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German Pages 551 Year 2009
M.D. Lechner K. Gehrke E.H. Nordmeier
Makromolekulare Chemie Ein Lehrbuch für Chemiker, Physiker, Materialwissenschaftler und Verfahrenstechniker Mit Beiträgen von R. Heering, S. Jovanovic´ und K. Wittstock et al.
M
4. überarbeitete und erweiterte Auflage
Mit CD-R
Birkhäuser Basel • Boston • Berlin
O
Prof. Dr. M.D. Lechner Priv. Doz. Dr. E. Nordmeier Physikalische Chemie Universität Osnabrück Barbarastrasse 7 D-49069 Osnabrück
Prof. Dr. em. K. Gehrke Ehem. Technische Chemie Universität Greifswald Z. Zt. Hauptstr. 80 D-01587 Riesa
Doz. Dr. R. Heering Institut für Biochemie Universität Greifswald F.-Hausdorff-Str. 4 D-17487 Greifswald
Prof. Dr. S. Jovanovic´ Fakultät für Technologie und Metallurgie Universität Belgrad Karnegijeva 4/IV YU-11000 Belgrad
Dr. K. Wittstock, S. Meyer KT/KE, E 100 BASF SE D-67056 Ludwigshafen
Dr. H. Krähling, U. Schlotter, S. Cieplik tecpol Technologieentwicklungs GmbH für ökoeffiziente Polymerverwertung CampMedia Expo Plaza 3 D-30539 Hannover
Erste Auflage 1993 Zweite überarbeitete und erweiterte Auflage 1996 Dritte überarbeitete und erweiterte Auflage 2003 Vierte überarbeitete und erweiterte Auflage 2010 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.
ISBN 978-3-7643-8890-4 Birkhäuser Verlag, Basel – Boston – Berlin Das Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung, der Wiedergabe auf photomechanischem oder ähnlichem Weg und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbedingungen des Urheberrechts. © 2010 Birkhäuser Verlag, Postfach 133, CH-4010 Basel, Schweiz Computer-to-plate Vorlage durch die Autoren erstellt Gedruckt auf säurefreiem Papier, hergestellt aus chlorfrei gebleichtem Zellstoff. TCF ∞ Umschlaggestaltung: Markus Etterich, Basel, Schweiz Printed in Germany ISBN 978-3-7643-8890-4 e-ISBN 978-3-7643-8891-1 987654321
http://www.birkhauser.ch
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Vorwort Dieses Lehrbuch der makromolekularen Chemie ist aus einer fruchtbaren Zusammenarbeit der Abteilungen Technische Chemie der Universität Greifswald und Physikalische Chemie der Universität Osnabrück im Zeitraum November 1991 bis Mai 1993 entstanden. Das Kapitel 5.5 Verarbeitung von Makromolekülen ist von R. Heering, Universität Greifswald, das Kapitel 7.5 Alterung und Alterungsschutz von Makromolekülen von S. Jovanovic, Universität Belgrad, und das Kapitel 8 Wiederverwertung von Kunststoffen von U. Guhr, A. Lappe, D. Vesper und B. Willenberg, EWvK, Wiesbaden verfasst worden. Wir danken den Kollegen für ihre ausgezeichneten Beiträge. Die Kapitel 3, 6 und 7.1 - 7.4 wurden von K. Gehrke, die Kapitel 2, 4.1 - 4.2 und 5.1 - 5.3 von E. Nordmeier, das Kapitel 5.4 von M.D. Lechner und das Kapitel 4.3 von M.D. Lechner und E. Nordmeier verfasst. Vorrangiges Ziel des vorliegenden Werks war die Bereitstellung eines bislang nicht verfügbaren echten Lehrbuchs der Physik und Chemie der Makromoleküle für Studenten, Chemiker und Physiker. Hierbei wurde allergrößter Wert darauf gelegt, dass die Phänomene, Theorien und experimentellen Methoden der makromolekularen Chemie von Grund auf dargestellt werden. Der vorgesehene Umfang des Lehrbuchs ließ allerdings keinen grundlegenden Exkurs über die allgemein verwendeten physikalisch-chemischen Methoden wie UV/VIS-, IR- und NMR-Spektroskopie zu; hierzu wird auf die gängigen Lehrbücher der physikalischen Chemie verwiesen. Bei diesen Methoden werden lediglich die Anwendungen in der makromolekularen Chemie beschrieben. Der Aufbau des Lehrbuchs folgt dem einfachen Prinzip Struktur - Synthese - Eigenschaften. Zunächst werden im Kapitel Struktur der Makromoleküle nach den Grundbegriffen die Begriffe Konstitution, Konfiguration und Konformation behandelt. Im Kapitel Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen werden alle Syntheseprinzipien beschrieben und eine Einführung in die Polyreaktionstechnik gegeben. Die Eigenschaften der Makromoleküle nehmen einen verhältnismäßig breiten Raum ein und sind in Lösungs- und Festkörpereigenschaften unterteilt. Im Kapitel Das Makromolekül in Lösung wird auf die Verteilungsfunktionen der Makromolekül-Kette, die Thermodynamik von Polymerlösungen und alle wichtigen Messmethoden und Theorien zur Charakterisierung eingegangen. Im nachfolgenden Kapitel Das Makromolekül als Festkörper werden nach den grundlegenden Strukturen die thermischen, mechanischen, rheologischen, viskoelastischen, optischen und elektrischen Eigenschaften sowie Umwandlungen behandelt. Dieses Kapitel enthält auch eine Einführung in die großtechnische Verarbeitung von Makromolekülen. Das Lehrbuch schließt mit kurzen Beiträgen zu den aktuellen und für die Praxis wichtigen Aspekten Qualitative Analyse von Makromolekülen, Reaktionen an Makromolekülen und Wiederverwertung von Kunststoffen. Es ist unter anderem unser Wunsch, dass die oft unsachlich geführte Diskussion über Vorteile, Nachteile und Umweltverträglichkeit der Kunststoffe mit diesem Buch auf eine sachliche, wissenschaftliche Grundlage gestellt wird. Dieses Buch wurde in Greifswald und Osnabrück mit dem wissenschaftlichen Textverarbeitungssystem WI-TEX 4.01 gesetzt und vom Verlag im Direkt-Offset gedruckt. Für viele Anregungen und gestaltungstechnische Hinweise danken wir Herrn Dr. J. Habicht vom Birkhäuser Verlag. Das arbeitsaufwendige Setzen der Manuskripte und das Zeichnen der Abbildungen haben Frau Dr. M. Dembecki, Frau L. Schlösser, Frau Cl. Kerrinnes, Frau M. Möller, Frau E. Möller und die Herren W. Bare, M. Karge, Th. Schindler und J. Buchholz vorgenommen. Für das sorgfältige Korrekturlesen und für Verbesserungsvorschläge danken wir Frau Dr. M. Dembecki und Herrn Dr. K. Schröder. Wir danken den Herausgebern und Verlagen der Zeitschriften Scientific American, European Polymer Journal, Journal of the American Chemical Society, Journal of Chemical Physics, Journal of Polymer Science, Polymer, Canadian Journal of Chemistry, Scientific American, Solid State
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Physics, Annals of the New York Academy of Sciences und Transactions of the Faraday Society sowie der Bücher von C. Tanford Physical Chemistry of Macromolecules (Wiley), M. Hoffmann, H. Krömer, R. Kuhn Polymeranalytik (Thieme), R.J. Young Introduction to Polymers (Chapman and Hall), J.H. Magill Treatise on Materials Science and Technology (Academic Press), H.G. Elias Makromoleküle (Hüthig und Wepf), R.G.C. Arridge Mechanics of Polymers (Clarendon Press), A.V. Tobolsky, H.F. Mark Polymer Science and Materials (R.E. Krieger Publishing Company) und L.R.G. Treloar The Physics of Rubber Elasticity (Clarendon Press) für die Erlaubnis, einzelne Abbildungen zu verwenden. Die Zahlenwerte für einige Tabellen wurden dem Buch von J. Brandrup und E.H. Immergut (Hrsg.) Polymer Handbook (Wiley) entnommen. November 1993
Die Herausgeber: M. D. Lechner, K. Gehrke, E. Nordmeier
Vorwort zur vierten Auflage Nachdem die Zahl der verfügbaren Exemplare der dritten Auflage des Lehrbuchs der Makromolekularen Chemie sich dem Ende zuneigte, entschlossen sich Verlag und Herausgeber, das Buch in einer neuen Auflage vollständig zu revidieren. Fast alle Kapitel des Lehrbuchs sind einer kritischen Analyse unterzogen worden und zu großen Teilen neu geschrieben. Herausgeber und Autoren haben sich bemüht, alle Kapitel auf den neuesten wissenschaftlichen Stand zu bringen. Neu aufgenommen wurde das Kapitel „Kontrollierte radikalische Polymerisation“. Erweitert wurden die Kapitel über MS, NMR und FFF. Zu den Kapiteln MS und NMR wurden uns wertvolle Hinweise von H. Duddeck und B. Mikhova, Universität Hannover und H. Rosemeyer, Universität Osnabrück gegeben. Das Kapitel „Verwertung von Kunststoffen“ wurde komplett neu bearbeitet und beschreibt den neuesten Stand auf diesem Gebiet. Zusätzlich ist das Werk auch in elektronischer Form verfügbar. Die beiliegende CD enthält alle Kapitel des Buchs als pdf-files; mit Hilfe einer Volltextsuche lässt sich innerhalb des gesamten Buchs nach Begriffen suchen. Weiterhin enthält die CD ausdruckbare Anhänge zu einzelnen Kapiteln des Buchs, die nicht in gedruckter Form vorliegen. Das Buch wurde mit dem Textverarbeitungsprogramm Microsoft Word für Windows 2003 gesetzt und mit dem Programm Adobe Acrobat 9.1.2 in pdf-files umgewandelt. Die mathematischen Formeln wurden mit MathType 6.0 (Design Science) und die chemischen Formeln mit ChemDraw 11.0 erstellt. Die Abbildungen wurden mit CorelDraw X3 erstellt. Für die vielen Anregungen, gestaltungstechnischen Hinweise und Korrekturvorschläge bedanken wir uns bei Herrn Dr. D. Klüber vom Birkhäuser Verlag. September 2009
Die Herausgeber: M. D. Lechner, K. Gehrke
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Inhaltsübersicht Vorwort ............................................................................................................................................... V
1 Einführung ................................................................................................................................ 1 2 Struktur der Makromoleküle ........................................................................................... 2 2.1 Grundbegriffe ..................................................................................................................... 2 2.2 Konstitution ..................................................................................................................... 18 2.3 Konfiguration .................................................................................................................. 25 2.4 Konformation ................................................................................................................... 30
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen.................................................. 48 3.1 Kettenwachstumsreaktionen ........................................................................................... 50 3.2 Stufenwachstumsreaktionen .......................................................................................... 117 3.3 Organische Polymere mit anorganischen Gruppen........................................................ 148 3.4 Polyreaktionstechnik ...................................................................................................... 159
4 Das Makromolekül in Lösung
.................................................................................... 171 4.1 Verteilungsfunktionen ................................................................................................... 171 4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen ........................................................................ 182 4.3 Charakterisierung von Makromolekülen ....................................................................... 241 Anhang A4: Verdünnte Polymerlösungen; Scalinggesetze; Hydrogele; Streufaktor P(q); Gemischte Lösemittel; Copolymerlösungen.........................................CD
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
.................................... 344 5.1 Strukturen ...................................................................................................................... 344 5.2 Thermische Eigenschaften und Umwandlungen ........................................................... 365 5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie......................................................................... 384 5.4 Optische und elektrische Eigenschaften ....................................................................... 421 5.5 Verarbeitung von Makromolekülen .............................................................................. 434
6 Qualitative Analyse von Makromolekülen
.......................................................... 472 6.1 Äußere Merkmale........................................................................................................... 472 6.2 Abtrennung von Hilfsstoffen.......................................................................................... 473 6.3 Qualitative Analysen...................................................................................................... 473 6.4 Löslichkeit von Polymeren ............................................................................................ 476
7 Reaktionen an Makromolekülen
............................................................................... 478 7.1 Besonderheiten der Reaktionen an Makromolekülen .................................................... 478 7.2 Polymeranaloge Reaktionen........................................................................................... 480 7.3 Polysaccharidchemie...................................................................................................... 483 7.4 Vernetzungen ................................................................................................................. 485 7.5 Alterung und Alterungsschutz von Polymeren .............................................................. 488
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8 Verwertung von Kunststoffen
.................................................................................... 503 8.1 Kunststoffe und Umwelt – der Lebensweg zählt ........................................................... 503 8.2 Abfallmanagement: Ziele & Rahmen – Strategien & Konzepte.................................... 505 8.3 Kunststoffabfälle sind Rohstoffe.................................................................................... 507 8.4 Abfallmanagement ......................................................................................................... 512 8.5 Kunststoffabfälle und Sekundärressourcen.................................................................... 518 Anhang A8: Verwertung von Kunststoffen ....................................................................CD
Literatur ........................................................................................................................................... 519 Abkürzungen von wichtigen Polymeren ......................................................................................... 523 Physikalische Größen ...................................................................................................................... 524 Register ........................................................................................................................................... 525
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Inhaltsverzeichnis Vorwort .............................................................................................................................................. V
1 Einführung ................................................................................................................................ 1 2 Struktur der Makromoleküle............................................................................................ 2 2.1 Grundbegriffe ......................................................................................................................... 2 2.1.1 Klassifizierung der Makromoleküle.............................................................................. 2 2.1.2 Nomenklatur.................................................................................................................. 3 2.1.2.1 Anorganische Makromoleküle ........................................................................ 3 2.1.2.2 Organische Makromoleküle ............................................................................ 4 2.1.2.3 Biopolymere.................................................................................................... 6 2.1.3 Polymerisationsgrad und Molmasse............................................................................ 11 2.1.3.1 Das Zahlenmittel Mn ..................................................................................... 11 2.1.3.2 Das Massenmittel Mw .................................................................................... 12 2.1.3.3 Das Zentrifugenmittel Mz und die allgemeine Form für Mittelwerte. .......... 12 2.1.3.4 Darstellung der Mittelwerte als Momente .................................................... 13 2.1.3.5 Die Uneinheitlichkeit U ................................................................................ 13 2.1.3.6 Beispiele........................................................................................................ 14 2.1.3.7 Gewichtete Polymerisationsgrade................................................................. 14 2.1.4 Differentielle und integrale Verteilungen ................................................................... 15 2.2 Konstitution .......................................................................................................................... 18 2.2.1 Konstitutionsisomerie.................................................................................................. 18 2.2.2 Copolymere ................................................................................................................. 19 2.2.2.1 Statistische Bipolymere................................................................................. 19 2.2.2.2 Alternierende Bipolymere............................................................................. 20 2.2.2.3 Gradientbipolymere....................................................................................... 20 2.2.2.4 Pfropf- oder Graftcopolymere....................................................................... 20 2.2.3 Molekularstruktur........................................................................................................ 21 2.2.3.1 Lineare Makromoleküle ................................................................................ 21 2.2.3.2 Verzweigte Makromoleküle.......................................................................... 21 2.2.3.3 Netzwerke ..................................................................................................... 24 2.3 Konfiguration ....................................................................................................................... 25 2.3.1 Definition .................................................................................................................... 25 2.3.2 Monotaktische Polymere............................................................................................. 25 2.3.3 Ditaktische Polymere .................................................................................................. 27 2.3.4 Ataktische Polymere ................................................................................................... 28 2.3.5 Cis-trans-Isomerie....................................................................................................... 29 2.4 Konformation ....................................................................................................................... 30 2.4.1 Einleitung .................................................................................................................... 30 2.4.2 Mikrokonformationen ................................................................................................. 31 2.4.3 Makrokonformationen................................................................................................. 33 2.4.4 Konformationsstatistik ................................................................................................ 33 2.4.4.1 Einführung..................................................................................................... 33 2.4.4.2 Der mittlere Kettenendenabstand und der mittlere Trägheitsradius ............. 34
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2.4.4.3 Das Zufallsknäuel.......................................................................................... 35 2.4.4.4 Die frei rotierende Polymerkette................................................................... 36 2.4.4.5 Die Polymerkette mit eingeschränkter Rotation ........................................... 38 2.4.4.6 Die Persistenzlänge ....................................................................................... 39 2.4.4.7 Das Kuhnsche Ersatzknäuel .......................................................................... 39 2.4.4.8 Das Persistenzkettenmodell .......................................................................... 40 2.4.4.9 Die Beziehung zwischen < h > und < R >...................................................... 42 2.4.4.10 Trägheitsradien für verschiedene Modell-Makromoleküle........................... 44 2.4.4.11 Polydispersität ............................................................................................... 46 2.4.4.12 Verzweigte Polymere .................................................................................... 46
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen ................................................. 48 3.1 Kettenwachstumsreaktionen............................................................................................... 50 3.1.1 Radikalische Polymerisation ....................................................................................... 53 3.1.1.1 Startreaktion .................................................................................................. 54 3.1.1.2 Wachstumsreaktion ....................................................................................... 58 3.1.1.3 Abbruchreaktion............................................................................................ 60 3.1.1.4 Kettenübertragungsreaktionen ...................................................................... 62 3.1.1.5 Kinetik der radikalischen Polymerisation ..................................................... 66 3.1.1.6 Verteilungsfunktionen bei der radikalischen Polymerisation ....................... 68 3.1.1.7 Abweichungen von der normalen radikalischen Kinetik .............................. 70 3.1.1.8 Kontrollierte radikalische Polymerisation .................................................... 72 3.1.2 Ionische Polymerisation .............................................................................................. 72 3.1.2.1 Anionische Polymerisation ........................................................................... 76 3.1.2.2 Kationische Polymerisation .......................................................................... 83 3.1.3 Koordinative Polymerisation ...................................................................................... 90 3.1.3.1 Polymerisation der Olefine ........................................................................... 91 3.1.3.2 Polymerisation der Diene.............................................................................. 96 3.1.3.3 Wachstumsreaktion und aktive Zentren........................................................ 97 3.1.3.4 Kettenabbruch, Kettenübertragung ............................................................... 98 3.1.3.5 Polymerisation von Cycloolefinen................................................................ 99 3.1.3.6 Polymerisation des Acetylens ..................................................................... 101 3.1.4 Gruppentransferpolymerisation................................................................................. 102 3.1.5 Copolymerisation ...................................................................................................... 102 3.1.5.1 Copolymerzusammensetzung ..................................................................... 104 3.1.5.2 Kinetik der Copolymerisation ..................................................................... 109 3.1.5.3 Alternierende Copolymere .......................................................................... 110 3.1.5.4 Blockcopolymere ........................................................................................ 112 3.1.5.5 Pfropfcopolymere........................................................................................ 115 3.2 Stufenwachstumsreaktionen ............................................................................................. 117 3.2.1 Polykondensation ...................................................................................................... 119 3.2.1.1 Polyamidbildungsreaktionen....................................................................... 121 3.2.1.2 Weitere Polykondensate mit N-Atomen und Heterocyclen in der Kette .... 125 3.2.1.3 Polyestersynthesen ...................................................................................... 126 3.2.1.4 Flüssig-kristalline Polymere ....................................................................... 130 3.2.1.5 Phenoplaste ................................................................................................. 130 3.2.1.6 Aminoplaste ................................................................................................ 132
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3.2.1.7 Poly(alkylensulfide) .................................................................................... 133 3.2.1.8 Polyphenylene, Polyphenylenvinylene ....................................................... 134 3.2.1.9 Poly(arylensulfide), Polysulfone................................................................. 134 3.2.1.10 Polyether, Polyethersulfone, -imide und -ketone........................................ 134 3.2.1.11 Ionene.......................................................................................................... 136 3.2.2 Polyaddition .............................................................................................................. 136 3.2.2.1 Polyurethane................................................................................................ 136 3.2.2.2 Polyepoxide................................................................................................. 138 3.2.3 Dendrimere................................................................................................................ 139 3.2.4 In vitro-Synthese von Biopolymeren ........................................................................ 141 Polydiene, Polysaccharide, Lignin, Proteine, Polynucleotide.................................. 141 3.3 Organische Polymere mit anorganischen Gruppen........................................................ 148 3.3.1 Polyorganosiloxane (Silikone) .................................................................................. 149 3.3.2 Polysilane .................................................................................................................. 150 3.3.3 Polycarbosilane ......................................................................................................... 151 3.3.4 Polygermane.............................................................................................................. 151 3.3.5 Polymere abgeleitet von Zinn, Blei und weiteren Elementen der 4. Gruppe............ 152 3.3.6 Bor enthaltende Polymere ......................................................................................... 152 3.3.7 Aluminium enthaltende Polymere............................................................................. 153 3.3.8 Stickstoff enthaltende ungewöhnliche Polymere ...................................................... 153 3.3.9 Phosphor enthaltende Polymere ................................................................................ 153 3.3.10 Arsen, Antimon und Wismut enthaltende Polymere................................................. 154 3.3.11 Selen und Tellur enthaltende Polymere .................................................................... 155 3.3.12 Polymere mit Übergangsmetallen in der Kette und Koordinationspolymere ........... 155 3.4 Polyreaktionstechnik ......................................................................................................... 159 3.4.1 Lösungspolymerisation ............................................................................................. 160 3.4.2 Fällungspolymerisation ............................................................................................. 161 3.4.3 Substanzpolymerisation ............................................................................................ 161 3.4.4 Gasphasenpolymerisation.......................................................................................... 164 3.4.5 Polymerisation in fester Phase .................................................................................. 164 3.4.6 Polymerisation in Einschlussverbindungen .............................................................. 165 3.4.7 Suspensionspolymerisation ....................................................................................... 166 3.4.8 Emulsionspolymerisation .......................................................................................... 167 3.4.9 Polymerisation monomolekularer Schichten nach Langmuir-Blodgett .................... 169 3.4.10 Interphasenpolykondensation (Grenzflächenpolykondensation) .............................. 170
4 Das Makromolekül in Lösung..................................................................................... 171 4.1 Verteilungsfunktionen ....................................................................................................... 171 4.1.1 Die Kettenendenabstandsverteilung.......................................................................... 171 4.1.2 Verallgemeinerung auf drei Dimensionen ................................................................ 173 4.1.3 Segmentdichteverteilung........................................................................................... 177 4.1.3.1 Die Gaußsche Segmentdichteverteilung ..................................................... 177 4.1.3.2 Die gleichmäßige Segmentdichteverteilung ............................................... 178 4.1.3.3 Kraft-Dehnungs-Relationen ........................................................................ 180
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4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen ........................................................................... 182 4.2.1 Ideale und reale Lösungen......................................................................................... 182 Enthalpie- und Entropieanteile des zweiten Virialkoeffizienten ............................... 185 4.2.2 Das Gittermodell und die Flory-Huggins Theorie .................................................... 186 Grundlagen................................................................................................................ 186 Das Gittermodell für Polymerlösungen .................................................................... 187 Die Mischungsenergie von Polymerlösungen; Flory-Huggins-Gleichung ............... 190 Der Theta-Zustand .................................................................................................... 194 4.2.3 Die Löslichkeitstheorie ............................................................................................. 195 4.2.4 Phasengleichgewichte ............................................................................................... 198 4.2.4.1 Binäre Systeme............................................................................................ 198 Obere und untere kritische Lösungstemperaturen...................................... 203 4.2.4.2 Polymere Mehrkomponentensysteme ......................................................... 204 4.2.5 Theorie des ausgeschlossenen Volumens ................................................................. 207 Negative zweite Virialkoeffizienten ........................................................................... 210 Starre Makromoleküle............................................................................................... 212 Flexible Makromoleküle............................................................................................ 213 Die Funktion r(G)....................................................................................................... 214 Die Funktion h z für die gleichmäßige Segmentdichteverteilung........................... 216 Die Funktion h z für die Gaußsche Segmentdichteverteilung ................................ 218 Experimentelle Überprüfung der Theorie des ausgeschlossenen Volumens ............ 219 4.2.6 Scaling Theorie ......................................................................................................... 221 Der osmotische Druck in halbverdünnten Lösungen ................................................ 222 Die Korrelationslänge ............................................................................................... 223 4.2.7 Vernetzte Makromoleküle und Kautschuk-Elastizität .............................................. 224 Kautschuk-Elastizität ................................................................................................ 227 Netzwerkfehler und Vernetzungseffizienz .................................................................. 229 Weitere Netzwerkmodelle .......................................................................................... 230 Nicht-Gaußsche Netzwerktheorie .............................................................................. 231 Gequollene Polymergele ........................................................................................... 232 Verschiedene Quellungsgrade und der Schermodul ................................................. 235 4.2.8 Zustandsgleichungen................................................................................................. 237 Tait-Gleichung .......................................................................................................... 237 Theorie des freien Volumens ..................................................................................... 238 Löchermodell ............................................................................................................. 239
bg bg
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen ........................................................................ 241 4.3.1 Kolligative Eigenschaften ......................................................................................... 243 4.3.1.1 Membranosmose ........................................................................................... 243 4.3.1.2 Dampfdruckosmose....................................................................................... 245 4.3.2 Ultrazentrifugation .................................................................................................... 246 4.3.2.1 Sedimentationsgeschwindigkeit.................................................................. 247 4.3.2.2 Sedimentationsgleichgewicht...................................................................... 254 4.3.2.3 Experimentelle Techniken .......................................................................... 256 4.3.3 Klassische Streumethoden......................................................................................... 257 4.3.3.1 Dielektrische Polarisation ........................................................................... 257 4.3.3.2 Streuung von elektromagnetischer Strahlung ............................................. 258 4.3.3.3 Lichtstreuung .............................................................................................. 261 Lichtstreuung an kleinen Molekülen, Rayleigh-Streuung (d < O/20) ......... 261
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Frequenzgemittelte Lichtstreuung............................................................... 263 Zweikomponenten-Systeme ......................................................................... 264 Der Cabannes-Faktor .................................................................................. 267 Mehrkomponenten-Systeme ........................................................................ 268 Lichtstreuung an großen Molekülen (O > d > O/20) ................................... 269 Die allgemeine Berechnungsformel für P(q) .............................................. 270 Die Beziehung zwischen P(q) und dem Trägheitsradius < R > .................. 272 Die Auswertemethode von Zimm ................................................................ 273 Miesche Streuung ........................................................................................ 276 4.3.3.4 Röntgenstreuung ......................................................................................... 276 4.3.3.5 Neutronenstreuung ...................................................................................... 280 Kontrastvariation ........................................................................................ 282 4.3.4 Dynamische Lichtstreuung........................................................................................ 284 4.3.4.1 Grundlagen.................................................................................................. 284 4.3.4.2 Experimentelle Techniken .......................................................................... 287 4.3.5 Transportprozesse...................................................................................................... 289 4.3.5.1 Viskosität .................................................................................................... 289 4.3.5.2 Reibungskoeffizienten................................................................................. 299 4.3.5.3 Diffusion ..................................................................................................... 304 4.3.5.4 Das Makromolekül als hydrodynamisches Teilchen .................................. 310 4.3.6 Chromatographische Verfahren ................................................................................ 315 4.3.6.1 Size Exclusion Chromatographie (SEC), Gelpermeationschromatographie (GPC) ............................................................................................. 315 4.3.6.2 Elektrophorese ............................................................................................ 319 4.3.7 Endgruppenanalyse ................................................................................................... 323 4.3.8 Spektroskopische Methoden ..................................................................................... 324 4.3.8.1 Ultraviolett Spektroskopie (UV/VIS) ......................................................... 324 4.3.8.2 Infrarot Spektroskopie (IR) ......................................................................... 324 4.3.8.3 Optische Rotationsdispersion (ORD) und Circulardichroismus (CD)........ 324 4.3.8.4 Massen-Spektroskopie (MS)....................................................................... 329 4.3.9 Kernresonanz-Spektroskopie (NMR)........................................................................ 330 4.3.9.1 Theoretische Grundlagen ............................................................................ 330 4.3.9.2 Anwendungen ............................................................................................ 335 4.3.10 Elektrische Doppelbrechung und der Rotations-Diffusionskoeffizient .................... 337 4.3.11 Feldfluss-Fraktionierung ........................................................................................... 339 4.3.12 Bestimmung der Kettenverzweigung von Polymeren............................................... 341 Anhang A4-I: Verdünnte Polymerlösungen, Scalinggesetze................................... CD Anhang A4-II: Hydrogele............................................................................................ CD Anhang A4-III: Die exakte mathematische Form des Streufaktors P(q) ................. CD Anhang A4-IV: Lichtstreuung an Polymeren in gemischten Lösemitteln................ CD Anhang A4-V: Lichtstreuung an Copolymerlösungen .............................................. CD
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze ..................................... 344 5.1 Strukturen........................................................................................................................... 344 5.1.1 Klassifizierung .......................................................................................................... 344 5.1.2 Kristalline Polymere.................................................................................................. 345 5.1.2.1 Kristallinität ................................................................................................ 345 5.1.2.2 Struktur der Kristalle................................................................................... 345
XIV
5.1.2.3 Röntgenstrukturanalyse............................................................................... 349 5.1.2.4 Polymer-Kristallstrukturen (ausgewählte Beispiele) .................................. 351 5.1.2.5 Morphologie und Textur ............................................................................. 353 5.1.2.6 Kristallisationsgrad ..................................................................................... 355 5.1.2.7 Kristallitdicke.............................................................................................. 357 5.1.2.8 Kristallitfehler ............................................................................................. 357 5.1.2.9 Kristallisationskinetik ................................................................................. 358 5.1.3 Amorphe Polymere.................................................................................................... 363 5.1.3.1 Morphologie................................................................................................ 363 5.1.3.2 Mesomorphe Phasen ................................................................................... 363 5.2 Thermische Eigenschaften und thermische Umwandlungen......................................... 365 5.2.1 Phasenübergänge der ersten und zweiten Art ........................................................... 365 5.2.2 Messmethoden zur Ermittlung thermischer Umwandlungen.................................... 366 5.2.3 Thermische Größen ................................................................................................... 367 5.2.4 Glasübergänge ........................................................................................................... 371 5.2.5 Schmelzen ................................................................................................................. 377 5.2.6 Andere Umwandlungstemperaturen.......................................................................... 383 5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie............................................................................ 384 5.3.1 Dehnung und Dehnungsmodul.................................................................................. 384 5.3.2 Poissonsche Zahl....................................................................................................... 385 5.3.3 Kompression und Kompressionsmodul..................................................................... 386 5.3.4 Scherung und Schubmodul........................................................................................ 386 5.3.5 Die Konstanten E, G, K und die Schallgeschwindigkeit........................................... 387 5.3.6 Viskoelastizität und Zeitabhängigkeit....................................................................... 389 5.3.7 Das Boltzmannsche Superpositionsprinzip ............................................................... 393 5.3.8 Mechanisch dynamische Prozesse ............................................................................ 394 5.3.9 Das Torsionspendel ................................................................................................... 395 5.3.10 Die Frequenzabhängigkeit der Elastizitätskonstanten ER, EI und tanG ..................... 399 5.3.11 Die Temperaturabhängigkeit von E für Z = 0........................................................... 400 5.3.12 Zeit-Temperatur Superpositionsprinzip .................................................................... 402 5.3.13 Molekulare Interpretation des Elastizitätsmoduls..................................................... 405 5.3.14 Anelastisches Verhalten ............................................................................................ 408 5.3.15 Der Teleskop-Effekt .................................................................................................. 410 5.3.16 Die nominelle Spannung ........................................................................................... 411 5.3.17 Bruchvorgänge .......................................................................................................... 412 5.3.18 Schlag- und Kerbschlagzähigkeit.............................................................................. 414 5.3.19 Spannungskorrosion .................................................................................................. 416 5.3.20 Zeitstandzugfestigkeiten und Ermüdungsbrüche ...................................................... 417 5.3.21 Reibung ..................................................................................................................... 418 5.3.22 Abrieb........................................................................................................................ 420 5.4 Optische und elektrische Eigenschaften .......................................................................... 421 5.4.1 Optische Eigenschaften ............................................................................................. 421 5.4.1.1 Brechung, Reflexion, Absorption, Transparenz und Streuung ................... 421 5.4.1.2 Totalreflexion, Wellenleitung, optische Speicher....................................... 422 5.4.1.3 Glanz, Trübung, Farbe ................................................................................ 423 5.4.1.4 Nichtlineare optische Eigenschaften........................................................... 423 5.4.2 Elektrische Eigenschaften ......................................................................................... 424
XV
5.4.2.1 Dielektrische Eigenschaften........................................................................ 424 5.4.2.2 Elektrische Leitfähigkeit ............................................................................. 427 5.5 Verarbeitung von Makromolekülen................................................................................. 434 5.5.1 Allgemeine Aspekte .................................................................................................. 434 5.5.2 Modifizierung des Rohpolymers ............................................................................... 436 5.5.3 Verarbeitung der Thermoplaste und Duroplaste ....................................................... 438 5.5.3.1 Urformen ..................................................................................................... 438 5.5.3.2 Umformen ................................................................................................... 453 5.5.3.3 Fügen, Spanen ............................................................................................. 456 5.5.4 Verarbeitung der Elastomere..................................................................................... 457 5.5.4.1 Allgemeine Aspekte .................................................................................... 457 5.5.4.2 Aufbereitung ............................................................................................... 458 5.5.4.3 Formgebung ................................................................................................ 459 5.5.5 Verarbeitung zu polymeren Verbundstoffen............................................................. 461 5.5.5.1 Allgemeine Aspekte .................................................................................... 461 5.5.5.2 Faser-Kunststoff-Verbund (FKV) .............................................................. 463 5.5.6 Oberflächenveredlung ............................................................................................... 464 5.5.7 Verarbeitung zu Synthesefasern................................................................................ 466 5.5.7.1 Allgemeine Aspekte .................................................................................... 466 5.5.7.2 Spinnverfahren ............................................................................................ 467 5.5.7.3 Faserbehandlung ......................................................................................... 470
6 Qualitative Analyse von Makromolekülen........................................................... 472 6.1 Äußere Merkmale .............................................................................................................. 472 6.1.1 Aussehen, Farbe, Transparenz, Oberfläche............................................................... 472 6.1.2 Spannungs-Dehnungsverhalten................................................................................. 472 6.2 Abtrennung von Hilfsstoffen............................................................................................. 473 6.3 Qualitative Analysen.......................................................................................................... 473 6.3.1 Beilsteinprobe auf Halogene ..................................................................................... 473 6.3.2 Brennprobe ................................................................................................................ 473 6.3.3 Trockenes Erhitzen im Glührohr............................................................................... 473 6.3.4 Schmelzbereich ......................................................................................................... 474 6.3.5 Nachweis von Heteroelementen................................................................................ 475 6.3.5.1 Nachweis der Halogene Chlor, Brom und Jod............................................ 475 6.3.5.2 Nachweis von Fluor .................................................................................... 475 6.3.5.3 Nachweis von Stickstoff ............................................................................. 475 6.3.5.4 Nachweis von Schwefel .............................................................................. 476 6.3.5.5 Nachweis von Phosphor.............................................................................. 476 6.3.5.6 Nachweis von Silicium ............................................................................... 476 6.4 Löslichkeit von Polymeren ................................................................................................ 476 6.4.1 Homopolymere.......................................................................................................... 476 6.4.2 Copolymere, Polymerblends ..................................................................................... 477
XVI
7 Reaktionen an Makromolekülen ................................................................................ 478 7.1 Besonderheiten der Reaktionen an Makromolekülen .................................................... 478 7.2 Polymeranaloge Reaktionen.............................................................................................. 480 7.3 Polysaccharidchemie.......................................................................................................... 483 7.3.1 Cellulosechemie ........................................................................................................ 483 7.3.2 Stärkechemie ............................................................................................................. 484 7.4 Vernetzungen...................................................................................................................... 485 7.5 Alterung und Alterungsschutz von Polymeren ............................................................... 488 7.5.1 Alterung von Polymeren ........................................................................................... 488 7.5.1.1 Thermische und thermooxidative Alterung ................................................ 488 7.5.1.2 Photochemische Alterung von Polymeren .................................................. 491 7.5.1.3 Alterung von Polymeren durch Einwirkung von energiereicher Strahlung 493 7.5.1.4 Alterung von Polymeren unter Einwirkung von mechanischer Energie..... 494 7.5.1.5 Alterung von Polymeren durch Einwirkung von Medien ........................... 495 7.5.1.6 Abbau von Polymeren................................................................................. 496 7.5.2 Alterungsschutz von Polymeren................................................................................ 500
8 Verwertung von Kunststoffen ..................................................................................... 503 8.1 Kunststoffe und Umwelt – Der Lebensweg zählt ............................................................ 503 8.2 Abfallmanagement: Ziele & Rahmen – Strategien & Konzepte ................................... 505 8.2.1 Rechtlicher Rahmen .................................................................................................. 505 8.2.2 Strategien & Konzepte .............................................................................................. 506 8.3 Kunststoffabfälle sind Rohstoffe....................................................................................... 507 8.3.1 Kunststoffe in Abfallströmen .................................................................................... 507 8.3.2 Verwertung statt Deponierung .................................................................................. 508 8.3.3 Littering ..................................................................................................................... 511 8.4 Abfallmanagement ............................................................................................................. 512 8.4.1 Abfallerfassung ......................................................................................................... 512 8.4.2 Abfallvorbehandlung................................................................................................. 515 8.5 Kunststoffabfälle und Sekundärressourcen .................................................................... 518 Anhang A8: Verwertung von Kunststoffen ........................................................................ CD Literatur.......................................................................................................................................... 519 Abkürzungen von wichtigen Polymeren ..................................................................................... 523 Physikalische Größen ................................................................................................................... 524 Register ........................................................................................................................................... 525
1
1 Einführung
Die Makromolekulare Chemie ist ein Teilgebiet der Chemie, das sich mit der Struktur, der Synthese und den Eigenschaften von großen Molekülen beschäftigt. Der Begriff des großen Moleküls ist nicht ganz genau festgelegt, aber im Allgemeinen werden Moleküle mit Molmassen ab 1.000 bis 10.000 g/mol als große Moleküle bezeichnet. Alle Makromoleküle enthalten gleichartige Atomgruppen, die durch Atombindungen (Hauptvalenzbindungen) miteinander verknüpft sind; demnach sind alle Elemente, die mehr als eine Atombindung eingehen können, für den Aufbau von Makromolekülen geeignet. Nach der offiziellen Definition ist ein Makromolekül oder ein Polymer eine Substanz, die aus Molekülen aufgebaut ist, die sich durch vielfache Wiederholung von konstitutiven Einheiten auszeichnen und die so groß sind, dass sich ihre Eigenschaften bei Zugabe oder Wegnahme einer oder weniger der konstitutiven Einheiten nicht wesentlich ändern. Als konstitutive Einheit oder konstitutives Strukturelement wird dabei die kleinste, regelmäßig wiederkehrende Einheit bezeichnet, die den Aufbau der makromolekularen Kette vollständig beschreibt. Man unterscheidet analog der niedermolekularen Chemie zwischen anorganischen und organischen Makromolekülen bezüglich der Atomgruppen, die das Makromolekül aufbauen. Demnach wird bei der Synthese von Makromolekülen auf die Methoden der organischen und anorganischen Chemie zugegriffen. Bezüglich der Strukturaufklärung und der Eigenschaften von Makromolekülen bedient man sich der Methoden der Physikalischen Chemie. Darüber hinaus hat die Makromolekulare Chemie, bedingt durch die zum Teil völlig anderen Eigenschaften der Makromoleküle, eine Vielzahl von eigenen Methoden entwickelt. Diese Methoden werden ausführlich in diesem Lehrbuch behandelt. Die nicht polymerspezifischen physikalischen Methoden können in den Lehrbüchern der Physikalischen Chemie und die anorganischen und organischen Methoden der niedermolekularen Chemie in den Lehrbüchern der Anorganischen und Organischen Chemie nachgelesen werden. Nachdem Regnault Anfang des 19. Jahrhunderts Polyvinylchlorid durch Bestrahlung von Vinylchlorid erhalten hatte und Baekeland seit 1910 ein vollsynthetisches Phenol-FormaldehydHarz, das Bakelit, produzierte, prägte H. Staudinger in den zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts den Begriff Makromolekül; er entwickelte und publizierte die grundlegenden Vorstellungen über die chemische Struktur der Makromoleküle. Die Behauptung Staudingers, dass es sich bei makromolekularen Stoffen um große Moleküle handelt, die durch kovalente Bindungen zusammengehalten werden, war zunächst heftig umstritten. Die später vielfach bewiesenen Vorstellungen Staudingers ermöglichten aber die weitere stürmische wissenschaftliche Entwicklung und technische Produktion der Kunststoffe seit Mitte des 20. Jahrhunderts. In den fünfziger Jahren des 20. Jahrhunderts zwangen K. Ziegler und G. Natta das ziemlich reaktionsträge Ethylen mit metallorganischen Katalysatoren zur Reaktion zum Polyethylen und leiteten damit die Entwicklung zum Massenkunststoff ein. Parallel dazu wurden zahlreiche grundlegende Arbeiten zum Verständnis der Struktur, der Reaktionsmechanismen und der Eigenschaften von Makromolekülen durchgeführt. Herausragend und stellvertretend für zahlreiche Forscher und Arbeitsgruppen auf dem Gebiet der Makromolekularen Chemie stehen P.J. Flory, H. Mark, G.V. Schulz und B.H. Zimm.
2
2 Struktur der Makromoleküle 2.1 Grundbegriffe Ein Makromolekül besteht aus einer großen Anzahl kleinerer Moleküleinheiten. Diese Grundbausteine sind durch kovalente, ionische oder Wasserstoffbrückenbindungen miteinander verknüpft und bilden im einfachsten Fall eine lineare Kette. Die chemische Substanz, welche die Grundbausteine liefert, heißt Monomer. Im Fall des Polyvinylchlorids (PVC) CH2CHClCH2CHClCH2CHClCH2CHClCH2CHClCH2CHClCH2CHCl
ist z.B. das Vinylchlorid (CH2=CHCl) das Monomer und die Moleküleinheit CH2CHCl der Grundbaustein. Das kleinste periodisch wiederkehrende Teil eines Makromoleküls heißt Strukturelement. Beim PVC sind Strukturelement und Grundbaustein identisch. Das Strukturelement kann aber auch kleiner oder größer als der Grundbaustein sein. Einige Beispiele zeigt Tabelle 2.1. Tabelle 2.1: Monomere, Grundbausteine und Strukturelemente einiger Makromoleküle
Monomere
Grundbausteine
Strukturelemente
CH2 CHCl
CH2CHCl
CH2CHCl
CH2 CH2
CH2CH2
CH2
H2N(CH2)6NH2 + HOOC(CH2)4COOH
NH(CH2)6NH + CO(CH2)4CO
NH(CH2)6NHCO(CH2)4 CO
2.1.1 Klassifizierung der Makromoleküle Größe Makromoleküle unterteilt man bezüglich ihrer Größe in drei Klassen. Sind nur zwei, drei oder einige wenige Grundbausteine durch Hauptvalenzen miteinander verknüpft, so heißen die Produkte Dimere, Trimere oder allgemein Oligomere. Makromoleküle mit einer Molmasse zwischen 1103 und 1104 g/mol heißen Pleionomere. Ist die Molmasse des Makromoleküls größer als 1104 g/mol, so spricht man von Polymeren. Herkunft Makromoleküle können anorganischer oder organischer Natur sein. Bei den organischen Polymeren unterscheidet man natürliche Polymere oder Biopolymere, chemisch modifizierte Polymere und synthetische Polymere. Da von allen Elementen der Kohlenstoff aufgrund seiner Elektronenkonfiguration für die Polymersynthese besonders gut geeignet ist, kommt den organischen Makromolekülen die weitaus größere Bedeutung zu. Viele der synthetisch hergestellten Polymere haben in ihrem Produktionsvolumen inzwischen solche Dimensionen gewonnen, dass man sie als Massenpolymere bezeichnen kann. Dazu zählen unter anderem Polyethylen, Polyvinylchlorid und Polystyrol. Biopolymere bilden die Grundlage aller lebenden Organismen. Man gliedert sie nach ihren Grundbausteinen in Polydiene, Polysaccharide, Polypeptide (Proteine) und Polynucleotide. Die Natur ist in der Lage, diese komplizierten Makromoleküle hochspezifisch und reproduzierbar herzustellen. Die Komplexität der Biopolymere ist die Voraussetzung für die Vielfalt des Lebens; ja das Leben selbst beruht auf der Bildung, der Umwandlung und dem Abbau natürlicher Polymere. Die natürlichen Polymere oder Biopolymere werden unterteilt in: 1) Polydiene: Naturkautschuk, Guttapercha, Balata
2 Struktur der Makromoleküle
3
2) Polysaccharide, Lignin: Stärke, Cellulose, Glykogen, Dextran, Pektin, Alginsäure, Chitin, Heparin, Hyaluronsäure, Agar-Agar. 3) Polypeptide (Proteine): Enzyme, Hormone, Seide, Keratin, Kollagen, Myosin, Hämoglobin, Albumine, Globuline, Toxine. 4) Polynucleotide: Desoxyribonucleinsäure (DNA, DNS), Ribonucleinsäure (RNA, RNS). Zu den chemisch modifizierten Biopolymeren gehören: Celluloseether, Nitrocellulose, Stärkederivate, Viskoseseide, Zellwolle, Celluloid. Beispiele für synthetische Polymere sind: Polyacrylamid, Polyacrylsäure, Polybutadien, Polymethacrylsäure, Polyethylenimine, Polystyrol, Polysulfonsäure, Polytetrafluorethylen, Polyvinylalkohol, Polyvinylchlorid, Polyvinylpyrrolidon. Molekulare Struktur Bezüglich der molekularen Struktur unterscheidet man Thermoplaste (lineare oder verzweigte Polymere), Elastomere (weitmaschig vernetzte Polymere) und Duroplaste (engmaschig vernetzte Polymere). Verwendung Makromoleküle werden für viele Anwendungen eingesetzt. Als Beispiele seien genannt: Pressmassen, Spritzgussmassen, Halbzeuge (Profile, Platten Rohre), Gummiartikel, Reifen, Folien, Fasern, Schaumstoffe, Klebstoffe, Lacke, Membranen, Ionenaustauscher. Zusammensetzung Makromoleküle, die nur aus einer Sorte von Grundbausteinen bestehen, werden als Uni- oder Homopolymere bezeichnet. Ein Polymer, das verschiedene Sorten von Grundbausteinen enthält, heißt Hetero- oder Copolymer. Besteht ein Copolymer aus zwei, drei oder vier verschiedenen Sorten von Grundbausteinen, so spricht man genauer von Bi-, Ter- oder Quartärpolymeren. 2.1.2 Nomenklatur 2.1.2.1 Anorganische Makromoleküle Zu den anorganischen Makromolekülen zählen z.B. die Polyphosphate und die Silikone. Das Strukturelement eines anorganischen Makromoleküls besteht aus einem Zentralatom und den zugehörigen Liganden. Aufgrund eines Beschlusses der International Union of Pure and Applied Chemistry (IUPAC) ist das Zentralatom dabei dasjenige Atom, welches in der Folge bzw. Sequenz o
F Ge Co Hf Cs
Cl Sn Rh Sc Fr
Br Pb Ir Y He
I B Fe La Ne
At Al Ru Lu Ar
O Ga Os Ac Kr
S In Mn Lr Xe
Se Tl Tc Be Rn
Te Zn Re Mg o
Po Cd Cr Ca
N Hg Mo Sr
P Cu W Ba
As Ag V Ra
Sb Au Nb Li
Bi Ni Ta Na
C Pd Ti K
Si Pt Zr Rb
an letzter Stelle steht. Die Liganden sind entweder Brücken- oder Seitengruppen. Diese werden stets in alphabetischer Reihenfolge angeordnet, wobei die Brückengruppe zur Unterscheidung von der Seitengruppe ein μ vor ihrem Namen erhält. Wenn ein Ligand sowohl als Brücken- als auch als Seitengruppe vorkommt, wird er zuerst als Brückengruppe genannt. Anorganische Makromoleküle besitzen meist eine bestimmte Raumstruktur oder Dimensionalität. Diese wird bei der Namensbildung durch eine kursiv geschriebene Vorsilbe berücksichtigt. Cyclo, Catena, Phyllo und Tecto bezeichnen dabei ringförmige, einsträngige, flächenförmige und netzförmige Polymere. Wenn die Polymere mehrsträngig sind, wird jeder Strang wie bei Einzelketten benannt. Die Verbindungsgruppen zwischen den einzelnen Strängen erhalten vor ihrem Ligandennamen das Symbol μ', und die beiden jeweils miteinander verknüpften Zentralatome werden kursiv geschrieben. Anwendungsbeispiele für die Nomenklatur anorganischer Makromoleküle gibt Tabelle 2.2.
2.1 Grundbegriffe
4
Tabelle 2.2: Trivial- und IUPAC-Namen einiger anorganischer Makromoleküle
Strukturelement
Trivialname
IUPAC-Name
S
Polymerer Schwefel
Catena-poly(schwefel)
SiF2
Siliciumfluorid
Catena-poly(difluorsilicium)
OSi(CH3)2
Polydimethylsiloxan, Silikon
Catena-poly[P-oxy-dimethylsilicium(IV)]
OSi(C6H5)2
Polydiphenylsiloxan
Catena-poly[P-oxy-diphenylsilicium(IV)]
NCAg
Silbercyanid
Catena-poly[P-cyano-NC-silber (I)]
NCCH3
Bis(Cu-Cl’,Cl-Cu’)
_
CuCl _
_
__________
{Catena-poly[acetonitril-chlorkupfer(I)]}
Cl Cu _
NCCH3
2.1.2.2 Organische Makromoleküle Die konventionelle Nomenklatur der Makromoleküle hat sich empirisch entwickelt. Die Benennung des Polymeren erfolgt dabei entweder nach dem Namen des Monomeren, aus dem das Polymer hergestellt wurde, oder nach dem Namen des Strukturelements, aus dem das Polymer besteht. Nach der ersten Art sind z.B. die Bezeichnungen Polystyrol, Polyacrylnitril und Polybutadien gebildet. Beispiele für die nach den Strukturelementen benannten Verbindungen sind das Polyethylenterephthalat und das Polyphenylenoxid. Im Laufe der letzten hundert Jahre wurden immer kompliziertere Makromoleküle synthetisiert. Es wurde deshalb notwendig, eine systematische Nomenklatur zu entwickeln. Diese geht von den sich im Makromolekül wiederholenden, in ihrer Konstitution gleichartigen Strukturelementen aus. Die Benennung der Strukturelemente erfolgt dabei weitgehend nach der IUPAC-Nomenklatur niedermolekularer organischer Moleküle. Das kleinste Strukturelement eines unverzweigten organischen Moleküls ist ein bivalentes Radikal. So stehen z.B. O für oxy-, S für thio- und CO für Carbonyl-Radikale. Der Name des Makromoleküls ergibt sich dann aus der Vorsilbe „Poly“ und die in Klammern gesetzte Aufeinanderfolge der Namen dieser einfachen bivalenten Radikale. Für die Reihenfolge der Strukturelemente hat man bestimmte Prioritätsregeln festgelegt. So steht in dem Fall, dass das Polymer mehrere Strukturelemente enthält, der Name des Strukturelements mit der höchsten Priorität links und der Name des Elements mit der niedrigsten Priorität rechts. Heterocyclische Ringe besitzen die höchste Priorität. Es folgen Kettenstücke mit Heteroatomen, carbocyclische Ringe und schließlich Ketten, die nur aus Kohlenstoffatomen bestehen. Einige Beispiele für die Anwendung der IUPAC-Nomenklatur zeigt Tabelle 2.3. Tabelle 2.3: IUPAC- und Trivial-Namen organischer Makromoleküle und Biopolymere
Strukturelement
IUPAC-Name Trivialname
Strukturelement
IUPAC-Name Trivialname
CH2
Poly(methylen) Polyethylen
CH2CH CHCH2
Poly(1-butylen) Poly(1,4-butadien)
CHCH2
Poly(propylen)
CH2C CHCH2
Poly(1,4-Isopren) Kautschuk
_
CH3
_
CH3
2 Struktur der Makromoleküle Poly(isobutylen)
CHCH2
Poly(1-phenylethylen) Polystyrol
Poly(acrylsäure)
CHCH2
Poly(methylacrylat)
CH3 _
CCH2 _
CH3 CHCH2 _
_
COOH
COOCH3
CHCH2
CHCH2
Poly(acrylamid)
_
_
CONH2
Poly(acrylnitril)
CN
CH3
Poly(methacrylsäure)
_
CCH2
CH3 _
Poly(methylmethacrylat)
CCH2
_
_
COOH
COOCH3
CF2
Poly(methylidenfluorid) Polytetrafluorethylen
OCH2
Poly(oxymethylen) Polyformaldehyd
CHCH2
Poly(1-chlorethylen) Polyvinylchlorid
_
Cl
OCH2CH2
Poly(oxyethylen) Polyethylenglykol
Cl
Poly(1-dichlorethylen) Polyvinylidenchlorid
_
CCH2 _
Cl CHCH2
CHCH2
Poly(vinylalkohol)
_
_
OOCCH3
OH CHCH2 N H2C CO H2C
Poly(vinylacetat)
Poly(vinylpyrrolidon)
CO(CH2)5NH
Poly(H-Caprolactam) Nylon 6
CH2
NH(CH2)6NHCO(CH2)4CO
Poly(hexamethylen-Adipinsäureamid); Nylon 66
NH(CH2)6NHCO(CH2)8CO
Poly(hexamethylen-Sebacinsäureamid); Nylon 610
CO
Poly(ethylenterephthalat); Polyester
COOCH2CH2O
CO (CH2)4COOCH2CH2O
Poly(ethylenadipat); Polyester
CONH(CH2)6NHCOO(CH2)4O
Poly(tetramethylenhexamethylen-Urethan)
CH3 O
C
Poly(4,4-iso-Propyliden-Diphenylencarbonat) Bisphenol A Polycarbonat
OCO
CH3 CO CO
O CO NH
O
Poly(etheretherketon)
NH
Poly(p-phenylenterephthalamid); KEVLAR
5
2.1 Grundbegriffe
6
O
CH3 C
O
O
CH3
C
O C
C
C
O
O
O N
Polysulfon
S O
N
Polyimid
O
2.1.2.3 Biopolymere Primärstruktur Die räumliche Struktur eines Biopolymers wird entscheidend durch seine Konstitution bestimmt. Sie gibt an, welche Bausteine das Biopolymer enthält und wie diese entlang der Kette angeordnet sind. Man bezeichnet sie als Primärstruktur. x Proteine Proteine bestehen aus L-D-Aminosäuren, die amidartig miteinander verknüpft sind. Die Verknüpfung heißt Peptidbindung. Einen Ausschnitt aus einer Polypeptidkette zeigt Abbildung 2.1. O
R2 O H H C C CH N N .... .... CH N CH C
Abbildung 2.1: Ausschnitt aus einer Polypeptidkette
R1
O
H
R3
Die Seitengruppen Ri geben die Art der eingebauten Aminosäuren an. So stehen zum Beispiel die Gruppen H für Glycin (Gly), CH3 für Alanin (Ala) und CH2SH für Cystein (Cys). Insgesamt finden wir ca. 20 verschiedene Animosäuren in den Proteinen. Dieser einfache Bauplan wird geringfügig modifiziert, wenn das Protein die D-Iminosäuren Prolin und Hydroxyprolin enthält. Es tritt dann ein Ringschluss zwischen dem N- und dem D-CAtom auf: N
CH
CO
R
Eine Sonderstellung nimmt auch Cystein ein. Die sehr reaktionsfähige SH-Gruppe kann mit der eines anderen Cystein-Moleküls reagieren und eine Disulfidbrücke (SS-Brücke) ausbilden: SH + HS
H2
S
S
+H2
Das Reaktionsprodukt wird Cystin genannt. Es handelt sich um eine Aminosäure mit der Seitenkette CH2SSCH2CH(NH2)COOH. Die Aminosäurereste eines Proteins werden durch Dreibuchstabensymbole gekennzeichnet. Die Kette wird von der N-terminalen Gruppe zur C-terminalen Gruppe hin geschrieben. Manchmal wird das N-terminale Ende mit H und das C-terminale Ende mit OH markiert. Ein Beispiel für diese Nomenklatur ist die Sequenz Glycyl-Alanyl-Leucin. Sie wird durch HGlyAlaLeuOH oder einfach durch GlyAlaLeu symbolisiert. x Polysaccharide Verbinden sich viele Monosaccharide durch glykosidische Bindungen miteinander, so entsteht ein Polysaccharid. Es wird auch Glykan genannt. Vom chemischen Aufbau her lassen sich drei Typen unterscheiden: (1) Homoglykane, die lediglich ein Monosaccharid als Baustein enthalten, (2) Heteroglykane (sie enthalten mehrere verschiedene Grundbausteine, meist aber
2 Struktur der Makromoleküle
7
nur zwei oder drei) und (3) konjugierte Verbindungen wie Glykoproteine oder Glykolipide. Ein Beispiel für ein Homoglykan ist die Cellulose. Sie besitzt als einzigen Baustein Glucose: CH2OH O
CH2OH
O
O
O
O
CH2OH
O
O
O
O
CH2OH
O
O
O
CH2OH
O
CH2OH
Ein weiteres wichtiges Homoglykan ist Stärke. Sie besteht aus Amylose und Amylopektin. Der Grundbaustein der Amylose, die 2030 % der meisten nativen Stärken ausmacht, ist die Maltose (D-Glucosido-4-glucose). Die Glucosereste sind 1 o 4-D-glykosidisch miteinander verknüpft. Die Moleküle sind nicht langgestreckt. Eine Amylosekette ist in Schraubenform aufgewickelt. Amylopektin enthält neben 1 o 4 auch 1 o 6 verknüpfte Glucoseeinheiten. Die enzymatische Spaltung liefert neben Maltose auch Isomaltose. Amylopektin ist zudem verzweigt. An der Hauptkette sitzen Seitenketten, an die sich wieder Seitenketten angliedern. Im Mittel verzweigt sich die Kette einmal pro 25 Glucosereste. CH2OH
CH2OH
O
O
O O CH2OH
CH2OH
Abbildung 2.2: Strukturausschnitt eines Amylopektins
CH2OH
CH2
O
O
O
O
O
O
O
O
x Nucleinsäuren Die Bausteine der Nucleinsäuren sind die Nucleotide. Sie bestehen aus einer organischen Base, einem Zucker (Pentose) und Phosphorsäure. Die Pentose ist entweder D-Ribose oder 2-Desoxy-D-Ribose. Es gibt daher zwei Arten von Nucleotiden, Ribotide und Desoxyribotide. Die beiden Formen der Nucleinsäuren heißen Ribonucleinsäure (RNS, RNA) und Desoxyribonucleinsäure (DNS, DNA). Die Base eines Nucleotids ist entweder eine Pyrimidin- oder eine Purinbase (s. Abbildung 2.3). O
O NH
N H Uracil
O
H3C
NH2
NH2
NH N H Thymin
O
N
N N H
O
Cytosin
N H
N N
Adenin
O N N H
NH N
NH2
Guanin
Abbildung 2.3: Die wichtigsten Basen der Nucleinsäuren
Die wichtigsten Pyrimidinbasen sind Uracil, Thymin und Cytosin. Eine der seltener vorkommenden Basen ist 5-Methylcytosin. Die Purinbasen setzen sich aus zwei heterocyclischen Ringen zusammen. Ihre wichtigsten Vertreter sind Adenin und Guanin. Die Nucleotide sind in den Nucleinsäuren durch Phosphodiesterbrücken in C3c- und C5cPosition der Pentose miteinander verknüpft (siehe Abbildung 2.4). Dies führt zu langen, unverzweigten Kettenmolekülen. Das gilt sowohl für RNS als auch für DNS. Sie unterscheiden sich aber in ihrer Basenzusammensetzung: Anstelle des Uracils in der RNS enthält die DNS Thymin.
2.1 Grundbegriffe
8
O
O
NH
O P O O
CH2
O
N
O
O OH NH2
O
N
N
O P O O
CH2
O
N
N
O OH
O
NH2
O P O
N
O CH2 O O
O
OH O
O
NH
O P O O
CH2
O
N
O
O OH
Abbildung 2.4: Ausschnitt aus einem Ribonucleinsäurestrang. Die Basen ragen als Seitengruppen aus der Kette heraus.
Abbildung 2.5: Schema einer D-Helix nach Pauling und Corey
Sekundärstruktur Die Bausteine eines Biopolymers wechselwirken miteinander. Wichtige Wechselwirkungskräfte sind H-Brücken, elektrostatische Wechselwirkungen und van der WaalsWechselwirkungen. Sie führen dazu, dass sich die Bausteine gegeneinander verdrehen und Bindungen miteinander eingehen. Das Biopolymer geht dabei in eine Konformation über, die einer möglichst niedrigen Energie entspricht. Die Art dieser Sekundärstruktur kann sehr verschieden sein. Sie hängt von den Milieubedingungen wie Temperatur, pH-Wert und Lösemittelzusammensetzung ab. x Proteine Es existieren zwei wichtige Sekundärstrukturen in Proteinen, die D-Helix und die EStruktur. Sie lassen sich mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse bestimmen. Die D-Helix entsteht durch Ausbildung von H-Brücken zwischen einer Peptidgruppe und ihren jeweils dritten Nachbargruppen längs der Kette. Das Proteinmolekül erhält dadurch einen schraubenförmigen Aufbau mit 3,6 Aminosäuren pro Windung (siehe Abbildung 2.5). Die D-Helix tritt nicht auf bzw. wird unterbrochen, wenn sich Prolin in der Kette befindet. Der Rest dieser Aminosäure hat kein NH-Proton, das zur Ausbildung einer H-Brücke zur Verfügung gestellt werden könnte. Die Bildung helicaler Bereiche wird aber auch durch Aminosäuren wie Ser, Thr, Val, Cys und Ileu erschwert. Reine D-Helices bilden nur synthetische Proteine wie Poly-L-lysin und Poly-J-benzyl-L-glutamat. Der Anteil der D-Helices in natürlichen Proteinen ist meist kleiner als 30 %.
2 Struktur der Makromoleküle
9
Die zweite wichtige Sekundärstruktur eines Proteins ist die E-Struktur. Sie wird auch Faltblattstruktur genannt (siehe Abbildung 2.6). Hierbei lagern sich Proteinketten in paralleler oder antiparalleler Weise faltblattartig zusammen, und zwar intracatenar durch Rückfaltung in einer Proteinkette oder intercatenar durch Zusammenlagerung verschiedener Proteinketten. Ihre Ausbildung wird durch H-Brücken zwischen NH- und C=O-Gruppen der Aminosäurereste bewirkt. Sie erfolgt bevorzugt, wenn die Proteine Gly- und Ala-Reste besitzen. In sehr ausgeprägter Form liegt die E- Struktur in der natürlichen Seidenfaser und in den synthetischen Polyamidfasern (Nylon) vor.
Abbildung 2.6: Faltblattstruktur von Proteinen (P. Karlson 1970)
x Nucleinsäuren Die Nucleinsäuren sind ebenfalls zur Ausbildung inter- und intracatenarer HBrücken befähigt. Watson und Crick haben 1953 dazu das Doppelhelix-Modell der DNS vorgeschlagen. In diesem Modell werden zwei gegensinnig verlaufende DNS-Stränge zu einer Doppelhelix verknüpft, indem jeder Adeninrest des einen Strangs mit einem Thyminrest des anderen Strangs und jeder Guaninrest des einen Strangs mit einem Cytosinrest des anderen Strangs über H-Brücken miteinander verbunden werden. Es existieren in einer DNS nur diese beiden komplementären Basenpaare: AdeninThymin und GuaninCytosin. Dabei werden jeweils zwei AT- und drei GCH-Brücken vom Typ NHO=C und NHN ausgebildet (s. Abbildung 2.7). Eine DNS-Doppelhelix kommt in verschiedenen Konformationen vor, die sich unter verschiedenen Bedingungen im Kristallzustand bilden. Einen Überblick gibt Tabelle 2.4. In wässriger Lösung liegt die DNS-Doppelhelix als B-Konformation vor. Sie ist in Abbildung 2.8 schematisch dargestellt. Wir weisen darauf hin, dass die DNS-Doppelhelix nicht allein durch die H-Brücken stabilisiert wird. Der größere Energiebeitrag zur Stabilisierung entsteht durch das Überstapeln der Basenpaare. Die Ringebenen der benachbarten Basen kommen so dicht aneinander, dass van der Waals-Kräfte wirksam werden.
2.1 Grundbegriffe
10
Adenin
Thymin H
282 pm
H3C
O N
H H
Pentose
N
N 291 pm
N
N
N
N
Pentose
O
Abbildung 2.7: H-Brückenbindung in der DNS-Doppelhelix zwischen Adenin und Thymin
Abbildung 2.8: Schematische Darstellung der B-Konformation einer DNS-Doppelhelix (E. Harbers, Nucleinsäuren, Thieme, Stuttgart 1975) Tabelle 2.4: Strukturdaten der A-, B- und C-Konformation einer DNS-Doppelhelix
Konformation Basenpaare pro Windung
A
B
C
11
10
9,3
Ganghöhe/nm
2,82
3,37
3,10
Neigungswinkel der Basenpaare zur Helixachse
20°
0°
6°
C-3c-endo
C-3c-exo
C-3c-exo
Faltung des Furanoserings
Die RNS bildet keine Doppelhelix aus. Es werden aber innerhalb einer Kette mehr oder weniger große Bereiche mit geordneter Struktur gefunden. Diese Ordnung beruht ebenfalls auf der komplementären Basenpaarung. Es wird allerdings stets nur die A-Konformation ausgebildet. Das ist auf die in der RNS vorhandenen 2cOH-Gruppen der Ribose zurückzuführen, die eine Ausbildung der B-Konformation verhindern. Tertiärstruktur Jedes Biopolymer besteht aus einer bestimmten Anzahl von Segmenten, wobei sich jedes Segment aus mehreren Grundbausteinen zusammensetzt, die auf Grund ihrer Wechselwirkungen eine Sekundärstruktur aufbauen. Zwischen den Segmenten bestehen ebenfalls Wechselwirkungen, und zwar die gleichen wie zwischen den Grundbausteinen. Es kommt deshalb zu Segment/Segment-Bindungen. Die räumliche Struktur, die sich dadurch ausbildet, heißt Tertiärstruktur. x Proteine Ein schönes Beispiel ist das Enzym Lysozym. Seine Untereinheiten setzen sich zu 35 % aus D-Helices und zu 10 % aus E-Strukturen zusammen. Das führt zu einer kompakten Struktur, in der ein großer Teil der unpolaren Seitengruppen im Innern des Proteins liegen und somit einer Wechselwirkung mit dem Wasser entzogen sind. Bei der Faltung eines Proteins zur Tertiärstruktur werden auch oft chemische Kovalenzen geknüpft, nämlich Disulfidbrücken. Das geschieht zwischen zwei Cysteinresten durch Oxidation der SH-Gruppen. Diese Sulfidbrücken verklammern die Proteinketten, wodurch eine zusätzliche Stabilisierung ereicht wird. x Nucleinsäuren Die DNS-Doppelhelix kommt in Viren und Bakterien oft als geschlossener Ring vor. Sie ist dort verdrillt. Diese Tertiärstruktur heißt Superhelix oder Supertwist. Eine andere
2 Struktur der Makromoleküle
11
Tertiärstruktur liegt in den Chromatinfibrillen vor. Die DNS-Doppelhelix hat dort die Konformation einer einfachen Spirale, deren Dimension durch angelagerte Proteine bestimmt wird. Quartärstruktur Quartärstrukturen existieren nur bei Proteinen. Es lagern sich dabei mehrere Proteineinheiten so zusammen, dass eine biologisch aktive Struktur entsteht. Wichtige Beispiele sind der Tabakmosaikvirus (TMV) (er besteht aus 2100 Proteinketten) und das Hämoglobin (es entsteht durch Zusammenlagerung von zwei D- und zwei E-Proteinketten). Höhere Organisationsformen Proteine treten in biologischen Systemen nicht isoliert auf. Sie sind Bestandteil von Komplexen mit anderen Molekülen. Diese Komplexe heißen Proteide. Je nach der Natur des Komplexpartners wird u.a. zwischen Metallproteiden (Komplexe mit Metallen), Glycoproteiden (Komplexe mit Polysacchariden), Lipoproteiden(Protein/Fett-Komplexe) und Nucleoproteiden (Protein/Nucleinsäure-Komplexe) unterschieden. Zu letzteren gehören die Chromosomen und auch die Ribosomen, an denen sich die Proteinsynthese abspielt. 2.1.3 Polymerisationsgrad und Molmasse Der Polymerisationsgrad P gibt die Anzahl der Grundbausteine pro Polymermolekül an. Er steht mit der Molmasse M des Makromoleküls und der Molmasse M0 der Grundbausteine in Beziehung. Für Homopolymere gilt: P = M / M0
(2.1)
Enthält das Polymermolekül Grundbausteine verschiedener Molmassen, so müssen wir ihre Anteile einzeln bestimmen, um zum Polymerisationsgrad zu gelangen. Die einzelnen Polymermoleküle eines Präparates besitzen in der Regel unterschiedliche Polymerisationsgrade. Die Häufigkeit, mit der eine bestimmte Molmasse in einem Präparat auftritt, wird durch die Molmassenverteilung erfasst. Diese hängt von der Herstellungsweise des Präparats ab und lässt sich experimentell ermitteln. 2.1.3.1 Das Zahlenmittel Mn Jede Molmassenverteilung lässt sich durch bestimmte Parameter wie z.B. Mittelwert und Streuung charakterisieren. In der Probe treten Makromoleküle mit den Molmassen M1, M2, M3, . . . Mk auf. M1 bis Mk seien der Größe nach geordnet. Das Zahlenmittel der Molmasse, Mn, ist dann wie folgt definiert: k
k
M n { ¦ N i Mi
¦ Ni
i 1
(2.2)
i 1
Hierbei bezeichnet Ni die Anzahl der Makromoleküle in der Probe, die die Molmasse Mi besitzen, wobei Mk die größte vorkommende Molmasse ist. Wir können also sagen, dass Mn das gewogene arithmetische Mittel der Molmasse einer Probe ist, bei dem die Molmassenwerte Mi mit ihren absoluten Häufigkeiten Ni gewichtet werden. Experimentell lässt sich Mn beispielsweise mit Hilfe der Methode der Osmose bestimmen. Der Index n steht dabei als Abkürzung des englischen Wortes „number average“. Ni ist über die Beziehung Ni = ni NA mit der Molzahl ni und der Avogadro-Zahl NA verknüpft. Wir können deshalb auch schreiben: k
Mn
k
¦ ni M i ¦ ni
i 1
i 1
k
¦ x i Mi
i 1
mit
k
k
i 1
i 1
¦ x i 1 und x i = ni ¦ ni .
(2.3)
Das bedeutet: Mn ist identisch mit dem Mittelwert der Zahlenverteilung oder der Häufigkeitsverteilung der Molmasse.
12
2.1 Grundbegriffe
Statistische Kennzahlen (Lage- und Streuungsparameter) von Verteilungen kann man allgemein als Momente dieser Verteilungen definieren. So ist z.B. das Q-te Moment nPQ um den Nullpunkt einer Molmassenverteilung so definiert: k
n
P Q { ¦ ni MiQ i 1
k
k
i 1
i 1
¦ ni ¦ x i
MiQ
(2.4)
Hierbei ist Q eine ganze Zahl. Setzt man in Gleichung (2.4) Q = 1, so erkennt man, dass Moment der häufigkeitsgewichteten Molmassenverteilung.
n
PQ
Mn ist. Mn ist also das erste
2.1.3.2 Das Massenmittel Mw Wir wollen mit mi die Gesamtmasse der Makromoleküle mit der Molmasse Mi bezeichnen. Die Summe 6 mi ist dann identisch mit der Gesamtmasse der Probe und das Verhältnis wi = mi / 6 mi gibt den Massenanteil oder den Massenbruch der Makromoleküle mit der Molmasse Mi in der Probe an. Hieraus leitet sich das massengemittelte Molmassenmittel Mw ab. Der Index w steht dabei als Abkürzung für „weight average“. Es gilt: k
M w { ¦ mi M i i 1
k
k
¦ mi ¦ wi M i i 1
k
k
k
i 1
i 1
i 1
¦ w i ¦ mi ¦ mi
mit
i 1
1
(2.5)
Wir können also sagen, dass Mw das gewogene arithmetische Mittel der Molmassen einer Probe ist, bei dem die Molmassenwerte Mi mit ihren Massenbrüchen wi gewichtet werden. Verwendet man die Stoffmenge ni, so ergibt sich für Mw mit der Beziehung mi = ni Mi: k
Mw
k
k
k
¦ mi Mi ¦ mi ¦ ni Mi2 ¦ ni Mi i 1
i 1
i 1
n
P2
n
P1
(2.6)
i 1 n
Mw ist also identisch mit dem Verhältnis P 2 n P 1 aus dem zweiten und ersten Moment um den Nullpunkt der n-gewichteten Molmassenverteilung. Analog dem Q-ten Moment der Molzahlverteilung der Molmasse können wir auch das Q-te Moment der w-gewichteten Molmassenverteilung definieren. Es gilt: k
w
P Q { ¦ mi MiQ i 1
k
k
i 1
i 1
¦ mi ¦ wi MiQ
(2.7)
Für Mw bedeutet dies: Mw ist gleich dem ersten Moment der w-gewichteten Molmassenverteilung. Experimentell kann man Mw z.B. mit Hilfe der Methode der statischen Lichtstreuung bestimmen. 2.1.3.3 Das Zentrifugenmittel Mz und die allgemeine Form für Mittelwerte Eine weniger anschauliche Bedeutung hat der „Zentrifugenmittelwert der Molmasse“, Mz. Wir führen dazu die Größe zi wi Mi mi Mi ¦ mi ein und definieren Mz als das erste Moment einer z-gewichteten Molmassenverteilung:
Mz { z P 1
k
¦ z i Mi i 1
k
¦ zi i 1
k
¦ mi Mi2 i 1
k
¦ mi M i i 1
k
¦ ni Mi3 i 1
k
¦ ni Mi2
(2.8)
i 1
Der Index z steht dabei für Zentrifugenmittel, da Mz aus Messungen des Sedimentationsgleichgewichts mit Hilfe einer analytischen Ultrazentrifuge bestimmt werden kann. In ähnlicher Weise lassen sich weitere Molmassenmittelwerte definieren. Die allgemeine Form für den Mittelwert der Molmasse lautet:
2 Struktur der Makromoleküle k
k
k
k
k
k
i 1
i 1
i 1
i 1
i 1
i 1
13
¦ zi MiE 1 ¦ zi MiE 2 ¦ wi MiE ¦ wi MiE 1 ¦ mi MiE ¦ mi MiE 1
ME
k
¦ xi
k
k
¦ x i Mi
E 1
Mi
i 1
k
¦ ni M i
E
i 1
¦ ni
E 1
i 1
(2.9)
E
Mi
i 1
Für E = 0 ist ME = Mn, für E = 1 gilt ME = Mw und für E = 2 ist ME = Mz. Die Mittelwerte ME mit E = 3, 4, ... bezeichnet man mit Mz+1, Mz+2, .... Es ist natürlich auch möglich, Mittelwerte von anderen physikalischen Größen als der Molmasse zu bilden. Eine solche Größe kann z.B. der Trägheitsradius R oder der Translationsdiffusionskoeffizient D sein. Wir bezeichnen sie im folgenden mit A. Der allgemeine Mittelwert AE der Größe A besitzt dann in Analogie zu Gleichung (2.9) die Form:
AE
k
k
k
k
i 1
i 1
i 1
i 1
¦ wi MiE 1 Ai ¦ wi MiE 1 ¦ xi MiE Ai ¦ xi MiE
(2.10)
Ai ist dabei der Messwert von A, den wir erhalten, wenn die Probe nur aus Molekülen mit der Molmasse Mi besteht, d.h. wenn sie monodispers ist. Wenn wir A = M setzen, geht Gleichung (2.10) in Gleichung (2.9) über. 2.1.3.4 Darstellung der Mittelwerte als Momente Zusammenfassend können wir für die Molmassen Mn, Mw und Mz schreiben:
P1
w
P0
w
P1
n
P2
n
P1
w
P2
w
Mn
n
Mw
w
Mz
z
P 1
P1 P1
z
P 1
z
P0
z
n
P3
n
z
P 2
(2.11)
P 1
(2.12)
P2
(2.13)
Alle bisher betrachteten Molmassenmittelwerte sind durch das erste Moment der jeweiligen Verteilung bestimmt. Man bezeichnet sie daher als „einmomentige Mittelwerte“. Es gibt aber auch mehrmomentige und zusammengesetzte Mittelwerte, die in der Makromolekularen Chemie eine Rolle spielen. Auf diese wollen wir hier aber nicht eingehen. Es sei statt dessen erwähnt, dass auch Molmassenmomente mit nicht ganzzahliger Ordnung existieren. Ein solcher Molmassenmittelwert ist das Viskositätsmittel MK. Es ist definiert als: MK {
FG ¦ m H k
i
k
¦ mi
Mia
i 1
i 1
IJ K
FG ¦ w H
1/ a
k
i
Mia
i 1
IJ K
1/ a
(2.14)
wobei a eine positive rationale Zahl ist, die in der Regel einen Wert zwischen 0,5 und 0,9 annimmt. Es lässt sich leicht beweisen, dass gilt:
M n d MK d M w d M z
(2.15)
2.1.3.5 Die Uneinheitlichkeit U Ein Maß für die Breite einer Molmassenverteilung ist deren Standardabweichung V. Dabei umfasst 6 V ein Intervall, in dem mehr als 99 % aller Molmassenwerte der Verteilung liegen. V selbst ist gleich der Wurzel aus der Streuung V 2 der Verteilung. Es gilt die Beziehung:
V2 {
k
¦ n M i
i 1
n
P2
n
i
Mn 2
k
k
¦ n ¦ n M i
i 1
i
i 1
P1 P1 2 P1 M n M n
n
2 n
2 i
2 M i M n M n2
Mn Mw Mn
k
¦n
i
i 1
(2.16)
14
2.1 Grundbegriffe
Häufig benutzt man an Stelle von V die Uneinheitlichkeit U. Diese ist definiert als: U { Mw Mn 1
(2.17)
Mit Gleichung (2.16) folgt daraus:
V
V2
M n2 U
Mn
U
(2.18)
Die „Breite“ einer Molmassenverteilung ist demnach proportional zum n-gewichteten Molmassenmittel Mn und zur Wurzel aus der Uneinheitlichkeit U. Besitzen alle Makromoleküle einer Probe die gleiche Molmasse, so gilt: Mn = Mw = Mz und U = 0. Eine solche Probe bezeichnet man als monodispers bezüglich der Molmasse. Die technisch interessanten Polymere besitzen dagegen eine Uneinheitlichkeit, die deutlich größer als 0 ist. Man sagt deshalb, sie seien polydispers oder molekular uneinheitlich bezüglich der Molmasse. Polymere werden nahezu monodispers genannt, wenn U [0; 0,1] ist. Solche Polymere entstehen z.B. bei der anionischen Polymerisation. Polykondensate und radikalisch hergestellte Polymere sind dagegen deutlich polydispers. So ist der U-Wert eines Hochdruckpolyethylens oft größer als 30. 2.1.3.6 Beispiele Die Mittelwerte der Molmasse und die Uneinheitlichkeit besitzen in der Polymerchemie eine sehr große Bedeutung. Es ist deshalb aufschlussreich, den Einfluss unterschiedlich verteilter Molmassen-Anteile auf Mn, Mw, Mz und U zu untersuchen. Wir betrachten dazu drei verschiedene Proben, die w1 Anteile Moleküle der Masse M1, w2 Anteile Moleküle der Masse M2 und w3 Anteile Moleküle der Masse M3 enthalten. Im Einzelnen soll gelten: mit
M1 = 1 104 g/mol
;
M2 = 5 105 g/mol
;
M3 = 2 107 g/mol
(1) w1 = 0,10 (2) w1 = 0,00 (3) w1 = 0,05
; ; ;
w2 = 0,90 w2 = 0,90 w2 = 0,90
; ; ;
w3 = 0,00 w3 = 0,10 w3 = 0,05
Für Mn, Mw, Mz und U erhält man dann die in Tabelle 2.5 angegebenen Werte. Beispiel (1) zeigt, dass sich die Massen- und Zentrifugenmittelwerte Mw und Mz kaum von der Molmasse M2 der Hauptkomponente unterscheiden, wenn die Probe nur eine kleine Beimengung (w1 = 0,1) an Pleionomeren enthält. Umgekehrt zeigen die Beispiele (2) und (3),wie drastisch sich Mn und Mw vergrößern, wenn die Probe eine Anzahl sehr großer Makromoleküle enthält. Mikrogele oder Staubpartikel können daher bei Messungen sehr störend sein. Die Uneinheitlichkeit U der Verteilung (3) ist etwa doppelt so groß wie diejenige der Verteilungen (1) und (2). Dies war zu erwarten, da Verteilung (3) im Vergleich zu den Verteilungen (1) und (2) ein deutlich größeres Molmassenintervall [M1, M3] umfasst. Tabelle 2.5: Mn -, Mw -, Mz - und U-Werte der Verteilungen (1), (2) und (3)
Verteilung
105 M n
(1) (2) (3)
0,85 5,54 1,47
g/mol
105 M w 4,51 24,50 14,50
g/mol
105 M z g/mol
U
4,99 164,18 139,48
4,3 3,4 8,9
2.1.3.7 Gewichtete Polymerisationsgrade Die Überlegungen der vorangegangenen Kapitel kann man ohne weiteres auch auf den Polymerisationsgrad P übertragen. So gilt für das Massenmittel von P:
2 Struktur der Makromoleküle
Pw
k
k
k
i 1
i 1
i 1
¦ mi Pi ¦ mi ¦ wi Pi
15
(2.19)
Dabei ist Pi der Polymerisationsgrad eines Makromoleküls der Molmasse Mi. Für Homopolymere vereinfacht sich Gleichung (2.19) zu Pw M w M 0 , denn mit Pi Mi M 0 folgt: k
Pw
k
¦w
Pi
i
i 1
¦ w M i
i
M0
Mw M0
(2.20)
Pz
(2.21)
i 1
Ferner gilt für Homopolymere: Pn M n M 0 und
Mz M0
2.1.4 Differentielle und integrale Verteilungen wi sei der Massenbruch aller Polymermoleküle mit der Molmasse Mi in einer Polymerprobe. Genauer, wi ist der Massenanteil der Masse mi an der Gesamtmasse der Polymerprobe. Wie groß wi im Einzelfall ist, hängt von der Art des benutzten Syntheseverfahrens ab. Im Allgemeinen ergeben sich für die verschiedenen Mi einer Probe unterschiedliche wi. Es ist deshalb zweckmäßig, die Funktion w(M) einzuführen:
wi für M = Mi und i = 1, 2, 3, .... k w(M) { ® ¯ 0 für alle anderen M
(2.22)
Die Funktion w(M) heißt differentielle Verteilungsfunktion der Molmasse. Sie lässt sich durch ein Stabdiagramm graphisch darstellen. Zwei Beispiele zeigen die Abbildungen 2.9 und 2.10.
Abbildung 2.9: Gleichmäßige Verteilung
Abbildung 2.10: Symmetrische Verteilung
Wenn wir die Massenanteile wi, beginnend bei w0 = 0 bis wj (j d k) addieren, erhalten wir den Anteil aller Molmassen des Intervalls [0, Mj] an der Gesamtmasse der Probe. Die Funktion W(Mj), die wir auf diese Weise erhalten, wird integrale Verteilungsfunktion der Molmasse genannt. Sie ist gemäß Gleichung (2.22) durch die Beziehung
d i
W Mj
j
¦ wb Mi g
(2.23)
i 0
mit der differentiellen Verteilung w(M) verknüpft, wobei w(0) = 0 ist. W(M) ist eine Treppenfunktion. Sie besitzt Sprungstellen dort, wo w(Mi) z 0 ist. Zwischen den Sprungstellen ist W(M) eine Konstante, d.h. unabhängig von M. Die Beispiele in den Abbildungen 2.11 und 2.12 veranschaulichen dies. Im Grenzfall M o f konvergiert jede integrale Verteilungsfunktion W(M) gegen eins. Das ist klar, denn für alle i t k ist W(M) gleich dem Massenanteil der Gesamtmasse der Probe an sich selbst, und dieser ist natürlich gleich eins.
16
2.1 Grundbegriffe
Abbildung 2.11: Integrale Verteilung der Funktion w(M) aus Abbildung 2.9
Abbildung 2.12: Integrale Verteilung der Funktion w(M) aus Abbildung 2.10
Bei den real vorkommenden Polymeren ist das Intervall [M1, Mk] im Vergleich zu dem Intervall [0, f] sehr klein. Die auftretenden Mi liegen also meist sehr dicht beieinander. Außerdem ist die Anzahl der in einer Probe vorhandenen Moleküle sehr groß (einige 1023 Teilchen). Wir machen deshalb keinen großen Fehler, wenn wir die real existierende diskrete Massenbruchfunktion w(M) durch eine stetige Verteilung ersetzen. Dabei ist allerdings zu fordern, dass unsere stetige „Ersatzverteilung“ links von M1 und rechts von Mk mit abnehmendem bzw. steigendem M genügend schnell gegen null konvergiert. Die integrale Verteilungsfunktion der Molmasse W(M) geht bei dieser Vereinfachung ebenfalls in eine stetige Funktion über. Anstelle von Gleichung (2.23) können wir schreiben: M
³ w M dM
W M
mit
W M
0
f
³ w M dM
(2.24)
1
0
~ ~ ~ w M dM ist der Massenanteil der Makromoleküle mit der Molmasse zwischen M und M dM . Da die Funktionen W(M) und w(M) stetig sind, folgt durch Differentation von W(M) nach M: d W M dM
wM
(2.25)
Die differentielle Verteilung w(M) ist also gleich der ersten Ableitung der integralen Verteilung W(M) nach M. Die Namensgebungen „differentielle“ und „integrale“ Verteilung werden somit verständlich. Es sei aber erwähnt, dass in der Mathematik w(M) „Dichtefunktion“ und lediglich W(M) „Verteilungsfunktion“ genannt werden. Wenn w(M) eine stetige Funktion ist, gilt in Analogie zu den Gleichungen (2.3), (2.5), (2.8) und (2.9): f
Mn
1
f
1 ³ w M M dM
Mw
;
0
f
Mz
2 ³ w M M dM 0
mit
E
0, 1, 2, !
³ w M M dM 0
f
³ wM M d M
;
0
ME
f
f
0
0
E ³ w M M dM
³ wM M
E 1
dM
f
und
³ w M dM
1
(2.26)
0
Jede andere Messgröße A ist jetzt eine stetige Funktion der Molmasse M. In Analogie zu Gleichung (2.9) gilt deshalb:
2 Struktur der Makromoleküle
AE
f
f
0
0
E 1 ³ w M M A M dM
³ wM M
E 1
dM
17
(2.27)
AE ist dabei eine Größe, die nicht mehr von M, wohl aber noch von anderen Parametern abhängt. Für A = M geht Gleichung (2.27) in Gleichung (2.26) über. Molmassenverteilungen w(M), die in ihrer Form gänzlich verschieden sind, können dieselben Werte für Mn, Mw, Mz, ME und AE liefern. Die bloße Kenntnis von Mn, Mw, Mz, ME und AE reicht deshalb nicht aus, um eine Polymerprobe zu charakterisieren. Dazu muss man den Verlauf der Funktion w(M) sehr genau kennen. Geeignete Messmethoden sind z.B. die Gelpermeationschromatographie (GPC), die Fällungstitration und die Ultrazentrifugation. Die Gestalt bzw. Form einer Molmassenverteilung w(M) wird u.a. durch den Reaktionsmechanismus und die dem Syntheseverfahren des Polymers zugrunde liegenden Reaktionsbedingungen bestimmt. So erhält man für w(M) eine Poisson-Verteilung, wenn die Anzahl der wachsenden Ketten konstant ist, die Anlagerung eines Monomers nicht von der Kettenlänge abhängt und außerdem alle Ketten gleichzeitig gestartet werden. Es gilt:
a f
w M
e -V V 2
b
2 M M0
g
b M M g!
(2.28)
0
wobei V die Streuung der Verteilung, M0 die Molmasse einer Monomereinheit und „!“ das Fakultät-Zeichen bedeuten. Für die Uneinheitlichkeit U einer Poisson-Verteilung gilt: U = 1/Pn. U wird also kleiner, wenn der Zahlenmittelwert Pn des Polymerisationsgrades größer wird. Im Grenzfall Pn o f konvergiert U gegen null. Dieser Fall tritt bei anionisch hergestellten Polymeren auf, wenn alle Ketten gleichzeitig gestartet werden und kein Abbruch erfolgt. Real existierende Molmassenverteilungen werden häufig gut durch die 3-ParameterVerteilung von Hosemann und Schramek beschrieben. Für sie gilt: 2
a f
w M
mit
C B a k +1f C * 1 k 1 C M k exp B M C
a f
* k +1
d
i
(2.29)
f
³ exp x x
k
dx
(2.30)
0
Ihre Molmassenmittel sind:
Mn
* ª¬ k +1 C º¼ * 1 k C B 1 C
Mz
* ¬ª k 3 C ¼º * 1 ¬ª k 2 C ¼º B 1 C
;
Mw
* ª¬ k 2 C º¼ * 1 ª¬ k 1 C º¼ B 1 C (2.31)
Der große Vorteil der Hosemann-Schramek-Molmassenverteilung liegt darin, dass sie bei geeigneter Wahl des Parameters C viele 2-Parameter-Verteilungen mit befriedigender Genauigkeit approximiert. Einige Beispiele zeigt Tabelle 2.6. Tabelle 2.6: Hosemann-Schramek-Verteilungen
Parameter C
Art der Verteilung
0,1 0,5
Wesslau-, Wurzel-Verteilung
1
Schulz-Flory-, Gamma-Verteilung
2
Gauß-, Maxwell-, Poisson-Verteilung
Es sei noch erwähnt, dass das Experiment oft mehrgipflige, d.h. bi-, tri- und mehrmodale Verteilungen liefert. Diese beschreibt man durch die Superposition (Überlagerung) geeigneter unimodaler Molmassenverteilungen.
18
2.2 Konstitution
2.2 Konstitution Die Konstitution eines Makromoleküls gibt Auskunft über die Art und die Anordnung der Grundbausteine und die dadurch bedingte Molekularstruktur. Makromoleküle, welche die gleichen Sorten von Grundbausteinen in jeweils gleicher Anzahl besitzen, können durchaus verschiedene Konstitutionen aufweisen. Die Grundbausteine können entweder zu linearen Ketten oder zu Molekülen mit einer komplizierten Verzweigungsstruktur verknüpft sein. Letzteres ist dann der Fall, wenn die Grundbausteine drei oder mehr reaktionsfähige funktionelle Gruppen besitzen. Enthält das Makromolekül verschiedene Sorten von Grundbausteinen, so können diese zusätzlich statistisch oder regelmäßig innerhalb der Molekülkette angeordnet sein. 2.2.1 Konstitutionsisomerie Verbindungen, die durch die gleiche Summenformel, jedoch durch unterschiedliche Konstitutionsformeln beschrieben werden, bezeichnet man als Konstitutionsisomere. Bei Copolymeren, die sich aus nur zwei Grundbausteinen A und B, in jeweils gleicher Anzahl zusammensetzen, sind z.B. die Makromoleküle
… –A–B–A–B–A–B–A–B–A–B–A–B– … und … –A–A–B–B–A–A–B–B–A–A–B–B– … zueinander konstitutionsisomer. Aber auch lineare Homopolymere können unter gewissen Umständen eine Konstitutionsisomerie aufweisen. Das ist bei Grundbausteinen möglich, die zwei verschiedene Enden besitzen. Ein Beispiel ist der folgende Vinylbaustein R R C C H H bei dem das linke C-Atom zwei Wasserstoffatome und das rechte C-Atom zwei Kohlenwasserstoffrestgruppen R trägt. Bei symmetrischen Bausteinen, wie dem Ethylen, sind die Enden dagegen gleich. Die Polymerchemiker haben sich darauf geeinigt, das C-Atom mit dem größeren Substituenten als Kopf und das andere Ende eines Monomers als Schwanz zu bezeichnen. Das bedeutet für unseren Vinylbaustein, dass das linke C-Atom den Schwanz und das rechte C-Atom den Kopf darstellt. Die Verknüpfung zweier asymmetrischer Monomere kann auf insgesamt drei verschiedene Weisen erfolgen. Der Kopf des einen Monomers kann mit dem Schwanz des anderen Monomers verknüpft werden. Es ergibt sich eine Kopf-Schwanz- bzw. Schwanz-Kopf-Struktur. Genausogut ist es möglich, dass sich der Kopf eines Monomers mit dem Kopf eines anderen Monomers oder der Schwanz eines Monomers mit dem Schwanz des nächsten Monomers verbindet. Ist dies der Fall, so spricht man von einer Kopf-Kopf- oder Schwanz-Schwanz-Verknüpfung. H H
C C
H
H H
C C
H3C Styrol
O
CH3 C O
Methylmethacrylat
Abbildung 2.13: Zwei Monomere mit Kopf und Schwanz. Das linke C-Atom ist in beiden Fällen der Schwanz und das rechte C-Atom der Kopf.
2 Struktur der Makromoleküle
19
Polymerisation von Propen zu Poly(propylen) Wenn man Propen mit Hilfe eines Ziegler-NattaKatalysators zu Poly(propylen) polymerisiert, entsteht eine Kopf-Schwanz-Struktur. Die Synthese erfolgt dabei praktisch vollständig über 1,2-oder 2,1-Additionen: 1
2
2
1
2
1
2
n CH2=CH o ... CHCH2CHCH2CH ... _ _ _ _ CH3 CH3 CH3 CH3 SK
... K S K S K ...
Polymerisation von Ethylen und 2-Buten zu Poly(1,2-dimethylbuten) Die Polymerisation von Ethylen und 2-Buten liefert ein Kopf-Kopf- oder Schwanz-Schwanz-Poly(propylen). Es wird Poly(1,2-dimethylbutylen) genannt.
n CH2=CH2 + n CH=CH _ _ H3C CH3
o ... CH2CH2CHCHCH2CH2 ... _ _ H3C CH3 ... S S K K S S ...
Polymerisation von Poly(1,2-dimethylbuten) durch Hydrierung von 2,3-Dimethylbutadien + H2 n CH2=CC=CH2 o ... CH2CHCHCH2... _ _ _ _ H3C CH3 CH3 CH3
... S K K S ...
Bei den meisten Homopolymeren mit asymmetrischen Grundbausteinen ist die Kopf-SchwanzStruktur aufgrund der besseren Raumausnutzung weitaus häufiger vertreten als die Kopf-Kopf- oder die Schwanz-Schwanz-Struktur. Homopolymere, die wie das Poly(propylen) eine regelmäßige Anordnung der Kopf-Schwanz-Verknüpfung aufweisen, heißen strukturreguläre Polymere. Erfolgt die Verknüpfung von Kopf und Schwanz dagegen statistisch, so spricht man von strukturirregulären Homopolymeren. 2.2.2 Copolymere Sind an einer Polymerisation zwei oder mehrere verschiedene Monomere beteiligt, so spricht man von einer Copolymerisation. Die beteiligten Monomere heißen Comonomere und die erhaltenen Produkte Copolymere. Im einzelnen können wir zwischen Bi-, Tri-, Quartärpolymeren usw. unterscheiden, je nachdem, ob das Copolymer aus zwei, drei, vier usw. Comonomeren entstanden ist. In den meisten Fällen ist ein Copolymerpräparat heterogen bezüglich der Zusammensetzung der aus den Comonomeren hervorgegangenen Grundbausteine, und zwar sowohl in Bezug auf die Molmasse als auch auf die Konstitution. Die Aufeinanderfolge der Grundbausteine innerhalb eines Copolymers heißt Sequenz. Bei binären Copolymeren werden vier verschiedene Arten unterschieden. 2.2.2.1 Statistische Bipolymere Die Grundbausteine A und B sind statistisch, d.h. zufällig entlang der Polymerkette verteilt. Die Sequenz der Bausteine kann dabei einer Markoff-Statistik 0., 1., 2., . . . Ordnung folgen. Copolymere mit einer Markoff-Statistik nullter Ordnung heißen Bernoulli-Copolymere. Ein Bernoulli-Prozeß liegt dann vor, wenn die Wahrscheinlichkeit, dass am wachsenden Kettenende des sich bildenden Copolymers eine AA oder BB-Diade ensteht, nicht davon abhängt, welche Sequenz die vorhergehenden Bausteine besitzen. Ein Markoff-Prozeß n-terOrdnung ist demgegenüber dadurch gekenn-
20
2.2 Konstitution
zeichnet, dass auch die Art des ersten, zweiten, . . . n-ten Grundbausteines, vom wachsenden Kettenende aus gezählt, für die Wahrscheinlichkeit der Anlagerung eines neuen Comonomers zu berücksichtigen ist. Auch Nicht-Markoffsche Prozesse sind denkbar und anscheinend manchmal realisiert. Modell eines statistischen Copolymers … –A–A–B–A–B–B–B–A–B–A–A–B–A–B–B–A– … 2.2.2.2 Alternierende Bipolymere Die Grundbausteine A und B wechseln sich regelmäßig in der Polymerkette ab. Sie stellen Sonderfälle der periodischen Copolymere dar, bei denen sich zwei verschiedene kürzere oder längere Sequenzen aus Grundbausteinen periodisch wiederholen. Periodische Copolymere kann man, abgesehen von ihrer Herstellungsweise, als Homopolymere betrachten, wenn man die sich jeweils wiederholende Sequenz (z.B. A-B und A-A-B im Beispiel) als Grundbaustein auffasst. Modell eines alternierenden und eines periodischen Bipolymers
… –A–B–A–B–A–B–A–B–A–B–A–B–A–B–A–B– … … –A–A–B–A–A–B–A–A–B–A–A–B–A–A–B–A– … 2.2.2.3 Gradientbipolymere Die Grundbausteine A und B sind so entlang der Polymerkette verteilt, dass der Anteil der AGrundbausteine pro Längeneinheit kontinuierlich abnimmt, wenn ein hypothetischer Beobachter die Kette von dem einen Ende bis zu dem anderen abschreitet. Blockbipolymere sind Extremfälle dieser Gradientbipolymere. Sie bestehen aus Blöcken gleicher Grundbausteine, die an ihren Enden miteinander verknüpft sind. Die Blockzahl NB ist definiert als die mittlere Anzahl der Blöcke pro 100 Grundbausteine. Es gilt:
NB {
Summe der Bindungen zwischen gleichen Grundbausteinen 100 Summe der Bindungen aller Grundbausteine
Modell eines Gradientbipolymeren
… –A–A–B–A–B–A–A–B–B–B–A–B–B–B–B– … Modell eines Blockbipolymeren
… –A–A–A–A–A–A–A–A–B–B–B–B–B–B–B–B– … 2.2.2.4 Pfropf- oder Graftcopolymere Pfropfcopolymere sind verzweigte Copolymere, bei denen an die Hauptkette verschiedene Seitenzweige aufgepfropft sind. Die Hauptkette ist meist ein Homo- oder ein statistisches Copolymer. Die Synthese erfolgt dabei so, dass zuerst die Hauptkette synthetisiert und in einer Nachreaktion die Seitenketten an die Hauptkette angebaut werden. Pfropfcopolymere heißen deshalb auch "Mehrschritt-Copolymere". Copolymere besitzen in der Natur und in der Technik eine große Bedeutung. Wichtige Biocopolymere sind z.B. die Proteine. Sie bestehen aus 20 verschiedenen D-Aminosäuren, die in unregelmäßiger Sequenz angeordnet sind. Die synthetischen Copolymere werden meist gezielt hergestellt, um Polymere mit bestimmten Eigenschaften zu erzeugen, welche die zugehörigen Homopolymere nicht besitzen. Dazu zählen z.B. Eigenschaften wie Wärmebeständigkeit, elektrische Leitfähigkeit oder biologische Abbaubarkeit.
2 Struktur der Makromoleküle
Modelle für Pfropfcopolymere … –A–A–A–A–A–A–A–A– … _ _ B B _ _ B B _ _ B B _ B _ B
21
… –A–B–A–B–B–A–A–B–B–B–A– … _ _ A B _ _ B B _ _ B B _ A
2.2.3 Molekularstruktur Die Moleküle einer Polymerprobe können bei gleicher chemischer Zusammensetzung und Sequenz der Grundbausteine verschiedene Molekularstrukturen bzw. Architekturen aufweisen. Man unterscheidet dabei zwischen linearen Ketten, verzweigten Ketten und Netzwerken. 2.2.3.1 Lineare Makromoleküle Lineare Makromoleküle entstehen, wenn die Monomere nur zwei reaktionsfähige funktionelle Gruppen besitzen. Keiner der gebildeten Grundbausteine kann dabei mit mehr als zwei NachbarGrundbausteinen verknüpft werden. Zwei Beispiele für lineare Makromoleküle sind Catena-poly(schwefel) und Poly(vinylpyrrolidon). Sind die beiden Enden einer linearen Kette miteinander verbunden, so erhält man ein lineares geschlossenes Polymer. Solche Polymere heißen Ring-Polymere. 2.2.3.2 Verzweigte Makromoleküle Reagieren tri-, quartär- oder polyfunktionelle Monomere miteinander, so bilden sich verzweigte Makromoleküle. Die Grundbausteine besitzen dann gleichzeitig drei, vier oder mehr nächste Nachbar-Grundbausteine, so dass einige Grundbausteine Verzweigungspunkte darstellen können. Diese bilden den Ausgangspunkt für drei oder mehr lineare Polymerteilketten. Sie werden oft auch Untereinheiten des Polymers genannt. Die Untereinheiten können alle gleich lang aber auch verschieden lang sein. Sie reichen entweder von einem Verzweigungspunkt zum nächsten oder von einem Verzweigungspunkt zu einem Kettenende. Nach der topologischen Anordnung der Kettenuntereinheiten unterscheidet man zwischen Kamm-, Stern- und Baumpolymeren. Ihre Molekularstrukturen sind in Abbildung 2.14 skizziert. Ein Kamm-Makromolekül besteht aus einer Hauptkette und mehreren Seitenketten. Die Verzweigungspunkte sind entweder äquidistant oder statistisch längs der Hauptkette verteilt. Die Seitenketten können kurz oder lang sein. Im ersten Fall spricht man von einer Kurzketten- und im zweiten Fall von einer Langkettenverzweigung. Eine kurze Seitenkette ist ein Oligomer, das aus 1 bis 10 Grundbausteinen besteht. Eine lange Seitenkette kann sowohl ein Pleionomer als auch ein Polymer sein. Ein sehr bekanntes Kammpolymer ist das Hochdruckpolyethylen. Es besitzt viele sehr kurze wie auch einen geringen Anteil sehr langer Seitenketten. Stern-Makromoleküle besitzen einen zentralen Verzweigungspunkt, von dem mehrere gleich oder verschieden lange Ketten (Arme) ausgehen. Ihre Synthese ist nicht ganz einfach. Man erhält sie entweder durch die Kopplung vorgeformter „Arme“ an die zentrale Einheit oder durch sternförmiges Wachstum aus dieser Einheit. Ein Beispiel für eine Sternbildung ist die Aktivierung von Divinylbenzol und die anschließende Aufpolymerisation von Vinylverbindungen. Sternförmige Makromoleküle, die eine Folgeverzweigung aufweisen, heißen Baummoleküle. Sie besitzen eine Baumwurzel, von der ausgehend die anderen Grundbausteine kaskadenartig angeordnet sind. Sind die Grundbausteine sphärisch symmetrisch um die Baumwurzel verteilt, so spricht man von Dendriten.
22
2.2 Konstitution
Kammpolymer; x = Verzweigungspunkt
Sternpolymere mit gleich und verschieden langen Armen
Baumpolymer
Sphärisch symmetrisches Baumpolymer (Dendrit)
Abbildung 2.14: Einige Molekularstrukturen für verzweigte Makromoleküle
Der mittlere Polymerisationsgrad baumartiger Polymerer Die Grundbausteine eines Baumpolymers, die den gleichen Pfadlängenabstand von der Baumwurzel aufweisen, bezeichnet man als zur selben Generation gehörend. Die Baumwurzel bildet dabei die nullte Generation. Da man jeden Grundbaustein eines Baummoleküls als die Baumwurzel betrachten kann, lässt sich für jedes einzelne Polymermolekül einer Probe eine ganze Klasse äquivalenter Baumdiagramme zeichnen. Um den mittleren Polymerisationsgrad Pw eines Baumpolymers zu berechnen, gehen wir deshalb wie folgt vor: Wir bezeichnen die Anzahl der Grundbausteine der n-ten Generation eines Baummoleküls mit dem Polymerisationsgrad P, bei dem in der Baumdarstellung ein mit j bezeichneter Grundbaustein die Baumwurzel bildet, mit N Pj n . Die mittlere Anzahl der Grundbausteine N P n ! der n-ten Generation aller Polymerbäume desselben Polymermoleküls ist dann gleich:
NP n !
P
1 P ¦ N Pj n
(2.32)
j 1
Die Polymerprobe ist in der Regel polydispers bezüglich des Polymerisationsgrades. Wir müssen deshalb die N P n ! über alle vorkommenden P mitteln. Dies ergibt den massengemittelten „Polymerisationsgrad der n-ten Generation“: N n !
f
¦w
P
NP n ! ,
(2.33)
P 1
wobei wP der Massenbruch der Polymermoleküle mit dem Polymerisationsgrad P in der Probe ist. Der massengemittelte Polymerisationsgrad Pw des Baummoleküls ergibt sich dann als die Summe aller N n ! . Es gilt:
bg
Pw
f
af
¦ N n !
n 0
f
f
P
b
g af
¦ ¦ ¦ w P P N Pj n
n 0 P 1 j 1
(2.34)
2 Struktur der Makromoleküle
23
Baumpolymere mit zufälliger Verzweigung / Gelierung Wir betrachten die Polymerisation von Baumpolymeren aus Monomeren, die jeweils f funktionelle Gruppen für die Reaktion mit einem anderen Monomer besitzen. Die Reaktionsbereitschaft sei für alle funktionellen Gruppen eines Monomers gleich. Jedes Monomer, das die Wurzel des späteren Baumpolymers darstellt, kann demnach maximal f freie Monomere an sich binden. Diese bilden die erste Generation des Baumpolymers. Den Monomeren bzw. Grundbausteinen der ersten Generation stehen noch f 1 funktionelle Gruppen zur Verfügung, die mit anderen Monomeren zur zweiten Generation weiter reagieren können, da ja eine funktionelle Gruppe der ersten Generation die Bindung mit der nullten Generation herstellt. Entsprechendes gilt für die Monomere aller höheren Generationen. Wir nehmen einfach an, dass die Wahrscheinlichkeit D dafür, dass eine funktionelle Gruppe eines Monomers eine Bindung mit der funktionellen Gruppe eines anderen Monomers eingeht, in allen Generationen gleich ist. Das ist praktisch nie der Fall, weil die Bindungswahrscheinlichkeit von der Konzentration der noch nicht gebundenen freien Monomere abhängt. Wir müssen D deshalb als eine über alle Generationen gemittelte Bindungswahrscheinlichkeit betrachten, um die oben geforderte Gleichwahrscheinlichkeit für alle Generationen annehmen zu können. Jede der f funktionellen Gruppen der Baumwurzel bzw. des Startmonomers besitzt die gleiche Wahrscheinlichkeit D, eine Bindung mit einem freien Monomer einzugehen. Der mittlere Polymerisationsgrad der ersten Generation ist somit gleich N 1 ! D f . Das bedeutet: Für die zweite Generation ist N 2 ! N 1 ! D f 1 , da ja jeder Grundbaustein der ersten Generation im Mittel D (f 1) Monomere bindet. Diese Prozedur können wir weiter fortsetzen. Wir erhalten schließlich für die n-te Generation n 1
N n ! D f ª¬D f 1 º¼ mit n t1 Wenn wir diesen Ausdruck in Gleichung (2.34) einsetzen, ergibt sich Pw zu: f
Pw
1 D f ¦ ª¬D f 1 º¼
(2.35)
n 1
(2.36)
n 1
Wir nehmen an, dass D(f 1) kleiner als eins bzw. D 1 f 1 ist. Die Summe in Gleichung f
(2.36) stellt somit eine geometrische Reihe der Form S
¦ qn
mit q D f 1 1 dar. Für diese
n 1
gilt: S =1/(1 q). Es folgt: D f 1D Pw 1 1 D f 1 1 D f 1
mit
f t3
und
D 1 f 1
(2.37)
Gleichung (2.37) wurde von Stockmayer abgeleitet und heißt deshalb Stockmayer-Gleichung. Die für die Polymerisation eines Baumpolymers benutzten Monomere besitzen in der Regel drei oder vier funktionelle Gruppen. Es ist deshalb interessant, für diese Werte den Einfluss von D auf Pw zu untersuchen. Im Fall einer echten Polymerisation ist Pw größer als 1000. Die Bindungswahrscheinlichkeit D besitzt dann nach Tabelle 2.7 einen Wert, der in der Nähe des kritischen Wertes D k 1 f 1 liegt. Letzterer ergibt sich aus der Grenzwertbetrachtung zu lim Pw f .
a f
D oD k
Für f = 3 ist Dk = 0,5 und für f = 4 ist Dk = 0,33. In der unmittelbaren Nähe der kritischen Bindungswahrscheinlichkeit Dk wird Pw sehr groß. Die Polymerprobe besteht dann aus sehr wenigen, im Extremfall aus einem einzigen Riesenmakromolekül. Dieser Effekt heißt Gelierung. Er lässt sich experimentell beobachten, wenn man z.B. geladene Polymere (Polyelektrolyte) unterschiedlichen Ladungsvorzeichens in Lösung miteinander mischt. Es entstehen „Riesenaggregate“, die zu einer flockigen Masse ausfallen.
2.2 Konstitution
24
Tabelle 2.7: Pw als Funktion von D und f
D
0
0,1
0,2
0,3
0,4
0,45
0,5
f=3
1,0
1,4
2,0
3,3
7,0
14,5
f
f=4
1,0
1,6
3,0
13,0
---
---
---
2.2.3.3 Netzwerke Wenn man alle Polymermoleküle einer Probe durch intermolekulare Bindungen zu einem einzigen „Riesenmakromolekül“ verbindet, erhält man ein Netzwerk. Die Bindungen können dabei von chemischer oder von physikalischer Natur sein. Chemische Netzwerke bilden sich bei Polymerisationen, an denen neben bi- auch tri- und höherfunktionelle Monomere beteiligt sind. Es können aber auch vormals lineare Polymermoleküle durch eine seitenständige Nachpolymerisation so miteinander verknüpft werden, dass die Einzelmoleküle an zwei oder mehr Stellen über Brückenketten verbunden sind. Diese Vernetzungsbrücken können kurz oder lang sein. Physikalische Netzwerke entstehen z.B. bei der Assoziation von Polymermolekülen. Sie werden durch Wasserstoff-Brückenbindungen, durch Coulombsche oder van der Waalssche Kräfte zusammengehalten. Physikalische Netzwerke sind aber auch solche Netzwerke, die durch einfache Verhakung oder Verschlaufung von Polymermolekülen entstehen. Verhakungen sind z.B. dann sehr wahrscheinlich, wenn die Konzentration der Polymermoleküle in einer Lösung sehr groß ist.
Chemisches Netzwerk
Physikalisches Netzwerk
Abbildung 2.15: Chemische und physikalische Netzwerke
Eine vernetzte Polymerprobe besteht im Prinzip aus nur einem einzigen Molekül. Eine Charakterisierung durch die Molmasse ist deshalb nicht sinnvoll. Zur Beschreibung eines Netzwerks gehören dagegen die Bestimmung der Netzwerkdichte, d.h. die Anzahl der Vernetzungspunkte pro Volumeneinheit, sowie die Beschreibung der Netzwerkstruktur. So können die Vernetzungspunkte statistisch oder geordnet über das Netzwerk verteilt sein. Weiter interessieren die mittlere Länge der Brückenketten und der Dehnungsgrad des Netzwerks. Nach diesen Eigenschaften unterteilt man Netzwerke in elastische Gummis (Elastomere) und harte Werkstoffe. Gummielastische Stoffe wie z.B. Kautschuk sind weitmaschig vernetzt. Sie erweichen oberhalb einer bestimmten Temperatur, die man Glastemperatur nennt. Die harten bzw. spröden Netzwerke sind sehr dicht vernetzt. Sie sind deshalb oft temperaturbeständig. Chemische Netzwerke sind in allen Lösemitteln unlöslich, aber im allgemeinen quellbar. Gequollene Netzwerke bezeichnet man auch als Gele. Der Quellungsgrad ist definiert als das Verhältnis aus der Masse des gequollenen Gels zu der Masse des trockenen (ungequollenen) Gels. Er kann bei Hydrogelen (in Wasser gequollene Gele) Werte annehmen, die größer als 100 sind (Superabsorber). Der Quellungsgrad ist dabei um so größer, je mehr geladene Gruppen das Netzwerk enthält. Wichtige Anwendungsgebiete für Hydrogele sind z.B. Kosmetikartikel und Babywindeln. Die ungeordneten und die geordneten dreidimensionalen Netzwerke sind relativ leicht zu synthetisieren. Es existieren aber auch zweidimensionale Netzwerke. Sie sind bedeutend schwerer
2 Struktur der Makromoleküle
25
zugänglich, da die Kettenverknüpfung nur über planare sp2-Kohlenstoffatome erfolgen darf. Die einfachste Form einer zweidimensionalen Vernetzung stellen die Leiterpolymere dar. Es werden dabei zwei lineare Ketten durch Brückenbindungen, die wie Leitersprossen angeordnet sind, zusammengehalten. Ein Beispiel zeigt Abbildung 2.16.
Abbildung 2.16: Die Entstehung von Leiterpolymeren
H C
H2 C H C
C
C
N
N
H2 C H2
C C
H C N
C C
H C
N
C C
2.3 Konfiguration 2.3.1 Definition Die sp3-Kohlenstoffatome der Grundbausteine eines Makromoleküls besitzen jeweils vier Substituenten, die in den Ecken eines Tetraeders um das jeweilige C-Atom angeordnet sind. Wenn alle Substituenten verschieden sind, können sich zwei verschiedene räumliche Anordnungen des Tetraeders ausbilden, die zueinander spiegelbildlich sind. Ein Beispiel zeigt Abbildung 2.17. Das zentrale Kohlenstoffatom (x) bildet in einem solchen Fall ein Stereoisomeriezentrum. Es heißt deshalb auch asymmetrisches C-Atom.
Abbildung 2.17: Stereoisomerie des Alanins
Ein Makromolekül kann sehr viele asymmetrische C-Atome enthalten. Die räumliche Anordnung der Substituenten zweier aufeinander folgender asymmetrischer C-Atome ist dabei zum Teil gleich und zum Teil verschieden. Ein hypothetischer Beobachter, der die Polymerkette entlanggeht, sieht daher eine bestimmte Aufeinanderfolge von Tetraedersymmetrien. Diese Aufeinanderfolge heißt Konfiguration. Sie kann nur geändert werden, wenn Bindungen geöffnet und andere anschließend neu geknüpft werden. Makromoleküle mit gleicher Konstitution können sich also in Bezug auf ihre Konfiguration unterscheiden. Man spricht in einem solchen Fall von Konfigurationsisomeren oder allgemein von makromolekularer Stereoisomerie. Die asymmetrischen C-Atome bzw. ihre Tetraederstrukturen können statistisch oder geordnet entlang der Polymerkette angeordnet sein. Im ersten Fall spricht man von ataktischen und im zweiten Fall von taktischen Polymeren. Die Grundbausteine eines Polymers besitzen zudem oft mehr als nur ein Stereoisomeriezentrum. Die Polymere heißen deshalb mono-, di- oder n-taktisch, wenn sie ein, zwei oder n Stereoisomeriezentren pro Grundbaustein besitzen und wenn diese geordnet entlang der Kette angeordnet sind.
26
2.3 Konfiguration
2.3.2 Monotaktische Polymere Wir betrachten als Beispiel das Polymer
H H _ _ * Rn CH2 C CH2 C*Rm _ _ R R wobei Rn und Rm lineare Kohlenwasserstoffketten mit n und m Grundbausteinen sind. Dieses aus Vinylmonomeren aufgebaute Polymer besitzt pro Grundbaustein ein asymmetrisches C-Atom. Es ist durch ein Sternchen gekennzeichnet und besitzt nach Voraussetzung vier verschiedene Substituenten, ein Wasserstoffatom, eine Restgruppe R und zwei Kohlenwasserstoffketten. Letztere unterscheiden sich nur in der Zahl ihrer Kettenglieder. In der unmittelbaren Nachbarschaft zum asymmetrischen C-Atom besitzen diese beiden Substituenten die gleiche Struktur. Man nennt diese CAtome deshalb pseudoasymmetrisch. Sie sind nicht optisch aktiv, d.h. sie drehen die Ebene des polarisierten Lichtes nicht. „Echte asymmetrische Kohlenstoffatome“ treten bei entsprechend asymmetrischer Struktur der Grundbausteine auf. Solche C-Atome sind optisch aktiv, d.h. sie drehen die Ebene von polarisiertem Licht. Die Asymmetrie kann dabei in der Molekülkette oder in einem Substituenten liegen. Zwei Beispiele zeigt Abbildung 2.18. H _ CH2 C* O _ CH3
CH2CH H _ _ COO C* C2H5 _ CH3
Abbildung 2.18: Echte (optisch aktive) asymmetrische C-Atome
Die Konfiguration eines Polymers kann auf verschiedene Weise graphisch dargestellt werden. Am deutlichsten erkennt man die tetraedische Struktur der asymmetrischen bzw. der pseudoasymmetrischen C-Atome eines Polymermoleküls in der Natta-Projektion. Hierbei wird die Kohlenstoffkette in Zick-Zack-Form auf der Papierebene ausgebreitet. Zwei der Substituenten eines betrachteten C-Atoms liegen dann in der Ebene. Von den zwei übrigen Substituenten befindet sich einer oberhalb und der andere unterhalb der Papierebene, was man durch keilförmige bzw. punktierte Striche andeutet. Im Beispiel des Vinylpolymers befindet sich also entweder das Wasserstoffatom oder die Restgruppe R oberhalb der Papierebene und der andere Substituent unterhalb der Ebene. Es gibt dafür drei Möglichkeiten der Anordnung für die Substituenten H und R. Wenn die Konfiguration der pseudoasymmetrischen C-Atome statistisch ist, sind die Substituenten H und R regellos über und unter der Papierebene verteilt. Das Polymer ist ataktisch. Haben die pseudoasymmetrischen C-Atome die gleiche Tetraederanordnung, so stehen alle Substituenten R oberhalb bzw. unterhalb der Ebene. Diese Konfiguration heißt isotaktisch. Die dritte Möglichkeit besteht darin, dass sich die Tetraederanordnung der aufeinanderfolgenden pseudoasymmetrischen C-Atome alternierend ändert. Die Substituenten R befinden sich dann abwechselnd ober- oder unterhalb der Papierebene. Diese Konfiguration heißt syndiotaktisch. Einige Beispiele für taktische Vinylpolymere zeigt Abbildung 2.19.
2 Struktur der Makromoleküle isotaktisch
H
R H C
C R
R H C
C H R
syndiotaktisch
H
R
C
C
C
C H R
H
R R
H
H H
ataktisch
H H C
C
H
R
R H C
C C
C R H
27
H
H
H C
O
O H
C R
H
Abbildung 2.19: Taktische Vinylpolymere
Eine andere Darstellung, welche die räumliche Anordnung der Substituenten R und H gut ausdrückt, ist die Newman-Projektion. Hierbei werden jeweils zwei aufeinanderfolgende C-Atome der Hauptkette eines Polymers in gestaffelter Form zur Deckung gebracht und aus Gründen der Anschaulichkeit durch eine dazwischen gelegte Scheibe voneinander getrennt. Ein Beispiel für eine Newman-Projektion zeigt Abbildung 2.20.
Abbildung 2.20: Ein syndiotaktisches Vinylpolymer in der Newman-Projektion
Die dritte Möglichkeit, die Konfiguration von Polymeren graphisch darzustellen, ist die Fischer-Projektion. Die Kohlenstofftetraeder werden hierbei mit der Kante, deren zwei Ecken die Kohlenwasserstoffketten als Substituenten tragen, so auf die Papierebene gelegt, dass die zentral angeordneten pseudoasymmetrischen C-Atome über der Mitte dieser Kante stehen. Die beiden anderen Substituenten stehen aus der Papierebene nach oben heraus. Anschließend werden das zentrale C-Atom und die Substituenten H und R senkrecht auf die Ebene projiziert. Die Substituenten H und R liegen dann entweder rechts oder links von der Hauptkette. Einige Beispiele für eine Fischer-Projektion zeigt Abbildung 2.21. a) isotaktische Vinylpolymere R H R R H H R H R R H H
H H H H
b) syndiotaktische Vinylpolymere R H R H H R H H R H H R H R H H
Abbildung 2.21: Beispiele für die Darstellung von iso- und syndiotaktischen Vinylpolymeren in der Fischer-Projektion
2.3.3 Ditaktische Polymere Als Beispiel für ein polytaktisches Polymer betrachten wir ditaktische Vinylpolymere. Die Grundbausteine besitzen in diesem Fall jeweils zwei pseudoasymmetrische C-Atome. Ein einfaches Beispiel ist der Baustein
H H _ _ CC _ _ R R*
28
2.3 Konfiguration
bei dem die Restgruppen R und R* verschieden sind. Die Konfiguration kann ataktisch oder taktisch in bezug auf die Substituenten R und R* sein, wenn man diese getrennt voneinander betrachtet. Bei den ditaktischen Polymeren ist die Konfiguration dabei derart, dass die Aufeinanderfolge der Substituenten R und R* in der Fischer-Projektion eine Ordnung aufweist. Bei den ditaktischen Polymeren ist die Konfiguration dagegen gänzlich ungeordnet. Die diiso- und die disyndiotaktischen Konfigurationen kann man jeweils in erythro- und threo-ditaktische Konfigurationen unterteilen. Bei einem erythro-diisotaktischen Polymer liegen in der Fischer-Projektion alle Substituenten R und R* auf derselben Seite der Hauptkette (in Abbildung 2.22 als Gerade dargestellt). Ein Polymer heißt dagegen threo-diisotaktisch, wenn die beiden pseudoasymmetrischen C-Atome immer abwechselnd die entgegengesetzte Tetraederkonfiguration entlang der Hauptkette aufweisen. Für die Fischer-Projektion bedeutet dies: Die Substituenten R und R* liegen jeweils auf verschiedenen Seiten der Geraden, welche die Hauptkette bildet. Ein Polymer heißt disyndiotaktisch, wenn die Aufeinanderfolge der Tetraederkonfiguration der beiden asymmetrischen bzw. pseudoasymmetrischen C-Atome derart ist, dass das Polymer syndiotaktisch bezüglich der Konfiguration beider C-Atome ist, wenn man diese getrennt voneinander betrachtet. Auch hier kann man analog zu den diisotaktischen Polymeren zwischen erythro- und threosyndiotaktischen Polymeren unterscheiden. Die zugehörigen Fischer-Projektionen zeigt Abbildung 2.22. Man erkennt, dass die disyndiotaktischen Konfigurationen für Polymere mit dem Grundbaustein RHCCHR* bis auf die Endgruppe identisch sind. Die Vorsilben „erythro“ und „threo“ können also in diesem Fall weggelassen werden. erythro-diisotaktisch
threo-diisotaktisch
erythro-disyndiotaktisch
threo-disyndiotaktisch
R R* R R* R
H R* H R* H
R R* H H R
H R* R H H
H H H H H
R H R H R
H H R R* H
R H H R* R
Abbildung 2.22: Beispiele für ditaktische Polymere
2.3.4 Ataktische Polymere Polymere, die eine taktische Anordnung der asymmetrischen bzw. pseudoasymmetrischen C-Atome aufweisen, sind sehr selten. Im Allgemeinen ist eine mehr oder weniger große Anzahl der Stereoisomeriezentren unregelmäßig in bezug auf die Taktizität in die Polymerkette eingebunden. Ein Maß für die konfigurative Unordnung einer Kette ist der relative Anteil der im Polymer vorkommenden taktischen Diaden, Triaden, Tetraden usw.. Eine Diade ist dabei eine Teilpolymerkette, die zwei aufeinanderfolgende Stereoisomeriezentren enthält. Diese ist bei einem Vinylpolymer identisch mit der Folge zweier Grundbausteine. Bei der Fischer-Projektion tritt jedes Stereoisomeriezentrum in zwei Konfigurationen auf. Die Restgruppe R kann rechts oder links von der Hauptkette stehen. Ist die Aufeinanderfolge von zwei Konfigurationen gleich, tritt also DD oder LL auf, so spricht man von einer isotaktischen oder einer meso-Diade. Die Bezeichnungen L und D stehen dabei für die lateinischen Wörter laevus (links) und dexter (rechts). Sind zwei aufeinanderfolgende Konfigurationen ungleich, tritt also DL oder LD auf, so ist die Verknüpfung syndiotaktisch, und die Diade heißt racemisch (r-Diade). Experimentell zugänglich sind jedoch nur Triaden. Diese können wir in drei Gruppen unterteilen (siehe Tabelle 2.8).
2 Struktur der Makromoleküle
29
Tabelle 2.8: Konfigurative Triaden DDD, LLL
bzw. mm
isotaktische Triade mit zwei isotaktischen Verknüpfungen
oder mr und rm
heterotaktische Triade mit einer isotaktischen und einer syndiotaktischen Verknüpfung
DLD, LDL
syndiotaktische Triade mit zwei syndiotaktischen Verknüpfungen
DDL, LLD, DLL, LDD
bzw. rr
Die wichtigste Messmethode zur Bestimmung der Taktizität eines Polymers ist die NMRSpektroskopie. Eine isotaktische Triade liefert ein anderes Signal als eine syndiotaktische Triade oder ein einzelner Grundbaustein. Als Maß für die Taktizität dient dabei der Massenbruch an isotaktischen Triaden. Liegt dieser bei 80 bis 90 %, so nennt man das Polymer bereits isotaktisch. Lassen die Messergebnisse darauf schließen, dass sich längere Sequenzen der einen Triade mit denen einer anderen Triade abwechseln, so bezeichnet man das Polymer als Stereoblockpolymer. 2.3.5 Cis-trans-Isomerie Wir haben bis jetzt nur die Stereoisomerie betrachtet, die auf der Asymmetrie bzw. Pseudoasymmetrie tetraedischer C-Atome beruht. Es existiert aber noch eine zweite Stereoisomerie, die durch die verschiedenen Anordnungsmöglichkeiten der Substituenten an einer Kohlenstoff-Doppelbindung zustande kommt. Befinden sich alle C-Atome bezüglich der Doppelbindung in cis- oder transStellung, so spricht man von einem cis- oder trans-taktischen Polymer. Ein wichtiges Beispiel ist das Polybutadien, das als cis- und auch als trans-taktisches Polymer vorkommt. cis-1,4-Polybutadien
trans-1,4-Polybutadien
Isotaktisches 1,2-Polybutadien
Syndiotaktisches 1,2-Polybutadien
Abb. 2.23: Verschiedene Polybutadiene
Polybutadien kann, wie Abbildung 2.23 zeigt, auch als 1,2-Polybutadien vorkommen, wobei die Doppelbindung in der Vinylseitengruppe sitzt. Möglich ist dabei sowohl eine isotaktische als auch eine syndiotaktische Konfiguration. Es gibt aber auch ataktisches 1,2-Polybutadien und Polybutadiene, die alle möglichen Konfigurationen im gleichen Polymer aufweisen. Die Konfiguration hat dabei im allgemeinen einen großen EinFluss auf die makroskopischen Eigenschaften der Polymere. So ist z.B. reines cis-1,4-Polyisopren (Naturkautschuk) gummielastisch. Reines trans-1,4Polyisopren (Guttapercha) ist dagegen ein festes Harz. Eine Methode zur experimentellen Bestimmung der cis- und trans-Diaden ist die IR-Spektroskopie.
30
2.4 Konformation
2.4 Konformation 2.4.1 Einleitung Ein Molekül besteht aus Atomen und Atomgruppen, die durch Atombindungen miteinander verknüpft sind. Die Molekülteile, die durch Einfachbindungen zusammengehalten werden, sind unter geringem Energieaufwand gegeneinander verdrehbar. Je nach der Größe der Drehwinkel ergeben sich verschiedene räumliche Stellungen der Atome und Atomgruppen zueinander. Diese Stellungen heißen Konformationen des Moleküls. Die Moleküle einer Probe ändern aufgrund thermischer Einflüsse dauernd ihre Konformation. Zu einem bestimmten Zeitpunkt besitzen deshalb nur wenige Moleküle einer Probe die gleiche Konformation. Zwei Moleküle, welche die gleiche Summenformel, die gleiche Konstitution und die gleiche Konfiguration aufweisen, können sich also durchaus in ihrer Konformation unterscheiden. Man spricht in diesem Zusammenhang von Konformationsisomeren oder kurz von Konformeren. Die verschiedenen Konformationen eines Moleküls sind unterschiedlich stabil. Manche halten Tage, Stunden, manche aber auch nur 108 bis 1010 Sekunden. Die Stabilität einer Konformation hängt von den Wechselwirkungen der Molekülteile ab. Diese führen nur bei bestimmten räumlichen Stellungen zu einem Energieminimum. Wichtige Wechselwirkungen sind dabei Wasserstoffbrücken, Dipol-Dipol-Wechselwirkungen, Donator-Akzeptor-Effekte sowie elektrostatische und hydrophobe Effekte. Sie sind in der Regel miteinander gekoppelt und temperatur- und druckabhängig. Eine Reaktion zwischen zwei Molekülen läuft im Mittel innerhalb von ca. 1014 Sekunden ab. Es leuchtet deshalb ein, dass auch Konformationen mit einer Lebensdauer von 109 Sekunden Bedeutung haben. 109 Sekunden verhalten sich zu 1014 Sekunden immerhin wie 28 Stunden zu einer Sekunde, d.h. in diesem Zeitmaßstab ist ein Konformeres verhältnismäßig stabil.
Abbildung 2.24: Verschiedene Makrokonformationen
Ein niedermolekulares Molekül besitzt nur wenige Einfachbindungen. Die Anzahl seiner über ein größeres Zeitintervall ('t > 1s) stabilen Konformationen ist daher begrenzt. Man nennt sie Mikrokonformationen. Ein Makromolekül besitzt dagegen sehr viele Einfachbindungen. Die Anzahl seiner Mikrokonformationen kann sehr groß sein. Die Aufeinanderfolge oder die Sequenz dieser Mikrokonformationen bestimmt die Gesamtkonformation (Makrokonformation) des Makromoleküls. Sie erfasst die räumliche Stellung der Grundbausteine zueinander. Wir können deshalb sagen: Die Makrokonformation beschreibt die Molekülgestalt des Makromoleküls. Am häufigsten kommen freie Makromoleküle als lockere Knäuel vor. Abbildung 2.24 veranschaulicht dies.
2 Struktur der Makromoleküle
31
2.4.2 Mikrokonformationen Abbildung 2.25 zeigt ein Molekül vom Typ ABCD, wobei A, B, C und D Atome bzw. Atomgruppen bezeichnen. Um die räumliche geometrische Lage dieser vier Atomgruppen quantitativ zu beschreiben, benötigen wir drei verschiedene Parameter. Diese sind die Bindungslänge l, der Bindungswinkel T und der Drehwinkel I. lAB , lBC und lCD bezeichnen die Abstände (Bindungslängen) zwischen den Gruppen A und B, B und C sowie zwischen C und D. T AB/BC und T BC/CD geben die
Winkel (Bindungswinkel) zwischen den Strecken (Bindungen) AB und BC sowie BC und CD an.
Abbildung 2.25: Räumliche geometrische Lage von Atomen in einem Molekül
Die Atomgruppe D lässt sich unter Beibehaltung des Bindungswinkels T BC / CD um eine durch die Bindung BC gedachte Drehachse drehen. D befindet sich also irgendwo auf einem Kreis mit dem Radius rCD lCD sin 180o T BC / CD , der senkrecht zu BC ist und dessen Mittelpunkt auf der
e
j
Drehachse liegt. Die räumliche Lage von D ist durch den Drehwinkel I bestimmt. Dieser ist, wie Abb. 2.25 zeigt, identisch mit dem Schnittwinkel der durch die Bindungen AB und BC sowie BC und CD aufgespannten Ebenen. In der Literatur heißt I oft Torsions- oder Konformationswinkel. Der Winkel I kann im Prinzip jeden beliebigen Wert zwischen I = 0q und I = 360q oder zwischen I = 180q und I = 180q annehmen. Nach einem Vorschlag der IUPAC-Kommission für Makromolekulare Chemie ist I positiv, wenn man die Ebene AB BC um weniger als 180q nach rechts drehen muss, damit sie mit der Ebene BC CD zur Deckung kommt, und negativ im anderen Fall. Es gibt im Prinzip unendlich viele Konformationen. Von diesen sind aber nur einige wenige durch ein Minimum an potentieller Energie ausgezeichnet. Der Winkel I nimmt deshalb im zeitlichen Mittel nur ganz bestimmte Werte an, die von der Art der Atome A, B, C und D abhängen. Betrachten wir als Beispiel Butan (CH3CH2CH2CH3). Die Gruppen A und D sind in diesem Fall mit den Atomgruppen CH3 identisch, und B und C stehen für CH2. Die potentielle Energie von Butan lässt sich als Funktion des Drehwinkels I experimentell bestimmen. Das Ergebnis zeigt Abbildung 2.26.
32
2.4 Konformation
Wir erkennen, dass die potentielle Energie Vpot im Intervall I [180q, 180q] drei Minima und drei Maxima aufweist. Butan besitzt demnach sechs Hauptkonformationen. Diese wollen wir durch die Symbole C, G , A, T, A und G bzw. durch sp, sc, ac und ap beschreiben. C steht für „cis“ und sp für „synperiplanar“. Sie ist die energetisch ungünstigste aller sechs Konformationen. Die Atomgruppen C und D stehen dabei cis-gedeckt zueinander, d.h. der Drehwinkel I hat den Wert 180q bzw. 180q.
Abbildung 2.26: Die verschiedenen Konformationen des Butans
A steht für „Anti“, wobei die Zusätze „“ und „“ das Vorzeichen des Winkels I angeben. Für A gilt I = 60q, und für A ist I = 60q. Die Atomgruppen A und B befinden sich in einer anticlinalen (ac) Stellung zu C und D. Sie verdecken sich teilweise. G ist die Abkürzung für das englische Wort „gauche“ ( windschief). Für das Minuszeichen gilt I = 120q, und für das Pluszeichen ist I = 120q. Die Atomgruppen A und B befinden sich in synclinaler (sc) Stellung zu C und D. Die energetisch stabilste Konformation ist die „Trans-Stellung“. Hierbei befinden sich die Atomgruppen A und B in einer „antiperiplanaren“ (ap) oder gestaffelten Stellung zu den Atomgruppen C und D. Man sagt auch, A und B sind zu C und D auf Lücke angeordnet. I ist gleich null. Einen Überblick über alle sechs Konformationen gibt Tabelle 2.9. Tabelle 2.9: Die verschiedenen Konformationen eines Moleküls vom Typ ABCD
Bezeichnung der Stellung von A und B zu C und D Name der Konformation
Symbol
Drehwinkel
IUPAC
Konventionell
Stabilität
Cis
C
r 180q
synperiplanar (sp)
cis-gedeckt, eclipsed
völlig instabil
Gauche
G (r)
r 120q
synclinal (sc)
gauche-gestaffelt
stabil
Anti
A(r)
r 60q
anticlinal (ac)
teilweise verdeckt
instabil
Trans
T
0
antiperiplanar (ap)
trans-gestaffelt, staggered
sehr stabil
2 Struktur der Makromoleküle
33
2.4.3 Makrokonformationen Ein Makromolekül besitzt sehr viel mehr als drei aufeinanderfolgende CC-Bindungen, wie das beim Butan der Fall ist. Wir benötigen deshalb zur Beschreibung der Makrokonformation auch mehr als nur einen Drehwinkel. Diese Notwendigkeit tritt zum ersten Mal beim Oligomer Pentan 1
2
3
4
5
(C H 3 C H 2 C H 2 C H 2 C H 3 ) auf. Wir haben in diesem Fall zwei aufeinanderfolgende Mikro-
konformationen (Diaden), d.h. zwei Drehwinkel bezogen auf die Drehachsen durch die Bindungen C2C3 und C3C4 zu berücksichtigen. Diese können je zwei trans- oder je zwei gauche-Stellungen beschreiben. Es gibt also neun verschiedene Möglichkeiten der Aufeinanderfolge dieser zwei Winkel bzw. Konformationen. Das sind die Diaden: TT, TG+, TG, G+T, GT, G+G+, GG, G+G und GG+. Diese lassen sich in vier Gruppen mit jeweils gleicher Molekülgestalt zusammenfassen, wie Tabelle 2.10 zeigt. Tabelle 2.10: Die verschiedenen Konformationen des Pentans
Gruppe Diaden
1 TT
2 +
3 +
TG , TG , G T, G T
+
+
4
G G ,G G
G G , GG+ +
Die potentielle Energie der Rotation nimmt von der Diadengruppe 1 bis zur Diadengruppe 4 kontinuierlich zu. Die Konformationen G+G und GG+, bei denen sich die C-Atome 1 und 5 des Pentans räumlich sehr nahe kommen, sind im Vergleich zu den anderen Konformationen am instabilsten. Sie treten also selten auf. Bei Kohlenwasserstoffketten, die sehr viele CC-Bindungen besitzen, kann man sie in aller Regel ganz vernachlässigen. Die aktuelle Konformation eines Makromoleküls ist identisch mit der Sequenz der aufeinanderfolgenden konformativen Diaden. Diese lässt sich experimentell nicht ermitteln. Mit geeigneten Messmethoden (UV-, IR-, NMR- und Raman-Spektroskopie) kann man aber die prozentualen Anteile der verschiedenen Diaden in der Kette ermitteln. Daraus lassen sich dann Rückschlüsse auf die mittlere Konformation des Makromoleküls ziehen. Wir wollen noch auf zwei Sonderfälle für eine Makrokonformation hinweisen. Wenn die Polymerkette nur TT-Diaden enthält, stellt das Makromolekül eine ebene Zick-Zack-Kette dar, deren Ausdehnung (Länge) nur vom Bindungswinkel abhängt. Folgen dagegen bei einer Kette stets gauche-Konformationen im gleichen Drehsinn aufeinander (also stets G+G+, G+G+ oder stets GG, GG), so führt das zu Helix-Konformationen, die Rechts- oder Links-Schrauben darstellen. Von der Anzahl der Grundbausteine pro Windung hängt es ab, wie groß die Ganghöhe der Helix ist. Unter Ganghöhe versteht man dabei die Anzahl der Grundbausteine pro Windung. Bei Polyisobutylen liegt z.B. im festen Zustand eine 8/5-Helix vor. Es kommen also auf acht Grundbausteine fünf Windungen. Oft werden Helices durch sperrige Substituenten erzwungen. Je sperriger diese sind, desto „flexibler“ ist die Helix. 2.4.4 Konformationsstatistik 2.4.4.1 Einführung Ein Makromolekül kann sehr viele verschiedene Konformationen annehmen. Von diesen besitzen viele die gleiche potentielle Energie. Es ist allerdings unmöglich, jede einzelne Konformation im Detail genau zu beschreiben. Um Aussagen über die räumliche Ausdehnung eines Makromoleküls zu machen, müssen wir bestimmte Mittelungen vornehmen. Die Mittelung einer Größe, die eine
34
2.4 Konformation
bestimmte Eigenschaft der Polymerprobe beschreibt, kann dabei auf zwei verschiedene Weisen erfolgen. Die gemittelte Größe stellt entweder den Zeitmittelwert über ein sehr großes Zeitintervall mit Bezug auf eine individuelle Makromolekülkette dar, oder sie ist der Mittelwert zu einem bestimmten Zeitpunkt bezüglich einer sehr großen Anzahl verschiedener Makromolekülketten der gleichen Probe. Beide Mittelwerte sollten für die betrachtete Eigenschaft das gleiche Ergebnis liefern, wenn alle Moleküle der Probe die gleiche Molmasse, die gleiche Konstitution und die gleiche Konfiguration besitzen. Die gemittelten Größen erfassen dabei so verschiedene Eigenschaften wie Winkel und Längen. Sie schließen aber auch die physikalischen Wechselwirkungen zwischen den Grundbausteinen der Molekülketten mit ein. Die Wechselwirkungen zwischen Grundbausteinen derselben Molekülkette werden intramolekular und die zwischen Grundbausteinen verschiedener Molekülketten intermolekular genannt. 2.4.4.2 Der mittlere Kettenendenabstand und der mittlere Trägheitsradius Wir betrachten als Erstes lineare Molekülketten. Zur Beschreibung ihrer mittleren Konformation werden zwei Mittelwerte benutzt. Der eine ist der mittlere Kettenendenabstand < h >, und der andere ist der mittlere Trägheitsradius < R >. Für den mittleren Kettenendenabstand der beiden Enden der Molekülkette gilt:
h ! { h2
(2.38) 2
Man bestimmt also den quadratischen Kettenabstand h für jede Konformation, mittelt dann über alle Konformationen und zieht abschließend aus h 2 die Wurzel.
