger α1-, Histamin-H1- und ACh-M1-Rezeptorantagonist; niedrigaffiner DopaminD3-Rezeptorantagonist.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 5–8 h, t1/2 30 h; Proteinbindung ca. 93%, Bioverfügbarkeit 80–100%; Metabolismus v.a. durch CYP1A2 (weniger: CYP2D6).
Anwendungsgebiete
Psychosen; keine Zulassung für Kindes- und Jugendalter.
Dosierung
Bei Erwachsenen als Erstdosis 10 mg möglich, Tagesdosis 5–20 mg, verteilt auf 1–2 Gaben, schwerpunktmäßig abends.
UAWs
Gewichtszunahme, Müdigkeit; gelegentlich passagere Eosinophilie, Anstieg Triglyzeride/Transaminasen/Blutglukose/Prolaktin, orthostatische Beschwerden, Akathisie, leichte anticholinerge Effekte, Ödeme, Bradykardie, Photosensibilität, erhöhte Kreatinin-Phosphokinase; selten Leukopenie, zerebrale Krampfanfälle, Ausschlag; sehr selten Pankreatitis, Hepatitis, Priapismus; extrapyramidal-motorische Störungen nicht ausgeschlossen (1–10%).
Anwendungsbeschränkungen
Glaukom, Leberfunktionsstörungen, Erkrankungen des hämatopoetischen Systems, Epilepsie, Prostatahypertrophie.
B.4.5.11
Paliperidon
Pharmakodynamische Eigenschaften
Atypisches Neuroleptikum; aktiver Hauptmetabolit von Risperidon (9-OHRisperidon); hohe Affinität zu Dopamin-D2- und serotoninergen 5-HT2ARezeptoren; Affinität zu adrenerger α1-Rezeptoren, geringe Affinintät zu histaminergen und adrenergen α2-Rezeptoren, keine Affinität zu muscarinergen ACh-Rezeptoren.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 22–24 h, t1/2 24 h; Proteinbindung ca. 74%, Bioverfügbarkeit 28%; Ausscheidung überwiegend renal, geringer Metabolismus durch CYP2D6.
Anwendungsgebiete
Behandlung der Schizophrenie; keine Zulassung für Kindes- und Jugendalter.
Dosierung
Erwachsene: 3–6 mg morgens (Aufdosierung nicht erforderlich), immer nüchtern oder immer mit dem Frühstück einzunehmen, maximal 12 mg/ Tag.
UAWs
Kopfschmerzen, extrapyramidale UAWs (v.a. Akathisie), EKG-Veränderungen, Kreislaufbeschwerden, Gewichtszunahme, Sedierung, ProlaktinSpiegelerhöhungen, Senkung der Krampfschwelle, Veränderungen der Glucosewerte.
Anwendungsbeschränkungen
Leberfunktionsstörungen, verlängerte QT-Zeit, kardio- oder zerebrovaskuläre Veränderungen, Hypotonie, Diabetes mellitus, zerebrales Anfallsleiden.
B.4 Neuroleptika
B.4.5.12
283
Perazin
Pharmakodynamische Eigenschaften
Mittelpotentes typisches Neuroleptikum; hochaffiner histaminerger H1-Rezeptorantagonist, mittelaffiner Dopamin-D2- und serotoninerger 5-HT2-Rezeptorantagonist, geringe Affinität zum adrenergen α1- und ACh-M1- Rezeptor.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 1–3 h, t1/2 8–16 h; Proteinbindung ca. 94–97%, Bioverfügbarkeit nicht bekannt; Metabolismus v.a. durch CYP1A2, -2D6, -3A4.
Anwendungsgebiete
Psychosen, Manie, Erregungszustände; für Jugendliche ab 16 Jahren.
Dosierung
Erwachsene max. 500 mg/Tag initial möglich, anzuraten ist jedoch eine einschleichende Dosierung (50–150 mg am 1. Tag) wegen Nebenwirkungsprofil, Tagesdosen bis 800 mg bei Erwachsenen möglich, Verteilung auf 1–4 Gaben, schwerpunktmäßig abends.
UAWs
Extrapyramidal-motorische Störungen; sonstige für typische Neuroleptika charakteristische UAWs; Sensibilitätsstörungen der Hände und Füße, Hepatitis, Bein- u. Beckenvenenthrombosen (Einzelfall).
Anwendungsbeschränkungen
Für typische Neuroleptika spezifische (siehe Tab. B.4.7).
B.4.5.13
Perphenazin
Pharmakodynamische Eigenschaften
Hochpotentes typisches Neuroleptikum; hochaffiner Dopamin-D2Rezeptorantagonist, mittelaffiner serotoninerger 5-HT2-Rezeptoragonist, niedrigaffiner Histamin-H1-, Dopamin-D1- und adrenerger α1Rezeptorantagonist.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 1–4 h, t1/2 8–12 h; Proteinbindung ca. 90%, Bioverfügbarkeit 20%; Metabolismus v.a. durch CYP2D6 (fraglich: CYP3A4).
Anwendungsgebiete
Psychosen, psychomotorische Erregungszustände, therapieresistentes Erbrechen; keine Zulassung im Kindes- und Jugendalter.
Dosierung
Erwachsene bis 3 x 4 mg/Tag.
UAWs
Müdigkeit, Leberfunktions- und Herzrhythmusstörungen; extrapyramidalmotorische Störungen.
Anwendungsbeschränkungen
Kinder unter 16 Jahre; hämatologische Erkrankungen, Epilepsie, HerzKreislauf-Erkrankungen, Leberfunktionsstörungen, Intoxikation, Arzneimittelallergie, Prostatahypertrophie.
284
B.4.5.14
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
Pimozid
Pharmakodynamische Eigenschaften
Hochpotentes typisches Neuroleptikum; hochaffiner Dopamin-D2- und D3-Rezeptorantagonist niedrige Affinität zum Dopamin-D4-, Serotonin-5 HT2- und adrenergen α1-Rezeptor.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 4–8 h, t1/2 55 h; Proteinbindung nicht bekannt, Bioverfügbarkeit nicht bekannt; Metabolismus v.a. durch CYP3A4, -2D6, -1A2.
Anwendungsgebiete
Psychosen, vor allem Minussymptome; für Kinder und Jugendliche zugelassen.
Dosierung
Erwachsene initial 2–4 mg/Tag (Einmalgabe), steigerbar in 2–4-mg-Schritten wöchentlich, max. 16 mg/Tag; bei Kindern halbe Dosis.
UAWs
Extrapyramidal-motorische Störungen, zerebrale Krampfanfälle, Angst, Müdigkeit.
Anwendungsbeschränkungen
Bradykardie, Long-QT-Syndrom, Hypokaliämie, Hypomagnesiämie.
B.4.5.15
Pipamperon
Pharmakodynamische Eigenschaften
Atypisches Neuroleptikum; mittelaffiner serotoninerger 5-HT2-Rezeptorantagonist, niedrigaffiner Dopamin-D2-, D3-, adrenerger α1- und HistaminH1-Rezeptorantagonist.
Pharmakokinetische Eigenschaften
tmax 1,5 mmol/l (in Ausnahmefällen auch darunter). Symptome: Müdigkeit, psychomotorische Verlangsamung, Dysarthrie, Ataxie, kognitive Verwirrtheit, Bewusstseinseintrübung, delirante Symptome, zerebrale Anfälle. Bei Verdacht auf Intoxikation sofortige Absetzung des Lithiumsalz-Präparates und intensiv-medizinische Behandlung: Kontrolle des Wasser- und Elektrolythaushalts, Diurese (nicht mit Thiazid-Diuretika!), Hämodialyse über ca. zwei Wochen.
Dosierung
Bei Kindern: Beginn mit 4–8 mmol/Tag (z.B. 150–300 mg Lithiumcarbonat) verteilt auf 2–3 Tagesdosen; Aufdosierung im Abstand von 3–5 Tagen um jeweils 4–8 mmol/Tag (z.B. 150–300 mg Lithiumcarbonat); der Wirkspiegel von 0,6–1,2 mmol/l bedarf bei Kindern unter 25 kg Körpergewicht kaum mehr als 56 mmol/ Tag (z.B. 2100 mg Lithiumcarbonat) auf mehrere Tagesdosen verteilt. Kontrolle der Lithium-Serumspiegel alle 3–5 Tage nach Veränderung der Dosis, 12 Stunden nach letzter Applikation. Bei Jugendlichen: Beginn mit 8 mmol/Tag (z.B. 300 mg Lithiumcarbonat) verteilt auf 2–3 Dosen; Steigerung der Tagesdosis maximal bis zu 8 mmol/Tag (z.B. 300 mg Lithiumcarbonat) bis zu einem Blutspiegel von 0,6–1,2 mmol/l bei bipolarer manisch-depressiver Psychose und auf 0,4–0,8 mmol/l für die Verstärkung antidepressiver Medikation.
Absetzung des Präparates
Die plötzliche Absetzung der Medikation erhöht das Risiko eines Wiederauftretens der manisch-depressiven Symptomatik. Die Medikation sollte bei Prophylaxe mindestens 18 Monate lang erfolgen und etwa im Zeitraum von drei Monaten langsam abgesetzt werden.
Arzneimittelund Nahrungsmittelwechselwirkungen
Antipsychotika: Möglicher Anstieg des Lithium-Blutspiegels. Carbamazepin: bei auch normalen Lithium-Blutkonzentrationen kann es – wenn auch selten – durch Komedikation von Carbamazepin zu neurotoxischen Wirkungen kommen. Phenytoin: erhöhte Lithium-Toxizität. Thiazid-Diuretika, Schleifendiuretika: Intoxikationsgefahr durch Anstieg des Lithium-Spiegels. Kochsalzarme Diät: Intoxikationsgefahr durch Anstieg des Lithium-Serumspiegels. Antibiotika: Arzneistoffabhängig unter Umständen Anstieg des Lithium-Spiegels. SSRIs: Selten serotoninerges Syndrom.
SSRIs, selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer
unter 25 kg Körpergewicht wird eine Anfangsdosis von 4–8 mmol/Tag (z. B. 150–300 mg Lithium-Carbonat, siehe Tab. B.6.3) empfohlen, die nach 3–7 Tagen um 4–8 mmol/Tag
(150–300 mg Lithium-Carbonat) gesteigert werden kann. In der Regel sind nicht mehr als 56 mmol/ml Lithium-Salz (Tagesdosis 2100 mg Lithium-Carbonat), verteilt auf zwei Ta-
324
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
gesdosen, notwendig, um den erforderlichen Wirkspiegel zu erreichen. Die Spiegel sollten jeweils drei bis fünf Tage nach der Erhöhung bzw. Veränderung der Dosierung überprüft werden. Die Entscheidung, ob ein Lithium-Salz als Retardform verabreicht wird, sollte von individuellen Gegebenheiten, betreffend die Compliance und die Verträglichkeit, abhängig gemacht werden. Spätestens bei unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) sollte versuchsweise jedoch auf die Retardform umgestellt werden, da diese im Allgemeinen besser verträglich ist. Wird nach der Absetzung der LithiumsalzMedikation eine erneute Therapie begonnen, so kann sofort mit der Dosis behandelt werden, unter der der Patient bei der Vormedikation einen adäquaten Wirkspiegel erreicht hatte. Eine neue Titrierung ist nur erforderlich, wenn inzwischen z. B. altersbedingt eine körperliche Veränderung erfolgt ist oder ein Nierenleiden eingetreten ist. B.6.2.4
UAWs
Die Kontrolle der unter der Therapie mit Lithiumsalz-Präparaten auftretenden UAWs (Tab. B 6.4) kommt aufgrund ihrer möglichen Schwere und der sehr geringen therapeutischen Breite eine entscheidende Bedeutung zu. Der feinschlägige Tremor ist gemeinsam mit subjektiv erlebten kognitiven Störungen, Gewichtszunahme und Polyurie die häufigste UAW. Führt der Tremor zu relevanten Beeinträchtigungen (z. B. unleserliche Schrift) und ist eine Dosis-Reduktion nicht möglich, so wird die Medikation von Propanolol (β-Adrenozeptor-Antagonist = β-Blocker) in der Dosierung von 10–140 mg pro Tag empfohlen (Schatzberg et al., 2003). Es sollte, falls nicht initial geschehen, zunächst auf ein Retard-Präparat umgestellt werden, außer-
dem auf den Genuss von Coffein verzichtet werden. Weitergehende neurologische Symptome wie z. B. grobschlägiger Tremor, Schwindel, Rigor, Hyperreflexie, Ataxie, Dysarthrie und Verwirrtheit bis hin zu deliriantem Verhalten sind Zeichen eines toxischen LithiumSpiegels. Bei Lithium-Intoxikation sind zerebrale Anfälle, Bewusstseinstrübung bis zum Koma sowie Herz-Kreislauf-Stillstand möglich. Die gastrointestinalen Störungen sind meistens vorübergehend. Die zweithäufigste UAW ist die Gewichtszunahme, die mit den oben genannten kognitiven Beeinträchtigungen (Verlangsamung, Gedächtnisstörungen) das wichtigste Risiko bezüglich der Compliance darstellt. Aufgrund der seltenen Nierenschädigungen (interstitielle Nephritis) sollte die Nierenfunktion mindestens einmal jährlich überprüft werden (orientierend Bestimmung des Serum-Kreatinins; auch ist bei konstanter Lithiumsalz-Medikation eine Veränderung des Lithium-Serumspiegels ein möglicher Indikator veränderter glomerulärer Funktion). Die kardialen UAWs sind reversibel und sehr selten. Von den dermatologischen Symptomen ist die Akne das häufigste Problem. Es kann auch zu einer Exazerbation präexistenter Dermatosen, wie z. B. einer Psoriasis, kommen. Alle genannten UAWs (bis auf die seltene Nierenschädigung) sind entweder durch Dosisreduktion und – falls möglich und notwendig – durch Absetzung der Lithiumsalz-Medikation reversibel. B.6.2.5
Arzneimittelwechselwirkungen
Die wichtigsten Wechselwirkungen zwischen den Lithiumsalz-Präparaten und anderen
B.6 Stimmungsstabilisatoren
325
Tab. B.6.4. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs) unter der Therapie mit Lithiumsalz-Präparaten (nach Möller et al., 2000 und Schatzberg et al., 2003) Art der UAWs
Symptomatik
Kontrolle
Neuromuskulär und zentralnervös
Feinschlägiger Tremor (bei Bedarf Therapie mit 10–40 mg/Tag Propranolol)
Bei jeder Spiegelkontrolle
Ataxie Muskelschwäche Muskuläre Zuckungen Kognitive Verlangsamung Gastrointestinal
Dyspepsie Gewichtszunahme (zweithäufigste Nebenwirkung)
Bei jeder Spiegelkontrolle
Übelkeit Erbrechen Diarrhoe Dermatologisch
Haarausfall
Bei jeder Spiegelkontrolle
Akne (relativ häufig) Psoriasis Kardial
T-Wellen-Veränderungen Sinusknotensyndrom (selten)
EKG-Kontrolle einmal jährlich
AV-Schenkelblock (selten) Renal
Nephrophathie (eher selten)
Hämatologisch
Leukozytose
Den Wasserhaushalt betreffend
Ödeme
Endokrinologisch
Hypothyreose (20%)
Polydipsie
TSH-Anstieg (30%)
Einmal jährlich Serumkreatinin Bei jeder Spiegelkontrolle
Halsumfang einmal jährlich messen
Struma
Medikamenten finden auf der Ebene der Ausscheidung statt, wodurch die LithiumSerumspiegel erhöht werden und damit die Gefahr einer Lithium-Intoxikation entsteht (siehe Kap. B.6.2.2). Eine Auswahl möglicher Arzneimittel, die in Kombination mit Lithiumsalz-Präparaten eingesetzt werden, und mögliche Interaktionen sind in Tab. B.6.3 zusammengefasst. Vorsicht ist über die Angaben in dieser Tabelle hinaus bei ACE-Hemmern (für Angiotensin-
Konversions-Enzym-Hemmer) und der Gabe von Calcium-Antagonisten, aufgrund jeweils erhöhter Neurotoxizität bei auch normalen Serumkonzentrationen, geboten. Außerdem besteht bei der gleichzeitigen Gabe von nichtsteroidalen Antirheumatika, wie z. B. Diclophenac, ein Intoxikationsrisiko durch eine verminderte renale Lithium-Clearance. Arzneimittelwechselwirkungen von Lithiumsalz-Präparaten mit trizyklischen Antidepressiva sind in der Regel nicht zu erwarten.
326
B. Spezielle Neuro-Psychopharmakologie
B.6.2.6 Anwendungseinschränkungen
Absolute Anwendungseinschränkungen sind • • • • •
schwere Nierenfunktionsstörungen, schwere Herzerkrankungen, Störungen des Natrium-Haushaltes (s.o.), ein Morbus Addison und das erste Trimenon der Schwangerschaft.
Relative Kontraindikationen sind • • • • • • •
Nierenfunktionsstörungen, Herzfunktionsstörungen, Psoriasis, Hypothyreose, Operationen mit Narkose, natriumarme Diät und die Schwangerschaft im 2. und 3. Trimenon. Soll mit Lithiumsalz-Präparaten behandelt werden, müssen deshalb Patientinnen im gebärfähigen Alter zur Vermeidung einer Schwangerschaft gleichzeitig Kontrazeptiva einnehmen.
B.6.3
Dauer der Behandlung
Die Medikation sollte bei Prophylaxe mindestens 18 Monate lang fortgeführt werden und etwa im Zeitraum von drei Monaten langsam abgesetzt werden. Bei Anzeichen rezidivierender Symptome ist die Prophylaxe meist über Jahre und unter Umständen lebenslang fortzuführen. Wenn Lithiumsalz-Präparate über einen längeren Zeitraum gegeben wurden und beispielsweise wegen UAWs abgesetzt werden müssen, sind Patienten darauf hinzuweisen, dass Lebensüberdrussgedanken bei Absetzung von Lithiumsalz-Präparaten über ca. sechs Monate verstärkt auftreten können.
B.6.4
Notwendige Kontrolluntersuchungen
Die Verordnung von Lithiumsalz-Präparaten ist unabdingbar mit der Sicherung der kontinuierlichen Kontrolle von psychopathologischer Entwicklung und Labordaten verbunden (Tab. B.6.5). Mancher Patient entwickelt bereits bei niedrigeren Blutspiegeln im Normbereich Zeichen der Intoxikation (Schläfrigkeit, Übelkeit, Erbrechen, Ataxie) und hat eine optimale Wirkdosis bei relativ niedrigen Spiegeln, während bei anderen Patienten keine hinreichende Wirkung, aber auch keine UAWs bei LithiumSerumspiegeln von > 1,5 mmol/l feststellbar sind. Daher verlangt die adäquate Dosierung kontinuierliche Verlaufskontrollen. Nachdem ein stabiler Blutspiegel erreicht ist, kann die zunächst zweimal wöchentlich stattfindende Spiegelbestimmung auf einmal wöchentlich umgestellt werden. Falls nicht innerhalb von vier Wochen bei adäquatem Blutspiegel eine hinreichende Wirkung erreicht wird, ist eine Zusatzmedikation in Betracht zu ziehen. Bei der Dauermedikation mit LithiumsalzPräparaten ist durchschnittlich ein Blutspiegel von 0,8 mmol/l als optimal anzusehen. Nach Erreichen des optimalen individuellen Wirkspiegels können die Lithium-Serumspiegel-Kontrollen von der wöchentlichen auf eine monatliche Überprüfung umgestellt werden und nach einem halb- bis einjährigen stabilen Verlauf auf eine halbjährliche Spiegelbestimmung reduziert werden. Die Kontrollen richten sich jedoch immer auch nach der Verlässlichkeit des Patienten und seiner klinischen Befindlichkeit. Bei Krankheitsrezidiv ist die Compliance zu prüfen und bei Anzeichen einer Intoxikation unabhängig vom Medikationsschema eine sofortige Lithium-Spiegel-
B.6 Stimmungsstabilisatoren
327
Tab. B.6.5. Empfohlene Kontrolluntersuchungen bei der Therapie mit Lithiumsalz-Präparaten im Kindesund Jugendalter Vor der Therapie
Während der Therapie
Anamnese, Exploration und Untersuchung bezüglich der absoluten und relativen Kontraindikationen.
Lithium-Spiegelkontrolle: Bei Aufdosierung alle 3–5 Tage nach Änderung der Dosierung; im Übrigen im ersten Monat der Medikation wöchentlich; danach 1–2-mal wöchentlich bis zum Erreichen des optimalen Wirkspiegels; danach über ein halbes Jahr monatlich, in der Folge etwa alle 3 Monate.
Bei weiblichen Jugendlichen: Schwangerschaftstest (aufgrund der Teratogenität von LithiumsalzPräparaten effektive Kontrazeption sicherstellen!). Labor: Urinstatus, Kreatininclearance, Schilddrüsenwerte (T3, T4, TSH), Blutbild, Elektrolyte, Blutglukose. Blutdruck, Puls und EKG. EEG Halsumfang (Struma?) Körpergewicht (Gewichtszunahme?)
Kontrolle vorzunehmen. Eine Blutentnahme zur Lithium-Konzentrationsbestimmung erfolgt 12 Stunden nach der letzten Lithium-Medikation. Im Erkrankungsfall mit Risiken von Nierendysfunktion, bei Erkrankungen mit Erbrechen oder Diarrhoe ist eine Verlaufskontrolle des Spiegels notwendig. Patient und Eltern sind bezüglich der Risiken einer Lithium-Intoxikation bei oben genannten Erkrankungen aufzuklären.
B.6.5
Literaturverzeichnis
B.6.5.1 Weiterführende Literatur Aichhorn W, Stuppäck C (2007) Bipolar affektive Störungen im Kindes- und Jugendalter. Neuropsychiatrie 21: 84–92 Freeman M, Wiegand C, Gelenberg AJ (2004) Lithium. In: Schatzberg AF, Nemeroff CB (eds) Textbook of psychopharmacology, 3rd edn. American Psychiatric Publishing, Washington London
Bestimmung des Kreatinin-Spiegels im Serum parallel zur Bestimmung der Lithium-Konzentration. Bei jeder Konsultation Überprüfung des psychopathologischen Befundes und Kontrolle hinsichtlich möglicher UAWs (u.a. Gewichtszunahme? Struma? Zeichen der Intoxikation?). Mindestens einmal jährlich Laboruntersuchungen wie vor Einstellung auf Lithiumsalz-Präparat.
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B.6 Stimmungsstabilisatoren
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(Hrsg) Die Lithiumtherapie, 2. Aufl. Springer, Berlin Heidelberg New York, 163–177
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C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie psychiatrischer Störungen im Kindes- und Jugendalter
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C.1 Aggressives und autoaggressives Verhalten, Impulskontrollstörung, Störung des Sozialverhaltens C. Mehler-Wex, M. Romanos, A. Warnke
C.1.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
Aggressives Verhalten kann isoliert oder als Begleit- beziehungsweise Folge-Symptom bei verschiedenen psychiatrischen Erkrankungen auftreten. Aggressionen können gegen sich selbst (Selbstverletzungen, Parasuizidalität, Suizidalität) oder gegen andere gerichtet sein. Aggressives Verhalten kann Folge einer Psychopathie sein (z.B. antisoziale Persönlichkeitsstörung), einer emotionalen Dysregulation (z.B. Borderline-Persönlichkeitsstörung), einer Störung der Impulskontrolle (ADHS), einer kognitiven Einschränkung (primäre Intelligenzminderung oder sekundäre Defizite z.B. bei Psychose) oder einer Traumatisierung bzw. Belastung (z.B. posttraumatische Belastungsstörung, Anpassungsstörungen; Siever, 2008). Dennoch konnte impulsiv-aggressives Verhalten (impulsive aggression) als valides diagnostisches Konstrukt identifiziert werden, welches über kategoriale Störungsbilder hinweg gleichförmig auftreten kann (Jensen et al., 2007). Die Erblichkeit von aggressivem Verhalten wird mit 44–72% angenommen (Siever, 2008). C.1.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
Diagnostische Voraussetzungen sind eine umfassende kinder- und jugendpsychiatrische Untersuchung, um eine zu Grunde liegende Erkrankung feststellen beziehungsweise
ausschließen zu können. Von großer Bedeutung ist eine ausführliche Fremdanamnese mit verschiedenen Bezugspersonen, um ein möglichst objektives Bild über die Symptomhäufigkeit und mögliche auslösende Faktoren zu gewinnen. Psychotherapie im Sinne einer Verhaltensmodulation (Vermittlung von Problemlösestrategien und Techniken zur Impulskontrolle, Erstellung von Verhaltensplänen unter Einsatz von Verstärkern, Erarbeitung einer kognitiven Umstrukturierung) ist vor allem sinnvoll bei impulsiv bedingter Aggressivität (z. B. im Rahmen von ADHS); es empfiehlt sich grundsätzlich, psychotherapeutisch-pädagogische Maßnahmen als primären Behandlungsansatz zu wählen. Die Indikation zur Pharmakotherapie ist gegeben, wenn strukturierende pädagogische und verhaltenstherapeutische Bemühungen nicht ausreichen sowie bei Vorliegen einer psychiatrischen Grunderkrankung, die Ursache für das Symptom Aggressivität sein könnte. In letzterem Falle ist primär die störungsspezifische Behandlung der festgestellten Grunderkrankung vorzunehmen. Sonst gilt: •
Die Behandlung von Aggressivität, Autoaggressivität und Impulskontrollstörungen ist rein symptomatisch; eine störungsspezifische Medikation gibt es nicht.
Die Wahl des Neuro-Psychopharmakons ist abhängig von Schweregrad und Charakter
334
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
der Aggressivität (z. B. Angsttönung; siehe Tab. C.1.1). Eine wichtige Rolle spielt auch die abzusehende Dauer der Pharmakotherapie; bei längerfristigen Verläufen müsste unter Meidung von Neuro-Psychopharmaka mit Abhängigkeitsrisiko (wie vor allem Benzodiazepine) besonders auf gute Verträglichkeit geachtet werden. Bei stark ausgeprägter Symptomatik ohne Krankheitseinsicht muss möglicherweise ein Wirkstoff gewählt werden, der parenteral appliziert werden kann. Für weiterführende Informationen zur Therapie von Aggressivität, Autoaggressivität und Impulskontrollstörungen möchten wir auf aktuelle Übersichtsarbeiten verweisen (Pappadopulos et al., 2006; Ipser und Stein, 2007; Jensen et al., 2007; Siever, 2008). C.1.3
Pharmakotherapie
Nähere Angaben zu den im Folgenden aufgeführten Wirkstoffgruppen (wie Zulassungsstatus, Wirksamkeit und Studienlage, Dosierungsempfehlungen, UAWs, Arzneimittelinteraktionen, Anwendungseinschränkungen und besondere Vorsichtsmaßnahmen) finden sich in den jeweiligen Spezialkapiteln B.1–B.6. C.1.3.1 Neuroleptika
Neuroleptika (siehe Kap. B.4) sind von großer Bedeutung in der symptomatischen Behandlung von Aggressivität und Impulskontrollstörungen. Sie bieten den Vorteil einer raschen Anspannungslösung und Sedierung, und können innerhalb der therapeutischen Grenzen auch kurzfristig flexibel nach Bedarf verabreicht werden (Tab. C.1.1). Im akuten Erregungszustand können klassische hochpotente Neuroleptika (z. B. Haloperidol) eine rasche Entspannung ermöglichen (Tab. C.1.2), jedoch gibt es mittlerweile auch kasuistische Berichte zur guten akuten Wirksamkeit einiger atypischer Neuro-
leptika (z. B. Ziprasidon). Mittel- und niedrigpotente Neuroleptika sind besonders bei Impulskontrollstörungen und aggressiver Gespanntheit hilfreich. In der Langzeitbehandlung sind atypische Neuroleptika aufgrund des besseren Nebenwirkungsprofils hochpotenten vorzuziehen. Niedrige Dosen atypischer Neuroleptika (z. B. Risperidon) zeigten in zum Teil doppelblind placebokontrollierten Studien gute antiaggressive Wirksamkeit bei Autismus und geistiger Behinderung (Aman et al., 2002; Simeon et al., 2002; Nagaraj et al., 2006; Deb et al., 2007; Pandina et al., 2007; Parikh et al., 2008). Risperidon war Placebo weiterhin überlegen bei Aggressivität im Rahmen einer oppositionellen Störung (LeBlanc et al., 2005), Störung des Sozialverhaltens (Aman und Lindsay, 2002) und ADHS (Aman et al., 2004). Auch in der Augmentation der Wirkung von Psychostimulanzien zeigte Risperidon bei guter Verträglichkeit positive Effekte auf aggressives Verhalten bei ADHS (Armenteros et al., 2007). Quetiapin hatte in einer offenen Studie in einer Dosierung von 75–350 mg bei Kindern mit Sozialverhaltensstörungen im Alter von 6–12 Jahren eine gute antiaggressive Wirkung, wobei diejenigen Kinder, welche besser von der Medikation profitierten, höhere Blutspiegel von Quetiapin aufwiesen (Findling et al., 2007). Entsprechend wurde in einer kürzlich publizierten doppelblinden placebokontrollierten Studie über sieben Wochen eine höhere Quetiapin-Dosis von 200–600 mg gewählt. Quetiapin war dabei in einer durchschnittlichen Dosierung von ca. 300 mg in der Behandlung von Sozialverhaltensstörungen dem Placebo überlegen. Ein direkter Effekt auf aggressives Verhalten (Elternurteil) konnte nicht nachgewiesen werden, was möglicherweise auf eine zu geringe Teststärke wegen zu kleiner Fallzahl (9 vs. 10) und wegen der kurzen Studiendauer zurückzuführen ist (Connor et al., 2008).
C.1 Aggressives und autoaggressives Verhalten, Impulskontrollstörung, Störung des Sozialverhaltens 335 Tab. C.1.1. Empfehlungen zur längerfristigen Therapie von Aggressivität, Impulsivität und Autoaggressivität Assoziierte Symptomatik
Empfohlene Pharmakotherapie*
S. Kap.
Impulsive Störung des Sozialverhaltens; Autismus und geistige Behinderung, auch mit selbstverletzendem Verhalten
Hochpotente atypische Neuroleptika Risperidon 0,25–0,75 mg abends, ab 50 kg bis 1,5 mg abends oder auf 2 Gaben, Quetiapin 75–350 mg (1–2 Gaben)
B.4
Aggressive Gespanntheit, geringe Frustrationstoleranz, ADHS mit leichteren expansiven Verhaltensweisen
Mittel- und niedrigpotente Neuroleptika z. B. Chlorprothixen 4 x 15–50 mg/Tag Levomepromazin 4 x 25–50 mg/Tag Pipamperon 4 x 30 mg/Tag
B.4
ADHS
Psychostimulanzien z. B. Methylphenidat 0,5–1 mg/kg Körpergewicht gegebenenfalls Komedikation mit Risperidon
B.5
Depression, affektive Beteiligung, zwanghafte Komponente, Ängstlichkeit
SSRIs z. B. Citalopram, Fluoxetin 20–60 mg/Tag Sertralin 50–100 mg/Tag Warnhinweise beachten
B.1
Phasische Stimmungsschwankungen, Manie, familiäre Häufung bipolarer Erkrankungen
Stimmungsstabilisatoren z. B. Lithiumsalz-Präparate (Plasmaspiegel 0,6– 1,2 mmol/l) Carbamazepin (Plasmaspiegel 4–10 μg/l) Valproinsäure (Plasmaspiegel 50–100 μg/l)
B.6, B.2
Emotional instabile Persönlichkeit
Mittel- und niedrigpotente Neuroleptika (zur Anspannungslösung), siehe Text atypische Neuroleptika z. B. Quetiapin 200–600 mg/Tag Aripiprazol 5–10 mg/Tag SSRIs (bei überwiegend depressiver Stimmungslage; Cave Antriebssteigerung/Suizidalität), siehe Text
B.4, B.1
EEG-Auffälligkeiten, Epilepsie
Stimmungsstabilisierende Antiepileptika z. B. Carbamazepin (Plasmaspiegel 4–10 μg/l) Valproinsäure (Plasmaspiegel 50–100 μg/l) Phenytoin (Plasmaspiegel 4–15 μg/l)
B.6, B2
Angst, Suizidalität
Benzodiazepine z. B. Lorazepam 3 x 1 mg/Tag Diazepam 3 x 2,5–5 mg/Tag Nur Kurzzeit-Therapie!
B.3
Ausgeprägte vegetative Beteiligung (Tremor, Tachykardie, Hypertonie), hirnorganische Erkrankungen, geistige Behinderung
β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker) z. B. Propranolol ab 300 mg/Tag Cave: vegetative Nebenwirkungen!
B.3
* Vorgehensweise bezüglich Aufdosierung, Nebenwirkungsspektrum, Wechselwirkungen und Gegenanzeigen siehe entsprechende Kapitel ADHS, Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störungen; SSRIs, Selektive Serotonin-WiederaufnahmeHemmer
336
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Tab. C.1.2. Symptomatische Behandlung von akuter Aggressivität und Autoaggressivität Akute Symptomatik
Empfohlene Medikation mit Beispielen
Wiederholbarkeit pro Tag
Maximale Tagesdosis in mg*
Schwere Aggressivität, Unruhe und ausgeprägte psychotische Symptome
Haloperidol 10 mg i.v. + Lorazepam 2 mg i.v. Cave: Lorazepam langsam (2 mg/ min) injizieren!
2–3
Haloperidol 30 (–60) Lorazepam 6 (–7,5)
Kasuistisch günstige Effekte durch Ziprasidon 10 mg p.o. oder i.m. berichtet
Nach Verträglichkeit Cave: kardiale Effekte!
Orale Gabe ähnlich wie bei Schizophrenie denkbar Cave: bei i.m.-Gabe, Einzeldosis über 10 mg nicht ratsam
2–4 3–4 2–3
100–200 2–6/kg Körpergewicht 150
Aggressivität, leichte oder keine psychotischen Symptome
Mittel-/niedrigpotente Neuroleptika Chlorprothixen 50 mg i.m./p.o. Pipamperon 30 mg p.o. Levomepromazin 50 mg i.m./p.o.
Aggressivität bei Angst
Benzodiazepine Lorazepam 2,5 mg (z.B. Tavor expidet®) p.o.
3
7,5
Suizidalität
Benzodiazepine Lorazepam 2,5 mg (z.B. Tavor expidet®) p.o.
3
7,5
2–4 3–4 2–3
100–200 2–6/kg Körpergewicht 150
3
7,5
Selbstverletzendes Verhalten, Parasuizidalität, Schneidedruck
Mittel-/niedrigpotente Neuroleptika Chlorprothixen 50 mg i.m./p.o. Pipamperon 30 mg p.o. Levomepromazin 50 mg i.m./p.o. Benzodiazepine Lorazepam 2,5 mg (z.B. Tavor expidet®) p.o.
*Empfehlungen der maximalen Tagesdosis für Kinder < 14 Jahren (Rote Liste): Haloperidol ab 3. Lebensjahr p.o. 0,025 mg/kg Körpergewicht bis max. 0,2 mg/kg Körpergewicht; Chlorprothixen 0,5–1 mg/ kg Körpergewicht; Pipamperon und Levomepromazin 1 mg/kg Körpergewicht; Lorazepam 0,05 mg/kg Körpergewicht i.m., intramuskulär; i.v., intravenös; p.o., per oral
Olanzapin zeigte in einer placebokontrollierten Doppelblindstudie bei Kindern mit frühkindlicher Entwicklungsstörung in einer Dosierung von 10 mg signifikant positive Effekte auf (auto-)aggressives Verhalten (Hollander et al., 2006). Für Aripiprazol konnte im Erwachsenenbereich die Wirksamkeit auf depressive und stimmungsinstabile Symptome in einer placebokontrollierten Doppelblindstudie nachge-
wiesen werden. Im Kindes- und Jugendbereich fehlt der Nachweis, jedoch ergab eine Übersichtsarbeit, dass Aripiprazol vermutlich bei Kindern mit Autismus und Intelligenzminderung antiaggressive Effekte zeigt, sich positiv auf Hyperaktivität und Impulsivität auswirkt, dabei jedoch überraschend eine signifikante BMI-Zunahme zur Folge hatte (Valicent-McDermott und Demb 2006). Gleiches ergab sich in einer Pilotstu-
C.1 Aggressives und autoaggressives Verhalten, Impulskontrollstörung, Störung des Sozialverhaltens 337
die an Patienten mit Autismus im Alter von 8–20 Jahren für das atypische Neuroleptikum Ziprasidon. In einer durchschnittlichen Dosierung von knapp 60 mg kam es zu einer generellen Symptomverbesserung bei einer nur geringen Sedierung als UAW (McDougle et al., 2002). In einer weiteren offenen Studie an Jugendlichen mit Autismus sprachen 9 von 12 Patienten auf eine mittlere Dosierung von ca. 100 mg (20–160 mg) gut an. Zwei Patienten zeigten kurzfristige extrapyramidal-motorische UAWs, und es kam zu einer leichten QTc-Zeit-Verlängerung, jedoch zu keiner signifikanten Gewichtszunahme (Malone et al., 2007). Eine retrospektive Auswertung ergab eine äquivalente Wirksamkeit von Ziprasidon vs. Olanzapin bei i.m. Applikation zur Behandlung akuter aggressiver Zustände bei 100 Kindern und Jugendlichen (durchschnittliche Dosierung Olanzapin: 8,19 mg; Ziprasidon: 19,07 mg; Khan und Mican, 2006). Atypische Neuroleptika weisen insgesamt eine außerordentlich große Effektstärke (0,9) hinsichtlich ihrer anti-aggressiven Wirkung auf (Pappadopulos et al., 2006). In der Regel werden atypische Neuroleptika in diesem Indikationsbereich zur längerfristigen Behandlung niedriger dosiert als bei schizophrenen Erkrankungen und sind daher recht gut verträglich. Abhängig vom Präparat kann es jedoch auch im Niedrigdosisbereich zu UAWs kommen, z.B. Gewichtszunahme, ProlaktinSpiegelerhöhungen etc. (vergleiche Kap. B.4). C.1.3.2 Psychostimulanzien
Psychostimulanzien (siehe Kap. B.5) sind indiziert bei aggressiven Symptomen in Kombination mit ADHS. Sie bessern selektiv das Aufmerksamkeitsniveau und ermöglichen somit vorausschauenderes und strukturierteres Handeln, das heißt, die Besserung der Impulskontrollstörungen stellt sich sekundär ein. In zahlreichen Studien wurde die
klinische Wirksamkeit der Psychostimulanzien hinsichtlich Aggressivität und Impulsivität bei Kindern mit ADHS bestätigt (zur Übersicht Aman und Lindsay, 2002; Connor et al., 2002; Hechtman und Greenfield, 2003; Ipser und Stein, 2007; Pappadopulos et al., 2006). Zwei doppelblind randomisierte Studien zeigten die Wirksamkeit von Methylphenidat auf aggressives Verhalten bei Kindern mit Autismus (zur Übersicht: Parikh et al., 2008). Cave: Aggressivität per se stellt keine Indikation für Psychostimulanzien dar. Psychostimulanzien sind bei isolierter Störung des Sozialverhaltens möglicherweise ebenfalls wirksam, jedoch gibt es diesbezüglich nur wenige Untersuchungen mit zum Teil widersprüchlichen Ergebnissen (zur Übersicht Gerardin et al., 2002; Ipser und Stein, 2007). Bislang erscheinen Psychostimulanzien in dieser, hinsichtlich der Compliance, schwierigen Patientengruppe kontraindiziert, insbesondere wenn das Risiko des Substanzmissbrauchs besteht (sensation seeking durch Substanzabusus). C.1.3.3 Stimmungsstabilisatoren
Lithiumsalz-Präparate (siehe Kap. B.6 und C.9) wurden hinsichtlich ihrer aggressionsmindernden Wirksamkeit placebokontrolliert überprüft, vor allem bei Kindern mit Störung des Sozialverhaltens. Die Resultate sind positiv, jedoch uneinheitlich mit geringen bis großen Effektstärken (z. B. Malone et al., 2000). Besonders bei Patienten mit verstärkter affektiver Beteiligung sind durch die emotionale Stabilisierung sekundär die günstigsten Effekte, auch auf aggressive Anteile, zu verzeichnen; das heißt, bei planvoll-dissozialem Verhalten besteht geringe Aussicht auf therapeutischen Erfolg mit Lithiumsalz-Präparaten, wohingegen affek-
338
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
tive Explosibilität eine Indikation für Lithiumsalz-Präparate darstellen kann (Moll und Rothenberger, 1998). Intelligenzminderung und tiefgreifende Entwicklungsverzögerungen stellen nach Scheitern anderer Behandlungsmaßnahmen keine Kontraindikation für Lithiumsalz-Präparate dar, sofern eine hinreichende Compliance und Kontrolle von Wirkung und UAWs gesichert sind. Antiepileptika, die als Stimmungsstabilisatoren wirken (siehe Kap. B.6), scheinen mitunter aggressives Verhalten und überschießende Impulsivität zu bessern (Übersicht bei Kowatch und Bucci, 1998; Ipser und Stein, 2007). Zu Carbamazepin liegt eine placebokontrollierte Doppelblindstudie (Cueva et al., 1996) vor, die jedoch keine Überlegenheit von Medikation zu Placebo zeigen konnte. Eine Pilotstudie zu Oxcarbazepin zeigte antiaggressive Effekte bei Patienten mit BorderlinePersönlichkeitsstörung (Bellino et al., 2005). Für Valproinsäure konnte in zwei Studien im Kindes- und Jugendbereich die Wirksamkeit auf aggressives Verhalten – insbesondere bei höheren Dosierungen – nachgewiesen werden; weitere positive Einzelfallberichte liegen vor (Donovan et al., 2000; Lindenmayer und Kotsaftis, 2000). Bei autistischen Kindern konnte dies nicht belegt werden, möglicherweise aufgrund von methodischen Schwächen der Studie (Parikh et al., 2008). Den günstigsten antiaggressiven Effekt zeigten Antiepileptika bei bipolaren Erkrankungen des Erwachsenenalters und bei epileptischen Anfallsleiden, die jeweils störungsimmanent häufig mit Aggressivität assoziiert sind. Die zum Teil beobachteten ernsten UAWs sollten in die Überlegungen zur Wahl der Medikation miteinbezogen werden (Carbamazepin: hämatologische und kardiovaskuläre Effekte; Valproinsäure: zum Teil hepatische Effekte, vor allem im Säuglings- und Kleinkindalter, selten bei Älteren).
Für die Dosierung gelten die zur EpilepsieBehandlung beziehungsweise zur Phasenprophylaxe üblichen Empfehlungen (siehe Kap. B.2 und B.6 und C.9). C.1.3.4 SSRIs
Antidepressiva (siehe Kap. B.1), insbesondere SSRIs, zeigten in zahlreichen Studien an Erwachsenen, vor allem mit affektiven Störungen, aber auch anderen psychiatrischen Grunddiagnosen, im Vergleich zu Placebo eindeutig positive Effekte auf Aggressivität, Impulsivität und Suizidalität (zur Übersicht Hollander, 1999; Walsh und Dinan, 2001). Im Kindes- und Jugendbereich ist die Wirksamkeit von SSRIs bei Aggression jedoch noch nicht ausreichend belegt. In einer offenen Studie wurden eine gute Verträglichkeit und die klinische Wirksamkeit von Citalopram bei Kindern und Jugendlichen mit impulsiver Aggressivität nachgewiesen (Armenteros und Lewis, 2002). Andere Studien zeigten widersprüchliche Befunde, insbesondere konnte für Fluoxetin keine Wirksamkeit nachgewiesen werden (zur Übersicht: Pappadopulos et al., 2006). Antiaggressive Effekte stellen sich frühestens nach zwei bis drei Monaten ein, das heißt, die Wahl eines Antidepressivums in der symptomatischen Behandlung von Aggressivität oder Suizidalität ist nur zur längerfristigen Therapie sinnvoll und bedarf bis zum Wirkungseintritt der Kombination mit anderen, schneller wirksamen Neuro-Psychopharmaka (z. B. Benzodiazepine, Neuroleptika). Im Gegensatz zu trizyklischen Antidepressiva haben SSRIs ein günstigeres Nebenwirkungsprofil, ohne anticholinerge oder kardiovaskuläre Risiken; bei Überdosierung im Rahmen eines eventuellen Suizidversuchs besteht zudem ein nur geringes Toxizitätsrisiko.