Abbildung 2.27: Vektor-Darstellungen für Makromoleküle
Um Zahlenwerte für den Kettenendenabstand < h > zu erhalten, ist es zweckmäßig, die VektorDarstellung zu benutzen. Ein Beispiel für ein solches Modell zeigt Abbildung 2.27. Dort bezeichnet li einen Vektor, der den Schwerpunkt des i1-ten Grundbausteins mit dem Schwerpunkt des i-ten Grundbausteins verbindet. Der Vektor, der den Schwerpunkt des nullten Grundbausteins mit dem Schwerpunkt des letzten (N-ten) Grundbausteins der Molekülkette verbindet, ist identisch mit dem Kettenendenabstandsvektor h. Somit gilt für ein Makromolekül, das insgesamt N + 1 Grundbausteine und N Bindungen besitzt: N
h
¦ li
(2.39)
i 1
Wenn wir Gleichung (2.39) in Gleichung (2.38) einsetzen, folgt: h2 !
N
N
i 1
j 1
¦ li ¦ l j
(2.40)
2 Struktur der Makromoleküle
35
Der Index j hat die gleiche Bedeutung wie der Index i. Er ist eingeführt worden, um anzudeuten, dass man jeden Term der ersten Summe mit jedem Term der zweiten Summe zu multiplizieren hat. Der Vektor ri verbindet den Schwerpunkt des Makromoleküls mit dem Schwerpunkt des Grundbausteins i (siehe Abbildung 2.27). Der quadratische Trägheitsradius R2 einer bestimmten Konformation ergibt sich daraus definitionsgemäß (vgl. Lehrbücher der Physik) zu: N
F GH
R 2 { ¦ mi i 0
I K
N
¦ m j J ri2 j 0
N
b1 M g¦ m r
i i
2
,
(2.41)
i 0
wobei mi und mj die Molmassen der Grundbausteine i und j und M diejenige des Makromoleküls bedeuten. Experimentell zugänglich ist nur der mittlere quadratische Trägheitsradius < R2 >. Es gilt: N
b g¦ m r
R2 ! { 1 M
2 i 1
(2.42)
i 0
Der Querstrich in Gleichung (2.42) gibt in Analogie zu Gleichung (2.40) an, dass sich die Summation über alle i und über alle Konformationen erstreckt und dass das Ergebnis der Summation durch die Anzahl der Konformationen zu dividieren ist. Da das Ergebnis dieser Mittelung nicht von der Reihenfolge der Summation abhängt, folgt: N
N
i 0
i 0
¦ mi ri2 ¦ mi ri2
(2.43)
Wir betrachten im folgenden nur Homopolymere. Es sind dann alle mi gleich groß, und Gleichung (2.42) reduziert sich auf N
N
b g¦ m r c1 b N 1gh¦ r r
R2 ! { 1 M
2
i i
i i
i 0
,
(2.44)
i 0
wobei wir berücksichtigt haben, dass M = (N + 1) m ist, wenn mi = m für alle i ist. 2.4.4.3 Das Zufallsknäuel Die Konformation eines Makromoleküls lässt sich genau dann eindeutig beschreiben, wenn alle Bindungslängen, Bindungswinkel und Drehwinkel bekannt sind. Wir gehen der Einfachheit halber zunächst davon aus, dass die Bindungs- und die Drehwinkel eines Makromoleküls jeden beliebigen Wert zwischen 180o und 180o mit gleicher Wahrscheinlichkeit annehmen. In diesem Fall können zwei zufällig ausgewählte Bindungsvektoren li und lj mit i z j jeden beliebigen Winkel miteinander bilden. Für das Skalarprodukt li lj gilt deshalb im zeitlichen Mittel: li l j
li l j cos T i, j
0
iz j
mit
(2.45)
Ti,j ist der Winkel, den die Vektoren li und lj einschließen, und li und lj sind ihre Längen. Wenn wir Gleichung (2.45) in Gleichung (2.40) einsetzen, werden alle Skalarprodukte li lj unter der Wurzel gleich null bis auf die, für die i = j ist. Gleichung (2.40) reduziert sich somit auf h2 ! mit l 2
N
N
i 1
i 1
¦ li li ¦ li2 N
N l2 ,
(2.46)
b1 N g¦ l . Für Homopolymere ist l = l für alle i, und wir erhalten die einfache Beziehung: 2 i
i
i 1
h2 !
N l2
(2.47)
36
2.4 Konformation
Dieses Modell beschreibt ein Zufallsknäuel. Es hat vorerst nur theoretische Bedeutung, da in der Realität die Bindungswinkel Ti-1,i zwischen direkt aufeinanderfolgenden Vektoren li-1 und li aus sterischen und energetischen Gründen nur ganz bestimmte Werte annehmen. Diese schwanken aufgrund der Eigenschwingungen des Makromoleküls. Die Schwankungsbreite beträgt allerdings nur einige Grad, so dass der zeitliche Mittelwert cosT i 1,i immer ungleich null ist. 2.4.4.4 Die frei rotierende Polymerkette Wir betrachten jetzt das Modell einer Polymerkette, bei der alle Bindungslängen li und alle Bindungswinkel Ti-1,i identisch sind. Diese Voraussetzungen treffen in etwa auf das Polymethylen zu. Dort gilt für alle i: li = 0,154 nm und Ti-1,i = 109o 28’. Die Berechnung des mittleren quadratischen Kettenendenabstandes < h2 > führen wir in mehreren Teilschritten durch. Zunächst einmal liefert das Skalarprodukt
h2 !
F¦ l I F¦ l I GH JK GH JK N
N
j
i
i 1
j 1
Terme der Form li lj mit i = j. Da li = l = konstant für alle i ist, liefert jedes dieser Produkte, von denen es insgesamt N gibt, den Wert l2. Es existieren ferner 2 (N 1) Terme der Form li li1 . Davon entfallen (N 1) Terme auf eine Kombination des Summenindexes i von i = 1 bis i = N 1 mit dem Summenindex j von j = 2 bis j = N. Die anderen (N 1) Terme entstehen durch die umgekehrte Kombination des Summenindexes j von j = 1 bis j = N 1 mit dem Summenindex i von i = 2 bis i = N. Jedes Produkt li li1 ist gleich l 2 cosT , wobei T der Winkel zweier aufeinanderfolgender Bindungen ist. Dieser ist nach Voraussetzung konstant, und nach Abbildung 2.28 gilt: T = 180o Ti,i+1.
Abbildung 2.28: Drei aufeinanderfolgende Bindungsvektoren
Das nächste zu berücksichtigende Skalarprodukt hat die Form li li 2 . Insgesamt gibt es 2(N 2) solcher Terme. Für die Berechnung von li li2 ist es zweckmäßig, den Vektor li+2 in die zwei Komponenten lp und ls zu zerlegen. lp bezeichne dabei einen Vektor, der parallel zum Vektor li+1 ist und ls einen Vektor, der senkrecht auf li+1 steht. Mit li+2 = lp+ ls folgt dann:
li li 2
li l p li l s
(2.48)
2 Struktur der Makromoleküle
37
Die drei Vektoren lp, ls und li+2 bilden ein rechtwinkliges Dreieck (siehe Abbildung 2.28). Es gilt l p l cosT und l s l sin T . Der Endpunkt des Vektors li+2 liegt auf dem Kreis K und wird durch den Drehwinkel I bestimmt. Wir nehmen an, dass I jeden beliebigen Wert zwischen I = 180q und I = 180q mit der gleichen Wahrscheinlichkeit annimmt. Das bedeutet: Der Vektor li+2 rotiert frei um seine Drehachse. Dies hat zur Folge, dass auch der Winkel D zwischen den Vektoren li und ls jeden beliebigen Wert zwischen 180q und 180q mit gleicher Wahrscheinlichkeit annimmt. Das Skalarprodukt
li l s
li l s cos D
l 2 cosT cosD
ist deshalb gleich null. Es existiert nämlich zu jeder Konformation mit dem Winkel D und dem Skalarprodukt li l s l 2 cosT cos D eine gleichwahrscheinliche Konformation mit dem Winkel 180q D, für die li l s l 2 cosT cos D ist. Da nun li lp gleich li l p cosT und l p l cosT ist, vereinfacht sich Gleichung (2.48) zu: li li 2
b g
l 2 cosT
2
(2.49)
In analoger Weise erhalten wir 2(N 3) Produkte der Form li li3 . Wieder können wir li+3 in zwei Vektoren der Länge l cosT parallel zu li+2 und der Länge l sinT senkrecht zu li+2 zerlegen. Der Mittelwert des Skalarproduktes von li mit der senkrechten Komponente von li+3 ist wieder null. Der Vektor parallel zu li+2 lässt sich analog wie zuvor in einen Vektor der Länge l (cosT )2 parallel zu li+1 und in einen Vektor der Länge l cosT sinT senkrecht zu li+1 zerlegen. Der Mittelwert des Skalarprodukts des senkrechten Vektors auf li+1 mit li ist gleich null, wogegen das Skalarprodukt von li mit dem parallelen Vektor zu li+1 gleich l2 (cosT )3 ist. Insgesamt gilt also: li li 3
b g
l 2 cosT
3
(2.50)
Diese Prozedur lässt sich weiter fortsetzen. So erhalten wir für ein beliebiges k insgesamt 2(N k) k Skalarprodukte der Form li li k l 2 cosT . Die Addition aller dieser Terme liefert für < h2 > die Gleichung
b g
h2 !
b
b
g
gb g
b g
2
l 2 N 2 N 1 cosT 2 N 2 cosT !2 cosT
N 1
(2.51)
Diese Gleichung lässt sich umformen zu: h2 !
a
l 2 N 1 2 cosT 2 cos T
a f
2 l 2 cos T 2 cosT
N l2
2
a f
! 2 cosT
a f
3 cosT
3
N 1
a
fa f
! N 1 cosT
N 1
LMFG 2 ¦ acosT f IJ 1OP 2 l LM ¦ FG d acosT f IJ acosT f OP K Q N H d cosT K NH Q LMLFG 2 ¦ acosT f IJ 1O 2 N FG d ¦ acosT f ¦ acosT f IJ OP K PQ H d cosT KQ NMNH N 1
Q
2
Q 0
N l2
2
f
N 1
Q 0
N 1
Q 1
Q
Q 1
Q
N 1
Q 1
Q 1
N 1
Q 1
Q
38
2.4 Konformation
Der Winkel T ist für alle Makromoleküle kleiner als 90q. cosT ist deshalb kleiner als eins. Mit Hilfe N
¦ qQ
d1 q i b1 qg folgt somit: LL F 1 acosT f I 1O 2 d F cosT F 1 acosT f 1I I N l M M2 G MNMN H 1 cosT JK PPQ N d cosT GH GH 1 cosT JK JK IO 2 F 1 acos T f G d1 acos T f iJ P N H 1 cos T K PQ
der Summenformel für geometrische Reihen
N
Q 0
h2 !
N 1
N 1
2
(2.52)
N
N
Wir haben dabei q = cosT gesetzt. Die Ableitung des zweiten Terms von Gleichung (2.52) nach cosT liefert: d d cos T
§ ¨ cosT ¨ ©
§ § 1 cos T N 1 · · · ¨¨ ¸ 1¸ ¸ ¨ ¨ 1 cosT ¸ ¸ ¸ ¹ ¹¹ ©©
2 cos T cos T N cos T 2
N 1
1 cosT
2
N 1 cos T
N
(2.53)
Durch Einsetzen von Gleichung (2.53) in Gleichung (2.52) folgt schließlich nach einigen Umformungen:
LM1 cosT 2 e1 bcosT g j 2 MM1 cosT N cosT b1 cosT g N bcosT g N N
h2 !
N l2
2
N
OP PP Q
(2.54)
cosT ist stets kleiner als eins. Für Polymethylen gilt z.B. T = 70q38' und cosT = 0,33. Die Anzahl der Bindungsvektoren N ist in der Regel sehr groß (N > 10). Die Terme (2/N)(cosT)N und (2/N) cosT [1(cosT)N]/(1cosT)2 sind somit sehr viel kleiner als der Term (1 + cosT)/(1 cosT). Für sehr große N vereinfacht sich Gleichung (2.54) deshalb zu: h2 !
N l 2 1 cos T 1 cos T
(2.55)
Die Gleichungen (2.47) und (2.55) sind bis auf den Vorfaktor k = (1 + cosT ) / (1 cosT ) identisch. Im Fall des Polymethylens ist k 2 . Wir schließen daraus: Der mittlere quadratische Kettenendenabstand < h2 > einer frei rotierenden Polymerkette (T = konstant; I = frei) ist größer als der eines Zufallsknäuels mit gleichem l und N. Im Grenzfall T = 90q geht Gleichung (2.55) in Gleichung (2.47) über. Diese Situation ist aber unrealistisch. 2.4.4.5 Die Polymerkette mit eingeschränkter Rotation Wir hatten im Fall der frei rotierenden Polymerkette angenommen, dass der Drehwinkel I jeden beliebigen Wert zwischen 180q und 180q mit der gleichen Wahrscheinlichkeit annimmt. Diese Annahme ist aber, wie wir z.B. vom Butan her wissen, unrealistisch. Der Drehwinkel I nimmt in der Regel bestimmte Winkel mit einer größeren Wahrscheinlichkeit an als andere. Mit Hilfe der Statistischen Thermodynamik kann man zeigen, dass für eine Polymerkette mit eingeschränkter Rotationsfreiheit gilt:
h2 !
N l2
FG 1 cosT IJ FG 1 cosI IJ H 1 cosT K H 1 cosI K
(2.56)
Gleichung (2.56) wurde erstmals 1949 von Benoit und Sadron abgeleitet. Sie ist eine Näherungsformel und darf nur unter folgenden Voraussetzungen angewendet werden:
2 Struktur der Makromoleküle
39
a) li = lj = l für alle i, j ; b) N > 10 ; c) die potentielle Energie der Rotation V(I ) ist eine symmetrische Funktion (V(I ) = V(I )). Im Fall der Boltzmann-Statistik gilt: 2S § 2S · (2.57) cos I ³ exp ª¬ V I kB T º¼ cos I dI ¨ ³ exp ª¬ V I kB T º¼ dI ¸ 0 ©0 ¹ Leider ist der Funktionsverlauf von V(I ) in den meisten Fällen nur näherungsweise bekannt. Die praktische Nützlichkeit von Gleichung (2.56) ist daher begrenzt. 2.4.4.6 Die Persistenzlänge Ein weiterer sehr wichtiger Parameter der Konformationsstatistik ist die Persistenzlänge lp. Wir betrachten dazu das Modell der unendlich langen Polymerkette, deren Bindungsvektoren li alle gleich lang sind. Wir greifen einen beliebigen Bindungsvektor li aus der Kette heraus. Die Persistenzlänge lp ist dann definiert als die Summe der Projektionen von allen Bindungsvektoren lj mit j > i auf die Richtung von li . Das heißt, es gilt: f
lp { l ¦ cos Ti , j !
(2.58)
j i 1
Hier ist l die Bindungslänge und Ti,j der Winkel zwischen den Bindungsvektoren li und lj in einer augenblicklichen Konformation. Das Produkt l cosTi,j ist gleich der Länge der Projektion des Bindungsvektors lj in die Richtung von li. Das bedeutet l < cosTi,j > ist der über alle Konformationen gemittelte Mittelwert der Projektion von lj auf li. Wir können auch sagen: l < cosTi,j > ist ein Maß für die Korrelation der Richtung von lj mit der von li. Für hinreichend weit voneinander entfernte Bindungsvektoren li und lj ist < cosTi,j > = 0. Das bedeutet: Die Terme in Gleichung (2.58) konvergieren gegen null. lp ist somit endlich. In der Praxis ist die Persistenzlänge ein Maß für die innere Flexibilität einer Polymerkette. Für ein steifes Polymermolekül mit stark eingeschränkter Rotation ist lp groß und für ein statistisches Knäuel klein. 2.4.4.7 Das Kuhnsche Ersatzknäuel Gleichung (2.55) und (2.56) lassen die Vermutung zu, dass bei hinreichend großen N gilt: h2 !
N ls2
(2.59)
Dabei ist ls eine Größe mit der Dimension einer Länge. Sie hängt von der Bindungslänge l, dem Bindungswinkel T und dem mittleren Drehwinkel I bzw. dem Potential V(I ) ab, ist aber unabhängig von der Anzahl der Bindungen N. Gleichung (2.59) stimmt formal mit dem Resultat für das Zufallsknäuel (Gl. 2.47) überein. Wir vermuten deshalb, dass es möglich ist, jede Polymerkette mit eingeschränkter innerer Bindungs- und Rotationsfreiheit so zu beschreiben, als sei es ein Zufallsknäuel, das die scheinbare Bindungslänge ls besitzt. Dabei ist ls deutlich größer als die wahre Bindungslänge l. Typische Werte für ls liegen in der Größenordnung von ls = 1,5 l bis ls = 3,0 l. Das Verhältnis Cf = ls / l ist ein Maß für die konformative Einschränkung in der Bindungs- und Rotationsfreiheit einer Polymerkette. Je größer der Wert von Cf ist, desto stärker ist die konformative Einschränkung. Der Index „f“ weist dabei darauf hin, dass Gleichung (2.59) nur dann eine hinreichend genaue Näherung ist, wenn N sehr groß (im Idealfall unendlich groß) ist. Den Beweis für die Gültigkeit von Gleichung (2.59) erbrachte Kuhn 1936. Er führte dazu die folgenden Hilfsvektoren ein:
li*
ik
¦lj j i
(2.60)
40
2.4 Konformation
Diese verbinden jeweils k Bindungsvektoren lj der Länge l miteinander. k ist dabei so groß, dass die Mittelwerte cosT i ,i k gleich null sind. Dies hat zur Folge, dass zwei unmittelbar aufeinander folgende Vektoren li* und li* k jeden beliebigen Bindungswinkel T mit gleicher Wahrscheinlichkeit annehmen. Die Vektorenschar hi* { li* , hi*1 { li* k , hi* 2 { li* 2 k usw. beschreibt deshalb ein Zufallsknäuel. Wir N*
können sie räumlich so anordnen, dass h
¦ hi*
ist. In Äquivalenz zu Gleichung (2.47) folgt:
i 1
h2 !
N * h*2
(2.61)
N* gibt die Anzahl der Vektoren hi an, die notwendig sind, damit Gleichung (2.61) den mittleren quadratischen Kettenabstand der Polymerkette hinreichend genau wiedergibt. Da N k N * ist, lässt sich Gleichung (2.61) umformen zu: h2 !
N k h*2 N k lK2
mit
lK2
h*2
(2.62)
Kuhn bezeichnet die Vektoren hi* als Segmentvektoren, da sie Teile, d.h. Segmente einer Polymerkette beschreiben. Die Größe lK heißt „Kuhnsche statistische Segmentlänge“. Sie ist über die Beziehung lK2
k ls2
(2.63)
mit der scheinbaren Bindungslänge ls verknüpft. Die Gleichungen (2.59) bis (2.63) liefern nur dann genügend genaue Werte für < h2 >, wenn N und N/k hinreichend groß sind. Das ist bei Polymeren fast immer der Fall. Gleichung (2.62) ist deshalb eine gute Näherung. 2.4.4.8 Das Persistenzkettenmodell Im Fall der frei rotierenden Polymerkette ist der Bindungswinkel T ein Maß für die Steifheit oder Starrheit eines Makromoleküls. Ist T = 0, so bildet das Makromolekül eine geradlinige Kette der Länge L = N l. Die Größe L heißt Konturlänge. Sie ist für ein vollständig gestrecktes Makromolekül identisch mit dessen Kettenendenabstand h. Kettenmoleküle mit T = 0 kommen in der Natur nicht vor. Es gibt jedoch Makromoleküle, bei denen T sehr klein ist, d.h. nahe bei null liegt. Ein Beispiel ist die doppelsträngige DNA. Diese relativ steifen Makromoleküle bestehen ebenfalls aus einer sehr großen Anzahl N von Grundbausteinen. Ihre Gestalt ist deshalb weiterhin die eines Knäuels, wobei allerdings die für die Beschreibung der Konformation benötigte Anzahl N* an Kuhnschen Segmentvektoren deutlich größer ist als für Makromoleküle mit hoher innerer Flexibilität. Wir können also bei genügend hohen N-Werten weiterhin Gleichung (2.54) benutzen, um den mittleren Kettenendenabstand < h > zu berechnen. Da T | 0 ist, können wir cosT in eine Taylor-Reihe entwickeln und diese nach dem zweiten Glied abbrechen. Es folgt: cosT | 1 (T 2 / 2) . Der dabei gemachte numerische Fehler liegt in der Größenordnung von T 4 , d.h. er ist vernachlässigbar klein. Durch Induktion zeigt man, dass N cosT | exp( N T 2 / 2) ist. Gleichung (2.54) vereinfacht sich in diesem Fall zu:
b g
2 Struktur der Makromoleküle
h2 !
N l2
N l2
LM 2 T 2 MN T 2 b2 N g d1 T LM 4 1 F 8 4 MNT GH N T N T
2
2
2
4
1 exp N T 2 i e Td 4 ij b2 N g expd N T 2
2
2
4
I F 8 JK GH N T
4
4 NT
2
I d JK
2 exp N T 2 2 N
2
2
41
OP iP Q
iOPP Q
Für kleine T -Werte (T/rad < 0,1) ist der Term 2/N sehr viel kleiner als der Term 4/(N T2) und dieser sehr viel kleiner als der Term 8/(N T4). Gute Näherungswerte liefert daher die Gleichung: h2 !
N l2 4 T 2 1 8 N T 4
e d
ij e1 expd N T 2ij 2
(2.64)
In Kapitel 2.4.4.6 hatten wir den Begriff der Persistenzlänge eingeführt. Hier gilt: lp = l/(1 cosT), so dass für kleine T folgt: lp = 2 l/T2. Mit L = N l und p { lp/L = 2/(N T2) transformiert sich Gleichung (2.64) zu: h2 !
b g
c
b
L2 2 p 1 N 2 p 2 1 exp 1 p
gh
(2.65)
Diese Gleichung wurde erstmals 1949 von Porod und Kratky abgeleitet. Sie ist in Abbildung 2.29 graphisch dargestellt. Zwei Grenzfälle sind zu unterscheiden: (1) Für große N und relativ steife Makromoleküle ist p > 1. Wir können dann exp(1/p) in eine Taylor-Reihe (exp( 1 / p) 1 1 / p 1 / (2 p 2 ) ! ) entwickeln und diese nach dem dritten Glied abbrechen. Wir erhalten dann:
d ij
h 2 ! | L2 2 p 2 p 2 1 p 1 2 p 2
e
L2
oder
h!| L
(2.68)
Diese Analyse zeigt, dass das Persistenzkettenmodell in der Lage ist, ein Zufallsknäuel, ein Stäbchenmolekül und alle Teilchengestalten mit dazwischen liegender Konformation zu beschreiben. Es ist deshalb von sehr großer Nützlichkeit bei der Interpretation experimenteller Daten.
42
2.4 Konformation
2.4.4.9 Die Beziehung zwischen < h > und < R > Der mathematische Ausdruck für den mittleren Trägheitsradius eines Makromoleküls hängt genau wie der für < h > von der zugrunde gelegten Modellvorstellung ab. Es ist aber nicht notwendig, für < R > alle vorangegangenen Berechnungen zu wiederholen. Es existiert nämlich eine mathematische Beziehung zwischen < h > und < R >, die es erlaubt, < R > zu bestimmen, wenn < h > bekannt ist. Diese wichtige Umrechnungsformel wollen wir jetzt herleiten.
Abbildung 2.30: Modell eines Kettenmoleküls
Wir betrachten das Modell in Abbildung 2.30. Der Schwerpunkt des Makromoleküls ist der Ausgangspunkt der Vektoren ri zu den Schwerpunkten der Grundbausteine. Wir wollen sie im Folgenden als Massenpunkte bezeichnen. Der Vektor hi verbindet den nullten Massenpunkt der Kette mit dem i-ten. Es gilt somit: ri
r0 hi ,
(2.69)
wobei h0 der Nullvektor und hN der Kettenendenabstandsvektor h ist. Wir erinnern daran, dass N die Anzahl der Bindungen und N + 1 die Anzahl der Grundbausteine in der Kette ist. Aus der Definition des Massenschwerpunkts folgt: N
¦ mi ri
0,
(2.70)
i 0
wobei mi die Masse des i-ten Grundbausteines ist. Wir nehmen an, dass alle Grundbausteine die gleiche Masse besitzen. Gleichung (2.70) lässt sich dann umformen zu: N
N
N
¦ ri ¦ b r0 hi g i 0
b N 1g r ¦ h
i 0
bh 0g
0
i
0
(2.71)
0
i 1
Es folgt:
r0
N
g¦ h
b
1 N 1
(2.72)
i
i 1
Der mittlere quadratische Trägheitsradius berechnet sich nach Gleichung (2.44) zu:
b
N
g¦ r r
R2 ! 1 N 1
(2.73)
i i
i 0
Mit ri = r0 + hi folgt: R2 !
a
N
f b
gb
1 N 1 ¦ r0 hi r0 hi i 0
g
a
f
N
a
f
N
r02 1 N 1 ¦ hi2 2 N 1 ¦ r0 hi , i 1
i 1
Dabei haben wir berücksichtigt, dass h0 = 0 ist. Mit Gleichung (2.72) wird daraus:
(2.74)
2 Struktur der Makromoleküle N
N
N
g ¦ h 1 b N 1g ¦ ¦ h h
b
R2 ! 1 N 1
2
2 i
i
i 1
43
(2.75)
j
i 1 j 1
Wendet man den Kosinussatz auf das Skalarprodukt der Vektoren hi hj an, so gilt: hi2 h 2j 2 hi hj
hi2, j
(2.76)
Hierbei ist hi,j der Abstand zwischen dem i-ten und j-ten Massenpunkt der Polymerkette. Wir setzen diesen Ausdruck in Gleichung (2.75) ein und erhalten: N
g¦h
b
R2 ! 1 N 1
2 i
i 1
N
Da
N
N
N
¦ ¦h ¦ ¦h 2 i
i 1
j 1
i 1
N
j 1
2
N
2 i
h 2j hi2, j
j
(2.77)
i 1 j 1
N ¦ hi2 , hi2
2 j
N
g j ¦ ¦ eh
eb
1 2 N 1
h 2j und N 1 | N ist, folgt:
i 1
N
N
1 2 N 2 ¦ ¦ hi2, j
d
R2 !
i
(2.78)
i 1 j 1
Wir nehmen an, dass die Polymerkette ein Zufallsknäuel darstellt. Es gilt dann: hi2, j
j i l2 ,
wobei j i die Anzahl der Grundbausteine angibt, die sich auf der Teilkette mit dem Kettenabstand hi,j befinden. Unser Problem reduziert sich dadurch auf die Berechnung der Doppelsumme N
N
¦¦
j i . Diese lässt sich in zwei Teilsummen zerlegen. Für j i gilt j i
i j , und für j ! i
i 1 j 1
ist j i N
¦
j i . Es folgt somit: i
N
j 1
j i 1
¦ bi j g ¦ b j i g
j i
j 1
(2.79)
Auf beide Einzelsummen können wir die Summenformel für arithmetische Reihen anwenden. Diese besagt, dass 1 + 2 + 3 +. . .+ n = (1/2) n(n + 1) ist. Das ergibt: N
¦
b1 2gbi 1g i b1 2gb N igb N 1 ig
j i
b
g b gd
i2 i N 1 1 2 N 2 N
i
j 1 N
Für die Summe
¦ i2
2 2 2 2 benutzen wir die Beziehung 1 + 2 + 3 + . . .+ n = n(n + 1)(2 n + 1)/6. Es
i 1
folgt: N
N
¦¦
i 1 j 1
j i
N
¦ i 2 i b N 1g b1 2g d N 2 N i
dN
3
i
N 3
(2.80)
i 1
Der mittlere quadratische Trägheitsradius berechnet sich somit zu:
R2 !
b g d N 1i 3 l
1 2N
2
2
Für große N (N >> 10) ist N2 >> 1. Mit < h2 > = N l2 folgt deshalb in guter Näherung:
R2 ! 2
h2 ! 6
(2.82) 2
Um < R > zu erhalten, müssen wir also lediglich < h > durch sechs dividieren.
44
2.4 Konformation
Gleichung (2.82) ändert sich auch dann nicht wesentlich, wenn wir als Modell für unser Knäuel die frei rotierende Kette oder die Polymerkette mit eingeschränkter Rotation verwenden. Wiederholen wir nämlich die obigen Rechnungen mit Hilfe des Modells des Kuhnschen Ersatzknäuels, indem wir ri durch ri*, hi durch hi* , N durch N * , l durch lK ersetzen, und N * genügend groß wählen, so erhalten wir genau das gleiche Resultat. Wir müssen an dieser Stelle allerdings darauf hinweisen, dass alle bisher für und für abgeleiteten Beziehungen nur dann gelten, wenn die Grundbausteine einer Kette nicht miteinander wechselwirken (keine Kräfte aufeinander ausüben). Mit anderen Worten: Sie gelten nur, wenn sich das Polymer im Theta-Zustand befindet. Leider ist dies in der Realität nur sehr selten der Fall (siehe Kapitel 4). 2.4.4.10 Trägheitsradien für verschiedene Modell-Makromoleküle Wir nehmen an, dass die Segmente eines Makromoleküls alle die gleiche Masse besitzen. Für den mittleren quadratischen Trägheitsradius gilt dann nach Gleichung (2.44):
R2 !
N
1 N ¦ *
ri 2
(2.83)
i 1
Für eine harte Kugel vom Radius R stimmt der Massenschwerpunkt des Moleküls mit dem Mittelpunkt der Kugel überein. Die Anzahl der Kugelsegmente, die sich in der Kugelschale mit dem inneren Radius r und dem äußeren Radius r + dr befinden, ist proportional zu 4 S r2 dr. Es folgt: R
R2 !
³ 4 r
R
4
dr
r 0
³ 4 r
2
dr
3 5 R 2
(2.84)
r 0
Eine lineare Kette von Polymersegmenten besitzt die Form eines Stäbchens. Der Massenschwerpunkt eines Stäbchens der Länge L stimmt mit dem Zentrum des Stäbchens überein. Die Anzahl der Segmente mit einem Abstand zwischen r und r + dr vom Zentrum ist proportional zu dr. Der maximal mögliche Wert von r ist L/2. Es gilt somit: L/2
R2 !
³r
L/2 2
dr
r 0
³ dr
L2 12
(2.85)
r 0
Auf ähnliche Weise lassen sich die Trägheitsradien für andere Teilchenstrukturen berechnen. Eine Auswahl zeigt Tabelle 2.11. Tabelle 2.11: Trägheitsradien für verschiedene Modellmoleküle
Modell
< R2 >
Bedeutung der Symbole
Harte Kugel Hohlkugel
(3/5) R2
Ellipsoid Stäbchen Scheibe Zylinder Lineares Knäuel im T-Zustand Lineares Knäuel im Nicht-T-Zustand
(a2 + b2 +c2)/5 L2/12 (a2 + b2)/4 (a2 + b2 +L2/3)/5 N * l K2 6
R Ra Ri a,b,c L a,b L N* lK
a3 5f c
Ra5
Ri5
D 2 N * l K2 6
hc
Ra3
Ri3
h
D
= Radius der Kugel = äußerer Kugelradius = innerer Kugelradius = Halbachsen = Länge des Stäbchens = Halbachsen = Länge des Zylinders = Anzahl der Segmente = Kuhnsche Länge = Expansionskoeffizient
2 Struktur der Makromoleküle
45
Wir wollen annehmen, das ein Makromolekül die Molmasse Mw = 500 000 g/mol und das spezifische Volumen X2 = 1 cm3/g besitzt. Die Gleichungen in Tabelle 2.11 können wir dann dazu benutzen, um den Trägheitsradius für die verschiedenen Modelle zu berechnen. Die Ergebnisse dieser Rechnung zeigt Tabelle 2.12. < R > ist für eine harte Kugel sehr klein, 3 bis 5 mal größer für ein Knäuel und bis zu hundertmal größer für einen dünnen Zylinder. Die experimentelle Bestimmung von lässt deshalb gewisse Aussagen über die Molekularstruktur eines Makromoleküls zu. Es ist allerdings nicht möglich, mit Hilfe von < R > die Molekularstruktur eindeutig zu bestimmen. Es ist lediglich möglich, die in Frage kommenden Modellstrukturen auf einige wenige einzugrenzen. Tabelle 2.12: Trägheitsradien für Modellmoleküle der Sorte: Mw = 5 105 g/mol, v2 = 1 cm3/g
< R >/nm
Modell Harte Kugel
0,45
1,15 (Ra Ri = 0,5 nm) 0,82 (Ra Ri = 1,0 nm) 1,23 Zylinder (a = 2,5 nm) 7,63 (a = 1,0 nm) (a = b) 30,51 (a = 0,5 nm) 1,69 Knäuel1) (D = 1) 2,39 (D = 2) 1) Wir betrachten hier Polyvinylchlorid. Es gilt: N* = 5 105/62 | 80,65 und lK = 0,46 nm. Hohlkugel
Wir betrachten als Beispiel die Trägheitsradien in Tabelle 2.13. Spalte 4 enthält die < R >Werte, die die verschiedenen Makromoleküle theoretisch annehmen müssten, wenn sie die Gestalt einer harten unsolvatisierten (trockenen) Kugel besäßen. Spalte 5 enthält die gemessenen Werte von < R >. Der Vergleich zeigt, dass es sich bei drei der Substanzen um harte Kugeln handeln könnte. Das sind die beiden globulären Proteine, Serumalbumin und Catalase, und der Bushy Stunt Virus. Die theoretisch berechneten Werte von < R > sind aber durchweg kleiner als die gemessenen Werte. Das hat zwei Gründe: (1) die Makromoleküle enthalten Lösemittelmoleküle, die das einzelne Makromolekül solvatisieren (es wird dadurch gestreckt), und (2) die Gestalt des Makromoleküls weicht von der einer exakten Kugel ab. Tabelle 2.13: Vergleich experimentell bestimmter Trägheitsradien mit berechneten Werten
1)
Substanz
Molmasse Mw/(g/mol)
Spezifisches Volumen X2/(cm3/g)
Theoretische Werte für < R >/nm Modell: Kugel
Serumalbumin
6,6 104
0,75
2,1
3,01)
Catalase
2,2 105
0,73
3,1
4,01)
Dextran
5,0 105
0,60
4,5
22,02)
Polystyrol
1,2 106
0,50
6,4
32,02)
Kalbsthymus-DNA
6,0 106
0,56
10,6
150,02)
Bushy Stunt Virus
1,1 107
0,74
11,3
12,0
Tabak Mosaik Virus
3,9 10
0,75
17,5
92,4
2)
7
Experimentell bestimmte Werte für < R >/nm
Röntgenstreuung; Statische Lichtstreuung; die Werte beziehen sich auf den Thetazustand.
46
2.4 Konformation
Die anderen Makromoleküle in Tabelle 2.13 besitzen mit sehr großer Wahrscheinlichkeit keine Kugelgestalt. Bei ihnen handelt es sich eher um Zylinder oder um expandierte Knäuel. Um die exakte Gestalt dieser Moleküle zu bestimmen, sind zusätzliche Untersuchungen erforderlich. 2.4.4.11 Polydispersität Wir haben bei der Berechnung von < h > und < R > angenommen, dass die Makromoleküle einer Probe die gleiche Molmasse besitzen. Das ist, wie wir schon wissen, fast nie der Fall. Wir müssen und < R > deshalb noch bezüglich der verschiedenen Molmassen in der Probe mitteln. In Analogie zu den verschiedenen Mittelwerten der Molmasse unterscheidet man auch hier Zahlen-, Massen- und Zentrifugenmittelwerte (Indices n, w und z). Es gilt:
h2 !n
k
k
¦ Ni h 2 ! i ¦ Ni i 1
h2 !z
h2 !w
;
i 1
k
k
i 1
i 1
k
k
i 1
i 1
¦ N i Mi h 2 ! i ¦ N i Mi
¦ Ni Mi2 h 2 ! i ¦ Ni Mi2
(2.86)
Ni ist die Anzahl und < h2 >i der über alle Konformationen gemittelte quadratische Kettenendenabstand der Makromoleküle mit der Molmasse Mi. Im Theta-Zustand, d.h. für den Fall, dass die inter- und intramolekularen physikalischen Wechselwirkungen zwischen den Grundbausteinen vernachlässigt werden können, gilt: h 2 !i
Mi
M 0 lK2 k
Hier ist M0 die Molmasse eines Grundbausteines und k die Anzahl der Grundbausteine eines Kuhnschen Segments der Länge lK. Die Gleichungen (2.86) vereinfachen sich dann zu:
h2 !n h !w 2
lK2
k
k
i 1
i 1
k M 0 ¦ Ni M i ¦ Ni M n
Mw
MK l
2 K
und
M K lK2 ,
h2 !z
Mz
M K lK2 ,
(2.87)
wobei MK = k M0 die Molmasse eines Kuhnschen Segments ist. Für Nicht-Theta-Zustände ergeben sich sehr viel kompliziertere Gleichungen zur Berechnung der Mittelwerte. Die allgemeine Beziehung für i lautet dann V h 2 !i k M i M 0 lK2 ,
~
wobei k eine molmassenunabhängige Konstante und V eine positive reelle Zahl größer eins sind. Experimentell zugänglich sind nur die verschiedenen Mittelwerte von < R2 >. Es ist deshalb notwendig, die Mittelwerte von < h2 > in die von < R2 > umzurechnen. In guter Näherung darf man dazu Gleichung (2.82) verwenden. Die Art der bei einer Messung erhaltenen Mittelwerte von < R2 > hängt von der benutzten Messmethode ab. So liefert die Statische Lichtstreuung für < R2 > einen zMittelwert und die Methode der Viskosimetrie einen K-Mittelwert. 2.4.4.12 Verzweigte Polymere Der mittlere Kettenendenabstand < h > hat bei verzweigten Makromolekülen keine Bedeutung. Ein verzweigtes Makromolekül besitzt mehrere Enden und somit mehrere Kettenendenabstände. Die Beschreibung der Makrokonformation erfolgt bei verzweigten Makromolekülen mit Hilfe dimensionsloser Faktoren.
2 Struktur der Makromoleküle
47
Zwei Faktoren, der g- und der h-Faktor, sind besonders wichtig. Sie sind wie folgt definiert: g { R2 ! b R2 ! l
(2.88)
h { Rh ! b Rh ! l
(2.89)
2
Hier bedeuten: < R >b = quadratischer Trägheitsradius des verzweigten Makromoleküls; < R2 >l = quadratischer Trägheitsradius eines linearen Makromoleküls, das den gleichen Randbedingungen wie das verzweigte Molekül unterliegt und auch die gleiche Molmasse wie dieses besitzt. < Rh >b = hydrodynamischer Radius des verzweigten Makromoleküls und < Rh >l = hydrodynamischer Radius des linearen Analogons. Für g und h existieren mathematische Ausdrücke, die für verschiedene Modelle von Verzweigungsstrukturen abgeleitet wurden. Einige Beispiele zeigt Tabelle 2.14. Tabelle 2.14: g- und h- Faktoren verzweigter Makromoleküle
g-Faktor
Molekültyp Sterne mit gleich langen Armen
b3 f 2g
Sterne mit verschieden langen Armen, wobei die Armlängen gaußartig verteilt sind
6f
Kämme, bei denen die Seitenzweige statistisch entlang der Hauptkette verteilt sind. Die Seitenzweige sind alle gleich lang
1 f p 2 3 p p2
Baummoleküle mit trifunktionellen Verzweigungspunkten
LMF1 f I NH 7 K LMF1 f I NH 6 K
Baummoleküle mit tetrafunktionellen Verzweigungspunkten
Baummoleküle mit Verzweigungspunkten der Funktionalität f, wobei ein Zweig aus nur einem Segment besteht
f2
h-Faktor
Erklärung der Symbole
f 1/ 2
f = Anzahl der Arme mit ft3
b2 f g 2 b f 1g
b f 1g
2
1/2
16 § f 1 · ¨ ¸ 3 f 3 © ¹
f 2 p 2 1 3 p 1 f p
3 f 1 f
1/ 2
OP 9SQ 4fO P 3S Q
1/ 2
4f
f = Anzahl der Arme mit ft1
f = Anzahl der Verzweigungspunkte p = f /(N f nb) N = Anzahl der Segmente pro Makromolekül nb = Anzahl der Segmente eines Seitenzweiges
3
1/ 2
f = Anzahl der Zweige pro Molekül
1/ 2
f = Anzahl der Zweige pro Molekül
FG IJ 3H S f K
8 f 1
1/ 2
f = Funktionalität eines Segments
48
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
Dieses Kapitel stellt prinzipielle Synthesemöglichkeiten für Makromoleküle vor, da eine umfassende Übersicht über die makromolekularen Substanzen den gegebenen Rahmen sprengen würde. Unter einer Polyreaktion zur Bildung von Makromolekülen oder Polymeren versteht man chemische Reaktionen, bei denen durch aufeinanderfolgende Reaktionen monomerer und auch oligomerer Verbindungen lineare, verzweigte oder vernetzte Makromoleküle gebildet werden. Damit ein derartiges Makromolekül gebildet wird, sind strukturelle, thermodynamische und kinetische Voraussetzungen zu erfüllen. x Strukturelle Voraussetzungen Die Monomere müssen bi- oder multifunktionell sein. Für diese Funktionalität bieten sich mehrere Möglichkeiten an, z.B. Mehrfachbindungen (3.1), Ringe (3.2) und funktionelle Gruppen (3.3) sowie (3.4) als wichtigste Typen. CH2=CH2
[ CH2 CH2 ]
CH2CH2CO NH CH2CH2CH2
NH2
COOH
(3.1)
[ NH (CH2)5 CO ]
(3.2) [ NH
CO ] + H2O
(3.3)
OCN(CH2)6NCO + HO(CH2)4OH -[ CO NH (CH2)6 NH CO O (CH2)4 O ]-
(3.4)
x Thermodynamische Voraussetzungen Wie in der niedermolekularen Chemie muss der zweite Hauptsatz der Thermodynamik eingehalten werden, die freie Polymerisationsenthalpie 'Gp muss negativ sein. 'Gp = 'Hp T 'Sp Die Problematik liegt bei Polyreaktionen darin, dass der Aufbau von makromolekularen Ketten einen besseren Ordnungsgrad darstellt als der Zustand der Monomere, deshalb wird die Entropieänderung 'Sp negativ. Da die Polymerisationsenthalpie 'Hp stets negativ ist (bis 160 kJ/mol), kann eine Polymerisation nur stattfinden, wenn der Betrag T 'Sp < 'Hp ist. Bei T 'Sp = 'Hp stehen Aufbaureaktionen der Makromoleküle (Polymerisation) und deren Abbau (Depolymerisation) im Gleichgewicht. Die entsprechende Temperatur bezeichnet man als „ceiling-Temperatur“ Tc. Tc = 'Hp / 'Sp
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
49
x Kinetische Voraussetzungen Die Reaktion muss ausreichend schnell verlaufen. Dafür ist es notwendig, dass die Monomere bzw. die funktionellen Gruppen eine genügende Reaktivität aufweisen, damit die Polyreaktion zum Makromolekül abläuft. Darüber hinaus müssen eventuelle Konkurrenzreaktionen zum Aufbau der makromolekularen Ketten abwesend sein oder genügend langsam verlaufen. Historisch gesehen wurden Polyreaktionen in Polymerisation, Polykondensation und Polyaddition eingeteilt. Der Begriff Polymerisation wird auch als Oberbegriff verwandt. Unter einer Polymerisation versteht man die Polyreaktion von Verbindungen mit Mehrfachbindungen bzw. Ringen unter chemischer Bindung zu Makromolekülen (s. Gleichungen (3.1) und (3.2)). Es gibt fließende Übergänge. Unter einer Polykondensation versteht man eine Polyreaktion, bei der bi- oder multifunktionelle Monomere bzw. bereits gebildete Oligomere in chemischer Bindung Makromoleküle unter Austritt niedermolekularer Verbindungen bilden (s. entsprechende Gleichung (3.3)). Die Definition der Polyaddition ist gleichlautend mit derjenigen der Polykondensation mit dem Unterschied, dass keine niedermolekularen Verbindungen abgespalten werden (s. Gleichung (3.4)). Unter einem anderen Gesichtspunkt erfolgt die Einteilung der Polyreaktionen in Kettenwachstums- und Stufenwachstumsreaktionen. Bei der Kettenwachstumsreaktion lagert sich das Monomer (M) an ein reaktives Zentrum (C*) an. C* + M
CM*
Dieses reaktive Zentrum wandert und verbleibt (bis zur Desaktivierung) am Ende des Makromoleküls. Die Anlagerung des Monomers erfolgt sehr schnell. Eine Reaktion der Oligomere untereinander erfolgt nicht. Es wird sofort ein hoher Polymerisationsgrad erreicht, wie Abbildung 3.1 zeigt. Hier wäre die Polymerisation einzuordnen (s. Abbildung 3.1). P
Abbildung 3.1: Abhängigkeiten des Polymerisationsgrades P vom Umsatz U bei der Stufenwachstumsreaktion (a) sowie den Kettenwachstumsreaktionen (ohne Abbruch (b), mit Abbruch (c)) (H.G. Elias, 1990)
c
b a U
Bei der Stufenwachstumsreaktion reagieren Monomere, aber auch bereits gebildete Oligomere miteinander und untereinander stufenweise zu Makromolekülen. Die Reaktionen verlaufen langsam. Der Polymerisationsgrad steigt bei hohem Umsatz steil an (Abbildung 3.1). Hier wären die Polykondensation und die Polyaddition einzuordnen (s. Gleichungen (3.3) und (3.4)). Der wesentliche Unterschied der Stufenwachstums- und Kettenwachstumsreaktion besteht darin, dass bei der Kettenwachstumsreaktion das reaktive Zentrum am Kettenende verbleibt, also immer ein aktiver Zustand vorhanden ist, während bei der Stufenwachstumsreaktion nach jedem Reaktionsschritt der Grundzustand wieder durchlaufen wird. Ein gemeinsamer Aspekt über alle Reaktionsmechanismen wäre hier bereits anzuführen. Die Reaktivität des Kettenendes, gleich ob ein aktives Zentrum oder eine funktionelle Gruppe vorliegt, ist unabhängig von der Länge des Makromoleküls. Diese von Flory bewiesene Annahme vereinfacht die Kinetik der Polyreaktionen außerordentlich.
50
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Ein weiterer gemeinsamer Aspekt ist, dass bei Polyreaktionen (von Ausnahmen abgesehen) keine einheitlichen Molmassen oder Polymerisationsgrade entstehen, sondern stets eine Molmassen- oder Polymerisationsgradverteilung vorliegt. Daraus ergeben sich unterschiedliche, entsprechende Mittelwerte, je nachdem, ob die Messmethoden auf die Zahl (Mn) oder die Masse (Mw) der Polymermoleküle ansprechen (s. auch Kapitel 2.1.3). Eine vom Anwendungsverhalten ausgehende Klassifizierung teilt die Polymere in Plaste, Elastomere und Fasern ein. Plaste umfassen Thermoplaste, die wiederholt verarbeitbar sind, und Duromere, die einmal in die Form gebracht und vernetzt sind, jedoch ohne Zerstörung nicht in eine neue Form gebracht werden können. Elastomere zeichnen sich durch ein kautschukelastisches Verhalten aus. Fasern sind anisotrop und zeigen in Richtung der Faserachse die größten Festigkeiten (s. auch Kapitel 5).
3.1 Kettenwachstumsreaktionen x Strukturelle Voraussetzungen Bei der Kettenwachstumsreaktion oder Polymerisation müssen als essentielle Reaktanden ein Initiator und das Monomer vorhanden sein. Als Initiatoren können Radikalbildner, Carbanionen, Carbokationen oder Komplexverbindungen wirken. Demzufolge bezeichnet man die entsprechenden Polymerisationen normalerweise als radikalische, anionische, kationische oder koordinative Polymerisation. Aber nicht in jedem Falle entspricht der sich einstellende Mechanismus auch dem Initiator. Die koordinative Polymerisation wird wegen eines besonderen Wachstumsmechanismus auch als Polyinsertion bezeichnet und aus besonderen, historischen Gründen wird hier der Initiator auch Katalysator genannt. Spontane Polymerisationen ohne Initiatorzugabe sind eine Ausnahme und nur vom Styrol und Methylmethacrylat bekannt. Die zweite Komponente, das Monomer, muss als strukturelle Voraussetzung eine Doppelbindung oder einen Ring aufweisen. Die wichtigsten derartigen Verbindungen sind z.B. Olefine, Diene, Vinylverbindungen, Aldehyde sowie cyclische Ether, Amide und Ester. Nicht alle Monomere sind mit allen oben genannten Initiatoren polymerisierbar. In Tabelle 3.1 sind eine Reihe gebräuchlicher Monomere unter dem Aspekt ihrer Polymerisationsfähigkeit mit obigen Initiatoren zusammengestellt. Die Tabelle 3.1 stellt nur einen kleinen Ausschnitt dar und zeigt, dass manche Monomere nur nach einem Mechanismus, andere nach verschiedenen Mechanismen polymerisierbar sind. Prinzipiell gilt, dass die Polymerisation nur durch das abgestimmte Zusammenwirken von Initiator und Monomer bestimmt wird. Für dieses Zusammenwirken mit dem Ziel der Polymerisation sind die Elektronenverteilung an der Doppelbindung des Monomers und die Resonanzsituation am aktiven Kettenende maßgebend. Elektronendonor-Substituenten, wie z.B. CH3, OR, bewirken eine Polarisation der Doppelbindung des Monomers und ermöglichen eine Polymerisation mit kationischen Initiatoren. G
G
CH2 CH OR Elektronenacceptor-Substituenten, wie z.B. CN, COOR, polarisieren die Doppelbindung in entgegengesetztem Sinne und ermöglichen eine Polymerisation mit anionischen Initiatoren. Den Gesamtbereich der Vinylmonomere überstreicht die Initiierung mit radikalischen Initiatoren in Übereinstimmung mit der Erkenntnis der Organischen Chemie, dass radikalische Reaktionen relativ unspezifisch sind. Von der radikalischen Initiierung ausgenommen sind Monomere mit star-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
51
ken Elektronendonor-Substituenten, wie z.B. Vinylether und Isobutylen. Letzteres bildet stabile Allylradikale. Davon ausgenommen sind auch die meisten Olefine, die nur mit koordinativen Katalysatoren polymerisierbar sind, auch Ethylen ist nur unter einem extremen Druck und bei hoher Temperatur radikalisch polymerisierbar. Ausgenommen sind auch Monomere mit Doppelbindungen zwischen dem Kohlenstoff und einem Heteroatom, z.B. Sauerstoff- oder Stickstoffatom und ringförmigen Verbindungen. Sie lassen sich nur gut mit ionischen oder koordinativen Initiatoren polymerisieren. Tabelle 3.1: Polymerisationsfähigkeit von Monomeren
Monomer radikalisch
Polymerisation anionisch kationisch
Ethylen Propylen Isobutylen Butadien Isopren Styrol Vinylchlorid Vinylacetat Vinylether Acrylnitril Tetrafluorethylen Formaldehyd Ethylenoxid Cyclopenten Tetrahydrofuran Caprolactam
Polymerisation möglich
Polyinsertion
Polymerisation großtechnisch durchgeführt
Von den strukturellen Voraussetzungen kann man zusammenfassend sagen: die radikalische Polymerisation hat eine zentrale Bedeutung. Andere Polymerisationsmechanismen werden nur angewandt, wenn das Monomer nicht oder schwer radikalisch polymerisierbar ist oder bei einer derartigen Polymerisation besonders attraktive Polymerstrukturen entstehen. Dass ionische Polymerisationen wesentlich empfindlicher gegenüber Verunreinigungen sind, kommt als weiterer Grund hinzu. Hieraus erklärt sich auch die überragende Bedeutung der radikalischen Polymerisation gegenüber anderen in der Großproduktion. x Thermodynamische Voraussetzungen Wie bei jeder chemischen Reaktion, steht auch die Kettenwachstumsreaktion mit ihrer Rückreaktion im Gleichgewicht. P n + M
P n+1
Die Gleichgewichtskonstante Kgl ergibt sich dann zu: Kgl = [P*n1] / ([P*n] [M]) Bei hohen Polymerisationsgraden kann man [P*n] und [P*n1] gleichsetzen, und daraus folgt: Kgl = 1 / [M]gl
52
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Somit ist die Monomerkonzentration im Gleichgewicht [M]gl umgekehrt proportional der Gleichgewichtskonstante. Beide beeinflussen das Polymerisations-/Depolymerisationsverhalten. Bei polymerisierbaren Monomeren ist verständlicherweise [M]gl klein, zwischen 103 bis 1010 mol/dm3, das Gleichgewicht ist weitgehend in Richtung des Polymers verschoben. Aus
'Gp = R T ln Kgl
sieht man, dass die Monomergleichgewichtskonzentration über die Temperatur mit der freien Polymerisationsenthalpie verbunden ist. Das bedeutet, dass D-Methylstyrol mit [M]gl = 2,6 nur bei tiefen Temperaturen polymerisiert. In diese thermodynamischen Beziehungen spielen allerdings Fragen des Initiators und somit des Polymerisationsmechanismus herein. Voraussetzung ist z.B., dass das aktive Kettenende über die Gesamtzeit der Polymerisation aktiv bleibt; dies liegt bei der radikalischen Polymerisation nicht vor. Hier tritt eine Desaktivierung der aktiven Kettenenden im Verlauf der Polymerisation ein (s. Kapitel 3.1.1). Die Polymermoleküle werden so dem Gleichgewicht entzogen. x Kinetische Voraussetzungen Jede Kettenreaktion ist durch die Schritte Start, Wachstum und Abbruch charakterisiert. In der Makromolekularen Chemie sind diese Schritte wie folgt realisiert: Durch die Initiatoren bildet man oder setzt die eigentlich kettenauslösende Spezies zu in Form von Radikalen, Ionen oder Komplexverbindungen R*. Diese lösen die Startreaktion mit dem Monomer M aus. R* + M
RM*
Die Wachstumsreaktion erfolgt durch vielfache Addition des Monomers an das aktive Kettenende. RM* + n M
RM*n1
RM*n bzw. RM*n1 bezeichnet man wegen der Länge der Kette auch als P*. Das aktive Zentrum verbleibt dabei am Ende der Polymerkette. In dieser Wachtumsreaktion wird das eigentliche Polymermolekül mit seinem hohen Polymerisationsgrad gebildet und hier wird auch die Struktur des Makromoleküls ausgebildet. Für die Beendigung des Kettenwachstums muss man folgende Möglichkeiten unterscheiden: a) Kettenabbruch P* + A
P + inaktive Produkte
Hierbei werden die kinetische Kette wie auch die stoffliche Makromolekülkette beendet bzw. abgebrochen. b) Kettenübertragung P* + LH
PH + L*
Hierbei läuft die kinetische Kette weiter, da L* noch aktiv ist, aber die stoffliche Makromolekülkette wird beendet bzw. abgebrochen. Es wird also das aktive Zentrum auf L übertragen, das als L* eine weitere Kette startet und ein H wird in der Gegenrichtung auf das Polymermolekül übertragen, und dieses damit desaktiviert. Die Kettenübertragung wirkt sich so aus, dass bei Zusatz geeigneter Überträgersubstanzen der Polymerisationsgrad begrenzt wird, ohne die Polymerisationsgeschwindigkeit zu erniedrigen.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
53
3.1.1 Radikalische Polymerisation Die radikalische Polymerisation ist die am besten untersuchte Polymerisation. Das ist schon deshalb verständlich, weil radikalische Polymerisationen in der Großtechnik eine führende Stellung einnehmen. Diese Bedeutung geht nicht nur auf die Zugänglichkeit vieler Monomere für radikalische Polymerisationen zurück und damit auf die Verarbeitung und Anwendung derartiger Polymere (s. Tabelle 3.2), sondern auch auf die einfachere Technologie z.B. in Wasser. Wie bei allen Kettenreaktionen unterteilt sich die radikalische Polymerisation in die Elementarschritte Start, Wachstum, Abbruch und Übertragung. Die zum Start benötigten Radikale müssen in den meisten Fällen allerdings erst in situ gebildet werden. Resonanzstabilisierte Radikale starten die Polymerisation nicht. Tabelle 3.2: Hauptanwendungsgebiete wichtiger, durch radikalische Polymerisation industriell hergestellter Polymere.
Polymer
Hauptanwendungsgebiet
Polyethylen niederer Dichte (LDPE)
Thermoplast: Folien, Beutel, Flaschen, Schüsseln, Spielzeug, Drahtisolierungen Thermoplast: Gehäuse, Behälter, Haushaltswaren, Verpackung Isolierung mit Schäumen Grundmolekül der Microlithogaphie Wollähnliche Textilfaser Elastomer als Reifen, Riemen, Schuhsohlen, Matten, elektrisches Isolationsmaterial Kraftstofffeste Elastomere: Tanks, Kanister, Schläuche, Dichtungen Schlagzäher Thermoplast für Haushalts- und technische Anwendungen, z.B. Telefone, Autoteile Universalthermoplast, weich: Folien, Bodenbeläge, Draht und Rohrisolierung, hart: Platten, Rohre Elastomer für Reifen, Riemen, Schläuche, Drahtisolierungen Schrumpffolien für Lebensmittelverpackung, Faserrohstoff Schutzanstriche Schutzanstriche, Dichtungen, Rohre, Piezoelektrische Materialien Thermoplast für Dichtungen, Lager, Membranen, Ventile, elektrische Isolation, Beschichtungen für Pfannen Dekorativer Thermoplast (organisches Glas) für Scheiben, Täfelungen, Effektgegenstände, Linsen, Prothesen, Knochenzement Polymergrundstoff für Klebstoffe, Lacke, Polyvinylalkohol Klebstoffe, Verdickungsmittel, Superabsorber, Dispergiermittel Verdickungsmittel, Ausflockungsmittel Linsen, elektronische Teile Isolationsmaterial Bindemittel, Filmbildner, Klebstoff Filmbildner für Kondensatorschichten
Polystyrol (PS) Poly(parahydroxystyrol) Polyacrylnitril (PAN) Styrol-Butadien-Copolymere (SBR) Acrylnitril-Butadien-Copolymere (NBR) Acrylnitril-Butadien-Styrol-Copolymere (ABS) Polyvinylchlorid (PVC) Polychloropren (CR) Polyvinylidenchlorid (PVDC) Polyvinylfluorid (PVF) Polyvinylidenfluorid (PVDF) Polytetrafluorethylen (PTFE) Polymethylmethacrylat (PMMA) Polyvinylacetat (PVAC) Polyacrylsäure (PAA) Polyacrylamid (PARA) Polyallylverbindungen Polyvinylcarbazol Polyvinylpyrrolidon Poly(p-xylylen)
Monomere Eine Vielzahl von Monomeren ist der radikalischen Polymerisation zugänglich, die hier nicht alle aufgezählt werden können. Einige der entsprechenden Polymere finden sich in Tabelle 3.2. Eine besonders bevorzugte Grundbedingung der radikalischen Polymerisationsfähigkeit stellt die Doppelbindung dar. Als einfachstes Monomer wäre das Ethylen zu nennen, welches allerdings nur bei hohem Druck radikalisch polymerisiert. Weitere radikalisch polymerisationsfähige Kohlen-
54
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
wasserstoffklassen sind Styrol und seine Substitutionsprodukte sowie Diene, ebenfalls monosubstituierte Ethylenderivate wie Vinylverbindungen (z.B. Vinylchlorid, -acetat, -formamid, -pyrrolidon), Acrylverbindungen (z.B. Acrylnitril, -amid, -säure, -ester) und Allylverbindungen (z.B. Allylalkohol, -ether, -ester). Polymerisierbare 1,1-disubstituierte Ethylenverbindungen sind Methacrylverbindungen (z.B. Methacrylsäure, -ester, -nitril) und Vinylidenverbindungen (z.B. Vinylidenchlorid, -fluorid, -cyanid,). 1,2-disubstituierte und trisubstituierte Ethylenderivate polymerisieren meist auch z.B. Bismaleinimide, zeigen aber oft geringere Reaktivität als monosubstituierte Verbindungen. Kohlenstoff-Heteroatom(N,O)-Doppelbindungen sind bezüglich ihrer radikalischen Polymerisationsfähigkeit nur in Einzelfällen (CF3–CHO) bekannt. Sie bilden die Domäne der ionischen Polymerisation (s. Kapitel 3.1.2). Gesättigte Ringe sollten radikalisch polymerisierbar sein, soweit sie Ringspannung aufweisen. Gefördert wird die Polymerisierbarkeit dieser Verbindungen durch eine terminale KohlenstoffKohlenstoff-Doppelbindung und ein Heteroatom O oder S im Ring in Form von Ethern, Acetalen oder funktionellen Gruppen am Ring in Form von z.B. Estern, Nitrilen, Halogen. Für ungesättigte Ringe stellt die Polymerisation mittels Metathese eine Methode der Wahl dar (s. Kapitel 3.1.3.5). 3.1.1.1 Startreaktion Radikalbildung Der häufigste Fall ist die Bildung der freien Radikale R aus dem Initiator I durch Spaltung von Atombindungen. I
kd
2 R·
Eine Bedingung ist, dass dieses bei Temperaturen geschehen muss, die für die Polymerisation geeignet sind. Die Zerfallsgeschwindigkeit Xd ist dann
Xd = d[I] / dt = kd [I] , wobei t die Zeit und kd die Geschwindigkeitskonstante des Initiatorzerfalls bedeuten (Tabelle 3.3). Tabelle 3.3: Geschwindigkeitskonstante kd, Aktivierungsenergie Ed des Initiatorzerfalls und Übertragungskonstante zum Initiator CüI von Polystyrol
Initiator Azobisisobutyronitril Dibenzoylperoxid Dilauroylperoxid Di-tert.-butylperoxid tert.-Butylhydroperoxid Diisopropylperoxidicarbonat Kaliumperoxidisulfat
kd 106 [1/s] 0,48 11,7 15,1 0,078 0,3 6,3 68,9
Ed [kJ/mol]
Lösemittel
T [°C]
CüI bei 60 °C
123,4 133,9 127,2 142,3 138,0 113,0 146,2
Benzol Benzol Benzol Benzol Benzol Decan Wasser
40 70 60 80 130 35 80
0 0,048 0,024 (70 °C) 0,0013 0,035
Geeignete Radikalbildner sind Peroxide, Azoverbindungen, Hydroperoxide und Organometallverbindungen. Die radikalische Auslösung kann auch durch Licht oder energiereiche Strahlen vorgenommen werden. Als Zerfallstemperaturen des Initiators zu Radikalen werden 40 bis 70 qC angestrebt. Die oben erwähnte in situ Bildung bedeutet, dass die Radikalbildung in Gegenwart des Monomers erfolgt, damit möglichst viele Radikale die Polymerisation starten und nicht durch Desaktivierung verloren gehen. Trotzdem ist die Umsetzung der Radikale mit den Monomeren nicht 100%ig. Der Grund hierfür besteht darin, dass radikalische Polymerisationen in Lösungs- oder Verdün-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
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nungsmitteln (Ausnahme: Substanzpolymerisation) durchgeführt werden, und dieses in großem Überschuss gegenüber dem Monomer vorhanden ist. Es tritt dort folgender Effekt auf: Zerfällt der Initiator in zwei Radikale, müssen diese erst den Lösemittelkäfig, der sich um sie befindet, verlassen, um mit einem Monomer zu reagieren. Geschieht das nicht genügend schnell, was auch von der Viskosität des Lösemittels abhängig ist, rekombinieren die Radikale wieder und gehen der Startreaktion verloren. Der entsprechende Ausbeutegrad an Radikalen lässt sich mittels radioaktiver oder markierter Initiatoren bestimmen, wird mit Radikalausbeute f bezeichnet und bedeutet die Zahl der genutzten Radikale zur Gesamtzahl der Radikale. Die Bildungsgeschwindigkeit der Radikale Xr ist dann, wenn das Initiatormolekül in zwei Radikale zerfällt
Xr = 2 f Xd und damit d[R· ] / dt = 2 f kd [I] . Damit scheint die Radikalbildung übersichtlich zu sein; das ist sie jedoch leider nur in den einfachen Fällen. Dazu gehören die Azoverbindungen. 2,2’-Azobis(isobutyronitril) (AIBN) (CH3)2 C N N C(CH3)2 CN
2 (CH3)2 C . + N2 CN
CN
ist die wichtigste Azoverbindung und bildet unter Freisetzung des inerten Stickstoffs zwei 2-Cyanoisopropylradikale. Die Radikalausbeute f beträgt ca. 0,5 oder 50 %, d.h. jedes zweite Cyanoisopropylradikal rekombiniert wieder mit einem gleichen und ist für die Polymerisation verloren. Man kann die Radikalausbeute erhöhen, wenn man statt der Methylreste sterisch anspruchsvollere Reste einführt. Insgesamt muss man beachten, dass die für die Polymerisation als Radikalbildner in Frage kommenden Substanzen tertiäre Azoverbindungen mit Gruppen wie Nitril, Aryl, Carboxyalkyl sind. Die zweite große Gruppe radikalliefernder Substanzen sind die Peroxide. Diese können nicht nur zur thermischen, sondern auch zur photochemischen Radikalbildung genutzt werden. Die Gruppe der Peroxide ist vielfältig und umfasst u.a. Diacyl- und Dialkylperoxide, Perester, Hydroperoxide und anorganische Peroxide. Die beiden letztgenannten sollen bei der Redoxpolymerisation behandelt werden. Als Diacylperoxide werden aus Gründen der guten Handhabbarkeit im Wesentlichen das Dibenzoylperoxid (BPO) und das Dilauroylperoxid verwendet. Die Zerfallsreaktion des Dibenzoylperoxids ist abhängig von der An- oder Abwesenheit des Monomers. COOOCO
2
COO .
2
. + 2 CO2
In Gegenwart des Monomers reagiert das Benzoyloxylradikal sofort unter Start der Kettenreaktion. Ohne Monomer fragmentiert das Benzoyloxylradikal zu Phenylradikal und Kohlendioxid. Aliphatische Acyloxylradikale fragmentieren wesentlich leichter. Die gebildeten Aryl- oder Alkylradikale starten je nach Struktur ebenfalls die Polymerisation oder bilden inaktive Produkte. Von den Dialkylperoxiden werden Diamyl- und Di-tert.-butylperoxid bei höheren Temperaturen angewandt. Als Perester dienen vor allem tert.-Butylester, z.B. solche der Oxalsäure. Auch Dialkyldioxydicarbonate werden als Radikalbildner eingesetzt. Als Nebenreaktion bei der Radikalbildung aus Peroxiden kommt außer der Rekombination und der Fragmentierung auch der induzierte Zerfall der Initiatoren in Betracht. R’COOOCOR’ + R·
R’COOR + R’COO·
56
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Dabei reagiert ein Radikal mit einem noch intakten Peroxid unter Ausbildung eines Esters und eines Acyloxylradikals. Diese Reaktion hat den Charakter einer Übertragung zum Initiator mit der Übertragungskonstante CüI (Tabelle 3.3). Würde diese Reaktion nicht eintreten und das Diacylperoxid normal zerfallen, wären drei Radikale das Ergebnis. Beim induzierten Zerfall ist die Summe der Radikale eins, d.h., das Peroxid ist dem System verloren gegangen, der Initiator wird schneller verbraucht. Das Geschwindigkeitsgesetz lautet dann folgendermaßen: d
[I] / dt = kd [I] + k’ [I]x
x Radikale durch Redoxsysteme Die soeben beschriebenen Initiatoren sind auch bei Temperaturen unter 40 °C schlechter aufzubewahren und handhabbar. Deshalb sind andere Möglichkeiten der Radikalbildung bei tiefen Temperaturen wünschenswert. Solche Radikalbildungsreaktionen sind ferner von Interesse, weil man durch die Polymerisationstemperatur die Struktur und damit die Eigenschaften des Polymers beeinflussen kann. Dazu dienen Redoxreaktionen, bei denen Radikale durch Elektronenübertragung gebildet werden. Das oft eingesetzte Redoxsystem besteht aus Wasserstoffperoxid und Eisensalzen. + OH + · OH Peroxide geben eine ähnliche Reaktion. Unerwünscht sind größere Mengen Eisensalze, da sie die Oxydationsempfindlichkeit des Polymers erhöhen. Folgendes System benötigt nur katalytische Mengen an Eisenionen: Fe2 + H2O2
Fe2 + S2O82 Fe3 + SO32
Fe
3
SO4 · + SO42 + Fe3 SO3 · + Fe2
Bekannt sind auch nicht wasserlösliche Redoxsysteme. Als Standardbeispiel soll die Reaktion von Aminen mit Benzoylperoxid genannt werden. COOOCO
+
COO . +
N(CH3)2 COO
+
+
N(CH 3)2 .
Mit den drei erwähnten Redoxsystemen sind nur die drei wichtigsten Typen vorgestellt worden. Es gibt zahlreiche andere Redoxsysteme, die für die Polymerisation Anwendung finden, z.B. bei der Kaltkautschukcopolymerisation von Butadien/Styrol bei 5 qC und der Fällungspolymerisation von Acrylnitril bei 25 °C. x Photoinitiatoren als Radikalbildner UV- und sichtbares Licht sind in der Lage, geeignete Verbindungen, wie Benzoine oder Benzil aber auch Disulfide, Peroxide und Azoverbindungen in Radikale zu spalten oder Radikale zu bilden, COCO
+ RH
hQ
.
COCOH
+ R.
oder folgende Reaktion mit Carbonylen führt zu Radikalen: hQ Mn(CO)5Cl + (1/2) Mn2 (CO)10 + · CCl3 Mn2 (CO)10 + CCl4 Photoinitiierungen verlaufen auch bei tiefen Temperaturen, die entsprechende Aktivierungsenergie wird durch die Energie der Strahlung eingebracht. Gleiches gilt für die Radikalbildung mit energiereicherer Strahlung, z.B. Röntgen- und J-Strahlung oder sogar Plasmazündung.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
57
x Radikalbildung bei der thermischen Polymerisation Über eine thermische Polymerisation ohne Zusatz von Radikalbildnern zum System wird vom Styrol und einigen seiner Derivate und vom Methylmethacrylat berichtet. Styrol polymerisiert auf diese Weise bei 100 °C mit etwa 2 % pro Stunde. Die Selbstpolymerisation des Methylmethacrylats liegt bei gleicher Temperatur um ca. zwei Größenordnungen tiefer, ist aber nicht gesichert. Über eine Diels-Alder-Reaktion wird bei der Styrolpolymerisation ein radikalischer Mechanismus angenommen.
. .
Styrol
+
Hinweise dafür erhielt man durch das Stoppen der Polymerisation im Oligomerbereich mit anschließender Untersuchung der Endgruppen. Auch von anderen Monomeren ist über eine thermische Homopolymerisation ohne Initiatoren berichtet worden, schlüssige Beweise dafür liegen aber nicht vor. Die Schwierigkeit besteht in dem absoluten Ausschluss von Verunreinigungen, damit diese als Initiatoren nicht mehr in Frage kommen. Eigentliche Startreaktion Bei der Startreaktion reagiert das aus dem Initiator gebildete Radikal R definitionsgemäß unter Einbau mit dem ersten Monomermolekül M. R· + M
RM·
.
COOCH2CHR
COO. + CH2 CHR
Dabei geht die radikalische Funktion auf das Monomer über, d.h. es liegt ein um eine Monomereinheit verlängertes Radikal vor. Diese Reaktion verläuft sehr schnell und wird durch die Geschwindigkeitskonstante der Startreaktion kst bestimmt.
Xst = kst [R· ] [M] Bei den meisten Polymerisationen verläuft die Radikalbildungsreaktion wesentlich langsamer als die Startreaktion, damit bestimmt diese die Geschwindigkeit. Daher drückt man die Startgeschwindigkeit auch durch die Initiatordissoziation aus.
Xst = 2 f kd [I] Vorstehende Ausführungen bedeuten nicht, dass jeder radikalische Initiator mit jedem radikalisch polymerisierbaren Monomer polymerisiert, z.B. polymerisiert Dibenzoylperoxid phenolgruppenhaltige Vinylmonomere nicht, dagegen AIBN. Weiterhin ist anzumerken, dass zwar in der Regel die Addition des Radikals am EKohlenstoffatom des Monomers erfolgt, sie wurde aber auch am D-Kohlenstoffatom nachgewiesen (s. Kapitel 3.1.1.2). Bei einem weiteren Reaktionstyp geht die radikalische Funktion vom Initiator zum Monomer über, ohne dass der Initiator eingebaut wird. R . + CH2 CHR
.
RH + CH2 CR
Dies stellt eine Übertragung zum Monomer dar (s. auch Kapitel 3.1.1.4).
58
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
3.1.1.2 Wachstumsreaktion Bei der Wachstumsreaktion lagert das bei der Startreaktion gebildete Radikal RM weitere Monomere in Form einer vielfachen Addition an. RM· + n M
kw
P·
.
R CH2 CHR + n CH2 CH R
.
R ( CH2 CHR ) n CH2 CHR
Die sich bei der vielfachen Addition bildende makromolekulare Kette bezeichnet man auch als P oder, um die radikalische Funktion am Ende darzustellen, als P. Definitionsgemäß ändert sich die Radikalkonzentration während der Wachstumsreaktion nicht. Die Radikale am Kettenende setzen also das Wachstum ungehindert auch in Form einer kinetischen Kette fort. Mit der Erkenntnis, dass die Geschwindigkeitskonstante der Wachstumsreaktion kw unabhängig von der Länge des Makromoleküls ist, ergibt sich die Wachstumsgeschwindigkeit Xw zu
Xw = kw [P·] [M]. Da während der Wachstumsreaktion zum Polymer mit einem Polymerisationsgrad von 100 und größer die überwiegende Menge des Monomers verbraucht wird, kann man die Wachstumsgeschwindigkeit auch gleich der Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit XBr setzen.
XBr = kw [P·] [M] Die Geschwindigkeitskonstante der Wachstumsreaktion ist abhängig vom Polymerradikal und vom Monomer, wobei das Polymerradikal als reaktive Stelle ausschlaggebend ist. Je resonanzstabilisierter das Polymerradikal ist, desto langsamer verläuft das Wachstum (s. Tabelle 3.4). Styrol bietet dem Radikal über seinen Phenylkern eine Reihe mesomerer Grenzstrukturen, also eine Mesomeriestabilisierung, an. Aus diesem Grunde liegt die Geschwindigkeitskonstante so niedrig, und die Polymerisation verläuft langsam. Vinylacetat hat diese Möglichkeit nicht. Insgesamt hängt die Geschwindigkeit des Wachstums von sterischen und polaren Effekten beider Reaktionspartner ab. Aus diesem Grunde polymerisieren 1,1-disubstituierte Ethylenverbindungen schneller als monosubstituierte und 1,2-disubstituierte langsamer. Tabelle 3.4: Geschwindigkeitskonstanten des Kettenwachstums kw und des Kettenabbruchs ka verschiedener Monomere
Monomer Styrol Methylmethacrylat Acrylnitril Vinylchlorid Vinylacetat
kw / [dm3 / (mol s)] 176 573 1960 6200 9500
107 ka / [dm3 / (mol s)] 7,2 0,2 78,2 110,0 38,0
T / qC 60 60 60 25 60
Struktur- und Stereoisomerien bei der Wachstumsreaktion Im Kapitel 2.3.5 sind bereits einige Struktur- und Stereoisomerien, die auf die Konstitution und Konfiguration zurückgehen, dargestellt. Hier sollen die entsprechenden Möglichkeiten, die sich bei der Wachstumsreaktion der radikalischen Polymerisation ergeben, behandelt werden. Auf dem Gebiet der Strukturisomerien zeigen monosubstituierte und unsymmetrisch disubstituierte Monomere normalerweise Kopf-SchwanzAnordnung des Kettenendes. Untergeordnet kommen aber auch Kopf-Kopf- (bzw. Schwanz-Schwanz-) Anordnungen vor. Wegen ihrer größeren thermodynamischen Stabilität überwiegt die Kopf-Schwanz-Anordnung, da der Rest R auf das Radikal stabilisierend wirkt. Die Zahl der Kopf-Schwanz-Anordnungen ist als
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
59
sterischer Faktor außerdem abhängig von der Größe des Substituenten R. Polyvinylacetat weist nur 1,3 % Kopf-Kopf-Anordnung auf, dagegen Polyvinylfluorid bereits 10 %. Vom Standpunkt der Raumausfüllung sollte nicht übersehen werden, dass die Kopf-Schwanz-Anordnung unerwünschte Reaktionen zwischen benachbarten Resten R minimiert. Das Verhältnis beider Anordnungen wird durch die Temperatur beeinflusst. Aufgrund der höheren Aktivierungsenergie verschiebt sich das Verhältnis mit zunehmender Temperatur zugunsten der Kopf-Kopf-Anordnung, aber unterschiedlich von Monomer zu Monomer, da auch elektronische wie sterische Faktoren eine Rolle spielen. Die Bestimmung der Strukturen erfolgt mittels NMR-Spektroskopie.
.
CH2 CHR CH2 CHR
.
(Kopf-Schwanz)
CH2 CHR + CH2=CHR
.
CH2 CHR CHR CH2 (Kopf-Kopf)
Diene mit ihren beiden konjugierten Doppelbindungen bieten darüber hinaus durch verschiedene Möglichkeiten der Addition des Monomers folgende Stereo- und Strukturisomere, z.B. Isopren. Beim Butadien ist wegen der fehlenden Methylgruppe die 3,4- gleich der 1,2-Form. Im normalen Temperaturbereich liegt stets eine gemischte Struktur des Polydiens vor, weil das radikalische Kettenende nicht stereospezifisch polymerisiert. Die Anteile der gemischten Struktur sind von Polymer zu Polymer unterschiedlich und hängen von der räumlichen Struktur der Monomere ab. Mit zunehmender Polymerisationstemperatur verschiebt sich das cis-trans-Verhältnis zugunsten des cis-Gehalts, der 1,2- und 3,4-Gehalt wird davon nicht beeinflusst. Unterschiedliche Strukturen wirken sich gravierend auf die Werkstoffeigenschaften des Polymers aus, so ist cis-1,4-Polyisopren Naturkautschuk und trans-1,4-Polyisopren Guttapercha. Die einzelnen Strukturen bestimmt man mittels IR- und NMR-Spektroskopie. CH3 CH2 H2C C C H3C H cis-1,4
H H2C C C CH2 H3C trans-1,4
CH2 C
H CH C
CH
C CH3
CH2
CH2
1,2-
3,4-
Monomere mit isolierten Doppelbindungen sind in der Lage, ringförmige Polymere zu bilden, z.B. Divinylformal. CH2
CH
CH CH2
O
O
O
O
CH2
Weitere Strukturisomerien stellen die Verzweigungen dar. Die einzelnen Strukturen sind im Kapitel 2.2 beschrieben. Eine Möglichkeit der Bildung verzweigter Polymere stellt die Kettenübertragungsreaktion dar, wie sie im Kapitel 3.1.1.4 geschildert wird. Mehrfache Kettenübertragung führt zu unregelmäßigen baum- oder strauchartigen Strukturen, z.B. beim Polyvinylacetat, schreitet jedoch nicht bis zur Vernetzung fort. Eine andere Möglichkeit der Bildung von Verzweigungen ergibt sich aus der Reaktion der Doppelbindung von Polydienen mit Polymerradikalen.
60
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
P +
.
CH CH
CHP CH
Diese Art der Verzweigung bietet wiederum Vernetzungsmöglichkeiten durch Reaktion des neu gebildeten Radikals mit weiteren Doppelbindungen aus den Polymerketten. Unbeabsichtigte Vernetzungen wirken sich aber nachteilig auf die Werkstoffeigenschaften aus. Derartige Verzweigungen und Vernetzungen als Folgereaktion sind zu unterdrücken, indem die Konzentration an Polydien niedrig gehalten wird. So copolymerisiert man z.B. Butadien mit Styrol nur bis zu einem Umsatz von ca. 60 %. Die bisherigen Ausführungen bezogen sich nur auf die unbeabsichtigte Synthese andersartiger als regulärer Strukturen in der radikalischen Wachstumsreaktion und auf den Einfluss bezüglich deren Bildung. Selbstverständlich kann man die in Kapitel 2.2.3 z.B. beschriebenen unterschiedlich verzweigten und vernetzten Polymere gezielt synthetisieren, meist durch Reaktion mit anionisch hergestellten Polymeren. Copolymere bilden eine weitere Gruppe von Strukturisomeren. Sie werden in den Kapiteln 2.2.2 und 3.1.5 behandelt. Stereoreguläre Polymere in Form von isotaktischen und syndiotaktischen Polymeren, die bereits im Kapitel 2.3.2 aufgezeigt worden sind, kann man sich von allen Polymeren einheitlicher Struktur vorstellen. Unter Normaltemperatur bilden sich während der radikalischen Wachstumsreaktion jedoch nur ataktische Polymere. Der Grund hierfür lässt sich wie folgt erläutern. Bei der Reaktion des ankommenden Monomers mit dem radikalischen Kettenende planarer sp2Konfiguration wird diese in eine tetraedrische sp3-Konfiguration mit einem pseudoasymmetrischen Kohlenstoffatom überführt, die eine syndiotaktische und eine isotaktische Anordnung zulässt. Die bei der radikalischen Polymerisation gebildeten ataktischen Polymere besitzen syndiotaktische und isotaktische Konfigurationen entlang der Kette in statistischer Verteilung. Daraus muss man schließen, dass beide Schritte energetisch fast gleichwertig sind. Der Unterschied der Aktivierungsenergie beträgt tatsächlich nur ca. 5 kJ/mol, der höhere Wert begünstigt die isotaktische Anordnung. Dies stimmt damit überein, dass viele radikalisch hergestellte Polymere weit unterhalb der Normaltemperatur größere Anteile syndiotaktischer Anordnung zeigen. Methylmethacrylat gibt bereits unter 0 °C ein kristallines Polymer vorwiegend syndiotaktischer Anordnung. Man kann auch Monomere an Matrizen (template) polymerisieren. Dabei können zwischen beiden ionogene, Ladungstranfer- oder Wasserstoffbrückenbindungen wirken. Z.B. Polymerisation des Vinylpyridin an einer Polysäure oder die der p-Styrolsulfonsäure an einem Polyethylenimin. Allgemein wird dabei die Steuerung der Polymerisationsgeschwindigkeit oder des Polymerisationsgrades und besonders der Mikrostruktur angestrebt. 3.1.1.3 Abbruchreaktion Zwangsläufiger Kettenabbruch Der Kettenabbruch bedeutet das Ende des Wachstums der Polymerkette wie auch der kinetischen Kette. Er erfolgt durch Reaktion der Radikale am Ende der Polymerketten miteinander, wobei man zwei Möglichkeiten des Kettenabbruchs unterscheidet, die Kombination
.
.
CH2 CH X + X CH CH2
CH2 CH X CHX CH2
und die Disproportionierung.
.
.
CH2 CHX + XCH CH2
CH CHX + XCH2 CH2
Während bei der Kombination in der Phase des Abbruchs eine Verdoppelung des Polymerisationsgrades eintritt, bleibt bei der Disproportionierung der Polymerisationsgrad unverändert, allerdings
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
61
die Hälfte der Polymerketten enthält eine Doppelbindung, die durch die Übertragung eines Wasserstoffatoms entsteht. Die Doppelbindung lässt sich nachweisen, wenn die Polymerkette nicht zu lang ist und damit die Nachweisgrenze unterschritten wird. Im Normalfall liegen beide Abbruchmechanismen gleichzeitig vor, bevorzugt allerdings der Kombinationsabbruch, weil die Aktivierungsenergie der Disproportionierung höher liegt. Aus diesem Grunde nimmt der Kettenabbruch durch Disproportionierung mit steigender Temperatur zu. Andererseits hängt aber der Abbruch mittels Disproportionierung von E-ständigen Wasserstoffatomen ab. Sind sie nicht vorhanden, kann kein Disproportionierungsabbruch eintreten. Sterische Effekte haben ebenfalls einen Einfluss, z.B. behindert das Trineopentylmethylradikal sowohl den Kombinations- wie auch den Disproportionierungsabbruch. Die häufigsten Polymere zeigen folgendes Bild: bei Polystyrol überwiegt bis 160 °C der Kombinationsabbruch, bei Polymethylmethacrylat bereits ab 60 °C die Disproportionierung, Polyacrylnitril gibt Kombinations- und Polyvinylacetat Disproportionierungsabbruch. Die Abbruchreaktion stellt keine einfache Reaktion dar, wenn man bedenkt, dass sich das Radikal am Ende einer Polymerkette befindet, die Knäuelform hat. Im ersten Teilschritt müssen die Polymerknäuel zueinander diffundieren. Der Diffusionskoeffizient von Makromolekülen beträgt ca. 107 cm/s. Der zweite Schritt erfordert ein Umorientieren der Knäuelmoleküle in der Weise, dass sich die radikalischen Kettenenden gegenüberliegen, damit dann im dritten Schritt die Kombination oder Disproportionierung eintreten kann. Dieser letzte Reaktionsschritt verläuft sehr schnell, da dessen Geschwindigkeitskonstante in der Größenordnung von 108 dm3/(mol s) liegt. Nachgewiesen ist auch, dass die ersten beiden Teilschritte geschwindigkeitsbestimmend sind, da die Geschwindigkeitskonstante des Abbruchs ka von der Viskosität der Lösung abhängt. Die Geschwindigkeit des Abbruchs Xa ohne Berücksichtigung dieses besonderen Aspektes (s. Tabelle 3.4) ergibt sich aus folgender Gleichung:
Xa = 2 ka [P·]2 In dem Polymerisationssystem befinden sich notwendigerweise auch Initiatoren, deren Zerfall in Radikale die Polymerisation auslöst. Die Primärradikale aus dem Zerfall können selbstverständlich auch mit den Polymerradikalen reagieren und einen Abbruch der Polymerkette herbeiführen. R· + P·
totes Polymer
Dabei verschwinden Primär- und Polymerradikale, d.h., es werden Polymerisationsgrad und Polymerisationsgeschwindigkeit reduziert. Der Primärradikalabbruch weist gegenüber dem normalen Abbruch eine größere Geschwindigkeit auf, da ein Reaktionsteilnehmer, das Primärradikal keiner Diffusionskontrolle unterliegt. Der Primärradikalabbruch ist aber auch um den Faktor ca. 107 schneller als die Bildung der Radikale in der Startreaktion. Dass trotzdem Makromoleküle gewünschten Polymerisationsgrads gebildet werden, hängt mit dem Vorliegen eines ständigen großen Überschusses an Monomer während der Polymerisation zusammen. Gezielter Kettenabbruch Zwecks eines gezielten Kettenabbruchs setzt man dem Polymerisationssystem Retarder oder Inhibitoren zu. Unter einem Retarder versteht man einen Verzögerer der Polymerisation, während ein Inhibitor die Polymerisation ganz oder zeitweilig völlig unterbindet. Bezüglich der Auswirkung auf die Polymerisationsgeschwindigkeit erniedrigt ein Retarder die Polymerisationsgeschwindigkeit, dagegen geht die Polymerisationsgeschwindigkeit durch Zusatz eines Inhibitor dauernd oder zeitweise auf null zurück. Der Unterschied in der Wirkung beider Substanzklassen ist fließend, überschneidet sich und hängt ab von der chemischen Natur der Polymerkette und dem zugesetzten Retarder oder Inhibitor. Retarder (z.B. Nitrobenzol) wirken durch Behinderung des Wachstums und des bimolekularen Abbruchs zweier Polymerradikale, weil sie als niedermolekulare Substanzen schneller mit dem Polymerradikal reagieren und dieses desaktivieren, also einen frühzeitigen, teilweisen Abbruch der Polymerketten ergeben.
62
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Als Retarder werden aber auch langsam polymerisierende Monomere bezeichnet, die einem schnell polymerisierenden System zugesetzt werden, um dessen Polymerisationsgeschwindigkeit zu erniedrigen (Beispiel: Zusatz von D-Methylstyrol zur Herstellung ungesättigter Polyester). In jedem Falle beabsichtigt man durch Zusatz eines Retarders das Verlangsamen der Polymerisation. Mit dem Einsatz eines Inhibitors dagegen zielt man auf das vollständige Unterbinden der Polymerisation, daher werden Inhibitoren (Stabilisatoren) auch vorrangig zur Monomerstabilisierung eingesetzt. Als Inhibitoren dienen Benzophenon, Di-tert.-butylkresol und aromatische Verbindungen, die mesomeriestabilisierte Radikale ausbilden, die nicht mehr zur Startreaktion befähigt sind. P. + O
O
O.
P O
Zum gleichen Zweck des Abbruchs kann man der Polymerisation auch stabilisierte Radikale zusetzen, z.B. Diphenylpikrylhydrazyl oder Nitroxide wie 2,2,6,6-Tetramethylpiperidin-N-oxyl (TEMPO). NO2
.
(C6H5)2 NN
NO2
;
H3C H3C
N
CH3 CH3
O .
NO2
Sie dienen während der Polymerisation auch als Radikalfänger und bilden stabile Produkte, die identifiziert und bestimmt werden können. Inhibitoren wirken nur so lange, wie sie nicht als Radikalfänger verbraucht sind. Anschließend läuft die Polymerisation wieder normal weiter. 3.1.1.4 Kettenübertragungsreaktionen Unter Kettenübertragungsreaktionen versteht man in der Makromolekularen Chemie Reaktionen, bei der die radikalische Funktion eines Polymerkettenendes auf ein anderes Molekül unter Austausch gegen ein Atom dieses Moleküls übertragen wird. CH2
.
CHR + HX
P· + HX
kü
CH2 CH2R + X.
PH + X·
Als ausgetauschte Atome X kommen meist nur Wasserstoff oder Halogene in Frage. Das Spezifikum der Kettenübertragung liegt darin, dass definitionsgemäß das Radikal X· in der Lage sein muss, wieder mit noch vorhandenen Monomeren eine neue Polymerkette zu starten und die Polymerisation fortzuführen. Das bedeutet, dass die kinetische Kette erhalten bleibt, während die stoffliche Polymerkette durch den Kettenüberträger abgebrochen wird. Als Konsequenz ergibt sich, dass durch die Kettenübertragung der Polymerisationsgrad begrenzt wird, ohne die Polymerisationsgeschwindigkeit zu beeinflussen. Kettenüberträger sind im Polymerisationssystem vorhanden, z.B. als Monomer, Lösemittel, Initiator oder können gezielt zugesetzt werden, um als „Regler“ den Polymerisationsgrad zu begrenzen. Die Wirkung der Kettenüberträger auf den Polymerisationsgrad Pn kann man auch quantitativ erfassen. Für die Geschwindigkeit der Übertragungsreaktion Xü gilt die Gleichung
Xü = kü [P] [HX] , wobei kü die Geschwindigkeitskonstante der Übertragungsreaktion darstellt.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
63
Geht man davon aus, dass der Polymerisationsgrad durch die Wachstumsgeschwindigkeit Xw, die Abbruchgeschwindigkeit Xa und die Übertragungsgeschwindigkeit Xü bestimmt wird, so gilt: Pn = Xw /(Xa + Xü)
oder
1/Pn = Xa / Xw + Xü / Xw
Unter der Voraussetzung, dass außer der Überträgerkonzentration alle Bedingungen konstant gehalten werden und damit der Abbruch konstant ist, kann man auch Xa/Xw als 1/Pn,0 als konstant ansehen und erhält nach Mayo: 1/Pn = 1/Pn,0 + kü [P·][HX] (kw [P·][M]) kü/kw = Cü bedeutet die Übertragungskonstante. Durch Einsetzen von Cü, Wegkürzen von [P·] und Umstellen der Gleichung erhält man: 1/Pn 1/Pn,0 = Cü [HX]/[M] In der Gleichung gibt Cü den Einfluss der Übertragung auf den Polymerisationsgrad Pn an. 1/Pn,0 ist der Polymerisationsgrad ohne Übertragung. Trägt man 1/Pn 1/Pn ,0 gegen [HX]/[M] auf, sollte sich eine Gerade durch den Koordinatenursprung ergeben, deren Anstieg den Wert für Cü angibt. Unabdingbare Bestandteile des Polymerisationssystems sind: Monomer, Initiator, Lösemittel und Polymer. Die Übertragungskonstante zum Monomer CüM liegt für die üblichen Monomere bei 105, so dass der Einfluss auf den Polymerisationsgrad verhältnismäßig klein ist (Tabelle 3.5). Bestimmte Monomere, insbesondere Allylmonomere, sind der Kettenübertragung zugänglicher und weisen hohe Übertragungskonstanten auf. Parallel dazu erniedrigen sie die Polymerisationsgeschwindigkeit, da eine Resonanzstabilisierung des Überträgerradikals eintritt. Diesen Effekt bezeichnet man als degradative Kettenübertragung. Tabelle 3.5: Kettenübertragungskonstanten (T = 60 qC)
Acrylnitril Methylmethacrylat Styrol Vinylacetat Allylbromid
zum Monomer CüM . 105
zum eigenen Polymer CüP . 105
2,6 1,0 6,0 20,0 300,0
35 21 19 30
Die Übertragung zum Initiator CüI ist verhältnismäßig gering. Nur bei substituierten Dibenzoylperoxiden sind bemerkenswerte Übertragungskonstanten bis 0,3, allerdings bei 70 °C gefunden worden. Dieses würde dem induzierten Zerfall entsprechen, wie er in Kapitel 3.1.1.1 behandelt wurde. Schwefelhaltige Initiatoren, wie z.B. Diphenyldisulfid, wirken gleichzeitig als Initiatoren und Kettenüberträger: P. +
S S
P
+
S S.
64
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Tabelle 3.6: Kettenübertragungskonstanten bei der Polymerisation des Styrols (T = 60 qC)
zum Lösemittel Cyclohexan n-Heptan Benzol Toluol Cumol
CüLM 105 0,31 4,2 0,23 1,2 8,0
zum Regler Dodecylmercaptan n-Butylmercaptan
CüR 105 1480000 2100000
Derartige Substanzen werden als Inifers (Initiatoren + Transferagens) bezeichnet. Benutzt man als Inifers oligomere oder polymere Substanzen, so lassen sich Blockcopolymere mit dem Ziel der Kombination von Eigenschaften herstellen. Treten bei der Polymerisation mit Überträgern Verzögerungen auf, spricht man auch hier von einer degradativen Kettenübertragung. Substanzen, die sukzessiv und nacheinander als Initiator, Überträger und als Abbrecher mit Primärradikalen wirken, bezeichnet man als Iniferter. Die Übertragung zum Lösemittel CüLM ist insofern eine wichtige Größe, weil das Lösemittel für die Polymerisation normalerweise nicht frei wählbar und in großem Überschuss vorhanden ist (Tabelle 3.6). Zur Messung führt man die Polymerisation in diesem Falle in einem inerten Lösemittel, z.B. Kohlenwasserstoff, durch und erhöht sukzessive die Konzentration des zu untersuchenden Lösemittels, um so nach der obigen Gleichung die Übertragungskonstante des Lösemittels CüLM zu bestimmen. Dabei ist zu beachten, dass die Radikalausbeute konstant bleibt und keine degradative Kettenübertragung vorliegt, denn dann komplizieren sich die Verhältnisse. Die Übertragung zum Polymer CüP (Tabelle 3.5) hebt sich von den anderen Kettenübertragungen aufgrund der Bildung verzweigter Makromoleküle ab. Pn CH2 CHX Pn + Pm CH2CHX .
.
Pn CH2 CX Pn + Pm CH2CH2X CH2 CHX Pn CH2 CX Pn CH2 CHX .
Das Wachstum schreitet an der Radikalstelle weiter voran, es wird kein neues Makromolekül gebildet. Die Zahl der Makromoleküle und auch der mittlere Polymerisationsgrad bleiben konstant, nur die Polymerisationsgradverteilung ändert sich. Die Seitenzweige haben normalerweise die gleiche Wachstumschance wie eine normale Polymerkette, sie erreichen also statistisch gesehen auch dieselbe Länge. Daher nennt man sie Langkettenverzweigungen und grenzt sie von den Kurzkettenverzweigungen ab. Letztere entstehen bei einer Übertragung zum eigenen Polymermolekül über einen intermediären Sechsring, genannt backbiting. Kurzkettenverzweigungen finden sich vor allem bei der Ethylenpolymerisation. Sie lassen sich aus der Anzahl der Methylgruppen bestimmen. Langkettenverzweigungen kann man aus der Polymerisationsgradverteilung ermitteln. Die Übertragung zum Polymer tritt verständlicherweise bevorzugt bei höheren Umsätzen auf, wenn eine genügende Konzentration an Polymermolekülen vorliegt.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
CH2 CH2 CH H
CH . CH2 CH2 CH2 CH3
CH2
. CH2
65
+ CH2 CH2 CH CH2 CH2 CH2 CH3 CH2
. CH2 Die Übertragung zu Reglern setzt man gezielt ein, um einen bestimmten mittleren Polymerisationsgrad zu erhalten und keinen höheren. Dies kann aus verschiedenen Gründen wünschenswert sein. Werkstoffeigenschaften erfordern einen bestimmten minimalen Polymerisationsgrad. Ein höherer Polymerisationsgrad führt zu Verarbeitungsschwierigkeiten oder erfordert mehr Energie bei der Verarbeitung, z.B. bei der Polymerisation des Butadiens. Als Regler verwendet man auch in der Industrie vorwiegend Schwefelverbindungen, wie z.B. Dodecylmercaptan oder Diisopropylxanthogendisulfid (s. Tabelle 3.6). P· + RSH
PH + RS·
Die neu gebildeten RS-Radikale haben annähernd die gleiche Anlagerungsgeschwindigkeit an das Monomer. Regler werden ebenso wie die anderen Überträger durch eine Übertragungskonstante CüR charakterisiert und diese wird, wie oben beim Lösemittel beschrieben, ermittelt. Die Größe von CüR muss zwischen 1 bis 50 liegen, um mit wenig Überträger einen großen Effekt zu erzielen. Bestimmte Halogenverbindungen als Überträger, wie besonders Tetrabromkohlenstoff oder Trichlorbromkohlenstoff, haben noch ein um eine Größenordnung höhere Übertragungskonstante. Sie werden deshalb nicht zur Begrenzung eines hochmolekularen Polymerisationsgrades eingesetzt, sondern zur Synthese von Oligomeren mit dem Oligomerisierungsgrad eins bis 10. Zu diesem Zweck dienen sie teilweise als Lösemittel, um mittels hoher Konzentration derartig niedrige Polymerisationsgrade zu bewirken: R· + CCl4
· CCl3 + n M
RCl + · CCl3 Cl3C(M)n1 M·
Cl3C(M)n1 M· + CCl4
Cl3C(M)nCl + CCl3·
Diese Methode bezeichnet man als Telomerisation. Sie dient zur Herstellung der Vorprodukte von Riechstoffen, Z-Aminocarbonsäuren und von Endgruppen enthaltenden Oligomeren und Polymeren (Präpolymere und Telechelic-Polymere). Höhere Übertragungskonstanten werden unter Zusatz von Kobaltoximborfluoridverbindungen z.B. Bis(aqua)bis(difluoroboryl)dimethylglyoximatcobalt erhalten, genannt katalytische Kettenübertragungspolymerisation. Mit Methacrylat gewinnt man so Makromonomere. Liegen in einem System mehrere Übertragungsreaktionen vor, so kann man sie in folgender Gesamtgleichung zusammenfassen: 1/Pn 1/Pn ,0 = CüI [I] / [M] + CüM + CüLM [LM] / [M] + CüR [R] / [M] Die Bestimmung der einzelnen Übertragungskonstanten muss allerdings durch geschickten Austausch der einzelnen Polymerisationsbestandteile einzeln erfolgen.
66
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
3.1.1.5 Kinetik der radikalischen Polymerisation Das Ziel der Kinetik besteht in der Ermittlung einer mathematischen Beziehung zwischen der Polymerisationsgeschwindigkeit und den Variablen der Polymerisation, um daraus ein formalkinetisches Schema aufzustellen, welches die Polymerisation beschreibt. Dies schließt die Ermittlung der Geschwindigkeiten der Elementarreaktionen ein. Der Zusammenhang mit dem Reaktionsmechanismus besteht darin, dass das kinetische Schema zwar mit dem Reaktionsmechanismus übereinstimmen muss, diesen aber nicht zwingend beweisen kann. Dafür sind weitere Experimente nötig. Für die Aufstellung eines formalkinetischen Schemas in homogener Lösung können zwei bereits behandelte Tatsachen übernommen werden. 1. Die Reaktivität der Polymerradikale ist unabhängig von der Länge der Polymerketten, an deren Ende sich das Radikal befindet, d.h. man muss nur mit einer Geschwindigkeitskonstante der Wachstumsreaktion kw rechnen. 2. Die überwiegende Menge des Monomers wird durch die Wachstumsreaktion verbraucht. Demzufolge ist die Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit gleich der Wachstumsgeschwindigkeit. d[M] / dt = XBr = Xw Eine weitere dritte Voraussetzung kommt hinzu, das Bodensteinsche Stationaritätsprinzip. Die durch die Startreaktion fortwährend gebildeten Radikale reagieren mit dem Monomer zu Polymerradikalen, die durch die Abbruchreaktion verschwinden. Es stellt sich nach wenigen Sekunden eine stationäre Radikalkonzentration ein: d[R· ] / dt = d[P·] / dt = 0 , das bedeutet: Xst = Xa Unter Zuhilfenahme der bei den Elementarreaktionen aufgestellten Geschwindigkeitsgleichungen für Start, Wachstum und Abbruch
Xst = 2 f kd [I] ,
Xw = kw [P·] [M]
und
Xa = 2 ka [P·]2
und der Voraussetzung
XBr | Xw = kw [P·] [M] sowie dem Stationaritätsprinzip 2 f kd [I] = 2 ka [P·]2, woraus man die Radikalkonzentration eliminieren (sie liegt im Normalfall bei 108 mol/dm3) [P· ] = (f kd [I] / ka)1/2 und in obige Gleichung einsetzen kann, ergibt sich:
XBr = kw (f kd / ka)1/2 [I]1/2 [M] Daraus folgt, dass die Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit außer von Konstanten (auch der Radikalausbeute f) von der Wurzel der Initiatorkonzentration und von der ersten Ordnung der Monomerkonzentration abhängt. Man bezeichnet dieses Gesetz, welches relativ allgemeingültig ist, und sich hier auf den Initiator bezieht, auch als „Wurzelgesetz der radikalischen Polymerisation“ (s. Abbildung 3.2). Abweichungen von dem Gesetz finden sich unter nicht idealen Bedingungen, beim Monomerexponenten liegen die Werte dann meist über eins, beim Initiatorexponenten sind die Abweichungen seltener.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
67
Abbildung 3.2: XBr in Abhängigkeit von der Wurzel der Initiatorkonzentration bei der Methylmethacrylatpolymerisation (G. Allen et al., Oxford 1989)
Einfluss der Temperatur Der Einfluss der Temperatur auf die Polymerisationsgeschwindigkeit hängt ab von der Aktivierungsenergie der Initiatordissoziation Ed, des Wachstums Ew und des Abbruchs Ea. Normale Werte für die Aktivierungsenergie in obiger Reihenfolge sind 140, 30 und 10 kJ/mol. Dabei ist die Aktivierungsenergie des Abbruchs je nachdem, ob Kombinations- oder Disproportionierungsabbruch vorliegt, bei ersterem etwas niedriger, bei letzterem höher. Die Bruttoaktivierungsenergie EBr setzt sich wie folgt zusammen EBr = 1/2 Ed + Ew 1/2 Ea , so dass Werte von ca. 90 kJ/mol resultieren. Daraus ergibt sich nach der Arrhenius-Gleichung ln k = A EA(R T) eine ungefähre Verdoppelung der Reaktionsgeschwindigkeit bei einer Temperaturerhöhung von 10 °C (RGT-Regel). Redoxinitiatoren weisen eine Bruttoaktivierungsenergie von ca. 45 kJ/mol, Photoinitiatoren von ca. 25 kJ/mol auf. Der Einfluss auf den Polymerisationsgrad Pn hängt von der kinetischen Kettenlänge Q ab. Sie ist definiert als Zahl der Additionsschritte des Monomers an das Radikal. Pn = q Q q bezeichnet dabei den Einfluss des Abbruchs, für den Kombinationsabbruch beträgt q zwei, für den Disproportionierungsabbruch eins. Unter Stationaritätsbedingungen ist
Q = Xw / Xst = Xw / Xa und somit
Q = kw [P·][M] / (2 ka [P·]2). Daraus ergeben sich für den Kombinationsabbruch Pn
§ · k w2 2¨ ¸ © 2 f kd ka ¹
1/ 2
> I@ 1/ 2 > M@
= 2Q
und für den Disproportionierungsabbruch Pn
§ · k w2 ¨ ¸ © 2 f kd ka ¹
1/ 2
> I@ 1 / 2 > M@
= Q.
68
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Das bedeutet, die Konstanten ausgenommen, der Polymerisationsgrad Pn ist proportional der Monomerkonzentration und umgekehrt proportional der Wurzel aus der Initiatorkonzentration. In diese Betrachtung wurde die Kettenübertragung nicht einbezogen. Einfluss des Drucks Der Einfluss des Drucks auf die Polymerisationsgeschwindigkeit ist nur bei gasförmigen Monomeren von Bedeutung. Er liegt in der Größenordnung vom Faktor drei bis fünf bei 100 bis 300 MPa z.B. bei der Hochdruckpolymerisation des Ethylens. 3.1.1.6 Verteilungsfunktionen bei der radikalischen Polymerisation Bei der radikalischen Polymerisation werden durch Start-, Wachstums-, Übertragungs- sowie durch die beiden verschiedenen Abbruchreaktionen Disproportionierung und Kombination Polymermoleküle gebildet, die verschiedene Polymerisationsgrade haben und durch eine Verteilungsfunktion charakterisiert werden. Diese Verteilungsfunktion wird aber außer durch die genannten Elementarreaktionen auch durch den Polymerisationsmechanismus bestimmt. Allgemeine Voraussetzung ist, dass die Wachstumsreaktion die Übertragungs- und Abbruchreaktionen stark überwiegt, damit überhaupt Polymere vorliegen. Verteilungsfunktionen bei Polymerisationen können mit Hilfe der Wahrscheinlichkeitsrechnung bestimmt werden. Die Grundlagen der Wahrscheinlichkeitsrechnung finden sich in den Lehrbüchern der Mathematik (siehe Literatur). D1 sei die Wahrscheinlichkeit, dass das Startradikal RM· mit dem Monomer reagiert und damit um eine Monomereinheit wächst. Allgemein sei Dn die Wahrscheinlichkeit, dass ein Polymerradikal RMn der Länge n mit Monomerem reagiert, wobei n eine positive ganze Zahl ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Wachstumsreaktion RMn· + M o RMn1· insgesamt (P1)mal hintereinander stattfindet, ist gleich dem Produkt der Einzel-Wahrscheinlichkeiten.
Dges = D1 D2 D3 ..... D P1
(3.5)
Unter der Annnahme, dass die Wachstumsreaktionen unabhängig voneinander erfolgen, sind alle Wahrscheinlichkeiten Dn gleich groß: D1 = D2 = D3 = .... = D P1 = D . Das Produkt D1 D2 D3 .... D P1 = DP1 ist daher die statistische Wahrscheinlichkeit, dass das Startradikal RM· insgesamt (P1)mal mit Monomerem zum Polymerradikal mit P Monomereinheiten RMP· reagiert; man spricht auch von P-Meren. Kettenabbruch durch Disproportionierung Wie wir soeben gesehen haben, ist die Wahrscheinlichkeit für einen einzelnen Wachstumsschritt gleich D. Die Wahrscheinlichkeit, dass die wachsende Kette durch Disproportionierung abgebrochen wird, ist dann gleich 1 D. Damit ist die Wahrscheinlichkeit, dass das Polymermolekül aus P Monomereinheiten besteht: D P1 (1 D). Die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Polymermolekülen mit P Monomereinheiten ist gleich dem Molenbruch x(P) x(P) = N(P)/N = (1 D) D P1 ,
(3.6)
wobei N(P) die Zahl der Polymermoleküle mit P Monomereinheiten und N die Gesamtzahl aller Polymermoleküle ist. x(P) ist eine Verteilungsfunktion und wird häufigkeitsgewichtete Polymerisationsgradverteilung oder Häufigkeitsverteilung oder Zahlenverteilung genannt. Kettenabbruch durch Kombination Falls die wachsende Kette durch Kombination abgebrochen wird, erhält man ein Polymermolekül mit dem Polymerisationsgrad P, wobei zwei Radikalketten mit den Längen r und Pr kombinieren. Dabei ist r eine natürliche Zahl aus dem Intervall [1, P/2] (P sei gerade). Insgesamt existieren P/2 Möglichkeiten, zwei Ketten so zu kombinieren, dass ein Polymer vom Polymerisationsgrad P entsteht. Die Wahrscheinlichkeit, dass die wachsende Kette durch Kombination von zwei Ketten abgebrochen wird, ist gleich (1 D) (1 D) P/2 und diejenige,
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
69
dass das Polymermolekül aus P Monomereinheiten besteht, ist gleich DP1 (1 D)2 P/2. Die häufigkeitsgewichtete Polymerisationsgradverteilung bei Kombinationsabbruch ist damit x(P) = N(P)/N = (P/2) (1 D)2 D P1 . (3.7) Allgemeine Verteilungsfunktion Die Verteilungsfunktionen Gleichung (3.6) und (3.7) können verallgemeinert werden. Der Kopplungsgrad q bezeichnet die Anzahl der Ketten, die zu einem Polymer vom Polymerisationsgrad P reagieren. Beim Abbruch durch Disproportionierung ist q = 1, beim Abbruch durch Kombination ist q = 2. Bei q = 3, 4, ... reagieren 3, 4, ... Radikalketten zu einem Polymer vom Polymerisationsgrad P. Nichtganzzahlige Werte von q weisen darauf hin, dass mehrere Kettenabbrucharten, z.B. Disproportionierung (q = 1) und Kombination (q = 2) bei einer Polymerisation gleichzeitig vorliegen. Das ist z.B. bei der Polymerisation von Polymethylmethacrylat der Fall. Die allgemeine häufigkeitsgewichtete Polymerisationsgradverteilung x(P) lautet daher
x P
1 D q * q 1
N P N
P q 1 D P 1 .
(3.8)
*(x) ist die Gamma-Funktion. Für q = 1 und q = 2 geht Gleichung (3.8) in die Gleichungen (3.6) und (3.7) über. Zur Berechnung der massengewichteten Polymerisationsgradverteilung w(P) aus der häufigkeitsgewichteten Polymerisationsgradverteilung x(P) gehen wir von der Beziehung w(P) = m(P)/m mit m(P) = Masse der Polymermoleküle mit dem Polymerisationsgrad P und m = Gesamtmasse aller Polymermoleküle aus. Es gilt m(P) = N(P) P m0 und m = N0 m0, wobei N0 die Gesamtzahl der Monomereinheiten (Zahl der Monomere am Beginn der Polymerisation) und m0 die Masse einer Monomereinheit sind. Damit wird w(P) = m(P)/m = N(P) P m0/(N0 m0) = N(P) P/N0 = x(P) P N/N0 . Die Wahrscheinlichkeit D für einen Wachstumsschritt ist D = (N0 N)/N0; es folgt N/N0 = 1 D. Die massengewichtete Polymerisationsgradverteilung erhält damit ausgehend von Gleichung (3.8) die Form
w P
1 D q 1 * q 1
P q D P 1 .
(3.9)
Für praktische Rechnungen ist es zweckmäßig, die Wahrscheinlichkeit D durch messbare Größen zu ersetzen. Die Wahrscheinlichkeit D für einen Wachstumsschritt, d.h. die Wahrscheinlichkeit, dass ein reaktionsfähiges Radikal reagiert, ist (siehe Kapitel 3.1.1.5) D = Xw / (Xw + Xab + 6 Xüb) = 1 / (1 + 1/Q c) | 1 1/Q c , wobei Qc = Xw / (Xab + 6 Xüb) die um die Übertragungsreaktionen erweiterte effektive kinetische Kettenlänge ist. Mit der Beziehung Pn = q Qc (siehe Kapitel 3.1.1.5) ergibt sich D = 1 q/Pn, und für die häufigkeitsgewichteten und massengewichteten Polymerisationsgradverteilungen gilt: x P w P
q Pn q * q 1
q
Pn
P q 1 1 q Pn
q 1
* q 1
P q 1 q Pn
P 1
P 1
(3.10)
(3.11)
Häufig werden die Verteilungen Gleichung (3.10) und (3.11) in die exponentielle Form umgeschrieben. Mit exp( x ) 1 x (1 / 2) x 2 ... und P 1 | P für große P ergibt sich
70
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
x P w P
q Pn q * q 1 q
Pn
q 1
* q 1
>
@
>
@
P q 1 exp q Pn P
P q exp q Pn P
(3.12)
.
(3.13)
Mit q/Pn = B erhält man die allgemeine Exponentialverteilung, wie sie in Kapitel 2.1 bereits beschrieben wurde: w P
B q 1 P q exp B P * q 1
(3.14)
Wird der Polymerisationsgrad durch die Molmasse ersetzt (P = M/M0; M = Molmasse des Polymers, M0 = Molmasse einer Monomereinheit), so folgt mit B = q/Mn:
w M
B q 1 M q exp B M . * q 1
(3.15)
Mit Hilfe der in Kapitel 2 eingeführten Definitionsgleichungen können wir die Zahlen- und die Massenmittelwerte des Polymerisationsgrades und die Uneinheitlichkeit U berechnen. Pn Pw Pz U
q=1
q=2
q=q
1 Qc 2Qc 3Qc 1
2Qc 3Qc 4Qc 0,5
qQ c (q + 1) Q c (q + 2) Q c 1/q
Die Uneinheitlichkeit U ist ein Maß für die Breite der Verteilungsfunktion. Man erkennt, dass die Verteilung umso enger wird, je größer der Kopplungsgrad q ist. 3.1.1.7 Abweichungen von der normalen radikalischen Kinetik Außer den in Abschnitt 3.1.1.5 genannten Voraussetzungen liegen für das Gesetz XBr = k [I]1/2 [M] eine Reihe von Abweichungen vor. x Dead-end-Polymerisation Wählt man die Initiatorkonzentration zu niedrig, wird der Initiator vor Erreichen des Gleichgewichtsumsatzes verbraucht. Bei erneutem Zusatz von Initiator läuft die Polymerisation weiter. Diesen Effekt kann man ausnutzen, um die Geschwindigkeitskonstante des Zerfalls des Initiators kd zu bestimmen. x Induzierter Zerfall des Initiators Bei dieser bereits im Kapitel „Startreaktion“ behandelten Abweichung verschwindet der Initiator durch Reaktion mit Radikalen. Damit treten Abweichungen in der Startreaktion auf, die sich auf die Kinetik auswirken. x Primärradikalabbruch Dieser im Kapitel „Abbruchreaktion“ betrachtete Effekt besteht in der Reaktion von Startradikalen mit Polymerradikalen und nicht mit Monomeren. Die Startradikale gehen verloren, der Initiatorexponent sinkt unter 0,5. x Occlusion der Radikale Bei Fällungspolymerisationen werden wachsende Radikale mit ausgefällt, dadurch eingeschlossen (Occlusion) und können demzufolge zur Abbruchreaktion nicht zueinander diffundieren. Damit ist das Stationaritätsprinzip verletzt. Der Initiatorexponent wird größer 0,5, der Monomerexponent größer eins.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
71
x Degradative Kettenübertragung Die Polymerisation von Allylverbindungen erfolgt nur langsam und mit niedrigen Polymerisationsgraden. Der Grund liegt in der Resonanzstabilisierung der Allylradikale und in einer degradativen Kettenübertragung zum Monomer. x Einfluss der Lösungsviskosität und des Lösemittels Ab mäßigen Umsätzen und Polymerisationsgraden führt die höhere Lösungsviskosität zu einer Diffusionskontrolle des Abbruchs. Die Geschwindigkeitskonstante der Abbruchreaktion wird kleiner und mit einer Behinderung der Segmentdiffusion erklärt. Der Exponent der Monomerkonzentration wird größer eins. Einen gleichen Effekt erreicht man, wenn man ionische Lösemittel wie z.B. Imidazolinium- oder Pyridiniumsalze wie auch quaternäre Ammoniumsalze als Lösemittel für die Polymerisation benutzt. Es steigt kw und fällt ka für verschiedene Monomere wie Styrol und Acrylnitril. Die Polarität des Lösemittels beeinflusst auch die Copolymerzusammensetzung. x Geleffekt Für den Geleffekt oder Trommsdorff-Norrish-Effekt zeichnet ebenfalls die Diffusionskontrolle verantwortlich. Polymerisiert man eine 60%ige Lösung von Methylmethacrylat oder auch 100%iges Methylmethacrylat bei ca. 50°, so ist nach dem normalen Anlauf der Polymerisation keine Abnahme der Polymerisationsgeschwindigkeit durch Erniedrigung der Monomerkonzentration, sondern eine Beschleunigung der Polymerisation zu beobachten. Die Ursache dafür ist die Verminderung der Abbruchkonstante (bedeutet auch höheren Polymerisationsgrad) durch zunehmende Diffusionskontrolle und bedeutet, es werden weniger Polymerradikale abgebrochen. Da aber Initiatordissoziation und Wachstumsreaktion nicht behindert sind, weil die kleinen Monomermoleküle in ihrer Beweglichkeit weniger eingeschränkt werden, ist das Stationaritätsprinzip verletzt. Kommt zu diesem Effekt auch noch eine schlechtere Wärmeabführung, erhöht sich die Polymerisationsgeschwindigkeit weiter. Verhindern kann man den Geleffekt durch Zusätze von Lösemitteln (Herabsetzen der Viskosität) oder Kettenüberträgern (Verminderung des Polymerisationsgrades). x Verminderte Abbruchreaktion Die radikalische Polymerisation schließt als Abbruchreaktion die zwangsläufige Reaktion zweier radikalischer Kettenenden unter Verschwinden der radikalischen Reaktionsträger ein. Geht man davon aus, dass die Radikalkonzentration im stationären Zustand 107 bis 108 mol/dm3 beträgt, so ist die Lebensdauer einer Kette mit Sicherheit kleiner als eine Sekunde. Unter lebenden Polymeren versteht man aber Makromoleküle, deren aktives Kettenende unbeschränkte oder lange Zeit aktiv und damit zur Addition weiterer Monomere fähig ist. Allgemein sind demzufolge radikalische Polymerisationen keine lebenden Polymerisationen. Es gibt aber Übergänge. Bei Polyrekombinationen werden durch Übertragung mit Initiatorradikalen aus p-Xylol oder p-Diisopropylbenzol Diradikale gebildet:
.
(CH3)2C
.
C(CH3)2
Diese Diradikale wachsen durch Kombination miteinander bzw. der Oligomere untereinander, d.h. aktive Kettenenden bleiben immer bis zum endgültigen Kettenabbruch erhalten. Allerdings nimmt die Radikalkonzentration ständig ab. Die Methylmethacrylat-Polymerisation weist mit Initiatoren, die Triphenylmethylgruppen als Endgruppen in die Polymerkette einbringen, eine sehr schwache Bindung auf, die leicht dissoziiert, erneut Monomere addiert, wonach das Kettenende wieder mit dem Triphenylmethylradikal kombiniert. Dieser Zyklus kann sich wiederholen, das wäre analog der zeitweise „schlafenden Polymere“ (s. Anionische Polymerisation). Parallel verlaufen aber auch Abbruchreaktionen der Polymerketten untereinander.
72
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
3.1.1.8 Kontrollierte Radikalische Polymerisation Die kontrollierte Radikalische Polymerisation zeigt auch Abweichungen von der normalen radikalischen Kinetik. Ihr wird aber hier an dieser Stelle ein separater Abschnitt vor den ionisachen Polymerisationen gewidmet, weil sie bereits gewisse Eigenschaften der lebenden Polymeren zeigt. Eine neue Entwicklung stellt die kontrollierte radikalische Polymerisation zu „lebenden“ Polymeren dar. Die Kontrolle der Polymerisation geschieht durch das Wechselspiel von schlafenden und aktiven Endgruppenspezies. Geeignet dafür sind Radikale auf der Basis von verschiedenen Nitroxiden z.B. Tetramethyl-1-piperidinoxy (TEMPO) oder Cobaltamin (z.B. porphyrin)-komplexe. Man erreicht Uneinheitlichkeiten von 0.5. Blockcopolymere mit Polystyrolblöcken wurden hergestellt. Allerdings ist die Auswahl der geeigneten Monomeren beschränkt. Bevorzugt sind Styrole und die Reaktionsgeschwindigkeiten sind gering. Ein weiteres Verfahren zur Bildung von „lebenden“ Polymeren durch kontrollierte radikalische Polymerisation ist die Atomtransfer-Radikalpolymerisation ATRP. Dabei werden als aktive Initiatoren einerseits Ruthenium- oder Eisenkomplexe eingesetzt. Andererseits werden Cu, Ru, Ni und Rh-halogenide (bevorzugt Cu(I)) kombiniert mit Elektronendonatoren (bevorzugt Bispyridil) und verschiedene Alkylhalogenide und ein Reduktionsmittel zur Wahrung der niederen Oxidationssteufe des Cu eingesetzt. Dabei wird die RX-Bindung des Alkylhalogenids homolytisch gespalten und man erhält einen schnellen reversiblen Austausch zwischen aktiven und schlafenden Kettenenden allerdings in niedriger Konzentration. Dieser Reaktion sind auch andere Monomere zugänglich wie Styrol, Methacrylate und Acrylate. Über Uneinheitlichkeiten von 0.1 ist berichtet worden. Auch Block-und Graftcopolymere wurden so hergestellt. Ein weiteres System, das mit Styrol, (Meth)acrylaten und Vinylacetat eine kontrollierte Radikalische Polymerisation und so eine gute Kontrolle der Molmasse mit niedriger Polydispersität garantiert, ist die „Reversible Additions Fragmentierungs Polymerisation RAFT. Eingesetzt werden Thiocarbonylthioverbindungen wie Cumoldithiobenzoat. Diese wirken auf ein Polymerradikal wie ein Überträger. Es folgt eine Fragmentierung der Thiocarbonylendgruppe unter Freisetzung eines normalen Radikals, das mit Monomeren weiter wachsen kann. Am Ende der Polymerisation tragen nahezu alle Polymerketten (mit enger Molmassenverteilung) eine Thiocarbonylendgruppe. Co- und Blockcopolymerisationen wurden hergestellt. 3.1.2 Ionische Polymerisation Unter ionischen Polymerisationen fasst man im Allgemeinen die anionische und die kationische Polymerisation zusammen, da sie grundlegende gemeinsame Aspekte aufweisen. Der wichtigste besteht darin, dass die Polymerisation durch Anionen oder Kationen ausgelöst wird, über entsprechende ionische Zwischenstufen verläuft und damit dem ionischen Mechanismus entspricht. Ein wesentlicher Unterschied zur radikalischen Polymerisation besteht darin, dass jeweils zu dem initiierenden Anion bzw. Kation R ein Gegenion als Kation Me oder Anion A vorhanden ist, welches in die Betrachtungen einbezogen wird, weil es einen Einfluss auf die Polymerisationsgeschwindigkeit und die Polymerstruktur hat. R Me + n CH2=CHR R A + n CH2=CHR
R(CH2CHR)CH 2CHRMe n1
R(CH2CHR)CH 2CHRA n1
Wie bereits im Kapitel Kettenwachstumsreaktionen ausgeführt, ist für die erfolgreiche Polymerisation nach einem obigen Mechanismus die entsprechende Elektronenverteilung an der Doppelbindung des Monomers verantwortlich; dies bedeutet, dass ein abgestimmtes Zusammenwirken zwischen Initiator und Monomer vorliegen muss. In diesem Sinne muss für die anionische Polymerisation durch elektronenziehende Substituenten an der Doppelbindung des Monomers eine nucleophile
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
73
Addition des Anions an das Monomer eintreten. In entgegengesetztem Sinne muss für eine kationische Polymerisation durch elektronenschiebende Substituenten an der Doppelbindung eine elektrophile Addition des Kations an das Monomer stattfinden. Sind in dem Monomer die elektronenschiebenden Effekte nicht besonders stark ausgeprägt, wie z.B. beim Styrol und Butadien, so lassen sich solche Monomere nach beiden Mechanismen polymerisieren. Je stärker die Elektronenverschiebung an der Doppelbindung ist, desto schwächer können Basizität bzw. Acidität des Initiators sein. Demzufolge lässt sich z.B. Vinylidencyanid CH2 C(CN)2 bereits mit den Hydroxyionen des Wassers anionisch polymerisieren. Im Laufe einer ionischen Polymerisation und in einem abgeschlossenen System ist das am Ende der Kette befindliche Anion oder Kation stabil, in der Regel aktiv und setzt mit einem hinzugefügten Monomer die Polymerisation fort. Man spricht dann von lebenden Polymeren. Es liegt also ein zwangsläufiger Kettenabbruch wie bei der radikalischen Polymerisation nicht vor. Dies bedeutet, dass ein echtes Gleichgewicht zwischen Polymer und Monomer vorliegt. Oberhalb der ceiling-Temperatur tritt keine Polymerisation ein. Beim Überschreiten der ceiling Temperatur tritt eine Depolymerisation ein, wenn das Kettenende noch die aktive Gruppe trägt. Als Beispiel hierfür sei D-Methylstyrol genannt. Die aktiven Spezies am Kettenende wie auch bei den Initiatoren können in verschiedenen Formen vorliegen, als polarisierte kovalente Bindung PGXG; als Kontaktionenpaar PX, in dem die Ionen direkten Kontakt miteinander haben; als solvatgetrenntes Ionenpaar P//X, in dem das Ionenpaar durch die Solvathülle getrennt ist und als freie Ionen P + X, hier demonstriert an einem anionischen System. Zwischen den Formen besteht ein Gleichgewicht, das durch entsprechende Lösungsmittel, Temperatur bzw. gleichionigen Zusatz unterschiedlich verschoben werden kann. PGXG
PX
P // X
P + X
Man kann die einzelnen ionogenen Spezies experimentell mit spektroskopischen Methoden voneinander unterscheiden. Nichtionogene Spezies können auch assoziieren mit Assoziationsgraden normalerweise bis sechs, bekannt z.B. vom n-Butyllithium. Die Reaktion der aktiven Spezies mit dem Monomer reicht von einer unbeeinflussten Addition des Monomers an das freie Ion über eine Koordination des Monomers bis zu einer Einschiebungsreaktion (Polyinsertion) des Monomers in die polarisierte kovalente Bindung, letztere wird auch pseudoionische Polymerisation genannt. Dafür ist die KohlenstoffLithium-Bindung in unpolaren Lösemitteln ein Beispiel. Vom Standpunkt der Elementarreaktion ist es wichtig, wie bereits angedeutet, dass eine zwangsläufige Abbruchreaktion, wie bei Radikalen, nicht vorliegt, denn gleichsinnig geladene Ionen stoßen sich ab. Dies bedeutet, dass der stationäre Zustand von Start und Abbruch, wie bei der radikalischen Polymerisation, nicht vorhanden ist. Natürlich kann auch bei ionischen Polymerisationen gezielt oder durch Nebenreaktionen (z.B. mit Wasser) ein Abbruch erfolgen. Der Polymerisationsgrad abbruch- und übertragungsfreier ionischer Polymerisationen wird durch folgende Gleichung bestimmt: Pn = [M] / [I] . Dies stellt bei einem vollständig aktiven Initiator eine „stöchiometrische“ Polymerisation dar. Die ionische Polymerisation mit ihren lebenden Kettenenden bietet bei gleichzeitigem Start, fehlender Übertragung sowie fehlendem Abbruch und nur bei einer Art aktiver Spezies die Möglichkeit, dass alle Monomermoleküle gleichmäßig wachsen. Dies bedeutet, dass sich eine wesentlich engere Molmassenverteilung einstellt, eine Poisson-Verteilung. Molmassen und Molmassenverteilung bei der ionischen Polymerisation Die ionische Polymerisation lässt sich allgemein formulieren als:
74
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
I M o IM1
Startreaktion, schnell
(3.16)
IM n M o IM n1
Wachstumsreaktion, n = 1, 2, 3,.....
(3.17)
I + M o IM1+
Startreaktion, schnell
(3.18)
IM +n M o IM +n +1
Wachstumsreaktion, n = 1, 2, 3, .....
(3.19)
Die Gleichungen (3.16) und (3.17) gelten für die anionische und die Gleichungen (3.18) und (3.19) für die kationische Polymerisation. Der Kettenstart ist bei der ionischen Polymerisation im Allgemeinen wesentlich schneller als das Kettenwachstum. Nach relativ kurzer Zeit liegen daher alle aktiven Zentren infolge der Reaktionen (3.16) oder (3.18) als IM 1 oder IM 1+ vor. Da bei der idealen ionischen Polymerisation keine Abbruchreaktion auftritt, ist die Konzentration der Kettenträger konstant und gleich der Konzentration des eingesetzten Initiators [I]0. Die Bruttoreaktionsgeschwindigkeit XBr ist daher: XBr = d [M]/d t = kw [I]0 [M] (3.20) Die Integration von Gleichung (3.20) in den Grenzen von t [0, t] und [M] [ [M]0, [M] ] liefert [M] = [M]0 exp( kw [I]0 t) , (3.21) wobei [M]0 die eingesetzte Monomerkonzentration ist. Da die Startreaktion pro Initiatormolekül ein Monomermolekül verbraucht, ist die verfügbare Monomerkonzentration nach dem Ablauf der Startreaktion und unter der Annahme, dass noch keine Monomere für die Wachstumsreaktion verbraucht sind: [M] = [M]0 [I]0 Monomerkonzentration beim Beginn der Startreaktion (3.22) Wenn mit [M]W die Monomerkonzentration zum Zeitpunkt t = W bezeichnet wird und zum Zeitpunkt t = 0 alle aktiven Zentren als Kettenträger vorliegen, ergibt sich aus Gleichung (3.20) und (3.22) W
[M]W
z d[M]
z
k w [I]0 [M]d t .
[M]0 [I]0
(3.23)
0
Daraus erhält man durch Integration der linken Seite von Gleichung (3.23) W
^[M]
k w ³ [M]d t . 0 [M]W [I]0 ` 1
(3.24)
0
Der Polymerisationsgrad Pn zum Zeitpunkt t = W ist gegeben durch Pn
[M]0 [M]W
[I]0
.
(3.25)
Für W o f, d.h. am Ende einer idealen abbruch- und übertragungsfreien ionischen Polymerisation, ist [M]W = 0 und damit Pn = [M]0/[I]0. Gleichung (3.24) erhält unter Beachtung von Gleichung (3.25) die Form W
Pn 1 kw ³ [M]d t
.
(3.26)
0
Da zurzeit t = 0 alle Moleküle den Polymerisationsgrad Pn = 1 aufweisen, ist die Zahl der Wachstumsschritte pro Kette Q Q = Pn 1 , (3.27) Q ist die kinetische Kettenlänge. Die Kombination der Gleichungen (3.21), (3.26) und (3.27) ergibt für die kinetische Kettenlänge Q und für die Änderung der kinetischen Kettenlänge mit der Zeit Q = [M]0/[I]0 [1 exp( kw [I]0 t)] (3.28)
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
75
d Q = kw [M]0 exp( kw [I]0 t) d t = kw [M] d t . (3.29) [IM n ] mit n = 1, 2, 3, ....., P seien die Konzentrationen der Polymermoleküle vom Polymerisationsgrad n. Der Einfachheit halber bezeichnen wir die Konzentrationen [IM n ] mit Cn , [M] mit CM und [I]0 mit CI. Die Geschwindigkeit, mit der die wachsenden Ketten mit den Polymerisationsgraden n = 1, 2, 3, ....., P verschwinden, ist: d C1 /d t = kw CM C1 d C2 /d t = kw CM (C2 C1) d C3 /d t = kw CM (C3 C2) (3.30) : : : : d CP /d t = kw CM (CP CP1) Wir nehmen dabei an, dass die Wachstumskonstante kw für alle Wachstumsschritte gleich groß ist. Mit Hilfe von Gleichung (3.29) können wir in den Gleichungen (3.30) d t durch d Q ersetzen: d C1 = C1 d Q d C2 = (C2 C1) d Q d C3 = (C3 C2) d Q (3.31) : : : : d CP = (CP CP1) d Q Das Gleichungssystem (3.31) versetzt uns in die Lage, die Anteile der Polymermoleküle bei verschiedenen Polymerisationsgraden in Abhängigkeit von der kinetischen Kettenlänge zu berechnen. Hierzu müssen wir das Gleichungssystem (3.31) in den Grenzen Q [0, Q] und Cn [CI, Cn] integrieren. Für n = 1 kann man die Integration sofort durchführen:
z
C1 (1 / CI
z
Q
0 dQ
C1 ) dC1
C1
;
CI exp( Q )
(3.32)
Für n t 2 erfolgt die Integration rekursiv: dC 2
CI exp( Q )dQ C2 dQ
dC3
CI Q exp( Q ) dQ C3 dQ
; ;
C2
CI Q exp( Q )
(3.33)
C3 : : CP
CI Q exp( Q ) / 2 : : CI Q P 1 exp( Q ) / ( P 1)!
(3.34)
2
(3.35)
Die rekursive Integration sei am Beispiel der Gleichung (3.33) erläutert: Multiplikation von dC2 CI exp( Q )dQ C2 dQ mit exp(Q) ergibt exp(Q ) dC2 exp(Q ) C2 dQ
Es gilt die Identität: d exp(Q ) C2 Daraus erhält man:
z
C2 CI
C I dQ
.
exp(Q ) C2 dQ exp(Q ) dC2 .
d exp(Q ) C2
z
Q
0 CI d Q
;
C2
CI Q exp( Q )
CP/CI = x(P) ist der Molenbruch aller Moleküle, welche den Polymerisationsgrad P haben. Damit erhalten wir für die häufigkeitsgewichtete Polymerisationsgradverteilung x(P) aus Gleichung (3.35): x ( P ) = C P / CI =
Q P 1 exp( Q ) ( P 1)!
(3.36)
76
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Der Zusammenhang mit der massengewichteten Polymerisationsgradverteilung w(P) ergibt sich durch die Beziehung w(P) = m(P)/m = (CP/CI) P M0 / [(Q +1) M0] (M0 = Molmasse des Monomers) zu: w( P ) =
Q P 1 exp( Q ) P ( P 1)! (Q 1)
(3.37)
Die Gleichungen (3.36) und (3.37) beschreiben Poisson-Verteilungen. Sie sind vollständig durch einen einzigen Parameter, die kinetische Kettenlänge Q, bestimmt. Mit Hilfe der Definitionsgleichungen für Pn = 1 / (6 wi / Pi) und Pw = 6 wi Pi (siehe Kapitel 2.1) ist es möglich, die mittleren Polymerisationsgrade aus Gleichung (3.37) zu berechnen. Die Ergebnisse lauten: Pw = Q 2 + 3 Q + 1)/(Q + 1) Pn = Q + 1 ; Daraus ergibt sich für die Uneinheitlichkeit U = (Pw/Pn) 1 = Q /( Q + 1)2 = (Pn 1)/Pn2. Für große Pn ist U | 1/Pn. Die Poisson-Verteilung ist also außerordentlich eng und nimmt mit der kinetischen Kettenlänge ab. Die Verteilungen bei der radikalischen Polymerisation (siehe Kapitel 3.1.1.6) und bei den Stufenwachstumsreaktionen (siehe Kapitel 3.2) sind bei gleichem Pn deutlich breiter. Der Grund für den Unterschied ist: Bei der ionischen Polymerisation findet der Kettenstart momentan statt, und es existieren im Idealfall keine Abbruchreaktionen. Alle Ketten wachsen während der gleichen Reaktionszeit mit der gleichen Wahrscheinlichkeit. Sie sind deshalb in etwa alle gleich lang. 3.1.2.1 Anionische Polymerisation Einführung Unter einer anionischen Polymerisation versteht man die Reaktion eines Anions R vom Initiator mit Monomeren zu Makromolekülen (Me bedeutet das Gegenion).
R Me + n CH2 CHR
R ( CH2 CHR )n1CH2 CHRMe
Anionische Polymerisationen laufen in den überwiegenden Fällen nur unter Luftabschluss und im Gegensatz zur radikalischen Polymerisation auch nur unter absolutem Wasserausschluss ab. Trotz dieses Handicaps haben sich anionische Polymerisationen für eine Reihe von Monomeren (Tabelle 3.7) aus verschiedenen Gründen durchsetzen können. Man erhält Polymere mit einer geringen Polydispersität. Der wichtigste Grund ist wohl aber der, dass sich lebende Polymere von vielen Monomeren herstellen lassen und dass sich durch diese lebenden Polymere erstmalig Makromoleküle mit bestimmter, definierter Architektur synthetisieren lassen, wie z.B. Blockcopolymere, mit gewünschten Endgruppen versehene Polymere, definierte stern- und kammförmige Polymere. Nicht weniger wichtig ist, dass schon bei der anionischen Synthese gewisser Makromoleküle bevorzugte Strukturen gebildet werden, z.B. beim Polyisopren, Polybutadien und Polymethylmethacrylat. Monomere Die Auswahl anionisch polymerisierbarer Verbindungen ist beschränkt, da nur Monomere mit elektronenziehenden Substituenten an der Doppelbindung oder Ringe anionisch polymerisierbar sind. Dazu gehören Styrol, Vinylpyridine, Vinylketone und Acrylverbindungen, z.B. Alkylacrylate, Alkylmethacrylate, Dimethylacrylamid, Acrylnitril, Vinylidendicyanid und Diene, wie Butadien, Isopren, Cyclohexadien. Beispiele für Ringe sind Epoxide z.B. Ethylenoxid und Propylenoxid, Episulfide, Ethylencarbonat, fünf- bis 12gliedrige ringförmige Lactame, besonders Caprolactam, Urethane, Lactone, z.B. Caprolacton und Leuchssche Anhydride. Aber auch bestimmte Aldehyde und Ketone, z.B. Formaldehyd, einschließlich ihrer Thioanaloga, sind anionisch polymerisierbar, ebenso wie Isocyanate, Vinyltrimethylsilan und Cyclotrisiloxane. Monomere mit Haciden funktionellen Gruppen kann man mit einer Silylgruppe schützen und so einer lebenden Polymerisation erfolgreich unterziehen. Einige der hier als Beispiel genannten Monomere werden in technischem Maßstab polymerisiert (Tabelle 3.7).
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
77
Tabelle 3.7: Hauptanwendungsgebiete wichtiger, durch anionische Polymerisation industriell hergestellter Polymere
Polymere
Hauptanwendungsgebiet
cis-1,4-Polybutadien cis-1,4-Polyisopren Blockcopolymere (vorwiegend Styrol-Diene) Polyalkylenglykole Sternförmige Polymere Polycyanacrylate Polycaprolactam Polyoximethylen
Elastomer: Reifen, Gummi Elastomer: Reifen, Gummi Thermoplastische Elaste: Schuhteile, Fußbodenbeläge Blöcke für Polyurethane Additive Klebstoffe Gussstücke Konstruktionswerkstoff
Initiatoren und Chemismus der Startreaktion Für die anionische Startreaktion RM Me R Me + M
werden folgende Initiatorklassen eingesetzt: Alkaliorganyle (z.B. Butyllithium), Alkalimetalle (Natrium, Kalium), Alkaliamide (z.B. Natriumamid), Grignard-Verbindungen, Alkalialkoholate, Alkalienolate, Amine, Phosphine, Alkalilösungen in Wasser, Alkalicarbonate, Natriumcyanid. Als Gegenion sind meistens die Alkalimetalle Lithium, Natrium, Kalium, vereinzelt auch Cäsium gebräuchlich, Erdalkaligegenionen Ca, Sr, Ba sind selten. Mildere Initiatoren sind Aluminiumalkyle, -alkoholate und -porphyrine, die bei empfindlicheren Monomeren, wie z.B. (Meth)Acrylaten, für die Synthese lebender Polymere höhere Polymerisationstemperaturen zulassen. Reziprok zur Nucleophilie dieser Anionen muss die Elektrophilie der Monomere sein, damit die Startreaktion ablaufen kann. Man kann z.B. Styrol nur mit Alkaliorganylen, -amiden und -metallen polymerisieren, mit den folgend oben genannten nicht. Cyclische Ether wie Ethylenoxid und Ester wie Caprolacton lassen sich bereits mit Alkoxiden polymerisieren. Dagegen lässt sich Vinylidendicyanid mit allen obigen Initiatoren polymerisieren. Man kann auch Kombinationen von z.B. BuLi und Dibutylmagnesium (oder auch Aluminiumtriethyl) für die Polymerisation von Styrol und Dienen einsetzen. Dann wird aber die Bruttopolymerisationsgeschwinsdigkeit erniedrigt und der cis-Gehalt sinkt. Es ist auch versucht worden, diesen Zusammenhang quantitativ zu fassen. Für eine anionische Polymerisation muss der Quotient aus der Energie des niedrigsten unbesetzten S-Orbitals des Monomers und dem pKa-Wert des initiierenden Anions kleiner als 2,5 2 sein, damit eine anionische Polymerisation auslösbar ist. x Startreaktion durch Anionen Für den Startschritt ist eine Reihe von Organometallverbindungen als Initiatoren mit Gegenionen im Wesentlichen aus der I. Hauptgruppe des Periodensystems eingesetzt worden. Diese garantieren einen anionischen Mechanismus. Mit Kationen aus der II. und III. Hauptgruppe des Periodensystems liegt teilweise ein radikalischer Mechanismus vor. Häufig eingesetzte Organometallverbindungen sind n-Butyllithium, sec.-Butyllithium, Fluorenyllithium, Dilithiumverbindungen (löslich erhalten auf Basis von Diphenylethylen-Strukturelementen), Isoamylnatrium, Phenylnatrium und Octylkalium. Folgender Startschritt liegt in polaren Lösemitteln vor: BuM + Li Li + Bu + M In unpolaren Lösemitteln liegen allerdings die Lithiumorganyle als polarisierte kovalente Verbindungen und beim Butyllithium als Assoziate vor. Besonders beim n-Butyllithium ist das Assoziat mit dem Assoziationsgrad sechs beschrieben worden. Da aber die Startreaktion von der monomeren Lithiumverbindung ausgelöst wird, muss der eigentlichen Startreaktion noch eine Dissoziation des
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
78
Lithiuminitiators vorgelagert sein. Für einen derartigen Mechanismus sprechen vor allem kinetische Untersuchungen. Zusätze von Lewis-Basen zu den Lithiumorganylverbindungen erleichtern den Entassoziierungsprozeß durch Komplexbildung. In gleicher Weise wirken Kronenether. Die Alkylverbindungen der anderen Alkalimetalle sind in Kohlenwasserstoffen meistens unlöslich. In polaren Lösemitteln, wie z.B. Tetrahydrofuran, tritt eine beträchtliche Erhöhung der Aktivität des Initiators durch Entassoziierung und Solvatation ein. Natrium-, Kalium-, Rubidium- und Cäsium-Alkyle sind aber auch in diesen Lösemitteln teilweise instabil. x Startreaktion durch Elektronenübertragung Die Initiierung durch Elektronenübertragung umfasst diejenige durch Alkalimetalle und Alkali-Aromaten-Komplexe. Alkalimetalle (Me) sind in der Lage, Elektronen auf Monomere zu übertragen. Me + CH2 CH2
+ . CH2 CHRMe
Die entstandenen Ionenradikale rekombinieren mit ihrem radikalischen Ende. + 2 . CH2CHRMe
Me+RHCCH2CH2CHRMe+
Das gebildete Dianion kann eine anionische Polymerisation nach zwei Seiten starten. Für diesen Mechanismus liegen folgende Beweise vor: da mit ESR keine Radikale nachweisbar waren, liegt also kein radikalischer Mechanismus vor. Die Dissoziation des Dianions in zwei Anionenradikale ist sehr gering, es tritt demnach keine Rückreaktion ein. Zum Start der Polymerisation mit Alkalimetallen muss angemerkt werden, dass die Effektivität gering ist, da sich nur die Oberfläche des Metalls umsetzt. x Startreaktion mit Alkali-Aromaten-Komplexen Die wichtigste Art der Initiierung durch Elektronenübertragung stellt jedoch die mit AlkaliAromaten-Komplexen dar. Als Aromaten sind Naphthalin, Biphenyl, Phenanthren und Anthracen gebräuchlich, als Alkalimetalle Natrium und Lithium. Szwarc untersuchte als erster den Einsatz von Alkali-Aromaten-Komplexen als Polymerisationsinitiatoren. Beim Zusatz von Naphthalinnatrium zu reinem Styrol geht die Farbe von grün in die rote Farbe des Styrylcarbanions über. Bei 100 % Umsatz konnte folgender Zusammenhang mit dem Polymerisationsgrad gefunden werden. Pn = [M] / ( [I] / 2 ) Unter der Voraussetzung von peinlichstem Luft- und Wasserausschluss tritt kein Abbruch ein, auch nach dem Verbrauch des Monomers nicht; damit liegen also lebende Polymere vor, und ein radikalischer Mechanismus ist ausgeschlossen. Szwarc schlug daher folgenden Reaktionsmechanismus vor: . CH CH2 CH CH2 . + Na Na + +
2
. CH CH2
CH CH2 CH2 CH
Es tritt also eine Rekombination des radikalischen Endes des Styrolanionradikals ein, das an beiden Seiten anionisch weiterwächst. Dies erklärt die Abhängigkeit Pn = [M] / ( [I] / 2 ). Wachstumsreaktion Bei der anionischen Wachstumsreaktion reagiert das Monomer mit dem Anion der letzten Monomereinheit der Kette, die in der Regel gleich dem Monomer ist.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
BuCH2CHR + n CH2=CHR
79
Bu(CH2CHR)CH n 2CHR
Daher sollten während dieser Wachstumsschritte Probleme der Disharmonie der Nucleophilie des Anions und der Elektrophilie des Monomers nicht auftreten, sonst findet kein Kettenwachstum statt. Damit sollte die Geschwindigkeit des Wachstums durch folgende Gleichung gegeben sein: Xw = kw [P] [I] Diese Gleichung ist zwar richtig, aber sie summiert nur über die Tatsache, dass das Anion in verschiedenen Formen vorliegen kann, wie dies bereits im Kapitel „Ionische Polymerisation“ angedeutet war. Die Wachstumsreaktion bei der anionischen Polymerisation ist nämlich nicht nur vom wachsenden Anion und Gegenion, sondern auch vom verwendeten Lösemittel und der Reaktionstemperatur abhängig. Letztere beeinflussen das Ionenpaar Anion/Kation sehr wesentlich. Bei der Durchführung von Polymerisationen in polaren Lösemitteln, wie Tetrahydrofuran und Hexamethylphosphorsäuretriamid, ist das Vorliegen verschiedener Ionenpaarspezies und freier Ionen nachgewiesen. Am besten ist dies an der Styrolpolymerisation untersucht. Es liegt folgendes Ionenpaargleichgewicht vor PNa + S
P/S/Na
P + Na + S ,
wobei PNa das Kontaktionenpaar, P/S/Na das solvatgetrennte Ionenpaar, S das Lösemittel und P die freien Anionen bedeuten. Dass Ionenpaare vorliegen, konnte durch einen gleichionigen Zusatz (Natriumtetraphenylborat) bewiesen werden. Dass zwei verschiedene Ionenpaare vorliegen, konnte prinzipiell dadurch bewiesen werden, dass die Alkalisalze des Fluorens in Tetrahydrofuran zwei Absorptionspeaks geben, deren relative Intensität durch Verdünnung und gleichionigen Zusatz nicht beeinflusst wird, dagegen von der Temperatur abhängig ist. Da die Geschwindigkeitskonstante des Wachstums kw stark vom Lösemittel und der Temperatur abhängt, muss für jede obige ionogene Spezies eine individuelle Geschwindigkeitskonstante vorliegen, die man für das Kontaktionenpaar mit kwrc, das solvatgetrennte Ionenpaar mit kwrs und für das freie Anion mit kw bezeichnen sollte (daraus erklärt sich der in der Literatur gebrauchte Ausdruck Dreiwegemechanismus). Statt s setzt man auch das entsprechende Lösemittel als Kürzel ein. Die breite Variationsmöglichkeit polarer Lösemittel mit ihren temperaturabhängigen Dielektrizitätskonstanten, dargestellt im Arrhenius-Diagramm Abbildung 3.3, zeigt, dass die gefundenen Geschwindigkeitskonstanten einen breiten Bereich überstreichen. Daher muss man annehmen, dass die Ionenpaarspezies, verbunden durch ein Dissoziationsgleichgewicht, nebeneinander vorliegen, dass sie sich in ihrer Geschwindigkeitskonstante der Wachstumsreaktion wesentlich unterscheiden und dass man daher einen Mittelwert misst. Für freie Polystyrolanionen wurde ein Wert von 6,5 104 dm3 mol1s1 gefunden. Für solvatgetrennte Ionenpaare liegen die kw-Werte ca. eine halbe Größenordnung, aber für Kontaktionenpaare drei Größenordnungen darunter, abhängig von der Temperatur und dem Gegenion. Unterschiedliche Gegenionen, wie z.B. Lithium und Cäsium, zeichnen sich durch weitere Unterschiede aus, die auf die Lage des Gleichgewichts zwischen den Ionenpaarspezies Einfluss haben. So ist das Lithium mit seinem kleinen Ionenradius von einer größeren Solvathülle umgeben als das Cäsium als anderes Extrem, dies bedeutet, dass beim Lithium die Verschiebung des Gleichgewichts zum solvatgetrennten Ionenpaar leichter vor sich geht, somit die mittlere Wachstumsgeschwindigkeit größer ist. Beim Butyllithium wurde bereits erwähnt, dass in unpolaren Lösemitteln das polymerisationsaktive Zentrum in Form einer polarisierten Lithium-Kohlenstoffbindung vorliegt, in die die Einschiebung (Insertion) des Monomers erfolgt. Da keine Ionen vorliegen, wird auch von einer pseudoionischen Polymerisation gesprochen. Die Polymerisationsgeschwindigkeit mit dieser Spezies liegt noch unter der mit Ionenpaaren.
80
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Wie bei Butyllithium muss man annehmen, dass auch bei den Polymeranionen Assoziate vorliegen, zum einen Kreuzassoziate zwischen dem Butyllithium und dem Polymeranion mit dem Gegenion Lithium und zum anderen auch Assoziate der Polymeranionen untereinander. Da aber nur die entassoziierte Form das Wachstum unterhält, nennt man die Assoziate auch „schlafende“ Polymere. Durch Zugabe z.B. eines Lösemittels, welches die Assoziate aufbricht, setzen die Polymeranionen das Wachstum fort. Anionische Polymere unterliegen wegen ihrer gleichsinnigen Ladung keinem zwangsläufigen Kettenabbruch. Wenn also kein beabsichtigter oder durch unerwünschte Nebenreaktionen veranlasster Kettenabbruch eintritt, liegen lebende Polymere vor. Im Polymerisationsgrad-Umsatz-Diagramm stellt sich dies als Gerade dar (s. Abbildung 3.1). Das bedeutet: Sind alle Monomere polymerisiert, so liegt das anionische Kettenende noch in der aktiven Form vor, ist im abgeschlossenen System haltbar und setzt das Kettenwachstum unter Zusatz neuer Monomere auch nach längerer Zeit noch fort. Die Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit ist somit gleich der Wachstumsgeschwindigkeit.
Abbildung: 3.3: Arrhenius-Diagramm der Wachstumsgeschwindigkeitskonstanten von Kontaktionenpaaren kwrc und solvatgetrennten Ionenpaaren kwrs bei der anionischen Styrolpolymerisation. (nach B.J. Schmitt, G.V. Schulz, Europ.Polym.J. 11(1975)119)
Die anionische Polymerisation mit ihren lebenden Polymeren bietet unter gewissen Voraussetzungen einen weiteren Vorteil, den der engen Polymerisationsgradverteilung. Wenn alle Ketten gleichzeitig gestartet werden und damit gleichzeitig wachsen, erhält man eine Poisson-Verteilung
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
81
mit Mw/Mn = 1. Voraussetzung dafür ist, dass die Startgeschwindigkeit wesentlich größer ist als die Wachstumsgeschwindigkeit; dies ist aber nicht mit allen Initiatoren gewährleistet. Um diesen Vorteil trotzdem zu realisieren, wendet man einen experimentellen Kunstgriff an, die sogenannte seedingoder Saatbettechnik. Man lässt den Initiator mit einer kleinen Menge des Monomers vorreagieren, so dass sich Oligomere mit einem aktiven Kettenende bilden, die Startreaktion also abgeschlossen ist. Danach setzt man die restliche Menge des Monomers zu, die dann auspolymerisiert. Man erhält so eine enge Polymerisationsgradverteilung, die dem theoretischen Wert Pw/Pn = 1 sehr nahe kommt. Auch bei der anionischen Polymerisation liegt ein Gleichgewicht zwischen dem Polymer und dem Monomer vor, weil die Kettenenden lebend und aktiv sind. Im Falle einer tiefen ceiling-Temperatur, z.B. beim D-Methylstyrol, startet man die Polymerisation oberhalb dieser Temperatur (dann liegen nur Oligomere vor), kühlt schlagartig bis unter die ceiling-Temperatur ab und erreicht damit, dass die Wachstumsreaktion für alle Ketten gleichzeitig einsetzt und eine Poisson-Verteilung liefert. Die Wachstumsreaktion anionisch polymerisierter Carbonylverbindungen und Cyclen bietet einige Besonderheiten. Formaldehyd als attraktives Beispiel für die wenigen Aldehyde und Ketone polymerisiert, indem sich das anionische Wachstumszentrum am Sauerstoff befindet. RCH2OCH2O RCH2O + HCHO Die entsprechenden Polymeren der Aldehyde sind Polyacetale. Bei der Ringöffnungspolymerisation von cyclischen Epoxiden tritt gleichfalls der Sauerstoff als Ladungsträger auf, hier formuliert am Ethylenoxid: RO + H2C
O
CH2
RO CH2
CH2O
Bei der Polymerisation der Lactame ist dagegen der Stickstoff der anionische Wachstumsträger. OC NH
+
OC N
(CH2)5
OC N CO(CH2)5 NH
(CH2)5
(CH2)5
Die Ladung des endständigen Aminoanions wird jeweils gegen den „sauren“ Wasserstoff des Caprolactams ausgetauscht, so dass das Anion nicht am Kettenende sitzt, sondern jeweils mit dem Lactam herantransportiert wird (s. Kapitel 3.2.1.1). x Struktur- und Stereoisomerien bei der anionischen Wachstumsreaktion Wirtschaftlich bedeutende Isomere treten nur bei der Polymerisation der Diene auf. Butadien und Isopren z.B. sind in der Lage, verschiedene Struktur- und Stereoisomere zu bilden. Wie in Kapitel 2.3.5 gezeigt wurde, sind Diene in der Lage, 1,2-, 3,4- (bei Isopren) sowie cis- und trans-1,4-Strukturen zu bilden. Tabelle 3.8 zeigt ausgewählte Ergebnisse der Butadienpolymerisation. Tabelle 3.8: Struktur- und Stereoisomerien des Polybutadiens bei 0 qC
Gegenion Li Li Na
Lösemittel
cis-
trans-
1,2-
Hexan THF THF
0,35 0,06 0,06
0,58 0,06 0,14
0,07 0,88 0,80
Aus der Tabelle folgt, dass in unpolaren Lösemitteln mit Lithium als Gegenion überwiegend 1,4Strukturen (cis- und trans-) gebildet werden, während in polaren Lösemitteln oder mit höheren Alkalimetallen als Gegenion vorzugsweise 1,2-Strukturen als echte Strukturisomere gebildet werden.
82
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Man führt das darauf zurück, dass in polaren Lösemitteln und mit höheren Alkalimetallen als Gegenion eine Delokalisierung der negativen Ladung weg vom D-C-Atom bis zum J-C-Atom eintritt. Bu CH2
Me ... CH CH ... CH2
Von den Stereoisomeren cis- und trans-1,4-Polybutadien erlangte das cis-1,4-Polybutadien große wirtschaftliche Bedeutung als Grundstoff für Autoreifen. Gleiche Verwendung findet cis-1,4-Polyisopren. Zur Erklärung der Stereoregulierung wird angenommen, dass das D-Carbanion als cis- und trans-aktives Zentrum vorliegen kann, verbunden durch ein Isomerisierungsgleichgewicht. Für das Isopren kommt hinzu, dass das Monomer bereits zu 80 % in der cis-Form vorliegt, die dann an das aktive Zentrum zweizähnig koordiniert wird, womit die Struktur des Polymers vorgebildet ist. Es wird angenommen, dass die Geschwindigkeitskonstante der Wachstumsreaktion an das cis-aktive Zentrum achtmal so hoch liegt wie an das trans-aktive Zentrum. Auch andere Monomere geben mit anionischen Initiatoren stereoreguläre Polymere. Für die Styrolpolymerisation zu isotaktischem Polystyrol mit Alkalimetallalkylen ist für Natrium- und Kaliumalkyle die heterogene Phase der Grund für die stereospezifische Synthese. Beim Einsatz von Butyllithium wird angenommen, dass Hydrolyseprodukte des Butyllithiums in heterogener Phase oder als Komplexbildner die Bildung von isotaktischem Polystyrol initiieren. Viel untersucht wurde auch die stereospezifische Polymerisation des Methylmethacrylats. Dabei wurde festgestellt, dass mit Lithiuminitiatoren in unpolaren Lösemitteln isotaktisches und in polaren Lösemitteln bevorzugt syndiotaktisches Polymethylmethacrylat gebildet wird. Auch für die Bildung dieser Isomere sind sterische Gründe maßgebend. In polaren Medien liegt das Anion frei vor und das ankommende Monomer wird an der dem Substituenten R abgewandten Seite zur tetraedrischen Anordnung addiert. Damit ergibt sich eine syndiotaktische Konfiguration. In unpolaren Lösemitteln geschieht eine Vororientierung des Monomers durch das Gegenion Lithium, welches im Endeffekt eine isotaktische Anordnung bewirkt. Abbruchreaktion Die reaktive Stelle der anionischen Polymere stellt das Anion bzw. die MetallKohlenstoff-Bindung dar. Da sich gleichsinnig geladene Anionen gegenseitig abstoßen, ist ein zwangsläufiger Kettenabbruch prinzipiell nicht gegeben, vorausgesetzt, man gewährleistet einen absoluten Ausschluss von Luft, Kohlendioxid, Feuchtigkeit und weiteren, mit den Anionen unter unbeabsichtigten „fahrlässigen“ Kettenabbruch reagierenden, Substanzen. Im umfassenden Sinne bedeutet Kettenabbruch dabei, dass die Basizität des bei der Abbruchreaktion neu gebildeten Anions nicht ausreicht, um eine Reaktion mit Monomeren unter Kettenverlängerung einzugehen. Auch hohe Temperaturen sind zu vermeiden, um Isomerisierungen und damit Desaktivierungen des Polymeranions vorzubeugen; z.B. ist lebendes lithiuminitiiertes Polymethylmethacrylat nur unterhalb 60 °C stabil. Bei 78 °C konnten durch Stabilisierung mittels LiCl lebende Polymere mit einer Polydispersität von 1,1 erhalten werden. Bei höheren Temperaturen bildet sich unter Alkalimethylat-Abspaltung folgende Endgruppe: CH3 O H 2C
C
C
H2C H 3C
C C
CH2
COOCH3 CH3
COOCH3
Lebende Polydiene sind für längere Zeit nur unterhalb 40 °C stabil, lebendes Polystyrol noch bei Raumtemperatur. Bei höheren Temperaturen tritt eine E-Hydrideliminierung auf:
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
CH2 CHRNa
83
CH CHR + NaH
Anionische Polymerisationen werden normalerweise gezielt mit einer in dem Reaktionsmilieu mischbaren desaktivierenden Verbindung abgebrochen. CH2
CHRNa + CH3OH
CH2CH2R + CH3ONa
Die makromolekulare Kette ist abgeschlossen, die kinetische unterbrochen und das Polymer ist tot im Gegensatz zum lebenden Polymer. Natriummethylat vermag für die meisten Monomere keine neue Kette zu starten. Bei dieser Abbruchreaktion wird die reaktive KohlenstoffMetall-Bindung durch eine inaktive CH-Bindung ersetzt. Man nutzt die Abbruchreaktion auch aus, um funktionelle Gruppen an das Makromolekül zu bringen, wie nachstehende Beispiele zeigen.
CH2 CHR + CO2
CH2 CHR + H2C CH2 O
CH2
CHR COO
CH2 CHR CH2 CH2 O
Erstere Reaktion gibt mit 60 % nur einen bescheidenen Umsatz, die restlichen 40 % sind Folgeprodukte, z.B. Ketone. Letztere Reaktion kann auch mit den Thioanaloga durchgeführt werden. Die funktionalisierten Polymere nennt man auch telechelic-Polymere. Man kann lebende Polymere mit multifunktionellen Abbrechern punktförmiger (Siliciumtetrachlorid) oder linearer Struktur umsetzen. Im ersteren Falle erhält man sternförmige, im zweiten Falle kammförmige Polymere mit definierter Struktur. Sternförmige Polymere lassen sich auch mit einem mehrfunktionellen Initiator (gebildet aus Kaliumnaphthalin und Divinylbenzol) und Styrol synthetisieren. Setzt man die noch lebenden Sterne z.B. mit Ethylenoxid um, erhält man sternförmige Blockcopolymere. Derartige Polymere sind als Modellsubstanzen interessant, haben aber auch wegen ihres besonderen Viskositätsverhaltens technische Anwendung gefunden. Übertragungsreaktionen Bei der Übertragung wird die makromolekulare Kette abgebrochen, aber die kinetische Kette läuft weiter. Das neu gebildete Anion muss also in der Lage sein, weitere Monomere anzulagern. Erkennbar sind Übertragungsreaktionen an der Erniedrigung des Polymerisationsgrades Pn. Die Übertragungskonstanten werden, wie bei der radikalischen Polymerisation beschrieben, bestimmt. Übertragungen zum Monomer und zu Initiatoren sind selten, sonst könnte die anionische Polymerisation auch nicht den Beinamen „stöchiometrische Polymerisation“ führen. Übertragungen zum Lösemittel sind nicht unbekannt, z.B. sind bei der Butadienpolymerisation in Toluol die Übertragungskonstanten zum Lösemittel Toluol abhängig vom Gegenion, von der Temperatur und vom Donator.
CH2 + C6H5CH3
CH3 + C6H5CH2
1/Pn 1/Pn,0 = CüTol[Tol]/[M] Dabei wurde festgestellt, dass die Übertragungskonstante mit der Polarität der Kohlenstoff-MetallBindung zunimmt. Andere Alkylaromaten sind untersucht worden, aber Toluol hatte die größte Übertragungskonstante in Analogie zur Metallisierung von Aromaten in der Organischen Chemie. In der Tat sind derartige Übertragungsreaktionen auch Metallisierungen mit dem speziellen Metallisierungsagens „lebendes Polymer".
84
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
3.1.2.2 Kationische Polymerisation Einführung Unter einer kationischen Polymerisation versteht man die Reaktion eines kationischen Initiators mit Monomeren zu Makromolekülen. R+ A + n CH2=CHR
R(CH2CHR)CH 2CHR + A n1
Die Frage des Feuchtigkeitsausschlusses ist insofern differenziert zu betrachten, als für bestimmte Systeme Wasser als Cokatalysator benutzt wird. Ein Überschuss desaktiviert normalerweise die Polymerisation. Kationische Polymerisationen haben sich nur für eine beschränkte Anzahl von Monomeren durchsetzen können, obgleich viele Monomere kationisch polymerisierbar sind. Der Grund liegt darin, dass die kationische Polymerisation im Gegensatz zu anderen Mechanismen bezüglich Nebenreaktionen komplexer und schlechter zu übersehen ist. Aber auch bei kationischen Polymerisationen ist die Bildung von lebenden und stereoregulären Polymeren nachgewiesen worden. Monomere Die Auswahl kationisch polymerisierbarer Verbindungen ist gerichtet auf Monomere mit Substituenten, die einen Elektronendruck auf die Doppelbindung ausüben. Dazu gehören verschiedene Vinylether, Isobutylen, andere in 1-Stellung substituierte Olefine, dann Diene, wie Isopren, Butadien sowie Divinyl- und Diisopropenylbenzole, Styrol, o- und p-Methoxy- sowie Chlorstyrole, D-und E-Methylstyrol, Inden, N-Vinylcarbazol, Vinylnaphthaline und -anthracen, Aldehyde, z.B. Formaldehyd, Ketone und Thioanaloga, cycl. Verbindungen z.B. Tetrahydrofuran, Trioxan und Epoxide, Ethylenimin, Lactone, Lactame, Acetale, Benzoxazine, Urethane, Harnstoffe, Carbonate, Sulfide, Iminoether und Siloxane. Industriell durchgesetzt hat sich die Polymerisation von Vinylether, Isobutylen, Formaldehyd, Tetrahydrofuran, Ethylenimin sowie Inden (Tabelle 3.9). Tabelle 3.9: Hauptanwendungsgebiete wichtiger, durch kationische Polymerisation industriell hergestellter Polymere
Polymer
Hauptanwendungsgebiet
Isobutylen-Isopren-Copolymer (Butylkautschuk)
Elastomer: Schläuche, Auskleidungen, Schutzkleidungen, Isolierungen ozonstabiles Elastomer Kleber, Öle, Additive Kleber, Textilhilfsmittel Anstrich-, Vergussmassen Blöcke für Polyurethane Konstruktionswerkstoff Kleber, Papierhilfsmittel
Isobutylen-Cyclopentadien-Copolymer Polyisobutylen (oligomer) Polyvinylether Cumaron-Inden-Copolymer Polytetrahydrofuran Polyformaldehyd Polyethylenimin
Initiatoren und Chemismus der Startreaktion Für die kationische Startreaktion RM + A R + A unterscheidet man drei Initiatorklassen: Protonensäuren, Lewis-Säuren und Carbeniumsalze, die im folgenden vorgestellt werden. Es handelt sich dabei um eine verallgemeinernde und damit vereinfachende Darstellung, da die Konzentration und die spezielle Struktur der aktiven Zentren oft nicht bekannt sind. Bezüglich der Identifizierung der aktiven Spezies (z.B. durch NMR) und deren Konzentration (z.B. durch UV) sind einige Fortschritte zu verzeichnen, aber nur an Systemen, in denen die aktiven Spezies im UV absorbieren und längere Zeit stabil sind. Mehr Erfolg erwartet man von der „stopped flow“-Technik. x Initiierung durch Protonensäuren
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
85
Perchlor-, Schwefel- und Jodwasserstoffsäure, Trichloressigsäure, Trifluormethylsulfonsäuren sowie weitere starke Protonensäuren addieren ihr Proton an das Monomer unter Bildung eines Carbeniumkations, welches weiteres Monomer anlagert. HClO4 + CH2 CHR
H CH2 CHR + ClO4
Das Gegenion darf nicht sofort wieder mit dem Kation unter Bildung einer kovalenten Bindung reagieren, da dann kein Wachstum eintritt. Bei der Polymerisation von Styrol mit HClO4 in Chlorkohlenwasserstoffen konnten keine Carbokationen nachgewiesen werden; daher nennt man diese Polymerisation pseudokationisch. x Initiierung durch Lewis-Säuren Hier unterscheidet man zwei Möglichkeiten: ohne und mit Zuhilfenahme eines Cokatalysators. Den Normalfall stellt die Initiierung mit Lewis-Säuren plus Cokatalysator dar. Der Begriff Cokatalysator entspricht nicht der Wirkung eines Katalysators, er hat sich historisch entwickelt. Man sollte beides zusammen besser als Initiatorsystem und einzeln als Coinitiatoren bezeichnen. Als Lewis-Säuren dienen Friedel-Crafts-Katalysatoren, wie Aluminiumtrichlorid, -tribromid und -alkylhalogenide, weiterhin Bortrifluorid, Zinn- und Titantetrachlorid, Antimonpentachlorid, Zinkdichlorid, Jod u.a. Als Coinitiatoren wirken protonen- bzw. kationenliefernde Substanzen, wie Wasser, Alkohole, Essigsäure, Trichloressigsäure, vorwiegend tert. Alkylhalogenide, Ester, Ether u.a., die aufgrund ihrer geringen Acidität nicht in der Lage sind, eine kationische Polymerisation auszulösen. Beide Substanzen bilden einen Komplex, welcher dissoziiert, und das so gebildete Proton oder Kation ist in der Lage, eine kationische Polymerisation zu starten. Ein größerer Überschuss, z.B. an Wasser, desaktiviert das Initiatorsystem. BF3 + H2O
H + BF3OH
Et2AlCl + EtCl Et (AlEt2Cl2) Von einigen Lewis-Säuren, z.B. Aluminiumtrichlorid, -tribromid, Titantetrachlorid, Jod, Alkylaluminiumdichlorid und Phosphorpentafluorid ist berichtet worden, dass sie kationische Polymerisationen auch ohne Coinitiator auslösen. Der Nachweis, dass ein Coinitiator nicht vorliegt, ist nicht einfach, da letzte Feuchtigkeitsspuren nur schwer aus dem System zu entfernen sind. Die Methode des „Protonen-traps“ schafft dort teilweise Abhilfe. Eingesetzte sterisch gehinderte Amine wie 2,6Di-tert.-butylpyridin sollen dazu dienen, die Initiierung mit Protonensäuren zu inhibieren (Wasser eingeschlossen). Der Effekt dieser Methode wurde so demonstriert, dass er bei einigen entsprechenden Polymerisationen zur engeren oder sogar monomodalen Polymerisationsgradverteilung führte. Theoretisch verständlich wäre die Initiierung allein durch die Lewis-Säure schon, weil Lösungen von Lewis-Säuren elektrische Leitfähigkeit zeigen. Als Mechanismus wird eine Selbstionisation angenommen. Das Kation startet dann die Polymerisation. 2 AlBr3
AlBr2 + AlBr4
x Initiierung durch Carbeniumsalze Es ist von einer Reihe von Carbeniumsalzen bekannt, dass sie kationische Polymerisationen auslösen, z.B. Triphenylmethyl-(Trityl-)hexachloroantimonat und Tropyliumhexachloroantimonat. Es handelt sich dabei um stark stabilisierte Kationen mit komplexierten Gegenionen. Die Dissoziation derartiger Salze hängt von der Stabilität der Ionen und natürlich vom Lösemittel ab. (C6H5)3C + SbCl6 (C6H5)3CCl + SbCl5 Derartige Carbeniumsalze sind stabil und werden deshalb für kinetische Untersuchungen bei der kationischen Polymerisation herangezogen. x Photoinitiierung
86
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Zuletzt soll noch erwähnt werden, dass es auch für die kationische Polymerisation einige Photoinitiatoren gibt: Diaryliodonium- und Triaryl- bzw. Dialkylmonoarylsulfoniumsalze stabiler Säuren, die unter Photolyse z.B. ArJ+·(PF6)– + Ar· Ar2J+(PF6)– ein Radikalkation bilden, das in Gegenwart von z.B. Alkohol ROH zerfällt ArJ + RO· + H+PF6– ArJ+· (PF6)– + ROH und mit dem Proton eine kationische Polymerisation auslösen kann. Ein derartiges Initiierungs- und dann Polymerisationsverfahren ist für die Stereolithographie von Bedeutung. Wachstumsreaktion Bei der kationischen Wachstumsreaktion reagiert das Monomer mit der letzten Monomereinheit der wachsenden Kette unter Regenerierung der aktiven Spezies.
HCH2CHR + n CH2=CHR
H(CH2CHR)CH 2CHR n
Nicht in jedem Falle muss dabei ein Carbeniumkation vorliegen. Bekannt ist auch ein weiterer Typ von Wachstumszentren. Unter den Monomeren wird auch das Tetrahydrofuran genannt, hier vollzieht sich das Wachstum über ein Oxoniumkation.
O
+
H
O
O (CH2)4OH
Für die entsprechende Protonierung des Tetrahydrofurans sind starke Protonensäuren notwendig. In gleicher Weise verläuft die Polymerisation beim Ethylenoxid. Kationische Polymerisationen sind stark abhängig vom Lösemittel und von der Temperatur. Als Lösemittel sind Methylenchlorid, Nitrobenzol, Tetrachlorkohlenstoff, Benzol, aber auch Acceptorlösemittel, wie Nitromethan und Schwefeldioxid, gebräuchlich. Der Grund für die Abhängigkeit der Polymerisation vom Lösemittel liegt wie bei der anionischen Polymerisation darin, dass verschiedene wachsende Spezies vorliegen, also freie Ionen, Ionenpaare, polarisierte covalente Bindungen, aber auch Ionenassoziate (unten dargestellt ohne letzteres), teilweise gefunden an Polyvinylethern und Polystyrol. PGAG
PA
P/S/A
P + A
Die Dielektrizitätskonstanten der Lösemittel beeinflussen das Ionisationsgleichgewicht in dem Sinne, dass z.B. Lösemittel mit niedriger Dielektrizitätskonstante Ionenpaare weniger dissoziieren, d.h. die Wachstumsreaktion verläuft langsamer und unvollständig. Der Einfluss der Temperatur begründet sich damit, dass Eliminierungsreaktionen eine höhere Aktivierungsenergie aufweisen als elektrophile Additionen, d.h. niedrigere Polymerisationstemperaturen begünstigen höhere Polymerisationsgrade. Es liegen aber insgesamt wesentlich weniger Angaben vor als bei der anionischen Polymerisation. Wie oben angegeben, ist das Gleichgewicht vom Lösemittel und von der Temperatur abhängig, aber offensichtlich gegenüber der anionischen Polymerisation stärker in Richtung der freien Ionen verschoben. Oxoniumionen sind stark solvatisiert. Man misst also auch hier eine mittlere Wachstumsgeschwindigkeitskonstante kw für die vorliegenden Spezies im Bereich von 107 bis 104 dm3 mol1 s1 bei den verschiedensten Polymerisationssystemen. Da sich gleichsinnig geladene Carbokationen abstoßen, sollten also lebende Polymere vorliegen. Die kationisch wachsenden Spezies sind aber wesentlich weniger stabil als die Anionen bei der anionischen Polymerisation, da sie Isomerisierungs-, Abbruchs- und Übertragungsreaktionen eingehen. Aus diesem Grunde sind echte lebende Polymere bei der kationischen Polymerisation seltener. Als Beispiel wären die als erstes gefundenen lebenden Polymere des Isobutylvinylethers, initiiert durch HJ/ZnJ2 oder HJ/Jod, zu nennen.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
CH 2
CH + HJ
HCH 2
CHJ + J2
G
G
HCH 2 CH J
87
J2
OR OR OR Wie die allgemeine Ethergruppierung in der Formel zeigt, sind von den verschiedensten Vinylethern und auch funktionalisierten Vinylethern lebende Polymere nachgewiesen worden. Mit Isobutylen erzielte man die ersten lebenden Polymere mittels des Katalysatorsystems BCl3/Cumylacetat bei 30 qC. Auch vom Styrol und D-Methylstyrol sowie von weiteren Monomeren sind lebende Polymere unterhalb 30q synthetisiert worden. Darüber hinaus wurden weitere Initiatorsysteme für lebende Polymere entwickelt, z.B. auf Basis von Phenylethylhalogenid/SnCl4/Tetrabutyl-ammoniumhalogenid, Diethylaluminiumchlorid/Ether und Acetylperchlorat, letzteres für p-Methoxystyrol. Die Herstellung dieser lebenden Polymere gestattet nun auch den gezielten Aufbau von Polymeren mit definierter Struktur wie auch von Blockcopolymeren. Es ist auch in der Literatur über „quasilebende“ Polymerisationen berichtet worden. Für die Beurteilung einer derartigen Aussage in bezug auf die Definition des Begriffs lebende Polymere sollte man doch die Kriterien von Szwarc zugrunde legen. Nur solche Polymerisationen sind lebend, bei denen Übertragungs- und Abbruchreaktionen abwesend oder vernachlässigbar sind. Dies bedeutet, dass das Zahlenmittel des Polymerisationsgrades linear mit dem Umsatz zum Polymer ansteigt. Eine absolute Zahl und einen Beweis für die Abwesenheit von Abbruch und Übertragung sind Daten wie ka/kw und kü/kw, aber sie sind selten vorhanden. Berichtet wurde auch über schlafende Polymere, z.B. durch den Übergang des aktiven Zentrums in eine kovalente Bindung. Polymere, erhalten durch nicht lebende kationische Polymerisation, ergeben oft breite oder polymodale Polymerisationsgradverteilungen. Gründe dafür können sein: langsame und unvollständige Initiierung, Übertragung, Abbruch, Umwandlung der aktiven Zentren sowie langsamer Austausch zwischen verschiedenen aktiven Zentren. x Struktur- und Stereoisomerien bei der kationischen Wachstumsreaktion Das kationische Wachstum wird bei verschiedenen Olefinmonomeren von Strukturisomerien begleitet, die durch intramolekulare Umlagerungen entstehen. So wird z.B. aus dem 4-Methylhexen-1 durch Hydridwanderung folgender Grundbaustein gebildet: CH2 CH CH2 CH CH3 CH2
H 3C CH2 CH2 CH2 C H5C2
CH3
Die Bildung derartiger Phantompolymere ist begründet durch den Energiegewinn beim Übergang von einem sekundären in ein tertiäres Carbeniumion. Aus diesem Grunde zeigen auch andere verzweigte Olefine derartige Polymerisationen. Methylgruppenwanderungen, z.B. beim 3,3-Dimethylbuten-1, sind ebenfalls bekannt geworden. Eine bemerkenswerte Strukturisomerie ist von der Wachstumsreaktion des Isoprens bekannt. Bei der kationischen Polymerisation zu 1,2-Polyisopren tritt eine Cyclisierung unter Bildung nachstehender Struktur auf. Me
Me
Die Stereoisomerie der Polyvinylether ist historisch wichtig und wurde erstmals von Schildknecht entdeckt. Die Bezeichnungen „isotaktisch“ und „syndiotaktisch“ wurden allerdings erst von Natta
88
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
eingeführt. Alkylvinylether lassen sich mit kationischen Initiatoren homogen und heterogen isotaktisch polymerisieren. Der Initiator beeinflusst die Stereoregularität des Polymers, da durch ihn teilweise der Charakter der aktiven Spezies vorgegeben wird. Einen weiteren Einfluss übt das Lösemittel durch Beeinflussung der aktiven Zentren aus. In polaren Lösemitteln bilden sich bevorzugt syndiotaktische Konfigurationen, in unpolaren Lösemitteln isotaktische. Hier setzen auch verschiedene mechanistische Erklärungen an. Monomere und Temperatur üben weitere Einflüsse aus. Große Alkylsubstituenten am Monomer und tiefe Temperaturen begünstigen isotaktische Anordnungen. Kettenabbruch Die kationische Polymerisation zeigt im Gegensatz zur anionischen Polymerisation eine Vielfalt von Abbruchreaktionen der makromolekularen Kette, z.B. Kettenabbruch und Kettenübertragung, bedingt dadurch, dass das kationische Kettenende auch Isomerisierungsreaktionen eingeht. Bei einer kritischen Wertung muss man feststellen, dass offensichtlich der Abbruch der makromolekularen Kette und der kinetischen Kette als echter Kettenabbruch wesentlich seltener auftritt als die Kettenübertragung. Dabei wird hier der beabsichtigte Kettenabbruch zum Beenden der Polymerisation durch z.B. einen Überschuss an Wasser oder Basen nicht betrachtet. Kettenabbruch tritt ein, wenn sich ein stabilisiertes Kation bildet, welches nicht in der Lage ist, das Kettenwachstum weiterzuführen. Einmal kann der Abbruch durch das Monomer erfolgen, der sogenannte Allylabbruch.
CH2 CH2 + CH2...CH... CH2
CH2 CH + CH2 CH CH3
CH3
CH3
Wesentlich mehr verbreitet ist der Abbruch durch Reaktion mit dem Gegenion. PF + BF3 P + BF4 Derartige Reaktionen können allerdings auch reversibel sein. Für Vinylether mit Protonensäuren findet man in der Literatur die Bildung ungesättigter Endgruppen. CH2 CH CH2 CH CH CH OR
H O R
OR
Für das Polystyrol ist folgende Abbruchendgruppe beschrieben. CH2 CH CH2 CH
Zuletzt sei noch der gezielte Kettenabbruch mittels Wasser formuliert. P + 2 H2O
POH + H3O
Kettenübertragung Die Kettenübertragung bei der kationischen Polymerisation kann zum Monomer, zum Lösemittel, zum Gegenion und zum Polymer eintreten. Formal gesehen ist eine Ähnlichkeit mit der radikalischen Polymerisation vorhanden. Der Unterschied besteht allerdings darin, dass hier die Reaktivität des Kations eine wesentliche Rolle spielt. Diese Reaktivität der Kationen ist aber abhängig vom Lösemittel, von der Temperatur und von der Konzentration. Daraus erklärt sich, dass unter manchen Reaktionsbedingungen entweder eine Übertragung eintritt oder auch nicht. Den klassischen Fall der Übertragung zum Monomer stellt die Isobutylenpolymerisation dar.
CH2 C(CH3)2 + CH2 C(CH3)2
CH2 C CH2 + CH3 C(CH3)2 CH3
Diese Übertragungsreaktion läuft bei Normaltemperatur der Wachstumsreaktion den Rang ab, so dass nur Oligomere entstehen. Eine ungewöhnlich starke Abhängigkeit des Polymerisationsgrades
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
89
von der Temperatur liegt hier vor, ist aber für alle kationischen Polymerisationen charakteristisch (s. Abbildung 3.4). Daher kann man hochmolekulares Polyisobutylen nur bei tiefen Temperaturen erreichen, weshalb die industrielle Polymerisation bei 80 bis 100 qC durchgeführt wird. Übertragungen zum Gegenion sind von Vinylethern bekannt.
CH2 CH A
CH CH + H A
OR
OR
Übertragungen zum Lösemittel kennt man z.B. von der Isobutylenpolymerisation. CH3 CH3 CH2 C CH2 C Cl + CH3 + CH3Cl CH3 CH3 Bei der Übertragung zum Polymer bilden sich verzweigte Polymere.
CH2 CHR +
CH2 CHR CH2
CH2 CH2 R +
CH2
CR CH2
Abbildung 3.4: Temperaturabhängigkeit des Polymerisationsgrades Pn bei der Isobutylenpolymerisation (J.P.Kennedy, R.G. Squires, Polymer 6(1965)579)
Die lebende kationische Polymerisation gestattet es, durch Auftragung von Pn gegen [M0]/[I0] die Übertragung mehr qualitativ zu beleuchten. Derartige Abhängigkeiten sollten für lebende Polymere bis zu hohen Pn von ca. 1000 linear sein, wie es die Polymerisation von Inden mit TiCl4/Cumylmethylether in Methylenchlorid bei 75 qC zeigt. Aber bereits bei 45 qC ist ab Pn 200 diese Linearität nicht mehr vorhanden, und Übertragungsreaktionen treten ein. Polare Lösemittel fördern ebenfalls die Übertragung, d.h. dieselbe verläuft leichter mit freien Ionen als mit Ionenpaaren. Auch bei der Kationischen Polymerisation ist der Einsatz von Inifers beschrieben, wie z.B. 2Chlorisopropylbenzol + Bortrichlorid zur Molmassenregulierung bei Isobuten.
90
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Elektrochemische Polymerisation Unter einer elektrochemischen Polymerisation versteht man die anodische Oxidation von Monomeren unter Bildung von Radikalkationen, die gleichzeitig über die radikalische Funktion rekombinieren und so polymerisieren. Ein bekanntes Beispiel ist Pyrrol.
. N
N H
H H N N H H
H
H
2H
N H
n
Die Polymerisation verläuft in polaren Lösemitteln unter Zusatz eines Elektrolyten, wie z.B. Tetraethylammonium-tetrafluoroborat und führt zu einem blauschwarzen Film auf der Anode. Das Tetrafluoroborat des Polypyrrols hat eine Leitfähigkeit von 102 S cm1. Auch durch rein chemische Oxidation mit H2O2 und Polymerisation ist Polypyrrol herstellbar. Es ist auch darstellbar in Form von Membranen, Nanopartikeln, Nanofasern, Nanoröhren, Nanokompositen und Kern-HülleMaterial. In ähnlicher Weise sind andere Heterocyclen wie Thiophen, Pyrrol, Furan, Carbazol, Indol, aber auch Anilin polymerisierbar. Letzteres weist als Salz vorliegend, eine blaue Farbe mit einer Leitfähigkeit von 5 S cm1 auf. NH
NH n
Polyanilin lässt sich auch enzymatisch sowie auch in z.B. HCl-saurem Medium mit (NH4)2S2O8 herstellen. Auch Polyanilin ist in Form von Nanopartikeln, Kern-Hülle-Material, Nanofasern, Nanostäbchen, Nanoröhren, Nanofilmen und Nanokompositen hergestellt worden. Zu den elektrischen Eigenschaften siehe auch Kap. 5.4.2.2 3.1.3 Koordinative Polymerisation Die Polymerisation mittels Übergangsmetallverbindungen hat zwei besondere Spezifika. Das erste ist, dass das Monomer vor dem Einbau an der Übergangsmetallverbindung koordiniert und vororientiert wird, daher auch „koordinative Polymerisation“ als ältere Bezeichnung für diese Art der Polymerisation. Zum zweiten wird das Monomer in eine Übergangsmetallalkylbindung eingeschoben, und man nennt diese Polymerisationsart auch „Polyinsertion“. Beide Bezeichnungen kennzeichnen also jeweils unterschiedliche Vorgänge während der Polymerisation. Die bekanntesten Übergangsmetallverbindungen, die derartige Polymerisationen initiieren und fortpflanzen, sind Ziegler-Natta-Katalysatoren (Nobelpreis). Historisch ist hier der Begriff Katalysator zuerst gewachsen und hat auch im wahren Sinne seine Berechtigung, weil an dem Teil des Katalysators, der die Übergangsmetallverbindung enthält, auch die einzelnen Polymerisationsschritte vor sich gehen, andererseits geht aber der Katalysator nicht unverändert aus der Polymerisation wieder hervor. Eine Besonderheit der Polymerisation mittels Übergangsmetallverbindungen ergibt sich aus der oben stehenden Vororientierung des Monomers, wodurch man in der Lage ist, stereoreguläre Polymere herzustellen, die sich durch vorteilhafte Werkstoffeigenschaften auszeichnen. Man nutzt dies gezielt z.B. zur Herstellung von cis-1,4-Polybutadien und von isotaktischem Polypropylen. Es soll aber daran erinnert werden, dass es bei der anionischen und kationischen Polymerisation (Kapitel 3.2) ebenfalls möglich ist, mittels spezieller Initiatoren durch Koordination des Monomers an die aktive Spezies stereoreguläre Polymere zu erzeugen. Eine weitere Besonderheit liegt darin, dass derartige Katalysatoren in der Lage sind, Monomere aus Verbindungsklassen wie Olefine, Cycloolefine, Diene und Acetylene zu polymerisieren, die früher nicht (Propylen, Cyclopenten) oder nur unter extremen Bedingungen (Ethylen) polymerisiert werden konnten bzw. nur zu einer ungünstigeren Mikrostruktur des Polymers führten (Polybu-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
91
tadien). Aus diesen Besonderheiten resultieren die technische und wirtschaftliche Bedeutung der mit Übergangsmetallverbindungen hergestellten Polymere (Tabelle 3.10). Nicht zuletzt sei noch vermerkt, dass Polyolefine, wie Polyethylen und Polypropylen, wiederverwertbare Thermoplaste sind bzw. die dort nicht wiederverwendbaren Abfälle ohne Abgabe von Schadstoffen verbrannt werden können, da „nur“ Kohlendioxid frei wird (s. Kapitel 8). Tabelle 3.10: Hauptanwendungsgebiete mittels Übergangsmetallkatalysatoren industriell hergestellter Polymere
Polymer Polyethylen hoher Dichte (HDPE) Ethylen-Propylen-Block-Copolymere Ethylen-Propylen-Dien-Terpolymer (EPDM) Ethylen-Buten-Copolymer (LLDPE)
Struktur
isotaktisch
Polypropylen
isotaktisch
1,4-Polybutadien 1,4-Polyisopren Polypentenamer Poly-4-methylpenten-1 Polydicyclopentadiene Norbornenpolymere
ciscistransisotaktisch
Hauptanwendungsgebiet Thermoplast: Behälter, Rohre, Platten Thermoplast: Behälter Elastomer: alterungsbeständig für Isolierungen, Seitenverblendungen für Reifen Thermoplast mit verbesserter Sprödbrüchigkeit; Filme, Verpackung Thermoplast: Geräteteile, Behälter, Platten Technische Faser: Seile, Netze Elastomer: Reifen, Fördergurte, Isolierungen Elastomer: Reifen, Beschichtungen Elastomer: Reifen Thermoplast: Medizinische Geräte Thermoplast: Geräteteile Thermoplast: Gießharze, Geräteteile
3.1.3.1 Polymerisation der Olefine Ziegler-Natta-Katalysatoren Unter Ziegler-Natta(ZN)-Katalysatoren versteht man die nach ihren Entdeckern benannten Übergangsmetall-Katalysatorsysteme, bestehend aus einer Übergangsmetallverbindung (Ü) der III. bis VIII. Nebengruppe und einer metallorganischen Verbindung oder einem Hydrid (Al) der I. bis IV. Hauptgruppe des Periodensystems. aktiver ZN-Katalysator Ü + Al Nicht alle möglichen Kombinationen sind aktiv. Bestimmte Übergangsmetallverbindungen polymerisieren nur bestimmte Monomere. So polymerisieren Katalysatorsysteme aus der IV. bis VI. Nebengruppe (wie drei- bis fünfwertige Halogenide und Alkoxide des Titans, Zirkons und Vanadins) in Kombination mit Aluminiumalkylen bzw. Aluminiumalkylhalogeniden (AlR3nHaln, mit n = 0, 1 oder 2) nur Olefine, wie Ethylen, Propylen, Buten, 1,4-Methylpenten-1 und Styrol, Katalysatorsysteme aus der III. bis VIII. Nebengruppe dagegen Diene, diese aber je nach Gruppe zu verschiedenen stereoregulären Polymeren bzw. Produkten mit verschiedener Mikrostruktur. x Heterogene Katalysatoren Bei der Reaktion der klassischen Katalysatorsysteme aus Titanverbindungen und Aluminiumalkylen für die Olefinpolymerisation, hier demonstriert an Titantetrachlorid plus Aluminiumtriethyl, entsteht ein heterogener Katalysator, bestehend aus Titantrichlorid.
TiEtCl3 + AlEt2Cl TiCl4 + AlEt3 TiCl3 + Et TiEtCl3 Je nach Reaktionsbedingungen erhält man 4 verschiedene Titantrichlorid-Modifikationen: D -TiCl3 durch Reduktion von TiCl4 mit H2 oberhalb 400 qC, E -TiCl3 aus TiCl4 mit Al-alkylen oder H2 unterhalb 100 qC,
92
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
J -TiCl3 0,33 AlCl3 aus TiCl3 mit Al-alkylen bei 150-200 qC, G -TiCl3 durch langes Mahlen von D - und J -TiCl3. D -, J - und G -TiCl3 sind violett und kristallin, E -TiCl3 ist braun und amorph. Diese Katalysatoren der ersten Generation zeigen zusammen mit Aluminiumalkylen eine niedrige Produktivität an Polymeren. Einen weitgehend akzeptierten Mechanismus für diese Polymerisation schlugen Cossee und Arlman vor. Titantrichlorid im Kristallverband wird durch die aluminiumorganische Verbindung alkyliert, wobei sich ein aktives Zentrum oktaedrischer Struktur mit einer koordinativen Leerstelle ( ) bildet. Dieses Alkylübergangsmetallhalogenid bildet normalerweise mit der aluminiumorganischen Verbindung einen Komplex (Bimetall-Mechanismus). R X X = Halogen X Ti R = Alkyl X X In die Leerstelle lagert sich das Olefin ein, wobei nach obigen Autoren sich die molekularen Orbitale überlappen unter Ausbildung einer S-Bindung zwischen dem Olefin und dem Übergangsmetall (s. Abbildung 3.5). Dadurch wird die Bindung zwischen dem Übergangsmetall und der Alkylgruppe destabilisiert und das Olefin unter Verlängerung des Alkylrestes um eine Monomereinheit zwischen beiden eingeschoben (Insertion!). In gleicher Weise findet das weitere Wachstum statt. Ein anderer Mechanismus wird für die Reaktion des Olefins mit der Alkylgruppe vorgeschlagen, wobei der entsprechend verlängerte Alkylrest jetzt an der Stelle der ursprünglichen Leerstelle sitzt. Ein Platzwechsel der Alkylkette in die ursprüngliche Position ist allerdings erforderlich, um die Bildung isotaktischer Polymere zu erklären. Es gibt weitere Mechanismenvorschläge, z.B. mit zwei koordinativen Leerstellen. Durch Experimente belegt dagegen ist die Polymerisation mit Hilfe des Übergangsmetallhalogenids als Katalysator allein, d.h. ohne Anwesenheit einer aluminiumorganischen Verbindung (Monometallmechanismus), wobei diese Katalysatoren eine deutlich geringere Produktivität zeigen. Dies liegt sicher darin begründet, dass die Bildung der ersten MetallKohlenstoff-Bindung, z.B. mit dem Monomer, langsam und mit niedriger Konzentration verläuft.
Abbildung 3.5: Schematische Darstellung der entsprechenden Orbitale in der x - y - Ebene eines Übergangsmetall-Olefin-Komplexes
Insgesamt ist die geringe Aktivität der Ziegler-Natta-Katalysatoren der ersten Generation auf die niedrige Konzentration, genannt aktives Zentrum (da nur auf der Oberfläche des kristallinen
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
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TiCl3) der ÜbergangsmetallKohlenstoffbindung, zurückzuführen. Man findet unter 1 % aktive Zentren, bezogen auf das Titan. Katalysatoren der zweiten Generation erhält man durch den Zusatz von Donatoren, wie Ether, Ester, Ketone, Amine, Amide, Phosphine u.a., zu obigen Titan/Aluminium-Katalysatoren. Dabei tritt eine Komplexbildung mit der aktiven Spezies oder dem Aluminiumalkyl ein, bei ersterem unter Bildung sterisch gehinderter aktiver Zentren höherer Stereospezifität und somit unter Erhöhung der Stereoregularität der Polymere, bei letzterem unter Verminderung des Reduktionsvermögens bzw. Erhöhung der Polymerisationsgeschwindigkeit, wenn man ein Aluminiumalkylhalogenid einsetzt. Katalysatoren der dritten Generation sind Trägerkatalysatoren aus vorwiegend Titantetrachlorid und einer Magnesiumverbindung, wie Magnesiumchlorid, -ethylat oder -oxid (in einem 30fachen Überschuss als Träger), und einem inneren Donor, vorwiegend 1,3-Diether, Benzoesäureethylester, Phthalsäureester, gemahlen in Kugelmühlen. Diese Katalysatoren werden außerdem mit Aluminiumalkylen und anschließend einem Donor, genannt äußerer Donor (z.B. Alkoxisilan), aktiviert. Die Ionenradien des vierwertigen Titans und zweiwertigen Magnesiums unterscheiden sich nur um ca. 4 %! Die hohen Produktionsaktivitäten, d.h. > 50 kg Polypropylen/g Titanverbindung mit einer Isotaktizität > 90 %, erklären sich aus der feinen Verteilung des Katalysators (größere Oberfläche mit mehr aktiven Zentren). Als aktives Zentrum für die Isospezifität des Katalysators wird folgendes Modell vorgeschlagen. H P C H Cl Cl Ti D Mg Cl
Es konnten Konzentrationen an aktiven Zentren von 22 % erreicht werden. Die Molmassenverteilung ist breit bedingt durch verschiedene aktive Zentren. Mit diesen Trägerkatalysatoren lassen sich speziell sphärisch gestaltete Katalysatorpartikel (wichtig für Fällungs- und Gasphasenpolymerisationen) synthetisieren. Der Primärkatalysator zerfällt während der Polymerisation in 5 bis 15 nm große Sekundärteilchen und beeinflusst somit gezielt die Polymermorphologie. Die Copolymerisation mit anderen Olefinen wurde beschrieben. Neben diesen Katalysatoren, deren katalytische Wirkung auf den Einbau des Titans in das Magnesiumchlorid-Gitter zurückgeht, wurden auch Katalysatoren entwickelt, bei denen an die Hydroxylgruppen des Siliciumdioxids Titantrichlorid chemisch gebunden ist. Eine Parallelentwicklung sind die Phillips-Katalysatoren, die Ethylen bei einem Mitteldruck bis 40 bar und zwischen 80 bis 100 qC polymerisieren. Sie bestehen aus dem Träger Siliciumdioxid, auf dem unter 1 % Chrom aufgebracht und zu zwei- oder dreiwertigem Chrom reduziert wurde. Auch Chromocen, gebunden auf dem Siliciumdioxid, polymerisiert Ethylen recht gut. Ebenfalls relativ gute Aktivität zeigen an die Hydroxylgruppen des Siliciumdioxids gebundene Zirkonbenzylverbindungen. x Homogene Katalysatoren Industriell genutzt werden die oben beschriebenen heterogenen Trägerkatalysatoren. Wie später noch zu erwähnen sein wird, ist die Aufklärung des Reaktionsmechanismus mit heterogenen Katalysatoren schwierig. Daher begann die Entwicklung mit löslichen Metallocen-Katalysatoren als Modellsubstanzen, wie Biscyclopentadienylethyltitanchlorid, welches mit Aluminiumalkylen Ethylen, aber nicht Propylen, mit niedriger Produktivität polymerisierte. Dafür wurde 1950 auch ein kationischer Mechanismus vorgeschlagen:
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3.1 Kettenwachstumsreaktionen
[Cp2TiR AlRCl3] Cp2TiR + RAlCl3 Syndiotaktisches Polypropylen ist mit Vanadintetrachlorid in Kombination mit Aluminiumtriethyl oder Aluminiumdiethylchlorid unterhalb 40 qC hergestellt worden, mit Vanadintriacetylacetonat/Aluminiumdiethylchlorid sogar als lebendes Polymer. Vanadinoxitrichlorid in Kombination mit Aluminiumalkylhalogeniden hat sich für die Copolymerisation Ethylen/Propylen zum APTKautschuk durchgesetzt. Lösliche Katalysatoren wurden auch auf der Basis von Übergangsmetallalkoxiden für die Polymerisation des Vinylchlorids, Vinylidenchlorids und Vinylfluorids vorgeschlagen, wie auch Titanund Zirkonbenzylverbindungen für Olefine und Methylmethacrylat. Erwähnt sei an dieser Stelle ebenfalls die alternierende Copolymerisation Ethylen-Kohlenmonoxid, die mit Palladiumacetat/1.3Bis(diphenylphosphinopropan) zu einem Polyketon mit einem Schmelzpunkt von 257 qC führt. Alternierende Ethylen/Styrol-Copolymere lassen sich mit dem Katalysator 1,10-Phenanthrolin- Pd(pCH3C6H4SO3) darstellen. Die löslichen Metallocenkatalysatoren haben eine bemerkenswerte Entwicklung durchlaufen. 1977 entdeckte man, dass Dicyclopentadienylzirkondichlorid Cp2ZrCl2 mit Methylalumoxan (MAO) bei der Propylenpolymerisation gleiche und höhere Aktivitäten wie die Trägerkatalysatoren auf Magnesium aufweist, allerdings zu ataktischem Polypropylen führt. Dabei stellt MAO ein Teilhydrolyseprodukt des Al(CH3)3 dar (Molmassen von bevorzugt 1200 – 1600) mit folgender Grundeinheit (CH3)2AlO AlOAlO Al(CH3)2 . y Al(CH3)3 CH3 CH3
x
Im Jahre 1985 folgte dann die Vorstellung der ersten Ansa-Metallocene,
ZrCl2
die mit MAO isotaktisches Polypropylen mit mittlerer Molmasse 15000 (Fp bis 165 0C) ergaben. In der Zwischenzeit ist das Bauprinzip der Metallocene vielfach variiert worden, und man kann so auch isotaktisches Polypropylen mit Mn > 500000 erhalten. Die Variation der Ansa-Metallocene war in vielfältiger Weise möglich. Weitgehend erhalten blieb Zr als Zentralatom und nur in einzelnen Fällen sind Ti (constrained geometric catalyst (CGC) zu Langkettenverzweigungen), Hf, Th, Ni, (polymerisieert sogar in wässr. Medium Ethylen), Co, Fe, Cr, Pd, Sc, La, Y, Lu, Nb, Ta oder V, letzteres für die Copolymerisation Ethylen/Propylen, eingesetzt worden. Über die Variation der Metallocen-Strukturen, vor allem des Liganden-Substitutionsmusters lassen sich Struktur und Materialeigenschaften der Polymeren mit früher unvorstellbarer Präzision steuern. Als Ligandenkombinationen dienten jeweils zwei Moleküle des Indens, Tetrahydroindens, Isopropylindens, Phenylindens, Bisindens, Fluorens, Cyclopentadiens, Butadien Pentadien sowie ein Inden mit einem Cyclopentadien (syndiotaktisches Polypropylen, Tm = 180 qC) meistens als Sandwich- aber auch Halbsandwichstruktur. Der Ligand kann noch substituiert sein, wie z.B. im Inden als 3-Me-, 3-SiMe3-, 4,7Me2-, Alkenyl, 3-OMe-, 5,6-OMe-, 6-F- oder 5-Cl-Inden. Ebenfalls viele Möglichkeiten ergeben sich bei der Ansa-Brücke: Et, CMe2, CH(Et)CH2, (CH2)5, SiMe2, SiPh2, SiMe2SiMe2. Durch geeignete Kombination dieser Baugruppen gelang es, chirale, lösliche Metallocenkatalysatoren herzustellen, die je nach Struktur isotaktisches, ataktisches, syndiotaktisches oder Stereoblockpolypropylen gewünschter stereoregulärer Reinheit und gewünschter Molmasse, Molmassen-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
95
verteilung, unterschiedlicher Verzweigung mit Schmelzpunkten zwischen Ölen und 165 qC ergaben. Industriell hergestellt wird auf diese Weise bereits isotaktisches Polypropylen sowie verschiedene Copolymere. Über die Gasphasenpolymerisation ist berichtet worden. Zum Mechanismus wird angenommen, dass das Methylaluminoxan das Metallocen alkyliert und dieses mit dem Olefin einen Komplex ergibt, der auch als Kontaktionenpaar Cp2ZrR(Olefin) MAOX formuliert wird, wobei das Wachstum der Polymerkette am Zirkon stattfindet. Ein kationisches Wachstum des Propylens ist vom [C2H4(Ind)2Zrbenzyl] bzw. vom [Cp2ZrMe]B(C6F5)4 bekannt, also von Komplexen ohne MAO. Dies ist insofern von Interesse, da man MAO in einem bis zu 200fachen Überschuss gegenüber dem Metallocen anwendet. Ein Vergleich und weitere Arbeiten zeigen außerdem, dass die Polymerisationsaktivität durch das Anion beeinflusst wird. Mit Metallocen/MAO-Katalysatoren erzeugte Polyolefine zeigen eine enge Molmassenverteilung mit Polydispersitäten von Mw/Mn zwischen 1,5 bis 2,5. Daher bezeichnet man solche Katalysatoren als „single site“-Katalysatoren. Es liegt also nur ein aktives Zentrum vor. Aber auch über Zirkonocen-Katalysatoren mit zwei unterschiedlichen Koordinationsstellen (dual-site-catalysts) zur gezielt variablen Einstellung von Stereofehlern über die Monomerkonzentration des Polypropylen ist berichtet worden. Die anderen Olefine sind ebenfalls mit Metallocenkatalysatoren auf gleiche Art polymerisierbar. Ein Teil der ersten Untersuchungen wurde z.B. mit Ethylen durchgeführt; Styrol führt zu isotaktischem (Tm = 224 qC) und syndiotaktischem (Tm = 276 qC) Polystyrol, Butadien zu Polybutadien mit über 80 % cis-Einheiten. Cycloolefine sind unter Erhalt des Ringes polymerisierbar und z.B. mit Ethylen copolymerisierbar; nichtkonjugierte Diene sind cyclopolymerisierbar.
Bei den Copolymeren ist das Ethylen/Propylen-Copolymer als Elastomer von Interesse. Unter Variation des Metallocen-Katalysators kann man die r-Werte um zwei Größenordnungen verändern. Auf diese Weise lässt sich die Synthese von alternierenden und Blockcopolymeren, den thermoplastischen Elastomeren, einfacher gestalten. Die Copolymerisation von Ethylen mit anderen höheren D-Olefinen, z.B. Octen-1 zu Elasten, mit Styrol und Cycloolefinen, Norbornen, Cyclohexadien, Butadien und höheren Dienen ist ebenfalls durchgeführt worden. Auch über die Blockcopolymerisation Propylen/Methylmethacrylat (MMA) ist berichtet worden. Die stereospezifische Homopolymerisation von MMA war mit einem THF koordinierten Zirkonocen möglich. Die fortschreitende Entwicklung führte dazu, dass die Metallocen-Katalysatoren auf Träger immobilisiert wurden. Als Träger dienten Polystyrol, Styrol-ethylenoxid- oder –vinylpyridincopolymere, Al2O3, MgCl2, MgO, TiO2, CaF2 sowie SiO2. Mit den geträgerten Metallocenen gelang die Herstellung sowohl von Polyolefinen (auch isotaktisches Polypropylen) wie auch von Copolyolefinen. Ebenso ist die Polymerisation in Gegenwart von Füllstoffen wie Stärke, Cellulose, Quarz, Zeolithen und Metallpulvern möglich. In eine andere Richtung geht die Beschichtung von NanoSiO2, Nano-Carbonfasern, Nano-Composits, Al2O3, BN, CaCO3 und Montmorillonit. Mittels ZrMetallocen/MAO-Katalysatoren kann man Ethylen oder auch Propylen auf die Nanomaterialien aufpolymerisieren zu gleichmäßigen syndiotaktischen oder isotaktischen (beim Polypropylen) Schichten zwischen 5 und 100 nm. Als neue Katalysatorklasse werden kationische Pd(II)- und Ni(II)-Komplexe mit Diaminen ArN=C(R)-C(R)=NAr aktiviert mit MAO vorgestellt zur Herstellung von Polyethylen, lebenden Polypropylen und dessen Olefinblockcopolymeren. Ähnlich wirken Titandiamidverbindungen. Palladiumkomplexe copolymerisieren auch Ethylen mit polaren Monomeren insbesondere Acrylsäureester. Auch über katalytische Eisen- und Cobaltkomplexe obigen Typs ist berichtet worden. Beson-
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3.1 Kettenwachstumsreaktionen
ders bemerkenswert ist die Polymerisation von Ethylen in Wasser mit Nickel(II)phosphinoenolatoder Nickel(II)salicylaldiaminato-Komplexen in einer Miniemulsionspolymerisation. Zur Gruppe der Metallocenverbindungen gehören auch die Seltenerdmetallocene auf Basis von LnMe(C5 Me5)2 mit z.B. Ln = Sm;Y die unpolare und auch polare Monomere wie Alkylacrylate „lebend“ monodispers und auch syndiotaktisch zu hohen Umsätzen polymerisieren können. Auch Blockcopolymere sind möglich. Lanthanalkoxide ergeben überdies monodisperse Polymere von Lactonen, Lactiden und Oxiranen sowie Alkylisocyanaten. Zurzeit befindet sich das gesamte Gebiet im Fluss. 3.1.3.2 Polymerisation der Diene Die Polymerisation der Diene zeichnet sich deshalb durch eine weitere Vielfältigkeit aus, weil eine 1,4-Addition zum cis- und trans-1,4-Polybutadien, eine 1,2- oder 3,4-Addition zum isotaktischen und syndiotaktischen 1,2-Polybutadien bzw. entsprechend anderen Polydienen führen kann und beabsichtigt wird, abgesehen von Mischstrukturen. An dieser Stelle soll anhand der wichtigsten Katalysatorsysteme nur Polybutadien und Polyisopren behandelt werden. x Titanhaltige Katalysatorsysteme Titantetrachlorid wird mit Aluminiumalkylen reduziert zu zwei- und dreiwertigen Titanverbindungen, letztere zu den bereits genannten Modifikationen. D- und E-Titantrichlorid/Aluminiumtriethyl ergibt ein Polybutadien gemischter cis-trans-Struktur. Für die Herstellung des cis-1,4-Polyisoprens ist offensichtlich Titantetrachlorid/Aluminiumtriethyl (1:1) das System der Wahl mit einem cisGehalt von 97 %. Ähnlich hohe cis-Gehalte beim Polybutadien (93 %) erhält man nur, wenn man dem Katalysatorsystem Titantetrachlorid/Aluminiumtriisobutyl Jod zusetzt oder in die Katalysatorkomponenten Jod einführt. Als aktive Spezies wurde Alkyltitanjodchlorid genannt. Lösliche Katalysatoren auf der Basis von Titanalkoxiden und Aluminiumtrialkyl ergeben vorwiegend ein trans-1,4-Polybutadien oder ein 3,4-Polyisopren, mit ButCpTiCl3/MAO auch ein cis1,4-Polyisopren und mit MeCpTiF3/MAO ein Cis1,4-Polybutadien. x Katalysatoren der V. und VI. Nebengruppe Vanadinoxitrichlorid, Vanadintetrachlorid und Vanadintrichlorid werden mit Aluminiumtrialkyl zu zwei- bis dreiwertigen Vanadinverbindungen reduziert und geben für konjugierte Diene einen hohen trans-Gehalt des Polydiens. Chrom- und molybdänhaltige Katalysatoren sind wenig untersucht, aber chromtriacetylacetonathaltige Systeme geben bei niedrigen Al/Cr-Verhältnissen ein 1,2-Polybutadien mit hohem syndiotaktischem Anteil. Uranhaltige Katalysatorsysteme, z.B. Urantriallylhalogenide, geben ein 99%iges cis-1,4-Polybutadien, haben sich aber aus Umweltschutzgründen nicht durchsetzen können. x Katalysatoren der VIII. Nebengruppe Cobalthaltige Katalysatoren, vorwiegend auf dem löslichen Cobaltoctoat in Kombination mit Aluminiumdiethylchlorid basierend, erfordern Wasser als dritten Bestandteil bzw. andere Aktivatoren. Es wird die Bildung von Alumoxanen angenommen. Höher chlorhaltige Aluminiumverbindungen benötigen das Wasser nicht. Mit diesem System wird ein 99%iges cis-1,4-Polybutadien erhalten. Cobaltsysteme sind gut untersucht, z.B. gibt das System Cobaltverbindung/Aluminiumdiethylchlorid/Triethylamin ein bis 95%iges trans-1,4-Polybutadien, das System Cobaltdiacetylacetonat/ Aluminiumtrialkyl/Schwefelkohlenstoff dagegen ein 99%iges syndiotaktisches 1,2-Polybutadien. Nickelhaltige Katalysatorsysteme geben nur in Kombination mit Fluor ein Polybutadien mit 97 % cis-Gehalt. Industriell angewandt wird das System Nickeloctoat/Bortrifluorid/Aluminiumtriethyl. Ersetzt man in S-Allylnickelsystemen das Fluor durch Jod, so erhält man ein trans-1,4Polybutadien. Für Polyisopren sind Nickelkatalysatoren wenig aktiv. Beim Nickel ist auch der Me-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
97
chanismus der Polymerisation am besten untersucht. Wichtigster Schritt der Reaktion der Nickelverbindung mit dem aktiven Kettenende ist die Ausbildung einer K3-Allylbindung (S-Bindung) .CH . . .. . CH2 CH CH2 , Ni F die bei der Anlagerung des neuen Monomers Butadien in eine K1-Alkylbindung (V-Bindung) übergeht und somit das Butadien zweizähnig koordiniert werden kann.
CH2 CH CH CH2 Ni F
CH2 CH CH2 CH CH CH2 CH
CH .. . . . . CH2 CH CH2 Ni F
CH2
Die Ligandensphäre ist für die folgende Insertion des Monomers wichtig. Führt man die Polymerisation in Tetrahydrofuran durch, erhält man trans-1,4-Polybutadien. Für die Erklärung dieses und des obigen Effektes des Jods sollten vorwiegend Effekte der Elektronendichte am Nickel verantwortlich sein. Ein ähnlicher Mechanismus sollte auch bei allen elektronenreichen Übergangsmetallkatalysatoren, z.B. Cobalt, vorliegen. Zur Erklärung der Bildung von 1,2-Strukturen muss man annehmen, dass der Einschub am J-Kohlenstoffatom der Allylgruppe eintritt.
CH2
CH ... . . . CH2 CH Cr
CH CH2 CH2 CH Cr
Insgesamt muss man feststellen, dass die Ausbildung derartiger Mikrostrukturen außerordentlich von den Bestandteilen des Katalysatorsystems (Beispiel: Cobalt, Nickel), von den stöchiometrischen Verhältnissen der Katalysatorsysteme sowie von der Reaktionszeit der Katalysatorbestandteile miteinander (genannt Alterung) abhängt. x Lanthanidkatalysatorsysteme Mehr oder weniger sind alle Lanthaniden als Verbindungen katalytisch aktiv, hier bevorzugt aber das Neodym. Ein typisches Katalysatorsystem stellt das Neodymoctoat/Aluminiumsesquichlorid/ Aluminiumtriisobutyl dar. Es ist in der Lage, ein 1,4-Polybutadien mit bis zu 99 % cis-Gehalt in Lösung zu produzieren. Auch Polyisopren mit hohem cis-Gehalt kann so hergestellt werden. Eine Besonderheit an diesem Katalysatorsystem zeigt sich darin, dass mit ihm auch Copolymere Butadien/Isopren hergestellt werden können. Eine Gasphasenpolymerisation von Butadien zu cis-1,4Polybutadien mit einem Neodymkatalysator auf einem Träger wurde vorgestellt. Trans-1,4-Polybutadien erhält man auch mit Rhodiumsalz in alkoholischer Lösung, wobei dieses keinen typischen Ziegler-Natta-Katalysator darstellt. Eine Herstellung von Polybutadien mit hohem cis-Gehalt in derartigen Lösemitteln gelang bisher nicht. 1,5-Hexadien wird von Metallocenkatalysatoren des Zirkons und auch Katalysatoren des Vanadiums zu cyclischen Strukturen polymerisiert. 3.1.3.3 Wachstumsreaktion und aktive Zentren Aus den in den vorigen Kapiteln geschilderten Darstellungen von Polymeren mit einem hohen Anteil gezielter Mikrostruktur bzw. Stereoregularität mittels ausgewählter Ziegler-Natta-Katalysatoren musste der Eindruck entstehen, dass diese Katalysatoren 100%ig aktiv sind. Dies ist aber nur in
98
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
wenigen Fällen der Fall. Demzufolge ist aus der Gleichung für die Elementarreaktion der Wachstumsreaktion XBr = kw [Kat] [M] die Geschwindigkeitskonstante der Wachstumsreaktion (kw) nur bei Kenntnis der Konzentration des effektiven Katalysators, genannt aktive Zentren, berechenbar. Zur Berechnung der Konzentration der aktiven Zentren [C*] wurde eine Reihe von Methoden angewandt, von denen die wichtigsten hier genannt sein sollen. x Polymerisationsgradmethoden Eine Verfolgung des Polymerisationsgrades mit der Zeit ergibt [C*] unter quasistationären Bedingungen nach folgender Formel: [C*] = d(1/Pn) / d(1/t) XBr Diese Methode ist allgemein anwendbar. Die [C*] zu Beginn der Polymerisation erhält man durch Extrapolation auf den Zeitpunkt null aus: Y/Mn = (1 + kü [X] t) [C*]
Y = Ausbeute ; X = Überträger
x Abbruch(Quenching)-Methoden Bei Anwendung dieser Methoden versetzt man die Polymerisation z.B. mit radioaktivem Jod, tritiierten oder deuterierten Alkoholen oder Wasser. Letztgenannte Methoden sind nicht anwendbar auf mit Verbindungen der VIII. Nebengruppe katalysierte Dienpolymerisationen. Für Olefinpolymerisationen hat sich Butanoltritium am besten bewährt. KatOR + TCH2CHRP KatCH2CHRP + ROT Aus der Radioaktivität des Polymers kann nach Abzug des Anteils an Übertragungsreaktionen die Konzentration der aktiven Zentren berechnet werden. x Einbau radioaktiver Substanzen, z.B. 14CO2 oder 14CO Diese Verbindungen schieben sich zwischen die ÜbergangsmetallKohlenstoffbindung und nach der Verbrennung des Polymers kann über die Messung der Radioaktivität der Gehalt an derartigen Bindungen bestimmt werden. x Inhibitoren, z.B. Allen Inhibitoren stoppen die Polymerisation und aus deren Anteil kann [C*] bestimmt werden. Diese Methoden sind deshalb wichtig, weil sie folgende Aussagen zur Konzentration der aktiven Zentren ergeben haben: Bei Katalysatoren der ersten Generation liegt die Konzentration der aktiven Zentren unter 1 %. Für Trägerkatalysatoren und lösliche Katalysatoren sind wesentlich höhere Werte, bis 20 % und bei löslichen Zirkonkatalysatoren bis 100 %, berechnet auf die Übergangsmetallkonzentration, gemessen worden. Dies bedeutet, dass im Gegensatz zur anionischen Polymerisation bei den meisten Katalysatorsystemen nur ein kleiner Teil des Katalysators bei Ziegler-Natta-Polymerisationen aktiv, der Rest inaktiv ist. Hieraus ist auch ein gegenwärtiger Forschungsschwerpunkt erkennbar: hochaktive Katalysatoren und lebende Polymerisationen. Die Ergebnisse werden weiterhin dadurch komplizierter, weil neuere Arbeiten besagen, dass mehrere Arten aktiver Zentren gleichzeitig vorliegen können. Obige Messungen ergeben somit meistens nur einen Mittelwert bezüglich der Konzentration der aktiven Zentren. Eine Separation in Einzelwerte erscheint über die Analyse der Molmassenverteilung möglich. 3.1.3.4 Kettenabbruch, Kettenübertragung Ziegler-Natta-Polymerisationen werden in inerten Lösemitteln, wie Aliphaten und Aromaten, durchgeführt. Polare und protonenhaltige Lösemittel sind dafür unbrauchbar, weil sie entweder das aktive Zentrum blockieren oder die ÜbergangsmetallKohlenstoffbindung spalten. Auf diese Weise
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
99
werden auch Ziegler-Natta-Polymerisationen durch Zugabe von Alkoholen bzw. durch Einblasen von Wasserdampf gezielt abgestoppt. Unerwünschte Abbruchreaktionen treten durch bimolekulare Reaktion des aktiven Zentrums ein, wodurch das Übergangsmetall in einen niederwertigen Zustand übergeht und die Polymerradikale disproportionieren. Ti4CH2CH2P Ti3 + CH2 CHP + CH3CH2P An löslichen Katalysatorsystemen ist nachgewiesen worden, dass inaktives dreiwertiges Titan entsteht. An geträgerten Katalysatoren wird eine Clusterbildung diskutiert. Ein anderer Zerfall der ÜbergangsmetallKohlenstoffbindung erfolgt durch E-Hydrid-Eliminierung. MeH + CH2 CHP MeCH2CH2P Das so gebildete Metallhydrid (MeH) sollte allerdings, abhängig von der Ladungsverteilung am Metallatom, in der Lage sein, neue Polymerketten zu starten. In diesem Falle ist diese Reaktion eine Übertragungsreaktion. Übertragungsreaktionen sind weiterhin bekannt zum Monomer bzw. zur Aluminiumalkylverbindung. CHRCH2Me + CHR CH2
CR CH2 + CH2RCH2Me
CHRCH2Me + AlR’3 CHRCH2 AlR’2 + R’Me Erstere ist bei gegebenem System nicht beeinflussbar. Letztere ist erkennbar aus dem Polymerisationsgrad bei Variation der Konzentration der Aluminiumalkylverbindung. Übertragungsreaktionen zum Lösemittel (LH) sind insbesondere bei Lösemitteln wie Toluol beobachtet worden. CHRCH2H + MeL CHRCH2Me + LH Eine gezielte Übertragung zur Ansteuerung eines bestimmten Polymerisationsgrades ist durch Zugabe von Wasserstoff bei Ziegler-Natta-Polymerisationen üblich. CHRCH2H + MeH CHRCH2Me + H2 Die Polymerisationsgeschwindigkeit sollte in diesem Fall gleichbleibend sein. In der Realität beobachtete man aber in vielen Fällen eine Erniedrigung der Polymerisationsgeschwindigkeit. Der Grund scheint darin zu liegen, dass der Einschub des ersten Monomers in die MetallWasserstoffbindung langsamer erfolgt. Die Kinetik der Ziegler-Natta-Polymerisation wird auch durch das mögliche Auftreten von Adsorptionsphänomenen des Monomers bzw. des Metallalkyls an der Oberfläche des kristallinen Übergangsmetallhalogenids komplizierter. In diesen Fällen gehen die so entstehenden Konzentrationen in die kinetischen Gleichungen für die Polymerisationsgeschwindigkeiten ein und beeinflussen das kinetische Schema. 3.1.3.5 Polymerisation von Cycloolefinen Die Polymerisation einer Reihe von Cycloolefinen kann durch die sogenannte Metathesereaktion erreicht werden. Unter Metathese ROMP versteht man eine Austauschreaktion von Kohlenstoffdoppelbindungen bei Olefinen.
2 R1CH CHR2 R1CH CHR1 + R2CH CHR2 Für die Makromolekulare Chemie ist diese Reaktion von Bedeutung, da aus Cycloolefinen Polymere entstehen, aus Cyclopenten bildet sich Polypentenamer. n
n
100
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Weiterhin zugänglich sind dieser Reaktion Cyclobuten, -penten, -octen, 1,5-Cyclooctadien, Cyclododecadien, Cyclooctatetraen, Norbornen sowie die entsprechenden alkylsubstituierten Verbindungen, wenn sich der Substituent nicht an der Doppelbindung befindet. Nicht polymerisierbar sind Cyclohexen und seine Alkylverbindungen, weil sie nur Oligomere geben. Zugänglich sind der Reaktion aber auch Bicyclen, wie Norbornen und Dicyclopentadien. Alle Monomere sollten keine funktionellen Gruppen enthalten, wie Amino-, Hydroxy-, Carboxy-, Ester-, Ether-, Amidgruppen oder auch keine Thioanaloga. Ausnahmen bilden Fluor-, Trifluormethyl- und Cyanosubstituenten. Allerdings gilt das nicht so streng für Rutheniumkatalysatoren. Luft- und wasserstabile Ruthenium-, aber auch Osmiumkatalysatoren sind entwickelt worden, sodass erstmalig die ringöffnende Metathese in wässriger Lösung gelang. Insbesondere die Reaktion mit dem Cyclopenten hat großes Interesse gefunden, da das Polymer kautschukelastische Eigenschaften aufweist. x Katalysatoren Für die Metathesereaktion werden als Übergangsmetallverbindungen Wolfram-, Molybdän-, Rhenium- und Rutheniumverbindungen eingesetzt. Die gebräuchlichsten Katalysatoren sind Wolframverbindungen, meistens Wolframhexachlorid. Als Cokatalysatoren dienen Organometallverbindungen, wie Aluminiumtriethyl, Zinntetramethyl und Butyllithium oder Lewis-Säuren, wie Ethylaluminiumdichlorid, teilweise in Kombination mit Ethanol. Durch Reaktion dieser Komponenten entstehen Metallcarbenverbindungen. Cl4W CH2 WCl6 + Sn(CH3)4 Es wird angenommen, dass das Cycloolefin an das Metallatom (Mt) koordiniert,
CH Mt +
. .. CH Mt
CH Mt
CH Mt
über einen Vierring zwischen Kohlenstoff und Wolfram eingeschoben, dieser geöffnet wird und so sich die Polymerkette bildet. Die katalytische Aktivität von Carbenverbindungen ist mit Modellverbindungen bewiesen worden. Je nach Katalysatorsystem und Temperatur können cis- und trans-Formen entstehen. Cyclopenten bildet mit dem Katalysatorsystem Wolframhexachlorid/Zinntetraethyl/Diethylether bei 30 qC cis-Polypentenamer und bei 0 qC trans-Polypentenamer. Aus Cyclooctatetraen lässt sich Polyacetylen herstellen. Bicycloolefine ergeben lineare oder vernetzte Polymere, z.B. Dicyclopentadien. Die Metathesereaktion läuft relativ schnell ab. Über lebende Polymere ist bereits berichtet worden. Für das kinetische Schema ist die Koordinierung des Monomers an die Leerstelle am Wolfram zu beachten. Auf diese Reaktion wurde die Michaelis-Menten-Kinetik angewandt, und die Reaktion stellt eine Gleichgewichtsreaktion dar. Bei der Bildung größerer Ringe beobachtete man auch die Reaktion des aktiven Zentrums am Kettenende mit Doppelbindungen in der Kette. Zum Abbau obiger Polymere fand die Reaktion doppelbindungshaltiger Polymere mit einfachen Olefinen Anwendung. Auf das Vorhandensein von zwei aktiven Zentren lassen die bimolekularen Molmassenverteilungen schließen. Dieser Synthesetyp ist auch auf nichtkonjugierte Diene anwendbar. Es reagieren dabei die Doppelbindungen als Stufenreaktion zu langkettigen, linearen Polymeren. Genannt wird diese acyclische Dienmetathese ADMET. Auch Ethylencopolymere sind so herstellbar mit Vinylacetat, Styrol, Acrylaten und Vinylchlorid.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
101
3.1.3.6 Polymerisation des Acetylens Die Polymerisation des Acetylens erweckte deshalb Interesse, weil Polyacetylen durch seine konjugierten Doppelbindungen als potentieller metallischer Leiter in Frage kommt und in der Zwischenzeit auch in dieser Richtung entwickelt wurde. selbst ist ein isolierendes Material mit der spezifischen Cis-1,4-Polyacetylen einen Leitfähigkeit von N = 4 109 :1 cm1. Dagegen stellt trans-1,4-Polyacetylen 5 1 1 Halbleiter mit N = 9 10 : cm dar. Durch Dotierung von cis-Polyacetylen, z.B. mit Jod oder Arsenpentafluorid, konnte eine Erhöhung der Leitfähigkeit um 13 Größenordnungen erreicht werden, auch über Leitfähigkeiten größer 105 :1cm1 wurde berichtet. Man nimmt an, dass der Ladungstransport entlang der konjugierten Kette verläuft. Dieser Ladungstransport ist von der Struktur des Polyacetylens abhängig, welches in Form von Fibrillen vorliegt. Polyacetylen ist empfindlich gegenüber der Oxidation durch Luftsauerstoff. In dessen Gegenwart nimmt in wenigen Tagen die Leitfähigkeit um vier Größenordnungen ab. x Katalysatoren Durch eine Vielzahl von Katalysatoren, z.B. Anionen, Kationen, Radikale wie auch Strahlung ist versucht worden, Acetylen zu polymerisieren, aber als Hauptreaktion ergab sich die Cyclisierung zum Benzol. Auch der Einsatz von Übergangsmetallverbindungen der Metalle Titan, Vanadin, Chrom, Eisen, Cobalt, Mangan in Kombination mit Aluminiumtriethyl wurde untersucht. Der Durchbruch konnte mit dem Katalysatorsystem Titantetrabutylat/Aluminiumtriethyl bei einem Molverhältnis von vier erreicht werden. Man erhielt hier ein Polyacetylen mit guten filmbildenden Eigenschaften und einer fibrillaren Morphologie. Der cis-trans-Gehalt dagegen ist abhängig von der Temperatur. Es wird angenommen, dass sich das Acetylen zwischen die TitanAlkylbindung schiebt (Insertion). Wegen der geringen Energiedifferenz zwischen cis- und trans-Form ist eine thermische Isomerisierung der cis- in die trans-Form möglich. Titanhalogenverbindungen, wie Titantetrachlorid, Titantrichlorid, geben in Kombination mit verschiedenen Alkylverbindungen entweder ein trans- oder gemischtes Polyacetylen, Titantetrabenzyl und Cyclopentadienylverbindungen geben dagegen filmartige Polyacetylene.
Ti Et
C2 H 2
H C
Ti C
Ti Et
H
C H
H C2 H 2
Ti C
CH Et
Ti CH
C2 H 2
Et
HC
HC C H
CH Et
Nickelkomplexe, Cobalt-, Seltenerdverbindungen, Wolframhexachlorid und Molybdänhalogenide sind eingesetzt worden, erwiesen sich als aktiv und geben teils trans-Polyacetylen und teils eines mit gemischter Struktur. Außerdem wurde versucht, die mangelnde Stabilität des Polyacetylens bezüglich Oxidationsempfindlichkeit und Verarbeitung zu verbessern. Polymermischungen (Polymerblends) brachten keinen durchschlagenden Erfolg. Copolymerisationen mit Alkylacetylenen, z.B. Methylacetylen, führten zur Erniedrigung der Leitfähigkeit. Alkyl-aryl-disubstituierte Polyacetylene wurden hergestellt. Auch über Block- und Pfropfcopolymerisationen ist berichtet worden. Offensichtlich erreichte man einen Durchbruch mittels Modifizierung des Titantetrabutylat/Aluminiumtriethyl-Systems durch Variation des Anions in der Titanverbindung wie auch der Alkylgruppen am Aluminium. Es resultierten stabile Polyacetylenfilme hohen cis-Gehalts mit Leitfähigkeiten von 105 :1cm1, die sich besser für technische Anwendungen eignen. Zwischenzeitlich gelang es, ein Polyacetylen un-
102
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
terschiedlichen trans-Gehalts mittels Bisylid-Katalysatoren, z.B. [NiPh(Ph2PCHCMeO)(Pr3PCH2)], herzustellen, welches auf einer Matrix polymerisiert wurde und besser zu verarbeiten war. Als Synthesemöglichkeit für Polyacetylen soll hier auch noch die Polyelimination aus Cyclobutanverbindungen erwähnt werden. F3 C
CF3
F3 C
CF3 +
CH CH CH CH
Sowie die Reaktion von Monoalkylacetylenen mit Metathesekatalysatoren aber auch Rh-Katalysatoren zu Alkylpolyacetylenen. Polyacetylen ist in 20 nm großen Partikeln hergestellt worden. 3.1.4 Gruppentransferpolymerisation Unter einer Gruppentransferpolymerisation versteht man die Polymerisation von Acrylmonomeren mit Silylketenacetalen unter Verschiebung der Silylgruppe (Gruppentransfer) jeweils an das Kettenende und Ausbildung einer neuen Silylketenacetalendgruppe. Der Reaktion sind als Monomere vorwiegend Acryl- und Methacrylsäureester, Acryl- und Methacrylnitril, Dialkylacrylamide sowie Dienoate und Trienoate zugänglich. Als Initiatoren, die in das Polymer eingebaut werden, wirken Silylverbindungen, gebildet aus Methacrylaten bzw. ähnlichen Verbindungen, die in der Lage sind, Silylketenacetale zu bilden. Diese Initiatoren steuern die Molmasse des Polymers. Als Katalysatoren der Reaktion wirken separat einerseits anionische Fluoride, Azide und Cyanide in katalytischen Mengen oder andererseits auch Lewis-Säuren, wie Zinkchlorid und Aluminiumdialkylchlorid, in Mengen von ca. 10 %, berechnet auf den Initiator. OR R C C + CH2 OSiR3 R
OR O
R C C
CH3 C C
OCH3
OR
O
O
R C C
CH3 CH2
R
OSiR3
CH3
CH3 CH2 C
C C
OCH3 n MMA
CH2
C C
OCH3
OSiR3 ( MMA = Methacrylsäuremethylester ) COOCH3 n R Der allgemeine Mechanismus dieser Polymerisation ist nicht vollständig aufgeklärt. Es besteht nur insofern Übereinstimmung, dass lebende Polymere und eine der Michael-Addition analoge Reaktion vorliegen. Unter sorgfältigen Bedingungen lassen sich enge Molmassenverteilungen bis Mw/Mn = 1 erhalten. ABA-Blockcopolymere und D-, Z-bifunktionelle Polymere können hergestellt werden. Ein vorwiegend syndiotaktisches Polymethylmethacrylat (bis 80 %) resultiert bei 90 qC.
3.1.5 Copolymerisation Vorangegangene Kapitel behandelten jeweils die Polymerisation nur einer Monomerart. In diesem Kapitel soll die Polymerisation zweier und mehrerer verschiedener Monomerarten zusammen mit dem Ziel des Einbaus in eine makromolekulare Kette in kovalenter Bindung behandelt werden. Derartige Polymere nennt man Copolymere oder Multipolymere, wobei sich der Begriff Copolymere allgemein durchsetzte. Die technische Bedeutung der Copolymerisation besteht darin, dass die beteiligten Monomere ihre Polymereigenschaften in das Copolymer einbringen, wobei dies für das Copolymer vorteilhaft oder von Nachteil sein kann; ersteres wird natürlich angestrebt. In vielen Fällen genügt bereits ein
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
103
prozentual niedriger Einbau, um eine gewünschte Eigenschaft zu erreichen. So wird z.B. Isopren in Polyisobutylen eingebaut, um eine Vulkanisation zum Butylkautschuk zu ermöglichen. Acrylnitril wird mit Allylsulfonat copolymerisiert, um die Anfärbbarkeit zu verbessern, und Styrol mit Divinylbenzol, um Ionenaustauscher herzustellen. Butadien copolymerisiert man mit Acrylnitril, um eine Benzinfestigkeit von Schläuchen zu erreichen. Von gezielten Ausnahmen abgesehen, werden bei der Copolymerisation die Schmelz- und Glastemperatur herabgesenkt. Dies kann zur inneren Weichmachung bzw. für Elastomere beabsichtigt sein. Insgesamt hat die Copolymerisation große Bedeutung, und sehr viele im Handel befindliche Polymere sind Copolymere. Tabelle 3.11: Hauptanwendungsgebiete industriell hergestellter Copolymere (Auswahl)
Copolymer
Mechanismus
Ethylen/Propylen Ethylen/Propylen/Ethylennorbornen Ethylen/Buten Ethylen/Propylen-Blöcke Ethylen/ 35 % Vinylacetat Ethylen/! 35 % Vinylacetat Ethylen/Methacrylat Ethylen/Acrylat Ethylen/Vinylpyridin
Ziegler-Natta Ziegler-Natta Ziegler-Natta Ziegler-Natta radikalisch radikalisch radikalisch radikalisch Ziegler-Natta
Butadien/Styrol Butadien/Styrol-Blöcke Butadien/Styrol/Acrylsäure Butadien/Acrylnitril Isopren/Isobutylen Styrol/Divinylbenzol Styrol/Divinylbenzol/Vinylpyridin Isobutylen/Cyclopentadien Vinylchlorid/ 20 % Vinylacetat Acrylnitril/ 5 % Comonomer Acrylnitril/Styrol Acrylnitril/Butadien/Styrol (ABS) ungesättigte Polyester/Styrol
Hauptanwendungsgebiet
Elastomer Elastomer Thermoplast Thermoplast Thermoplast, Folien Elastomer Thermoplast, als Salz Ionomere Thermoplast, als Salz Ionomere als Salz Ionomere, mit Salzen Koordinationspolymere radikalisch Elastomer, Latex anionisch Thermoplast, Elastomer radikalisch Carboxyllatex radikalisch Elastomer kationisch Elastomer radikalisch für Ionenaustauscher radikalisch für Ionenaustauscher kationisch Elastomer radikalisch Lacke radikalisch Fasern radikalisch Thermoplast radikalisch Thermoplast Kondensation/radikalisch Duromer
Der Begriff Copolymerisation als Oberbegriff schließt die Polymerisation von zwei, drei, vier und mehr Monomeren ein. Copolymere aus zwei Monomeren heißen eigentlich Bipolymere, aber dieser Name ist nicht gebräuchlich, man nennt sie Copolymere. Polymere aus drei Monomeren heißen Terpolymere, aus vier Monomeren Quarterpolymere. Terpolymere werden durchaus noch hergestellt, z.B. Ethylen/Propylen/Ethylidennorbornen-Elastomere, Quarterpolymere sind schon seltener. Bezüglich der Anordnung der verschiedenen Monomereinheiten A und B in einem Copolymer unterscheidet man mehrere Möglichkeiten: x statistische Copolymere, AABABBBAABAAABBA x alternierende Copolymere, ABABABABABABAB x Block- und Segmentcopolymere, AnBm
104
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
wobei die Zahl der Monomereinheiten n und m im Block bei echten Blockcopolymeren in der Regel 10 überschreitet. Als eine Unterart der Blockcopolymere wären hier die Stereoblockcopolymere einzuordnen. Darunter versteht man Blockcopolymere, die Monomereinheiten mit gleichen Grundbausteinen sowie gleicher Konstitution, aber unterschiedlicher Konfiguration enthalten. x Pfropfcopolymere AAAAAAAAAAAAAAAAA B B B B B B B B B Um eine Maßzahl für die Blocklänge zu haben, definiert man Blockzahl =
Summe der Bindungen zwischen ungleichen Monomereinheiten Summe der Bindungen zwischen allen Monomereinheiten
100
Copolymere kann man mit allen bereits behandelten Mechanismen herstellen, doch zeigen gewisse Mechanismen Vorzüge. So dient die radikalische Polymerisation bevorzugt zur Herstellung von statistischen und alternierenden Copolymeren, die lebende anionische Polymerisation zur Herstellung von Blockcopolymeren. 3.1.5.1 Copolymerzusammensetzung Je nach Synthesebedingungen und Reaktionsmechanismus entstehen unterschiedlich zusammengesetzte Copolymere. Eine Besonderheit der Copolymerisation besteht bis auf Ausnahmen darin, dass die Zusammensetzung des Copolymers nicht der der Monomermischungszusammensetzung entspricht. Als Begründung gilt das Vorliegen von vier verschiedenen Wachstumsschritten beim Einsatz zweier Monomere M1 und M2.
PM1· + M1 PM1· + M2 PM2· + M2
k11
k12 k22
PM1·
X11 = k11 [PM1· ] [M1]
PM2·
X12 = k12 [PM1· ] [M2]
PM2·
X22 = k22 [PM2· ] [M2]
k21 PM1· X21 = k21 [PM2· ] [M1] PM2· + M1 k11 bedeutet die Geschwindigkeitskonstante des eigenen Wachstums, k12 die Geschwindigkeitskonstante des gekreuzten Wachstums. In dem Maße, wie das entsprechende Monomer aus der Monomermischung reagiert, wird es in das Copolymer eingebaut. Die Abnahme der Monomerkonzentration der Monomere 1 und 2 lässt sich mit d[M1]/dt = X11 + X21 ; d[M2]/dt = X12 + X22 beschreiben. Die Reaktionsfreudigkeit des Polymerradikals mit dem jeweiligen Monomer ergibt dabei den bevorzugten Einbau des einen oder anderen Monomers. Bei abnehmender Konzentration wird das langsamere Monomer wieder eingebaut. Im Extremfall erhält man ein ZweiblockCopolymer A-A-A- ...... -B-B-B. Somit ergibt sich das Einbauverhältnis zu d[M1] [M1] k11[PM1·] + k21[PM2·] = d[M2] [M2] k22[PM2·] + k12[PM1·]
.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
105
Auch für die radikalische Copolymerisation nimmt man eine stationäre Radikalkonzentration an: X21 = X12, demzufolge also k21[PM2 · ][M1] k12[PM1 · ][M2] = 0 . Setzt man diese Auflösung nach den Radikalkonzentrationen in obige Gleichung ein, so erhält man mit der Definition sowie r2 = k22/k21 r1 = k11/k12 die allgemeine Copolymerisationsgleichung nach Mayo und Lewis: d[ M 1 ] [ M 1 ] (r1 [ M 1 ] [ M 2 ]) d[ M 2 ] [ M 2 ] (r2 [ M 2 ] [ M 1 ])
Nach dieser Gleichung kann für jedes beliebige Monomerverhältnis bei Kenntnis der r-Werte die Zusammensetzung des entsprechenden Copolymers berechnet werden. Die r-Werte stellen den Quotienten der Wachstumsgeschwindigkeitskonstanten gleiches Monomer zu fremdem Monomer (gekreuztes Wachstum) dar, d.h., sie drücken relative Reaktivitäten bei der Copolymerisation aus und werden Copolymerisationsparameter genannt. Die r-Werte stellen charakteristische Größen für jedes Monomerpaar dar und sind tabelliert. Bei der ionischen Polymerisation und der Polymerisation mit Übergangsmetallverbindungen zeigen sie eine Abhängigkeit vom Initiator und dessen Dissoziationszustand. Die obige Copolymerisationsgleichung wurde unter Zuhilfenahme der stationären Radikalkonzentration abgeleitet. Man kann die Copolymerisationsgleichung auch aus statistischen Überlegungen entwickeln; damit ist ihre Anwendung auf alle Polymerisationsmechanismen gerechtfertigt. Eine weitere Einschränkung muss hier ebenfalls noch genannt werden. Die obige Gleichung betrachtet nur die Wachstumsgeschwindigkeit der letzten Monomereinheit der Kette. Dieses Modell, genannt Terminalmodell, entspricht einer Markoff-Statistik erster Ordnung. Beeinflusst die vorletzte Monomereinheit auch noch die Wachstumsgeschwindigkeit, so sind statt vier acht Geschwindigkeitskonstanten zu berücksichtigen. Man nennt dieses Modell „penultimate“-Modell, dieses entspricht einer Markoff-Statistik zweiter Ordnung. Geht man zu Copolymerisationen mit mehr als zwei Monomeren über, z.B. zur Terpolymerisation mit drei Monomerarten, so liegen hier neun Geschwindigkeitskonstanten und daraus sechs Copolymerisationsparameter vor, welche nur mit erheblich größerem Aufwand zu bestimmen sind. Daher werden meistens diejenigen aus der Copolymerisation mit zwei Monomerarten verwendet. Für die Copolymerisation mit zwei Monomeren erhält man jeweils zwei r-Werte, und folgende Kombinationen werden unterschieden: r1 = r2 = 1, dies bedeutet: k11 = k12 und k22 = k21 Beide Radikale addieren beide Monomere mit gleicher Wahrscheinlichkeit, die Zusammensetzungskurve bewegt sich auf der Diagonale des Copolymerisationsdiagramms (Abbildung 3.6) und entspricht damit der Monomermischungszusammensetzung. Man nennt dies ideale Copolymerisation (Beispiel: Tetrafluorethylen/Chlortrifluorethylen), aber ideale Copolymerisationen sind selten. Es bilden sich statistisch aufgebaute Copolymere. Wenn r1 > 1, r2 < 1, d.h., k11 > k12 und k21 > k22 , wird also M1 leichter an das eigene und das fremde Radikal addiert. Man beobachtet einen bevorzugten Einbau von M1. Es entstehen statistische Copolymere, wobei M1 längere Sequenzen aufweist (Beispiel: Styrol/Vinylacetat). Derartige Copolymerisationen sind häufig. Auf Abbildung 3.6 wird dieser Fall durch die bauchigen Kurven ober- und unterhalb der Diagonale dargestellt.
106
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Abbildung 3.6: Ideale Copolymerisation
Abbildung 3.7: Alternierende Copolymerisation
r1 > 1, r2 > 1 bedeuten k11 > k12 und k21 < k22 , d.h. der Homopolymerisationsschritt wird bevorzugt. Derartige Copolymerisationen sind selten (Beispiel: Styrol/Acrylamid). Verfolgt man diesen Fall weiter, ergibt sich r1 = f, r2 = f , und der Homopolymerisationsschritt k11 > k12 und k21 < k22 ist stark bevorzugt. Es entstehen keine Copolymere, sondern es bildet sich ein Polymergemisch. r1 < 1, r2 < 1 bedeuten k11 < k12 und k22 < k21 , d.h. das fremde Monomer wird also bevorzugt angelagert, und es besteht eine Tendenz zum alternierenden Einbau der Monomere in die Kette. Die Zusammensetzungskurve schneidet die Diagonale des Copolymerisationsdiagramms im sogenannten Azeotrop-Punkt (Abbildung 3.7). Dieser Punkt lässt sich mit [M1]/[M]2 = (r2 1)(r1 1) berechnen. Ein derartiges Beispiel stellt die Copolymerisation von Butadien mit Acrylnitril dar. r1 ~ r 2 ~ 0 wäre der Extremfall der vorigen Möglichkeit mit dem Unterschied, dass das eigene Monomer an das Radikal gering oder überhaupt nicht addiert wird, dagegen aber das fremde Monomer. Dies bedeutet, dass Monomere, die selbst nicht zur Polymerisation gebracht werden können, doch copolymerisieren. Derartige Fälle sind nicht allzu häufig, Beispiel: Stilben/Maleinsäureanhydrid (siehe Abbildung 3.7). x Ermittlung der Copolymerisationsparameter Wie aus vorigem hervorgeht, bilden sich Copolymere, die eine andere Copolymerzusammensetzung aufweisen als die Monomermischungszusammensetzung (Ausnahme bei der idealen Copolymerisation). Die Copolymerzusammensetzung wird durch die r-Werte charakterisiert und damit ist deren Ermittlung eine wichtige Aufgabe. Zu diesem Zweck werden Copolymere aus verschiedenen Monomermischungsverhältnissen hergestellt, deren Zusammensetzung durch geeignete Analysenmethoden ermittelt und die r-Werte nach verschiedenen Berechnungsmethoden bestimmt. Die gebräuchliche Methode nach Finemann-Ross wendet folgende Geradengleichung an:
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
107
(f 1) F/f = (r1 F2/f ) r2 mit f = d[M1]/d[M2] und F = [M1]/[M2] Durch Auftragen von (f 1) F/f gegen F2/f erhält man eine Gerade mit der Neigung r1 und dem Ordinatenabschnitt r2 (Abbildung 3.8).
Abbildung 3.8: Methode zur Ermittlung der relativen Reaktivitäten bei der Copolymerisation nach Finemann und Ross (J. Polym. Sci. 5(1950)259)
Die Methode ist nur für kleine Umsätze bis 5 % anwendbar, da sich darüber die Monomerzusammensetzung und damit auch die Copolymerzusammensetzung sehr verschiebt. Von KelenTüdös wurde eine Methode vorgeschlagen, die man bis 50 % Umsatz anwenden kann. Für noch höhere Umsätze geht man von einer integrierten Copolymerisationsgleichung aus. Tabelle 3.12 gibt einen Überblick über eine Auswahl von Copolymerisationsparametern. Tabelle 3.12: Copolymerisationsparameter in der radikalischen Copolymerisation
M1 Tetrafluorethylen Ethylen Styrol Styrol Butadien Butadien Styrol Acrylnitril Butadien Butadien Methylmethacrylat Acrylnitril Stilben
r1 1,0 0,88 56 17,24 1,44 8,8 1,21 1,68 0,36 0,5 0,41 0,92 0,03
M2 Chlortrifluorethylen Vinylacetat Vinylacetat Vinylchlorid Styrol Vinylchlorid Acrylamid Butylacrylat Acrylnitril Methylmethacrylat Styrol Vinylidenchlorid Maleinsäureanhydrid
r2 1,0 1,03 0,01 0,058 0,84 0,04 1,32 1,06 0,04 0,027 0,48 0,32 0,03
x Monomerstruktur und Copolymerisationsparameter Die Copolymerisationsparameter sind definiert als die Reaktionsfähigkeit zweier Monomere mit einem bestimmten Kettenradikal. Diese Reaktionsfähigkeit kann abhängen von der Radikalstabilität, wobei hier besonders die Stabilität des sich bildenden Radikalendes betrachtet werden soll. Je stabilisierter das sich bildende neue Radikalende ist, desto größer wird die Geschwindigkeit, und je geringer die Stabilität des sich bildenden neuen Radikals, desto kleiner wird die Geschwindigkeit des Wachstumsschrittes sein. Ein Beispiel für eine Resonanzstabilisierung des Kettenendradikals wäre Styrol mit 84 kJ/mol, dagegen bildet Vinylacetat ein relativ instabiles Radikal. Für einige Substituenten an der Vinylgruppe ergibt sich folgende Abstufung: C6H5 > CH CH2 > COCH3 > C{N > COOR > Cl > R > OCOCH3.
108
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Eine weitere Einflussgröße bezüglich der Copolymerisation stellt die polare Wechselwirkung dar. Die Copolymerisation zweier Monomere mit unterschiedlich polaren Substitutenten (elektronenziehend, elektronenabstoßend) sind prädestiniert für eine Elektronen-Acceptor-/-Donator-Wechselwirkung und führen zu einer alternierenden Tendenz in der Anordnung der Monomereinheiten im Copolymer (Beispiel: Styrol/Acrylnitril). Je mehr sich das Produkt r1 r2 dem Wert null annähert, desto stärker geht der statistische Einbau der Monomereinheiten in einen alternierenden Einbau über. Polare Wechselwirkungen helfen die sterische Hinderung zu umgehen. Während Maleinsäure nicht selbst polymerisiert, d.h. keine Homopolymere bildet, ist sie sehr wohl in der Lage, mit Vinylethern, Styrol und sogar mit Stilben, welches ebenfalls keine Homopolymere liefert, alternierende Copolymere zu bilden. Einen Einfluss übt aber auch die sterische Wechselwirkung aus. Von Alfrey und Price ist ein Q-e-Schema entwickelt worden, welches sich zur Berechnung monomerspezifischer Werte, die die Reaktionsbereitschaft eines Monomers gegenüber derjenigen eines definierten Kettenradikals angeben, als erfolgreich erwiesen hat. Für k12 PM1 + M2 PM2 wird formuliert k12 = P1 Q2 exp(e1 e2) , wobei P1 proportional der Reaktivität des Radikals und Q2 proportional der Reaktivität des Monomers ist. e1 stellt die effektive Polarität des Kettenradikals PM1 und e2 die Polarität an der Doppelbindung des Monomers M2 dar. Daraus folgen entsprechende Gleichungen für r1 und r2. k11 P1 Q1 exp( e1 e1 ) Q1 r1 exp[ e1 (e2 e1 )] k12 P1 Q2 exp( e1 e2 ) Q2 r2 = (Q2/Q1)exp[e2 (e2 e1)] Auch nach experimenteller Ermittlung der r-Werte enthalten beide Gleichungen noch vier Unbekannte. Daher wurde dem Styrol willkürlich der Q-Wert eins und der e-Wert 0,8 zugeordnet, danach war es möglich, für die anderen Monomere entsprechende Q- und e-Werte zu berechnen. Eine Auswahl einiger Monomere ist in Tabelle 3.13 zusammengestellt. Die bekannten Q-, e-Werte eines Monomers gestatten nach Bestimmung der r-Werte die Berechnung der unbekannten Q-, e-Werte des zweiten Monomers. Sind die Q-, e-Werte zweier Monomere bekannt, kann man daraus die r-Werte berechnen. Wie die Ableitung zeigt, berücksichtigt das Q-e-Schema nur Effekte der Stabilisierung bzw. Reaktivität und der Polarität. Sterische Wechselwirkungen werden nicht berücksichtigt, trotzdem hat sich dieses Schema bewährt. Ein neues Verfahren „Patterns of Reactivity“ begreift auch die Übertragung ein. Tabelle 3.13: Q- und e-Werte aus der radikalischen Copolymerisation
Monomer Vinylethylether Vinylacetat Vinylchlorid Methylacrylat Acrylnitril
Q 0,018 0,026 0,056 0,45 0,48
e
1,80 0,88 0,16 0,64 1,23
Monomer Methylmethacrylat Styrol Butadien Isopren Vinylidencyanid
Q 0,78 1,00 1,70 1,99 14,22
e
0,40 0,80 0,50 0,55 1,92
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
109
x Einfluss der Reaktionsbedingungen Die bisherigen Ausführungen beziehen sich auf Copolymerisationen in homogener Phase. Bei Copolymerisationen in heterogener Phase treten Veränderungen der Copolymerisationsparameter auf, die durch abweichende Monomerkonzentrationen am Reaktionsort bedingt sind. Die Temperaturabhängigkeit der Copolymerisationsparameter lässt sich durch die ArrheniusGleichung beschreiben, für die Druckabhängigkeit liegen bisher wenige Untersuchungen vor. Über einen Lösemitteleinfluss auf die radikalische Copolymerisation ist berichtet worden, doch ist er hier offensichtlich gering. Anders sieht es bei der ionischen und koordinativen Copolymerisation aus. Hier übt das Lösemittel mit seiner Dielektrizitätskonstante einen wesentlichen Einfluss auf das Vorliegen des aktiven Zentrums in Form von freien Ionen, Ionenpaaren und Spezies mit polarisierter kovalenter Bindung aus. Dies kann zur Umkehr der r-Werte führen, wie Tabelle 3.14 zeigt. Tabelle 3.14: Copolymerisationsparameter bei der anionischen Polymerisation
Styrol (r1) r1 LiC4H9
Toluol Tetrahydrofuran
0,25 9
Isopren (r2) r2 9,5 0,1
Copolymerisationsparameter, die bei der ionischen Polymerisation und Polymerisation mit Übergangsmetallen erhalten werden, zeigen andere Werte als bei der radikalischen Polymerisation und sind überdies vom Initiator und wie oben gezeigt, vom Lösemittel abhängig. Oft zieht man sie zum Beweis für einen ionischen (oder radikalischen) Mechanismus heran. Da aber die Copolymerisationsparameter bei der ionischen Polymerisation und der mit Übergangsmetallen einer viel größeren Variationsbreite unterliegen, sind derartige Schlüsse mit Vorsicht zu betrachten. Unter besonderen Reaktionsbedingungen ist der Spezialfall denkbar, dass die mit ionischen Katalysatoren erhaltenen Werte, denen der radikalischen Polymerisation ähnlich sind und damit eine Aussage zum Mechanismus fraglich wird. 3.1.5.2 Kinetik der Copolymerisation Im Gegensatz zu den bisherigen Ausführungen, bei denen nur Wachstumsschritte der Copolymerisation behandelt worden sind, müssen für die Kinetik auch Start- und insbesondere Abbruchreaktionen einbezogen werden. Bezüglich der Abbruchreaktion ist als Besonderheit zu beachten, dass außer der Reaktion gleichartiger auch ungleichartige Kettenenden miteinander mit der Geschwindigkeitskonstante ka12 (gekreuzter Abbruch) reagieren. Für die Bruttogeschwindigkeit der Copolymerisation wurde folgende Gleichung 2 r1 > M 1 @ 2> M 1 @> M 2 @ r2 > M 2 @ X 1st/ 2
X Br
r G > M @ 2 2 1 1
1
2
2I G 1 G 2 r1 r2 > M 1 @> M 2 @ r22G 2 > M 2 @
entwickelt, wobei der gleichartige Abbruch
G1
k a11 1/ 2 / k w11
und
sowie die Kreuzabbruchkonstante
I
ka12 / ka11 ka 22
1/ 2
sind, bei der Startgeschwindigkeit
X
2 kd f > I @ .
G2
k a 22 1/ 2 / k w 22
2 1/ 2
110
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
Bei gleicher Wahrscheinlichkeit aller Abbruchreaktionen ist I gleich eins. Bei I > 1 überwiegt der gekreuzte Abbruch, bei I < 1 der Abbruch gleichartiger Kettenenden. Bisherige Überlegungen betrachteten die radikalische Polymerisation. Bei ionischen Polymerisationen zu lebenden Polymeren hat man keinen Abbruch. Liegen keine Kreuzwachstumsschritte vor, erhält man Polymermischungen. Liegen Kreuzwachstumsschritte als Voraussetzung der Bildung von Copolymeren vor, kann sich das Verhältnis der Konzentration der beiden aktiven Zentren eins und zwei verschieben und die Copolymerisationsgeschwindigkeit beeinflussen. Lebende Polymere haben den Vorteil, dass die Geschwindigkeitskonstante des Kreuzwachstumsschrittes direkt bestimmbar ist. Gibt man zu einem lebenden Kettenende M1 das Monomer M2, kann man den Einbau von M2 z.B. spektroskopisch über das Verschwinden des ionischen Kettenendes M1 oder über das Verschwinden des Monomers M2 (bei letzterem mit Extrapolation auf null) verfolgen. Trotz dieser Vorteile sind die ionische Polymerisation und die Polymerisation mit Übergangsmetallverbindungen dadurch komplizierter als die radikalische Polymerisation, da verschiedene aktive Zentren vorhanden sind. Außerdem liegen starke Unterschiede in den Geschwindigkeitskonstanten vor, dies bedingt wiederum ein sehr unterschiedliches Wachstum der beiden Monomere. Eine Auswirkung auf die Copolymerisation besteht darin, dass das erste Monomer schnell wegpolymerisiert und das zweite nur gering eingebaut wird. Die Copolymere haben entlang ihrer Kette eine sehr uneinheitliche Comonomerverteilung. Statistische Copolymere gehen hier in Gradienten-Copolymere über. 3.1.5.3 Alternierende Copolymere Die alternierenden Copolymere nehmen unter den Copolymeren insofern eine Sonderstellung ein, als hier auch Monomere als Monomereinheit in die Copolymerkette eingebaut werden, die selbst keine Homopolymere bilden. Wie bereits geschildert, sind dafür Monomere mit unterschiedlich polaren Substituenten prädestiniert, die eine Donor-Acceptor-Wechselwirkung eingehen. Als Acceptoren können Vinylverbindungen mit Carbonyl- oder Cyanogruppen an der Doppelbindung (z.B. Maleinsäureanhydrid, Furmarsäuredinitril und Maleinsäurediethylester) und als Donor kann z.B. Styrol fungieren. Wie folgende Beispiele zeigen, bilden auch Nichtolefinverbindungen Copolymere.
CH2 CHR + CO CH2 CHR + SO2 CH2 CHR + O2 CH2 CHR + R3’P CH2 CHR + R’NO CH2=CHR + S S (CH2) n CH2=CHR + O
CH2CHRCO CH2CHRSO2 CH2CHROO CH2CHRPR3’ CH2CHRNR’O
Polyketone Polysulfone Polymere Peroxide Polymere Phosphine Polymere Aminoxide Polymere Sulfide
CH2CHRS(CH2)nS
O
CH2CHRO
O
Polyether
Diese Monomerkombinationen erzeugen meistens 1:1-alternierende Copolymere, wobei einzelne, z.B. SO2, vor der Copolymerisation mit vielen Olefinen 1:1-Komplexe bilden, die dann während der Polymerisation zu den entsprechenden Copolymeren reagieren. Die exakte Bildung einer streng alternierenden Struktur wird durch polare oder auch sterische Effekte bestimmt. Maleinsäureanhydrid als kräftiger Acceptor reagiert leicht mit Donormolekülen, wie Vinylacetat, Styrol oder Vinylethern, zu alternierenden Strukturen. Wenn die Bindungsstärke des Donor-Acceptor-Paares schwä-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
111
cher ist, nimmt, wenn möglich, die Tendenz zur Bildung statistischer Copolymere zu. Im umgekehrten Fall, bei einem Elektronendonor, wie SO2, kann dieser mit einem geeigneten Acceptor spontan ohne Initiatorzusatz copolymerisieren. O + SO2
S O
Eine Erhöhung der Acceptorwirkung erreicht man durch Zusatz einer Lewis-Säure, die komplexbildend wirkt. H
H
CH2
R C CH2 H C. . C
C.N .. H EtAlCl2
RC + C H2C
2
C. N . . EtAlCl2
H
Den gleichen Effekt bewirken ZnCl2, SnCl4 sowie Vanadin- und Titanhalogenide. Nicht in jedem Falle wird eine stöchiometrische Menge benötigt. Die Wirkung dieses Zusatzes kann darin bestehen, eine besser alternierende Struktur im Copolymer zu erhalten oder auch nicht konjugierte Donormonomere, wie Ethylen, Propylen und Vinylacetat, überhaupt erst einer alternierenden Copolymerisation zuzuführen. Zu den Möglichkeiten der Bildung alternierender Copolymere wäre auch die Polymerisation über Verbindungen mit Zwitterionen zu zählen. Dabei reagiert ein elektrophiles Monomer ME mit einem nucleophilen Monomer MN ohne Einwirkung eines Katalysators zu einem dimeren dipolaren Molekül als Zwitterion MN + ME MNME , welches polymerisieren kann. MN(MEMN)n1ME n(MN + ME) Aus der Zusammensetzung des Zwitterions ergibt sich die alternierende Tendenz des Copolymers. Da die Kettenenden jeweils Ladungen aufweisen, könnte man diese Polymere als lebende Polymere ansehen. Bekannt sind als Typen elektrophiler Monomere ME X = H, CH3, Halogen CH2 CXCOOH CH2 CHCOOR
R O
O
R
,
O
C O
O
und nucleophiler Monomere MN N O
R
,
O
P R
O
R = H, CH3, Ph
.
Ein definiertes Zwitterion mit einem daraus entstehenden Polymer könnte wie folgt aussehen:
112
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
N + O
COO N CH2 CH2
O C
(CH2)2 N (CH2)2 C
O
O
CHO
O
O
Die Polymerisation über Zwitterionen wird auch für eine ungewöhnliche Polymerisation des Acrylamids verantwortlich gemacht, wobei Iminoethergrundbausteine entstehen. CH2 CHCONH2
CH2CH2C( NH)O
Meistens weisen alternierende Copolymere eine niedrige ceiling-Temperatur auf. 3.1.5.4 Blockcopolymere Blockcopolymere bestehen aus längeren Blöcken verschiedener Homopolymere, die über ihre Enden kovalent verknüpft sind. Bei kürzeren Blöcken findet man auch den Namen Segmentpolymere. Die Anzahl der Blöcke ist theoretisch nicht beschränkt, praktisch aber schon, da eine bestimmte Anwendung angestrebt wird und die Herstellungsmöglichkeit Grenzen aufweist. Aufgrund der Eigenschaften der Blockcopolymere zeichnet sich eine beachtliche Aufwärtsentwicklung ab. Im Gegensatz zu den statistischen Copolymeren bringen Blockcopolymere die Eigenschaften beider jeweiligen Blöcke in das Copolymer ein. Da die Blöcke kovalent verbunden sind, findet keine Entmischung statt. Die Eigenschaften können sehr unterschiedlich sein, z.B. hydrophil-hydrophob, plastisch-elastisch oder hart-weich. Im Falle eines Copolymers mit hydrophilen und hydrophoben Blöcken besteht auch die Möglichkeit, ein mikrophasensepariertes Polymer mit spezieller Morphologie zu erhalten. Über das Einbringen von verschiedenen Eigenschaften in ein Polymermolekül bezüglich bestimmter Anwendungen hinaus, wirken Blockcopolymere durch ihre Blöcke als Verträglichkeitsvermittler für thermodynamisch unverträgliche Mischungen von Homopolymeren. Im Gegensatz zur Synthese statistischer Copolymere erweist es sich bei der Synthese von Blockcopolymeren als notwendig, dass lebende Polymere bzw. Kettenenden während der längeren Zeit der experimentellen Polymerisation oder Herstellung vorhanden sind. Aus diesem Grunde eignen sich ionische Polymerisationen zur Herstellung von Blockcopolymeren besonders gut, die lebende anionische und kationische Polymerisation, aber auch die kontrollierte radikalische Polymerisation (z.B. ATRP, RAFT), die koordinative Polymerisation und die Metathese. Bezüglich der Synthese von Blockcopolymeren sind drei prinzipielle Synthesestrategien zu unterscheiden. Nach dem ersten Verfahren, der Sukzessivmethode, stellt man mittels lebender ionischer Polymerisation den ersten Block her, polymerisiert bis zum vollständigen Verbrauch des ersten Monomers oder entfernt den Monomerrest und dosiert dann das zweite Monomer zu, welches an dem lebenden Ende des ersten Blocks anpolymerisiert und somit zu einem Diblockcopolymer führt. In analoger Weise kann man wiederum das erste oder ein drittes Monomer anpolymerisieren. Die Blocklänge wird mittels der Menge der Monomere gesteuert. Der erfolgreiche Anbau des zweiten und jedes weiteren Monomerblocks erfordert als Voraussetzung auch eine ausreichende Aktivität des aktiven Kettenendes. Auch für die anionische Polymerisation bedeutet dies eine genügende Nucleophilie des aktiven Kettenendes in bezug auf das zweite Monomer. Das anionische Kettenende des Methylmethacrylatblocks startet z.B. keine Styrolpolymerisation, dagegen startet umgekehrt das Styrylanion die Methylmethacrylatpolymerisation. Eine spezielle Variante dieses Verfahrens verwendet einen difunktionellen Initiator, z.B. auf der Basis von Naphthalinnatrium. Dieser bildet mit dem ersten Monomer ein Dianion (s. Kapitel 3.1.2.1), dann einen Block mit zwei anionischen Kettenenden, an denen man das zweite Monomer als zweiten Block anfügt. Damit wächst das Blockcopolymer nach zwei Seiten. Es versteht sich von selbst, dass Verunreinigungen die Kettenenden desaktivieren und demzufolge absolut auszuschließen sind. Auch wenige infolge Desaktivierung „abgebrochene“ Kettenenden ergeben ein Gemisch der gewünschten Blockcopolymere und der
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
113
Ausgangskomponenten. Im Fall des oben angeführten Wachstums nach beiden Seiten würde durch Desaktivierung eine Seite ganz oder teilweise ausfallen und man erhält Gemische der Blockcopolymere. Beachtenswert ist auch, dass zur Gewinnung eines „sauberen“ Blockcopolymers die Monomere für die jeweiligen Blöcke vollständig polymerisiert sind. Ist dies nicht der Fall und polymerisieren Monomere des ersten Blocks noch am Anfang des zweiten Blocks, so erhält man statistische Übergangsbereiche, sogenannte „tapered“-Blöcke, die meist unerwünscht sind. In einigen Fällen kann man sich diese Methode aber zur Erleichterung der Synthese zunutze machen. Bei der Blockcopolymerisation Styrol/Ethylen/Styrol ist es möglich, nach geeigneter Zeit Ethylen in eine laufende Ziegler-Natta-Polymerisation von Styrol einzuleiten. Das Ethylen polymerisiert sehr schnell in Gegenwart von unverbrauchtem Styrol zu einem statistischen Mittelblock Ethylen/a3 mol% Styrol. Nach Beendigung des Ethyleneinleitens polymerisiert das noch vorhandene Styrol zum dritten Block. Eine solche Variante ergibt sich als Möglichkeit bei sehr unterschiedlichen Polymerisationsgeschwindigkeiten und der Toleranz eines statistischen Mittelblocks. Bekanntestes und bezüglich der Produktionskapazitäten bedeutendstes Beispiel für Blockcopolymere stellen die Styrol/Buta-dien/Styrol-Triblockcopolymere als thermoplastische Elastomere dar. Der Mittelblock kann auch aus Isopren bestehen. Er bewirkt die Elastizität, und die Styrolblöcke führen zur Formstabilität. Die so erhaltenen Elastomere benötigen keine Vulkanisation. Die Anwendung derartiger Blockcopolymere beschränkte sich allerdings bisher auf den Normaltemperaturbereich. Für höhere Anwendungstemperaturen wären Außenblöcke aus isotaktischem Polystyrol besser geeignet. Nach dieser ersten Methode erfährt die Blockzahl keine Einschränkung. Es konnten Blockcopolymere, mit z.B. 10 Blöcken, mittels anionischer wie auch Ziegler-Natta-Polymerisation hergestellt werden. Der zweiten Synthesestrategie, der Kupplungsmethode, liegt die Reaktion von aktiven Kettenenden mit geeigneten Verbindungen, z.B. die Reaktion von Dianionen mit Dihalogeniden (CH2Cl2, COCl2, (CH3)2SiCl2), zugrunde. 2 StyxButyLi + ClCH2Cl
StyxButyCH2ButyStyx + 2 LiCl2
Setzt man ein Tetrahalogenid wie SiCl4 ein, erhält man sternförmige Blockcopolymere. Sty x But y Sty x But y
Si
But y
Styx
But y Sty x
Die Kupplungsmethode gestattet ebenfalls, in bezug auf ihre Polymerisationsfähigkeit völlig verschiedene Monomere in ein Blockcopolymer einzuführen; z.B. liefert die Umsetzung von lebendem Polytetrahydrofuran mit lebendem Polystyrol THFx PF6 + Styy Na THFSty-Blöcke . Die dritte prinzipielle Synthesestrategie für Blockcopolymere könnte man Transformationsmethode nennen. Das Ziel dieser Methode besteht darin, die aktive Endgruppe eines ersten Blocks so umzuwandeln, dass man an diese neu gebildete aktive Endgruppe ein nur nach einem anderen Mechanismus polymerisierbares Monomer anpolymerisieren kann. Bevorzugtes Ziel dieser Methode stellt ein Mechanismuswechsel dar, wofür ein weites Feld offen steht. Nach Möglichkeit geht man von einem anionischen Block aus, da dieser in einer gut definierten Form herstellbar ist. Die Transformation der anionischen Endgruppe in eine kationische kann folgendermaßen aussehen:
M1 Na + BrRBr M1RBr + AgClO4
M1RBr + NaBr M1RClO4 + AgBr
114
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
M1RY + M2
M1M2Y
Der umgekehrte Fall, die Transformation eines kationischen in ein anionisches Kettenende könnte über die Reaktion mit Aminen und anschließender Umsetzung der Aminoendgruppe, z.B. mit Butyllithium, erfolgen. Anionische Endgruppen lassen sich in eine für die radikalische Polymerisation geeignete Dioxygruppe in folgender Weise umformen: M1 Na + XR C O O M1R
O C R
M1R C
O
O C R
O
O
O
'T M2
.
C O M2· + R C O M2 O
O
Ebenfalls besteht die Möglichkeit, an ein radikalisch hergestelltes Polymer einen anderen Block mit radikalischem Mechanismus anzufügen, z.B. durch Überführung einer Isopropylendgruppe in ein Hydroperoxid. CH3 CH3 CH CH2 R
O C CH3
O2
CH(CH3)2
CH CH2 R
O C CH3
C(CH3)2 OOH
Mittels Temperaturerhöhung und Zugabe eines weiteren Monomers lässt sich über das spaltende Hydroperoxid ein neuer Block anfügen. Bei normaler radikalischer Polymerisation entstehen keine Blöcke mit einer so engen Polymerisationsgradverteilung wie bei einer lebenden ionischen Polymerisation resultieren. Im speziellen Fall der kontrollierten radikalischen Polymerisation zu „lebenden“ Polymeren ist die Auswahl der geeigneten Monomeren ziemlich beschränkt (Kap.3.1.1.7). Natürlich gibt es auch Wege, um z.B. von anionischen Blöcken zu Polyadditionsverbindungen und Polykondensaten und von dort zu Peptiden zu gelangen. Kapitel 3.1.2.1 beschreibt die Reaktion anionischer Kettenenden mit Kohlendioxid sowie Ethylenoxid. Die so gebildeten Carboxy- und Hydroxygruppen stehen für das Anfügen eines Polykondensatblocks bzw. eines Blocks aus Polyadditionsverbindungen zur Verfügung. Die Herstellung von Blockcopolymeren verfolgt das Ziel der Kombination verschiedener Eigenschaften in einem Molekül, welches man durch Mischen von Polymeren wegen deren Unverträglichkeit nicht erreicht. Dabei sollte nicht übersehen werden, dass die Unverträglichkeit nur in das Blockcopolymer verlagert worden ist. Jeder einzelne Block wird versuchen, sich separat zu aggregieren. Die vor sich gehende Entmischung erfolgt wegen der kovalenten Bindung der Blöcke nicht vollständig, führt aber zur Bildung sogenannter Domänen mit einer Häufung der Bindungen der Blöcke an den Domänengrenzen. Diese können harte Segmente (Polystyrol) als Kugeln, Zylinder oder Lamellen in einer weichen Matrix (Polybutadien) darstellen. Eine Änderung der Blocklänge wirkt sich auf die Struktur aus. Die Effekte sind an Dreiblockcopolymeren Poly(styrol-coethylen/buten-co-methylmethacrylat) genauer untersucht und auf die jeweils unterschiedliche Unverträglichkeit der einzelnen Blöcke zurückgeführt worden. Insgesamt wird die Bedeutung der Blockcopolymerisation für Spezialpolymere weiter zunehmen, da sie es erlaubt, Eigenschaften zu kombinieren. Und nicht nur das. Man kann Blockcopolymere so strukturieren, dass die entsprechenden Assoziatstrukturen leicht in Drähte, Hohlkugeln oder Röhren überführt werden können. Für Letzteres wird z.B. aus PS-PMMA-Blockcopolymerzylindern der PS-Kern durch Ozonbehandlung herausgelöst. In die entstehende Röhre kann man elektrochemisch Co-Nanodrähte abscheiden.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
115
3.1.5.5 Pfropfcopolymere Pfropfcopolymere (auch als Graftcopolymere bezeichnet) bestehen aus einer homopolymeren Rückgratkette, auf die an gewissen Stellen dieses Rückgrats Blöcke eines anderen Monomers polymerisiert sind. Die so entstehenden Polymere weisen von der Hauptkette verschiedene Seitenzweige auf. Eine besondere Gruppe sind die hyperverzweigten Polymere. Sie sind charakterisiert durch dicht verzweigte Strukturen und reaktive Gruppen. Typisch sind baumartige Strukturen. Pfropfcopolymere haben technische Bedeutung. Sie gestatten, das Problem der thermodynamischen Unverträglichkeit der meisten Polymere zu überwinden, indem auf ein Polymer Seitenzweige des zweiten Polymers aufgepfropft werden und damit eine Verträglichkeit beider Polymere erreicht wird. Das klassische Beispiel sind die ABS-Copolymere, in denen spröde StyrolAcrylnitril-Copolymere vermischt mit Polybutadien sind, auf welche Styrol-AcrylnitrilSeitenzweige aufgepfropft sind. Danach wird noch Butadien-Styrol-Copolymer zugemischt. Man erhält so ein schlagzähes Produkt. Zur Herstellung von Pfropfcopolymeren gibt es mehrere Methoden. In jedem Fall geht man von einem Rückgratpolymeren aus und „pfropft auf“. Das Rückgratpolymer kann man separat bilden und mit polymeranaloger Umsetzung aktive Stellen für die Initiierung von Seitenketten hereinbringen. Oder man bringt durch Copolymerisation aktive Stellen für die späteren Seitenketten herein. Oder man benutzt bifunktionelle, unterschiedliche Initiatoren und polymerisiert mit einem Initiator dann das Rückgrat und mit dem anderen die Seitenzweige. Geht man von einem Rückgratpolymer aus, besteht die Frage darin, wie man die aktiven Stellen, die den Seitenzweig starten sollen, in das Rückgrat bekommt. Erreichbar ist dies z.B. durch Bestrahlung eines Polymers. Hierbei werden Radikalstellen erzeugt, die entweder in Gegenwart des zweiten Monomers die Pfropfcopolymersation auslösen, oder es kann bei längerer Lebensdauer der Radikale das zweite Monomer auch nach der Bestrahlung aufgepfropft werden. Bei der letzten Variante bildet sich als Nebenprodukt kein Homopolymer des zweiten Monomers. Technisch nutzt man derartige Verfahren zur Oberflächenveredelung textiler Gewebe. Führt man die Bestrahlung in Gegenwart von Sauerstoff, jedoch ohne Monomer durch, so bilden sich Dioxygruppen, die relativ stabil sind. In einer späteren Reaktion kann das Polymer zur gewünschten Zeit in Gegenwart des Monomers erhitzt werden, wobei die Dioxygruppen zerfallen und die gebildeten Radikale die Polymerisation unter Bildung von Seitenzweigen starten. Eine andere Möglichkeit, die aktiven Stellen auf dem Rückgrat zu erhalten, stellt die Übertragung dar. Löst man das Rückgratpolymer in dem aufzupfropfenden Monomer und gibt einen Initiator zu, so tritt eine Übertragung zum Rückgratpolymer auf, und das entstehende Radikal am Rückgrat pfropft das Monomer auf. Allerdings ist diese Pfropfung von einer Homopolymerisation des Monomers begleitet, so dass sich ein Gemisch bildet. Der Erfolg hängt außerdem sowohl vom Initiator wie auch von der Radikalstabilität ab. Als Beispiel sei die Pfropfung von Methylmethacrylat auf Polyisopren genannt. Eine weitere Möglichkeit besteht darin, durch Copolymerisation oder eine polymeranaloge Umsetzung eine aktivierbare Gruppe in das Polymer einzuführen und diese zu aktivieren, wie folgendes Beispiel zeigt: hQ M CBr3
Mn2(CO)10
.
CBr2
CBr2M.