C.1 Aggressives und autoaggressives Verhalten, Impulskontrollstörung, Störung des Sozialverhaltens 339
Wegen Hinweisen auf ein vermehrtes Auftreten suizidaler Gedanken unter der Medikation mit SSRIs zur Behandlung depressiver Störungen wurde in den USA ein entsprechender Warnhinweis durch die Aufsichtsbehörde FDA herausgegeben. MetaAnalysen zu SSRIs im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich zeigten jedoch keine Erhöhung der tatsächlich erfolgreich durchgeführten Suizide (Kaizar et al., 2006). Dennoch ist bei Einsatz von SSRIs besonders auf eine mögliche Suizidalität zu achten, um gegebenenfalls die Einstellung stationär oder unter besonders engmaschiger Beobachtung vorzunehmen (siehe dazu auch Kap. B1). C.1.3.5 Benzodiazepine
Benzodiazepine (siehe Kap. B.3) eignen sich vor allem zur Akutbehandlung von aggressiven Unruhe- und Erregungszuständen. Oft werden sie im Notfall mit hochpotenten Neuroleptika kombiniert (Tab. C.1.2). Sie zeigen zudem gute anxiolytische Effekte. Zu beachten ist eine mögliche paradoxe Wirkung mit Aggressionssteigerung, die vor allem bei zu niedriger Dosierung eintreten kann. Als dauerhafte Therapie sind Benzodiazepine wegen des Abhängigkeitsrisikos obsolet. Nach einigen Tagen bis maximal ca. drei Wochen sollte die Benzodiazepin-Medikation ausgeschlichen beziehungsweise durch andere Neuro-Psychopharmaka (z. B. niedrigpotente Neuroleptika) ersetzt werden. C.1.3.6 Sonstige
Der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin, zugelassen für die Indikation ADHS im Kindes- und Jugendalter (siehe Kap. B.5), hat nach einer MetaAnalyse eine nur geringe Effektstärke auf (komorbides) aggressives Verhalten (Pappadopulos et al., 2006). Jedoch zeigte die Studie von Newcorn und Kollegen (2005),
dass möglicherweise bei der Subgruppe von Kindern mit ADHS und komorbiden Verhaltensstörungen, höhere Dosierungen (1,8 mg/kg Körpergewicht) notwendig sind, um die gleiche Wirksamkeit zu erreichen wie bei Kindern ohne komorbide oppositionelle Störung (1,2 mg/kg Körpergewicht). Weitere Details sind den Kap. C.4 und B.5 zu entnehmen. β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker) wie Propranolol oder Pindolol zeigten in Einzelfällen (Greendyke und Kanter, 1986; Greendyke et al., 1986), vor allem bei hirnorganisch erkrankten und geistig behinderten Kindern, eine gute Wirkung auf aggressives Verhalten; die Anwendung ist jedoch wegen der zentralen und peripheren UAWs problematisch. Bei vegetativer Beteiligung kann sie vorteilhaft wirken. Die erforderlichen Dosen liegen eher hoch (z. B. Propranolol 300 mg/ Tag, in Einzelfällen wurden bis 1600 mg/Tag eingesetzt; Riddle et al., 1999). Es fehlen jedoch randomisierte kontrollierte Studien im Kindes- und Jugendalter. Adrenerge α2-Agonisten (z. B. Clonidin bis 0,4 mg/Tag; Kemph et al., 1993) sollen durch Affinität zu postsynaptischen noradrenergen Rezeptoren im präfrontalen Kortex aufmerksamkeitsfördernd und impulshemmend wirken (Arnsten et al., 1996). Dieses theoretische Konzept wurde jedoch noch nicht ausführlicher klinisch geprüft. Clonidin bewirkte bei kleinen Fallzahlen eine Besserung von Aggressivität bei Kindern, vor allem bei Assoziation mit ADHS (Kombination mit Psychostimulanzien) und autistischen Syndromen (Hunt et al., 1986; Jaselski et al., 1992). Wegen der kardiovaskulären UAWs und einigen plötzlichen Todesfällen bleibt Clonidin umstritten, insbesondere auch deshalb weil es keine weiteren Studien zur Wirksamkeit bei Aufmerksamkeitsdefizit, Impulskontrollstörungen und Aggressivität gibt (Popper, 1995). Günstiger, da selektiver für
340
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
adrenerge α2-Rezeptoren, scheint Guanfacin (0,5–3 mg/Tag), vor allem bei Impulskontrollstörungen im Rahmen einer ADHS, zu sein; jedoch gibt es auch hierzu keine kontrollierten Studien (Hunt et al., 1995; Horrigan und Barnhill, 1995). Opioid-Rezeptor-Antagonisten (z. B. Naltrexon 1 mg/kg) reduzierten in kontrollierten Studien Hyperaktivität und Impulsivität bei autistischen Kindern (Riddle et al., 1999), in anderen zeigten sich keine (Campbell et al., 1993) oder nur vorübergehende Wirksamkeit (Willemsen-Swinkels et al., 1995, 1996). Nachdem in einem Fallbericht über Naltrexon bei Rett-Syndrom rasche motorische Verschlechterungen eintraten, besteht hier eine absolute Kontraindikation (Percy et al., 1994). C.1.4
Behandlungsstrategie
C.1.4.1 Therapie der Akutsymptomatik
Für die Notfallsituation mit akuter Erregung und Aggressivität eignen sich vor allem Neuroleptika; insbesondere bei zusätzlichen Symptomen aus dem schizophrenen Formenkreis werden hochpotente Neuroleptika (Kap. B.4) mit Anxiolytika (Kap. B.3) kombiniert. Bei Angst-bedingter Aggressivität und akuter Suizidalität bietet sich der monotherapeutische Einsatz von Benzodiazepinen an, bei Autoaggressivität (Selbstverletzungen, Schneidedruck) kommen alternativ auch niedrig- bis mittelpotente Neuroleptika in Frage (Kap. B.4). Empfehlungen zur Vorgehensweise sind in Tab. C.1.2 aufgeführt. C.1.4.2 Langzeittherapie
Eine Übersicht gängiger Neuro-Psychopharmaka und ihren Dosierungen gibt Tab. C.1.1.
C.1.4.2.1 Rein symptomatische Therapie
Hochpotente Neuroleptika und atypische Neuroleptika, die störungsspezifisch bei schizophrenen Erkrankungen eingesetzt werden (Kap. B.4), können in niedriger Dosierung auch bei nicht-psychotischen Patienten gute aggressionslösende Wirkung zeigen. Zur symptomatischen Behandlung isolierter Aggressivität stellen Neuroleptika die Medikation erster Wahl dar. Da klassische, hochpotente Neuroleptika häufiger extrapyramidal-motorische UAWs (vor allem kaum reversible Spätdyskinesien bei längerer Behandlung; siehe Kap. B.4.2.4) hervorrufen, werden atypische Neuroleptika vorgezogen. Allerdings verfügt nur Risperidon, als einziges der antipsychotisch wirksamen atypischen Neuroleptika, über eine Zulassung bei Aggressivität, bislang jedoch nur bei Demenz-Erkrankten und Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung. Aus der Studienlage ergibt sich, dass Risperidon bis 1,5 mg/Tag günstige Effekte auf aggressives und auch autoaggressives Verhalten, besonders bei Kindern und Jugendlichen mit geistiger Behinderung, autistischen Störungen und Störung des Sozialverhaltens (Simeon et al., 2002; Turgay et al., 2002) gezeigt hat. Den besten Verlauf zeigten dabei Patienten, die nicht nur mit Risperidon, sondern kombiniert mit anderen NeuroPsychopharmaka behandelt wurden. Die Initialdosierung beträgt 0,25 bis 0,5 mg abends. Selten ist eine Dosis oberhalb 1,5 mg/Tag notwendig, meist als Einzeldosierung abends, bisweilen in zwei Dosierungen (morgens/abends). Die Aufdosierung erfolgt in 0,25- bis 0,5-mg-Schritten wöchentlich oder langsamer. Reduktionen oder Absetzungsversuche sollten noch langsamer unter genauer klinischer Symptombeobachtung erfolgen. An UAWs wurden am häufigsten eine Gewichtszunahme und klinisch in der
C.1 Aggressives und autoaggressives Verhalten, Impulskontrollstörung, Störung des Sozialverhaltens 341
Regel nicht relevante Prolaktin-Spiegelerhöhungen bei sonst guter Verträglichkeit berichtet. Für Olanzapin ist in einer Studie ein antiaggressiver Effekt belegt worden (Initialdosis 2,5 bis 5 mg); die Medikation führte jedoch zu einer ausgeprägten Gewichtszunahme. Auch Quetiapin scheint gegen Aggressivität wirksam zu sein. Die Dosierung sollte mit 25 oder 50 mg (>35 kg) beginnen und weiter auf 3 mg/kg Körpergewicht (50–150 mg auf zwei Gaben) in der ersten Woche gesteigert werden. Ab der dritten Woche ist eine weitere Steigerung möglich. In den bisherigen Studien wurde eine Dosierung von 75–350 bzw. 200–600 mg gewählt. An UAWs wurden Müdigkeit, Kopfschmerzen und Übelkeit beobachtet. Aripiprazol ist wirksam bei BorderlinePersönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter (Tagesdosierung 15 mg) und wurde auch bei autistischen Kindern (durchschnittlich 7 mg), bei Intelligenzminderung (durchschnittlich 10 mg) und bei Störung des Sozialverhaltens (1–10 mg) mit Erfolg eingesetzt. Eine vorübergehende Sedierung sowie eine Gewichtszunahme wurden als UAWs verzeichnet. Pilotstudien ergaben weiterhin eine Wirksamkeit von Ziprasidon bei Kindern mit Autismus (Tagesdosis 20–100 mg). An UAWs wurden extrapyramidal-motorische Symptome und eine QTc-Zeit-Verlängerung (ohne die Notwendigkeit klinischer Konsequenzen), jedoch keine Gewichtszunahme genannt. Niedrigpotente Neuroleptika sind gängige, oft auch längerfristig anwendbare Therapeutika bei aggressiver Gespanntheit und Impulskontrollstörungen. Für diese Indikation sind bei Kindern unter anderem auch die typischen Neuroleptika Chlorprothixen und Levomepromazin sowie das atypische Neuroleptikum Pipamperon (< 14 Jahren
jeweils max. 1 mg/kg Körpergewicht/Tag; weitere Angaben siehe Tab. C.1.1) zugelassen. Die Gesamttagesdosis wird in der Regel auf drei bis vier Einzelgaben verteilt, mit eventuellem Schwerpunkt abends zur Sicherung der Nachtruhe. Für Lithiumsalz-Präparate ist ein antiaggressiver Effekt belegt, jedoch stellt sich hier das Problem der oft mangelnden Compliance der Patienten, wodurch eine adäquate Einstellung an Hand des Plasmaspiegels erschwert wird. Spiegelschwankungen führen jedoch neben unzuverlässiger Wirksamkeit auf Grund der geringen therapeutischen Breite der Lithiumsalz-Präparate auch zur Gefahr schwerer UAWs (Enuresis, Gewichtszunahme, Tremor etc.) bis hin zur Intoxikationsgefahr (siehe Kap. B.6 und C.12). Lithiumsalz-Präparate sollten nur bei Gewährleistung einer zuverlässigen Einnahme gewählt werden. Unterhalb des 12. Lebensjahrs ist generell von LithiumsalzPräparaten abzuraten. Die Dosis orientiert sich am Plasmaspiegel (therapeutischer Bereich: 0,6–0,8 mmol/l; bei Aggressivität kann in Abhängigkeit von der Verträglichkeit bis 1,0 bzw. 1,2 mmol/l aufdosiert werden; Malone et al., 2000). Bei Unsicherheit bezüglich regelmäßiger Einnahme sollte Carbamazepin gewählt werden (Aufdosierung anhand des Plasmaspiegels; Norm: 4–10 mg/l). Lithiumsalze, Carbamazepin sowie Valproinsäure sind Arzneistoffe zweiter Wahl in der symptomatischen Behandlung von Aggressivität. C.1.4.2.2 Spezifische Behandlung bei psychiatrischer Komorbidität
Psychostimulanzien stellen in der Patientengruppe mit ADHS die Medikation ers-
342
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
ter Wahl zur Behandlung aggressiver Symptome dar. Erst bei nicht ausreichendem Effekt können adjuvant als Komedikation vor allem mittel- und niedrigpotente Neuroleptika oder niedrig dosiert das atypische Neuroleptikum Risperidon (Dosierung siehe Tab. C.1.1), gegebenenfalls – wie klinische Berichte zeigen – auch andere atypische Neuroleptika (s.o.), gegeben werden. Bei ausbleibender Response auf Methylphenidat kommen alternativ Amphetamin oder Atomoxetin in Betracht (siehe Kap. B.5). SSRIs sind anderen Antidepressiva in der Behandlung aggressiver Symptome bei bestehender affektiver Grunderkrankung überlegen. Die Dosierung erfolgt analog der für die störungsspezifische Therapie üblichen Vorgehensweise (siehe Kap. B.1). C.1.5
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344
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
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C.2 Alkohol-bezogene Störungen G. A. Wiesbeck, R. Stohler
C.2.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
Störungen im unmittelbaren Zusammenhang mit erhöhtem Alkoholkonsum können nach ICD-10 folgendermaßen klassifiziert werden: •
•
•
•
Die akute Intoxikation (ICD-10 F10.0): Diese ist durch Enthemmung, Stimmungslabilität und Aggressivität gekennzeichnet, und kann mit Aufmerksamkeitsstörungen, Reduktion der Urteilsfähigkeit, Gang-/Standunsicherheit und Bewusstseinsstörungen einhergehen. Das Entzugssyndrom (ICD-10 F10.3 bzw. F 10.4): Ein nach Absetzung oder Reduktion des Alkoholkonsums auftretendes Zustandsbild, das durch Übelkeit, Schwitzen, Unruhe, Schlafstörungen, beschleunigtem Herzschlag, Zittern, Fieber und ein allgemeines Krankheitsgefühl gekennzeichnet ist. In schweren Fällen können Halluzinationen und Krampfanfälle hinzukommen. Die schwerste Form des Alkoholentzugs stellt das Delir (delirium tremens alcoholicum) dar. Der schädliche Gebrauch (ICD-10 F 10.1): Die Diagnose „schädlicher Gebrauch“ (Abusus) setzt voraus, dass noch keine Abhängigkeit vorliegt, eine Schädigung der körperlichen oder psychischen Gesundheit aber bereits eingetreten ist. Das Abhängigkeitssyndrom (ICD-10 F10.2): Charakteristisch sind ein starker
Wunsch oder eine Art Zwang, Alkohol zu konsumieren („Craving“), eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Alkoholkonsums, ein körperliches Entzugssyndrom, der Nachweis einer Toleranz, eine fortschreitende Vernachlässigung von Interessen zugunsten des Alkoholkonsums sowie ein anhaltender Konsum, obwohl schädliche Folgen bereits nachweisbar sind. Andere durch Alkohol bedingte Störungen wie z. B. Psychosen (Alkoholhalluzinose, Eifersuchtswahn) oder das amnestische (Korsakow-)Syndrom spielen bei Kindern und Jugendlichen keine Rolle (Clark et al., 2002). Sie werden deshalb hier nicht besprochen. Die vorrangigen Ziele der Pharmakotherapie sind die Sicherung des Überlebens und das Verhindern bleibender Folgeschäden. Darüber hinaus zielt die störungsspezifische medikamentöse Behandlung bei der Intoxikation und beim Entzug auf Vermeidung bzw. Linderung der Vergiftungs- oder Entzugssymptome, bei der Alkoholabhängigkeit hingegen auf die Reduktion der Trinkmenge bzw. die Rückfallprophylaxe. Eine spezifische Pharmakotherapie des schädlichen Gebrauchs existiert nicht. Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von Alkohol können bei Jugendlichen mit weiteren psychischen Störungen vergesellschaftet sein. Überzufällig häufig ist die
346
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Kombination mit Störungen des Sozialverhaltens, der antisozialen und emotional instabilen Persönlichkeitsentwicklung, mit Aggressivität, Impulsivität (einschließlich ADHS), Suizidalität sowie mit affektiven, Angst- und Essstörungen. In verschiedenen Untersuchungen variieren die Angaben zur Häufigkeit erheblich. Je nach Erkrankung und Stichprobe schwanken sie zwischen 20 und 40 Prozent. In der Regel bedürfen auch diese so genannten komorbiden Störungen der spezifischen und gegebenenfalls der kombinierten Pharmakotherapie, was im Einzelfall jedoch gut zu prüfen ist. Hierzu sei auf die entsprechenden Kapitel dieses Buches verwiesen. Die Evidenz der Pharmakotherapie alkoholbedingter Störungen bei Kindern und Jugendlichen basiert auf Erfahrungsberichten und auf Rückschlüssen aus der Behandlung Erwachsener. Randomisierte, doppelblinde, placebokontrollierte Studien existieren bei dieser Altersklasse für keines der eingangs genannten Syndrome (Dawes und Johnson, 2004). C.2.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
Therapeutische Vorbedingung für jede Behandlung ist ein medizinisches Krankheitskonzept, das Abhängigkeit nicht als Willensschwäche, Charakterdefekt oder schlechte Angewohnheit erachtet, sondern als eine chronische Erkrankung im medizinisch definierten Sinne. Eine Atmosphäre von Respekt und Empathie sollten demnach ebenso gegeben sein wie die Möglichkeiten für eine körperlich-neurologische Untersuchung, eine laborchemische Diagnostik und die Ableitung eines EEG oder EKG. Mitunter ist auch eine Bildgebung (Computertomographie, Magnetresonanztomographie) des Gehirns unerlässlich. Nach den Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im
Säuglings-, Kindes- und Jugendalter umfasst die störungsspezifische Diagnostik nicht nur die Exploration des jugendlichen Patienten, sondern auch die Exploration der Eltern, das Einholen von Informationen von der Schule, eine kinder- und jugendpsychiatrische Anamnese sowie den psychopathologischen Befund einschließlich psychologischer Testverfahren (Baving und Bilke, 2007). Akute Störungen durch Alkohol bieten neben der medizinischen, primär pharmakologisch ausgerichteten Behandlungsnotwendigkeit immer auch die Chance für psychotherapeutische Motivationsarbeit zur Förderung von Krankheitseinsicht und weiterführender Behandlungsbereitschaft. Die Grundprinzipien des „motivational interviewing“ (Miller und Rollnick, 1991) sollten deshalb eine selbstverständliche Rahmenbedingung auch dort sein, wo die Pharmakotherapie störungsbedingt im Vordergrund stehen muss. Werden beide kombiniert, psychotherapeutische Motivationsarbeit plus medizinische Entgiftungsbehandlung, spricht man vom „qualifizierten Entzug“. Er gilt, zumindest im deutschsprachigen Raum, als state of the art (Mann und Stetter, 2002). C.2.3
Wahl der Pharmakotherapie
C.2.3.1
Arzneistoffe zur Behandlung des Entzugssyndroms
C.2.3.1.1 Clonidin
Als zentral wirkender adrenerger α2-RezeptorAgonist bewirkt Clonidin eine Hemmung der noradrenergen Neurone im Locus caeruleus (siehe Kap. A.1.3.2.2). Damit lindert Clonidin vor allem die noradrenerg vermittelten Symptome des Entzugs („NoradrenalinSturm“) wie z. B. Tachykardie, Hypertonie, aber bis zu einem gewissen Grade auch Tremor, Unruhe und Ängstlichkeit. Da Clonidin weder antikonvulsive noch delirverhütende Eigenschaften besitzt, ist es als Monothera-
C.2 Alkohol-bezogene Störungen
pie allenfalls für leichte bis mittelschwere Entzugssyndrome geeignet. Clonidin besitzt kein eigenes Suchtpotiential. Es ist als Antihypertonikum auf dem Markt, eine Zulassung für die Indikation „Alkoholentzugssyndrom“ existiert nicht. Spezielle Dosierungsrichtlinien für Kinder und Jugendliche gibt es nicht. Es empfiehlt sich deshalb mit 0,075 mg zu beginnen und je nach Schwere der Symptomatik vorsichtig Menge und Vergabehäufigkeit (bis zu dreimal täglich) zu steigern. Clonidin sollte oral verabreicht und nur in Ausnahmefällen intravenös (dann langsam und in NaCl 0,9% verdünnt) gegeben werden. Auch die subkutane oder intramuskuläre Injektion ist möglich. Nach Abklingen der Alkoholentzugssymptome kann Clonidin innerhalb von fünf Tagen ausschleichend abgesetzt werden. Zu den häufigeren UAWs zählen unter anderem Blutdruckabfall, Müdigkeit, Mundtrockenheit, Obstipation und Schlafstörungen. C.2.3.1.2 Carbamazepin
Carbamazepin besitzt eine strukturelle Ähnlichkeit mit Imipramin und Clozapin, sein Wirkmechanismus ist jedoch komplexer und noch nicht vollständig geklärt. Es gibt Hinweise dafür, dass Carbamazepin die neuronale Informationsübertragung glutamaterger und GABAerger Neuronen (siehe Kap. A.1.3.4) moduliert. Carbamazepin besitzt kein eigenes Suchtpotential. Der Arzneistoff ist für die Behandlung von Epilepsien (siehe Kap. B.2) und zur Anfallsverhütung beim Alkoholentzugssyndrom unter stationären Bedingungen zugelassen. Eine Zulassung für die Indikation „Alkoholentzugssyndrom“ existiert nicht. Bei Kindern und Jugendlichen empfiehlt sich die Gabe von Carbamazepin daher ausschließlich zur Vermeidung entzugsbedingter epileptischer Anfälle. Die Dosierungsempfeh-
347
lung liegt bei 10–20 mg/kg/Tag auf mehrere Gaben verteilt. Ist der Entzug abgeklungen, kann der Arzneistoff über mehrere Tage hinweg langsam und ausschleichend abgesetzt werden. Unter Carbamazepin können unter anderem Schwindel, Ataxien, Übelkeit und allergische Hautveränderungen auftreten. Gefürchtet sind aplastische Anämien und Agranulozytosen, die selten, aber schwerwiegend sind. Eine seltene, aber gefährliche UAW ist auch das Lyell Syndrom (toxische epidermale Nekrolyse). Bei Hinweisen auf eine Leberschädigung, z.B. mit deutlich erhöhten Transaminasen durch die Ethanolwirkung, Hepatitiden usw. kann Carbamazepin durch das auch bei leicht- bis mittelgradigen Leberschäden gut verträgliche Oxcarbazepin ersetzt werden. Oxcarbazepin ist zur Behandlung von fokalen Anfällen ab dem 6. Lebensjahr zugelassen. Die Behandlung kann mit 8–10 mg/ kg Körpergewicht/Tag, verteilt auf zwei bis drei Gaben, begonnen werden. Als Faustregel gilt für das schnelle Erreichen eines Krampfschutzes, ein Umrechnungsverhältnis von mg Carbamazepin zu mg Oxcarbazepin von 1:1,5. C.2.3.1.3 Benzodiazepine
Benzodiazepine können zur Behandlung des Alkoholentzugssyndroms eingesetzt werden. Sie bekämpfen insbesondere Angst und Unruhe und wirken effektiv den entzugsbedingten epileptischen Anfällen entgegen. Da die Gefahr der Akkumulation bei Leberzirrhose in der Regel bei Kindern und Jugendlichen noch nicht besteht, können hier auch Benzodiazepine mit langer Halbwertszeit (z. B. Diazepam, Chlordiazepoxid) eingesetzt werden. Gute Ergebnisse liegen für Lorazepam und Oxazepam vor, die glucuronidiert werden und keinem parenchymbelastenden Lebermetabolismus unterliegen. Insgesamt handelt es sich bei den Benzodiazepinen
348
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
um sichere Medikamente mit großem Erfahrungshintergrund in der Behandlung des Alkoholentzugssyndroms. Die größte Gefahr liegt im eigenen Abhängigkeitspotential. Benzodiazepine sollten deshalb nur für den begrenzten Zeitraum der Entgiftung und nur unter kontrollierten Bedingungen abgegeben werden. Zur Dosierung siehe Kap. B.3.2.1. C.2.3.1.4 Clomethiazol
Der zu den Hypnotika zählende Arzneistoff (siehe Kap. B.3) muss bei der Indikation Alkoholentzugssyndrom wegen seiner kurzen Halbwertszeit (3–6 h) mehrfach täglich gegeben werden. Die Vorteile des Clomethiazol sind die geringe Hepatotoxizität, seine gute Verträglichkeit, seine antikonvulsive Potenz sowie seine sedierende und antidelirante Wirksamkeit. Die Nachteile sind: es wirkt atemdepressiv, steigert die Bronchialsekretion und besitzt ein erhebliches Suchtpotential. Clomethiazol muss individuell dosiert werden, es ist gut steuerbar und wirkt ausgezeichnet gegen das gesamte Symptomspektrum des Alkoholentzugs. Die Dosierung sollte nicht nach Schema, sondern nach Sedierungsgrad erfolgen. Es empfiehlt sich mit zwei Kapseln, zwei Tabletten oder 10 ml Mixtur zu beginnen und dann je nach Schweregrad der Entzugssymptomatik zu steigern. Clomethiazol ist zugelassen für die Indikationen Alkoholentzugssyndrom, Prädelir und Delir. Untersuchungen über seinen Einsatz bei Jugendlichen liegen nicht vor.
C.2.3.2
Arzneistoffe zur Trinkmengenreduktion beziehungsweise zur Verringerung des Rückfallrisikos
C.2.3.2.1 Disulfiram
Dieser Traditionsarzneistoff der Rückfallprophylaxe induziert eine Alkoholintoleranz durch Hemmung der AcetaldehydDehydrogenase. Dadurch wird der Abbau des Ethanols auf der Stufe des Aldehyds gestoppt und es kommt bei Alkoholkonsum zur aversiv erlebten Unverträglichkeitsreaktion (Acetaldehyd-Syndrom). Diese kann lebensgefährlich werden, wenn weiter getrunken wird. Obwohl Disulfiram seit Jahrzehnten zur Rückfallprophylaxe bei Akoholabhängigkeit verordnet wird, fehlt bis heute ein überzeugender evidenzbasierter Wirksamkeitsnachweis. Über seinen Einsatz bei Jugendlichen gibt es nur wenige, kasuistische Berichte (Myers et al., 1995). Deswegen, aber auch wegen erheblicher UAWs (Sedierung, allergische Reaktionen, Sehstörungen, Hepatotoxizität) und mittlerweile besserer Alternativen, sollte der Wirkstoff bei Erwachsenen nur noch in Ausnahmefällen und bei Jugendlichen überhaupt nicht mehr eingesetzt werden. C.2.3.2.2 Naltrexon
Naltrexon entfaltet seine Wirkung als kompetitiver Antagonist am μ-Opioidrezeptor; es verfügt über keine intrinsische Rezeptoraktivität (siehe Kap. A.1.4.2.1) und damit über kein Abhängigkeitspotential, sowie keine klinisch relevante Eigenwirkung. Naltrexon ist gut verträglich, es besitzt eine große therapeutische Breite und zeigt (im Gegensatz zu Disulfiram) keine gefährlichen Interaktionen bei gleichzeitigem Alkoholkonsum. Als UAWs können Kopfschmerzen, Müdigkeit, Schlafstörungen, Niedergeschlagenheit und
C.2 Alkohol-bezogene Störungen
Exantheme auftreten. Die Dosierungsempfehlung für Erwachsene liegt bei 50 mg pro Tag. Die Behandlung sollte mindestens 6–12 Monate dauern. In der Meta-Analyse mehrerer kontrollierter Studien hat Naltrexon seine Wirksamkeit bei der Alkoholabhängigkeit unter Beweis gestellt (Kranzler und Van Krik, 2001) Demnach reduziert Naltrexon die Anzahl an Tagen mit schwerem Alkoholkonsum und verlängert die Zeit bis zum ersten schweren Rückfall. Der Arzneistoff scheint die subjektive Alkoholwirkung („high“) zu reduzieren und damit die Gefahr, dass aus einem erneuten Alkoholkonsum ein schwerer Rückfall wird. Besonders im Zusammenhang mit einer kognitiven Begleitpsychotherapie konnte Naltrexon den Wirksamkeitsnachweis erbringen. Es scheint daher gerechtfertigt, Naltrexon vor allem dort einzusetzen, wo eine vollkommene Abstinenz nicht möglich ist (im Sinne der Rückfalllinderung bzw. Trinkmengenreduktion). Bislang ist Naltrexon für die Indikation Rückfallprophylaxe der Alkoholabhängigkeit jedoch noch nicht zugelassen. Kontrollierte Studien über den Einsatz bei Jugendlichen liegen nicht vor. C.2.3.2.3 Acamprosat
Der genaue Wirkmechanismus von Acamprosat ist noch nicht vollständig geklärt. Seiner indirekt antagonistischen Wirkung am NMDA-Rezeptor (siehe Kap. A.1.3.4.1.3) kommt aber eine zentrale Rolle zu (Littleton, 1995). Acamprosat ist gut verträglich, es besitzt kein Abhängigkeitspotential und verfügt über eine große therapeutische Breite. Bei gleichzeitigem Alkoholkonsum kommt es zu keinen klinisch relevanten Wechselwirkungen (Tab. C.2.1). Die rückfallprophylaktische Wirkung des Acamprosats ist eindruckvoll dokumentiert (Mann et al., 2004). Im Vergleich zu Placebo
349
steigert Acamprosat signifikant sowohl die Abstinenzwahrscheinlichkeit als auch den Anteil alkoholfreier Tage nach Rückfall. In einer Meta-Analyse aller europäischen Studien betrug das relative Rückfallrisiko unter Acamprosat nur 62 Prozent des Rückfallrisikos unter Placebo (Mann et al., 2004). Acamprosat ist für die Indikation Aufrechterhaltung der Abstinenz bei alkoholabhängigen Patienten zugelassen. Die zahlreichen kontrollierten Studien wurden zwar allesamt an Erwachsenen durchgeführt, dennoch sollte Acamprosat aufgrund seiner Anwendungssicherheit und der guten Verträglichkeit das Mittel der ersten Wahl auch bei Jugendlichen sein, wenn hier eine medikamentöse Rückfallprophylaxe notwendig wird. Hinweise zur Dosierung von Acamprosat finden sich im nachfolgenden Kap. C.2.4.3. C.2.4
Behandlungsstrategien
C.2.4.1 Intoxikation
Der Übergang vom Rausch zur Intoxikation vollzieht sich bei Kindern und Jugendlichen sehr viel schneller als bei Erwachsenen (Lamminpää, 1994). Leichte bis mittelschwere Intoxikationen können ambulant behandelt werden und bedürfen in der Regel keiner medikamentösen Intervention. Dagegen ist die schwere Alkoholintoxikation ein lebensbedrohlicher Zustand, der mit einer Dämpfung des ZNS und mit Bewusstseinsstörungen bis hin zum Koma einhergehen kann, und daher als ein medizinischer Notfall der stationären Behandlung bedarf. Ein spezifisches „Antidot“ zur Antagonisierung der akuten Alkoholeffekte existiert bislang ebenso wenig wie ein Arzneistoff zur Beschleunigung von Alkoholabbau und -elimination. Die Wirksamkeit von Naloxon („Arousal-Reaktion“) bei schwer intoxikierten, komatösen Patienten ist nicht ausreichend belegt.
350
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Psychomotorische Erregungszustände können mit einem hochpotenten Neuroleptikum (z. B. Haloperidol) behandelt werden. Cave: Senkung der Krampfschwelle! Arzneistoffe, welche die alkoholbedingte Atemdepression verstärken können (Benzodiazepine, Clomethiazol), sind zu vermeiden.
C.2.4.2 Entzugssyndrom
Da die Schwere eines Entzugssyndroms mit der Dauer des Konsums eng vergesellschaftet ist, verlaufen Alkoholentzugssymptome bei Jugendlichen deutlich milder als bei Erwachsenen. Aus dem gleichen Grunde ist das klassische Delirium tremens alcoholicum bei Jugendlichen eine Seltenheit (Stewart und Brown, 1995). Allerdings reagieren Jugendliche ängstlicher als Erwachsene auf die entzugsbedingten Veränderungen, was mitunter zu einer Aggravation der Symptome, zu depressiven Einbrüchen und suizidalen Krisen führen kann (Baving und Bilke, 2007). Der Bedarf an Medikamenten kann bei verschiedenen Patienten sehr unterschiedlich sein. Deshalb sollte eine Pharmakotherapie des Entzugssyndroms stets individuell und symptomgesteuert erfolgen. Die Verwendung von Dosierungsschemata ist abzulehnen. Keine Pharmakotherapie ist erforderlich bei leichten Formen der Abhängigkeit. Allerdings sollte der Patient dann darüber aufgeklärt werden, dass er sich für mehrere Tage entzugsbedingt nervös und vermehrt ängstlich fühlen und unter Schlafstörungen leiden kann. Für die Behandlung des mittelschweren Entzugssyndroms stehen Clonidin und Carbamazepin zur Verfügung. Dabei hilft Clonidin besonders gegen die vegetative Übererregung, während Carbamazepin den Vorteil einer zusätzlichen Anfallsprophylaxe
bietet. Sind Entzugskrampfanfälle aus der Vorgeschichte bekannt, sollte Carbamazepin unabhängig von der Schwere des Entzugssyndroms eingesetzt werden. Da die Anfallsgefahr in den ersten Tagen des Entzugssyndroms am größten ist, sollte mit Carbamazepin in unretardierter Form vorsichtig, aber zügig auf effektive Serumspiegel aufdosiert werden (siehe auch Kap. B.2). Allerdings besitzen weder Clonidin noch Carbamazepin eine delirverhütende Wirkung. Beide Arzneistoffe sind jedoch für eine Kombinationsbehandlung mit Benzodiazepinen oder Clomethiazol gut geeignet. Benzodiazepine (siehe Kap. B.3) sind in der Behandlung des Alkoholentzugssyndroms hoch wirksam. Sie können Entzugssymptome lindern, das Risiko von Delirien reduzieren und verfügen zusätzlich über eine gute antiepileptische Potenz. Benzodiazepine mit kurzer Halbwertszeit (Oxazepam, Lorazepam) kumulieren weniger und führen seltener zur Übersedierung, hingegen sind solche mit längerer Halbwertszeit (Diazepam, Chlordiazepoxid) besonders wirksam in der Prophylaxe von Entzugsanfällen. Clomethiazol ist Mittel der ersten Wahl beim schweren Entzugssyndrom sowie bei Delirien mit und ohne Entzugsanfälle. Deswegen und wegen seines hohen Suchtpotentials darf Clomethiazol nur stationär verordnet werden. Dabei sollte die Anfangsdosierung so gewählt werden, dass die Entzugssymptomatik deutlich gedämpft wird, der Patient aber stets aufweckbar bleibt. Zur Vermeidung von Gefahren einer additiven kreislauf- und atmungsdämpfenden Wirkung von Ethanol und Clomethiazol sollte, falls klinisch möglich, ein Absinken des Atemalkoholspiegels auf ca. 1,0 ‰ abgewartet werden. C.2.4.3 Rückfallprophylaxe
Für die pharmakologische Rückfallprophylaxe stehen drei Arzneistoffe zur Verfü-
C.2 Alkohol-bezogene Störungen
gung: Disulfiram, Naltrexon und Acamprosat – das erste aus Tradition, die beiden Letztgenannten aufgrund evidenzbasierter Wirksamkeitsnachweise. Für keine der drei Arzneistoffe liegen Ergebnisse aus kontrollierten Studien bei Jugendlichen vor und nur Disulfiram und Acamprosat sind für die Indikation Rückfallprophylaxe zugelassen. Deshalb und aufgrund seiner vorteilhaften klinischen Eigenschaften (Tab. C.2.1) sollte Acamprosat der Arzneistoff der ersten Wahl sein, wenn eine pharmakologische Rückfallprophylaxe bei Jugendlichen notwendig wird. Da jedoch seine Wirksamkeit bisher nur am Idealtypus des entgifteten, zur Abstinenz entschlossenen erwachsenen Alkoholabhängigen dokumentiert ist, kann der noch trinkende, abstinenzunwillige Jugendliche nicht die Zielperson einer pharmakologischen Rückfallprophylaxe mit Acamprosat darstellen. Die Behandlung krankheitsuneinsichtiger Jugendlicher wird auch weiterhin die Domäne der motivierenden Psychotherapie bleiben. Die Behandlung mit Acamprosat sollte unmittelbar nach der Entgiftung, am besten bereits im ausklingenden Alkoholentzug beginnen. Die bisherigen Studien rechtfertigen eine Behandlungsdauer von einem Jahr, jedoch spricht im Einzelfall nichts gegen eine Tab. C.2.1. Klinische Vorteile des Acamprosats • Keine psychotrope Eigenwirkung (damit auch kein Abhängigkeitspotential). • Gute Verträglichkeit (passagere Diarrhoe bei ca. 10% der Patienten zu Behandlungsbeginn als häufigste unerwünschte Arzneimittelwirkung). • Keine Erhöhung der Leberenzyme. • Es gibt keine Wechselwirkungen zwischen Acamprosat und Alkohol. • Keine Wechselwirkungen mit Disulfiram, Diazepam oder Imipramin beobachtet. • Bei Rückfall kein Abbruch der AcamprosatTherapie notwendig.
351
längere Gabe. Die Dosierung sollte körpergewichtsbezogen gewählt werden und kann sich wegen der guten Verträglichkeit an den Empfehlungen für Erwachsene orientieren (Körpergewicht unter 60 kg: 2–1–1 Tabletten pro Tag, bei über 60 kg: 2–2–2 Tabletten pro Tag). Wegen initialer gastrointestinaler UAWs bei etwa zehn Prozent der Patienten, sollte die Dosierung einschleichend gewählt werden. Wie bei jeder anderen Pharmakotherapie auch, können Behandlungsfehler vermieden und die Compliance verbessert werden, wenn der Patient umfassend informiert ist. Einer der häufigsten Behandlungsfehler mit Acamprosat ist die Beendigung der Einnahme nach erneutem Alkoholkonsum. Jeder Patient muss deshalb wissen, dass Acamprosat auch die Dauer und die Schwere eines Rückfalls verringern kann, sofern es weiter eingenommen wird. Führt die Behandlung mit Acamprosat nicht zum erhofften Erfolg, kann eine Kombination mit Naltrexon versucht werden. Beide Arzneistoffe ergänzen sich in ihrem Wirkansatz sinnvoll, darüber hinaus gibt es Evidenz für die bessere Wirksamkeit einer Acamprosat-plus-Naltrexon-Kombination (Kiefer et al., 2003). In Ergänzung zur gegebenenfalls medikamentösen Rückfallprophylaxe empfiehlt sich die Ausschöpfung der labordiagnostischen Möglichkeiten der Abstinenzkontrolle. Neben dem Atem- und Blutalkohol ist die Bestimmung von Ethylglucuronid und Carbohydrat-defizientem Transferrin möglich. Die Bestimmung von Ethylglucuronid aus 10 ml Spontanurin gibt Hinweise auf einen Alkoholkonsum in den letzten 40–78 Stunden. Die Bestimmung des Carbohydrat-defizienten Transferrin aus 1 ml Serum gibt Hinweise auf einen erhöhten Alkoholkon-
352
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
sum in den vorausgegangen drei Wochen. Erhöhte Werte sind dabei von einem täglichen Konsum von mehr als 50–80 g Alkohol zu erwarten. C.2.5
Literaturverzeichnis
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C.3 Angststörungen und Phobien K. Klampfl, A. Warnke, J. Seifert
C.3.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
C.3.1.1 Angststörungen (F41, F93.0)
Nach der ICD-10-Klassifikation sind Angststörungen durch übermäßig ausgeprägte beziehungsweise dysfunktionale Angstreaktionen charakterisiert. Dabei ist die Angst – mit Ausnahme der Trennungsangststörung – nicht auf bestimmte Objekte oder Situationen begrenzt, wie dies bei Phobien der Fall ist. Begleitend können weniger stark ausgeprägte depressive oder zwanghafte Symptome, aber auch phobische Angstelemente auftreten. Nach der ICD-10-Klassifikation werden unterschieden: • • • •
Panikstörung (F41.0), generalisierte Angststörung (F41.1), sonstige gemischte Angststörungen (F41.3) und emotionale Störung mit Trennungsangst des Kindesalters (F93.0).
C.3.1.2 Phobische Störungen (F40, F93.1, F93.2)
Den Phobien ist gemeinsam, dass die Betroffenen große Angst vor Dingen oder Situationen haben, vor denen Menschen ohne phobische Störung normalerweise keine Furcht haben. Dabei erkennen die Betroffenen zeitweise, dass ihre Angst übermäßig oder un-
begründet ist. Ein Hauptmerkmal bei allen Phobien ist die Vermeidung der phobisch besetzten Objekte oder Situationen. Das Vermeidungsverhalten bestimmt dabei häufig das Ausmaß der Funktionsbeeinträchtigung. Die Angst kann von vegetativen Symptomen wie Tachykardie, Schweißausbruch, Tremor, Mundtrockenheit, Atembeschwerden, Beklemmungsgefühl, Thoraxschmerzen, Übelkeit oder Erbrechen begleitet werden. Nach der ICD-10-Klassifikation werden unterschieden: • • • • • •
Agoraphobie (F40.0), soziale Phobien (F40.1), spezifische (isolierte) Phobien (F40.2), phobische Störungen des Kindesalters (F93.1), Störung mit sozialer Überempfindlichkeit des Kindesalters (F93.2) und posttraumatische Belastungsstörung (F43.1).
Weiterführend zur Nosologie siehe: Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (Blanz et al., 2007; Resch et al., 2007) und Übersichtsartikel von Schneider (2004), Blanz et al. (2006) sowie Blanz und Schneider (2008). Ätiologisch verbinden sich konstitutionelle, lebensgeschichtliche und aktuelle Lebensverhältnisse – organische und soziokulturelle – mit sozial-interaktionellen Faktoren. Die
354
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Symptomatologie beinhaltet subjektive psychische (z.B. Angstgefühl), vegetative (z.B. Tachykardie, Schweißausbruch) sowie objektiv beobachtbare Reaktions- und Verhaltensweisen (z.B. Vermeidungs- und Fluchtverhalten). Dies erklärt den grundsätzlich multimodalen Behandlungsansatz, bei dem die Pharmakotherapie gegenüber psychotherapeutischen und milieutherapeutischen Interventionen in der Regel nachrangig ist, im Einzelfall und bei spezifischen Angsterkrankungen jedoch eine ganz wesentliche Rolle spielt. Angststörungen sind außerdem Teil einer Reihe anderer psychiatrischer Erkrankungen wie Gewichtsphobie bei Magersucht, Verschmutzungsängste bei Zwangsstörung, soziale Ängste bei Depression, die paranoiden oder durch Halluzinationen ausgelösten Ängste bei Schizophrenie. Zur Pharmakotherapie dieser krankheitsimmanenten Angststörungen sei auf die jeweiligen störungsspezifischen Kapitel verwiesen. C.3.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
Sowohl in der ambulanten als auch in der teil- und vollstationären Therapie von Angststörungen und Phobien kommen in der Regel störungsspezifische multimodale Behandlungsansätze zum Einsatz. Dazu gehören eine ausführliche Information des Patienten und der Angehörigen über das Störungsbild (Psychoedukation) und allgemeine Maßnahmen zur Stabilisierung autonomer Reaktionen und zirkadianer Rhythmen (z.B. Schlafhygiene, Tagesplan, körperliche Aktivitäten, Entspannungsverfahren). In der Psychotherapie sind kognitiv-verhaltenstherapeutische Verfahren von zentraler Bedeutung. Kontrollierte Studien mit Wirksamkeitsnachweis bei Angststörungen im Kindes- und Jugendalter liegen bisher
nur für die kognitive Verhaltenstherapie vor (Albon und Schneider, 2007), teilweise in Kombination mit Familientherapie. Allerdings fehlt eine differenzierte Aussage zu einzelnen Störungsbildern. An Verfahrenstechniken sind die systematische Desensibilisierung, Imitations- und Modell-Lernen, kognitive Umstrukturierung, Selbstkontrolltechniken sowie Imagination und Vorsatzbildung wichtig. Ergänzend kommen im Bedarfsfall familientherapeutische, psychodynamische und psychopharmakologische Maßnahmen zum Einsatz. Bei sozialen Phobien und generalisierten Angststörungen zielt die Verhaltenstherapie zudem auch auf die Bearbeitung von Defiziten in der sozialen Kompetenz, im Problemlöseverhalten sowie in der Selbst- und Fremdwahrnehmung. Angststörungen neigen zur Chronifizierung, wenn sie nicht behandelt werden. Je früher eine Behandlung begonnen wird, desto günstiger ist der Verlauf. Die Therapie mit Neuro-Psychopharmaka stellt in der Regel als Teilkomponente des Gesamtbehandlungskonzeptes eine vorbereitende und/oder begleitende symptomatische Behandlungsmaßnahme dar, welche besonders bei schwerer Symptomausprägung, zur Krisenintervention und bei chronischen Verlaufsformen indiziert ist (Blanz und Schneider, 2008). C.3.3
Wahl der Pharmakotherapie
Zur Wahl stehen Neuro-Psychopharmaka, die die Zielsymptome „Erregungsstörung“ und Angststörung (s. Kap. B.3) positiv beeinflussen. Hierzu gehören: •
Antidepressiva mit serotoninerger und/ oder antihistaminerger Wirkkomponente. An erster Stelle stehen Präparate aus der Gruppe der SSRIs (z.B. Fluoxetin, Citalopram, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin). Zur Anwendung kommen auch
C.3 Angststörungen und Phobien
•
•
• •
• •
Venlafaxin, ein Serotonin-(5-HT-) und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, und aus der Gruppe der trizyklischen Antidepressiva vorrangig Imipramin oder Clomipramin. Benzodiazepine als klassische Vertreter der Anxiolytika. Beispiele sind Alprazolam, Clonazepam und Lorazepam. Um das Risiko einer Abhängigkeit auf ein Minimum zu reduzieren, sollten Benzodiazepine nur nach sorgfältiger Indikationsprüfung (z.B. wenn eine schnelle Symptomreduktion erforderlich ist) verschrieben und über eine kürzest mögliche Dauer (nicht länger als 6 Wochen) eingenommen werden, z.B. bis ein ausreichend anxiolytischer Effekt des SSRI eingetreten ist. Ob eine Weiterführung der Behandlung mit einem Benzodiazepin notwendig ist, muss regelmäßig überprüft werden. Niedrigpotente (wie Thioridazin, Sulpirid, Fluspirilen) und atypische hochpotente Neuroleptika (wie Risperidon, Aripiprazol, Olanzapin). Hochpotente Neuroleptika werden in niedriger, unter der neuroleptischen Schwelle liegender Dosierung zur Behandlung von Angstund ängstlich-depressiven Zuständen sowie bei Angststörungen im Zusammenhang anderer primärer psychiatrischer Ekrankungen (z.B. Schizophrenie) angewendet. Neuere Studien belegen den therapeutischen Nutzen von atypischen Neuroleptika in therapierefraktären Fällen (s. C.3.4.2). Buspiron. β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker) wie z.B. Atenolol, Oxprenolol und Propranolol. Antihistaminika wie vor allem Promethazin. Bestimmte Antiepileptika wie Pregabalin.