Alle diese Reaktionen der Radikalbildung unterliegen den Gesetzen der radikalischen Polymerisation bei der Bildung der Radikale, beim Wachstum und beim Abbruch. Demzufolge sind die aktiven Stellen auf dem Rückgrat statistisch verteilt. Der Abbruch bewegt sich je nach Monomer zwischen Disproportionierung und Kombination (bis zur Vernetzung), und die Übertragung zum Monomer
116
3.1 Kettenwachstumsreaktionen
sowie Lösemittel muss berücksichtigt werden. Daraus resultiert einmal, dass ein Gemisch aus Pfropfcopolymeren und Homopolymeren vorliegt, und ferner, dass die Pfropfcopolymere eine Verteilung bezüglich der Kettenlänge des Rückgrates und der Seitenzweige aufweisen und dass der Abstand der Seitenzweige auf dem Rückgrat nur einen Mittelwert darstellt. Die analytische Erfassung aller dieser Parameter ist nicht einfach. Für viele Zwecke genügen aber auf diese Weise hergestellte Pfropfcopolymere. Genau definierte Pfropfcopolymere erhält man per Synthese über die ionische Polymerisation. Zu diesem Zweck stellt man durch Kupplung mit einem geeigneten Reagenz abgestuft reaktive Gruppen her, metalliert und pfropft das zweite Monomer in folgender Weise auf:
2 M1 Na + Br
Br
M1
M1
+ 2 NaBr
Cl
Cl
+ Naphthalinnatrium
M1
M1 Na + M2
M1
M1 M2
Diese sicher aufwendige Methode weist aber den Vorteil des Erhalts eines sehr gut definierten Produktes über die anionische Polymerisation auf. Aber auch Polymerisationen nach einem koordinativen Mechanismus, durch kontrollierte radikalische Polymerisation wie auch lebende kationische Polymerisationen wurden für diesen Synthesetyp angewandt. Eine weitere, ähnliche Methode setzt ebenfalls bifunktionelle anionische Polymere mit Phosgen zu einem Polymer mit Ketogruppen um, welches mit anionisch hergestellten Polymeren umgesetzt wird. OH M1 COCl2 M1 o –CO–M – o –M 1 1 M 2 Cl 1 C M1 M2 M2 Eine andere Art, Pfropfcopolymere zu synthetisieren, beruht auf Makromeren. Dies sind Oligomere, meist aber Polymere mit einer reaktiven Endgruppe. Man erhält sie definiert, indem man ein lebendes anionisch hergestelltes Polymer gezielt, z.B. mit CH2 CHCOCl, abbricht.
M1 Na + CH2 CHCOCl
M1COCH CH2 + NaCl
Diese Makromeren kann man polymerisieren und erhält Pfropfcopolymere mit sehr dicht stehenden Seitenzweigen, welche dann sehr gut bezüglich Verteilung und Kettenlänge vorgegeben sind. Durch Verwendung dieser Makromere als Comonomere mit einem anderen Monomer gelingt es in der Copolymerisation, den Abstand der Seitenzweige zu steuern.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
117
3.2 Stufenwachstumsreaktionen Vom Standpunkt der Organischen Chemie aus betrachtet sind allein von den Verbindungen mit funktionellen Gruppen eine Vielzahl von Stufenwachstumsreaktionen vorstellbar, doch wird hierfür ein hoher Umsatz verlangt. Demzufolge spielen Reaktionsumsatz und kinetische Voraussetzungen eine große Rolle. Bis zum technischen Einsatz haben sich daher nur sehr wenige Reaktionen praktisch durchgesetzt, wofür mehrere Gründe maßgebend sind. Erforderlich ist eine einheitliche Reaktion, d.h. Nebenreaktionen dürfen gar nicht oder nur in geringem Maße vorliegen. Nebenreaktionen wären z.B. die Desaktivierung bzw. Verseifung hochaktiver funktioneller Gruppen (z.B. Säurechloridgruppen) wie auch die Ringbildung, bekannt insbesondere von der Polyamidsynthese. Ein hoher Umsatz ist aber nicht nur an sich interessant, sondern hat auch auf den Polymerisationsgrad wesentliche Auswirkungen. Drückt man die Zahl der Monomere (Äquivalenz vorausgesetzt) zu Beginn mit N0 und zurzeit t mit N aus, so definieren wir den Umsetzungsgrad p mit p = (N0 N) / N0. Der Umsetzungsgrad kann Werte zwischen null und eins annehmen. Das Zahlenmittel des Polymerisationsgrades ist aber definitionsgemäß Pn = N0 / N , und somit ergibt sich Pn = 1/(1 p) als Zusammenhang zwischen p und Pn (Tabelle 3.15). Die Tabelle zeigt, dass der Polymerisationsgrad Pn in Übereinstimmung mit der Definition der Stufenreaktion mit dem Umsatz ansteigt und bei 100 % Umsatz Pn = f erreichbar sein sollte. Dies setzt allerdings voraus, dass man das niedermolekulare Abspaltungsprodukt bei Polykondensationen 100%ig entfernen kann, was aber nur theoretisch möglich ist. Tab. 3.15: Zusammenhang zwischen Umsatz, Umsetzungs- und Polymerisationsgrad bei der Stufenwachswachstumsreaktion
Umsatz U in %
Umsetzungsgrad p
50 90 99 99,9 100
Polymerisationsgrad Pn
0,50 0,90 0,99 0,999 1
2 10 100 1000 f
Diese Tabelle bestätigt und erläutert auch den Verlauf der Kurve c für Stufenwachstumsreaktionen in Abbildung 3.1. Darüber hinaus ist der Verlauf der Tabellenwerte und der obigen Kurve durch das Spezifikum der Stufenwachstumsreaktionen, dass auch Oligomere und Präpolymere miteinander zu Polymeren reagieren können, erklärbar. Wie bereits aus den Formeln (3.3) und (3.4) in der Einführung zum Kapitel 3 hervorgeht, kennt man zwei Monomertypen zur Gewinnung von Stufenwachstumspolymeren. Entweder können die verschiedenen funktionellen Gruppen an einem Molekül AB oder an zwei Molekülen AA, BB variiert sein. Daraus ergeben sich folgende Polymerbildungsreaktionen: n AB
( A B )n
n AA + n BB
( A A B B )n
118
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
Erläutert an Polyamiden, zählt zu ersterem die Synthese aus Aminocarbonsäuren und zum Zweiten die Synthese aus Diaminen und Dicarbonsäuren. Zu den kinetischen Voraussetzungen gehört eine hohe Reaktionsgeschwindigkeit. Sie lässt sich durch Einsatz energiereicher Verbindungen und Verwendung von Katalysatoren erreichen. Wenn bezüglich der Konzentration der jeweils reagierenden funktionellen Gruppen bzw. Monomere eine Reaktion erster Ordnung vorliegt, folgt d> A @ dt k > A @> B@ . Bei exakter Äquivalenz sind [A] und [B] gleich, und man erhält d> A @ dt
k > A@
2
bzw. durch Integration 1 > A@ 1 > A 0 @ k t
.
Die temperaturabhängigen Geschwindigkeitskonstanten k sind von Reaktion zu Reaktion unterschiedlich und können im Bereich von 0,3 bis 100000 liegen. Von der Geschwindigkeitskonstanten hängt auch der Polymerisationsgrad ab. Bei Pn
> A 0 @ > A@
und Akzeptanz, dass
> A@ > A 0 @ 1 p ist, ergibt sich 1 1 > A 0 @1 p > A 0 @ Bei Pn = 1/(1 p) wird Pn > A 0 @ 1 > A 0 @
k t
.
k t ,
demzufolge ist Pn = [A0] k t + 1. Man kann also Pn aus der Anfangskonzentration und der Zeit vorausberechnen, wenn die Geschwindigkeitskonstante bekannt ist. Die Berechnung der Molmassenverteilung bei Stufenwachstumsreaktionen erfolgt in gleicher Weise wie bei der radikalischen Polymerisation mit Kettenabbruch durch Disproportionierung. Im Gegensatz zur radikalischen Polymerisation können Grundeinheiten Monomere, Oligomere oder Präpolymere mit mindestens zwei funktionellen Gruppen sein. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Grundeinheit mit zwei funktionellen Gruppen in Stufenwachstumsreaktionen (P1) mal mit weiteren bifunktionellen Grundeinheiten reagiert, ist DP1. Die Wahrscheinlichkeit des Reaktionsabbruchs ist dann gleich (1 D) und die Wahrscheinlichkeit für das Auftreten von Polymeren mit P Grundeinheiten gleich DP1(1 D). Für lineare Polymere ist diese Wahrscheinlichkeit gleich dem Molenbruch des Polymers. Die häufigkeitsgewichtete Polymerisationsgradverteilung x(P) und die massengewichtete Polymerisationsgradverteilung w(P) sind daher exakt die gleichen wie bei der radikalischen Polymerisation mit Disproportionierungsabbruch: x(P) = N(P) / N = (1 D) DP1 = (1/Pn) (1 1/Pn)P1 | (1/Pn) exp(P/Pn) w(P) = m(P) / m = (1 D)2 P DP1 = (1/Pn)2 P (1 1/Pn)P1 | (1/Pn)2 P exp(P/Pn) Die angegebenen Gleichungen ergeben für die Uneinheitlichkeit U = (Pw/Pn) 1 bei idealen Bedingungen und vollständigem Umsatz den Wert U = 1,0 (siehe Kapitel 3.1.1.6). Vorstehende Ausführungen beziehen sich auf die Äquivalenz der funktionellen Gruppen, wie sie beim Monomertyp AB vorliegt.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
119
Beim Monomertyp AA, BB ergibt sich auch die Möglichkeit der Nichtäquivalenz der Reaktionsteilnehmer. Bezeichnet man die Anzahl der Monomere mit NA und NB zu Beginn mit dem Index 0 und definiert das stöchiometrische Verhältnis zu r = NA0/NB0, wobei r < 1 sein soll, so folgt für die nicht umgesetzten Gruppen NA
1 p N A0
und
NB
1 p r N B0 1 p r
N A0 r
.
Daraus ergibt sich N = (1/2)(NA + NB), d.h. N = (1/2)[(1 p)NA0 + (1 p r)NA0/r] bzw. N = (NA0/2)(1 + 1/r 2 p) . Beim Betrachten der Gesamtzahl aller reagierten Einheiten Nr ist Nr = (1/2)(NA0 + NB0) bzw. bei Ersatz von NB0 folgt Nr = (1/2)(NA0 + NA0/r) = (NA0/2) (r + 1/r) . Für Pn erhält man dann
Pn
Nr N
N 2 > r 1 r @ N 2 1 1 r 2 p 0 A
0 A
bzw.
Pn
1 r r 1 2 r p
.
Auf diese Weise gelingt es, auch bei stöchiometrischen Ungleichgewichten den Polymerisationsgrad vorauszubestimmen. x Multifunktionelle Monomere Vorstehende Ausführungen verstanden sich nur als Polyreaktion von bifunktionellen Verbindungen. Die Definition der Stufenwachstumsreaktion umfasst aber auch die Reaktion mehr als bifunktioneller Monomere unter sich und im Gemisch mit anderen. Dabei bilden sich verzweigte Makromoleküle, evtl. ein Netzwerk (an diesem Punkt Gelbildung). Der Eintritt dieses „Gelpunktes“ ist streng reproduzierbar. Hier haben sich die ersten unendlich großen Makromoleküle gebildet. Oberhalb dieses Punktes ist eine Betrachtung des Polymerisationsgrades nicht sinnvoll. Wenn f die Anzahl der funktionellen Gruppen pro Monomermolekül angibt, so folgt für den Umsetzungsgrad unterhalb des Gelpunktes: p = (2 N0 2 N) / (f N0) Zu den Stufenwachstumsreaktionen zählen Polykondensation, dargestellt am Beispiel des Nylon NH2(CH2)6NH2 + HOOC(CH2)4COOH [ NH (CH2)6 NH CO(CH2)4 CO ] + H2O und Polyaddition, am Beispiel des Polyurethans erläutert. OCN(CH2)6NCO + HO(CH2)4OH [ CONH (CH2)6 NH CO O (CH2)4 O ] . Das Gemeinsame beider Mechanismen besteht darin, dass bei beiden mittels einer Polyreaktion aus bi- oder multifunktionellen Monomeren oder Oligomeren Makromoleküle gebildet werden. Der Unterschied zwischen beiden besteht darin, dass bei der Polykondensation durch Eliminierung niedermolekulare Produkte frei werden, bei der Polyaddition nicht. Insgesamt sind viele Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Mechanismen vorhanden. Es wird hier zuerst die Polykondensation und dann die Polyaddition behandelt. Zur in vitro Synthese von Biopolymeren siehe Kapitel 3.2.3. 3.2.1 Polykondensation Für Polykondensationen spielt das Gleichgewicht eine wesentliche Rolle. Ausgedrückt am Beispiel der Polyestersynthese ergibt sich folgende Formulierung:
120
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
K
> Ester @ > H 2 O@ > COOH@ > OH@
COOH = Dicarbonsäure ; OH = Diol
Demzufolge wird die Gleichgewichtslage, Äquivalenz der Einsatzprodukte vorausgesetzt, durch die Gleichgewichtskonstante K bestimmt und nur durch die Wasserkonzentration beeinflussbar und damit eine Erhöhung des Umsatzes zu Polyester erreichbar sein. Gleichgewichtsverschiebung sowie Umsatzerhöhung werden in der Praxis mittels Entfernung des Wassers in obigem System bzw. allgemein bei Polykondensationen durch Entfernung der abgespaltenen niedermolekularen Verbindung realisiert (Abdestillieren aus der Schmelze, Azeotropdestillation oder Neutralisation). Sehr hohe Polymerisationsgrade sind auch nicht wünschenswert, da z.B. die Schmelzviskosität bei der Synthese oder der Verarbeitung unnötig hoch liegt, aber die mechanischen Eigenschaften, wie Festigkeit der Fasern, ab einem bestimmten Polymerisationsgrad nicht mehr zunehmen. Aus diesem Grund strebt man gerade diesen Polymerisationsgrad und keinen höheren an. Bei Polyamiden und Polyestern liegt er in der Größenordnung von 200. Zur Ansteuerung dieses oder eines gewünschten Polymerisationsgrades gibt es zwei Möglichkeiten: Erforderlich ist die Steuerung des Umsatzes bei der Synthese bis zum gewünschten Punkt, bei Pn = 200 bis zu 99,5 % Umsatz. Da dieser seitens der technischen Reaktionsführung reproduzierbar bei diesen Umsätzen nicht ganz einfach ist, wird meistens ein zweiter Weg beschritten. Erreicht wird die Begrenzung des Polymerisationsgrades durch Zusatz einer monofunktionellen Verbindung (NM) und damit Störung der Stöchiometrie der Äquivalenz der bifunktionellen Einsatzprodukte. Quantitativ lässt sich Pn folgendermaßen berechnen: Pn = (N0 + NM) / [N0(1 p) + NM] und bei p = 1 resultiert: Pn = (N0 + NM) / NM Aus den Formeln geht auch hervor, dass der Umsatz durch die monofunktionelle Verbindung im Sinne einer Reduzierung beeinflusst wird. Das Ausbalancieren beider Größen p und Pn durch Entfernung des niedermolekularen Abspaltungsproduktes und Verwendung des monofunktionellen Zusatzes wird in der Technik genutzt. Ein Gleichgewicht existiert aber nicht nur bei der Synthese von Polykondensaten, sondern es wurden auch Kettenaustauschreaktionen zwischen den Segmenten der Polymerketten beobachtet. P1NHCOP2 + P3NHCOP4 P1NHCOP3 + P2NHCOP4 Bei diesen Austauschgewichten ändert sich die Molekülzahl nicht, aber die Polymerisationsgradverteilung strebt eine Normalverteilung nach Schulz/Flory (siehe Kapitel 2.1) mit der Uneinheitlichkeit eins an. Wegen dieser Austauschgleichgewichte sind aus den meisten Polykondensaten keine Blockcopolymere herstellbar. Im Vordergrund der bisherigen Ausführungen standen Umsatz und Polymerisationsgrad; jetzt soll die Geschwindigkeit der Reaktion betrachtet werden. Die Äquivalenz der funktionellen Gruppen der beiden zur Reaktion eingesetzten bifunktionellen Verbindungen M und des Katalysators K vorausgesetzt, ergibt sich: d [M]/dt = k [K] [M]2 In Anwesenheit eines Katalystors mit gleichen funktionellen Gruppen können diese Gruppen die katalytische Wirkung übernehmen, wodurch die Gleichung in folgende Form übergeht: d [M]/dt = k [M]3 Die genannten kinetischen Betrachtungen wurden vorwiegend für die technische Polymerisation der Polyamide und Polyester abgeleitet. Bei diesen Polykondensationen handelt es sich um Substanzpo-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
121
lymerisationen (s. Kapitel 3.3.3), nur in besonderen Fällen um Interphasenpolykondensationen (Kapitel 3.3.8). Die Synthese vieler Polykondensate verlangt aber die Vermeidung hoher Temperaturen; daher sollen hier zwei weitere geeignete Methoden der Synthese angeführt werden. Die phasentransferkatalysierte Polykondensation wird angewandt zur Synthese von Polyethern, Polycarbonaten und deren Thioanaloga, Polyestern, Polysulfonaten, Polyphosphaten und weiteren. Das Reaktionssystem besteht aus zwei nicht mischbaren Phasen, von denen eine meist Wasser ist. In der wässrigen Phase befindet sich das ionogene, in der organischen Phase das wasserunlösliche Reagenz. Der Unterschied zur Interphasenpolykondensation besteht darin, dass mittels katalytischer Mengen eines lipophilen Transferagens, wie quartärer Oniumsalze, Kronenethern oder Kryptanden, der Transport des ionischen Agens in das organische Medium stattfindet und somit die Polykondensation. Phasentransferkatalysierte Reaktionen erfordern keine wasserfreien Lösungsmittel, verlaufen schnell, und als besonderer Vorteil sei das Ablaufen bei tiefen Temperaturen genannt. Man erreicht auch bei nichtstöchiometrischem Einsatz der Ausgangsprodukte hohe Molmassen und eine niedrige Polydispersität der Polymere. Nach der Methode der aktivierten Polykondensation können Polyamide, Polyester und Polyharnstoffe unter milden Bedingungen mit Hilfe von Agenzien, die die Kondensation durchführen, synthetisiert werden. Diese Agenzien leiten sich von Phosphor- und Schwefelverbindungen ab. Das typischste, kondensierend wirkende Agens stellt Polyphosphorsäure dar. Sie reagiert mit Carbonsäuren zu einem Acylphosphat, welches mit Aminen zu Amidbindungen abreagiert. O R1COOH +
O
O
P O P
R1 COO P
OH
OH
OH
O + HO
P
R2NH2
OH
O R1CONHR2 + HO P OH
Analog reagieren Polyphosphorsäureester sowie Mischungen aus Phosphorpentoxid und Methansulfonsäure. Setzt man in der Abreaktion Alkohole ein, erhält man Esterbindungen. Ähnlich wie Polyphosphorsäure reagieren auch Pyridin-N-phosphoniumsalze. Bei obigen Synthesen fällt die Ähnlichkeit zur Biochemie ins Auge, z.B. ATP. Aber auch Peptidsynthesen werden mittels aktivierter Kondensation durchgeführt. Als schwefelanaloge Verbindung zur Durchführung einer aktivierten Polykondensation erweist sich das Pyridin-N-sulfiniumsalz. 3.2.1.1 Polyamidbildungsreaktionen Eine wichtige Gruppe der Polykondensationen stellen die Polyamidbildungsreaktionen dar. Die Polyamide zeichnen sich durch die Amidgruppierung aus, N C H O
die Wasserstoffbrücken ausbildet, welche für die Festigkeitseigenschaften der Polyamide von großer Bedeutung sind. Polyamide kann man sich sehr viele und vielfältig vorstellen, wenn man davon ausgeht, dass eine Reihe von Dicarbonsäuren und Diaminen, Aminosäuren und Lactamen zur Verfügung steht, aus denen sich durch Polykondensation, definitionsgemäß unter Abspaltung eines niedermolekularen Produkts (z.B. Wasser), das Polyamid bilden kann. Eine Bedingung hierfür stellt die Bildung von Makromolekülen dar, deren Polymerisationsgrad > 100 sein muss, um die Festigkeitseigenschaften zu erreichen. Daher haben sich nur wenige Vertreter der obigen drei Stoffklassen
122
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
als Polymere durchgesetzt. Für die Polyamide setzte sich auch eine geeignete Nomenklatur durch. Nylon wird als Gattungsname vorangesetzt, danach folgen die Zahl der C-Atome des Diamins und der Dicarbonsäure. Polyamide aus D,Z -Dicarbonsäuren bzw. deren Derivate und D,Z -Diaminen Die entsprechende Grundgleichung lautet: n HOOCRCOOH + n NH2R’NH2 HO [ OCRCONHR’NH ] nH + (n 1) H2O Wichtigstes Produkt dieser Reihe stellt das Nylon 66 aus Adipinsäure und Hexamethylendiamin mit einem Schmelzpunkt von Tm = 264 qC dar, welches insbesondere auf dem Sektor Fasern für Bekleidung Anwendung findet. Technische Bedeutung haben weiterhin das Nylon 610 aus Hexamethylendiamin und Sebacinsäure (Tm = 222 qC) und das Nylon 612 aus Hexamethylendiamin und Dodecandicarbonsäure (Tm = 209 qC). Letztere beiden weisen wegen ihrer längeren aliphatischen Kettensegmente eine geringere Fähigkeit zur Feuchtigkeitsaufnahme auf und werden für Spritzgussmassen verwendet. Die technische Herstellung (demonstriert am Nylon 66) erfolgt mittels Schmelzpolykondensation. Hierfür wird zuerst äquimolar aus wässriger Adipinsäurelösung und Hexamethylendiamin das sogenannte AH-Salz hergestellt, welches im Autoklav unter Entzug von Wasser bei 270 bis 280 qC bis zum vollständigen Umsatz polymerisiert. Die Einstellung des gewünschten Polymerisationsgrades geschieht durch Molmassenregulierung mittels einer monofunktionellen Carbonsäure, z.B. Essigsäure, wobei gleichzeitig die empfindliche Aminoendgruppe geschützt wird. Statt des Hexamethylendiamins sind auch cycloaliphatische Diamine, wie z.B. 1,4Bis(aminomethylcyclohexan) oder Diaminodicyclohexylmethan eingesetzt worden. Wesentlich höhere Polyamidschmelzpunkte wurden damit nicht erreicht, allerdings ist die Wasseraufnahmefähigkeit dieser Polyamide geringer. Eine weitere, wesentliche Erhöhung der Schmelzpunkte der Polymere und damit Hochleistungspolymere erhält man durch Einbau aromatischer Einheiten. Terephthalsäure und Hexamethylendiamin geben ein Polyamid mit einem Schmelzpunkt von 370 qC und Isophthalsäure mit m-Phenylendiamin ergibt einen mit 375 qC. Die technische Herstellung dieser hochschmelzenden Polyamide kann allerdings nicht mehr durch die Schmelzpolykondensation erfolgen, sondern dafür wird die Interphasenpolykondensation (Grenzflächenpolykondensation) eingesetzt. Zu diesem Zweck löst man das Diamin unter Zugabe von Natronlauge (zur Neutralisation der sich später bildenden Salzsäure) in Wasser und überschichtet mit einer Lösung des Dichlorids in einem mit Wasser nichtmischbaren Lösungsmittel. An der Phasengrenze bildet sich ein Polyamidfilm, der kontinuierlich abgezogen werden kann. Eine ganze Reihe aromatischer Polyamide wurden beschrieben mit unterschiedlichen Diaminen. Die Verarbeitbarkeit kann durch an der Kette hängenden Gruppen angehoben werden. Erwähnt werden soll auch das Poly(p-phenylenterephthalamid) NH
NH CO
CO
,
das aus Schwefelsäure zu Fasern versponnen wird. Bei dem Spinnvorgang wird die flüssigkristalline Struktur eingefroren, und man erhält auf diese Weise eine LC(liquid crystalline)glasartige Faser, deren Zersetzungstemperatur bei 460 qC liegt. Ebenso dient ein hergestelltes Copolyamid aus Poly(p-phenylenterephthalamid) und einem Polyamid, synthetisiert aus Terephthalsäure mit Diphenyletherdiamin, als Hochleistungspolymer. Polyamide aus Lactamen Lactame wie Aminocarbonsäuren geben nach folgenden Synthesegleichungen gleiche Polyamide:
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
HN
CO
123
[ NH (CH2) n CO ]
(CH2) n
NH2 (CH2) n COOH
[ NH (CH2)n CO ] + H2O
Technisch nutzt man bis auf einige Ausnahmen den Weg über die Lactame, wofür es mehrere Gründe gibt. Der wichtigste ist der, dass Lactame gegenüber Aminocarbonsäuren leichter zu reinigen sind, z.B. durch Destillation. Dieser Aspekt ist deswegen von besonderer Bedeutung, weil monofunktionelle Verunreinigungen den Polymerisationsgrad zu tief absenken können. Prinzipiell sind aber auch Aminocarbonsäuren polymerisierbar, wenn man die bessere Resonanzstabilisierung der Carboxygruppe beachtet und damit höhere Polymerisationstemperaturen in Kauf nimmt. Lactame können nach drei Mechanismen polymerisiert werden. x „Hydrolytische“ Polymerisation Hier wird durch Zusatz einer geringen Menge Wasser zuerst etwas Lactam zur Z-Aminocarbonsäure hydrolysiert, die dann polykondensiert, wobei das Kondensationswasser wieder in die Hydrolyse eingeht. HN
CO
(CH2) n
NH2(CH2)COOH n
+ H2O
[NH(CH2)CO]n + H2O
Statt Wasser können auch wasserabspaltende Substanzen Verwendung finden, demzufolge liegt also eine echte Polykondensation vor. Die Gesamtpolymerisation läuft aber schneller ab, als dies einer Polykondensation entspricht. Daher ist eine Addition des Caprolactams an die Aminogruppe unter katalytischer Wirkung von Carboxygruppen als weitere Parallelreaktion angenommen und auch nachgewiesen worden. HN
CO
(CH2) n
+ H[NH(CH2)CO]OH n x
H[NH(CH2)CO] OH n x+1
x „Anionische“ Polymerisation Bei der anionischen Polymerisation bildet man separat oder „in situ“ eine kleine Menge des Lactamanions mittels Natronlauge, Natriummethylat, Grignard- oder aluminiumorganischer Verbindungen. Dieses Lactamanion reagiert mit weiterem Lactam zu einem entsprechenden Diacylimid. CO
N
CO
NH
+ (CH2) n
(CH2)
CO
N CO (CH2)n NH
(CH2)
Die negative Ladung an der Aminogruppe wird gegen das stärker saure Wasserstoffatom des Lactams ausgetauscht und so das Lactamanion zurückgebildet, welches sich wieder an das Diacylimid anlagert und damit die Kette verlängert. Der Mechanismus wurde durch die cokatalytische Wirkung des Modelldiacylimids N-Acetylcaprolactam bewiesen. Die Polymerisation läuft in ca. einer Stunde ab („Schnellpolymerisation“). Es stellt sich schnell eine breite Molmassenverteilung ein, die sich bei längerem Stehen der Schmelze durch Umamidierungsreaktionen verengt. Auch Copolymere z.B. aus Caprolactam und Laurinlactam wurden so hergestellt. x „Kationische“ Polymerisation Bei der kationischen Polymerisation setzt man einen kleinen Anteil des Lactams mit Protonensäuren (Salzsäure, Phosphorsäure) um.
124
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
HN
CO + HCl
(CH2) n
H2N
+
CO
(CH2)5
+ Cl
Das sich bildende Kation löst die Polymerisation aus, welche langsam verläuft, wobei als Endgruppen offensichtlich Amidine vorliegen. NH C N (CH2)5
Gemeinsam ist nach allen Mechanismen polymerisierten Lactamen, dass ein Monomer/Oligomer/ Polymergleichgewicht angestrebt wird, das beim Caprolactam bei 250 qC ca. 8/3/89 % beträgt. Bei höhergliedrigen Lactamen liegt der Polymeranteil höher, ebenfalls bei niedrigeren Polymerisationstemperaturen. Wichtige Polyamide dieser Reihe sind Nylon 6 (Perlon, Tm = 223 qC) aus Caprolactam, Nylon 7 (Tm = 225 qC) aus Önanthsäurelactam, Nylon 11 (Tm = 190 qC) aus 11-Aminoundecansäure und Nylon 12 (Tm = 179 qC) aus Lauryllactam. Durch hydrolytische Polymerisation lassen sich alle Lactame mit einer Ringgröße von mehr als sieben Gliedern polymerisieren, auch in der Technik. Eine Ausnahme bildet die 11-Aminoundecansäure, da diese als Aminosäure ökonomischer synthetisierbar ist. Die technische Realisierung der hydrolytischen Polymerisation kann im Autoklaven oder im Strömungsrohr (VK-Rohr = vereinfacht kontinuierlich) erfolgen (s. Abbildung 3.10). Zu diesem Zweck wird das Lactam mit ca. 5 % Wasser und z.B. Essigsäure zur Molmassenregulierung versetzt und während des Durchlaufs durch das Strömungsrohr polymerisiert. Bei der Caprolactampolymerisation liegt die Polymerisationstemperatur bei ca. 270 qC. Es wird von Verweilzeiten von über 15 Stunden berichtet, wobei Aufheiz- und Vorkondensationsphase einbezogen sind. Die Schmelze kann sofort zu Fasern versponnen werden. Ansonsten wird sie in Bändern ausgedrückt, geschnitzelt und separat versponnen. Monomere und Oligomere entfernt man aus dem Polyamid mittels Extraktion. Technisch beherrscht wird auch das Herausdestillieren des Caprolactams aus der Polyamidschmelze unter Vakuum. Dabei verbleiben aber die Oligomere in der Schmelze und nach kurzer Zeit stellt sich das Monomer-Polymer-Gleichgewicht wieder ein, daher ist schnelles Arbeiten erforderlich. Mit zunehmender Ringgröße der Lactame verschiebt sich das Monomer-Polymer-Gleichgewicht zugunsten des Polymers, vermindert sich aber auch die Wasseraufnahmefähigkeit. Polylactame verwendet man vorwiegend für Fasern und Folien. Durch anionische Polymerisation lassen sich Lactame ab der Ringgröße fünf polymerisieren. Für diese niedriggliedrigen Ringe erwiesen sich niedrige Polymerisationstemperaturen als vorteilhaft, die durch die cokatalytische Wirkung der Acyllactame ermöglicht werden. Die technische Durchführung dieses Polymerisationsverfahrens erfolgt vorwiegend als Substanzpolymerisation in vorgegebenen Formen (z.B. Schiffsschrauben aus Polycaprolactam). Zur Initiierung dienen Natrium- und Acetylcaprolactam, womit gleichzeitig die Molmasse reguliert werden kann. Polycaprolactam wurde auch für die Beschichtung von Carbon-Nanoröhrchen und Silica-Nanopartieln verwandt. Nylon 3 (Poly-E-alanin) erhält man mittels anionischer Polymerisation aus Acrylamid. Auch substituierte Nylon 3-Verbindungen sind bekannt. Sie zeichnen sich durch hohe Schmelzpunkte aus. In die Reihe der Polyamide sind auch das Nylon 2, die Polypeptide und Proteine als Copolymere aus D-Aminosäuren einzuordnen. Allerdings ist die isolierte, individuelle stufenweise Synthese dieser Peptide mit der Stufenwachstumsreaktion der Polymerchemie nicht zu vergleichen. Hochmolekulare Poly-D-aminosäuren als Homopolymerisate werden durch Polymerisation der NCarboxyanhydride (Leuchssche Anhydride) mit Aminen erhalten.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
125
R R
HN CH
[NHCHCO] + CO2
OC CO O
Man kennt von den Polymeren die wollähnliche D-Form und die seidenähnliche E-Form. Die LIsomeren von Alanin, Glutaminsäure, Leucin, Lysin und Phenylamin führen zur D-Form, die des Glycins, Serins und Valins zur E-Form. Eine kationische Polymerisation der Lactame führt man technisch nicht durch. Als aromatisches Polyamid dieses Typs soll hier noch das Poly(p-benzamid) erwähnt werden, denn es eignet sich als Reifencord. Sowie das Poly(p-phenylenterephthalamid) als weiteres Aramid. 3.2.1.2 Weitere Polykondensate mit N-Atomen und Heterocyclen in der Kette Insbesondere Polykondensate mit N-Atomen und Heterocyclen in der Kette bieten einen Weg, um hochtemperaturbeständige Polymere herzustellen. Daher wurde dieses Gebiet auch intensiv bearbeitet und lieferte eine Reihe interessanter Polymere, von denen einige vorgestellt werden, die als Hochleistungspolymere Anwendung finden. Polyamide mit Heteroatomen im aromatischen Ring sind hergestellt worden. Weitere am Aromat substituierte Polyamide wurden auch als Precursor für Polyimide synthetisiert. Polyimide Setzt man aromatische Dianhydride z.B. Pyromellithsäureanhydrid bei ca. 40 qC mit aromatischen Diaminen um, so erhält man eine Polyamidsäure, die noch löslich ist und in einer zweiten Stufe bei 150 qC unter Wasserabspaltung Polyimid liefert.
O
O
O
C C
C O + H2N C
O
O
NH2
HOOC HNOC
COOH CONH
O
O
C
C
C
C
O
O
N
N
Die Dauergebrauchswärmebeständigkeit liegt bereits bei 350 qC. Auch die umgekehrte Synthese der Polyimide aus Diimiden und N-Alkylaminodiolen ist bekannt. Zur Verbesserung der Verarbeitbarkeit und auch der Löslichkeit wurden in beide Komponenten Spacer in Form von –O–, =CO, –S–, –SO2, –(CH2)– , –CHOH, –C(CF3)2– und Oligosiloxan aber auch größere Gruppen eingeführt. Polybenzimidazol Setzt man aromatische Tetramine mit Isophthalsäurephenylester um, so erhält man über die Stufe des Polyazomethins die Polybenzimidazole. Temperaturbeständigkeiten von 500 qC sind mit dieser Polymerklasse erreichbar. Ersetzt man in den Tetraminen zwei Aminogruppen durch Mercapto- bzw. Hydroxygruppen, so führt dies in die Reihe der Polybenzthiazole bzw. Polybenzoxazole.
126
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
H2N
NH2 +
H2N
NH2
H2N
NH2
C6H5OOC
COOC6H5
N
N
N
N
C N
N C
C
OC6H5
C
OC6H5
Der Einsatz von Tetracarbonsäuren statt Dicarbonsäuren bzw. deren Derivaten führt zu Poly(benzimidazolpyrrolon). O N
C
C N C
N C N O
Man erreicht dadurch nicht nur eine durchgehende Kette im Polymer, sondern zwei miteinander verbundene Ketten, und die Wärmestabilität erhöht sich um 100 qC. Derartige Polymere nennt man Leiterpolymere. Mittels geeigneter Synthesen sind auf diese Weise durch Polykondensation auch Polyhydrazide, Poly(oxamidrazone), Poly(oxadiazole), Poly(triazole), Poly(chinoxaline), Polytriazine, Polycarbazole, Polyamidine und weitere synthetisiert worden. 3.2.1.3 Polyestersynthesen Gegenüber den Polyamiden zeichnen sich die Polyester durch eine größere Vielfalt aus. Sie weisen die Estergruppierung auf: C O O Auch hier gibt es beide Bauprinzipien: 1) aus Dicarbonsäuren und Diolen und 2) aus Oxycarbonsäuren. Die Nucleinsäuren sind Polyester aus Phosphorsäure mit Ribose und Desoxyribose. Polycarbonat Polycarbonate sind Polyester der Kohlensäure. Als Diol hat sich im wesentlichen nur das 2,2'-Bis-(4-hydroxyphenyl)-propan (Bisphenol A) durchgesetzt. Zur Synthese gibt es zwei Methoden, die Umesterung bzw. die Schotten-Baumann-Reaktion. Umesterung:
CO O
C(CH3)2
+ HO
O CO O
C(CH3)2
O
+ 2
OH
OH
Diese Reaktion wird in zwei Stufen durchgeführt: In der ersten Stufe erhält man bei 180 qC bis 220 qC und einem mäßigen Unterdruck von ca. 400 Pa ein Oligomer, welches bei ca. 300 qC und 130 Pa dann in der zweiten Stufe in das Polymer mit einem Polymerisationsgrad von ca. 100 überführt wird. Wie die Gleichungen zeigen, destilliert dabei das Phenol ab.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
127
Schotten-Baumann-Reaktion: COCl2 + NaO CO
C(CH3)2
O
C(CH3)2
ONa O
+ 2 NaCl
Diese Reaktion wird als Grenzflächenpolykondensation unter Normalbedingungen durchgeführt. Dabei reagiert das in alkalischer wässriger Lösung gelöste Bisphenol A mit dem Phosgen, gelöst in einem nicht mit Wasser mischbaren Lösungsmittel. Das an der Grenzfläche der Lösungsmittel gebildete Polycarbonat geht in der nichtwässrigen Phase in Lösung. Statt Natronlauge kann man als Salzsäure-Acceptor auch tertiäre Amine benutzen. Mittels dieser Methode sind höhere Polymerisationsgrade als bei der Umesterung erreichbar. Auch aus Bisphenol-A-bis(chlorformiat) bildet sich in Methylenchlorid mit NaOH das Polycarbonat. Derartige Polycarbonate haben Schmelz- bzw. Erweichungspunkte von ca. 230 qC. Sie zeichnen sich durch gute Dimensionsstabilität, gute Isolierfähigkeit und Schlagfestigkeit aus. Ihren Verwendungszweck finden sie in der Elektrotechnik/Elektronik und als optische Datenspeicher. Aliphatische Polyester aus CO2 und Oxiranen sind hergestellt worden z.B. CO2 und verschiedene Epoxide, als Copolycarbonat auch zusammen mit Caprolacton. Polyethylenglykolterephthalat Für die Herstellung von Polyethylenglykolterephthalat geht man von verschiedenen Ausgangsprodukten aus: Dimethylterephthalat oder Terephthalsäure und Ethylenglykol oder Ethylenoxid. Das älteste Verfahren setzt Dimethylterephthalat mit Ethylenglykol unter Umesterung um. CH3OOC OC
COOCH3 + HO CH2 CH2 OH CO
O CH2 CH2
O
+ 2 CH3OH
Der Weg über das Dimethylterephthalat war deswegen nötig, weil anfangs die Terephthalsäure sich schlecht reinigen ließ. Nachdem reine Terephthalsäure zur Verfügung stand, erfolgte die Veresterung direkt. Man erhält einen Polyester mit einem Schmelzpunkt von 264 qC, der vorwiegend für Fasern, Folien und Flaschen eingesetzt wird. Die technische Darstellung geschieht durch Schmelzpolykondensation in zwei Stufen. Zuerst wird Dimethylterephthalat mit Ethylenglykol zu Diethylenglykolterephthalat bei 190 qC in Gegenwart von in der Schmelze löslichen Schwermetallacetaten (z.B. des Mangans) umgeestert. In ähnlicher Weise kann man Ethylenglykol mit Terephthalsäure umsetzen. In dieser Stufe bilden sich auch bereits Oligomere. Anschließend wird bei 280 qC und 150 Pa unter Abspaltung des überschüssigen Ethylenglykols in Gegenwart von Blei- bzw. Antimonacetat polykondensiert. Bei Verwendung von Ethylenoxid kann dieses auch direkt mit Terephthalsäure zu Diethylenglykolterephthalat umgesetzt und anschließend der Polykondensation unterworfen werden. x Andere aromatische Polyester Im Wesentlichen hat sich der Polyester aus Terephthalsäure und Butandiol-1,4 als Plast durchgesetzt. Er lässt sich bei tieferen Temperaturen verarbeiten. Als Diol kann allerdings auch Polytetrahydrofuran dienen, wodurch die Weichheit des Polyesters erhöht wird. Setzt man als Diol Butandiol-1,4 und Polytetrahydrofuran in geeignetem Verhältnis ein, erhält man Multiblockcopolymere mit harten und weichen Segmenten, die sich für plastische Elastomere eignen. Auch Polydisiloxanblöcke wurden eingeführt. In die Gruppe der Polyester gehört auch das Polyethylennaphthenat mit
128
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
als Säure z.B. 2.6-Naphthalindicarbonsäure. Es hat gute thermische Resistenz und bessere Sperrwirkung gegen Gase. Neu ist in die Gruppe eingedrungen das Polybutylennaphthenat, das Polytrimethylenterephthalat (besser anfärbbar und lichtecht) und Polycyclohexylterephthalat. Polyarylate Eine Zwischenstellung zwischen dem Polycarbonat und dem Polyethylenterephthalat nehmen die Polyarylate ein. Bisphenol A verestert mit Tere- oder Isophthalsäure ergibt diese Substanzklasse. Die Herstellung erfolgt entweder durch Umesterung des Diphenylesters der Tereoder Isophthalsäure mit Bisphenol A oder umgekehrt des Diacetylbisphenol A mit Tere- oder Isophthalsäure. Die Polyarylate sind transparente Thermoplaste und dienen z.B. zur Herstellung von Scheiben. Glastemperatur 175° C! Alkydharze Verwendet man als Dicarbonsäure Phthalsäureanhydrid im Gemisch mit Oelsäure als ungesättigte Monocarbonsäure und polykondensiert diese beiden Säuren mit Glycerin als Triol, gelangt man auf diese Weise zu den sogenannten Alkydharzen. Andere Dicarbonsäuren und Triole sind möglich. Die Verwendung von Glycerin als trifunktionelle Verbindung sollte dabei eine Vernetzung ergeben. Dem entgegen wirkt die Ölsäure, indem sich bei geeigneten Molverhältnissen nur verzweigte Polymere mit Molmassen von 1000-3500 bilden, die streichfähig sind und damit dem Verwendungszweck Alkydharz-Lack entsprechen. Die Ölsäurekomponente im Polymer hat aber noch eine weitere Funktion. Die darin enthaltenen Doppelbindungen vernetzen unter dem Einfluss von Luftsauerstoff nach dem Verstreichen des Alkydharzes als Lack und bilden nach dem Abdunsten des Lösungsmittels einen dichten Film. Die Vernetzungstendenz wird durch Sikkative beschleunigt. Ungesättigte Polyester Nach einem ähnlichen Prinzip der Alkydharzdarstellung erhält man ungesättigte Polyester. Hier wird Maleinsäureanhydrid als ungesättigte Säure im Gemisch mit einer gesättigten Dicarbonsäure mittels eines Diols, bevorzugt Ethylenglykol, HC CH OC CO O
+ HO CH2 CH2
OH
[ CO CH CH CO O CH2 CH2
O ] + H2O
bei 200 qC unter Zusatz saurer Katalysatoren bis zu einem Polymerisationsgrad von ca. 10-15 polykondensiert. Die gesättigte Dicarbonsäure dient dabei zur Regulierung des Doppelbindungsgehaltes im Polymer. Bei dieser Reaktion isomerisiert die Maleinsäure bis zu ca. 80 % in Fumarsäure. Diesem Polykondensat mischt man 3050 % einer Vinylverbindung zu, wie Styrol oder Vinylacetat, und copolymerisiert die Doppelbindungen des Polykondensats mit der Vinylverbindung mittels radikalischer Initiatoren, die bei entsprechender Temperatur zerfallen. Man erhält so Polyester, die durch z.B. Polystyrolketten vernetzt sind. Die Struktur dieses Netzwerkes bzw. die Länge der Netzkettenbögen wird durch die Anzahl der Doppelbindungen im Polykondensat und dem Anteil der Vinylverbindung bestimmt. Die ungesättigten Polyester haben insbesondere als glasfaserverstärkte Kunststoffe (GFK) große technische Bedeutung erlangt, aber auch mit anderen Füllstoffen ist eine Verstärkung möglich. Aliphatische Polyester Aliphatische Polyester des Typs Disäure/Diol z.B. Bernsteinsäure oder Adipinsäure mit 1,4-Butandiol oder Ethylenglykol (auch als längerer Block) sind bekannt und durch normale Polykondensation hergestellt worden. Sie unterliegen in ihrer Bedeutung aber den Lactonen. Aus Lactonen mit unterschiedlicher Ringgröße lassen sich Polyester mit anionischen, kationischen und koordinativen Katalysatoren herstellen wie auch enzymatisch mit Lipase. Copolymere und Blockcopolymere sind möglich. Von derartigen Monomeren abstammende Homopolyester haben nur wenig Anwendung, dann auch nur für Spezialzwecke, gefunden, z.B. aromatische mit hohen Schmelzpunkten.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
129
Poly(p-hydroxybenzoat) Dieses wird hergestellt durch Umesterung des Phenylesters der pHydroxybenzoesäure unter Abspaltung von Phenol. HO
COO
O
CO
+
OH
Das Polymer ist in allen Lösemitteln unlöslich, hat einen Schmelzpunkt von über 550 qC und wird vorwiegend durch Sintern verformt. Poly(H-caprolacton) H-Caprolacton lässt sich unter Ringöffnung anionisch sowie kationisch zum Poly(H-caprolacton) mit hohen Molmassen polymerisieren. Auch Blockcopolymere wurden hergestellt. Man verwendet es als Additiv für Polyolefine, z.B. zur Verbesserung der Anfärbbarkeit. Aber auch als Homopolymeres wie auch als Copolymeres zur Mikroverkapselung für die Langzeitfreisetzung von Pharmaka. Polyester-Nanopartikel wurden durch enzymatische Polymerisation von Lactonen hergestellt. Polyhydroxyessigsäure Das Dimere der Hydroxyessigsäure, das Glykolid, polymerisiert anionisch zu Polyhydroxyessigsäure. O O O
[ OCH2CO ]
O
Sie dient als medizinische Fäden, da sie vom Körper resorbiert wird. Polymere der Milchsäure Das D-Methylderivat der Polyhydroxyessigsäure bildet ebenfalls einen cyclischen dimeren Ester, fermentativ hergestellt, der sich polymerisieren und auch copolymerisieren lässt z.B. mit obiger Polyhydroxyessigsäure mit Sn-, Al- und Titanalkoxiden. Auch Blockcopolymerre und Stereoblockcopolymere sind hergestellt worden. Die Verwendung der Polymeren liegt bei medizinischem Nähmaterial, auf dem Gebiet der Fixierung von Knochen nach Frakturen mit Schrauben, Platten, Nägeln und der kontrollierten Freigabe mikroverkapselter Pharmaka. Poly(3-Hydroxybuttersäure) und deren Copolymer mit vorwiegend 3-Hydroxyvaleriansäure Dieser Polyester, produziert mittels Bakterien, hat kommerzielles Interesse gefunden, da er biologisch abbaubar und damit umweltfreundlich ist. Benutzt für Implantate für Knochen, Zellwände und z.B. als Mikrokapseln zur kontrollierten Freisetzung von Pharmaka. Copolymere Polyesteramide — Derartige Copolymere sind hergestellt worden als streng alternierende wie auch statistische Copolymere, aus aliphatischen und aromatischen Comonomeren, aus Hydroxy- bzw. Aminosäuren (Polydepsipeptide) bzw. auch aus Comonomeren mit der OH- bzw. NH2-Gruppe in - und -Stellung. Mehrere Methoden stehen zur Synthese zur Verfügung: Aminophenol mit Dicarbonsäurechloriden mit Interphasenpolykondensation, Copolymerisation von Lactamen mit Lactonen und Umsetzung von geschützten Aminosäuren (s Kap 3.2.3) mit cycl. Anhydrosulfiten von -Hydroxysäuren. Streng alternierende Copolyesteramide erhält man, indem man Letztere in starker Verdünnung in Gegenwart eines sauren Katalysators zu Morpholin-2,5dionen cyclisiert –(–NH–CHR–CO–)n–(–O–CHR’–CO–)n und diese unter Einsatz des Katalysator Sn(II)-ethylhexanoat polymerisiert. Zu obigem gleichen Morpholinderivat kommt man auch indem man Halogenacylaminosäuren cyclisiert. Streng alternierende Copolyesteramide erhält man auch durch stufenweise Umsetzung von N-geschützten Aminosäuren mit carboxylgeschützten Hydroxysäuren oder durch Polykondensation von N-(Hydroxyacyl)-aminosäureester mit Umesterungskatalysatoren wie z.B. Ti(OiPr)4.
130
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
Die Polydepsipeptide sind die wichtigsten Vertreter der biokompatiblen und bioabbaubaren Polyesteramide. Auch Polyesterurethane sind bekannt. Polyanhydride Polyanhydride stellt man her durch Reaktion von Dicarbonsäuren mit Acetanhydrid bis 1300 C im Vakuum, wobei das Acetanhydrid das Wasser abspaltet und als Essigsäure abdestilliert. Gleichfalls ist eine Schotten-Baumann-Reaktion der Dicarbonsäure mit einem Dicarbonsäurechlorid dafür geeignet. Polyanhydride sind instabil gegen Feuchtigkeit, die aromatischen allerdings weniger. Man kann sie benutzen um Pharmaka im Körper kontrolliert freizusetzen. 3.2.1.4. Flüssig-kristalline Polymere Vom Poly(p-hydroxybenzoat) ging die Entwicklung der flüssig-kristallinen (liquid crystalline) LCPolymeren aus. LC-Polymere zeigen zwischen der amorphen flüssigen und kristallinen Phase eine Mesophase, in der die stäbchen- oder scheibchenförmigen Polymermoleküle wie Flüssigkeiten fließen aber Ordnungszustände wie Kristalle zeigen. Die Ordnungserscheinungen in dieser Mesophase gehen auf unterschiedliche aber regelmäßige Parallellagerung der Moleküle zurück (nematisch, smektisch, cholesterisch s. Kap. 5.1.3.2.). Derartige Mesophasen können zwischen Schmelze und Festzustand (thermotrop) und in konzentrierter Lösung (lyotrop) vorliegen. Die thermotropen LCPolymere erfordern bei der Verarbeitung weniger Energie, weil sie eine niedrigere Viskosität besitzen. Die flüssig-kristalline Phase bringt bei der Erstarrung nach der Formgebung einen zusätzlichen Orientierungseffekt in den Kunststoff, also eine Selbstverstärkung ein und wird für Hochleistungsverbundwerkstoffe und Fasern genutzt. Der erste selbstverstärkende Polyester war ein Copolymer aus p-Hydroxybenzoat und Ethylenglykolterephthalat. Letzteres wurde durch andere Polyarylenterephthalate (Diphenylen, Naphthylen) und Ersteres auch durch andere aromatische Hydroxysäuren ersetzt. Wichtig ist der aromatische Anteil des Copolymers, denn auf den geht die flüssig-kristalline Eigenschaft zurück. Derartige Polyester haben per Synthese die aromatischen Reste in der Hauptkette, daher nennt man sie LC-Hauptkettenpolymere. LC-Hauptkettenpolymere sind nicht auf Polyester beschränkt, sondern dafür sind allgemein Polykondensate geeignet, wie z.B. Polyamide (Aramide), Polyoxamide, Polycarbonatsulfone, Polyhydrazide u.a. Polyheterocyclen. Die Herstellung geschieht durch Schmelzepolykondensation, Interphasenpolykondensation, Umesterung oder Polykondensation in hochsiedenden Flüssigkeiten. In Acryl- und Methacrylsäurepolymeren und Polysiloxanen kann man längere aromatische Reste (z.B. Diphenylgruppen) über die Estergruppe mit Abstandhalter (Spacer) einbringen und erhält so Polymere, in die die flüssig-kristalline Eigenschaft in die Seitenketten eingebracht wird, genannt LC-Seitenkettenpolymere. Ans Ende der LC-Seitenkette lassen sich auch funktionelle Gruppen z.B. ionische Gruppen, aber auch Kronenether anbringen. Photoempfindliche und ferroelektrische LC-Polymere waren herstellbar. Auch Kombinationen von Haupt- und Seitenketten-LCPolymere wurden hergestellt. Thermotrope LC-Polymere sind überwiegend Polyester. Zu nennen unter dem Stichwort LC-Polymere wären auch die lyotropen LC-Polymere wie Peptide z.B. das Poly-J-benyzylglutamat, viele Polyamide z.B. Poly-p-phenylenterephthalamid, wenige Polyester, Polyoxamide, Polyhydrazide u.a. Polyheterocyclen, Cellulosederivate wie Hydroxypropylcellulose, Polyisocyanide, Polyisocyanate, Polydiacetylene, Polyphosphacene. Auch Blockcopolymere mit LC-Blöcken Pfropfcopolymere mit LC-Rückgrat sind bekannt. 3.2.1.5 Phenoplaste Phenol bildet mit Formaldehyd Kondensationsprodukte. Die entsprechende Reaktion kann sauer oder basisch katalysiert werden und führt im sauren Medium zu Novolacken, im basischen zu Resolen, Resitolen und Resiten.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
131
x Kondensation im sauren Medium Bei der Säurekatalyse wird im wässrigen Medium Formaldehyd mit Säuren versetzt, z.B. Salzsäure. Dabei bildet sich das Methylolkation, das mit Phenol intermediär zu p- oder o-Methylolphenol reagiert, welches mit einem Überschuss Phenol sofort zu Methylenbrücken zwischen den aromatischen Kernen weiterreagiert. OH
OH
CH2OH2
+ CH2OH OH
OH
OH
OH
CH2
CH2
+ H2O
OH CH2
+ H
+
Kondensationsprodukte aus einem Molverhältnis Phenol zu Formaldehyd von 1,15 bis 1,3 : 1 weisen, weil obige Reaktionen mehrfach ablaufen, Molmassen von 500 bis 700 auf, sind noch löslich, unvernetzt und lagerfähig. Die Vernetzung erfolgt durch Zugabe des Härters Hexamethylentetramin (Urotropin) bevorzugt in p-Stellung. OH CH2
OH CH2
+ (CH2)6N4
CH2
CH2 CH2
CH2
CH2 OH
Auch Vernetzungen über eine Stickstoffbrücke CH2NHCH2 sind nachgewiesen worden, allerdings nur bei Verwendung höherer Hexamethylentetraminkonzentrationen. Novolacke werden, wie der Name sagt, als Lacke in alkoholischer Lösung, aber auch als Pressmassen und sogar als Fasern eingesetzt. Als Pressmassen finden sie, mit Füllstoffen versetzt, wegen ihrer guten Isoliereigenschaften, z.B. in Steckdosen, Verwendung. Fasern dienen u.a. als Füllmaterial für flammfeste Textilien. x Kondensation im basischen Medium Unter Katalyse von Alkali- und Erdalkaliverbindungen addiert das Phenolatanion Formaldehyd zu einem Methylolphenol. O
O + CH2O
CH2OH
In Abhängigkeit vom Molverhältnis Formaldehyd/Phenol und mit zunehmendem pH-Wert tritt auch eine Di- und Trisubstitution des Phenols durch Formaldehyd auf. Die Kondensation der Methylolphenole schreitet in der Wärme unter Bildung mehrkerniger Methylolphenole, der sogenannten Resole, fort.
132
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
OH
OH CH2OH
OH CH2
CH2OH
+ H2O
Eine Lagerfähigkeit dieser Produkte erreicht man mittels Säurezusatz, eine Vernetzung zu Resiten durch Erhitzen, wobei sich Etherbrücken ausbilden. OH
OH CH2OH
2
OH CH2 O CH2
+ H2O
Da auch di- und trisubstituierte Phenole bei der Resolherstellung entstehen, ist die Multifunktionalität als Voraussetzung für die Vernetzung vorhanden. Umgekehrt steuert die Funktionalität die Vernetzungsdichte. Dies kann auch durch den Einsatz substituierter Phenole erfolgen. Resitole dienen vorwiegend zur Herstellung von Schichtpressmassen mit Geweben und Papier. Für die braune Farbe der Phenol-Formaldehyd-Kondensate bei der Härtung mit Hexamethylentetramin wurden früher Chinonmethidstrukturen, CH
O
neuerdings werden Azomethinstrukturen dafür verantwortlich gemacht. CH NCH2 3.2.1.6 Aminoplaste Harnstoffe und andere NH-gruppenhaltige Verbindungen, wie z.B. Guanidine, Amine (insbesondere Melamin), Säureamide und Urethane sind in der Lage, mit Formaldehyd Kondensationsreaktionen einzugehen, wobei Harnstoff und Melamin bevorzugt sind. In schwach alkalischer oder neutraler wässriger Lösung bilden sich Methylolharnstoffe.
NH2CONH2 + CH2O NH2CONHCH2OH Je nach dem Molverhältnis Harnstoff/Formaldehyd kann man bis zur Tetramethylolverbindung gelangen. Die Verbindungen sind in alkalischer Lösung beständig. In saurer Lösung geht die Methylolverbindung mit Protonensäuren unter Wasserabspaltung in ein Carbokation-Immoniumion über, RHN CO NH CH2OH
H RHN CO NH H2O
CH2
RHN CO NH CH2
welches weiteren Harnstoff unter Kettenverlängerung und Vernetzung anlagert. Die Vernetzung bzw. die benötigte Multifunktionalität ergibt sich einerseits aus den mehrwertigen Methylolharnstoffen, andererseits aus der Reaktion weiterer NH-Gruppen. Auch ist bekannt, dass Trimerisierungen unter Ausbildung folgender Strukturen ablaufen. CO NHR N H2C RHN CO N
CH2 N CO NHR CH2
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
133
Melamin als trifunktionelle Verbindung vermag, wie bereits angegeben, ebenfalls mit Formaldehyd zu reagieren, und zwar jedes Wasserstoffatom in Abhängigkeit vom Melamin/FormaldehydMolverhältnis. Die Vernetzung tritt beim Erwärmen ein. Aminoplaste dienen als Leime, zur Erhöhung der Knitterfestigkeit von Textilien und als Pressmasse. NH2 C N H2N C
N N
C NH2
3.2.1.7 Poly(alkylensulfide) Poly(alkylensulfide) werden durch die Formel –RSx symbolisiert. Der Syntheseweg ist unterschiedlich, je nachdem ob x = 1 oder > 1 ist. Mit x > 1 werden die Produkte in Anlehnung an die anorganischen Polysulfide auch Polyalkylenpolysulfide genannt. Die entsprechenden Produkte stellt man durch Polykondensation aus Dihalogenverbindungen und Natriumpolysulfid her, wobei x als Schwefelgrad gebräuchlicherweise in den Grenzen von zwei bis vier angestrebt wird. Cl–R–Cl + Na2Sx –[–R–Sx–]– + 2 NaCl Der Schwefel ist in der Kette linear eingebaut. Mit x = 4 erhält man ein Produkt mit gummiähnlichen Eigenschaften, den Polysulfid-Kautschuk oder Thiokol. Als Dichlorverbindungen dienen Ethylen- und Propylendichlorid, und bevorzugt Bis-(2-chlorethyl)formal (ClC2H4OCH2OC2H4Cl). Letzteres erfordert nur zwei Schwefel pro Struktureinheit zum Erhalt kautschukelastischer Eigenschaften. Auf diese Weise kann man flüssige Polymere mit Molmassen von 102 bis 103 und feste Polymere mit Molmassen von 105 herstellen. Durch einen Überschuss von Natriumpolysulfid gegenüber der Dichlorverbindung bilden sich bei den Polymeren Mercaptid-Endgruppen aus. Die Reaktion mit Natriumhydrogensulfit und Natriumhydrogensulfid ermöglicht es, die Molmassen wie folgt zu regeln:
PnSxyPm + NaSH + NaHSO3 PnSxH + PmSyH + Na2S2O3 Umgekehrt kann man durch Oxidation der Mercaptangruppen eine Molmassenerhöhung durch Bildung von Sulfidbrücken erreichen. PnSxH + HSyPm + (1/2) O2 PnSxyPm + H2O Die Vernetzung, die für die kautschukelastischen Eigenschaften notwendig ist, erhält man durch Einbau von bis zu 5 % trifunktioneller Halogenverbindungen. Der molare Anteil dieser trifunktionellen Verbindungen steuert die Dichte des Netzwerks, d.h. er bestimmt, ob ein härterer oder weicherer Gummi resultiert. Derartige Poly(alkylensulfide) zeichnen sich durch Sauerstoff- und Lösemittelbeständigkeit aus und werden als kältebeständiger Kautschuk verwandt. Flüssige Produkte finden im Bauwesen als Dichtungsmaterial Anwendung. Poly(alkylensulfide) mit einem Schwefelatom pro Strukturelement erhält man durch radikalische Addition von Mercaptangruppen an Vinylgruppen mittels Peroxiden als Initiatoren. RSH + CH2 CH RSCH2CH2 Mehrere Vinylgruppen im Molekül führen zu vernetzten Poly(alkylensulfiden).
134
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
3.2.1.8 Polyphenylene, Polyphenylenvinylene Poly-p-phenylen ist eine kristalline unlösliche Substanz beachtlicher thermischer Stabilität. Die Herstellung der Poly-p-phenylene geschieht im wesentlichen durch Polykondensation z.B. BrC6H4Br (C6H4)n Auch substituierte Poly-p-phenylene werden durch Polykondensation hergestellt. Substituenten erhöhen die Löslichkeit und Verarbeitbarkeit. Poly-p-phenylene sind Halbleiter (s.a. Kap. 5.4.2.2) und interessante Bausteine für lichtemittierende Dioden. Poly-p-phenylenvinylen wird auch meistens durch Polykondensation hergestellt z.B. ClCH2C6H4CH2Cl (C6H4CH=CH)n Es wurde auch hergestellt als Nanofasern, Nanostäbchen und Nanoröhren. Am Ring und an der Doppelbindung substituierte Poly-p-phenylenvinylene sind ebenfalls bekannt. Auch aus dieser Substanzklasse rekrutieren sich Halbleiter. Ebenfalls bekannt sind Polyarylenethenylene, also Arengruppen, die durch Alkyne-Linkers verbunden sind. Auch Polyfluorene und Polycarbazole lassen sich in dieses Kapitel einordnen. 3.2.1.9 Poly(arylensulfide), Polysulfone Als Hochleistungspolymer bemerkenswert ist das Polyphenylensulfid, hergestellt aus p-Dichlorbenzol mit Dinatriumsulfid. Cl
Cl + Na2S
S
+ 2 NaCl
Als Lösungsmittel für diese Polykondensation dient N-Methylpyrrolidon. Polyphenylensulfid schmilzt ab 285 qC unter Verfärbung, ist aber an der Luft bis ca. 500 qC stabil. Es findet als korrosionsfester Belag für Ventile, Töpfe und Pfannen Anwendung. Es ist aber auch ein leitfähiges Polymer. Copolymere Poly(phenylensulfid-phenylenamin) werden durch säureinduzierte Kondensation der aromatischen Methylsulfoxide hergestellt. Polysulfone zeichnen sich durch die Gruppierung [–RSO2–]– aus. Technisch interessante Polymere weisen als R jeweils einen Aromat aus. Das einfachste Polysulfon lässt sich nach folgender Gleichung darstellen. ArSO2Cl [ArSO2] + HCl Dieses Produkt hat zwar eine hohe Schmelztemperatur von 520 qC, ist aber schwierig zu verarbeiten. Technisch werden daher Poly(ethersulfone) (Tm | 222 qC) hergestellt. Sie gehören zu den Hochleistungspolymeren. Aliphatische Polysulfone (s.a. Kapitel 3.1.5.3) dienen wegen ihrer niedrigen ceiling-Temperatur als Abdecklacke zur Herstellung integrierter Schaltkreise. Man reiht sie in die Funktionspolymere ein. 3.2.1.10 Polyether, Polyethersulfone, -imide und -ketone Die in den verschiedenen Kapiteln beschriebenen Hochleistungspolymere, wie Polyimide und Polysulfone, zeichnen sich zwar durch ein besonders gutes Temperaturverhalten aus, weisen aber bei ihrer Verarbeitung Schwierigkeiten auf. Auch Polyphenylene z.B. Polybenzol, hergestellt durch Friedel-Crafts-Polymerisation des Benzols mit AlCl3 ist schlecht verarbeitbar. Es ist daher wünschenswert, flexibilisierende Segmente einzubauen. Hierfür eignen sich vor allem Ester- oder Ethergruppen, wobei Ethergruppen zu bevorzugen sind, da sie chemisch stabiler sind als Estergruppen. Polyehter wurden auch zur Hydrophilmachung von Pharmaka benutzt. Auch Polyether selbst auf Basis von Aromaten sind als Hochleistungspolymere bekannt. 2,6disubstituierte Phenole bilden in Toluol durch oxidative Kupplung Polymere.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
R
R
n HO
Cu Amin
+ n/2 O2
135
+ n H2O
O
R
n
R
Das als Katalysator dienende Cu wird mittels tertiärer Amine im organischen Medium löslich. Der Rest R darf nicht zu raumfüllend sein, da sich sonst nur Oligomere bilden. Das Poly(2,6-dimethylp-phenylenoxid) hat einen Schmelzpunkt von 210 qC und eine kommerzielle Bedeutung als Spezialpolymer und als Blendkomponente. Polyethersulfone stellt man industriell aus folgenden Komponenten her: + ClO2S
O
O
O
SO2
SO2Cl
SO2
O
Derartige aromatische Polyethersulfone haben Glastemperaturen zwischen 190 280 qC und gute dielektrische Eigenschaften. Sie sind chemisch wie thermisch stabil und werden daher sowohl für elektrische Teile als auch zur Beschichtung von Pfannen angewendet. Auch Blockcopoly(ethersulfone) wurden hergestellt. Polyetherimide weisen ebenfalls die Ethergruppe als flexibilisierendes Element auf. Man stellt sie aus 1,4-Bis(3-nitrophthalimido)-phenylen und z.B. Bisphenol A her. O
O
C
C N
NO2
CH3 + NaO
N
C
C
O
O O
Natrium-
nitrit
C
NO2
NaO
CH3
O
C
C
CH3
N
N C
C
O
O
O
C
O
CH3
Die Polyetherimide sind thermoplastisch und kurzzeitig bis etwas über 200 qC einsetzbar, im gefüllten Zustand (s. Kapitel 3.1.3.1) bis ca. 260 qC. Auch Polyetherblockamide wurden hergestellt. Eine ganze Reihe von Polyetherheterocyclen sind synthetisiert worden mit folgenden Heterocyclen: Chinoxalin, Phenylimidazol, Benzoxazol, Benzthiazol, Pyrazol, Oxadiazol, Benzimidazol, Furan, Thiophen, Pyrrol, Phthalazin, Isochinolin u.a. Auch Polyetheresteramide sind bekannt. Bemerkenswert sind auch die Polyetherketone. Von technischem Interesse sind hier nur die vollaromatischen Systeme, z.B. die Umsetzung des Dialkalisalzes des Hydrochinons mit 4,4’Difluorbenzophenon. O KO
OK + F
C
O F
2 KF
O
O
C
Die Werkstoffeinsatztemperaturen liegen etwa bis 250 qC. Die Synthese, ausgeweitet auf aromatische Diether, führt dann zu Polyetheretherketonen. Deren Einsatztemperatur liegt bei ca. 260 qC,
136
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
aber sie sind flexibler und damit besser zu verarbeiten. Auch die anschließende Sulfonierung von Polyetherketonen ist bekannt. 3.2.1.11 Ionene Durch Polykondensation von Alkylendiaminen mit Alkylendihalogeniden bildet sich ein Polyammoniumsalz Cl(CH2)6Cl + NH2(CH2)4NH2 >NH2+(CH2)4NH2+(CH2)6@ + 2 Cl Und wenn man dieses mit Basen behandelt erhält man >NH2+(CH2)4NH2+(CH2)6@ + 2 OH einen echten Elektrolyt. 3.2.2 Polyaddition Bei der Polyaddition gelten eine Reihe mit der Polykondensation gemeinsamer Charakteristika, die bereits dort beschrieben sind und hier noch einmal kurz zusammengefasst werden: 1. langsames Steigen der Molmasse mit der Reaktionszeit, 2. Erfordernis der Abwesenheit von Nebenreaktionen und Äquivalenz der Endgruppen mit dem Ziel eines hohen Umsatzes und Polymerisationsgrades, 3. Steuerung der Molmasse durch Zusatz monofunktioneller Verbindungen. Meist geht man bei der Betrachtung der Polyaddition nur auf die Polyurethane und Polyepoxide ein, die auch hier näher behandelt werden sollen. Zu den Polyadditionsverbindungen gehören aber auch Polyharnstoffe (aus Diisocyanaten und Aminen), Polythioharnstoffe (aus Diisothiocyanaten und Aminen), Poly-2-oxazolidone (aus Diepoxiden und Diisocyanaten), Polysulfide (aus Dithiolen und konjugierten Dienen), Polyammoniumhalogenide (aus Dihalogeniden und Diaminen) und sogar Polyamide (aus Dinitrilen und Diolen), Polycyanate und Polycyanide. Diese Beispiele zeigen, dass Polykondensation und Polyaddition zum gleichen Produkt führen können. Ein weiteres Beispiel wäre die Bildung gleicher Polyurethane durch Polyaddition aus Diisocyanaten und Diolen oder durch Polykondensation aus Diaminen und Dihalogenformiat. Bismaleinimide stellen ebenfalls reaktionsfähige Ausgangssubstanzen dar. Sie reagieren z.B. zu Polyimiden, wie hier formuliert. O
O
O N
R
O
N
NH R NH
N R N
+ H2N R NH2 O
O
O
O
Zu Polyadditionen zählt man auch die Diels-Alder-Reaktion zu Hochpolymeren, +
ebenso wird die anionische Polymerisation des Acrylamids zu Poly-E-alanin zu den Polyadditionen gerechnet. 3.2.2.1 Polyurethane Die wichtigste Gruppe der Polyadditionsverbindungen sind die Polyurethane mit der charakteristischen Urethangruppierung NHCOO.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
137
Diese Gruppe zeichnet sich durch eine Ähnlichkeit mit der Polyamidgruppierung aus, weshalb die Eigenschaften der Polyurethane denen der Polyamide bis zu einem gewissen Grade ähnlich sind. Thermoplastische Polyurethane Polyurethane mit der allgemeinen Reaktionsgleichung HO(CH2)nOH + OCN(CH2)mNCO –[–O(CH2)nOCONH(CH2)mNHCO–]– sind durch Variation von m und n sehr viele vorstellbar. Durchgesetzt hat sich für Plaste im wesentlichen nur das Polyurethan aus Hexamethylendiisocyanat und Butandiol-1,4. Die Reaktion wird in der Schmelze durchgeführt, und man erhält ein Polyurethan mit einem Schmelzpunkt von 190 qC, welches zu Fasern und Filmen verarbeitet wird. Für andere höher schmelzende, auch aromatische Polyurethane erfolgt die Herstellung in Lösung. Die Reaktion wird unter katalytischer Wirkung von tertiären Aminen und Zinnverbindungen, wie z.B. Dibutylzinndiacetat durchgeführt. Polyurethane sind nicht so stabil wie Polyamide. Ab 200 qC treten je nach Struktur Abbaureaktionen in Form einer Depolymerisation in die Ausgangsprodukte oder unter Kohlendioxid-Abspaltung auf, wobei Amine und Vinylendgruppen entstehen. In der Schmelze hergestellte Polyurethane haben normalerweise Polymerisationsgrade von kaum mehr als 50. Höhere Werte werden durch Interphasenpolykondensation von Diaminen mit Dichlorameisensäureester erhalten. Vernetzte Polyurethane erhält man durch Einsatz trifunktioneller Ausgangsprodukte (Triole oder Triisocyanate), aber auch mit einem Überschuss von Diisocyanat, wobei es dann zur Bildung von Allophanaten kommt. P NCO + P NHCOO
P
P NCOO P CONH P
Ebenfalls möglich ist eine Trimerisierung der Isocyanate zu Isocyanursäure. CO P N
N P
OC
CO N P
Die Herstellung von Polyurethanen bis zu Copolyurethanen weist eine große Variationsbreite auf, woraus sich viele Anwendungsgebiete ergeben, von denen eines die Polyurethanelastomere sind. Polyurethanelastomere Obige lineare wie auch verzweigte Polyurethane sind durch die periodisch auftretenden Wasserstoffbrücken Thermoplaste, nicht aber Elastomere. Für Elastomere müssen längere flexible Kettensegmente eingeführt werden, ohne die Wasserstoffbrücken zu verlieren. Zur Lösung dieses Problems verwendete man statt der obigen kurzkettigen Diole längerkettige Diole mit Molmassen von 2000 auf Basis von Polyethern (Polyoxypropylen, Polytetrahydrofuran) oder Polyester (Polycaprolacton). Diese setzt man mit äquivalenten Mengen des möglichst aromatischen Diisocyanats um. Darauf folgt die Kettenverlängerung mit aliphatischen Diolen. Auf diese Weise erhält man Polyurethane mit flexiblen Blöcken, die in vorher bestimmten Abständen Urethangruppen besitzen und den Charakter von thermoplastischen Elastomeren haben. Eine Vernetzung mit überschüssigem Isocyanat ergibt Allophanat- oder Isocyanuratstrukturen. Ersetzt man die aliphatischen Diole durch Diamine, gelangt man zu den Copolyurethanharnstoffen. OCNRNHCOO ~ OCONHRNCO + H2NR’NH2 –[–CONHRNHCOO ~ OCONHRNHCONHR’NH–]–
138
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
Die Harnstoffgruppierung kann durch weiteres Isocyanat in Form von Biuretstrukturen in definierter Weise vernetzt werden. Elastische Polyurethanschäume Wenn man dem längerkettigen Polyol einen Überschuss Diisocyanat und dem Diol eine kontrollierte Menge Wasser sowie ein Tensid (als oberflächenkontrollierendes Agens) zusetzt, bilden sich aus dem Diisocyanat und dem Wasser ein Amin und Kohlendioxid. Das Amin bildet mit dem Isocyanat Harnstoffgruppen, und das Kohlendioxid schäumt das Polymer auf. NCO + H2O
NH2 + CO2
NCO + NH2 NHCONH Die Harnstoffgruppierung gibt mit weiterem Isocyanat Biuretvernetzungen. Bezüglich Schaumbildung und Vernetzung ist die sorgfältige Abstimmung aller Reaktionsteilnehmer nötig. Als physikalisch wirkende Schaumbildner können auch leichtflüchtige Kohlenwasserstoffe, z.B. Cyclopentan, dienen. Elastische Polyurethanschäume finden vorwiegend als Polstermaterial Verwendung. Polyurethanhartschäume Hartschäume werden aus Polyisocyanaten und Polyolen mit Funktionalitäten von meistens vier und mehr erhalten, woraus eine starke Vernetzung hervorgeht. Wasser als Schaumbildner wird für Schäume mit hoher Dichte eingesetzt. Polyurethane als Lacke und Klebstoffe Für Lacke und Klebstoffe setzt man Triisocyanate und meistens trifunktionelle Alkohole ein. Die beiden Komponenten werden erst kurz vor dem Einsatz zusammengegeben. Da Isocyanate feuchtigkeitsempfindlich und physiologisch nicht unbedenklich sind, werden sie in mit z.B. Phenol verkapptem Zustand angeboten. R NH COO
Diese dissoziieren ab 130 qC und setzen das Isocyanat frei, welches dann mit dem Polyol zum vernetzten Polyurethan, einsetzbar als Lack oder Klebstoff, reagiert. 3.2.2.2 Polyepoxide Polyepoxide bzw. Epoxidharze haben ihren Namen von Ausgangsprodukten, die Epoxygruppen (Oxirangruppen) enthalten, z.B. Epichlorhydrin oder Bisepoxide. H2C CH O
Diese werden mit Bisphenolen, Novolacken oder Aminen zu Präpolymeren kondensiert und in den dann folgenden Additionsschritten in ein Polymer überführt. Polyepoxide wendet man als Lack- und Gießharze sowie in der Metallklebetechnik an. Die gebräuchlichste Epoxyverbindung stellt das Epichlorhydrin und das gebräuchlichste Bisphenol, das Bisphenol A dar. Beide ergeben bei einem Überschuss von Epichlorhydrin in Gegenwart von Natronlauge folgendes Präpolymer. H2C CHCH2Cl + HO O H2C
CHCH2O O
C(CH3)2
C(CH3)2
OH
OCH2CHCH2O OH
C(CH3)2 n
OCH2HC CH2 O
Je nach dem Molverhältnis der Einsatzprodukte erhält man unterschiedliche Molmassen. Präpolymere überschreiten die Molmasse 5000 normalerweise nicht. Eine Reaktion an den gebildeten
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
139
Hydroxygruppen der Präpolymere kann weiterhin erfolgen, so dass Verzweigungen eintreten. Die gebildeten Hydroxygruppen an den Aromaten (Bisphenol A) reagieren aber bevorzugt so, dass die Verzweigung nur in untergeordnetem Maße vorliegt. Zur Vernetzung (genannt Härtung) werden bevorzugt trifunktionelle Amine eingesetzt, z.B. Diethylentriamin, obgleich beide Wasserstoffatome der Aminogruppen reagieren. RNH2 + 2 H2C CHCH2 P O
RN (CH2CHCH2 P)2 OH
Da die Reaktionsgeschwindigkeit bereits bei Normaltemperatur hoch ist, bezeichnet man das Verfahren als Kalthärtung. Auch Phthalsäureanhydrid dient als Vernetzer, welches mit den Hydroxygruppen des Präpolymers unter Bildung von Carboxygruppen reagiert, die sich dann mit den Epoxygruppen weiter umsetzen. O C (P)2CHOH +
O
(P)2CH O CO
C
COOH + H2C
CHCH2P O
O (P)2CH O CO
CO OCH2 CHOHP
Ebenfalls ist Bortrifluorid als Vernetzer bzw. Härter beschrieben worden, dabei wird eine Polymerisation des Epoxyringes diskutiert. Epoxidpolymere sind modifiziert worden durch Zusatz von Füllstoffen wie z.B. Montmorillonit, oder umgesetzt durch Reaktion mit CO2 erhält man Polycarbonate oder Propylenoxid und CO2 mit Dicobaltoctacarbonyl/3-Hydroxypyridin führt zu isotaktischen Polyhydroxybutyrat. Phenoxypolymere Epoxide gestatten auch die Herstellung von linearen Phenoxypolymeren. Derartige Polymere finden als Beschichtungs- und Antikorrosionsmittel Anwendung. Setzt man Epichlorhydrin mit einem aromatischen Diol um, z.B. Hydrochinon, so bildet sich der Diglycidether. OCH2HC CH2 H2C CHCH2O H2C CHCH2Cl + HO OH O O O Dieser wird mit weiteren aromatischen Diolen zu einem Polymer mit folgendem Grundbaustein umgesetzt. Polymerisationsgrade von 100 sind erreichbar.
OCH2CHCH2O OH
3.2.3 Dendrimere Unter Dendrimeren versteht man streng regelmäßig verzweigte und mit Folgeverzweigungen ausgestattete also baumartige Polymere mit gleichlangen Kettenstücken und gleicher Verzweigungsfunktionalität. Unregelmäßig hochverzweigte Polymere sind seit langem bekannt. Die Synthese regelmäßig gebauter baumartig verzweigter Polymerer, genannt Dendrimere, gerieten aber erst seit den 80er Jahren in den Blickpunkt. Der Vorteil dieser Stoffklasse besteht darin, dass sie monodispers also molekulareinheitlich sind und auch sein sollen.
140
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
Zur Herstellung besonders geeignet sind Stufenwachstumsreaktionen; mit ihnen ist es einfach, die Synthese zu kontrollieren. Bevorzugt und beschrieben sind Oligo- und Polykondensate wie Polyester, Polyamide, Polyamine, Polyamidoamine, Polypeptide, Polyether, verschiedene Blockcopolymere, Polypropylenimin, Polyphenylene, Polyphenylenoxid, Polyphenylacetylen, Polysiloxan, als Beispiel für Heterocyclen Polymelamin und sogar ein Biodendrimer auf Oligonucleotidbasis. Man geht von einem funktionellen Zentralmolekül (Kern) aus und kondensiert Schicht um Schicht trifunktionelle Monomere an, z.B. für Polyamide Aminodicarbonsäuren und Diaminocarbonsäuren.. Das wäre ein Aufbau von innen nach außen. Auch der umgekehrte Weg von außen nach innen ist möglich. Eine alternative Synthesemethode besteht darin, die verzweigten Baumäste in separaten Reaktionen vorzufabrizieren und dann mit dem Zentralmolekül zu kuppeln. An der äußersten Schicht können auch andere funktionelle Gruppen angebracht werden, ausgefallene Beispiele sind Borsäurecluster (Neutroneneinfangtherapie für Krebs), Disaccharide, Fullerene, Carborane, Diphosphanmetallkomplexe (Katalysatoren oder deren Rückgewinnung) und Gadoliniumchelate (Kontrastmittel). Auch Vinylmonomere folgenden Typs CH2 CH R CH2 CH B* B* = aktives Zentrum sind als Basis für Dendrimere vorgeschlagen worden, aber damit gab es mit der Monodispersität noch Probleme. In jedem Fall ist, um das Ziel „regelmäßig verzweigt und monodispers“ zu erreichen, eine quantitative Ausbeute, gleich 100 %, bei der Synthese notwendig, das heißt auch die vorgesehene Verzweigung muss 100%ig sein. Bei Gefahr von unerwünschten und unkontrollierten Reaktionen müssen die entspr. funktionellen Gruppen durch Schutzgruppen (z.B. aus der Peptidsynthese) blockiert werden. Wenn man die einzelnen Reaktionsstufen, dargestellt durch den Punkt, als Generationen bezeichnet, so sähe ein Dendrimeres der zweiten Generation folgendermaßen aus:
1 2
Theoretisch sind viele Generationen vorstellbar. Begrenzt wird das sehr bald durch Fragen der Raumerfüllung und Polydispersität. Z.B. ist bei starren Monomeren die dritte Generation noch gut erreichbar, danach ergeben bereits sterische Fragen eine Begrenzung der vollständigen Reaktion. Derartige Moleküle sind aber eigentlich noch Oligomere. Bei flexibleren Monomeren ist auch noch die fünfte Generation mit molekulareinheitlicher Struktur erreichbar. Darüberhinaus beginnt die molekulare Einheitlichkeit größere Schwierigkeiten zu machen. Es gibt aber auch Dendrimere bis zur zehnten Generation, diese liegen in ihrer Molmasse im Bereich von Millionen. Die Bedeutung der Dendrimeren liegt einmal im Bereich der Modellsubstanzen. Sie dienen als Modell für eine dreidimensionale Polymerstruktur und Selbstaggregation. Sie zeigen ein ungewöhnliches Lösungs- und Viskositätsverhalten. Dendrimere wurden vorgeschlagen als Carrier für funktionelle Gruppen, Katalysatoren z.B. Pd, Au, Ag (auch für die Rückgewinnung ist die Nanofiltration vorgeschlagen worden), Pharmaka und Farbstoffe. Auch phosphorhaltige, ferrocenhaltige und iodhaltige Dendrimere wurden hergestellt. Und letztlich sind sie Modell für Biopolymere, Enzyme und Transport zellfremder DNA. Dendrimere lassen sich auch an andere Polymere hängen. Unregelmäßig hochverzweigte Polymere nennt man hyperverzweigt. Sie heben sich deshalb von den Dendrimeren ab, weil für sie die Forderung der strengen Regelmäßigkeit der Verzweigung nicht aufgestellt wird, sie aber auch hochverzweigt sind, eine große Zahl von funktionellen Gruppen aufweisen und die vorteilhaften Eigenschaften wie Löslichkeit und Viskositätsverhalten erhal-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
141
ten bleiben. An die Vollständigkeit der Verzweigungsreaktion werden also hohe Anforderungen nicht gestellt, deswegen ein Verzweigungsgrad von 100, wie er für die Dendrimeren gefordert wird, mit den hyperverzeigten Polymeren nicht erreicht. Demzufolge sind als zusätzlicher Vorteil für hyperverzweigte Polymere die Anforderungen an die Synthese nicht so hoch und das kommt einer industriellen Anwendung entgegen. Eingesetzt werden hierfür Monomere mit der Funktionalität AB2 vom Typ Polyglycerin, Polyester, Polyesteramide, Polyamide, Polyimide, Polyurethane, Polyether, Polycarbonate, Polyethersulfone, Polyetherketone und Polysiloxane. Über den Einsatz von Monomeren der Funktionalität AB3, AB4 und sogar AB6 ist berichtet worden. Insgesamt ist die Reaktion schlechter zu kontrollieren, die Polymeren sind nicht kugelförmig, nicht unimolekular und in der Architektur unregelmäßig. Deshalb ist es sinnvoll das Produkt auf eine Gelfraktion zu kontrollieren und diese abzutrennen oder ev. durch Ultrafiltration die Uneinheitlichkeit der Polymeren einzugrenzen. Hyperverzweigte Polymere zeichnen sich durch hohe Funktionalität, hohe Löslichkeit und niedrige Viskosität aus. Ihre Anwendung finden sie in den gleichen Gebieten wie die Dendrimeren, wenn eine gut definierte Struktur nicht unbedingt nötig ist, darüber hinaus als Vernetzungsagentien, Additive, Blendkomponenten und Schmelzemodifikatoren. 3.2.4 In vitro-Synthese von Biopolymeren Unter Biopolymeren versteht man Polymere, die als biologische Systeme gebildet werden. Die in vivo-Synthese vollzieht sich in der Natur im lebenden Objekt, der Zelle, und fällt damit in das Gebiet der Biochemie. Man kann aber eine Reihe von Biopolymeren auch in vitro „im Reagenzglas“ mittels Laborversuch und in der Technik herstellen, worauf in diesem Kapitel näher eingegangen werden soll. Die Sinnfälligkeit einer in vitro-Synthese ergibt sich aus der Konstitutions- und Strukturaufklärung und dem Vergleich der Biopolymere einerseits bis hin zur Veränderung sowie Neukombination von Genen in der Gentechnik andererseits. Man sollte aber beachten, dass insgesamt die Natur die Biopolymere unter Normalbedingungen hochspezifisch in „riesigen Reaktionsräumen“ produziert, so dass es kostengünstiger wird, diese Natur-Biopolymere unter Erhalt der sterischen Struktur, einer Syntheseleistung der Natur, zu isolieren, als sie synthetisch herzustellen. Es versteht sich daher von selbst, dass die Bedingungen für das Nachwachsen der Naturprodukte erhalten werden müssen. Die in vitro-Synthese kann aber in besonderen Fällen durchaus nötig und auch kostengünstig sein, wenn nämlich das Naturprodukt auf bestimmte geographische Breiten beschränkt ist, wie z.B. beim cis-1,4-Polyisopren. Anliegen dieses Abschnitts soll die in vitro-Synthese und nicht die Isolierung von Naturstoffen sein. Die Abhandlung dieses Gebietes im Kapitel „Stufenwachstumsreaktionen“ liegt darin begründet, dass im wesentlichen alle Biosynthesen, in vivo wie auch in vitro, Polykondensationen sind, da bei der Polyreaktion niedermolekulare Stoffe abgespalten werden. Ein wesentlicher Unterschied zu den synthetischen Polykondensaten besteht darin, dass bei den Biopolymeren nur der schrittweise Aufbau von Monomereinheiten bekannt ist, während allgemein neben der schrittweisen Reaktion von Monomeren auch Oligomere bzw. sogar Polymere polykondensieren können. Im wesentlichen kennt man vier Klassen von Biopolymeren: 1) Polydiene, 2) Polysaccharide, Cellulose und Lignin, 3) Proteine und 4) Polynucleotide. Polydiene Das wichtigste Biopolymer aus der Klasse der Polydiene ist das Polyisopren, in der cis-1,4-Form als Naturkautschuk und in der trans-1,4-Form als Guttapercha oder Balata bekannt. Es wird überraschen, hier derartige Kohlenstoffhomokettenpolymere zu finden, aber in vivo entstehen diese Biopolymere durch Polykondensation von Isopentenylpyrophosphat mit Dimethylallylpyrophosphat im Saft des Kautschukbaums in Brasilien und Südostasien. Der isolierte Naturkautschuk ist zu 98 % rein, den Rest bilden Fette und Proteine. Die in vitro-Synthese geht einen anderen Weg. Hier erfolgt eine ionisch-koordinative Polymerisation des Isoprens mit verschiedenen Ziegler-Natta-Katalysatoren (s. Kapitel 3.1.3.2). Cis-1,4-
142
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
Polyisopren dient als Rohstoff für Gummi, trans-1,4-Polyisopren findet für Kabel- und Golfballüberzüge Verwendung. Polysaccharide Zu den echten polymeren Sacchariden, also keine Oligomere, zählen Cellulose, Stärke, Dextran, Glykogen u.a. Cellulose stellt die Gerüstsubstanz der pflanzlichen Zellwände dar, z.B. für Baumwolle mit bis zu 98 % , Jute, Flachs und Hanf mit ca. 65 % Cellulose. Holz enthält 40 bis 50 % Cellulose und bis zu 30 % Hemicellulosen, Stroh weist etwa 30 % Cellulose auf. Cellulose mit nachfolgender Formel H
CH2OH O H OH H H
H O H
OH
H
OH H
OH H
O CH2OH
H
H O
CH2OH O H OH H H
O H
OH
ist Poly[E-(1o4’)-D-glucopyranose]. Stärke aus Kartoffeln, Getreide und Mais besteht aus löslicher Amylose, einer fast linearen Poly[D-(1o4’)-glucopyranose], und Amylopektin, welches zusätzlich noch auf ca. 20 Glucoseeinheiten eine D-(1o6’)-Verknüpfung aufweist, dadurch verzweigt und schlecht löslich ist. Glykogen, in der Leber vorkommend, hat die gleiche Struktur wie das Amylopektin, aber eine höhere Verzweigungsdichte mit ca. einer Verzweigung auf 10 Glukoseeinheiten. Beim Dextran aus Bakterien dagegen sind die Rückgratkette über D-(1o6’) und die Verzweigungen vorwiegend über D-(1o4’) verknüpft. Eine Reihe weiterer Polysaccharide aus Flechten, Algen und Hefen enthalten aber andere Grundbausteine, z.B. Fructose, Xylose, Arabinose, Galaktose und Mannose. Ebenfalls bekannt sind Copolysaccharide und ev. spielen alternierende Copolysaccharide als N-Acetylaminosulfate für die Matrix der Knorpel und der Haut eine Rolle. Das Chitin im Gerüstpanzer von Insekten stellt ebenfalls einen N-Acetylaminozucker dar. Bekannt sind auch Verbindungen von Polysacchariden mit Proteinen und Nucleinsäuren. Die in vivo-Synthese der Polysaccharide vollzieht sich durch Übertragung von Monosaccharidglykosylester von Nucleosidpyrophosphaten auf die wachsende Kette unter Wirkung von Enzymen. Die in vitro-Synthese muss natürlich auch die drei Forderungen erfüllen: Sterische Einheitlichkeit, hoher Polymerisationsgrad und hohe Ausbeute. Man kann die in-vitro-Synthese in Kondensations-, Ringöffnungs- und enzymatische Reaktionen einteilen. Für erstere gilt, dass alle nicht umzusetzenden funktionellen Gruppen mit Schutzgruppen blockiert werden müssen. Das sind meistens die gleichen Schutzgruppen wie bei der Peptidsynthese (s.u.), aber bei gewissen Polysacchariden sind die an sie gestellten Anforderungen noch höher. Die einfache Kondensationsreaktion erfordert die stufenweise Eliminierung aus der Reaktion einer Gruppe am C-1 des ersten Saccharids mit einer gewünschten OH-Gruppe eines anderen Saccharids zum Glykosid. Katalysatoren wie HCl, HF, H2SO4, P2O5, PCl3, PCl5 u.a. ergeben oft verzweigte Produkte, insbesondere bei ungeschützten funktionellen Gruppen. HBr und SOCl2 zeigen dieses Problem weniger. Der erhaltene Polymerisationsgrad liegt unter 20. C-1-acetylierte oder bromierte Mono- und Disaccharide ergeben niedrigere Polymerisationsgrade aber gute Stereoregularität. Eine bedeutende Aktivierung der C-1-Stellung kann man durch Phosphorsäure oder sogar Nucleotidphosphorsäure erreichen. Derartige Verbindungen bedienen sich Enzyme (Phosphorylase, Synthesase) zur Kondensation. Enzymatischer Aufbau erfordert normalerweise keine Schutzgruppen. C-1-Fluorsaccharide sind ein schönes Beispiel für die enzymatische Synthese von Polysacchariden insbesondere Cellulose, die mit der aus der Natur identisch ist. Ein Celluloseanalogon enthält statt glykosidischem Sauerstoff Butadiineinheiten. Diese vorangehend geschilderten Kondensatio-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
143
nen geschehen stufenweise. Ihr Vorteil besteht in der wunschgemäßen Abfolge der Sequenzen. Eine andere Aktivierung der Saccharide mit dem Ziel Polysaccharide stellt die Ringbildung als Orthoester und Anhydrosaccharide dar. Bekannt sind z.B. 1,2,5-Orthoester der Arabinofuranose. Sie lässt sich mit HgBr2 als Katalysator polymerisieren. Augenscheinlich wichtiger sind Anhydrosaccharide mit bevorzugt 1,6- aber auch 1,4- oder 1,3-Anhydrogruppe. Sie polymerisieren mit kationischen Initiatoren wie BF3.OEt2, PF5 oder SbCl5. Es ist also keine Stufenreaktion, sondern eine Kettenreaktion, gut geeignet für den Aufbau von Homopolymeren, bei Verwendung von 1,6Anhydrosacchariden zu hoher Stereoregularität, hohem Polymerisationsgrad und guter Ausbeute. Nachteil: Eine Copolymerisation unterliegt statistischen Gesetzen, ergibt also statistische Copolymere bzw. bei succesiver Dosierung Blockcopolymere. Erwähnenswert wären auch noch aktivierte Saccharide auf Basis Cyanmethylidengruppen (Fletschers Nitril). Damit sind Polysaccharide mit hoher Stereoregularität und Pn bis 60 hergestellt worden. Ein Beispiel kombinierter Polymerer sind Polyacrylat-Kammpolymere mit Kohlenhydratseitenketten an die Enzymmoleküle geheftet. Lignin Holz enthält je nach Sorte bis zu 30 % Lignin, das ein vernetzter aromatischaliphatischer Polyesterether ist, und sich vom Coniferylalkohol ableitet. Für die Gewinnung der Cellulose aus Holz wird Lignin zu löslichen Ligninsulfonaten abgebaut und abgetrennt. Die in vivoSynthese des Lignins geht vorwiegend über die Stufe des Coniferylalkohols. In vitro wird Lignin nicht produziert. HO
OH OCH3
Proteine Proteine sind Copolyamide aus den in der Natur vorkommenden verschiedenen DAminosäuren. Die Verknüpfung der einzelnen D-Aminosäuren zu langen Ketten erfolgt jeweils über die Peptidbindung CONH, und die entstehenden Verbindungen bezeichnet man als Peptide. Sie stellen Eiweiß, Fasern, auch Wolle und Seide, Kollagen, aber auch Biokatalysatoren und Transportmittel im Körper dar. Ihre Struktur und Assoziate werden mittels Primär-, Sekundär-, Tertiärund Quartärstrukturen beschrieben. Die in vivo-Synthese erfolgt durch Transkription des DNS-Codes über die RNS in ein Signal bezüglich des Einbaus einer ganz bestimmten Aminosäure. Die in vitro-Synthese von Proteinen hatte und hat durchaus Bedeutung, denn auf diese Weise wird auch Insulin synthetisiert. Zur Synthese der CONHBindung aus einer Carboxy- und einer Aminogruppe müssen alle entsprechenden, nicht benötigten Gruppen geschützt werden. Man schützt Aminogruppen z.B. mit dem Benzyloxycarbonyl- (C6H5CH2OCO) bzw. t-Butyloxycarbonyl- oder Fluormethyloxycarbonylrest, Formyl- oder Triphenylmethylrest ((C6H5)3C), Carboxygruppen als Ester z.B. Benzylester. Die Kupplung der dann für die Reaktion noch freien Amino- und Carboxylgruppen zur Amidbzw. Peptidbindung erfordert schonende Methoden, damit keine Racemisierung eintritt. Üblich ist dafür vorher die Bildung eines aktivierten Carbonsäurederivats, separat oder intermediär, mit dem es dann möglich ist mit der Aminogruppe leicht und schonend die Peptidbindung zu bilden. Übliche Carbonsäurederivate sind: Azide (Azidmethode) CON3 + NH2R’ CONHR’ + HN3 Gemischte Anhydride (Gemischte Anhydridmethode) der Carboxylgruppen mit bevorzugt Kohlensäurederivaten z.B. mit Chlorameisensäureisobutylester COOH + ClCOOR COOCOOR + HCl R = Isobutyl
COOCOOR + NH2R’
CONHR’ + ROH + CO2
144
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
oder mit Diphenylphosphorsäure oder Uroniumagentien wie 2(HBenzotriazol1yl)1,1,3,3, tetramethyluronium-hexafluorphosphat, Aktive Ester (Aktivestermethode) wie p-Nitrophenyl-, Pentafluorphenyl- oder Trichlorphenylester der Carbonsäure. Carbodiimid-Methode: Sie benutzt äquimolare Mengen Dicyclohexylcarbodiimid, das intermediär die Carboxylgruppe aktiviert in Form eines O-Acylisoharnstoffs und dann als Dicyclohexylharnstoff abgespalten wird unter Bildung der Peptid-Bindung: COOH + NH2R’ + RN C NR CONHR’ + RNHCONHR R = Cyclohexyl. Die Methoden unterscheiden sich bezüglich Ausbeute, Racemisierung und Nebenreaktionen. Enzyme (Cellulasen) als Kupplungsagentien sind ebenfalls beschrieben worden. Eine Weiterentwicklung der Peptidsynthesen stellt die Merrifield-Synthese dar, die im Kapitel 7.2 beschrieben wird. Sie blockiert die zu schützenden Gruppen durch Bindung an einen polymeren Träger, z.B. Polystyrol, Polystyrol-Polyoxyethylen-Pfropfcopolymere bzw. Glas, welcher funktionelle Gruppen aufweist. Nebenprodukte und überschüssige Reagenzien können durch einfaches Waschen vom Hauptprodukt abgetrennt werden. Zuletzt erfolgt die Abspaltung der Schutzgruppen. Bei der Suche nach neuen Medikamenten ist die obige stufenweise Synthese zu wenig effektiv und erreicht bei ca. 50 Aminosäuren ihre Grenze. Hier wird die kombinatorische Peptidherstellung angewendet und Peptide in großer Anzahl simultan synthetisiert. In der Zwischenzeit ist die Peptidsynthese in Richtung zu einer Fragmentkondensation entwickelt worden. Da bei der stufenweise mit einzelnen Aminosäuren durchgeführten Peptidsynthese die Reinigung aufwendig ist, besteht die neue Synthesemethode in der Kondensation von vorgefertigten und gereinigten Oligopeptiden zu dem gewünschten Zielprodukt, dessen Löslichkeit sich von den Ausgangsprodukten deutlicher unterscheidet. Der unlösliche Polystyrolträger ist dafür aber schlecht geeignet, deshalb benutzt man stattdessen wasserquellbare Polymere wie Agarose. So wurde z.B. ein 71mer-Peptid aus drei Teilstücken hergestellt. Peptidpolymerhybride sind auch mit anderen Polymeren synthetisiert worden z.B. Polyethylenoxid, Polyacrylsäureester und Polymethacrylsäureester. Bei der Synthese derartiger Blockcopolymerer kann man diese Polymerblöcke auch erst als zweites anfügen, wobei eine kontrollierte Polymerisation benutzt wird z.B. ATRP oder RAFT. Die in vitro-Synthese einiger Polypeptide hat wirtschaftliche Bedeutung. Einzelzellproteine können in technischem Maßstab durch mikrobiologische Synthese aus jeweils Paraffinkohlenwasserstoffen, Alkoholen, Kohlenhydraten und sogar aus Kohlendioxid mit Ammoniak in Gegenwart von Luft, Mineralsalzen und mittels verschiedener Mikroorganismen gebildet werden. Derartige Proteine dienen als Tierfutter. Polynucleotide Hochmolekulare Nucleinsäuren (Polynucleotide) stellen als Bausteine der Zellkerne des Tier- und Pflanzenreiches wie auch des Zellplasmas Verbindungen von heterocyclischen Basen, Zuckern und Phosphorsäure dar. Als Zucker treten Ribose und Desoxyribose auf. In den Ribonucleinsäuren (RNS) findet man die Basen Adenin, Guanin, Cytosin und Uracil, in den Desoxyribonucleinsäuren (DNS) ebenfalls Adenin, Guanin sowie Cytosin und statt Uracil die Base Thymin. Das Bild zeigt einen Ausschnitt der Strukturen (die Abfolge der Basen wird durch die DNS-Matrix vorgegeben).
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
NH2 (Adenin) N N
O P OH O H2C H
N
O H
H
O
OH
O P
N
NH2 N
O
O
O
H
H
O
OH
P
O
H
H
O
OH
N
NH2
O
OH
O
O H
H
H
OH RNS
NH2 N
O H
O
H
H O
OH N
O H2C H
H
H
O
H
P
(Uracil)
N
O CH3
HN O H
NH2
(Guanin)
H
OH
H2C H
NH N
O
O N
(Cytosin) N
O
H
P
O
HN
N
H
O
O
(Guanin)
H
O
H
OH
NH N
O
H2C
H
P
H
N
P
H
O
H
O
H
H
H2C
O
N
O
(Cytosin)
OH
H2C
O
O
N
NH2 (Adenin) N N
OH
H
O
H
P
H2C
H
OH
H2C
O
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O H
N
(Thymin)
H
H DNS
DNS sind als Helix doppelsträngig angeordnet, zusammengehalten durch Wasserstoffbindungen jeweils der Basenpaare Adenin/Thymin und Guanin/Cytosin. RNS sind meistens einsträngig. In vivo werden DNS durch Replikation erzeugt. Die Doppelhelix öffnet sich in zwei Einzelstränge, die als Matrizes für neue Stränge mit den komplementären Basenpaaren dienen. In vitro kann man Nucleinsäuren stufenweise mittels der Phosphotriestermethode aufbauen, wobei ein Nucleosid-3’-phosphodiester mit der 5’-Hydroxygruppe eines Nucleosids zu einem Phosphotriester kondensiert. B B B B O OH O O O O O + OR'' O P O O P O C OR'' H2 R'O HOH2C R'O OR''' OR'''
146
3.2 Stufenwachstumsreaktionen
Ähnliche Verfahren zur Bildung von Internucleotidbindungen sind die Phosphodiester(älteste, jetzt nicht mehr angewendete Methode), die Phosphit- (Einsatz von P(III)-Verbindungen) und die Phosphonatmethode. Beim Phosphit-Verfahren kondensiert ein Nucleosid-3’-phosphoramidit mit der 5’-Hydroxygruppe eines Nucleosids zu einem Phosphit-Zwischenprodukt, welches dann zum Phosphortriester oxydiert wird. B B B B O HX O O O + OR'' O P X O P O C OR'' H2 R'O HOH2C OR''' R'O OR''' Die Phosphonat-Methode stellt das neueste Verfahren dar, wobei die Phosphonate durch Säurechloride zur Bildung der Internucleotidbindung aktiviert werden können. B B B B O H2O O O O O O + OR'' O P OH O P O C OR'' H2 R'O HOH2C H R'O H
Diese Synthesen werden an Trägern nach Merrifield durchgeführt. Für die Synthese kann man aber auch Enzyme einsetzen. Bei der Reaktion von Guanintriphosphat oder Cytosintriphosphat in Gegenwart bestimmter Enzyme bilden sich Homopolyguanin und -cytosin bereits als Doppelhelix. Setzt man dafür als Matrix natürliche oder synthetische Nucleinsäuren ein, so wird je nach eingesetztem Enzym von manchen Enzymen die Matrix komplementär kopiert. Ein spektakulärer Durchbruch in der Weiterentwicklung dieses Grundgedankens als Methode, nun Polymerasekettenreaktion (PCR) genannt, konnte folgendermaßen erreicht werden (Nobelpreis 1993 K.B. Mullis, M. Smith): Man nimmt die zu kopierende bzw. multiplizierende polymere DNS als Matrix, fügt ein bis zu 100 qC hitzebeständiges Enzym hinzu, z.B. Taq/Amplitaq-DNSPolymerase oder Vent-DNS-Polymerase oder andere (derartige Enzyme wurden z.B. aus heißen Quellen vom Yellowstone-Nationalpark oder vom Meeresgund gewonnen), bietet diesem Gemisch monomere Desoxynucleosidtriphosphate an, stellt durch Zugabe von MgCl2 und Puffern die entsprechenden Milieubedingungen her und fügt zuletzt Primer hinzu. Primer dienen als Starthilfen und sind einsträngige Oligonucleotide mit Oligomerisierungsgraden von 20 bis 30, die bezüglich der Enden einer definierten Sequenz der DNS-Matrix komplementär sind. Die PCR läuft nun wie folgt ab: Durch Erhitzen des Gemisches auf ca. 93 bis 100 qC wird die polymere DNS denaturiert, d.h., die doppelsträngige Helix wird in Einzelstränge aufgespalten. Anschließend bindet bei ca. 60 qC der Oligonucleotidprimer an die polymere DNS-Matrix. Nach dem Aufheizen auf 70 qC verlängert die Polymerase den Primer an der polymeren DNS-Matrix zu einer DNS, die eine zur Matrix komplementäre Struktur aufweist. Ein weiterer Zyklus beginnt wieder mit dem Erhitzen auf 93 bis 100 qC. Ein Zyklus dauert weniger als 10 Minuten. Nach 20 Zyklen bzw. PCR-Runden soll sich die zu multiplizierende DNS 220 fach vermehrt haben. Diese Synthesegeschwindigkeit war bisher für Nucleinsäuren unvorstellbar und setzt eine 100%ige Ausbeute für jeden Zyklus voraus. Die Höhe der Temperaturen ist allerdings vom verwendeten Enzym und Primer abhängig.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
147
Die Durchführung der Synthese erfolgt automatisiert in Thermocyclern oder PCR-Maschinen auf Mikrotiterplatten oder Objektträgern mit speziell gereinigten Reagenzien mittels mechanischer Handhabung der Proben und periodischer Temperatursteuerung. Verunreinigungen müssen absolut ausgeschlossen sein, da jede Spur von Haaren oder Haut auf gleiche Weise vervielfacht wird und somit zu Artefakten führt. Daher muss in Spezialräumen gearbeitet werden.
Polymerasekettenreaktion (PCR) (1) Die polymere DNS wird denaturiert; der Primer bindet an die DNS-Matrix; die Polymerase verlängert den Primer an der polymeren DNS-Matrix (2) Zweiter Zyklus (3) Dritter Zyklus (4) Vierter Zyklus (5) usw.
Doppelsträngige DNA-Segmente von einigen Dutzend bis 1500 Basenpaaren wurden hergestellt. Auch Blockcopolymere mit synthetischen Polymeren z.B. Polyethylenoxid wurden synthetisiert. Mit einer erweiterten Version des PCR können auch Zweifachkopien von Gensequenzen hergestellt werden. Diese wurden bereits zu einem Virengenom zusammengefügt. Eine weitere Entwicklung ist die DNA-Chiptechnologie, wo Gensequenzen auf einem Mikroarray angebracht sind und dort die entsprechenden alternativen Sequenzen durch Fluoreszenz oder elektrische Signale nachweisen.
148
3.3 Organische Polymere mit anorganischen Gruppen
3.3 Organische Polymere mit anorganischen Gruppen Ca. 40 Elemente sind in Organische Polymere eingebaut, aber im Allgemeinen enthalten Organische Polymere außer C und H nur O, N, S, P und Halogenide. Polymere mit diesen Bestandteilen sind uns vertraut und üblich, wie z.B. Polyvinylether, Polyester, Polyamide, Polyalkylensulfide, Nucleinsäuren oder Polyvinylhalogenide. Sie wurden deshalb bereits in den vorigen Abschnitten behandelt. Anliegen dieses Kapitels sind deshalb die anderen, selteneren anorganischen Elemente in organischen Polymeren. Auch bei dieser generellen Einteilung bleibt es nicht aus, dass an manchen Stellen die Abgrenzung ziemlich willkürlich ist. Anorganische Atome oder Molekülgruppen können als unterschiedliche Strukturen im Polymermolekül vorhanden sein, als seitliche Substituenten an der Kohlenstoffkette (pendant groups) oder kovalent eingebaut in die Hauptkette und als Sonderform davon in koordinativer Bindung als Koordinationspolymere. Bereits die Gruppe der Polymere mit seitlichen Substituenten gibt eine Vielzahl von Möglichkeiten des Einbaus von anorganischen Atomen oder Molekülgruppen: [CH2 CH] Si Me3
[CH2 CH]
Polytrimethylsilan (radikalisch polymerisiert)
Polytrimethylsiliciumether (kationisch polymerisiert)
O Si Me3 [CH2 CH]
Fe
[CH2 CH]
Mn(CO)3
Polyvinylferrocen (radikalisch, kationisch und mit Ziegler-NattaKatalysatoren polymerisiert) Polymere gleichen Typs mit Titan, Cobalt, Ruthenium und Osmium sind bekannt, die des Ru und Os wurden als Lasertargets vorgeschlagen
Polyvinylcyclopentadienylmangancarbonyl benutzt zur Stickstoff-Fixierung)
(als
Copolymeres
Analoge Carbonylverbindungen des Iridium, Wolfram und Chrom sind bekannt.
[CH2 CH] Ph2P O
Polyvinyldiphenylphosphan als Beispiel auch für andere Vinylphosphane
[CH2 CH] PO4R2
Polyvinylphosphorsäureester, als Repräsentant für auch andere Vinyl- und Alkenylester der Phosphor- und Phosphonsäure und Phosphor enthaltende Ester und Amide der Acrylsäure
[CH2 CH] P N N F F P P F N F
Polyvinylfluorphosphacen
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
[CH2 CH]
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Rutheniumkomplex des Poly-4-vinylpyridins Rhodiumkomplexe, Goldkomplexe Ru2+/3
N [CH2 CH]
Poly-4-vinylpyridin-Boran BH3
N
[CH2 CH]
Polyvinylphenylmagnesiumbromid. Ausgangsprodukt für z.B. Polyalkylzinnverbindungen
MgBr [CH2 CH] SnR3
Polyvinyltrialkylzinn Chrom enthaltendes Polyamid
[NH
NHCORCO] Cr(CO)3
Eine vielleicht noch höhere Vielzahl von Möglichkeiten ergeben anorganische Elemente, die kovalent gebunden in der Hauptkette sind. Deswegen soll dieser Typ der organischen Polymeren mit kovalent in der Hauptgruppe gebundenen anorganischen Atomen Hauptanliegen dieses Abschnittes sein. Die wichtigsten Gründe zur Herstellung von Polymeren, die anorganische Atome enthalten, sind ihre vorteilhaften Werkstoffeigenschaften und katalytische Eigenschaften. Das soll aber hier nicht als Einteilungsprinzip benutzt werden. Auch Strukturfragen (linear, verzweigt, vernetzt) sollen hier nicht als Einteilungsprinzip gelten, wie auch nicht Synthesemechanismen, da z.B. Silikone nach verschiedenen Mechanismen (Polykondensation, Polymerisation) hergestellt werden können. Am günstigsten erscheint die Einteilung nach den Heteroatomen in der Hauptkette. Bei Silicium enthaltenden Polymeren kennen wir außer den anorganischen Silikaten, die aber hier nicht behandelt werden, sie sind in den Lehrbüchern für Anorganische Chemie genügend behandelt worden, folgende Polymere: Polysiloxane (Silikone) und Polysilane. 3.3.1 Polyorganosiloxane (Silikone) Unter Poly(organosiloxanen) versteht man in Abgrenzung zu den anorganischen Silikaten Polymere mit der Gruppe
Si O R wobei R einen organischen Rest darstellt und somit eine Kohlenstoff-Silicium-Bindung vorliegt. Die Kurzbezeichnung dieser Stoffgruppe ist Polysiloxane, der Name Silikone ist historisch bedingt. Die Synthese derartiger Polymere erfolgt durch Polykondensation der entsprechenden Organosilanole bzw. Organochlorsilane unter Abspaltung von Wasser bzw. Chlorwasserstoff.
150
3.3 Organische Polymere mit anorganischen Gruppen
R Si O + H2O R Da aber die entsprechenden Silanole durch Hydrolyse von Organodichlorsilanan hergestellt werden, sind auch teilhydrolysierte Zwischenprodukte zur Polykondensation befähigt. R R R R Cl Si OH Cl Si O Si OH Cl Si OH + R R R R Als Substituent R werden vorwiegend Methyl-, Phenyl, und Methylvinylreste in die Poly(organosiloxane) eingeführt. Die Molmassensteuerung und Blockierung der OH-Endgruppen, z.B. mittels einer Methylgruppe, erreicht man durch Zusatz des monofunktionellen Trimethylchlorsilan. Setzt man trifunktionelle Verbindungen ein, wie z.B. Organotrichlorsilan, so erhält man über die entsprechenden Organosilanole vernetzte Produkte. Die technische Darstellung erfolgt in emaillierten Rührgefäßen unter der katalytischen Wirkung von Schwefelsäure. Als Nebenreaktion bei der Polykondensation tritt, insbesondere bei großer Verdünnung, die Bildung größerer Mengen cyclischer Oligomerer mit dem Oligomerisierungsgrad drei bis zehn auf. Zwischen den Oligo(siloxanen) und den Poly(siloxanen) besteht ein Gleichgewicht, welches leicht verschiebbar ist. Die entsprechende Reaktion nennt man Äquilibrierung. Das tetramere Octamethylcyclotetrasiloxan lässt sich allerdings destillativ abtrennen und kann anionisch oder kationisch unter Ringöffnung zu hohen Molmassen polymerisiert werden. Poly(organosiloxane) mittleren Polymerisationsgrades (50 bis 400) mit Methyl- und Phenylgruppen sind flüssig und unter dem Begriff Silikonöle bekannt. Sie zeichnen sich durch gute Temperaturbeständigkeit aus, besonders die gemischten Polymethylphenylsiloxane. Sie finden als Badflüssigkeit und Wärmeüberträger sowie als Entschäumer Anwendung. Polysiloxane sind auch Modifizierungen zugänglich. Hydrolysiert man Siliciumalkoxide SiOR4 + H2O o Si(OH)4 + 4 ROH und kondensiert diese mit Oligo- oder Polysiloxanen so erhält man Materialien mit verminderter Sprödigkeit. Auch die Copolymerisation ist für die Modifizierung der Polysiloxane anwendbar. Hydrolysiert und polykondensiert man R2SiCl2 zusammen mit Ti(OR)4 so erhält man Ti(OR)2-Einbauten in die Polysiloxankette. Ähnliches ist von Sauerstoffverbindungen des B, Al, Ge, Sn, Zr, P und As beschrieben worden. Die Blockcopolymerisation der Polysiloxane mit Polyamiden und Polystyrol ist ebenfalls gut untersucht. Eine andere Möglichkeit der Modifizierung ergibt sich, wenn SiH-Bindungen vorhanden sind. Über sie kann man Seitengruppen einführen. Leiterpolymere erhält man, wenn man Phenyltrichlorsilan C6H5SiCl3 hydrolysiert. Diese Polymere zeichnen sich durch eine Doppelstrangstruktur aus und bringen einen höheren Schmelzpunkt ein. Dass es sich nicht um vernetzte Polymere handelt, wird durch die Löslichkeit in organischen Lösungsmitteln bewiesen. Vernetzte Polysiloxane werden, wie oben beschrieben, aus trifunktionellen evtl. zusammen mit difunktionellen Organosiloxanen hergestellt. Sind in den Poly(organosiloxanen) Methylvinylgruppen vorhanden, so können die Vinylgruppen mit Peroxiden radikalisch in Form einer Heißvulkanisation vernetzt werden. Silikonkautschuk zeichnet sich besonders durch seine gute Temperaturbeständigkeit bis 180 qC aus. Zu erwähnen wäre auch seine gute Elastizität bei tiefen Temperaturen. Wegen dieses insgesamt ausgezeichneten Temperaturverhaltens werden Silikone den Hochleistungspolymeren zugerechnet. R2 Si(OH)2
3.3.2 Polysilane Diese neue Polymerklasse ist erstmals in den zwanziger Jahren beschrieben, hergestellt durch eine Wurtz-Reaktion, z.B. in Toluol bei über 100 qC.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
151
R Si 2 NaCl R' Die Reste R können Aliphaten und Aromaten sein. Die enstehenden Polymere mit gleichem, kurzen R-Rest sind kristallin und unlöslich in organischen Lösungsmitteln, die langkettigeren sind löslich. Cyclische und lineare Oligomere liegen als Nebenprodukt vor. Die Polysilane, besonders das Polymethylphenylsilan, sind potentiell interessant als positive Photoresists, Halbleiter, für nichtlinare Optik und als Präkeramik. Die definierte Pyrolyse von Polysilanen z.B. von Polydimethylsilan über 1200 qC ergibt ß-Siliciumcarbid, interessant für keramische Anwendungen. Die Herstellung läuft ab 450 qC über den Einbau des Alkylrestes in die Siliciumkette, z.B. H Si CH2 CH3 RR'SiCl2
+ 2 Na
Aber das sind bereits Polycarbosilane. Die Copolymerisation der Silane untereinander und mit anderen Monomeren ist möglich. Blockcopolymere der Silane mit Styrol sind bekannt und natürlich auch Blockcopolymere Silan Siloxan. 3.3.3 Polycarbosilane und Polycarbosiloxane Unter Polycarbosilanen versteht man Polymere mit einem SiCxSiGerüst, wobei x gleich eins oder größer sein kann. Die Polycarbosilane, erhalten durch Pyrolyse des Polydimethylsilan, wurden bereits im vorigen Abschnitt erwähnt. Die Copolymeren aus Silanen und Vinylmonomeren sind per Definition ebenfalls Polycarbosilane. Definierte Polycarbosilane mit zwei Methylengruppen erhält man wie folgt R R H2PtCl6 Si CH2 CH2 H Si CH CH2 R R Wie bereits bei den Polysilanen erwähnt, besteht das Hauptanwendungsgebiet als Vorstufe zur Herstellung von SiC. Setzt man Phenylen-di(magnesiumbromid) mit Diphenyldichlorsilan um, erhält man ein „vollaromatisches“ Polycarbosilan. Auch längere konjugierte und aromatische Kohlenstoffketten, aber auch Ferrocen wurden in Polycarbosilane eingebaut. Ein Hybridpolymer zwischen Polysiloxanen (Kap.3.3.1) und den in diesem Kapitel beschriebenen Polycarbosilanen sind die Polycarbosiloxane, die die charakteristische Gruppierung –(–Si(CH3)2–R–Si(CH3)2–O–)n enthalten. Eine der ersten Synthesen war folgende: (CH3)3Si–(CH2)4–Si(CH3)3 ergibt mit H2SO4 und dann H2O –(–Si(CH3)2–(CH2)4–Si(CH3)2–O–)–. Es gibt eine ganze Reihe weiterer Synthesen, die Carbogruppe können verschiedene Alkyle, Aryle, Fluoralkyle und Carboran sein. Tg wird dadurch generell erniedrigt, trotzdem haben die Verbindungen eine gute thermische Stabilität. 3.3.4 Polygermane Germanium steht im Periodensystem unter dem Silicium und ist daher bei der Synthese der entsprechenden Polymeren dem Silicium ähnlich. Polygermane werden deshalb wie Polysilane hergestellt:
152
3.3 Organische Polymere mit anorganischen Gruppen
R Ge + 2 NaCl R Als Rest R ist eine weite Palette bekannt z.B. Methyl, Phenyl, N-Butyl und N-Hexyl. Eine alternative Herstellungsmethode ist die dehydrogenative Kupplung von Germaniumhydriden mittels Titanoder Zirkonocen. Hohe Molmassen sind herstellbar. Die Eigenschaften der Polygermane sind ähnlich denen der Polysilane. Deshalb sind sie auch in Betracht gezogen worden für mikrolithographische Anwendungen. Aber die Herstellung der Polygermane ist schwieriger und teurer, so dass sich nur wenige Anwendungen gefunden haben. Es gibt auch Polygermanoxane und Polycarbogermanoxane. Die Herstellung ersterer erfolgt analog wie bei den Polyorganosiloxanen aus z.B. Dichlorodiphenylgermylen mit NaOH, also etwas drastischer. Auch germaniumhaltige Phthalocyanine, Polyester und Polycarbonate sind bekannt. R2GeCl2
+ Na
3.3.5 Polymere abgeleitet von Zinn, Blei und weiteren Elementen der 4. Gruppen Polystannane lassen sich wie bei den Polygermanen beschrieben (s. Kap. 3.3.4) herstellen. Weiterhin gibt es für die Herstellung von Polymeren, die Zinn, Blei und andere Elemente der 4. Gruppen enthalten mehrere Synthesemethoden: Die Reaktion von Dialkyl- und Diarylmetalldihydriden R2MeH2 mit nichtkonjugierten Dienen oder Diinen z.B. n MeH2R2 + CH2=CH–R–CH=CH2 o –>Me(R2)–CH2–CH2–R–CH2–CH2@n– ist beschrieben für Me = Ge, Sn und Pb mit Molmassen für die Polymere bis 100000. Oder die Reaktion von bevorzugt Dicyclopentadienylmetallchlorid Cp2MeCl2 Me = Si, Ge, Sn, Pb, Ti, Zr, Hf aber auch Bi mit bifunktionellen Lewisbasen wie z.B. Diolen, Dicarbonsäuresalzen, Diaminen, Dithiolen, Dioximen, Hydrazinen, Harnstoff, aber auch anderen z.B. Fluoriden: n Cp2MeCl2 + n HO–R–OH o –>Me(Cp2)–O–R–O@n– Die Reaktion lässt sich auch auf As, Sb, Bi und Mn ausdehnen. Die entsprechenden Polymeren werden eingesetzt als Farbstoffe, photosensitive und biologische Materialien. Für die Synthese der zinnorganischen Polymeren setzt man auch Tributylzinnoxyd mit entsprechenden Säuren um zu folgendem Monomeren. (But)3SnO + CH2=CCl–COOH o CH2=CCl–COOSn(But)3 Dieses lässt sich radikalisch mit AIBN polymerisieren und copolymerisieren. Zinnorganische Polymere sind als „Antifouling“-Anstriche bekannt. 3.3.6 Bor enthaltende Polymere Bei den Bor enhaltenden Polymeren müssen hier sofort die Carboran-Abkömmlinge genannt werden. Carboran, das aus Decaboran B10H14 und Acetylen C2H2 hergestellt wird, hat die Formel B10C2H12 und die Struktur 2.2-Dicarboclavodecaboran als Orthoform. Es ist kein Polymeres. Es lässt sich aber in m-Carboran umlagern und in diesem lassen sich die Wasserstoffe am Kohlenstoff durch Lithium ersetzen. Setzt man die so entstandene reaktionsfähige Verbindung mit Siloxanverbindungen um, so erhält man: LiCB10H10CLi + 2 Cl–Si(R2)–O–Si(R2) –Cl o Cl–Si(R2)–O–Si(R2)–CB10H10C–Si(R2)–O–Si(R2)–Cl
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
153
Die weitere Polymerbildung kann wie bei der Polysiloxanbildung vorgenommen werden. Auf diese Weise lassen sich gezielt Carboranreste in Polysiloxane einbauen und man erhält so hochtemperaturbeständige Polymere. Der acide Wasserstoff am Kohlenstoff des Carborans ist aber auch durch Vinylgruppen oder Säuregruppen ersetzt worden. So erhält man im ersten Fall Vinylcarboran, das polymerisierbar und copolymerisierbar ist. Im zweiten Fall kann man mit Diolen temperaturbeständige Polyester und mit Diaminen Polyamide herstellen. Es wird hier noch erwähnt, dass auch Borazolreste in organische Polymere eingebaut wurden. 3.3.7 Aluminium enthaltende Polymere Bedeutendste Aluminiumverbindungen der Polymerchemie sind die Methylaluminoxane. Sie werden durch vorsichtige, teilweise Hydrolyse von Trimethylaluminium mit Wasser gewonnen. Es handelt sich um eine Verbindung, in der Aluminium- und Sauerstoffatome alternierend verbunden sind, wobei die eine freie Valenz am Aluminium eine Methylgruppe trägt. Dieses Methylaluminoxan ist eigentlich kein Polymeres. Nach Sinn besteht die Grundstruktur aus oligomerem Al4O3(CH3)6.
CH3 Al
O Al
CH3
CH3
O Al CH3
O Al
CH3
CH3
das sich zu größeren Clustern zusammenlagert mit Molmassen bis 1600 g/mol. Der Grund dafür könnte in der koordinativen Ungesättigtheit des Aluminium liegen. Die Methylaluminoxane haben deswegen so große Bedeutung, weil sie die Polymerisationseffektivität von Zirkonkatalysatoren auf 100 Tonnen Ethylen pro Gramm Zirkon steigen lässt. Zum Mechanismus wird angenommen, dass das Methylaluminoxan das Zirkonocen methyliert und so ein aktives Zentrum bildet. 3.3.8 Stickstoff enthaltende ungewöhnliche Polymere An dieser Stelle wären noch die Polysilazane nachzutragen. Setzt man (CH3)2SiCl2 mit Ammoniak um, so erhält man ein Produkt der Formel [(CH3)2SiNH]x. Dabei handelt es sich offensichtlich um Oligomere. In gleicher Weise reagiert H2SiCl2 mit Ammoniak unter Bildung von Oligomeren, für die folgende Formel angegeben wird: H H H N Si H2Si N SiH2 N Si H H
SiH2 Auch achtgliedrige Ringe werden angegeben. Erhitzung derartiger Verbindungen über 1200 qC ergibt Si3N4. 3.3.9 Phosphor enthaltende Polymere Außer den Nucleinsäuren, die im Kapitel Biopolymere behandelt sind, werden organische Phosphorverbindungen als Comonomere oder auch als Additive den Polymeren zugesetzt um die Flammwidrigkeit der Organischen Polymeren zu erhöhen. Hierzu gehören die Polyphosphorsäureester auch Polyphosphate genannt die durch Polykondensation von Dichlorphosphaten mit aliphatischen oder aromatischen Diolen hergestellt werden:
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3.3 Organische Polymere mit anorganischen Gruppen
ROPOCl2 + HOR’OH o –>–PO(OR)–OR’O–@– + 2 HCl HCl-Akzeptor für diese Reaktion ist Pyridin. Die Polyphosphate sind deswegen von Interesse, weil Polynucleotide auch Polyester der Phosphorsäure sind (siehe auch unter Biopolymeren). Polyphosphonate werden auch hergestellt aus Phosphonyldichloriden mit Diolen: RPOCl2 + HOR’OH o –>–PO(R)–OR’O–@– + 2 HCl Darüber hinaus erwähnenswert ist die Stoffklasse der Polyphosphazene. Setzt man PCl5 mit NH4Cl bei ca. 120 qC miteinander um, erhält man vorwiegend ringförmige Dichlorphosphazene mit vorwiegend Sechser- oder Achterringen, die beim Erhitzen ab 230 bis 300 qC in folgende Polymere übergehen: Cl N P Cl ein transparentes, gummiartiges Produkt, das Polydichlorphosphazen. Trotzdem die Polymerisation thermisch durchgeführt wird, wird ein kationischer Mechanismus angenommen. Die Beschleunigung der Polymerisation durch Spuren Wasser würde dafür sprechen. Die kationische Polymerisation mit BF3 ist ebenfalls bekannt. Polymerisationsgrade bis 15000 sind beschrieben worden, die hohen Produkte sind vernetzt. Das Polymere ist elastisch wie Naturkautschuk und hat eine Einfriertemperatur von minus 63 qC und hydrolysiert langsam an feuchter Luft. Beim Erhitzen ab 350 qC tritt Depolymerisation zu ringförmigen, niedermolekularen Produkten auf. Auch Polydifluorphosphazen ist bekannt. Durch Substitution können die Halogenatome des Polymeren ersetzt werden. Dabei ändern sich je nach Substituent die Eigenschaften. Einführung von CH3O und C6H5O Gruppen lassen den elastischen Charakter der Polymeren beibehalten. Dagegen gibt die Einführung von primären und sekundären Aminogruppen wasserlösliche Polymere. Bei unvollständiger Substitution entstehen so Copolymere. Derartige Copolymere sind gegen Hydrolyse beständig. Sie haben gute mechanische Eigenschaften, besser als Silikone und werden benutzt als Dichtungen und Treibstoffleitungen. Polyphosphazenelastomere sind vulkanisierbar mit Schwefel und Peroxiden. Auch eine Direktsynthese für Polyphosphazene durch Erhitzung folgender Verbindung ist bekannt: R R N P + (H3C)3SiOCH2CF3 (H3C)3Si N P OCH2CF3 R
R
3.3.10 Arsen, Antimon und Wismut enthaltende Polymere Von diesen Elementen sind weniger Polymere bekannt. Zuerst die Homokettenpolymere: Setzt man Methylarsan mit halogenhaltigen Substanzen z.B. CCl4 um, erhält man ein Polymethylarsan als rotschwarze Kristalle CH3AsH2 + 2 CCl4 o CH3AsCl2 + 2 CHCl3 n/2 CH3AsCl2 + n/2 CH3AsH2 o (CH3As)n + n HCl Auch vom Antimon ist ein analoges Endprodukt bekannt, auf folgendem Wege hergestellt: CH3SbH2 + HgBz2 o (CH3Sb)n + 2 Toluol Man erhält grüne Kristalle. Statt Dibenzylquecksilber kann man auch Jod oder (CH3)2SiCl2 benutzen. Obige beide Substanzen haben Leiterstruktur.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
155
Wie bereits bei Zinn und Blei geschildert lassen sich mit Lewisbasen auf Basis von As, Sb und Bi diese Elemente enthaltende Kondensationspolymere herstellen, siehe dort. Aber auch ein anderer Typ ist bekannt, z.B. durch Umsetzung von Dilithiumorganylen mit Phenyldichlorarsin:
n Li
O
Cl + n ClAsCl
O
As
Ein neuartiges Polymer mit Arsen in der Kette ist –(–CH=C(Ph)–As(R) –)n–. 3.3.11 Selen und Tellur enthaltende Polymere Schwefelatome in organischen Polymeren z.B. in Polysulfiden (Kap. 3.2.1.6) und Polysulfonen (Kap. 3.2.1.8.) werden nicht als ungewöhnlich angesehen. Bei höheren Elementen der 6. Hauptgruppe ist das aber nicht so, wobei Selen anstelle von Schwefel an vielen Stellen denkbar wäre. Darüber hinaus gestatten Verbindungen wie oder Se(CH2CH2NH2)2 Se(CH2CH2OH)2 die Einführung von Selen in Polyester, Polyamide und Polyurethane. Analog zu den Polyalkylensulfiden kennt man ähnliche Verbindungen vom Selen und Tellur. Gut untersucht ist das Polymethylenselenid. Es wird hergestellt durch Reaktion von Formaldehyd mit Natriumselenid: n CH2O + n Na2Se2 o –(CH2Se2)n– Eine andere mehr konventionelle Darstellung kondensiert Dibrommethan mit Natriumselenid n BrCH2Br + n Na2Se2 o –(CH2Se2)n– Polytrimethylendiselenid entsteht durch Hydrolyse von 1.3-Propandiselenocyanat: n NCSe–(CH2)3–SeCN o –[(CH2)3Se2]n– Höhere Hydrocarbondiselenide erhält man auf gleiche Weise aus entsprechend höheren Diselenocyanaten. Auch aromatische Diselenide sind bekannt. o-Dichlorbenzol und Natriumdiselenid ergeben ein Phenylendiselenid. In gleicher Weise sind Dibromanthracenderivate dieser Reaktion zugänglich. Das Interesse an derartigen Polyseleniden erklärt sich daraus, dass sie als Halbleitermaterial attraktiv sind. Ähnliche Verbindungen wie beim Selen sind auch vom Tellur bekannt. Reduziert man Bistrichlortellur(IV)methan mit Kaliummetabisulfit, so erhält man Polymethylenditellurid: H2C(TeCl3)2 + K2S2O5 o –(CH2–Te2)n– eine rotbraune feste Substanz. Höhere aliphatische Ditelluride werden durch Kondensation n Br–(CH2)x–Br + n Na2Te2 o –[(CH2)x–Te2]n hergestellt (x = 2 - 20). Auch aromatische Ditelluride z.B. aus 4.4’Dibromdiphenyl und Na2Te2, also hergestellt durch Kondensation, sind bekannt. 3.3.12 Polymere mit Übergangsmetallen in der Kette und Koordinationspolymere Polymere mit Übergangsmetallen in der Kette sind recht selten wegen ihrer fehlenden Stabilität unter normalen Bedingungen. Aber diese fehlende Stabilität ist wesentlich abhängig von dem Über-
156
3.3 Organische Polymere mit anorganischen Gruppen
gangsmetall und den organischen Gruppen. Beispiele für erfolgreiche Synthesen bieten zu ersterem Cu, Co, Ni, Pd und Pt. Ein Nickel-poly-yn lässt sich wie folgt herstellen: CuX n Ni(C CH)2 + n HC C Y C CH [Ni C C Y C CH]n R3N Dieser Synthesetyp ist nicht auf Übergangsmetallverbindungen beschränkt. Anstatt wie oben Nickel in der Kette sind auch folgende andere Einbauten beschrieben: Hg, AsC6H5, SiR2. Auch ein mit Liganden z:B. Cyclopentadien bestücktes Übergangsmetall (Co, Ni) kann so ragieren. Ähnliches ist auch vom Platin bekannt, stabilisiert mit Phosphinliganden. Aber auch ein anderer Typ Platin(II)verbindungen gehört zu den Polymeren: –[–NH2–PtCl2–NH2R]– wobei R aliphatische, aromatische oder heterocyclische Reste darstellen. Anstatt Chlorid ist auch Jodid bekannt. Derartige Polymere werden auch als Antitumormittel benutzt. Mit diesen Verbindungen sind wir aber bereits bei der Gruppe der Koordinationspolymeren angelangt. Koordinationspolymere im engeren Sinne sind dadurch gekennzeichnet, dass sie eine koordinative Bindung mit Metallatomen im Polymeren aufweisen. Dabei kann einmal die koordinative Bindung über die Seitengruppen an der Polymerkette wirken. Beispiele dafür sind die bereits am Anfang dieses Kapitels aufgeführten Copolymere aus Olefinen und Vinylpyridinen, aber auch Vinylcarbazolen oder anderen stickstoffhaltigen ungesättigten Basen. Wenn man diese mit Metallsalzen wie CoCl2, NiCl2 oder anderen wie z.B. CrCl3 versetzt, erhält man eine koordinative Bindung zwischen den Reaktionspartnern, also ein Koordinationspolymeres, das koordinativ vernetzt ist. Diese Polymeren nehmen eine Zwischenstellung zwischen Duromeren und Thermoplasten ein. Sie sind bei Raumtemperatur schlecht oder nicht löslich, wie das bei vernetzten Polymeren üblich ist. Bei höheren Temperaturen lösen sich die Vernetzungen, zumal unter Verarbeitungsbedingungen, und sie sind wie Thermoplaste verarbeitbar. Auch das in der Einleitung zu diesem Kapitel genannte Polyvinylferrocen bzw. allgemeiner die Polyvinylmetallocene sind in diesem Sinne Koordinationspolymere. Ebenso die Polymeren der Vinylmetallcarbonyle. Aber auch andere Chelatgruppen ergeben Koordinationspolymere dieses Bautyps. Setzt man Polyacrylsäure mit UO22+-Ionen um, so erhält man: (CH2 CH)n
C O O O U O O O C (CH2
CH)n
vorgeschlagen zur Uranrückgewinnung. - Besonders interessant in dieser Klasse sind Platinverbindungen aus medizinischer Sicht z.B. die Platinverbindung des Poly(bismethylamino)phosphazen. MeHN NHMe P NHMe N N P NHMe Pt Cl Cl Es dient als Tumor inhibierende Substanz bei Mäusen.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
157
Ein anderer Typ der Koordinationspolymeren hat die koordinative Bindung in der Hauptkette. Es gibt zwei Synthesemöglichkeiten dieses zu erreichen. Entweder man bringt die koordinative Bindung bereits mit dem Monomeren ein oder knüpft sie bei der Polymerbildung. Erstere Möglichkeit kann man z.B. wie folgt formulieren: OCO R
HOOC CoPF6
+ HO R OH
CoPF6
COOH
Das Cobalt in diesem Polymeren ist durch Eisen austauschbar. Dieses Bauprinzip wurde auch mit anderen Zentralatomen z.B. Cu, Ag und anderen koordinierenden Liganden wie Phenantrolin und Terpyridin beschrieben. Dreidimensionale Koordinationspolymere vom Typ CuSiF6(4,4 Bipyridin) haben wegen ihrer großen Hohlräume für den reversiblen Einschluss von Gastmolekülen Beachtung gefunden. Auch ein vorformierter Metallkomplex bildet über seine funktionellen Gruppen durch Polykondensation oder Polyaddition ein Polymeres. Dafür gibt es eine Reihe von Beispielen: Disubstituiertes Aminoethylferrocen reagiert mit Disäurechloriden zu Polyamiden oder disubstituierte Carboxyferrocene reagieren mit Diolen zu Ferrocenpolyester. Statt Eisen können auch andere Cyclopentadienylverbindungen z.B. wie oben vom Cobalt dafür eingesetzt werden. Auch phosphinsubstituierte Ferrocene sind bei diesem Bautyp eingesetzt worden. Bildet man die koordinative Bindung erst während der Polymerbildung, kann man das wie folgt formulieren: OH RN CH O H H RN C C NR + Me2+ Me O CH NR OH So reagiert Oxalsäure mit Eisenionen zu einem linearen Polymeren. Dagegen gibt 2.5-Dihydroxychinolin mit Eisenionen flächenförmige Gebilde, mit Kupferionen steife Aggregate. Auch Verbindungen mit Nickel und Cadmium sind bekannt. Dicarbonsäuren geben mit Uranylionen einen Uranylpolyester. Insgesamt ist dieser Synthesetyp breit angewandt worden, wobei als Übergangsmetalle Cu, Fe, Co, Ni, Rh, Ru, Pd, Pt, Cr, Mo, Mn, Zn, Cd und als Koordinationsdonatoren =O, =S und =RN genannt werden, natürlich in unterschiedlichen Kombinationen. Letztere aus Ketonen, Thiolaten, Azomethinen, Chinolinverbindungen, überhaupt viel unterschiedlichste Amine. Manche haben interessante Eigenschaften z.B. Poly-nickel-pyrimidin-2-thiolat hat Halbleitereigenschaften Eine besondere Gruppe der Koordinationspolymeren vom Bautyp her gesehen sind die Phthalocyanine. Sie gehen auf den Metallporphyrinring zurück:
N N
Me N
N
158
3.3 Organische Polymere mit anorganischen Gruppen
Dieses unterschiedlich substituierte Ringsystem ist uns aus der Biochemie mit Eisen als Zentralatom als Hämoglobin und mit Magnesium als Zentralatom als Chlorophyll bekannt. Als zentrales Metallatom kann auch Co, Ru, Rh, Os, Pt, Mn, Si, Ge, Sn, Al und Ga dienen. Am zentralen Metall befindliche OH-Gruppen können unter Abspaltung von Wasser kondensieren und so erhält man Polymere mit Sauerstoffbrücken mit einem Polymerisationsgrad von über 100. Es findet also eine covalente Verbrückung statt. Derartige Polymere haben gute chemische und thermische Stabilität und sind auch in Fasern überführt worden. Aber auch Brücken auf Basis von –S–, –O(CH2)x–, –CC–, –F, –CN und –Pyrazin– wurden bekannt. Eine Verbrückung des zentralen Metallatoms muss nicht unbedingt kovalent sein. Sie kann bei einem geeigneten Zentralatom auch eine koordinative Bindung sein, wie zu sehen. Aber auch durch eine Substitution an den Benzopyrrolringen der Metallporphyrine mit funktionellen Gruppen kann man Polymere herstellen, z.B. Polyamide.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
159
3.4 Polyreaktionstechnik Gemessen an der technischen Durchführung von Reaktionen der Organischen Chemie weist die technische Herstellung von Hochpolymeren eine Reihe von Besonderheiten auf, die auf den speziellen Bau und die Eigenschaften der makromolekularen Stoffe zurückzuführen sind, insbesondere auf die hohen Molmassen. Makromolekulare Substanzen haben Molmassen oberhalb 104, daher zeigen Polymerlösungen bereits bei geringen Konzentrationen hohe Viskosität. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass Polymerisationsreaktionen stark exotherm sind (siehe S. 48) die Polymerisationsenthalpie der meisten industriell polymerisierten Monomere liegt über 70 kJ/mol so ist verständlich, dass Probleme mit der Wärmeabführung vorliegen. Bei Polymerisationen mit niedrigen Geschwindigkeiten genügt die indirekte Wärmeabführung über Kühlschlangen im Reaktor oder die Reaktorwandung. Verminderung der Kühlwirkung tritt dann auf, wenn die Kühlflächen durch polymere Krusten zugesetzt werden. Dagegen benötigt man wandgängige Rührer. Einen Teil der bei den exothermen Reaktionen freiwerdenden Wärme kann man dem System durch Vorkühlen der Eingangskomponente entziehen. Ein dritter Weg besteht darin, dass man am Siedepunkt einer Reaktionskomponente arbeitet, die die Wärme auf den Rückflusskühler überträgt. Bedingungen hierfür sind die Nichtflüchtigkeit von Initiator und Monomer, und die Polymerisation darf nicht schäumen. Dies sind prinzipielle Wege zur Abführung der Reaktionswärme. Für viskose Systeme entwickelte man aus diesem Grunde spezielle Polymerisationsverfahren zur besseren Wärmeabführung. Hier wären neben dem (auch in der Organischen Chemie üblichen) Arbeiten in Lösung (die Lösungspolymerisation) besonders aber die Suspensionspolymerisation, die Emulsionspolymerisation und die zweistufige Substanzpolymerisation zu nennen. Auch die zweite Besonderheit der Hochpolymertechnologie hängt mit der hohen Molmasse zusammen. Das in der Organischen Technologie bewährte Trenn- und Reinigungsverfahren, die Destillation, fällt hier weg, denn makromolekulare Substanzen sind nicht unzersetzt destillierbar. Der Grund liegt darin, dass die Summe der zwischenmolekularen Kräfte größer ist als die kovalente Bindung in der Polymerkette. Deswegen erfolgen alle Reinigungs-, Untersuchungs- und Verarbeitungsoperationen in Lösung, in festem Zustand oder, soweit beständig, in der Schmelze. Im Gegensatz dazu versucht man so „sauber“ zu polymerisieren, dass Reinigungsoperationen nicht nötig sind. Das bedeutet nicht nur, dass unerwünschte Nebenprodukte vermieden werden, sondern auch, dass die gewünschte mittlere Molmasse erreicht wird. Da diese von der Konzentration des Initiators bzw. der aktiven Spezies bei radikalischen Polymerisationen herunter bis 108 mol/L abhängt, werden an technische Polymerisationen hohe Reinheitsanforderungen gestellt. Das äußert sich z.B. auch darin, dass technische Polymerisationen unter Inertgas bzw. Eigendruck des Monomers durchgeführt werden. Auch die Substanzpolymerisation, die nur mit Monomer und Initiator, d.h. ohne weitere Reaktanden abläuft, wäre hier einzuordnen. Die Agenzien, ob in die Polymerisation eingegeben oder unerwünscht, haben nicht nur einen Einfluss auf die mittlere Molmasse, sondern auch auf die Molmassenverteilung. Man muss davon ausgehen, dass für Anwendungen im Werkstoff- und Materialsektor besonders die mechanischen Eigenschaften vom mittleren Polymerisationsgrad und auch von der Polymerisationsgradverteilung abhängen bzw. bestimmte Werte erfordern. Überträgersubstanzen verschieben die Molmassenverteilungskurve in Richtung niedermolekularer Bereiche. Substanzen, die als Abbrecher wirken, reagieren mit Teilen der aktiven Spezies unter Abbruch, so dass oligomere Anteile entstehen und damit eine Verbreiterung der Polymerisationsgradverteilung auftritt. Schließt man die Wirkung von Verunreinigungen aus, verbleiben die Einflüsse des Reaktortyps, des zwangsläufigen Abbruchs oder Entstehens lebender Polymere und des Umsatzes auf die
160
3.4 Polyreaktionstechnik
Polymerisationsgradverteilung. Bei Polymerisationen mit zwangsläufigem Kettenabbruch erhält man Flory-Schulz-Verteilungen. Betrachtet man die Idealformen der Reaktoren, so ergibt sich folgendes Bild: Beim diskontinuierlichen Rührreaktor wie auch beim Strömungsrohr verbreitert sich die Polymerisationsgradverteilung des Polymers mit steigendem Umsatz. Im kontinuierlichen Rührreaktor ergibt das Zusammenwirken von konstanter Monomerkonzentration und Verweilzeitverteilung als Summe eine engere Verteilung als in den beiden obigen Reaktoren. Bei abbruchfreien Systemen (lebende Polymere) wird im diskontinuierlichen Rührreaktor und im Strömungsrohr eine Poisson-Verteilung erhalten. Sie ist gegenüber der Flory-Schulz-Verteilung wesentlich enger und setzt den gleichzeitigen Start und Abbruch voraus. Im kontinuierlichen Rührreaktor ergibt das Verweilzeitspektrum eine Verbreiterung der Molmassenverteilung. Über die Flory-Schulz-Verteilungen wurde auf S.18 berichtet. Man kann Polymerisationen in homogener Phase (Lösungspolymerisation) oder in heterogener Phase (Fällungs-, Suspensions-, Emulsionspolymerisation) ausführen. Letztere haben den Vorteil der besseren Wärmeabfuhr durch die niedrigere Viskosität des Systems. Außerdem ist es möglich, ein Monomer allein (Substanzpolymerisation) oder in einem Träger (Lösung, Suspension, Emulsion) zu polymerisieren. Hier soll eine Kombination beider Einteilungsprinzipien genutzt werden. 3.4.1 Lösungspolymerisation Bei der Lösungspolymerisation wird ein in Lösemitteln (Wasser oder organische Lösemittel) lösliches Monomer in ein Polymer überführt, das ebenfalls im Lösemittel löslich ist. Gleiches gilt in der Regel für den Initiator. Derartige Polymerisationen können mit radikalischen und ionischen Initiatoren sowie mit Übergangsmetallverbindungen ausgelöst werden. Die Kinetik gleicht der in den entsprechenden Kapiteln geschilderten. Normalerweise wird ein „indifferentes“ Lösemittel benutzt, dies bedeutet, dass keine merkbaren Einflüsse auf die Abbruch- und Übertragungsreakton vorliegen und somit Einflüsse auf die Polymerisationsgeschwindigkeit und den Polymerisationsgrad nicht eintreten. Das schließt aber nicht aus, dass man eine Überträgerwirkung des Lösemittels gezielt nutzt. Ein Geleffekt kann in der Lösungspolymerisation vermieden werden, da die Lösungsviskosität durch die Menge des Lösemittels steuerbar ist und damit eine Verminderung des Kettenabbruchs durch zu hohe Viskositäten verhindert wird. Man strebt 100%igen Umsatz des Monomers an. Die Reaktionswärme ist aus dem niedrigviskosen System mit den oben angegebenen Methoden normal abführbar. Als Reaktoren für Lösungspolymerisationen dienen diskontinuierliche Rührreaktoren mit Innenkühlung, Siedekühlung oder Umwälzpumpe, wie kontinuierliche Rührreaktoren, evtl. als Kaskade benutzt. Der Nachteil der Lösungspolymerisation besteht darin, dass für viele Anwendungsgebiete der makromolekularen Stoffe das Polymer nicht als Lösung benötigt wird. Demzufolge müsste man das Lösemittel also erst entfernen, doch erfordert dies Energie und ist kostenaufwendig. Daher haben Lösungspolymerisate bevorzugt auf dem Sektor Anwendung gefunden, wo eine Lösung direkt zum Einsatz kommt. Beispiele sind die Lack-, Imprägnier- und Klebebranche. Somit werden Polymerlösungen direkt vom Polymerhersteller zum Finalproduzenten versandt. Ein weiteres Beispiel für den Einsatz von Polymerlösungen stellt Polyacrylnitril dar, dessen Lösung direkt zu Textilfäden versponnen wird. Zuletzt gibt es noch Polymere, die sich nur in Lösung mit einer gezielten Struktur herstellen lassen, z.B. das cis-1,4-Polybutadien. Hier kommt man an der Aufarbeitung der Polymerlösung nicht vorbei. Weitere typische Beispiele für Lösungspolymerisationen sind Polyacrylsäure, Polyacrylsäureester, Vinylchlorid-Vinylacetatcopolymer mit radikalischen Initiatoren, Polydiene mit anionischen Initiatoren und Polyethylen unter Mitteldruck mit Übergangsmetallkatalysatoren.