Tabelle C.3.1 gibt einen Überblick zum Indikationsspektrum und der Dosierung dieser
355
Neuro-Psychopharmaka. Hinsichtlich Anwendungsgebiete, indikations- und altersbezogenen Zulassungsstatus, Dosierungsempfehlungen, unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAWs), Arzneimittelwechselwirkungen und Anwendungseinschränkungen wird auf die entsprechenden Kapitel in diesem Buch (B.1–B.4) verwiesen. Ein großer Teil der Präparate wird außerhalb des indikations- und altersbezogenen Zulassungsbereiches („Off-label-Use“, s. Kap. A.2.1.2) angewendet. Hierbei gilt es eine Reihe von Gesichtspunkten zu beachten (s. Kap. A.2.1.4). Antihistiminika werden gemäß den aktuellen Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (Blanz et al., 2007) bei Kindern und Jugendlichen nicht empfohlen. Promethazin ist ab dem zweiten Lebensjahr bei strenger Indikationsstellung (akute Unruhe- und Erregungszustände) zugelassen. Der Schwerpunkt dieses Kapitels orientiert sich an der klinischen Praxis und liegt auf Antidepressiva und Benzodiazepinen. Es liegen nur wenige randomisierte, placebokontrollierte Studien zur Wirksamkeit dieser Neuro-Psychopharmaka bei Angststörungen und Phobien im Kindes- und Jugendalter vor. Auch sind bisher keine standardisierten prospektiven Untersuchungen verfügbar, die pharmakologische mit verhaltenstherapeutischen Behandlungsansätzen vergleichen. Bei insgesamt unzureichender Datenlage sprechen die verfügbaren Studienergebnisse für eine Wirksamkeit von SSRIs bei einer Reihe von Angst- und phobischen Störungen im Kindes- und Jugendalter (Williams und Miller, 2003). Da SSRIs im Vergleich zu Benzodiazepinen und trizyklischen Antidepressiva ein günstigeres Verhältnis zwischen der Wirksamkeit und dem Auftreten UAWs aufweisen, werden sie als Medikation der ersten Wahl in der Pharmakotherapie juveniler Angststörungen einge-
356
Tab. C.3.1. Richtlinien zur Medikation bei Angststörungen und Phobien (modifiziert nach Kutcher, 2002) NeuroPsychopharmakaGruppe bzw. Pharmakon
Anfangsdosis (mg)
Dosissteigerung (mg)
Zieldosis (mg pro Tag)
Indikation
Kommentar
Panikstörungen, generalisierte Angststörungen, soziale Phobie
UAWs: Libidoverlust, Erektionsstörung, Entzugsyndrom s. Kap. B.1
Antidepressiva: SSRIs
10
10 alle 5–7 Tage
20–40, max 60
Escitalopram
5
5 alle 5–7 Tage
5–20, max 20
Fluoxetin
5–10
5–10 alle 5–7 Tage
bis 40, max 60
Fluvoxamin
25
25 alle 5–7 Tage
bis 200
Paroxetin
5–10
5–10 alle 5–7 Tage
bis 50
Sertralin
25
5–10 alle 5–7 Tage
bis 200
Mirtazapin (α−AdrenozeptorAntagonist)
7,5–15
7,5 alle 5–7 Tage
30, max. 45
soziale Phobie
s. Kap. B.1
Reboxetin (selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer)
2
2 alle 5–7 Tage
4–8, max. 12
Panikstörung
s. Kap. B.1
Venlafaxin (SerotoninNoradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer)
37,5
Alle 3 Tage
75–150, max. 375
Generalisierte Angststörung, soziale Phobie
s. Kap. B.1
Panikstörung, generalisierte Angststörung; Medikation 2. Wahl
s. Kap. B.1
Andere Antidepressiva
Trizyklische Antidepressiva Imipramin
10–25
5 alle 5–7 Tage
25–200
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Citalopram
NeuroPsychopharmakaGruppe bzw. Pharmakon Clomipramin
Anfangsdosis (mg)
Dosissteigerung (mg)
Zieldosis (mg pro Tag)
10–25
5 alle 5–7 Tage
max. 50
Benzodiazepine
Alprazolam
0,125–0,25
Alle 3–4 Tage
2-max. 4
Diazepam
2–4
Täglich
5-max. 10
Lorazepam
0,5–1
Täglich
3–4, max 6
2,5–5
Wöchentlich
15
Buspiron
β-AdrenozeptorAntagonisten (β-Blocker) Atenolol
12,5–25
Alle 7 Tage
Propanolol
10
10 alle 2–5 Tage
60–100
150
Alle 7 Tage
300, max. 600
Pregabalin
Indikation
Kommentar
Panikstörungen Schulangst/-phobie
Kurzzeitanwendung empfohlen! Langsame Absetzung, um Entzugssymptome zu vermeiden s. Kap. B.3 Cave: Atemdepression
Generalisierte Angststörung
Einschleichende Dosierung über 4–6 Wochen S. Kap. B.3
Posttraumatische Belastungsstörung, Prüfungsangst
Kurzzeitige Gabe, Reboundphänomene, Wirklatenz S. Kap. B.3
C.3 Angststörungen und Phobien
Tab. C.3.1. (Fortsetzung)
100 Generalisierte Angststörung
SSRIs, selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer
357
358
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
stuft (Murphy et al., 2000; Nash und Hack, 2002). C.3.3.1 Panikstörungen/Agoraphobie sowie Schulangst und -phobie (Schulverweigerung/ Trennungsangst)
Bei der Panikstörung werden vorrangig SSRIs (z.B. Fluoxetin, Citalopram, Escitalopram, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin) angewendet. In der Behandlung bei Erwachsenen mit Panikstörungen haben sie sich in einer Vielzahl kontrollierter klinischer Studien als wirksam und gut verträglich erwiesen (Ballenger et al., 1998; Pohl et al., 1998; Sheehan, 2002; Pollack et al., 2003; Lader, 2005). In offenen (Dannon et al., 2002) und placebokontrollierten (Versiani et al., 2002; Seedat et al., 2003) Studien konnte auch eine gute Wirksamkeit und Verträglichkeit des selektiven Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmers Reboxetin (6–8 mg/Tag) nachgewiesen werden. Für die trizyklischen Antidepressiva Imipramin (Boyer, 1995; Mavissakalian und Perel, 1995) und Clomipramin (Modigh et al., 1992) wurden in offenen klinischen Studien, in Einzelfällen auch eine Wirksamkeit berichtet. Meta-Analysen (Boyer, 1995) und Ergebnisse einer placebokontrollierten Studie (Lydiard et al., 1992) weisen darauf hin, dass bei akuten Panikattacken (Achtung: zu unterscheiden von der Panikstörung!) von den Benzodiazepinen neben dem Clonazepam vor allem das Alprazolam gut wirksam sind. Auch bei der Therapie der Trennungsangststörung gelten SSRIs als Arzneimittel der ersten Wahl. Erst wenn die Erprobung verschiedener SSRIs nicht zu einer Symptomverbesserung geführt hat, ist ein Therapieversuch mit einem trizyklischen Antidepressivum unter sorgfältiger Überwachung der kardialen Funktion indiziert (Birmaher et al., 1994; Masi et al., 2001). Gleiches gilt
für die Schulangst, wenn die immer primär indizierten, psychoedukatorischen, psychotherapeutischen und milieutherapeutischen Maßnahmen (z.B bei schulischer Überforderung ein Schulwechsel), nicht hinreichen, um eine schulische Wiedereingliederung zu ermöglichen. C.3.3.2 Soziale Phobien
In der Behandlung sozialphobischer Störungen werden SSRIs wie z.B. Paroxetin, Sertralin, Escitalopram, Fluoxetin und Fluvoxamin auf der Basis randomisierter, kontrollierter Studien als Mittel der ersten Wahl eingestuft (Beidel et al., 2001; Muller et al., 2005; Davidson, 2006; Segool und Carlson, 2007). Paroxetin (in einer Dosierung von 10 bis 50 mg täglich) zeigte sich in einer randomisierten kontrollierten Untersuchung bei der Behandlung der sozialen Phobie im Kindesund Jugendalter der Placebo-Gabe bei guter klinischer Verträglichkeit überlegen (Wagner et al., 2004). Fluoxetin führte in einer offenen Studie bei Kindern und Jugendlichen mit Trennungsangst oder sozialer Phobie zu einer Besserung der Angstsymptomatik (Birmaher et al., 1994). Die Verabreichung von Fluvoxamin in einer Dosierung bis zu 300 mg erbrachte ebenfalls eine signifikante Verbesserung der Angstsymptomatik im Vergleich zu Placebo im Rahmen einer kontrollierten Studie bei Kindern und Jugendlichen mit sozialer Phobie, Trennungsangst und generalisierter Angststörung (Cheer und Figgitt, 2001). Kontrollierte und offene Studien an Erwachsenen (Van Veen et al., 2002; Muehlbacher et al., 2005) zeigten eine signifikante Reduktion der Angstsymptome durch Mirtazapin bei sozialer Phobie. In einer offenen Studie zu Mirtazapin bei Kindern und Jugendlichen wurde in über der Hälfte der Fälle eine gute Therapieantwort gefunden, jedoch wurde über signifikante Gewichtszunahmen
C.3 Angststörungen und Phobien
berichtet; soziophobische Symptome verbesserten sich im Beobachtungszeitraum signifikant, ebenso komorbide depressive und andere Angstsymptome (Mrakotsky et al., 2008). Retardiertes Venlaflaxin zeigte sich in einer placebokontrollierten Studie bei Störungen mit sozialer Ängstlichkeit im Erwachsenenalter wirksam (Liebowitz et al., 2005). Für Patienten mit sozialer Phobie, die auf eine Therapie mit SSRIs nicht ansprechen oder darunter UAWs entwickeln, wird der MAO-A-Hemmer Moclobemid als Behandlungsalternative (Mittel der zweiten Wahl) gesehen (u.a. Muller et al., 2005). Jedoch liegen bisher keine Studien an Kindern und Jugendlichen vor. Für Erwachsene gibt es nur wenige placebokontrolliert durchgeführte Studien, deren Ergebnisse sehr widersprüchlich sind (Stein et al., 2002; Bonnet, 2003). Um die Gefahr eines Serotonin-Syndroms (s. Kap. B.1) zu minimieren, sollte Moclobemid grundsätzlich nicht mit anderen serotoninergen Wirkstoffen (SSRIs, Johanniskraut) kombiniert werden. Im Falle einer ausgeprägten vegetativen Begleitsymptomatik der sozialen Phobie (Nervosität, Zittern, Muskelspannung, Schwitzen, Herzklopfen, Schluckbeschwerden, Schwindelgefühle) oder bei „Bühnenangst“ empfiehlt sich der zusätzliche Einsatz von β-Blockern wie z.B. Atenolol, Oxprenolol oder Propranolol (s. Kap. B.3). Bei der akuten Bewältigung von angstbesetzten sozialen Situationen kann die bedarfsweise, kurzfristige Gabe von Benzodiazepinen wie z.B. Alprazolam, Lorazepam oder Clonazepam hilfreich sein. Eine signifikante Symptomreduktion sozialer ebenso wie anderer Phobien kann nur in Kombination mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen erreicht werden!
359
C.3.3.3 Generalisierte Angststörungen
In ihrer Übersichtsarbeit werteten Dieleman und Ferdinand (2008) neun randomisierte Doppelblind-Studien zur Pharmakotherapie der generalisierten Angststörung, Trennungsangststörung und sozialen Phobie mit Antidepressiva und Benzodiazepinen aus. Ihr Fazit war, dass trizyklische Antidepressiva und Benzodiazepine nicht wirksamer waren als Placebo. SSRIs hingegen zeigten eine Überlegenheit gegenüber Placebo, so dass diese als Mittel der ersten Wahl in der Behandlung der generalisierten Angststörung und der Störung mit Trennungsangst gelten. So war z.B. Sertralin in einer placebokontrollierten Doppelblindstudie zur Behandlung der generalisierten Angststörung im Kindes- und Jugendalter der Placebo-Gabe überlegen (Rynn et al., 2007). In einer weiteren placebokontrollierten Doppelblindstudie konnte die Wirksamkeit von Fluoxetin bei der Behandlung von generalisierten Angststörungen im Kindes- und Jugendalter nachgewiesen werden (Birmaher et al., 2003). Zwei placebokontrollierte Doppelblindstudien haben außerdem eine wirksame und sichere Behandlung der generalisierten Angststörung im Kindes- und Jugendalter mit einer retardierten Darreichungsform von Venlaflaxin (ein selektiver 5-HT- und Noradenalin-Wiederaufnahme-Hemmer) nachweisen können (Rynn et al., 2007). Da es unter Venlaflaxin vereinzelt zu Suizidgedanken und suizidalen Handlungen kommen kann (bislang keine nachgewiesenen Suizide), sind Aufklärung, Kontrolle und Dokumentation diesbezüglich notwendig (s. Verordnungshinweise in Kap. B.1.2.4.2). Für die Therapie akuter Angstzustände ist der zeitlich begrenzte Einsatz von Benzodiazepinen wie z.B. Diazepam, Alprazolam, Clonazepam oder Lorazepam zu bevorzugen, da ein breites Spektrum verschiedener
360
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Angstsymptome positiv beeinflusst werden kann (Simeon und Ferguson, 1987; Simeon et al.,1992a). Bei Patienten, bei denen Bezodiazepine z.B. wegen Drogen- oder Alkoholabusus in der Anamnese oder wegen Gefahr einer Atemdepression kontraindiziert sind, stellt das in offenen kinder- und jugendpsychiatrischen Studien anxiolytisch wirksame, weniger sedierende Buspiron eine medikamentöse Alternative für die Therapie generalisierter Angstzustände dar (Kranzler, 1988; Simeon et al., 1992b). Aufgrund der Wirklatenz von 1–2 Wochen ist Buspiron nicht als Notfallmedikament oder zur Verabreichung bei Bedarf geeignet. Eine wichtige Behandlungsalternative in der Therapie der generalisierten Angststörung stellt das Antiepileptikum Pregabalin (s. Kap. B.1 und B.3) dar, das im Erwachsenenalter für diese Indikation zugelassen ist. Pregabalin reduzierte die Angstsymptomatik in vier randomisierten, placebokontrollierten Studien rasch und nachhaltig. Es erwies sich im Vergleich mit Venlaflaxin als nebenwirkungsärmer und besser verträglich mit positivem Einfluss sowohl auf die körperlichen als auch emotionalen Symptome (Montgomery et al., 2006). Für Kinder und Jugendliche liegen bisher jedoch keine klinischen Studien vor. In einer Wirksamkeitsanalyse der Pharmakotherapie der generalisierten Angststörung wurden anhand der Ergebnisse von 21 randomisierten, placebokontrollierten Studien bei Kindern und Jugendlichen wesentlich größere Effektstärken der SSRIs und Benzodiazepine im Vergleich zu Erwachsenen ermittelt (Hidalgo et al., 2007). C.3.3.4 Posttraumatische Belastungsstörung
Bei der posttraumatischen Belastungsstörung sollte sich die Auswahl der Medikation
primär nach den klinisch im Vordergrund stehenden Symptommustern wie „Panik“ oder „Depression“ richten. Neben dem Einsatz verschiedener SSRIs (z.B. Sertralin, in den USA für Kinder und Jugendliche mit posttraumatischen Belastungsstörung zugelassen) kommen alternativ für eine symptomatische Behandlung von Übererregung Clonidin (Harmon und Riggs, 1996) oder Propranolol (Famularo et al., 1988) – vor allem bei Tachykardie und Intrusionen (unwillkürliches Wiedererleben von traumatisierenden Erlebnissen), ca. 7 Tage lang dann ausschleichend – in Frage. Bei Intrusionen, Irritabilität oder Schlafstörungen können auch Stimmungsstabilisatoren (s. Kap. B.6) Anwendung finden. Die Behandlung mit Anxiolytika sollte über eine genügend lange Zeitdauer – bei chronischer posttraumatischer Belastungsstörung mindestens 12–24 Monate – erfolgen. C.3.3.5 Einfache Phobien
Bei den isolierten Phobien ist die Wirksamkeit von Neuro-Psychopharmaka umstritten. Im Rahmen der primär indizierten verhaltenstherapeutischen Maßnahmen erscheint im Einzelfall die befristete und gezielte Gabe von Benzodiazepinen das Annäherungsverhalten an das phobisch besetzte Objekt positiv zu unterstützen. Im Übrigen beschränkt sich der Einsatz von Medikamenten auf die Behandlung komorbider Panikattacken oder anderer Angststörungen. C.3.4
Behandlungsstrategien
C.3.4.1 Allgemeine therapeutische Maßnahmen
Bei der Behandlung von Angsterkrankungen im Kindes- und Jugendalter ist eine multimodale Therapiestrategie indiziert. Neben den vorrangig symptomorientierten spezifischen
C.3 Angststörungen und Phobien
kognitiv-verhaltenstherapeutischen Interventionen runden psychoedukative Elemente und allgemein stabilisierende adjuvante sowie familien- und soziotherapeutische Maßnahmen das Therapieprogramm ab (s. C.3.2). Die Indikationen der lediglich symptomatisch und nicht kausal wirksamen medikamentösen (Begleit-)Therapie sind: • • •
•
schwere und/oder chronische Krankheitsverläufe, ausgeprägte Symptomatik im Rahmen der kriseninterventorischen Akutbehandlung, deutliche Beeinträchtigung in der Alltagsbewältigung verbunden mit der Gefahr einer nachhaltigen Störung der psychosozialen Entwicklung (z.B. Schulbesuch nicht möglich), keine befriedigende Symptombesserung der oben aufgeführten nicht pharmakologischen Behandlungsstrategien innerhalb von vier bis sechs Wochen.
Der Aufklärung über Wirkungen und UAWs der medikamentösen Therapie kommt dabei eine besonders wichtige Bedeutung zu, um die für einen Therapieerfolg essenzielle Notwendigkeit psychotherapeutischer Behandlungsmaßnahmen zu verdeutlichen und der Gefahr unrealistischer „Heilserwartungen“ hinsichtlich einer alleinigen pharmakologischen Behandlung entgegenzuwirken. Nach den Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter sollte generell die Gabe von Neuro-Psychopharmaka bei Angststörungen und phobischen Störungen im Kindes- und Jugendalter eher die Ausnahme darstellen und nur vorübergehend und als Unterstützung für andere Maßnahmen eingesetzt werden. Eine alleinige Behandlung mit Psychopharmaka ist abzulehnen (Blanz et al., 2007; Resch et al., 2007).
361
C.3.4.2 Auswahl der Medikation und Dosierung
Die Auswahl der Medikation sollte sich nach Art und Dauer der vorliegenden Angsterkrankung sowie eventuell bestehender komorbider Störungen und dem Alter des Patienten richten. Zur Dosierung der Präparate, die bei Angststörungen zum Einsatz kommen, wird ein „einschleichendes“ Vorgehen (s. Kap. B.3) empfohlen. Nach vier bis sechs Monaten ist, in Abhängigkeit vom Symptomverlauf, ein Absetzungsversuch anzustreben, bei dem die Medikation in kleinen Schritten zu reduzieren ist. Eine Pharmakotherapie mit Benzodiazepinen ist wegen der Gefahr einer Abhängigkeitsentwicklung spätestens nach vier bis sechs Wochen abzusetzen. Als Richtlinie empfiehlt sich eine wöchentliche Dosisreduktion um je 25 Prozent der Ausgangsdosis. Bei der Pharmakotherapie generalisierter Angststörungen können im Falle einer akuten und ausgeprägten Symptomatik unter Beachtung der einschlägigen Verordnungskriterien (Aufklärung über UAWs und Abhängigkeitsrisiko, möglichst Kurzzeitanwendung, ausschleichende Absetzung der Medikation nach regelmäßiger Gabe über mehr als eine Woche, Cave: Entzugssyndrom!) anfangs ebenfalls Benzodiazepine zur Anwendung gelangen. Wenn eine längere Latenz bis zum Wirkungseintritt in Kauf genommen werden kann, sind primär die Antidepressiva (SSRIs) und alternativ Buspiron indiziert. Bei längerer medikamentöser Behandlungsnotwendigkeit, über einen Zeitraum von vier bis sechs Wochen hinaus, sollte nach initialer Behandlung mit Benzodiazepinen eine Umstellung – möglichst nach einer „Wash-out-Periode“ – auf Antidepressiva oder auf Buspiron erfolgen. In der Therapie akuter Panikstörungen mit ausgeprägter Symptomatik werden in der Regel Benzodiazepine eingesetzt. Im Falle einer hohen Frequenz der Panikattacken
362
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
kann die Benzodiazepin-Gabe vorübergehend längerfristig (4–6 Wochen) erfolgen, wobei sich die Verteilung der Tagesdosis auf zwei bis drei Einzelgaben empfiehlt. Überlappend sollte dann die Pharmakotherapie mit einem SSRI oder einem Antidepressivum aus der Gruppe der trizyklischen Antidepressiva mit vorwiegender serotoninerger Wirkkomponente (z.B. Imipramin oder Clomipramin) eingeleitet werden. Nach Erreichen einer ausreichend hohen Dosis kann dann das Benzodiazepin schrittweise reduziert und abgesetzt werden. Wegen hoher Rezidivgefahr ist eine mehrmonatige und gegebenenfalls längerfristige Erhaltungsphase der anxiolytischen Medikation angezeigt. Danach sollte die Medikation langsam und schrittweise abgesetzt werden. Bei vegetativer Übererregbarkeit können β-Blocker zum Einsatz kommen. Bei den phobischen Störungen erscheint nur in schwereren Ausprägungsformen der Versuch einer psychopharmakologischen Behandlung gerechtfertigt. Die Auswahl der Medikation sollte hier besonders den jeweiligen Ursachen beziehungsweise Auslösern der Phobie Rechnung tragen. Bei depressiven oder zwangsneurotischen Kindern und Jugendlichen mit phobischen Erkrankungen ist die Gabe von Clomipramin zu erwägen. Bei Phobien mit überwiegenden Angstanteilen sollte eher der Therapie mit β-Blockern oder mit Antidepressiva (SSRIs) der Vorzug gegeben werden. In therapierefraktären Fällen, das heißt, wenn suffiziente psychotherapeutische Maßnahmen sowie die initial verordnete Pharmakotherapie keinen ausreichenden Wirkeffekt auf die Angstsymptomatik erbrachten, kann eine zusätzliche augmentative Behandlung mit einem atypischen Neuroleptikum erwogen werden. In offenen und kontrollierten Studien an Erwachsenen hat sich die adjuvante Gabe von Risperidon in niedriger Dosierung bei Patienten mit generalisierter Angststörung und Panikstörung (Brawman-Mintzer et al.,
2005; Simon et al., 2006) als wirksam erwiesen. Auch hat sich eine Zusatzmedikation mit Olanzapin bei therapierefraktärer Panikstörung (Sepede et al., 2006) und mit Aripiprazol bei Panik und generalisierter Angststörung (Hoge et al., 2008) als hilfreich erwiesen. Keines der atypischen Neuroleptika hat für die genannten Indikationen eine Zulassung im Kindes- und Jugendalter (s. B.4.2.1). C.3.5
Literaturverzeichnis
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364
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
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C.4 Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störungen S. Walitza, M. Romanos, A. Warnke
C.4.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
Die Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störung (ADHS) ist gekennzeichnet durch ausgeprägte motorische Unruhe (Hyperaktivität), leistungsbeeinträchtigende Konzentrationsstörungen (Unaufmerksamkeit, erhöhte Ablenkbarkeit) sowie massive Schwierigkeiten, das eigene Verhalten zu planen und zu steuern (Impulskontrollstörung). Die Störung tritt situationsübergreifend in mindestens zwei Lebensbereichen (in Familie, in der Schule, am Spielplatz) auf und beginnt definitionsgemäß vor dem Alter von sechs Jahren. Die Symptomatik sollte über mehr als sechs Monate bestehen. Kinder mit ADHS sind in ihrer psychischen Entwicklung, schulischen und beruflichen Bildung sowie sozialen Integration gefährdet. ADHS wird entsprechend internationaler Klassifikationskriterien in verschiedene Subtypen unterteilt (Tab. C.4.1). Legt man die Kriterien nach DSM-IV zugrunde, ist die Diagnose häufiger als nach ICD-10 zu stellen. Ziel der Pharmakotherapie sind die Kernsymptome der ADHS, assoziierte Symptome (z.B. Aggressivität) und komorbide Störungen (z.B. Angst-, Tic-, Entwicklungsstörungen; Tab. C.4.2). Bei bis zu 70–80 Prozent der Patienten mit ADHS (im Kindes- und Jugendalter und im Erwachsenenalter) liegen komorbide psychische Störungen vor. Am häufigsten (> 50 Prozent) sind “externalisierende“ Störungen des Sozialverhal-
Tab. C.4.1. Klassifikation von AufmerksamkeitsDefizit-Hyperaktivitäts-Störungen Das Klassifikationssystem der Weltgesundheitsorganisation (WHO, ICD-10) unterscheidet zwei Subtypen: • einfache Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung (F90) und • hyperkinetische Störung des Sozialverhaltens F90.1. Nach DSM-IV lassen sich AufmerksamkeitsDefizit-Hyperaktivitäts-Störungen wie folgt unterteilen: • vorherrschend unaufmerksamer Subtypus, • vorherrschend hyperaktiv-impulsiver Subtypus, • gemischter Subtypus. Ergänzung „in partieller Remission“ bei Jugendlichen und Erwachsenen, die nicht mehr alle notwendigen Symptome zeigen. Tab. C.4.2. Zielsymptome für die Pharmakotherapie der Aufmerksamkeits-Defizit-/HyperaktivitätsStörungen • Kernsymptome − Hyperaktivität − Unaufmerksamkeit − Impulskontrollstörung • Assoziierte Symptome oder komorbide Störungen − Hyperkinetische Störungen mit Störungen des Sozialverhaltens (> 50%) − Angststörungen und Depression (> 30%) − Tic-Störungen (bis zu 30%) − umschriebene Entwicklungsstörungen (10–40%)
366
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
tens (Angold et al., 1999). Bei 13–50 Prozent der Patienten mit ADHS im Kindes- und Jugendalter sind komorbid eher internalisierende Erkrankungen gegeben (z.B. Angststörungen, depressive Störungen; Jensen et al., 1997; Angold et al., 1999; MTA Cooperation Group, 1999a; Schwenck et al., 2007; Romanos et al., 2008). Auch die Kombination von externalisierenden und internalisierenden komorbiden Störungen sollte in der Behandlung berücksichtigt werden. C.4.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
C.4.2.1 Diagnostische Voraussetzungen
•
− Elterntraining, − Intervention in der Familie (Milieutherapie); kindbezogene Maßnahmen wie − Aufklärung und Beratung (Psychoedukation), − Psychotherapie (wesentlich Verhaltenstherapie) und − Pharmakotherapie.
Zusammenfassend sind zur Beurteilung der Behandlungsbedürftigkeit und des indizierten Behandlungsprogramms die psychosoziale Einschränkung und das Ergebnis der Verhaltensanalyse ausschlaggebend (s. auch Kap. A.2.1; http://www.dgkjp.de/de stellungnahmen_12.html; Döpfner et al., 2007; Jans et al., 2008).
Die Diagnostik erfolgt multiaxial (s. Kap. A.2.1). Bezüglich der Ätiologie geht man davon aus, dass die ADHS aus unterschiedlich begründeten, auch reifungsbedingten Besonderheiten zentralnervöser Informationsverarbeitung, die die Verhaltenssteuerung betreffen, erklärt werden kann. Diese Verhaltensmerkmale können aber auch Symptome organischer oder anderer psychischer Störungen sein. Daher müssen allein aus differentialdiagnostischen Gründen in der Diagnostik körperliche, neurologische, psychodiagnostische und laborchemische Untersuchungen sowie Verhaltensbeobachtungen und Verhaltenseinschätzungen (diese möglichst mit standardisierten Verfahren) eingesetzt werden (weiterführend: Leitlinien der deutschen Fachgesellschaften; Döpfner et al., 2007; Bundesärztekammer, 2007; Banaschewski et al., 2008a, b).
Nach Stellungnahme der Fachverbände für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie zur Behandlung hyperkinetischer Störungen im Kindesalter mit Methylphenidat und den Leitlinien für hyperkinetische Störungen (http://www.dgkjp. de/de stellungnahmen_12.html; Döpfner et al., 2007) ergibt sich die Indikation für eine pharmakologische Behandlung aus der Diagnose und der Gesamtsituation des Kindes und seiner Lebensumstände. Sie ist insbesondere gegeben, wenn das Scheitern der schulischen und der sozialen Integration droht.
C.4.2.2 Therapeutische Voraussetzungen
C.4.3
Der grundsätzlich multimodale Behandlungsansatz umfasst
ADHS stellt die Hauptindikation für eine Therapie mit Psychostimulanzien dar, wobei die besten therapeutischen Ergebnisse bei der einfachen Aktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörung nach ICD-10 (F90.0) zu beobachten sind. Auch war bei Kindern, die neben einer ADHS eine Störung des Sozialverhal-
•
umfeldbezogene Maßnahmen wie − Aufklärung und Beratung (Psychoedukation) von Eltern und Bezugspersonen (Kindergarten, Schule),
C.4.2.3 Indikation für eine Pharmakotherapie
Wahl der Pharmakotherapie
C.4 Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störungen
tens (F90.1) aufwiesen, die Behandlung mit Psychostimulanzien am wirksamsten – unabhängig davon, ob sie mit einer Verhaltenstherapie kombiniert war oder nicht (Swanson et al., 2001). In der MTA-Studie waren nach 14 und nach 24 Monaten die Effekte der medikamentösen Therapie (Methylphenidat und eingehende Beratung) und die der multimodalen Therapie (Methylphenidat und eingehende Verhaltenstherapie) signifikant besser als die der alleinigen Verhaltenstherapie oder der „gewöhnlichen“ Therapie der Kontrollgruppe. Bei der multimodalen Therapie, die nicht signifikant besser war als die alleinige medikamentöse Therapie, war jedoch eine geringere Dosis von Methylphenidat notwendig (MTA Cooperation Group, 1999a,b; 2004). Nähere Angaben zu den im Folgenden aufgeführten Arzneistoffen (wie Indikationsbereiche, Dosierungsempfehlungen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Arzneimittelinteraktionen, Anwendungseinschränkungen und besondere Vorsichtsmaßnahmen) finden sich in den jeweiligen Spezialkapiteln (B.1, B.3–B.5). C.4.3.1 Medikation der ersten Wahl: Methylphenidat und Amphetamin, in besonderen Fällen auch Atomoxetin
Die Psychostimulanzien Methylphenidat und Amphetamin sind das wirksamste Mittel zur Reduzierung der Kernsymptome. Bis zu 90 Prozent der mit Methylphenidat oder Amphetamin behandelten Kinder profitieren von der Therapie (Elia et al., 1991; Cantwell, 1996; MTA Cooperation Group, 1999a,b). Methylphenidat ist der best untersuchte Arzneistoff, der in der Kinder- und Jugendpsychiatrie Anwendung findet. Die Studienlage umfasst allein mit Beginn 2000 über 40 Übersichtsartikel und Meta-Analysen;
367
an über 5000 Patienten mit ADHS wurden Wirksamkeitsstudien durchgeführt. Methylphenidat wirkt rasch und ist gut zu steuern (s. Kap. B.5). Die Rezeptierung für Methylphenidat und Amphetamin unterliegt der Betäubungsmittel-(BTM-)Verschreibungsverordnung. Methylphenidat ist ab dem Alter von sechs Jahren zugelassen. Amphetamin darf in Deutschland nur als Racemat (R- und S-Amphetamin) verordnet werden und muss von den Apotheken individuell als Kapsel oder Saft hergestellt werden (s. Kap. B.5). Auch zu Amphetamin ist die Studienlage gut. In den USA ist R-Amphetamin ab dem vierten Lebensjahr zugelassen, in Deutschland liegt keine entsprechende altersbestimmte Zulassung vor. In den USA wird ein Amphetamin-Präparat unter dem Handelsnamen Adderall®, bestehend aus vier Amphetamin-Salzen eingesetzt, welches sich hoch effizient bezüglich der Kernsymptome bei ADHS zeigte und im günstigen Wirkungs-Nebenwirkungs-Profil Methylphenidat vergleichbar war (Pelman et al., 1999; Ahmann et al., 2001). Weiterhin ist in den U.S.A. das Präparat Vyvanse® auf dem Markt. Durch verlangsamten Wirkungseintritt soll das Missbrauchrisiko vermindert sein. Amphetamin kommt als Mittel der ersten Wahl dann zum Einsatz, wenn sich Methylphenidat als nicht ausreichend wirksam erwiesen hat. In Tab. C.4.1 sind Dosierungsempfehlungen für das Kindes- und Jugendalter zusammengefasst. Gaben von mehr als 60 mg/Tag (bzw. eine Dosierung > 1 mg/kg Körpergewicht/Tag) Methylphenidat und mehr als 40 mg Amphetamin/Tag (bzw. > 0,5 mg/kg Körpergewicht/Tag) sind in der Regel nicht zu empfehlen; Eine Verstärkung der Wirksamkeit ist nicht eindeutig belegt, vielmehr werden erhebliche körperliche und psychische unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs) häufiger (In Einzelfällen können auch höhere Dosierungen hilfreich
368
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Tab. C.4.3. Dosierungsempfehlungen für Psychostimulanzien bei Schulkindern und Jugendlichen mit Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störungen Internationaler Freiname bzw. Handelname
Dosierung (mg/ kg Körpergewicht)
Dosierung pro Tag (mg)
Anzahl der Einzelgaben
Amphetamin
0,1–0,5
5–20, max. 40
1–2 (3)
Atomoxetin
0,5–1,2
18–60, max. 100 bei mehr als 70 kg
1–2
Methylphenidat (konventionelle Formulierung)
0,3–1,0
5–40, max. 60
1–3
MethylphenidatRetardpräparate
Alle Präparate: 0,3–1,0
Concerta®
18–54 mg
1
Equasym retard®
10–40, max. 60
1
Medikinet Retard®
10–40, max. 60
1
10–40, max. 60
1
Ritalin LA
®
sein). Die in Kap. B.5 beschriebenen absoluten und relativen Kontraindikationen sind zu beachten. Der Gebrauch von Retardformen von Methylphenidat wie Concerta®, Equasym retard®, Medikinet retard® und Ritalin-LA® hat in den letzten Jahren sehr an Bedeutung gewonnen. Durch Retardformen kann eine dauerhafte Wirkung über den Tag gewährleistet werden, was insgesamt für die Compliance förderlich sein kann (zur Indikation der Verwendung bzw. Umstellung von kurzauf langwirksame Präparate s. Abschnitt C.4.4.7). Die jeweiligen Präparate haben verschiedene Besonderheiten in der Bioverfügbarkeit, Wirkdauer oder praktischen Anwendbarkeit (s. Kap. B.5), so dass bei jedem Patienten entsprechend den Erfordernissen eine individuelle Wahl getroffen werden muss (Banaschewski et al., 2008 a,b,c). Beim Einsatz von Methylphenidat in retardierten Darreichungsformen sind oftmals auch etwas höhere Dosen nötig als oben angegeben. Eine Behandlung in höherer Dosierung kann im individuellen Heilversuch unter engmaschigen Kontrolluntersuchungen (Puls, Blut-
druck und andere UAWs) erfolgen (s. auch Kap. B.5). Atomoxetin ist in der Regel nicht die Medikation der ersten Wahl, jedoch kann es nach den europäischen Behandlungsrichtlinien (Banaschewski et al., 2008b) und den Leitlinien zur Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (Döpfner et al., 2007) bei Gefahr von Substanzmissbrauch durch den Patienten oder auch im Umfeld des Patienten, Compliance-Problemen bei Methylphenidat oder wenn eine Wirksamkeit über 24 Stunden notwendig ist, als Medikation der ersten Wahl angewendet werden. Möglicherweise ist es auch Medikament erster Wahl, wenn komorbide Angst- oder TicStörungen vorliegen. Im Vergleich zu Methylphenidat und Amphetamin ist bei Atomoxetin mit einem verzögerten Wirkungseintritt zu rechnen (s. Kap. B.5). Der volle therapeutische Effekt kann nach 3–7 Wochen erwartet werden. Atomoxetin unterliegt nicht der BTM-Verschreibungsverordnung. Eine Zulassung existiert in Deutschland für Kinder ab 6 Jah-
C.4 Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störungen
ren und für Erwachsene, wenn diese noch vor dem 18. Lebensjahr auf das Medikament eingestellt worden sind. Die Wirkung auf die Kernsymptome der ADHS ist gut, wenn in der Regel auch etwas geringer als bei Methylphenidat (s. Kap. B.5). Es gibt eine Gruppe von langsam metabolisierenden Patienten, bei diesen scheint die Rate an UAWs vergleichsweise erhöht zu sein (s. Kap. B.5). Insbesondere ist aufgrund des spezifischen enzymatischen Abbaus auf pharmakinetische Interaktionen bei Kombination mit anderen Medikamenten zu achten. Atomoxetin wird bevorzugt in einer Einmalgabe morgens verabreicht, kann aber bei Bedarf auch abends oder auf zwei Gaben verteilt werden. Die empfohlene Dosierung ist 0,5 mg/kg Körpergewicht/Tag in der ersten Woche, ab der zweiten Woche 1,2 mg/kg Körpergewicht/Tag. C.4.3.2 Medikation der dritten Wahl
Wenn mit den Arzneimitteln der ersten Wahl (Methylphenidat, Amphetamin) und der zweiten Wahl (Atomoxetin) keine hinreichende Wirkung erzielt werden konnte oder gravierende UAWs auftraten, sollte ein Arzneimittel der 3. Wahl in Betracht gezogen werden. C.4.3.2.1 Psychostimulanzien vom NichtAmphetamin-Typ
Pemolin ist seit einiger Zeit in Deutschland nicht mehr in der Behandlung von ADHS zugelassen. Vor allem aufgrund der schlechteren Steuerbarkeit und insbesondere des Risikos eines Leberversagens (Nehra et al., 1990; Berkovitch et al., 1995) konnte Pemolin nur unter besonderen Auflagen und nur von Kinder- und Jugendpsychiatern eingesetzt werden. Bei Patienten, die aufgrund einer früheren Einstellung noch mit Pemolin behandelt werden und davon profitieren, ist
369
vor allem auf die beschriebenen UAWs und auf etwaige Wechselwirkungen mit anderen Medikamenten zu achten. Modafinil ist in Deutschland bislang nur zur Therapie der Narkolepsie bei Erwachsenen zugelassen. Eine Verbesserung der Kernsymptome von ADHS und eine gute Verträglichkeit konnten in doppelblind, placebokontrollierten Studien gezeigt werden (Taylor und Russo, 2000; Rugino und Copley, 2001; Amiri et al., 2008; Biederman und Pliszka, 2008, s. auch Kap. B.5.2.2.4.). C.4.3.2.2 Antidepressiva
Aus dieser Klasse von Neuro-Psychopharmaka wurden vor allem trizyklische Antidepressiva in der Therapie von ADHS erprobt. Allerdings gibt es nur wenige kontrollierte klinische Studien, die meisten stammen aus den 80- bis 90er-Jahren: Rapoport et al. (1974) sahen im Vergleich mit Methylphenidat, Gualtieri und Evans (1988) in einer Doppelblind-Studie im Vergleich zu Placebo, dass Imipramin die Kernsymptome von ADHS vermindern kann; die untersuchten Stichproben waren jedoch sehr klein. Für Desipramin (durchschnittliche Tagesdosis 4,6 mg/kg Körpergewicht) wurden bei Patienten mit ADHS, die nicht ausreichend auf Psychostimulanzien reagierten, signifikant positive Effekte in Doppelblind-Studien im Vergleich zu Placebo gefunden (Biederman et al., 1986, 1989a). Bei einer Dosis über 3,5 mg/kg Körpergewicht/Tag ist jedoch ein engmaschiges kardiologisches Monitoring mit regelmäßigen EKG-Ableitungen notwendig (Biederman et al., 1989b). Die Therapie mit trizyklischen Antidepressiva (z.B. Imipramin, Nortriptylin) bietet sich z.B. an, wenn komorbid depressive Störungen, Angststörungen oder eine Enuresis vorliegen.
370
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Vor einem Therapiebeginn mit Antidepressiva sollten Blutdruck und Pulsfrequenz überprüft werden sowie EKG-Kontrollen (QT-Intervall) erfolgen (s. o. und auch Kap. B.1). Zusammenfassend wird aufgrund der kardialen UAWs eine große Zurückhaltung beim Einsatz trizyklischer Antidepressiva bei ADHS geübt. In sehr seltenen Fällen kam es unter Desipramin (nicht unter Imipramin) auch zu Todesfällen, weswegen eine sorgfältige Überwachung insbesondere der kardialen Situation zu fordern ist. Prinzipiell sind Ko-Therapien von Psychostimulanzien und Antidepressiva möglich. Jedoch wird für diese eine stationäre Behandlung empfohlen. Die gegenseitige Beeinflussung des Metabolismus ist zu beachten. Vor allem muss auf eine Potenzierung von UAWs durch Psychostimulanzien und Antidepressiva im kardiovaskulären Bereich geachtet werden. Die Bestimmung von Blutspiegeln kann hilfreich sein und wird empfohlen, wenn Hinweise auf UAWs, Toxizität und/oder mangelnde Medikamenten-Compliance vorliegen (Döpfner et al., 2007; Gerlach et al., 2006). Andere nicht-trizyklische Antidepressiva wie Bupropion (Barrickman et al., 1995; Conners et al., 1996; Popper, 1997) können als Mittel der dritten Wahl eingesetzt werden. Auch für den selektiven MAO-A-Hemmer Moclobemid konnte in Studien (Trott et al., 1991; Antkowiak und Rajewski, 1998) eine positive Wirkung auf hyperkinetische Symptome gezeigt werden. Für Reboxetin (ein selektiver Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer wie Atomoxetin), das aber zur Behandlung depressiver Syndrome zugelassen ist (s. Kap. B.1), liegen bisher nur wenige Studien vor. Eine signifikannte Verminderung der Kernsymptome von ADHS auch im Vergleich mit Methylphenidat konnte an kleinen Stichproben in einer Doppelblind-Studie unter 4–6 mg/Tag gezeigt
werden (Arabgol et al., 2008). Weitere Studien sind viel versprechend hinsichtlich der Wirksamkeit zur Behandlung von ADHS und zur Verträglichkeit. Es wurden bislang aber nur kleine Fallzahlen berücksichtigt (Toren et al., 2007; Tehrani-Doost et al., 2008). C.4.3.2.3 Diverse
Für das anxiolytisch wirksame Buspiron wurde in einigen klinischen Studien eine Besserung der Kernsymptome von ADHS gefunden (McCormick et al., 1994; Malhotra und Santosh, 1998). Häßler et al. (2003) fanden darüber hinaus einen positiven Effekt auf aggressives Verhalten. In den genannten Studien sind die Stichgruppengrößen sehr gering. Selten wurden UAWs wie Schwindel, Kopfschmerzen, Müdigkeit und Gewichtszunahme berichtet. Antihypertonika wie Clonidin und Guanfacin (adrenerge α2-Agonisten) zeigen ebenfalls eine Wirksamkeit in der Therapie von ADHS (z.B. Hunt et al., 1995; Chappell et al., 1995; Connor et al., 2000; Scahill et al., 2001; Daviss et al., 2008; Palumbo et al., 2008). In einer doppelblinden randomisierten Untersuchung zu Clonidin und Methylphenidat im Vergleich zu Placebo, schnitt Methylphenidat im Lehrerurteil deutlich besser ab als Clonidin, das sich nach dem Urteil der Lehrer nicht von Placebo unterschied. Im Elternurteil zeigte auch Clonidin eine signifikante Reduktion der ADHS-Symptome. Als häufigste UAW wurde unter Clonidin eine Sedierung beobachtet (Palumbo et al., 2008). Zu beachten ist, dass die Ko-Therapie von Clonidin mit Methylphenidat schon zu schweren kardiovaskulären UAWs geführt hat (Maloney und Schwam, 1995; LysengWillmanson und Keating, 2002). Auf Bradykardie und Sedierung sollte besonders geachtet werden (Daviss et al., 2008; Palumbo et al., 2008).