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
161
3.4.2 Fällungspolymerisation Bei der Fällungspolymerisation ist das Monomer im Lösemittel löslich, das entsprechende Polymer dagegen unlöslich. Das bedeutet, dass das Polymer während der Polymerisation ausfällt. Es sind vorwiegend Beispiele aus der radikalischen Polymerisation mit in Lösemitteln löslichen Initiatoren sowie mit unlöslichen Übergangsmetallkatalysatoren bekannt. Beim Fällvorgang wird der bimolekulare Kettenabbruch behindert, so dass Selbstbeschleunigung auftreten kann. Die Reaktionswärme lässt sich gut abführen, da die Viskosität der Lösung durch ausgefallenes Polymer nicht beeinflusst wird. Bei den anfallenden Dispersionen können bei Polymerfeststoffgehalten von höher als 20 % Rühr- und damit Durchmischungsprobleme entstehen. Als Reaktoren verwendet man modifizierte Strömungsrohre und Rührreaktoren, auch in Kaskade geschaltet. Der Polymerfeststoff wird durch Filtration von der Lösung abgetrennt. Stark abhängig ist der eigentliche Filtrationsvorgang von der Feinheit der Polymerfällung. Mit amphipatischen Dispergiermitteln (Block- und Pfropfcopolymeren aber auch Polyvinylpyrrolidon oder Polyvinylmethylether) hat man die Möglichkeit, die unkontrollierte Koagulation des Polymers zu steuern und die Teilchengröße zu kontrollieren. Die löslichen und unlöslichen Teile der Block- und Pfropfcopolymeren müssen sorgfältig, dem Zweck entsprechend, angepasst sein. Man nennt diesen Typ der Polymerisation auch Dispersionspolymerisation. Die Trocknung der Polymere macht in der Regel keine besonderen Schwierigkeiten, da das Lösemittel einen schlechten Löser für das Polymer darstellt und demzufolge auch wenig am Polymer haftet. Beispiele für Fällungspolymerisationen sind die radikalische Acrylnitrilpolymerisation in Wasser, die radikalische Copolymerisation von Styrol und Acrylnitril in Alkoholen, die kationische Polymerisation von Isobutylen in Ethylen oder Methylchlorid und die Polymerisation von Ethylen bei Niederdruck mit Übergangsmetallkatalysatoren. Einen Sonderfall stellt die Polykondensation zum Polyamid 66 dar. Hier wird, ausgehend von Hexamethylendiaminadipat (AH Salz), in Wasser polykondensiert. Dabei wird das Wasser im Laufe des Vorgangs entfernt, so dass zuletzt nur das reine Polymer vorliegt. 3.4.3 Substanzpolymerisation Der Begriff Substanzpolymerisation besagt erst einmal nur, dass es sich um die Polymerisation des Monomers mit einem Initiator (Ausnahme Styrol) ohne Anwesenheit eines Lösemittels oder Verdünners handelt. Substanzpolymerisationen werden in der Industrie auch als Massepolymerisa-tion oder Blockpolymerisation bezeichnet. Letzterer Begriff ist irreführend, da er mit der Blockcopolymerisation verwechselbar ist. Der englische Begriff heißt „bulk polymerization“. Die Substanzpolymerisation kann als Lösungspolymerisation oder als Fällungspolymerisation ablaufen, je nachdem, ob das Polymer im Monomer in Lösung bleibt oder ausfällt. Die Substanzpolymerisation schließt auch die Polymerisation in fester Phase und in Gasphase ein, soweit ohne Lösemittel durchgeführt. Der Vorteil der Substanzpolymerisation liegt darin, dass das Polymer in reiner Form anfällt und kein Lösemittel abgetrennt werden muss. Substanzlösungspolymerisation Bei der Substanzlösungspolymerisation wirkt das Monomer als Lösemittel für das Polymer, so dass bis zum Ende der Polymerisation eine homogene Phase vorliegt. Es werden lösliche radikalische Initiatoren verwandt (Ausnahme Styrol) und man strebt einen 100%igen Umsatz an. Da mit zunehmendem Umsatz die Viskosität steigt, beeinflusst dies die Kinetik in der Weise, dass die Kettenabbruchreaktion behindert wird und eine Selbstbeschleunigung in Form des Geleffektes auftreten kann. Die hohe Konzentration an Polymer fördert auch die Übertragungsreaktionen zum Polymer unter Bildung von Verzweigungen. Ein Problem bei der Substanzpolymerisation ist die Abführung der beträchtlichen Polymerisationswärme. Dafür gibt es eine Reihe von Lösungen, die bekannteste ist die Zweistufenpolymerisa-
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3.4 Polyreaktionstechnik
tion, bei der in der ersten Stufe ein beachtlicher Teil der Polymerisationswärme entzogen und in der zweiten Stufe die Polymerisation in dünnen Schichten weitergeführt wird, alles unter sorgfältiger Temperaturkontrolle. Das Problem der Wärmeabführung bzw. die Anforderungen an die Polymerform sind Gründe, dass für die Substanzpolymerisation spezielle Formen der Reaktionstechnik eingesetzt werden. Ein Beispiel für eine derartige Polymerisationstechnik stellt die sehr früh entwickelte Turmpolymerisation von Styrol (Kombination von Rührkesseln und Strömungsrohr) dar. In den Rührkesseln wird bis ca. 40 % Umsatz bei 80 qC ein Teil der Reaktionswärme abgeführt und anschließend in einem Turmreaktor bis 220 qC zum 100 % Umsatz polymerisiert (siehe Abbildung 3.9). Nach diesem Verfahren erhält man ein Polystyrol mit sehr breiter Molmassenverteilung, daher wird zunehmend in Durchflussmischreaktoren gearbeitet.
Abbildung 3.9: Turmverfahren zur Polymerisation von Styrol (M. Rätzsch, M. Arnold ,1973) 1 2 3 4 5 6 7
Monomerbehälter Pumpe Vorpolymerisationskessel Turmreaktor Schnecke Transportband Zerkleinerungsmaschine
Ein weiteres Beispiel ist die radikalische Polymerisation von Methylmethacrylat zu organischem Glas in Formen unter sorgfältiger Temperaturkontrolle bis 100 % Umsatz. Hier einzuordnen wäre auch die einphasige Hochdruckpolymerisation des Ethylens, die im Rohrreaktor (Strömungsrohr) oder Rührreaktor bis zu einem 23 bzw. 18 %igen Umsatz durchgeführt wird. Eine Substanzpolymerisation stellt auch die Herstellung von Polycaprolactam dar. Die kontinuierliche Polymerisation wird in einem Strömungsrohr, genannt VK(vereinfacht-kontinuierlich)-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
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Rohr (s. Abbildung 3.10), bei 265 qC durchgeführt, woran sofort eine Spinnpumpe zur Faserbildung angeschlossen werden kann. Die Abbildung zeigt ein VK-Rohr mit den Strömungsrichtungen abwärts, aufwärts, abwärts, ein sogenanntes Zonenrohr (Länge z.B. 6 m). Die auch in Substanz durchgeführte anionische Schnellpolymerisation des Caprolactams wird dagegen zur Herstellung von Fertig- und Halbfertigfabrikaten angewandt. Die Polykondensation zu Polyethylenterephthalat wird unter Ethylenglykolabspaltung mittels Vakuum im Autoklaven durchgeführt, ebenfalls in Substanz.
Abbildung 3.10: Technische Ausführung eines VK-Rohres 1 Zulauf Caprolactam 2 Rohr für Vorkondensation 3 Polymerisationsrohr 4 gelochte Blende zur Beruhigung der Strömung 5 Ablauf 6 Heizmantel
Substanzfällungspolymerisation Ein charakteristisches Merkmal der Substanzfällungspolymerisation stellt das Ausfallen des Polymers im Monomer während der Polymerisation dar. Dieses tritt beim Polyvinylchlorid, Polyvinylidenchlorid und anderen Polyvinylhalogeniden auf sowie beim Polyethylen bei mittleren Drucken mittels radikalischer Initiatoren. Es zeigen sich dieselben Probleme wie bei der normalen Fällungspolymerisation bezüglich der Beherrschung der Selbstbeschleunigung, der Abführung der Reaktionswärme und noch zusätzlich mit dem „Anbacken“ des Polymers an Wand und Rührer. Als Beispiel sei hier die zweistufige radikalische Polymerisation des Vinylchlorids genannt. In ihr wird Vinylchlorid in einer ersten Stufe in einem Rührreaktor bis zu ca. 10 % bei Siedekühlung polymerisiert, wobei die Polymerteilchen als Saatbett für die zweite Polymerisationsstufe in einem Rührautoklav dienen (siehe Abbildung 3.11). Dies bedeutet, dass die Teilchenzahl im zweiten Reaktor nicht mehr wesentlich wächst, die Teilchen nur größer werden. Bei ca. 80-90 % Umsatz wird abgebrochen und das restliche Monomer ausgegast. Auch vom Polypropylen wurde die Substanzfällungspolymerisation beschrieben.
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3.4 Polyreaktionstechnik
Abbildung 3.11: Substanzpolymerisation von Vinylchlorid (Winnacker-Küchler, 1982) 1 VCM-Vorlage; 2 Vorreaktor; 3.1 3.5 Polymerisations-Reaktoren; 4 Abscheider; 5 Klassiersieb; 6 Zwischenbunker; 7,8 Mühlen; 9 Sieb; 10,11 Bunker; 12 Fördergebläse; 13 Filter; 14 Gebläse; 15 Umlaufkühler; 16 Rückflusskühler; 17 Kompressor; 18 Kondensator; 19 Tieftemperatur-Kondensator; 20 Abluftreinigung
3.4.4 Gasphasenpolymerisation Die Gasphasenpolymerisation ist auch unter die Substanzpolymerisationen einzuordnen, da nur Monomer, Polymer und Initiator bzw. photochemische Anregung vorliegen. Da das Polymer aber fest vorliegt, gibt es einige Besonderheiten. Man düst Katalysator enger Größenverteilung und Monomer gasförmig ein, welches zu festen Polymerpartikeln polymerisiert, die in einer Wirbelschicht zirkulieren. Weiter nachgeliefertes Monomer löst sich in den Polymerpartikeln, und dies stellt auch den Polymerisationsort dar. Es handelt sich also um keine echte Polymerisation in der Gasphase, sondern der Polymerisationsort sind die Polymerpartikel, die Monomer gelöst haben. Die Monomer- und Katalysatorzugaben bestimmen die Polymerisationsgeschwindigkeit. Die Isolierung des Polymers erfolgt über Austragsschleusen (s. Abbildung 3.12). Der obere, erweiterte Teil des Reaktors dient beim kontinuierlichen Betrieb als Beruhigungszone. Die Entleerung des Reaktors erfolgt durch Druckerhöhung, Austreiben und dann Abscheiden des Polymers in Zyklonen. Bekannt sind die Polymerisationen des Ethylens und Propylens mit Übergangsmetallkatalysatoren. Die Anwendungsbreite der Gasphasenpolymerisation dieser Monomere erweitert sich ständig. Polyethylen bezeichnet man bis zu einer Dichte von 0,88 g/cm3 herunter als Flexomer, Polyethylen mit bimodaler Molmassenverteilung dient für spannungsrissbeständige Rohre, statistische Copolymere wie Ethylen-Propylen und Ethylen-Propylen-Dien finden im Kautschuksektor Anwendung, und sehr gut definierte Ethylen-Propylen-Blockcopolymere werden ebenfalls auf diese Art erhalten. 3.4.5 Polymerisation in fester Phase Bei der Polymerisation fester kristalliner Monomere handelt es sich auch um eine Substanzpolymerisation. Die Polymerisationsauslösung erfolgt meist mit ionisierender Strahlung. Radikalische und ionische Mechanismen wurden vorgeschlagen. Am intensivsten sind Acrylamid und die Salze der Acrylsäure untersucht worden. Beim Acrylamid als Beispiel konnte mit Sicherheit eine radikalische Polymerisation bewiesen werden, da man die Radikalkonzentration durch Elektronenspinresonanz
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
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bestimmte und eine Übereinstimmung mit Umsatz und Polymerisationsgrad vorlag. Da Kristallgitterstruktur und Fehlstellen eine große Rolle spielen, ist die Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit von beiden abhängig. Die Festphasenpolymerisation erlaubt als besonderen Vorteil die Polymerisation im Einkristall. Insgesamt sind bei der Festphasenpolymerisation wegen der Unbeweglichkeit der wachsenden Kette der Abbruch behindert und die Radikalkonzentration mit ca. 104 mol/dm3 sehr hoch. Die Addition des Monomers, also das eigentliche Wachstum, verläuft sehr langsam. Beim Acrylamid beträgt die Zeit zwischen zwei Wachstumsschritten 10 s, während sie als Vergleich bei der Substanzpolymerisation in flüssigem Medium bei 104 s liegt. Insgesamt ist die Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit der Festphasenpolymerisation sehr niedrig, und der Polymerisationsgrad steigt nur langsam an. Deswegen hat die Festphasenpolymerisation auch nur in speziellen Fällen größere technische Anwendung gefunden. Weitere Beispiele für so polymerisierte Monomere sind Methacrylsäure, Acrylnitril, langkettige Vinylether, Trioxan, Trithian und Diacetylene. Hier einzuordnen wäre auch die Nachpolymerisation von Polykondensaten. Die entsprechenden Endgruppen reagieren miteinander unter Erhöhung der Molmasse.
Abbildung 3.12: Gasphasenpolymerisation von Ethylen (A. Echte, 1993)
3.4.6 Polymerisation in Einschlussverbindungen Harnstoff, Thioharnstoff, Stärke, Cyclodextrin aber auch Perhydrophenylen und einige Platinkomplexe bilden Kritalle mit kanalartigen regelmäßigen Hohlräumen (Wirtsgitter), in die man auch Monomere einlagern kann z.B. Propylen, Butadien, Isopren und Vinylchlorid. Diese Monomeren kann man dort mit Strahlung oder Radikalen polymerisieren. Ziel einer derartigen Polymerisation ist die Herstellung von stereoregulären Polymeren, bedingt durch die Geometrie des Wirtsgitters.
166
3.4 Polyreaktionstechnik
3.4.7 Suspensionspolymerisation Eine Suspensionspolymerisation wird dadurch charakterisiert, dass ein Monomer, welches in einem mit dem Monomer nichtmischbaren Trägermedium dispergiert ist, mit einem monomerlöslichen Initiator polymerisiert wird. Der Polymerisationsort sind also die dispergierten Monomertröpfchen. Angestrebt werden 100 % Umsatz. Als Trägermedium dient in der Regel Wasser. Als Monomere werden Styrol und Comonomere, Vinylchlorid und Methylmethacrylat eingesetzt. Die Dispergierung des Monomers durch Rühren stellt vor Beginn der Polymerisation eine Emulsion und am Ende der Polymerisation eine Suspension dar. Die Monomertröpfchen und die sich daraus bildenden Polymere haben kugelförmige Gestalt; daher nennt man diese Polymerisation auch Perlpolymerisation. Den Durchmesser der Monomertröpfchen und den der sich daraus bildenden Polymerperlen kann man einstellen, er wird in den Größen von 0,01 bis 5 mm gewählt (Unterschied zur Emulsionspolymerisation). Gleichfalls ist die Teilchengrößenverteilung einstellbar. Auf beides üben Reaktorform und Einbauten, Rührerform sowie Rührerdrehzahl, Phasenverhältnis, Dichte und Viskosität beider Phasen einschließlich Grenzflächenspannung einen Einfluss aus. Dazu kommen die normalen Daten der Polymerisation wie Konzentration, Zeit und Temperatur. Eine Zugabe von Dispergatoren, auch Stabilisatoren genannt, beeinflusst die Monomertröpfchen im Sinne einer Stabilisierung. Ihre Wirkung besteht darin, dass sie sich an der Grenzfläche anlagern, die Grenzflächenspannung erniedrigen und damit die Agglomeration und Koaleszens der Monomertröpfchen verhindern. Als Dispergatoren verwendet man Cellulosederivate, Acrylsäurecopolymere, teilverseiftes Polyvinylacetat, Polyvinylalkohol und Stärke, aber auch unlösliche Anorganica wie Talkum, Bariumsulfat, Phosphate und Magnesium-, Calciumcarbonat. Letztere lassen sich aus den Polymeren wieder herauslösen. In den so stabilisierten Monomertröpfchen läuft mit dem im Monomer löslichen Initiator eine „Minisubstanzpolymerisation“ ab. Die Konzentration der wachsenden Radikale ist abhängig von der Tröpfchengröße, liegt aber in der Größenordnung von 108 (Unterschied zu der Emulsionspolymerisation). Die Kinetik der Polymerisation gleicht der der Substanzpolymerisation einschließlich Geleffekt. Die Tröpfchen durchschreiten den Weg vom flüssigen Monomertröpfchen über klebrigviskoses Polymer in Monomerlösungstropfen bis zu festen Polymerperlen. Durch die wässrige Flotte um die Tröpfchen ist eine gute Wärmeabführung gewährleistet, woher die Bezeichnung „wassergekühlte Minisubstanzpolymerisation“ herrührt. Als Polymerisationsgefäße werden in der Technik vorwiegend diskontinuierlich betriebene Rührreaktoren von beachtlicher Größe (200 m3) verwandt. Auch vertikale Tubular(Röhren)reaktoren mit Rührung wurden angewendet. Die Aufarbeitung der Polymerisationsansätze macht im Gegensatz zur Fällungspolymerisation keine Schwierigkeiten (Vorteil der Suspensionspolymerisation), weil die Polymerperlen sich gut filtrieren lassen und das anhaftende wenige Wasser sich durch Trocknung entfernen lässt. Die wichtigsten mittels Suspensionspolymerisation hergestellten Perlpolymerisate sind Polystyrol und Polyvinylchlorid. Dabei handelt es sich beim Polystyrol nicht nur um Standardtypen für Spritzguss, sondern auch um Styrol/Acrylnitril-Copolymere in Richtung ABS-Polymere sowie Styrol/Divinylbenzol-Copolymere in Richtung Ionenaustauscher sowie spezielle Typen für Schaumpolystyrol. Polyvinylchlorid wird durch Suspensionspolymerisation auch für weichzumachende Typen hergestellt. Zu diesem Zweck werden entweder wenige Prozente Pentan zugegeben oder nach einem bestimmten Umsatz durch Evakuieren und dadurch Aufreißen ein poröses Korn geschaffen. Eine umgekehrte Suspensionspolymerisation von wasserlöslichen Monomeren, wie Acrylamid und Acrylsäure, als konzentrierte wässrige Lösung in Kohlenwasserstoffen unter Einsatz von z.B.anorganischen Stabilisatoren wird auch genutzt, genannt Dispersionspolymerisation. Der Begriff Dispersionspolymerisation wird allerdings nicht einheitlich gebraucht. Auch die Fällungs-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
167
polymerisation ohne Agglomerisierung zu größeren Teilchen in Gegenwart von Stabilisatoren gezielt zu Mikro- und Nanopartikeln wird Dispersionspolymerisation genannt. 3.4.8 Emulsionspolymerisation Unter einer Emulsionspolymerisation versteht man ein Polymerisationssystem, das zu Beginn Wasser, ein sehr wenig wasserlösliches Monomer, Emulgatoren und wasserlöslichen (Unterschied zur Suspensionspolymerisation) Initiator enthält (Abbildung 3.13). Durch Rühren wird das Monomer im Wasser zu ca. 1010 Monomertröpfchen pro cm3 (Durchmesser ca. 103 mm) verteilt, und der Emulgator lagert sich oberhalb einer kritischen Micellkonzentration zu Micellen zusammen, die ca. 100 Emulgatormoleküle enthalten, ihre hydrophile Seite dem Wasser zuwenden und ihre hydrophoben Reste nach innen zusammenlagern. Man rechnet mit 1018 Micellen pro cm3. In dem hydrophoben Inneren der Micellen lösen sich die wasserunlöslichen Monomere gut, so dass die Monomermoleküle aus den Monomertröpfchen über ihre geringe Löslichkeit in der Wasserphase in viele Micellen wandern. Diese Löslichkeit des Monomers in den Micellen erhöht die Löslichkeit des Monomers in der Wasserphase (Gesamtsystem außerhalb der Monomertröpfchen) um ca. zwei Zehnerpotenzen. Der im Wasser lösliche Initiator, meist als Redoxsystem, trifft nun überwiegend die im 108fachen Überschuss vorliegenden Micellen, dringt in sie ein und startet die Polymerisation der darin befindlichen Monomere. Eine Polymerisation in den Monomertröpfchen ist unwahrscheinlich, vorausgesetzt, man erhöht die Konzentration der Monomertröpfchen durch intensives Rühren nicht um Zehnerpotenzen. (Eine so zustande gekommene Polymerisation in den Monomertröpfchen würde eine Suspensionspolymeristion bedingen.)
Abbildung 3.13: Schema der Emulsionspolymerisation x = Monomer I = Initiator
Das Problem, dass der wasserlösliche Initiator sowie die daraus ebenfalls wasserlöslichen Radikale in das hydrophobe Innere der Micellen eindringen sollen, wird in der Weise diskutiert, dass sich auch in der wässrigen Phase mit dem dort befindlichen Monomer Oligomerradikale bilden, die in die Micellen leichter eintreten bzw. vom Emulgator umhüllt werden, so dass sie den Charakter von Micellen erhalten. Die Polymerisation schreitet in den Micellen durch über die wässrige Phase nachdiffundierendes Monomer voran, so dass sich die Micellen aufweiten, man nennt sie dann Latexteilchen mit einem Durchmesser von ca. 105 cm. Im System befinden sich dann die in Abbildung 3.13 gezeigten Bestandteile. Das weitere Fortschreiten der Polymerisation ergibt sich daraus, dass die Monomertröpfchen bis zum Verbrauch immer kleiner und die Latexteilchen im Gegenzug immer größer
168
3.4 Polyreaktionstechnik
werden. Qualitativen Aufschluss darüber können der zeitliche Verlauf der Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit (XBr) und der Oberflächenspannung geben (Abbildung 3.14).
Abbildung 3.14: Abhängigkeit der Bruttogeschwindigkeit XBr und der Oberflächenspannung J von der Zeit bei der Emulsionspolymerisation
In Phase I startet die Polymerisation in immer mehr mit Monomeren belegten Micellen, die Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit steigt, die wachsenden Teilchen verbrauchen die freien Emulgatormoleküle, auch die der unbelegten Micellen. In Phase II sind alle freien Emulgatormoleküle verbraucht, die Oberflächenspannung steigt an. Die Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit bleibt konstant, da die Zahl der Latexteilchen konstant ist, denn sie wird durch die Diffusionsgeschwindigkeit des Monomers aus den Monomertröpfchen in die Latexteilchen bestimmt. In Phase III werden die Monomertröpfchen und zuletzt das Monomer im Latexteilchen verbraucht, die Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit sinkt. Zur Quantifizierung dieser qualitativen Theorie wird als einfachster Fall angenommen, dass zeitlich gesehen jedes Latexteilchen nur ca. die Hälfte der Zeit ein wachsendes Radikal enthält. De facto können auch mehrere Radikale in der Micelle sein. Als Grund dafür wird der Geleffekt angenommen. Wahrscheinlich gemacht wird das auch durch niedrigere Molmassen als berechnet. Aus dem einfachen Ansatz ergibt sich die Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit unter Berücksichtigung der Latexteilchen zu XBr a [I]0,4 [E]0,6 [M] und der Polymerisationsgrad zu Pn = 2 XBr/Xst. Hieraus resultiert ein tatsächlicher Vorteil der Emulsionspolymerisation: Man kann, im Gegensatz zur Lösungspolymerisation, bei hoher Polymerisationsgeschwindigkeit hohe Polymerisationsgrade erreichen. Der oben angeführte allgemeine Zusammenhang zwischen Bruttopolymerisationsgeschwindigkeit, Konzentration und Polymerisationsgrad ist prinzipiell allgemein bestätigt, wenn auch bezüglich der Zahlenwerte zwischen den Autoren Unterschiede bestehen. Der Grund für diese Unterschiede liegt in den abweichenden Meinungen über den Anteil der Oligomerbildung mit Radikalen, dem Ort der Polymerisation (Latexteilchen oder nur seine Oberfläche), der Desorptionsmöglichkeit der Radikale bzw. der Berücksichtigung von Übertragungsreaktionen und dem Geleffekt. Darüber hinaus sorgt die unterschiedliche Wasserlöslichkeit der Monomere für unterschiedliche Werte. Ein weiterer wesentlicher Vorteil der Emulsionspolymerisation besteht darin, dass sich über die dünnflüssige wässrige Flotte die Polymerisationswärme gut abführen lässt. Die wässrigen Polymerdispersionen (Latex) können bis zu 60 % Feststoff enthalten, der durch Koagulation mit Elektrolyten bis zum isoelektrischen Punkt, durch Sprühtrocknung oder Walzentrocknung auf festes Polymer aufgearbeitet wird. Der Nachteil der Emulsionspolymerisate besteht darin, dass sich Inhaltsstoffe der Polymerisationsrezeptur im Polymer wiederfinden, d.h. die Polymere sind nicht so rein, dass sie für Anwendungen in der Elektrotechnik geeignet sind. Die Durchführung der Emulsionspolymerisation erfolgt kontinuierlich, halbkontinuierlich und diskontinuierlich. Für die kontinuierliche Polymerisation werden meistens Rührkesselkaskaden eingesetzt, so bei der radikalischen Styrol/Butadien- und Acrylnitril/Butadien-Copolymerisation, Chloropren-Polymerisation, deren Produkte alle als Synthesekautschuk Verwendung finden. Weite-
3 Synthese von Makromolekülen, Polyreaktionen
169
re Beispiele für die kontinuierliche Emulsionspolymerisation sind Vinylchlorid, Vinylacetat, Methylmethacrylat und Methylacrylat. Interessant ist noch das halbkontinuierliche Verfahren, auch Zulaufverfahren genannt. Dabei lässt man nach dem Start, also während der Polymerisation, nach einem bestimmten Programm weiteres Monomer und evtl. Initiator sowie Emulgator zulaufen. Man ist so in der Lage, die Polymerisationsgeschwindigkeit zu variieren und die Wärmeentwicklung zu steuern, evtl. durch Einfahren von kaltem Monomer. Darüberhinaus kann man mittels des Zulaufregimes den Polymerisationsgrad, die Teilchengröße und die Teilchengrößenverteilung beeinflussen. Bei Copolymeren hat man die Möglichkeit, durch Nachdosieren des schneller polymerisierenden Comonomers ein einheitlicheres Copolymer zu erhalten. Inverse Emulsionspolymerisationen, in denen ein hydrophiles Monomer (z.B. Acrylamid) in Wasser als Tröpfchen in einer hydrophoben Kohlenwasserstoffphase mit kohlenwasserstofflöslichen Initiatoren polymerisiert wurde, sind ebenfalls bekannt. Es handelt sich offensichtlich um eine echte Emulsionspolymerisation. Miniemulsionspolymerisation Das System der Miniemulsionspolymerisation ist bis zu einem Grad ähnlich der normalen Emulsionspolymerisation mit Abweichungen. Zuerst einmal beinhaltet das System wieder Wasser, ein sehr wenig in Wasser lösliches Monomeres, Emulgator und einen wasserlöslichen Initiator. Der erste Unterschied zur normalen Emulsionpolymerisation besteht darin, dass die Emulgatorkonzentration wesentlich erhöht ist. Weiterhin braucht man zusätzlich einen Coemulgator. Man nimmt dafür Verbindungen mit langen Hydrocarbonketten wie Cetylalkohol oder Hexadecan. Diese reduzieren die Diffusion der Monomermoleküle aus den Monomertröpfchen. Man erhält so Monomertröpfchen die wesentlich kleiner sind und deren Zahl erhöht ist. Es besteht eine Miniemulsion. Diese kann auch z. B. mit Ultraschall erzeugt werden. Konsequenz ist, dass Micellen und Monomertröpfchen ca. gleich groß sind, aber viel kleiner als bei der normalen Emulsionspolymerisation und bei 50 bis 500 nm liegen. Damit findet die Polymerisation vorwiegend in den Monomertröpfchen statt. Mikroemulsionspolymerisation Eine Mikroemulsion ist eine thermodynamisch stabile Mischung von zwei nicht mischbaren Flüssigkeiten. In unserem Fall der Polymerisation Monomeres und Wasser unter Zusatz eines Emulgators in wesentlich erhöhter Konzentration, unter Zusatz eines wasserlöslichen Initiators und unter Zusatz eines Alkohols als Coemulgator z. B. Pentanol. Die Mikroemulsionspolymerisation ist relativ neu und interessant, da mit ihr Nanopolymerpartikel mit hoher Molmasse hergestellt werden können. Die angestrebte Partikelgröße liegt bei 10 bis 100 nm. Die Polymerisation findet in der großen Anzahl der Micellen statt. Derartige Polymerisationsverfahren sind unter streng kontrollierten Bedingungen geeignet für die Herstellung verschiedener Polymermorphologien in Form von sphärischen und ellipsoidalen Nanoteilchen, Nanostäbchen, Nanoschichten und Nanoröhren. Auch Kern-Schale-Nanopartikeln (Polymerkomposits) wurden hergestellt, wobei Latexteilchen, anorganische Kolloide, Metallpartikel oder andere Nanoteilchen ummantelt werden. 3.4.9 Polymerisation monomolekularer Schichten nach Langmuir-Blodgett Monomere mit hydrophilen Kopfgruppen und hydrophoben Schwanzgruppen wie z.B. Octadecylacrylat und -methacrylat, Vinylstearat und Fettsäuren mit konjugierten Diingruppen orientieren sich an einer Wasseroberfläche amphiphil je nach Gruppe hydrophil zum Wasser und hydrophob zur Luft. Dabei bilden sie eine monomolekulare Schicht (einen Film), die man je nach Monomeren durch radikalische Initiatoren oder Bestrahlung polymerisieren kann. Verkleinert man die Oberfläche durch eine bewegliche Barriere, komprimiert also dadurch den Film und zieht man durch den Film einen geeigneten zu beschichtenden Gegenstand, so zieht der Film dort monomolekular auf zu einer gleichmäßigen Schicht. Das kann man auch mehrmals machen und erhält man so schön
170
3.4 Polyreaktionstechnik
gleichmäßig auf der Oberfläche liegende Mehrfachschichten. Diese Technik ist wichtig für die Molekularelektronik, nichtlineare Optik und Nanolithographie. 3.4.10 Interphasenpolykondensation (Grenzflächenpolykondensation) Die Polymerbildung bei der Interphasenpolykondensation findet an der Grenzschicht zweier nichtmischbarer Flüssigkeiten statt. Zu diesem Zweck unterschichtet man z.B. ein Säurechlorid einer Dicarbonsäure in einem inerten organischen Lösemittel vorsichtig mit einer wässrigen Lösung eines Diamins, die Natronlauge als Salzsäure-Acceptor enthält. An der Grenzschicht bildet sich ein fester Polyamidfilm, der kontinuierlich abgezogen werden kann und sich sofort neu nachbildet, weil die Polymerbildungsgeschwindigkeit an der Grenzfläche sehr hoch ist. Auf diese Weise werden verschiedene, vorwiegend aromatische Polyamide wie auch Polycarbonat industriell hergestellt.
171
4 Das Makromolekül in Lösung 4.1 Verteilungsfunktionen Wir wissen aus Kapitel 2, wie man die Mittelwerte des Kettenendenabstandes h und des Trägheitsradius R für flexible Polymermoleküle berechnet. Es ist aber nicht weniger interessant zu erfahren, aus welchen Einzelwerten sich diese Mittelwerte zusammensetzen. Jede Konformation liefert einen bestimmten Kettenendenabstand h und einen bestimmten Trägheitsradius R. Wenn ein Beobachter die verschiedenen h- und R-Werte durchzählt, so stellt er fest, dass bestimmte h- und R-Werte mehrfach, andere hingegen nur einmal oder überhaupt nicht auftreten. Die gefundenen Häufigkeiten für die verschiedenen h- und R-Werte kann er graphisch darstellen. Dazu trägt er z.B. für den Kettenendenabstand auf der x-Achse die h-Werte und auf der y-Achse die zugehörigen Häufigkeiten auf. Das Ergebnis ist die Häufigkeitsverteilung fH(h). Die Anzahl der verschiedenen Konformationen eines Makromoleküls ist im Prinzip unendlich groß. Wir können deshalb fH(h) in guter Näherung durch eine stetige Funktion f(h) ersetzen. f(h)dh ist dann die Wahrscheinlichkeit, dass ein Polymermolekül eine Konformation einnimmt, bei der der Betrag des Kettenendenabstandsvektors h zwischen h und h + dh liegt. Unsere Aufgabe ist es nun, einen mathematischen Ausdruck für die Verteilung f(h) zu finden. Dazu gehen wir von der idealisierten Situation aus, dass die Polymersegmente nicht miteinander wechselwirken, so dass ihre Anordnung im Raum zufällig und unabhängig von der Anordnung benachbarter Segmente ist. Wechselwirkungen zwischen den Polymersegmenten berücksichtigen wir in Kapitel 4.2. 4.1.1 Die Kettenendenabstandsverteilung Für unsere Überlegungen legen wir das Modell der linearen, frei rotierenden Kette zugrunde. Die Konformation dieser Kette wird durch die Aufeinanderfolge von N* Segmentvektoren li* bestimmt, und wir möchten wissen, wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, Konformationen zu finden, für die der Abstand zwischen dem ersten und dem letzten Segment der Kette gleich h ist. Dieses Problem behandeln wir zunächst eindimensional und verallgemeinern es dann auf drei Dimensionen. Wir betrachten dazu Abbildung 4.1. Abbildung 4.1a stellt die Projektion eines Makromoleküls in die x-y-Ebene dar. Die durchgezogene Linie bezeichnet eine willkürlich gezogene
Abbildung 4.1: a) Projektion der Segmentvektoren in die x-y-Ebene.
b) Projektion der Segmentvektoren auf eine beliebige Bezugsachse. Die Vektoren, die vor der Projektion „oberhalb der Achse“ liegen, befinden sich nachher links des Bezugspunktes A, die Projektionen der anderen Vektoren rechts davon.
172
4.1 Verteilungsfunktionen
Raumachse. Wenn wir die Segmentvektoren auf diese Achse projizieren, erhalten wir eine Folge verschieden langer Projektionsvektoren (siehe Abbildung 4.1b). Diese weisen z.T. in die positive und z.T. in die negative Richtung unserer Bezugsachse. Die Folge der „+“ und „“ Zeichen deutet dies an. Die Anzahl der projizierten Segmentvektoren, die in die positive Richtung weisen, wollen wir mit N und die Anzahl der Vektoren, die in die negative Richtung weisen, mit N bezeichnen. Insgesamt haben wir N Segmente. Es gilt also: N N
N
(4.1)
Die Reihenfolge der „+“ und „“ Zeichen unterliegt dem Zufallsprinzip. N und N sollten deshalb jeweils gegen N 2 konvergieren, wenn N sehr groß wird. Für hinreichend große N können wir somit schreiben: N
d N 2i G
N
und
d N 2i G
(4.2)
wobei G eine rationale Zahl darstellt, die sehr viel kleiner als N 2 ist. Das Verhältnis
W = Anzahl der für ein Ereignis günstigen Fälle / Anzahl der insgesamt möglichen Fälle heißt Wahrscheinlichkeit. Wir suchen die Wahrscheinlichkeit W N , N , dass N Vektoren unse-
rer Kette in die „+“ und N Vektoren in die „“ Richtung der Bezugsachse weisen. Insgesamt exis tieren 2 N Möglichkeiten, die „+“ und „“ Zeichen entlang der Bezugsachse zu verteilen. Dabei treten allerdings Anordnungen auf, die nicht voneinander zu unterscheiden sind. Es existieren N ! N ! N ! günstige Ereignisse, d.h. unterscheidbare Anordnungen von „+“ und „“ Zeichen. Für unsere gesuchte Wahrscheinlichkeit gilt somit: W N , N
N
ªN ! ¬
! N ! º¼ 2 N
(4.3)
Für große Polymere sind N , N und N sehr groß ( N ! 1000). Wir können deshalb in guter Näherung die Stirlingsche Formel ln x ! 1 2 ln 2S x 1 2 ln x x anwenden, wobei x eine natürliche Zahl ist. Anstelle von Gleichung (4.3) können wir deshalb schreiben: ln W N , N
N
1 2 ln N N ln 2 N 1 2 ln N N 1 2 ln N 1 2 ln 2S (4.4)
Mit Gleichung (4.2) folgt: ln W N , N
N 1 2 ln N N ln 2 N 2 1 2 G ln N N 2 1 2 G ln N 2 G 1 2 ln 2S
2 G
(4.5)
Die Terme ln N 2 G und ln N 2 G lassen sich umformen zu:
ln N 2 G ln N 2 ln 1 2 G N
und
ln N 2 G ln N 2 ln 1 2 G N .
Da N sehr viel größer als G ist, gilt weiter: ln 1 2 G N 2 G N 2 G 2 N 2 ...
und
ln 1- 2 G N 2 G N 2 G 2 N 2 ...
Die höheren Glieder dieser Reihenentwicklungen können wir in sehr guter Näherung vernachlässigen. Gleichung (4.5) vereinfacht sich damit zu:
4 Das Makromolekül in Lösung
ln W N , N
d
i a1 2f ln N ln 2 a1 2f lna2 Sf 2 G | ln 2 d S N i 2 G N
12
2
2
173
N 2 G 2 N 2
(4.6)
da 2 G 2 N 2 sehr viel kleiner als 2 G 2 N ist. Unser vorläufiges Endresultat lautet also: W N , N
ª 2 S N º exp 2 G 2 N ¬ ¼ 12
(4.7)
Die Wahrscheinlichkeit W N , N hängt bei gegebenen N* nur von G ab. Dabei ist G eine positive
ganze Zahl, wenn N* eine gerade Zahl ist, und G ist gleich 1/2 oder ein Vielfaches von 1/2, wenn N* ungerade ist. W N , N ist also eine diskrete Funktion, die nur für bestimmte Werte von G defi-
niert ist. Damit lässt sich allerdings schlecht rechnen. Wir ersetzen deshalb W N , N durch die
stetige Funktion W(G) mit G 0, f . Für genügend große N* ist dies eine gute Näherung. Anstelle von Gleichung (4.7) können wir dann schreiben: W G dG
ª2 S N º ¬ ¼
12
exp 2 G 2 N dG
(4.8)
Hier bezeichnet W(G)dG die Wahrscheinlichkeit, für G einen Wert zu finden, der zwischen G und G dG liegt. 4.1.2 Verallgemeinerung auf drei Dimensionen Die Vektoren li* verbinden das (i 1)-te Segment des Makromoleküls mit dem i-ten Segment. Sie sind definitionsgemäß alle gleich lang. Ihre Länge ist lK. Die Projektionen der Vektoren li* auf eine willkürlich ausgewählte Raumachse sind aber unterschiedlich lang. Wenn Ti der Winkel zwischen der Raumachse und dem Vektor li* ist, so ist die Länge der Projektion von li* gleich lK cos Ti. Jeder Vektor li* besitzt also seinen „eigenen“ Winkel Ti. Die Richtungen der li* im Raum sind jedoch je nach Voraussetzung völlig unabhängig voneinander. Es ist deshalb zweckmäßig, die über alle Richtungen des Raumes gemittelte Projektionslänge lP einzuführen. Es gilt:
lP { lK cos T 2
12
12
§ 2S S · lK ¨ ³ ³ cos T 2 sin T dT dM ¸ ©0 0 ¹
4
lK
31 2
(4.9)
wobei T und M die üblichen Kugelkoordinaten sind. Wir wählen als Raumachse (Bezugsachse) die z-Achse. Die gesuchte Projektion des Kettenendenabstandsvektors h ¦ li stimmt dann mit dessen z-Komponente überein. Für diese gilt in i
guter Näherung (siehe Abbildung 4.1):
N
hz
N lP
2 G lK
31 2
(4.10)
Die Wahrscheinlichkeit W hz dhz , dass hz* einen Wert zwischen hz* und hz* + dhz* annimmt, ist
af
gleich der Wahrscheinlichkeit W G dG , dass G zwischen G und G dG liegt. Es gilt also
W h dh
z
z
W G dG . Damit ist:
4.1 Verteilungsfunktionen
174
W hz dhz
bzw. W hz
W hz 2 lK 31 2 dG
ª3 2 S lK2 N º ¬ ¼
12
ª2 S N º ¬ ¼
12
exp -2 G 2 N dG
exp -2 G 2 N
(4.11)
Mit Gleichung (4.10) folgt schließlich:
W hz
ª3 2 S lK2 N º ¬ ¼
12
exp ª¬3 2 N lK2 º¼ hz 2
(4.12)
Keine der Richtungen des Raumes ist für unser Problem ausgezeichnet. Anstelle der Projektion auf die z-Achse können wir genauso gut die Projektion auf die x-, die y- oder jede beliebige andere Achse betrachten. Formal erhalten wir für jede dieser Achsen das gleiche Ergebnis. So können wir z.B. für die x- und die y-Achse schreiben: und
N º¼ exp ª¬3 2 N l º¼ h dh
W hx dhx
ª3 2 S lK2 N º ¬ ¼
W hy dhy
ª3 2 S lK2 ¬
12
exp ª¬3 2 N lK2 º¼ hx 2 dhx
12
2 y
2 K
y
Hier bezeichnet W hx dhx bzw. W hy dhy die Wahrscheinlichkeit, dass hx* bzw. hy* einen Wert annimmt, der im Intervall hx , hx dhx bzw. im Intervall hy , hy dhy liegt. Jede der drei Wahrscheinlichkeiten W hx dhx , W hy dhy und W hz dhz ist unabhängig
von der anderen. Das Produkt W hx dhx W hy dhy W hz dhz stellt somit die Wahrscheinlichkeit dar, dass die x-Komponente des Kettenendenabstandsvektors h* im Intervall hx , hx dhx , die
y-Komponente im Intervall hz
, hz
dhz
hy , hy dhy
liegen. Es folgt:
W hx W hy W hz dhx dhy dhz wobei h 2
und gleichzeitig die z-Komponente im Intervall
ª3 2 S lK2 N º ¬ ¼
32
exp ª¬3 2 N lK2 º¼ h 2 dhx dhy dhz
(4.13)
hx 2 hy 2 hz 2 das Quadrat des Kettenendenabstands darstellt.
Das Produkt dhx dhy dhz bezeichnet ein Volumenelement des Raumes. In Kugelkoordinaten transformiert lautet es: dV h 2 sinT dT dM dh . Da h* = h ist (vergleiche Kapitel 2), können wir das Sternchen im folgenden weglassen. Wir interessieren uns nur für die Wahrscheinlichkeit W(h) dh, dass der Betrag des Kettenendenabstandsvektors im Intervall [h, h + dh] liegt. Dazu mitteln wir Gleichung (4.13) über alle Richtungen des Raumes. Es folgt: W h dh
2
³ M³ T 0
W h
0
ª3 2 lK2 N º exp ª3 2 N lK2 º h 2 h 2 sin T dT dM dh ¬ ¼ ¬ ¼
4 ª¬3 2 N lK2 º¼
32
32
exp ª¬3 h 2
2 N l º¼ h
2 K
2
(4.14)
(4.15)
Die Funktion W(h) ist die gesuchte Kettenendenabstandsverteilung. Wir können sie z.B. dazu benutzen, den mittleren quadratischen Kettenendenabstand h2! zu berechnen. Es gilt:
4 Das Makromolekül in Lösung f
f
0
0
2 ³ h W h dh
h2 !
³ W h dh
N lK2
175
(4.16)
f
Das Integral ³ W h dh wurde aus Normierungsgründen eingeführt. Sein Wert ist allerdings gleich 0
eins, d.h. W(h) ist schon normiert. Für h2! erhalten wir den Ausdruck h2! = N l K2 , d.h. das gleiche Resultat wie in Kapitel 2 für das Kuhnsche Ersatzknäuel. Dies ist eine Bestätigung dafür, dass unsere Annahmen und Näherungen vernünftig sind. In Abb 4.2a ist W(h) gegen h aufgetragen. Der am häufigsten vorkommende Wert des Kettenendenabstands ist hmax. Er heißt Modalwert und lässt sich aus der Bedingung dW h dh 0 berechnen. Es gilt: hmax
ª 2 N lK2 3º ¬ ¼
12
hmax ist etwas kleiner als der Mittelwert h !, und dieser ist kleiner als h2 !1/2. Es gilt: f
³ h W ( h) d h
h!
0,921 N l K2
h 2 !1/ 2
N l K2
(4.17)
0
Statt von W(h) wird auch die Funktion W(h) dh/(4 S h2 dh) = W(h)/(4 S h2) gegen h aufgetragen. Sie hat die Einheit „Wahrscheinlichkeit pro Volumen“, wobei dV = 4 S h2 dh das Volumen einer Kugelschale mit dem Radius h und der Wandstärke dh ist. Den Funktionsverlauf zeigt Abbildung 4.2b.
Abbildung 4.2 a, b: Gaußsche Kettenendenabstandsverteilung W(h) und W(h)/(4 S h2)
Gleichung (4.15) ist eine Gauß-Verteilung. Sie beschreibt die Kettenendenabstandsverteilung nur dann genügend genau, wenn h sehr viel kleiner als die Länge L = N* lK der vollständig gestreckten Kette ist. Auf Polymerketten, die durch äußere Kräfte gedehnt sind, darf Gleichung (4.15) nicht angewandt werden. Dort gilt die 1942 von Kuhn und Grün abgeleitete Verteilungsfunktion § § h E k exp ¨¨ N ¨ E ln sinh E © N lK ©
W h mit E
·· ¸ ¸¸ ¹¹
(4.18)
$1 h N lK , wobei $1 die inverse Langevin-Funktion und k eine Normierungskon-
stante ist. Für die praktische Anwendung ist es zweckmäßig, Gleichung (4.18) in eine Reihe zu entwickeln. Nach W. Kuhn und H. Kuhn (1946) gilt dann:
176
4.1 Verteilungsfunktionen
ln W h
2 4 6 h · 9 § h · 99 § h ·
°3 § kN ® ¨ ¸ ¨ ¸ ¨ ¸ ... °¯ 2 © N lK ¹ 20 © N lK ¹ 350 © N lK ¹
½° ¾ °¿
(4.19)
Die korrespondierende Gaußsche Formel (Gleichung (4.15)) besitzt die Gestalt: ln W h
k ª¬3 h 2
2 N l º¼
2 K
(4.20)
Der erste Term der Reihenentwicklung von Gleichung (4.19) stimmt mit dem von Gleichung (4.20) überein. Setzt man, h/(N* lK) = 1/3 so liegt die Abweichung zwischen beiden Gleichungen bei ca. 3%, für h/(N* lK) = 1/2 beträgt sie 8%. In diesem Bereich ist Gleichung (4.20) eine nützliche Approximation. Für größere Kettenausdehnungen, wie sie z.B. in gequollenen Netzwerken auftreten, sollte man nur noch mit Gleichung (4.19) arbeiten. Gleichung (4.19) und (4.20) wurden mit Hilfe der Statistischen Thermodynamik abgeleitet. Sie liefern nur dann exakte Ergebnisse, wenn die Anzahl der Einheiten der statistischen Gesamtheit hinreichend groß ist. In den meisten molekularen Systemen liegt die Anzahl der Einheiten in der Größenordnung von NA. Das ist bei uns aber keineswegs der Fall. Die Anzahl der Segmente pro Polymermolekül (N* 1000) ist im Vergleich zu NA eher klein. Zum Glück existiert aber eine Alternativmethode, die nicht auf statistische Hilfsmittel zurückgreift und trotzdem einen mathematisch exakten Ausdruck für W(h) liefert. Diese rein geometrische Methode wurde erstmals 1946 von Treloar angewandt und von Guth und Flory (1969) bestätigt. Es gilt: N 2
W h
n h N i 1 ¦ 2
2 lK N 2 ! i 0
N*
Ci m i N
N 2
(4.21)
wobei n/N d m d (n + 1)/ N , m = (1/2)[1 h/( N lK)] und N*Ci eine natürliche Zahl ist. In Abbildung 4.3 und 4.4 sind die Gaußsche, die inverse Langevin- und die exakte Verteilung W(h) graphisch dargestellt. N* ist gleich 6 und lK = 0,1 nm. Wir erkennen signifikante Unterschiede, die noch deutlicher zum Tragen kommen, wenn wir die logarithmische Darstellung wählen.
Abbildung 4.3:
W(h) als Funktion von h mit N = 6 und lK = 0,1 nm; a) Gaußsche, b) inverse Langevin-, c) exakte Verteilung
Abbildung 4.4:
2 Graph der Funktion lg ª¬W h 4 h º¼ konst Notation wie in Abbildung 4.3
4 Das Makromolekül in Lösung
177
Wir weisen abschließend darauf hin, dass die Gleichungen (4.17) bis (4.21) für das Zufallsknäuel abgeleitet werden. Sie gelten nicht für reale Makromoleküle, bei denen die Segmente untereinander oder mit dem Lösemittel wechselwirken. Trotzdem werden die Gleichungen (4.17) bis (4.21) dazu benutzt, das physikochemische Verhalten realer Makromoleküle zu beschreiben. Der Grund ist einfach: Es ist bisher noch nicht gelungen, geeignete Verteilungen für reale Makromoleküle herzuleiten. 4.1.3 Segmentdichteverteilung 4.1.3.1 Die Gaußsche Segmentdichteverteilung Die Monomereinheiten bzw. die Segmente eines Makromoleküls sind auf eine bestimmte Art und Weise über dessen Domäne (Raum) verteilt. Einige Segmente besitzen einen großen Abstand r vom Schwerpunkt des Makromoleküls, und wieder andere befinden sich direkt in dessen Nähe. Die exakte Verteilung der Abstände der Segmente vom Schwerpunkt hängt von der Art der Wechselwirkungen zwischen den Segmenten ab. Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass die mittlere Anzahl der Segmente in einer Kugelschale vom Volumen 4 S r2 dr proportional zu exp(B2 r2)r2 dr ist. Die Segmentdichte, d.h. die Anzahl der Segmente pro Volumeneinheit, ist dann durch die Beziehung
A exp B 2 r 2
P r
gegeben, wobei A und B zwei noch zu bestimmende Konstanten sind. Die Gesamtzahl der Segmente unseres Makromoleküls sei wieder N*. Diese müssen sich irgendwo im Raum befinden. Es gilt deshalb:
N
f
³ 4 P r r dr 2
32
0
A B3
(4.22)
Für die Bestimmung von A und B benötigen wir eine zweite Gleichung. Diese liefert der mittlere quadratische Trägheitsradius R2 !. Es gilt: R2 !
f
f
4 ³ 4 P r r dr
³ 4 P r r
0
2
3
dr
0
32
A 2 N * B5
(4.23)
Gleichung (4.22) kombinieren wir mit Gleichung (4.23). Es folgt somit: B= 3 2 R2 ! , 12
P r
A=N 3 2 R 2 !
N 3 2 R2 !
32
exp- ª¬3 r 2
32
und
2 R ! º¼ 2
(4.24)
Gleichung (4.24) ist in Abbildung 4.5 graphisch dargestellt. Wir erkennen, dass die Segmentdichte in der Nähe des Schwerpunkts am größten ist. Dort gilt: Pmax
P 0
N ª¬3 2 R 2 ! º¼
32
(4.25)
178
4.1 Verteilungsfunktionen
Abbildung 4.5: Segmentdichteverteilung D = Expansionskoeffizient
Im Fall der frei rotierenden Kette ist R 2 ! Pmax
ª9 lK2 º ¬ ¼
32
N
N * l K2 / 6 . Gleichung (4.25) geht damit über in
(4.26)
Die Segmentdichte in der Nähe des Schwerpunkts eines Makromoleküls ist also umgekehrt proportional zur Wurzel aus der Anzahl der Segmente N*. Mit anderen Worten: Pmax ist genau dann groß, wenn N * klein ist und umgekehrt. Wir kehren abschließend noch einmal zu Gleichung (4.24) zurück. Diese stellt eine Normalverteilung dar. Die Segmentdichteverteilung ist also kugelsymmetrisch, solange die Segmente nicht miteinander wechselwirken. Kommt es dagegen zu einer Abstoßung der Segmente, so wird das gesamte Makromolekül um einen Faktor D gestreckt. Es gilt dann: < R2 > { D< R2 >T, wobei < R2 >T der mittlere quadratische Trägheitsradius bei Abwesenheit von Segment-Wechselwirkungen ist. Setzt man diesen Ausdruck in Gleichung (4.25) ein, so ist Pmax umgekehrt proportional zu D3 (N )1/2. Im Fall der Molekülexpansion ist D größer als eins. Die Segmentdichte Pmax wird dadurch kleiner. Ein Teil der Segmente wird vom Schwerpunkt aus betrachtet nach außen verschoben, so dass von einem bestimmten Abstand r an die Segmentdichte P(r) des expandierten Moleküls größer ist als die des ungestörten Moleküls. Abbildung 4.5 verdeutlicht dies. 4.1.3.2 Die gleichmäßige Segmentdichteverteilung Die Segmente eines Makromoleküls sind auf ein bestimmtes Volumen V begrenzt. Dieses wollen wir durch eine Kugel mit dem Radius Rg festlegen. Für alle r-Werte mit r t Rg sei P(r) gleich null. Wir nehmen außerdem an, dass die Segmente gleichmäßig über die Domäne des Makromoleküls verteilt sind. Wir sprechen dann von einer gleichmäßigen Segmentdichteverteilung Pg(r). Sie ist in Abbildung 4.6 skizziert. Es gilt: Pg r
3 ° K ¬ª 4 3 Rg ¼º ® 0 °¯
für r d Rg für r ! Rg
wobei K eine Normierungskonstante ist.
(4.27)
4 Das Makromolekül in Lösung
179
Abbildung 4.6: Projektion einer nicht gleichmäßigen und einer gleichmäßigen dreidimensionalen Segmentdichteverteilung auf die x-y-Ebene
Es ist zweckmäßig, K und Rg mit messbaren Größen in Beziehung zu setzen. Dazu benutzen wir die Normierungsbedingung Rg
N
³ P r 4 r
2
g
dr
(4.28)
0
und die Beziehung Rg
R2 !
Rg
4 ³ 4 r Pg r dr
³4r
0
2
Pg r dr .
(4.29)
0
Die Integration von Gleichung (4.28) liefert K = N*. Aus Gleichung (4.29) folgt: Rg
ª¬ 5 3 R 2 ! º¼
12
(4.30)
Gleichung (4.30) besagt, dass der Radius Rg der Segmentkugel größer ist als ihr Trägheitsradius R2 !1/2. Das hatten wir aber auch nicht anders erwartet. Wir nehmen nun an, dass unsere Segmentkugel den gleichen Trägheitsradius besitzt wie ein Makromolekül, dessen Segmentdichteverteilung durch eine Gaußsche Verteilung beschrieben wird. Es gilt dann: Rg
ª¬ 5 3 R 2 ! º¼
12
ª¬ 5 3 h 2 ! 6 º¼
12
0,527 h 2 !1 2
(4.31)
Der Radius der Segmentkugel ist also etwa halb so groß wie der mittlere Kettenendenabstand h2!1/2 des Gaußschen Knäuels. Das Modell der gleichmäßigen Segmentdichteverteilung stellt natürlich nur eine sehr grobe Näherung für die real existierende Segmentdichteverteilung eines Makromoleküls dar. Gleichung (4.31) ist nur bedingt dazu geeignet, den Radius R des Volumens V abzuschätzen, das ein Makromolekül im Mittel besetzt. Genauere Untersuchungen zeigen, dass es evtl. sinnvoller ist, die Gaußsche Segmentdichteverteilung P(r) an einer bestimmten Stelle r = R* „abzuschneiden“ und den Schnittradius R* als die äußere Grenzmarke für das Volumen V zu betrachten. Es gilt dann: R
0,518 h 2 ! 1 2
(4.32)
Dabei entspricht der Radius R der 4,5-fachen V-Umgebung des Mittelwertes R der Verteilung P r 4 S r 2 . Die Segmentdichteverteilung P(r) wird also so abgeschnitten, dass sich etwa 99,9 % *
aller Segmente eines Makromoleküls innerhalb der Kugel mit dem Radius R* befinden. Der Parameter V ist die Standardabweichung der Verteilung P r 4 r 2 .
180
4.1 Verteilungsfunktionen
4.1.3.3 Kraft-Dehnungs-Relationen Gegeben sei eine Polymerkette. Sie erfahre durch die äußere Kraft F eine Längenänderung dh. Die dabei geleistete Arbeit ist dW
(4.33)
F dh
Abbildung 4.7: Die Ausdehnung einer Polymerkette, auf die die Kraft F wirkt
Aus der Thermodynamik wissen wir, dass bei konstanter Temperatur gilt: dW = dU T dS, wobei U die Innere Energie und S die Entropie ist. Es folgt somit: F = (wW/wh)T = (wU/wh)T T (wS/wh)T
(4.34)
Wir nehmen an, dass die verschiedenen Konformationen einer Polymerkette im thermodynamischen Gleichgewicht die gleiche Innere Energie U besitzen. U hängt dann nicht vom Kettenendenabstand h ab, und Gleichung (4.34) reduziert sich zu: F = T (wS/wh)T
(4.35)
Die Kraft F wird also allein durch eine Änderung in der Entropie hervorgerufen. Sie ist positiv, weil (wS/wh)T negativ ist. Die Entropie S der Polymerkette lässt sich mit Hilfe der Statistischen Thermodynamik berechnen. Es gilt: S
>
k B ln W h dV
@
(4.36)
wobei kB die Boltzmann-Konstante, W(h) die Kettenendenabstandsverteilung und dV das Volumenelement sind. Letzteres wird als konstant (dV/dh = 0) angenommen. Es gibt zwei Möglichkeiten S zu berechnen. Wir können für W(h) in Gleichung (4.36) entweder die Gaußsche Verteilung (Gleichung (4.15)) oder die inverse Langevin-Verteilung (Gleichung (4.19)) einsetzen. Für die Gaußsche Verteilung folgt: ~ S k k B 3 h 2 2 N * l K2 (4.37)
bzw. F
3 k B T h N l K2
(4.38)
Im Fall der inversen Langevin-Verteilung erhalten wir: S
§ § h h k kB N ¨ $1 ¨ ¨ N lK © N lK ©
§ $1 h N lK · ¨ ln ¸ ¨ sinh $1 h N lK ¹ ©
·· ¸¸ ¸¸ ¹¹
(4.39)
4 Das Makromolekül in Lösung
bzw. F
kB T
lK $1 h N lK
181
§ h · 9 § h · 3 297 § h · 5 1539 § h · 7 ½ ° ° (4.40) ¨ ¸ ¨ ¸ ...¾ ®3 ¨ ¸ ¨ ¸ 5 175 875 N l N l N l N l © © © K¹ K¹ K¹ K¹ °¯ © °¿ ~ ~ ~ Dabei sind k und k zwei Konstanten, die nicht von h abhängen. Gleichung (4.38) können wir wie folgt interpretieren: Die Kettenenden unserer Polymerkette werden durch die Kraft F auseinandergezogen. Dabei wirkt F entlang der Verbindungslinie der Kettenenden und ist proportional zum Kettenendenabstand h (vgl. Abbildung 4.7). Die Kette kann also als elastische Feder betrachtet werden, die dem Hookeschen Gesetz folgt. Reale Polymerketten können maximal auf den Kettenendenabstand N lK gestreckt werden. In der Praxis ist es deshalb zweckmäßiger, mit Gleichung (4.40) zu arbeiten. In Abbildung 4.8 ist die inverse Langevin-Funktion gegen h/(N lK) aufgetragen. Für kleine Dehnungen der Kette (h/(N lK) d 1/3) ist das Hookesche Gesetz erfüllt. $1 ist dort eine lineare Funktion von h/(N lK). Für große § k T· |¨ B ¸ © lK ¹
Dehnungen wird $1 aber zunehmend nichtlinear und konvergiert schließlich für h/(N lK) o 1 gegen Unendlich. Wir halten also fest: Für kleine Dehnungen folgt die Kraft-Dehnungs-Relation eines Zufallsknäuels dem Hookeschen Gesetz. Bei großen Dehnungen (wie sie z.B. in guten Lösemitteln oder in gequollenen Netzwerken auftreten) muss dagegen mit der inversen Langevin-Funktion gearbeitet werden.
Abbildung 4.8: Zur Kraft-Dehnungs-Relation eines Zufallsknäuels. () inverse Langevin-Funktion (------) Hookesches Gesetz
182
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
4.2.1 Ideale und reale Lösungen Eine makromolekulare Lösung besteht in der Regel aus einer bestimmten Sorte eines Polymers und einem Lösemittel. Interessant sind außerdem folgende Fälle: (1) Das Lösemittel enthält noch niedermolekulare Substanzen wie z.B. Salze, und (2) das Lösemittel ist ein Gemisch aus mehreren Lösemitteln. Wir haben es also in jedem Fall mit einem Mehrkomponentensystem zu tun. Für ein Zweikomponentensystem vereinbaren wir, das Lösemittel als Komponente 1 und das gelöste Polymer als Komponente 2 zu bezeichnen. Definitionsgemäß heißt eine Lösung ideal, wenn für die chemischen Potentiale μi aller Komponenten i gilt:
Pi
P Di R T ln x i ,
(4.41)
wobei xi der Molenbruch und P iD das molare chemische Potential der i-ten Komponente in ihrem reinen Zustand (Standardzustand) sind. Wir nehmen an, dass sich zu Anfang eines Experiments alle Komponenten im reinen Zustand befinden. Die totale Gibbssche Energie dieses „Urzustands“ (Standardzustands) ist G0
¦ ni P iD ,
(4.42)
i
wobei ni die Anzahl der Mole der Komponente i angibt. Die Komponenten können wir zu einer Lösung mischen. Wir erhalten dann ein System, das die Gibbssche Energie Gm
¦ ni P Di
(4.43)
i
besitzt. Der Index „m“ steht dabei für mixture. Die verschiedenen Komponenten wechselwirken miteinander. Außerdem ändert sich die Entropie S des Systems. μi ist deshalb ungleich P iD . Die Differenz 'Gm
Gm G0
(4.44)
heißt Gibbssche-Mischungsenergie 'Gm . Für die ideale Lösung gilt: 'Gmideal
Gm G0
R T ¦ ni lnx i
(4.45)
i
Neben 'Gm existieren weitere Mischungsgrößen wie das Volumen 'Vm , die Enthalpie 'H m , die Innere Energie 'U m und die Entropie 'Sm . Ist 'H m < 0, so heißt der Mischungsprozeß exotherm; gilt 'H m = 0, heißt er athermisch; gilt 'H m > 0, heißt der Mischungsprozeß endotherm; ist 'Sm = 0, heißt er regulär. Da 'Vm
'Sm
(w'Gm / w p) T , 'H m2 / T
[w ( 'Gm / T ) / wT ] p , 'U m
'H m p 'Vm und
w'Gm wT p ist, folgt: 'Vmideal
0 ;
'H mideal
0 ;
'U mideal
0 ;
'Smideal
R ¦ ni ln x i i
(4.46)
4 Das Makromolekül in Lösung
183
Diese Gleichungen besagen: (1) Die Volumina, die Enthalpien und die Inneren Energien der Komponenten sind in der reinen Phase und in der Mischung gleich groß; (2) die Entropie (Unordnung) der Mischung ist größer als die der reinen Phasen. In realen Lösungen sind 'Vm, 'Hm und 'Um dagegen ungleich null. Es ist zweckmäßig, auch für das chemische Potential Pi eine geeignete „Mischungsgröße“ einzuführen. Wir bezeichnen sie als das relative chemische Potential der Komponente i. Es gilt: 'P i { P i P iD ,
(4.47)
P iD
das der reinen Phase ist. Für wobei μi das chemische Potential in der Mischung (Lösung) und das Lösemittel einer idealen binären (zweikomponentigen) Mischung gilt z.B.: 'P iideal
R T ln x i
b
R T ln 1 x 2
g
(4.48)
Wir betrachten in erster Linie verdünnte Lösungen. Der Molenbruch x2 des gelösten Stoffes ist dort deutlich kleiner als eins. Der Logarithmus in Gleichung (4.48) kann deshalb in die Reihe ln 1 x2 x2 x22 / 2 x23 / 3 ! entwickelt werden, wobei die höheren Potenzen in guter Näherung vernachlässigbar sind. Der Molenbruch x2 ist mit der Volumenkonzentration c2 verknüpft. Hier gilt für verdünnte Lösungen:
x2
n2 n1 n2 | n2 n1
m2
M 2 n1 V1D V1D
c
2
m2 / V | m2 / (n1 V1D ) des Gelösten
V1D M 2
(4.49)
Dabei ist m2 die eingewogene Masse des gelösten Stoffes und M2 dessen Molmasse. V1 n1 V1D ist das Gesamtvolumen der Lösung und V1D das Molvolumen des Lösemittels. Aus Gleichung (4.48) und (4.49) folgt daher:
'Piideal
2 M c §¨© V 3 M ·¸¹ c
ª R T V1D c2 «1 M 2 V1D ¬
2 2
2
D 2 1
3 2
2 2
º !» ¼
(4.50)
Diese Gleichung heißt Virialentwicklung. Die Koeffizienten A1* 1 / M 2 , A2* V1D / 2 M 22 usw. sind der erste, zweite und n-te Virialkoeffizient. Für stark verdünnte Lösungen ist lediglich A1* zu berücksichtigen. Dort gilt: 'P iideal
R T V1D c2 M 2
(4.51)
In realen Lösungen sind die soeben genannten Bedingungen nicht erfüllt. Mit Hilfe der Statistischen Thermodynamik ist es aber möglich, gültige Ausdrücke für 'P ireal , 'U mreal , 'Smreal , ! abzuleiten. Der zugehörige Rechenweg ist allerdings sehr aufwendig. Oft ist es einfacher, die beobachteten Abweichungen vom idealen Verhalten durch bestimmte empirische Parameter zu beschreiben. Die Struktur der mathematischen Formel, die das Verhalten einer idealen Lösung beschreibt, wird dabei im Wesentlichen beibehalten. So schreibt man z.B. anstelle von Gleichung (4.41):
P ireal
P Di R T ln ai
P Di R T ln x i R T ln fi ,
(4.52)
wobei ai = fi xi die Aktivität und fi der Aktivitätskoeffizient der Komponente i sind. Letzterer beschreibt die Abweichung vom idealen Verhalten. Im Fall der unendlichen Verdünnung ist fi = 1. Gleichung (4.52) setzt sich aus drei Termen zusammen. Der erste Term ist das chemische Potential P iD der reinen Phase. Es wird oft unitäres chemisches Potential genannt. Es berücksichtigt alle die Energien, die nicht von den Molenbrüchen x1, x2, x3, . . . abhängen. Der zweite Term, R T ln xi , heißt kratisches chemisches Potential. Sein Ursprung ist rein entropisch. Der dritte Term,
184
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
'P iE
R T ln fi , ist das chemische Exzesspotential. Es erfasst den „Überschuss“ von P ireal gegenüber P iideal , d.h. es gilt: 'P iE
P ireal P iideal
(4.53)
Es ist zudem zweckmäßig, das reale relative chemische Potential 'P ireal einzuführen. Es gilt: 'P iE P ireal P Di bzw. 'P ireal R T ln x i R T ln fi . Als Beispiel betrachten wir ein Zweikomponentensystem. Das relative chemische Potential 'P ireal des Lösemittels ist in eine Potenzreihe nach der Konzentration c2 des gelösten Stoffes entwickelbar. Diese Reihe können wir so umformen, dass sie äußerlich der Virialentwicklung für ideale Lösungen gleicht. Es gilt: 'P1real
R T V1D c2 1 M 2 A2 c2 A3 c22 !
(4.54)
Dabei ist M2 die Molmasse des gelösten Stoffs; A2 , A3 , . . . sind der zweite, dritte, . . . Virialkoeffizient der Lösung. Die Sternchen haben wir weggelassen, da Gleichung (4.54) im Unterschied zu Gleichung (4.50) eine reale Lösung beschreibt. Für A1 gilt: A1 = 1/M2. Dies sieht man, wenn man c2 gegen null konvergieren lässt. Die Lösung wird dann ideal, und Gleichung (4.54) geht in Gleichung (4.50) über. Für verdünnte reale Lösungen ist der Einfluss des Terms A3 c22 und der aller Terme mit höheren Potenzen von c2 auf 'P ireal vernachlässigbar. Dort gilt: 'P1real
R T ln x1 R T ln f1 | R T V1D c2 1 M 2 A2* c2 R T ln f1
und 'P 1real | R T V1D c2 1 M 2 A2 c2 , so dass A2
b
g
D 1
b g dV c i
A2* ln f1
2 2
ist.
Die Virialkoeffizienten A2 und A2* sind also nur dann identisch, wenn f1 gleich eins ist. Das aber entspricht der idealen Lösung. Für A2* können wir den Ausdruck aus Gleichung (4.50) einsetzen. Wir erhalten dann die Beziehung: A2
ªV1D ¬
2 M º¼ ª¬ ln f V c º¼ 2 2
1
D 2 1 2
(4.55)
A2 ist experimentell bestimmbar. ViD , M2 und c2 sind bekannt. Der Aktivitätskoeffizient f1 des Lösemittels lässt sich somit mit Hilfe von Gleichung (4.55) berechnen. Zum Abschluss dieses Kapitels möchten wir noch zwei Ergänzungen anbringen: (1) Die Aktivität ai einer Komponente i ist definiert als das Produkt aus dem Aktivitätskoeffizienten und der korrespondierenden Konzentration. Bei letzterer kann es sich um den Molenbruch xi, die Molalität mi oder die Konzentration ci (Einheit: g/dm3) handeln. In der Literatur verwendet man deshalb verschiedene Symbole für den Aktivitätskoeffizienten. Vereinbarungsgemäß gilt: ai = fi xi bzw. ai = Ji mi bzw. ai = yi ci. (2) Gleichung (4.54) lässt sich umschreiben zu:
'P1real
R T V1D M 2 c2 1 2 A 2 c2 3 A3 c22 ! ,
~ ~ ~ ~ wobei A2 A2 M 2 / 2 und A3 A3 M 2 / 3 ist. Die Koeffizienten A2 und A3 heißen ebenfalls Viri~ alkoeffizienten. Die Gefahr einer Verwechslung mit A2 und A3 besteht allerdings nicht, da Ai und Ai verschiedene Einheiten besitzen.
4 Das Makromolekül in Lösung
185
Enthalpie- und Entropieanteile des zweiten Virialkoeffizienten Für das chemische Exzesspotential 'P 1E des Lösemittels gilt:
'P1E
oder 'P1E
P1real P1D P1ideal P1D
P1real P1ideal
'P1real 'P1ideal
R T V1D c2 ª A2 A2* c2 !º ¬ ¼
(4.56)
Die Molmasse M 2 eines Polymermoleküls ist sehr groß. Der zweite Virialkoeffizient A2* V1D / 2 M 22 ist deshalb sehr klein und kann in der Regel gegenüber dem Wert von A2 vernachlässigt werden. Für verdünnte Lösungen gilt deshalb in guter Näherung: 'P 1E | R T V1D c22 A2
(4.57)
Nach Gibbs und Helmholtz gilt außerdem: 'P 1E
'H1E T 'S1E
(4.58)
Gleichung (4.57) und Gleichung (4.58) setzen wir gleich. Dabei ist es zweckmäßig, auch A2 in einen Enthalpie- und einen Entropieterm zu zerlegen. Wir vereinbaren deshalb, dass gilt: A2 { A2 , H A2 ,S
(4.59)
Es folgt: A2, H
'H1E
R T x
2 2
M 22 V1D
A2, S
und
R x
'S1E
2 2
M 22 V1D ,
wobei wir berücksichtigt haben, dass c2 ( x2 M 2 ) / V1D ist. Wir nehmen ferner an, dass weder die Exzessenthalpie 'H1E noch die Exzessentropie 'S1E von der Temperatur T abhängen. Bei konstant gehaltenem Druck p gilt dann: § wA2, H · ¨ ¸ © wT ¹ p
§ wV1D · 'H1E V1D 'H1E ¨ ¸ R T 2 x22 M 22 R T x22 M 22 © wT ¹ p
(4.60)
§ wA2, S · ¨ ¸ © wT ¹ p
§ w V1D · 'S1E ¸ 2 2 ¨ R x2 M 2 © wT ¹ p
(4.61)
Führen wir den thermischen Expansionskoeffizienten D { 1 V1D
D 1
d i d wV
wA2 A2, H
wT p
wA2,H
wT wA2, S wT p
T ªD A2 w A2 w T p º ¬ ¼
;
2
A2, S
wT
i
p
ein, so folgt:
D A2 A2, H T A2 (1 D T ) T w A2 wT p
(4.62) (4.63)
A2 und ( wA2 / wT ) p kann man experimentell bestimmen. Die Gleichungen (4.63) liefern somit Werte für A2, H und A2,S . Ein Beispiel für eine solche Anwendung zeigt Tabelle 4.1 für das Polymer
Polystyrol. Es besitzt die Molmasse M 2 M w 1, 0 105 g/mol und wurde bei verschiedenen Drücken in den Lösemitteln Toluol und Chloroform untersucht. Wir erkennen: 'H1E ist für Toluol größer gleich null und für Chloroform kleiner null. In beiden Fällen wird 'H1E größer, wenn der Druck des Systems erhöht wird. Toluol ist also ein endothermes und Chloroform ein exothermes Lösemit-
186
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
tel für Polystyrol. Für beide Lösemittel existiert zudem ein kritischer Druck, bei dem die Thermozität A2,H ihr Vorzeichen wechselt. Er liegt für Toluol bei 1 bar und für Chloroform bei ca. 1800 bar. Tabelle. 4.1: Thermodynamische Daten von Polystyrol (Mw = 1,0 105 g/mol) für die Lösemittel Toluol und Chloroform bei verschiedenen Drücken p. Die A2-Werte wurden mit Hilfe der Methode der statischen Lichtstreuung bestimmt.
10 4 A2
p/bar
3
cm g
2
mol
106 wA2 wT p cm3 g 2 mol K 1
10 4 A2 , H
10 4 A2, S
cm 3 g 2 mol
cm 3 g 2 mol
Toluol bei 30 qC 1 400 800
4,6 4,6 4,6
1 400 800
5,4 5,2 5,1
0,0 0,6 1,1 Chloroform bei 30 qC 3,4 0,43 2,7 0,33 1,9 0,17 0,51 0,63 0,71
4,6 5,2 5,7 2,0 2,5 3,2
4.2.2 Das Gittermodell und die Flory-Huggins Theorie Grundlagen Die Mischungsentropie 'Sm einer Lösung lässt sich auch mit Hilfe der Statistischen Thermodynamik berechnen. Dazu gehen wir von der Boltzmannschen Definition der Entropie aus: S
k B ln :
(4.64)
kB ist die Boltzmann-Konstante, und : gibt die Anzahl der unterscheidbaren Möglichkeiten an, ein System mit Teilchen zu besetzen. Unsere Lösung sei ein dreidimensionales Gitter, das aus einer großen Anzahl gleich großer Zellen des Volumens Vz besteht. Das Volumen eines Lösemittelmoleküls X1 sei genauso groß wie das Volumen X2 eines gelösten Moleküls, so dass gilt X1 = X2 = Vz. In einer Zelle des Lösungsgitters befinden sich entweder ein Lösemittelmolekül oder ein gelöstes Molekül, aber nicht beide gleichzeitig (siehe Abbildung 4.9).
Abbildung 4.9: Modell eines zweidimensionalen Lösungsgitters
Wir haben insgesamt N1 Lösemittelmoleküle und N2 gelöste Moleküle. Es sind also N1 + N2 Zellen des Gitters mit Teilchen gefüllt. Nicht gefüllte Zellen lassen wir außer acht. Sie mögen sich außerhalb unseres Lösungsraumes befinden. Zu Anfang sei das Gitter noch leer. Wir wollen es dann zuerst mit N2 gelösten Molekülen besetzen und anschließend die noch freien Zellen mit N1 Lösemittelmolekülen auffüllen. Das erste gelöste Molekül kann in eine der N1 + N2 freien Zellen plaziert werden, das zweite in irgendeine der N1 + N2 1 verbleibenden Zellen, usw.
4 Das Makromolekül in Lösung
187
Es gibt insgesamt (N1 + N2) (N1 + N2 1) . . . (N1 + 1) Möglichkeiten, das noch leere Gitter mit N2 gelösten Molekülen zu besetzen. Dieses Produkt lässt sich umformen zu (N1 N2)!/(N1!). Wir haben dabei angenommen, dass die gelösten Moleküle unterscheidbar sind. Das ist aber nicht der Fall. Es spielt keine Rolle, in welcher Reihenfolge wir die N2 Moleküle in das Gitter einsetzen. Wir müssen deshalb unser Ergebnis noch durch die Anzahl der Permutationen von N2 Teilchen dividieren, d.h. durch N2!. Das ergibt:
:
N1 N 2 ! N1 ! N 2 !
(4.65)
Als nächstes besetzen wir das Gitter mit N1 Lösemittelmolekülen. Diese sind ebenfalls ununterscheidbar. Es gibt deshalb nur genau eine unterscheidbare Möglichkeit, die noch freien Zellen des Gitters mit Lösemittelmolekülen aufzufüllen. Folglich gibt : schon die gesamte Anzahl unterscheidbarer Möglichkeiten an, das Gitter mit N1 + N2 Teilchen zu belegen. Es macht dabei auch keinen Unterschied, ob wir das Gitter zuerst mit den gelösten Molekülen und danach mit den Lösemittelmolekülen oder umgekehrt besetzen. Die Entropie der Lösung berechnet sich damit zu: SLösung
kB ln ª¬ N1 N 2 ! N1 ! N 2 ! º¼
(4.66)
Für große N gilt nach der Stirlingschen Formel: ln N ! | N ln N N . Gleichung (4.66) lässt sich somit umformen zu: SLösung Mit x1
kB ª¬ N1 N 2 ln N1 N 2 N1 ln N1 N 2 ln N 2 º¼
n1 / (n1 n2 ), x 2
S Lösung
1 x1 und ni
R n1 ln x1 n2 ln x2
N i / N A folgt: (4.67)
Wir sind an der Mischungsentropie 'Sm SLösung S1D S2D interessiert, wobei S1D die Entropie des Lösemittels und S2D die des gelösten Moleküls in deren reinen Zuständen sind. Die Lösemittelmoleküle sind nicht unterscheidbar; das gleiche gilt für die gelösten Moleküle. Es gibt somit im reinen Zustand jeweils nur genau eine Möglichkeit, das Gitter mit Lösemittel oder gelösten Molekülen zu besetzen. : ist also in beiden Fällen gleich eins, womit folgt S1D S2D 0 . Das bedeutet: Die Mischungsentropie 'Sm und die Entropie SLösung der Lösung sind gleich groß. Die statistische Analyse unseres Problems war hilfreich. Wir wissen jetzt genau, was wir unter einer idealen Lösung zu verstehen haben. Sie zeichnet sich durch folgende vier Eigenschaften aus: (1) Die Volumina eines Lösemittelmoleküls und eines gelösten Moleküls sind gleich groß. Das Mischungsvolumen 'Vm ist deshalb gleich null. (2) Wir haben angenommen, dass die unterscheidbaren Möglichkeiten, die N1 + N2 Teilchen auf die Gitterplätze zu verteilen, alle gleich wahrscheinlich sind, bzw. dass die zugehörigen Teilchenverteilungen die gleichen Inneren Energien besitzen. Es gilt deshalb: 'Um = 'Hm = 0. (3) Wir sind außerdem davon ausgegangen, dass die inneren Zustände wie Rotation, Vibration und elektronische Anregungen von Lösemittel und gelöstem Stoff in deren reinen Phasen und in der Mischung gleich sind. Andernfalls wären die Gleichungen (4.46) und (4.67) nicht mehr identisch. (4) Die Mischungsentropie 'Sm ist: 'Sm R (n1 ln x1 n2 ln x 2 ) . Das Gittermodell für Polymerlösungen Bei Polymerlösungen gehen wir von folgendem Modell aus. Gegeben sei ein Lösungsgitter, das aus einer großen Anzahl gleich großer Zellen besteht. Das Volumen Vz einer Zelle sei gerade so groß, dass genau ein Lösemittelmolekül darin Platz findet. Wir nehmen weiter an, dass die gelösten Polymermoleküle alle die gleiche Molmasse besitzen. Wir unterteilen sie so in eine bestimmte Anzahl P von Untereinheiten (Segmenten), dass das Volumen einer Untereinheit genauso groß wird wie das eines Lösemittelmoleküls. Die Zellen des Lösungsgit-
188
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
ters sind folglich entweder von einem Lösemittelmolekül oder einem Polymersegment besetzt. Ein Segment kann dabei ein Teil einer Monomereinheit sein oder aber aus mehreren Monomereinheiten bestehen. Betrachten wir als Beispiel das System Polystyrol/Toluol. Hier besitzen eine Styrol-Einheit und ein Toluol-Molekül angenähert das gleiche Volumen. Die Zellen des Gitters sind deshalb mit Toluol-Molekülen und Styrol-Einheiten besetzt. Leere Zellen schließen wir wieder aus.
Abbildung 4.10: Modell eines Lösungsgitters. Die schraffierten Kugeln stellen Polymersegmente dar. Diese sind durch chemische Bindungen miteinander verknüpft
Im Fall der idealen Lösung sind die gelösten Moleküle genauso groß wie die Lösemittelmoleküle, und beide sind gleichmäßig über den Lösungsraum verteilt. Das ist bei einer realen Lösung, wie sie eine Polymerlösung darstellt, nicht der Fall. Die gelösten Bestandteile, d.h. die Segmente, die zu demselben Polymermolekül gehören, sind jetzt durch chemische Bindungen miteinander verknüpft (siehe Abbildung 4.10). Dieser Unterschied zwischen einer idealen und einer realen Lösung lässt sich quantitativ durch die Entropie erfassen. Dazu nehmen wir an, dass die Lösung N1 Lösemittel- und N2 Polymermoleküle enthält. Jedes Polymermolekül besteht aus P Segmenten. Das Gitter besteht somit aus insgesamt N0 = N1 + P N2 Zellen. Jede Zelle ist, abgesehen von Randeffekten, von q nächsten Nachbarzellen umgeben. q heißt Koordinationszahl und ist z.B. für ein kubisches Gitter gleich sechs. Wir nehmen jetzt an, dass unser Gitter schon Ni < N2 Polymermoleküle enthalte und dass die Anzahl der unterscheidbaren Möglichkeiten gesucht ist, das Ni+1-te Polymermolekül im Gitter zu plazieren. Die Ni Polymermoleküle belegen dann P Ni Gitterplätze. Der Bruchteil ri = P Ni/N0 der Gitterplätze ist also durch Polymersegmente besetzt, und der Bruchteil 1 ri ist noch unbesetzt. Das erste Segment des Ni+1-ten Polymersegments kann in irgendeine der freien Zellen gesetzt werden, das zweite Segment dagegen nur in eine solche Zelle, die der Zelle des ersten Segments direkt benachbart ist. Andernfalls wären das erste und das zweite Segment nicht chemisch miteinander verbunden. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine der q-nächsten Nachbarzellen frei ist, beträgt (1 ri). Wir nehmen dabei an, dass die Zellen dem Zufallsprinzip folgend besetzt werden. Es gibt daher im Mittel q(1 ri) verschiedene Möglichkeiten, das zweite Segment des Ni+1-ten Polymermoleküls im Gitter unterzubringen. Das dritte Segment kann nicht die gleiche Zelle wie das erste Segment besetzen. Für dieses Segment gibt es also nur (q 1)(1 ri) Möglichkeiten der Plazierung. Das gleiche gilt auch für alle anderen Segmente des Ni+1 -ten Polymermoleküls. ri wird mit jedem neu dazukommenden Segment des Ni+1-ten Polymermoleküls größer. Wir müssten deshalb jedem Segment seinen „eigenen“ ri-Wert zuordnen. Wir vernachlässigen diesen Effekt jedoch, um die Rechnung nicht unnötig zu komplizieren. Der Fehler, den wir dabei machen, ist sehr klein, weil die Anzahl N2 der Polymermoleküle verglichen mit P sehr groß ist. N2 besitzt einen Wert in der Größenordnung von 1023, während P bei ca. 1000 liegt.
4 Das Makromolekül in Lösung
189
Die gesamte Anzahl :i der Möglichkeiten, die P Segmente des Ni+1-ten Polymermoleküls im Gitter zu verteilen, beträgt:
:i
r g . . . aq 1f b1 r g f b1 b1 r gN qb1 r g aq1
i
i
0
Anzahl der Mögl. für das 1. Segment
i
2. Segment
(4.68)
b g q aq 1f
N 0 1 ri
i
P-tes Segment
3. Segment
P
P 2
In Gleichung (4.68) ersetzen wir der Einfachheit halber q durch q 1. Mit ri = P Ni / N0 und N0 (1 ri) = N0 P Ni folgt dann:
:i
N
0
P Ni P ª¬ q 1 N 0 º¼
P 1
(4.69)
Die Anzahl : der Möglichkeiten, N2-Polymermoleküle auf die Zellen des Gitters zu verteilen, beträgt somit:
:
N 2 1
:i
Ni 0
ª¬ q 1 N 0 º¼
N 2 P 1
N 2 1
N 0 P Ni
P
(4.70)
Ni 0
Es sei darauf hingewiesen, dass der Produktindex in Gleichung (4.70) von Ni = 0 bis Ni = N2 1 läuft. Das liegt daran, dass für das erste Polymermolekül ri = r0 = 0 ist und für das N2-te Molekül ri rN 2 1 ( N 2 1) P / N 0 gilt. Die Polymermoleküle sind nach Voraussetzung nicht unterscheidbar. Es spielt also keine Rolle, ob man zuerst das Polymermolekül X und danach das Polymermolekül Y in das Gitter bringt oder umgekehrt. Bei N2 Molekülen gibt es insgesamt N2! Vertauschungsmöglichkeiten. Um die Anzahl der unterscheidbaren Möglichkeiten zu erhalten, das Gitter mit P N2 Segmenten zu besetzen, müssen wir deshalb : noch durch N2! dividieren. Unser Endresultat lautet damit:
:
1 N 2 ! ª¬ q 1 N 0 º¼
N 2 P 1
N 2 1
N 0 P Ni
P
(4.71)
Ni 0
Unser Gitter enthält bis zu diesem Zeitpunkt noch keine Lösemittelmoleküle. Diese setzen wir jetzt ein. Dafür gibt es nur genau eine Möglichkeit, nämlich die noch verbliebenen freien Zellen mit den Lösemittelmolekülen aufzufüllen. Diese sind ja nach Voraussetzung ununterscheidbar. Gleichung (4.71) gibt folglich schon die Gesamtanzahl : (N1, N2) der unterscheidbaren Möglichkeiten an, das Lösungsgitter mit N1 Lösemittel- und N2 gelösten Polymermolekülen zu besetzen. Gleichung (4.71) lässt sich weiter umformen. Es gilt: ln : N1 , N 2
N 2 P 1 ln ª¬ q 1 N 0 º¼ P
N 2 1
¦ ln N0 P Ni N 2 ln N 2 N 2
,
(4.72)
Ni 0
wobei : (N1, N2) angibt, dass : eine Funktion von N1 und N2 ist. Da N2 sehr groß ist, können wir die Summe in Gleichung (4.72) in guter Näherung durch ein Integral ersetzen. Es folgt: N 2 1
¦
Ni 0
ln N 0 P Ni |
N2
³ ln N0 P Ni d Ni 1 P N0 ln N0 N0 N1 ln N1 N1 0
Diese Gleichung setzen wir in Gleichung (4.72) ein. Das ergibt:
190
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
ln : N1 , N 2
N 2 P 1 ln ª¬ q 1 N 0 º¼ N 0 ln N 0 N 0 N1 ln N1 N1 N 2 ln N 2 N 2
Im reinen Zustand des Polymers ist N1 ln : 0, N 2
0, N 0
(4.73)
P N 2 und lim N1 ln N1 0 . Es folgt: N1 o0
N 2 P 1 ln ª¬ q 1 P N 2 º¼ P N 2 ln P N 2 P N 2 N 2 ln N 2 N 2
(4.74)
Analog gilt im Fall N2 = 0, d.h. für den reinen Zustand des Lösemittels: ln : N1 , 0 0
(4.75)
Die Mischungsentropie 'Sm unserer Lösung ist definiert als 'Sm { SLösung S Lösemittel SPolymer
(4.76)
Folglich gilt: 'S m
kB ª¬ln : N1 , N 2 ln : N1 , 0 ln : 0, N1 º¼
kB ª¬ N1 ln N1 ln N1 P N 2 N 2 ln P N 2 ln N1 P N 2 º¼
(4.77)
Wenn wir die Volumenbrüche
M1 und M 2
N1 Vz ª¬ N1 P N 2 Vz º¼
N1 N1 P N 2
N 2 P Vz ª¬ N1 P N 2 Vz º¼ N 2 P N1 P N 2
(4.78) (4.79)
einführen, wird daraus: 'S m
kB N1 ln M1 N 2 ln M 2
(4.80)
Gleichung (4.80) stellt eine Verallgemeinerung von Gleichung (4.67) dar, denn für P = 1 reduziert sich Gleichung (4.80) auf den Ausdruck für die Mischungsentropie einer idealen Lösung. Die Volumenbrüche M1 und M2 gehen dabei in die Molenbrüche x1 und x2 über. Und noch etwas fällt auf: Die Koordinationszahl q tritt in Gleichung (4.80) nicht mehr auf. Die Mischungsentropie 'Sm hängt nicht von der Art des benutzten Gitters ab. Gleichung (4.80) besitzt innerhalb der Polymerphysik einen großen Anwendungsbereich. Wir sollten allerdings darauf hinweisen, dass diese Gleichung nur dann benutzt werden darf, wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: (1) Wir haben angenommen, dass die verschiedenen möglichen Verteilungen der Polymermoleküle bzw. ihrer Segmente auf das Lösungsgitter gleich wahrscheinlich sind. Das ist eine Idealisierung, die streng genommen nur für athermische Lösungen erfüllt ist. (2) Wir sind davon ausgegangen, dass die Wahrscheinlichkeit (1 ri), eine freie Gitterzelle für ein Polymersegment zu finden, überall im Lösungsgitter gleich ist. In verdünnten Lösungen befinden sich aber nur wenige Polymermoleküle im Lösungsgitter. Die Segmentdichte ist dort in bestimmten Gebieten des Lösungsgitters groß und im überwiegenden Teil des Gitters gleich null. Unsere Annahme ist deshalb nur dann erfüllt, wenn die Polymersegmente gleichmäßig über das Lösungsgitter verteilt sind. Das aber ist nur für konzentrierte Lösungen der Fall. Gleichung (4.80) ist deshalb auf verdünnte Polymerlösungen nicht anwendbar. Wir wollen außerdem darauf hinweisen, dass obiges Modell die einfachste aller Möglichkeiten darstellt, um zu einem quantitativen Ausdruck für die Mischungsentropie 'Sm konzentrierter Polymerlösungen zu gelangen. Sie geht auf eine Idee von Flory und Huggins zurück.
4 Das Makromolekül in Lösung
191
Die Mischungsenergie von Polymerlösungen; die Flory-Huggins Gleichung Wir wollen jetzt unser Modell erweitern, indem wir Wechselwirkungen zwischen den Inhalten der Gitterzellen unserer Lösung zulassen. Diese sollen sich allerdings nur auf solche Gitterzellen beziehen, die eine gemeinsame Seitenfläche besitzen. Man nennt sie nächste Nachbarn. Wechselwirkungen zwischen Gitterzellen, die weit voneinander entfernt sind, werden weiterhin vernachlässigt. Es gibt insgesamt drei Arten von Wechselwirkungen zwischen nächsten Nachbarzellen. Jede dieser Wechselwirkungen ist mit einer charakteristischen Energie Hi j assoziiert. H11 sei die Wechselwirkungsenergie zwischen zwei Lösemittelmolekülen, H22 sei die Wechselwirkungsenergie zwischen zwei Polymersegmenten, die nicht chemisch miteinander verbunden sind, und H12 beschreibe die Wechselwirkungsenergie zwischen einem Lösemittelmolekül und einem Polymersegment. Wechselwirkungen zwischen Polymersegmenten, die durch eine chemische Bindung miteinander verknüpft sind, vernachlässigen wir. Diese sollten sich theoretisch nicht allzu sehr von den entsprechenden Wechselwirkungen des Polymers in seinem reinen Zustand unterscheiden. Ihr Beitrag zur Mischungsenergie 'Um ist deshalb klein bzw. gleich null. Doch zurück zu unserem Lösungsgitter. Dieses bestehe wieder aus N1 Lösemittelmolekülen, N2 gelösten Polymermolekülen zu je P Segmenten, und jede Zelle sei von q nächsten Nachbarn umgeben. Der Bruchteil M1 der Gitterzellen ist mit Lösemittelmolekülen und der Bruchteil M2 = 1 M1 mit Polymersegmenten belegt. Oder anders ausgedrückt, jedes Lösemittelmolekül ist im Mittel von q M2 Polymersegmenten und von q (1 M2) Lösemittelmolekülen umgeben. Für die Wechselwirkungsenergie einer Lösemittelzelle HLM mit ihren q nächsten Nachbarn gilt somit:
b
H LM
g
q M 2 H 12 q 1 M 2 H 11
(4.81)
Entsprechend gilt für die mittlere Wechselwirkungsenergie eines Polymersegments mit dessen nächsten Nachbarn:
aq 2f M
H PS
2
a
fb
g
H 22 q 2 1 M 2 H 12
(4.82)
Hier tritt der Faktor q 2 auf, da zwei der nächsten Nachbarn eines Polymersegments wiederum Polymersegmente sind, die mit dem betrachteten Segment durch eine chemische Bindung verknüpft sind. Der Einfachheit halber ersetzen wir aber q 2 durch q, d.h., wir tun so, als ob die Polymersegmente nicht miteinander verbunden sind. Diese Näherung ist an sich nicht erlaubt, ihre Auswirkung auf das Endresultat ist aber klein. Die totale Innere Energie U(N1, N2) der Lösung erhalten wir, indem wir die Wechselwirkungsenergien aller N1 Lösemittelmoleküle und aller P N2 Polymersegmente addieren und das Ergebnis durch zwei dividieren. Es gilt:
b
U N1 , N 2
g a1 2f q N cM 1
2
b
g h
c
b
g h
H 12 1 M 2 H 11 P N 2 M 2 H 22 1 M 2 H 12
(4.83)
Der Faktor 1/2 ist notwendig, weil wir sonst alle Wechselwirkungsenergien doppelt zählen würden. U(0, N2) gibt die Innere Energie der Polymermoleküle in ihrem reinen Zustand an, und U(N1, 0) beschreibt die Innere Energie des Lösemittels in dessen reinem Zustand. Es gilt:
b g a1 2f q P N U b N , 0g a1 2f q N H U 0, N 2
und
2
1
1
H 22
(4.84) (4.85)
11
Wir subtrahieren diese beiden Gleichungen von Gleichung (4.83) und erhalten für die Mischungsenergie 'Um den Ausdruck: 'U m
a f
b
1 2 q N 0 M 1 M 2 H 11 H 22 2 H 12
g
(4.86)
192
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Mit den Abkürzungen 'H { H 11 H 22 2 H 12
a
und F { q 'H
(4.87)
f b2 k T g
(4.88)
B
folgt: 'U m
kB T F N 0 M 1 M 2
R T M 2 n1 F
(4.89)
wobei n1 die Anzahl der Mole des Lösemittels und R die Gaskonstante ist. F ist der FloryHugginssche Wechselwirkungsparameter. Dieser besitzt eine ganz besondere Bedeutung, die wir im Folgenden herausarbeiten wollen. Die Wechselwirkungsenergie Hi j beschreibt den Betrag der Energie, der frei wird, wenn zwei Teilchen (i und j) eine van der Waalssche bzw. elektrostatische Bindung miteinander eingehen, d.h., einen Zweiercluster bilden. Daraus ergeben sich die folgenden drei Fälle: (1) 'H ! 0 F0 Die 12-Wechselwirkungen sind gegenüber den 11- und den 22-Wechselwirkungen favorisiert. Die Polymersegmente werden durch die Lösemittelmoleküle ausreichend gut solvatisiert. Man sagt deshalb, das Lösemittel ist gut. (2) 'H 0 F 0 In diesem Fall ist 'U m gleich null. Die 12-Wechselwirkungen sind im Mittel genauso stark ausgeprägt wie die 11- und 22-Wechselwirkungen. Die Lösung verhält sich athermisch. (3) 'H 0 F!0 Die 11- und die 22-Wechselwirkungen sind jetzt stärker ausgeprägt als die 12Wechselwirkungen. Die Polymersegmente werden durch das Lösemittel nicht mehr ausreichend gut solvatisiert. Die Polymermoleküle fallen aus. Man sagt, das Lösemittel ist schlecht. Wir hatten unser Gittermodell so ausgelegt, dass die Volumina eines Lösemittelmoleküls und eines Polymersegments gleich groß sind. Das Mischungsvolumen 'Vm VLösung N1 Vz P N 2 Vz ist folglich gleich null, so dass mit 'H m 'U m p 'Vm 'U m folgt: 'Gm
'H m T 'S m
R T n1 ln M1 n2 ln M2 F M2 n1
(4.90)
Das ist die berühmte Flory-Huggins-Gleichung. Sie ist eigentlich nicht exakt, weil wir für 'Sm Gleichung (4.80) eingesetzt haben, die nur für athermische Lösungen gilt. Wenn wir aber alle zusätzlichen Beiträge zu 'Sm , die von den Wechselwirkungen zwischen den Gitterzellen herrühren, gedanklich in F inkorporieren, wird Gleichung (4.90) exakt. Wir müssen dazu lediglich F neu definieren (siehe Kapitel 4.2.4). Gleichung (4.90) können wir partiell nach n1 und n2 differenzieren. Dies liefert uns die relativen chemischen Potentiale von Lösemittel und Polymer. Es gilt: 'P1 { w 'Gm w n1
R T ª¬ln M1 M 2 1 1 P F M 22 º¼
(4.91)
'P2 { w 'Gm w n2
R T ª¬ ln M2 M1 1 P F M12 P º¼
(4.92)
In Gleichung (4.91) können wir M1 durch 1 M2 ersetzen und den Logarithmus ln(1 M1) in eine Reihe entwickeln. Das Ergebnis ist die Virialentwicklung: 'P1
R T ª¬ M2 1 2 M22 1 3 M 23 ! M 2 1 1 P F M 22 º¼ R T ª¬M2 P 1 2 F M22 1 3 M23 ! º¼
(4.93)
4 Das Makromolekül in Lösung
193
Das Molvolumen des Lösungsgitters ist gleich NA Vz. Dieses stimmt aufgrund unserer Modellvorstellung mit dem Molvolumen V1D des Lösemittels überein. Analog gilt für das Molvolumen des Polymers V2D N A P Vz . Für M2 und M2/P bedeutet dies: P N2 N1 P N 2
M2 und M 2 P
c
2
V1D
n2 V2D VLösung
P N 2 N A Vz N1 P N 2 N A Vz
m2 V2D M 2 VLösung
c2 V2D M2
(4.94)
M2 ,
(4.95)
wobei c2 die Konzentration in Masse/Volumen und M2 die Molmasse des Polymers sind. Wir setzen diese Gleichungen in Gleichung (4.93) ein. Das ergibt: 'P1
R T V1D c2 ª1 M 2 1 2 F V2D M 2 «¬
2
c2 V1D 1 3 V2D M 2
3
c22 V1D !º »¼
(4.96)
Gleichung (4.96) vergleichen wir mit Gleichung (4.54). Es folgt: A2
1 2 F V2D
M2
1 V 2
D 1
;
1 3 V2D
A3
M2
1 V 3
D 1
(4.97)
Die höheren Virialkoeffizienten konvergieren mit steigender Ordnung schnell gegen null. Die Reihenentwicklung in Gleichung (4.96) kann deshalb in guter Näherung nach dem zweiten oder dem dritten Glied abgebrochen werden, selbst wenn die Lösung konzentriert ist. Das relative chemische Potential 'P 1 ist mit dem osmotischen Druck S über die Beziehung 'P 1 V1D S verknüpft. A2 und F können somit bestimmt werden, indem man S bei verschiedenen Konzentrationen c2 misst. Einige Werte von F sind in Tabelle 4.2 zusammengestellt. T/qC 25 25 25 26 20 25 25
System Cellulosenitrat / Aceton Polyisobutylen / Benzol Polystyrol / Toluol PVC /THF Naturkautschuk / CCl4 Naturkautschuk / Benzol Naturkautschuk / Aceton
F 0,27 0,50 0,44 0,15 0,28 0,44 1,37
Tabelle 4.2: Flory-Huggins-Parameter für einige ausgewählte Polymer/Lösemittelsysteme
Wir wollen abschließend noch kurz das chemische Exzesspotential 'P 1E des Lösemittels diskutieren. Es gilt: 'P 1E
RT
c22
OP LM F V I 1 MM 2 M dV i dV i GH M JK F !PP MN PQ 2 2
D 2 2
Term 1
'P 1E
D 2 1
D 2 2
2
(4.98)
Term 2
enthält zwei Terme. Der erste Term gibt den Überschuss-Entropieanteil der realen Lösung gegenüber der idealen Lösung an. Er ist ursächlich darauf zurückzuführen, dass ein Lösemittelmolekül und ein gelöstes Polymermolekül unterschiedliche Volumina besitzen. Für V1D V2D ist dieser
194
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Term gleich null. Der zweite Term beschreibt die Segment/Segment-, Lösemittel/Lösemittel- und die Segment/Lösemittel-Wechselwirkungen. Er verschwindet, wenn F gleich null wird. Dies ist genau dann der Fall, wenn (a) keine Wechselwirkungen vorhanden sind, oder wenn (b) H12 = (H11 + H22)/2 ist. Fall (a) beschreibt eine ideale Lösung und Fall (b) eine reale athermische Lösung. Der Theta-Zustand Jedes Lösemittelmolekül und jedes Polymersegment führen in ihrem reinen Zustand bestimmte interne Vibrations- und Rotationsbewegungen aus. Wir hatten bisher angenommen, dass sich diese nicht ändern, wenn man das Lösemittel und die Polymere miteinander mischt. Das ist in einer realen Lösung aber nicht der Fall. Wenn wir dies berücksichtigen wollen, müssen wir Gleichung (4.90) modifizieren. Im Prinzip könnten wir dazu die Statistische Thermodynamik benutzen. Man müsste die entsprechenden Terme für 'H mZusatz und T 'SmZusatz berechnen und in Gleichung (4.90) inkorporieren. Das ist aber recht schwierig. Einfacher ist es, Gleichung (4.90) formal so zu lassen, wie sie ist und die Vibrations- und Reaktionsänderungen einzubauen. Wir zerlegen dazu F R T in einen Enthalpie- und einen Entropieanteil: Es gilt:
F
H F T SF
so dass H F
RT
(4.99) R w T F w T p ist. Mit der Definition F { F H F S
R T 2 w F w T p und S F
folgt dann:
FH
HF
R T
FS
und
SF R
(4.100)
Nach der ursprünglichen Gittertheorie, d.h. ohne die jetzt vorgenommene Korrektur, ist
FS = 0. Wir sollten also erwarten, dass FS sehr viel kleiner als FH ist, wenn das Gittermodell die Realität hinreichend genau beschreibt. Das ist aber leider nicht der Fall. In Tabelle 4.3 sind einige Werte für FH und FS zusammengestellt. FS ist in allen Fällen deutlich größer als FH. Tabelle 4.3: F, FH und FS - Werte von PMMA in verschiedenen Lösemitteln
Lösemittel
F
Chloroform Benzol Dioxan THF Toluol Aceton m-Xylol
0,36 0,43 0,43 0,45 0,45 0,48 0,51
FH 0,08 0,02 0,04 0,03 0,03 0,03 0,20
FS 0,44 0,45 0,39 0,42 0,42 0,45 0,31
Es ist üblich, die Parameter FH und FS durch zwei andere Parameter, \ und T, zu ersetzen. Diese sind definiert als:
\ { 0,5 F S
und
T { F H T 0,5 F S
(4.101)
Es folgt:
F
1 2 \ ª¬1 T T º¼
und
A2 \ ª¬1 T T º¼ V2D M 2
1 V , 2
D 1
(4.102)
wobei A2 der zweite Virialkoeffizient ist. Der Parameter T besitzt die Dimension einer Temperatur. Für T = T ist A2 = 0. Sind gleichzeitig der dritte und alle höheren Virialkoeffizienten vernachlässigbar klein, so stimmt Gleichung (4.96) mit dem Van't Hoffschen Gesetz überein. Diese charakteristische Temperatur heißt Theta-
4 Das Makromolekül in Lösung
195
oder auch Flory-Temperatur. Sie entspricht der Boyleschen Temperatur TB für reale Gase, bei der das Boylesche Gesetz auch für hohe Dichten gilt. Man sagt allgemein: Ein Polymer/Lösemittelsystem befindet sich im Theta-Zustand, wenn A2 = 0 ist. Das zugehörige Lösemittel heißt Theta-Lösemittel. Einige Beispiele zeigt Tabelle 4.4. Tabelle 4.4: Theta-Zustände (aus M.B. Huglin, 1972)
Polymer
Theta-Lösemittel
T/K
\
Polystyrol ataktisch isotaktisch isotaktisch ataktisch
Cyclohexan Terpineol Cyclohexanol Cyclohexanol
307,7 351,7 356,7 358,7
Poly-D-methyl-styrol ataktisch syndiotaktisch
Cyclohexan Cyclohexan
310,0 305,5
0,133 0,170
Polypropylen isotaktisch ataktisch ataktisch syndiotaktisch
Diphenylether Diphenylether Isoamylacetat Isoamylacetat
418,4 426,5 307,2 318,2
1,414 0,986
Polymethylmethacrylat isotaktisch ataktisch syndiotaktisch isotaktisch ataktisch
n-Propanol n-Propanol n-Propanol 3-Heptanon 3-Heptanon
349,1 357,6 358,4 310,2 306,9
2,320 1,940 1,850 0,830 0,560
Polyisopropylacrylat isotaktisch ataktisch syndiotaktisch isotaktisch ataktisch
n-Dekan n-Dekan n-Dekan n-Dodekan n-Dodekan
451,2 439,8 441,5 483,3 468,2
1,020 0,970 0,970
Poly-1-penten isotaktisch ataktisch isotaktisch isotaktisch
Phenetol Phenetol Isoamylacetat 2-Pentanol
329,0 321,5 304,7 335,6
0,4500 0,7200
Poly-1-buten isotaktisch ataktisch
Anisol Anisol
362,3 359,4
0,956 0,740
4.2.3 Die Löslichkeitstheorie Beim Lösevorgang wird Energie aufgewendet, um die Kohäsionskräfte (F11) zwischen den Lösemittelmolekülen und die Kohäsionskräfte (F22) zwischen den Polymermolekülen zu überwinden. Gleichzeitig treten die Lösemittelmoleküle mit den Polymermolekülen in Kontakt, wobei Solvatationsenergien oder Adhäsionsenergien (E12) freigesetzt werden.
196
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Die Kohäsionsenergie Ecoh ist die Energie, die aufgebracht werden muss, um die intermolekularen Kräfte in einem Mol Substanz vollständig zu eliminieren. Bei Lösemitteln erfolgt diese Elimination durch Verdampfung. Es gilt:
'U Verdampf
Ecoh
'H Verdampf p 'V | 'H Verdampf R T ,
wobei 'HVerdampf die Verdampfungsenthalpie ist. Direkt verknüpft mit der Kohäsionsenergie sind die Kohäsionsenergiedichte ecoh und der Löslichkeitsparameter
ecoh { Ecoh Vm
(4.103)
G
(4.104)
ecoh ,
wobei Vm das Molvolumen der Substanz ist. Die Bezugstemperatur für ecoh und ist in der Regel T = 298 K. Zwei Substanzen sind löslich bzw. vollständig miteinander mischbar, wenn die Freie Mischungsenthalpie 'Gm negativ ist. Definitionsgemäß gilt:
'Gm
'H m T 'Sm ,
(4.105)
wobei 'Hm die Mischungsenthalpie und 'Sm die Mischungsentropie sind. 'Sm ist immer positiv. Auflösung findet genau dann statt, wenn 'Hm kleiner als ein bestimmter kritischer Grenzwert 'Hm,k ist. Nach Hildebrand (1949) gilt:
'H m,k
V M1 M 2 G1 G 2 , 2
(4.106)
wobei V das Volumen der Lösung, M1 und M2 die Volumenbrüche und G1 und G2 die Löslichkeitsparameter von Lösemittel und gelöster Substanz sind. Gleichung (4.106) sagt voraus, dass 'Hm,k = 0 ist, wenn G1 = G2 ist. Ein Polymermolekül ist also dann besonders gut löslich, wenn sein Löslichkeitsparameter G2 mit dem Löslichkeitsparameter G1 des Lösemittels übereinstimmt. Für die Praxis hilfreich ist die Regel: Ein Polymer wird durch ein Lösemittel gelöst, wenn gilt:
G 2 1,1
G1 G 2 1,1
Die Kohäsionsenergie setzt sich aus drei Anteilen zusammen. Es gilt:
Ecoh
ED EP EH ,
(4.107)
wobei ED der Beitrag der Dispersionskräfte, EP der Beitrag polarer Kräfte und EH der Beitrag ist, der von Wasserstoffbrückenbindungen herrührt. In Analogie zu Gleichung (4.104) gilt deshalb:
G12 G D2 G P2 G H2 Tabelle 4.5: Löslichkeitsparameter einiger wichtiger Lösemittel
(4.108) Lösemittel Aceton Benzol Chloroform Cyclohexan Dimethylsulfoxid Dioxan Ethanol Formamid Pyridin Wasser
Löslichkeitsparameter in (J/cm3)1/2
G1
GD
GP
GH
20,0 21,3 18,8 16,7 26,5 20,5 26,4 36,2 21,7 48,1
15,5 18,7 17,7 16,7 18,4 19,0 15,8 17,2 18,9 12,3
10,4 8,6 3,1 0 16,4 1,8 8,8 26,2 8,8 31,3
7,0 5,3 5,7 0 10,2 7,4 19,4 19,0 5,9 34,2
4 Das Makromolekül in Lösung
197
Einige Werte für GD, GP und GH sind in Tabelle 4.5 zusammengestellt. Wir erkennen: Für Wasser sind die Beiträge von GP und GH im Vergleich zu G1 sehr groß; für Cyclohexan können sie dagegen vernachlässigt werden. Bei Polymeren ist die Verdampfungsenthalpie nicht messbar. Der Löslichkeitsparameter G2 muss deshalb indirekt bestimmt werden. Üblicherweise werden dazu der mittlere quadratische Trägheitsradius der Polymermoleküle oder die Grenzviskositätszahl [K] in verschiedenen Lösemitteln unterschiedlicher Lösekraft ermittelt. Die Werte von und [K] sind genau dann am größten, wenn die Kohäsionsenergie E22 völlig durch die Adhäsionsenergie E12 kompensiert wird. G1 ist dort gleich G2. Ein Beispiel für diese Vorgehensweise zeigt Abbildung 4.11. Dort ist [K] schematisch gegen G1 aufgetragen. Das Polymer ist im Intervall [G1,Min, G1,Max] löslich. Der Mittelpunkt des Löslichkeitsbereiches (die Stelle, an der [K] maximal wird) ist der Löslichkeitsparameter des Polymers.
Abbildung 4.11: Die Grenzviskositätszahl [K] in Abhängigkeit vom Löslichkeitsparameter
Die zweite Möglichkeit besteht darin, G2 zu berechnen. Es gilt:
U ¦ Fi M 0 ,
G2
(4.109)
wobei Udie Dichte des Polymers, M0 die Molmasse einer Monomereinheit und Fi die Attraktionskonstante der Struktureinheit i sind. Werte für Fi findet man in Tabellenwerken. Eine Auswahl gibt Tabelle 4.6. Tabelle 4.6: Attraktionskonstanten Fi verschiedener Struktureinheiten (nach Hoy)
Fi 303 269
Struktureinheit CH3 CH2
65,5
C
CH(CH3) C(CH3)2
479 672
Struktureinheit CH CH OH O CO COOH COO
Fi 497 462 235 538 1000 668
Als Beispiel betrachten wir Poly(methylmethacrylat). Es gilt M0 = 100,1 g/mol und U = 1,119 g/cm3, so dass mit den Werten von Hoy folgt: Monomereinheit CH3 H2C C COOCH3
Struktureinheiten 2 (CH3 ) CH2 COO C
Attraktionskonstante Fi 2 303 = 606 269 668 65,5 6 Fi = 1608,5
198
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Das ergibt: G2 = 1608,5 1,119/100,1 = 19,1 (J/cm3)1/2. Der experimentell bestimmte Wert von G2 beträgt 19 (J/cm3)1/2. Die Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment ist also für PMMA recht gut. Das gilt aber auch für andere Polymere. Eine Übersicht gibt Tabelle 4.7 Tabelle 4.7: Löslichkeitsparameter wichtiger Polymere
G2/(J/cm3)1/2
Polymer Polyethylen Polypropylen Polyisobutylen Polystyrol Poly(vinylchlorid) Poly(vinylalkohol) Polyacrylnitril Poly(propylenoxid)
von
Bis
15,8 16,8 16,0 17,4 19,2 25,8 25,6 15,4
17,1 18,8 16,6 19,0 22,1 29,1 31,5 20,3
Wir weisen abschließend darauf hin, dass die Löslichkeitsparameter G1 und G2 mit dem FloryHuggins-Parameter F verknüpft sind. Setzen wir Gleichung (4.89) mit Gleichung (4.106) gleich, so folgt: F | G1 G 2 V n1 R T . Leider ist diese Gleichung in der Praxis nur ungenügend genau 2
erfüllt. Der Wechselwirkungsparameter F hängt neben der Änderung der Energie der Nachbarschaftskontakte auch noch von der Kontaktentropie ab. Dieser Beitrag ist konzentrationsabhängig; der zugehörige mathematische Ausdruck muss noch gefunden werden. 4.2.4 Phasengleichgewichte 4.2.4.1 Binäre Systeme Abbildung 4.12 zeigt 'P1/(R T) als Funktion des Volumenbruchs M2 für verschiedene Wechselwirkungsparameter F. Zur Berechnung wurde Gleichung (4.91) zugrunde gelegt und P = 30 gesetzt.
Abbildung 4.12: 'P1/(R T) als Funktion des Volumenbruchs M2. P = 30 (1) F = 0,20 (2) F = 0,60 (3) F = 0,70 (4) F = 0,75 (5) F = 0,80 (6) F = 0,85
4 Das Makromolekül in Lösung
199
Wir sehen: Die Funktion 'P1/(R T) besitzt für Fk = 0,70 einen Wendepunkt mit waagerechter Tangente (Sattelpunkt). Für F < Fk sind die Kurven konvex nach oben geöffnet. Sie besitzen dort weder ein Maximum noch ein Minimum. Interessant ist der Fall F > Fk. 'P1/(R T) besitzt jetzt ein Maximum und ein Minimum. Das Maximum befindet sich in der Nähe von M 2. Die Position des Minimums verschiebt sich mit steigenden Werten von F zu höheren Volumenbrüchen M 2. Zeichnet man eine Parallele zur M 2 -Achse, dann schneidet diese die Kurve in zwei bzw. drei Punkten. Wir wollen die Schnittpunkte mit M2c , M 2cc und M 2ccc bezeichnen. Die Funktion 'P1/(R T) besitzt dort die gleichen Funktionswerte. Da 'P 1
P 1 P 1D ist und P 1D eine Konstante darstellt, gilt:
P1 M2c P1 M2cc P1 M2ccc
(4.110)
Das bedeutet: Die Polymerlösungen, welche die Volumenbrüche (Konzentrationen)
M2c , M2cc und M2ccc besitzen, stehen im thermodynamischen Gleichgewicht miteinander. Oder anders ausgedrückt: Eine Polymerlösung, die anfänglich die Konzentration M2 (M 2cc und M 2ccc) besitzt, zerfällt u.U. spontan in zwei bzw. drei Teillösungen (Phasen), welche die Konzentrationen M2c , M2cc und M2ccc aufweisen. Damit eine solche Phasentrennung stattfindet, muss allerdings zusätzlich gelten:
P2 M2c P2 M2cc P2 M2ccc
(4.111)
Die Funktion 'P2R T ist in Abbildung 4.13 graphisch dargestellt. Wir können gedanklich wieder eine Parallele zur M 2-Achse ziehen, die den Graph der Funktion 'P2R T schneidet. Die Gleichungen (4.110) und (4.111) müssen gleichzeitig erfüllt sein, damit es zur Phasentrennung kommt. Die Parallele muss deshalb 'P2R T an genau denselben Stellen M2c , M 2cc und M 2ccc schneiden wie die Parallele in Abbildung 4.12. Das aber ist, wie sich zeigen lässt, nur für zwei Schnittstellen gleichzeitig möglich. Die Gleichungen (4.110) und (4.111) reduzieren sich somit zu:
Pi M2c Pi M 2cc
Abbildung 4.13: 'P2/(R T) als Funktion des Volumenbruchs M2. P = 30 (1) F = 0,20 (2) F = 0,50 (3) F = 0,60 (4) F = 0,70 (5) F = 0,80 (6) F = 0,90
i 1, 2
(4.112)
200
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Wir vereinbaren, dass M2c die Konzentration der Phase ist, die gegenüber der Ausgangslösung verdünnt wird. M2cc ist dann die Konzentration der Phase, die gegenüber der Ausgangslösung erhöht wird. Es gilt also: M2c M 2cc < M2ccc . Der kritische Volumenbruch kM 2 ist dadurch ausgezeichnet, dass die Funktion 'P1R T die folgenden Bedingungen erfüllt:
w 'P1 R T wM 2
0 ; w 2 'P1 R T wM 22
0 ; w 3 'P1 R T wM 23 ! 0
Mit Gleichung (4.95) folgt daraus:
1 M 1 P 2 F 1 M 2 F = 0, 1
k
1
2
und
M2
k k
0
(4.113)
2
k
2
(4.114)
k
wobei F k der Wert von F am kritischen Punkt ist. Das sind zwei Gleichungen mit zwei Unbekannten, kM2 und F k . Es folgt:
M2 1 1 P
k
und
Fk
1 P
2
(4.115)
2 P
1 2 1/ 2 P 1
P
(4.116)
Wir können zusätzlich die kritische Temperatur Tk einführen. Für diese gilt nach Gleichung (4.101): Tk
ª1 T T \ 1 ª1 (2 P ) 1 ¬ ¬
P º¼ º ¼
1
(4.117)
Wenn die Molmasse des Polymers, d.h. die Anzahl P seiner Segmente, sehr groß ist, folgt:
M2 | 1
k
P ; Fk | 1 2 P P
2 P | 1 2
; Tk | T
Die kritische Temperatur Tk liegt somit in der Nähe der T -Temperatur. Im Phasengleichgewicht gilt für F ! F k : P1 M2c P1 M2cc P2 M2c
P2 M2cc . Das liefert
uns die Gleichungen ln 1 M 2c 1 P 1 M2c F M 2c
und
2
ln M2c P 1 1 M2c P F 1 M2c
ln 1 M 2cc 1 P 1 M2cc F M2cc 2
2
ln M2cc P 1 1 M2cc P F 1 M2cc
(4.118) 2
(4.119)
Mit diesen Gleichungen kann man bei gegebenen Werten von P und F die Volumenbrüche M 2 ' und M 2 ' ' berechnen. Die Wertepaare ( P; F , M2c ) und ( P; F , M2cc) heißen Binodalpunkte. Sie werden graphisch dargestellt, indem man für einen gegebenen Wert von P den Flory-HugginsParameter F gegen M2 aufträgt. Die sich ergebenden Kurven heißen Binodalen. Einige Beispiele zeigt Abbildung 4.14. Wir können zusätzlich für F > Fk die Positionen der Maxima und Minima von 'P1R T bestimmen. Es gilt:
M 22 ª¬1 P 1
M2,Min,Max
2 P F º¼ M 2 ª¬1 2 P F º¼
^
0
1 2 1 P 1 2 P F r 1 4 ª¬1 P 1 2 P F º¼
(4.120) 2
`
1 2PF
0,5
(4.121)
4 Das Makromolekül in Lösung
201
Im Grenzfall P = f gilt:
M 2,Max
0
und
M 2,Min 1 1 2 F
(4.122)
Die Wertepaare ( P; F , M 2 ,Min ) und ( P; F , M 2 ,Max ) heißen Spinodalpunkte. Die zugehörigen Kurven sind die Spinodalen. Diese sind ebenfalls in Abbildung 4.14 dargestellt. Sie berühren die Binodalen jeweils in den kritischen Punkten (P; Fk, kM 2).
Abbildung 4.14: Binodalkurven () und Spinodalkurven ( ) einer binären Polymerlösung als Funktion des Polymerisationsgrades P. o = kritische Punkte
Wir wollen jetzt die Theorie mit dem Experiment vergleichen. Dazu betrachten wir als Beispiel das System Polystyrol/Cyclohexan für verschiedene Polymerisationsgrade P. Wenn wir dieses System kontinuierlich abkühlen, beobachten wir bei einer bestimmten Temperatur TA eine Eintrübung. Die Polystyrolmoleküle beginnen auszufallen. Die Temperatur TA heißt deshalb Trübungsoder Ausfällungstemperatur. Die Trübungstemperaturen sind in Abbildung 4.15 als Funktion des Volumenbruchs für verschiedene P graphisch dargestellt. Jede dieser Trübungskurven besitzt ein Maximum, den sogenannten Schwellen-Trübungspunkt. Für monodisperse Polymerproben stimmen die Trübungskurven mit den Binodalen und der Schwellen-Trübungspunkt mit dem kritischen Punkt überein. Das gilt allerdings nicht für eine Probe, bei der die Polymermoleküle verschiedene Molmassen besitzen. In Abbildung 4.16 ist der Kehrwert der Schwellen-Trübungstemperatur TS gegen 1/P1/2 + 1/(2 P) aufgetragen, wobei TS Abbildung 4.15 entnommen wurde. Alle Punkte liegen auf einer Geraden. Wir nehmen an, dass TS = TK ist. Der Achsenabschnitt dieser Geraden stimmt dann nach Gleichung (4.117) mit dem Kehrwert der T -Temperatur überein, und ihre Steigung ist gleich 1/(T \). Die Auswertung liefert:
T
307,2 K
und
\ = 1,056
Das sind Werte, die recht gut mit denjenigen übereinstimmen, die man mit Hilfe der Osmose über Messungen des zweiten Virialkoeffizienten A2 erhält (vgl. Tabelle 4.7).
202
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Abbildung 4.15: Trübungstemperatur-Kurven von Polystyrol-Fraktionen für verschiedene Polymerisationsgrade in Cyclohexan. () = Experiment ( ) = Theorie. (A.R. Shultz, P.J. Flory, J.Am.Chem.Soc. 74(1952)4760)
Abbildung 4.16: Die Kettenlängenabhängigkeit der Schwellen-Trübungstemperatur TS. o = Polystyrol/Cyclohexan
x = Polyisobutylen/Diisobutylketon Die experimentell ermittelten Werte für T und \ setzen wir in Gleichung (4.102) ein. Wir erhalten dadurch Werte für F als Funktion von T. Diese setzen wir in die Gleichungen (4.118) und (4.119) ein und berechnen M 2 ' und M2 '' . Wir erhalten dadurch die Binodalen, die theoretisch mit den gemessenen Trübungskurven übereinstimmen sollten. Sie sind in Abbildung 4.15 als gestrichelte Linien dargestellt. Wir erkennen: Die Übereinstimmung zwischen beiden Kurvenarten ist qualitativ gut. Für eine quantitative Analyse ist sie jedoch ungenügend. Die theoretischen Binodalen sind sehr viel schmaler als die experimentell bestimmten Kurven. Das ist in erster Linie darauf zurückzuführen, dass unsere Modellrechnung monodisperse Proben beschreibt, während die benutzten Polystyrolproben polydispers sind.
4 Das Makromolekül in Lösung
203
Obere und untere kritische Lösungstemperaturen Eine Polymerlösung zerfällt in eine polymerreiche und eine polymerarme Lösungsphase, wenn F größer als Fk ist. Der Wert von F hängt dabei vom Polymerisationsgrad P und von der Temperatur T ab. In der Regel wird F bei gegebenem P mit steigender Temperatur kleiner und die Polymerlöslichkeit damit größer. Es ist aber auch möglich, dass F mit steigendem T zunächst sinkt und dann wieder ansteigt (siehe Abbildung 4.17).
Abbildung 4.17: Der Wechselwirkungsparameter F als Funktion der Temperatur T Fk = kritischer F - Wert TUCST = obere kritische Lösungstemperatur TLCST = untere kritische Lösungstemperatur (E. Gruber, 1980)
Die Temperatur TUCST, bei der F zum ersten Mal den kritischen Wert Fk annimmt, heißt obere kritische Lösungstemperatur (Englisch: upper critical solution temperature). Die Temperatur TLCST, bei der F zum zweiten Mal gleich Fk wird, ist die untere kritische Lösungstemperatur (lower critical solution temperature). Das bedeutet: TLCST ist größer als TUCST. Im Temperaturintervall T (TUCST, TLCST) ist das Polymer vollständig löslich; für T < TUCST und für T > TLCST fällt es aus. Ein Beispiel für ein solches Verhalten zeigt Abbildung 4.18. Es handelt sich um Polystyrolfraktionen unterschiedlicher Molmasse. Die Temperatur, bei der Ausfällung stattfindet, ist gegen den Massenbruch aufgetragen. Wir erkennen: Der Löslichkeitsbreich (TUCST, TLCST) ist um so größer, desto kleiner die Molmasse ist. Eine theoretische Voraussage von TUCST und TLCST ist möglich, aber schwierig. Eichinger (1970) postuliert dazu eine Austauschwärmekapazität 'cp. Es gilt: T
HF
H F ,T ³ 'c p dT
(4.123)
T
wobei HF,T der Wert von HF bei der T -Temperatur ist. Mit T
F 1/ 2 ³ ª H F T
¬
R T º¼ dT 2
(4.124)
und der Annahme, dass 'cP nicht von T abhängt, folgt:
F 1/ 2 ª¬ H F ,T
R T º¼ 1 T T 'c p
R ¬ª1 T T ln T T ¼º
(4.125)
Wir nehmen an, dass 'cP negativ ist. Es existieren dann zwei Temperaturen, für die F = 0,5 wird. Die eine Temperatur ist T = T, die andere Temperatur ist größer. Das bedeutet: Die obere kritische Lösungstemperatur stimmt mit der T -Temperatur überein; die andere Temperatur ist die untere kritische Lösungstemperatur. Der Wert von TLCST lässt sich mit dem experimentellen Wert von TUCST in Übereinstimmung bringen. Wir müssen 'cP nur geeignet wählen. Für 'cP > 0 existiert nur TUCST.
204
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Abbildung 4.18: Phasendiagramme für Polystyrolfraktionen unterschiedlicher Molmasse in Cyclohexan. Die Ausfällungstemperatur ist gegen den Massenbruch des Polymers aufgetragen. (S. Saeki et al., Macromolecules 6(1975)246)
4.2.4.2 Polymere Mehrkomponentensysteme Die Flory-Huggins Theorie für binäre Lösungen kann man auf Vielkomponentensysteme ausdehnen. Im einfachsten Fall besteht die Lösung aus einem Lösemittel und einer Mischung homologer Polymere, die verschiedene Polymerisationsgrade besitzen. Das Lösemittel bezeichnen wir wieder als Komponente 1 und die verschiedenen Polymere als Komponenten r bis s. Der Polymerisationsgrad der i-ten Polymerkomponente sei Pi, und dessen Volumenbruch in der Lösung sei Mi. Wir nehmen ferner an, dass die Segmente der verschiedenen Polymere alle gleich groß sind und dass die Polymere gleichmäßig über den Lösungsraum verteilt sind. Diese Annahme ist für jede Serie homologer Polymere in guter Näherung erfüllt. Die Mischungsentropie 'Sm können wir mit Hilfe der gleichen Überlegungen wie in Kapitel 4.2.3 bestimmen. Es gilt: 'S m
s § · R ¨ n1 lnM1 ¦ ni lnM i ¸ i r © ¹
(4.126)
wobei ni die Anzahl der Mole der i-ten Polymerkomponente ist. Für die Volumenbrüche M1 und Mi gelten analog zu den Gleichungen (4.78) und (4.79).
M1
s § · n1 ¨ n1 ¦ Pi ni ¸ i r © ¹
;
Mi
s § · Pi ni ¨ n1 ¦ Pi ni ¸ i r © ¹
(4.127)
Der totale Volumenbruch M P aller Polymermoleküle ist gleich:
MP
s
¦M i 1 M1
i r
Dieser ist mit dem Massenbruch wi der i-ten Polymerkomponente verknüpft. Es gilt:
(4.128)
4 Das Makromolekül in Lösung
Mi MP
wi
r, r 1, ...., s)
(i
205
(4.129)
Für die Mischungsenthalpie 'Hm erhalten wir an Stelle von Gleichung (4.90) den Ausdruck s
R T F n1 ¦ M i
'H m
R T F n1 M P
(4.130)
i r
Mit 'Gm
'H m T 'Sm folgt:
LM N
s
R T F n1 M P R T n1 lnM 1 ¦ ni lnM i
'Gm
i r
OP Q
(4.131)
Für die Praxis interessanter ist das relative chemische Potential 'P i P i P iD der i-ten Polymerkomponente. Wir erhalten es, indem wir 'Gm nach ni differenzieren und dabei alle anderen Molzahlen konstant halten. Da
und
2
wM1 wni
s § · Pi ni ¨ n1 ¦ Pi ni ¸ i r © ¹
wM i wni
s s ª § ·º § · 2 « Pi ¨ n1 ¦ Pi ni ¸ » Pi ni ¨ n1 ¦ Pi ni ¸ i r i r © ¹¼ © ¹ ¬
wM j wMi
iz j
Pi M1 n1 ,
s § · Pj Pi n j ¨ n1 ¦ Pi ni ¸ i r © ¹
2
(4.132) 2
(4.133)
2
(4.134)
ist, erhalten wir: 'Pi
ª¬w 'Gm wni º¼T , P ,n j
2 R T ªlnM i Pi 1 Pi 1 Pn1 M P Pi F 1 M P º ¬ ¼ i =r , r +1,... s
(4.135)
Dabei bezeichnet Pn den Zahlenmittelwert des Polymerisationsgrades der Polymerprobe. Es gilt: Pn
MP
s
¦ Mi Pi i r
s
1
¦ wi
Pi
(4.136)
i r
Im reinen Zustand der Probe ist MP = 1. Gleichung (4.135) geht dann über in
Pi
PiD R T ª¬ln wi 1 Pi Pn º¼
(4.137)
wobei P Di das chemische Potential der i-ten Polymerkomponente in der reinen Phase ist. Dort ist wi 1, Pi Pn und P i P Di . Gleichung (4.135) können wir umformen zu:
mit
P i P iD
R T lnM i 1 A Pi
(4.138)
M P
Pn F 1 M P M1
(4.139)
A
2
Im Fall der Phasentrennung sind die chemischen Potentiale jeder Komponente in jeder der beiden Phasen gleich groß. Es gilt:
Pi M i ' Pi M i ''
i =1, r , ..., s ,
(4.140)
206
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
wobei M i ' und M i ' ' die Volumenbrüche der i-ten Komponente in der verdünnten und der konzentrierten Phase sind. Mit Gleichung (4.138) folgt: lnM i ' A ' Pi und
A ' A ''
lnM i '' A '' Pi
M P ''
bzw.
Mi '' Mi ' exp ª¬ A ' A '' Pi º¼
(4.141)
M ' M ''
(4.142)
Pn '' M P ' Pn ' F 1 M P ' 1 M P '' 2
2
1
1
Hier sind Pn' und Pn'' die Zahlenmittelwerte des Polymerisationsgrades und M P ' und M P ' ' die totalen Volumenbrüche der Polymermischungen in Phase „ ' “ und Phase „ '' “. Das Verhältnis M i ' ' / M i ' heißt Verteilungskoeffizient der i-ten Polymerkomponente. Es besitzt für jedes i einen anderen Wert, weil Pi von i abhängt. A' A'' ist dagegen für alle i gleich groß (eine Konstante). Der Verteilungskoeffizient M i ' ' / M i ' wird mit steigendem Pi schnell größer. Das bedeutet: Die großen Polymermoleküle befinden sich bevorzugt in der konzentrierten Phase. Damit ist Pn'' deutlich größer als Pn'. Diese Tatsache wird in der fraktionierten Fällung ausgenutzt, um die Polymere einer Mischung nach ihrer Molmasse zu trennen. Dabei geht man wie folgt vor: Die Temperatur der ursprünglichen Probe wird bis zur kritischen Temperatur Tk erniedrigt, oder es wird dem System bei konstanter Temperatur eine bestimmte Menge eines Fällungsmittels zugegeben, so dass eine Phasentrennung stattfindet. Die konzentrierte Phase stellt ein hoch gequollenes Gel dar. Es enthält überwiegend Polymermoleküle von sehr großer Molmasse und lässt sich leicht von der überstehenden Lösung abtrennen. Wir bezeichnen diese konzentrierte Lösung als erste Fraktion. Die verbleibende überstehende Lösung wird mit einer weiteren Menge des Fällungsmittels versetzt. Es kommt zu einer erneuten Phasentrennung, wobei die neue konzentrierte Phase die zweite Fraktion ist. Diese wird wie zuvor vom Rest der Lösung abgetrennt, und die Prozedur beginnt von neuem. Die Fraktionierung endet schließlich, wenn die ursprüngliche Probe verbraucht ist.
Abbildung 4.19: Änderung der Polymerisationsonsgrad-Verteilungskurven während einer Fraktionierung (J. Schurz, 1974)
Ein Beispiel für eine solche Fraktionierung zeigt Abbildung 4.19. Leider ist es nicht möglich, total einheitliche, d.h. monodisperse Fraktionen zu erhalten. Das bestmögliche Verhältnis Mw/Mn liegt zwischen 1,2 und 1,5.
4 Das Makromolekül in Lösung
207
4.2.5 Theorie des ausgeschlossenen Volumens Eine wesentliche Voraussetzung für die Anwendung des Gittermodells besteht darin, dass die Segmente der gelösten Polymere gleichmäßig über den Lösungsraum verteilt sind. Das ist in verdünnten Lösungen nicht der Fall. Die Domänen der einzelnen Polymermoleküle sind dort weit voneinander entfernt. Wir benötigen deshalb für verdünnte Lösungen ein anderes Modell. Dieses ist das Modell des „ausgeschlossenen Volumens“. Jedes gelöste Molekül besitzt ein Eigenvolumen. Außerdem wechselwirken die gelösten Moleküle miteinander. Sie können sich entweder anziehen oder abstoßen. Die Massenschwerpunkte zweier gelöster Moleküle können sich deshalb nur bis zu einem bestimmten Abstand nähern. Ein bestimmtes Volumen bleibt für die Schwerpunkte beider Moleküle ausgeschlossen. Dieses Volumen heißt ausgeschlossenes Volumen. Als Beispiel betrachten wir das ausgeschlossene Volumen zweier gleich großer starrer Kugeln, die nicht miteinander wechselwirken. Der Radius der Kugeln sei R. Da die Kugeln starr sind, können sich ihre Schwerpunkte nicht näher als auf den Abstand 2 R nähern. Der Schwerpunkt der
ª¬ 32 3¼º R3 befinden, das die andere Kugel umgibt (siehe Abbildung 4.20). Mit anderen Worten, das Volumen E ist für den Schwerpunkt einer jeden Kugel ausgeschlossen.
einen Kugel kann sich niemals in dem Volumen E
4 3 2 R 3
Abbildung 4.20: Das ausgeschlossene Volumen zweier nicht miteinander wechselwirkender starrer Kugeln. Die gestrichelte Kugel stellt das ausgeschlossene Volumen der Kugel 2 bezüglich der Kugel 1 dar
Die Entropie, die mit einem einzelnen gelösten Molekül verknüpft ist, hängt davon ab, welches Volumen diesem Molekül in der Lösung zur Verfügung steht. Je mehr Moleküle sich in der Lösung befinden, desto kleiner ist das Volumen, in dem sich ein einzelnes Molekül frei bewegen kann. Die Entropie eines einzelnen Moleküls ist deshalb groß für verdünnte und klein für konzentrierte Lösungen. Wir müssen nun zwei Probleme lösen. Das erste Problem besteht darin, eine Beziehung zwischen der Gibbsschen Energie der Lösung, der Konzentration und dem ausgeschlossenen Volumen der gelösten Moleküle zu finden. Das zweite Problem ist, einen mathematischen Ausdruck für das ausgeschlossene Volumen herzuleiten, der die molekularen Eigenschaften der gelösten Moleküle wie Größe und Gestalt berücksichtigt. Als Bezugszustand eines gelösten Moleküls wählen wir den Zustand der nahezu unendlich verdünnten Lösung. In diesem Zustand sind die gelösten Moleküle vollständig solvatisiert. Sie befinden sich im Gleichgewicht mit den sie umgebenden Lösemittelmolekülen. Die Bildung einer verdünnten Lösung können wir uns so vorstellen, dass die vollständig solvatisierten Moleküle mit reichlich Lösemittel gemischt werden. Wir nehmen ferner an, dass die vollständig solvatisiert gelösten Moleküle nicht miteinander wechselwirken. Durch die Mischung wird also weder die Innere Energie der Moleküle noch deren Volumen verändert. Das hat zur Folge, dass die Mischungsenergie 'Um und die Mischungsenthalpie 'Hm null sind. Die Gibbssche Mischungsenergie 'Gm ist somit von rein entropischer Natur. Es gilt:
P1 P1D
T S1 S1D
(4.143)
208
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
wobei S1 die partielle molare Entropie des Lösemittels in der Lösung und S1D die molare Entropie des Lösemittels in deren reinem Zustand sind. Unsere Lösung möge das Volumen V besitzen und N2 gelöste Moleküle gleicher Molekularstruktur enthalten. Das ausgeschlossene Volumen eines gelösten Moleküls sei E. Bei der Besetzung des Volumens V mit Lösemittel und gelösten Molekülen gehen wir wie folgt vor: Das Volumen V sei zu Anfang unbesetzt. Wir besetzen es zuerst mit den N2 gelösten Molekülen und anschließend mit den Lösemittelmolekülen. Die Anzahl der unterscheidbaren Möglichkeiten, den Schwerpunkt des ersten der N2 gelösten Moleküle im Volumen V unterzubringen, sei :1. Zu Anfang enthält das Volumen V kein einziges gelöstes Molekül. Es gilt deshalb:
:1
(4.144)
k V,
wobei k eine Proportionalitätskonstante ist. Das Volumen, das dem Schwerpunkt des zweiten gelösten Moleküls zur freien Verfügung steht, ist kleiner als V. Durch die Anwesenheit des ersten Moleküls ist das Volumen E für den Schwerpunkt des zweiten Moleküls ausgeschlossen. Das verwendbare Volumen des zweiten Moleküls ist gleich V E. Die Anzahl der Möglichkeiten, das zweite Molekül im Volumen V unterzubringen, beträgt deshalb:
:2
k V E
(4.145)
Das ausgeschlossene Volumen für den Schwerpunkt des dritten gelösten Moleküls ist gleich 2 E. Für : 3 gilt somit: : 3 k (V 2 E ) . Allgemein gilt für das i-te gelöste Molekül:
:i
k ¬ªV i 1 E ¼º
(4.146)
Exkurs: Es sei betont, dass Gleichung (4.146) nur auf verdünnte Lösungen angewendet werden darf. Wenn die Lösung konzentriert ist, kommt es zu einer Überlappung der ausgeschlossenen Volumina von mehr als zwei gelösten Molekülen (siehe Abbildung 4.21). Das totale ausgeschlossene Volumen des i-ten gelösten Moleküls ist dann kleiner als (i 1)E.
Abbildung 4.21: Das ausgeschlossene Volumen dreier starrer Kugeln. Die Lösung ist konzentriert.
Die gesamte Anzahl der unterscheidbaren Möglichkeiten :, die N2 gelösten Moleküle im Volumen V unterzubringen, beträgt:
:
N2
1 N 2! :i i 1
k
N2
N2
ª¬V i 1 E º¼
N 2!
i 1
Der Faktor N2! berücksichtigt, dass die N2 gelösten Moleküle ununterscheidbar sind.
(4.147)
4 Das Makromolekül in Lösung
209
N2
ª¬V i 1 E º¼ können wir umformen zu:
Den Ausdruck
i 1
N2
N 2 1
N 2 1
i 1
i 0
i 0
ª¬V i 1 E º¼ V i E V 1 i E V
(4.148)
Für verdünnte Lösungen ist i E /V sehr viel kleiner als eins. Wir können deshalb den Logarithmus ln (1 i E / V ) in eine Reihe entwickeln und diese nach dem ersten Glied abbrechen. Es gilt: ln (1 i E / V ) | i E / V . Gleichung (4.147) lässt sich damit umschreiben zu: N 2 ln k -N 2 ln N 2 N 2 N 2 lnV E V
ln:
N 2 1
¦i
(4.149)
i 0
Für die Summe in Gleichung (4.149) gilt: N 2 1
¦i
N 2 N 2 1 2 | N 2 2 2
(4.150)
i 0
N2 können wir durch n2 NA ersetzen, wobei n2 die Anzahl der Mole an gelösten Molekülen ist. Für das Volumen V gilt: n1 V1D n2 V2D
V D
(4.151)
V2D
wobei V1 und die partiellen molaren Volumina des Lösemittels und des gelösten Stoffes bezogen auf den Zustand der unendlichen Verdünnung sind. V1D stimmt in sehr guter Näherung mit V1D überein, wobei V1D das Molvolumen des reinen Lösemittels ist. Wir können außerdem die Konzentration c2 (Einheit: g/dm3) einführen. Es gilt: n2
n V 1
D 1
n2 V2D
m2
M 2 VLösung
c2 M 2
(4.152)
Gleichung (4.149) geht damit über in:
n2 N A ª ln k ln n1 V1D n2 V2D n2 N A 1 E n2 N A 2 n1 V1D n2 V2D º ¬ ¼ (4.153) n2 N A ª¬ ln k ln c2 N A M 2 1 E c2 N A 2 M 2 º¼
ln :
Für das reine Lösemittel gilt: n2 = 0 und ln: = 0. Wenn n1 = 0 ist, erhalten wir: ln : 0, n2
n2 N A ªln k ln V2D N A 1 E N A 2 V2D º ¬ ¼
Wir können damit die Mischungsentropie 'S m
(4.154)
kB ª¬ln : n1 , n2 ln : 0, n2 ln : n1 , 0 º¼ be-
rechnen. Es gilt:
Mit 'Sm
n2 R ªln c2 N A M 2 ln V2D N A E N A 2 ª c2 M 2 1 V2D º º ¬ ¼¼ ¬
'S m
(4.155)
SLösung n1 S1D n2 S1D folgt:
w'Sm
wn1 T , p ,n
Da wc2 wn1
2
wSLösung
c22 V1D
wn1 S1D
M 2 n2
S1 S1D
ist, erhalten wir schließlich :
(4.156)
210
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
n2 R T wc2 wn1 ª¬1 c2 E N A 2 M 2 º¼
T w'Sm wn1 T , p ,n
'P1
2
R T V1Dc2 ª1 M 2 E N A 2 M 22 ¬
oder 'P1
c º¼ 2
(4.157)
Gleichung (4.157) ist das gesuchte Endresultat. Sie verknüpft das relative chemische Potential des Lösemittels 'P1 mit dem ausgeschlossenen Volumen E und der Konzentration c2 der gelösten Substanz. 'P1 stimmt dabei formal mit Gleichung (4.56) überein, wenn gilt:
2 M
NA E
2 2
A2
(4.158)
Exkurs: Wir könnten auf die Idee kommen, das ausgeschlossene Volumen E des gelösten Stoffs mit dem Eigenvolumen V1D / N A eines Lösemittelmoleküls gleichzusetzen. A2 wird dann gleich A2*, und Gleichung (4.157) geht in die Virialentwicklung für eine ideale Lösung über. Für Polymermoleküle ist diese Näherung aber nur selten zulässig, da E N A !! V1D ist. Es kommt außerdem vor, dass sich zwei Polymermoleküle auf Grund ihrer Knäuelstruktur gegenseitig durchdringen. E ist dann sehr klein bzw. gleich 0. Wir warnen deshalb davor, bei Rechnungen das ausgeschlossene Volumen eines Makromoleküls mit seinem physikalischen Volumen gleichzusetzen. Negative zweite Virialkoeffizienten Der zweite Virialkoeffizient A2 eines Polymer/Lösemittelsystems ist nach Gleichung (4.158) größer gleich 0. Experimentell findet man aber auch negative Werte für A2. Wir fragen uns deshalb, wie so etwas möglich sein kann. Dazu betrachten wir folgenden Modellfall. Gegeben seien kugelartige starre Polymermoleküle der Sorte X. Diese besitzen die Molmasse M, und ihr Radius sei RX. Wir nehmen ferner an, dass zwei Polymermoleküle X eine Bindung miteinander eingehen können. Dabei entstehe ein kugelartiges Bipolymermolekül X2 mit der Molmasse 2 M. Sein spezifisches Volumen Xs sei genausogroß wie das von X. Es gilt also:
Xs
db4 S N 3gR i M { db4 S N 3gR i 2 M A
so dass RX2
3
3 X
A
3 X2
2 RX ist.
Die Gleichgewichtskonstante der Reaktion 2 X Es gilt: K
(4.159)
cX 2 cX2
M cX 2 cX2 2
X2 wollen wir mit K bezeichnen.
(4.160)
wobei c~X und c~X2 die Konzentrationen von X und X2 in mol/dm3 und cX und cX2 die in g/dm3 sind. Für die totale Konzentration der gelösten Polymere gilt: c2
cX cX2
(4.161)
Wir haben somit zwei Bestimmungsgleichungen für die zwei Unbekannten cX und cX2 . Wir finden: cX
M
und cX 2
M
0.5 4 K ª«1 8 K c2 M 1º» ¬ ¼ 0.5 4 K ª«1 4 K c2 M 1 8 K c2 M º» ¬ ¼
Es gilt außerdem:
(4.162) (4.163)
4 Das Makromolekül in Lösung
'P1,X und
'P1,X 2
3 M c 2 M N 8 S R 3 M c
R T V1D cX M N A 16 RX3
R T V1D cX 2
2
3 X
A
211
2 X
2
2 X2
wobei 'P1,i das relative chemische Potential der Lösung ist, die ausschließlich Moleküle der Sorte i enthält. Unsere Lösung (Mischung) enthält sowohl X- als auch X2-Moleküle. Das relative chemische Potential unserer Lösung lautet deshalb: 'P1
R T V1D ª cX M cX 2 2 M A2,X cX2 A2,X 2 cX2 2 2 A2,X,X 2 cX cX 2 ...º ¬ ¼
(4.164)
Dabei ist A2 ,X,X2 der zweite Virialkoeffizient, der das Volumen E X,X2 erfasst, das für den Schwerpunkt des Polymers X bzgl. des Schwerpunktes von X2 ausgeschlossen ist. Da E X,X2 genausogroß wie E X2 ,X ist, gilt A2 ,X ,X2 A2 ,X2 ,X . Der Faktor 2 vor A2 ,X,X2 berücksichtigt dieses. Es existiert für A2 ,X,X2 keine explizite Formel. Den Term A2 ,X cX2 A2 ,X2 cX22 2 A2 ,X,X2 cX cX2 ersetzen wir deshalb durch den Term Aeff c22 . Gleichung (4.164) geht dann über in 'P1
R T V1D ª cX M cX 2 2 M Aeff c22 ...º ¬ ¼
(4.165)
Die Größe Aeff heißt effektiver zweiter Virialkoeffizient. Wenn keine Bipolymerisation stattfindet, ist c2 = cX und Aeff = A2,X. Für c2 = cX ist Aeff A2 ,X2 A2 ,X / 2 . Insgesamt gilt also: A2 ,X / 2 d Aeff d A2 ,X .
Abbildung 4.22: Der Effekt der Dimerisation auf das relative chemische Potential des Lösemittels. K ist die Gleichgewichtskonstante der Reaktion
2X
X2
Ihre Einheit ist dm3/mol
Wir tragen nun 'P 1 / ( R T V1D c2 ) , d.h. ((cX / M ) ( cX2 / M ) ( Aeff c22 )) / c2 gegen c2 auf. Dazu setzen wir Xs = 0.6 103 dm3/g und M = 40000 g/mol. Diese Werte sind typisch für Proteinmoleküle. Für die Gleichgewichtskonstante K wählen wir drei Werte aus: K = 0.1, 200 und 1000 dm3/mol. Bei einer Konzentration c2 von 10 g/dm3, die schon nicht mehr in den Bereich einer verdünnten Lösung fällt, sind im Fall K = 0.1 ca. 0 %, im Fall K = 200 gerade 9 % und im Fall K = 1000 etwa 37 % der Polymere der Sorte X zu X2-Bipolymeren aggregiert. Für alle drei K-Werte bleibt also der größte Teil der Polymere der Sorte X unaggregiert. Wir können deshalb in guter Nä-
212
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
herung Aeff gleich A2,X setzen. Die Werte, die wir für 'P 1 / ( R T V1D c2 ) unter diesen Voraussetzungen erhalten, sind in Abbildung 4.22 dargestellt. Für K = 0,1 finden wir eine ansteigende Kurve, für K = 200 eine Gerade der Steigung | 0 und für K = 1000 eine abfallende Kurve. Setzt man die Messwerte eines Experiments, das einen ähnlichen Kurvenverlauf wie Abbildung 4.22 liefert, in 'P1
R T V
D 1
c2 1 M 2 A2 c2
(4.166)
ein, so kommt man zu dem überraschenden Schluss, dass der zweite Virialkoeffizient im Fall K = 1000 negativ ist. Das ist natürlich in Wirklichkeit nicht der Fall. Gleichung (4.166) wurde für Systeme hergeleitet, in denen keine Aggregationsprozesse stattfinden. Sie darf deshalb hier nicht angewandt werden. Für die Auswertung unseres Experiments müssen wir Gleichung (4.165) benutzen. Diese liefert für A2 ,X , A2 ,X,X2 und A2 ,X2 positive Werte. Starre Makromoleküle Das ausgeschlossene Volumen einer starren Kugel vom Radius R ist genau achtmal so groß wie das physikalische Volumen (Eigenvolumen) der Kugel. Das ausgeschlossene Volumen eines willkürlich geformten starren Teilchens ist nicht so leicht zu berechnen. Es hängt von der mittleren Orientierung der beiden Teilchen zueinander ab. Isihara konnte allerdings zeigen, dass für ein beliebig geformtes Teilchen gilt: E J 8 VE (4.167)
Hier ist VE das Eigenvolumen des Teilchens (Körpers) und J ein Faktor (J t 1), der die Abweichung der Teilchengestalt von der einer starren Kugel erfasst. Die Berechnung von J ist schwierig. Sie erfordert Elemente aus der Gruppentheorie und der Differentialgeometrie (siehe z.B. Yamakawa). Wir teilen hier deshalb nur einige Ergebnisse mit. Sie sind in Tabelle 4.8 zusammengestellt. Tabelle 4.8: Eigenvolumina und Formfaktoren wichtiger Teilchengestalten
Kugel
J
VE
Geometrische Gestalt
4 3 R 3
1
R = Radius Stäbchen (Zylinder)
S d2 L 4 d = Durchmesser L = Länge
Prolates Ellipsoid
4 3 a b 2
1 4 ª¬1 L d 1 d
1 4 3 16 1 H 1 H 2
a = größere Halbachse b = kleinere Halbachse
H
a
2
b
2
Exzentrizität
a fRST
2 L 1 d 2 L º¼
a
d
i
0, 5
sin H
1
UV W
{1 e1 H j 2 H ln b1 H g b1 H g } 2
2
Für kleine H gilt: J 1 1 15 H 4 1 15 H 6 ...
a f
a f
Die Oberflächen realer Moleküle (Polymere) sind natürlich nicht so glatt wie die einer starren Kugel oder die eines starren Zylinders. Die Ausdrücke in Tabelle 4.8 stellen deshalb nur grobe Näherungen für das ausgeschlossene Volumen starrer Makromoleküle, wie globulärer Proteine oder stäbchenartiger DNA-Stränge, dar. Es muss allerdings beachtet werden, dass sich das experimentell bestimmbare ausgeschlossene Volumen E exp ( A2 ,exp 2 M 22 ) / N A auf ein vollständig solvatisiertes Makromolekül bezieht. Dies bedeutet: Ein gelöstes Makromolekül enthält immer einen bestimmten Anteil „gebundener“ Lösemittelmoleküle, welche es ständig mit sich herumträgt. Die Molmasse M2
4 Das Makromolekül in Lösung
213
ist deshalb größer als die Molmasse des „getrockneten Makromoleküls“, und das Volumen VE ist gleich der Summe aus dem Eigenvolumen des „getrockneten Makromoleküls“ und dem Volumen, welches die gebundenen Lösemittelmoleküle besetzen. VE wird deshalb effektives hydrodynamisches Eigenvolumen genannt. Flexible Makromoleküle Starre, kompakte Makromoleküle können sich nicht gegenseitig durchdringen. E ist deshalb immer größer als null. Bei flexiblen Makromolekülen ist das anders. Diese ändern ständig ihre Konformation, weil sie immerzu mit Lösemittelmolekülen zusammenstossen. Die Anzahl der Segmente in einem kleinen Volumen Vs in der Nähe des Makromolekülschwerpunktes fluktuiert stark, ist aber im zeitlichen Mittel konstant. Das Volumen, welches die Segmente im Mittel innerhalb von Vs besetzen, ist im Vergleich zu Vs selbst sehr klein. Es ist also sehr viel „freier Raum“ in der Domäne eines flexiblen Makromoleküls vorhanden, so dass sich die Domänen zweier verschiedener Makromoleküle gegenseitig durchdringen können. Die Durchdringung bzw. Überlappung zweier Makromoleküldomänen hat eine Erniedrigung der Entropie des Systems zur Folge. Sie ist thermodynamisch gesehen ungünstig. Zwei Makromoleküle werden sich deshalb in der Regel nicht vollständig durchdringen. Die Durchdringung erfolgt nur so weit, dass der Enthalpiegewinn gerade durch den Entropieverlust ausgeglichen wird. Wir können daher sagen: Der Entropieverlust ist dafür verantwortlich, dass ein flexibles Makromolekül ein ausgeschlossenes Volumen besitzt, denn bei vollständiger Durchdringung wäre E = 0. Diese Überlegungen wollen wir jetzt quantitativ beschreiben. Dazu gehen wir von folgendem Modell aus: Die Polymerdomäne besitze eine kugelartige Gestalt, und die Segmente des Polymers seien gleichmäßig in dieser Kugel verteilt. Die Kugel unterteilen wir in Gitterzellen, die so groß sind, dass gerade ein Polymersegment oder ein Lösemittelmolekül darin Platz finden. Das Volumen einer Zelle sei Vz. Die Gibbssche Mischungsenergie 'GmLPK unserer Lösemittel-Polymermolekülkugel (LPK) kennen wir bereits. Sie ist durch Gleichung (4.90) gegeben. In unserem Gitter befindet sich allerdings nur ein einziges Polymermolekül. Wir müssen deshalb n2 durch 1/NA ersetzen, wodurch sich Gleichung (4.90) zu
'GmLPK
R T ª¬ n1 ln 1 M2 1 N A ln M2 n1 F M2 º¼
(4.168)
vereinfacht. Der Term (1/ N A ) ln M 2 ist sehr viel kleiner als n1 ln 1 M 2 . Er darf deshalb vernachlässigt werden. M2 gibt den Volumenbruch der Polymersegmente in der Lösemittel-Polymermolekülkugel an. Wenn wir das Molvolumen der Kugel mit VLPK bezeichnen, gilt: M 2 N A P Vz / VLPK . Das Molvolumen V1D des Lösemittels ist NA Vz. Die Anzahl N1 der Lösemittelmoleküle in der Kugel ist deshalb gleich N 1 n1 N A (1 M 2 ) VLPK / V1 . Es folgt:
b g
'GmLPK M 2
b
g
n1 R T ln 1 M 2 F M 2 k B T VLPK 1M2 V1
b
g lnb1 M g F M 2
(4.169) 2
Zwei Polymermoleküle mögen sich nun so weit nähern, dass ihre Domänen (Kugeln) sich partiell überlappen (siehe Abbildung 4.23). Der Anteil des Volumens, der von jeder der beiden Kugeln an der Überlappung teilnimmt, sei F. Die Konzentration der Polymersegmente ist in dem Überlappungsvolumen F VLPK / N A doppelt so groß wie in den beiden anderen Regionen. Das bedeutet: Der Volumenbruch der Segmente ist im Überlappungsgebiet gleich 2 M 2 und in den Volumina (1 F ) VLPK / N A gleich M2. Es gilt somit:
214
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
'GÜberlapp
F ª¬ 'GmLPK 2 M 2 2 'GmLPK M 2 º¼
(4.170)
Abbildung 4.23: Die Überlappung zweier Polymermoleküldomänen
Mit Gleichung (4.169) folgt: 'GÜberlapp
F kB T VLPK V1
^1 2 M 2 ln 1 2 M 2 F 2 M 2 2 1 M 2 ln 1 M 2 F
F kB T VLPK V1
^1 2 M 2 M 2 M ... F 2 M 2 2 M M M 2 ... F M ` 2
2
|
2 2
2
2
2
2 2
M 2 `
(4.171)
2
2 F kB T VLPK 2 ¬ª1 2 F ¼º M 2 V1
Wir haben dabei die Potenzen höherer Ordnung als M 22 vernachlässigt. In verdünnten Lösungen ist das in guter Näherung erlaubt. Der Volumenbruch M 2 der Polymersegmente ist über die Beziehung M 2 V2 / VLPK mit dem Molvolumen des Polymers verknüpft. Es ist außerdem zweckmäßig, den Parameter z { (2 / 33 2 )(0,5 F ) V22 / (VLPK V1 ) einzuführen. Gleichung (4.171) vereinfacht sich damit zu: 'GÜberlapp
33 2 kB T F z
(4.172)
Die Funktion r(G) Wir wollen jetzt das Volumen des Überlappungsgebietes berechnen. Dieses besitzt, wie wir aus Abbildung 4.24 erkennen, eine linsenartige Gestalt. Wir können es in zwei gleich große Kugelabschnitte der Höhe h unterteilen. Das Volumen eines Kugelabschnittes ist gleich
VKA
S h2 3 R h 3
(4.173)
wobei R der Radius der Kugel ist. Der Abstand zwischen den Schwerpunkten der Kugeln (Polymerdomänen) sei gleich 2 R G. Dabei ist G eine Zahl aus dem Intervall [0, f]. Wenn G = 1 ist, berühren sich die beiden Kugeln gerade. Im Fall G = 0 findet eine vollständige Durchdringung statt. Abbildung 4.24 entnehmen wir, dass h = R G R ist. Gleichung (4.173) geht deshalb über in: VKA
ia i bV
f g d2 3 G G i
S R2 2 G R2 G 2 R2 3 R R G R 3
d
aS f R d2 3 G G 3
3
LPK
4 NA
(4.174)
3
Es folgt: VÜberlapp
sodass
F VLPK N A
2 ªVLPK 4 N A 2 3 G G 3 º ¬ ¼
(4.175)
4 Das Makromolekül in Lösung
F
1 2 2 3 G G 3
ist.
215
(4.176)
Abbildung 4.24: Berechnung des Überlappungsvolumens VÜberlapp
Wir nehmen ferner an, dass sich in einer bestimmten Region der Lösung zu einem bestimmten Zeitpunkt nur zwei Polymermoleküle befinden. Molekül 1 sei im Raumgebiet I und befinde sich im Zustand der Ruhe. Molekül 2 ist beweglich und sei irgendwo in der Nähe von Molekül 1. Das Volumen der Lösung unterteilen wir in mehrere gleich große Volumenelemente dV. Diese seien so groß, dass gerade ein Polymermolekül darin Platz findet. Gesucht ist die Wahrscheinlichkeit W2, dass sich der Schwerpunkt von Molekül 2 in einem solchen Volumenelement befindet. Zwei Fälle sind dabei zu unterscheiden: (1) Molekül 2 ist so weit von Molekül 1 entfernt, dass es zu keiner Überlappung der Moleküldomänen kommt. Der Parameter G ist in diesem Fall größer gleich eins. Wir wollen die zugehörige Wahrscheinlichkeit mit W2 (G t 1) bezeichnen. In einer verdünnten Lösung bewegen sich die Polymermoleküle unabhängig voneinander. Die Wahrscheinlichkeit, Molekül 2 in dem Volumenelement dV zu finden, ist deshalb proportional zu dV. Es gilt also: W2 G t 1 w2 G t 1 dV konstant wobei w2 die Wahrscheinlichkeit pro Volumeneinheit (die Wahrscheinlichkeitsdichte) ist. Für w2 (G t 1) legen wir der Einfachheit halber die Boltzmann-Statistik zugrunde. Es gilt dann: w2 G t 1
k exp G2,0 kB T
(4.177)
wobei k eine Konstante, und G2,0 die Gibbssche Energie ist, die Molekül 2 besitzt, wenn es nicht mit Molekül 1 überlappt. (2) Die Domänen von Molekül 1 und 2 überlappen sich. In diesem Fall gilt: 0 d G 1 . Die zugehörige Wahrscheinlichkeit ist W2( 0 d G 1 ). Sie ist nicht konstant. Gemäß der BoltzmannStatistik gilt: w2 0 d G 1 { W2 0 d G 1 dV
k exp ª G2,0 'GÜberlapp ¬
kB T º¼
(4.178)
'GÜberlapp ist nach Gleichung (4.172) und (4.176) eine Funktion von G. w2 (0 d G 1) hängt deshalb ebenfalls von G ab. Da k und G2,0 unbekannt sind, ist es zweckmäßig, das Verhältnis r G { w2 0 d G 1 w2 G t 1 zu bilden. Es gilt: r G exp ª¬ 'GÜberlapp
kB T º¼
exp ª 33 2 2 z G 3 3 G 2 º ¬ ¼
(4.179)
216
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Die Funktion r(G) ist in Abbildung 4.25 graphisch dargestellt. Der Parameter z wurde dabei zwischen z 0 und z 5 variiert. z 0 steht für den Theta-Zustand, d.h. für ein schlechtes Lösemittel; z 5 steht für ein gutes Lösemittel. Werte von z kleiner als null schließen wir aus. Sie beschreiben Aggregationsprozesse.
Abbildung 4.25: Die Funktion r (G) { w2(0 d G 1)/w2 (G t 1) für einige Werte von z
Für G = 1 und für ein gegebenes z wird r(G) mit abnehmendem G kleiner. Für das gute Lösemittel (z 5) wird r(G) an einer bestimmten Stelle (G | 0,60) null. Die Schwerpunkte von Molekül 1 und 2 können sich in diesem Fall maximal bis auf den Abstand 2 0,60 R nähern. Für sehr gute Lösemittel wird z unendlich, r(G) geht dann in die Deltafunktion 0 ; G > 0, 1 ½ ° ° r G { ® 1; G 1 ¾ ¯° 0 ; G 1, f @ ¿°
(4.180)
über. Eine Durchdringung der Domänen von Molekül 1 und 2 ist dort nicht möglich. Sie können sich höchstens noch berühren. Die beiden Polymermoleküle verhalten sich also in sehr guten Lösemitteln so, als seien ihre Domänen starre Kugeln. Im Theta-Zustand ( z 0 ) ist r(G) dagegen für alle Werte von G gleich eins. Molekül 1 und Molekül 2 können sich in diesem Fall ungehindert durchdringen. Es ist so, als ob die Moleküle überhaupt keine Notiz voneinander nehmen. Die Funktion h( z ) für die gleichmäßige Segmentdichteverteilung Das Volumen VKS der Kugelschale mit dem Radius 2 R G und der Wanddicke 2 R dG ist gleich :
VKS
4 S 2 R G
2
2 R dG
32 S R 3 G 2 dG
(4.181)
Die Wahrscheinlichkeit W2(G), dass sich der Schwerpunkt von Molekül 2 in dieser Kugelschale befindet, ist: W2 G 32 R3 w2 G G 2 dG
(4.182)
Die Domänen von Molekül 1 und 2 überlappen nur dann miteinander, wenn sich der Schwerpunkt von Molekül 2 irgendwo in der Kugel vom Radius 2R befindet. Wir sind deshalb an der Wahr-
4 Das Makromolekül in Lösung
217
scheinlichkeit interessiert, dass sich der Schwerpunkt von Molekül 2 im Intervall [0, 2R] befindet. Für diesen Fall gilt: 1
W2 0 d G d 1 32 R3 ³ w2 0 d G d 1 G 2 dG
(4.183)
0
Das Volumen einer Kugel vom Radius 2R ist (32/3) S R3 = 8 VLPK/NA. Wir können es in zwei Teilgebiete zerlegen. Das eine Teilgebiet sei das ausgeschlossene Volumen E. Die Wahrscheinlichkeit, den Schwerpunkt von Molekül 2 hier zu finden, ist gleich null. Das andere Teilgebiet besitzt das Volumen (32 SR3/3) E. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich der Schwerpunkt von Molekül 2 dort befindet, ist gleich [(32 SR3/3) E@w2 (G t 1)(siehe Abbildung 4.26). Insgesamt gilt also:
1
ª 32 R3 3 E º w2 G t 1 32 R3 w2 0 d G d 1 G 2 dG ³ ¬ ¼
ist, folgt:
Da w2 0 d G d 1 w2 G t 1 exp 33 2 2 z G 3 3 G 2 1
³ exp 3
8 VLPK 24 VLPK NA NA
E
32
1
32
0
Abbildung 4.26:
2 z G 3 3 G 2 G 2 dG
0
³ 1 exp 3
24 VLPK NA
Die Volumina E und 32 R
3
2 z G 3 3G 2
G
2
dG
3 E
Das Integral in Gleichung (4.185) können wir partiell integrieren. Es gilt:
³ 1 exp 3 1
2 z G 3 3G 2
32
0
1 exp 3 3
G3
3
1
2 z ³G
Für E folgt somit:
0
3
G 2 dG
2 z G 3 3G 2
32
32
(4.184)
0
0 ³ G3 33 2 2 z 3 G 2 3 exp ... dG 1
1
3
0
G 1 exp §¨ 33 2 2 z G 3 3 G 2 ·¸ dG © ¹ 2
(4.185)
218
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
E mit
33 2 VLPK z h z N A
hz
1
(4.186)
12 ³ G 3 G 2 1 exp 33 2 2 z G 3 3 G 2 dG 0
(4.187)
Die Funktionswerte der Funktion h( z ) lassen sich nur numerisch berechnen. Sie sind in Abbildung 4.27 graphisch dargestellt. Wir können drei Fälle unterscheiden: (1) Im Theta-Zustand ( z 0) ist h( z ) = 1 und E = 0. (2) Ist z klein, aber größer als null, so können wir die Exponentialfunktion in Gleichung (4.185) in eine Reihe entwickeln und diese nach dem zweiten Glied abbrechen. In diesem Fall gilt:
E|
24 VLPK NA
1
zd
33 2 2 z G 3 3G 2 G 2 dG
i d
i
0
FG H
33 2 12 VLPK G6 3G4 G3 2 z 6 4 3 NA bzw. A2
NA E 2 M 22
33 2 VLPK 2 M 22
§
IJ K
1
0
· 0 ¸ V1 2 ¹
0
V2 1 2 F ¨ M ©
(4.188) 33 2 VLPK z NA (4.189)
Das bedeutet: Für kleine Werte von z stimmen die Ausdrücke von A2 für eine verdünnte Lösung und eine konzentrierte Lösung überein. (3) Im Grenzfall z o f ist exp( (33 2 / 2) z (G 3 3 G 2)) für alle Werte von G gleich null. Nach Gleichung (4.185) ist E dann gleich 8 VLPK /NA. Mit anderen Worten: Die Domänen von Molekül 1 und 2 verhalten sich in sehr guten Lösemitteln so, als wären sie undurchdringbare Kugeln.
Abbildung 4.27: Die Funktion h( z ) für die gleichmäßige Segmentdichteverteilung
Die Funktion h(z) für die Gaußsche Segmentdichteverteilung Wir sind bisher davon ausgegangen, dass die Segmente eines Polymermoleküls gleichmäßig innerhalb der Kugeldomäne vom Radius R verteilt sind. Das ist natürlich eine starke Idealisierung. Realistischer ist es anzunehmen, die Abstände zwischen den Segmenten und dem Schwerpunkt seien in Form einer Gauß-Verteilung angeordnet. Auch für diesen komplizierteren Fall lässt sich das ausgeschlossene Volumen E berechnen. Das Ergebnis der Rechnung hängt jedoch sehr empfindlich davon ab, welche mathematische Methode und welche Näherungen man bei der Herleitung von E benutzt. In der Literatur werden ca.
4 Das Makromolekül in Lösung
219
acht verschiedene Lösungen für E diskutiert. Diese beruhen alle auf demselben Modell (Gaußsche Segmentdichteverteilung), aber auf verschiedenen mathematischen Berechnungsverfahren. Yamakawa konnte allerdings zeigen, dass für alle diese Lösungen gilt:
E Gauß
44,54 R 2 !3z 2 z h z Gauß
(4.190)
Dabei ist R 2 ! 1z 2 der z-gemittelte Trägheitsradius des gelösten Polymers. Für h( z )Gauß gilt in guter Näherung: ª1 1 k1 z 2 k2 k1 k1 º ª 2 k2 k1 z º ¼ ¬ ¼ ¬
h z Gauß
(4.191)
wobei k1 und k2 zwei Konstanten sind. Für letztere haben die verschiedenen Autoren verschiedene Werte gefunden. Ausgewählte Werte für k1 und k2 sind in Tabelle 4.9 zusammengestellt. Tabelle 4.9: Werte für k1 und k2 nach Yamakawa (1971)
k1
k2
Flory-Krigbaum-Grimley
0,997
0,867
Isihara-Koyama
1,179
1,135
Flory-Krigbaum-Orofino, original
2,304
1,767
Flory-Krigbaum-Orofino, modifiziert
5,730
10,944
Kurata-Yamakawa
3,906
9,202
Kurata
0,683
Autoren
Fixman-Casassa-Markovitz
1,57 10
6,124 -4
5,472
Wir weisen darauf hin, dass es möglich ist, auch Gleichung (4.186) in die Form von Gleichung (4.190) zu überführen. Wir müssen dazu das Volumen der Lösemittel-Polymerkugel mit dem Trägheitsradius des Polymermoleküls verknüpfen. Gemäß Kapitel 4.1 gilt:
VLPK
NA
4 3 R3 4 3 0,518 h 3
8,557 R 2 !3z 2
Setzt man diesen Ausdruck in Gleichung (4.186) ein, so folgt Gleichung (4.190) daraus. Experimentelle Überprüfung der Theorie des ausgeschlossenen Volumens Für den zweiten Virialkoeffizienten A2 einer verdünnten realen Lösung gilt: A2
N A E 2 M w2
d
i
af
22,27 N A R 2 ! 3z 2 z h z M w2
(4.192)
wobei wir hier M2 durch den Massenmittelwert Mw ersetzt haben. Das Produkt < ( z ) { z h( z ) heißt und Mw Durchdringungsfunktion. Sie lässt sich experimentell ermitteln, indem man A2, R 2 !0,5 z misst. Es gilt:
a f dA
< z
2
M w2
i d22,27 N
A
R 2 ! 3z 2
i
(4.193)
Wir werden später eine Beziehung herleiten, die z mit dem Expansionskoeffizienten D { R 2 ! z R 2 ! z,T verknüpft. Es liegt deshalb nahe, D zu messen, z zu berechnen und die berechneten Werte von < ( z ) { z h( z ) mit den experimentell bestimmten Werten von < ( z ) zu vergleichen. Dabei müssen wir allerdings folgendes beachten: Es existieren in der Literatur für gaußartige Segmentdichteverteilungen gut 15 verschiedene Berechnungsformeln für z(D ) . Nicht jede dieser 15 Formeln für z(D ) korrespondiert mit jeder der Formeln für h( z ) aus Tabelle 4.9. Eine Kombination ist nur dann sinnvoll, wenn die mathematischen Näherungen und physikochemischen Annahmen, die den Berechnungen von h( z ) und z(D ) zugrunde liegen, zueinander konsistent sind.
220
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Bei Yamakawa lesen wir, dass nur folgende Kombinationen erlaubt sind:
a f lna1 2,30 z f 2,30 ; < a z f lna1 5,73 z f 5,73 ; < a z f 0,55 1 a1 3,90 z f < z
z z
0, 47
; z
dD 1i 2,60 dD 1i 1,28 d0,17 D iRST dD 2
(4.194)
2
(4.195)
3
2
i
0,54 0,46
2,17
UV W
1
(4.196)
Diese Kombinationen lassen sich experimentell überprüfen. Wir messen dazu A2 und R 2 ! z für eine Polymersorte. Gleichzeitig variieren wir die Molmasse Mw, die Temperatur T und eventuell die Art des Lösemittels. Ferner bestimmen wir den mittleren quadratischen Trägheitsradius R 2 ! z,T im
T-Zustand, indem wir A2 und R 2 ! z bei gegebenem Mw gegen T auftragen. Die Temperatur T, bei der A2 gleich null wird, ist die T-Temperatur. Wir bestimmen diese Temperatur und ermitteln anschließend den Wert von R 2 ! z an der Stelle T = T. In einem zweiten Schritt berechnen wir die Wertepaare (D 3 ; < ) . Dabei ist D3
R ! 2
z
R 2 ! z,T
32
und
c* proportional
zu 5 / 4 ln(c / c ) . Einen Test für diese Voraussage zeigt Abbildung 4.30. Dort ist log ª¬S M R T c º¼ für das System Poly(D-methylstyrol)/Toluol gegen log(c/c ) aufgetragen. Die
Steigung der Kurve liegt für c > c bei 1,33. Dieser Wert stimmt recht gut mit dem theoretischen Wert von 1,25 überein. Unsere Annahme ist also gerechtfertigt.
4 Das Makromolekül in Lösung
223
Abbildung 4.30: Die Größe log [S M/(R T c)] als Funktion von log(c/c*) für Poly(D-Methylstyrol)-Lösungen in Toluol. Die Kreise bezeichnen verschiedene Molmassen. Die Steigung für die semiverdünnte Region ist 1,33 (I.Noda et al., Macromolecules 14(1981)668)
Die Korrelationslänge Abbildung 4.31 zeigt einen Ausschnitt aus einer halbverdünnten Lösung. Jede einzelne Polymerkette kann dabei in mehrere etwa gleich lange Teilketten zerlegt werden, die perlenförmig aneinander geknüpft sind. Der mittlere Kettenendenabstand jeder Teilkette (der mittlere Durchmesser einer Perle) ist gleich dem mittleren Abstand zwischen zwei Kettenverhakungspunkten. Er wird Korrelationslänge [ genannt. Zwei Monomere im Abstand r > [ befinden sich in zwei verschiedenen Perlen. Die abstoßenden Kräfte zwischen diesen Monomeren werden durch die Wechselwirkungen mit den Monomeren anderer Polymerketten abgeschirmt, so dass die Perlen einer Kette dem Zufallsprinzip entsprechend angeordnet sind. Ist r < [ , so befinden sich die beiden Monomere in der gleichen Perle. Sie erfahren dann nur intramolekulare Wechselwirkungen.
Abbildung 4.31: Ausschnitt aus einer halbverdünnten Lösung. [ ist die Korrelationslänge; sie ist ein Maß für die effektive Maschenweite
Wir nehmen jetzt an, dass [ nicht von M, wohl aber von c abhängt. In Analogie zu Gleichung (4.201) gilt dann:
[
h 2 !1 2 für c d c
und
[
h 2 !1 2 c c
d i
V
für c > c
(4.205)
224
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
wobei h 2 !1 2 der mittlere Kettenendenabstand einer freien, nicht verhakten Kette und V ein Skalierungsparameter ist. Da nach Voraussetzung d[ / dM 0 ist, folgt:
V Q 1 3 Q
(4.206)
Für ein gutes Lösemittel (Q = 3/5) ist demnach [ proportional zu (c / c ) 3 4 . Die Korrelationslänge wird also mit steigender Polymerkonzentration c kleiner. Messbar ist nur der mittlere Kettenendenabstand h 2 (c) !1 2 bei der Konzentration c. Das ist z.B. mit Hilfe von Neutronenstreumessungen möglich, bei denen ein kleiner Teil der Polymerkette deuteriert wird und der überwiegende Teil der Kette undeuteriert bleibt. Wir betrachten als Beispiel stark konzentrierte Lösungen. Die Polymerketten verhalten sich dort so, als ob sie sich im TZustand befänden. Es gilt also h 2 (c) !1 2 ~ M 1 2 . Mit dem Scalingansatz (Daoud (1975))
af
h 2 (c o 0 ) !1 2 c c
d i
h 2 c !1 2
folgt E
E
(4.207)
1 2 Q 1 3 Q
(4.208)
so dass für Q = 3/5 der Parameter E gleich –1/4 ist. In Abbildung 4.32 ist der mittlere Trägheitsradius R 2 !1z 2 einer Polystyrolprobe, die in Toluol gelöst ist, gegen die Polymerkonzentration aufgetragen. Wir erkennen eine abfallende Gerade. Der experimentell bestimmte Wert von E liegt bei –0,16. Die Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment ist also auch in diesem Fall recht gut.
Abbildung 4.32: 2 12 Der mittlere Trägheitsradius R ! z als Funktion des Molenbruchs xp für Polystyrol in Toluol-d8. Die Messwerte stammen aus Neutronenstreuexperimenten. xM bezeichnet den Molenbruch deuterierter Monomere (J.S.King et al., Macromolecules 18(1985)709)
4.2.7 Vernetzte Makromoleküle und Kautschuk-Elastizität Gegeben sei ein Würfel mit der Kantenlänge L0. Er sei mit einem Polymernetzwerk gefüllt, das aus N gleich langen Teilketten besteht. Die Kettenendenabstände h, d. h. die Abstände zwischen den Vernetzungspunkten der Teilketten, seien innerhalb des Würfels so verteilt, dass sie einer Gaußschen Normalverteilung genügen. Es gilt:
P0 h dV
K
3
§ 3 2 exp ¨ K §¨ hxD © ©
h h 2
D y
2
D z
2
· · dV ¸¸ ¹¹
(4.209)
wobei P0 (h) dV die Wahrscheinlichkeit ist, den Kettenendenabstandsvektor h im Volumenelement zu finden. Der Index „0“ gibt an, dass sich das Netzwerk im undeformierten Zustand befindet. K ist eine Normierungskonstante. Ihr Wert ergibt sich aus der Bedingung:
4 Das Makromolekül in Lösung
³
P0 h dV
1
225
(4.210)
VWürfel
Im Grenzfall L0 o f wird K2 = (3/2)/h2!, wobei h2! der mittlere quadratische Kettenendenabstand ist (vergleiche Kapitel 4.1). Das Netzwerk werde nun durch äußere Kräfte deformiert. Der Würfel gehe dabei in einen Quader mit den Kantenlängen L x D x L0 , L y D y L0 und Lz D z L0 über, wobei die Koeffizienten Dx, Dy und Dz das Maß der Expansion bzw. der Kontraktion in die drei Raumrichtungen angeben. Die ursprüngliche Verteilung der Kettenendenabstandsvektoren wird durch diese Deformation verändert. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass hx
D x hxD , h y
D y h yD und hz
D z hzD
ist.
Es gilt dann: dhxD
1 D x dhx
; dhyD
1 D y dhy
; dhzD
1 D z dhz ,
und Gleichung (4.209) geht über in: P h dV
K3
Dx D y Dz
32
2 2 2 exp §¨ K 2 ª hx D x hy D y hz D z º ·¸ dV « »¼ ¹ ¬ ©
(4.211)
P(h) gibt die Verteilung der Kettenendenabstandsvektoren h im deformierten Zustand an. Die Kettenendenabstandsvektoren sind jetzt zum Teil ausgerichtet. Sie sind deshalb weniger ungeordnet verteilt als noch im undeformierten Zustand. Folglich gilt: (1) Die Verteilung P(h) ist keine Gaußsche Normalverteilung, und (2) die Entropie des deformierten Netzwerkes S (D x , D y , D z ) ist kleiner als die Entropie S0 des undeformierten Netzwerks. Um S (D x , D y , D z ) und S0 zu bestimmen, teilen wir den Raum V, in dem sich unser Würfel m
und der Quader befinden, in m Teilvolumina dV1 bis dVm auf, wobei V
¦ dVi ist. Die Wahr-
i 1
scheinlichkeit, im undeformierten Zustand einen Kettenendenabstandsvektor im Teilvolumen dVi zu finden, ist Wi ,0 P0 ( h) dVi . Das bedeutet: Im undeformierten Zustand befinden sich im Mittel ni N Wi ,0 Kettenendenabstandsvektoren im Volumenelement dVi. Entsprechend gilt für das deformierte Netzwerk: si N P ( h) dVi . Dabei ist ni ungleich si. Wir nehmen außerdem an, dass die Raumrichtungen der Kettenendenabstandsvektoren unabhängig voneinander sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass sich im undeformierten Zustand ni bzw. si Kettenendenabstandsvektoren im Volumen si dVi aufhalten, ist dann gleich Wi n,0i bzw. gleich Wi ,0 . Insgesamt haben wir m Teilvolumina dVi. Die Wahrscheinlichkeit nW, dass sich im undeformierten Zustand n1 Kettenendenabstandsvektoren im Volumen dV1, n2 in dV2, ... , und nm in dVm befinden, ist gleich n
W
m
Wi n,0 i
(4.212)
i 1
Entsprechend gilt für si, bezogen auf den undeformierten Zustand s
W
m
Wi ,0s i
i 1
wobei sW kleiner als nW ist.
(4.213)
226
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Die N Teilketten unseres Netzwerkes sind nicht unterscheidbar. Es gibt somit maximal m
N!
ni ! bzw.
m
si ! unterscheidbare Möglichkeiten, die Kettenendenabstandsvektoren auf
N!
i 1
i 1
die Teilvolumina dVi zu verteilen. Von diesen Möglichkeiten beobachtet man im undeformierten Zustand im Mittel
:0
LM N ! n !OP W N Q m
m
ni i,0
i
i 1
(4.214)
i 1
Möglichkeiten. Im deformierten Zustand sind es dagegen im Mittel nur
:
LM N ! s !OP W N Q m
m
i
i 1
si i,0
(4.215)
i 1
Möglichkeiten. Gleichung (4.215) gilt allgemein für jede Verteilung s1 bis sm von Kettenendenabstandsvektoren. Wir sind natürlich nur an der Verteilung interessiert, bei der si N P ( h) dVi ist. Die Entropiedifferenz 'S zwischen dem deformierten und dem undeformierten Netzwerk lässt sich jetzt berechnen. Es gilt: 'S
S D x , D y , D z S 0
kB ln : :0
(4.216)
Unser System unterliegt den Randbedingungen m
¦ Wi ,0
m
m
i 1
i 1
¦ si ¦ ni
1 ,
i 1
N
Wir können außerdem die Stirlingsche Formel anwenden. Es folgt somit: § m · s n ln : :0 ln ¨ Wi,0i i ni ! si !¸ ©i1 ¹ m
m
i 1
i 1
¦ si ni ln Wi,0 ¦ ni ln ni ni si ln si si m
m
m
i 1
i 1
i 1
(4.217)
¦ si ni ln ni N ¦ ni ln ni si ln si ¦ si ln ni si Da ni / si gleich P0 ( hi ) / P ( hi ) ist, gilt ferner: ln ni si ln P0 hi P hi
ln D x D y D z K 2 ª hx2,i 1 1 D x2 ¬
h 1 1 D h 1 1 D º¼ 2 y ,i
2 y
2 z ,i
2 z
Gleichung (4.217) geht damit über in: ln : :0
ª N ln D x D y D z K 2 « 1 1 D x2 ¬
¦ s h 1 1 D ¦ s h m
i
2 x ,i
2 y
i 1
m
i
2 y ,i
i 1
m
¦ dVi o f bedeutet dies:
Für den Grenzfall V
i 1
m
¦ si hx2,i
i 1
m
b g
N ¦ P hi hx2,i dVi i 1
f
N
z z z h Pahf dh f
2 x
x
d h y dh z
N D 2x
d2 K i 2
º ...» ¼
(4.218)
4 Das Makromolekül in Lösung
227
Entsprechendes gilt für die beiden anderen Summen in Gleichung (4.218). Wir erhalten somit das Ergebnis: 'S
kB ln : :0
N kB ª¬ln D x D y D z 1 2 D x2 D y2 D z2 3 º¼
(4.219)
'S hängt nicht von der mittleren Länge der Teilketten, wohl aber von der Anzahl N der Teilketten und von den Deformationsparametern Dx, Dy und Dz ab. Dabei ist 'S gleich null, wenn D x D y D z 1 ist. Die Teilketten eines Netzwerkes sind nicht alle gleich lang. Es existiert eine Kettenlängenverteilung. Wir nehmen an, dass die Werte der Deformationsparameter nicht von der Kettenlänge abhängen. Alle Teilketten Ni der Kettenlänge hi liefern deshalb in Form von Gleichung (4.219) einen Beitrag zu 'S, nur dass dort N durch Ni ersetzt werden muss. Die gesamte Entropiedifferenz 'S ist gleich der Summe dieser Beiträge. Da aber 6 Ni = N ist, erhalten wir aber genau das gleiche Ergebnis wie zuvor (Gleichung (4.219)). Bei der Herleitung von Gleichung (4.219) haben wir die Gaußsche Normalverteilung benutzt. Wir nahmen also an, dass die Teilketten frei, d.h. unverknüpft, im Volumen V verteilt sind. In Wirklichkeit gibt es aber N/2 Vernetzungspunkte. Jeder dieser Vernetzungspunkte entsteht durch die chemische Bindung eines Monomers einer Teilkette mit dem Monomer einer anderen Teilkette. Damit eine chemische Bindung stattfindet, müssen die beiden Monomere sich innerhalb des kleinen Volumens GV zufällig begegnen. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass GV für das undeformierte und das deformierte Netzwerk gleich groß ist. Die Wahrscheinlichkeit, dass eine Vernetzung stattfindet, ist daher proportional zu GV /V, wobei V das Gesamtvolumen des Netzwerkes ist. Die Bildung der verschiedenen Vernetzungspunkte erfolge unabhängig voneinander. Die Wahrscheinlichkeit, N/2 Vernetzungspunkte zu erhalten, ist folglich proportional zu (GV / V ) N / 2 . Im undeformierten Zustand ist V L30 und im deformierten Zustand ist V D x D y D z L30 . Das Verhältnis der Vernetzungswahrscheinlichkeiten für die beiden Zustände ist also gleich (D x D y D z ) N / 2 . Wir
müssen deshalb die Entropiedifferenz 'S um den zusätzlichen Term N kB / 2 ln D x D y D z korrigieren. Das Endresultat unserer Modellrechnung lautet damit: 'S
N kB 2 ln D x D y D z D x2 D y2 D z2 3
(4.220)
Kautschuk-Elastizität Wir wollen als Anwendungsbeispiel für Gleichung (4.220) das Problem der Kautschukelastizität betrachten. Experimentell hat man gefunden, dass Kautschuk zwar deformierbar, aber so gut wie inkompressibel ist. Dies bedeutet: V
L30
D x D y D z L30
bzw.
Dx Dy Dz
1
(4.221)
Wir nehmen an, dass ein Kautschukwürfel nur Kräfte längs der x-Richtung erfährt. Es gilt dann Lx D x L0 und L y Lz , woraus mit Gleichung (4.221) und D { D z folgt:
Dy
Dz
1/ D1 2
(4.222)
Gleichung (4.220) vereinfacht sich damit zu: 'S
N kB 2 ª¬3 D 2 2 D º¼
(4.223)
Die Gibbssche Energie 'G 'H T 'S des Kautschukblocks wird durch die Deformation (Streckung) verändert. Beim "idealen" Kautschuk erfolgt die Streckung durch Konformationsände-
228
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
rungen gleicher Enthalpie, so dass keine Energiebeiträge auftreten und 'H 'G T 'S . Bei konstantem Druck und konstanter Temperatur folgt: f
w'G
wL T , P
T w'S wL T , P
0 ist. Somit ist
(4.224)
Dabei ist f die Kraft, die versucht, das deformierte Kautschuknetzwerk in seinen ursprünglichen Zustand zurückzuführen. Sie wird Rückstellkraft genannt. Da L D L0 ist, folgt: f
T L0 w'S wD T , P
N kB T
L0 D 1 D 2
(4.225)
Kräfte pro Flächeneinheit heißen Spannungen. Hier ist f / L20 eine Zug- oder Rückstellspannung. Wir wollen sie mit V bezeichnen. Unsere Endformel lautet damit:
V
N kB T
V D 1 D 2
(4.226)
Abbildung 4.33: Dehnungs-Spannungs Diagramme für Naturkautschuk: a) Expansion, b) Kompression (für D 1,2 treten allerdings signifikante Abweichungen auf. Der Grund ist u.a., dass Kautschuk dort kristallisiert. Er wird dadurch härter, und man benötigt größere Kräfte zur Streckung, als es die Theorie voraussagt. Die Elastizitätstheorie beschreibt die elastische Streckung eines Körpers mit Hilfe des Elastizitätsmoduls E. Dieser ist nach dem Hookeschen Gesetz definiert als: E V ª¬ L L0 L0 º¼ Der Ausdruck H
H
L
Somit ist D
(4.227)
( L L0 ) / L0 heißt Dehnung. Hier gilt:
L0 1 D 1 1 H , und für D 2 erhalten wir: D 2
berechnet sich damit zu:
1 H 2 | 1 2 H ... . Der Elastizitätsmodul E
4 Das Makromolekül in Lösung
E V H | ª¬ N kB T V H º¼ ª¬1 H 1 2 H º¼
3 N kB T V
229
(4.228)
Er wird oft Youngscher Modul genannt und beschreibt den Streckvorgang. Polymere können aber auch geschert werden. Diesen Vorgang erfasst der Schermodul G. Nach der Elastizitätstheorie sind E und G über die Beziehung G = E/3 miteinander verknüpft. Für G gilt also: G N kB T V (4.229) Die Anzahl N der Teilketten ist mit der Masse M des Kautschukblockes und der mittleren Molmasse Me einer Teilkette verknüpft. Es gilt: N
b
M Me N A
g
Gleichung (4.228) und Gleichung (4.229) können deshalb umgeformt werden zu: E 3 U R T Me und G U R T Me
(4.230)
Dabei ist U die Dichte der Kautschukprobe. Me wird Netzbogenmasse genannt. Sie lässt sich durch Messung von E oder G ermitteln. Wir erkennen: E und G sind direkt proportional zur Temperatur T. Kautschuk (Gummi) wird also härter, wenn man die Temperatur erhöht.
Netzwerkfehler und Vernetzungseffizienz Die eben hergeleiteten Formeln gelten nur für ideale Netzwerke. In der Regel besitzt ein Netzwerk eine Reihe von Netzwerkfehlern. Dabei wird zwischen vier Hauptfehlern unterschieden: (1) Ein bestimmter Anteil der Netzwerkketten ist unvernetzt. Sie bilden freie Kettenenden, die nicht zur Elastizität des Netzwerks beitragen. (2) Neben echten (chemischen) Vernetzungspunkten existieren Kettenverschlaufungspunkte. Sie machen das Material härter. (3) Eine Netzwerkkette kann von einem bestimmten Vernetzungspunkt ausgehen und am gleichen enden. So eine Ringbildung tritt bevorzugt auf, wenn die Synthese des Netzwerkes in verdünnter Lösung erfolgt. Sie führt zu einer Erniedrigung von G. (4) Die Vernetzungspunkte sind nicht gleichmäßig über das Netzwerk verteilt. Es existieren Gebiete hoher und niedriger Vernetzungsdichte. Solche Inhomogenitäten führen dazu, dass das Netzwerk an bestimmten Stellen trübe und an anderen Stellen durchsichtig ist. Die theoretische Beschreibung des Einflusses von Netzwerkfehlern auf den Schermodul G ist noch nicht vollständig gelöst. Nach Flory lässt sich der Effekt der freien Kettenenden auf G durch einen Korrekturfaktor berücksichtigen. Es gilt: G
c b
I U R T 1 2 Me M
gh
,
wobei I eine Energiekorrektur und M die Molmasse des unvernetzten Polymers sind. Interessanterweise ist Elastizität nur für M ! 2 M e möglich. Für M 2 M e ist G 0 , und für M 2 M e ist G nicht mehr definiert.
Abbildung 4.34: Netzwerkfehler
Netzwerkverhakungen lassen sich berücksichtigen, indem man zu Gleichung (4.230) einen Zusatzterm Gverhak addiert und die Einzelanteile zu G entsprechend wichtet. Es gilt:
230
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
G
a
f
w U R T M e 1 w Gverhak
wobei w der Anteil der Vernetzungspunkte ist, die chemische Bindungen darstellen, und 1 w den Anteil der Verhakungspunkte angibt. Dabei sind w und Gverhak allerdings Fitparameter. In der Praxis geht man wie folgt vor: Die Anzahl der Vernetzermoleküle im Probenvolumen ist bekannt. Sie ist durch die Syntheseführung vorgegeben. Die molare Anzahl der Netzwerkketten pro Einheitsvolumen unter der Annahme, dass jedes Vernetzungsmolekül reagiert und das Netzwerk keine Fehler aufweist, lässt sich damit berechnen. Sie heißt theoretische oder chemische Netzwerkdichte. Wir wollen sie mit Qch bezeichnen. Die Netzwerkdichte Q eff N / ( N A V ) , die wir messen, heißt tatsächliche oder effektiv wirksame Netzwerkdichte. Anstelle von Gleichung (4.229) können wir deshalb schreiben: G
Q eff Q ch R T Q ch
p R T Q ch
(4.231)
Das Verhältnis p Q eff / Q ch ist die Vernetzungseffizienz. Dabei ist p groß, wenn das Netzwerk wenig Fehler besitzt, und klein, wenn viele Fehler vorhanden sind. In Acrylamidgelen besitzt p z.B. einen Verlauf wie er in Abbildung 4.35 skizziert ist.
Abbildung 4.35: Schematischer Verlauf der Netzwerkeffizienz von Acrylamidgelen
p liegt für kleine chemische Netzwerkdichten nahe bei 1. Mit steigendem Qch wird p kleiner, und für hinreichend große Qch hängt p nicht mehr von Qch ab. Weitere Netzwerkmodelle Wir sind bei der Herleitung von Gleichung (4.229) davon ausgegangen, dass alle Kettenendenabstandsvektoren, die zwei Vernetzungspunkte miteinander verbinden, bei einer Deformation linear, d.h. um den gleichen Faktor, gedehnt oder gestaucht werden. Die Vernetzungspunkte sind deshalb miteinander gekoppelt. Sie können nicht unabhängig voneinander verschoben werden. Dieses Modell heißt affines Netzwerk. Können die Vernetzungspunkte dagegen frei, d.h. völlig unabhängig voneinander, gegeneinander verschoben werden, so spricht man vom Phantomnetzwerk. Für dieses Modell existiert ebenfalls ein mathematischer Ausdruck. Anstelle von Gleichung (4.229) gilt: G
1 2 f p R T Q ch
(4.232)
wobei f die Funktionalität eines Vernetzungspunktes ist. In den meisten Fällen gehen von einem Vernetzungspunkt vier Teilketten aus, so dass f = 4 und G = (1/2) p R T Qch ist. Reale Netzwerke sind weder Phantomnetzwerke, noch sind sie affin. Sie liegen irgendwo dazwischen. Man arbeitet deshalb oft mit dem Ansatz G
a
f
Gphantom 1 F Gaffin F
4 Das Makromolekül in Lösung
231
wobei F [0, 1] ein Kopplungsfaktor ist. Je näher F bei 1 liegt, desto stärker sind die möglichen Verschiebungen der Vernetzungspunkte miteinander gekoppelt. Der Wert von F ist kein Fitparameter. Es existieren verschiedene Modelle mit deren Hilfe F berechnet werden kann. Die Güte dieser Modelle muss aber noch getestet werden. Nicht-Gaußsche Netzwerktheorie Die Teilketten eines Netzwerks sind nicht unendlich dehnbar. Die Anwendung der Gaußschen Kettenendenabstandsverteilung ist zudem nur für kleine Dehnungen erlaubt (vgl. Kap. 4.1). Es ist deshalb oft zweckmäßiger, mit der Nicht-Gaußschen Kettenstatistik zu arbeiten. Wir nehmen dazu wieder an, dass sich das Volumen der Netzwerkprobe bei einer Deformation nicht ändert. Es gilt also: hx
D hxD
hy
,
hz
hxD D 1 2
(4.233)
Für die Entropie SD der deformierten Netzwerkkette bedeutet dies: SD 1 / 3 ( S x 2 S y ) , da Sy = Sz ist. Mit der Langevin-Verteilung (Gleichung (4.18)) und unter Berücksichtigung von Gleichung (4.233) folgt: SD
D D
$1 D hxD N lK ½° k N ° D hx 1 § D hx · k B ® $ ¨ ¸ ln ¾ 3 ° N lK sinh $1 D hxD N lK ¿° © N lK ¹ ¯
° hD D 1 2 $1 hxD D 1 2 N lK ½° § D 1 2 hD · 2 $1 ¨ x ¸ ln kB N ® x ¾ 3 N lK sinh $1 hxD D 1 2 N lK ¿° © N lK ¹ ¯°
(4.234)
~ ~ wobei N die Anzahl der Segmente pro Teilkette, lK die Kuhnsche Länge und k eine NormierungsD 3 konstante sind. Die Gesamtanzahl der Teilketten im Volumen V (hx ) sei N. Die Gesamtentropie des Netzwerkes pro Einheitsvolumen ist somit gleich N SD. Eine gedehnte Teilkette soll die gleiche Innere Energie U besitzen wie eine ungedehnte. Die Deformationsarbeit W hängt deshalb nur von der Entropie ab. Das bedeutet (vgl. Gleichung (4.39)): W
T N S D S0
(4.235)
wobei SD die Entropie des Netzwerkes im undeformierten Zustand ist. Mit Gleichung (4.42) folgt: f
§ wW · ¨ ¸ © whx ¹T
T N § wSD · ¨ ¸ hxD © wD ¹T
N kB T 3 lK
D 1 2 ½ ° 1 § hxD D · ·° 3 2 1 § hx D $ ¨ ¸¾ ®$ ¨ ¸ D © N lK ¹ © N lK ¹ ¿° ¯°
(4.236)
Diese Gleichung lässt sich weiter vereinfachen, indem wir für hxD den Ausdruck N 1 2 l K für das Zufallsknäuel einsetzen. Das Endresultat für die Zugspannung V f / (hxD ) 2 lautet somit:
V
§ ·½ N kB T 1 2 ° 1 § D · 1 3 2 ¸ °¾ N $1 ¨ ®$ ¨ 1 2 ¸ D 1 2
¨ ¸ 3V °¯ © N ¹ © D N ¹ °¿
(4.237)
Für kleine Dehnungen D ist $1 ( x) | 3 x , so dass V N k B T / V (D 1 / D 2 ) ist und Gleichung (4.237) in Gleichung (4.226) für die Gaußsche Kettenendenabstandsverteilung übergeht. Einen Vergleich der Voraussagen beider Statistiken zeigt Abbildung 4.36. Wir erkennen, dass die NichtGaußsche Kettenstatistik die experimentellen Ergebnisse weitaus besser beschreibt als die Gaußsche. Das gilt insbesondere für große Dehnungen (D > 3), für welche die Gaußsche Statistik in keinem Fall mehr angewendet werden darf.
232
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Abbildung 4.36: Spannungs-Dehnungs-Diagramm für Naturkautschuk. (-------) Gaußsche Statistik (Gleichung (4.226)). () Nicht-Gaußsche Statistik (Gleichung(4.237)) N kB T = 0,273 N/mm2 und N* = 75
Wenn wir die Abbildungen 4.33 und 4.36 genau betrachten, fällt auf, dass der kleine Bereich
D [15 . , 2.5] weder durch Gleichung(4.226) noch durch Gleichung (4.237) hinreichend genau be-
schrieben wird. In der Praxis wird deshalb im Bereich mittlerer Dehnungen oft mit dem von Mooney vorgeschlagenen Ansatz gearbeitet:
V
2 k1 k2 D 1 D 2 2 k2 1 D 1 1 D 3
(4.238)
k1 und k2 sind zwei Fitparameter. Das Spannungs-Dehnungs-Diagramm lässt sich mit Hilfe dieser Gleichung weitaus besser beschreiben als mit Hilfe von Gleichung (4.226). Allerdings lässt sich der Mooneysche Ansatz bis heute nicht aus einer molekularstatistischen Betrachtung begründen.
Gequollene Polymergele Gegeben sei ein Polymernetzwerk, welches mit einem Lösemittel in Kontakt gebracht wird. Als Folge nimmt das Netzwerk Lösemittelmoleküle auf. Man sagt, es bildet sich ein gequollenes Polymergel (siehe Abbildung 4.37). Durch die Quellung wird das Netzwerk gestreckt, wobei der Quellprozeß genau dann zum Stillstand kommt, wenn die Rückstellkraft des Netzwerkes genausogroß ist wie die Kraft, welche die Quellung hervorruft. Dieser Vorgang lässt sich thermodynamisch wie folgt beschreiben: Im ungequollenen Zustand haben wir ein undeformiertes Netzwerk, das frei von Lösemittelmolekülen ist. Es bestehe aus N2 Teilketten, die sich aus jeweils m Untereinheiten zusammensetzen. Eine Untereinheit sei genausogroß wie ein Lösemittelmolekül. Letzteres besitze das Volumen V1. Wir nehmen außerdem an, dass das Netzwerk zu Anfang die Gestalt eines Würfels besitzen soll. Sein Anfangsvolumen ist somit gleich V0 L30 m N 2 V1. Gegeben seien außerdem N1 Lösemittelmoleküle, die das Volumen N1 V1 belegen. Die gesamte Gibbssche Energie dieses Anfangssystems (Solvent + freies Netzwerk) wollen wir mit G0 bezeichnen.
4 Das Makromolekül in Lösung
233
Abbildung 4.37: Modell eines gequollenen Polymergels
Der Endzustand ist das gequollene Netzwerk (Polymergel) im thermodynamischen Gleichgewicht mit dem Lösemittel der Umgebung. Es enthält N1 Lösemittelmolküle und N2 m Polymeruntereinheiten. Sein Volumen ist gleich V ( N1 m N 2 ) V1 , wobei wir annehmen, dass sich die Volumina additiv verhalten. Durch die Quellung wird das Netzwerk deformiert. Es gelte: Lx
L D L0
und
Ly
Lz
V L 1 2
(4.239)
Ein Maß für den Quellungsgrad des Netzwerkes ist der inverse Volumenbruch 1 / M 2 V / V0 . Daraus ergibt sich die Relation D y D z 1 / (D M 2 ) 1 2 . Die Freie Enthalpie des gequollenen Gels im Endzustand wollen wir mit G1 bezeichnen. Sie ist eine Funktion von T, L, N1 und N2. Für das totale Differential von G1 gilt deshalb: wG1
S wT W wL P 1 wN 1 P 2 wN 2
(4.240)
Hier ist W wG1 / wL eine äußere Kraft, die zusätzlich zur "Quellkraft" wirkt und das Netzwerk streckt. Sie muss nicht unbedingt vorhanden sein, aber wir wollen uns diese Möglichkeit offenhalten. In der Praxis kann man lediglich T, L und N1 variieren. Die Anzahl der Teilketten N2 wird durch den Quellvorgang nicht verändert. wN 2 ist also null. Die Änderung in der Gibbsschen Energie ist durch 'G
G1 G0
'G m 'G D
'G m T 'S D
(4.241)
gegeben. Hier ist 'Gm die Freie Mischungsenthalpie, die dann auftritt, wenn wir die Polymersegmente mit den Lösemittelmolekülen in Kontakt bringen, d.h. miteinander mischen. 'SD bezeichnet die Änderung in der Entropie zwischen dem undeformierten und dem deformierten Netzwerk, die beide jeweils N2 Teilketten besitzen, aber frei von Lösemittelmolekülen sind. Wir haben also in Gleichung (4.241) angenommen, dass die Mischungsenergie 'Gm und die Deformationsenergie 'GD unabhängig voneinander sind. 'Gm ist durch die Flory-Huggins-Theorie gegeben. 'SD haben wir in einem der vorangegangenen Kapitel (Gleichung (4.220)) berechnet. Wir müssen allerdings folgendes berücksichtigen: Ein Polymernetzwerk besteht aus einem einzigen gigantischen Polymermolekül. Für 'Gm bedeutet dies, dass N2 in Gleichung (4.90) gleich eins ist. Der Term ln M 2 darf deshalb in guter Näherung gegenüber den anderen Termen aus Gleichung (4.90) vernachlässigt werden. Es folgt: 'Gm
kB T N1 ln M1 F N1 m N 2 M1 M 2
Insgesamt gilt:
(4.242)
234
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
'G
kB T ª N1 ln M1 F N1 m N 2 M1 M 2 N 2 2 ln M 2 D 2 2 D M 2 3 º ¬ ¼
Im Quellungsgleichgewicht ist das chemische Potential des Lösemittels im Netzwerk genausogroß wie das chemische Potential des Lösemittels in seiner reinen Phase. Es gilt:
P 1,Gel
P 1,0
(4.243)
beziehungsweise
P1,Gel P1,0 kB T w 'G kB T
wN1 T , L, N
0
(4.244)
2
M 22 m N 2 , w M 21 wN1 1 m N 2 und M 2
Mit wM 2 wN1
w 'G kB T
wN1
T ,D ,N
2
ln 1 M 2 N1
m N2
N1 m N 2
folgt:
M 22 F M 2 1 M 2 1 M 2 m N 2
w N § M 2 · M 2 M 22 2 ¨ 2 ¸ 2 © m N2 D m N2 ¹ wN1 § § M 2 · 2 M 23 · M 2 1 ln 1 M 2 M 2 F M 2 1 M 2 F N1 m N 2 ¨ ¨ 2 ¸ ¸¸ ¨ m N2 ¹ m N2 ¹ 2 m D m ©© 1§1 M · ln 1 M 2 M 2 F M 22 ¨ 2 ¸ 0 m ©D 2 ¹ F N1 m N 2
(4.245)
Gleichung (4.245) verknüpft den Quellungsgrad q { 1 / M 2 mit dem Expansionskoeffizienten D. Die ersten drei Terme sind durch die partielle Ableitung der Gibbsschen Mischungsenergie 'Gm nach N1 entstanden. Nach Kapitel 4.3.1 ist w 'Gm kB T wN1 S Netz V1 kB T , wobei SNetz der
T ,L, N
2
osmotische Druck des Netzwerkes ist. Diese Terme sind für die Expansion, d.h. für die Quellung des Netzwerkes verantwortlich. Die beiden letzten Terme in Gleichung (4.245) entstehen durch die partielle Ableitung von 'GD nach N1. Es gilt: pD
w'GD wV
1 V1 w'GD wN1
oder
w 'GD
kB T wN1 T , L, N
2
pD V1 kB T
(4.246)
pD heißt Deformationsdruck und ist die Kraft pro Flächeneinheit, die bestrebt ist, das Netzwerk in seinen undeformierten Zustand zurückzuführen. Im Quellungsgleichgewicht sind die „Quellkraft“ und die „Deformationskraft“ gleich groß. Dann gilt:
S Netz
pD
(4.247)
Wir wollen zuerst den Fall betrachten, dass auf das Gel keine zusätzlichen äußeren Kräfte wirken. Es sei also W = 0 und q 1 / M 2 V / V0 (D 3 L30 ) / L30 D 3 . Wir können deshalb 1/D durch q 1/ 3 ersetzen. Experimentell findet man für q 1 / M 2 Werte von 10 und größer. M2 ist also in der Regel kleiner als 0.1, so dass der Logarithmus ln (1 M 2 ) in Gleichung (4.245) in eine Reihe entwickelt werden darf. Das ergibt die folgende Beziehung für M 2 und F:
4 Das Makromolekül in Lösung
1 M 2 ¬ª1 M 22 3 1 2 º¼
m ª¬1 2 F º¼
235
(4.248)
Wenn wir den Faktor 1/2 gegenüber 1 / M 22 / 3 vernachlässigen und 1 / M 2 durch q ersetzen, erhalten wir: q
1 2 F
35
m3 5
(4.249)
Eine Auftragung des Quellungsgrades q gegen m3/5 sollte also eine Ursprungsgerade mit der Steigung ((1 / 2) F ) 3/5 ergeben. Die experimentelle Überprüfung bestätigt diese Voraussage. Der Exponent 3/5 wurde verifiziert. Aber auch die mit Hilfe von Gleichung (4.249) ermittelten FloryHuggins-Parameter stimmen bemerkenswert gut mit den F-Werten überein, die man mit der Methode der Osmose an unvernetzten Polymeren erhält. Als nächstes wir wollen den Fall betrachten, dass zusätzlich zur osmotischen Quellkraft eine äußere Kraft W auf das Polymergel wirkt. Die Auswirkung, die W dabei auf das Netzwerk hat, wird durch die Beziehung
W
aw'G wLf bk T L gnw 'G bk T g wDs bk T N L g eD 1 dD M ij 0
B
T , N1 , N 2
B
T , N1 , N2
(4.250)
2
2
B
0
2
W L0 / ( N 2 k B T ) folgt:
erfasst. Mit der Abkürzung t
M 2 1 ª¬D
2
D t º¼
(4.251)
Diese Gleichung setzen wir in Gleichung (4.245) ein. Wir nehmen ferner an, dass der Quellungsgrad groß ist, ln (1 M 2 ) also in eine Taylorreihe entwickelt und nach dem zweiten Glied abgebrochen werden darf. Das Ergebnis dieser Umformung lautet dann:
D 2 D t ª¬D D t 1 2 º¼ m ª¬1 2 F º¼
(4.252)
Gleichung (4.252) ist eine Verallgemeinerung von Gleichung (4.248). Für t = 0 stimmen beide Gleichungen überein. Experimentell findet man für D2 Werte, die in der Größenordnung von D2 > 4 liegen. Der Faktor 1/2 auf der linken Seite von Gleichung (4.252) kann deshalb gegenüber D2 vernachlässigt werden. Das ergibt:
D t q
^m ¬ª1 2 F ¼º`
12
^m ª¬1 2 F º¼`
12
D 3 2 , sodass mit Gleichung (4.251)
D1 2
folgt.
(4.253) (4.254)
Der Quellungsgrad q hängt also bei Anwesenheit einer äußeren Kraft W außer von m und F auch von der durch die Kraft W zusätzlich hervorgerufenen Expansion D des Netzwerkes ab. q ist proportional zu D1/2. Ein gequollenes Polymergel, das sich im Gleichgewicht mit dem Lösemittel befindet, nimmt also bei Anwesenheit der Streckkraft W weitere Lösemittelmoleküle in sich auf. Sein Volumen wird größer. Auch diese Voraussage der Theorie wird durch das Experiment voll bestätigt.
Verschiedene Quellungsgrade und der Schermodul Polymernetzwerke werden oft in Lösung synthetisiert. Das bedeutet, dass ein Gel bereits leicht gequollen ist, bevor der eigentliche Quellvorgang beginnt. Es ist deshalb zweckmäßig, verschiedene Netzwerkvolumina zu unterscheiden. Vt sei
236
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
das Volumen des trockenen Netzwerks, das keine Lösemittelmoleküle enthält. VS sei das Volumen des Netzwerks nach der Synthese; und V sei das Volumen des Netzwerks im Quellungsgleichgewicht. Daraus ergeben sich folgende Quellungsgrade: qS { VS Vt ;
q rel { V VS ;
q { V Vt
(4.255)
Dabei ist qS der Quellungsgrad nach der Synthese; qrel heißt relativer Quellungsgrad, und q ist der absolute Quellungsgrad. Es gilt: q
qS q rel
4.256)
In der Praxis liegt qS in der Größenordnung von 2, und qrel ist sehr oft größer als 3. Für den Schermodul eines deformierten Netzwerks vom Gesamtvolumen V haben wir den Ausdruck G
(4.257)
f V N kB T V
gefunden, wobei fV ein Vorfaktor ist, der die Art des Netzwerkmodells beschreibt. Gleichung (4.257) können wir umformen zu: G
f V N kB T V VS VS Vt Vt fV R T Q t q
1
f V N kB T
qS qrel Vt
(4.258)
wobei Q t { N / ( N A Vt ) die Netzwerkdichte des trockenen Netzwerkes ist. Der Schermodul eines gequollenen Netzwerkes mit Gaußscher Kettenstatistik ist also umgekehrt proportional zum absoluten Quellungsgrad q. Diese Voraussage lässt sich experimentell überprüfen. In Abbildung 4.38 ist log G für ein mit N,N-Diallylacrylamid vernetztes Polyacrylsäuregel gegen log q aufgetragen. Für kleine q wird G mit steigendem q tatsächlich kleiner. Die Steigung 1 wird allerdings nur selten gefunden. Für große q wird log G mit steigendem log q deutlich größer. Dort muss die NichtGaußsche Statistik für die Auswertung herangezogen werden.
Abbildung 4.38 Der Logarithmus der Schermoduls G als Funktion des Logarithmus des Quellungsgrades q für ein Polyacrylnetzwerk
4 Das Makromolekül in Lösung
237
4.2.8 Zustandsgleichungen Die Flory-Huggins-Theorie, die Löslichkeitstheorie und die Theorie des ausgeschlossenen Volumens können mit Erfolg eine Reihe von Phänomenen bei Polymerlösungen beschreiben. Hierzu gehören die Temperaturabhängigkeit der Knäueldimensionen und der Virialkoeffizienten und einige Phänomene bei Phasengleichgewichten. Die genannten Theorien sind jedoch nicht in der Lage, druckabhängige Phänomene und das Phasenverhalten von Polymerlösungen bei höheren Temperaturen zu beschreiben. Es wurden daher verschiedene Versuche unternommen, die genannten Phänomene theoretisch zu begründen. Eine umfassende Theorie der Polymermischungen und Polymerlösungen muss neben der Mischungsenthalpie und der Mischungsentropie eine Beziehung zwischen Volumen, Druck und Temperatur des Systems enthalten. Gleichungen, die das V(p,T)-Verhalten eines Systems beschreiben, heißen Zustandsgleichungen. Sie wurden ursprünglich für Flüssigkeiten abgeleitet, lassen sich aber auch auf polymere Flüssigkeiten (Polymerschmelzen) und Polymerlösungen übertragen. Es existieren verschiedene Versuche, theoretisch begründete Zustandsgleichungen für die genannten Systeme abzuleiten. Sie sind überwiegend von statistisch-mechanischer Natur, und die Zustandsparameter V, p, T, U und S werden meistens in reduzierter dimensionsloser Form ausgedrückt: ~ X~ X X , ~p p p , T T T , u~ u u , ~s s s (4.259) ~ ~, ~ wobei X p, T , u~ und ~ s die reduzierten Größen und X , p , T , u und s die Reduktionsparameter sind. Ein einfacher Fall ist die reduzierte van der Waalssche Gleichung ~2 3 X ~ 1 8 T~ , ~ p3 X (4.260)
ib
d
g
in der die Reduktionsparameter durch die kritischen Größen ersetzt sind. Tait-Gleichung Eine häufig für polymere Flüssigkeiten und Polymerschmelzen verwendete Zustandsgleichung ist die Tait-Gleichung
ª¬V 0, T V p, T º¼ V 0, T
k ln ª¬1 p B T º¼
(4.261)
Dabei ist k eine dimensionslose Konstante (k = 0,0894) und B(T) eine temperaturabhängige Funktion der Einheit bar. In der Regel arbeitet man mit dem Exponentialansatz
af
BT
b
b1 exp b2 T
g
,
(4.262)
wobei b1 und b2 zwei Fitparameter und T die Temperatur in °C sind. Gleichung (4.261) ist eine empirische Gleichung und wurde 1988 von Tait aufgestellt. Sie stellt eine der besten Approximationen für das V(p,T)-Verhalten dar. Ausgewählte Werte für b1 und b2 zeigt Tabelle 4.10. Wir erkennen, dass b2 nahezu konstant ist, während b1 sehr stark von der Natur des Polymers abhängt. Tabelle 4.10: b1 und b2-Werte verschiedener Polymerschmelzen
Polymer Polyethylen Polyisobutylen Polystyrol Poly(vinylchlorid) Poly(oxymethylen) Polycarbonat Poly(dimethylsiloxan)
103 b1/bar 1,99 1,91 2,44 3,52 3,12 3,16 1,04
103 b2/°C1 5,10 4,15 4,14 5,65 4,33 4,08 5,85
238
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Theorie des freien Volumens Die Theorie des freien Volumens wurde von Prigogine und Flory begründet und stellt eine Verallgemeinerung des Modells für monoatomare Flüssigkeiten dar. Die Theorie des freien Volumens genügt den folgenden Bedingungen: 1) Die thermodynamischen Größen und die Zustandsgrößen werden aus der Zustandssumme Z des Systems berechnet: F k B T ln Z ; S ( wF / wT )V ; U F T S ; p ( wF / wV ) T ; H U p V . 2) Die Zustandssumme Z eines Systems ist separierbar in einen Anteil Zint, der nur von den inneren Freiheitsgraden der Moleküle herrührt und einen Anteil Zconf, der nur von den Koordinaten der Massenmittelpunkte der Moleküle abhängt. Zu den inneren Freiheitsgraden eines Moleküls gehören Schwingungen und Elektronenübergänge und zu den äußeren Freiheitsgraden Translations- und Rotationsbewegungen einschließlich Konformationsänderungen. 3) Die Konfigurationsenergie U eines Systems ist gleich der Summe der Wechselwirkungsenergien aller Molekülpaare. 4) Die Wechselwirkungsenergie H eines Molekülpaars ist von der allgemeinen Form
H r H M V V
wo M eine universelle Funktion und V der Abstand der Moleküle oder Molekülsegmente ist. H* und V* sind Energie- und Abstandsparameter; häufig sind dies die Energie und der Abstand des Potentialminimums. Bei Verwendung eines Lennard-Jones-6-12-Potentials
H r H ª« V V ¬
12
2 V V
º»¼ 6
liefert die statistisch-thermodynamische Behandlung eine reduzierte kalorische und eine reduzierte thermische Zustandsgleichung: ~ 4 2 X ~ 2 u~ X ~ T~ ~ pX
d1 0,5
16
X~ 1 3
1
i d4 T~i dX~
2
~ 4 X
i
(4.263)
Für ein Lennard-Jones-3-f-Potential ergibt sich ~ 1 u~ X ~ T~ ~ pX
(4.264)
~ X~ 1 3 X~ 1 3 1 1 T X~
d
i d i
mit X N A V 3 r , u N A H q , s N A k B f , T H q / ( k B f ) und p H q / (V 3 r ) . Dabei sind r die Anzahl der Segmente pro Polymermolekül, q die Zahl der Segment-SegmentKontakte und 3 f die Zahl der äußeren Freiheitsgrade eines Polymermoleküls. In Abbildung 4.39 ist das V(p, T)-Verhalten von Polystyrol nach Gleichung (4.264) zusammen mit experimentellen Werten dargestellt. Man erkennt, dass die experimentellen Werte durch die Theorie des freien Volumens recht gut beschrieben werden. Die Zustandsgleichungen (4.263) und (4.264) können auch auf Polymermischungen und Polymerlösungen angewendet werden. Dabei können die Größen r, q und f als mittlere Werte der entsprechenden Größen für das Lösemittel oder die Polmerkomponente 1 (Index 1) und das Polymer oder die Polymerkomponente 2 (Index 2) aufgefasst werden: r
x1 r1 x 2 r2 ; q
x1 q1 x 2 q 2 ; f
x1 f 1 x 2 f 2
(4.265)
4 Das Makromolekül in Lösung
239
wobei xi der Molenbruch der Komponente i ist. Unter der Annahme, dass die Abstände der Potenti alminima der Komponente 1 V 11 und der Komponente 2 V 22 gleich groß sind, ist das mittlere charakteristische Potential der Lösung
H
X 12 H 11 2 X 1 X 2 H 12 X 22 H 22
(4.266)
mit X 1 x1 q1 / q und X 2 x 2 q 2 / q . Mit Hilfe der Beziehungen (4.265) und (4.266) erhält man eine Gleichung für die Freie Mischungsenthalpie Gm und daraus mit Hilfe von Gleichung (4.91) für den Parameter F ~ ~ ~ F u~1 T1 Z 1 2 c~p,1 O2 ~p1 X~ 1 T1 D~ 1 T1 O G Z (4.267)
d
mit Z
d2 H
12
i a f H H i H
11
22
d
11 ,
G
H
a
i
22
H11
f
H11 und O 1 q1 f 2 q2 f1 ; c~p ,1 ist die reduzier-
~ der reduzierte Ausdehnungskoeffizient der Komponente 1 (Lösemittel). te Wärmekapazität und D 1 Diese können aus den Gleichungen (4.263) oder (4.264) berechnet werden. Die Gleichung (4.267) erlaubt es, druckabhängige Phänomene und das gesamte Phasenverhalten von Polymerlösungen qualitativ richtig zu beschreiben. Besonders eindrucksvoll ist, dass mit dieser Theorie das gesamte Phasenverhalten einschließlich der oberen und der unteren kritischen Lösungstemperaturen TUCST und TLCST richtig beschrieben wird (siehe Abbildungen 4.17 und 4.18). Der quantitative Erfolg der Theorie des freien Volumens kann noch verbessert werden. Löchermodell Beim Löchermodell geht man von einem Gitter aus, das nicht vollständig mit Lösemittelmolekülen oder Polymersegmenten besetzt ist; es existieren daher unbesetzte Gitterplätze (Löcher). Man kann auch sagen, dass ein Zweikomponentensystem zu einem Dreikomponentensystem mit Komponente 1, Komponente 2 und Komponente 3 = Loch wird. Bei tiefen Temperaturen und/oder hohen Drücken sind nur wenige Löcher vorhanden, und mit steigender Temperatur und/oder fallendem Druck nimmt ihre Anzahl stetig zu. Das Volumen des Systems ist dementsprechend eine Funktion der Lochkonzentration. Letztere lässt sich durch Minimierung der Freien Enthalpie berechnen. Nach Sanchez und Lacombe (1976) ergibt sich für die Zustandsfunktion: ~ T~ X ~ ln 1 1 X ~ 11 r 1 X ~ 1 X ~ T~ ~ pX (4.268)
g a
b
fb g
d i
mit r = Anzahl der Segmente des Polymermoleküls, die je einen Gitterplatz besetzen, T H / k B , p k B T / X , X Volumen pro Gitterplatz , H = Segment-Kontaktenergie ~ X * ist abhängig von der Zahl der Komponenten; es kann als Volumen pro PoDas Volumen X X lymersegment gedeutet werden.
X
V Nr
Polymer und Lösemittel: X
V Nr
1 Komponente:
bN bN
g ar N f r N g ar N f
0
r N
(4.269)
0
N1
(4.270)
wobei N0 die Zahl der Löcher, N1 die Zahl der Lösemittelmoleküle, r die Zahl der Polymersegmente pro Polymermolekül und N die Zahl der Polymermoleküle bedeuten. Werte für die Reduktionsparameter für einige Polymere sind in Tabelle 4.11 zusammengestellt. Sie beschreiben die experimentellen Ergebnisse recht gut (vgl. Abbildung 4.39). Die Temperaturintervalle, auf die die Gleichungen (4.263), (4.264) und (4.268) angewendet werden können, sind allerdings begrenzt.
240
4.2 Thermodynamik von Polymerlösungen
Tabelle 4.11: Zustandsparameter für das Löcher-Modell
Polymer
T*/K
X*/(cm3/mol)
p*/MPa
U*/(g/cm3)
Poly(vinylacetat) Polyisobutylen Polyethylen (linear) Polyethylen (verzweigt) Polystyrol
590 643 649 673 735
9,64 15,1 12,7 15,6 17,1
509 354 425 359 357
1,283 0,974 0,904 0,887 1,105
Temperaturbereich in K 308 – 373 326 – 383 426 – 473 408 – 471 388 – 468
Abbildung 4.39: Das spezifische Volumen X als Funktion der Temperatur T für verschiedene Drücke p von ataktischem Polystyrol. Die durchgezogene Kurve wurde mit Hilfe des Löcher-Modells (T = 735 K, U = 1,105 g/cm3) und die gestrichelte Kurve mit Hilfe der Theorie des freien Volumens (T = 8104 K, X = 0,823 cm3/g, p = 474 MPa) berechnet (R. Boyd et al., 1993)
4 Das Makromolekül in Lösung
241
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen Zur Charakterisierung von Makromolekülen gehört die Bestimmung von Struktur, Größe, Form und Eigenschaften der Makromoleküle. Bezüglich der wichtigen Kenngrößen Molmasse, Molmassenverteilung und Radius des Makromoleküls unterscheidet man absolute und relative Methoden. Bei den Absolutmethoden können die vorgenannten Größen ohne weitere Annahmen direkt aus der Messgröße berechnet werden. Bei den Relativmethoden muss erst eine Eichbeziehung zwischen diesen Größen und der Messgröße aufgestellt werden. Äquivalentmethoden gehören ebenfalls zu den Absolutmethoden; sie setzen die Kenntnis der Struktur des Makromoleküls voraus. Die wichtigsten Methoden zur Bestimmung der Molmasse und der Molmassenverteilung von Makromolekülen sind in der folgenden Tabelle zusammengefasst. Außerdem sind für die jeweilige Methode die Art der gemessenen Mittelwerte und der Bereich der Molmasse angegeben, der mit der Methode detektierbar ist. Tabelle 4.12: Methoden zur Bestimmung von Molmassen und Molmassenverteilungen
Methode Absolutmethoden Osmotischer Druck (OS) Dampfdruckosmose Kryoskopie, Ebullioskopie Isotherme Destillation Ultrazentrifugation (UC) Sedimentationsgeschwindigkeit (AUCSV) Sedimentationsgleichgewicht (AUCSE) Statische Lichtstreuung (SLS) Röntgenkleinwinkelstreuung (SAXS) Neutronenkleinwinkelstreuung (SANS) Dynamische Lichtstreuung (DLS) Massenspektrometrie (MS) Relativmethoden Viskosität Größenausschluss-Chromatographie (SEC, GPC) Feld-Fluss-Fraktionierung (FFF) Äquivalentmethoden Endgruppenanalyse
Molmassenmittelwerte Bereich in g/mol 104 M M M
< < <
> > > > >
1 102 M < 5 106 M > 1 102
Mn
M < 5 104
Mn Mn Mn Mn
Zur Bestimmung der Molmassenverteilung von Makromolekülen können nicht fraktionierende Methoden (AUCSE, SLS, SAXS, SANS, DLS) oder fraktionierende Methoden (klassische Fraktionierung, AUCSV, MS, SEC, FFF) eingesetzt werden. Für höhere Genauigkeiten und komplizierte Molmassenverteilungen sind die fraktionierenden den nicht fraktionierenden Methoden vorzuziehen. Die folgende Tabelle gibt einen Überblick über die wichtigsten absoluten Methoden zur Bestimmung von Molmasse, Molmassenverteilung und thermodynamischen Eigenschaften von Makromolekülen in Lösung. Die einzelnen Gleichungen werden in den nachfolgenden Kapiteln erklärt und diskutiert.
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
242
Tabelle 4.13: Absolute Methoden zur Bestimmung von Molmasse, Molmassenverteilung und thermodynamischen Eigenschaften von Makromolekülen
Osmotischer Druck
S
R T c
; S
1 M n A2 c A3 c 2 ...
U g 'h
Sedimentationsgeschwindigkeit
DJ
S E 1 X 2 U R T 1/ M EJ 2 A2 c 3 A3 c 2 . . . ; S
wM
g S dS d M ; g S
1 c0 dc dr r
dr
rm r Z 2 t ; S 2
dt Z 2 r
f M ; J
Sedimentationsgleichgewicht
d r 2 1 X2 U Z 2 2 R T d(ln ci ) M i 2 ¦ A2ik ck . . . ; i 1, 2, . . . , q k
Uw x
f
ª¬c x c0 º¼ c o0 0
³ w M U x, M d M 0
U x, M O M exp O M x (exp O M 1)
x
r
2
rm2
r
2 b
rm2 ; O
1 X U Z r 2
2 b
2
rm2 R T
Statische Lichtstreuung (SLS) ; Röntgenkleinwinkelstreuung (SAXS) Neutronenkleinwinkelstreuung (SANS) K c R(q) 1 M w Pz (q) 2 A2 c 3 A3 c 2 . . . Pz (q)
¬ª K c R(q) M w ¼º co0 N
f
1 M w ³ w( M ) M P(q, M ) d M 0
N
1 N ¦¦ ¢sin q h
P q, M
q hij ²
2
ij
;
q
4 O sin T 2
i 1 j 1
Dynamische Lichtstreuung (DLS) lim g 2 t c o0
g1 t
f
A B ª¬ g1 t º¼
n
; n =1: heterodyne; n = 2: homodyne
³ G * exp * t d*
; *
0
G *
w M M P q, M M w Pz q
D q 2 6 DR ; D
f M
D c
4 Das Makromolekül in Lösung
243
4.3.1 Kolligative Eigenschaften 4.3.1.1 Membranosmose Wir fragen uns an dieser Stelle, wie man die Größen M2, A2, A3, . . . experimentell bestimmt. Wenn wir Gleichung (4.54) betrachten, müssten wir zuerst das relative chemische Potential 'P 1real messen
und anschließend 'P1real
RT V c 0 1 2
gegen c2 auftragen. Die Extrapolation dieses Ausdrucks auf
c2 = 0 würde den Kehrwert der Molmasse M2 des gelösten Stoffes liefern, und aus der Anfangssteigung dieser Kurve ergäbe sich A2. Dieser theoretische Ansatz ist nicht realisierbar. Man kann 'P 1real nicht messen. Glücklicherweise gibt es aber eine Reihe physikalischer Größen, die mit 'P 1real in einfacher Beziehung stehen. Dazu zählen der Dampfdruck, die Gefrierpunktserniedrigung, die Siedepunktserhöhung und der osmotische Druck. Sie werden kolligative Eigenschaften genannt. Von den zugehörigen Messmethoden sind nur die Methoden des Dampfdrucks und der Osmose dazu geeignet, die Molmasse eines Makromoleküls zu bestimmen. Die anderen Messmethoden sind nicht empfindlich genug.
Abbildung 4.40: Modell einer Osmose-Zelle
Abbildung 4.40 zeigt eine typische Osmose-Zelle. Sie besteht aus zwei Kammern. Kammer I ist mit dem Lösemittel und Kammer II mit der Lösung gefüllt. Die Konzentration der Lösung sei c2. Die beiden Kammern sind durch eine semipermeable Wand voneinander getrennt. Diese ist für die Lösemittelmoleküle durchlässig und für die gelösten Moleküle (Polymere) undurchlässig. Das chemische Potential des Lösemittels in Kammer I sei P1I und das in Kammer II P1II . Direkt nach Einfüllen von Lösemittel und Lösung gilt: P1I P10 und P1II P10 RT ln f i x1 P1I . Der gelöste Stoff ist also bestrebt, das chemische Potential des Lösemittels in Kammer II zu erniedrigen (f1 < 1 und x1 < 1). Das hat zur Folge, dass Lösemittelmoleküle solange von Kammer I nach Kammer II diffundieren, bis P 1I gleich P 1II ist. Die Lösung in Kammer II wird dadurch verdünnt, die Flüssigkeitssäule in der angeschlossenen Kapillare steigt, und der Druck pII, der auf Kammer II lastet, wird größer. Je größer aber der Druck pII ist, desto kleiner ist der Diffusionsstrom der Lösemittelmoleküle. Bei einem bestimmten Punkt pII versiegt der Diffusionsstrom schließlich ganz. In diesem Gleichgewicht gilt: pII p0 S (4.271)
Dabei ist p0 der Atmosphärendruck und S der osmotische Druck. Letzterer lässt sich experimentell aus der Steighöhe 'h ermitteln. Es gilt: S U g 'h (4.272)
244
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
wobei U die Dichte des Lösemittels (der Lösung) und g die Erdbeschleunigung sind. Bei einem Anstieg des Druckes pII von p0 auf p0 + S steigt gleichzeitig das chemische Potenp0 S
³ wP1
tial P1II von P1(p0) auf
wp T dp . Im Gleichgewicht beim Druck pII* gilt somit:
p0
P1 p0
P1II pII*
p0 S
³ wP1
wp T dp
(4.273)
p0
Außerdem gilt:
P1I p0 P10
P1II pII*
(4.274)
Daraus folgt:
P1 p0 P10
'P1
p0 S
³ wP1
wp T dp
(4.275)
p0
(wP1/wp)T ist das partielle molare Volumen V1 des Lösemittels in der Lösung. Für verdünnte Lösungen kann man V1 in guter Näherung durch das Molvolumen V10 ersetzen. V10 ist im Intervall [p0, p0 + S] nahezu druckunabhängig. Wir können Gleichung (4.275) somit umformen zu 'P1 = V10 S. Mit Gleichung (4.54) folgt schließlich:
S
'P
1
V10
R T c >1 M A2 c . . .
@
(4.276)
wobei wir c2 durch c und M2 durch M ersetzt haben. In der Praxis wird S bei konstanter Temperatur für etwa 4 bis 10 verschiedene Konzentrationen c gemessen. Man trägt dann meist S / c gegen c auf. Das ergibt eine Kurve, deren Achsenabschnitt gleich R T /M und deren Anfangssteigung gleich R T A2 ist. Ein Beispiel für eine solche Auftragung zeigt Abbildung 4.41. Der derzeitige Stand der Messtechnik erlaubt es, osmotische Drücke bis hinunter zu 100 Pa zu vermessen. Für eine 1%ige-Lösung bei 25 oC entspricht dieser Druck einer Molmasse von ca. 250.000 g/mol. Makromoleküle mit einer größeren Molmasse müssen mit anderen Methoden wie z.B. der statischen Lichtstreuung untersucht werden. Die Osmose-Messtechnik erlaubt es aber auch nicht, beliebig kleine Molmassen zu bestimmen. Die untere Grenze für die Molmasse liegt bei etwa 20.000 g/mol. Sie hängt von der Güte der semipermeablen Wand ab. Die Porengröße der benutzten Membran muss so groß sein, dass die Lösemittelmoleküle sie ungehindert durchdringen können. Sie muss aber auch klein genug sein, damit die gelösten Moleküle nicht durch sie hindurch diffundieren. Wir haben bisher angenommen, dass alle Makromoleküle unserer Lösung die gleiche Molmasse M2 besitzen. Das ist aber im Allgemeinen nicht der Fall. Wir fragen uns deshalb, welche Art von Mittelwert unsere gemessene Molmasse M darstellt. Dazu betrachten wir die Konzentration c. Sie gibt die Masse aller Makromoleküle an, die pro dm3 Lösemittel gelöst sind. Es gilt also: c
¦ ni M i
V
i
Dabei ist Mi die Molmasse eines Makromoleküls der Sorte i und ni die zugehörige Anzahl der Mole der Molekülsorte i. Die totale Anzahl der Mole aller gelösten Makromoleküle ist nt = 6 ni. Die mittlere Molmasse M der Makromoleküle in unserer Lösung ist somit:
M
c V / nt
¦ ni M i ¦ ni i
i
¦ xi M i
Mn
i
Das bedeutet (vgl. Kapitel 2.1): Die Methode der Osmose liefert für M den Mittelwert Mn.
(4.277)
4 Das Makromolekül in Lösung
245
Abbildung 4.41: Reduzierter osmotischer Druck S/c in Abhängigkeit von der Konzentration c und der Temperatur T. Polystyrol (Mn = 2,03 105 g/mol) in Cyclohexan bei T = 30, 40 und 50 oC (W.R. Krigbaum, J.Am.Chem.Soc., 76(1954)3758)
4.3.1.2 Dampfdruckosmose Zur Molmassenbestimmung von Polymeren mit Molmassen, die kleiner als 50.000 g/mol sind, werden häufig thermoelektrische Dampfdruck-Osmometer eingesetzt. Obwohl die Dampfdruckosmose vom Prinzip her eine Absolutmethode ist, wird eine Eichung des Geräts mit einer Substanz bekannter Molmasse vorgenommen; dadurch degeneriert die Dampfdruckosmose zur Relativmethode.
Abbildung 4.42a: Schematischer Aufbau eines Dampfdruck-Osmometers. LM = Lösemittel Lsg = Lösung
Abbildung 4.42b: Temperaturdifferenz in einem Dampfdruckosmometer als Funktion der Konzentration.
Den prinzipiellen Aufbau eines Dampfdruck-Osmometers zeigt Abbildung 4.42a. In einer temperierten Messzelle befindet sich ein für das Polymer geeignetes Lösemittel im Gleichgewicht von flüssiger und gasförmiger Phase. In der gasförmigen Phase werden auf zwei abgeglichene Thermistoren jeweils ein Tropfen Lösemittel und ein Tropfen Polymer-Lösung bekannter Konzentration aufgebracht. Da der Dampfdruck des Lösemittels in der Polymer-Lösung niedriger als der Dampfdruck des reinen Lösemittels ist, kondensiert Lösemitteldampf auf den Lösungstropfen und bewirkt durch die Kondensationswärme eine Temperaturerhöhung 'T, die von den Thermistorenwiderständen gemessen wird. Ein echtes Gleichgewicht wird dabei nicht erreicht, wohl aber ein stationärer Zustand, bei dem die Wärmeverluste durch Strahlung in den Dampfraum und durch Wärmeleitung über die Drähte der Thermistoren durch die Kondensationswärme des Lösemittels kompensiert werden. Die theoretische Behandlung der Dampfdruckosmose ergibt aus der Betrachtung der Wärmebilanz und der zeitlichen Temperaturänderung des Lösungstropfens, dass die gemessene Temperaturänderung T T0 'T proportional zur Konzentration c und umgekehrt proportional zur Molmasse des gelösten Polymers ist:
246
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
T T0
'T
K V c 1 M A2c c A3c c 2 +. . .
(4.278)
Dabei sind A2c , A3c , . . . Nichtidealitäts-Parameter. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt man, wenn man die Dampfdruckosmose nach den Regeln der Gleichgewichtsthermodynamik behandelt; allerdings sind die dann auftretenden Virialkoeffizienten des osmotischen Drucks A2 , A3 , . . . nicht mit den Größen A2c , A3c , . . . vergleichbar. Die Bestimmung der Konstanten KV erfolgt durch experimentelle Bestimmung der Temperaturdifferenz 'T, einer Eichsubstanz bekannter Molmasse bei verschiedenen Konzentrationen und anschließender Extrapolation auf c = 0. Bei Kenntnis der Konstanten KV, die im übrigen eine Funktion des Lösemittels und der Konzentration ist, kann durch Vermessen der zu untersuchenden Substanz deren Molmasse nach Gleichung (4.278) bestimmt werden. Da es sich hierbei um eine kolligative Eigenschaft handelt, ist M das Zahlenmittel der Molmasse. 4.3.2 Ultrazentrifugation
Abbildung 4.43: Schematischer Aufbau einer modernen Ultrazentrifuge (Beckman Instruments Inc.)
4 Das Makromolekül in Lösung
247
Die analytische Ultrazentrifuge (AUC) ist eine sehr bedeutende Methode zur Bestimmung absoluter Größen von Polymeren wie Molmasse, Molmassenverteilung, Sedimentationskoeffizient, Diffusionskoeffizient und osmotischer Virialkoeffizient. Auf die Vor- und Nachteile der AUC gegenüber den anderen Methoden zur Charakterisierung von Polymeren ist in der Einführung zu Kapitel 4.3 eingegangen. Abbildung 4.43 zeigt den schematischen Aufbau einer modernen Ultrazentrifuge. 4.3.2.1 Sedimentationsgeschwindigkeit Grundlagen Bei der Sedimentationsgeschwindigkeit nehmen wir an, dass Teilchen in einer Lösung von im Allgemeinen niedriger Konzentration einer Zentrifugalbeschleunigung a = Zr (Z 2SN = Winkelgeschwindigkeit und r = Abstand der Teilchen von der Rotationsachse) ausgesetzt werden. Durch die Zentrifugalkraft FZ = m2 a = m2 Zr (m2 = Masse eines gelösten Moleküls) werden die einzelnen gelösten Moleküle nach ihrer Größe und Form verschieden schnell zum Zellenboden sedimentiert.
Abbildung 4.44: Krafteinwirkungen auf ein Teilchen im Zentrifugalfeld
Dieser Sedimentationsbewegung wirken folgende Kräfte entgegen: (1) die Reibungskraft FR, welche die Moleküle bei ihrem Weg durch das Lösemittel erfahren; sie lässt sich aus der Definitionsgleichung für die Viskosität F = K A dw/dx berechnen und ergibt, dass die Reibungskraft FR proportional der Geschwindigkeit der sedimentierenden Teilchen ist. (4.279) FR = f2cdr/dt Für Kugeln mit dem Radius R2, die durch eine Flüssigkeit mit der Viskosität K gezogen werden, ist der Reibungskoeffizient f2c = SKR2 (Stokessches Gesetz). (2) die Auftriebskraft FA = m2 X2 U Zr. Für verdünnte Lösungen gilt U|U1. (U= Dichte der Lösung, U1= Dichte des Lösemittels,X2 = partielles spezifisches Volumen des gelösten Moleküls). Nach dem Anschalten des Zentrifugalfeldes stellt sich nach kurzer Zeit ein stationärer Zustand ein, bei dem die Zentrifugalkraft von der Reibungskraft und der Auftriebskraft kompensiert wird und die gelösten Teilchen mit konstanter Geschwindigkeit zum Zellenboden sedimentieren:
FZ
FR FA ; m2 Z 2 r
f 2c dr dt m2 X 2 U Z 2 r
(4.280)
Eine Umstellung von Gleichung (4.280) ergibt die Bewegungsgleichung für die Sedimentation: M 2 1 X 2 U Z 2 r
f dr dt
(4.281)
(M2 = NA m2 = Molmasse der gelösten Teilchen, f = NA f2c = Reibungskoeffizient pro Mol). Hieraus erhält man mit Hilfe der Einstein-Gleichung für den Zusammenhang von Reibungskoeffizient und Diffusionskoeffizient (siehe Kapitel 4.3.5) D f = R T (1 + 2 M2 A2 c2 + ...) und der Definition für den Sedimentationskoeffizienten (4.282) S = (dr/dt)/(Z2 r) die berühmte Svedberg-Gleichung zur Bestimmung der Molmasse von gelösten Polymeren bei der Sedimentationsgeschwindigkeit
248
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
D S 1 X2 U
R T 1 M 2 A2 c ...
,
(4.283)
wobei M2 durch M und c2 durch c ersetzt wurden. Die Svedberg-Gleichung ist allgemein gültig und unabhängig von Annahmen; sie reduziert sich im Falle idealer Lösungen auf die Form
D0
S0 1 X 2 U
RT M,
(4.284)
wobei D0 und S0 die auf die Konzentration c o 0 und den Druck p o 1 extrapolierten Werte von S und D sind. Es gilt: 1 S 1 S 1 k c k c 2 ... (4.285) 0
S
S
D
D0 1 kD c kD c 2 ...
S
S0 1 P p
(4.286) (4.287)
Üblicherweise werden S und D getrennt gemessen und nach c o 0 extrapoliert. Aus den Anfangssteigungen der Diagramme S = f (c) und D = f (c) ergibt sich aus den Gleichungen (4.283), (4.285) und (4.286) bei Vernachlässigung höherer Terme der Zusammenhang
mit
1 kS c 1 kD c 1 2 M A2 | kD kS 2 M
A2 c
(4.288) (4.289)
Die exakte Behandlung der Sedimentationsgeschwindigkeit geht von der Kontinuitätsgleichung aus:
Abbildung 4.45: Abstände in einer Sektorzelle rm = Radius des Meniskus rb = Radius des Bodens
Bei Betrachtung eines zylindrischen Volumenelements an den Stellen r und r + dr ist die sekündliche Änderung der Konzentration des Gelösten an der Stelle r gleich (dc/dt)r. Diese ist gleich der Differenz der an der Stelle r eintretenden und an der Stelle r + dr austretenden Ströme. Es gilt:
dc d t r
1 q ª¬ d q J dr º¼ t
(4.290)
Mit q = r l (l = Dicke der Zelle) erhält man hieraus
dc dt r
1 r ª¬d r J dr º¼ t
(4.291)
Dieses ist die Kontinuitätsgleichung. Der Fluss J setzt sich zusammen aus dem Diffusionsfluss JD = D(dc/dr) und dem Sedimentationsfluss JS = (dr/dt) c = S c Z2 r; der Gesamtfluss J ist dann J = JS + JD = S c Z2 r D(dc/dr). Mit diesen Beziehungen erhält man die Lammsche Differentialgleichung
dc dt r 1 r d
dr ª¬ r D dc dr S Z 2 r 2 c º¼
(4.292)
Die oben abgeleiteten Gleichungen gelten jeweils für eine gelöste Komponente i oder ein monodisperses System. Für polydisperse Systeme erhält man je nach Messverfahren und Auswertung verschiedene Mittelwerte des Sedimentations- und Diffusionskoeffizienten SE und DJ und bezüglich der Svedberg-Gleichung ein doppeltes Molmassenmittel MEJ .
4 Das Makromolekül in Lösung
SE
DJ
DJ
ªf º E 1 S M dM » «³ w M M ¬« 0 ¼»
f
ªf º J 1 « ³ w M M D M dM » ¬« 0 ¼»
f
S E 1 v2 U1
³ w M M
E 1
f
dM
³ w M dM
;
0
³ w M M
J 1
0
R T 1 M EJ 2 A2 c ...
249
1
(4.293)
0
f
dM
;
³ w M dM
1
(4.294)
0
(4.295)
Für polydisperse Polymere erhält man daher verschiedene Mittelwerte der Molmasse, je nachdem, welche Mittelwerte des Sedimentations- und Diffusionskoeffizienten eingesetzt werden. Mit E = n, w, z,... und J = n, w, z,.... erhält man die mittleren Sedimentationskoeffizienten Sn, Sw, Sz usw., die mittleren Diffusionskoeffizienten Dn, Dw, Dz usw. und die mittleren Molmassen Mn,n, Mn,w, Mw,w usw. Letztere sind verschieden von den mittleren Molmassen Mn, Mw, Mz usw., können aber in diese umgerechnet werden (siehe Kapitel 2.1). Die Abhängigkeiten des Sedimentationskoeffizienten und des Diffusionskoeffizienten von der Molmasse des gelösten Polymers sind durch die Gleichungen S
D
kS M aS
kD M
(4.296)
aD
(4.297)
gegeben, wobei kS, aS, kD und aD Konstanten für jedes Polymer-Lösemittelsystem bei gegebener Temperatur und gegebenem Druck sind. Neben der Bestimmung der Molmasse und der thermodynamischen Eigenschaften kann aus Sedimentationsgeschwindigkeitsmessungen auch die Molmassenverteilung der gelösten Polymere bestimmt werden. Falls es gelingt, den Diffusionseinfluss zu separieren, so kann direkt aus der Verteilung des Sedimentationskoeffizienten g(S) mit Hilfe einer S(M)-Beziehung auf die Molmassenverteilung umgerechnet werden. dwS
f
g S dS
mit
³ g S dS
1
(4.298)
0
dws ist der differentielle Massenanteil des Polymers, dessen Werte für S zwischen S und S + dS liegen. Falls eine Beziehung zwischen S und M existiert, so erhält man die Molmassenverteilung w(M) mit Hilfe der Gleichung w M dM
g S dS
(4.299)
Durch Einsetzen von Gleichung (4.296) in Gleichung (4.299) erhält man für die Molmassenverteilung w(M) wM
g S KS1 aS aS S 11 aS
(4.300)
Die Verteilung der Sedimentationskoeffizienten g(S) erhält man über die experimentell bestimmbare Größe dc/dr mit Hilfe der Gleichung: g S d c dS
1 c0 dc
dr dr dS
(4.301)
Normalerweise werden sektorförmige Zellen in der Ultrazentrifuge verwendet. Für diese muss die quadratische Verdünnungsregel für die radiale Verdünnung berücksichtigt werden: c c0
rm r 2
(4.302)
wobei c0 die eingewogene Konzentration, rm der Abstand des Meniskus von der Rotationsachse und c die Konzentration der Sedimentationsgrenze beim Abstand r sind.
250
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Daraus folgt mit der Definitionsgleichung für S, Gleichung (4.282) und der radialen Verdünnungsregel, Gleichung (4.302) g S
1 c0 dc
dr r rm r 2
tc
³Z
2
dt
(4.303)
t0
Für die Molmassenverteilung erhält man dann aus Gleichung (4.299) und (4.303) wM
1 c0 dc
tc
dr r rm r KS1 aS aS S 11 aS ³ Z 2 dt 2
(4.304)
t0
Das gleiche Verfahren kann zur Bestimmung der Molmassenverteilung aus der Verteilung des Diffusionskoeffizienten g(D) mit Hilfe einer Beziehung zwischen D und M angewendet werden. Ist eine Separierung der beiden Einflüsse nicht ohne weiteres möglich, so wird eine differentielle S-DVerteilung definiert dwS,D
g S , D dS dD
f f
mit
³ ³ g S , D dS dD
1
,
(4.305)
0 0
wobei dwS,D der differentielle Massenanteil des Polymers ist, dessen Werte für S und D zwischen S und S + dS und zwischen D und D + dD liegen. Die Verteilung g(S) erhält man einmal durch Integration von g(S, D) über D g S
f
³ g S , D dD 0
(4.306) und hieraus dann wieder die Molmassenverteilung w(M) nach der Gleichung (4.299), oder die Funktion g(S,D) wird mit Hilfe einer Beziehung zwischen S und D in w(M) umgerechnet. Für knäuelförmige Polymere gilt z.B. S D = constant. Daneben gibt es noch eine Reihe von anderen Möglichkeiten zur Bestimmung der Molmassenverteilung mit der Ultrazentrifuge, die in der Literatur zu finden sind. Neben der Bestimmung von Molmassen, Molmassenverteilungen und thermodynamischen Eigenschaften ist die Sedimentationsgeschwindigkeit eine elegante Methode, um Teilchengrößen und Teilchengrößenverteilungen von Polymerdispersionen im Größenbereich 5 nm < R2 < 2000 nm zu bestimmen. Die Bewegungsgleichung für die Sedimentation (4.280) können wir umstellen zu m2 (1 X2 U) Z2 r = f2c dr/dt Mit Hilfe der Beziehungen U2 = m2/V2 (V2 = Volumen des dispergierten oder gelösten Teilchens), X2 = 1/U2, f2c = 6 SKd2/2) (Stokessches Gesetz, d2 = Durchmesser des Teilchens) und der Definitionsgleichung für den Sedimentationskoeffizienten (4.282) erhalten wir daraus V2 (U2 U) = 6 SK (d2/2) S Mit V2 = (4 S/3) (d2/2)3 ergibt sich für den Teilchendurchmesser d2: , (4.307) d2 = [18 KS (U2 U)]1/2 wobei für verdünnte Lösungen die Dichte der Lösung U durch die Dichte des Lösemittels U1 ersetzt werden kann. Für Teilchenradien d2 > 10 nm und entsprechend hohen Sedimentationsgeschwindigkeiten können Diffusionseffekte bei der Bestimmung der Teilchengrößen vernachlässigt werden, so dass die Teilchenradien direkt aus Ultrazentrifugenmessungen erhalten werden. Polydisperse Substanzen werden nach Gleichung (4.307) bei der Sedimentation in Abhängigkeit vom Durchmesser fraktioniert. Aus den experimentell ermittelten Sedimentationsgeschwindigkeitskurven, die ähnlich wie Abbildung 4.46 und 4.47 aussehen, kann man nach Gleichung (4.282) und (4.307) für jeden Abstand von der Rotorachse r den Teilchendurchmesser d2 berechnen. Die
4 Das Makromolekül in Lösung
251
Signalhöhe ist ein Maß für den Massenanteil der Teilchengröße, so dass hieraus direkt Teilchengrößenverteilungen bestimmt werden können. Messmethodik Abbildung 4.46 zeigt das Schema eines Sedimentations-Geschwindigkeitslaufs. Oben ist die sektorförmige Zelle, in der Mitte der Konzentrationsverlauf des gelösten Polymers c = f(r) und unten der Verlauf des Konzentrationsgradienten dc/dr = f(r) zu sehen.
Abbildung 4.46: Schema eines SedimentationsGeschwindigkeitslaufs r = Radius von der Rotormitte aus rm = Radius des Meniskus rb = Radius des Bodens FZ = Zentrifugalkraft
Abbildung 4.47 zeigt als Beispiel den Verlauf des Konzentrationsgradienten zu verschiedenen Sedimentationszeiten für das System Dextran/Wasser bei einer Konzentration. Hieraus erhält man den Sedimentationskoeffizienten durch Integration von Gleichung (4.282) S
¬ªln r rm ¼º
tc
³Z
2
dt
,
(4.308)
t0
wobei rm der Abstand zwischen der Rotationsachse und dem Meniskus ist. Häufig wird zur Berechnung von S das Maximum der Sedimentationskurven aus Abbildung 4.47 genommen und ln(rmax/rm) gegen ³ Z2 dt aufgetragen; aus der Steigung erhält man dann Smax; in Abbildung 4.48 ist Smax für verschiedene Konzentrationen c0 aufgetragen und Smax für unendliche Verdünnung Smax,0 bestimmt worden.
252
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Abbildung 4.47: Sedimentationsgeschwindigkeit für Dextran T70 (Mw = 6,8 105 g/mol) in Wasser bei 25 oC (U1 = 0,997 g/cm3; X2 = 0,6072 cm3/g; c0 = 3,0 g/dm3; N = 40.000 min1; t = 50, 75, 93, 120, 138, 158, 178, 205 und 226 min)
Abbildung 4.48: Reziproker Sedimentationskoeffizient Smax (Gleichung (4.285)) und Diffusionskoeffizient DA (Gleichung (4.286)) als Funktion der Konzentration c0. Dextran T70 in Wasser
Für konstantes Z ist das Integral in Gleichung (4.308) gleich Z2(t t0). Für einen Geschwindigkeitslauf ist die Bedingung einer konstanten Winkelgeschwindigkeit niemals gegeben, da die Ultrazentrifuge eine beträchtliche Zeit zur Erreichung der Enddrehzahl benötigt und während dieser Zeit die Teilchen bereits sedimentiert sind. In der Vergangenheit wurde bei der Behandlung der Sedimentationsgeschwindigkeit häufig mit konstanter Winkelgeschwindigkeit Z gerechnet und dieser Fehler durch Berücksichtigung einer unbekannten Anlaufzeit t0 korrigiert; t0 entspricht in diesem Fall dem spontanen Erreichen der Enddrehzahl. Für alle zukünftigen Anwendungen empfiehlt sich jedoch die Anwendung der exakten Gleichung (4.308) mit variabler, leicht zu messender Winkelgeschwindigkeit. Üblicherweise wird der Sedimentationskoeffizient aus den r-Werten des Kurvenmaximums oder des Kurvenmedians (das ist derjenige r-Wert, welcher die Sedimentationskurve in zwei flächengleiche Teile aufteilt) bestimmt. Für polymolekulare Substanzen ergeben die auf diese Weise bestimmten Sedimentationskoeffizienten komplizierte Mittelwerte. Die einfachen Mittelwerte Sn, Sw und Sz erhält man durch Auswertung der Sedimentationskurven mit Hilfe der Gleichung (4.293). Wie bereits erwähnt, ist der Sedimentationskoeffizient eine Funktion von Konzentration, Druck und Temperatur. Zur Ausschaltung der Konzentrations- und Druckeinflüsse muss S deshalb nach den Gleichungen (4.285) und (4.287) auf c = 0 und p = 0 extrapoliert werden. Aus dem Verlauf der Sedimentationskurve ist prinzipiell auch die Bestimmung des Diffusionskoeffizienten, wenn auch mit größerer Ungenauigkeit, möglich. Die Definitionsgleichung für den Diffusionskoeffizienten (siehe Kapitel 4.3.5) liefert z.B. für sein Massenmittel
4 Das Makromolekül in Lösung
Dw
ªf º ª¬1 2 t º¼ « ³ dc dr r 2 dr » ¬« 0 ¼»
ªf º « ³ dc dr dr » ¬« 0 ¼»
253
(4.309)
Aus der Diffusionskurve einfacher zu berechnen, aber komplizierter zu behandeln ist der Mittelwert DA
ªf º ª¬1 4 S t º¼ « ³ dc dr dr » ¬« 0 ¼»
dc dr max
,
(4.310)
wobei der Ausdruck im Zähler die Fläche und derjenige im Nenner die maximale Höhe der Diffusionskurve sind. Die Behandlung der Konzentrations- und Druckeinflüsse auf den Diffusionskoeffizienten erfolgt nach Gleichung (4.286) und in Analogie zum Sedimentationskoeffizienten nach Gleichung (4.287). Abbildung 4.48 zeigt die Konzentrationsabhängigkeit des Diffusionskoeffizienten DA. Hieraus kann der Diffusionskoeffizient für unendliche Verdünnung DA,0 bestimmt werden. Aus Abbildung 4.47 ist ersichtlich, dass bei einem Sedimentationsgeschwindigkeitslauf Sedimentation und Diffusion sich gegenseitig überlagern. Zur exakten Bestimmung der S- und DWerte müssen die sich gegenseitig beeinflussenden Größen getrennt werden. Hierbei macht man sich die Tatsache zunutze, dass die Diffusion proportional der Wurzel aus der Zeit und die Sedimentation direkt proportional zur Zeit ist. Zur Elimination des Diffusionseinflusses werden deshalb die gemessenen Sedimentationskoeffizienten nach t o f und zur Elimination des Diffusionskoeffizienten nach t o 0 extrapoliert. Eine weitere, heute fast ausschließlich verwendete Möglichkeit zur Bestimmung der Diffusionskoeffizienten von Polymerlösungen ist die dynamische Lichtstreuung (Kapitel 4.3.4). Abbildung 4.49 zeigt die Teilchengrößenverteilung einer Polyesterharz-Dispersion. Die Teilchendurchmesser wurden nach den Gleichungen (4.282) und (4.307) aus den Abständen r der Schlierenoptik berechnet. Die Massenanteile sind bei der Schlierenoptik direkt proportional zur Signalhöhe, so dass hieraus die integrale und die differentielle Massenverteilung w(d) und ³ w(d) bestimmt werden können, die wiederum die integrale und differentielle Zahlenverteilung x(d) und ³ x(d) (siehe Kapitel 2.1) liefern.
Abbildung 4.49: Teilchengrößenverteilung einer Polyesterharz-Dispersion. w(d) und x(d) sind auf 1 normiert.
254
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
4.3.2.2 Sedimentationsgleichgewicht
Grundlagen Die physikalische Grundlage für das Sedimentationsgleichgewicht ist die barometrische Höhenformel. Wir betrachten eine mit Teilchen gefüllte Säule mit der Einheitsgrundfläche; in einer Höhe h herrsche bei der Temperatur T der Druck p. Eine differentielle Änderung der Höhe h um dh ergibt eine Druckänderung dp und eine Gewichtsänderung U g dh, wobei U die Dichte der Teilchensäule an der Stelle h und g die Beschleunigung (Erdbeschleunigung) sind: dp U g dh (4.311) Hieraus erhält man mit den üblichen Beziehungen für den Druck p = F/A, die Dichte U = M / Vm und der idealen Gasgleichung p Vm = R T: dp p
RT ¼º dh
» g M
p
;
p0 exp ¬ª g M h RT ¼º
(4.312)
wobei g M h die potentielle Energie oder die Schwerkraft von 1 Mol Teilchen und R T die Energie der thermischen Bewegung von 1 Mol Teilchen sind. Für Teilchen, die in einem Lösemittel gelöst sind, ergeben sich ähnliche Beziehungen; statt des Drucks p geht der osmotische Druck S in die Gleichungen (4.313) und (4.314) ein. Dieser ist für ideale Lösungen proportional der Konzentration der gelösten Teilchen c: S = c R T/M. Damit erhalten wir dc c
» g M
RT ¼º dh
(4.313)
und bei Berücksichtigung der Auftriebskorrektur (s. Kapitel 4.2.2.1) dc c
ª¬ g M 1 X 2 U R T º¼ dh
(4.314)
Gleichung (4.314) eröffnet prinzipiell die Möglichkeit zur Bestimmung der Molmasse von gelösten Teilchen. Bei Anwendung der Schwerkraft ist die Konzentrationsabhängigkeit von gelösten Polymeren mit der Höhe zu gering. Deshalb werden in der Ultrazentrifuge künstlich höhere Beschleunigungen erzeugt. Aus Gleichung (4.314) ergibt sich für künstliche Beschleunigungen a = Z2 r und ideale Lösungen
d ln c 1 M r dr 1 X 2 U Z 2
RT
(4.315)
und für reale Lösungen d ln c 1 M 2 A2 c ... r dr 1 X2 U Z 2
R T
(4.316)
Gleichung (4.315) erhält man auch aus der Lammschen Differentialgleichung (4.292) für den Fall, dass sich die Konzentration an allen Stellen r nicht mehr mit der Zeit ändert, d.h. wenn (dc/dt)r = 0 gilt. Für polydisperse Systeme gilt Gleichung (4.316) für eine Komponente i q
d ln ci 1 M i 2¦ A2ik dck .....
r dr 1 X2 U Z 2 R T
i
1, 2,....q
(4.317)
k 1
Eine direkte Bestimmung der Molmassenmittelwerte für reale Lösungen ist aus Gleichung (4.317) nicht möglich, da die Virialkoeffizienten mit der Konzentration gekoppelt sind. Üblicherweise wird daher zunächst die Gleichung für ideale Systeme mit A2, A3, . . . = 0 gelöst und die so für reale Lösungen erhaltenen apparenten (scheinbaren) Molmassen nach c o 0 extrapoliert. Mit Hilfe der Definitionsgleichung für Mw und Mz (Kapitel 2.1) und Gleichung (4.317) ergeben sich
und
M w,app
1 O c
M z,app
ª1 2 O º ª1 rb dc dr 1 rm dc dr º cb cm b m¼ ¬ ¼¬
b
cm
ªc0 rb2 rm2 º ¬ ¼
(4.318) ,
(4.319)
4 Das Makromolekül in Lösung
255
1 X2 U Z 2 2 R T , cm und cb die Konzentrationen am Meniskus und am Boden und
wobei O
rm und rb die Abstände am Meniskus und am Boden sind. Division von Gleichung (4.317) durch c0,i der Ausgangskonzentration der Komponente i und Integration ergibt für alle A2ik = 0 U i x O M exp O M x ª¬exp O M 1º¼
(4.320)
mit U i x ci c0,i , dem monodispersen reduzierten Konzentrationsprofil, x dem relativen Abstand und O
1 X2 U rb2 rm2 Z 2 2 R T .
r
2
rm2
r
2 b
rm2 ,
Mit Hilfe der Beziehungen q
c
¦ ci i 1
q
c0 ¦ wi U i
q
c0
und
i 1
¦ c0,i
(4.321)
i 1
erhält man daraus eine Gleichung zwischen dem gemessenen polydispersen reduzierten Konzentrationsprofil U w x c x c0 c o0 und der Molmassenverteilung w(M) 0
U w x c x c0 c o0 0
f
³ w M U x, M dM
,
(4.322)
0
wobei U(x, M) wieder das monodisperse reduzierte Konzentrationsprofil ist. Messmethodik Abbildung 4.50 zeigt als Beispiel den Verlauf des reduzierten Konzentrationsprofils als Funktion des relativen Abstands x für ein Sedimentations-Gleichgewicht bei fünf Konzentrationen. Hieraus kann man mit Hilfe der Gleichungen (4.318) und (4.319) die mittleren Molmassen Mw und Mz und die Virialkoeffizienten bestimmen. Die Berechnung der gesamten Molmassenverteilung w(M) ist mit Hilfe von Gleichung (4.322) entweder durch eine inverse Laplace-Transformation oder durch direkte nichtlineare Regression möglich.
Abbildung 4.50: Sedimentationsgleichgewicht von Polystyrol NBS706 (Mw = 2,6 105 g/mol) in Toluol. a) Streifenzahl J als Funktion vom Abstand r. b) Reziproke scheinbare Molmasse Mw,app als Funktion der Konzentration c0.
256
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
4.3.2.3 Experimentelle Techniken Analytische Ultrazentrifugen werden mit Umdrehungszahlen bis 150.000 UpM und Beschleunigungen bis 9 105 g hergestellt. Als Antrieb wurden bei den zuletzt hergestellten Zentrifugen Elektromotoren verwendet. Abb. 4.43 und 4.46 zeigen den schematischen Aufbau und die Arbeitsweise einer analytischen Ultrazentrifuge. Zur Bestimmung der Konzentrationsverteilung in der Ultrazentrifugenzelle werden im Wesentlichen 3 Verfahren verwendet: 1) Es wird der Brechungsindexgradient dn/dr in Abhängigkeit von r gemessen (Schlieren-Optik). dn/dr ist mit gewissen Annahmen proportional dem Konzentrationsgradienten dc/dr dn/dr = (dn/dc)/(dc/dr) , (4.323) wobei (dn/dc) das spezifische Brechungsindex-Inkrement ist. 2) Die Interferenzoptik misst die Verschiebung der parallelen Interferenz-Linien in der Lösung 'j(r). Diese Verschiebung ist proportional zur Differenz der Polymer-Konzentrationen am Meniskus und an der Messstelle im Abstand r. Sie wird mit 'c(r) bezeichnet. Zur Bestimmung der absoluten Konzentration muss daher noch die Konzentration am Meniskus cm oder die Streifenzahl am Meniskus jm bestimmt werden. Dies kann mit Hilfe der Gleichung über die Massenerhaltung durchgeführt werden. Es gilt: (4.324) c(r) = j(r) O/[l (dn/dc)]
j(r) = 'j(r) + jm jm
(4.325) rb
³ 'j r dr
j0 ª1 rb2 rm2 º ¬ ¼
(4.326)
rm
(4.327) j0 = c0 l (dn/dc)/O wobei c0 und j0 die Konzentration und die Streifenzahl am Beginn der Sedimentation, l die Zellenlänge und O die Wellenlänge sind. 3) Die Absorptionsoptik misst die Absorption des Systems als Funktion vom Rotor-Abstand. Nach dem Lambert-Beerschen Gesetz ist die Absorption proportional der Konzentration des Polymers: (4.328) A(r) = lg(I0/I) = H c(r) l A(r) ist die Absorption an der Stelle r und H der spezifische dekadische Absorptionskoeffizient. Die Absorption wird mit einem photoelektrischen Scanner gemessen. Genau genommen ist A(r) die Extinktion und H der spezifische dekadische Extinktionskoeffizient. Die Extinktion setzt sich zusammen aus der Absorption und der Streuung. Aus Nachlässigkeit spricht man oft von Absorption, wo Extinktion gemeint ist (siehe Kapitel 4.3.3.2) Anfang der 90er Jahre wurde von der Firma Beckmann Instruments eine neue analytische Ultrazentrifuge mit einer digitalen Absorptionsoptik für den Wellenlängenbereich 180 bis 800 nm und einer digitalen Interferenz-Optik entwickelt.
4 Das Makromolekül in Lösung
257
4.3.3 Klassische Streumethoden 4.3.3.1 Dielektrische Polarisation Moleküle bestehen aus positiv geladenen Atomkernen und negativ geladenen Elektronen. Diese sind auf eine ganz bestimmte Weise über die Domäne eines Moleküls verteilt. Man sagt: Die Elektronen und Atomkerne bilden eine Ladungsverteilung (siehe Abbildung 4.51).