C.4 Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störungen
Selegilin, ein irreversibler, selektiver MAOHemmer des Typ B (s. Kap. A.1.4.1), der zur symptomatischen Therapie der ParkinsonKrankheit zugelassen ist, zeigte in einer randomisierten, doppelblinden Untersuchung im Eltern- und Lehrerurteil signifikante Verbesserungen von ADHS-Symptomen, die auch der Behandlung mit Methylphenidat vergleichbar waren (Mohammadi et al., 2004). In einer randomisiert doppelblind und placebokontrolliert durchgeführten Untersuchung an einer kleinen Stichprobe wurde unter Selegelin vor allem eine Verbesserung der Aufmerksamkeit, nicht jedoch der Impulsivität beschrieben (Rubinstein et al., 2006). C.4.4
Behandlungsstrategien
Vor Beginn einer medikamentösen Behandlung der ADHS sollte eine somatisch-neurologische Untersuchung (Körpergröße, Körpergewicht, Herzfrequenz, Blutdruck) erfolgen. Ein Ruhe-EEG ist bei klinischer Indikation anzufertigen. Zu Beginn und bei Enddosis der Medikation sollten rotes und weißes Blutbild, Elektrolyte, Schilddrüsenfunktion (FT3, FT4, TSH basal), Nierenfunktionswerte (Kreatinin und Harnstoff), Transaminasen und Bilirubin kontrolliert werden (www.dgkjp.de/de_ stellungnahmen_12.html). Routinekontrolluntersuchungen dieser Parameter sind alle sechs Monate ausreichend, sie sind jedoch bei guter Verträglichkeit und fehlender Vor- bzw. organischer Begleiterkrankungen nicht generell indiziert (Bundesärztekammer, 2007). Ergeben sich bei der Herz-Kreislauf-Katamnese Risikofaktoren, so sind ein EKG und nach Indikation ein kardiologisches Konsil angezeigt. In der Anamnese ist nach der körperlichen Belastbarkeit zu fragen, nach Episoden von Müdigkeit, Erschöpfung oder Brustschmerzen unter Belastung, Herzerkrankungen sowie nach Anzeichen von Anfallsleiden. In der Familienanamnese sind plötzliche ungeklärte Todesfälle und Herzerkrankungen zu erhe-
371
ben. Liegen solche Belastungsfaktoren vor, sind weitere Untersuchungen notwendig (s. auch Kap. B.5). Bei komplikationsloser Therapie werden in jährlichen Abständen routinemäßig EKGKontrollen empfohlen, Kontrollen des Blutdrucks und Puls auch häufiger. C.4.4.1 Kinder im Vorschulalter
Die Therapie mit Psychostimulanzien soll bei Kindern im Vorschulalter nur dann erfolgen, wenn die Symptomatik die soziale Integration des Kindes schwerwiegend behindert (Drohung von Ausschluss aus der Familie, soziale Isolation), altersnotwendige Schritte nicht ermöglicht und verhaltenstherapeutische Interventionen nicht hinreichend erfolgreich waren (Döpfner et al., 2007; Warnke und Walitza, 2004). Untersuchungen bei jüngeren Vorschulkindern (3–5,5 Jahre) zeigten eine Reduktion der ADHS-Symptomatik. Insgesamt zeigte sich aber eine geringere Effektstärke (0,4–0,8) als bei Schulkindern und die UAWs waren durchschmittlich stärker ausgeprägt als bei älteren Kindern (Greenhill et al., 2006). Methylphenidat sollte in aller Regel der Vorzug vor Amphetamin oder Atomoxetin gegeben werden. Die Aufdosierung sollte beim Vorschulkind besonders langsam erfolgen, Beginn mit z.B. 2,5 mg Methylphenidat, dann 5 mg über acht Tage (zum Frühstück) und mit einer nachfolgend individuellen Titrierung, unter Umständen in 2,5-mg-Schritten (1/4 Tablette à 10 mg Methylphenidat oder ½ Tablette à 5 mg Methylphenidat).
372
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
C.4.4.2 Schulkinder
C.4.4.3
Methylphenidat ist das Psychostimulanz der ersten Wahl. Es wird in einer täglichen Dosierung von 0,3–1 mg/kg Körpergewicht über den Tag verteilt in ein bis drei Einzeldosen (in der Regel 2/3 morgens und 1/3 mitttags) verabreicht. Man beginnt in der Regel morgens mit 5 mg Methylphenidat und bei Bedarf mittags mit weiteren 5 mg. Die Dosierung kann nach einer Woche um 5–10 mg gesteigert werden.
C.4.4.3.1 ADHS mit Störung des Sozialverhaltens
Über die weitere Titrierung sollte wiederum zunächst nach ca. acht Tagen und in der Folge in etwa monatlichen Abständen beraten werden. In aller Regel reichen Dosierungen von bis zu 30 mg Methylphenidat pro Tag aus. Die letzte Tagesdosis sollte im Allgemeinen nicht nach 16.00 Uhr erfolgen, um Einschlafprobleme zu vermeiden. In Einzelfällen kann aber auch eine spätere dritte Dosierung (z.B. gegen 18–19.00 Uhr) bei einem Kind, das durch seine Überaktivierung nicht zur Ruhe und nicht zum Einschlafen kommt, hilfreich sein. Ausschlaggebend wichtig ist eine individuelle Titrierung im Tagesdosisbereich von bis max. 60 mg Methylphenidat. In Einzelfällen kann auch eine höhere Dosierung hilfreich sein (C 4.3.1). In der MTA-Studie (Jensen et al., 2001) war eine durchschnittliche Dosierung von 32 mg Methylphenidat verteilt auf drei Tagesdosen am wirksamsten in der Therapie der Kardinalsymptome. Sind mehr als zwei Einzeldosen notwendig, sollte die Umstellung auf eine retardierte Form des Methylphenidats oder auf Atomoxetin überlegt werden (Dosierungen zu Retardpräparaten und Atomoxetin s. Kap. B.5 und siehe Empfehlungen zur Umstellung des Präparates, C 4.4.7). Amphetamin wird mit 0,1–0,5 mg/kg Körpergewicht als Einmalgabe oder in zwei Einzeldosen verabreicht (s. auch Kap. B.5).
Therapie von ADHS und komorbiden Störungen
Es empfiehlt sich zunächst ebenfalls die Behandlung mit Methylphenidat. Die Dosierung sollte nach den üblichen Empfehlungen (s. o.) erfolgen. Hinsichtlich dieser Patientengruppe wurde eine alleinige Psychotherapie, die ohne zusätzliche Medikation durchgeführt wurde, als nicht ausreichend beschrieben (Jensen et al., 2001). Falls sich in den Verlaufskontrollen unter Methylphenidat keine ausreichende Besserung zeigt, hat sich eine Umstellung auf Amphetamin bewährt. Amphetamin scheint nach eigenen klinischen Erfahrungen insbesondere die Impulsivität positiv zu beeinflussen. Methylphenidat und Amphetamin sind bei Störungen des Sozialverhaltens und in der Behandlung aggressiver Verhaltensweisen wirksam (Sinzig et al., 2007). Spencer et al. (2006) und Findling et al. (2007) empfehlen zunächst eine Höherdosierung des schon eingesetzten Psychostimulanzien-Präparates. Selten kann sich aggressives Verhalten unter der Behandlung verstärken. Wenn sich aggressives Verhalten nur selektiv zum Zeitpunkt des Wirkverlusts der Medikation einstellt, ist eher von einem ReboundPhänomen auszugehen, und eine alternative Dosisverteilung muss erwogen werden. Zuerst sollten allerdings intensivierte verhaltenstherapeutische Maßnahmen zum Einsatz kommen; eine zusätzliche Gabe von atypischen Neuroleptika sollte vorwiegend bei fortbestehendem selbst- und fremdaggressiven Verhalten erfolgen (Aman et al., 2004; Pliszka et al., 2006). Die Konzentrationsfähigkeit muss unter einer zusätzlichen Behandlung mit Risperidon nicht generell beeinträchtigt sein (Günther et al., 2006). Werden Neuroleptika und Psychostimulanzien zusammen gegeben, sollte die Abset-
C.4 Aufmerksamkeits-Defizit-/Hyperaktivitäts-Störungen
zung eines der Präparate langsam erfolgen, um das Auftreten z.B. von akuten Dystonien zu vermeiden (Benjamin und Salek, 2005). Bei unzureichender Wirkung von Risperidon, ist auch die Behandlung mit Quetiapin und Aripiprazol zu überdenken (Findling et al., 2007). Stimmungsstabilisatoren wie Lithiumsalz-Präparate und Valproinsäure sowie Carbamazepin (s. Kap. B.6) stellen nach Methylphenidat und Amphetamin (jeweils erste Wahl) Behandlungsmöglichkeiten der zweiten und dritten Wahl dar und bedürfen grundsätzlich, und vor allem in Kombination mit Psychostimulanzien, engmaschiger Kontrolluntersuchungen. C.4.4.3.2 ADHS und emotionale Störungen, depressive Symptome, Zwangsstörungen
Die besten Behandlungseffekte wurden bei den meisten Patienten mit ADHS und Angststörungen mit Methylphenidat und zusätzlicher Verhaltenstherapie erzielt (Jensen et al., 2001). Unter Patienten mit komorbiden Angststörungen scheint es eine Untergruppe zu geben, die allein auf Verhaltenstherapie ausreichend positiv reagiert. Bei einer Subgruppe von Patienten (7/32) reduzierte sich die Angstsymptomatik auch unter alleiniger Behandlung mit Methyphenidat (Abikoff et al., 2005). Eine Zugabe von Fluoxetin zu Methylphenidat (15/32) zeigte in dieser Studie, im Vergleich zur alleinigen Behandlung mit Methylphenidat (plus Placebo), keine weitere Reduktion der Angstsymptomatik (Abikoff et al., 2005). Zeigt sich unter Methylphenidat mit zusätzlicher Verhaltenstherapie keine Besserung der Angstsymptomatik, sollte eine Behandlung mit Atomoxetin überlegt werden, die dann erste Wahl sein kann. Unter Atomoxetin wurde neben der Verbesserung der ADHS-Kernsymptome auch eine Reduktion
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der Angstsymptome beobachtet (Kratochvil et al., 2006; Geller et al., 2007). Eine Zusatzmedikation mit SSRIs, die ihrerseits die Behandlung erster Wahl von Angststörungen bzw. Zwangsstörungen darstellen, wäre in diesem Fall eine Behandlung der zweiten Wahl, da Monotherapien zu bevorzugen sind. Für die Wirkung von SSRIs auf Symptome bei ADHS gibt es keine positiven Studienergebnisse. Als dritte Wahl ist eine Umstellung auf trizyklische Antidepressiva zu erwägen (Elia et al., 1991). Bei einer Komedikation sind die in Kap. B.5 beschriebenen Interaktionen zu bedenken. Bei zusätzlichen Angststörungen kann das Anxiolytikum Buspiron eingesetzt werden. Bei ADHS und komorbid auftretenden Depressionen oder Zwangsstörungen wird in der Regel zunächst eine Monotherapie mit Methylphenidat begonnen. Nach ausreichender Einstellung mit Methylphenidat zur primären Behandlung der ADHS sollte die Kombination mit einem Antidepressivum überlegt werden (s. auch Kap. B.1). Fluoxetin ist bei Kindern ab 8 Jahren zur antidepressiven Behandlung zugelassen, wenn die Depression nach vier bis sechs Sitzungen nicht auf eine psychologische/psychotherapeutische Behandlung anspricht. Mögliche Interaktionen zwischen Methylphenidat und SSRIs sind in Kap. B.5 beschrieben. Eine Empfehlung zur primären Behandlung mit Atomoxetin kann, im Gegensatz zu der Behandlung einer ADHS und komorbid vorliegenden Angststörung, nicht ausgesprochen werden. C.4.4.3.3 ADHS und komorbide Tic-Störungen
Bei ADHS liegt eine Häufung von komorbiden Tic-Störungen vor. Die Therapie mit Psychostimulanzien kann initial zu einer Verstärkung vorbestehender Tics führen, die
374
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
oftmals nur transient gesehen wird (s. Kap. B.5). Bei einer Persistenz oder Verschlechterung der Tic-Symptomatik sollte unter Abwägung des Schweregrades der hyperkinetischen Störung zunächst eine Dosisreduktion des Psychostimulanzien-Präparates erfolgen. Falls dies nicht zum Erfolg führt, sollte die Absetzung oder eine Umstellung erwogen werden. Atomoxetin kann hier Therapie der ersten Wahl sein (Banaschewski et al., 2006, 2008b; Döpfner et al., 2007). In Europa und Deutschland kommt in einer nächsten Überlegung die Komedikation von Psychostimulanzien und Tiaprid in Betracht (s. Kap. C.17). Die Kombinationstherapie mit Tiaprid bei ADHS mit Tic-Störungen ist nach wenigen Studien und eigenen klinischen Erfahrungen im Allgemeinen wirksam und gut verträglich (Eggers et al., 1988). In den USA kommt statt einer Kombination mit Tiaprid, eine Kombination mit Clonidin oder Guanfacin (α2-adrenerge Agonisten, s. auch Kap. B.3) zum Einsatz (Scahill et al., 2001). Hier müssen jedoch kardiovaskuläre UAWs besonders gut kontrolliert werden. In Kap. B.5 und in dem vorliegenden Kapitel sind Interaktionen zwischen Methylphenidat und Clonidin (s.o.) ausführlich beschrieben. Eine Kombination von Methylphenidat mit anderen Neuroleptika wie Risperidon (0,5–1,5 mg/Tag), Olanzapin, Aripiprazol oder Quetiapin kann bei resistenten komorbiden Tic-Störungen eingesetzt werden. Haloperidol und Pimozid sind wirksam in der Behandlung komorbider Tic-Störungen und Arzneimittel der dritten Wahl (Plizka et al., 2006). Sie sind zurückhaltend einzusetzen, da deren Profil an UAWs eventuell wiederum den Einsatz weiterer Medikamente erfordert (z.B. bei extrapyramidal-motorischen UAWs Biperiden, s. auch Kap. B.4 und C.17). Aufgrund ihrer antidopaminergen Wirkung kann der Effekt von Psychostimu-
lanzien reduziert werden (Markowitz und Patrick, 2001). C.4.4.3.4 ADHS und Epilepsie
Die Behandlung mit Methylphenidat ist bei Patienten, die unter Antiepileptika anfallsfrei sind, wirksam und die Epilepsie stellt dann keine absolute Kontraindikation dar (s. Krause und Krause, 2000; Kerdar et al., 2007 und Kap. B.5.2.4.1/2). Bei nicht anfallsfreien Patienten kann möglicherweise in Einzelfällen eine leichte Zunahme der Anfallsfrequenz auftreten. In den bisher vorliegenden Studien wurde unter einer Tagesdosis von 0,3–1 mg/ kg Körpergewicht Methylphenidat keine Änderung der Anfallsfrequenz gesehen. Für andere Psychostimulanzien ist die Datenlage zu gering, um eine Empfehlung zu geben. C.4.4.3.5 ADHS und Intelligenzminderung (IQ 4 mg/Tag!
Kap. B.4 Kap. C.1
Lithiumsalz-Präparate (2 Gaben in ca. 12-h-Abstand, schrittweise Aufdosierung, therapeutischer Plasmaspiegelbereich 0,8–1,2 mMol/l Cave: UAWs! regelmäßige Plasmaspiegelkontrollen! Wechselwirkungen
Kap. B.6 Kap. C.1 Kap. C.12
Propranolol (20–300 mg/Tag, 3–4 Gaben) Cave: kardiovaskuläre UAWs, Bronchokonstriktion
Kap. C.1 Riddle et al., 1999
Methylphenidat 10–30 mg/Tag (1. Wahl) Amphetamin (5–15 mg/Tag) 2–4 Gaben bis spätestens 16 Uhr Cave: paradoxe Wirkung vor allem bei schwerer Intelligenzminderung!
Kap. B.5 Kap. C.1 Kap. C.4
Naltrexon (1 mg/kg Körpergewicht/Tag, 1–2 Gaben Cave: Kontraindikation Rett-Syndrom, schwere Leberschäden
Kap. C.1 Willemsen-Swinkels et al., 1999
Clonidin (0,4 mg/Tag, 2–3 Gaben) Cave: UAWs; problematisch: Kombination mit Psychostimulanzien! Guanfacin (0,5–3 mg/Tag)
Kap. C.1 Arnsten et al., 1996; Horrigan und Barnhill, 1995; Hunt et al., 1995; Popper, 1995
Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer (SSRIs) (1. Wahl): Fluvoxamin (25–250 mg/Tag, 1–2 Gaben morgens und mittags, Einzeldosen max. 150 mg) Cave: zahlreiche Wechselwirkungen! Fluoxetin (20–80 mg/Tag, 1–2 Gaben morgens und mittags) Sertralin (50–200 mg/Tag) Paroxetin (20–60 mg/Tag morgens) Cave: bei allen SSRIs: Antriebssteigerung! Leber- und Nierenfunktionsstörungen als Anwendungsbeschränkung; immer langsam aufdosieren!
Kap. B.1 Kap. C.6 Kap. C.12 Kap. C.18
Hyperaktivität Aufmerksamkeitsdefizit Impulskontrollstörung
Zwanghaftes Verhalten, Stereotypien, Rigidität, Ängste, affektive Symptome
386
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Tab. C.5.1. (Fortsetzung) Indikation
Dosierung
Weiterführende Literatur
Buspiron Tagesdosis bei Kindern und Jugendlichen 5–30 mg, 3 Gaben (in 5-mg-Schritten langsam aufdosieren) Cave: In Deutschland ausdrücklich nicht für Patienten unter 18 Jahren zugelassen! Kontraindikationen: schwere Leber- und Nierenfunktionsstörungen, Engwinkelglaukom, Myasthenia gravis, Krampfanfälle
Buitelaar und WillemsenSwinkels, 2000
Neuroleptika (1. Wahl bei auch affektiver Erregung) Chlorprothixen (bis 4 × 50 mg/Tag) Levomepromazin (bis 3 × 50 mg/Tag Pipamperon (bis 4 × 30 mg/Tag Cave: bei allen mittel- und niedrigpotenten Neuroleptika anticholinerge –, serotoninenerge –, histaminerge und/oder adrenerge UAWs
Für andere atypische Neuroleptika (Aripiprazol, mittlere Dosis initial 0,17 mg/kg Körpergewicht/Tag, Erhaltungsdosis 0,27 mg/kg/ Tag; Ziprasidon, mittlere Dosis 60 mg/Tag) gibt es innerhalb einer mehrmonatigen Studiendauer Hinweise auf eine Besserung von (Auto-)Aggression, Hyperaktivität und Impulsivität, jedoch liegen nur Studien mit kleiner Fallzahl (n = 32 bzw. 12) und offenem Design vor, so dass zum jetzigen Zeitpunkt keine abschließende Aussage über die Wirksamkeit getroffen werden kann (McDougle et al., 2002; Valicenti-McDermott und Demb, 2006). Die wichtigsten UAWs waren bei beiden Neuroleptika Schläfrigkeit. Klassische, hochpotente Neuroleptika (z. B. Haloperidol 1–10 mg/Tag) sind wegen des Risikos extrapyramidal-motorischer UAWs bei bislang nicht nachgewiesener Wirksamkeit auf expansive Verhaltensweisen für die längerfristige Therapie eher ungeeignet, kön-
nen jedoch bei akuten Erregungszuständen und raptusartiger Aggressivität (s. Kap. C.1) notfallmäßig indiziert sein (Remington et al., 2001). Mittel- und niedrigpotente Neuroleptika (z. B. Chlorprothixen, Levomepromazin, Pipamperon) können bei Unruhe und aggressiver Gespanntheit auch dauerhaft über den Tag verteilt gegeben werden (Tab. C.5.1). C.5.3.2 Psychostimulanzien
Psychostimulanzien (siehe Kap. B.5) wie Methylphenidat oder Amphetamin sind erste Wahl bei ADHS-Symptomen, die auch im Rahmen eines Autismus imponieren können. Bei einer geringen Anzahl autistischer Patienten scheinen Psychostimulanzien eine Aktivitätssteigerung, Unruhe, aggressive Durchbrüche und Ängste zu verursachen (Aman und Langworthy, 2000) und somit paradox zu wirken. Die Zunahme der Fre-
C.5 Autistische Störungen (Tief greifende Entwicklungsstörungen, ICD-10 F84)
quenz von Stereotypien oder Tics gilt weitgehend als widerlegt; vielmehr scheint sich unstrukturierte Ruhelosigkeit durch längere Aufmerksamkeitsdauer zu bessern (Buitelaar und Willemsen-Swinkels, 2000). Cave: Bei mittelgradiger bis schwerer Intelligenzminderung bedingen Psychostimulanzien häufiger paradoxe Wirkungen. Atomoxetin, ein selektiver NorardrenalinWiederaufnahme-Hemmer zur Behandlung von ADHS, zeigte in Studien keine eindeutige Wirkung auf die Kernsymptome des ADHS bei autistischen Störungen (Arnold et al., 2006; Posey et al., 2006). C.5.3.3 Antidepressiva
Doppelblindstudien mit Clomipramin, einem trizyklischen Antidepressivum (siehe Kap. B.1), zeigten eine Besserung hinsichtlich zwanghaft-repetitiver Verhaltensweisen und aggressiver Durchbrüche bei autistischen Patienten (Gordon et al., 1993). Aufgrund kardiovaskulärer und anticholinerger UAWs sowie problematischer Senkung der Krampfschwelle sind den trizyklischen Antidepressiva jedoch die besser verträglichen SSRIs vorzuziehen. In verschiedenen klinischen Prüfungen konnte für die SSRIs Fluvoxamin, Fluoxetin, Sertralin und Paroxetin bei Erwachsenen mit einer autistischen Störung eine günstige Wirkung auf zwanghafte gedankliche Inhalte und Verhaltensrituale, auf psychomotorische Unruhe und affektive Irritabilität nachgewiesen werden (Posey et al., 1999). Auch bei Kindern gibt es Hinweise auf eine positive Beeinflussung repetitiver Verhaltensweisen durch Fluoxetin (Hollander et al., 2005). Hingegen scheinen bei Kindern und Jugendlichen besonders unter Fluvoxamin individuell unterschiedlich häufiger problematische Antriebssteigerungen mit Schlafstörungen, motorischer Unruhe und vermehrter
387
Autostimulation aufzutreten (McDougle et al., 2000). C.5.3.4 Stimmungsstabilisatoren
Bei Hinweis auf zyklische beziehungsweise bipolare Stimmungsschwankungen können Stimmungsstabilisatoren (siehe Kap. B.6 und C.12) verabreicht werden. Sie eignen sich nur zur längerfristigen Therapie, da auch bei ausreichenden Plasmaspiegeln die volle Wirksamkeit erst mit einer Latenz von bis zu sechs Monaten eintritt. Die beobachtbare Reduktion fremd- oder autoaggressiver Verhaltensweisen bei autistischen Patienten ist vermutlich Folge der primären affektiven Stabilisierung. Bei Lithiumsalz-Präparaten sind die Überwachung der regelmäßigen Einnahme und eine engmaschige Kontrolle des Plasmaspiegels aufgrund der engen therapeutischen Breite von größter Bedeutung. Oxcarbazepin und Valproinsäure können erwogen werden, um in Einzelfällen expansiv-aggressives Verhalten (vgl. Kap. C.1.3.3.) anzugehen, sofern andere medikamentöse Strategien gescheitert sind. In klinischen Einzelerfahrungen können hierunter Besserungen beobachtet werden, jedoch gibt es keine Studien hierzu speziell bei autistischen Syndromen (Dosierungen s. Tab. C.5.1). Für Carbamazepin konnte keine Wirksamkeit bei autistischen, aggressiven Symptomen nachgewiesen werden (Parikh et al., 2008). Eine einzelne Studie, jedoch mit etlichen methodischen Limitationen (z.B. sehr niedriger ValproinSerumspiegel) besagt, Valproinsäure wirke nicht im Indikationsbereich Autismus (Hellings et al., 2005). C.5.3.5 Adrenerge α2-RezeptorAgonisten
Clonidin wurde bei Unruhe, Reizbarkeit und Aggressivität in einer Studie mit sehr kleinen
388
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Fallzahlen mit mäßigem Erfolg eingesetzt (Jaselskis et al., 1992). Vermutlich bewirkt Clonidin über Beeinflussung der noradrenergen Neurotransmission im frontalen Kortex eine Verbesserung von Aufmerksamkeit und Impulsivität (Arnsten et al., 1996, s. auch Kap. B.1.3.2.2). Cave: Clonidin kann schwere kardiovaskuläre UAWs bedingen! Unter anderem in Kombination mit Methylphenidat traten plötzliche Todesfälle auf! (Popper, 1995) Guanfacin scheint besser verträglich zu sein und wurde vor allem bei ADHS erfolgreich (s. Kap. C.4) gegen Impulskontrollstörungen eingesetzt, jedoch gibt es bislang nur begrenzte Erfahrungen mit diesem Wirkstoff bei Kindern und Jugendlichen mit autistischen Störungen (Horrigan und Barnhill, 1995; Hunt et al., 1995). C.5.3.6 β-Adrenozeptor-Antagonisten (β-Blocker)
β-Blocker wie z. B. Propranolol wirken, offenen klinischen Studien mit geringen Fallzahlen zu Folge, vor allem bei hirnorganischen Störungen und Intelligenzminderung günstig auf Aggressivität, selbstverletzendes Verhalten und Impulsivität (Riddle et al., 1999). Cave: Vor Therapiebeginn und regelmäßig im Behandlungsverlauf EKG, Puls und Blutdruck kontrollieren! Kontraindikationen für β-Blocker sind: Diabetes mellitus, obstruktive Lungenerkrankungen, kardiovaskuläre Erkrankungen! C.5.3.7 Sonstige
Buspiron ist ein partieller Serotonin-5HT1ARezeptor-Agonist mit anxiolytischer und antidepressiver Wirksamkeit, der über einen Meta-
boliten mit α2-Adrenozeptor-antagonistischen Eigenschaften verfügt. Einzelnen, offenen Studien zu Folge scheint Buspiron affektive Irritabilität, Ängste, nach außen und auf sich selbst gerichtete Aggressivität und Schlafstörungen bei autistischen Syndromen zu verbessern (Buitelaar und Willemsen-Swinkels, 2000). Aufgrund einer offenen Fall-KontrollStudie scheint eine Therapie mit Naltrexon vor allem die Hyperaktivität und Ruhelosigkeit bei autistischen Patienten günstig zu beeinflussen (Willemsen-Swinkels et al., 1999). Selbstverletzungen, Stereotypien und soziale sowie kommunikative Verhaltensauffälligkeiten zeigten jedoch keine Besserung unter Opiat-Rezeptor-Antagonisten. Die Verträglichkeit ist gut; der bittere Geschmack kann jedoch zu Compliance-Problemen führen. Cave: Das Rett-Syndrom ist eine absolute Kontraindikation für Naltrexon (motorische Verschlechterung)! Sekretin ist ein Polypeptid der Darmmucosa, welches über die Pankreas-Stimulation eine Bikarbonat-Freisetzung bewirkt und somit auf den pH-Wert des Duodenums Einfluss nimmt. Aufgrund seiner Affinität zu Rezeptoren vasoaktiver Peptide im Hypothalamus, Kortex und Hippocampus übt Sekretin möglicherweise indirekte Effekte aus (z. B. erhöhte zerebrale Durchblutung, bessere intestinale Resorption von Medikamenten etc.; Buitelaar und Willemsen-Swinkels, 2000). Auch scheint Sekretin die Konzentration von 5-HT im Plasma zu senken; zudem sind Sekretin-Rezeptoren im Cerebellum lokalisiert, welche bei Autisten atrophiert sind (Hunsinger et al., 2000). In den Medien wurden Einzelfallberichte verbreitet, denen zu Folge Sekretin-Injektionen maßgebliche Verbesserungen der Psychopathologie autistischer Patienten erbracht haben sollen. In kontrollierten Studien konnte eine Wirksamkeit des Sekretins auf autisti-
C.5 Autistische Störungen (Tief greifende Entwicklungsstörungen, ICD-10 F84)
sche Symptome bislang nicht bestätigt werden (Sandler et al., 1999; Unis et al., 2002). Behandlungsversuche mit Corticosteroiden, i.v. applizierten Immunglobulinen, hoch dosierten Vitamingaben (-B6, -C), Dimethylglyzin oder Spurenelementen zeigten keine Wirksamkeit beziehungsweise beruhen nur auf Einzelfallberichten (zur Übersicht Hunsinger et al., 2000). Die klinische Wirksamkeit des Antiepileptikums Lamotrigin bei autistischen Symptomen ist fragwürdig (Belsito et al., 2001). Bei Epilepsie-Kranken besserte es in Einzelfällen aggressives und autoaggressives Verhalten (möglicherweise über indirekte Antagonisierung von Glutamat-Rezeptoren; King, 2000), was ein indirekter Effekt der vermutlich stimmungsstabilisierenden Wirksamkeit Lamotrigins sein könnte. Benzodiazepine können bei Autismus paradoxerweise Hyperaktivität und Aggressivität auslösen oder erzeugen (Aman und Langworthy, 2000). Daher ist ihre Indikationsstellung zu prüfen und eine engmaschige Wirkungskontrolle sicherzustellen. C.5.4
Behandlungsstrategien
Über die zur jeweiligen symptomatischen Behandlung geeigneten Neuro-Psychopharmaka gibt Tab. C.5.1 Aufschluss. Aufgrund der oft langfristigen Therapie-Notwendigkeit können Wirksamkeitsverluste eintreten, so dass eventuell zu anderen Arzneimitteln gewechselt werden muss. Regelmäßige kinderund jugendpsychiatrische Untersuchungen sollten sichergestellt werden, um die gute Verträglichkeit und ausreichende Wirksamkeit der Medikation zu überwachen. C.5.5
Literaturverzeichnis
Aman MG, Langworthy KS (2000) Pharmacotherapy for hyperactivity in children with autism
389
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C.6 Depression R. Taurines, Ch. Wewetzer
C.6.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
In der ICD-10 wird in • •
depressive Episoden (F32.0–32.3) und rezidivierende depressive Störungen (F33.0– F33.3) unterteilt.
Die depressive Episode (F32.0–32.3) ist gekennzeichnet durch eine gedrückte Stimmung, Interesseverlust, Freudlosigkeit und eine Verminderung des Antriebes. Weitere Symptome sind eine verminderte Konzentration und Aufmerksamkeit, ein vermindertes Selbstvertrauen, Gefühle von Wertlosigkeit und ein negativistisches Denken. Schulische und berufliche Leistungsverminderungen resultieren aus der depressiven Stimmungslage, dem verminderten Konzentrationsvermögen, der vermehrten Ängstlichkeit und den Minderwertigkeitsgefühlen. Die Symptomatik einer depressiven Episode dauert mindestens zwei Wochen an, sie ist altersabhängig und wenig situationsgebunden. Somatische und/oder psychotische Symptome können zusätzlich vorhanden sein Bei den rezidivierenden depressiven Störungen (F33.0–F33.3) handelt es sich um wiederholte depressive Episoden. Die einzelnen Episoden dauern zwischen drei und zwölf Monaten, sie werden häufig durch belastende Lebensereignisse ausgelöst. Zielsymptom der Psychopharmako-Therapie depressiver Störungen im Kindes- und
Jugendalter ist die traurige, gedrückte, niedergeschlagene Stimmung, verbunden mit Freudlosigkeit, Spielunlust, Interesseverlust und sozialem Rückzug. Häufig sind ausgeprägte Stimmungsschwankungen, Verminderung des Antriebs, Energieverlust und eine behandlungsbedürftige psychomotorische Hemmung. Gerade im Kindes- und Jugendalter kann aber auch eine ständige Gereiztheit und Agitiertheit dominieren. Wahnhafte depressive Symptome, insbesondere wahnhafte Versündigungs- und Verschuldigungsideen fehlen bei Kindern und sind im Jugendalter sehr selten. Häufig bestehen eine Grübelneigung und somatische Beschwerden wie Bauch- und Kopfschmerzen (Findling et al., 1999). Weitere Zielsymptome sind Störungen des Schlaf-Wachrhythmus (besonders ein morgendliches Früherwachen), Appetitstörungen und bei älteren Jugendlichen Störungen der Libido. Wichtige Zielsymptome sind suizidale Gedanken und Handlungen. C.6.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
Vor Therapiebeginn müssen die Diagnose gesichert und organische Ursachen (wie beispielsweise endokrinologische oder chronische Erkrankungen, Infektionserkrankungen oder hirnorganische Störungen) sowie eine Intoxikation ausgeschlossen worden sein (körperlich-neurologische Untersuchung, Labor, EEG). Arzneimittelwirkungen, Drogen- oder
394
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Alkoholabusus, die ebenfalls depressive Symptome induzieren können, sind zu eruieren. Die Diagnostik und die Einstellung auf eine antidepressive Medikation sind je nach Schweregrad der Erkrankung im ambulanten, teilstationären oder stationären Rahmen durchzuführen. Bei akuter Suizidalität ist eine Behandlung auf der geschlossen geführten kinder- und jugendpsychiatrischen Station notwendig. Grundlage für die Behandlung depressiver Störungen ist die ausführliche Aufklärung des Patienten und der Sorgeberechtigten über die Erkrankung und mögliche Therapieformen. Die Behandlung einer depressiven Erkrankung beinhaltet die Entlastung von überfordernden Belastungen (z.B. schulische Überforderungen und Konflikte). Bei Kindern und Jugendlichen mit leichten bis mittelschweren depressiven Episoden werden psychotherapeutische Behandlungsansätze angewendet. Zur Behandlung einer mittelschweren bis schweren depressiven Störung wird meist eine kombinierte psychotherapeutische und psychopharmakologische Behandlung notwendig. Therapiebegleitend sollte ein regelmäßiger Austausch zwischen Arzt und Angehörigen erfolgen. Für weiterführende Informationen zur Therapie von depressiven Störungen möchten wir auf aktuelle Übersichtsarbeiten (SchulteMarkwort et al., 2008), die Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (Blanz et al., 2007) und auf das Kap. B.1 verweisen. C.6.3
Wahl der Pharmakotherapie
Nähere Angaben zu den im Folgenden aufgeführten Wirkstoffgruppen (wie alters-
und symptombezogene Zulassungsbereiche, Dosierungsempfehlungen, UAWs, Arzneimittelinteraktionen, Anwendungseinschränkungen und besondere Vorsichtsmaßnahmen) finden sich im Spezialkapitel B.1. C.6.3.1 Antidepressiva zur Monotherapie
Vorrangig werden SSRIs (s. Kap. B.1) eingesetzt, da sie im Vergleich zu trizyklischen Antidepressiva ein günstigeres Nutzen-Risiko-Verhältnis haben. Fluoxetin ist im Kindes- und Jugendalter das Antidepressivum der ersten Wahl, da die klinische Wirksamkeit in kontrollierten Studien nachgewiesen werden konnte und eine Zulassung vorliegt (s.u.). Antidepressiva zweiter Wahl sind Sertralin und Citalopram. Fluoxetin ist mit Entscheidung der europäischen Kommission vom 21.08.2006 auch für Deutschland zur Anwendung bei depressiver Symptomatik im Kindes- und Jugendalter zugelassen. Nach der Roten Liste kann Fluoxetin ab dem achten Lebensjahr bei einer mittelgradigen bis schweren Episode einer “Major Depression“ angewendet werden, wenn die Depression nach vier bis sechs Sitzungen nicht auf eine psychologische Behandlung anspricht. Fluvoxamin ist ab dem achten Lebensjahr für die Behandlung der Zwangsstörung zugelassen. Alternativ, jedoch nicht als Medikation der ersten Wahl, können zur DepressionsBehandlung trizyklische Antidepressiva eingesetzt werden. Im Kindes- und Jugendalter kommt aus dieser Wirkstoffgruppe Clomipramin die größte Bedeutung zu. Clomipramin und Imipramin sind ab einem Alter von fünf Jahren zugelassen. Das zugelassene Indikationsgebiet bezieht sich jedoch auf die funktionelle Enuresis. Bei ängstlich-agitierten Depressionen mit Unruhe und Schlafstörungen werden Mirtazapin und eventuell Mianserin mit Erfolg eingesetzt.
C.6 Depression
395
Aufgrund der durch kontrollierte Studien nachgewiesenen Wirksamkeit von Venlafaxin im Erwachsenenalter und der klinischen Wirksamkeit im Jugendalter, wird dieser Arzneistoff auch zur DepressionBehandlung bei Jugendlichen eingesetzt. In Deutschland werden JohanniskrautExtrakte häufig bei leichten bis mittelschweren depressiven Episoden verwendet. Diese sind ab dem Alter von 12 Jahren zur Behandlung depressiver Symptomatiken zugelassen.
C.6.4
Bei Anwendung von Antidepressiva außerhalb des Zulassungsbereiches (Off-label-Gebrauch) ist in der Aufklärung ausdrücklich hinzuweisen (s. Kap. A.2.1.2 und A.2.1.4).
•
C.6.3.2
Neuro-Psychopharmaka zur Komedikation
Besonderheiten der Kombinationstherapie mit Antidepressiva sind in den Tab. B.1.7 bis B.1.11 zusammengefasst.
Bei der Auswahl eines Antidepressivums sollten folgende Aspekte berücksichtigt werden: • •
•
•
C.6.3.2.1 Benzodiazepine
Bei suizidalen Gedanken und Handlungen empfiehlt sich neben der antidepressiven Medikation zusätzlich eine Anxiolyse (s. Kap. B.3) durch Benzodiazepine (z.B. Lorazepam oder Diazepam, s. Kap. C.6.4.3.1).
Behandlungsstrategien
•
Wie schwerwiegend ist die depressive Symptomatik? Gibt der Patient suizidale Gedanken und Impulse an? Wenn ja, ist gegebenenfalls eine sofortige Sedierung und Anxiolyse durch Benzodiazepin-Gabe und eine engmaschige Kontrolle der Aufdosierung des Antidepressivums indiziert. Zeigt der Patient eine Antriebshemmung oder Antriebssteigerung? Bei ängstlichagitierter Depression empfehlen sich eher sedierende Antidepressiva wie z.B. Doxepin, Amitriptylin, Mianserin oder Mirtazapin; von den SSRIs gegebenenfalls Sertralin, aufgrund der relativ geringen aktivierenden Wirkkomponente. Wie sieht das spezifische Profil von Wirkung und unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) der einzelnen Neuro-Psychopharmaka aus? Welche Arzneistoffe werden zusätzlich eingenommen? (mögliche Arzneimittelwechselwirkungen s. Tab. B.1.7–B.1.11) Wurde bei dem Patienten in der Vorgeschichte bereits ein Antidepressivum erfolgreich eingesetzt? Dann sollte auf dieses Präparat zurückgegriffen werden.
C.6.4.1 SSRIs als erste und zweite Wahl C.6.3.2.2 Niederpotente Neuroleptika
Bei ausgeprägter motorischer Unruhe, Getriebenheit und bei Schlafstörungen kann eine Komedikation mit einem niederpotenten Neuroleptikum (s. Kap. B.4) sinnvoll sein (s. Kap. C.6.4.3.2).
SSRIs sind wirksam bei allen Formen der depressiven Episoden, bei gehemmten und unruhig-agitierten Depressionen (Edwarts und Anderson, 1999; Ambrosini, 2000; Heiser und Remschmidt, 2002). Die beste Studienlage existiert für das Antidepressivum der ersten Wahl, Fluoxetin, das sich in zahlreichen kontrollierten Studien gegenüber einem Placebo überlegen zeigt (u.a. Emslie et al., 1997, 2002, 2008) und für das eine Zulassung vorliegt.
396
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Als Antidepressiva zweiter Wahl können Sertralin und Citalopram eingesetzt werden. Sertralin (Wagner et al., 2003; zur Übersicht siehe z.B. Wagner, 2005) und Citalopram (Wagner et al., 2004; Pössel und Hautzinger, 2006) zeigten in kontrollierten Studien eine Überlegenheit gegenüber Placebo (nähere Angaben zur Studienlage bei diesen beiden SSRIs siehe Spezialkapitel B.1). Fluoxetin, Sertralin und Citalopram weisen nach der Metaanalyse der „Food and Drug-Administration“ (FDA) in den USA von den SSRIs die niedrigsten relativen Risiken für eine Zunahme suizidaler Gedanken und parasuizidaler Handlungen auf. Die Aufdosierung der SSRIs erfolgt langsam (s. Kap. B.1.2.3.1.2), um ein pharmakogenes Delir zu vermeiden. Besonders zu Beginn der Therapie und bei Dosissteigerungen ist neben anderen UAWs auf das Auftreten einer vermehrten Unruhe, Reizbarkeit, auf dranghafte suizidale Gedanken, Angstzustände und Schlaflosigkeit zu achten. Gegebenenfalls muss die SSRI-Dosis reduziert, eine Komedikation begonnen oder die SSRI-Medikation kontrolliert abgesetzt werden. Dosiserhöhungen sollten bis zum Erreichen des Fließgleichgewichtes (Steady-state) durchgeführt werden (ca. vier Wochen bei Fluoxetin, sonst eine Woche) und mit einem Therapeutischen Drug-Monitoring (TDM) kontrolliert werden (Kap. A.2.3). Eine einmalige Gabe am Morgen ist für die meisten SSRIs ausreichend. Da die Halbwertszeit für Fluvoxamin 10–22 Stunden beträgt, sind bei diesem SSRI zwei Tagesdosen sinnvoll. Fluvoxamin und Sertralin sollten zu den Mahlzeiten eingenommen werden; dabei sollte das gleichzeitige Trinken von Grapefruitsaft vermieden werden. Eine antidepressive Wirkung zeigt sich in der Regel nach ein bis vier Wochen.
In unseren Kliniken hat sich bei der Therapie mit Fluoxetin folgendes Vorgehen bewährt. Die Einstiegsdosis liegt je nach Alter und Gewicht der Kinder und Jugendlichen bei (5 bis) 10 mg/Tag am Morgen. Bei guter Verträglichkeit erfolgt alle fünf bis sieben Tage die Dosis-Steigerung um 5–10 mg. Für einen Großteil der Kinder ist eine einmalige Gabe von 20 mg am Morgen ausreichend. Bei Jugendlichen kann bei nicht befriedigender Wirkung die Medikation alle zwei bis drei Wochen bis zu einer Dosis von 40–60 mg/Tag um 5–10 mg erhöht werden (bei Zwangserkrankungen und Bulimie sind generell höhere Dosen notwendig als bei depressiver Symptomatik, siehe auch Bezchlibnyk-Butler und Virani, 2007). Ergänzende Angaben zu den anderen SSRIs finden sich im Kap. B.1. Die Verträglichkeit der SSRIs ist gut (s. auch Kap. B.1.2.4.1.2). In einer offenen Multizenterstudie (Fleischhaker et al., 2003) bei Kindern und Jugendlichen zeigten sich UAWs nur in der Aufdosierungsphase, während die Erhaltungstherapie praktisch nebenwirkungsfrei verlief. Tabelle C.6.1 gibt einen Überblick über die im Vordergrund stehen UAWs der einzelnen SSRIs. Zur Diskussion um einen möglichen Anstieg suizidaler Gedanken und parasuizidaler Handlungen unter SSRIs siehe Kap. B.1.2.4.1.2. In Tab. B.1.8. sind, soweit bisher bekannt, die möglichen pharmakokinetischen Interaktionen zwischen SSRIs und Arznei-, Nahrungs-, Genuss- und Suchtmitteln sowie die daraus resultierenden klinischen Effekte zusammengestellt. Hinweise zu absoluten und relativen Kontraindikationen, Vorsichtsmaßnahmen bei Schwangerschaft und Stillzeit, sowie zur Toxizität von SSRIs finden sich in den Kap. B.1.2.6.1.2 und B.1.2.3.1.2.