Abbildung 4.51: Modell einer Ladungsverteilung
Das elektrische Dipolmoment p ist ein Maß für die Symmetrie der Ladungsverteilung innerhalb eines Moleküls. Es ist definiert als: z
p { ¦ qi ri
(4.329)
i 1
Dabei sind qi die Ladung des i-ten Teilchens und ri der Vektor, der den Schwerpunkt des i-ten Teilchens mit dem Schwerpunkt des Moleküls verbindet. Ist der Ladungsschwerpunkt der Elektronenverteilung vom Schwerpunkt der positiven Kernladungen getrennt, so ist das Molekül polar. Man sagt: Es besitzt ein permanentes oder stationäres elektrisches Dipolmoment. Fallen hingegen die Schwerpunkte zusammen, ist das Molekül unpolar. Es besitzt dann kein permanentes Dipolmoment. Verschiebungspolarisation Bringt man unpolare Moleküle in ein elektrisches Feld, so werden die Schwerpunkte der positiven und der negativen Ladungen getrennt. Es entsteht im Molekül ein inneres elektrisches Feld Ein , das dem äußeren Feld E entgegenwirkt. Dieser Vorgang heißt Verschiebungspolarisation. Das dabei induzierte Dipolmoment pind = DV Eeff ist proportional zum effektiv wirksamen Feld, Eeff = E Eind. Die Proportionalitätskonstante DV wird Verschiebungspolarisierbarkeit genannt. Sie ist ein Maß für die Verschiebbarkeit der Ladungsschwerpunkte und besitzt die Einheit m2. Dipolmomente verhalten sich additiv. Für das Gesamtdipolmoment einer Probe, die N Dipolmomente besitzt, gilt deshalb: Ptotal = N pind. Das Verhältnis PV = Ptotal/V heißt Verschiebungspolarisation, wobei V das Volumen der Probe ist. Die Verschiebungspolarisation PV setzt sich aus einem Elektronenanteil PE und einem Ionenanteil PI zusammen; es gilt: PV = PE + PI. Orientierungspolarisation Polare Moleküle richten sich in einem homogenen elektrischen Feld aus. Sie orientieren sich so zueinander, dass ihre Dipolmomente bevorzugt in Richtung der Feldlinien des angelegten Feldes zeigen. Die Ausrichtung ist dabei umso ausgeprägter, je stärker das Feld und je tiefer die Temperatur ist. Dieser Vorgang heißt Orientierungspolarisation. Das mittlere elektrische Dipolmoment PO in die Richtung des angelegten Feldes E lässt sich mit Hilfe der Statistischen Thermodynamik berechnen. Es gilt:
PO
p $ E p (kB T )
(4.330)
258
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Dabei sind $ die Langevin-Funktion und p das permanente Dipolmoment des Moleküls. In der Praxis ist E p/(kB T) sehr viel größer als eins. Gleichung (4.330) vereinfacht sich damit zu: PO
p
2
(3 kB T ) Eeff
(4.331)
Ein polares Molekül erfährt in einem elektrischen Feld zusätzlich zur Orientierungspolarisation eine Verschiebungspolarisation. Für den Vektor der Gesamtpolarisation gilt deshalb: Ptotal
Mit
Ptotal
ªD p 2 (3 k T ) º N V E B eff «¬ V »¼ D total N V Eeff folgt: PV PO
D total D V p
2
(3 kB T )
(4.332)
(4.333)
Die Dipole eines Moleküls können einem Richtungswechsel des elektrischen Feldes nur dann folgen, wenn die Frequenz des Feldes hinreichend klein ist. Bei hochfrequenten Wechselfeldern hinkt die Dipoleinstellung dem Feld nach. Dies führt zu Verlusten in der totalen Polarisierbarkeit Dtotal. Ab einer bestimmten Frequenz des Wechselfeldes findet schließlich überhaupt keine Orientierungspolarisation mehr statt. Es gilt dann: Dtotal = DV. Bei Frequenzen, wie sie im sichtbaren Spektralbereich vorliegen, können auch die im Vergleich zu den Elektronen schwereren Ionen nicht mehr verschoben werden, so dass für diesen Bereich gilt: Dtotal = DE. Die totale Polarisierbarkeit Dtotal ist mit der Dielektrizitätskonstanten H verknüpft. Es gilt: H 1 = 4 S (N/V) Dtotal (4.334) Diese Beziehung stimmt für Gase gut mit den experimentellen Werten überein. Für Materie höherer Dichte müssen Dipol-Dipol-Wechselwirkungen berücksichtigt werden. Es gilt dann die ClausiusMosotti-Beziehung
H 1 H 2 4 3 N V D total
(4.335)
und die Onsager-Kirkwood-Beziehung
¬ª H 1 2 H 1 ¼º 9 H
4 3 N V D total
(4.336)
Für H | 1 gehen die Gleichungen (4.335) und (4.336) in die Gleichung (4.334) über. Die Dielektrizitätskonstante H ist mit dem Brechungsindex n über die Maxwellsche Beziehung H = n2 verknüpft. Damit erhält man aus der Clausius-Mosotti-Beziehung (4.335) die LorentzLorenz Gleichung:
n 1 n 2
2
2
4 3 N V D total
(4.337)
Brechungsindizes werden bei hohen Frequenzen im sichtbaren Spektralbereich gemessen, bei dem wie erwähnt, keine Orientierungspolarisation und kein Ionenanteil der Verschiebungspolarisation mehr auftreten. 4.3.3.2 Streuung von elektromagnetischer Strahlung Elektromagnetische Strahlung kann auf zwei verschiedene Weisen mit Materie in Wechselwirkung treten. Das sind die Absorption und die Streuung. Im Fall der Absorption nehmen die Moleküle einen Teil der Energie der einfallenden Strahlung auf. Diese kann dazu verwendet werden, um die thermische Bewegung der Moleküle in der Lösung zu erhöhen. Sie kann aber auch zu einem späteren Zeitpunkt in Form von Fluoreszenz- oder Phosphoreszenz-Strahlung wieder abgegeben werden. Von Streuung spricht man, wenn eine einfallende Strahlungswelle durch die Wechselwirkung mit einem Molekül von seiner ursprünglichen Richtung in eine andere umgelenkt (gestreut) wird. Ein
4 Das Makromolekül in Lösung
259
Streuprozeß heißt elastisch, wenn die Energie der Welle vor und nach der Streuung die gleiche ist. Im anderen Falle heißt der Streuprozeß inelastisch. Elektromagnetische Strahlung besteht aus oszillierenden elektrischen und magnetischen Feldern. Magnetische Felder spielen bei Streuprozessen im allgemeinen eine untergeordnete Rolle. Es reicht deshalb, elektrische Wechselfelder zu betrachten. Für das elektrische Feld einer monochromatischen, ebenen Welle, die sich in x-Richtung ausbreitet, gilt: E E1 sin 2 S Q t x O E1 sin Z t k x (4.338)
a
a
f
f
Dabei sind Q die Frequenz, Z = 2 S Q die Kreisfrequenz, O die Wellenlänge und k = 2 S/O der Betrag des Wellenvektors. Der Parameter E1 heißt Amplitude. Das elektromagnetische Spektrum erstreckt sich über einen großen Wellenlängenbereich O von einigen Nanometern für Gamma-Strahlen bis zu tausenden von Metern für Radiowellen. Wir betrachten zuerst die Streuung von elektromagnetischer Strahlung an einem einzelnen Atom. Dieses besteht aus einem positiv geladenen Kern und einer bestimmten Anzahl negativ geladener Elektronen. Wenn eine Welle, d.h. ein oszillierendes elektrisches Feld auf ein Atom fällt, werden der Atomkern in die eine und die Elektronen in die entgegengesetzte Richtung verschoben (Verschiebungspolarisation). Es bildet sich ein induzierter Dipol aus, der nach einer gewissen Einschwingphase mit der gleichen Frequenz wie das anregende Feld schwingt. Damit die Amplitude dieser Schwingung konstant bleibt, muss der schwingende Dipol in jedem Augenblick genauso viel Energie abgeben, wie er von der einfallenden Welle erhält. Er strahlt deshalb seinerseits ein elektromagnetisches Wechselfeld aus. Diese Strahlung heißt Streustrahlung. Da der Dipol mit der gleichen Frequenz wie die einfallende Strahlung schwingt, besitzt die gestreute Strahlung ebenfalls die gleiche Frequenz. Die einfallenden und die gestreuten Wellen sind also kohärent. Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass der Schwerpunkt des Elektrons, das sich im Volumenelement dV befindet, mit dem Schwerpunkt des Atomkerns durch eine „WechselwirkungsSpiralfeder der Masse null“ verbunden ist. In Abwesenheit eines äußeren elektrischen Feldes führt diese Feder eine harmonische Schwingung um ihre Ruhelage aus. Die zugehörige Bewegungsgleichung lautet:
P d 2 x dt 2 f x t 0
(4.339)
Hier sind P = (mE mK) / (mE + mK) die reduzierte Masse, mE die Masse des Elektrons und mK die Masse des Kerns. Da mK sehr viel größer als mE ist, folgt: P | mE. f ist die Federkonstante, und x(t) gibt die Auslenkung der Feder zum Zeitpunkt t an. Es gilt: x(t) = A sin(Z0 t), wobei A die Amplitude und Z 0 = (f/mE)1/2 die Eigenfrequenz der Federschwingung sind. Wenn wir das äußere Feld E0 sin(Z t) (unsere Welle) auf das Volumenelement dV einwirken lassen, schwingt die Feder nach einer gewissen Einschwingzeit mit der Frequenz Z. Man spricht in diesem Zusammenhang von einer erzwungenen Schwingung. Die zugehörige Bewegungsgleichung lautet:
mE d 2 x dt 2 mE Z 02 x
e E0 sin Z t
(4.340)
Ihre Lösung ist:
ªe E Z 2 Z 02 mE º sin Z t ¬ 0 ¼ Zwei Fälle sind interessant: x t
(1)
Z Z0
x t
(2)
Z !! Z0
x t
e E Z
m sin Z t
e E0 Z02 mE sin Z t 0
2
E
(4.341)
(Lichtstreuung) (Röntgenstreuung)
260
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Die Eigenfrequenz Z 0 eines schwingenden Elektrons liegt für die meisten Atome und Moleküle im Frequenzbereich zwischen der Röntgen- und der Lichtstrahlung. Der Fall Z > Z 0 die Streuung von Röntgenstrahlung. Wenn Z | Z 0 ist, findet eine Absorption von Strahlung statt. Das Federmodell ist aber nicht in der Lage, diesen Fall zu beschreiben. Die Elektrodynamik lehrt uns, dass die Amplitude des elektrischen Feldes, das ein schwingender Dipol aussendet, proportional zur zweiten Ableitung d2p/dt2 des Dipolmoments p nach der Zeit ist. Unsere Feder besitzt das Dipolmoment p(t) = e x(t). Für das gestreute Feld gilt deshalb: (1)
Z Z 0
d 2 p dt 2
(2)
Z !! Z 0
d 2 p dt 2
e E Z Z m sin Z t e E m sin Z t 2
2
2 0
0
E
2
0
E
(Lichtstreuung) (Röntgenstreuung)
Die Intensität IS der gestreuten Dipol-Strahlung ist proportional zum Quadrat seiner Amplitude. Für die Lichtstreuung bedeutet dies: IS ist proportional zu Z4. Im Fall der Röntgenstreuung hängt IS dagegen nicht von der Frequenz der einfallenden Strahlung ab. Dies ist ein signifikanter Unterschied zwischen der Streuung von Licht- und Röntgenstrahlung. Ein weiterer wichtiger Unterschied betrifft die Tatsache, dass die Wellenlänge einer Röntgenstrahlung, verglichen mit der Größe eines Atoms, klein ist. Ein bestimmter „Wellenzug“ einer Röntgen-Welle, der das Gebiet des Atoms durchläuft, wird deshalb die Elektronen des Atoms zu verschiedenen Zeitpunkten erreichen. Die Elektronen bzw. die mit ihnen assoziierten Federn schwingen folglich nicht in Phase. Solange die Elektronen des Atoms aber durch die gleiche einfallende Welle angeregt werden, sind die Streuwellen kohärent.
Abbildung 4.52: Streuung von elektromagnetischen Wellen an einem Atom
Wir betrachten dazu Abbildung 4.52. Dort sehen wir, dass zwei gestreute Wellen, die von verschiedenen Punkten des Atoms ausgehen, unterschiedlich lange Wegstrecken zurücklegen müssen, um zu einem weit entfernten Beobachter zu gelangen. Es kommt dadurch zu einer weiteren Phasenverschiebung, die vom Winkel T abhängt, unter dem der Beobachter die gestreute Röntgenstrahlung beobachtet. Je nach der Art der Interferenz der gestreuten Wellen (destruktiv oder konstruktiv) misst
4 Das Makromolekül in Lösung
261
der Beobachter für jeden Winkel eine bestimmte Intensität IS. Man findet, dass IS kontinuierlich abnimmt, wenn der Streuwinkel T größer wird. Die Situation ist im Fall der Lichtstreuung vollkommen anders. Die Wellenlänge des einfallenden Lichtes ist jetzt groß verglichen mit der Größe eines Atoms. Die schwingenden Federn und die von ihnen ausgesandten Streuwellen sind in sehr guter Näherung alle in Phase. Interferenzeffekte, wie sie in Abbildung 4.52 angedeutet sind, gibt es deshalb nicht. Dies gilt auch für niedermolekulare Moleküle und kleine Makromoleküle. Interferenzeffekte treten im Fall der Lichtstreuung erst dann auf, wenn der Radius eines Makromoleküls in der Größenordnung der Wellenlänge des benutzten Lichtes liegt. Wir können dann das Makromolekül in eine bestimmte Anzahl von Segmenten unterteilen und jedem Segment ein oszillierendes Dipolmoment bzw. eine Streuwelle zuordnen (siehe Kapitel 4.3.3.3). 4.3.3.3 Lichtstreuung Lichtstreuung an kleinen Molekülen, Rayleigh-Streuung (d < O — Wir wollen die Lichtstreuung an kleinen Molekülen etwas genauer untersuchen. Dazu betrachten wir ein einzelnes Molekül, auf das ein elektrisches Wechselfeld E = E0 sin(Z t k x) einer linear polarisierten Lichtwelle fällt. Der Durchmesser d des Moleküls sei klein im Vergleich zur Wellenlänge O des Lichtes (d < O . Die induzierten Dipolmomente der Elektronen (Federn) des Moleküls schwingen deshalb in Phase, und wir können für das Gesamtdipolmoment des Moleküls schreiben: p
D E
D E0 sin Z t k x ,
(4.342)
wobei D die Verschiebungspolarisierbarkeit des Moleküls ist. Die Orientierungspolarisation des Moleküls ist null, da die Frequenz Z einer Lichtwelle sehr groß ist. Wenn D = 0 ist, lassen sich die Schwerpunkte der positiven und der negativen Ladungen des Moleküls nicht voneinander trennen. Es findet dann keine Lichtstreuung statt. Das gestreute elektrische Feld ES, das von einem schwingenden Dipol, d.h. von unserem Molekül ausgestrahlt wird, ist gleich (siehe Lehrbücher der Physik):
ES
1 H 0 c02
d
i dd
2
p dt 2
i asinT f r
(4.343)
Dabei sind c0 die Lichtgeschwindigkeit und H 0 die Influenzkonstante. T ist der Winkel zwischen der Dipolachse und der Strecke, die den Dipolschwerpunkt mit dem Beobachter verbindet. Die Länge dieser Strecke ist r, d.h. r gibt den Abstand zwischen dem Beobachter und dem Dipol an. Wenn wir Gleichung (4.342) in Gleichung (4.343) einsetzen, folgt: ES
ªD Z 2 H 0 c02 º E0 sinT sin Z t k x r ¬ ¼
(4.344)
Das gestreute Feld schwingt also mit der gleichen Frequenz Z wie das einfallende Feld. Seine Amplitude hängt sowohl vom Beobachtungswinkel T als auch vom Abstand r ab. Experimentell zugänglich ist nur die Intensität I einer Lichtwelle. Sie gibt die Energie an, die von der Welle pro Sekunde durch eine Fläche der Größe 1 m2 transportiert wird. Nach dem „Pointing-Theorem“ ist I proportional dem Quadrat der elektrischen Feldstärke der Welle gemittelt über eine Schwingungsperiode (von t = 0 bis t = 2 S/Z). Die Intensität I0 des einfallenden Lichts berechnet sich damit zu 2 / Z
I0
K E02
³
sin Z t k x dt , 2
(4.345)
0
wobei K eine Proportionalitätskonstante ist. Entsprechend gilt für die Intensität IS des gestreuten Lichts:
262
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
ªD 2 Z 4 H 02 c04 º sinT r 2 I 0 ¬ ¼ Interessant ist das Streuungsmaß IS/I0. Für dieses gilt: IS
IS I 0
16 4D 2 sinT
O r ,
2
4 0
2
(4.346)
wobei wir berücksichtigt haben, dass Z = 2 S c0/O0 ist und O0 die Wellenlänge des einfallenden Lichts im Vakuum angibt. Gleichung (4.346) wurde erstmals 1871 von Lord Rayleigh hergeleitet. Die Streuung eines elektrischen Wechselfeldes an einem Dipol bezeichnet man deshalb als Rayleigh-Streuung. Sie besitzt zwei interessante Eigenschaften. IS/I0 ist umgekehrt proportional zur vierten Potenz von O0. Kurzwelliges Licht wird deshalb stärker gestreut als langwelliges Licht. Ein Beispiel ist der Himmel. Dieser erscheint uns in einem schönen Sommer blau, da blaues Licht von der Erdatmosphäre stärker gestreut wird als alle anderen Regenbogenfarben. Die zweite Eigenschaft betrifft die Winkelabhängigkeit der gestreuten Strahlung. Abbildung 4.53 oben zeigt eine Kugel vom Radius r, in deren Mittelpunkt sich ein schwingender Dipol befindet. Die Intensität IS, die ein Beobachter unter dem Winkel T an der Oberfläche dieser Kugel misst, wird durch den Term (sinT)2 bestimmt. Wenn T = 0 oder T = 180q ist, ist I0 = 0. Mit anderen Worten: Ein Dipol sendet in die Richtung, in die er schwingt, keine Strahlung aus. IS wird maximal, wenn T = 90q oder 270q ist. Insgesamt ergibt sich für IS eine Intensitätsverteilung, wie sie Abbildung 4.53 unten zeigt. Diese ist symmetrisch, d.h. das Licht wird nach hinten genauso stark gestreut wie nach vorn.
Abbildung 4.53: Winkelabhängigkeit der von einem schwingenden elektrischen Dipol abgestrahlten Intensität. Das einfallende Licht ist polarisiert. Die untere Abbildung zeigt das Polardiagramm der Intensitätsverteilung. Die Länge der Pfeile gibt an, wie groß die gestreute Intensität ist, die ein Beobachter unter dem Winkel T im Abstand r vom Dipol misst.
Oft wird für Streuexperimente unpolarisiertes Licht benutzt. Dieses besteht aus zwei linear polarisierten Lichtstrahlen gleicher Intensität, deren Polarisationsebenen senkrecht zueinander stehen. Das zugehörige Streuungsmaß IS/I0 ist dann gleich der Summe aus zwei Termen der Form von Gleichung (4.346). Jeder Term beschreibt eine Polarisationsrichtung und korrespondiert mit der Hälfte der einfallenden Intensität. Es gilt:
IS I 0
ª16 4D 2 ¬
O r º¼ ª¬«1 2 ª¬ sinT 4 0
2
1
2
2 sinT 2 º º» , ¼¼
(4.347)
wobei Ti der Winkel zwischen der Beobachtungslinie und der Achse der i-ten Polarisationsrichtung des Dipols ist. Wir wählen für die Polarisationsrichtung eins die y- und für die Polarisationsrichtung
4 Das Makromolekül in Lösung
263
zwei die z-Achse eines rechtwinkligen Koordinatensystems. Die einfallende Strahlung möge in die x-Richtung laufen. Es gilt dann: (sinT1)2 + (sinT2)2 = 1 + (cosT)2, wobei T der Winkel zwischen der Beobachtungslinie und der Richtung des einfallenden Lichtes, d.h. der x-Achse ist. Gleichung (4.347) vereinfacht sich somit zu:
ª8 4D 2 O04 r 2 º ª1 cosT 2 º (4.348) ¬ ¼¬ ¼ In Abbildung 4.54 ist die Intensitätsverteilung für unpolarisiertes Licht dargestellt. Im Unterschied zu Abbildung 4.53 wird nun auch beim Winkel T = 0q (180q) eine Streuintensität beobachtet. IS I 0
Abbildung 4.54: Das Polardiagramm für unpolarisiertes Licht
Es ist üblich, Gleichung (4.348) umzuschreiben in: R T
IS r 2 ª I 0 1 cos 2T º ¬ ¼
8 4 D 2 O04
(4.349)
Die Größe R(T) heißt Rayleigh-Verhältnis; es ist für kleine Moleküle unabhängig vom Streuwinkel T
Frequenzgemittelte Lichtstreuung Eine Lösung besteht nicht nur aus einem Molekül, sondern aus mehreren. Ein Teil dieser Moleküle ruht während der Einstrahlungszeit bezüglich des Beobachters. Die induzierten Dipole dieser Moleküle schwingen mit der gleichen Frequenz wie das einfallende Primärfeld. Sie erzeugen somit eine kohärente elastische Lichtstreuung, welche durch Interferenz geschwächt wird. Ist das Streuvolumen hinreichend groß, so verschwindet diese Streuung ganz. Alle anderen Moleküle der Lösung, die sich aufgrund der Brownschen Molekularbewegung bezüglich des Beobachters mit verschiedenen Geschwindigkeiten bewegen, erzeugen wegen des Doppler-Effekts eine inkohärente elastische Lichtstreuung (IELS). Die Frequenz Zs der Streuwelle ist dabei kleiner als die Frequenz Z der Primärwelle, wenn sich das streuende Molekül vom Beobachter entfernt. Umgekehrt ist Zs größer als Z, wenn sich das streuende Molekül auf den Beobachter zu bewegt. Die IELS liefert deshalb ein Frequenzspektrum, das sich symmetrisch um die Frequenz Z des Primärlichts verteilt. Diese Überlegungen führen zu dem Schluss, dass die von einer Lösung ausgesandten Streuwellen inkohärent sind. Wir stellen uns deshalb die Frage, ob es möglich ist, eine Modellstreuung für die real existierende IELS einzuführen, die den einzelnen Streuprozeß wie eine kohärente elastische Lichtstreuung der Frequenz Z erscheinen lässt und trotzdem die Molekülbewegung im Mittel berücksichtigt. Es liegt auf der Hand, dass sich die vorzunehmende Mittelung über das gesamte Frequenzspektrum der IELS erstreckt. Die gesuchte Modell-Lichtstreuung heißt deshalb frequenzgemittelte Lichtstreuung (FGLS). Die Theorie der FGLS geht auf Albert Einstein zurück. Nach Einstein können wir das Streuvolumen V einer Lösung in mehrere gleich große Teilvolumina dV unterteilen. Diese seien klein im Vergleich zur dritten Potenz der Wellenlänge O des Primärlichtes in der Flüssigkeit, aber so groß, dass sie N >> 1 Moleküle enthalten. Es soll also gelten: U N N dV , N !! 1 und V !! O3 (4.350)
UN ist die Teilchendichte. Diese schwankt von Teilvolumen zu Teilvolumen leicht.
264
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
N ist sehr groß. Es gibt deshalb zu nahezu jeder Geschwindigkeit der Brownschen Molekularbewegung in dV eine entgegengesetzte, gleich große Geschwindigkeit. Das bedeutet: Der Schwerpunkt jedes Teilvolumens ruht bezüglich des Beobachters oder anders ausgedrückt, die Teilvolumina sind induzierte Dipole mit ruhenden Schwerpunkten, und als solche erzeugen sie eine kohärente Dipolstrahlung. Die Flüssigkeit enthält insgesamt Ntotal = V/dV solcher Dipole. Die Streuintensität IS, die ein Beobachter im Abstand r >> O0 unter dem Beobachtungswinkel T misst, ist deshalb nach Gleichung (4.348) gleich IS
V
^
dV ª I 0 8 4D 2 ¬
O r º¼ 1 cos T ` . 4 0
2
2
(4.351)
Es liegt auf der Hand, dass D2 keine Konstante ist. Wäre D2 konstant, so müssten alle Teilvolumina dV zu jedem Zeitpunkt die gleiche Anzahl N von Molekülen enthalten. Das aber hieße, dass alle Dipole (Teilvolumina) völlig synchron schwingen würden und als Ganzes eine rein kohärente Lichtstreuung erzeugten. Diese würde sich in dem Streuvolumen V durch destruktive Interferenz vollständig auslöschen, d.h. IS wäre gleich null. Das aber widerspricht der Erfahrung. Mit anderen Worten, eine Flüssigkeit streut nur deswegen Licht, weil ihre Moleküle Brownsche Molekularbewegungen ausführen. Zweikomponenten-Systeme Wir betrachten nun eine Lösung, die aus einem Lösemittel und einem gelösten Stoff besteht. Die gelösten Moleküle seien sehr viel kleiner als die Wellenlänge des einfallenden Lichtes. Das Volumen der Lösung teilen wir wieder in mehrere gleich große Teilvolumina dV auf. Jedes Teilvolumen besitzt eine bestimmte Polarisierbarkeit D. Diese fluktuiert aufgrund der Brownschen Molekularbewegung der gelösten Moleküle und der Lösemittelmoleküle mit der Zeit. Zu einem bestimmten Zeitpunkt gilt für die Polarisierbarkeit eines bestimmten Teilvolumens: D D GD (4.352) Dabei ist D die über die Zeit gemittelte Polarisierbarkeit, und GD ist die momentane Abweichung der Polarisierbarkeit von ihrem Mittelwert. Für verschiedene Teilvolumina ist GD verschieden groß. Die gestreute Intensität eines Teilvolumens ist nach Gleichung (4.348) proportional zu 2 D 2 D 2 2 D GD GD . Die über alle Teilvolumina gemittelte Streuintensität besteht deshalb aus drei Beiträgen. Es gilt: (4.353) I S ID 2 ! I 2D GD ! I GD 2 !
a f
a f
D besitzt für alle Teilvolumina den gleichen Wert. Der Raummittelwert ID 2 ! ist deshalb gleich null. Es existiert zu jedem Teilvolumen ein anderes Teilvolumen, das sich im Abstand O0/2 vom ersteren befindet, so dass sich die Streuwellen der beiden Teilvolumina im Zustand D = D durch destruktive Interferenz auslöschen. Positive und negative Abweichungen GD von D sind gleich wahrscheinlich. Es existieren also zu einem bestimmten Wert GD * genau so viele Teilvolumina, für die GD GD * ist, wie Teilvolu-
GD * ist. Die Raummittelwerte D ! und I 2DGD ! sind deshalb zu jedem Zeit-
mina, für die GD
punkt gleich null. Gleichung (4.353) vereinfacht sich somit zu: I S I GD 2 !
d i
(4.354)
Die Fluktuationen GD in der Polarisierbarkeit eines Teilvolumens werden durch die Schwankungen GT in der Temperatur, Gp im Druck und Gc2 in der Konzentration des gelösten Stoffes hervorgerufen. Es gilt:
D
wD
wp T ,c p wD wT p ,c T wD wc2 p ,T c2 2
2
(4.355)
4 Das Makromolekül in Lösung
265
Die Fluktuationen im Druck und in der Temperatur liegen für die Lösung und das reine Lösemittel in der gleichen Größenordnung. Die Beiträge dieser Fluktuationen zur Streuintensität sind mithin für die Lösung und das Lösemittel nahezu gleich groß. In einem Experiment wird die Streuintensität des reinen Lösemittels von der Streuintensität der Lösung subtrahiert und die Exzess-Streuintensität I SExzess I S,Lösung I S,Lösemittel analysiert. Letztere ist proportional zu D Lösung D Lösemittel ! | wD wc2 p ,T c2 ! , 2
2
2
(4.356)
Druck- und Temperatur-Fluktuationen in GD spielen also in der Praxis keine Rolle. Die Polarisierbarkeit D eines Gases ist mit dessen Brechungsindex n verknüpft. Es gilt: n 2 1 4 S ( N / V ) D (siehe Gleichung 4.334), wobei N/V die Anzahl der Gasmoleküle pro Volumeneinheit ist. Unsere Lösung ist eine Art „Pseudogas“, wobei die Volumenelemente die Gasteilchen sind. Jedes Teilvolumen, d.h. jedes Pseudogasteilchens, besitzt das Volumen dV. Die Teilchendichte des Pseudogases ist somit gleich 1/dV, womit folgt:
n 2 1 4 1 dV D
(4.357)
Dabei ist n der Brechungsindex des Pseudogases, d.h. der Lösung. Differenzieren wir Gleichung (4.357) nach der Konzentration c2 des gelösten Stoffs, so erhalten wir:
D
c2 p ,T
dV n
2 wn wc2 p ,T
(4.358)
Diese Gleichung setzen wir in Gleichung (4.356) ein. Mit Gleichung (4.351) und Gleichung (4.352) folgt dann:
I SExzess I 0
ªV dV 2 2 n 2 ¬
O
4 0
2 2 r 2 º¼ w n wc2 p ,T 1 cos 2 T G c2 !
(4.359)
Gleichung (4.359) ist für eine Anwendung noch ungeeignet. Dazu müssen wir dV und < (Gc2)2 > mit Größen in Verbindung bringen, die uns vertraut sind. In Analogie zu Gleichung (4.352) gilt für die momentane Konzentration c~2 der gelösten Teilchen in einem bestimmten Teilvolumen: (4.360) c~2 c2 Gc2 ~ Hier ist c2 der Raummittelwert von c . Der über das gesamte Lösungsvolumen gemittelte Raummit2
telwert < Gc2 > ist null, der Raummittelwert < (Gc2)2 > ist aber ungleich null. Andernfalls gäbe es keine Konzentrations-Fluktuationen. Jedes Teilvolumen besitzt eine bestimmte Gibbssche Energie G. Der Wert von G fluktuiert aufgrund der Fluktuation in c~2 um den Raummittelwert < G >. Es gilt: G
G ! GG ,
(4.361)
wobei < GG > in Analogie zu < Gc2 > gleich null ist. Die Fluktuationen Gc2 sollen klein sein. Wir können deshalb GG in eine Taylor-Reihe nach c2 entwickeln und diese nach den ersten beiden Gliedern abbrechen. Es gilt:
G
¬ªwG c2 wc2 º¼
p ,T
c2 1 2! ª¬w 2G c2 wc22 º¼
p ,T
c2 2
(4.362)
Im thermodynamischen Gleichgewicht besitzt die Gibbssche Energie an der Stelle c2 ein Minimum. wG (c2 ) / wc~2 ist deshalb null. Die Wahrscheinlichkeit w(Gc2), dass in einem Teilvolumen die Konzentrations-Fluktuation Gc2 auftritt, ist bei Anwendung der Boltzmann-Statistik proportional zu exp[ GG/(kB T)]. Es folgt somit:
266
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen f
f
2 ³ c2 w c2 d c2 ³ c2
c22 !
2
0
0
f
ª § w 2G c · º 2 2 exp « ¨
c2 2 kB T » d c2 ¸ « ¨© wc2 ¸¹ p ,T » ¬ ¼ ª § w 2G c · º 2 2 ¸¸ c2 2 kB T » d c2 2 » wc2 ¹ p ,T ¬ © ¼
f
³ w c2 d c2 0
0
kB T »w G c2
wc22 ¼º
2
(4.363)
³ exp «« ¨¨
p ,T
! reduziert sich damit auf die Berechnung von ( w 2 G (c2 ) / wc~22 ) p ,T . Die Berechnung von n1 und n2 seien die Molzahlen des Lösemittels und des gelösten Stoffes in dV. Sie können nicht unabhängig voneinander variiert werden. Es gilt: dV n1 V1 n2 V2 bzw. dn1 V2 V1 dn2 , (4.364) Gc22
b
g
wobei V1 und V2 die partiellen molaren Volumina des Lösemittels und des gelösten Stoffes bei der Temperatur T, dem Druck p und der Konzentration c2 sind. Eine Änderung der Molzahlen n1 und n2 im Teilvolumen dV ruft eine Änderung der Gibbsschen Energie hervor. Es gilt:
b
P 1 dn1 P 2 dn2
dG
b
und dP 2
g
V2 V1 P 1 P 2 dn2
(4.365)
g
n1 dP 1 n2 ,
(4.366)
wobei P1 und P2 die chemischen Potentiale des Lösemittels und des gelösten Stoffes in dV sind. Für die Molzahl n2 gilt: n2 dV c2 M 2 , (4.367) wobei M2 die Molmasse des gelösten Stoffes ist. Es folgt:
dV
dn2
und
M 2 dc2
bwG wc g
(4.368)
bdV M g P bV V gP 2
2 p ,T
2
2
1
(4.369)
1
Differentiation von Gleichung (4.369) nach c2 liefert:
w G wc 2
2 2
p ,T
dV
ª º M 2 « wP 2 wc2 V2 V1 wP1 wc2 p ,T » p ,T ¬ ¼
(4.370)
dP1 und dP2 sind durch die Gibbs-Duhem-Gleichung, n1 dP1 + n2 dP2 = 0, miteinander verknüpft. Gleichung (4.370) lässt sich deshalb umformen zu:
d w G wc i 2
2 2 p ,T
b
dV M 2
Da n2 M 2 / (n1 V1 n2 V2 )
w G 2
wc22
p ,T
g bn
1
V1 n2 V2
g b n V g b wP 2
1
1
wc 2
g
p ,T
(4.371)
c2 ist, folgt:
¬ª dV c2 V1 ¼º wP1 wc2 p ,T
(4.372)
Gleichung (4.372) setzen wir in Gleichung (4.363) ein, so dass schließlich folgt: Gc22 !
b
k B T c2 V1
g e d V b wP
1
wc 2
g j
(4.373)
p ,T
Wir interessieren uns nur für verdünnte Lösungen. Nach Gleichung (4.54) gilt deshalb:
P1
P1real
1 M
!
P1D RT V1D 1 M 2 c2 A2 c22 A3 c23 !
bzw. wP1 wc2 p ,T
RT
V1D
2
2
A2 c2 3 A3 c22
(4.374) (4.375)
4 Das Makromolekül in Lösung
267
Es gilt außerdem V1 | V1D , wobei V1D das Molvolumen des Lösemittels ist. Gleichung (4.375) setzen wir in Gleichung (4.373) und Gleichung (4.373) in Gleichung (4.359) ein. Es folgt: I SExzess I0
V 2 2 n 2 wn wc2 p ,T c2 1 cos 2T 2
O04 r 2 N A ª¬1 M 2 2 A2 c2 !º¼
(4.376)
In verdünnten Lösungen sind der Brechungsindex n der Lösung und der Brechungsindex des Lösemittels n0 nahezu gleich groß. Wir können deshalb n2 durch n02 ersetzen. Es ist außerdem zweckmäßig, das Rayleigh-Verhältnis R T { ª¬ r 2 I SExzess I 0 º¼ ª¬V 1 cos 2T º¼ und die Konstante K { 2 2 n02 wn wc2 p ,T 2
N
A
O04
(4.377)
(4.378)
einzuführen. Gleichung (4.376) vereinfacht sich dann zu:
K c2 R T 1 M 2 2 A2 c2 3 A3 c22 !
(4.379)
Dies ist die Fundamentalgleichung der frequenzgemittelten Lichtstreuung. Sie gilt für unpolarisiertes Licht und für gelöste Moleküle, die sehr viel kleiner sind als die Wellenlänge des benutzten Lichtes. Ist das Licht polarisiert, so muss man in Gleichung (4.377) den Faktor (1 + cos2T) durch 2 sin2T ersetzen. R(T) hängt nach Gleichung (4.349) nicht vom Streuwinkel T ab. In einem Experiment misst man deshalb R(T) für verschiedene Konzentrationen c2 bei einem festen Streuwinkel. Meistens ist T = 90q. Anschließend trägt man K c2/R(T) gegen c2 auf. Das liefert für kleine c2 eine Gerade mit dem Achsenabschnitt 1/M2 und der Steigung 2 A2 . Dies gilt allerdings nur so lange, wie die gelösten Moleküle hinreichend klein sind (Radius < O0/20). Bei großen Molekülen hängt R(T) vom Streuwinkel ab, und eine Extrapolation auf T = 0 wird erforderlich. Exkurs: Der Ausdruck (wn/wc2)p,T wird Brechungsindexinkrement genannt. Sein Wert lässt sich experimentell mit Hilfe eines Differentialrefraktometers bestimmen.
Der Cabannes-Faktor Wir haben bisher angenommen, dass die Teilvolumina bzw. die darin enthaltenen Moleküle optisch isotrop sind. Das ist aber nur selten der Fall. Die Polarisierbarkeit eines Moleküls ist in der Regel für die verschiedenen Raumrichtungen unterschiedlich. Wir betrachten dazu Abbildung 4.55. Das einfallende Licht sei unpolarisiert. Das gestreute Licht werde unter dem Winkel 90q beobachtet.
Abbildung 4.55: Demonstration zum Cabannesschen Faktor
268
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Das Volumenelement sei optisch isotrop. Es werden dann zwei gleich große Dipolmomente erzeugt, die senkrecht zur Richtung des einfallenden Lichtes schwingen. Der Dipolvektor, der in der x-yEbene schwingt, zeigt direkt auf den Detektor. Sein Beitrag zur Streustrahlung beim Winkel T = 90q ist deshalb gleich null. Mit anderen Worten: Die Streustrahlung, die man bei T = 90q beobachtet, ist vollständig polarisiert. Das Verhältnis der Intensitäten der horizontal und der vertikal polarisierten Streustrahlung heißt Depolarisation Pu, wobei der Index u angibt, dass das einfallende Licht unpolarisiert ist. Pu lässt sich experimentell leicht bestimmen. Für isotrope Teilchen ist Pu = 0. Bei anisotropen Teilchen sind die Dipolvektoren in Abbildung 4.55 nicht mehr parallel zu den elektrischen Feldvektoren des einfallenden Lichtes. Die Streustrahlung beim Winkel T = 90q ist dann unpolarisiert, und Pu ist ungleich 0. Dieser Anisotropieeffekt ist bei Lichtstreumessungen zu berücksichtigen. Nach Cabannes muss man dazu R(T) mit dem Korrekturfaktor kc = (6 7 Pu)/(6 + 6 Pu) multiplizieren. Meistens liegt kc sehr nahe bei eins. Es gibt aber auch Ausnahmen. So ist für das System Polystyrol/MethylEthyl-Keton Pu = 0,04 und kc = 0,92. Es ist deshalb zweckmäßig, kc für Präzisionsmessungen von M2 und A2 zu bestimmen. In allen anderen Fällen ist die Cabannes-Korrektur vernachlässigbar.
Mehrkomponenten-Systeme Das einfachste Mehrkomponenten-System besteht aus einem Lösemittel und s gelösten Makromolekül-Komponenten. Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass die Makromoleküle der verschiedenen Komponenten chemisch gleich sind, sich aber in ihrer Molmasse unterscheiden. Das Brechungsindexinkrement (wn/wc)p,T besitzt dann für jede Komponente den gleichen Wert, und die gestreute Exzess-Intensität der Lösung ist gleich der Summe der gestreuten Intensitäten jeder der Komponenten. Die Konzentration der Makromolekül-Komponente i wollen wir mit ci und die Gesamtkonzentration aller Makromoleküle in der Lösung mit c bezeichnen. Für stark verdünnte Lösungen gilt dann nach Gleichung (4.379): R T
s
s
i 2
i 2
¦ R T i ¦ K M i ci
(4.380)
Dabei ist Mi die Molmasse der i-ten Makromolekül-Komponente, und K ist die Konstante in Gleis
chung (4.378). Da
¦ ci
c ist, folgt:
i 2
K c R T
s
s
i 2
i 2
¦ ci ¦ ci M i
1 Mw
(4.381)
Die Methode der frequenzgemittelten Lichtstreuung liefert somit für ein Mehrkomponenten-System eine massengemittelte Molmasse Mw. Im Unterschied dazu liefert die Methode der Osmose den Zahlenmittelwert Mn. Gleichung (4.381) gilt nur für stark verdünnte Lösungen (c | 0). Bei verdünnten Lösungen sind noch die Virialkoeffizienten zu berücksichtigen. Es gilt dann: K c R T 1 M w 2 A2LS c 3 A3LS c 2 ! A2LS
A3LS
(4.382)
Dabei sind und die mit der Methode der Lichtstreuung ermittelten Virialkoeffizienten. Diese stimmen nicht mit den Viriralkoeffizienten A2OS und A3OS überein, die die Methode der Osmose liefert. A2LS ist ein doppelter z-Mittelwert und A2OS ein w-Mittelwert. A3LS enthält zusätzlich zu den ternären Wechselwirkungsparametern Aijk weitere Terme, die in A2OS nicht enthalten sind (siehe z.B. Kurata (1982)).
4 Das Makromolekül in Lösung
269
Lichtstreuung an großen Molekülen (O > d > O Wir haben uns bis jetzt nur mit der Lichtstreuung an Teilchen beschäftigt, die klein im Vergleich zur Wellenlänge O0 des benutzten Lichtes sind. Für die Praxis bedeutet dies, dass der Durchmesser der Teilchen kleiner als O0/20 ist. Das gilt für alle Oligomere und für Polymere mit kleiner Molmasse. Die molekularen Dimensionen von Makromolekülen mit großer Molmasse sind deutlich größer als O0/20. Bei diesen tritt wie bei der Röntgenstreuung eine intramolekulare Interferenz auf (siehe Abbildung 4.56).
Abbildung 4.56: Intramolekulare Interferenz
Die Punkte Pi und Pj stellen zwei Segmente, also zwei Dipole, des streuenden Makromoleküls dar. Sie senden Streuwellen aus, die unter dem Winkel T1 bzw. T2 von einem Beobachter im Punkt A bzw. im Punkt B untersucht werden. Die Abstände von A und B vom Schwerpunkt des Makromoleküls seien dabei gleich groß. O stellt eine Bezugsebene dar, in der die einfallenden Lichtwellen in Phase sind. Die Wegstrecke, die das Licht von der Bezugsebene bis zu den Punkten A und B zurücklegt, ist für die Streupunkte Pi und Pj verschieden. Es gilt: OP j B ! OPi B . Die Streuwellen, die den Beobachter von den Punkten Pi und Pj aus erreichen, sind also nicht in Phase. Es kommt zu einer destruktiven Interferenz und damit zu einer Verringerung der Intensität des gestreuten Lichtes. Der Streuwinkel T1 ist kleiner als der Streuwinkel T2. Der Unterschied in den Wegstrecken OPi A und OP j A ist deshalb kleiner als der Unterschied in den Wegstrecken OPi B und OP j B . Ist der Streuwinkel T = 0q, so ist der Unterschied in den Wegstrecken null. Die Folge ist, dass die Verringerung der Streuintensität mit größer werdendem Winkel zunimmt. Dieser Effekt, der nur bei genügend großen Teilchen auftritt, lässt sich quantitativ beschreiben. Dazu führt man den sogenannten Streufaktor P(T) ein. Es gilt: Streuintensität des Teilchens beim Winkel T
P(T ) {
(4.383)
Streuintensität des gleichen Teilchens ohne Berücksichtigung der intramolekularen Interferenz
P(T ) ist gleich eins, wenn T = 0q ist. Für T > 0q wird P(T ) mit wachsendem Winkel (T (0, 180q)) kontinuierlich kleiner. Ist T = 0q, so verhält sich ein großes Teilchen genauso wie ein kleines Teilchen. Wir kommen damit zu dem sehr wichtigen Schluss, dass wir die für kleine Teilchen hergelei-
270
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
teten Formeln auch auf große Teilchen anwenden dürfen, vorausgesetzt wir extrapolieren die für verschiedene Winkel erhaltenen Werte von K c/R(T ) auf T = 0q.
Die allgemeine Berechnungsformel für P(T ) Abbildung 4.57 stellt das dreidimensionale Analogon zu Abbildung 4.56 dar. O ist der Koordinatenursprung und Pi der Ort des i-ten Segments des Makromoleküls. S1 und S2 sind zwei Einheitsvektoren. S1 zeigt in die Richtung der einfallenden Lichtwelle und steht senkrecht auf der Ebene eins. S2 steht senkrecht auf Ebene zwei und zeigt in die Richtung der gestreutenWelle, die ein Beobachter unter dem Winkel T beobachtet.
Abbildung 4.57: Skizze zur Berechnung des Streufaktors P(T)
Die Vektoren S1, S2 und S1 S2 bilden ein gleichschenkliges Dreieck (T = 60q).~S1 S2~ ist deshalb gleich 2 sin(T/2). Wir führen ferner den Einheitsvektor S3 ein, der in die Richtung von S1 S2 zeigt. Es gilt: S1 S2
2 sin T 2 S3
(4.384)
Der Abstand zwischen dem Beobachter B und der Ebene 2 sei dB; der Abstand zwischen Pi und der Ebene 1 sei d1, und der Abstand zwischen Pi und der Ebene 2 sei d2. Die Wegstrecke, die eine Lichtwelle von der Ebene 1 bis zum Punkt Pi und von dort bis zum Beobachter zurücklegt, ist di = d1 + (dB d2). Der Vektor li verbindet den Koordinatenursprung O mit Pi. Es gilt also: (4.385) li ai d1 S1 Der Hilfsvektor ai steht senkrecht auf dem Einheitsvektor S1 (siehe Abbildung 4.57). Es folgt somit: li S1 ai S1 d1 S1 S1 d1 (4.386)
; 0
1
In analoger Weise kann man zeigen, dass d2 = (li S2 ) ist. Es gilt deshalb: di
d B li S1 S2
d B 2 sin T 2 li S3
(4.387)
Das elektrische Feld der Lichtwelle, das den Beobachter B vom Punkt P aus erreicht, genügt nach Gleichung (4.344) der Beziehung
4 Das Makromolekül in Lösung
Ei
H
ªD Z 2 E0 sinT ¬
0
c02 ri º sin Z t k xi ¼
271
(4.388)
Zur Erinnerung: Z ist die Kreisfrequenz der einfallenden Welle, k ist die Wellenzahl, c0 ist die Lichtgeschwindigkeit, und ri ist der Abstand zwischen Pi und dem Beobachter B. In der Praxis liegt ri in der Größenordnung von 0,5 m, während der Radius eines Makromoleküls einige nm beträgt. Der Faktor (D Z 2 E0 sin T ) / (H 0 c02 ri ) besitzt deshalb in sehr guter Näherung für alle Segmente des ~ Makromoleküls, d.h. für alle i, den gleichen Wert. Wir können ihn durch die Konstante K ersetzen. xi gibt die Wegstrecke an, die eine Lichtwelle vom Koordinatenursprung bis zum Punkt Pi und von dort bis zum Beobachter zurücklegt. Hier gilt: xi = di. Gleichung (4.388) lässt sich somit umschreiben zu: (4.389) E K sin Z t k d i
i
Das Makromolekül enthält insgesamt N Segmente. Für das totale gestreute Feld Es, das der Beobachter unter dem Winkel T betrachtet, gilt deshalb: N
Es
K
¦ Ei i 1
N
¦ sin Z t k di
(4.390)
i 1
Messbar ist nur die zeitgemittelte Streuintensität IS. Es gilt: IS
K 2 Z 2
T =2/Z
³
t=0
2
§ N · ¨ ¦ sin Z t k di ¸ dt ©i 1 ¹
(4.391)
Der Integrand in dieser Gleichung lässt sich umformen zu: § N · ¨ ¦ sin Z t k di ¸ ©i 1 ¹
2
N
N
¦ ¦ sin Z t k di sin Z t k d j i 1 j 1 N
1 2¦
N
¦
i 1 j 1
(4.392)
ªcos k d j k di cos 2 Z t k di d j º ¬ ¼
Es folgt somit: IS
N
N
T =2/Z
K 2 Z 2 ¦ ¦ ³ 2
i 1 j 1
§ ¨ N 2 2 ¨¦ K ¨i 1 ¨ ©
N
t 0
¦ cos k d j k di N
j 1
N
K 2 ¦ ¦ cos ª¬ 2 O d 2
0
i 1 j 1
ªcos k d j k di cos 2 Z t k di d j º dt ¬ ¼
j
· ¸ Z ¸ cos 2 Z t k d d d t ¦¦ i j 2 i 1 j 1 t ³0 ¸
¸ 0 ¹
di º¼
N
N
T =2/Z
(4.393)
Ist dj di für alle Werte von i und j sehr viel kleiner als O0, so ist jeder Cosinusterm in Gleichung (4.393) gleich eins. Das ist genau dann der Fall, wenn das streuende Molekül klein im Vergleich zur Wellenlänge des einfallenden Lichts ist. Die Streuintensität lautet in diesem Fall: I * K 2 2 N 2 (4.394) S
I S* ist die Intensität, die ein großes Makromolekül ausstrahlen würde, wenn die intramolekulare Interferenz nicht vorhanden wäre. Für den gesuchten Streufaktor P(T) gilt deshalb:
272
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
P T { IS IS*
N
N
1 N ¦ ¦ sin ª¬ 2 O d 2
0
j
i 1 j 1
di º¼
(4.395)
Mit Gleichung (4.387) folgt: P T
N
N
1 N ¦ ¦ sin ª¬ 4 O sin T 2 l 2
0
i 1 j 1
j
li S3 º¼
(4.396)
Der Vektor lj li stimmt mit dem Vektor hij überein, der das i-te Segment des Makromoleküls mit dem j-ten Segment verbindet. Es ist außerdem üblich, die Hilfsgröße
4 O0 sin T 2
q
(4.397)
einzuführen. Gleichung (4.396) vereinfacht sich damit zu: P q
N
N
1 N ¦ ¦ sin q h S 2
ij
(4.398)
3
i 1 j 1
Wir haben bisher angenommen, dass sich unser Makromolekül an einem bestimmten Ort im Lösungsraum befindet und dort im Zustand der Ruhe verharrt. Das ist aber nicht der Fall. Es führt zufällige Rotationsbewegungen um sich selbst in jede Richtung zum Vektor S3 aus. Alle diese Rotationsbewegungen seien gleich wahrscheinlich, und der Winkel zwischen S3 und hij sei I. Das Skalarprodukt hij S3 ist dann gleich hij cos I. Die Wahrscheinlichkeit, dass I zwischen I und I + dI liegt, ist proportional zu 2 S hij sinI dI. Folglich ist: S
c
sin q hij S3
z
c
h
2 S hij sin q hij cos I sin I dI
I 0
h
S
z
c h
sin q hij
(4.399)
q hij
2 S hij sin I dI
I 0
Gleichung (4.399) setzen wir in Gleichung (4.398) ein. Unser Endresultat, d.h. der über alle Rotationsbewegungen des Makromoleküls gemittelte Streufaktor, lautet damit: N
N
b g d1 N i ¦ ¦ sin cq h h cq h h
Pq
2
ij
(4.400)
ij
i 1 j 1
Gleichung (4.400) wurde erstmals 1915 von Debye in Verbindung mit dem Problem der Röntgenstreuung hergeleitet. Sie heißt deshalb Debye-Gleichung.
Die Beziehung zwischen P(q) und dem Trägheitsradius < R > Die Sinusfunktion in Gleichung (4.400) kann in eine Reihe entwickelt werden. Es gilt: sin(q hij) = q hij (q hij)3/3! + (q hij)5/5! Ist q genügend klein, so kann man diese Reihe nach dem zweiten Glied abbrechen. Das ist genau dann der Fall, wenn O0 sehr groß oder T sehr klein ist (siehe Gleichung (4.397)). Für den Streufaktor P(q) bedeutet dies: P q
N
N
1 N ¦ ¦ 1 q 2
i 1 j 1
2
hij2 3! ...
1 ªq2 ¬
N
N
6 N º¼ ¦ ¦ h 2
2 ij
...
(4.401)
i 1 j 1
P(q) beschreibt eine bestimmte Konformation des Makromoleküls. Diese ist durch die Abstände hij festgelegt. Experimentell zugänglich ist aber nur der über alle Konformationen des Makromoleküls gemittelte Streufaktor P (q ) ! 1 ª q 2 6 N 2 º ¦ ¦ hij2 ! . ¬ ¼
4 Das Makromolekül in Lösung
273
Aus Kapitel 2.4, Gleichung (2.78) wissen wir, dass für den mittleren quadratischen Trägheits-
d
radius eines Makromoleküls gilt: R 2 !
1 2 N2
N
N
i ¦ ¦h
2 ij
!
i 1 j 1
Es folgt deshalb: P q ! 1 q 2 R 2 ! 3 ...
(4.402)
Das ist die gesuchte Beziehung zwischen dem Streufaktor und dem Trägheitsradius. Sie wurde erstmals 1939 von Guinier abgeleitet. Es sei betont, dass wir bei der Herleitung von Gleichung (4.402) keine Annahmen über die Teilchengestalt (Kugel, Stäbchen, Zufallsknäuel, ...) des Makromoleküls gemacht haben. Gleichung (4.402) gilt deshalb ganz allgemein für jede Art von Teilchengestalt.
Die Auswertemethode von Zimm Das Rayleigh-Verhältnis eines Teilchens ohne intramolekulare Interferenz ist nach Gleichung (4.349) direkt proportional zur Intensität des gestreuten Lichtes. Das ~ Rayleigh-Verhältnis eines Teilchens, bei dem keine intramolekulare Interferenz auftritt, sei R q , und das Rayleigh-Verhältnis mit intramolekularer Interferenz sei R q . Nach Gleichung (4.383) gilt somit: ~ Rq Pq Rq (4.403)
bg
bg
bg bg bg
Wir nehmen an, dass alle gelösten Moleküle die gleiche Molmasse M2 besitzen. P(q) besitzt dann für alle Moleküle den gleichen Wert, so dass mit R q ª¬ K c2 1 M 2 2 A2 c2 ! º¼ (vgl. Gleichung (4.379)) folgt: K c2 R q 1 ª¬ M 2 P q º¼ 2 A2 c2 3 A3 c22 !
(4.404)
Gleichung (4.404) stellt die allgemeine Streuformel für große Moleküle dar, wenn diese alle die gleiche Molmasse besitzen. Sie wurde 1948 von Zimm hergeleitet. In der Praxis ist eine Polymerprobe polydispers. Es gilt dann: K c R q 1 ª¬ M w Pz q º¼ 2 A2,z,z c !
(4.405)
Dies sieht man wie folgt. Für stark verdünnte Lösungen gilt: R q
s
K
¦ M i Pi q ci
(4.406)
i 1
bg
Dabei sind ci die Konzentration, Mi die Molmasse und Pi q der Streufaktor der i-ten Polymerkoms
ponente. Da c
¦ ci
und ci
N i M i ist, folgt:
i 1
s
R q K c
s
s
i 1
i 1
¦ M i Pi q ci ¦ ci
s
¦ Ni M i2 Pi q ¦ Ni M i2 i 1
s
¦ i 1
Ni M i2
i 1 s
¦ Ni M i
Pz q M w
i 1
Für kleine Werte können wir Pi(q) durch Gleichung (4.402) ersetzen. Es folgt:
(4.407)
274
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
a f aK cf FGH ¦ M s
Rq
i 1
i
IJ ¦ c d i K F¦N M R ! ¦N M I JJ q G G 3 G H ¦ N M ¦ N M JK s
s
i 1
i 1
ci q 2 3 ¦ Mi Ri2 ! ci
s
¦ N i Mi2
i 1 s
s
2
i
2 i
i
i 1
s
i
2 i
i 1 s
i 1
s
¦ N i Mi
2 i
i
2 i
i
i 1
(4.408)
e d i
Mw 1 q 3 R ! z 2
2
j
i
i 1
Dabei ist < R2 >z der z-Mittelwert des mittleren quadratischen Trägheitsradius. Die spitzen Klammern stehen für die Mittelung über alle Konformationen, und der Index z steht für die Mittelung über die verschiedenen Molmassen. Für kleine x ist 1/(1 x) gleich 1 + x. Wir können deshalb Gleichung (4.408) umformen zu:
a f b1 M g d1 R
Kc Rq
w
2
2
!z q2 3
i
(4.409)
Tragen wir K c/R(q) gegen q auf, so erhalten wir eine Gerade. Der Achsenabschnitt dieser Geraden ist 1/Mw, und ihre Steigung liefert uns < R2 >z . Gleichung (4.409) gilt allerdings nur für stark verdünnte Lösungen. Es ist deshalb notwendig, die Messdaten von K c/R(q) für jeden Winkel auf die Konzentration c = 0 zu extrapolieren. Gleichzeitig ist es zweckmäßig, die K c/R(q)-Werte für jede Konzentration auf den Winkel T = 0 zu extrapolieren. Pz(q) ist dann gleich eins, so dass wir aus Gleichung (4.405) in einfacher Weise Mw und A2,z,z erhalten. Diese doppelte Extrapolation wird in der Regel mit Hilfe des Zimm-Plots ausgeführt. Dazu trägt man die gemessenen Werte von K c/R(q) gegen den Parameter x = k1 q2/3 + k2 c auf. Die Konstanten k1 und k2 sind dabei frei wählbar. Sie werden so festgelegt, dass die x- und die y-Achse des Diagramms vernünftig skaliert sind. Ein Beispiel für einen Zimm-Plot zeigt Abbildung 4.58. Es handelt sich um das System Polystyrol (Mw = 2,8 105 g/mol) in Toluol bei T = 25 qC. k1 ist gleich 1010 cm2, und k2 ist gleich 500 cm3/g. Fünf verschiedene Konzentrationen wurden benutzt, und R(q) wurde für jede Konzentration bei elf verschiedenen Streuwinkeln T gemessen. Die links stehenden gefüllten Kreise erhält man, indem man die gemessenen K c/R(q)-Werte für jede Konzentration auf q2 = 0, d.h. auf T = 0 extrapoliert. Sie liegen auf einer Kurve mit der Anfangssteigung 2 A2,z,z / k2 und dem Achsenabschnitt 1/Mw. Die unten stehenden gefüllten Kreise erhält man durch Extrapolation der gemessenen K c/R(q) -Werte auf die Konzentration c = 0. Sie liegen ebenfalls auf einer Kurve. Diese besitzt die Anfangssteigung < R2 >z /(k1 Mw) und den Achsenabschnitt 1/Mw. Die „Grenzkurven für T = 0 und c = 0“ schneiden sich also im gleichen Punkt 1/Mw. Der Anwendungsbereich der Auswertemethode von Zimm ist begrenzt. Die Trägheitsradien der zu untersuchenden Makromoleküle müssen im Intervall 0,05 d R 2 ! 0z ,5 / O 0 d 0,5 liegen. Wenn R 2 ! 0,5 z / O 0 kleiner als 0,05 ist, nimmt Pz(q) für alle Werte von T den Näherungswert eins an. Eine Winkelabhängigkeit von K c/R(q) ist dann im Rahmen der Messgenauigkeit nicht mehr gegeben. Ist R 2 ! z0,5 / O 0 größer als 0,5, so muss der Beobachtungswinkel (T < 1q) klein sein, um Gleichung (4.409) anwenden zu dürfen. Lichtstreumessungen in der Nähe von T = 0q sind aber messtechnisch nicht möglich.
4 Das Makromolekül in Lösung
275
Eine sehr häufig benutzte Lichtquelle ist der He-Ne-Laser (O0 = 632,8 nm). Das erfassbare Intervall für R 2 ! z0,5 ist in diesem Fall: 32 nm d R 2 ! 0z ,5 / O 0 d 320 nm . Die Trägheitsradien der meisten Makromoleküle liegen in dieser Größenordnung. Für Moleküle, die kleiner als 32 nm sind, sind kleinere Wellenlängen zu benutzen. Hier bietet sich die Röntgenstreuung an.
Abbildung 4.58: Zimm-Plot für Polystyrol NBS706 (Mw = 2,8 105 g/mol) in Toluol bei 25 qC und O0 = 436 nm; A2 = 3,8 104 cm3 mol g; A3 = 18,4 106 cm6 mol g3; z = 51,8 nm; Dimension von q2: 1/cm2; Dimension von c: g/cm3
In vielen Fällen ist K c/R(q) keine lineare Funktion von q2 bzw. von c. Eine Extrapolation auf q = 0 und c = 0 wird dann mit einem Zimm-Diagramm schwierig. In solchen Fällen werden die Messdaten oft mit Hilfe des Berry-Diagramms ausgewertet. Dabei trägt man die Quadratwurzel von K c/R(q) gegen k1 q2/3 + k2 c auf. Seine Anwendung ist besonders dann von Vorteil, wenn sich der Einfluss des dritten Virialkoeffizienten auf K c/R(q) bemerkbar macht. Der Wert von A3 wird im wesentlichen durch den Wert von A2 bestimmt. In guter Näherung gilt: Mw A3 = J (A2 Mw)2, wobei J eine dimensionslose Konstante ist. Für starre Kugeln ist J = 5/8, und für flexible expandierte Knäuel ist J = 1/3. Der Ausdruck (1 + 2 A2 Mw c + 3 A3 Mw c2) geht für J = 1/3 in (1 + A2 Mw c)2 über, so dass sich die Lichtstreuformel, Gleichung (4.409), vereinfacht zu: K c/R(q) = {1/[Mw Pz(q)]}(1 + A2 Mw c)2 Tragen wir [K c/R(q)]1/2 gegen c auf, so erhalten wir eine Gerade. Exkurs: Lichtstreuungs- und Osmosemessungen ergänzen sich in hervorragender Weise. Da die Lichtstreuung den Mw- und die Osmose den Mn-Mittelwert für die Molmasse einer Polymerprobe liefern, ist es möglich, die Uneinheitlichkeit U = Mw/Mn 1 zu berechnen. Diese ist mit der Standardabweichung V der Molmassenverteilung verknüpft (vergleiche Kapitel 2). Durch die Kombination beider Methoden ist es also möglich, Aussagen über die Polydispersität einer Probe zu erhalten. Einige Beispiele zeigt Tabelle 4.14
276
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Tabelle 4.14: Molmassenmittelwerte und Uneinheitlichkeiten für verschiedene Polymerproben
Mn/(g/mol); Osmose
Probe Polystyrol, unfraktioniert Polystyrol, fraktioniert (5. Fraktion) Dextran, unfraktioniert Dextran, fraktioniert (5. Fraktion)
800 000 330 000 130 400 82 000
Mw/(g/mol); Lichtstreuung 1 600 000 370 000 1 200 000 280 000
U 1,00 0,02 8,2 2,4
Miesche Streuung Wir haben bis jetzt nur Teilchen betrachtet, deren Radius R kleiner als O0 ist. Für grössere Teilchen sind die Voraussetzungen der Rayleigh-Streuung (R < O0) nicht mehr erfüllt. Der Unterschied im Brechungsindex zwischen den Teilchen und dem Lösemittel erzeugt dann eine Störung im elektrischen Feld der einfallenden Strahlung. Die Behandlung dieses Problems ist aufwendig und wurde erstmals 1908 von Mie für kugelförmige Teilchen mit konstantem Brechungsindex durchgeführt. Für andere Teilchenformen – Ellipsoide, Stäbchen und Kern-Schale-Kugeln mit unterschiedlichen Brechungsindices (z.B. Liposome) – sind ebenfalls geschlossene Lösungen gefunden worden. Die Miesche Theorie liefert für die Streustrahlung von Kugeln in Abhängigkeit vom Streuwinkel je nach der Größe des Streuparameters N = 2 S R/O0 ganz unterschiedliche Streudiagramme. Für sehr kleine Radien (N K @ >K @ kH c ... lg >K @ >K @ kM c ... 2 >K @ >K @ kK c ... >K @ >K @ kSB Ksp ... 2
Huggins
Kred
Martins
lg Kred
Krämer
ln Krel
Schulz Blaschke
Kred
c
Bei diesen Gleichungen handelt es sich um rein empirische Formeln. Die Auswahl der „Extrapolationsformel“ erfolgt so, dass die Messdaten für Kred möglichst gut durch eine Gerade wiedergegeben werden. Die Konstanten kH, kM, kK und kSB besitzen dennoch eine gewisse Bedeutung. Sie sind ein Maß für die Wechselwirkung der gelösten Teilchen mit dem Lösemittel. Die k-Werte sind umso kleiner, je besser das Lösemittel, d.h. je stärker ein Knäuelmolekül aufgeweitet ist. Informationsgehalt der Grenzviskositätszahl Die Grenzviskositätszahl [K] lässt sich für verschiedene Teilchenmodelle theoretisch berechnen. Das ist aber nicht einfach, weil die Berechnung Elemente der Theorie der partiellen Differentialgleichungen und Elemente der Vektoranalysis erfordert (siehe z.B. Yamakawa, 1971). Wir beschränken uns deshalb darauf, die wichtigsten Formeln für [K] anzugeben. Diese sind in Tabelle 4.16 zusammengestellt. Die Gleichungen in Tabelle 4.16 werden benutzt, um die Größe und die Gestalt starrer Teilchen zu bestimmen. Man misst dazu [K] für verschiedene Molmassen M und trägt anschließend [K] gegen M auf. Für Kugeln konstanter Dichte ist R proportional zu M1/3. [K] hängt also in einem solchen Fall nicht von M ab. Tabelle 4.16: Formeln für die Grenzviskosität starrer Teilchen
Teilchentyp
Formel
Kugel
>K @ 10 3 N A
Stäbchen
>K @
Prolates Ellipsoid
>K @
2 N
A
L3
N A V ª14 M
R3 M
> 45 M ln L a @
º p2 p2 « » ¬15 15 > ln 2 p 3 2@ 5 > ln 2 p 1 2@ ¼
Bezeichnungen
R = Radius M = Masse L = Länge a = Länge der Seite des Quaderquerschnitts a = größere Halbachse b = kleinere Halbachse p = b/a ; V = (4 S / 3) a b2
294
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Die Länge L eines Stäbchens ist proportional zu seiner Molmasse M. Das bedeutet:
>K @Stäbchen ~ M 2
ln M M E
(4.480)
wobei ME die Einheitsmasse (ME = 1 g/mol) ist. Wir müssen also, um zu prüfen, ob die zu untersuchenden Teilchen Stäbchen sind, [K] gegen M 2 / ln ( M / M E ) auftragen. Erhalten wir eine Gerade, so handelt es sich um Stäbchen. Diese Überlegungen brachten Staudinger, Mark und Houwink auf die Vermutung, dass die Abhängigkeit zwischen [K] und M für alle Typen gelöster Makromoleküle einem Scalinggesetz der Form
K
b
KK M M E
g
aK
(4.481)
gehorcht. Gleichung (4.481) heißt Staudinger-Mark-Houwink-Gleichung. Sie wurde erstmals 1930 von Staudinger (Nobelpreis 1954) vorgeschlagen und ist heute allgemein akzeptiert. Wir wollen sie im folgenden als „SMH-Gleichung“ bezeichnen. Die Konstanten KK und aK bestimmt man, indem man [K] für verschiedene M misst und anschließend ln[K] gegen ln[M/ME] aufträgt. Das ergibt eine Gerade mit der Steigung aK und dem Achsenabschnitt ln KK. Für Kugelmoleküle konstanter Dichte ist aK = 0, und für Stäbchen ist aK | 2. Der aK -Wert für Ellipsoide liegt zwischen aK = 0 und aK = 2. Er hängt vom Achsenverhältnis p = b/a ab. Knäuelmoleküle behandeln wir später. Ein Beispiel für die Molmassenabhängigkeit von [K] zeigt Abbildung 4.70. Es handelt sich um Polymethylmethacrylat, das einmal in Benzol und das andere Mal in TFP gelöst ist.
Abbildung 4.70: SMH-Plot für Polymethylmethacrylat. [K] in 100 cm3/g (E. Hamori et al. J.Phys.Chem. 69(1965)1101). z = ataktisch = isotaktisch in TFP = isotaktisch { = ataktisch ' = syndiotaktisch in Benzol
Molmassenbestimmung mit Hilfe der Grenzviskositätszahl Die SMH-Gleichung wird in erster Linie dazu benutzt, um aus einer Messung von [K] die Molmasse eines Polymers zu ermitteln. Das geschieht wie folgt: Für möglichst viele monodisperse Proben der gleichen Polymersorte, deren Molmassen bekannt sind, werden die [K]-Werte ermittelt. Die Auftragung von [K] gegen ln[M/ME] liefert eine Eichkurve, aus der man die Konstanten KK und aK bestimmt. In einem zweiten Arbeitsschritt wird die Grenzviskositätszahl der Polymerprobe gemessen, deren Molmasse M gesucht ist. 1/ a Diese erhält man, indem man [K] in die zuvor ermittelte Eichbeziehung M M E ([K] / KK ) K einsetzt. Die zu untersuchende Polymerprobe ist im Allgemeinen polydispers. Der gemessene Wert für [K] stellt deshalb einen über die verschiedenen Molmassen der Probe gemittelten Wert dar. Es gilt:
4 Das Makromolekül in Lösung
K !
¦ wi K i
oder MK
FG ¦ w b M H i
i
i
i
ME
b
K K ¦ wi M i M E
g IJK aK
i 1 aK
g
aK
a
{ K K MK K
295
(4.482) (4.483)
wobei wi der Massenbruch der Polymermoleküle mit der Molmasse Mi in der Probe ist. MK ist der gemessene Molmassenmittelwert der Probe. Dieser stimmt für aK = 1 mit dem Massenmittelwert Mw überein. Ansonsten gilt: Mn < MK < Mw. Für polydisperse Polymere werden häufig folgende Gleichungen verwendet: >K @ K n M an und >K @ K w M aw . Diese Gleichungen gelten aber nur genau, wenn die Polymere gleiche Molmassenverteilung haben. In der Literatur finden sich sehr viele Angaben über KK und aK. Einige Beispiele zeigt Tabelle 4.17. Leider stimmen die Werte, die verschiedene Forscher für KK und aK angeben, nicht immer überein. Der Grund ist einfach. [K] kann mit großer Genauigkeit und Reproduzierbarkeit gemessen werden. Bei der Eichung schleichen sich jedoch Fehler ein. So werden oft Eichproben benutzt, deren Molmassen zwar bekannt, die aber nicht monodispers sind. Für Präzisionsmessungen der Molmasse ist die Methode der Viskosimetrie deshalb nicht geeignet. Dazu sollte man besser die Methode der Osmometrie oder die Methode der statischen Lichtstreuung benutzen. Tabelle 4.17: Parameter der SMH-Gleichung für einige Systeme
System
T/°C
Polystyrol/Toluol Polyethylen/Tetralin Polyvinylalkohol/Wasser Polyvinylacetat/Aceton Polyvinylchlorid/Cyclohexanon Polyvinylpyrrolidon/Wasser Polybutadien/Cyclohexan Naturkautschuk/Toluol Cellulose/Cadoxen Amylose/0,5 n KOH
25 105 25 25 25 25 20 25 20 25
KK /(cm3/g) 2
1,00 10 1,62 102 3,00 101 1,02 102 1,50 104 5,65 102 3,60 102 5,00 102 1,24 103 3,06 102
aK 0,73 0,83 0,50 0,72 1,00 0,55 0,70 0,67 1,00 0,64
Die Grenzviskositätszahl bei Knäuelmolekülen Wird ein Polymerknäuel in ein fließendes Lösemittel plaziert, so wird der Fluss der Lösemittelmoleküle gestört. Die Segmente des Polymermoleküls stellen einen Widerstand dar, den die Lösemittelmoleküle umfließen müssen. Die Änderung des Flusses an irgendeinem Punkt ergibt sich aus der Summe der Störungen, die von allen Segmenten zusammen hervorgerufen wird. Die Störung, die das Polymersegment im Fluss erzeugt, wirkt sich auf die Bewegung der Nachbarsegmente aus. Diese erfahren eine zusätzliche Schubkraft. Man spricht von einer kooperativen oder hydrodynamischen Wechselwirkung. Es ist aber auch denkbar, dass die Segmente unabhängig voneinander von dem Lösemittel umspült werden. Dann sind die hydrodynamischen Wechselwirkungskräfte null. Dieser Fall heißt „free-draining“ (freie Durchspülung). Die Flussstörungen und die hydrodynamischen Segment-Wechselwirkungen lassen sich beschreiben. Dazu muss die Navier-Stokes-Gleichung gelöst werden. Das ist aber sehr schwierig. Wir beschränken uns deshalb darauf, die wichtigsten Ergebnisse dieser Berechnungen vorzustellen. Die Kirkwood-Riseman Theorie Wir betrachten ein lineares Polymerknäuel, dessen Segmente sich gaußartig um den Schwerpunkt des Knäuels verteilen. Das Polymerknäuel befindet sich somit
296
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
im Theta-Zustand. Kirkwood und Riseman haben für dieses Modell die Grenzviskositätszahl berechnet. Es gilt:
K
a f
NA S 6
T
h 2 ! T3 2 X F X M
af
32
f
X F X 0, 482 ¦ X ªi 2 1 X i1 2 º ¬ ¼ i 1
mit
(4.484)
X
und
]
N ª 6 3 «¬
12
K0 lK »º ¼
Hier ist h ! T der mittlere quadratische Kettenabstand im Theta-Zustand; N gibt die Anzahl der Segmente des Polymerknäuels an; ] ist der Reibungskoeffizient eines Segments; K0 ist dieViskosität des Lösemittels, und lK ist die Länge eines Kuhnschen Segments. Die Funktion X F(X) heißt revidierte Kirkwood-Riseman-Funktion. Sie ist null für X = 0 und 1,259 für X = f. Einige numerische Werte von X F(X) enthält Tabelle 4.18. *
2
Tabelle 4.18: X F(X) als Funktion von X
X
0
0,1
0,2
0,5
1,0
2,0
5,0
10,0
20,0
50,0
100,0
f
X F(X)
0
0,073
0,136
0,284
0,447
0,634
0,864
0,999
1,10
1,178
1,212
1,259
Gleichung (4.484) ist eine Näherungslösung für [K]T. Sie liefert nur für X > 1 hinreichend genaue Werte. Im Fall X = 0 existieren keine hydrodynamischen Wechselwirkungen zwischen den Polymersegmenten. Dieser Grenzfall wird deshalb als „free-draining case“ bezeichnet. Nach Gleichung (4.484) ist [K]T dann null. Die exakte Lösung für ein frei durchspültes Knäuelmolekül im T-Zustand lautet: NA ] N KT h 2 !T (4.485) 36 K 0 M
N* und h 2 ! T sind nach Kapitel 2 proportional zur Molmasse M. Es gilt deshalb:
K
T ,free draining
~M
(4.486)
Der Exponent aK in der SMH-Gleichung ist also in diesem Fall gleich eins. Für alle anderen Fälle ist es üblich, Gleichung (4.484) umzuschreiben zu:
K mit
T
) T h 2 !T3 2 M
d
)T { 6
32
i
6 3 2 ) T R 2 ! T3 2 M
d
N A ¬ª X F X ¼º
i
(4.487) (4.488)
Die Funktion )T nimmt den Wert 2,87 10 an, wenn X = f wird. [K]T ist in diesem Fall proportional zu R 2 ! T3 2 / M , so dass Gleichung (4.487) formal mit der Gleichung für die starre Kugel aus Tabelle 4.16 übereinstimmt. Der geometrische Radius R dieser Kugel ist proportional zu ihrem Trägheitsradius R 2 !1T 2 . Dieser Grenzfall heißt „non-free-draining case“. Er tritt dann auf, wenn die hydrodynamischen Segment-Wechselwirkungskräfte ihren Maximalwert annehmen. Oft wird behauptet, dass sich ein Knäuelmolekül im Grenzfall X = f hydrodynamisch so verhält, als sei es eine starre Kugel. Das ist aber nicht korrekt. Die Theorie von Kirkwood und Riseman sagt voraus, dass [K]T für ein nicht frei durchspültes Polymerknäuel proportional zu M1/2 ist. Für die starre Kugel hängt [K] dagegen nicht von M ab. Die Funktion )T wird mit steigendem X größer. Das Verhältnis ) T ( X ) / ) T ( f) ist deshalb ein Maß dafür, wie frei (ungestört) das Lösemittel ein Polymerknäuel im Theta-Zustand durchspült. Der Durchfluss des Lösemittels ist umso ungestörter, je kleiner der Wert von ) T ( X ) / ) T ( f) ist. 23
4 Das Makromolekül in Lösung
297
Der Exponent aK der Staudinger-Mark-Houwink Gleichung liegt nach der Kirkwood-Riseman Theorie zwischen 0,5 und 1,0. Viele Forscher korrelieren deshalb die aK-Werte mit dem „draining effect“. Diese Interpretation ist aber nicht zulässig, wie wir im nächsten Kapitel sehen werden. Die Literatur enthält weitere Theorien für die Berechnung von [K]T (siehe z.B.Yamakawa, 1971). Allen diesen Theorien ist es gemeinsam, dass die Funktion ) T ( X ) mit steigendem X größer wird und für X = f asymptotisch gegen einen Grenzwert ) T ( f) konvergiert. Der Wert von ) T ( f) hängt von der Art der verwendeten Berechnungsmethode ab. Eine Auswahl an ) T ( f) -Werten gibt Tabelle 4.19. Tabelle 4.19: Der Grenzwert )T(f) für lineare Polymerknäuel (Yamakawa, 1971)
Autor Kirkwood-Riseman Zimm Hearst Flory
)T (f) 1023 2,87 2,84 2,82 2,66
Wir wollen abschließend die theoretischen Voraussagen von Gleichung (4.487) mit experimentellen Ergebnissen vergleichen. Wir betrachten dazu das System Polystyrol/Cyclohexan bei T = 34 °C. Cyclohexan ist bei T = 34 °C ein Theta-Lösemittel. Gleichung (4.487) ist also anwendbar. Der Reibungskoeffizient ] möge dem Stokesschen Gesetz ] 3 S K 0 l K folgen. Wir nehmen ferner an, dass N M / (52 g / mol) und lK = 5 Å ist. Für X gilt dann: X | 0, 09 [ M / (g/mol)]1/2 . M sei 104 g/mol; X ist dann 9,4 und )T ( X ) / )T (f) | 0,80 . Die Theorie sagt also eine 20 %ige Abnahme von [K]T / M 1/ 2 voraus, wenn die Molmasse von sehr großen Werten ( M o f g/mol ) auf M = 104 g/mol abnimmt. In Abbildung 4.71 sind die experimentellen Befunde für Polystyrol und Polyisobutylen dargestellt. Wir erkennen, dass [K]T / M w1/ 2 nicht von M w1/ 2 abhängt. Das gleiche Ergebnis wird auch für andere Polymere im Theta-Zustand gefunden. Es liegt deshalb die Vermutung nahe, dass für alle Polymere mit einer Molmasse von Mw t 4 104 g/mol der „non-free-draining case“ vorliegt. Diese Tatsache wird in der Praxis dazu benutzt, um den mittleren quadratischen Kettenendenabstand h 2 ! T bzw. den mittleren quadratischen Trägheitsradius R 2 ! T zu bestimmen. Man misst dazu [K]T und berechnet anschließend h 2 ! T bzw. R 2 ! T mit Hilfe von Gleichung (4.487). ) T ( f) wird meistens gleich 2,84 1023 gesetzt. Die Werte, die wir auf diese Weise für R 2 !1T/ 2 erhalten, stimmen im Rahmen der Messgenauigkeit (ca. 5%) recht gut mit den Trägheitsradien überein, die die Methode der statischen Lichtstreuung liefert.
298
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Abbildung 4.71:
[K]T / M w1/2 als Funktion von M w1/2 ([K]T in cm3/g) { = Polystyrol in Cyclohexan bei TT = 34,0 °C z = Polyisobutylen in Benzol bei TT = 24 °C (W. R. Krigbaum, P. J. Flory, J.Polym.Sci., 11(1953)37)
Effekte des ausgeschlossenen Volumens Wir betrachten jetzt die Grenzviskosität [K] im NichtTheta-Zustand. Für diesen Fall haben Flory und Fox 1951 die empirische Gleichung
K
63 2 ) R2 !3 2 M
d
i
(4.489)
vorgeschlagen. Sie stimmt formal mit Gleichung (4.487) für den Theta-Zustand überein, nur dass sich hier ) und R 2 ! auf den Nicht-Theta-Zustand beziehen. Das Verhältnis
D K3 { K K
(4.490)
T
ist deshalb ein Maß dafür, wie stark die aktuelle Konformation eines Makromoleküls von der Konformation des Theta-Zustands abweicht. Der Faktor DK wird „viskosimetrischer Expansionsfaktor“ genannt. Wenn wir Gleichung (4.487) in Gleichung (4.490) einsetzen, folgt:
>K @ >K @T DK3
63 2 )T R 2 !T3 2 M DK3
(4.491)
Da R 2 ! / R 2 ! T D 2 ist, gilt außerdem:
) )T DK D
3
oder
>K @
Flory setzt in seiner Originaltheorie D
63 2 )T R 2 !3 2 M
DK D
3
(4.492)
DK . Die experimentellen Ergebnisse zeigen jedoch, dass
dies nicht erlaubt ist. Wir müssen ) oder DK berechnen. Yamakawa und Kurata benutzen dazu die Theorie des ausgeschlossenen Volumens und vernachlässigen den „draining effect“. Das ist erlaubt, solange wir uns in der unmittelbaren Nähe des Theta-Zustands befinden. Yamakawa und Kurata beschränken ihre Rechnung deshalb auf kleine Werte des ausgeschlossenen Volumenparameters z (vgl. Kap 4.2). Ihre Ergebnisse sind:
D K3
1 1,55 z
) )T
D K3
(4.493)
1 0,46 z
(4.494)
D 2 ,43
(4.495)
In Kapitel 4.2 haben wir gezeigt, dass R ! proportional zu M und D proportional zu M 0,1 ist. Für [K] bedeutet dies: [K] ~ M 0,74 . Der Exponent aK der SMH-Gleichung ist also für Nicht-ThetaZustände im „non-free-draining case“ größer als 0,5. Für große Werte von z wurde die Funktion u.a. von Peterlin und Zimm berechnet (siehe z.B. Yamakawa, 1971). Diese Theorien vernachlässigen ebenfalls den „draining effect“, und es ist ihnen gemeinsam, dass das Verhältnis / mit steigendem z bzw. mit steigendem D kleiner wird. 2
1/ 2
0,6
4 Das Makromolekül in Lösung
299
Die wohl wichtigste Theorie stammt von Fixman/Stidham (FS). Sie ist über den ganzen D-Bereich von D 1 bis D f anwendbar. Die Ergebnisse der FS-Theorie sind in Abbildung 4.72 dargestellt.
Abbildung 4.72: ) / ) T als Funktion von D3für verschiedene Polymer-Lösemittelsysteme. Kurve FS: Fixman-Stidham Theorie. Kurve KY: Kurata-Yamakawa Theorie (Yamakawa, 1971).
Zum Vergleich sind auch die Werte eingezeichnet, die Yamakawa und Kurata nach den Gleichungen (4.493) bis (4.495) erhalten. Die experimentell ermittelten Werte, die man bisher für ) / ) T gefunden hat, werden für kleine Werte von D mit wachsendem D 3 schnell kleiner. Sie liegen deutlich unterhalb der theoretischen Kurven von Fixman-Stidham und Yamakawa-Kurata. Für große Werte von D 3 wird das Verhältnis ) / ) T wieder größer und konvergiert möglicherweise gegen die Kurve von Fixman oder gegen eins. 4.3.5.2 Reibungskoeffizienten Die Newtonsche Bewegungsgleichung für ein freies Teilchen lautet: F m dX dt
a
f
(4.496)
Hier sind F die auf das Teilchen einwirkende Kraft, m seine Masse und X seine Geschwindigkeit. Befindet sich das Teilchen in einer Flüssigkeit, so erfährt es eine Reibungskraft FR, die der bewegenden Kraft FB entgegenwirkt. Die Reibungskraft ist umso größer, je größer die Geschwindigkeit des Teilchens ist. Es gilt also: (4.497) FR f X Die Proportionalitätskonstante f heißt Reibungskoeffizient. Sie besitzt die Einheit N s/m = kg/s und hängt im Allgemeinen von der Konzentration c der Lösung ab. Es gilt: f
f 0 1 kf c ...
(4.498)
wobei kf eine Konstante und f = f0 ist, wenn c = 0 ist. Die Newtonsche Bewegungsgleichung lautet damit: FB FR FB f X m dX dt
a
f
Diese Gleichung ist eine Differentialgleichung, die es erlaubt, die Geschwindigkeit X desTeilchens als Funktion der Zeit zu berechnen. Ihre Lösung lautet: Xt FB f 1 exp f t m (4.499)
af b
g
a
f
300
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Wir haben dabei angenommen, dass FB konstant ist, d.h. dass gilt: FB
0 für t 0 ® ¯ FB für t t 0
(4.500)
Der Zeitverlauf von X(t) ist in Abbildung 4.73 skizziert. Wir erkennen, dass X(t) den Maximalwert Xmax = FB/f erreicht, wenn t unendlich wird. Die Zeit W = m/f heißt Relaxationszeit. Zur Zeit t = W
hat das Teilchen eine Geschwindigkeit von (1 1/ e) 100 % . Das sind 63,2 % der Endgeschwindigkeit.
Abbildung 4.73: Die Geschwindigkeit X eines Teilchens in einer reibenden Flüssigkeit als Funktion der Zeit t
Der Reibungskoeffizient f0 lässt sich mit Hilfe geeigneter Theorien berechnen. Wir betrachten als Beispiel eine Kugel vom Radius R, die wir mit der Geschwindigkeit X durch eine Flüssigkeit ziehen. Die unmittelbar benachbarten Flüssigkeitsschichten haften an der Kugel und bewegen sich mit der gleichen Geschwindigkeit wie die Kugel. Im Abstand R von der Kugeloberfläche ist die Strömungsgeschwindigkeit null. Für das Geschwindigkeitsgefälle gilt: dX / dz | X / R . Auf der Oberfläche 4 S R 2 der Kugel greift deshalb die bremsende Kraft
a
f
FR | 4 S R 2 K 0 dX dz | 4 S K 0 R X
(4.501)
an. Mit dieser Kraft muss man ziehen, um die Geschwindigkeit X zu erzeugen. Der Vergleich von Gleichung (4.501) mit Gleichung (4.497) zeigt, dass f0 | 4 S K0 R ist. Stokes führte 1856 eine genauere (sehr aufwendige) Rechnung durch. Sein Ergebnis für f0 ist aber ebenfalls sehr einfach. Es lautet: f0
6 K0 R
(4.502)
Gleichung (4.502) ist in der Literatur unter dem Namen „Stokessches Gesetz“ bekannt. Wir wollen es zur Abschätzung der Relaxationszeit W verwenden. Gegeben sei ein Proteinmolekül der Molmasse 2,5 105 g/mol und der Dichte U = 1 g/cm3. Es besitze eine kugelartige Gestalt und bewege sich in einer wässrigen Pufferlösung (K0 = 0,01 g/(cm s)) unter dem Einfluss eines elektrischen Feldes. Es gilt dann: m
M N A | 4,2 10 19 g
R
ª¬ 3 m 4 U º¼
W
m 6 K0 R | 4,8 1012 s
13
| 4, 6 107 cm
4 Das Makromolekül in Lösung
301
Makromoleküle in wässriger Lösung erreichen also nach Einschalten einer äußeren Kraft überaus schnell ihre konstante Endgeschwindigkeit. Die Bewegung, die wir gerade betrachtet haben, ist eine Translationsbewegung. Der Koeffizient f wird deshalb Translations-Reibungskoeffizient genannt. Gelöste Teilchen führen in der Regel aber auch Rotationsbewegungen aus. Die Drehung wird dabei durch die tangentialen Reibungskräfte in Fließrichtung gefördert und durch gleichzeitig auftretende Reibungskräfte senkrecht zur Fließrichtung gebremst (siehe Abbildung 4.74).
Abbildung 4.74: Rotation einer Kugel im Scherfeld. Links: Strömung vom Beobachter aus betrachtet; Rechts: Strömung von der bewegten Kugel aus betrachtet
Die Winkelgeschwindigkeit Z, mit der sich ein Teilchen um seine eigene Achse dreht, ist dem Drehmoment MR proportional. Es gilt: (4.503) MR fR Z und
fR
f 0,R 1 k f ,R c ...
(4.504)
Der Koeffizient fR heißt Rotations-Reibungskoeffizient. Er besitzt die Einheit N m s = kg m2/s. Für eine harte Kugel vom Radius R gilt nach Stokes: f 0,R
8 S K0 R3
(4.505)
Sind die Teilchen asymmetrisch, so werden auf sie verschieden große Drehmomente ausgeübt, je nachdem, ob sie gerade in Strömungsrichtung liegen oder quer zur Strömung orientiert sind. Die Rotation wird ungleichförmig. Schwimmen die Teilchen quer zur Strömung, so klappen sie in die Strömungsrichtung um und drehen sich dann langsam aus dieser Lage wieder heraus. Dieser Effekt heißt Rotationsorientierung. Reibungskoeffizienten für verschiedene Teilchengestalten Die Reibungskoeffizienten f und fR sind nicht direkt messbar. Wir werden jedoch in Kapitel 4.3.5.3 sehen, dass f und fR mit den Diffusionskoeffizienten der Translation und Rotation, D und DR, über einfache Beziehungen verknüpft sind. D und DR sind experimentell bestimmbar. Dies bedeutet, dass f und fR indirekt messbar sind. Durch Extrapolation auf c = 0 erhalten wir f0 und f0,R. Sie hängen von der Viskosität des Lösemittels und der Gestalt des Teilchens ab. Einige Berechnungsformeln für f0 und f0,R sind in Tabelle 4.20 zusammengestellt.
302
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Interessant ist die von Kirkwood und Riseman hergeleitete Berechnungsformel für den Reibungskoeffizienten f0 eines Knäuelmoleküls im „non-free-draining“ Theta-Zustand. Diese stimmt formal mit Gleichung (4.502) für eine harte Kugel überein, wenn wir den Parameter 1 9 S 3 2 K 0 R 2 !1T 2 4 N [
] { 3 S1 2 8
d
i
d
i
(4.506)
einführen. Es gilt: f 0,Knäuel 6 S K 0 ] R 2 !1T 2
(4.507)
Im Fall der harten Kugel ist ] = 1 und R ! T 2
1/ 2
R . Für den Trägheitsradius R ! T eines Knäu2
1/ 2
N lK / 6 . Die Segmente des Knäuels können wir in erster Näheels gilt dagegen: R ! T rung als Kugeln auffassen. Der Radius r eines Segments ist gleich lK/2. Für den Reibungskoeffizienten ] eines Segmentes gilt deshalb: ] 3 S K 0 l K . Es folgt: 2
1/ 2
9 S 3 2 K 0 R 2 !1T 2 4 N ]
1/ 2
3 S1 2 4 6
12
a3 4f aS 6f e1 12
N
N
j
Dieser Faktor ist für große Werte von N* (N* > 1000) sehr viel kleiner als eins. Das ist in der Praxis fast immer der Fall. Wir können deshalb schreiben: f 0,Knäuel 6 S K 0 Rh (4.508) mit
d
i
Rh { 3 S 1 2 8 R 2 !1T 2 0,665 R 2 !1T 2
(4.509)
Gleichung (4.508) besagt, dass sich ein Knäuelmolekül im „non-free-draining“ Theta-Zustand reibungsmäßig so wie eine harte Kugel verhält. Der Radius dieser Kugel ist Rh. Der Index h steht dabei für hydrodynamisch. Ein ähnliches Resultat hatten wir zuvor für die Grenzviskositätszahl [K@T gefunden. Dort gilt für hinreichend große Werte von N*: Reff 0,875 R 2 !1T 2 (4.510) Der hydrodynamische Radius Rh und der aus der Viskosimetrie abgeleitete Radius Reff stimmen also nicht überein. In der Literatur wird Rh leider oft mit Reff gleichgesetzt.
4 Das Makromolekül in Lösung
303
Tabelle 4.20: Translations- und Rotations-Reibungskoeffizienten
Teilchengestalt
Berechnungsformel
Harte Kugel
Bezeichnungen
f0 = 6 S K0 R ; f0,R = 8 S K0 R
Zylinder
3 S K0 L ª¬ 6 1 2 J || J ^ º¼ f 0,R S K0 L3 G P mit: G ln 2 L d 2 J || 1, 27 7, 4 1 G 0, 34
K0 = Viskosität des Lösemittels
3
f0
L = Länge d = Durchmesser Nebenbedingung: L/d t 4
J A 0,19 4, 2 1 G 0, 39 2 P 1, 45 7, 5 1 G 0, 27
2
Ellipsoid
f0 = 6 SK0 a/G(p) f0,R = 8 SK0 a3 (2/3)[(2 p2)G(p) 1]/(1 p4) Prolates Ellipsoid: p < 1 G(p) = (1 p2)1/2 ln{[1 + (1p2)1/2] / p}
a = größere Halbachse b = kleinere Halbachse p { b/a
Oblates Ellipsoid: p > 1 G(p) = (p2 )1/2 arctan[(p2 1)1/2] Knäuel Theta-Zustand „free draining case“ Knäuel Theta-Zustand „non free draining case“
Knäuel Nicht-ThetaZustand
f0 f0,R
N 2 ] 1 9 ] N 2 lK2
c3 S 8hc6 S K 12
f0
1 9 S
32
0
R 2 ! 1T 2
K 0 R !T 2
3 2
f0,R
1,91 K 0 N
f0
6 S K 0 D h Rh ,T
f0,R
c
12
h
c4 N ] h
N* = Anzahl der Segmente ] = Translations-ReibungsKoeffizient eines Segments lK = Kuhnsche Länge R 2 ! 1T 2 = Trägheitsradius des Knäuels im Theta-Zustand
l K3
h
4 6 3 2 N A K 0 ) T R 2 ! T3 2 D K3
Wurmartige Kette L/(2 lp) > 1 f0 = 3 SK0 L/{1,84[L/(2 lp)]1/2 ln[a/(2 lp)] 2,43 (a/d)} f0,R = 2 K0 lp L2/{0,72[L/(2 lp)]1/2 0,64 ln[a/(2 lp)] 1,55 + 0,64(a/d)}
Dh = hydrodynamischer Expansionskoeffizient Rh,T = hydrodynamischer Radius im Theta- Zustand DK = viskosimetrischer Expansionskoeffizient (DK | Dh) L = Konturlänge a = Länge des Monomers d = Durchmesser eines Monomers lp = Persistenzlänge
304
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
4.3.5.3 Diffusion Ein Materietransport, der durch Konzentrationsunterschiede hervorgerufen wird, heißt Diffusion. Ein Beispiel zeigt Abbildung 4.75. Dort ist eine Polymerlösung der Konzentration c0 zum Zeitpunkt t = 0 mit reinem Lösemittel überschichtet. Es herrscht ein Konzentrationsgradient in x-Richtung, der sich im Laufe der Zeit auflöst, bis schließlich in dem gesamten Quader die gleiche Konzentration c0/2 vorliegt.
Abbildung 4.75: Diffusionszelle mit zwei Flüssigkeitsschichten unterschiedlicher Konzentration
Wir können diesen Diffusionsvorgang quantitativ beschreiben, indem wir den Diffusionsfluss Jx einführen. Dieser gibt die Stoffmenge (Mole) der Polymermoleküle an, die netto pro Sekunde in positiver x-Richtung durch die Einheitsfläche 1 cm2 hindurchtreten, die senkrecht zur x-Achse angeordnet ist. Jx besitzt also die Einheit mol cm2 s1. Nach Fick (1855) ist der Fluss Jx proportional zum Konzentrationsgradienten wc / wx . Es gilt deshalb: (4.511) J x D wc wx Die Konstante D heißt Translations-Diffusionskoeffizient. Ihre Einheit ist cm2/s. Das negative Vorzeichen in Gleichung (4.511) weist darauf hin, dass die Polymermoleküle in Richtung abnehmender Konzentration diffundieren. Die Ursache für die Diffusion ist die Brownsche Molekularbewegung der Polymer- und Lösemittelmoleküle. Der Diffusionskoeffizient D hängt von der Konzentration c der Lösung ab. Es gilt: D D0 1 k D c ... (4.512) Dabei ist D0 der Diffusionskoeffizient, wenn c = 0 ist (unendliche Verdünnung). Die Konstante kD heißt zweiter hydrodynamischer Virialkoeffizient. Die Thermodynamik für irreversible Prozesse lehrt, dass der Fluss Jx proportional zu der Kraft X ist, die den Fluss erzeugt. Hier ist X gleich wP 2 / wx , wobei P2 das chemische Potential der gelösten Polymermoleküle ist. Es gilt also: J x L X L wP 2 wx (4.513) L ist eine Proportionalitätskonstante. Sie wird nach Onsager „Transport-Koeffizient“ genannt. Die Geschwindigkeit X des Diffusionsflusses ist gleich Jx /c. Mit Gleichung (4.497) folgt: X X / f J x / c . Es gilt also: L c / f . Die Gibbs-Duhem-Gleichung liefert:
4 Das Makromolekül in Lösung
wP2 wx
wP2
wc wc wx
M
N A c 1 X2 c wS wc wc wx
305
(4.514)
wobei S der osmotische Druck der Lösung und X2 das partielle spezifische Volumen eines Polymermoleküls sind. Die Gleichungen (4.511), (4.513) und (4.514) setzen wir ineinander ein. Es folgt: D D
M N A f 1 X2 c wS wc kB T f 1 X2 c 1 2 A2 M c ...
Diese Gleichung vergleichen wir mit Gleichung (4.512). Wir finden somit: k f k D 2 A2 M X 2 und
D0
kB T
f0
(4.515)
(4.516) (4.517)
Gleichung (4.515) wurde erstmals 1908 von Einstein hergeleitet. Sie ist die gesuchte Beziehung zwischen dem Translations-Diffusionskoeffizienten D und dem Translations-Reibungskoeffizienten fR. Wir können sie dazu benutzen, um aus gemessenen Werten von D Werte für fR zu berechnen. Diese werden dann auf c = 0 extrapoliert. Das ergibt Werte für f0, die wir mit den theoretisch berechneten Werten vergleichen. Dadurch erhalten wir schließlich Aussagen über die Teilchengestalt. Ohne Beweis wollen wir die ebenfalls von Einstein hergeleitete Beziehung D0
'x 2 2 't
(4.518)
12
angeben. 'x 2 ist die mittlere Wegstrecke, die ein Polymermolekül innerhalb des Zeitintervalls 't zurücklegt. Die Gleichungen (4.515) bis (4.518) stellen außerordentlich nützliche Beziehungen dar. So kann man z.B. für den Substrattransport in einer Zelle aus der Kenntnis von D0 die Diffusionszeit 't abschätzen, die ein Substratteilchen benötigt, um die Wegstrecke ( 'x 2 ) 1/ 2 zu durchlaufen. Besitzen die Teilchen die Gestalt einer Kugel, so genügt schon die Kenntnis von K0 und R, um D0 und damit ( 'x 2 ) 1/ 2 bzw. 't zu berechnen. Abschließend wollen wir erwähnen, dass auch ein Rotations-Diffusionskoeffizient D0,R existiert. Es gilt: D0,R { kB T f 0,R
(4.519)
wobei D0,R über die Beziehung D0,R N A k B T / (4 K 0 M [K]) mit der Grenzviskositätszahl [K] des Polymermoleküls verknüpft ist. Experimentell lässt sich D0,R mit der Methode der Strömungsdoppelbrechung bestimmen. Experimentelle Bestimmung des Translations-Diffusionskoeffizienten D Für die experimentelle Bestimmung des Translations-Diffusionskoeffizienten D einer binären Lösung benötigen wir das 2. Ficksche Gesetz. Dieses wollen wir kurz herleiten. Dazu betrachten wir die Konzentrationsbilanz für einen Quader der Dicke dx und der Querschnittsfläche A = 1 cm2 (siehe Abbildung 4.76). Das Volumen des Quaders ist A dx. An der Stelle x tritt der Fluss J(x) in den Quader hinein, und an der Stelle x + dx tritt der Fluss J(x+dx) heraus. Die Änderung dn/dt der Stoffmenge (Mole) der diffundierenden Teilchen ist gleich: dn dt
A dx w c w t
ª¬ J x J x dx º¼ A
(4.520)
Diese Gleichung können wir umschreiben zu: wc wt
ª¬ J x dx J x º¼ dx
wJ wx
(4.521)
306
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Abbildung 4.76: Modell zum 2. Fickschen Gesetz
Setzt man hierin für J das 1. Ficksche Gesetz (Gleichung (4.511)) ein, so erhält man das 2. Ficksche Gesetz. Es lautet:
wc wt
D w 2 c wx 2
(4.522)
Gleichung (4.522) ist eine partielle Differentialgleichung. Ihre Lösung c(x,t) gibt an, wie sich die Konzentration c als Funktion von Ort x und Zeit t ändert. Exkurs: Ternäre Systeme Das 2. Ficksche Gesetz gilt nur für binäre Systeme, d.h. für Systeme, die nur aus einem Lösemittel und einem gelösten Stoff bestehen. Die Diffusion wird in diesem Fall durch die Konstante D beschrieben. Sind zwei oder mehr gelöste Stoffe in der Lösung vorhanden, so müssen wir jedem dieser Stoffe einen Fluss zuordnen. Diese Flüsse sind jedoch nicht unabhängig voneinander, sondern gekoppelt. Wir betrachten als Beispiel ein ternäres System, das aus einem Lösemittel und zwei gelösten Stoffen, 2 und 3, besteht. Es existieren dann zwei Diffusionsflüsse, J2 und J3. Diese sind nach Onsager über die vier Diffusionskoeffizienten D22, D23, D32 und D33 miteinander verknüpft. Es gilt: J 2 D22 wc2 wx D23 wc3 wx (4.523) J3
D32 wc2 wx D33 wc3 wx
(4.524)
Die Diffusionskoeffizienten D22 und D33 liegen sehr nahe bei jenen, die wir erhalten, wenn jeder der beiden gelösten Stoffe alleine diffundiert. Die Diffusionskoeffizienten D23 und D32 sind nach Onsager gleich groß: (D23 = D32). Sie sind in der Regel sehr klein. In der Praxis wird die Translations-Diffusionskonstante D mit Hilfe der Diffusionszelle aus Abbildung 4.75 bestimmt. Dabei wird der untere Halbraum der Zelle mit Lösung und der obere Halbraum mit Lösemittel gefüllt. Beide Halbräume sind zunächst durch eine Wand getrennt. Diese wird zum Zeitpunkt t = 0 entfernt, und zwar so, dass keine Turbulenz entsteht. Wir messen dann den Konzentrationsgradienten wc / wx als Funktion der Zeit. Dabei gilt zum Zeitpunkt t = 0: c 0 im oberen Halbraum c c 0 im unteren Halbraum. Für die eindeutige Bestimmung von c(x,t) benötigen wir noch eine zweite Bedingung. Wir wählen deshalb die Abmessungen der Diffusionszelle (Küvette) so groß, dass zu jedem Zeitpunkt am oberen Rand der Zelle c = 0 und am unteren Rand c = c0 ist. Diese Bedingung ist bereits für Zellen mit einer Länge von wenigen Zentimetern erfüllt. Die Differentialgleichung (4.522) besitzt bei Berücksichtigung dieser Randbedingungen eine eindeutige Lösung. Sie lautet: c x, t wobei y '
ª
c0 2 «1 2 ¬«
x /(2 D t ) ist.
yc
º
³ exp y dy »» 2
0
¼
(4.525)
4 Das Makromolekül in Lösung
307
Das Integral in Gleichung (4.525) lässt sich nur numerisch berechnen. Durch Differentiation von Gleichung (4.525) nach x erhält man:
ªc0 4 D t º exp ª¬ x 2 4 D t º¼ (4.526) ¬ ¼ Das ist der gesuchte Ausdruck für den Konzentrationsgradienten wc / wx . Wenn wir wc / wx für ein festes t gegen x auftragen, erhalten wir eine Gaußsche Glockenkurve. Diese besitzt an der Stelle x 0 ein absolutes Maximum. Mit zunehmender Zeit t wird die Glockenkurve breiter und ihre Amplitude kleiner (siehe Abbildung 4.77). wc / wx kann man mit der Methode der „Schlieren-Optik“ experimentell bestimmen. Dazu wird der Gradient wn / wx des Brechungsindexes der Lösung gemessen. Für verdünnte Lösungen ist n proportional zur Konzentration c. Es gilt: n k c , wobei k eine Proportionalitätskonstante ist. Praktisch geht man wie folgt vor: Die Gauß-Kurve für ( wn / wx ) wird gemessen. In einem zweiten Schritt wird die Höhe hmax des Maximums von ( wn / wx ) bestimmt. Für diese gilt nach Gleichung (4.526): hmax w n wx a x 0 f k c0 4S Dt (4.527)
wc
wx t
a
f
b g
In einem dritten Schritt wird die Fläche AG unter der Glockenkurve ( wn / wx ) ermittelt. Das liefert die Gleichung: c f
f
AG
³ w n w x dx
f
k
³ w c w x dx
c f
k c0
(4.528)
Abbildung 4.77: Diffusionskurven von Adenosintriphosphat (ATP) (D = 2,9 106 cm2/s) (G. Adam, P. Läuger, G. Stark, Physikalische Chemie und Biophysik, Springer, Berlin 1995)
Abschließend wird der Diffusionskoeffizient D berechnet. Es gilt: D
bA
G
hmax
g a4 S t f 2
(4.529)
Der so bestimmte Diffusionskoeffizient ist allerdings nur ein scheinbarer Diffusionskoeffizient, da D von der Substratkonzentration c0 abhängt. Wir müssen deshalb D für verschiedene c0 messen und anschließend D auf c0 = 0 extrapolieren. Tabelle 4.21 zeigt einige Zahlenwerte für D0 { D (c0 0) , die auf diese Weise ermittelt wurden.
308
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Tabelle 4.21: Translations-Diffusionskoeffizienten
System
Mw/(g/mol)
T/°C
D0 107/(cm2/s)
Harnstoff/H2O
60
25
138,30
Glucose/H2O
180
25
67,80
Saccharose/H2O
342
20
45,90
Ovalbumin/H2O
4,5 104
20
7,76
Hämoglobin/H2O
6,8 10
4
20
6,90
Polystyrol/Toluol
1,2 105 3,9 105 6,7 105 2,2 106
20 20 20 20
4,69 2,06 1,50 0,73
Dextran/H2O
7,4 106
15 25 40 50 60
0,37 0,51 0,73 0,89 1,06
Exkurs: Die Methode der DLS Wenn wir den Konzentrationsgradienten w(c / c0 ) / wx des Systems Adenosintriphosphat/H2O aus Abbildung 4.77 betrachten, erkennen wir, dass die Diffusion ein sehr langsamer Prozeß ist. Ein Experiment mit der Methode der Schlieren-Optik kann Stunden bzw. Tage dauern. Die Messzeit ist dabei umso größer, je größer die Molmasse des Polymers ist. Die Experimentatoren waren deshalb sehr froh, als zu Beginn der 70er Jahre die Methode der dynamischen Lichtstreuung (DLS) ihren Einzug in die Laboratorien hielt. Mit Hilfe dieser Methode ist es möglich, Translations- und Rotations-Diffusionskoeffizienten innerhalb von Minuten zu bestimmen. Dazu wird kein Konzentrationsgradient benötigt. Die DLS beruht auf den Brownschen Konzentrationsschwankungen in einer Lösung (siehe Kapitel 4.3.4). Wir müssen dabei allerdings folgendes beachten: Die Messwerte, die die DLS für D liefert, stimmen nicht immer mit den Messwerten für D überein, die die Methode der Schlieren-Optik liefert. Das liegt daran, dass die Polymerproben in bezug auf die Molmasse polydispers sind. Jede Polymerkomponente besitzt ihren „eigenen Diffusionskoeffizienten“ und damit ihren „eigenen Diffusionsfluss“. Der Wert des gemessenen mittleren Diffusionskoeffizienten hängt davon ab, wie stark diese Flüsse miteinander gekoppelt sind. Wenn die Flüsse unabhängig voneinander sind, liefert die Methode der Schlieren-Optik für D den Massenmittelwert Dw. Das ist aber sehr selten der Fall. Die Schlieren-Optik liefert in der Regel für D einen Mittelwert, der zwischen dem Zahlen- und dem z-Mittelwert von D liegt. Die Flüsse, die der Experimentator bei der DLS beobachtet, unterliegen dagegen dem Zufallsprinzip. Sie sind vollständig unabhängig voneinander. Dort wird stets der z-Mittelwert Dz gemessen. Es sei abschließend erwähnt, dass auch ein isoliertes Teilchen, d.h. ein Teilchen, das sich allein in einem Lösemittel befindet, Wärmebewegungen ausführt. Dieser Vorgang heißt Selbstdiffusion. Der Selbst-Diffusionskoeffizient Ds lässt sich ermitteln. Das Teilchen wird dazu radioaktiv markiert und der Weg 'x gemessen, den das Teilchen in der Messzeit t zurücklegt. Ds ergibt sich dann aus Gleichung (4.518). Die experimentelle Bestimmung des Rotations-Diffusionskoeffizienten DR Anisotrope Moleküle brechen das Licht doppelt. Ein Beispiel ist Kalkspat. Eine ruhende Lösung ist dagegen isotrop. Die gelösten Teilchen sind dort nicht orientiert. Das gilt auch dann, wenn die Teilchen selbst anisotrop sind.
4 Das Makromolekül in Lösung
309
Anders sieht es im Fall einer strömenden Lösung anisotroper Teilchen aus. Diese ist insgesamt anisotrop, weil die Teilchen durch das äußere Scherfeld orientiert werden. Die Orientierung selbst ist dynamisch. Das heißt: Zunächst führen die gelösten Teilchen eine Rotation aus, deren Geschwindigkeit ungleichförmig ist. Bei Anwesenheit eines Scherfelds wirkt auf die Teilchen eine Kraft in Richtung des Geschwindigkeitsgefälles. Diese versucht, die Teilchen zu orientieren. Die Brownsche Molekularbewegung wirkt dagegen. Als Folge kommt es zu einer Teilorientierung in dem Sinne, dass sich die Teilchen in dem Zeitintervall 't am häufigsten so orientieren, dass sie mit der Strömungsrichtung einen spitzen Winkel I einschließen. Durch diese Teilorientierung wird die Lösung optisch doppelbrechend. Der beschriebene Effekt heißt Strömungsdoppelbrechung. Er wird dazu benutzt, um den Rotations-Diffusionskoeffizienten DR zu ermitteln. Zur Messung von DR wird häufig ein Rotationsviskosimeter verwendet. Dieses besteht aus zwei ineinander gestellten Zylindern. Der innere Zylinder ruht, und der äußere Zylinder dreht sich mit der konstanten Winkelgeschwindigkeit Z. Die zu untersuchende Lösung befindet sich in dem Raum zwischen den beiden Zylindern. Parallel zur Rotationsachse wird ein Lichtstrahl durch die Lösung geschickt. Das Licht passiert dabei zuvor einen Polarisator. Wenn der Lichtstrahl die Lösung wieder verlässt, wird mit einem gegen den Polarisator gekreuzten Analysator der Winkel I bestimmt, bei dem Lichtauslöschung stattfindet. Dieser Aufbau heißt Couette-Anordnung (siehe Abbildung 4.78).
Abbildung 4.78: Couette-Anordnung
Liegen die gelösten Teilchen infolge der Teilorientierung schräg zur Ebene des Polarisators bzw. Analysators, so wird das einfallende polarisierte Licht depolarisiert. Es passiert den Analysator. An den Stellen, wo die Teilchen parallel oder senkrecht zum Polarisator orientiert sind, wird das Licht nicht depolarisiert. Dort kann es den Analysator nicht passieren, und man sieht bei einem bestimmten Winkel ein dunkles Kreuz. Dieser Auslöschungswinkel entspricht dem Orientierungswinkel I der Teilchen. Er ist umso kleiner, je größer die angelegte Scherrate dX/dx und je kleiner der Rotations-Diffusionskoeffizient DR ist. Peterlin und Stuart haben 1943 für starre Ellipsoide eine Beziehung zwischen dem Orientierungswinkel I, dem Rotations-Diffusionskoeffizienten DR und der Scherrate dX/dx hergeleitet. Es gilt:
I
a
f
a
f a
45q 1 12 dX dx DR 1 1296 1 1890
f ba p 1f a p 1fg adX dxf D 2
R
3
...(4.530)
310
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Darin ist I = 45°, wenn die Scherrate dX/dx = 0 ist. Für kleine dX/dx-Werte ist I proportional zu dX/dx. Wenn wir also I gegen dX/dx auftragen, erhalten wir eine Gerade mit der Steigung 1 / (12 DR ) . Aus dieser können wir DR berechenen. Das Achsenverhältnis p a / b der gelösten Ellipsoide erhalten wir, indem wir eine Ausgleichskurve durch die Messdaten legen. In Tabelle 4.22 sind einige Messwerte für DR zusammengestellt, die mit Hilfe von Gleichung (4.530) bestimmt wurden. Für Fibrinogen ist DR = 3,94 105 s1, und für eine DNA mit 300 Basenpaaren ist DR = 9,83 103 s1. Makromoleküle drehen sich also recht oft pro Sekunde um ihre eigene Achse. Tabelle 4.22: Rotations-Diffusionskoeffizienten für einige Polymere in wässriger Puffer-Lösung
Mw/(g/mol)
DR/s1
Serumalbumin/H2O; T = 21°C
6,7 10
4
840.000
Poly-J-benzyl-L-glutamat; T = 25 °C
2,1 10
5
System
Wasser m-Kresol
9.000 500
Fibrinogen/H2O; T = 20 °C Kalbsthymus DNA/H2O; T = 20 °C Tabak-Mosaik-Virus/ H2O; T = 25 °C
3,3 105
39.400
300 Basenpaare 500 Basenpaare
9.830 2.730
3,9 107
370
4.3.5.4 Das Makromolekül als hydrodynamisches Teilchen Gelöste Makromoleküle sind von einer Solvathülle aus Lösemittelmolekülen umgeben. Ein Teil dieser Lösemittelmoleküle ist über elektrostatische und van der Waalssche Wechselwirkungskräfte an das Makromolekül gebunden. Man spricht von der „inhärenten Solvatation“. Der andere Teil der Lösemittelmoleküle der Solvathülle ist nicht gebunden. Er befindet sich in Hohlräumen innerhalb des Makromoleküls und in den Zerklüftungen an dessen Oberfläche und ist dort beweglich. Man spricht von „trapped“ (gefangenen) Lösemittelmolekülen. Beide Arten von Lösemittelmolekülen haben folgende Eigenschaften gemeinsam: (1) Sie sind Teil des Makromoleküls, und (2) sie bewegen sich mit der gleichen mittleren Geschwindigkeit wie das Makromolekül. Diese Solvatation ist zu berücksichtigen, wenn die Masse und das Volumen eines hydrodynamischen Teilchens berechnet werden soll. Der Begriff „hydrodynamisches Teilchen“ steht dabei für die Einheit aus Makromolekül und Solvathülle. Wir führen zu diesem Zweck den Parameter Gi ein, der angibt, wieviel Gramm der Lösemittelkomponente i mit einem Gramm der unsolvatisierten (trockenen) makromolekularen Substanz „verbunden“ sind. Für ein Zwei-Komponenten-System gilt:
Mh und Vh
ª¬ M 1 G1 º¼ N A
b M N g bX A
2
G 1 X1
(4.531)
g
(4.532)
Hier bedeuten Mh = hydrodynamische Masse des Makromoleküls, M = Masse des unsolvatisierten Makromoleküls und Vh = hydrodynamisches Volumen des Makromoleküls. X1 und X2 bezeichnen die spezifischen Volumina von Lösemittel und Makromolekül im Volumen Vh. Das Volumen X1 stimmt dabei nicht mit dem spezifischen Volumen X 1D des reinen Lösemittels überein. Für die „gefangenen“ Lösemittelmoleküle ist X 1 X 1D , und für die Lösemittelmoleküle, die an der inhärenten Solvatation beteiligt sind, ist X 1 z X 1D . X1 ist deshalb der Mittelwert der Volumina dieser beiden Solvatationsarten. Analoges gilt für X2.
4 Das Makromolekül in Lösung
311
Das totale Volumen V der Lösung enthält m1 Gramm Lösemittel und m2 Gramm getrocknete makromolekulare Substanz. G1 m2 Gramm des Lösemittels sind mit den Makromolekülen verbunden und besitzen das spezifische Volumen X1. Die verbleibenden (m1 G 1 m2 ) Gramm des Lösemittels sind frei. Ihr spezifisches Volumen ist gleich X 1D . Insgesamt gilt deshalb: V
m2 X 2 m2 G 1 X 1 m1 m2 G 1 X 1D
b
g
(4.533)
Für verdünnte Lösungen ist G1 eine Konstante. In diesem Fall können wir das mittlere partielle spezifische Volumen X 2 des Makromoleküls berechnen. Es gilt:
b wV w m g
X2
2 T , p, m1
X 2 G 1 X 1 G 1 X 1D
(4.534)
Diese Gleichung setzen wir in Gleichung (4.532) ein und erhalten:
b M N g dX
Vh
A
2
G 1 X 1D
i
(4.535)
Wenn das hydrodynamische Teilchen die Gestalt einer Kugel besitzt, ist Vh dieser Kugel ist
b3 M 4 S N g dX
Rh
A
2
G 1 X 1D
i
13
,
4S
Rh3
/ 3. Der Radius
(4.536)
und für den Reibungskoeffizienten gilt: f 0,K 6 S K 0 Rh
(4.537)
Ein hydrodynamisches Teilchen ist nur sehr selten eine exakte Kugel. Es ist trotzdem zweckmäßig, den aktuellen Reibungskoeffizienten f0 des Teilchens als Funktion von f0,K auszudrücken. Wir können schreiben: f0
f0
f 0,K 6 S K0 Rh
(4.538)
Für eine Kugel gilt: f 0 / f 0,K 1. Für alle anderen Teilchengestalten ist das Verhältnis f 0 / f 0,K ! 1 . f 0 / f 0,K ist somit ein Maß für die Stärke der Abweichung von der Kugelgestalt. Mit Gleichung (4.517) können wir Gleichung (4.538) umschreiben zu: f0
bk T g D B
c
6 S K 0 f 0 f 0,K
0
h e 3 MdX
2
G 1 X 1D
13
i b4 S N gj A
(4.539)
Diese Gleichung enthält zwei Unbekannte, das Verhältnis f 0 / f 0,K und den Solvatationsgrad G1. Alle anderen Größen sind entweder bekannt oder experimentell bestimmbar. Es ist klar, dass wir mit Gleichung (4.539) nicht gleichzeitig f 0 / f 0,K und G1 bestimmen können. Dennoch ist die folgende Diskussion hilfreich. Wir können den kleinstmöglichen Reibungskoeffizienten f0,min bzw. den größtmöglichen Diffusionskoeffizienten D0,max, der mit der Molmasse M und dem partiellen spezifischenVolumen X 2 verträglich ist, berechnen. f 0 / f 0, K ist in diesem Grenzfall eins und G1 gleich null, so dass Gleichung (4.539) in f 0,min
bk T g D B
0,max
b
6 S K0 3 M X2
g b4 S N g
13
A
(4.540)
übergeht. Es ist außerdem zweckmäßig, das Verhältnis f 0 f0,min
D0,max D0
cf
0
f 0,K
h dX
2
G 1 X 1D X 2
i
13
(4.541)
einzuführen. f0/f0,min ist dabei ein Maß dafür, wie stark sich ein Teilchen in seiner hydrodynamischen Gestalt von der einer starren unsolvatisierten Kugel unterscheidet. Je näher f0/f0,min bei eins liegt, desto kugelartiger ist das betrachtete Teilchen. f0/f0,min ist experimentell zugänglich. D0 wird gemessen und D0,max berechnet. Man muss dabei natürlich aufpassen, dass man D0,max und D0 auf die gleiche Temperatur und das gleiche Lösemittel
312
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
bezieht. Üblicherweise wird als „Standardlösemittel“ Wasser (Ks = 0,01002 Poise) und als „Standardtemperatur“ Ts = 20 °C gewählt. Tabelle 4.23: Diffusionskoeffizienten, partielle spezifische Volumina und f0/f0,min -Verhältnisse bezogen auf Wasser und die Standardtemperatur Ts = 20 °C
Mw/(g/mol)
1) D0,20 107 / (cm 2 /s)
X 2 / (cm3 g)
f0/f0,min
1,4 104 1,4 104 4,5 104 6,5 104 2,5 105 4,8 105 1,1 107 3,4 104 7,4 104 9,0 104 5,5 104 4,9 105 3,5 105 8,0 104 4,0 105 7,4 106
11,90 10,40 7,76 6,90 4,10 3,46 1,15 3,77 2,68 2,16
0,728 0,688 0,748 0,749 0,730 0,730 0,740 0,765
1,14 1,32 1,17 1,14 1,25 1,20 1,30 2,62 2,85 3,31
3,08 1,16 0,69 3,34 1,67 0,44
0,530 0,728 0,695 0,600
3,09 3,53 6,80 2,41 2,82 4,05
Polyacrylamid
2,5 105
1,70
0,700
3,08
Polyvinylpyrrolidon Polyacrylsäure Polymethacrylsäure Kalbsthymus-DNA Tabak Mosaik Virus
7,5 10 1,1 106 1,1 106 6,0 106 1,1 107
1,20 0,65 0,60 0,13 0,30
0,780 0,730 0,712 0,530 0,730
2,92 4,85 5,29 15,31 2,90
Polymer Ribonuclease Lysozym Ovalbumin Hämoglobin Catalase Urease Bushy Stunt Virus Polyvinylalkohol
Celluloseglykolat Myosin Collagen Dextran
1)
D0 , 20
5
a f
D0 T Ts K 0 T T K s
Typische Messwerte für f0/f0,min zeigt Tabelle 4.23. Es fällt auf, dass wir die untersuchten Makromoleküle in zwei Klassen aufteilen können. Die erste Klasse enthält Makromoleküle, für die f0/f0,min nahe bei eins liegt. Diese Moleküle besitzen eine hydrodynamische Gestalt, die sich nicht allzu stark von der einer Kugel unterscheidet. Es handelt sich ausschließlich um globuläre Proteine. In die zweite Klasse fallen alle die Makromoleküle, für die f0/f0,min deutlich größer als eins ist. Sie besitzen mit großer Wahrscheinlichkeit die Gestalt eines Knäuels oder eines Ellipsoids von großer Exzentrizität. Gleichung (4.541) zeigt, dass f0/f0,min von zwei Parametern, f0/f0,K und G1, abhängt. Diese können wir vorerst nicht bestimmen. Es ist aber möglich, den Bereich für die Werte abzuschätzen, die f0/f0,K und G1 annehmen können. Dazu betrachten wir die beiden Extremsituationen f0/f0,min = 1 und G1 = 0. Im Fall f0/f0,min = 1 können wir mit Hilfe von Gleichung (4.541) den maximal möglichen Wert von G1 berechnen. Wir wollen ihn mit G1,max bezeichnen. G1,max ist der Solvatationsgrad, der notwendig ist, damit sich das Makromolekül mit dem gemessenen Diffusionskoeffizienten D0 wie eine starre Kugel verhält. Für den Radius Rh dieser Kugel gilt: Rh k B T / (6 S K 0 D0 ) . Der andere Extremfall ist G1 = 0. Das Makromolekül ist in diesem Fall unsolvatisiert (trocken), und wir können
4 Das Makromolekül in Lösung
313
f0/f0,K berechnen. Sein Wert ist ein Maß für die maximal mögliche Asymmetrie der Teilchengestalt. Wir nehmen der Einfachheit halber an, dass unsere Teilchen die Gestalt eines prolaten Ellipsoids besitzen. Das Achsenverhältnis a/b dieses Ellipsoids lässt sich berechnen. Es gilt: f 0,PE
f 0,PE
f 0,K
6 S K0 Rh
1 b a § ln ¨ ª1 1 b a © «¬ 2
b a 2 3
2 12
2
2
12
º »¼
(4.542)
b a ·¸ ¹
Darin ist Rh der Radius der Kugel, die das gleiche Volumen besitzt wie das Ellipsoid ( Rh3 Der Index PE steht für prolates Ellipsoid.
a b2 ) .
Tabelle 4.24: Solvatation und Asymmetrie
Polymer Ribonuclease Lysozym Ovalbumin Hämoglobin Catalase Urease Polyvinylalkohol Mw = 3,4 104 g/mol 7,4 104 g/mol 9,0 104 g/mol Celluloseglycolat Myosin Collagen Kalbsthymus-DNA Mw = 6,0 106 g/mol
Maximale Solvatation (f0/f0,min = 1) Rh/nm G1,max
Maximale Asymmetrie (G1 = 0; f0/f0,min = f0,PE/f0,K) a /b
0,35 0,89 0,45 0,36 0,70 0,53
1,80 2,06 2,76 3,10 5,22 6,19
3,4 6,1 3,8 3,4 4,9 4,2
12,90 16,90 27,00
5,70 8,00 9,90
38,4 46,4 64,5
15,10 31,30 217,80
6,90 18,40 31,00
55,5 74,1 282,9
1901,00
164,50
1352,8
Die Daten, die wir auf diese Weise für G1,max und a/b erhalten, sind in Tabelle 4.24 zusammengestellt. Wir erkennen: Die Makromoleküle der ersten Klasse können weder stark solvatisiert sein noch eine hohe Asymmetrie aufweisen. Der maximale Solvatationsgrad G1,max liegt bei 1 Gramm Lösemittel pro 1 Gramm Protein, und das größte Achsenverhältnis a/b ist 6. Die richtigen Werte für G1 und a/b sind kleiner als diese Grenzwerte. In der Literatur wird für G1 der Kompromißwert G1 = 0,2 diskutiert. Das ergibt einen mittleren a/b-Wert von 3. Die Makromoleküle der zweiten Klasse besitzen deutlich größere G1,max und a/b-Werte als die der ersten Klasse. Hier gibt es zwei Möglichkeiten: (1) Die Makromoleküle besitzen eine kugelartige Gestalt. Der Anteil der gebundenen Lösemittelmoleküle ist dann sehr groß. Das ist bei Knäuelmolekülen näherungsweise der Fall. (2) Das Achsenverhältnis a/b ist sehr groß. Die Makromoleküle besitzen dann die hydrodynamische Gestalt eines langen Stäbchens, und G1,max ist klein. Die Kenntnis des Translations-Diffusionskoeffizienten D0 allein reicht nicht aus, um sich für eine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden. Wir müssen dazu die hydrodynamischen Daten mit den Daten einer nicht-hydrodynamischen Messmethode vergleichen. Dazu bietet sich in erster Linie die Methode der Statischen Lichtstreuung an. Diese liefert den mittleren Trägheitsradius R 2 !1T/ 2 des
314
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Makromoleküls im Theta-Zustand. R 2 !1T/ 2 lässt sich aber auch aus dem Diffusionskoeffizienten berechnen. Für das Modell eines unendlich dünnen Stäbchens gilt z.B.:
b gc
R 2 !1T 2 | k B T
h
3 S K 0 D0 .
Es liegt deshalb nahe, die hydrodynamisch bestimmten Trägheitsradien mit den Radien zu vergleichen, welche die Lichtstreuung liefert. Einige Beispiele für eine solche Vorgehensweise zeigt Tabelle 4.25. Wir erkennen: Die Proteine Myosin und Collagen haben sehr wahrscheinlich die Gestalt eines starren Zylinders. G1 muss jedenfalls sehr klein und a/b recht groß sein. PVP und Dextran besitzen die Gestalt eines Knäuels, DNA und PMA lassen sich nicht einordnen. Bei letzteren handelt es sich um Polyelektrolyte, für die noch elektrostatische Effekte zu berücksichtigen sind. Die wahrscheinlichste Gestalt ist die eines Knäuels mit hoher Persistenz, d.h. eine wurmartige Kette (siehe Kapitel 2). Tabelle 4.25: Berechnete und experimentell bestimmte Trägheitsradien bezogen auf den -Zustand.
R !*z,T = R 2 !1/2 z,T Polymer
Theoretische Werte für R ! z,T / nm Zufallsknäuel
Myosin Collagen Dextran (verzweigt) 8,0 104 g/mol 4,0 105 g/mol 7,4 106 g/mol PVP PMA 5,5 105 g/mol Kalbsthymus-DNA
Starres Stäbchen
Experimentelle Werte für
R ! z,T
28 47
63 106
47 87
10 19 73
22 44 165
8 15 56
27
61
26-34
22 92
56 208
27 120
Isoliertes Polymerknäuel mit Trägheitsradius R und Fadenendenabstand h
Gestalt
/ nm Stäbchen Stäbchen Knäuel
Knäuel Wurmartige Kette Wurmartige Kette
4 Das Makromolekül in Lösung
315
4.3.6 Chromatographische Verfahren 4.3.6.1 Size Exclusion Chromatography (SEC), Gelpermeationschromatographie (GPC) Die Größenausschluss-Chromatographie („size exclusion chromatography“, SEC) hat seit ihrer Entwicklung in den fünfziger und sechziger Jahren einen bedeutenden Aufschwung genommen und ist die zur Zeit wichtigste und am häufigsten verwendete Methode zur Bestimmung der Molmassenverteilung von Polymeren. In der Literatur spricht man auch von Gelpermeationschromatographie (GPC) oder bei Biopolymeren von Gelfiltration (GFT). Bei der SEC werden die zu trennenden Makromoleküle unterschiedlicher Molmasse in einer verdünnten Lösung durch eine Säule mit einer Füllung aus makroporösen Gelen gepumpt. Die Füllung besteht aus vernetztem Polystyrol, vernetztem Dextran, vernetztem Polyacrylamid, Cellulose oder Silica-Partikeln. Die meisten dieser makroporösen Gele quellen im verwendeten Lösemittel.
Abbildung 4.79: Schematische Darstellung der Size Exclusion Chromatography. Die vollen Kreise symbolisieren verschieden große Makromoleküle. Die großen Kreise mit den Schlangenlinien symbolisieren die gequollenen Gele.
Für niedrige Durchflussgeschwindigkeiten erwartet man einen chromatographischen Vorgang. Das Gesamtvolumen des Gelbettes in der Säule setzt sich zusammen aus dem Volumen des Gelgerüstes, dem inneren Volumen des Gels Vi und dem äußeren Volumen zwischen den Gelpartikeln V0. Das äußere Volumen V0 ist identisch mit dem Elutionsvolumen Ve einer Substanz mit einer Molmasse, die oberhalb der Ausschlussgrenze liegt; Makromoleküle dieser Größe können nicht in die Poren des Netzwerkes eindringen. Sie durchströmen die Säule ohne Verzögerung. Ve = V0 für große Moleküle. (4.543) Moleküle, die so klein sind, dass ihnen nicht nur das äußere Volumen V0, sondern auch das innere Volumen Vi zur Verfügung steht, verlassen die Säule mit einem Elutionsvolumen für kleine Moleküle. (4.544) Ve = V0 + Vi Ist den Molekülen aufgrund ihrer Größe jedoch nur ein Bruchteil Kd des Gelinneren zugänglich (0 < Kd < 1), so ergibt sich für Ve die SEC-Gleichung (4.545) Ve = V0 + Kd Vi Die Stoffkonstante Kd ist der scheinbare Verteilungskoeffizient für die Verteilung einer Substanz zwischen dem Lösemittel innerhalb und außerhalb der Gelkörper. Kd hängt vor allem von der Molekülgröße ab, ist aber auch eine Funktion der Porengröße und der Art des Gels, des Lösemittels, der Temperatur und des Verzweigungsgrades der gelösten Moleküle. Abbildung 4.79 stellt die Verhältnisse in einer SEC-Säule dar und demonstriert, dass bei der Elution zuerst die größeren und dann die kleineren Moleküle erscheinen. Die SEC-Gleichung (4.545) ist für Knäuelmoleküle zur Bestimmung der Molmassenverteilung nicht anwendbar, da Kd aufgrund der komplizierten Verhältnisse in der Säule nicht als Funktion der Molmasse berechenbar ist. Man muss daher die Eichung der Säule oder Säulenkombination mit Testsubstanzen mit sehr enger Molmassenverteilung vornehmen; dabei gilt oft der empirische Zusammenhang
316
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
log M = A B Ve
(4.546)
Abbildung 4.80: SEC-Eichkurve. Aufgetragen ist das Elutionsvolumen Ve gegen log M und log ([K] M). Die durchgezogene Kurve stellt den idealen Verlauf dar und die gestrichelte Kurve den experimentell ermittelten Verlauf.
Abbildung 4.80 zeigt, dass alle Moleküle mit einer Molmasse M > Mu und dem zugehörigen Ausschlussvolumen Ve = V0 gleichzeitig eluiert werden; das heißt, es erfolgt bei diesen Molekülen keine Trennung. Auf der anderen Seite werden alle Moleküle mit einer Molmasse M < Ml und dem zugehörigen Ausschlussvolumen Ve = V0 + Vi gleichzeitig eluiert. Die Ausschlussgrenzen dieser Kolonne liegen daher bei M = Ml und M = Mu. Moleküle mit Molmassen Ml < M < Mu werden unterschiedlich lange in der Kolonne festgehalten. Aus dem Elutionsvolumen ist nach vorheriger Eichung die Molmassenverteilung bestimmbar. Aus Abbildung 4.80 ist ersichtlich, dass die reale Eichkurve oft von der Gleichung (4.546) abweicht. Zur Anpassung der Messwerte und Berechnung der Molmassenverteilung werden daher Spline- oder Polynom-Funktionen verwendet. Für die Bestimmung der Anteile mit der Molmasse M muss die Konzentration der Makromoleküle im Eluat bestimmt werden. Dies kann im Durchfluss aufgrund der Brechungsindexunterschiede von Lösemittel und Gelöstem mit einem Differentialrefraktometer oder aufgrund der unterschiedlichen Absorption mit einem UV-VIS-Spektrometer erfolgen. Damit hat man alle Größen zur Konstruktion einer Molmassenverteilung. Besonderes Augenmerk ist aber darauf zu legen, dass bei der Bestimmung der Massenanteile wi = mi / 6mi zum Zeitpunkt t in der Durchflusszelle die gelösten Moleküle eine, wenn auch enge, Molmassenverteilung haben. Die differentielle Molmassenverteilung w(M) erhält man daher nur exakt, wenn jede einzelne gemessene Fraktion um den gleichen Betrag von der mittleren Molmasse der betreffenden Fraktion abweicht. Um diese Schwierigkeiten zu umgehen, wird daher oft die integrale Molmassenverteilung W(M) berechnet (siehe Kapitel 2.1.4):
a f
W M
M
za
f
w M dM
0
f
mit
za
f
w M dM
1
(4.547)
0
Durch Differentiation erhält man hieraus die differentielle Molmassenverteilung w(M) = dW(M)/dM, und mit Hilfe der Gleichungen (2.3), (2.7) und (2.10) die mittleren Molmassen Mn, Mw, Mz usw. Unter der Annahme, dass die Molmassenverteilung innerhalb einer Fraktion symmetrisch ist, kann man folgern, dass bezüglich der i-ten Fraktion mit der mittleren Molmasse Mi, die Hälfte der Fraktion kleinere, die andere Hälfte größere Molmassen als der Mittelwert Mi enthält. Man erhält also die Massenanteile aller Molmassen von M0 (der kleinsten Molmasse) bis Mi, indem man die
4 Das Makromolekül in Lösung
317
Massenanteile aller Fraktionen von 1 bis i 1 summiert und die Hälfte des Massenanteils der i-ten Fraktion dazuzählt. Zu beachten ist hierbei, dass die letzte Fraktion die Nummer 1 erhält, da die kleinen Moleküle am Ende der Fraktionierung erscheinen. Eine weitere Schwierigkeit bei der SEC ist, dass molekulareinheitliche Substanzen kein scharfes, sondern ein verbreitertes Signal liefern; dieser Effekt ist auf unterschiedliche Verweilzeiten der Makromoleküle gleicher Molmasse in den Poren zurückzuführen und wird als axiale Dispersion bezeichnet. Näherungsweise gilt Additivität der Quadrate der Standardabweichungen V oder des Polymolekularitätsindex Mw/Mn für die beiden Effekte der Molmassenverteilung und der axialen Dispersion auf die Signalbreite: 2 2 V exp V 2 V dis ;
Mw
M n exp
M w M n M w M n dis ,
(4.548)
wobei V und Mw/Mn die wahre Standardabweichung und der wahre Polymolekularitätsindex sind. Die Größen Vdis und (Mw/Mn)dis erhält man mit Hilfe von Eichpolymeren mit bekannter Molmassenverteilung. Bei der SEC ist das Elutionsvolumen Ve für lineare Polymere stets kleiner als dasjenige für verzweigte Polymere gleicher Molmasse: Ve,l Ve,b ;
M
const.; M l
Mb
(4.549)
Der Grund hierfür ist, dass das hydrodynamische Volumen Vh von verzweigten Polymeren kleiner als dasjenige von linearen Polymeren gleicher Molmasse ist und die Moleküle mit größerem hydrodynamischem Volumen die SEC-Säule zuerst verlassen. Dieses Verhalten wird zur Bestimmung des Verzweigungsgrades von Polymeren ausgenutzt (siehe Kapitel 4.3.9). Genauere theoretische Überlegungen bezüglich des Durchflussverhaltens in der SEC ergeben, dass die Makromoleküle nicht nach ihrer Molmasse sondern nach ihrem hydrodynamischen Volumen Vh (4 S / 3) Rh3 aufgetrennt werden. Der Zusammenhang zwischen Rh und der Molmasse M ist durch die Flory-Fox-Beziehung (Glg. 4.489) Rh3 ) c >K @ M
(4.550)
gegeben, wobei [K] die Grenzviskositätszahl und )’ eine Konstante sind. Falls die Kuhn-MarkHouwink-Beziehung für ein beliebiges Standard-Polymer/Lösemittel-System (z.B. Polystyrol/ Toluol) und für das zu messende Polymer/Lösemittel-System bekannt sind, kann die Bestimmung der Molmassenverteilung mit einer universellen Kalibrierung erfolgen. Hierzu wird in Abbildung 4.80 ~ statt log( M ) f (Ve ) die Beziehung log K M f Ve aufgetragen. Dadurch sollten die Kurven für alle geknäuelten Makromoleküle in eine Kurve zusammenrutschen. Da Gleichung (4.550) nur unter bestimmten Bedingungen streng gültig ist (siehe Kapitel 4.3.5) und außerdem die [K]-M-Beziehung für das zu messende Polymer/Lösemittel-System oft unbekannt oder experimentell schwer zugänglich ist, treten häufig Probleme mit der universellen Kalibrierung auf. Die einfache Kalibrierung mit der Kalibrierfunktion log( M ) f (Ve ) setzt voraus, dass mehrere Eichpolymere mit möglichst enger Molmassenverteilung zur Verfügung stehen müssen. Diese Schwierigkeiten können umgangen werden, indem Viskositäts- oder LichtstreuDurchflussdetektoren eingesetzt werden. Die Messung der Viskosität erlaubt mit Hilfe einer [K]-MBeziehung die Bestimmung der Molmasse für jede Fraktion; mit Lichtstreudetektoren kann die Molmasse jeder Fraktion absolut bestimmt werden. Hierdurch ist die Aufstellung von Kalibrierfunktionen entbehrlich. Bei der Auswertung ist jedoch zu beachten, dass das Messsignal beim Brechungsindex und beim UV-VIS-Detektor direkt proportional der Konzentration c, beim Viskosia tätsdetektor proportional c M K und beim Lichtstreudetektor proportional c M ist. Das bedeutet, dass der Brechungsindex- und der UV-VIS-Detektor alle Molmassen mit gleicher Auflösung detek-
b
g b g
318
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
tiert, während der Viskositäts- und der Lichtstreudetektor die großen Molmassen stark bevorzugt; die kleinen Molmassen verschwinden im Rauschen. Diese Überlegungen sind besonders wichtig bei der Diskussion von Molmassenverteilungen, die mit verschiedenen Methoden bestimmt werden. Abbildung 4.81 zeigt den prinzipiellen Aufbau einer SEC-Anlage. Pumpe
Abbildung 4.81: Prinzipieller Aufbau einer SEC-Anlage
Detektor 1
Detektor 2
SEC-Säulen Probe Injektor
Abbildung 4.82a zeigt das Elutionsdiagramm von fünf eng verteilten Polystyrolen. Die Maxima der Elutionskurven werden zur Aufstellung der SEC-Eichkurve, Abbildung 4.82b benutzt. Die Eichkurve kann als spezielle Eichkurve log(M) = f(Ve) oder als universelle Eichkurve ~ ~ log K M f Ve dargestellt werden. Bei der Eichkurve log K M f Ve müssen die Viskositäten aller Eichpolymerer im verwendeten Lösemittel bei der verwendeten Temperatur bekannt sein. Bei der Bestimmung der Molmassenverteilung, der Molmassenmittelwerte und der Uneinheitlichkeit eines unbekannten Polymeren nach den Gleichungen (2.10), (2.18), (2.27) und (4.547) ist eine Umrechnung der Signalhöhen oder -flächen der SEC-Detektoren in Massenanteile nicht not-
b
g b g
b
f
g b g
wendig, da die Molmassenverteilung auf 1 normiert ist: ( ³ w M dM 0
1 ). Es werden daher direkt
die Signalhöhen oder -flächen in die angegebenen Gleichungen eingesetzt und diese auf 1 normiert.