C.6 Depression
397
Tab. C.6.1 Typische unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs) von selektiven Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern bei erwachsenen Patienten (nach Laux, 2003) Citalopram
Fluoxetin
Fluvoxamin
Paroxetin
Sertralin
Übelkeit
Nervosität/Erregung
Übelkeit
Schwitzen
Zittern
Unruhe
Atembeschwerden
Benommenheit
Schwindel
Mundtrockenheit
Schwitzen
Kopfschmerzen
Obstipation
Schlafstörung
Diarrhö
Diarrhöe
Appetitlosigkeit
Appetitlosigkeit
Sexualstörungen
Selten, aber lebensbedrohlich kann das Serotonin-Syndrom mit einer zentralen serotoninergen Überaktivität sein. Lebensbedrohlich wird es dann, wenn Herzrhythmusstörungen, Krampfanfälle oder komatöse Erscheinungen auftreten. Besondere Beachtung gilt hier dem Fluoxetin, aufgrund des aktiven Metaboliten und der dadurch langen Halbwertszeit. Die Therapie des Serotonin-Syndroms besteht in einer sofortigen Absetzung der Medikation. Bei hohem Fieber empfiehlt sich die Kühlung des Patienten, es sollte auch auf eine ausreichende Trinkmenge geachtet werden. In Einzelfällen bedarf es einer Infusionsbehandlung und intensiv-medizinischer Therapie. Medikamentös kann man Methysergid verordnen. Bei Umstellung (s. Kap. B.1.2.3.1.2 und Tab. C.6.2) auf ein anderes Antidepressivum oder auch beim Abbruch der Therapie ist ein langsames Vorgehen notwendig. Dies gilt insbesondere für die SSRIs mit kurzer Halbwertszeit (z.B. Fluvoxamin). Eine plötzliche Absetzung der Medikation kann zu Schwindel, Gangstörungen, gastrointestinalen Beschwerden, Sensibilitätsstörungen und Verschlechterung der psychischen Befindlichkeit führen. Hinweise zu den notwendigen Kontrolluntersuchungen unter SSRIs finden sich in der Tab. B.1.13.
C.6.4.2
Antidepressiva der weiteren Wahl
C.6.4.2.1 Trizyklische Antidepressiva
Trizyklische Antidepressiva scheinen im Kinder- und Jugendbereich gemäß kontrollierter Studien generell Placebo in der Depressions-Behandlung nicht überlegen (Hazell et al., 1995, 2002; Papanikolaou et al., 2006). Der fehlende Wirksamkeitsnachweis könnte jedoch durch methodische Einschränkungen bisheriger Studien erklärt werden (s. Kap. B.1.2.2.1.1). Unsere klinischen Erfahrungen sprechen dafür, dass trizyklische Antidepressiva bei „Major Depression“ eine positive Wirkung erzielen. Anwendung finden trizyklische Antidepressiva besonders bei Antriebshemmung (z.B. Clomipramin) und ausgeprägten Schlafproblemen im Zusammenhang mit einem depressiven Syndrom (z.B. Doxepin). Aus dem Erwachsenenbereich liegen Untersuchungen vor, die aufzeigen, dass sich die trizyklischen Antidepressiva in der antidepressiven Wirkung untereinander nicht wesentlich unterscheiden. Im Kinder- und Jugendbereich kommt aus klinischer Sicht dem Clomipramin die größte Bedeutung zu. Aufgrund ihres ungünstigen Profils an UAWs und der niedrigen Intoxikationsschwelle sind die trizyklischen Antidepressiva keine Mittel der ersten Wahl. Die Aufdosierung sollte – wie auch bei den SSRIs – langsam und unter Kontrolle
398
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
mittels eines TDMs erfolgen (Vorsicht: zu schnelle Aufdosierung kann zu Krampfanfällen führen). Bei allen trizyklischen Antidepressiva ist mit einer niedrigen Dosis zu beginnen und je nach klinischer Wirkung die Dosis alle vier bis fünf Tage zu steigern. Aufgrund der längeren Halbwertszeiten von trizyklischen Antidepressiva reicht eine Einmaldosis am Morgen oder zur Nacht aus, wenn der Steady-state erreicht ist. Konkret hieße das z.B. für Clomipramin, eine Initialdosis zwischen 10 bis 25 mg/Tag und je nach Alter und Gewicht des Kindes eine Standarddosis zwischen 50 mg und 150 mg/Tag anzustreben. Bewährt hat sich auch die Umstellung im Verlauf auf Retardpräparate. Hinweise zu Wirkung und Dosierung weiterer trizyklischer Antidepressiva finden sich im Kap. B.1.
kommen. Generell kann man durch Verwendung von Retardpräparaten die Rate an UAWs deutlich senken.
Eine antidepressive Wirkung zeigt sich in der Regel nach ein bis vier Wochen, der sedierende Effekt ist jedoch eher zu beobachten. Schlafstörungen bessern sich meist rasch.
Ein anticholinerges Syndrom äußert sich symptomatisch durch zentrales Fieber, Mydriasis, Miktionsstörung (bis hin zum Harnverhalt), Obstipation (bis hin zum paralytischen Ileus) und Tachykardie. Psychopathologisch zeigen die Patienten Orientierungsstörungen, massive Erregung und delirante Symptome, Sinnestäuschungen sowie optische und akustische Halluzinationen. Bei Verschlechterung des Zustandsbildes kann es zu Krampfanfällen, Somnolenz und Koma kommen. Die Therapie des anticholinergen Syndroms besteht in der sofortigen Absetzung der anticholinerg wirkenden Stoffe. Die Patienten sollten intensiv-medizinisch überwacht werden. Bei ausgeprägter Symptomatik können 2–4 mg Physostigmin i.m. oder i.v. verabreicht werden. Dies bedarf in jedem Fall einer intensiv-medizinischen Behandlung mit Monitorüberwachung.
Gerade bei den trizyklischen Antidepressiva mit einer insgesamt geringen therapeutischen Breite gilt es, die möglichen UAWs zu beachten. UAWs sind in höheren Dosierungen häufig. Bei Einnahme einer Dosis, die ca. dreimal der maximalen Tagesdosis entspricht, kann es schon zu lebensbedrohlichen Komplikationen kommen. Deshalb sollten besonders bei geringsten Hinweisen auf suizidale Gedanken, keine maximalen Dosen rezeptiert werden. Bei Überdosierung verstärken sich in der Regel die bekannten anticholinergen UAWs. Hinzukommen können Übererregung, Myoklonien, Halluzinationen, Atemdepression und Krampfanfälle. Herzrhythmusstörungen bedürfen einer intensiv-medizinischen Behandlung mit Monitorüberwachung. Kardial kann es zu einer Verbreiterung des QRS-Komplex
Wechselwirkungen mit anderen Arznei-, Sucht-, Genuss- und Nahrungsmitteln sind in Tab. B.1.7. aufgeführt. Hinweise zu absoluten und relativen Kontraindikationen, Vorsichtsmaßnahmen bei Schwangerschaft und Stillzeit sowie zur Toxizität von trizyklischen Antidepressiva finden sich in den Kap. B.1.2.6.1.1 und B.1.2.3.1.1. Die Absetzung der trizyklischen Antidepressiva oder die Umstellung (s. Tab. C.6.2) auf einen alternativen Wirkstoff ist langsam und unter TDM-Kontrolle vorzunehmen. Eine zu rasche Umstellung auf ein anderes Antidepressivum kann zu unangenehmen Absetzungsphänomenen führen (s. Kap. B.1.2.3.1.1). Diese Phänomene zeigen häufig ein grippeähnliches Bild: Fieber, vermehrtes Schwitzen, Kopf- und Muskelschmerzen bis
C.6 Depression
hin zu Übelkeit, Erbrechen, Schwindelzuständen und Angstphänomenen. Es kann auch nach plötzlicher Absetzung der Medikation innerhalb von ein bis zwei Tagen zu einer deutlichen Verschlechterung der Stimmungslage kommen. Hinweise zu den notwendigen Kontrolluntersuchungen unter antidepressiver Medikation mit trizyklischen Antidepressiva finden sich in der Tab. B.1.12. C.6.4.2.2 α2-Adrenozeptor-Antagonisten
Mianserin und Mirtazapin werden hauptsächlich bei ängstlich-agitierter Depression mit Unruhe und Schlafstörungen eingesetzt. Für den Kinder- und Jugendbereich wird in nicht-placebokontrollierten Studien eine positive Beeinflussung depressiver Symptome einschließlich der Schlafstörungen berichtet (Dugas et al., 1985; Schlamp, 1999; Haapasalo-Pesu et al., 2004). Unserer klinischen Erfahrung nach zeigen die beiden Arzneimittel einen guten antidepressiven Effekt. Die Aufdosierung sollte auch bei Mianserin und Mirtazapin- wie bei allen anderen Antidepressiva – langsam erfolgen. Die Initialdosis von 10–30 mg Mianserin wird gegebenenfalls auf drei Gaben verteilt. Abhängig von Alter und Gewicht können bei Kindern und Jugendlichen täglich 60–120 mg des Arzneistoffes gegeben werden. Aufgrund der sedierenden Wirkung bietet sich eine höhere Abenddosis an. Mirtazapin sollte mit einer Dosis von 15 mg eingeschlichen werden. Nach langsamer Aufdosierung können bis zu 45 mg täglich gegeben werden. Eine einmalige Gabe ist bei diesem Antidepressivum ausreichend. Bei Schlafstörungen ist wegen der sedierenden Wirkung eine Gabe am Abend sinnvoll. Ein Vorteil der Behandlung mit Mirtazapin ist, dass es kaum sexuelle Funktionsstörungen verursacht. Eine antidepressive Wirkung zeigt sich in der Regel nach ein bis vier Wochen.
399
Die UAWs der beiden Antidepressiva sind ausführlich in Kap. B.1.2.4.3 dargestellt. Im Vordergrund steht eine starke Sedierung und Einschränkung der Reaktionsfähigkeit, besonders zu Beginn der Therapie. C.6.4.2.3 Venlafaxin
In kontrollierten Studien konnte für Venlafaxin (gehört zu der Gruppe der 5-HT- und Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer, s. Kap. B.1) keine signifikante Wirksamkeit bei depressiven Erkrankungen im Kindes- und Jugendalter festgestellt werden (Mandoki et al., 1997; Courtney, 2004). Im Erwachsenenalter zeigt Venlafaxin dagegen eine eindeutige Wirksamkeit. In einer Meta-Analyse randomisierter kontrollierter Studien war Venlafaxin den SSRIs bei der Behandlung depressiver Symptomatiken bei Erwachsenen überlegen (Smith et al., 2002). Aufgrund der Datenlage ist Venlafaxin momentan kein Antidepressivum der ersten oder zweiten Wahl. Venlafaxin sollte langsam aufdosiert werden. Die Anfangsdosis beträgt im Erwachsenenbereich 37,5 mg. Bei nicht eintretender Wirksamkeit kann die Tagesdosis schrittweise um 37,5 mg erhöht werden. Zur Dosierung bei Kindern und Jugendlichen gibt es keine offiziellen Empfehlungen. Es können unseren Erfahrungen nach als Standarddosis bei Kindern 37,5–75 mg und bei Jugendlichen 75–150 mg eingesetzt werden. UAWs werden in Kap. B.1.2.4.1.4 ausgeführt. Durch die Gabe eines Retardpräparates lässt sich die Rate an UAWs reduzieren. Zur kontroversen Diskussion um einen möglichen Anstieg suizidaler Gedanken und parasuizidaler Handlungen siehe Kap. B.1.2.4.1.2 und B.1.2.6.1.4. Aufgrund der Diskussion warnt der Hersteller seit 2003 vor der Anwendung von Venlafaxin unterhalb des 18. Lebensjahres. Venlafaxin sollte nicht plötzlich und abrupt abgesetzt werden, da Absetzungsphäno-
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C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
mene auftreten können (s. Kap. B.1.2.3.1.4). Empfohlen wird daher, das Präparat über einen Zeitraum von zwei bis vier Wochen auszuschleichen. C.6.4.2.4 Johanniskrautextrakte
Bei leichten bis mittelschweren depressiven Episoden im Erwachsenenalter gehört in Deutschland Johanniskraut (Hypericum perforatum) zu den sehr häufig eingesetzten Antidepressiva. Eine Zulassung zur Behandlung depressiver Symptomatiken liegt ab dem 12. Lebensjahr vor. Weder die relevanten Inhaltsstoffe noch die Wirkmechanismen sind bisher ausreichend geklärt. Im Kindes- und Jugendalter wird in offenen Studien eine Wirksamkeit und gute Verträglichkeit beschrieben (Findling et al., 2003; Simeon et al., 2005). Ob Johanniskraut in der Wirksamkeit einer Placebogabe überlegen ist, ist bisher noch nicht geklärt. Klinisch bedeutsam ist die Herkunft des Johanniskrautextrakt-Fertigarzneimittels. Beim Vergleich von acht unterschiedlichen Johanniskraut-Präparaten nach ihrem Hyperforin- und Hypericin-Gehalt wurden nicht nur große Konzentrationsabweichungen zwischen den verschiedenen Präparaten, sondern auch zwischen unterschiedlichen Chargen ein und desselben Präparats gefunden (Wurglics et al., 2001). Nach Angaben der Fachinformation kann Johanniskraut-Trockenextrakt bis zu einer Standarddosis von 300–900 (maximal 1200) mg täglich aufdosiert werden. Die Einnahme kann auf bis zu drei Gaben verteilt werden. Die unzerkauten Tabletten sollten zu den Mahlzeiten eingenommen werden. Unter den möglichen UAWs sind besonders eine erhöhte Photosensibilität, gastrointestinale Beschwerden und allergische Reaktionen zu nennen (nähere Hinweise s. Kap. B.1.2.4.4.).
C.6.4.3
Neuro-Psychopharmaka zur Komedikation
C.6.4.3.1 Benzodiazepine
Suizidale Gedanken und Handlungen sind eine dringende Indikation für eine antidepressive Medikation. Es empfiehlt sich zusätzlich eine sofortige Anxiolyse durch Benzodiazepin-Gabe: zum Beispiel akut 1–2,5 mg Lorazepam oder über den Tag verteilt dreimal 2,5 mg Diazepam. Diese Begleitmedikation sollte jedoch aufgrund der Toleranzentwicklung nur kurzfristig erfolgen. C.6.4.3.2 Niederpotente Neuroleptika
Bei ausgeprägter motorischer Unruhe, Getriebenheit und Schlafstörungen kann eine Komedikation mit einem niederpotenten Neuroleptikum (s. Kap. B.4) sinnvoll sein. Hierbei ist zu beachten, dass insbesondere bei trizyklischen Antidepressiva Wechselwirkungen mit vielen Neuroleptika zu Veränderungen des jeweiligen Plasmaspiegels führen. Günstiger, weil nebenwirkungsärmer, ist in solchen Fällen die Kombination von SSRIs mit niederpotenten Neuroleptika (s. hierzu auch Kap. B.4 und Tab. B.4.8). C.6.5
Maßnahmen bei Unwirksamkeit einer antidepressiven Therapie
Kommt es in der Behandlung mit einem Antidepressivum nicht zu einer Symptombesserung (Non-Response), dann hat sich folgendes Vorgehen bewährt: •
•
Ausdosierung der begonnenen Monotherapie und Fortführung der ausreichend dosierten Monotherapie über einen Zeitraum von ca. vier bis sechs Wochen. Überprüfung der Diagnose und der Compliance.
C.6 Depression
401
Tab. C.6.2. Umstellung der Antidepressiva-Therapie bei Non-Respondern (modifiziert nach Bandelow et al., 2004; Bezychlibnyk-Butler und Virani, 2007) Nicht wirksame Antidepressiva
Umstellung auf
Empfohlenes Vorgehen
SSRIs z.B. Citalopram Fluoxetin Fluvoxamin Paroxetin Sertralin
andere SSRIs
Ausschleichen und umstellen
trizyklische Antidepressiva
Ca. 5 Halbwertszeiten (t1/2) des SSRIs abwarten (Vorsicht bei Fluoxetin, lange t1/2 des aktiven Metaboliten)
Venlafaxin
Ca. 5 t1/2 des SSRI abwarten
Moclobemid
Ca. 5 t1/2 des SSRI abwarten
andere trizyklische Antidepressiva
sofort möglich
SSRIs
Ca. 5 t1/2 des trizyklischen Antidepressivums abwarten
Venlafaxin
Ausschleichen und umstellen
Moclobemid
Ca. 5 t1/2 des trizyklischen Antidepressivums abwarten
trizyklische Antidepressiva
2–3 Tage warten
SSRIs
2–3 Tage warten (Vorsicht)
Trizyklische Antidepressiva z.B. Amitriptylin Clomipramin Doxepin Desipramin Imipramin
Moclobemid
Venlafaxin
Venlafaxin
2–3 Tage warten (Vorsicht)
trizyklische Antidepressiva
Sofort möglich
SSRIs
3 Tage warten (Vorsicht)
Moclobemid
3 Tage warten (Vorsicht)
SSRI, selektiver Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer
•
•
Durchführung eines TDMs, insbesondere bei der Einnahme von trizyklischen Antidepressiva. Tabelle B.1.4 gibt einen Überblick über empfohlene Wirkkonzentrationen einiger Antidepressiva für Erwachsene. Entsprechende Richtwerte für den Kinder- und Jugendbereich gibt es noch nicht. Umstellung der Medikation auf ein Antidepressivum mit einem anderen Wirkungsprofil. Aber auch die Umstellung von z.B. einem SSRI auf einen anderen
SSRI kann zu einer deutlichen klinischen Besserung führen. Während der Umstellung ist ein TDM beider Wirkstoffe anzuraten, um toxische oder Überdosis-Effekte zu vermeiden. Bei der Umstellung einer bestehenden, unwirksamen Antidepressivum-Therapie auf eine andere mögliche Medikation hat sich die in Tab. C.6.2 wiedergegebene Vorgehensweise bewährt. Falls alle die obigen Maßnahmen nicht zum Erfolg führen, könnte man noch folgende
402
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Augmentationsstrategien unter engmaschiger TDM-Kontrolle versuchen: •
•
•
Kombination der antidepressiven Medikation mit einem (atypischen) Neuroleptikum bei weiter bestehender depressiver Symptomatik mit zusätzlichen wahnhaften Inhalten (Schmauss und Messer, 2007). Kombination zweier Antidepressiva mit unterschiedlichem Wirkprofil. Allerdings liegen hierzu für den Kinder- und Jugendbereich keine empirisch gesicherten Daten vor. Eine Meta-Analyse zu – meist unkontrollierten – Studien im Erwachsenenalter zeigte einen geringfügigen Effekt einer Kombinationstherapie zweier Antidepressiva (Lam et al., 2002). Möglich und sinnvoll unter der Beachtung der UAWs wäre z.B. eine Kombination von − einem SSRI mit einem trizyklischen Antidepressivum oder − einem SSRI mit Mirtazapin. Kombination eines Antidepressivums mit Wirkstoffen wie z.B. Carbamazepin, die den metabolischen Abbau des Antidepressivums hemmen und damit den Wirkeffekt verstärken. Die Kombination besonders mit Lithiumsalz-Präparaten, aber auch mit Schilddrüsenhormonen, zeigte in kontrollierten Studien bei Erwachsenen gute antidepressive Effekte (Carvalho et al., 2007; Schmauss und Messer, 2007). Für den Kinder- und Jugendbereich liegen hierzu jedoch nur wenige Erfahrungen vor.
Die Vorgehensweise der Augmentation sieht stets vor, unter TDM-Kontrolle vorsichtig ein Zusatzpräparat bei konstanter Dosis des Ausgangspräparates schrittweise hinzuzufügen. Falls das Ausgangspräparat auf die Augmentation anspricht, kann, sofern aufgrund von UAWs gewünscht, gegebenenfalls das Ausgangspräparat in der Dosis relativ zum therapeutischen Spiegel reduziert werden.
C.6.6
Therapiedauer
Eine antidepressive Medikation sollte nach Abklingen der depressiven Symptomatik für ca. sechs Monate fortgeführt werden. Über diesen Zeitraum sollte die zuletzt wirksame und verabreichte Dosis des erfolgreich eingesetzten Antidepressivums beibehalten werden. Nach diesem Zeitraum kann die Medikation bei Beschwerdefreiheit langsam (etwa um 25% der Dosis wöchentlich) ausgeschlichen werden. C.6.7
Langzeittherapie/ Phasenprophylaxe
Sollte es schon zu drei deutlichen depressiven Episoden im Sinne einer unipolaren Depression gekommen sein, so besteht die Indikation zu einer längerfristigen Rezidivprophylaxe. Dabei haben sich bei Erwachsenen Antidepressiva, aber auch Stimmungsstabilisatoren (s. Kap. B.6) wie Lithiumsalz-Präparate, Carbamazepin, Valproinsäure, Oxcarbamazepin oder Lamotrigin als wirksam erwiesen. Lithiumsalz-Präparate sind für den Kinder- und Jugendbereich am besten untersucht (Gerlach et al., 2006). Wegen der geringen therapeutischen Breite sollten die Lithium-Serumkonzentrationen zwischen 0,6 und 1,2 mmol/l liegen und regelmäßig mittels TDM kontrolliert werden. Das Lithiumsalz-Präparat wird im Normalfall auf zwei Dosen verteilt, morgens und abends gegeben (vgl. Kap. B.6). C.6.8
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C.7 Drogen-(Substanz-)bezogene Störungen R. Stohler, G. A. Wiesbeck
C.7.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
Der Begriff Droge wird im ICD-10 nicht verwendet. Stattdessen werden Gruppen psychotroper Substanzen benannt, deren – meist regelmässiger und unsachgemässer – Konsum zu psychischen Störungen und/oder Störungen des Verhaltens führen kann. Folgende Substanzen werden im ICD-10 aufgezählt: Alkohol, Opioide, Cannabinoide, Sedativa oder Hypnotika, Kokain, Psychostimulanzien einschliesslich Koffein, Halluzinogene, Tabak und „flüchtige“ Lösungsmittel. Durch Alkoholmissbrauch hervorgerufene Störungen werden nicht hier, sondern im Kap. C.2 besprochen. So genannte Partydrogen lassen sich schlecht in diese Kategorien einordnen und werden hier in einem speziellen Abschnitt besprochen. Störungen, die im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Konsum dieser Substanzen auftreten, können nach ICD-10 folgendermaßen klassifiziert werden: •
•
Die akute Intoxikation (ICD-10 F1X.0): Diese ist durch Enthemmung, Stimmungslabilität und Aggressivität gekennzeichnet und kann mit Aufmerksamkeitsstörungen, Reduktion der Urteilsfähigkeit, Gang-/Standunsicherheit und Bewusstseinsstörungen einhergehen. Das Entzugssyndrom (ICD-10 F1X.3 bzw. F1X.4), ein nach Absetzung oder Reduktion des Drogenkonsums auftre-
•
•
•
tendes Zustandsbild, das durch Übelkeit, Schwitzen, Unruhe, Schlafstörungen, beschleunigter Herzschlag, Zittern, Fieber und ein allgemeines Krankheitsgefühl gekennzeichnet sein kann. In schweren Fällen können Halluzinationen und Krampfanfälle hinzukommen. Die Substanz-induzierte psychotische Störung (ICD-10 F 1X.5), ein häufig durch Halluzinationen gekennzeichnetes psychotisches Zustandsbild, das während oder unmittelbar nach dem Gebrauch psychotroper Substanzen auftritt und sich meist innerhalb eines Monats, sicher aber innerhalb von sechs Monaten vollständig zurückbildet. Der schädliche Gebrauch (ICD-10 F1X.1): Die Diagnose „schädlicher Gebrauch“ (Abusus) setzt voraus, dass noch keine Abhängigkeit vorliegt, eine Schädigung der körperlichen oder psychischen Gesundheit aber bereits eingetreten ist. Das Abhängigkeitssyndrom (ICD-10 F1X.2): charakteristisch sind ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, Drogen zu konsumieren („Craving“), eine verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Drogenkonsums, ein körperliches Entzugssyndrom, der Nachweis einer Toleranz, eine fortschreitende Vernachlässigung von Interessen zugunsten des Konsums sowie ein anhaltender Konsum, obwohl schädliche Folgen bereits vorhanden sind.
406
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Schädlicher Gebrauch stellt häufig, aber nicht zwingend, eine Vorstufe einer Abhängigkeitsstörung dar. Während der schädliche Gebrauch durch ein Konsumverhalten geprägt ist, das reale (und nicht nur theoretische) Gesundheitsschäden verursacht, charakterisiert die Abhängigkeit einen Konsum, bei dem die abhängig konsumierte Substanz respektive Substanzgruppe zum wichtigsten strukturierenden Element des täglichen Lebens wird. Das ICD-10 listet dazu acht Kriterien auf; mindestens drei davon müssen im Jahr vor der Diagnosestellung vorhanden gewesen sein. Andere durch psychotrope Pharmaka bedingte Störungen wie z. B. das amnestische Syndrom spielen bei Kindern und Jugendlichen kaum eine Rolle. Sie werden deshalb hier nicht besprochen. Zu beachten ist ferner, dass nicht alle aufgeführten Pharmakagruppen zu allen Störungsbildern führen können. So sind beispielsweise durch Koffein oder Opiate induzierte psychotische Störungen oder durch Tabakkonsum hervorgerufene, medizinisch relevante Intoxikationssyndrome nicht bekannt. Die vorrangigen Ziele der Pharmakotherapie sind die Sicherung des Überlebens und die Verhinderung von Folgeschäden, z. B. einer psychotischen Störung. Darüber hinaus zielt die medikamentöse Behandlung bei der Intoxikation und beim Entzug auf die Vermeidung bzw. Linderung der Vergiftungs- oder Entzugssymptome. Besteht eine Abhängigkeit respektive ein schädlicher Gebrauch, können zusätzliche Ziele die Reduktion der konsumierten Menge, die Überführung eines abhängigen in einen kontrollierten Konsum und die Erreichung von Abstinenz sein. Schließlich kann medikamentös zur Prophylaxe eines Rückfalls (englisch relapse) oder eines Ausrutschers (englisch lapse) beigetragen werden. Schädlicher Gebrauch und Abhängigkeit von psychotropen Substanzen können
bei Jugendlichen (und natürlich auch bei Erwachsenen) – ähnlich wie beim Alkohol – mit weiteren psychischen Störungen vergesellschaftet sein. Überzufällig häufig ist die Kombination mit Störungen des Sozialverhaltens, der antisozialen und emotional instabilen Persönlichkeitsentwicklung mit Aggressivität, Impulsivität (einschließlich ADHS), Suizidalität, affektiven Angst- und Essstörungen. Zudem ist der Gebrauch der einen psychotropen Substanz Prädiktor eines häufigeren Missbrauchs weiterer psychotroper Pharmaka (Macleod et al., 2004). Zum Teil bedürfen auch solche „co-occurring disorders“ der spezifischen Pharmakotherapie. Hierzu sei auf die entsprechenden Kapitel dieses Buches verwiesen. Das Gleiche gilt für konsumassoziierte somatomedizinische Krankheiten. Die Evidenz der Pharmakotherapie Substanz-bedingter Störungen bei Kindern und Jugendlichen basiert meist auf Erfahrungsberichten und auf Rückschlüssen aus der Behandlung Erwachsener. Randomisiert, doppelblind und placebokontrolliert durchgeführte Studien sind für diese Altersklasse selten. C.7.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
Therapeutische Rahmenbedingungen der Pharmakotherapie von Drogenstörungen sind weitgehend identisch mit denjenigen der Alkohol-Behandlung. Allfällige Unterschiede ergeben sich aus der unterschiedlichen rechtlichen Stellung der missbräuchlich konsumierten Substanzen. Die häufig drohende gesetzliche Sanktionierung erfordert spezielle Überlegungen, bei der manchmal eigentlich wünschenswerten Involvierung des Umfelds. Bezüglich des Behandlungsrahmens gilt auch für Kinder und Jugendliche das Prinzip, nach dem das Behandlungssetting mög-
C.7 Drogen-(Substanz-)bezogene Störungen
lichst wenig und nur soweit einschränkend sein darf, als dies für die Therapie unverzichtbar ist (least restrictive setting possible). Ob eine stationäre Behandlung indiziert ist, wird aber in höherem Masse als bei Erwachsenen durch das gesellschaftliche Umfeld bestimmt. Nicht die Schwere der individuellen Substanz-Störung respektive der mit ihr assoziierten Krankheit(en) entscheiden vorwiegend über die Behandlungsmodalität. Wichtiger ist vielmals die Beurteilung des Grades der Involvierung in „dysfunktionale“ Kollegenkreise (peergroups) oder die Abschätzung, ob ein gegebenes Familiensystem mit therapeutischen Erfolgen kompatibel sei (weiterführend: Blanz et al., 2006; Baving und Bilke, 2007; Thomasius et al., 2008). C.7.3
Wahl der Pharmakotherapie und Behandlungsstrategien
C.7.3.1 Arzneistoffe zur Behandlung der Tabak-Abhängigkeit
Arzneistoffe der Wahl zur Behandlung der Tabak-Abhängigkeit sind die beiden Antidepressiva Bupropion und Nortriptylin sowie Nikotin-ersetzende Präparate. Vareniclin, ein Partialagonist der nACh-Rezeptoren, wird nicht als Mittel der ersten Wahl zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen empfohlen. Eine randomisiert-doppelblinde prospektive Studie wies die Wirksamkeit einer Behandlung mit Bupropion (150 mg p.o. über 90 Tage, Beginn eine Woche vor dem Rauchstopp-Termin) in der Altersgruppe der 16–19-Jährigen nach (Niederhofer und Huber, 2004). Für Bupropion wird die Senkung der Belohnungsschwelle durch Beeinflussung der dopaminergen und noradrenergen Neurotransmission mittels Hemmung der Dopamin- und Noradrenalin-Transporter sowie Stimulation von nACh-Rezeptoren als (Teil-)Wirkprinzip angesehen (Cryan et al., 2003). Hauptsächliche UAWs sind von dem
407
durch das Arzneimittel verursachten erhöhten Sympathikotonus ableitbar. Für Epileptiker ist der Azneistoff nicht geeignet. Der Wirksamkeitsnachweis für Nortriptylin stammt aus Erwachsenen-Studien. Nortriptylin soll bei Jugendlichen erst in zweiter Linie eingesetzt werden (Prochazka et al., 1998). Der genaue Wirkmechanismus ist nicht bekannt. Die Tatsache, dass die Serotonin-Wiederaufnahme hemmende Antidepressiva in der Indikation „Tabak-Abhängigkeit“ nicht wirksam sind, lässt vermuten, dass dopaminerge und noradrenerge Effekte für die Wirkung auf den Tabakkonsum unverzichtbar sind. Die anticholinergen Eigenschaften machen eine Aufdosierung notwendig. Begonnen wird 10 Tage vor dem geplanten Rauchstopp mit 25 mg/Tag per oral. Durchschnittliche Erhaltungsdosis bei Erwachsenen sind 75 mg/Tag, pharmakologisch behandelt wird meist über sechs Wochen. Die Wirksamkeit von Nikotin-ErsatzPräparaten wie Kaugummi, TransdermalPflaster, Nasenspray, Inhalatoren und Sublingualtabletten ist vergleichbar (Silagy et al., 2004). Insgesamt erhöhen die hier beschriebenen pharmakologischen Strategien die Chancen für eine Nikotin-Abstinenz über ein Jahr gegenüber nicht-pharmakologischen Behandlungen um das 1,5- bis Zweifache, wobei die Resultate für kombinierte Behandlungen (Nikotin-Ersatz-Präparate und Bupropion respekive Nortriptylin) eher, aber nicht gesichert, günstiger sind. C.7.3.2 Arzneistoffe zur Behandlung Opiat-bezogener Störungen
Es lassen sich zwei hauptsächliche pharmakotherapeutische Strategien zur Behandlung der Abhängigkeit von Heroin und anderen Opiaten unterscheiden: • •
Die abstinenzorientierte Behandlung und die Substitutions-Behandlung.
408
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Die „maintenance to abstinence“-Behandlung stellt einen Kompromiss dar, während der Vorraussetzungen für die mittelfristig angestrebte Opiat-Abstinenz unter dem Schutze einer Substitutions-Behandlung geschaffen werden sollen. Sie kann als verlängerte Abstinenz-Behandlung aufgefasst werden (siehe dazu auch Abschnitt C.3.2.3). Substitutions-Behandlungen gelten in der Erwachsenenmedizin als Behandlungen erster Wahl, da Abstinenzorientierte Behandlungen mit hohen Rückfallraten assoziiert sind (Magura und Rosenblum, 2001; Sees et al., 2000). Bei jugendlichen Heroinabhängigen – vor allem bei solchen, deren Abhängigkeit noch nicht länger als ein Jahr besteht – wird primär eher eine Opiat-Abstinenz angestrebt werden und erst bei deren Scheitern eine Substitutions-Behandlung. Falls Heroinabhängige Jugendliche in abstinenzorientierten Therapien gehalten werden können, sind die Resultate günstig (Hopfer et al., 2002; siehe dazu auch Abschnitt C.7.3.2.3). C.7.3.2.1
Akute Intoxikation
Zur Behandlung der akuten, teilweise lebensbedrohlichen Intoxikation (Bewusstseinstrübung bis -verlust, verminderte Atemfrequenz, Erbrechen, Gliederschmerzen, blasse Haut, „Stecknadel“-Pupillen) steht der i.v. oder s.c. applizierbare μ-Opiat-RezeptorAntagonist Naloxon zur Verfügung. Der in den deutschsprachigen Ländern zugelassene Arzneistoff weist bei Jugendlichen und Erwachsenen eine Halbwertszeit (t1/2) von etwa 70 min auf. Besteht zusätzlich zur Intoxikation eine Abhängigkeit, kann ein Entzugssyndrom ausgelöst werden, das seinerseits wieder behandlungsbedürftig ist. Wegen seiner kürzeren t1/2 kann die Wirkung von Opiaten mit längerer t1/2 (z.B. Heroin, Methadon) wieder anfluten. Mit Naloxon behandelte Patientinnen und Patienten sind aus diesen Gründen zu überwachen.
Wenn möglich, sollte eine Ampulle Naloxon (0,4 mg) langsam i.v. injiziert werden, um eine genügende Wachheit, nicht aber ein Entzugssyndrom auszulösen. Ist keine Vene zugänglich, kann auch i.m. appliziert werden. Bei Bedarf kann die Injektion bis viermal wiederholt werden. Die anschließende s.c. Applikation einer weiteren Ampulle verlängert die Wirkung, befreit aber nicht von einer Überwachungspflicht. UAWs sind selten und beinhalten hauptsächlich Nausea und Vomitus. C.7.3.2.2
Entzugs-Behandlung
Zweck einer Opiat-Entzugs-Behandlung ist es, die Symptome des Entzugs zu minimieren um dadurch die Chancen für einen Rückfall zu verkleinern. Es lassen sich zwei hauptsächliche Verfahren unterscheiden: •
•
Eine sofortige Beendigung der Opiat-Zufuhr und ein symptomatisches Behandeln des Entzugssyndroms oder die primäre Ersetzung von „Strassen-Heroin“ (respektive anderer missbräuchlich verwendeter Opiate) durch ein pharmazeutisch klar definiertes Opiat und dessen konsekutive langsame Absetzung (Fishbain et al., 1993).
C.7.3.2.2.1 Symptomatische Behandlung
Als zentral wirkende α2-AdrenozeptorAgonisten bewirken Clonidin und Lofexidin (das in deutschsprachigen Ländern nicht verfügbar ist) eine Hemmung der noradrenergen Neurone im Locus caeruleus. Damit lindern diese Arzneistoffe vor allem die noradrenerg vermittelten Symptome des Opiat-Entzugs („Noradrenalin-Sturm“) wie z. B. Tachykardie, Hypertonie, aber bis zu einem gewissen Grade auch Tremor, Unruhe und Ängstlichkeit. Nach der Roten Liste gibt
C.7 Drogen-(Substanz-)bezogene Störungen
es nur für die i.v. Anwendung von Clonidin eine Zulassung für die Indikation „des akuten Alkoholentzugsyndroms“. Die Gefahr der medikamentösen Induktion einer teilweise den Einsatz limitierenden Hypotonie, ist bei der Verwendung von Lofexidin weniger groß. Die Behandlung mit α2-Adrenozeptor-Agonisten liefert insgesamt eher schlechtere Resultate als Entzugs-Behandlungen mit Opiaten (San et al., 1990). Clonidin sollte oral, beginnend mit einer halben Tablette (0,075 mg), angewendet werden. Die maximale Dosierung darf drei Tabletten/Tag nicht überschreiten. Der Blutdruck muss regelmäßig überwacht werden. Schwindel und Schläfrigkeit sind die häufigsten UAWs. Schwangere und stillende Frauen dürfen nicht mit Clonidin behandelt werden. Neben einer Reihe weiterer symptomatisch wirkender Arzneistoffe wie z. B. Baclofen, Benzodiazepine, Carbamazepin, Mianserin, Tiaprid und Trazodon, die (zumindest bei Opiat-Monoabhängigen) kaum Vorteile gegenüber Behandlungen mit α2-AdrenozeptorAgonisten aufweisen, hat vor allem ein so genanntes ultraschnelles oder forciertes Entzugsverfahren einige Aufmerksamkeit auf sich gezogen (Legarda, 1998). Verschiedene Medikamenten-Kombinationen sind zur Durchführung verwendet worden. Gemeinsam ist allen Verfahren, dass unter dem Schutz von Narkose oder tiefer Sedation Opiat-Rezeptor-Antagonisten wie Naloxon oder Naltrexon verabreicht werden, die das Entzugsgeschehen zeitlich so zusammendrängen sollen, dass Abhängige „entzogen“ aufwachen. Abgesehen von einer (fast selbstverständlichen) 100-prozentigen Retention während der Behandlung, führen diese Schnellverfahren zu keiner Verbesserung der zur Beurteilung wichtigeren Langzeit-Behandlungsergebnisse (Krabbe et al., 2003), sind aber mit teils schwerwiegenden Kom-
409
plikationen belastet (Delire, Kardio- und Nephropathien; Roozen et al., 2002). Solche „Schnellentzüge“ sollten bei Jugendlichen nicht das Mittel der ersten Wahl sein. C.7.3.2.2.2 Entzugsverfahren mit reinen Opiat-Präparaten
Das Behandlungsprinzip ist die Ersetzung von „Strassen-Heroin“ durch reine OpiatPräparate und deren konsekutive langsame Absetzung. Meistens wird in dieser Indikation Methadon eingesetzt. Beginnend mit maximal 30 mg und eventuell zusätzlichen 10 mg alle vier Stunden soll eine Dosis gefunden werden, bei der Opiat-Entzugssymptome verschwinden oder erträglich werden. Danach kann die Methadon-Medikation ausgeschlichen werden. Eine langsame Absetzung von Methadon wird unterschiedlich gut toleriert. Generell gilt, dass Dosen über 70 mg/Tag relativ schnell reduziert werden können, solche unter 20 mg teilweise nur sehr langsam. Trotz der pharmakologischen Unterschiede scheint Buprenorphin gegenüber Methadon in der Indikation Entzugs-Behandlung kaum überlegen zu sein (Ebner et al., 2004). Beide Arzneistoffe sind vollrespektive teilsynthetische Agonisten am μ-Opiat-Rezeptor. Buprenorphin antagonisiert zusätzlich den κ-Opiat-Rezeptor, während Methadon an allen Opiat-Rezeptoren agonistisch wirkt. C.7.3.2.3
Substitutions-Behandlung
Sind Entzugs-Behandlungen gescheitert oder aus anderen Gründen ungeeignet, sollte eine Substitutions-Behandlung mit Methadon oder Buprenorphin durchgeführt werden. Ziele solcher Behandlungen sind die Reduktion des Konsums illegalen Heroins und der damit verbundenen erhöhten Mortalität, die Reduktion konsumassoziierter Krankheiten
410
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
und des Delinquenzverhaltens (Farrell et al., 1994). Differentielle Indikationskriterien für Methadon oder Buprenorphin liegen (noch) nicht vor. Die hohe Affinität von Buprenorphin zum μ-Opiat-Rezeptor bewirkt, dass andere Opiate von diesem Rezeptor verdrängt werden, was sich anlässlich der ersten Einnahmen bei Abhängigen von „Vollagonisten“ (z. B. Heroin) in einem Entzugssyndrom äußern kann. Beide Arzneistoffe sind auch in der Langzeittherapie sicher anwendbar. Die UAWs (z. B. Atemdepression, endokrine Veränderungen, Senkung der Krampfschwelle, Obstipation, Hyperhydrosis) sind aus der Schmerzbehandlung bekannt. Unter Steady-state-Bedingungen adaptieren die meisten Behandelten, das heißt die UAWs verschwinden (Kreek, 1996). Eine adäquate Dosierung ist für den günstigen Verlauf einer Substitutions-Behandlung sehr wichtig (Faggiano et al., 2003; Mattick et al., 2008). Die Dosierung bei Jugendlichen unterscheidet sich nicht von der bei Erwachsenen. Im Sinne einer groben Orientierung sollen bei Methadon tägliche Dosen zwischen 60 und 120 mg angestrebt werden, bei Buprenorphin solche zwischen 8 und 32 mg. Genauere Dosisanweisungen verbieten sich aufgrund unterschiedlicher Toleranzniveaus, Resorption, Stoffwechselstatus, Opiat-Rezeptor-Expressionsvariabilität und Blut-Hinschranken-Beschaffenheit. Bezüglich der QTc-Zeit verlängernden Wirkung von Methadon besteht eine Dosisabhängigkeit. Bei Zeiten von mehr als 450 ms sollte eine Dosisreduktion oder, falls dies nicht möglich ist, ein Wechsel des Präparates ins Auge gefasst werden. Buprenorphin kann auch nur jeden zweiten Tag verabreicht werden. Dies kann günstig sein, falls sich die Abgabe von „Take-home-Dosen“ verbietet, da ein sozialer Integrationsprozess durch die Notwendigkeit der täglichen Aufsuchung der Behandlungsstelle gestört werden kann.
C.7.3.3
Arzneistoffe zur Therapie von Kokain- und Psychostimulanzienbezogenen Störungen
C.7.3.3.1 Akute Intoxikation
Insofern das Gebiet der Psychiatrie und Neurologie betroffen ist, kann die akute Intoxikation mit Kokain und Psychostimulanzien – vor allem nach längerdauerndem Gebrauch – zum Auftreten von psychotischen und deliranten Symptomen, Angstzuständen, Panikattacken, Erregungszuständen, akuter Suizidalität, epileptischen Anfällen und neurologischen Schädigungen führen (Preuss et al., 2000). Benzodiazepine sind die Arzneistoffe der Wahl zur Akutbehandlung, falls Reizabschirmung und beruhigendes Zureden nicht zum erwünschten Erfolg führen. Gegeben werden können beispielsweise 5 mg Diazepam p.o. oder i.v. Diese Dosis kann im Bedarfsfalle wiederholt werden. Tonisch-klonische epileptische Anfälle können mit Clonazepam, 1–2 mg i.v., behandelt werden (Soyka, 1998). Längerdauernde und verzögert auftretende psychotische Störungen (toxische Psychosen) bedürfen einer Therapie mit Neuroleptika. C.7.3.3.2 Abhängigkeit und schädlicher Gebrauch
Trotz intensiver Forschung steht noch kein Arzneistoff zur Behandlung der Kokain- und Psychostimulanzien-Abhängigkeit zur Verfügung (De Lima et al., 2002). Die Behandlung von Begleit- und Folgestörungen sowie -Krankheiten ist symptomorientiert und unter den entsprechenden Kapiteln zu finden. Ein relativ häufiger Spezialfall stellt der Missbrauch von Kokain und Psychostimulanzien von Jugendlichen in SubstitutionsBehandlungen für Heroin-Abhängige dar. Manchmal ist bei solchen Patienten die Erhöhung des zur Substitution verwendeten
C.7 Drogen-(Substanz-)bezogene Störungen
Opiats (meist Methadon oder Buprenorphin) in der Lage, den Kokain-Gebrauch zu reduzieren (Borg et al., 1999). C.7.3.4
Arzneistoffe zur Therapie von Halluzinogen-bezogenen Störungen
Mit dem unscharfen Begriff Halluzinogene wird eine Gruppe von Stoffen bezeichnet, die in der Lage sind, Halluzinationen hervor zu rufen, falls sie in (meist) hoher Dosierung eingenommen werden. In diesem Abschnitt werden Störungen durch Halluzinogene im engeren Sinne (Agonisten am 5-HT2ARezeptor; Tryptamine und Phenethylamine) besprochen. Typische Vertreter sind die natürlich vorkommenden Substanzen Meskalin und Psilocybin sowie das halbsynthetische LSD-25. Manchmal auch unter den Halluzinogenen subsumierte Drogen wie z.B. MDMA (Methylendioxy-methamphetamin, „Ecstasy“) oder Cannabis werden in den Abschnitten „Partydrogen“ respektive „Cannabis“ besprochen. Das seine Effekte über den κ-Opiat-Rezeptor entfaltende Halluzinogen Salvinorin A (Wirkstoff des Hexensalbeis) könnte aufgrund theoretischer Überlegungen mit κ-Opiat-RezeptorAntagonisten wirkungslos gemacht werden. Unseres Wissens liegt dazu aber keine publizierte Erfahrung vor. Ein schädlicher Gebrauch und eine Abhängigkeit von Halluzinogenen sind nicht bekannt. Halluzinogene verursachen keine Schädigung menschlicher Organsysteme und sind nicht „belohnend“ (englisch: reinforcing; Nichols, 2004). Gefahren und Schädigungen können allerdings aus dem Rauscherleben resultieren; z.B. falls angenommen wird, man verfüge über übermenschliche Fähigkeiten wie Flugvermögen etc. (Reynolds and Jindrich, 1985). Die pharmakologische Behandlung von unangenehm erlebten Intoxikationen (eng-
411
lisch: horror trips) durch Halluzinogene geschieht durch die Verabreichung von Benzodiazepinen (z.B. 5–10 mg Diazepam p.o.). Neuroleptika sind nicht indiziert, da sie in dieser Indikation meist unwirksam sind und dysphorische Zustände verstärken können (Abraham et al., 1996) Zur medikamentösen Behandlung von Flash-back-Zuständen liegen keine Erkenntnisse vor. C.7.3.5
Arzneistoffe zur Therapie von Cannabinoid-bezogenen Störungen
Über eine effektive Pharmakotherapie dieser Störungen liegen keine gesicherten Erkenntnisse vor. Die Pharmakotherapie von intoxikationsassoziierten Befindlichkeitsstörungen wie z.B. Angst und Tachykardien ist symptomatisch (Benzodiazepine, β-Blocker). C.7.3.6
Arzneistoffe zur Therapie von Partydrogen-bezogenen Störungen
C.7.3.6.1 MDMA
Auf dem Gebiet der Neurologie und Psychiatrie sind akute und längerfristige Komplikationen eines MDMA-Konsums relevant. In Abhängigkeit von Dosis und Frequenz können (teilweise persistierende) psychotische und affektive Störungen auftreten. Auch Grand-mal-Anfälle sind beschrieben worden. Die Therapie ist symptomatisch. Chronischer MDMA-Konsum kann mit (sub-)klinischen Schlafstörungen, Depressivität, Ängstlichkeit, Impulsivität, emotionaler Labilität und kognitiven Einbussen assoziiert sein. Diese Störungen sind eventuell Ausdruck einer Schädigung des zentralen 5-HT-Systems. Die Therapie ist auch hier symptomatisch (Liechti, 2003).
412
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
C.7.3.6.2 GHB, GBL und BDO
In den letzten Jahren haben sich GHB (Gamma-Hydroxybutyrat) und dessen synthetische Vorstufen GBL (Gamma-Butyrolacton) und BDO (1,4-Butandiol), insbesondere in der Technoszene als Stimmungsaufheller und angebliche Aphrodisiaka einen Namen gemacht. Andererseits werden diese Substanzen als After-Party-Drogen verwendet, um nach durchtanzter Nacht wieder zur Ruhe zu kommen. GHB hat auch den Ruf einer „Rape-drug“ erhalten. Intoxikationen mit diesen Stoffen sind potentiell lebensbedrohlich. Insbesondere in Kombination mit Alkohol, Opiaten, aber auch Benzodiazepinen, Barbituraten oder Antihistaminika kann ein lebensgefährlicher Zustand auftreten, mit Erbrechen (Erstickungsgefahr), Senkung der Atemfrequenz bis hin zum Atemstillstand, Muskelzuckungen und –krämpfen, Grand-mal-Anfällen, Blutdruckabfall und komatösen Zuständen. Die Therapie ist symptomatisch (intensivmedizinische Überwachung, Stützung der Vitalfunktionen). Werden diese Stoffe über längere Zeit in genügender Dosierung eingenommen, können sie ein Abhängigkeitssyndrom induzieren, das demjenigen von Alkohol ähnlich ist (McDonough et al., 2004). Die pharmakologische Behandlung ist derjenigen des Alkohol-Entzugssyndroms vergleichbar (inklusive Delir) und kann eine Hospitalisation notwendig machen. C.7.3.7
Arzneistoffe zur Therapie von Sedativa-bezogenen Störungen
C.7.3.7.1 Akute Intoxikation
Auch hier steht ein zwingend i.v. anzuwendender Benzodiazepin-Antagonist zur Verfügung (Flumazenil). Die Anmerkungen, den Einsatz von Opiat-Antagonisten betreffend (s. Kap. C.7.3.2.1), gelten sinngemäß
auch für die Behandlung mit Flumazenil (Auslösung eines Entzugssyndroms, Wiederanflutung der Benzodiazepin-Wirkung von Pharmaka mit längerer t1/2 als 60 min). Eine Ampulle (0,2 mg) wird „titrierend“ über etwa 15 s infundiert. Bei Bedarf können im Minutenabstand weitere Dosen von 0,1 mg bis zu einer Gesamtdosis von 1 g appliziert werden. Liegt eine Epilepsie vor oder ist der behandelte Patient Benzodiazepinabhängig, können – selten – Krampfanfälle auftreten. Dies gilt auch bei Mischintoxikationen, bei denen die Wirkung krampfschwellensenkender Medikamente nach Wegfall eines Benzodiazepin-Schutzes demaskiert werden kann. Flumazenil ist ansonsten gut verträglich und kann im Notfall auch Schwangeren und stillenden Müttern verabreicht werden. C.7.3.7.2 Entzugs-Behandlung
Benzodiazepine können – unter antiepileptischer Abschirmung mit z. B. Carbamazepin (300–500 mg zweimal täglich) – akut abgesetzt werden. Eine Alternative ist die langsame Absetzung. Auch hier kann bei hohen Dosen anfangs schneller, nach der initialen Reduktion dann – klinisch orientiert – vorsichtiger entzogen werden. Je nach Ausgangsdosis kann sich eine Absetzungs-Behandlung über Monate hinziehen. Eine bei therapeutisch indizierter Einnahme auftretende Adaptation ist von einer bei der missbräuchlichen Verwendung induzierten Abhängigkeit abzugrenzen. Aus Ersterer ergibt sich keine Behandlungsindikation (O’Brien, 2005). C.7.4
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C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
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C.8 Enkopresis (ICD-10 F98.1) A. von Gontard, C. Mehler-Wex, Ch. Wewetzer
C.8.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
Enkopresis wird in der ICD-10 (F98.1) umschrieben als „willkürliches oder unwillkürliches Absetzen von Faeces normaler oder fast normaler Konsistenz an Stellen, die im sozio-kulturellen Umfeld des Betroffenen nicht dafür vorgesehen sind.“ Nach der internationalen Rome-III-Klassifikation der pädiatrischen Gastroenterologie (Rasquin et al., 2006) wird unterschieden zwischen • •
der funktionellen Obstipation (mit und ohne Einkoten) und der nicht-retentiven Stuhlinkontinenz.
In anderen Worten: die Obstipation wird als übergeordnete Diagnose definiert, die mit und ohne Stuhlinkontinenz einhergehen kann. Daneben gibt es die zweite Gruppe von Kindern, die zwar einkotet, aber keine Zeichen der Obstipation zeigt. Obstipation lässt sich nicht nur durch eine niedrige Stuhlfrequenz diagnostizieren, da manche Kinder Stuhl trotz täglichen Stuhlgangs retinieren. Andere Symptome wie Bauchschmerzen, Schmerzen bei Defäkation, veränderte Stuhlkonsistenz, reduzierter Appetit und sonografisch erweitertes Rektum sind zu beachten (von Gontard 2004, 2007a). Die Unterscheidung in primäre (nie sauber) und sekundäre (Rückfall nach mindestens 6 Monaten) Enkopresis hat keine therapieleitende Relevanz.
Kinder mit Enkopresis weisen eine hohe Komorbiditätsrate (ca. 30–50%) von psychischen Störungen auf, vor allem bei einer hohen Einkot-Frequenz (Peschke et al., 1999; Mehler-Wex et al., 2005; Joinson et al., 2006; von Gontard, 2007a). Die Störungen sind heterogen und umfassen Trennungs- und generalisierte Angststörungen, soziale und spezifische Phobien, Depression, ADHS und Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten (Joinson et al., 2006). C.8.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
Die Diagnose setzt nach ICD-10 ein Entwicklungsalter von mindestens vier Jahren voraus, eine Einkot-Frequenz von mindestens einmal pro Monat über die Dauer von mindestens drei Monaten und den Ausschluss einer organischen Ursache (körperlich-neurologische Untersuchung und Sonographie – alle anderen diagnostischen Verfahren nur nach Indikation. Zur Differentialdiagnose organischer Ursachen (ca. 5% bei der Enkopresis mit und 8 Jahre). Steigerung um eine 1/4 oder 1/2 Tablette alle 2–3 Tage, verteilt auf 2–3 Dosen/Tag.
424
•
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Eine mittlere Dosierung von 0,3 mg/kg Körpergewicht/Tag sollte angestrebt und mindestens vier Wochen beibehalten werden. Danach bei ungenügender Wirkung Steigerung auf maximal 0,6 mg/kg Körpergewicht/Tag.
Beobachtungsbögen (z. B. wie in von von Gontard und Lehmkuhl, 2002) erleichtern die Dokumentation der Wirkung und die Bestimmung der niedrigsten erforderlichen Dosis. Cave: • Eine maximale Dosis von 15 mg/Tag soll nicht überschritten werden, um UAWs vorzubeugen. • Die Rate an UAWs ist geringer bei langsamer Steigerung. • Als UAWs wurden in letzter Zeit beschrieben (von Gontard und Neveus, 2006): Konzentrationsstörungen und andere zentrale UAWs (Ängste, Apathie, Aggressivität), die die Schulleistung beeinträchtigen können. • Durch Harnretention kann sich Resturin bilden, der wiederum die Wahrscheinlichkeit von Harnwegsinfekten begünstigt. Deshalb sind enge Ultraschallkontrollen empfohlen, vor allem wenn schon vor Beginn der Therapie Resturin vorlag. • Auch eine Obstipation kann begünstigt werden, die wiederum die Drangproblematik verstärken kann (Franco, 2007). • Akkomodationsstörungen (Schläfrigkeit, Schleiersehen, Lichtempfindlichkeit und Pupillenerweiterung) können vor allem bei Behandlungsbeginn, Dosiserhöhung oder Präparatewechsel die Fähigkeit zur aktiven Teilnahme am Straßenverkehr (also auch Fahrradfahren, Skaten usw.) beeinträchtigen. Daher die UAWs unbedingt mit den Eltern
•
und Patienten besprechen und protokollieren lassen. Die Abnahme der Schweißdrüsensekretion kann insbesondere bei Hitze laut Fachinformation Dridase® Tabletten (1998) gelegentlich zu einem Wärmestau im Körper führen.
Die UAWs sind dosisabhängig, reversibel und durch die Parasympathikolyse bedingt: Häufig Mundtrockenheit, gelegentlich verringerte Schweißbildung, Hautrötung, Akkomodationsstörung, Müdigkeit, und vieles mehr. Wenn jedoch zu Beginn der Therapie keine UAWs auftreten, ist Oxybutynin auch langfristig gut verträglich. Oxybutynin und andere anticholinerg wirksame Medikamente verstärken sich in ihrer Wirkung wechselseitig. Das gilt auch für trizyklische Antidepressiva wie das Imipramin. Typische Symptome der Intoxikation sind Mydriasis, Fieber, rote, heiße Haut und trockene Schleimhäute. Hinzu kommen eventuell Erregung, Nervosität, Blutdruckabfall, Tachykardie, bis hin zu Halluzinationen und Koma. Therapie der Intoxikation: Eine Notfallversorgung ist zwingend angezeigt! Die schnelle Sicherstellung einer suffizienten Atmung ist oberstes Ziel! Weitere Maßnahmen bestehen in einer sofortigen Magenspülung. Unterstützend wird Physostigmin langsam i.v. gegeben (bei Kindern 30 μg/ kg Körpergewicht). Nervöse Erregungszustände können mit Diazepam angegangen werden (10 mg langsam i.v.). Bei Tachykardien ist Propanolol i.v. angezeigt. Blasenkatheterisierung erfolgt bei Harnverhalt. C.9.3.2.2 Propiverin
Propiverin ist in seiner Wirksamkeit vergleichbar mit Oxybutynin. Eine erste rando-
C.9 Enuresis und funktionelle Harninkontinenz (F98.0)
misiert-kontrollierte Studie wurde durchgeführt, die eine signifikante Abnahme der Miktions- und Einnässfrequenz sowie eine Zunahme des Urinvolumens nachweisen konnte (Marschall-Kehrel et al., 2008). Die Nebenwirkungsrate von 22 Prozent ist eher geringer als unter Oxybutynin und umfasste Bauchschmerzen, Mundtrockenheit, Obstipation, Akkomodationsstörungen und Kopfschmerzen. Weitere UAWs entsprechen denen von Oxybutynin und sind dosisabhängig und reversibel. Propiverin ist für das Kindesalter zugelassen. Bei fehlendem Ansprechen auf Oxybutynin kann Propiverin eingesetzt werden und umgekehrt. Vor allem bei UAWs ist eine rasche Umstellung auf Propiverin zu empfehlen, da die Nebenwirkungsrate geringer erscheint. Dosierung: Bei Kindern titriert man einschleichend bis zu einer maximalen Dosierung von 0,8 mg/kg Körpergewicht, verteilt auf 2 Gaben. Auch bei Propiverin soll eine maximale Tagesdosis von 15 mg/Tag nicht überschritten werden. C.9.3.2.3 Tolterodin
Der Wirkstoff Tolterodin ist ebenfalls ein Antagonist für muscarinerge ACh-Rezeptoren (s. Kap. A.1.3.1). Die Wirkung von Tolterodin liegt ebenfalls in einer Erhöhung der Harnblasenkapazität und einer Reduktion unkontrollierter Detrusorkontraktionen. Seine Selektivität für die Harnblase ist jedoch größer. Daher sind UAWs deutlich seltener als bei anderen Anticholinergika (Kilic et al., 2006; Nijman et al., 2007). Tolterodin ist derzeit nur für Erwachsene zugelassen. Wegen fehlendem Wirksamkeitsnachweis in großen randomisiert-kontrollierten Studien ist es für Kinder nicht zugelassen (Nijman et al., 2005). Tolterodin wird in Form von Filmtabletten à 1 und 2 mg angewendet.
425
Dosierung: Bei Kindern täglich morgens und abends je 1 mg Tolterodin. Mit dieser Dosierung kann sofort begonnen werden (Hjälmas et al., 2001). Unter höheren Dosen (zweimal täglich 2 mg) steigt die Nebenwirkungsrate deutlich an, Kopfschmerzen stehen dann im Vordergrund, ansonsten entspricht das Profil an UAWs dem der anderen anticholinergen Wirksubstanzen. C.9.3.2.4 Trospiumchlorid
Obwohl für Kinder erst ab 12 Jahren zugelassen, ist Trospiumchlorid eine weitere Alternative, wenn die Standardpräparate Oxybutynin und Propiverin keine adäquate Wirkung zeigen. In einer randomisiert-kontrollierten Studie konnte die Wirksamkeit nachgewiesen werden – mit einer Nebenwirkungsrate von nur 10 Prozent (Lopez Pereira et al., 2003). Die Dosierung beträgt ca. 15 mg/die in 3 Dosen (Erwachsenendosis: 45 mg/die in 3 Dosen). C.9.3.2.5 Weitere Arzneistoffe
Im Erwachsenenbereich sind weitere Anticholinergika wie Darifenacin, Fesoterodin und Solifenacin mit positiven Effekten im Einsatz. Zurzeit ist eine Empfehlung für Kinder noch zu früh. Auch werden bei Erwachsenen Antidepressiva (SSRIs) wie Duloxetin bei der Behandlung der Stressinkontinenz eingesetzt. Auch hierzu ist eine Indikation wegen fehlenden Studien bei Kindern noch nicht zu rechtfertigen. C.9.3.2.6 Methylphenidat
Bei der Lachinkontinenz tritt reflektorisch eine komplette Blasenentleerung auf, die selektiv durch Lachen ausgelöst wird (von Gontard und Neveus, 2006). Dabei kann eine Kataplexie auftreten. Wegen der Überschnei-
426
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
dung von Lachinkontinenz und dem Kataplexie/Narkolepsie-Komplex wurden neben verhaltenstherapeutischen Maßnahmen in einer Studie von einer Pharmakotherapie mit Methylphenidat berichtet (Sher und Reinberg, 1996). Die erforderlichen Dosen sind höher als in der Behandlung von ADHS: 0,3 bis 0,5 mg/kg Körpergewicht Methylphenidat alle vier bis fünf Stunden; zusätzlich 5 bis 20 mg Methylphenidat vor sozialen Aktivitäten, bei denen Lachen induziert werden könnte. C.9.4
Behandlungsstrategien bei komorbiden Störungen
Psychische Begleiterkrankungen sind bei allen Enuresisformen möglich und betreffen 20–40 Prozent aller Kinder. Sie sind jedoch häufiger bei tags als bei nachts Einnässenden und auch häufiger bei den sekundären als den primären Formen. Bei der Enuresis nocturna ist ADHS die häufigste komorbide Störung (Baeyens et al., 2005). Bei tagseinnässenden Kindern ist das Spektrum der Störungen heterogen, aber externalisierende Störungen überwiegen (Joinson et al., 2006). Der Erfolg bezüglich der Enuresis/Harninkontinenz-Therapie ist wegen mangelnder Compliance geringer, wenn eine komorbide Störung vorliegt. Deshalb ist in diesen Fällen beides notwendig: eine symptomorientierte Behandlung der Enuresis/Harninkontinenz und eine kinderpsychiatrische Behandlung der komorbiden Störung. Es ist unbedingt eine multiaxiale psychiatrische Diagnostik durchführen, um komorbide Störungen erkennen und behandeln zu können. Häufige Begleitdiagnosen sind: •
Enkopresis und Obstipation. Diese sollten noch VOR der Enuresis behandelt werden (s. Kap C.8).
•
•
•
Emotionale, introversive Störungen wie Angst oder Depression: Zu deren Behandlungsansatz könnten neben nichtmedikamentösen Maßnahmen auch Antidepressiva (s. Kap. B.1) oder Anxiolytika (s. Kap. B.3) gehören. Cave: anticholinerge Wechselwirkungen! Oppositionelle Störungen. Hierbei stehen verhaltenstherapeutische Maßnahmen im Vordergrund. Selten ist der Einsatz von Medikamenten zur Reduktion von Aggressionen nötig (s. Kap. C.1). Cave: anticholinerge Wechselwirkungen! ADHS. Hierbei ist eine Medikation mit Psychostimulanzien (s. Kap. B.5) erforderlich.
C.9.5
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C.10 Epilepsie M. Romanos, M.S. Kerdar
C.10.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
Etwa fünf Prozent aller Menschen werden im Laufe ihres Lebens einen epileptischen Anfall erleiden. Eine Epilepsie liegt laut Definition allerdings nur dann vor, wenn zwei oder mehr epileptische unprovozierte Anfälle aufgetreten sind. Zum Beispiel hat ein Kind mit einer Meningitis, das in den ersten Tagen Anfälle erleidet, zwar symptomatische epileptische Anfälle, aber noch keine Epilepsie (Holthausen, 2001). Seit 1981 gilt die internationale Klassifikation der Epilepsie, erstellt durch die Internationale Liga gegen Epilepsie (ILAE). In der Revision von 1989 sowie in den publizierten Vorschlägen der „Task Force“ sowie „Core Group“ der ILAE für eine Neufassung der Klassifikation finden ätiologische und lokalisatorische Aspekte zunehmend stärker Berücksichtigung (Commission on Classification and Terminology of the International League Against Epilepsy, 1981, 1990; Engel et al., 2001; Engel, 2006). In diesem Kapitel werden die für die Kinder- und Jugendpsychiatrie relevanten Krankheitsbilder nach dieser Klassifikation geordnet. Auf die Abhandlung spezieller neuropädiatrisch relevanter Syndrome wird hingegen verzichtet.
C.10.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
Zur Diagnosestellung einer Epilepsie ist neben der neurologischen Untersuchung und gründlichen Anamneseerhebung die EEG-Untersuchung unerlässlich. Falls sich der Verdacht auf eine zentrale Läsion oder Raumforderung ergibt, sind bildgebende Verfahren zur Abklärung indiziert. Es gibt wenig klare Hinweise in der Literatur darüber, wann eine dauerhafte antiepileptische Medikation begonnen werden sollte (Laub, 1996). Reflexhaft nach zwei zerebralen Anfällen antiepileptisch zu medizieren, ohne differentialdiagnostische Untersuchung, ist nicht angebracht (Laub, 1996). Als Leitlinie kann gelten: die Indikation zu einer medikamentösen Therapie liegt dann vor, wenn die Anfälle sich als rezidivierend erweisen und wenn sie sich in einem Abstand von mindestens 24 Stunden unprovoziert wiederholen (Krämer, 2000). C.10.3
Wahl der Pharmakotherapie
In der Regel folgen pharmakologische Behandlungsempfehlungen meist der Einteilung in fokale oder generalisierte Syndrome. Betrachtet man jedoch die Empfehlungen der Arzneimittelhersteller, so werden teils Syndrome und teils Anfallsformen (Symptome) als Anwendungsgebiete angegeben. Im Einzelnen werden besprochen:
430
• • • • • • • •
• • • •
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
die benigne Epilepsie mit zentro-temporalen Spikes des Kindesalters, die Epilepsie mit myoklonischen Absencen, die Epilepsie mit myoklonisch-astatischen Anfällen, das Lennox-Gastaut-Syndrom, das Landau-Kleffner-Syndrom, die Epilepsie mit kontinuierlichen „Spike Waves“ im langsamen Schlaf (CSWS), die kindliche Absencen-Epilepsie, idiopathische generalisierte Epilepsien mit variablem Phänotypus wie die − juvenile Absencen-Epilepsie, − juvenile myoklonische Epilepsie und − Epilepsien mit nur generalisierten tonisch-klonischen Anfällen, die autosomal dominante nokturnale Frontallappen-Epilepsie, die familiäre Temporallappen-Epilepsie, limbische Epilepsien und die neokortikale Epilepsie.
Die objektive vergleichende Bewertung der klinischen Wirksamkeit der verschiedenen zur Verfügung stehenden Antiepileptika ist nur unzureichend möglich, da mit alten Wirkstoffen keine oder nur wenige klinischen Studien durchgeführt wurden, die den heutigen Standards zur Durchführung klinischer Studien (kontrolliert, konfirmatorisch) genügen und nur wenige Vergleichsstudien vorliegen. In der Regel werden die Zulassungen der aktuell entwickelten Medikamente zunächst für Erwachsene beantragt. Dies führt dazu, dass die neueren Antiepileptika allenfalls als Add-on-Therapie oder außerhalb des altersbezogenen Anwendungsbereiches („Off-label-Use“; s. Kap. A.2.1.2 und A.2.1.4 zu rechtlichen und ethischen Fragen im Praxisalltag) bei Kindern verabreicht werden. Zum Beispiel ist das im Erwachsenenbereich gut verträgliche Levetiracetam, welches ein breites Wirkungsspektrum besitzt, bei Kindern unter 16 Jahren noch nicht
als Monotherapie zugelassen. Inzwischen gibt es jedoch einige auch für Kinder zugelassene Fertigarzneimittel (s. Kap. B.2). Tabelle C.10.1 gibt einen Überblick über die Empfehlungen für die Auswahl der Antiepileptika zur Therapie der verschiedenen Epilepsieformen. Nähere Angaben zu den im Folgenden genannten Wirkstoffen (wie altersbezogene und symptombezogene Zulassungsbereich, Wirksamkeitsstudien, Dosierungsempfehlungen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Arzneimittelinteraktionen, Anwendungseinschränkungen und besondere Vorsichtsmaßnahmen) finden sich im Spezialkapitel B.2. C.10.3.1 Benigne Epilepsie mit zentro-temporalen Spikes des Kindesalters (RolandoEpilepsie)
Die medikamentöse Therapie dieses Krankheitsbildes wird sehr kontrovers diskutiert. Hierbei ist zu beachten, dass die Diagnose einer Epilepsie nur dann gestellt wird, wenn sensomotorische Anfälle oder Grand-malAnfälle aus dem Schlaf heraus vorliegen. Ansonsten ist nur von einer Abnormalität des EEG auszugehen. Gerade hierzu gibt es unter den Klinikern konträre Meinungen, die zum einen eine medikamentöse Therapie wegen der potentiell begleitenden Teilleistungsstörungen befürworten, zum anderen aber ablehnen, weil kein eindeutiger Zusammenhang zwischen den EEG-Auffälligkeiten und den Teilleistungsstörungen feststellbar sei. In jeweils einer placebokontrollierten randomisierten Studie wurde die Überlegenheit von Sultiam und Gabapentin in der spezifischen Behandlung der Rolando-Epilepsie gegenüber Placebo belegt, offene Studien existieren nur zu Carbamazepin und Valproinsäure (Glauser et al., 2006). Wenn man sich zu einer Therapie entschlossen hat, gilt in Deutschland Sultiam
C.10 Epilepsie
431
Tab. C.10.1 Empfehlungen für die Auswahl der Antiepileptika bei der medikamentösen Therapie verschiedener Epilepsieformen im Kindes- und Jugendalter (nach Ernst und Steinhoff, 2007) Epilepsie-Syndrom
Antiepileptika der 1. Wahl
Antiepileptika der weiteren Wahl
Benigne Epilepsie mit zentrotemporalen Spikes des Kindesalters (Rolando-Epilepsie)
Sultiam
Gabapentin, Levetiracetam, Valproinsäure
Limbische Epilepsien Neokortikale Epilepsie
Oxcarbazepin, Carbamazepin
Gabapentin, Lamotrigin, Levetiracetam, Phenobarbital, Phenytoin, Primidon, Sultiam, Tiagabin, Topiramat, Valproinsäure, Vigabatrin
Kindliche Absencen-Epilepsie
Valproinsäure, Ethosuximid, Lamotrigin
Levetiracetam, Mesuximid, Topiramat
Juvenile Absencen- Epilepsie Juvenile myoklonische Epilepsie, Epilepsie mit myoklonischen Absencen
Valproinsäure
Ethosuximid, Lamotrigin, Primidon, Topiramat
Epilepsien mit nur generalisierten tonisch-klonischen Anfällen
Valproinsäure, Primidon, Phenobarbital
Carbamazepin, Phenytoin
Lennox-Gastaut-Syndrom Epilepsie mit myoklonischastatischen Anfällen
Valproinsäure
Ethosuximid, Lamotrigin, Mesuximid, Rufinamid, Topiramat, Zonisomid, (Felbamat)
Tonische Anfälle
Phenytoin, Primidon, Phenobarbital
Carbamazepin
als Antiepileptikum der ersten Wahl. Für Sultiam ist keine Alterseinschränkung angegeben. Eine niedrige Dosierung von 4–6 mg/ kg Körpergewicht/Tag ist für die Therapie der Rolando-Epilepsie meist ausreichend. Außerhalb Deutschlands wird in erster Linie Valproinsäure eingesetzt (Wheless et al., 2007). Unter Carbamazepin wurde in manchen Fällen eine Verschlechterung hervorgerufen (Prats et al., 1998). Eine Kombinationstherapie sollte bei der Therapie der Rolando-Epilepsie vermieden werden. Mittel der ersten Wahl ist Sultiam, bei nicht zu erreichender Anfallsfreiheit sollte eine Umstellung auf Valproinsäure oder Gabapentin erfolgen.
C.10.3.2 Epilepsie mit myoklonischastatischen Anfällen
Diese Epilepsieform gilt als selten und sie ist schwer zu behandeln. Als Antiepileptika der ersten Wahl gelten Valproinsäure und Ethosuximid (Ernst und Steinhoff, 2007), wobei bei Valproinsäure ein Serumspiegel von 70–100 μg/ml anzustreben ist. Bei nicht ausreichender Wirksamkeit ist die Kombinationstherapie mit Valproinsäure und Ethosuximid und als weitere Möglichkeit die Kombination von Lamotrigin mit Valproinsäure zu empfehlen. Weitere mögliche Schritte wie die Gabe des adrenocorticotropen Hormons (ACTH) sollten nur von erfahrenen (Neuro-)Pädiatern durchgeführt werden.
432
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Die Therapie mit Carbamazepin und Phenytoin sollte vermieden werden, da beide zu einer Verschlechterung des Krankheitsbildes führen können. Benzodiazepine können zu einer Häufung der tonischen Anfälle führen. Die Zunahme von myoklonischen Anfällen wurde auch unter Vigabatrin beobachtet. C.10.3.3 Lennox-Gastaut-Syndrom
Dieses Syndrom gehört zu den schwer behandelbaren Epilepsien. Es gibt zahlreiche Antiepileptika, welche zur Therapie eingesetzt werden können. In der Mehrzahl der Fälle wird mit Valproinsäure (bis 100 mg/kg Körpergewicht/Tag) begonnen, später werden dann Ethosuximid, Mesuximid, Lamotrigin, Topiramat oder Zonisamid eingesetzt und kombiniert (Ernst und Steinhoff, 2007). Auch das neue Antiepileptikum Rufinamid erwies sich in einer placebokontrollierten randomisierten Studie in Monotherapie als wirksam (Glauser et al., 2008). Es sollten zunächst zwei Monotherapien, dann zwei Kombinationstherapien mit je zwei Antiepileptika versucht werden, bevor mit drei oder mehr Wirkstoffen kombiniert wird (Wheless et al., 2007). Liegt ursächlich eine tuberöse Sklerose vor, wird Vigabatrin als Mittel der ersten Wahl angesehen. Es kann jedoch die myoklonischen Anfälle verstärken oder einen Absencen-Status auslösen (Siemes und Borgois, 2001). Felbamat wird aufgrund seiner unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) nicht von allen Autoren empfohlen. Der Einsatz von Felbamat ist erst nach Ausschöpfung aller anderen medikamentösen Möglichkeiten und nur von Spezialisten vorzunehmen.
C.10.3.4 Landau-Kleffner-Syndrom, Pseudo-Lennox-Syndrom, Epilepsie mit kontinuierlichen „Spike Waves“ im langsamen Schlaf (CSWS)
Die Therapie dieser Krankheitsbilder ist identisch. Die medikamentöse Behandlung erfolgt zunächst wie bei der Rolando-Epilepsie mit Sultiam. Dieses wird bei Bedarf mit Clobazam kombiniert. Auch Valproinsäure hat sich als wirksam erwiesen. Eine Kombination von Valproinsäure mit Ethosuximid oder mit Clobazam kann ebenfalls versucht werden, jedoch besteht bei dem Einsatz von Benzodiazepinen die Gefahr eines Rezidivs nach Toleranzentwicklung (Ernst und Steinhoff, 2007). Als letzter Schritt in der medikamentösen Behandlung ist die ACTH-Medikation zu nennen, auf welche in diesem Kapitel nicht näher eingegangen wird. Carbamazepin kann eher zu einer Verschlechterung der Symptomatik mit einer Generalisation der multifokalen „Spike Waves“ führen.
C.10.3.5 Absencen-Epilepsie (kindliche Absencen-Epilepsie, Epilepsie mit myoklonischen Absencen und juvenile AbsencenEpilepsie)
Bei der medikamentösen Behandlung der Absencen-Epilepsie sind Valproinsäure, Ethosuximid und Lamotrigin als Antiepileptika der ersten Wahl zu betrachten, die jeweils Evidenzgrad C gemäß den Empfehlungen der Internationalen Liga gegen Epilepsie bezüglich ihrer Wirksamkeit erreichen (Glauser et al., 2006; vgl. Kap. B.2.). Hierbei ist dem Lamotrigin bei weiblichen Patienten im gebärfähigen Alter Vorrang zu gewähren, da Valproinsäure eine teratogene Wirkung auf den Fetus haben kann. Bei un-
C.10 Epilepsie
zureichender Wirksamkeit ist eine Kombination von Valproinsäure mit Ethosuximid beziehungsweise Valproinsäure mit Lamotrigin sinnvoll (in dieser Kombination wird etwa nur die Hälfte der Lamotrigin-Dosis im Vergleich zur Monotherapie benötigt!). Valproinsäure ist insbesondere wirksam bei myoklonischen Anfällen und bei generalisiert tonisch-klonischen Anfällen. Bei weiterhin bestehenden Anfällen ist eine Überprüfung der Diagnose sinnvoll, da Absencen-Epilepsien zu den medikamentös gut behandelbaren Epilepsien gehören. C.10.3.6 Idiopathische generalisierte Epilepsien mit variablem Phänotypus
Generalisierte Anfälle werden vorrangig mit Valproinsäure therapiert. Wenn die Anfälle schlafgebunden auftreten, wird zunächst eine Einzeldosis abends mit dem Ziel verabreicht, einen Serumspiegel von 60–90 μg/ml in den frühen Morgenstunden zu erreichen. Bei Fortbestehen der Anfälle erfolgt zusätzlich eine Gabe morgens. Bei der juvenilen myoklonischen Epilepsie wird bei unzureichender Wirksamkeit von Valproinsäure eine Kombination mit Lamotrigin, Ethosuximid oder Topiramat empfohlen (Ernst und Steinhoff, 2007). Auch Levetiracetam hat als Zusatzmedikation eine nachgewiesene Wirksamkeit (Noachtar et al., 2008). Die Anwendung von Phenytoin, Carbamazepin und Vigabatrin ist zu vermeiden, da es zur Verschlechterung der Anfallssituation kommen kann (Ernst und Steinhoff, 2007).
433
C.10.3.7 Autosomal dominante nokturnale FrontallappenEpilepsie
Antiepileptikum der ersten Wahl ist Carbamazepin. Die meisten Patienten werden hierunter anfallsfrei. Als Alternativmedikation ist Phenytoin wirksam. Valproinsäure hat sich bei der Therapie dieser Epilepsieform als unwirksam erwiesen. C.10.3.8 Formenkreis der fokalen Epilepsien
Die medikamentöse Therapie der familiären Temporallappen-Epilepsie, der limbischen und der neokortikalen Epilepsie kann sehr unterschiedlich sein. Carbamazepin und Oxcarbazepin sind dabei als erste Wahl anzusehen, wobei Oxcarbazepin im Kindesund Jugendbereich generell besser untersucht ist (vgl. Kap.B.2). Bei ausbleibender Anfallsfreiheit ist eine Umstellung auf Lamotrigin oder Valproinsäure zu empfehlen. Die Kombination mit anderen Antiepileptika wie Topiramat, Tiagabin, Sultiam, Gabapentin, Levetiracetam und Vigabatrin ist als weiterer Schritt möglich. Vigabatrin sollte aufgrund einer möglichen schwerwiegenden Schädigung des Gesichtsfeldes nur von Spezialisten verordnet werden. Barbiturate und Felbamat sind die Therapieoptionen, die als letztes angewandt werden sollten. Bei der Anwendung von Felbamat müssen alle anderen Möglichkeiten bereits ausgeschöpft sein.
434
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Abb. C.10.1. Prozedere bei epileptischem Anfall
C.10 Epilepsie
C.10.4
Behandlungsstrategie
Als Leitlinie zur medikamentösen Behandlung einer Epilepsie gilt eine Monotherapie, die bei Anfallsfreiheit drei bis fünf Jahre fortgesetzt wird. Eine Umstellung der Medikation auf eine andere Mono- oder Kombinationstherapie ist dann indiziert, wenn trotz maximal möglicher Dosissteigerung eine Anfallsfreiheit nicht erreicht wurde und die Grenze des Auftretens UAWs erreicht beziehungsweise überschritten ist. Es ist nicht sinnvoll, sich zu starr an die empfohlenen Wirkspiegel zu klammern, da die Verträglichkeit bei Patienten individuell sehr unterschiedlich ist. Bei noch vorhandenen Anfällen führt im Einzelfall die Anhebung der Dosis über die vom Hersteller angegebene Höchstdosis zu einer Anfallsfreiheit, ohne dass es dabei zu UAWs kommt. In der früheren Klassifikation der Epilepsien wurde die Einteilung in generalisierte und fokale Epilepsien als Richtlinie für die Einleitung der medikamentösen Therapie verwendet. Bei einem Anfall fokalen Ursprungs sind Carbamazepin und Oxcarbazepin als Antiepileptika der ersten Wahl anzusehen. Valproinsäure wird dagegen als Antiepileptikum der ersten Wahl bei der Therapie generalisierter Epilepsien angesehen. Wenn die zuerst verabreichte Medikation auch nach höchstmöglicher Dosierung keine Anfallsfreiheit ergeben hat, dann stellt sich die Frage einer medikamentösen Umstellung. Angesichts der Neuentwicklung von Antiepileptika, die sowohl bei generalisierten als auch bei fokalen Epilepsien wirksam sind, sind bei der Umstellung auf eine andere Monotherapie folgende Aspekte in die Überlegungen miteinzubeziehen: •
•
Welche Arzneimittelwechselwirkungen treten zwischen der Primärmedikation und dem neuen Wirkstoff auf? Wie soll die Umstellung erfolgen?
435
Prinzipiell gilt die Regel, dass eine antiepileptische Medikation eine längerfristige medikamentöse Therapie ist. Das heißt aber nicht, dass es sich hierbei zwangsläufig um eine lebenslange Behandlung handeln muss. Dies hängt vielmehr von der Epilepsieform und deren Prognose ab. Ein Absetzungsversuch der Medikation erfolgt erst nach drei- bis fünfjähriger Anfallsfreiheit und zwar in sehr langsamen Schritten über mehrere Monate. Das jeweilige Vorgehen ist individuell abhängig zu machen von dem gewählten Antiepileptikum, von der Epilepsieform und dem klinischen Verlauf entsprechend den Empfehlungen der Fachgesellschaften (www.leitlinien.net) und den Fachinformationen der jeweiligen Fertigarzneimittel. Dabei ist besonders bei den Antiepileptika Vorsicht geboten, die Entzugskrämpfe auslösen können, wie z.B. Phenobarbital, Clonazepam und Carbamazepin. Bezüglich des Vorgehens bei akut auftretenden epileptischen Anfällen empfehlen wir die in Abb. C.10.1 widergegebene Vorgehensweise. C.10.5
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C.11 Essstörungen (F50.0) B. Herpertz-Dahlmann, Ch. Wewetzer
C.11.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
C.11.1.1 Anorexia nervosa (F50.0)
Die Anorexia nervosa oder Pubertätsmagersucht ist durch einen selbstverursachten, bedeutsamen Gewichtsverlust oder eine unzureichende altersentsprechende Gewichtszunahme gekennzeichnet, die bei vielen, aber nicht allen Patientinnen mit der tief verwurzelten Überzeugung einhergeht, trotz Untergewicht zu dick zu sein. Das Gewichtskriterium für die Definition einer Anorexia nervosa liegt bei 85 Prozent oder weniger des zu erwartenden Gewichtes der entsprechenden Altersgruppe; sowohl ICD-10 als auch DSM-IV legen einen Body Mass Index-(BMI-)Schwellenwert von 17.5 kg/m² als Gewichtskriterium fest. Da sich der BMI mit dem Wachstum und dem Alter verändert, bezeichnet dieser Wert erst ab der späten Adoleszenz tatsächliches Untergewicht. Um der Entwicklungsabhängigkeit des Gewichtskriteriums zu entsprechen, hat die Deutsche Fachgesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP) das 10. Altersperzentil als Gewichtsgrenze (Berechnung über das Internet http://www.mybmi.de) für die Definition einer Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter festgelegt (Herpertz-Dahlmann et al., 2007). Selbstakzeptanz und Selbstwertgefühl sind bei den Essstörungen in hohem Masse an Figur und Aussehen gebunden, die Mehr-
zahl der Betroffenen weist eine Gewichtsphobie und/oder Körperschemastörung auf. Aus diesem Grunde vermeiden anorektische Patientinnen höher kalorische Nahrungsmittel. Das DSM-IV unterscheidet bei der Anorexia nervosa zwischen dem restriktiven Typus, der ausschließlich fastet und/oder exzessiv körperlich aktiv ist, und dem bulimischen Typus. Der letztere ist durch zusätzliche Heisshungeranfälle und/oder den Einsatz eingreifender gewichtsreduzierender Maßnahmen wie selbstinduziertes Erbrechen oder die Einnahme von Laxanzien charakterisiert. Für die Erkrankung besteht bei vielen Betroffenen keine Krankheitseinsicht. Weiterhin ist die Anorexia nervosa durch die Symptome der Kachexie wie z.B. Amenorrhoe, Bradykardie, erniedrigte Körpertemperatur, Akrozyanose, Lanugobehaarung, Osteoporose etc. gekennzeichnet. Wenn nicht alle Kriterien der Anorexia nervosa vorhanden sind, kann nach ICD-10 eine atypische Anorexia nervosa (F50.1) diagnostiziert werden. Zielsymptome in der Therapie der Anorexia nervosa sind • • • • •
das gestörte Essverhalten, die Kachexie (erheblich erniedrigtes Körpergewicht), dysfunktionale Gedanken oder Einstellungen bezüglich Figur und Gewicht, die Körperschemastörung, die Gewichtsphobie und
438
•
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
komorbide depressive, ängstliche oder zwanghafte Störungen.
C.11.1.2 Bulimia nervosa (F50.2)
Charakteristisch für die Bulimia nervosa sind wiederkehrende Heißhungerattacken mit Kontrollverlust. Dabei werden große, meist hoch kalorische, Nahrungsmengen aufgenommen, gefolgt von Verhaltensweisen, die einer Gewichtszunahme entgegenwirken, wie z.B. selbstinduziertes Erbrechen, Fasten, Missbrauch von Laxanzien, Diuretika oder anderen Medikamenten zur Gewichtsreduktion (z.B. Appetitzügler). Die Bulimie ist – wie die Magersucht – durch die krankhafte Furcht, zu dick zu werden, gekennzeichnet. In vielen Fällen, aber nicht immer, besteht eine Körperschemastörung. Wenn nicht alle Kriterien der Bulimia nervosa vorhanden sind, kann nach ICD-10 eine atypische Bulimia nervosa (F50.3) diagnostiziert werden. Zielsymptome in der Therapie der Bulimia nervosa sind • •
• • •
•
Heißhungerattacken mit Kontrollverlust, der bulimische „Teufelskreis“ von Heißhungerattacken, Maßnahmen der Gewichtsreduktion und erneuten Heißhungerattacken, dysfunktionale Gedanken oder Einstellungen zu Figur und Gewicht, die Körperschemastörung und Gewichtsphobie und komorbide Depression, Angst- und Zwangsstörungen, Suchterkrankungen und Impulskontrollstörung; manchmal Persönlichkeitsstörungen, insbesondere Borderline-Störungen.
C.11.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
Zur Diagnose der Essstörungen werden die Leitsymptome erfragt. Organische Ursachen einer Kachexie müssen differentialdiagnostisch ausgeschlossen werden. Zur Feststellung somatischer Begleiterkrankungen, insbesondere Elektrolytveränderungen, Pankreas-, Nierenaffektion, etc. bedarf es labordiagnostischer Maßnahmen. Im Zustand ausgeprägter Kachexie empfiehlt sich eine kardiologische Untersuchung. Wichtig ist auch die Erfassung möglicher komorbider Störungen (z.B. Depression, Zwangs- oder Angststörung). Das grundsätzlich multimodale therapeutische Vorgehen beinhaltet Maßnahmen zur Gewichtsnormalisierung, eine spezifische Therapie des Essverhaltens, einzel- und gruppenpsychotherapeutische Maßnahmen unter Einbeziehung der Familie und des sozialen Umfeldes sowie fakultativ eine medikamentöse Behandlung, vor allem bei der Bulimia nervosa (American Psychiatric Association, 2006). Bei der Bulimia nervosa ist im Kurzzeitverlauf eine Kombinationsbehandlung von kognitiv-behavioraler Psychotherapie und antidepressiver Medikation einer ausschließlichen medikamentösen Behandlung mit einem Antidepressivum überlegen, während sich im Langzeitverlauf kein eindeutiger Unterschied findet. Hingegen gibt es Hinweise dafür, dass die Kombinaton von kognitivbehavioraler Therapie und Antidepressivum der alleinigen Psychotherapie nicht überlegen ist (Mitchell et al., 2001; National Institute for Clinical Excellence, 2004). Die Indikationen für somatische Maßnahmen sind unterschiedlich: Die Behandlung der Kachexie beinhaltet neben der Anhebung des Körpergewichtes auch die Behandlung von somatischen Folgeerscheinungen. Dazu bedarf es z.B. der Substitu-
C.11 Essstörungen (F50.0)
tion von Vitaminen (Vitamin D), Spurenelementen oder Elektrolyten. Die Notwendigkeit einer medikamentösen Therapie kann sich auf die ausgeprägte körperliche Hyperaktivität und die manchmal wahnhaft anmutende Körperwahrnehmungsstörung bei anorektischen Patienten sowie die bulimische Kernsymptomatik (Unterbrechung des „Teufelskreises“ von Heißhungerattacken und Erbrechen) beziehen. In einigen Fällen ist darüber hinaus eine medikamentöse Therapie der begleitenden komorbiden psychopathologischen Auffälligkeiten erforderlich. Zusammenfassend finden sich folgende Indikationen für eine medikamentöse Therapie bei Anorexia nervosa und Bulimia nervosa: • • •
Beeinflussung der anorektischen und bulimischen Psychopathologie, die Verbesserung des somatischen Befindens und die Behandlung komorbider Störungen.
C.11.3
Wahl der Pharmakotherapie
In Deutschland ist kein Medikament für die Behandlung der Anorexia nervosa zugelassen; zur Behandlung der Bulimia nervosa darf Fluoxetin ab 17 Jahren verordnet werden. Hinsichtlich Anwendungsgebiete, indikations- und altersbezogenen Zulassungsstatus, Dosierungsempfehlungen, unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAWs), Arzneimittelwechselwirkungen und Anwendungseinschränkungen wird auf die entsprechenden Kapitel in diesem Buch (B.1, B.3 und B.4) verwiesen. Ein großer Teil der Präparate wird außerhalb des indikations- und altersbezogenen Zulassungsbereiches („Off-labelUse“, s. Kap. A.2.1.2) angewendet. Hierbei gilt es eine Reihe von Gesichtspunkten zu beachten (s. Kap. A.2.1.4).
439
C.11.3.1 Anorexia nervosa
Schon in den 60er/70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts wurde damit begonnen, anorektische Patienten mit Neuroleptika zu behandeln. Damals wurde eine mögliche nosologische Beziehung zwischen Anorexia nervosa und schizophrener Psychose diskutiert. Des Weiteren erhoffte man sich positive therapeutische Ergebnisse durch die sedierenden, anxiolytischen und gewichtssteigernden Wirkungen der Neuroleptika. Die positiven Berichte offener Therapieversuche bestätigten sich jedoch in kontrollierten Studien nicht (Vandereycken, 1984). Ziel einer Behandlung bei Anorexia nervosa mit typischen Neuroleptika kann in Ausnahmefällen eine ausgeprägte Hyperaktivität mit zwanghaft erlebtem Bewegungsdrang sein. In der älteren Literatur finden sich einzelne positive Behandlungsansätze mit z.B. Pimozid (Vandereycken und Pierloot, 1982) oder Sulpirid (Vandereyken, 1984). In der klinischen Praxis haben sich niederpotente Neuroleptika wie Pipamperon oder Melperon bei der Behandlung einer exzessiven motorischen Hyperaktivität oder starken inneren Anspannung bewährt. Thioridazin sollte wegen der Gefahr einer QT-Verlängerung bei essgestörten Patientinnen nicht eingesetzt werden; ein besonderes Risiko liegt bei Störungen des Kalium-Haushaltes vor (Glassman und Bigger, 2001). Bei Patienten mit einer extrem ausgeprägten Gewichtsphobie, schweren Zwängen und einer fast wahnhaft anmutenden Körperschemastörung und chronischem Verlauf (wiederholte stationäre Therapien) kann ein Behandlungsversuch mit atypischen Neuroleptika gemacht werden. Erste positive klinische Erfahrungen sowie Ergebnisse aus offenen Studien liegen hierzu für Olanzapin vor (Mehler et al., 2001; Powers et al., 2002). Bei einer Dosierung von 5–15 mg, in einzelnen schwerwiegenden Fällen auch mehr, wurde
440
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
eine Gewichtszunahme, eine Verbesserung der Gewichtsphobie und der Krankheitseinsicht sowie eine verminderte Hyperaktivität beobachtet, wobei bei letzterem auch der sedierende Effekt von Olanzapin zum Tragen kommen kann (Hillebrand et al., 2005). Eine Verminderung depressiver und ängstlicher Symptomatik bei Anorexia nervosa wurde ebenfalls berichtet (Barbarich et al., 2004). Wie bei der Therapie mit atypischen Neuroleptika erforderlich, muss auf die Entwicklung metabolischer Störungen, insbesondere eines Diabetes mellitus und einer Hyperlipidämie geachtet werden (s. Kap. B.4). Auch extrapyramidal-motorische UAWs können auftreten, wobei nicht ganz klar ist, ob sehr untergewichtige anorektische Patientinnen besonders gefährdet sind. In einer rezenten kontrollierten Studie an einer allerdings kleinen Stichprobe mit 30 ambulanten erwachsenen Magersuchtspatienten war Olanzapin bezüglich der Gewichtszunahme der Placebo-Behandlung nur beim bulimischen Subtypus überlegen (Brambilla et al., 2007). Darüber hinaus ergab sich eine signifikante Verbesserung gegenüber Placebo in einigen psychopathologischen Dimensionen (gemessen anhand von Essstörungsinventaren), z. B. dem Gefühl von Ineffektivität, bei Angst vor dem Erwachsenensein sowie Zwanghaftigkeit. In einer größeren kontrollierten Studie (N=34), ebenfalls an erwachsenen anorektischen Patientinnen, wurde entweder Olanzapin oder Placebo im Rahmen einer tagesklinischen Behandlung über zehn Wochen eingesetzt. In dieser Studie zeigte sich eine signifikant höhere Gewichtszunahme, ein früheres Erreichen des Zielgewichtes und ein stärkere Verbesserung der zwanghaften Symptomatik bei den mit Verum behandelten Patientinnen (Bissada et al., 2008). Vereinzelte offene Studien liegen zu Quetiapin, Risperidon, Aripiprazol und Zi-
prasidon vor; bei letzterem muss das Risiko einer verlängerten QT-Zeit (Cave: Hypokaliämie beim bulimischen Typus) besonders bedacht werden. Im ambulanten Setting ist eine ausreichende Compliance anorektischer Patientinnen bei der Verordnung von atypischen Neuroleptika aufgrund einer möglichen Gewichtszunahme vielfach nicht gegeben. Unter der Annahme einer nosologischen Verwandtschaft zwischen affektiven Störungen und Essstörungen wurden trizyklische Antidepressiva verabreicht. Dabei bestand die Hoffnung, dass nicht nur der thymoleptische Effekt, sondern auch bestimmte Sekundärwirkungen dieser Wirkstoffe für den Behandlungsverlauf günstig sein könnten. Am häufigsten wurden Amitriptylin und Clomipramin eingesetzt. So zeigte sich in verschiedenen offenen Therapiestudien bei Erwachsenen nicht nur ein positiver thymoleptischer Effekt, sondern auch eine appetitsteigernde sowie initial sedierende Wirkkomponente. In den kontrollierten Untersuchungen konnte jedoch kein signifikanter Einfluss auf das Ausmaß der Gewichtszunahme beziehungsweise die Reduktion depressiver oder Anorexie-spezifischer Symptome nachgewiesen werden. Beobachtet wurden zum Teil beträchtliche UAWs (Biederman et al., 1985; Halmi et al., 1986). Neuere Untersuchungen liegen zu SSRIs, in erster Linie Fluoxetin, vor. Dabei muss zwischen Gewichtsrehabilitationsphase und „Gewichtshaltephase“ unterschieden werden. Bei untergewichtigen anorektischen Patientinnen erwies sich eine Behandlung mit SSRIs nicht als wirksam (Attia et al., 1998; Ferguson et al., 1999). Dies ist wahrscheinlich auf eine verminderte SerotoninKonzentration im Gehirnstoffwechsel zurückzuführen, die sich durch eine restriktive Diät mit unzureichender Tryptophan-Zufuhr (der metabolischen Vorstufe von Serotonin, s. Kap. A.1) erklären lässt. Ein ähnlicher Ef-
C.11 Essstörungen (F50.0)
fekt lässt sich für depressive Patienten unter SSRI-Medikation nachweisen, die eine hypokalorische Diät einhalten (Delgado et al., 1999). In einer kontrollierten, einjährigen Untersuchung an jungen Erwachsenen zur Rückfallprophylaxe wurde nachgewiesen, dass Fluoxetin im Vergleich zu Placebo eine geringere Rückfallrate, eine verbesserte Gewichtsstabilisierung sowie eine Reduktion depressiver Symptome bewirkte (Kaye et al., 2001). Allerdings war diese Untersuchung durch eine sehr kleine Stichprobe sowie eine hohe Drop-out-Rate beeinträchtigt. Mehr als die Hälfte der angefragten Patientinnen stimmte schon vor Beginn der Studie einer Teilnahme nicht zu. In einer kontrollierten, multizentrischen Studie erhielten 93 gewichtsrehabilitierte Patientinnen gleichzeitig Fluoxetin und eine kognitiv-behaviorale Psychotherapie. Fluoxetin wies keinen zusätzlichen Effekt im Vergleich zu Placebo auf, auch nicht auf depressive und/ oder Angstsymptome (Walsh et al., 2006). Aufgrund der Ergebnisse dieser Studie liegt keine ausreichende Evidenz für die Wirksamkeit von Fluoxetin als Rückfallprophylaxe vor. In einer retrospektiven Untersuchung an Adoleszenten, die nach Erreichen der 10. BMI-Perzentile bis ein halbes Jahr nach Entlassung mit diversen SSRIs behandelt wurden, konnte kein Effekt der medikamentösen Therapie auf Essstörungs-Symptomatik, Depression und Zwangssymptome im Vergleich zu Patienten ohne medikamentöse Therapie nachgewiesen werden (Holtkamp et al., 2005). Andere Beobachtungen verweisen darauf, dass eine Behandlung von depressiver, Angst- oder Zwangssymptomatik bei gewichtsnormalisierten anorektischen Patientinnen – allerdings immer in Kombination mit Psychotherapie – hilfreich sein kann (Powers und Bruty, 2009). Bei der Behandlung dieser Symptome bei Anorexia nervosa mit SSRIs wurde
441
diskutiert, ob die Medikation eine möglicherweise kontraproduktive Beeinflussung des Sättigungsgefühls mit daraus resultierendem Gewichtsverlust bewirken könnte. Diese Vermutung hat sich in den bisherigen Studien und in der klinischen Praxis jedoch nicht bestätigt. Die Mehrzahl der komorbiden psychischen Störungen bei Anorexia nervosa wird durch die Starvation aggraviert und zum Teil sogar hervorgerufen, was eindrucksvoll in dem so genannten Minnesota-Experiment von Keys und Kollegen (1950) bei Gesunden gezeigt werden konnte. Aus diesem Grund sollte der „antidepressive“ und „antiobsessive“ Effekt der Gewichtsrehabilitation vor dem Einsatz einer Pharmakotherapie abgewartet werden. Besteht trotz Gewichtsstabilisierung eine deutliche depressive Symptomatik und/oder war vor Beginn der Anorexie bereits eine depressive Symptomatik vorhanden, so kann die Gabe von SSRIs hilfreich sein. Allerdings fehlen auch zu dieser Fragestellung kontrollierte Studien. Anxiolytika vom Benzodiazepin-Typ kamen mit dem Ziel einer Reduktion antizipatorischer Ängste vor den Mahlzeiten bei magersüchtigen Patientinnen zum Einsatz. Ausführlichere kontrollierte Untersuchungen zur Gabe von Benzodiazepinen liegen jedoch nicht vor. Eine Indikation besteht manchmal bei schwerkranken Patientinnen, bei denen es zur krisenhaften Zuspitzung von Ängsten und extremer körperlicher Unruhe kommt. Wegen dem Abhängigkeitspotenzial von Benzodiazepinen ist eine längerfristige Anwendung obsolet (s. Kap. B.3). Lithiumsalz-Präparate, deren stimmungsstabilisierende Wirkung bei affektiven Psychosen gesichert ist (s. Kap. B.6), wurden ebenfalls bei anorektischen Patienten, insbesondere im Hinblick auf ihre stimmungsstabilisierenden und gewichtssteigernden Effekte eingesetzt. In einer kontrollierten Studie zeigte sich in der Gruppe, die mit ei-
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C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
nem Lithiumsalz-Präparat behandelt wurde, gegen Ende der Behandlung eine signifikante Gewichtszunahme (Gross et al., 1981). Allerdings müssen die Ergebnisse hinterfragt werden, da Placebo- und LithiumsalzPräparat-Gruppe nur unzureichend parallelisiert wurden. Eine positive Beeinflussung Anorexie-typischer Symptome konnte nicht beobachtet werden. Basierend auf Befunden zur Bedeutung noradrenerger Mechanismen für die Regulation von Hunger und Sättigung wurde auch Clonidin eingesetzt, ohne dass jedoch positive Wirkungen im Hinblick auf die Gewichtszunahme oder die Beeinflussung magersuchtstypischer Verhaltensauffälligkeiten auftraten (Casper et al., 1987). C.11.3.2 Bulimia nervosa
Ähnlich wie bei der medikamentösen Behandlung der Anorexia nervosa gibt es auch für die Bulimia nervosa kaum kontrollierte Untersuchungen bei jugendlichen Patientinnen. Die meisten der im Folgenden angeführten Untersuchungen beziehen sich auf junge Erwachsene. Es liegt eine ganze Reihe von kontrollierten Untersuchungen über die Wirksamkeit von Antidepressiva in der Behandlung der Bulimie vor (Walsh und Develin, 1992; Mitchell et al., 1993; Bacaltchuk et al., 2000). Die verwendeten Antidepressiva waren trizyklische Antidepressiva (wie Amitriptylin, Desipramin und Imipramin), aber auch SSRIs (wie Fluoxetin und Fluvoxamin). Die Antidepressiva bewirkten im Vergleich zu Placebo im Behandlungsverlauf signifikante Besserungen. Diese bezogen sich sowohl auf die Reduzierung von bestehenden Heißhungerattacken mit Kontrollverlust als auch auf die Reduktion von selbst induziertem Erbrechen. Die einzelnen Antidepressiva wiesen keine signifikanten Wirksamkeitsunterschiede auf.
Für die Behandlung bulimischer Essstörungen sind deutlich höhere Dosen erforderlich als zur Behandlung einer depressiven Symptomatik. Dies wurde z.B. für Fluoxetin in einer multizentrischen Studie nachgewiesen (Fluoxetin Bulimia Nervosa Collaborative Study Group, 1992). In dieser Studie war eine Dosis von 60 mg der einer Dosis von 20 mg in Bezug auf die Reduktion von Heisshungerattacken und selbstinduziertem Erbrechen signifikant überlegen. Entsprechende Dosen von Fluvoxamin liegen bei 100–150 mg. Eine positive Wirkung zeigt sich in vielen Fällen frühzeitig, d.h., manchmal schon nach einer Woche. Eine offene, nicht-kontrollierte Studie bei zehn adoleszenten Patientinnen mit Bulimia nervosa zeigte ebenfalls eine signifikante Reduktion von Essanfällen und Erbrechen unter der Behandlung mit 60 mg Fluoxetin/Tag. Die Patienten erhielten vor Medikationsbeginn eine vierwöchige supportive Psychotherapie als Vorbereitung auf die medikamentöse Behandlung (Kotler et al., 2002). Obwohl einige Studien auf eine prophylaktische Wirksamkeit der SSRIs verweisen (Fichter et al., 1996; Romano et al., 2002), zeigen andere, dass Rückfälle nicht selten auch bei weiterer Medikamenteneinnahme auftreten (Walsh et al., 1997). In einzelnen Studien wurden zu Behandlung der Bulimia nervosa Carbamazepin oder Lithiumsalz-Präparate eingesetzt, ohne dass Überlegenheit gegenüber Placebo nachgewiesen werden konnte. C.11.3.3 Verbesserung der somatischen Voraussetzungen
Liegt eine schwerwiegende Kachexie vor, empfiehlt sich eine vorsichtige Gewichtsrehabilitation mit einem langsamen Nahrungsaufbau, beginnend mit ca. 800 bis 1000 Kilokalorien. Dabei sollte eine übermäßige Fettzufuhr vermieden werden, da diese zu einem Anstieg der
C.11 Essstörungen (F50.0)
Amylase wie auch Lipase führen kann. Gefährlich ist auch das so genannte „RefeedingSyndrom“, das mit einer Hypophosphatämie einhergeht und kardiologische, renale und neurologische Komplikationen hat. Bei ausgeprägter Kachexie im Rahmen einer Anorexia nervosa ist eine kontinuierliche Gewichtsrehabilitation notwendig. Empfohlen wird eine wöchentliche Gewichtszunahme zwischen 500 und 1000 g (National Institute for Clinical Excellence, 2004). Ist ein Patient nicht in der Lage, selbstständig Nahrung zu sich zunehmen, kann eine Sondenernährung indiziert sein. Dabei hat sich folgendes Vorgehen bewährt: •
•
•
Beginn mit einer Sondenmenge von 500 bis 800 Kilokalorien pro Tag (je nach vorheriger Nahrungszufuhr). Wenn die anorektischen Patienten nicht nur ihre orale Nahrungsmenge, sondern auch ihre Flüssigkeitszufuhr erheblich eingeschränkt haben, muss die Flüssigkeitszu- und -ausfuhr bilanziert werden. Eine zu hohe oder auch zu plötzliche Flüssigkeitssubstitution kann zu kardialen Komplikationen (vor allem Perikarderguss), aber auch zu reversiblen Hirnödemen mit der Gefahr epileptischer Anfälle führen. Meist sind über den Tag, inklusive Sondennahrung, zwei bis zweieinhalb Liter ausreichend. In den nächsten Tagen langsame Steigerung bis zu einer täglichen Nahrungsmenge zwischen 2200 und 2500 Kilokalorien pro Tag. Aufgrund des sich verändernden Grundumsatzes muss die notwendige Nahrungsmenge oft mehrfach angepasst werden. Der Phosphatwert ist vor allem bei Ernährung mit Nahrungsersatzpräparaten („Sondenkost“) regelmäßig zu kontrollieren (s.o.), und bei Hypophosphatämie eine vorsichtige Phosphat-Substitution anzustreben.
443
•
•
•
Zu Beginn des Nahrungsaufbaus ist tägliches Wiegen sinnvoll, sollte aber später auf zweimal oder sogar nur einmal wöchentlich reduziert werden. Viele anorektische Patientinnen klagen über erhebliches Völlegefühl nach den Mahlzeiten. Bei der hungerbedingten Gastroparese können motilitätssteigernde Medikamente wie Metoclopramid oder Domperidon eingesetzt werden. Allerdings können insbesondere bei sehr untergewichtigen Patientinnen extrapyramidale UAWs beobachtet werden. Bei Zinkmangel wird Zink (als Brausetablette) substituiert. Verschiedene placebokontrollierte Untersuchungen zeigten jedoch bei Zink-Substitution keine einheitliche signifikante Verbesserung des klinischen Bildes (Birmingham et al., 1993; Lask et al., 1993).
Zur Osteoporose-Prophylaxe sollte körperliche Inaktivität (z.B. ganztägige Bettruhe) grundsätzlich vermieden werden. Sinnvoll ist von Beginn der Behandlung an ein krankengymnastisch oder durch die Pflegedienstmitarbeiter betreutes Bewegungsprogramm. Es sollte auf eine ausreichende Calcium-Zufuhr (mindestens 1200 mg täglich) geachtet werden sowie eine ergänzende Substitution von Vitamin D (400 IU) vorgenommen werden (Heer et al., 2004). In bisherigen Untersuchungen konnte nicht nachgewiesen werden, dass eine hormonelle Substitution zu signifikanten Besserungen des Knochenbaus führt (Golden, 2003). Die beste Osteoporose-Prophylaxe ist eine vollwertige Ernährung im Sinne der Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ernährung mit kontinuierlicher Gewichtsnormalisierung. Das Adipozyten-Hormon Leptin muss nämlich einen bestimmten Schwellenwert überschreiten, um den Wiederanstieg von FSH und LH und damit eine ausreichende Östrogenproduktion anzustoßen (Holtkamp et al., 2003).
444
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Selbstinduziertes Erbrechen, Dehydration und Abführmittelabusus (Typus „purging“) erfordern eine regelmässige Kontrolle der Elektrolyte. Als Folge von Erbrechen und Abführmittelmissbrauch wird häufig eine Hypokaliämie beobachtet, die zu kardialen Auffälligkeiten, im schlimmsten Falle mit vitaler Bedrohung, aber auch zu Nephropathien und Myopathien führen kann.
einer Agitation, die bei Kindern und Jugendlichen häufiger auftritt als bei Erwachsenen, empfiehlt sich ein Beginn mit niedriger Dosierung, die langsam gesteigert werden sollte. Ein Effekt ist häufig erst drei bis vier Wochen später zu beobachten. Für die Dauer der Behandlung und das Absetzprocedere gelten die Kriterien der jeweils komorbiden Störung.
C.11.4
C.11.4.2 Bulimia nervosa
Behandlungsstrategien
C.11.4.1 Anorexia nervosa
In der Akutbehandlung können bei einer ausgeprägten Hyperaktivität und „inneren“ Unruhe niederpotente Neuroleptika oder auch Benzodiazepine hilfreich sein. Bewährt hat sich eine Gabe von z.B. Pipamperon oder Melperon (Dosierungsempfehlungen s. Tab. B.4.5.15 und B.4.5.9) oder Lorazepam (Dosierungsempfehlungen s. Tab. B.3.5.10). Die Gabe sollte über den Tag verteilt sein. Die Medikation wird überwiegend zu Beginn der Behandlung benötigt und kann meistens mit zunehmender Gewichtsrehabilitation reduziert und „ausgeschlichen“ werden. Auch Olanzapin kann sich zu Behandlungsbeginn – oft schon in niedriger Dosierung – bei ausgeprägten Spannungszuständen und Gewichtsphobie als hilfreich erweisen. Bei chronischer Kachexie muss eine Leukopenie berücksichtigt werden. Regelmässige EKGKontrollen sind erforderlich. Cave: Bei ausgeprägter Kachexie treten zu Beginn der Behandlung häufiger orthostatische Probleme auf. Deshalb sollten die Patientinnen anfangs nach dem Aufstehen begleitet werden. Nach Gewichtsrehabilitation kann bei Fortbestehen einer ausgeprägt depressiven oder zwanghaften Symptomatik die Gabe eines SSRI empfehlenswert sein. Wegen der Gefahr eines zusätzlichen Appetitverlustes oder
Die Medikation mit einem SSRI kann in der Akut- und Langzeitbehandlung (Rezidivprophylaxe) der Bulimie indiziert sein. Da die Psychotherapie die wirksamere Behandlungsform ist, sollte ein primärer Versuch mit kognitiver Verhaltenstherapie gemacht werden; erlebt der Patient nach sechs Behandlungsstunden keine Besserung der Symptomatik, ist häufig die zusätzliche Gabe eines SSRIs angezeigt. Die meisten Erfahrungen liegen mit Fluoxetin und Fluvoxamin vor. Es ist jedoch möglich, dass auch die anderen SSRIs ähnlich gut wirksam sind. Für die Gabe von Fluoxetin spricht in einigen Fällen die längere Plasmahalbwertzeit, da die Medikation häufiger mit der eingenommen Mahlzeit erbrochen wird. Zu Beginn empfiehlt sich eine Anfangsdosis von 10 mg, die innerhalb von einigen Tagen bis einer Woche auf 20 mg Fluoxetin erhöht werden kann. Danach kann alle ein bis zwei Wochen um weitere 20 mg bis zur Maximaldosis von 60 mg/Tag gesteigert werden. Vielfach empfiehlt sich die Weiterführung der Medikation für sechs bis zwölf Monate als Rezidivprophylaxe, es kann allerdings auch unter der Medikation mit SSRIs zu einem Rückfall kommen. Sinnvoll ist die Gabe von SSRIs auch dann, wenn Zwang und Depression als komorbide Störungen nach Gewichtsrehabilitation vorliegen (s. Kap. C.7 und C.18).
C.11 Essstörungen (F50.0)
C.11.5
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C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
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C.12 Manische Episode (F30) und bipolare affektive Störung (F31) S. Rothenhöfer, M. Scheifele, Ch. Wewetzer
C.12.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
Die klinischen Kriterien der ICD-10 definieren die manische Episode (F30) durch eine gehobene oder gereizte Stimmung und eine deutliche Antriebssteigerung. Folgende Subtypen sind zu unterscheiden: • • •
Hypomanie (F30.0), Manie (F30.1) sowie Manie mit synthymen (F30.20) oder parathymen (F30.21) psychotischen Symptomen (F30.2).
Weitere Symptome sind zumeist ein gesteigertes Selbstwertgefühl und Selbstüberschätzung, Rededrang, Ideenflucht, Verlust normaler sozialer Hemmungen, erhöhte Ablenkbarkeit, vermindertes Schlafbedürfnis, gesteigerte Libido, Wahrnehmungsveränderungen und Wahnvorstellungen. Diese definierten Krankheitsmerkmale sind zugleich die Zielsymptome der medikamentösen Behandlung: Die Pharmakotherapie soll die Stabilisierung der Stimmung und des Antriebs, das Erreichen einer Verhaltenskontrolle und Schlafregulierung sowie das Abklingen einer eventuell psychotischen Symptomatik bewirken. Die bipolare affektive Störung (F31) ist nach ICD-10 charakterisiert durch wiederholte Episoden einer affektiven Störung, wobei zumindest eine Episode manische Merkmale beinhalten muss. Bei der bipolaren Störung mit schnellem Phasenwechsel
(englisch: rapid cycling) treten mindestens vier Episoden innerhalb eines Jahres auf. Eine gemischte Episode ist gekennzeichnet durch eine Mischung oder einen raschen Wechsel manischer und depressiver Symptome. Die internationalen Klassifikationskriterien nach ICD-10, die eine Episode mehr verlangen als das Klassifikationssystem DSM-IV der American Psychiatric Association, sind vermutlich einer der Gründe, dass die bipolare Störung in Europa bei Kindern und Jugendlichen deutlich seltener diagnostiziert wird als in den USA. Die differentialdiagnostische Abklärung zur hyperkinetischen Störung bedingt des Weiteren die unterschiedliche Prävalenz. Während in Europa viele der Symptome unter ADHS subsumiert werden, wird in den USA oft bereits eine bipolare Störung diagnostiziert, zum Teil werden auch beide Störungsbilder als Komorbidität klassifiziert. Die Qualität und Ausprägung der affektiven Symptomatik differiert im Kindesalter häufig deutlich von dem Krankheitsverlauf eines Erwachsenen (Findling 2005): Die Episoden sind oft weniger klar abgegrenzt bzw. z.T. sehr viel länger oder auch fluktuierender als bei Erwachsenen, die Symptome weniger stark ausgeprägt und weniger spezifisch. Sowohl in ICD-10 als auch in DSM-IV fehlen altersspezifischere Klassifikationskriterien für Kinder und Jugendliche.
448
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
C.12.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
Bei den manischen und bipolaren Erkrankungen sind drei Behandlungsbereiche zu unterscheiden: • • •
die akute Behandlung der manischen Episode, die akute Behandlung der depressiven Episode (s. Kap. C.6) sowie die Langzeitbehandlung mit 1. der Erhaltungstherapie und 2. der Phasenprophylaxe.
Vor Behandlungsbeginn muss die Diagnose klinisch gesichert sein. Die Indikation zur medikamentösen Behandlung der akuten Symptomatik ist mit der Diagnose gegeben. Eine Phasenprophylaxe ist bei hoher Rezidivwahrscheinlichkeit, die bei erblicher Belastung anzunehmen ist, und mit dem Auftreten einer zweiten Episode indiziert. Die pharmakologische Behandlung hat Vorrang und sollte bei einer akuten Symptomatik nur unter stationären Bedingungen erfolgen. Psychotherapeutische Verfahren dienen der Stressreduktion, der Förderung sozialer Kompetenzen und dem Erlernen von Problemlösestrategien. Eine Aufklärung über das Wesen der Erkrankung, die Art der Therapie und eine Familienberatung sind unabdingbar. Alltagsbelastung und kognitive Anforderungen sollten schrittweise gesteigert und eine Wiedereingliederung in Schule beziehungsweise Beruf stufenweise angestrebt werden. Häufig sind über die klinische Behandlung hinaus zusätzliche re-integrative Maßnahmen notwendig, weshalb eine intensive Kooperation mit der Jugendhilfe erforderlich werden kann (weiterführend: Kusumakar et al., 2002; Wewetzer und MehlerWex, 2003; Steinberger et al., 2007; SchulteMarkwort et al., 2008).
C.12.3
Wahl der Pharmakotherapie
Nähere Angaben zu den im Folgenden aufgeführten Neuro-Psychopharmaka wie altersund symptombezogene Anwendungsgebiete, Studien zur Wirksamkeit, Dosierungsempfehlungen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs), Arzneimittelinteraktionen, Anwendungseinschränkungen und besondere Vorsichtsmaßnahmen finden sich in den jeweiligen Spezialkapiteln B.1–B.4 sowie B.6. C.12.3.1 Lithiumsalz-Präparate
Im Erwachsenenalter werden manische und bipolare Erkrankungen seit Jahrzehnten mit Lithiumsalz-Präparaten behandelt; die Wirksamkeit wurde bereits in den 70erJahren des vorigen Jahrhunderts in placebokontrollierten Doppelblindstudien nachgewiesen (Bowden, 1998; Maj, 2000; Benkert und Hippius, 2007). Dennoch gelten Lithiumsalz-Präparate nicht uneingeschränkt als Mittel der ersten Wahl (Reetz-Kokott und Müller-Oerlinghausen, 1996). Im klinischen Alltag lässt sich dies durch die enge therapeutische Breite, die eine zuverlässige Einnahme und Serumspiegel-Kontrollen erfordert, sowie durch Compliance beeinträchtigende UAWs begründen (Bowden, 2000; Dobmeier, 2003). Im Kinder- und Jugendbereich sind Lithiumsalz-Präparate nach den Leitlinien zu Diagnostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter (Steinberger et al., 2007) die Medikation der ersten Wahl in der Behandlung akuter manischer Symptome sowie zur Phasenprophylaxe bei bipolarer affektiver Störung. Die Lithiumsalz-Präparate sind allerdings in Deutschland nicht für die Anwendung im Kindes- und Jugendalter zugelassen, jedoch besteht in den USA eine Zulassung zur Be-
C.12 Manische Episode (F30) und bipolare affektive Störung (F31)
handlung manischer Episoden bei Kindern, die 12 Jahre und älter sind (s. Kap. B.6). In Tab. B.6.2 sind die in Deutschland zur Verfügung stehenden Lithiumsalz-Präparate, deren psychiatrischen Indikationen und Hinweise zur Anwendung bei Kindern und Jugendlichen zusammen gefasst. Hinsichtlich der antimanischen Wirksamkeit bei Jugendlichen (N=25) mit bipolarer Störung und Substanzabusus berichteten Geller et al. (1998) in einer sechswöchigen randomisierten placebokontrollierten Doppelblindstudie positive Effekte. Kowatch et al. (2000) beschrieben in einer randomisierten, prospektiven Vergleichsstudie mit 42 ambulant behandelten Kindern und Jugendlichen die Monotherapie einer manischen Symptomatik mit einem Lithiumsalz-Präparat ohne gravierende UAWs ebenfalls als wirksam. Bezüglich der Erhaltungstherapie beschrieben Strober et al. (1990) in einer prospektiven Fallstudie mit 37 Jugendlichen eine verminderte Rückfallrate durch die Behandlung mit LithiumsalzPräparaten bei bipolarer Störung. Aufgrund der engen therapeutischen Breite einer Lithiumsalz-Therapie ist eine hohe Zuverlässigkeit seitens der Patienten und Sorgeberechtigten unabdingbar. Durch die anfängliche Wirklatenz ist in den ersten Wochen bis Monaten nach Medikationsbeginn eine Komedikation mit Neuroleptika oder Benzodiazepinen in der Regel unerlässlich (Gerlach et al., 2006). Insgesamt gilt, dass eine Monotherapie mit Lithiumsalz-Präparaten zumeist nur bei leichten Manien ohne psychotische Merkmale oder als Rezidivprophylaxe möglich ist. C.12.3.2 Stimmungsstabilisierende Antiepileptika
Als Behandlungsalternative zu LithiumsalzPräparaten können stimmungsstabilisieren-
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de Antiepileptika (s. Kap. B.6 und B.2) wie Valproinsäure, Carbamazepin und Lamotrigin als Monotherapeutika sowie in Kombination mit atypischen Neuroleptika oder Lithiumsalz-Präparaten zur Behandlung der akuten Manie und zur Phasenprophylaxe erwogen werden. Im Erwachsenenbereich ist Valproinsäure zur Behandlung manischer Syndrome sowie in retardierter Form zur Phasenprophylaxe zugelassen. Carbamazepin hat bei Erwachsenen die Zulassung zur Phasenprophylaxe bipolarer affektiver Störungen, wenn eine Behandlung mit Lithiumsalzen nicht ausreichend oder möglich ist. Lamotrigin ist zur Prävention depressiver Episoden im Rahmen einer bipolaren Störung zugelassen. Es gibt Hinweise, dass Valproinsäure bei gereizten und gemischten Episoden vorteilhaft ist (Benkert und Hippius, 2007). Auch im Kindes- und Jugendalter ließen sich gute Behandlungserfolge für Valproinsäure bzw. in amerikanischen Studien auch Divalproex (1:1 molares Verhältnis aus Valproinsäure und dem Natriumsalz) nachweisen. Pavuluri et al. (2005) beschrieben Divalproex in einer sechsmonatigen prospektiven Studie mit 34 ambulanten Kindern und Jugendlichen mit gemischter Episode bei bipolarer Störung als wirksam und gut verträglich. In einer weiteren prospektiven Studie mit 40 an bipolarer Störung erkrankten Patienten (Alter 7–19 Jahre) erwies sich Divalproex über einen Zeitraum bis zu acht Wochen als wirksam. Es sei zu keinen gravierenden UAWs gekommen; am häufigsten wurden Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Diarrhoe und Somnolenz beschrieben (Wagner et al., 2002). Kowatch et al. (2000) zeigten in ihrer prospektiven, randomisierten Vergleichsstudie mit 42 ambulant behandelten Kindern und Jugendlichen, dass sowohl die Monotherapie mit Divalproex als auch die Kombinationstherapie mit Carbamazepin bei bipolarer Störung ohne schwerwiegende UAWs wirksam ist.
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C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Chang et al. (2006) beschrieben in einer offenen, prospektiven achtwöchigen Studie die Wirksamkeit von Lamotrigin als Monobzw. Kotherapeutikum ohne gravierende UAWs bei 20 Jugendlichen mit bipolarer Depression. Im Erwachsenenbereich gibt es einzelne Hinweise zur Wirksamkeit auch anderer Antiepileptika wie z.B. Gabapentin und Oxcarbazepin (Benkert und Hippius, 2007). Im Kindes- und Jugendalter wurde eine placebokontrollierte Doppelblindstudie mit Topiramat aufgrund fehlender Wirksamkeit in Studien mit manischen Erwachsenen vorzeitig beendet (DelBello et al., 2005). Als UAWs zeigten sich bei insgesamt guter Verträglichkeit Appetitminderung, Übelkeit, Diarrhoe und Parästhesien. Tramontina et al. (2007) beschrieben Topiramat in der Erhaltungsphase bei zehn Jugendlichen mit bipolarer Störung als wirksam; positiv zeigte sich in der elfwöchigen Studie eine Gewichtsabnahme bei unter Vormedikation erfolgter Zunahme des Körpergewichtes. Neben Appetitverlust zählten auch Müdigkeit, formale Denkstörungen und Konzentrationsprobleme als UAWs. In einem retrospektiven Chart-Review zeigten sich positive Effekte bei 25 Kindern und Jugendlichen mit bipolarer Störung durch eine Komedikation mit Topiramat (Barzman et al., 2005). Aufgrund der fehlenden klinischen Erfahrungen können andere Antiepileptika als Valproinsäure, Carbamazepin und Lamotrigin zum momentanen Zeitpunkt noch nicht empfohlen werden. C.12.3.3 Neuroleptika
Akute Manien werden in Deutschland traditionell vor allem mit Neuroleptika behandelt (Adler et al., 1996). Lange Zeit wurden hochpotente Neuroleptika vorzugsweise bei Manien mit psychotischen Merkmalen, niedrigpotente, sedierende Neuroleptika bei
Antriebssteigerung eingesetzt. Der schnelle Wirkungseintritt der Neuroleptika ist hierbei von Vorteil. Inzwischen rückt die Behandlung mit atypischen Neuroleptika zunehmend in den Vordergrund (Berk und Dodd, 2005; Benkert und Hippius, 2007). Im Erwachsenenbereich sind Olanzapin, Risperidon und Quetiapin zur Behandlung manischer Syndrome zugelassen. Ziprasidon hat die Zulassung für die Behandlung manischer und gemischter Episoden mäßiger Ausprägung. Olanzapin ist bei Wirksamkeit in der akuten Episode auch zur Phasenprophylaxe zugelassen. Aripiprazol ist sowohl für die Behandlung mäßiger bis schwerer manischer Episoden als auch zur Prävention neuer manischer Episoden bei Wirksamkeit in der Akutphase und Krankheitsverläufen mit überwiegend manischen Episoden zugelassen. Für die Behandlung mit atypischen Neuroleptika bei bipolarer Störung im Kindesund Jugendalter liegt noch keine Zulassung vor, jedoch zeigten die nachfolgend beschriebenen Studien sowohl in der Monoals auch in der Kombinationstherapie eine gute Wirksamkeit. Olanzapin erwies sich in einer randomisierten, placebokontrollierten Doppelblindstudie mit 107 Patienten über drei Wochen in einer Dosierung von 2,5–20 mg/die bei Jugendlichen mit manischer oder gemischter Episode als wirksam (Tohen et al., 2007). Als signifikante UAWs zeigten sich eine Gewichtszunahme sowie Laborveränderungen im Sinne eines Anstiegs der Parameter Prolaktin, Nüchternglukose, Nüchtern-Gesamtcholesterol, Harnsäure und der Leberenzyme. Bei gleicher Dosierung ergaben sich auch in einer prospektiven, offenen Studie mit 23 an bipolarer Störung erkrankten Kindern und Jugendlichen positive Verläufe (Frazier et al., 2001). Auch Kasuistiken beschrieben positive Effekte von Olanzapin als Komedikation bei vier Jugendlichen mit bi-
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polarer Störung (Emiroglu et al., 2006) und drei Kindern mit manischer Syptomatik (Chang und Ketter, 2000). DelBello et al. (2006) verglichen in einer Doppelblindstudie über vier Wochen die Effekte von Quetiapin versus Divalproex bei 50 Jugendlichen mit manischer Symptomatik; Quetiapin führte in einer Dosierung von 400– 600 mg/die zu einer tendenziell rascheren und deutlicheren Verbesserung der Manie bei häufigerer Sedierung und Mundtrockenheit. Auch in einer früheren Doppelblindstudie zeigte eine Kombinationstherapie mit Quetiapin (Dosierung im Mittel 432 mg/ die) und Divalproex gegenüber Divalproex und Placebo über sechs Wochen eine signifikant stärkere Verbesserung der manischen Symptomatik und als UAW eine Sedierung bei insgesamt 30 Jugendlichen (DelBello et al., 2002). In einem retrospektiven ChartReview zeigte Quetiapin bei 32 Kindern und Jugendlichen mit überwiegend bipolarer Störung als Mono- bzw. Kotherapeutikum positive Effekte (Marchand et al., 2004). Risperidon (mittlere Dosis 1,25 ± 1,5 mg/die) erwies sich in einer achtwöchigen prospektiven Studie als Monotherapeutikum bei 30 Kindern und Jugendlichen mit bipolarer Störung als wirksam (Biederman et al., 2005c); Gewichtszunahme und Prolaktin-Anstieg wurden als signifikante UAWs berichtet. In einer sechsmonatigen offenen Studie mit 37 Patienten im Kindesund Jugendalter in Kombination sowohl mit einer Lithiumsalz-Medikation als auch Divalproex zeigte sich Risperidon als wirksam ohne schwerwiegende UAWs (Pavuluri et al., 2004). In einer retrospektiven Fallstudie (N=6) wurde die positive Auswirkung einer Zusatzmedikation mit Risperidon (mittlere Dosis 0,85 mg/die) auf insbesondere die aggressive Komponente einer Manie, bei mit Stimmungsstabilisatoren behandelten Kindern und Jugendlichen berichtet. Risperidon habe bis auf die Sedierung und Akathisie ei-
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nes Patienten kaum UAWs gezeigt (Saxena et al., 2006). Frazier et al. (1999) beschrieben in einem Chart-Review die Wirksamkeit von Risperidon bei 28 jungen Patienten (Durchschnittsalter 10,4 Jahre) mit bipolarer Störung; exemplarisch anzumerken sind hierbei jedoch die hohe Komorbiditität mit einer hyperkinetischen Störung (89%) sowie häufige Kotherapien mit beispielsweise Psychostimulanzien (71%) oder trizyklischen Antidepressiva (43%). Jeweils 18 Prozent der Patienten zeigten als UAWs eine Sedierung und Gewichtszunahme. Masi et al. (2002) berichteten in einer Fallstudie die Wirksamkeit von Clozapin (mittlere Dosis 142,5 ± 73,6 mg/die) über 12–24 Monate bei zehn jugendlichen Patienten mit manischer Symptomatik. Als UAWs wurden Sedierung, eine Gewichtszunahme, Sialorrhoe und Enuresis genannt. Ebenso beschrieben Kowatch et al. (1995) positive Behandlungsverläufe mit Clozapin als Monotherapeutikum bei bipolarer Störung im Kindes- und Jugendalter. Biederman et al. (2007b) zeigten in einer achtwöchigen prospektiven, offenen Studie mit 19 Kindern und Jugendlichen die Wirksamkeit der Behandlung mit Aripiprazol (mittlere Dosis 9,4 ± 4,2 mg/die) als Monotherapie bei bipolarer Störung, des Gleichen zwei retrospektive Chart-Reviews (Barzman et al., 2004; Biederman et al., 2005a). In der offenen Studie beschrieben Biedermann et al. (2007b) extrapyramidal-motorische Symptome bei zwei Patienten. Ansonsten zeigten sich in allen Studien keine gravierenden UAWs; Barzman et al. (2004) berichteten eine häufige Sedierung (33%), Akathisie (82%) sowie bei sieben Prozent der Patienten gastrointestinale Probleme. Ziprasidon erwies sich als Monotherapeutikum bei 21 Kindern und Jugendlichen mit bipolarer Störung in einer achtwöchigen prospektiven, offenen Studie bei guter Verträglichkeit als signifikant wirksam (Bieder-
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C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
man et al., 2007a). Ebenso beschrieb Barnett (2004) in einer Kasuistik (N=4) gute Behandlungsverläufe mit Ziprasidon vor allem bei Kindern mit bipolar hypomaner und depressiver Symptomatik. Frappierend ist im Unterschied zu den Behandlungsstandards in Europa das niedrige Alter der Patienten in einigen der amerikanischen Studien; so wurde teilweise die Diagnose der bipolaren Störung bereits im Vorschulalter (Biederman et al., 2005b; Pavuluri et al., 2006) gestellt. Kritisch zu betrachten sind auch die zumeist hohe Komorbidität mit einer hyperkinetischen Störung sowie die häufige Komedikation der Studienpatienten. C.12.3.4 Benzodiazepine als adjuvante Kotherapeutika
Benzodiazepine (z.B. Lorazepam) können bei manischen Syndromen nicht als Monotherapeutika verwendet werden, sind aber in der vollstationären Behandlung als Komedikation häufig hilfreich. C.12.3.5 Sonstige Pharmaka
Vereinzelt wurde bei der Behandlung Erwachsener eine Wirksamkeit von CalciumAntagonisten und Schilddrüsenhormonen berichtet (Post et al., 1996; Grunze et al., 2002; Müller-Oerlinghausen et al., 2002). Aufgrund der begrenzten Datenbasis können diese Therapieverfahren nicht im kinder- und jugendpsychiatrischen Bereich empfohlen werden. Eine prospektive Studie zur Gabe von Omega-3-Fettsäuren bei 20 Kindern und Jugendlichen mit bipolarer Störung zeigte bei guter Verträglichkeit nur eine geringe Verbesserung der manischen Symptomatik (Wozniak et al., 2007). Zusammengefasst kann auch die Gabe von Omega-3-Fettsäuren zur Therapie bei bipolarer Störung bislang noch nicht empfohlen werden (Kowatch et al., 2005).
C.12.4
Behandlungsstrategie
C.12.4.1 Akuttherapie
Abhängig von der Symptomatik und der Kooperation des Patienten wird bei akuter Manie die in Tab. C.12.1 beschriebene Behandlung mit Stimmungsstabilisatoren und/oder Neuroleptika empfohlen. In Tab. C.12.2 sind Empfehlungen für die Dosierung mit Lithiumsalz-Präparaten zusammengefasst. In der Behandlung von Erwachsenen sowie mitunter auch im Kindes- und Jugendalter (Findling et al., 2003) werden darüber hinaus bei Monotherapie-Resistenz Kombinationen von Lithiumsalz-Präparaten und stimmungsstabilisierenden Antiepileptika eingesetzt (Grunze et al., 2002; Jungkunz, 2003; Benkert und Hippius, 2007). Hierbei muss jedoch auf ein erhöhtes Risiko für UAWs geachtet werden. Nach Abklingen der Akutsymptomatik wird empfohlen, eine Erhaltungstherapie (symptomsuppressive Therapie) über sechs bis zwölf Monate fortzuführen und bei durchgängiger Gabe der stimmungsstabilisierenden Medikation (Lithiumsalz-Präparat, Antiepileptikum, atypisches Neuroleptikum) die Zusatz-Medikation (z.B. typisches Neuroleptikum, Antidepressivum) schrittweise zu reduzieren (vgl. auch Kap. B.6.2). C.12.4.2 Phasenprophylaxe
Die Indikation zur Phasenprophylaxe ergibt sich aus einer hohen Rezidivwahrscheinlichkeit (erbliche Belastung) und einer deutlichen Gefährdung der sozialen Integration sowie nach dem Auftreten einer zweiten Episode. Die Dauer einer Prophylaxe muss nach dem vollständigen Abklingen der akuten Phase mindestens 18 Monate betragen und sollte bei entsprechender Indikation unbegrenzt fortgeführt werden. Bei der Medikation zur Phasenprophylaxe wird das in Tab. C.12.3 skizzierte, gestufte Vorgehen empfohlen.
C.12 Manische Episode (F30) und bipolare affektive Störung (F31)
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Tab. C.12.1. Akuttherapie der Manie (vgl. auch Kap. B.6.2) Symptomatik
Neuro-Psychopharmaka
Leichtgradige Manie ohne psychotische Symptome, kooperativer Patient
Lithiumsalz-Präparat
Leichtgradige Manie ohne psychotische Symptome, Sedierung notwendig, kooperativer Patient
Lithiumsalz-Präparat + niedrig- bis mittelpotentes Neuroleptikum/Benzodiazepin
Mittelgradige bis schwere Manie mit psychotischen Symptomen, kooperativer Patient
Lithiumsalz-Präparat + (vorzugsweise atypisches) Neuroleptikum
Erhöhtes Risiko eines malignen neuroleptischen Syndroms und neurotoxischer Symptome (vor allem klassische Neuroleptika), Lithiumsalz-Präparate + Clozapin: erhebliche EEG-Abnormalitäten
Mittelgradige bis schwere Manie mit psychotischen Symptomen, Sedierung notwendig, kooperativer Patient
Lithiumsalz-Präparat + (vorzugsweise atypisches) Neuroleptikum + niedrig- bis mittelpotentes Neuroleptikum/Benzodiazepin
Clozapin + Benzodiazepin: cave: Atemdepression
Mittelgradige bis schwere Manie mit psychotischen Symptomen, unkooperativer Patient; Lithiumsalz-Medikation nicht möglich
(Vorzugsweise atypisches) Neuroleptikum
Höheres Risiko von Spätdyskinesien (vor allem bei klassischen Neurolepika) als bei der Behandlung einer Schizophrenie
Mittelgradige bis schwere Manie mit psychotischen Symptomen, Sedierung notwendig, unkooperativer Patient; Lithiumsalz-Medikation nicht möglich
(Vorzugsweise atypisches) Neuroleptikum + niedrig- bis mittelpotentes Neuroleptikum/Benzodiazepin
Clozapin + Benzodiazepin: cave: Atemdepression
Lithiumsalz-Medikation nicht möglich oder nicht ausreichend
Valproinsäure oder Carbamazepin
Carbamazepin beschleunigt durch Enzyminduktion den eigenen und den Abbau anderer Neuro-Psychopharmaka (z.B. Neuroleptika, trizyklische Antidepressiva), vor allem SSRIs erhöhen den Carbamazepinspiegel, Carbamazepin + Neuroleptika: cave: Blutbildungsstörungen, Carbamazepin + Clozapin sollten nicht kombiniert werden (cave: Agranulozytose)
SSRIs, selektive Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer
Besonderheiten/ Wechselwirkungen
454
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Tab. C.12.2. Dosierungsempfehlungen für Lithiumsalz-Präparate (nach Gerlach et al., 2006 und Steinberger et al., 2007) Akute Therapie
Serumspiegel 1,0–1,5 mmol/l Serumspiegelkontrollen zweimal wöchentlich, Bestimmung 12 Stunden nach der letzten Medikamenteneinnahme, Fließgleichgewicht (Steady-state) nach ca. 1 Woche Wirkeintritt nach 5–21 Tagen
Phasenprophylaxe
Serumspiegel 0,6–1,2 mmol/l Serumspiegelkontrollen zweimal monatlich Retard-Medikation bevorzugen (Initialdosis z.B. 200–400 mg/Tag Lithiumcarbonat; Dosissteigerung um 200–400 mg in Intervallen von 3–5 Tagen, entscheidend sind Serumspiegel und Psychopathologie)
Tab. C.12.3. Phasenprophylaxe-Therapie (vgl. auch Kap. B.6.2 und Tab. C.12.2) Indikation
Medikation
Besonderheiten/Wechselwirkung
Indikation zur Phasenprophylaxe
Lithiumsalz-Präparat
Voller stimmungsstabilisierender Effekt manchmal erst nach Monaten, antisuizidale Wirkung.
Behandlung mit Lithiumsalz-Präparaten nicht möglich oder nicht ausreichend
Retardiertes Valproinsäure- oder CarbamazepinPräparat
Valproinsäure ist besser verträglich als Carbamazepin.
Nicht ausreichende Wirkung der Monotherapie mit LithiumsalzPräparaten
Lithiumsalz-Präparat + Valproinsäure- oder Carbamazepin-Präparat
Beide Serumspiegel müssen kontrolliert werden. Auch bei normwertigen Serumspiegeln besteht bei der Kombination von Lithiumsalzen und Carbamazepin ein erhöhtes Risiko für Nebenwirkungen.
Bei antimanischer Wirksamkeit von Olanzapin
Olanzapin
Schneller Wirkungseintritt.
C.12.4.2.1
Lithiumsalz-Präparate
Aufgrund der geringen therapeutischen Breite (zur Lithium-Intoxikation s. Kap. B.6.2) richtet sich die Dosierung nach dem Serumspiegel und dem klinischen Bild (Wirkung, UAWs, Krankheitsverlauf). In Tab. C.12.4. sind Empfehlungen für die Dosierung mit Lithiumsalz-Präparaten zusammen gefasst. Die Einstellung mit Lithiumsalz-Präparaten sollte nur unter stationären Bedingungen erfolgen. Bei Jugendlichen wird empfohlen, die Behandlung einschleichend mit 8 mmol/ Tag (z.B. 300 mg/Tag Lithiumcarbonat)
zu beginnen und jeden 3.–4. Tag um 8 mmol/Tag (z.B. 300 mg Lithiumcarbonat) zu steigern. Bei Kindern, die weniger als 25 kg wiegen, sollte die Anfangsdosis zwischen 4 und 8 mmol/Tag (z.B. 150–300 mg/Tag Lithiumcarbonat) liegen. Die Enddosis kann ca. 0,8 mmol/kg Körpergewicht/Tag; z.B. ca. 30 mg/kg Körpergewicht/Tag Lithiumcarbonat) betragen, entscheidend ist der Serumspiegel, der besonders bei der Aufdosierung engmaschig kontrolliert werden muss (s. Kap. B.6). Die Dosierung sollte in zwei Einzelgaben (1/3 morgens, 2/3 abends) erfolgen.
C.12 Manische Episode (F30) und bipolare affektive Störung (F31)
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Tab. C.12.4. Dosierungsempfehlungen für die stimmungsstabilisierenden Antiepileptika Carbamazepin und Valproinsäure (nach Bowers, 1998 und Steinberger et al., 2007) Carbamazepin
Serumspiegel 4–12 μg/ml. Initialdosis bei Kindern 50–100 mg/Tag, Initialdosis bei Jugendlichen 100–200 mg/ Tag, Dosissteigerung um 100–200 mg in Intervallen von ca. 2 Tagen bis zu einer Dosis von 600–1200 mg/Tag (15–30 mg/kg Körpergewicht), verteilt auf ca. 3 Einzelgaben. Wirkeintritt nach 7–14 Tagen. Retard-Präparat bevorzugen.
Valproinsäure
Serumspiegel 50–100 μg/ml. Initialdosis 10 mg/kg Körpergewicht/Tag, Dosissteigerung jeden 3. Tag bis zu einer Dosis von 600–1500 mg/Tag (ca. 20 mg/kg Körpergewicht). Wirkeintritt nach 3–10 Tagen.
Bei der Kombination von Lithiumsalz-Präparaten und Neuroleptika wird empfohlen, die Neuroleptika eher niedrig zu dosieren und den Lithium-Serumspiegel nicht über 1 mmol/l einzustellen. Der Serumspiegel ist eine wesentliche Orientierung, entscheidend ist jedoch die klinische Symptomatik (s. Kap. B.6.2). Nach der Absetzung von LithiumsalzPräparaten kann der Wirkungseffekt bei einer erneuten Therapie reduziert sein und sich das Rückfallrisiko erhöhen. Wird die Medikation mit Lithiumsalzen beendet, sollte die Dosierung nur schrittweise im Verlauf von Monaten reduziert werden.
•
• C.12.4.2.2
Stimmungsstabilisierende Antiepileptika
Die Dosierung der stimmungstabilisierend wirkenden Antiepileptika richtet sich nach dem Serumspiegel. Dosierungsempfehlungen sind in Tab. C.12.4 zusammengefasst. C.12.4.2.3
Neuroleptika
Die Wahl des Neuroleptikums ist von der Zielsymptomatik abhängig. •
Atypische Neuroleptika (vor allem Olanzapin) werden zunehmend bei der Behand-
lung manischer Syndrome in Kombination mit Lithiumsalz-Präparaten oder Antiepileptika, aber auch als Monotherapie eingesetzt. Clozapin wurde in der Behandlung von Erwachsenen auch bei therapieresistenten manischen Symptomen als wirksam beschrieben (Benkert und Hippius, 2007), aufgrund der speziellen Anwendungsbestimmungen für Clozapin (s. Kap. B.4) sollten dennoch erst alle anderen Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft werden. Bei psychotischer Symptomatik sind hochpotente Neuroleptika (z.B. Haloperidol) und symptomatisch bei Antriebssteigerung niedrig- bis mittelpotente Neuroleptika (z.B. Chlorprothixen) indiziert.
Die Dosierung der Neuroleptika wird analog der Behandlung bei Schizophrenie (s. Kap. C.15) empfohlen. Bei der Kombination von Lithiumsalz-Präparaten und Neuroleptika sollten die Neuroleptika eher niedrig dosiert und der Lithium-Serumspiegel nicht über 1 mmol/l eingestellt werden. C.12.4.2.4
Benzodiazepine
Benzodiazepine können bei Agitation oder Schlaflosigkeit als Komedikation die The-
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C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
rapie der akuten Manie unterstützen und angstlösend wirken. Zur Verfügung steht beispielsweise Lorazepam. Generell gilt, dass Benzodiazepine aufgrund des Risikos einer potenziellen Abhängigkeitsentwicklung nur kurzfristig eingesetzt werden sollten. C.12.4.3
Empfehlungen zur Umstellung der Medikation
Von einer Therapieresistenz in der Langzeitbehandlung ist auszugehen, wenn mindestens fünf Episoden und hiervon zwei in den letzten drei Jahren aufgetreten sind (Jungkunz, 2003). Die Umstellung von Lithiumsalz-Präparaten auf Carbamazepin oder Valproinsäure sollte überlappend über einige Monate erfolgen. Bei einer Umstellung von Carbamazepin auf Valproinsäure ist abhängig von der Valproinsäure-Serumkonzentration ein rascheres Vorgehen empfehlenswert. C.12.4.4
Besonderheiten
C.12.4.4.1
Empfehlungen bei bipolarer Störung mit schnellem Phasenwechsel (rapid cycling)
Aufgrund des Manie induzierenden Effektes (trizyklische Antidepressiva > SSRIs) sollten keine Antidepressiva gegeben werden. Am ehesten wird die Behandlung mit Valproinsäure oder Olanzapin, eventuell auch in Kombination empfohlen. Steht die Behandlung depressiver Episoden im Vordergrund, sollte als Stimmungsstabilisator Lamotrigin erwogen werden (Benkert und Hippius, 2007).
C.12.4.4.2
Empfehlungen bei rezidivierenden manischen Episoden
Eine Phasenprophylaxe sollte wie bei bipolaren affektiven Störungen erfolgen, wobei hierzu nur wenige klinische Erfahrungen vorliegen. Olanzapin kann, wenn es sich hinsichtlich der manischen Symptomatik als wirksam erwiesen hat, bei rezidivierenden manischen Episoden empfohlen werden. C.12.4.4.3
Empfehlungen bei bipolaren Depressionen
Aufgrund des momentanen Kenntnisstandes empfehlen wir bei einer leichten Depression auf die zusätzliche Behandlung mit einem Antidepressivum zu verzichten, um das Risiko der Induktion einer manischen Episode oder eines schnellen Phasenwechsels zu vermeiden. Bei schweren depressiven Symptomen sollte zusätzlich mit einem Antidepressivum (vorzugsweise SSRI) behandelt werden. Lamotrigin zeigte sich in einer offenen, prospektiven Studie in der Behandlung von 20 Jugendlichen mit bipolarer Depression als effektiv (Chang et al., 2006). C.12.5
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458
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
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C.12 Manische Episode (F30) und bipolare affektive Störung (F31)
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C.13 Elektiver (selektiver) Mutismus (F94.0) K. Klampfl, J. Seifert
C.13.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
Elektiver oder selektiver Mutismus (lateinisch Mutitas, Stummheit) ist nach der ICD-10 den „Störungen sozialer Funktionen mit Beginn in Kindheit und Jugend“ (F 94) zugeordnet. Biologische Konstitution („gehemmtes Temperament“), Modelllernen, Kulturwechsel und Erschwernisse des Spracherwerbs gelten als Risikofaktoren. Eine familiäre Disposition wird postuliert, da mutistische Kinder und Jugendliche im Gegensatz zu gesunden Kontrollen signifikant häufiger ausgeprägt schüchterne Familienangehörige haben, die vermehrt selbstunsicher sind, selbst selektiv mutistisch oder krankhaft ängstlich sind (zur Übersicht Melfsen und Warnke, 2007). Allgemein sind die Familien durch ein erhöhtes Maß an psychopathologischen Auffälligkeiten charakterisiert (Remschmidt, 2001). In einer kontrollierten Studie war der Anteil der Eltern, die in ihrem Leben irgendwann unter einer sozialen Phobie gelitten haben, bei Kindern mit Mutismus im Vergleich zur Kontrollgruppe erhöht, was die Annahme einer familiären Vergesellschaftung von Mutismus und sozialer Ängstlichkeit stützt (Chavira et al., 2007). Hinzu kommen die Krankheit aufrecht erhaltende Faktoren wie vermehrte Zuwendung, Mittelpunktstellung in der Familie oder Vermeidung unangenehmer Situationen. Langzeitstudien sehen im elek-
tiven Mutismus einen möglichen Vorläufer für die Entwicklung einer sozialen Phobie im Erwachsenenalter (Sharkey und Mc Nicholas, 2008). Nach der ICD-10 unterscheidet man einen elektiven (selektiven) Mutismus (F 94.0) vom totalen Mutismus. Der elektive Mutismus ist durch selektives Sprechen mit bestimmten Personen oder in definierten Situationen gekennzeichnet. Artikulation, rezeptive und expressive Sprache der Betroffenen liegen in der Regel im Normbereich, allenfalls sind sie – bezogen auf den Entwicklungsstand – leicht beeinträchtigt. Das mutistische Verhalten entwickelt sich meist langsam kontinuierlich und findet sich zumeist bei sozial ängstlichen, selbstunsicheren, empfindsamen und scheuen, aber auch „widerspenstigen“ Kindern, die typischerweise in der vertrauten Umgebung sprechen, im Kindergarten, in der Schule oder in fremden Situationen jedoch nicht (Dobslaff, 2005; Hartmann, 2006). Für die Diagnose wird eine gewisse Konstanz und Persistenz der Symptomatik sowie eine Mindestdauer der Störung von einem Monat gefordert. Im DSM-IV ist auch die Beeinträchtigung des schulischen oder beruflichen Alltags als diagnostisches Kriterium in der Klassifikation enthalten. Beim totalen Mutismus werden sämtliche sprachliche Äußerungen eingestellt, die Fähigkeit zu sprechen ist aber grundsätzlich gegeben.
462
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Differenzialdiagnostisch sind Entwicklungsstörungen des Sprechens und der Sprache, fehlendes Sprachverständnis (z.B. bei Migrationshintergrund), Sprachverlustsyndrome aufgrund hirnorganischer Schädigungen (z.B. Schädel-Hirn-Trauma, Aphasie), Hörstummheit (audi mutitas), schizophrene Psychosen sowie Taubheit oder eine eingeschränkte Hörfähigkeit abzugrenzen. Zielsymptome im Rahmen der medikamentösen Therapie sind die eventuell bestehenden Ängste und/oder emotionalen Störungen (Übersicht zur Therapie: Melfsen und Warnke, 2007). C.13.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
Da die Störung zur Chronifizierung neigt, muss eine frühzeitige Behandlung sichergestellt werden. In der Regel ist bei mutistischen Störungen eine individuell abgestimmte, mehrdimensionale Intervention unter Einschluss von kognitiv-verhaltenstherapeutischen, familientherapeutischen, psychosozialen und psychopharmakologischen Elementen empfehlenswert (Cohan et al., 2006). Eine ausführliche Aufklärung und Beratung der Eltern des Kindes oder Jugendlichen und der Erzieher beziehungsweise Lehrer stellt eine wichtige Grundvoraussetzung für eine effektive Umsetzung der Behandlungsmaßnahmen dar. Das Therapieziel besteht darin, die Kinder zum verbalen Kommunizieren zu bringen, und zwar nicht nur in der therapeutischen Situation, sondern in den alltäglichen, angstbesetzten Situationen (Melfsen und Warnke, 2007). Prinzip der Verhaltenstherapie ist es, das Sprechen mit Erwachsenen und Therapeuten operant zu verstärken, um allmählich eine Generalisierung aufzubauen (Kontingenzmanagement). Hier kann zunächst mit einer Förderung des nonverbalen Kommunikationsverhaltens begonnen und
im nächsten Schritt dann sprachliches Verhalten systematisch gefördert und belohnt werden, während es gilt, mimisch-gestische Kompensationen abzubauen. Um das Sprechpotenzial aktiv zu erhöhen, kommen auch Modelllernen und Expositionsverfahren zum Einsatz. Kognitive verhaltenstherapeutische Elemente tragen dazu bei, dem Kind die Angst vor dem Sprechen zu nehmen und eine positive Verstärkung aller sprachlichen Äußerungen zu unterstützen. Es empfiehlt sich eine Kombination von Einzel- und Gruppentherapie (zur Förderung sozialer Kompetenzen und verschiedener, auch nicht-sprachlicher, kommunikativer Fähigkeiten) sowie Familienberatung. Der familientherapeutische Zugang dient dazu, die Einflüsse und Bedingungen ausfindig zu machen, welche die Störung möglicherweise ausgelöst und/oder aufrecht erhalten haben, insbesondere aber um die familiären Fähigkeiten zur Kotherapie zu nutzen. Bei den psychosozialen Interventionen werden die jeweilige Bezugsgruppe (z.B. Kindergarten, Schule) sowie die Freizeitaktivitäten in den Gesamtbehandlungsplan mit einbezogen. Der Patient wird durch kreative Einzel- und Gruppenaktivitäten (z.B. Sport) darin gefördert, ein normales kommunikatives Verhalten zu entwickeln (Melfsen und Warnke, 2007). C.13.3
Wahl der Pharmakotherapie
Ergänzend zu den oben genannten Behandlungsansätzen ist insbesondere bei den ängstlich-depressiven Mutismusformen eine medikamentöse Therapie mit Fluoxetin oder Imipramin im Rahmen einer „Off-label-Anwendung“ (s. Kap. A.2.1.2 und A.2.4) indiziert, wenn psychotherapeutische Interventionen allein nicht genügend erfolgreich waren (Kakkeh und Stumpf, 2008). Studien mit kleinen Fallzahlen, kurzer Beobachtungsphase und Einzelfallberichte zeigen,
C.13 Elektiver (selektiver) Mutismus (F94.0)
dass einige Patienten mit Mutismus auf eine Therapie mit anderen SSRIs, z.B. Sertralin, ansprechen (Carlson et al., 1999). In kontrollierten klinischen Studien konnten für die genannten Antidepressiva und auch für den in Deutschland nicht verfügbaren irreversiblen, unselektiven MAO-Hemmer Phenelzin (s. Kap. A.1) positive Wirkeffekte nachgewiesen werden (Black und Uhde, 1994; Dummit et al., 1996). In der doppelblind, placebokontrollierten Studie von Black und Uhde (1994) betrug die mittlere maximale Dosis 0,6 mg/kg/Tag Fluoxetin, in der offenen Studie von Dummit et al. (1996) die mittlerer Dosis 28 mg/Tag. Nähere Angaben zu Fluoxetin und Imipramin (Dosierungsempfehlungen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen, Arzneimittelinteraktionen, Anwendungseinschränkungen und besondere Vorsichtsmaßnahmen) finden sich im Spezialkapitel B.1. Die Erfahrungen mit anderen Antidepressiva sind begrenzt und nicht zu verallgemeinern (Leitlinien zu Diagostik und Therapie von psychischen Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter, Döpfner et al., 2007). Eine kurzfristige Gabe von Angst reduzierenden Benzodiazepinen kann im klinischen Alltag in Einzelfällen hilfreich sein. C.13.4
Behandlungsstrategien
Für die Praxis gilt, dass die Behandlung vorrangig durch kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen erfolgen sollte. Die pharmakotherapeutische Behandlung des Mutismus bleibt schweren und chronischen Verlaufsformen vorbehalten und ist insbesondere bei komorbiden Angststörungen oder depressiven Erkrankungen indiziert. Die Anwendung von Fluoxetin und Imipramin folgt den gleichen Richtlinien wie bei der Behandlung von Angststörungen (Kap. C.3.) und depressiven Störungen (Kap. C.6).
463
Die Langzeitergebnisse des klinischen Verlaufes sind meist gut, die Symptombesserung ist allerdings sehr häufig mit einem Symptomwandel (soziale Phobie, Angststörung, Störung des Sozialverhaltens) verbunden. Einschränkend ist zu allen oben beschriebenen therapeutischen Strategien zu bemerken, dass die wissenschaftliche Bewertung ihrer Wirksamkeit bislang weitgehend auf Berichte und Meinungen von Expertenkreisen, Konsensuskonferenzen und klinischen Erfahrungswerten (Evidenzgrad V) beruht. C.13.5
Literaturverzeichnis
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464
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
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C.14 Persönlichkeitsstörungen (F60, F61) M. Romanos, Ch. Wewetzer
C.14.1
Definition, Klassifikation und Zielsymptome
Persönlichkeitsstörungen sind durch eine ausgeprägte Störung der charakterlichen Konstitution und des Verhaltens gekennzeichnet. Diese Störung äußert sich in der Beeinträchtigung mehrerer Bereiche der Persönlichkeit wie der Affektivität, des Denkens und der sozialen und zwischenmenschlichen Beziehungen. Persönlichkeitsstörungen beginnen in der Jugend und können eine lebenslange Entwicklung nehmen. Sie manifestieren sich in typischer Form im frühen Erwachsenenalter. Die Stabilität der Diagnose einer Persönlichkeitsstörung im Jugendalter ist deutlich geringer als im Erwachsenenalter. Beide in Verwendung befindlichen Klassifikationssysteme ermöglichen im Einzelfall eine Diagnose auch vor dem 18. Lebensjahr. Das DSM-IV fordert ein Alter von mindestens 16 Jahren (außer: antisoziale Persönlichkeitsstörung ab 18 Jahren). Die Diagnose nach ICD-10 ist möglich, wenn vor dem 18. Lebensjahr die diagnostischen Kriterien erfüllt sind und die Symptomatik bereits andauernd, durchgehend und situationsübergreifend erkennbar ist (Wewetzer et al., 2007; Salbach-Andrae et al., 2008). Die ICD-10 weist für die einzelnen Persönlichkeitsstörungen Merkmalskataloge mit definierten Ein- und Ausschlusskriterien auf, die den jeweiligen Typus exemplarisch kategorisieren. Im Hinblick auf die medikamentöse Therapie sollen nur diejenigen Erschei-
nungsbilder differenziert dargestellt werden, bei denen aufgrund der klinischen Praxis und empirischer Studien eine klinisch relevante Prävalenz für das Kindes- und Jugendalter wahrscheinlich oder eine ausdrückliche Beziehungsstörung dieses Lebensalters gegeben ist. Aus pharmakotherapeutischer Sicht ist die Cluster-Klassifikation nach DSM-IV zweckmäßiger, auch wenn zu allen Persönlichkeitsstörungen keine gesicherten Daten aus dem Kinder- und Jugendbereich vorliegen. Danach unterscheidet man: •
•
Paranoide-schizoide Persönlichkeitsstörungen (Cluster A). Dazu zählen die paranoide, schizoide und schizotype Persönlichkeitsstörung. Zielsymptome sind eine bestehende Affektarmut und Gefühlskälte, ein bizarres und exzentrisches Verhalten, Misstrauen gegenüber anderen Personen, häufig kombiniert mit paranoiden oder magischen Vorstellungen. Hinzu kommen eine Affektlabilität im Sinne von Affektausbrüchen, Wut, Zorn und Gewalttätigkeit und eine chronische soziale Interaktionsstörung. Die Abgrenzung zur emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typus ist oft schwierig. Dissoziale, emotional instabile und histrionische Persönlichkeitsstörungen (Cluster B). Zielsymptome sind eine affektive Impulsivität mit unkontrollierten Wut- und Zornesausbrüchen und ausgeprägten
466
•
C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Stimmungsschwankungen. Kennzeichnend sind Selbstbeschädigung, Suizidversuche und fremdgefährdende Verhaltensweisen. Häufig ist das Selbstwertempfinden gekennzeichnet von Gefühlen der Wut, Scham und Erniedrigung. Durchgängig sind Probleme von Nähe und Distanz in sozialen Beziehungen. Ängstliche, abhängige und anankastische Persönlichkeitsstörungen (Cluster C). Auch zu den Persönlichkeitsstörungen des Cluster C liegen kaum empirisch gesicherte Daten aus dem Jugendbereich vor. Zielsymptome sind eine durchgehende Angespanntheit und Ängstlichkeit. Darüber hinaus ein überdauerndes Gefühl von Hilflosigkeit und Abhängigkeit mit häufig auftretenden Trennungsängsten. Bei den zwanghaften Persönlichkeitsstörungen sind Zielsymptome die übermäßige Gewissenhaftigkeit und mangelnde Flexibilität sowie eine „passive Aggressivität“. Ein weiteres Zielsymptom ist die leichte Kränkbarkeit durch Kritik und Ablehnung.
C.14.2
Therapeutische Rahmenbedingungen
Diagnostische Voraussetzung ist eine multiaxiale Diagnostik. Die Kriterien der jeweiligen Persönlichkeitsstörung müssen altersund situationsübergreifend erfüllt sein. Der dissozialen/antisozialen Persönlichkeitsstörung im Erwachsenenalter geht häufig die Störung des Sozialverhaltens im Kindesund Jugendalter voraus, bei der ängstlichvermeidenden Persönlichkeitsstörung ist die hohe Komorbidität mit der sozialen Phobie zu beachten. Bei allen Persönlichkeitsstörungen sind weitere psychische Störungen häufig (s. kinder- und jugendpsychiatrische Leitlinien: Wewetzer et al., 2007). In der Therapie der Persönlichkeitsstörungen empfiehlt sich grundsätzlich ein mul-
timodales Vorgehen (Herpertz und Wennig, 2003). Es existiert eine neu erstellte internationale Leitlinie zur Behandlung der schizotypen, Borderline-, und ängstlichvermeidenden Persönlichkeitsstörung, wobei diese aufgrund des Mangels an Studien im Jugendbereich ausschließlich auf Daten aus Studien an Erwachsenen fußt (Herpertz et al., 2007). Weitere Übersichten sind zu dem Thema in letzter Zeit publiziert worden (Triebwasser und Siever, 2007; Quante et al., 2008). Die hier im Folgenden aufgeführten Neuro-Psychopharmaka werden in der Kinder- und Jugendpsychiatrie außerhalb des alters- und symptombezogenen Anwendungsbereiches (Off-label-Verwendung, s. Kap. A.2.1.2) eingesetzt. Deshalb sind die in Kap. A.2.1.4 aufgeführten Besonderheiten zu beachten. Prinzipiell sind strukturierte Therapiemanuale „offenen“ Therapieangeboten überlegen (Bateman und Fonagy, 2000). Verhaltensmodifikatorische und pädagogische Vorgehensweisen stehen bei der Mehrzahl der Patienten im Vordergrund, während eine medikamentöse Behandlung oft als unterstützende und zeitlich begrenzte Maßnahme anzusehen ist (Perry et al., 1999; Kapfhammer, 2003). Die Indikation für eine medikamentöse Therapie ist bei allen Persönlichkeitsstörungen grundsätzlich nicht auszuschließen. Indiziert ist sie insbesondere bei: •
•
Paranoid-schizoiden Persönlichkeitsstörungen (Cluster A), wenn Wahrnehmung und emotionale Erlebnisfähigkeit erheblich gestört sind oder Aggressivität ausgeprägt vorliegt. Dissozialen, emotional instabilen und histrionischen Persönlichkeitsstörungen (Cluster B), wenn deutliche Probleme in der Impuls- und Aggressionsregulation vorliegen. Dies ist z.B. der Fall bei massiver Eigen- und Fremdgefährdung
C.14 Persönlichkeitsstörungen (F60, F61)
•
•
(Suizidalität), schweren selbst verletzenden Handlungen und psychiatrischer Komorbidität (z.B. Depression). Ängstlich, abhängigen und anankastischen Persönlichkeitsstörungen, wenn ausgeprägt und durchgehend meist diffuse Ängste und eine durchgehende Angespanntheit bestehen. Zwanghaften Persönlichkeitsstörungen im Fall übermäßiger Gewissenhaftigkeit, extremer Unflexibilität sowie Aggressivität.
C.14.3
Wahl der Pharmakotherapie
Die empirische Datenlage zur Therapie mit Neuro-Psychopharmaka bei Persönlichkeitsstörungen im Jugendalter ist dürftig. Die im Weiteren dargestellten Therapieschemata wurden fast ausnahmslos nur bei Erwachsenen auf ihre Wirksamkeit hin überprüft. Die jeweiligen Empfehlungen für die spezifischen diagnostischen Subtypen sind unter der Einschränkung zu sehen, dass die Stabilität der Diagnose im Jugendalter gering und die symptomatischen Überlappungsbereiche zwischen den Persönlichkeitsstörungen in dieser Altersgruppe groß sind. Insofern sind die folgenden Hinweise als grober Wegweiser zu verstehen, wobei die pharmakologische Behandlung sich im Detail in erster Linie nach der vorherrschenden Symptomatik richten sollte entsprechend dem Abschnitt C.14.4. Nähere Angaben zu den im Folgenden aufgeführten Neuro-Psychopharmaka wie alters- und symptombezogene Zulassungsbereiche, Dosierungsempfehlungen, unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs), Arzneimittelinteraktionen, Anwendungseinschränkungen und besondere Vorsichtsmaßnahmen finden sich in den jeweiligen Spezialkapiteln B.1–B.4.
467
C.14.3.1
Paranoid-schizoide Persönlichkeitsstörungen (Cluster A)
C.14.3.1.1
Neuroleptika
Bei der schizotypen Persönlichkeitsstörung werden in erster Linie Neuroleptika verordnet. Für die atypischen Neuroleptika Olanzapin und Risperidon wurden kleinere offene, aber auch placebokontrollierte Studien durchgeführt, die auf eine Wirksamkeit in niedrigen Dosierungen hinweisen, wohingegen für klassische Neuroleptika nur offene Studien existieren (Schultz et al., 1998; Kirrane und Siever, 2000; Koenigsberg et al., 2003; Keshavan et al., 2004; Herpertz et al., 2007). Auch für die paranoide und schizoide Persönlichkeitsstörung scheinen aufgrund der psychosenahen Symptomatik Neuroleptika am ehesten geeignet. Klassische Neuroleptika wie Haloperidol, Thioridazin oder Pimozid sind möglicherweise wirksam (Goldberg et al., 1986; Coccaro, 1993), jedoch sind atypischen Neuroleptika aufgrund des günstigeren Profils der UAWs Mittel der ersten Wahl (Evidenzgrad III, dieser beruht auf nichtrandomisierten Studien). C.14.3.1.2
Antidepressiva
In einer doppelblinden placebokontrollierten Studie an Patienten mit verschiedenen Persönlichkeitsstörungen zeigte sich ein positiver Effekt von Fluoxetin auf Impulsivität und Aggressivität (Coccaro und Kavoussi, 1997). In einer weiteren offenen Studie, an der nur vier Patienten mit „reiner“ schizotyper Persönlichkeitsstörung teilnahmen, übte Fluoxetin einen positiven Effekt auf ängstliche, depressive und weitere Symptome aus. Für die Wirksamkeit von trizyklischen Antidepressiva bei der paranoiden und schizoiden Persönlichkeitsstörung gibt es keine Hinweise (Herpertz et al., 2007).
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C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
Zusammenfassend sind aber nur bei Vorliegen einer komorbiden depressiven Symptomatik, Antidepressiva zu erwägen, wobei für diesen Fall bevorzugt SSRIs einzusetzen sind. Insgesamt gestattet die Evidenzlage keine Empfehlung für Antidepressiva bei Cluster-A-Persönlichkeitsstörungen.
C.14.3.2
Dissoziale, emotional instabile und histrionische Persönlichkeitsstörungen (Cluster B)
Bei der antisozialen Persönlichkeitsstörung ist komorbid die ADHS zu beachten, welche bei Vorliegen immer primär zu therapieren ist (vgl. Kap.C.4). C.14.3.2.1
Neuroleptika
Ältere Daten liegen zu niederpotenten Neuroleptika aus empirischen Untersuchungen bei langjährigster Praxiserfahrung vor. Doppelblinde placebokontrollierte Studien bei Borderline-Persönlichkeitsstörung existieren zu klassischen (u.a. Haloperidol) und atypischen Neuroleptika (Olanzapin, Quetiapin, Aripiprazol). Vier doppelblind-kontrollierte randomisierte Studien lassen zusammenfassend auf keine überzeugende Wirksamkeit klassischer Neuroleptika bei Borderline-Persönlichkeitsstörung schließen (z.B. Soloff et al., 1993; Übersicht: Herpertz et al., 2007). Jedoch konnte in fünf Studien für atypische Neuroleptika (4 Olanzapin, 1 Aripiprazol) eine konsistente Wirksamkeit auf verschiedene Aspekte der Psychopathologie belegt werden (Zanarini und Frankenburg, 2001; Bogenschutz und Nurnberg, 2004; Zanarini et al., 2004; Soler et al., 2005; Nickel et al., 2006; Herpertz et al., 2007). Im Gegensatz zu Olanzapin scheint Aripiprazol kaum zu einer Gewichtszunahme zu führen (Nickel et al., 2006; Herpertz et al., 2007). In wei-
teren, offenen Studien fanden sich auch für andere atypische Neuroleptika (Quetiapin, Risperidon, Clozapin) positive Effekte bei Borderline-Patienten (Benedetti et al., 1998; Übersicht: Quante et al., 2008). Die Wirksamkeit atypischer Neuroleptika ist bereits in niedrigen bis mittleren Tagesdosierungen nachweisbar (Olanzapin 3–10 mg, Aripiprazol 15 mg, Quetiapin 175–400 mg, Risperidon 3,3 mg, Clozapin 40–250 mg), wobei die Wirksamkeit in der Langzeitanwendung aufgrund der Datenlage nicht sicher zu beurteilen ist (Herpertz et al., 2007; Quante et al., 2008). Ziprasidon war in einer randomisierten doppelblinden placebokontrollierten Studie (n=60) in einer Dosierung von 40–200 mg Placebo nicht überlegen (Pascual et al., 2008). Durch die Gabe von Neuroleptika wird die affektive Spannung reduziert, sie wirken antiaggressiv, ängstliches sowie depressives Verhalten werden günstig beeinflusst (Evidenzgrad II, dies entspricht dem Vorliegen mindestens einer kontrollierten randomisierten Studie). C.14.3.2.2
Antidepressiva
SSRIs werden in den letzten Jahren in zunehmender Häufigkeit und mit gutem Erfolg eingesetzt, zumal diese neben dem stimmungsstabilisierenden Effekt auch Wirkung auf Störungen der Impulskontrolle, auf auto- oder fremdaggressive Verhaltensweisen oder auch auf komorbide Essstörungen zeigen. Die Wirksamkeit von Fluoxetin und Fluvoxamin wurde in mehreren kontrollierten Studien mit allerdings nur kleinen Fallzahlen nachgewiesen (Evidenzgrad III; z.B. Salzman et al., 1995; Coccaro und Kavoussi, 1997; Meta-Analyse: Nosé et al., 2006). Paroxetin verminderte über die Dauer von einem Jahr signifikant das Risiko für suizidales Verhalten (Verkes et al., 1998). Bezüglich der Frage, inwieweit SSRIs suizidale Gedanken oder Suizidalität induzieren können,
C.14 Persönlichkeitsstörungen (F60, F61)
verweisen wir auf das Kap. B.1. Fluvoxamin führte zu einer signifikanten Verminderung von Stimmungsschwankungen (Simpson et al., 2004). Die Kombination von Fluoxetin und Olanzapin war in einer randomisierten, jedoch nicht placebokontrollierten Studie der alleinigen Gabe von Fluoxetin überlegen und der alleinigen Gabe von Olanzapin ebenbürtig (Zanarini et al., 2004). Positive Befunde finden sich auch in einer offenen Studie für Venlafaxin, einem selektiven Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahme-Hemmer (Markovitz und Wagner, 1995). Trotz Hinweisen auf die Wirksamkeit von Phenelzin gilt die Verwendung von irreversiblen, nicht-selektiven MAO-Hemmern (s. Tab. A.16, und Kap. A.1) im Kindes- und Jugendbereich aufgrund schwerer UAWs als obsolet (Herpertz et al., 2007). Trizyklische Antidepressiva können im Kindes und Jugendalter ebenfalls nicht empfohlen werden, zumal bei schlechterem Nebenwirkungsprofil Wirknachweise fehlen. Trizyklische Antidepressiva können im Einzelfall auch zur deutlichen Verstärkung der Symptome beitragen (Soloff et al., 1986). Aufgrund der Gefahr einer akzidentellen oder gezielten Überdosierung mit Intoxikation, sind diese Klasse von Antidepressiva kontraindiziert bei impulsiv-suizidalen Patienten (vgl. Kap.B.1). Auch andere Antidepressiva (Mirtazapin, Reboxetin) scheinen die Symptomatik eher zu verschlechtern (Quante et al., 2008). C.14.3.2.3
Sonstige
Hypothetische Überlegungen zur Wirksamkeit von Opiat-Antagonisten konnten bislang nicht überzeugend belegt werden (Triebwasser und Siever, 2007). In der klinischen Praxis kommen Benzodiazepine bei akuten Affektdurchbrüchen, Suizidalität und bei ausgeprägten Angstphänomenen zum Einsatz. Da Borderline-Per-
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sönlichkeitsstörungen in zehn Prozent aller Fälle mit Suizid assoziiert sind, ist Suizidalität eine häufige Indikation für medikamentöse Interventionen (Paris, 2002). Insbesondere werden hier Diazepam und Lorazepam verabreicht. Benzodiazepine wirken anxiolytisch, schlafanstoßend und vermindern aggressives Verhalten (vgl. Kap. B.3). Zu beachten ist, dass Benzodiazepine jedoch auch häufiger paradoxe Symptome auslösen, die sich in affektiven Ausbrüchen und aggressiven Impulsen äußern. Wegen des Risikos der Abhängigkeit sollten Benzodiazepine nur kurzfristig als „Notfallmedikation“ eingesetzt werden (vgl. Kap. B.3). Häufig auftretende parasuizidale Krisen mit selbstverletzendem Verhalten bei Bordeline-Persönlichkeitsstörungen sollten nicht generell und dauerhaft mit Benzodiazepinen behandelt werden, zumal die Suchtgefahr bei dieser Patientengruppe erhöht ist. Bei akuten Spannungszuständen oder aggressiven Durchbrüchen sollte dann auf nieder- und mittelpotente Neuroleptika ausgewichen werden bzw. auch eine langfristige Dauermedikation z.B. mit atypischen Neuroleptika erfolgen (vgl. Kap. C.1). Stimmungsstabilisatoren (s. Kap. B.6) kommen überwiegend zur Behandlung von Impulskontrollstörung, impulsiver Aggressivität, aber auch bei ausgeprägten Stimmungsschwankungen zum Einsatz. Antiaggressive Effekte sind für Lithiumsalz-Präparate u. a. bei Kindern mit Sozialverhaltensstörungen in einer randomisierten doppelblindkontrollierten Studie belegt (Evidenzgrad II; Malone et al., 2000; Übersicht: Gerlach et al., 2006). Eine offene Studie konnte für ein Lithiumsalz-Präparat bei BorderlinePersönlichkeitsstörung keine Wirksamkeit nachweisen (Links et al., 1990). Auch haben die UAWs bei nur geringer therapeutischer Breite Auswirkungen auf die Compliance bei
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C. Symptomatische und symptomorientierte medikamentöse Therapie
diesem schwierigen Klientel. Die Evidenz ist nicht ausreichend für eine Empfehlung bei diesen Persönlichkeitsstörungen. Jedoch bewirkten bei Gefängnisinsassen mit hoher Rate an antisozialer Persönlichkeitsstörung Lithiumsalze, Phenytoin und Oxcarbazepin eine Reduktion aggressiven Verhaltens in bereits älteren Crossoverdesign- bzw. placebokontrollierten Studien (Übersicht: Gerlach et al., 2006; Triebwasser und Siever, 2007). Oxcarbazepin in einer Dosierung von 1200–1500 mg/Tag war zudem in einer offenen Studie effektiv bei erwachsenen Borderline-Patienten bezüglich depressiver, aggressiver und psychosozialer Skalen sowie in der klinischen Gesamtbeurteilung (Bellino et al., 2005). Für weitere Antiepileptika liegen ebenfalls Ergebnisse aus randomisierten placebokontrollierten Studien vor, die auf eine Wirksamkeit bei Impulskontrollstörungen hinweisen, wobei die Befunde für Carbamazepin und Lamotrigin widersprüchlich sind und die Befundlage für Valproinsäure (Evidenzgrad III) in einer Dosierung von 500 bis 2250 mg/Tag und Topiramat in einer Dosierung von 250 mg (Evidenzgrad III) besser erscheint (Übersichten in: Cardish, 2007; Herpertz et al., 2007; Triebwasser und Siever, 2007; Quante et al., 2008). Die Datenlage bezüglich Langzeitanwendungen ist unzureichend. Bei emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen kann die Zielsymptomatik breit gefächert vorliegen. Bezüglich der medikamentösen Therapie aggressiv-impulsiver Syndrome verweisen wir auf das Kap. C.1. C.14.3.3 Ängstliche, abhängige und anankastische Persönlichkeitsstörungen (Cluster C)
Aufgrund der hohen Komorbidität von Cluster-C-Persönlichkeitsstörungen mit depressi-
ven Störungen empfiehlt sich eine primär antidepressive Therapie mit SSRIs. Diese reduzieren zudem a