Abbildung 4.82a, b: SEC-Diagramm und SEC-Kalibrierung von fünf Eichpolystyrolen in Tetrahydrofuran (Mw = 9770, 46.000, 92.300, 208.000 und 512.000 g/mol; Mw/Mn d 1,05)
Bei Polymeren, für die keine Eichpolymeren zugänglich sind, muss die Bestimmung der Molmassenverteilung mit Hilfe der universellen Kalibrierung log >K @ M f Ve vorgenommen werden. Hierbei ist zu beachten, dass die Grenzviskosität [K] des unbekannten Polymeren im gleichen Lösemittel und bei der gleichen Temperatur wie die Eichpolymeren für jede Fraktion bekannt sein müssen. Hierfür gibt es zwei Möglichkeiten: 1) experimentelle Bestimmung von [K] für jede Fraktion (Viskositätsdetektor): M i >K @ M i Ki
4 Das Makromolekül in Lösung
319
2) Verwendung einer [K]-M-Beziehung für das unbekannte Polymer (z.B. Polym. Handbook, 1999):
K
>K @ M i
K
M
aK
M ; i
Mi
^>K @ M
i
KK
`
11 aK
(4.551)
Der Index i bezieht sich jeweils auf eine Fraktion. Aus den gemessenen Elutionsvolumina Ve ist aus der SEC-Eichkurve der Wert log >K @ M und mit den gemessenen oder berechneten [K]-Werten die Molmasse für jede Fraktion bestimmbar. 4.3.6.2 Elektrophorese Theoretische Grundlagen Die Wanderung eines geladenen Teilchens in einem elektrischen Feld heißt Elektrophorese. Wir nehmen an, dass unser Teilchen z e Ladungen trägt. Es erfährt dann im elektrischen Feld E die Kraft F zeE (4.552)
Dieser Kraft wirkt die Reibungskraft f X entgegen. Darin sind X die Wanderungsgeschwindigkeit und f der Reibungskoeffizient. Im Gleichgewichtszustand sind beide Kräfte gleich groß. Es gilt: X f zeE (4.553) Besitzt das Teilchen die Gestalt einer Kugel, so ist f
X
b
z e E 6 S K0 r
6 S K 0 r und wir erhalten:
g
(4.554)
wobei K0 die Viskosität des Lösemittels und r der Radius des Teilchens sind. Gleichung (4.554) ist aber nicht exakt. Ein Polyion in Lösung ist immer von einer Wolke niedermolekularer Ionen umgeben. Diese kleinen Ionen (Gegenionen) besitzen das entgegengesetzte Ladungsvorzeichen wie das Polyion. Das hat zur Folge, dass das Teilchen und die Ionenwolke in entgegengesetzte Richtungen wandern. Die Ionenwolke wird dabei verzerrt; sie besitzt an der Vorderseite des Teilchens eine geringere Ausdehnung als an der Hinterseite (siehe Abbildung 4.83).
Abbildung 4.83: Elektrophorese: Das negativ geladene Teilchen wandert zum Pluspol, die entgegengesetzt geladene Ionenwolke zum Minuspol
Das Teilchen erfährt durch die Ionenwolke eine zusätzliche Bremsung. Das effektiv wirksame elektrische Feld ist kleiner als das von außen angelegte Feld E. Es existieren zahlreiche Versuche, diesen Effekt theoretisch zu beschreiben. Leider sind alle bisher abgeleiteten Ausdrücke für X mehr oder weniger unbefriedigend. Wir geben deshalb nur ein Beispiel an. Das ist die Debye-HückelNäherung. Danach gilt:
X
b
z e 6 S K0 r
g XaN rf a1 N rf
(4.555)
X N r ist die Henry-Funktion, und N ist der Debye-Hückel-Parameter. Es gilt:
N 1
a1 Ff
a f
H0 H R T 2 I
(4.556)
Darin sind F die Faraday-Konstante, R die Gaskonstante und I die Ionenstärke. Gleichung (4.555) wurde für Kugelteilchen abgeleitet. Für andere Teilchenformen gilt in erster Näherung:
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
320
X
V e N 1 E K 0
(4.557)
Darin ist Ve die elektrophoretisch wirksame Flächenladungsdichte des Teilchens. Sie ist in der Regel deutlich kleiner als die wirkliche Ladungsdichte V. Für eine Kugel ist V z e 4 S r 2 . Die
d
i
Teilchen besitzen aber eine gewisse Oberflächenrauhigkeit und schleppen bei der Wanderung im EFeld einen bestimmten Teil der Gegenionen mit sich. Der Absolutbetrag der Ladungsdichte wird dadurch verkleinert. Elektrophorese-Experimente liefern somit fast nie die wahre Ladung eines Polyions. In der Praxis arbeitet man nur selten mit Ve. Meistens wird das sogenannte Zeta-Potential ] gemessen. Dieses ist wie folgt definiert: Jedes geladene Teilchen besitzt ein elektrostatisches Potential M (x). Es ist an der Oberfläche groß und wird mit steigendem Abstand x vom Teilchen kleiner. Das Teilchen führt eine bestimmte Lösemittelschicht der Dicke rh mit. Das elektrostatische Potential an der Oberfläche dieser Schicht ist das Zeta-Potential (siehe Abbildung 4.84). Es ist mit der effektiven Ladungsdichte Ve über die Beziehung ] V e N 1 H 0 H (4.558)
b g
verknüpft. Setzen wir diese Gleichung in Gleichung (4.557) ein, so folgt: X H 0 H ] E K0
(4.559)
Das Verhältnis U { X / E heißt Beweglichkeit. Gleichung (4.559) vereinfacht sich damit zu: U
H 0 H ] K0
(4.560)
U wird gemessen; ] kann somit bestimmt werden.
Abbildung 4.84: Skizze zur Definition des ] - Potentials (G. Adam, P. Läuger, G. Stark, Physikalische Chemie und Biophysik, Springer, Berlin 1995)
Trägerfreie Elektrophorese Ein Gerät zur Bestimmung der elektrophoretischen Beweglichkeit U ist der Tiselius-Elektrophorese-Apparat. Es besteht aus einem U-Rohr, in das parallel zum Hauptrohr die Elektroden eingebaut sind. Die Schenkel des U-Rohrs sind zu Beginn des Versuchs in gleicher Höhe mit Lösung gefüllt. Oberhalb der Lösung befindet sich das Lösemittel. Der Lösung/Lösemittel-Rand wandert, sobald das elektrische Feld eingeschaltet wird. Diese Wanderung lässt sich ähnlich wie bei der Ultrazentrifuge unter Zuhilfenahme einer Schlieren- oder Interferenzoptik vermessen. Heute arbeitet man allerdings nur noch selten mit einem Tiselius-Apparat. Meistens benutzt man einen der modernen Zeta-Sizer. Gel-Elektrophorese Die Gel-Elektrophorese ist eine zonale Technik. Die geladenen Makromoleküle wandern in einer Zone, der sogenannten Matrix. Sie sorgt für Stabilität und verhindert Konvektion. Die Matrix hat zusätzlich die Funktion eines molekularen Siebs, mit dessen Hilfe die Makromoleküle nach ihrer Größe getrennt werden. Die chemische Zusammensetzung der Matrix hängt von der Art der zu trennenden Moleküle ab. In der Regel ist die Matrix ein Polyacrylamid- oder ein Agarose-Gel, daher auch der Name Gel-Elektrophorese. Eine Übersicht gibt Tabelle 4.26.
4 Das Makromolekül in Lösung
321
Tabelle 4.26: Häufig verwendete Materialien bei der Gel-Elektrophorese
Matrix
Anwendungsgebiet
Papier Stärke-Gel Polyacrylamid-Gele unterschiedlicher Vernetzungsdichte Agarose-Gel
kleine Moleküle wie Aminosäuren und Nucleotide Proteine Proteine und Nucleinsäuren sehr große Proteine, Nucleinsäuren, Nucleoproteine
Das Prinzip der Gel-Elektrophorese ist in Abbildung 4.85 dargestellt. Die Matrix (das Gel) befindet sich in einem Glasrohr, es ist mit dem Lösemittel (einem Puffer) gequollen. Die Polyionlösung befindet sich am oberen Ende des Rohrs. Wenn die Spannung angelegt wird, wandern die Makroionen durch die Matrix. Makroionen mit einer hohen Beweglichkeit legen innerhalb einer vorgegebenen Zeit t eine große Wegstrecke zurück, weniger bewegliche Makroionen dringen weniger weit in die Matrix ein. Gewöhnlich wird der Lösung ein Farbstoff hoher Beweglichkeit zugesetzt; es lässt sich so verfolgen, wie weit die Wanderung fortgeschritten ist. Der Farbstoff dient gleichzeitig als Referenzsubstanz. Die relative Beweglichkeit Urel,i der Makroionenkomponente i ist dabei definiert als: U rel,i { U i U F d i d F (4.561) Darin sind Ui und UF die Beweglichkeiten und di und dF die in der Zeit t zurückgelegten Wegstrecken von Komponente i und Farbstoff F. Wir weisen darauf hin, dass die mit der GelElektrophorese bestimmte Beweglichkeit Ui deutlich kleiner ist als die mit der trägerfreien Elektrophorese ermittelte Beweglichkeit. Die Gel-Elektrophorese dient allein der Trennung von Makroionen. Wir betrachten zwei Fälle: (1) Die Makroionen besitzen alle die gleiche Masse und die gleiche Größe, sie unterscheiden sich aber in ihrer Ladung. Sie werden dann durch Elektrophorese nach dem Betrag ihrer Ladung getrennt. (2) Die Makroionen haben unterschiedliche Molmassen, ihre elektrophoretischen Beweglichkeiten sind aber gleich groß. Diese Moleküle werden bei der trägerfreien Elektrophorese nicht getrennt, wohl aber bei der Gel-Elektrophorese. Wir wollen versuchen, dies zu erklären. Der Reibungskoeffizient langer stäbchenartiger Moleküle der Länge L und der Dicke b genügt der Formel f | 3 K0 L ln L b
(4.562)
Die Ladung soll gleichmäßig über die Polyionkette verteilt sein. z ist somit proportional zu L. Für die Beweglichkeit bedeutet dies: U ~ ln L b 3 S K 0 (4.563)
a fb
g
Der Logarithmus ändert sich bei großen Werten von L nur sehr langsam mit L. Im Grenzfall L o f ist dU / dL 0 . Die elektrophoretische Beweglichkeit ist somit im Wesentlichen unabhängig von der Molmasse (der Länge) der Polyionen. Ein typisches Beispiel ist DNA. Die Knäuelketten sind sehr steif, und die Ladung ist proportional zur Kettenlänge. Die Beweglichkeit ist deshalb bei der trägerfreien Elektrophorese für alle Moleküle gleich; die Trennung erfolgt in Gel ausschließlich aufgrund der verschiedenen Molekülgrößen. Ein typisches Elektrophogramm zeigt Abbildung 4.86. Jede Bande entspricht einer bestimmten DNA-Fragment-Molmasse. Die Molmassen sind durch DNA-Sequenzierung bekannt. Dieses Elektrophogramm ist deshalb ein exzellentes Kalibrierset für die Bestimmung der Molmasse unbekannter DNA-Fragmente. Die zu untersuchende DNA muss natürlich die gleiche Konformation wie die „Kalibrier-DNA“ besitzen. Eine Ring-DNA besitzt eine andere relative Beweglichkeit als eine lineare DNA.
322
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Abbildung 4.85: Schema einer Gel-Elektrophorese-Apparatur. Zwei negativ geladene Proteine werden getrennt. (K.E. van Holde, 1985)
Abbildung 4.86: Elektrophogramm von DNA Fragmenten.
SDS-Gel-Elektrophorese Diese Methode wird häufig bei Proteinen eingesetzt. Das Protein wird zunächst durch Erhitzen mit einem Detergenz wie Natriumdodecylsulfat (SDS) denaturiert und dann unter Zusatz von weiterem SDS elektrophoriert. Das SDS umhüllt dabei das Protein; es entstehen stäbchenartige SDS-Protein-Micellen. Die Länge dieser Micellen ist proportional zur Länge des Proteins und damit proportional zu dessen Molmasse. Die Ladung des Proteins wird durch die viel höhere negative Ladung der SDS-Moleküle abgeschirmt. Das bedeutet: Gleichung (4.563) ist erfüllt; die SDS-Protein-Micellen werden aufgrund ihrer Molmasse getrennt. Die Molmasse eines unbekannten Proteins wird dabei durch Kalibrierung mit Proteinketten bekannter Molmassen bestimmt. Isoelektrische Fokussierung In Sedimentations-Gleichgewichtsmessungen kann man verschiedene Lösemittel so übereinander schichten, dass ein Dichtegradient entsteht. Die zu untersuchenden Teilchen kommen genau an der Stelle zur Ruhe, wo (1 X 2 U ) 0 ist. Darin sind X 2das spezifische Volumen der Teilchen und Udie Dichte des LösemittelsÄhnliches gilt für die Elektrophorese von Polyionen in einem pH-Gradienten. Die effektive Ladung eines Polyions wird durch den pH-Wert des Lösemittels bestimmt. Am isoelektrischen Punkt ist die Netto-Ladung des Polyions null. Das Polyion hört bei diesem pH-Wert auf zu wandern. Die experimentelle Ausführung eines solchen Experiments ist aber nicht einfach. Die sich einstellenden Polyionbanden müssen gegen Konvektion geschützt werden. Man benutzt dazu einen Sucrose-Gradienten. Der pH-Gradient wird stabil gehalten, indem man der Säule eine Mischung niedermolekularer Polyampholyte zusetzt. Sie wandern zu ihrem isoelektrischen Punkt, verbleiben dort und stabilisieren an diesem Punkt aufgrund ihrer Pufferfunktion den pH-Wert. Die Säule wird nach Einstellung des Elektrophoresegleichgewichts entleert und das Eluent UV-VIS spektro
4 Das Makromolekül in Lösung
323
metrisch untersucht. Die Auflösung dieser Methode ist bemerkenswert scharf. Ein Beispiel zeigt Abbildung 4.87. Die Kurve mit den Peaks zeigt die Absorption der verschiedenen Hämoglobinkomponenten einer Mischung bei O0 = 250 nm als Funktion des Elutionsvolumens bzw. der Säulenposition. Die andere Kurve präsentiert den pH-Gradienten.
Abbildung 4.87: Trennung verschiedener Hämoglobine mittels isoelektrischer Fokussierung. (A. Haglund, Sci. Tools, 14(1967)17)
4.3.7 Endgruppenanalyse Bei der Synthese von Makromolekülen verbleiben an den Enden der Molekülketten Atomgruppen, die sonst in der Kette nicht vorkommen. Dies können Radikalreste, Katalysatorreste oder funktionelle Gruppen sein. Außerdem ist es möglich, eine bestimmte Anzahl von leicht nachweisbaren Molekülgruppen in eine Kette einzubauen. Unter der Voraussetzung, dass das Makromolekül unabhängig von der Größe eine konstante Anzahl nachweisbarer Gruppen enthält, kann die Molmasse des Makromoleküls bestimmt werden:
M n Q mp
k
¦n
i
(4.564)
i 1
Q
= Anzahl der detektierbaren Gruppen je Makromolekül mp = Gesamtmasse des Polymers ni = Molzahl der detektierbaren Gruppe i Da die Moleküle gezählt werden, erhält man für polydisperse Polymere das Zahlenmittel Mn der Molmasse. Prinzipiell erlaubt Gleichung (4.564) die Bestimmung der Molmasse Mn für alle Makromoleküle, die detektierbare Gruppen enthalten und deren Struktur bekannt ist. Bei der Anwendung der Methode sind jedoch die folgenden Beschränkungen zu beachten: a) Im Falle von Endgruppen als detektierbare Gruppen nimmt der Anteil der Endgruppen und damit die Genauigkeit der Endgruppenbestimmung mit zunehmender Molmasse in einer polymerhomologen Reihe ab. b) Bei nichtlinearen Makromolekülen (verzweigte, Stern-, Kamm-Polymere, usw.) muss die Art und Zahl der Verzweigungen genau bekannt sein. Auf der anderen Seite erlaubt die Bestimmung der Molmasse mit einer anderen Methode und die Endgruppenanalyse die Bestimmung der Zahl und Art der Verzweigungen. Als Detektoren für die Endgruppenanalyse können alle geeigneten chemischen und physikalischen Methoden eingesetzt werden. Als chemische Methoden kommen in Frage die Titration (z.B. bei Polyestern) und die mikroanalytische Bestimmung von Atomen, die nur in den detektierbaren Gruppen (elementspezifische detektierbare Gruppen) enthalten sind. Bei der radiochemischen Methode werden einzelne Gruppen radioaktiv markiert und die Anzahl der radioaktiven Gruppen mit Radioaktivitäts-Messgeräten bestimmt. Als physikalische Methoden kommen in Frage die Kernresonanzspektroskopie (NMR), die UV-Spektroskopie und die IR-Spektroskopie. Die Genauigkeit derartiger Messungen und damit die
324
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
bei einem vorgegebenen Fehler bestimmbare obere Molmasse hängt sehr stark von der Art der detektierbaren Gruppe und der verwendeten Methode ab. Bei der Titration von funktionellen Endgruppen gelingt die Bestimmung von Mn bis etwa 40.000 g/mol; mikroanalytische Bestimmungen und radiochemische Methoden reichen bis zu einem Mn von etwa 200.000 g/mol. UV- und IRspektroskopische Methoden können in bestimmten Fällen bei besonders gut detektierbaren Gruppen bis zu Molmassen von 106 g/mol angewandt werden. 4.3.8 Spektroskopische Methoden 4.3.8.1 Ultraviolett-Spektroskopie (UV/VIS) Da Makromoleküle im Allgemeinen eine Molmassenverteilung aufweisen, ist es günstig, beim Lambert-Beerschen Gesetz
A = log(I0/I) = H c d
(4.565)
statt der molaren Konzentration c = n/V, die Massenkonzentration c = m/V zu verwenden. H ist dann der spezifische dekadische Extinktionskoeffizient. Die Dimension von H ist m2/kg, wenn die Konzentration in kg/m3 = g/dm3 und die Schichtdicke d in m angegeben werden. UV/VIS-spektroskopische Messungen können immer dann durchgeführt werden, wenn die Extinktionsmaxima von Lösemittel und Makromolekül genügend scharf getrennt werden. Bei synthetischen Polymeren liegen die Extinktionen häufig im kurzwelligen UV-Bereich; mit modernen UV-Geräten ist dieser Bereich jedoch gut erreichbar. Besonderes Augenmerk ist darauf zu richten, dass das Lambert-Beersche Gesetz nur für relativ niedrige Konzentrationen streng gültig ist, und die Konstante mit der Taktizität und der Sequenzlänge variiert. Wichtige Anwendungen der UVVIS-Spektroskopie in der Makromolekularen Chemie sind die Bestimmung der Polymerkonzentration bei der analytischen Ultrazentrifuge (Kapitel 4.3.2), die Bestimmung der Menge der detektierbaren Gruppen bei der Endgruppenanalyse (Kapitel 4.3.7), die Bestimmung der Copolymerzusammensetzung bei Copolymeren und die Analyse von Verunreinigungen in Polymeren. 4.3.8.2 Infrarot-Spektroskopie (IR) IR-spektroskopische Untersuchungen an Polymer-Lösungen sind auf wenige Anwendungen beschränkt, da die Rotations- und Schwingungsbanden des Makromoleküls oft von denen des Lösemittels überdeckt werden. IR-Spektren erlauben die Bestimmung von chemischen Gruppierungen im Makromolekül wie NH, CO und CN; besonders eindrucksvoll ist der Nachweis von Wasserstoffbrückenbindungen durch Verschiebung zu kürzeren Wellenlängen. Weiterhin kann die IRSpektroskopie zur Bestimmung der Diadenanteile zu einer Konformationsanalyse herangezogen werden. 4.3.8.3 Optische Rotationsdispersion (ORD) und Circulardichroismus (CD) Die optische Rotationsdispersion (ORD) und der Circulardichroismus (CD) sind besonders für Biopolymere wichtige Methoden zur Strukturaufklärung. Beide Methoden beruhen auf der Tatsache, dass polarisiertes Licht durch Wechselwirkung mit optisch aktiven Molekülen seine Eigenschaften ändert. Diese Änderungen können mit Spektropolarimetern gemessen werden. Eine elektromagnetische Welle ist durch die Amplitude und die Orientierung ihrer elektrischen und magnetischen Feldvektoren charakterisiert. Bei monochromatischem, linear polarisiertem Licht, das sich in x-Richtung ausbreitet, schwingt der elektrische Feldvektor E entsprechend der Sinusfunktion in der x-z-Ebene und der magnetische Feldvektor H senkrecht dazu in der x-y-Ebene. Bei circular polarisiertem Licht beschreiben die Spitzen der elektrischen und magnetischen Feldvektoren eine Schraubenlinie. Erfolgt die Änderung der Schwingungsrichtung im Uhrzeigersinn, ist
4 Das Makromolekül in Lösung
325
das Licht rechts circular polarisiert, erfolgt sie entgegen dem Uhrzeigersinn, ist es links circular polarisiert. Wir betrachten nun zwei links und rechts circular polarisierte Lichtstrahlen, die sich in der gleichen Richtung fortpflanzen. Sind sie von gleicher Wellenlänge und Intensität und zudem noch in Phase, so resultiert in der Überlagerung linear polarisiertes Licht. Pflanzen sich die beiden Lichtstrahlen jedoch mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten durch das Medium fort, so bilden die resultierenden E- und H-Summenvektoren einen veränderten Winkel zur Ausgangslage. Die Polarisationsebene wird dann um einen bestimmten Winkel D gedreht. Das ist der Fall in optisch aktiven Medien. Die Brechungsindizes nR und nL für rechts und links circular polarisiertes Licht sind dort verschieden groß. Man sagt: Das Medium ist circular doppelbrechend. Nach Fresnel gilt:
l O0 nL nR
D
(4.566)
Darin sind O0 die Wellenlänge des Lichts im Vakuum und l die Länge des durchstrahlten Mediums (der Küvette). Der Drehwinkel D hängt von der Konzentration c der optisch aktiven Substanz ab. In der Praxis arbeitet man deshalb meistens mit der spezifischen Rotation D O 0 ,T oder der molaren Rotation
I
O 0 ,T
. Es gilt:
D
O 0 ,T
I
O 0 ,T
a f { D al c M f , {D l c
(4.567) (4.568)
wobei c = m/V die Massenkonzentration und c/M = n/V die molare Konzentration sind. Oft wird bei Raumtemperatur (T = 20 qC) gearbeitet und für O0 die gelbe Linie des Natriumlichtes, die sog. D-Linie, benutzt. Optische Rotationsdispersion (ORD) Die spezifische Rotation [D] hängt von der Wellenlänge des benutzten Lichts ab. Im Normalfall wird der Betrag von [D] größer, wenn O0 kleiner wird. Die zugehörige Dispersionskurve heißt normale ORD-Kurve. Sie besitzt innerhalb des untersuchten Spektralbereiches weder ein Maximum noch ein Minimum, und die durchstrahlte Substanz zeigt keine Absorption. Die Form der normalen ORD-Kurve lässt sich durch die Drude-Gleichung beschreiben. Es gilt:
>D @
A ª¬O02 OA2 º¼
(4.569)
Darin sind A eine Konstante und OA die Wellenlänge des nächsten Absorptionsmaximums. Beispiele für normale ORD-Kurven zeigt Abbildung 4.90. Dort sind ORD-Messergebnisse für KalbsthymusDNA in verschiedenen Lösemitteln dargestellt. Für wässrige Pufferlösungen ist [D] positiv und für Dimethylsulfoxid (DMSO) negativ. Die Polarisationsebene des Lichts wird also einmal nach rechts und einmal nach links gedreht. Die Dispersionskurve einer Substanz kann auch innerhalb ihres Absorptionsbereiches liegen. Sie heißt dann anormale ORD-Kurve und besitzt ein Maximum, ein Minimum oder beides (siehe Abbildung 4.89). Dieser Effekt heißt Cotton-Effekt.
326
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Abbildung 4.88: ORD-Spektrum von KalbsThymus DNA in verschiedenen Lösemitteln. o o Puffer 35 C; Puffer 90 C; u DMSO
Abbildung 4.89: Anormales ORD-Spektrum mit Cotton-Effekt (H. Fritzsche et al., 1976).
Circulardichroismus Links und rechts circular polarisiertes Licht wird von einer optisch aktiven Substanz in der Regel unterschiedlich stark absorbiert. Einige Absorptionsbanden absorbieren links circular polarisiertes Licht stärker und andere rechts circular polarisiertes. Diese Erscheinung heißt Circulardichroismus (CD). Ein Maß für die Stärke des Circulardichroismus bei einer gegebenen Wellenlänge O0 ist die Differenz 'H H L H R der Absorptionskoeffizienten. Der Wendepunkt Oweiner anormalen ORD-Kurve (Abbildung 4.92a) fällt mit dem Maximum 'Hmax der CD-Kurve (Abbildung 4.92b) zusammen.
Abbildung 4.90: Anormale ORD-Kurve mit positiver CD-Kurve (H. Fritzsche et al., 1976)
Die Amplituden der elektrischen Vektoren von links und rechts circular polarisiertem Licht, EL und ER, sind nach dem Durchgang durch ein Medium, das den Cotton-Effekt zeigt, infolge unterschiedlicher Adsorption unterschiedlich groß. Der Summenvektor E = EL + ER beschreibt jetzt eine Ellipse. Der Winkel \ zwischen E und EL heißt Elliptizität. Daraus leiten sich die spezifische Elliptizität \ O ,T und die molare Elliptizität T O 0 ,T ab. Es gilt: 0
\ T
O 0 ,T O 0 ,T
\l c
(4.570)
a f
\l c M
(4.571)
Es gilt außerdem: T | 3300 'H
(4.572)
Ist 'H bekannt, so lässt sich die Rotationsstärke R berechnen. Wir finden: R
d
3000 h c0 ln 10 32 S 2 NA
i z b'H O g d O 0
0
,
(4.573)
4 Das Makromolekül in Lösung
327
wobei h die Plancksche Konstante und c0 die Lichtgeschwindigkeit sind. R steht mit dem elektrischen Übergangsdipolmoment pe und dem magnetischen Übergangsdipolmoment pm in Beziehung: R pe pm cosM , (4.574) wobei M der Winkel zwischen pe und pm ist. Chiralität Alle Moleküle, die weder Spiegelachsen noch Inversionszentren besitzen, sind optisch aktiv. Die Eigenschaft der Nichtidentität eines Moleküls mit seinem Spiegelbild heißt Chiralität. So sind alle asymmetrischen Moleküle chiral, d.h. optisch aktiv. Sie können nicht durch Drehung in ihre Spiegelbilder umgewandelt werden. Wir wollen als Beispiel die rechtshändige Helix in Abbildung 4.91 betrachten. Sie werde mit circular polarisiertem Licht bestrahlt. Die elektrischen Felder E1 und E2 des Lichtes induzieren in der Helix oszillierende Dipole. Die Elektronen der Helix bewegen sich entlang der Helixwindung in Richtung der gekrümmten Pfeile. Circular polarisiertes Licht enthält aber auch magnetische Felder. Das magnetische Feld H2 oszilliert parallel zur Helixachse und induziert somit ebenfalls einen elektrischen Strom. Die Felder E1 und H2 sind parallel. Sie sind um 90q phasenverschoben, ihre Ableitungen nach der Zeit sind aber in Phase. Das bedeutet: Sowohl die elektrischen als auch die magnetischen Felder des Lichts tragen zur Elektronenbewegung in der Helix bei. Die von Helix-Windung zu Helix-Windung kreisenden und schwingenden Elektronen erzeugen ihrerseits magnetische und elektrische Dipolmomente parallel zur Helixachse. Ihre Phasen (und das ist der ausschlaggebende Punkt) unterscheiden sich um 180q für links und rechts circular polarisiertes Licht. Für die Elektronen bedeutet dies: Sie werden bei der einen Polarisationsrichtung durch die elektrischen und magnetischen Felder gleichsinnig und bei der anderen Polarisationsrichtung ungleichsinnig bewegt. Rechts und links circular polarisierters Licht wird deshalb von Molekülen, die eine Helixstruktur besitzen, unterschiedlich stark absorbiert. Ist die Helix linkshändig, so finden wir den gleichen Effekt; die ORD-Kurve kehrt sich nur um.
Abbildung 4.91: Die Wechselwirkung von circular polarisiertem Licht mit einer Helix (K.E. van Holde, 1985)
Circulardichroismus bei Makromolekülen Es existieren bei Makromolekülen im wesentlichen drei Arten von Asymmetrien, die zu optischer Aktivität führen: (1) Die Primärstruktur ist asymmetrisch. Die D-Kohlenstoffatome der meisten Aminosäuren besitzen vier verschiedene Substituenten. Polypeptide und Proteine sind deshalb oft optisch aktiv. (2) Die Sekundärstruktur vieler Biopolymere ist helical. Dies führt zu optischer Aktivität in der Hauptkette oder in den helical angeordneten Seitengruppen. (3) Die Tertiärstruktur eines Makromoleküls kann so strukturiert sein, dass eine symmetrische Gruppe in eine asymmetrische Umgebung eingegliedert ist. Die elektronischen Übergänge der Ringelektronen von Tyrosin sind normalerweise nur schwach optisch aktiv. In einigen globulären Proteinen sind die Tyrosinringe von asymmetrischen elektrischen Feldern umgeben. Diese stören die elektronischen Übergänge und sorgen so für eine strake optische Aktivität. Wir kommen jetzt zu einigen Beispielen. Polypeptide können verschiedene Konformationen annehmen. Das sind im Wesentlichen die D-helicale Konformation, die E-Faltblattstruktur und das
328
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
statistische Knäuel. Die CD-Kurven dieser Konformationen unterscheiden sich erheblich. Ein sehr schönes Beispiel sind die CD-Kurven des Poly-L-lysins.
Abbildung 4.92: CD-Kurven von verschiedenen Konformationen des Poly-L-lysins (N. Greenfield et al., Biochemistry 8(1969)4108)
Die D-helicale Polypeptidstruktur lässt sich mit Hilfe der Excitonentheorie von Moffit beschreiben. Es gilt: m
O0
Darin ist m
a k2 b k4 2 k O20 k 2
O20 O0
d
i
2
(4.575)
die mittlere Drehung pro Aminosäurerest bei der Wellenlänge O0; b und k sind cha-
rakteristische Konstanten der Helix, und a ist ein Parameter, der sowohl Beiträge der Helix als auch der Aminosäurereste enthält. Moffit nimmt an, dass das Polypeptid nur D-helical und als statistisches Knäuel vorkommt. Der b-Wert ist dann ein Maß für den D-Helix-Gehalt, vorausgesetzt dass eine Eichung für k erfolgt. Es existieren andere Versuche, die CD-Kurven von Proteinen durch gewichtete Überlagerungen sogenannter „basis spectra“ zu beschreiben. Darin erfasst ein Basis-Spektrum eine ganz bestimmte Konformation. Die CD-Kurven werden mit Hilfe dieser „curve-fitting“-Methode oft recht gut wiedergegeben. Es lassen sich Aussagen über die Helixgehalte machen, ihre Genauigkeit ist aber selten größer als 20 %. Eine exakte Bestimmung ist nicht möglich, da bis heute klare Definitionen für die Referenzkurven 100 % D-helical, 100 % E-Faltblatt und 100 % statistische Konformation fehlen. Die einzige zweifelsfreie Methode zur Helixgehaltermittlung eines Proteins ist nach wie vor die Röntgenkleinwinkelstreuung. Die Konformation eines Makromoleküls hängt von den Randbedingungen wie z.B. Temperatur, pH-Wert und Lösemittel ab. CD-Messungen sind deshalb hervorragend geeignet, um Konformationsänderungen festzustellen. Ein etwas ausgefallenes Beispiel ist das Polynucleotid Poly(dG dc) poly(dG dc). In verdünnter Salzlösung besitzt es die Konformation einer B-DNA, d.h. es stellt eine rechtshändige Doppelhelix dar. Ist die Salzlösung konzentriert, so findet ein Übergang zur linkshändigen Helix statt. Man spricht von der Z-Form. Das CD-Spektrum wird dadurch invertiert (siehe Abbildung 4.93). Die Inversion ist allerdings nicht exakt, die Z-DNA ist keine reine linkshändige B-DNA. Die phosphatierte Grundkette ist etwas anders angeordnet.
4 Das Makromolekül in Lösung
329
Abbildung 4.93: CD-Spektren von Poly(dG dc) poly(dG dc) in der B- und der Z-Form (K.E. van Holde, 1985)
4.3.8.4 Massen-Spektroskopie (MS) Leistungsfähige Massenspektrometer erlauben in Verbindung mit verbesserten Ionisierungstechniken die Bestimmung der Molmasse von Polymeren und Biopolymeren mit Molmassen bis zu M = 5 105 g/mol. Das schwierigste Problem hierbei ist die Erzeugung von isolierten, ionisierten Molekülen in der Gasphase. Für Polymere und Biopolymere hat sich als Ionisierungstechnik die matrix assisted laser desorption and ionisation (MALDI) und als Detektor ein Flugzeitspektrometer (time of flight spectrometer, TOF) bewährt. Bei der MALDI wird das gelöste Makromolekül mit einer Matrixsubstanz gemischt, das Lösemittel verdampft und dann mit einem gepulsten UVLaserstrahl beaufschlagt. Als Matrix werden vorzugsweise organische Säuren (Nikotinsäure, 2,5Dihydroxybenzoesäure, p-Nitroanilin) verwendet. Die Energieabsorption durch den gepulsten UVLaserstrahl bewirkt eine Anregung der Matrixmoleküle mit anschließendem Phasenübergang fest gasförmig und Desorption und Ionisation der Matrix- und Polymermoleküle. Die erzeugten Ionen liegen normalerweise als Anionen vor und werden im anliegenden elektrischen Feld (Beschleunigungsspannung U 3000 V) beschleunigt. Am Ende des elektrischen Feldes haben die Ionen eine elektrische Energie z · e · U (z = Ladungszahl, e = Elementarladung) aufgenommen und fliegen massenabhängig mit konstanter Geschwindigkeit und einer mechanischen kinetischen Energie (1/2) · m · 2 zum Detektor. Aus der Energieerhaltung folgt: (1/2) · m · 2 = z · e · U (4.576) Mit = L/t (L = Länge des Flugkanals ab dem Ende des elektrischen Feldes zum Detektor, t = Flugzeit) erhält man für das Verhältnis von Masse/Ladung des Makromoleküls m/z: (4.577) m/z = 2 · e · U · (t/L)2
330
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Die Flugzeit der Makromoleküle, die als Ionen vorliegen, wird mit einem Flugzeitspektrometer (TOF) als Detektor gemessen; damit hat man alle Größen, um m/z eines Makromoleküls zu bestimmen. Das Massenverhältnis von Makromolekül und Matrix liegt zwsichen 0,1 und 0,01 und muss bei der Berechnung der Molmassen der Makromoleküle berücksichtigt werden. Zur Berechnung der Molmasse und der Molmassenverteilung müssen zusätzliche Überlegungen oder Messungen zur Bestimmung der Ladungszahl z angestellt weden. Dies ist oft auf einfache Weise möglich, weil z ganzzahlig ist und üblicherweise die Zahlenwerte 1, 2 oder 3 hat. Durch Änderung der experimentellen Bedingungen (Energie der Laserpulse, Massenverhältnis von Polymer und Matrix) ändert sich z im Allgemeinen, wodurch eine Extrapolation nach z 1 möglich ist. Die nebenstehende Abbildung zeigt ein typisches MALDI-TOF Spektrum eines aliphatischen hyperverzweigten Polyesters. Aufgetragen ist das Verhältnis Masse/Ladung m/z gegen die Intensität in willkürlichen Einheiten. Hieraus kann die Molmassenverteilung des Polyesters berechnet werden. Die Massenspektrometrie hat sich zu einer anerkannten, leistungsfähigen Methode zur absoluten Bestimmung der Molmassen und der Molmassenverteilungen von Makromolekülen, der Polymer- und der Copolymerzusammensetzung und der Endgruppenanalyse entwickelt. Besonders leicht zu vermessen sind Polyelektrolyte, die mit anderen Methoden (z.B. SEC, CLS) nur mit größeren Schwierigkeiten zu analysieren sind. Der Grund dafür ist, dass Polyelektrolyte bereits die für die Massenspektroskopie notwendigen Ladungen besitzen 4.3.9 Kernresonanz-Spektroskopie (NMR) Ausgehend von der Organischen Chemie ist die Kernresonanz-Spektroskopie („nuclear magnetic resonance“, NMR) zu einer wichtigen und häufig verwendeten Methode zur Bestimmung der Struktur und der Eigenschaften von Makromolekülen geworden. 4.3.9.1 Theoretische Grundlagen Mechanische, elektrische und magnetische Eigenschaften der Atomkerne Die Atomkerne sind aus Protonen und Neutronen aufgebaut, die jeweils beide einen Kerndrehimpuls (Kernspin) haben. Alle Atomkerne besitzen eine elektrische Ladung und einen resultierenden Kerndrehimpuls (resultierender Kernspin, im allgemeinen Kernspin genannt) p. Die vektorielle Addition der Einzelkerndrehimpulse der im Atomkern enthaltenen Protonen und Neutronen ergibt den resultierenden Kernspin p, wobei dieser auch 0 sein kann. Durch den resultierenden Kerndrehimpuls des geladenen Atomkerns wird ein magnetisches Feld entlang der Drehachse induziert; die Atomkerne benehmen sich wie kleine Stabmagnete. Das magnetische Moment μ des Atomkerns ist proportional dem resultierenden Kernspin p μ = p, (4.578) wobei das magnetogyrische Verhältnis eine charakteristische Konstante für alle Kernarten ist (siehe Tabelle 4.27). Die quantenmechanische Behandlung des Kernspins p zeigt, dass dieser gequantelt und durch die Kernspin-Quantenzahl I charakterisiert ist:
4 Das Makromolekül in Lösung
ª¬ I I 1 º¼
p
1/2
=.
331
(4.579)
Hierbei ist I = 0, 1/2, 1, 3/2, 2, 5/2, 3, …… und = h/(2 ). Damit erhält man für das magnetische Moment μ des Atomkerns:
P J ¬ª I I 1 ¼º = . 1/2
(4.580)
Das magnetische Moment μ kann auch in Einheiten des Kernmagnetons μN = e /(2 mp) = 5,0507866 · 10–27 J T–1 (e = elektrische Ladung, mp = Masse des Protons) ausgedrückt werden μ = gN μN p, (4.581) wobei gN der Kern-g-Faktor ist. Da = gN μN ist, kann gN leicht aus berechnet werden. Für die verschiedenen Atomkerne lässt sich die Kernspin-Quantenzahl I nicht allgemein voraussagen; es gibt jedoch drei Regeln. Ist sowohl die Zahl der Protonen als auch die Zahl der Neutronen im Atomkern gerade, so ist I = 0 (kein resultierender Kernspin und damit kein magnetisches Moment); z.B. ist für 12C und 16O die Kernspin-Quantenzahl I = 0. Ist die Summe der Protonen und Neutronen im Atomkern ungerade so ist I = 1/2, 3/2, 5/2, … (z.B. 13C, 15N, 17O, 19F, 31P, 33 S). Ist sowohl die Zahl der Protonen als auch die Zahl der Neutronen im Atomkern ungerade, so ist I = 1, 2, 3, 4, … (z.B. 10B, 14N). Die magnetischen und elektrischen Eigenschaften von einigen Atomkernen, die für die NMR von Polymeren wichtig sind, sind in Tabelle 4.27 aufgeführt. Kerne mit I > 0 werden als magnetisch bezeichnet, da sie Magnetfelder entlang der Rotationsachse erzeugen und zum Phänomen der kernmagnetischen Resonanz führen. Kerne mit I > 1/2 sind nicht nur magnetische Dipole, sondern auch elektrische Quadrupole; diese haben nicht-sphärische elektrische Ladungsverteilungen mit nicht-sphärischer Symmetrie und wechselwirken sowohl mit magnetischen als auch mit elektrischen Gradienten. Die Größen der beiden beschriebenen Effekte sind abhängig vom magnetischen Moment μ und vom elektrischen Quadrupolmoment Q. Die in Tabelle 4.27 aufgeführten relativen Empfindlichkeiten DP und DC sind proportional der natürlichen Häufigkeit des Atomkerns, dem Quadrat der Flussdichte B und der dritten Potenz aus dem magnetogyrischen Verhältnis 3 und repräsentieren die Verfügbarkeit der verschiedenen Atomkerne für die NMR. Die Empfindlichkeiten werden relativ zu den häufig benutzten Kernen 1H (DP) und 13C (DC) angegeben. Tabelle 4.27: Magnetische Eigenschaften von NMR Kernen (Spin I = Kernspin-Quantenzahl I)
Isotop
Spin
I 1 2
H H
1/2
Magnetisches MagnetoMoment gyrisches Verhältnis / N · 10 7 [rad T–1 s–1]
Natür- Relative Empfindlichkeit liche HäufigDc Dp keit [%]
4.837353570 26.7522128
99.9885 1.000
5.87·103 –6
1
1.21260077
4.10662791
0.0115
1.11·10
13
C
1/2
1.216613
6.728284
1.07
1.70·10–4 1.00
14
N
1
0.57100428
1.9337792
99.632
1.00·10–3 5.90
15
N
1/2
–0.490
–2.71261804
17
O
5/2
–2.24077
–3.62808
19 31
F P
1/2 1/2
4.553333 1.959
25.18148 10.8394
Präzessions- Quadrupolfrequenz bei moment |B0| = 2.35 T Q [fm2] [MHz] 100.000000 15.350609 7.226317
0.368
3.84·10
10.136767
0.038
1.11·10–5 6.50·10–2
13.556457
100.00
0.834 6.65·10
–2
2.25·10
0.2860
25.145020 –2
100.00
–6
6.52·10
–3
4.90·10
3
94.094011
3.91·10
2
40.480742
2.044 –2.558
332
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Atomkerne im Magnetfeld Atomkerne mit einer Kernspin-Quantenzahl I > 0 haben ein magnetisches Moment und richten sich daher in einem homogenen statischen Magnetfeld mit der magnetischen Flussdichte B in der Weise aus, dass der Kerndrehimpulsvektor p ausgewählte Winkel zum B-Vektor einnimmt. Dieses Verhalten des Kerns im Magnetfeld wird Richtungsquantelung oder Zeeman-Effekt genannt. Die Drehimpulskomponente des Kernspins p in Richtung des Feldes wird mit pB bezeichnet und beträgt (4.580) pB = m · , wobei m die Orientierungs- oder magnetische Quantenzahl ist. Die quantenmechanische Behandlung des Kernspins im Magnetfeld ergibt, dass die magnetische Quantenzahl in insgesamt (2 I + 1) Eigenzustände aufgespalten wird; diese werden auch als Kern-Zeeman-Niveaus bezeichnet: m = I, I – 1, I – 2, ….., –I + 1, –I . (4.582) Für den Wasserstoff- und den Kohlenstoff-Kern ist I = 1/2 und daher m = 1/2 und –1/2. Für den 14 N-Kern ist I = 1 und daher m = 1, 0 und –1. Anschaulich vorstellen kann man sich die Richtungsquantelung des Kerns durch eine Kreisbewegung der Rotationsachse des Kerns um die Achse des statischen Magnetfeldes; diese Bewegung wird Präzession genannt. Die Winkelgeschwindigkeit der Präzessionsbewegung ist die Larmorfrequenz . Diese ist proportional der magnetischen Flussdichte B: (4.583)
= |B| . Mit = 2 erhält man daraus einen Ausdruck für die Präzessionsfrequenz : (4.584) = |B| / (2 ) Die Kern-Zeeman-Niveaus haben die Energie: (4.585) E = –μ · B oder E = – |B| m oder E = – m. Diese Energieaufspaltung in verschiedene Niveaus bei Anwesenheit von magnetischen Feldern für Kerne mit I > 0 wird Kern-Zeeman-Aufspaltung genannt. Kernmagnetische Resonanz Die Basis der kernmagnetischen Resonanz ist die Induzierung von Übergängen zwischen den Zeeman Energieniveaus der Kerne. Dies wird erreicht durch Einstrahlung von elektromagnetischer Strahlung senkrecht zum homogenen, statischen Magnetfeld. Die quantenmechanisch begründeten Auswahlregeln erlauben solche Übergänge zwischen den Energieniveaus 2 und 1, wenn m2 – m1 = m = ±1; dabei ist m = +1, wenn Energie absorbiert wird (Übergang vom niedrigeren zum höheren Energieniveau) und m = –1 wenn Energie emittiert wird (Übergang vom höheren zum niedrigeren Energieniveau). Die Übergänge zwischen den Energieniveaus E2 und E1 ergeben sich mit Hilfe von Gleichung (4.585) zu: (4.586)
E = E2 – E1 = |B| m2 – |B| m1 = |B| (m2 – m1). Da die Auswahlregeln lediglich m2 – m1 = m = ±1 für Absorption und Emission zulassen, ergibt sich:
E = ± |B| . (4.587) Kernmagnetische Resonanz tritt auf, wenn die Frequenz der eingestrahlten elektromagnetischen Strahlung exakt gleich der Präzessionsfrequenz des rotierenden Atomkerns ist; bei dieser Frequenz der eingestrahlten Welle tritt ein Übergang von einem Kernspin-Niveau zu einem anderen auf, der durch die magnetische Quantenzahl m charakterisiert ist. Auf diese Weise tritt kernmagnetische Resonanz auf, wenn ein Atomkern mit I > 0 in ein homogenes, statisches Magnetfeld plaziert und mit elektromagnetischer Strahlung mit der entsprechenden Frequenz beaufschlagt wird, sodass die
4 Das Makromolekül in Lösung
333
Präzessionsfrequenz des rotierenden Kerns festgestellt werden kann. Unter diesen Bedingungen ergibt sich die Frequenz der elektromagnetischen Strahlung (Radiofrequenz), die die Resonanz hervorruft zu:
E = h = |B| oder = |B| / ( 2 ) . (4.588) Aus Gleichung (4.588) und dem vorher Gesagten ergibt sich, dass auch die Präzessionsfrequenz des Atomkerns ist. Gleichung (4.588) ist die Resonanzbedingung und die Basis der NMR Spektroskopie. Sie gibt den Zusammenhang zwischen der elektromagnetischen Frequenz, die die Kernresonanz hervorruft und der magnetischen Flussdichte B. Mit dieser Gleichung kann die Radiofrequenz , die die Resonanz hervorruft, für verschiedene Flussdichten berechnet werden. In Tabelle 4.27 sind die Präzessionsfrequenzen (die unter Resonanzbedingungen gleich den Radiofrequenzen sind) für einige Kerne für eine magnetische Flussdichte von |B0| = 2.35 T, bezogen auf die Frequenz = 100,0 MHz für den 1H-Kern, aufgeführt. Für höhere magnetische Flussdichten |B| kann die Präzessionsfrequenz nach: = 0 · |B| / |B0| (4.589) mit |B0| = 2.35 T und 0 = Präzessionsfrequenz bei |B0| = 2.35 T berechnet werden. Chemische Verschiebung Die Fundamentalgleichung der NMR, Gleichung (4.588) ergibt für jeden Atomkern einen einzelnen Peak aus der Wechselwirkung zwischen der Energie der Radiofrequenz der elektromagnetischen Welle und der magnetischen Flussdichte des Magnetfeldes, weil das magnetogyrische Verhältnis für jeden Atomkern eine charakteristische Konstante ist. Allerdings wird die Resonanzfrequenz von der Kernumgebung beeinflusst, z.B. wird der Kern von der Elektronenwolke abgeschirmt. Unter dem Einfluss des Magnetfeldes erzeugen die Elektronen ein eigenes Magnetfeld, das dem ursprünglichen Magnetfeld entgegengerichtet ist und so einen Abschirmeffekt verursacht. Die Größe dieses induzierten Magnetfeldes ist proportional dem angelegten Magnetfeld. Die auf den Atomkern wirkende effektive magnetische Flussdichte Beff setzt sich also zusammen aus der magnetischen Flussdichte B und dem durch die Elektronen erzeugten Beitrag · B, wobei die Abschirmkonstante ist: Beff = B – · B . (4.590) Damit ergibt sich für die Resonanzbedingung: (4.591) = [ |B| / (2 )](1 – ) . Aus dem Gesagten ergibt sich, dass ein Atomkern durch die Zahl und den Zustand der umgebenden Elektronen verschieden stark abgeschirmt werden kann. Die Stärke der Abschirmung ist proportional der magnetischen Flussdichte und wird durch die Abschirmkonstante ausgedrückt. Da die effektive magnetische Flussdichte Beff und damit die Abschirmkonstante nicht mit der notwendigen Genauigkeit bestimmt werden können, lassen sich die Kernresonanz-Absorptionen nicht auf einer absoluten Skala von oder |B| angeben. Die Resonanzsignale werden daher auf eine Referenzverbindung bezogen und als neue Messgröße wird die chemische Verschiebung definiert: (in ppm) = [( s – r) / r] · 106 , (4.592) wobei s und r die Resonanzfrequenzen der Probe und der Referenzsubstanz bei konstanter magnetischer Flussdichte B = Br = Bs sind. Das bedeutet, dass die Resonanzfrequenzen für die Probe und die Referenzsubstanz bei gleicher magnetischer Flussdichte B gemessen werden müssen. Die chemische Verschiebung ist eine dimensionslose physikalische Größe, die aus praktischen Gründen mit dem Faktor 106 multipliziert wird, um zu handhabbaren Zahlenwerten im Bereich 0 bis 350 ppm zu kommen [daher (in ppm)]. Eine häufig gebrauchte Referenzsubstanz für die 1H- und 13C-NMR-Spektroskopie ist Tetramethylsilan (TMS). Die Größenordnung der -Skala beträgt für 1H etwa 10 ppm und für 13C etwa 200 ppm. Nach Gleichung (4.591) und (4.592) verschieben sich die chemischen Verschiebungen
334
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
mit höherer magnetischer Flussdichte zu höheren Werten, was bei gleichbleibenden natürlichen Linienbreiten und Kopplungskonstanten (siehe unten) zu höherer Signaldispersion führt. Das ist einer der Gründe für die Entwicklung von NMR-Geräten mit immer höherer magnetischer Flussdichte. Die Kernresonanz-Spektroskopie ist für die Strukturaufklärung organischer Verbindungen deshalb von herausragender Bedeutung, weil die chemische Verschiebung gegenüber Veränderungen in der Umgebung der gemessenen Kerne sehr empfindlich ist. Die für die Resonanzfrequenz bedeutsame Abschirmkonstante setzt sich im Wesentlichen aus drei Anteilen zusammen: = dia + para + ’, (4.593) wobei dia der diamagnetische Anteil der Abschirmkonstante ist; er bezieht sich auf das in der Elektronenhülle des Atomkerns durch das äußere Magnetfeld induzierte Gegenfeld. Dabei schirmen kernnahe Elektronen stärker ab, als kernferne. Der paramagnetische Term para bezieht sich auf die Anregung von p-Elektronen im Magnetfeld und ist der diamagnetischen Abschirmung entgegen gerichtet. Der Anteil ’ bezieht sich auf den Einfluss von Nachbargruppen und kann das magnetische Feld am Atomkern verstärken oder schwächen. Internukleare Wechselwirkung Die Lage des Resonanzsignals eines Atomkerns A hängt von seiner elektronischen und magnetischen Umgebung ab. Zusätzlich kann seine Form durch benachbarte Atomkerne B beeinflusst werden, wenn diese selbst magnetisch sind. Für diese internukleare Wechselwirkung gibt es zwei voneinander unabhängige Mechanismen, nämlich (1) die durch den Raum wirkende dipolare Kopplung und (2) die durch die zwischen den Kopplungspartnern liegenden Bindungselektronen vermittelte skalare Kopplung. Die Stärke der dipolaren Kopplung hängt von der räumlichen Entfernung r der Kopplungspartner und von der Orientierung dieses Richtungsvektors von r relativ zum äußeren Magnetfeld ab. In niederviskoser Lösung kompensieren sich die Einflüsse der dipolaren Kopplung auf die NMR-Signale durch die Brownsche Bewegung zu Null, so dass ihre Existenz im Allgemeinen nicht beobachtet wird. Dies ist jedoch in hochviskoser Lösung oder im Festzustand nicht mehr der Fall. Hier führt die dipolare Kopplung i.a. zu stark verbreiterten NMR-Signalen, bei denen Linienbreiten von mehreren kHz beobachtet werden können. Skalare Kopplung (Kopplungskonstante J) Das magnetische Moment des koppelnden Kerns B kann parallel oder antiparallel zum magnetischen Moment des beobachteten Kerns A sein und damit die Resonanzfrequenz von A verstärken oder abschwächen. Im einfachsten Fall – beide Kopplungspartner haben die Spinquentenzahl 1/2 – ergeben die beiden Kernspin-Orientierungen des Kerns B zwei Resonanzlinien des Kerns A. Der Abstand dieser beiden Resonanzlinien ist die Kopplungskonstante J und wird üblicherweise als Frequenz in Hz angegeben. Es versteht sich von selbst, dass Kern A den gleichen Effekt auf Kern B hat mit der Folge, dass beide Kopplungskonstanten 1 J(B,A) und 1J(A,B) den gleichen Zahlenwert haben. Ist die antiparallele Anordnung der beiden Spins A und B die stabilere, hat die Kopplungskonstante J definitionsgemäß ein positives Vorzeichen; umgekehrt sind Kopplungskonstanten negativ bei stabilerer paralleler Spinorientierung. Diese Vorzeichen sind normalerweise nicht aus den Spekten ablesbar und werden für Spektreninterpretationen meist auch nicht benötigt. Kopplungskonstanten sind unabhängig vom externen magnetischen Feld, weil sie intramolekulare Wechselwirkungsenergien der Kerne repräsentieren. Die Kopplungskonstanten sind jedoch stark abhängig von der Zahl der Bindungen zwischen den Kopplungspartnern. Im Allgemeinen nimmt die Größe der Kopplungskonstanten mit der Zunahme der Bindungszahl ab. Bei n dazwischen liegenden Bindungen bezeichnet man eine Kopplungskonstante zwischen A und B mit n J(A,B) wobei 1J(A,B) als direkte Kopplung, 2J(A,B) als geminale Kopplung, 3J(A,B) als vicinale Kopplung und nJ(A,B) (n > 3) als Long-range-Kopplung bezeichnet werden. Neben dem Einfluss der Zahl und der Art der Bindungen zwischen den beteiligten Atomen wird die Kopplungskonstante zusätzlich noch durch die Elektronegativitäten der benachbarten Atome und Atomgruppen sowie
4 Das Makromolekül in Lösung
335
durch die Stereochemie des zu untersuchenden Moleküls beeinflusst. Falls ein Kern A mehr als einen Kopplungspartner hat, ändern sich die Resonanzsignale derart, dass jeder Partner eine neue Aufspaltung des Signals hervorruft (Verdopplung der Einzelsignale). Allerdings repräsentieren diese Signalaufspaltungen die zugrunde liegenden Kopplungen jedoch nur dann, wenn ein Spinsystem 1. Ordnung vorliegt, d.h. wenn der Abstand der Signale zweier Kopplungspartner A und B (in Hz) mindestens zehnmal so groß ist wie die Kopplungskonstante n J(A,B). Ist dieses Verhältnis kleiner, werden die Positionen und relativen Intensitäten der Einzelsignale von quantenmechanischen Effekten beeinflusst (Spinsystem höherer Ordnung) und sind nicht mehr ohne Weiteres nach den für Spinsysteme 1. Ordnung geltenden Regeln interpretierbar. Experimentelles Die nebenstehende Abbildung zeigt den prinzipiellen Aufbau eines Kernresonanz-Spektrometers. Das statische, homogene Magnetfeld wird bei modernen Geräten mit supraleitenden Magneten erzeugt, die Flussdichten bis zu 21,1 Tesla erzeugen können. Die heute (2009) am weitesten verbreiteten KernresonanzSpektrometer haben magnetische Flussdichten von 9,4 oder 11,75 T, die nach Gleichung (4.589) Protonenresonanzen von = 400 oder 500 MHz entsprechen. Das eingestrahlte elektromagnetische Senderfeld liegt im Bereich der Radiofrequenzen (MHz) und wird in Form von Impulsen mit einer Länge im Mikrosekundenbereich senkrecht zum Magnetfeld eingestrahlt. Im Resonanzfall führt die Absorption der elektromagnetischen Strahlung zu einer Anregung der Kernspins; dies wiederum führt zur Erzeugung von Magnetisierung senkrecht zu B, deren zeitlicher Zerfall („free induction decay“, FID) durch den Empfänger registriert und im Spektrometerrechner zum Frequenzdomänen-Spektrum umgerechnet wird (Fourier-Transformation). 4.3.9.2 Anwendungen Die wichtigsten Anwendungen der NMR-Spektroskopie von Makromolekülen in Lösung sind: Bestimmung von Taktizität bei stereospezifischen Makromolekülen Sequenzanalyse (z.B. cis-trans-Isomerie, chirale Makromoleküle) Bestimmung der Endgruppen (Endgruppenanalyse) Bestimmung der Kurzketten-Verzweigungen Bestimmung der Kristallinität und Orientierung Bestimmung der Copolymer-Zusammensetzung Kinetik und Mechanismus der Polymerisation Im Folgenden können hier nur einige Aspekte und Beispiele aufgezeigt werden. Für vollständige Abhandlungen wird auf die am Ende des Buchs genannte Literatur hingewiesen. Taktizität von Polymeren Der Begriff der Taktizität wird in Kapitel 2.3 abgehandelt. Abbildung 4.94 zeigt das Protonenresonanzspektrum von Polymethylmethacrylat (PMMA). Beim isotaktischen PMMA sind alle C–CH3 Gruppen äquivalent und ergeben daher jeweils das gleiche Signal. Die Methylenprotonen sind diastereotyp, d.h. nicht äquivalent und ergeben zwei aufgespaltene Signale.
336
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
ª COOCH3 º « C CH » 2 » « ¬ CH3 ¼ n
Abbildung 4.94: Protonenresonanzspektrum von syndiotaktischem (st), isotaktischem (it) und ataktischem (at) Polymethylmethacrylat.
Beim syndiotaktischen PMMA sind die OCH3-, die CCH3- und die Methylenprotonen jeweils äquivalent. Hierdurch ist eine leichte Unterscheidung in iso- und syndiotaktisches PMMA möglich; beim ataktischen PMMA können darüberhinaus die iso- und syndiotaktischen Anteile über die CCH3-Resonanzen bestimmt werden. Bei den Resonanzen der Methylenprotonen (CH2) treten bei ataktischem PMMA kompliziertere Verhältnisse auf, da hier nicht nur die nächsten sondern auch die übernächsten Nachbarn berücksichtigt werden. Sequenzanalyse Sequenzanalysen lassen sich in vielen Fällen gut mit der NMR-Spektroskopie durchführen. Als Beispiel betrachten wir Polybutadien. Bei der Polymerisation von Butadien (siehe Kapitel 3.1.3) können 1,2-, cis-1,4- und trans-1,4-Verknüpfungen auftreten. ª CH « « CH ¬ CH 2
CH2 º » » ¼
1,2-Polybutadien
ª H C º « 2 C C C H2 » ¬ ¼ H H
ª H2 C º H « » C C C H2 ¼ H ¬
cis-1,4-Polybutadien
trans-1,4-Polybutadien
4 Das Makromolekül in Lösung
337
Diese drei unterschiedlichen Sequenzen lassen sich mit der 13C-NMR-Spektroskopie sehr gut unterscheiden. Abbildung 4.95 zeigt 13C-NMR-Spektren von verschiedenen Polybutadienen. Man sieht, dass die 13C-Resonanzen der allylischen C-Atome ( C ) ziemlich weit auseinanderliegen und deshalb gut zuzuordnen sind. Die Flächen der Resonanzkurven sind unter geeigneten Messbedingungen direkt proportional zu den 1,2-, cis- und trans-Anteilen. Die zusätzlichen Signale (in der Abbildung nicht dargestellt) rühren von den C-Atomen der unterschiedlichen Vinylgruppen (cisund trans-Verknüpfungen) her.
Abbildung 4.95: 13 C-NMR Spektrum von Polybutadien 1,2-Polybutadien: G(13C) = 30,33 ppm cis-1,4-Polybutadien: G(13C) = 27,42 ppm trans-1,4-Polybutadien: G(13C) = 32,8 ppm
Copolymere Bei Copolymeren kann sowohl die Taktizität als auch die chemische Zusammensetzung mit der NMR-Spektroskopie bestimmt werden. Besonders einfach ist die Analyse von Copolymeren, die aus aliphatischen und aromatischen Monomeren hergestellt werden (z.B. Poly(Butadien-co-D-Methylstyrol)). Aus den Signalflächen der aromatischen und aliphatischen Protonen erhält man direkt die chemische Zusammensetzung. Kurzkettenverzweigungen Verzweigungen mit Kettenlängen von eins (Methyl) bis fünf (Amyl) lassen sich mit der hochauflösenden Kernresonanz bestimmen, da die 1H-Resonanzen der Methylen- und Methylprotonen und die 13C-Resonanzen der Kohlenstoffatome in der Seitenkette gegenüber denjenigen in der Hauptkette verschoben sind. Die Integration der entsprechenden Flächen liefert direkt denVerzweigungsgrad. 4.3.10 Elektrische Doppelbrechung und der Rotations-Diffusionskoeffizient Die elektrische Doppelbrechung ist eine Methode zur Bestimmung des Rotations-Diffusionskoeffizienten von Makromolekülen. Diese müssen dazu allerdings ein Dipolmoment p besitzen, das entweder permanent oder induziert sein kann. In einem elektrischen Feld E translatieren diese Moleküle nicht, sie orientieren sich aber so, dass ihr Dipolmoment einen möglichst kleinen Winkel T mit dem elektrischen Feldvektor bildet. Es gilt: V p E cosT , (4.594)
wobei V die potentielle Energie ist. Sie ist minimal, wenn T = 0 ist. Ein Makromolekül setzt sich aus sehr vielen Struktureinheiten zusammen. Jede Struktureinheit besitzt ihr eigenes Dipolmoment. Alle diese Dipolmomente addieren sich vektoriell zu dem Gesamtdipolmoment p. Polypeptide in der D-Helix-Konformation besitzen ein sehr großes permanentes Dipolmoment. Das Dipolmoment von Pferde-Carboxyhämoglobin beträgt z.B. 480 Debye (zum Vergleich: p Wasser 1,9 D ). Die antiparallele Doppelhelix einer DNA besitzt hingegen kein permanentes Dipolmoment. Bei ihr lässt sich aber ein Dipolmoment induzieren.
338
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
In einem elektrischen Feld sind die Dipolmomente der Moleküle einer Probe nicht alle gleich ausgerichtet. Aufgrund der Brownschen Molekularbewegung kommt es zu einer Zufallsorientierung. Wir nehmen an, dass die Dipole der Boltzmann-Statistik gehorchen. Die Wahrscheinlichkeit w(T), dass ein Dipol im thermodynamischen Gleichgewicht den Winkel T mit dem E-Feld bildet, ist dann: w T
k exp » p E cosT
kB T ¼º
(4.595)
Das Dipolmoment p muss irgendeinen Winkel zwischen 0 und 180q mit dem E-Feld bilden. Die Normierungskonstante k ergibt sich somit aus der Normierungsbedingung 2
0
0
³ dI ³ w T sin T dT
(4.596)
1
Es folgt: 1
o 4S k T b p E g sinh p E bk T g t Für kleine p E b k T g , d.h. für kleine elektrische Felder, vereinfacht sich k zu k = S/4. k
B
B
(4.597)
B
Wir bestrahlen unsere Lösung mit polarisiertem Licht. Die Folge ist, dass Absorption stattfindet. Der Extinktionskoeffizient H einer chromophoren Gruppe, dessen Dipolmoment den Winkel T mit der Polarisationsebene des Lichts bildet, ist H H 0 cos2 T . Darin ist H0 der Extinktionskoeffizient, wenn T = 0 ist. Die Lösung enthält aber nicht nur ein Molekül, sondern viele. Die Winkel T sind dabei nach Gleichung (4.595) verteilt. Wir nehmen zudem an, dass der elektrische Feldvektor des eingestrahlten polarisierten Lichts parallel zum äußeren elektrischen Feld E liegt. Der mittlere Extinktionskoeffizient berechnet sich dann zu:
H ||
S
z k H cos T exp p 2
0
b g
E cosT kB T sin T d T
(4.598)
0
Diese Gleichung vereinfacht sich für kleine elektrische Felder E zu:
H ||
bH 3g {1 a2 15f 0
2
b g}
p E kB T
(4.599)
Die Absorption wird also durch das äußere Feld E verstärkt. Steht der elektrische Feldvektor des polarisierten Lichts dagegen senkrecht auf E, so wird die Absorption H A erniedrigt. Die Differenz
b g
beider Extinktionskoeffizienten, dividiert durch den Extinktionskoeffizienten H von unpolarisiertem Licht heißt elektrischer Dichroismus. Für kleine E gilt:
i a1 10f
b g
'H H { H || H A H
d
p E kB T
2
.
(4.600)
Wir haben bis jetzt angenommen, dass ein Dipolmoment bei der Absorption von Licht seinen Winkel T nicht ändert. Das ist aber nur selten der Fall. Das Dipolmoment nach der Absorption bildet fast immer einen Winkel D mit dem Dipolmoment vor der Absorption. In diesem Fall gilt: 'H H
a1 10f
2
b g d3 cos D 1i.
p E kB T
2
(4.601)
'H und H kann man messen. p lässt sich für eine bestimmte chromophore Gruppe aus ihrer chemischen Struktur berechnen. Messungen zum elektrischen Dichroismus lassen somit eine Bestimmung der Orientierung einer chromophoren Gruppe im Makromolekül zu ihrer Dipolachse zu. Moleküle, die einen elektrischen Dichroismus zeigen, sind auch elektrisch doppelbrechend. Dieser Effekt wird Kerr-Effekt genannt. In Analogie zu Gleichung (4.601) gilt:
4 Das Makromolekül in Lösung
i a2 S M f
d
'n c { n|| nA c
2
b g dD
p E kB T
||
DA
i
339
(4.602)
nll und nA sind die Brechungsindizes parallel und senkrecht zur Molekülachse, D ll und D A die zugehörigen Polarisierbarkeiten, M die Molmasse, c die Konzentration, und D ll D A ist ein Maß für die Anisotropie der Teilchen. Für isotrope Teilchen ist 'n = 0. Wir betrachten abschließend die elektrische Relaxation. Gegeben sei eine Lösung stäbchenartiger Moleküle gleicher Länge. Die Schwerpunkte aller Stäbchen mögen sich im Koordinatenursprung befinden. Die Endpunkte der Stäbchen liegen dann auf der Oberfläche einer Kugel und bilden ein bestimmtes Punktmuster, dessen Struktur von der Verteilung der Winkel T abhängt, den die Stäbchen mit dem äußeren Feld E bilden. f(T, t) dT gibt den Anteil der Endpunkte an, die zum Zeitpunkt t in einem Kugelring zwischen T und T + dT liegen. Die Verteilung der Stäbchenendpunkte auf der Kugeloberfläche ändert sich aufgrund der Brownschen Bewegung mit der Zeit. In Analogie zu den Fickschen Gesetzen der Translations-Diffusion gilt: w J T , t
DT w f T , t w T
w f T , t w t
(4.603)
Dq w f T , t w T . 2
2
(4.604)
Darin sind J(T, t) der Fluss der Stäbchenendpunkte und DT der Rotations-Diffusionskoeffizient. Wir gestalten den Versuch wie folgt: Wir lassen das elektrische Feld E eine bestimmte Zeit 't auf die Lösung einwirken. Die Moleküle orientieren sich in dieser Zeit; das erkennen wir daran, dass H ll H A im Laufe der Zeit anwächst und schließlich seinen Sättigungswert annimmt. Wir schalten dann das elektrische Feld ab. Die Ordnung bricht zusammen, die Stäbchenendpunkte der Moleküle verteilen sich gleichmäßig. Diese Relaxation lässt sich über die Absorption verfolgen. Es gilt: 'H t 'H E konstant exp 6 DT t (4.605)
af a f
b
g
Wir tragen dann ln['H(t)] gegen t auf und erhalten aus der Steigung der Geraden den RotationsDiffusionskoeffizienten DT. Anschließend kombinieren wir ihn mit dem Translations-Diffusionskoeffizienten und erhalten so Informationen über die molekulare Dimension unseres Teilchens (vergleiche dazu Kapitel 4.3. Diffusion). 4.3.11 Feldfluss-Fraktionierung (FFF) Bei der Feldfluss-Fraktionierung werden in einem Trägermittel gelöste Makromoleküle oder suspendierte Teilchen mit einer bestimmten Geschwindigkeit durch eine Säule mit nur einer einzigen Phase, der mobilen Phase gepumpt. Senkrecht zur Flussrichtung wird ein Feld angelegt, das die Fraktionierung der gelösten Polymere bewirkt und sie damit nach ihren Eigenschaften (z.B. Molmasse, Größe, Gestalt, Massendichte, Ladungsdichte u.a.) geordnet zu verschiedenen Zeiten die Säule verlassen. Voraussetzung hierbei ist, dass die zu untersuchenden Makromoleküle auf das angelegte Feld ansprechen. Zur Beförderung der mobilen Phase und als Detektoren (UV/Vis, IR, Fluoreszenz, Brechungsindex, Viskosität, Dichte, Osmotischer Druck, Lichtstreuung u.a.) können dieselben Geräte wie bei der SEC (siehe Kapitel 4.3.6.1) verwendet werden. Die Elutionskurven sehen ähnlich wie diejenigen bei der SEC, Abb. 4.82a aus. Die nebenstehende Abbildung zeigt das generelle Prinzip der Feldfluss-Fraktionierung. Die Lösung mit den aufzutrennenden Makromolekülen wird durch einen Strömungskanal mit einer
340
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
Retentionsverhältnis R = t0 / tr = V0 / Vr
Dicke w = 0,05 – 0,5 mm, einer Breite b = 10 – 30 mm und einer Länge L = 0,25 – 1,0 m mit einer Pumpe (wie bei der SEC) gepumpt. Die Lösung bildet dabei ein laminares, parabolisches Geschwindigkeitsprofil aus, wobei die gelösten Teilchen, abhängig von der Entfernung zu den Wänden des Strömungskanals, mit unterschiedlicher Geschwindigkeit transportiert werden. In Höhe eines senkrecht zur Fließrichtung angelegten Feldes werden zusätzliche Kräfte auf die gelösten Makromoleküle ausgeübt, die diese an eine Wand des Strömungskanals (Akkumulationswand) konzentrieren. Diese Aufkonzentration wird überlagert von der Diffusion, die dem angelegten Feld entgegen gerichtet ist. Nach kurzer Zeit bildet sich ein stationärer Zustand der Konzentrationsverteilung C = C0 exp(–F y/(k T) (4.606) aus, wobei C die Konzentration beim Abstand y, C0 die Konzentration an der Akkumulationswand, F die auf ein gelöstes Teilchen wirkende Kraft und k T die thermische Energie sind. Glg. (4.606) kann auch als C = C0 exp(–y/l) (4.607) geschrieben werden, wobei die Konstante l die Dimension einer Länge hat und den mittleren Abstand der Teilchen (mittlere Schichtdicke) von der Akkumulationswand des Strömungskanals repräsentiert: l = k T / F. (4.608) Die Ansammlung der gelösten Teilchen an die Akkumulationswand durch ein äußeres Feld wird vorzugsweise durch den dimensionslosen Retentionsparameter beschrieben: = l / w = k T /(F w). (4.609) Glg. (4.609) zeigt, dass und l umgekehrt proporti1.0 onal der Kraft F des angelegten Feldes sind. Für das Retentionsverhältnis R = t0 / tr = V0 / Vr mit tr = Re0.8 tentionszeit (Elutionszeit) und Vr = Retentionsvolu0.6 men der gelösten Makromoleküle und t0 = Retentionszeit und V0 = Retentionsvolumen des LösemitR = 6 O [coth(0,5/O) - 2 O] 0.4 tels haben J. C. Giddings et al. die Gleichung R = 6 [coth(0,5 / ) – 2 ) (4.610) 0.2 abgeleitet. Die nebenstehende Abbildung zeigt, dass für kleine Werte von die beiden Größen R und 0 0 0.2 0.4 0.6 0.8 1.0 näherungsweise proportional sind. Als Felder können bei der Feldfluss-FrakRetentionsparameter O = l / w tionierung eingesetzt werden: 1) Fließfeld (Fluss-FFF) 2) Zentrifugalfeld (Sedimentations-FFF) 3) Thermisches Feld (Thermische FFF) 4) Elektrisches Feld (Elektrische FFF) 5) Magnetisches Feld (Magnetische FFF) Zum apparativen Aufbau und zur Theorie der verschiedenen Feldfluss-Fraktionierungen kann man sich in der einschlägigen Literatur informieren (z.B. A.R. Cooper, Determination of Molecular Weight). Fluss-FFF Die auf die Makromoleküle wirkende Kraft F des Feldes ist durch das Stokessche Gesetz bestimmt: F=fu=3 du, (4.611) wobei f der Reibungskoeffizient, die Viskosität des Lösemittels, d der (scheinbare) Durchmesser der gelösten Makromoleküle und u die Geschwindigkeit der gelösten Makromoleküle quer zur
4 Das Makromolekül in Lösung
341
Fließrichtung (an die Akkumulationswand) sind. Der Fluss durch die Wände des Strömungskanals wird durch semipermeables Material der Kanalwände erreicht; diese sind für die gelösten Makromoleküle nicht durchlässig. Für den Retentionsparameter F ergibt sich damit aus Glg. (4.609) und (4.611): F = k T /(F w) = k T /(f u w) (4.612) Daraus erhält man mit der Einsteinschen Gleichung für den Diffusionskoeffizienten D und den Reibungskoeffizienten f, D = k T / f = k T / (3 d): (4.613) F = D / (u w) . Für den Fall, dass R und proportional sind ergibt sich aus Glg. (4.613), dass die Retentionszeit tr umgekehrt proportional dem Diffusionskoeffizienten der gelösten Makromoleküle D und damit nach der Einsteinschen Gleichung proportional dem (scheinbaren) Durchmesser d der gelösten Makromoleküle ist. Sedimentations-FFF Die auf die Makromoleküle wirkende Kraft ist (siehe Kapitel 4.3.2): F
meff a
meff Z 2 r
m(1 X U )Z 2 r
(4.614)
mit a = Beschleunigung des Rotors, = Winkelgeschwindigkeit, r = Radius der Rotorzelle, X = partielles spezifisches Volumen des Makromoleküls und = Dichte des Lösemittels. Für den Retentionsparameter S ergibt sich daraus:
OS
k T ª¬ m 1 XU a wº¼
(4.615)
Unter den Bedingungen, wie sie bei der Fluss-FFF bereits diskutiert wurden, ergibt sich daraus, dass die Retentionszeit tr proportional der Molmasse und dem Auftriebsfaktor 1 X U ist.
Thermische FFF Beim thermischen Feld migrieren die Makromoleküle in Richtung der Wand mit der niedrigeren Temperatur. Die Kraft F des Feldes ist: F = k T (DT / D) dT / dx, (4.616) –a mit DT = thermischer Diffusionskoeffizient und D = k M = Diffusionskoeffizient der gelösten Makromoleküle. Für den Retentionsparameter T ergibt sich daraus: (4.617) T = D / [DT (dT / dx) w] D / (DT T). Damit ist auch hier, wie bei der Fluss-FFF, die Retentionszeit tr umgekehrt proportional dem Diffusionskoeffizienten der gelösten Makromoleküle D und damit nach der Einsteinschen Gleichung proportional dem (scheinbaren) Durchmesser d der gelösten Makromoleküle. Außerdem ist die Retentionszeit proportional der Temperaturdifferenz T des angelegten thermischen Feldes. 4.3.12 Bestimmung der Kettenverzweigung von Polymeren Wegen ihrer verschiedenen Eigenschaften unterscheidet man bei Polymeren zwischen Kurz- und Langkettenverzweigungen. Die Gesamtzahl der Verzweigungen kann man mittels Endgruppenanalyse (Kapitel 4.3.7) oder IR-Spektroskopie (Kapitel 5.4.2) bestimmen. Zur Bestimmung der Kurzkettenverzweigungen wird oft die Kernresonanz-Spektroskopie (Kapitel 4.3.8.3) verwendet. Die wesentlichen Methoden zur Bestimmung der Langkettenverzweigung von Polymeren beruhen auf der Tatsache, dass verzweigte Polymere einen kleineren Trägheitsradius R 2 !1/2 und einen kleineren hydrodynamischen Radius Rh als die entsprechenden linearen Moleküle mit gleicher Molmasse haben. Für konstante Molmasse gilt daher:
>K @l
! >K @b , S0,l S0,b
und Ve,l Ve,b
M
const.; M l
Mb
(4.618)
(siehe Kapitel 4.3.5.1, 4.3.2.1, 4.3.6). Die Verzweigungsgrade g, g’ und g’’ sind definiert als: g
R 2 ! b R 2 !l ;
gT
R 2 !T ,b R 2 !T ,l
Ml
Mb
(4.619)
342
4.3 Charakterisierung von Makromolekülen
gc
K !b K !l
;
gTc
K ! T ,b K ! T ,l
g cc
S0,l S0,b
;
gTcc
S0,T ,l S0,T ,b
bM bM
l l
g M g Mb b
(4.620) ,
(4.621)
wobei sich der Index T auf den ungestörten Zustand (T-Zustand, A2 = 0) bezieht. Eine Umrechnung von g, g’ und g’’ ist aufwendig; der Zusammenhang von g und g’ ist durch die Gleichung gc gb gegeben, wobei b Werte zwischen 0,5 und 1,5 annimmt. Liegen gut definierte Polymere vor, so kann man mit Hilfe einer Absolutmethode (z.B. klassische Streumethoden, Ultrazentrifugation) oder einer Absolut- und einer Relativmethode (z.B. klassische Streumethoden oder Ultrazentrifugation oder Osmose oder Massenspektroskopie und Viskosität) nach den Gleichungen (4.619) bis (4.621) den Verzweigungsgrad bestimmen. Falls das entsprechende lineare Polymere gleicher Molmasse nicht zur Verfügung steht (was im allgemeinen der Fall ist), kann man die Größen R 2 ! l , K l und S0,l mit Hilfe der Beziehungen R 2 ! K R M aR ,
K
a
KK M K und S0 K s M as berechnen. Für eine Vielzahl von linearen Polymeren liegen diese Beziehungen vor (z.B. Polymer Handbook 1999). Es wird dabei so vorgegangen, dass 1) mit einer Absolutmethode die Molmasse M des verzweigten Polymeren bestimmt wird, 2) mit einer Absolutoder Relativmethode die Größen R 2 ! b , K b oder S0,b bestimmt werden und 3) mit einer b
R2 !-M-, [K]-M- oder S0-M-Beziehung für das entsprechende lineare Polymer die Größen R 2 ! l , K l oder S0,l berechnet werden. Ein weiteres elegantes, häufig verwendetes Verfahren zur Bestimmung der Langkettenverzweigung beruht auf der Überlegung, dass die Größenausschlusschromatographie (SEC) Polymere nach ihrem hydrodynamischen Volumen, Gleichung (4.550), auftrennt und das Elutionsvolumen Ve damit allein eine Funktion des hydrodynamischen Volumens Vh ist. Hiernach erhält man unabhängig vom Typ und von der Art der Verzweigung des Polymers in der SEC die gleichen Konstanten A und B bei der Auftragung von log >K @ M als Funktion von Ve (universelle Kalibrierung, siehe
Kapitel (4.3.6.1):
log >K @b M b log >K @l M l
A B Ve
(4.622)
A B Ve
(4.623)
Für konstantes Elutionsvolumen Ve folgt aus den Gleichungen (4.622) und (4.623)
>K @l M l >K @b M b
Ve
const.; Ve,l
Ve,b ,
(4.624)
wobei der Zusammenhang zwischen [K] und M durch eine [K]-M-Beziehung gegeben ist. Die weitere Vorgehensweise zur Bestimmung der Langkettenverzweigung richtet sich danach, ob man die SEC mit einer Absolutmethode zur Bestimmung der Molmasse oder einer weiteren Relativmethode koppelt. Bei der Kopplung mit einer Absolutmethode (klassische Streumethoden, Ultrazentrifugation, Osmose, Massenspektroskopie) wird die Molmasse des verzweigten Polymeren Mb bestimmt. Daraus erhält man für das entsprechende lineare Polymer mit einer [K]-M-Beziehung für Ml = Mb die Größe [K]l für das lineare Molekül. Anschließend wird aus der SEC-Kurve für das verzweigte Polymer das mittlere Elutionsvolumen (Peak-Maximum) bestimmt und daraus mit Hilfe der universellen Eichkurve die Größe [K]b Mb des verzweigten Polymers. Die Größe [K]b erhält man dann mit Hilfe der Beziehung K b K b M b M b . Für polydisperse Polymere ist darauf zu
c
h
achten, dass die Molmassenmittelwerte der Absolutmethode und der [K]-M-Beziehung überein-
4 Das Makromolekül in Lösung
343
stimmen müssen. Mit den auf diese Weise berechneten Werten erhält man den Verzweigungsgrad g c oder gTc nach Gleichung (4.620). Für breit verteilte Polymere bietet es sich an, die Molmasse Mb von mehreren Fraktionen des verzweigten Polymeren zu bestimmen oder die SEC mit der Absolutmethode zu koppeln. Auf diese Weise erhält man den Verzweigungsgrad in Abhängigkeit von der Molmasse. Bei der Kopplung der SEC mit der Viskosität wird die Grenzviskositätszahl des verzweigten Polymeren [K]b durch Viskositätsmessungen bestimmt. Hierbei ist darauf zu achten, dass die Viskositätsmessungen im gleichen Lösemittel und bei der gleichen Temperatur wie die SEC-Messungen durchgeführt werden. Anschließend wird aus der SEC-Kurve für das verzweigte Polymere das mittlere Elutionsvolumen (Peak-Maximum) bestimmt und daraus mit Hilfe der universellen Eichkurve die Größe [K]b Mb des verzweigten Polymeren berechnet. Die Größe Mb erhält man dann mit Hilfe der Beziehung M b K b M b K b . Eine [K]-M-Beziehung für das lineare Polymere liefert dann
c
h
für den Fall Mb = Ml die Größe [K]l. Hieraus erhält man den Verzweigungsgrad g c oder gTc nach Gleichung (4.620). Für breit verteilte, verzweigte Polymere bietet es sich an, [K]b von mehreren Fraktionen des verzweigten Polymeren zu bestimmen oder die SEC mit der Viskosität zu koppeln. Das oben beschriebene Verfahren wird dann für jede Fraktion angewendet. Es ist aber auch möglich, den Verzweigungsgrad des ganzen, unfraktionierten, verzweigten Polymers zu bestimmen. Hierzu wird zunächst wieder [K]b des ganzen Polymers bestimmt und die SEC-Elutionskurve zusammen mit der universellen Kalibrierung aufgenommen. Anschließend werden eine scheinbare Molmassenverteilung und die scheinbaren Molmassenmittelwerte M n,app , M w,app und M z,app berechnet, indem für die [K]-M-Beziehung für das verzweigte Polymer die Konstanten für das entsprechende lineare Polymer verwendet werden. Aus den Mittelwerten ME,app (E = n, w, z) und der [K]-M-Beziehung erhält man hieraus K app und den Verzweigungsgrad g’: gc
eK
b
K
app
j
a 1
(4.625)
Bezüglich der Mittelwerte ME,app ist derjenige Mittelwert zu wählen, für den die [K]-M-Beziehung gilt. Weiterhin ist darauf zu achten, dass die Viskositätsmessungen und die SEC-Messungen im gleichen Lösemittel und bei der gleichen Temperatur ausgeführt werden.
344
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
5.1 Strukturen
5.1.1 Klassifizierung Polymere Festkörper lassen sich in drei Klassen einteilen: (1) Thermoplaste Dazu gehören amorphe unvernetzte und teilkristalline unvernetzte Polymere. Sie sind schmelzbar und können durch Extrusion, Spritzguss oder im Spinnverfahren verarbeitet werden. In organischen Lösemitteln sind sie oft löslich. Sie enthalten sowohl kristalline als auch amorphe Bereiche. Die Makromolekülketten gehen dabei durch mehrere Bereiche und stellen so den Zusammenhalt des Polymers her (siehe Abbildung 5.1). (2) Elastomere Hierbei handelt es sich um amorphe, leicht vernetzte Polymere (Kautschuke). Sie sind dehnbar, können aber nicht in den geschmolzenen Zustand überführt werden. In Lösemitteln quellen sie; aber sie sind nicht löslich. (3) Duroplaste Sie besitzen die Struktur engmaschiger Netzwerke. Die Kettenwachstumsreaktion erfolgt gleichzeitig mit der Vernetzung bei hohen Temperaturen und Drücken im sogenannten Härtungsprozeß. Duroplaste sind im ausgehärteten Zustand unschmelzbar, unlöslich und zeigen keine oder nur geringe Quellung. In Tabelle 5.1 sind einige Beispiele für Thermoplaste, Elastomere und Duroplaste aufgezählt.
Abbildung 5.1: Zweiphasenmodell eines teilkristallinen polymeren Festkörpers. (A.V. Tobolsky, H.F. Mark, 1980)
Tabelle 5.1: Ausgewählte Thermoplaste, Elastomere und Duroplaste
Thermoplaste
Polyethylen Polyoxymethylen Polypropylen Polyamide Polyvinylchlorid Polystyrol Polymethylacrylat
U| V| teilkristallin W |UV amorph |W
Elastomere
Duroplaste
Polyisobutylen Polydimethylsiloxan cis-Polyisopren Polybutadien Polyurethankautschuk Kautschuk BUNA-S
Phenolformaldehydharz Harnstofformaldehydharz Epoxydharz ungesättigtes Polyesterharz
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
345
5.1.2 Kristalline Polymere 5.1.2.1 Kristallinität Viele Polymere kristallisieren zu einem bestimmten Anteil, wenn die Polymerschmelze unter den Schmelzpunkt der kristallinen Phase abkühlt. Das Röntgendiagramm zeigt dann einige mehr oder weniger scharfe Röntgeninterferenzen. Polymere kristallisieren aber sehr viel schwieriger als niedermolekulare Stoffe und nur sehr selten vollständig. Der Kristallisationsgrad hängt von verschiedenen Faktoren ab. Diese sind: die Abkühlgeschwindigkeit die Schmelztemperatur die chemische Zusammensetzung die Taktizität die Molmasse des Polymers der Grad der Kettenverzweigung Zusätze wie Nukleations-Agenzien. Die Schmelzen industriell hergestellter Polymere werden vielfach sehr schnell abgekühlt. Der Kristallisationsgrad hängt dabei von der Kristallisationskinetik und der Abkühlrate ab. Es ist möglich, die Schmelze so schnell abzukühlen, dass die Kristallisation gar nicht erst stattfindet. Die Kristallisation kann aber nachträglich induziert werden. Das amorphe Polymer wird dazu bei einer Temperatur ausgekühlt, die leicht unterhalb der Schmelztemperatur Tm liegt. 5.1.2.2 Struktur der Kristalle Ein Kristall besitzt verschiedene physikalische Eigenschaften. Diese ergeben sich aus seiner chemischen Zusammensetzung, der Symmetrie seines Aufbaus und der Art der Bindungen zwischen seinen Bausteinen. Für die Behandlung festkörperphysikalischer Probleme ist es deshalb notwendig, bestimmte kristallographische Grundlagen zu kennen, die hier kurz zusammengestellt werden. Idealkristalle Kristalline Festkörper können aus einer Vielzahl von Kristallen unterschiedlicher Größe und Orientierung oder aus einem einzigen Kristall bestehen. Es wird zwischen Poly- und Einkristallen unterschieden. Die Wärmeschwingung der Kristallbausteine sorgt allerdings dafür, dass eine echte räumliche Ordnung (Periodizität) nur im Zeitmittel vorliegt. Das gilt auch für den absoluten Nullpunkt der Temperatur, denn nach der Quantenmechanik ist die Nullpunktsenergie des harmonischen Oszillators ungleich null. In der Kristallographie wird zwischen Ideal- und Realkristallen unterschieden. Ein Kristall heißt Idealkristall, wenn die periodische Anordnung der Bausteine zeitlich konstant und mathematisch exakt ist, sonst heißt er Realkristall. Die aus der Schmelze gezogenen Polymerkristalle weisen in der Regel viele Defekte auf. Ein höherer Grad an Perfektion wird bei Polymerkristallen gefunden, die in verdünnten Polymerlösungen entstehen. Die Polymere treten dort als isolierte Knäuel auf, und die Kristallisation wird nicht durch Verhakungen behindert. Es existieren in der Natur viele Einkristalle (z.B. Diamant). Für andere Materialien, wie bei Metallen und Halbleitern, ist die Herstellung von Einkristallen aus der Schmelze mittlerweile Routine. Es ist dagegen nicht möglich, polymere Einkristalle herzustellen. Am perfektesten sind noch die Diacetylen-Kristalle. Der Kristallisationsgrad dieser Polymere kann fast 100 % betragen. Basisgitter und Punktgitter Die periodisch angeordneten Bausteine eines Idealkristalls sind identisch. Sie können aus einem einzelnen Atom, aber auch aus sehr vielen verschiedenen Atomen (Segmenten) bestehen. Die Identität der Bausteine beinhaltet dabei die Gleichheit in der Atomzusammensetzung, der Atomanordnung und in der Orientierung im Raum. Die Lage jedes Bausteins
346
5.1 Strukturen
wird durch einen für alle Bausteine gleichartigen Punkt im Koordinatensystem, z.B. durch den Schwerpunkt, festgelegt. Man erhält dadurch ein Punktgitter (siehe Abbildung 5.2).
Abbildung 5.2: Kristallstruktur a) Basisgitter b) Punktgitter
Das Punktgitter ist aber nur eine Abstraktion. Um die wahre Struktur des Kristalls zu beschreiben, muss außerdem bekannt sein, welcher als Basis bezeichneter Baustein jeden der Gitterpunkte besetzt (vergleiche Abbildung 5.2). Wir können also sagen: Das Punktgitter und eine die Gitterpunkte besetzende Basis bestimmen die Struktur eines Kristalls. Gittergeraden und Netzebenen Eine durch mindestens zwei Gitterpunkte gehende Gerade heißt Gittergerade. Zueinander parallele Geraden bilden eine Geradenschar. Eine Netzebene ist ein zweidimensionales Punktgitter. Sie enthält mindestens drei nicht kollineare Gitterpunkte und wird durch kongruente Vielecke bedeckt, deren Eckpunkte die Gitterpunkte sind. Zueinander parallele Netzebenen bilden eine Netzebenenschar. Elementarvektoren und Elementarzelle Die von einem Gitterpunkt zu drei benachbarten, nicht komplanaren Gitterpunkten weisenden Vektoren a, b und c eines dreidimensionalen Punktgitters heißen Elementarvektoren. Das von a, b und c aufgespannte Parallelepiped ist die Elementarzelle. Durch die fortgesetzte Translation der Elementarzelle erhält man das gesamte Gitter. Das Punktgitter kann dabei durch verschiedene Elementarzellen aufgebaut werden. Einige Typen von Elementarzellen für ein zweidimensionales Punktgitter zeigt Abbildung 5.3.
Abbildung 5.3: Verschiedene Elementarzellen eines zweidimensionalen Punktgitters. Die Zellen a, b und c sind primitiv, Zelle d ist zentriert.
Eine Elementarzelle heißt primitiv, wenn ausschließlich die Eckpunkte der Zelle durch Gitterpunkte besetzt sind. Es ist aber auch möglich, dass im Innern der Elementarzelle Gitterpunkte vorhanden sind. Die Zelle heißt dann zentriert. Im dreidimensionalen Punktgitter existieren zwei Arten der Zentrierung: innenzentrierte Elementarzellen besitzen einen Gitterpunkt im Schnittpunkt der Raumdiagonalen, flächenzentrierte einen Gitterpunkt im Schnittpunkt der Diagonalen der betreffenden Fläche. Symmetrieoperationen und Bravais-Gitter Jede Transformation, die ein gegebenes Gitter in sich selbst überführt, ist eine „Symmetrieoperation“. Die einfachste Symmetrieoperation ist die Translation. Weitere Symmetrieoperationen sind Drehungen an Achsen, Spiegelungen an Ebenen und deren Zusammensetzungen. Eine sehr wichtige Zusammensetzung ist die Inversion. Es handelt
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
347
sich dabei um eine Halbdrehung (I = 180°) und die nachfolgende Spiegelung an einer Ebene senkrecht zur Drehachse. Operationen, bei denen mindestens ein Punkt des Gitters in sich selbst abgebildet wird, heißen Punktsymmetrieoperationen. Beispiele sind die Drehung, Spiegelung und Inversion. Bei der Inversion bleibt der Schnittpunkt zwischen der Drehachse und der Spiegelebene raumfest. Er heißt Symmetriezentrum. Symmetrieelemente sind Drehachsen, Spiegelebenen und Symmetriezentren. Ein Punktgitter kann natürlich nicht durch jede Drehung mit sich selbst zur Deckung gebracht werden. Es sind nur die Drehungen erlaubt, bei denen die Drehachse parallel zu einer Gittergeraden und senkrecht zu einer Netzebene liegt. Die Drehachse heißt n-zählig, wenn die Gittersymmetrie bei der Drehung um den Winkel 360°/n erhalten bleibt. Es existieren nur ein-, zwei-, drei-, vier- und sechszählige Drehachsen, wobei n = 1 die Identität mit der Ausgangslage bedeutet. Die Kristalle, bei denen die gleichen Punktsymmetrieoperationen möglich sind, bilden eine Kristallklasse. Es existieren 32 solcher Kristallklassen. Wenn man noch die Translation dazunimmt, treten zwei zusätzliche Symmetrieoperationen auf. Das sind die Schraubung (Drehung verknüpft mit Translation) und die Gleitspiegelung (Spiegelung verknüpft mit Translation). Die Kristalle lassen sich dadurch in 230 verschiedene Raumgruppen unterteilen. Tabelle 5.2: Kristallsysteme und Bravais-Gitter des dreidimensionalen Punktgitters
Kristallsystem
Geometrie der Elementarzelle
Bravais-Gitter
triklin
a z b z c z a ; D z E z J ; D , E , J z 90q
triklin
monoklin
a z b z c z a ;D
J
90q z E
primitiv monoklin basisflächenzentriert monoklin
rhombisch
a z b z c z a ;D
E
J
primitiv rhombisch basisflächenzentriert rhombisch innenzentriert rhombisch allseitig flächenzentriert rhombisch
hexagonal
a
b z c ;D
E
90q ; J
rhomboedrisch
a
b
c ;D
E
J z 90q , 120q
rhomboedrisch
tetragonal
a
b z c ;D
E
J
90q
primitiv tetragonal innenzentriert tetragonal
kubisch
a
b
c ;D
E
J
90q
primitiv kubisch innenzentriert kubisch allseitig flächenzentiert kubisch
90q
120q
hexagonal
Die 32 Kristallklassen kann man in sieben Kristallsysteme einordnen. Jedes System ist durch bestimmte Lagen und Längenverhältnisse der Elementarvektoren charakterisiert. Die Elementarzellen können dabei primitiv oder zentriert sein. Es gibt insgesamt 14 wesentlich verschiedene Gittertypen. Sie unterscheiden sich durch ihre Symmetrie und durch die Zentrierung der Elementarzellen. Diese 14 Gittertypen heißen Bravais-Gitter. Eine Übersicht gibt Tabelle 5.2. a, b und c sind die Längen der Elementarvektoren. D ist der Winkel zwischen den Vektoren b und c, E der zwischen a und c und J der zwischen a und b. Weißsche und Millersche Indizes Translationen werden durch den Gittervektor rm,n, p
manb p c
m, n, p Z
(5.1)
348
5.1 Strukturen
beschrieben. Sind die ganzen Zahlen m, n und p teilerfremd, so weist der Gittervektor rm,n,p von irgendeinem Gitterpunkt zum in der Richtung von rm,n,p gelegenen nächstbenachbarten Gitterpunkt. Alle zu ihm parallelen Gittergeraden werden durch das in eckige Klammern gesetzte Zahlentripel [m n p] gekennzeichnet. Die Lage der Netzebenen eines Gitterpunktes werden ähnlich beschrieben. Wir betrachten dazu die Netzebene in Abbildung 5.4, linkes Bild. Diese schneidet die durch a, b und c gegebenen Achsen bei m a, n b und p c. Alle Ebenen, die parallel zu dieser Ebene sind, lassen sich durch eine einzige Netzebene charakterisieren. Diese besitzt nach Weiß den kleinsten Abstand vom Koordinatenursprung. Für sie sind die Zahlen m, n und p (Weißsche Indizes) teilerfremd. Bei der Röntgenstrukturanalyse ist es allerdings praktischer, eine Netzebenenschar durch die Millerschen Indizes h, k und l zu beschreiben. Sie sind das Tripel der kleinsten ganzen Zahlen, für welche die folgende Beziehung erfüllt ist: 1 m :1 n :1 p h : k : l (5.2) Das reziproke Gitter Für die Auswertung von Röntgenbeugungsdiagrammen ist es zweckmäßig, das reziproke Gitter einzuführen. Es wird durch die Elementarvektoren auc cua aub (5.3) A 2 , B 2 , C 2 a b u c b c u a c a u b aufgespannt. Die Vektoren a, b und c sind die Elementarvektoren des ursprünglichen Punktgitters. Ein Gittervektor des reziproken Gitters besitzt die Form: Gh,k ,l h A k B l C h, k , l Z (5.4)
a
f
Er steht senkrecht zu der Netzebenenschar (h k l). Da a c u a a a u b 0 ist, gilt außerdem
Ga
2
(5.5)
Der Abstand d (siehe Abbildung 5.4, rechtes Bild) zweier benachbarter Netzebenen in der Schar (h k l) ist somit gleich:
G0 a
G
G a
d
Mit Gleichung (5.5) folgt schließlich: G 2S d
Abbildung 5.4: Linkes Bild: Zur Bezeichnung der Netzebenen; m = 3, n = 2 und p = 2 Rechtes Bild: Zwei Netzebenen im Abstand d ; G0 ist der Einheitsvektor
(5.6) (5.7)
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
349
5.1.2.3 Röntgenstrukturanalyse Die Röntgenstrukturanalyse ist ein Untersuchungsverfahren zur Bestimmung der Kristallsymmetrie, der Größe der Elementarzelle sowie der Lage der Atomkerne und der Elektronendichteverteilung in der Elementarzelle. Das Verfahren basiert auf der 1912 von Max von Laue entdeckten Erscheinung, dass Röntgenstrahlen an Kristallgittern gebeugt werden, wenn die Strahlung unter einem festen Winkel auf den Kristall trifft. Die anschauliche Erklärung dieses Sachverhalts gelang 1914 W.H. Bragg (Vater) und W.L. Bragg (Sohn).
Abbildung 5.5 I: Röntgen-Streuung an einem Kristallgitter. Abbildung 5.5 II: a) Schematische Darstellung der Versuchsanordnung von Debye und Scherrer, b) Debye-Scherrer-Diagramm
Die Braggs nahmen an, dass die Partikel eines Kristalls ein Raumgitter bilden. Fällt Röntgenstrahlung auf das Gitter, so treten Interferenzen auf. Die einfallenden Wellen werden an den Partikeln kohärent gestreut. Wir betrachten dazu Abbildung 5.5 I. Der Kristall besteht aus den Netzebenen mit dem Abstand d. Die Röntgenstrahlen fallen unter dem Winkel M ein. Sie werden an den Netzebenen (den Kristallpartikeln) reflektiert. Für den Gangunterschied der reflektierten Strahlen gilt: AB BC 2 d sin M (5.8) Um ein Intensitätsmaximum (konstruktive Interferenz) zu erhalten, muss die Bedingung 2 d sin M z O z 1, 2, 3, ...
a
f
(5.9)
erfüllt sein. Sie heißt Bragg-Bedingung, der Winkel M ist der Glanzwinkel. Die wohl wichtigste Methode zur Strukturuntersuchung von Kristallen ist das DebyeScherrer-Verfahren. Das zu untersuchende Material wird dabei pulverisiert und in die Form eines Stäbchens gepresst. Das Stäbchen wird in die Mitte eines kreiszylindrisch gebogenen Films gebracht (siehe Abbildung 5.5 II) und senkrecht bestrahlt. Die Kristalle sind regellos innerhalb des Stäbchens verteilt. Es sind deshalb stets Kristalle vorhanden, welche die Braggsche Reflexionsbedingung bzgl. dieser oder jener Netzebene erfüllen. Die an gleichen Netzebenen gebeugten Strahlen liegen auf einem Kegelmantel, dessen Achse mit der Richtung des einfallenden Strahls zusammenfällt. Verschiedene Netzebenen erzeugen Beugungskegel mit verschiedenen Öffnungswinkeln. Die Schnittlinien der Kegelmäntel mit dem Film ergeben die Debye-Scherrer-Diagramme (siehe Abbildung 5.5 II b) und Abbildung 5.6 a)). Bei dem von Debye und Scherrer entwickelten Verfahren ist O bekannt, und M wird gemessen. Der Netzebenenabstand d wird mit Hilfe von Gleichung (5.9) berechnet. Mit den Abständen d der verschiedenen Netzebenenscharen und den zugehörigen Millerschen Indizes wird dann mit den Gleichungen (5.4) bis (5.7) das reziproke Gitter aufgebaut. Dieses liefert unter Berücksichtigung der Gleichungen (5.2) und (5.3) die Elementarzelle des ursprünglichen Gitters.
350
5.1 Strukturen
Abbildung 5.6: Röntgenbeugungsdiagramme. a) D-Crystobalit, b) ungestretchtes und c) gestretchtes Polyisobutylen (J.T. Randall, The Diffraction of X-Rays and Electrons by Amorphous Solids, Liquids and Gases, Wiley (1934); C.S. Fuller et al., J.Am.Chem.Soc., 62(1940)1905)
Polymere erfordern eine spezielle Untersuchungstechnik. Sie werden nicht pulverisiert, wohl aber zu Stäbchen geformt. Die Stäbchen werden zu langen Fasern gedehnt. Die Verhakungen der Polymerketten in der Probe werden dadurch zum Teil aufgehoben. Die Ketten werden parallel zur Stretchrichtung ausgerichtet. Es entstehen kristalline Regionen gebündelter Polymerketten. Jeweils eine Achse der Elementarzellen der kristallinen Regionen ist parallel zur Faserachse ausgerichtet. Die beiden anderen Achsen sind zufällig zur Faserachse orientiert. Das Röntgenbeugungsdiagramm ähnelt deshalb dem Rotationsdiagramm eines Einkristalls, wenn man eine Achse des Einkristalls fixiert und den Einkristall um diese Achse dreht. Einige Beispiele für Röntgenbeugungsdiagramme zeigt Abbildung 5.6. Das Polyisobutylen in Abbildung 5.6 b) ist nicht gestretcht, das Polyisobutylen der Abbildung 5.6 c) ist gestretcht. Abbildung 5.6 a) zeigt das Pulverdiagramm von D-Crystobalit. Röntgenbilder vom Typ der Abbildung 5.6 c) heißen Faserdiagramme. Sie unterscheiden sich in bestimmten Punkten von den Rotationsdiagrammen echter Einkristalle. (1) Die Röntgenreflexe sind sehr viel diffuser als bei echten Einkristallen. Erklärung: Die kristalline Ordnung erstreckt sich jeweils nur über kleine Bereiche des Polymers. (2) Die Reflexe sind kurze Bögen und keine Spots. Dies ist auf die nicht perfekte Anordnung der kristallinen Regionen zurückzuführen. Nicht alle Regionen sind genau parallel zur Faserachse ausgerichtet. (3) Es werden weniger Reflexe als beim Einkristall beobachtet. Die kristallinen Zonen des Polymers sind relativ klein. Reflexe, die von grösseren interplanaren Distanzen herrühren, fehlen deshalb. (4) Die Faser besitzt viele nichtkristalline Regionen. Es wird deshalb eine starke Hintergrundstrahlung beobachtet. Die Interpretation eines Faserdiagrammes ähnelt der eines Röntgendiagrammes von Einkristallen. Die Strukturanalyse ist bei Polymeren aber schwieriger. Auch wenn der Kristallchemiker alle (h k l)-Reflexe sehr genau vermessen hat, besitzt er in den meisten Fällen nicht genügend Informationen, um die Kristallstrukur eindeutig zu bestimmen. Er ist auf Vermutungen und Erfahrungswerte angewiesen. Das sind: (1) Polymerketten nehmen innerhalb eines Kristalls die Konformation mit der niedrigsten Energie an, (2) die Ketten sind meistens so angeordnet, dass sie den zur Verfügung stehenden Raum möglichst effizient ausfüllen. (3) Die Kristallstrukturen chemisch verwandter Polymere sind oft bekannt. Sie können als Startpunkt für die Strukturbestimmung des zu untersuchenden Polymers dienen. (4) Die stereochemische Natur der Polymerketten hängt von der SyntheseMethode ab. Es ist somit wichtig, diese zu kennen. (5) Spektroskopische Methoden liefern die detaillierte Mikrostruktur der Polymermoleküle. Sie kann Informationen über die Konformation und die Anordnung der Ketten innerhalb des Kristalls liefern. (6) Es ist auch für verschiedene Strukturmodelle möglich, die Kristallstruktur mit der niedrigsten Energie zu berechnen. Das ist allerdings sehr schwierig, weil man dazu die Art der Wechselwirkungen zwischen den Gitterpunkten kennen muss. Hat man eine in Frage kommende Struktur gefunden, so ist es auf alle Fälle notwendig, die gemessenen Positionen und Intensitäten der (h k l)-Reflexe mit den theoretisch berechneten zu vergleichen. Die Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment ist aber niemals perfekt. Die vorgeschlagene Struktur muss solange verfeinert werden, bis man einen besten Fit für die gemesse-
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
351
nen Daten gefunden hat. Auch die dann gefundene Kristallstruktur stellt nur eine Idealisierung dar. In vielen Fällen ist es möglich, bessere Fits (Modelle) zu finden. Die in den Lehrbüchern diskutierten Kristallstrukturen besitzen deshalb eine statistische Sicherheit von nur höchstens 90%. 5.1.2.4 Polymer-Kristallstrukturen (ausgewählte Beispiele) Zurzeit sind die Kristallstrukturen von einigen hundert Polymeren bekannt. Ausgewählte Beispiele sind in Tabelle 5.3 zusammengestellt. Tabelle 5.3: Kristallstrukturen einiger Polymere (B. Wunderlich, 1973)
Achsen der Elementarzelle in Å (a, b u. c)
D E J
Grundbausteine pro Elementarzelle
U/(g/cm3)
Orthorhombisch Pnam
7,42 4,95 2,55
90° 90° 90°
4
0,997
Polyethylen II CH2
Monoklin C2/m
8,09 2,53 4,79
90° 107,9° 90°
4
0,998
Polytetrafluorethylen I CF2
Triklin P1
5,59 5,59 16,88
90° 90° 119,3°
13
2,347
Polytetrafluorethylen II CF2
Trigonal P31 oder P32
5,66 5,66 19,50
90° 90° 120°
15
2,302
Polypropylen (isotaktisch) CH2CHCH3
Monoklin P21/c
6,66 20,78 6,49
90° 99,6° 90°
12
0,946
Polypropylen (syndiotaktisch) CH2CHCH3
Orthorhombisch C2221
14,50 5,60 7,40
90° 90° 90°
8
0,930
Polyvinylchlorid (syndiotaktisch) CH2CHCl
Orthorhombisch Pbcm
10,40 5,30 5,10
90° 90° 90°
4
1,477
Polyvinylalkohol (ataktisch) CH2CHOH
Monoklin P2/m
7,81 2,51 5,51
90° 97,7° 90°
2
1,350
Polyvinylfluorid (ataktisch) CH2CHF
Orthorhombisch Cm2m
8,57 4,95 2,52
90° 90° 90°
2
1,430
1,4-Polyisopren (cis) CH2CCH3=CHCH2
Orthorhombisch Pbac
12,46 8,86 8,10
90° 90° 90°
8
1,009
1,4-Polyisopren (trans) CH2CCH3=CHCH2
Orthorhombisch P 21 21 21
7,83 11,87 4,75
90° 90° 90°
4
1,025
Nylon66, D (CH2)6NHCO (CH2)4CONH
Triklin
4,9 5,4 17,2
48,5° 77° 63,5°
1
1,240
PolymerGrundbaustein
Kristallsystem Raumgruppe
Polyethylen I CH2
P1
352
5.1 Strukturen
Nylon66, E (CH2)6NHCO (CH2)4CONH
Triklin
P1
4,9 8,0 17,2
90° 77° 67°
2
1,250
Ausgewählte Beispiele Eines der einfachsten Polymere ist Polyethylen, (CH2CH2)n. Es ist hochkristallin. Die Kettenkonformation mit der niedrigsten Energie ist die alltrans-Konformation, d.h. die ebene Zick-Zack-Kette. Die Elementarzelle ist entweder orthorhombisch oder monoklin.
Abbildung 5.7: Elementarzelle des orthorhombischen Polyethylenkristalls. (C.W. Bunn, Trans. Farad. Soc. 35 (1939) 482)
Abbildung 5.7 zeigt das Modell der Elementarzelle eines orthorhombischen PolyethylenKristalls. Die Achsen der gestreckten Molekülketten sind parallel zur c-Achse ausgerichtet. Sie werden durch van-der-Waals-Bindungen in ihrer Position gehalten. Die Wechselwirkungen zwischen den H-Atomen bestimmen den Platzwinkel in der Zelle. Das ist der Winkel, den die „molekularen Zick-Zacks“ mit der a- bzw. b-Achse bilden. Die orthorhombische Kristallstruktur (Polyethylen I) ist die stabilere Struktur. Die monokline Modifikation (Polyethylen II) wird erhalten, wenn man Polyethylen I mechanisch deformiert. Die Kettenmoleküle von Polyethylen II besitzen ebenfalls die Gestalt einer ebenen Zick-Zack-Kette. Ihre Segmente sind aber in der Elementarzelle anders angeordnet als die von Polyethylen I (siehe Tabelle 5.3). Polytetrafluorethylene kommen in zwei Modifikationen vor. Bei tiefen Temperaturen (T d 19 °C), ist die Modifikation I stabil. Modifikation II wird bei Temperaturen oberhalb von T = 19 °C beobachtet. F-Atome sind deutlich größer als H-Atome. Eine Anordnung der Grundbausteine CF2 in der Form einer ebenen Zick-Zack-Kette ist deshalb aus rein sterischen Gründen nicht möglich. Polytetrafluorethylen-Moleküle besitzen die Konformation einer Helix. Unterhalb von T = 19 °C treten die Moleküle als 13/6 Helix und oberhalb dieser Temperatur als 15/7 Helix auf. Ataktische Vinylpolymere (CH2CHX)n kristallisieren nur dann, wenn der Substituent X genügend klein ist. OH-Gruppen sind relativ klein. Polyvinylalkohol kristalliert deshalb in der Form der ebenen Zick-Zack-Kette zu monoklinen Strukturen ähnlich wie Polyethylen. Vinylpolymere müssen aber entweder iso- oder syndiotaktisch sein, damit sie überhaupt kristallisieren. Isotaktische Vinylpolymere kristallisieren in Form einer Helix. So besitzt isotaktisches Polypropylen
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
353
die Form einer 3/1 Helix. Die Grundbausteine nehmen dabei abwechselnd trans- und gauchePositionen ein. In syndiotaktischen Vinylpolymeren hängt die Konformation der Moleküle von der Größe des Substituenten ab. Für größere X finden wir die Helix und für genügend kleine X die ebene Zick-Zack-Konformation. Nylon ist ein Polyamid. Die Kettenmoleküle sind hier durch Wasserstoffbrücken-Bindungen zwischen den CO- und NH-Gruppen verknüpft. Sowohl Nylon6 als auch Nylon6.6 kristallisieren in der ebenen Zick-Zack-Konformation. Die verschiedenen Modelle für die Kristallmodifikationen von Polyamid werden bei Wunderlich diskutiert. 5.1.2.5 Morphologie und Textur Die kristallinen Zonen (Kristallite) eines Polymers besitzen verschiedene Gestalten. Es wird zwischen den Extremgestalten Fransenkristallit und Faltungskristallit unterschieden (siehe Abbildung 5.8).
Abbildung 5.8:
Fransenkristallit
Faltungskristallit
Der Fransenkristallit besteht aus mehreren Polymerketten, die parallel zueinander angeordnet sind. Die Enden der Ketten hängen wie Fransen aus dem Kristallit heraus und bilden eine amorphe Phase. Jede einzelne Polymerkette durchläuft mehrere Kristallite und mehrere amorphe Zonen. Die Polymerketten eines Faltungskristallits bilden regelmäßige Falten. Sehr enge Falten sind aber aus Spannungsgründen nicht möglich. Die Oberflächen der Faltungsbögen können regelmäßig oder unregelmäßig aufgebaut sein. In der Regel ist die Oberfläche „unscharf“. Sie enthält neben „scharfen Falten“ auch längere Schlaufen und heraushängende Kettenenden. Sie ist amorph. Ungestreckte synthetische Polymere, wie Polyamide, Polyester und Polyolefine, bilden Faltungskristallite. Native Faserpolymere, wie Cellulose und Proteine, sind Fransenkristallite. Bei den meisten Polymeren ist die Kristallitgestalt noch unbekannt. Die Struktur der Kristallite lässt sich überdies durch äußere Einflüsse verändern. Werden z.B. verstreckte, gut kristallisierende Polymere wie HDPE temperiert, so finden tiefgreifende Strukturveränderungen statt. Aus der fibrillären Struktur wird eine „Querstruktur“. Diese ist durch relativ große, senkrecht zur Streckrichtung orientierte Lamellen gekennzeichnet. Mit steigender Temperatur wird die Struktur geordneter. Die Dicken- und Abstandsschwankungen der Lamellen werden kleiner. Ihre seitliche Ausdehnung nimmt zu. Amorphe und kristalline Regionen werden durch die Temperaturerhöhung zum Teil entmischt. Die Perfektion und die Dichte der Kristall-Lamellen wird dadurch größer und die Dichte der amorphen Regionen kleiner (siehe Abbildung 5.9).
354
5.1 Strukturen
Abbildung 5.9: Strukturmodell von HDPE (1) kalt verstreckt, nicht getempert (2) nach Verstreckung getempert l = seitliche Ausdehnung einer kristallinen Zone
Die Gesamtheit der Orientierungen der in einem Werkstoff vorhandenen Kristallite heißt Textur (Gefüge). Sie beeinflusst die Werkstoffeigenschaften ganz entscheidend. So ändert sich bei gewalzten und in rekristallisierten Polymeren die Dehnbarkeit bezüglich der verschiedenen Raumrichtungen. Die Art der Textur hängt von den Kristallisationsbedingungen ab. Enthält das Material viele heterogene Keime, so bilden sich feinkristalline Strukturen aus. Diese haben eine hohe Transparenz und häufig verbesserte mechanische Eigenschaften. Bei relativ kleiner Keimkonzentration entstehen wenige, aber relativ große, annähernd radialsymmetrische Sphärolithe (siehe Abbildung 5.10). Die Sphärolithe sind im Anfangsstadium der Kristallisation (bevor sie sich berühren), kugelartig und wachsen dann zu einer polygonalen Struktur mit ebenen oder schwach gekrümmten Grenzflächen zusammen. Ihr Durchmesser liegt im Mittel bei etwa 0,01 bis 0,1 mm. Für die Feinstruktur der Sphärolithe gilt: Sphärolithe sind aus Lamellen aufgebaut. Diese stellen ihrerseits Faltungskristallite dar. Die Lamellen sind verästelt und in sich verdrillt. Das Zentrum eines Sphärolithen ist ein an den Enden auseinandergespreiztes garbenförmiges Büschel von Einkristallamellen. Zwischen den Lamellen befinden sich die heterogenen Keime.
Abbildung 5.10: Modell eines Sphärolithen (1) Gesamtstruktur (2) vergrößerter Zentralbereich (3) vergrößerter Radialbereich (M. Hoffmann, H. Krömer, R. Kuhn, 1977)
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
355
5.1.2.6 Kristallisationsgrad Der Kristallisationsgrad eines Polymers ist von großer praktischer Bedeutung. Es gibt verschiedene Methoden, ihn zu bestimmen. Diese liefern aber nur bedingt die gleichen Resultate. Die wichtigste Methode zur Bestimmung des Kristallisationsgrades ist die Dichte-Methode. Die Dichte eines Polymerkristalls ist größer als die Dichte des geschmolzenen Polymers. Vk sei das Gesamtvolumen aller Kristallite und Va das Gesamtvolumen aller amorphen Regionen in einem Polymer. Das Gesamtvolumen des Polymers sei V. Es gilt also: V Vk Va (5.10)
m sei die Gesamtmasse des Polymers. Das bedeutet: m m k ma
(5.11)
wobei mk und ma die Massen der kristallinen und amorphen Regionen in der Probe sind. Die Dichte U ist als Masse pro Volumen definiert. Es folgt:
U {m V
mk ma
U k Vk Ua Va
V
V
(5.12)
mit U k { m k / Vk und U a { ma / Va . Das Verhältnis I k Vk / V gibt den Volumenbruch der Kristallite an. Für die amorphen Regionen gilt: I a 1 I k . Gleichung (5.12) lässt sich damit umformen zu:
Ik
U Ua U k Ua
(5.13)
Der Massenbruch wk der Kristallite ist ähnlich definiert. Es gilt: wk { mk m
U k Vk U V
woraus folgt: wk Uk U U Ua
b
gb
g bU
k
Ik U k U
(5.14)
g
(5.15)
Ua
wk wird in der Makromolekularen Chemie Kristallisationsgrad genannt. Er ist nach Gleichung (5.15) mit der Probendichte U und den Dichten der kristallinen und amorphen Phasen, Uk und Ua, verknüpft. Die Dichte einer Polymerprobe wird oft durch Flotation in einer Dichte-Gradient-Säule bestimmt. Das ist ein langes vertikal aufgestelltes Rohr, welches eine Mischung von Flüssigkeiten verschiedener Dichten enthält. Die Säule ist so belegt, dass die Dichte der Flüssigkeitsmischung kontinuierlich vom oberen Ende bis zum unteren Ende des Rohrs zunimmt. Sie wird mit einer Reihe von Flotern, deren Dichte bekannt ist, geeicht. Die Dichte der zu untersuchenden Polymerprobe ergibt sich aus der Eintauchposition, den sie in der Säule einnimmt. Die Dichte Uk der Kristallite ist im allgemeinen bekannt. Sie lässt sich aus der Kristallstruktur berechnen (siehe Tabelle 5.3). Die Dichte Ua der amorphen Phasen kann man bestimmen, indem man das Polymer in die amorphe Form überführt. Man muss dazu das Polymer nur genügend schnell aus der Schmelze abkühlen. Ua kann aber auch bestimmt werden, indem man die Dichte der Schmelze für verschiedene Temperaturen ermittelt und diese auf die Kristallisationstemperatur Tk extrapoliert. Eine weitere wichtige Methode zur Bestimmung des Kristallisationsgrades ist die WeitWinkel-Röntgenstreuung (WWR). Abbildung 5.11 zeigt eine typische WWR-Kurve für das teilkristalline Polymer Polyethylen. Die gestreute Intensität I ist gegen den Streuwinkel 2T aufgetragen. Die scharfen Peaks rühren von der Streuung der Kristallite her. Der darunterliegende schattierte Untergrund ist auf die Streuung der amorphen Regionen zurückzuführen. Wenn sich die Streuung in beiden Regionen additiv verhält, gilt: I
Ik I k 1 Ik I a
,
(5.16)
356
5.1 Strukturen
wobei die Indizes k und a für kristallin und amorph stehen. Die Schärfe der Kristallitinterferenzen wird durch verschiedene Faktoren beeinflusst. Diese möchte man möglichst kompensieren. Es wird deshalb nicht die Intensität bei einem festen Winkel gemessen, sondern über den gesamten Winkelbereich integriert. Der Kristallisationsgrad ergibt sich dann aus den Flächen Ak und Aa der „kristallinen und amorphen Streuung“. Es gilt: wk
Ak
Ak Aa
(5.17)
Die Abtrennung des diffusen Untergrundes erfolgt dabei rein subjektiv. Die röntgenographisch ermittelten Kristallisationsgrade stimmen deshalb nur näherungsweise mit den Werten überein, die man mit der Dichte-Methode erhält.
Abbildung 5.11: WWR-Kurve für Polyethylen. Der amorphe Untergrund ist schattiert. (R.J. Young, 1981)
Die Kristallisationsgrade einiger Polymere sind in Tabelle 5.4 zusammengestellt. Sie liegen zwischen 0,1 und 0,95. Es sei aber betont, dass die Werte aus Tabelle 5.4 nur Näherungswerte darstellen. Die Gleichungen (5.15) und (5.17) sind nämlich nur dann exakt, wenn eine Polymerprobe keine Löcher oder Lücken aufweist. Ua muss zudem für alle amorphen Bereiche der Probe den gleichen Wert besitzen. Das ist in der Praxis fast nie der Fall. Die Polymere besitzen Gitterfehler, und Ua hängt von der thermischen Vorbehandlung der Probe ab. Tabelle 5.4: Kristallisationsgrade einiger Polymere; Messmethode: Röntgenographie
Polymer Polyethylen, linear Polyethylen, verzweigt Polyvinylchlorid Polyacrylnitril Polyamid Baumwolle Kunstseide
Kristallisationsgrad 80 – 95 60 10 40 60 – 80 70 40
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
357
5.1.2.7 Kristallitdicke Kristallite besitzen eine bestimmte Dicke. Sie lässt sich mit den Methoden der Elektronenmikroskopie und der Röntgenkleinwinkel-Streuung bestimmen. Die Dicke dk eines Kristallites hängt von verschiedenen Faktoren wie Molmasse, Zeit und Druck ab. Der wichtigste Einflussfaktor ist die Kristallisationstemperatur Tk. Die Kristallitdicke ist in der Regel umso größer, je größer Tk ist. Das gilt sowohl für Polymerkristalle in Lösung, als auch für Polymerkristalle, die aus der Schmelze entstanden sind. Ein Beispiel zeigt Abbildung 5.12 a). Die Dicke von Polyoxyethylen-Kristallen ist dort für verschiedene Lösemittel gegen die Kristallisationstemperatur Tk aufgetragen. Wir erhalten für jedes Lösemittel eine Kurve. Alle diese Kurven können wir zu einer Master-Kurve vereinigen, indem wir dk gegen 1 / 'T 1 / (Tl Tk ) auftragen (siehe Abbildung 5.12 b)). Tl ist dabei die Lösungstemperatur. Der Kristallisationsprozeß ist also in erster Linie durch die Differenz 'T Tl Tk bestimmt. Die Kristallisationstemperatur Tk selbst spielt eine untergeordnete Rolle. Diese Tatsache ist von großer Wichtigkeit für die Theorie der Kristallisationskinetik.
a)
b)
Abbildung 5.12: Die Abhängigkeit der Kristallitdicke dk von a) der Kristallisationstemperatur Tk und b) der reziproken Unterkühlung 1/'T = 1/(Tl Tk). Lösemittel: () Phenol, () m-Cresol, () Furfurylalkohol, () Benzylalkohol, () Acetophenon (J.H. Magill, 1977)
5.1.2.8 Kristallitfehler Die Kristalle der meisten Materialien besitzen Fehler wie Punktdefekte oder Versetzungen. Das gilt auch für die kristallinen Zonen der Polymere. Beispiele für Kristallitfehler zeigt Abbildung 5.13.
Abbildung 5.13: Kristallitfehler a) Reneker-Defekt, b) Kinke, c) jog-Block und d) Schraubenversetzung mit jog-Block
358
5.1 Strukturen
Der Reneker-Defekt ist ein Punktfehler. Die mittlere Polymerkette in Abbildung 5.13 a) ist so tordiert, dass sie um die auf die Kettenachse projizierte Länge von 1 bis 10 CC-Bindungen verkürzt wird. Die Ausbuchtung kann dabei entlang der Kette diffundieren und Kristallisationskeime transportieren. Das Dickenwachstum von Polymerkristalliten bei der Temperaturerhöhung lässt sich auf diese Weise erklären. Abbildung 5.13 b) zeigt eine isolierte Kinke (planare Stufe). Die seitliche Kettenversetzung ist kleiner als der Achsenabstand zweier benachbarter Ketten. Die Kinke ist eine relativ kleine lokale Störung. Ist sie größer als der Kettenabstand im Kristallit, so spricht man von einem „jog“. Mehrere zueinander versetzte jogs stellen einen jog-Block dar. Dieser wird meist durch das freie Ende einer Kette induziert. Eine dreidimensionale Versetzung wird durch die Versetzungsstufe AB und den BurgersVektor b charakterisiert. Man spricht von einer Schraubenversetzung, wenn der Vektor b parallel zu der Strecke AB steht. Der Vektor b kann auch senkrecht zu AB stehen. Die Versetzung heißt dann Eckenversetzung (siehe Abbildung 5.14).
Abbildung 5.14: Schraubenversetzung
Eckenversetzung (R.J. Young, 1981)
5.1.2.9 Kristallisationskinetik Grundlagen Die Kristallisation ist ein Prozeß, bei dem eine anfänglich ungeordnete Phase in eine geordnete Phase übergeht. Es werden zwei Vorgänge unterschieden, die Keimbildung (nucleation) und das Kristallwachstum (growth). Die Keimbildung wird durch Schwankungen in der Schmelze oder der Lösung hervorgerufen. Infolge der Molekularbewegung lagern sich einzelne Ketten zu kurzlebigen, sehr kleinen kristallähnlichen Gebilden, den Embryonen, zusammen. Oberhalb der Schmelztemperatur sind die Embryonen instabil. Sie zerfallen wieder. Unterhalb der Schmelztemperatur existiert eine kritische Embryogröße. Die Embryonen, die größer als die „kritischen Embryonen“ sind, besitzen eine Freie Enthalpie, die kleiner als die der Schmelze ist. Sie wachsen weiter und werden Keime genannt. Die anderen Embryonen lösen sich wieder auf. Es existieren zwei Arten der Keimbildung. Bei der homogenen Keimbildung lagern sich mehrere Polymerketten zufällig zu einem Cluster zusammen. Es sind keine weiteren Stoffe beteiligt. Sehr viel häufiger ist aber die heterogene Keimbildung. Hierbei lagern sich die Polymerketten an Fremdstoffen, wie Staubpartikeln oder sonstigen niedermolekularen Verunreinigungen an. Die Anzahl der gebildeten Keime hängt, wenn alle anderen Faktoren konstant gehalten werden, von der Kristallisationstemperatur Tk ab. Liegt Tk nur leicht unterhalb der Schmelztemperatur, so bilden sich nur sporadisch Keime. Es entstehen wenige, aber große Kristallite. Ist Tk dagegen sehr viel kleiner als Tm, so bilden sich viele Keime. Die Kristallite sind dann relativ klein. Das Wachstum der Kristallkeime kann in einer, zwei oder drei Dimensionen erfolgen. Es entstehen stäbchen-, scheiben- oder kugelartige Gebilde. Noch freie Polymerketten werden von den Kristallkeimen inkorporiert. Experimentell zugänglich sind die Veränderungen in den linearen Di-
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
359
mensionen der Kristallite. Größen wie Länge und Radius werden gewöhnlich linear mit der Zeit t größer, wenn Tk konstant ist. Für den Radius r eines kugelartigen Kristallits bedeutet dies: r kw t (5.18) Die Konstante kw heißt Wachstumsrate. Gleichung (5.18) gilt, solange die Kristallite noch klein sind und nicht zusammenwachsen also nur in der Anfangsphase des Kristallitwachstums. Die Wachstumsrate kw ist aber keine Universalkonstante. Sie hängt von der Kristallisationstemperatur Tk ab (siehe Abbildung 5.15).
Abbildung 5.15: Die Wachstumsrate kw als Funktion von Tk für Poly(tetramethyl-pphenylen)siloxane verschiedener Molmassen (Mw in g/mol). (J.H. Magill, 1977)
Für Tk > Tm gilt: kw = 0. Unterhalb von Tm wird kw zunächst schnell größer. Bei weiterer Abkühlung durchläuft kw ein Maximum und wird dann wieder kleiner. Das Vorhandensein des Maximums ist auf zwei miteinander konkurrierender Prozesse zurückzuführen. Die thermodynamisch treibende Kraft der Kristallisation wird mit abnehmender Temperatur stärker. Gleichzeitig nimmt die Viskosität der Schmelze (Lösung) zu. Der Transport der Polymerketten zu den Wachstumspunkten wird dadurch erschwert. An der Stelle des Maximums sind beide „Kräfte“ im Gleichgewicht. Bei weiterer Abnahme der Temperatur überwiegt die hemmende Wirkung der Viskosität. Die Kristallite hören auf zu wachsen. Allgemeine Kristallisationskinetik Gegeben sei eine Polymerschmelze der Masse m0. Diese werde auf eine Temperatur Tk unterhalb der Schmelztemperatur Tm abgekühlt. Es entstehen Kristallite. Diese seien kugelartig. Die Anzahl der Keime nk, die pro Zeiteinheit und pro Volumeneinheit gebildet werden, sei konstant. Die Anzahl der Keime, die in dem Zeitintervall dt entstehen, ist dann gleich n k m0 dt / U m , wobei Um die Dichte der Schmelze ist. Die Keime wachsen zu Kristalliten heran. Der Radius der Kristallite zum Zeitpunkt t sei r. Die Masse eines Kristallits ist gleich ( 4 S k w3 t 3 U k ) / 3 . Die Gesamtmasse dm aller Kristallite, die sich innerhalb des Zeitintervalls dt bilden, ist zum Zeitpunkt t gleich: dm
4 3 kw3 t 3 U k nk m0 dt U m
(5.19)
Die Kristallitmasse mk, die insgesamt bis zum Zeitpunkt t gebildet wird, ist: t
mk
3 3 ³ dt 4 kw Uk nk m0 t 3 Um
(5.20)
0
Es folgt: mk m0
n
k
k w3 U k t 4
3 Um
(5.21)
360
5.1 Strukturen
m0 ist gleich mk + mm, wobei mm die Masse der noch flüssigen Schmelze zum Zeitpunkt t ist. Gleichung (5.21) lässt sich damit umformen zu: 1 nk k w3 U k t 4 3 U m
mm m0
(5.22) 4
Wir erkennen folgendes: Der Massenbruch mk/m0 der Kristallite wächst anfangs mit t . Das gilt allerdings nur, solange wie die Keimbildungsgeschwindigkeit nk konstant ist. Werden alle Keime gleichzeitig, z.B. zum Zeitpunkt t = 0 gebildet, so ist nk = 0, und mk/m0 ist proportional zu t3. Die Gleichungen (5.21) und (5.22) gelten nur im Anfangsstadium der Kristallisation. Für große t wachsen die Kristallite zusammen. Eine Theorie, die dieses Zusammenwachsen berücksichtigt, wurde 1939 von Avrami entwickelt. Es gilt:
bm
k
m0
g
d
1 exp k A t nA
i
(5.23)
kA ist die Avrami-Konstante, und nA ist der Avrami-Exponent. Die Bedeutung dieser Parameter geht aus Tabelle 5.5 hervor. Tabelle 5.5: Avrami-Konstanten und Avrami-Exponenten.
Art des Kristallwachstums
Konstante Keimkonzentration
4 3 kw3
kA 1)
Nk
Konstante Keimbildungsgeschwindigkeit
3 kw3 nk
2)
nA = 1 eindimensional (Stäbchen) nA = 2 zweidimensional (Scheibe) nA = 3 dreidimensional (Kugel) nA = 4 ----1) kA = Avrami-Konstante für kugelförmige Kristallite 2) Nk = Keimkonzentration zum Zeitpunkt t = 0, z.B. in cm3
-----Stäbchen Scheibe Kugel
In der Schmelze entstehen normalerweise kugelförmige kristalline Gebilde. Diese wachsen mit konstanter Geschwindigkeit, d.h. kw ist konstant. Der zu erwartende Avrami-Exponent nA ist also je nach der Art der Keimbildung drei oder vier. Für nA = 4 gilt z.B.:
mk
m0 1 exp 3 kw3 nk t 4
(5.24)
Die Exponentialfunktion können wir für kleine t in eine Reihe entwickeln und diese nach dem zweiten Glied abbrechen. Wir erhalten:
mk
m0
3 kw3 nk t 4
(5.25)
Diese Gleichung stimmt mit Gleichung (5.21) überein, wenn U k U m ist. Es sei deshalb betont, dass Gleichung (5.24) nur dann benutzt werden darf, wenn die folgendenVoraussetzungen erfüllt sind: 1) Die Anzahl der Keime ist entweder konstant, oder sie ist zu Beginn der Kristallisation gleich null und nimmt mit konstanter Geschwindigkeit zu. 2) Die Keime sind statistisch in der Polymerprobe verteilt. 3) Kristallite und Schmelze besitzen die gleiche Dichte. 4) Die Kristallitform (z.B. Kugel) bleibt während der Kristallisation die gleiche. 5) Die Dichte der Kristallite ist zu allen Zeiten die gleiche. Vom experimentellen Standpunkt aus betrachtet ist es leichter, Änderungen im spezifischen Volumen als Änderungen in der Masse der Kristallite zu bestimmen.X0, Xt und Xf seien die spezifischen Volumina der Probe zu den Zeitpunkten t = 0, t und t = f. Es gilt: Xt mm U m m k U k m0 U k mm 1 U m 1 U k (5.26)
b
g b
g b
g
b
g
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
Da X 0
m0 / U m und X f
361
m0 / U k ist, folgt:
Xt Xf mm X0 m0 Xf m0
(5.27)
Gleichung (5.27) lösen wir nach mm/m0 auf. Das Ergebnis setzen wir in die Gleichung (5.23) ein. Wir erhalten dann:
mm
m0
Xt Xf X0 Xf
exp kA t nA
(5.28)
Die Volumendifferenzen X t X f und X 0 X f lassen sich mit einem Dilatometer messen. Gleichung (5.28) enthält somit nur zwei Unbekannte, kA und nA. Diese ermitteln wir, indem wir Gleichung (5.28) zweimal logarithmieren. Wir erhalten dadurch die Geradengleichung:
ln ln ª¬X0 Xf Xt Xf º¼
ln kA nA ln t
(5.29)
Der Achsenabschnitt ist ln (kA), und die Steigung ist nA. Für nA findet man Werte, die zwischen zwei und sechs liegen, meistens aber zwischen drei und vier. Da nA nicht ganzzahlig ist, spricht man von fraktalen Dimensionen. Die Ursache für die Abweichungen zwischen den experimentellen Ergebnissen und der Avrami-Theorie sind: 1) Xf ist experimentell nicht genügend genau bestimmbar. Es ist oft unklar, ob die Kristallisation schon beendet ist oder ob sie noch weiterläuft. 2) Die Voraussetzungen der Avrami-Theorie sind in der Praxis nur bedingt erfüllt. 3) Es kommt oft zu einer Nachkristallisation oder „sekundären Kristallisation“. Der Kristallinitätsgrad der bereits gebildeten kristallinen Zonen wird dadurch stark erhöht, häufig um 10 – 20 %. 4) Heterogene Verunreinigungen können als zusätzliche Keime wirken. 5) Nicht kristallisationsfähige Anteile, die sich in der Restschmelze anreichern, führen zu einer dauernden Verringerung der Wachstumsgeschwindigkeit während der Kristallisation. Es existieren Versuche, die Avrami-Gleichung durch realistischere theoretische Ansätze zu ersetzen. Eine Anwendung dieser erweiterten Gleichungen ist nur bedingt sinnvoll. Die Ursachen für die Abweichungen zwischen Theorie und Experiment sind nämlich meistens nicht bekannt. Keimbildung Wir unterscheiden zwei Arten der Keimbildung bei Polymeren, die Primär- und die Sekundärkeimbildung. Bei der Primärkeimbildung lagern sich die Kettenmoleküle zu einem zylindrischen Keim vom Radius r und der Höhe h zusammen. Die Zylinderachse zeigt in Kettenrichtung, und h ist sehr viel kleiner als die Länge l des gestreckten Moleküls. Bei einem Faltenkeim sind die Ketten an den Deckflächen des Zylinders regelmäßig zurückgefaltet, bei einem Fransenkeim verlaufen sie fransenartig in die Umgebung. Für die Bildung der Oberflächen des Zylinders ist eine bestimmte Energie erforderlich. Die Flächenbildungsenergie der Deckflächen sei VD und die der Mantelfläche VM. Gleichzeitig wird die Kristallisations- oder Kettenfusionsenergie frei. Diese wollen wir mit 'GF bezeichnen und auf eine Masseneinheit beziehen. 'GF ist eine spezifische Freie Enthalpie. Es gilt: (5.30) 'GF 'H F T 'SF 'HF ist die spezifische Fusionsenthalpie, 'SF die spezifische Fusionsentropie und T die Temperatur, bei der die Kristallisation stattfindet. Im Schmelz-Gleichgewicht ist 'GF = 0 und T = Tm. Dort gilt: 'SF 'H F Tm (5.31) Die Kristallisation findet in der Regel bei einer Temperatur T = Tk statt, die kleiner als Tm ist. 'GF ist deshalb endlich (negativ). Wir nehmen an, dass 'SF temperaturunabhängig ist. Gleichung (5.30) lässt sich dann umformen zu:
362
5.1 Strukturen
'GF
'H F Tk 'H F Tm
'H F Tm Tk Tm
(5.32)
Die Temperaturdifferenz Tm Tk heißt Unterkühlung. Wir wollen sie mit 'T bezeichnen. Die Freie Schmelzenthalpie 'GP lässt sich jetzt berechnen. Es gilt: 'GP S r 2 h U k 'GF 2 S r 2 V D 2 S r h V M
(5.33)
wobei der Index P für Primärkeim steht. Ein Keim (Embryo) besitzt bestimmte kritische Abmessungen rc und hc. Der Keim ist stabil, wenn r > rc und zugleich h > hc ist. Im anderen Fall ist er instabil. Die kritischen Werte von rc und hc können wir berechnen. Wir müssen dazu 'GP partiell nach r und h differenzieren und die Resultate gleich null setzen. Es gilt:
und
w'GP
wr r , h
w'GP
wh r , h
c
c
c
c
2 rc hc U k 'GF 4 rc V D 2 hc V m rc2 U k 'GF 2 rc V M
0
(5.34) (5.35)
0
Diese Gleichungen lösen wir nach rc und hc auf. Es folgt: rc hc
'GF U k 4 V D 'GF U k
2 V M Tm U k 'H F 'T
2 V M
und 'GP,c
8 S V 2M V D
(5.36)
4 V D Tm U k 'H F 'T
dU
2 k
'GF2
i
(5.37)
eU b'H g a'T f j
8 S V 2M V D Tm2
2 k
2
2
(5.38)
F
rc und hc sind umso kleiner, je größer die Unterkühlung 'T ist. Die Temperatur Tk darf natürlich nicht beliebig tief gewählt werden. hc kann nicht kleiner als die Kuhnsche Segmentlänge lK sein. Die Bildung der Sekundärkeime kann in vollkommen analoger Weise erklärt werden. Es handelt sich hierbei um die Bildung von Kristallitkeimen auf der Oberfläche schon fertiger Kristallite. Diese bilden in der Regel monomolekulare Schichten der Länge l, der Breite b und der Höhe a (siehe Abbildung 5.16).
Abbildung 5.16: Sekundärkeim auf der Oberfläche eines Kristalliten
Für die kritischen Abmessungen des Sekundärkeims gilt: ac 2 V M 'GF U k ; bc 2 V D 'GF U k ; 'GS,c
b
g
b
g
b
4 l V M V D 'GF U k
g
(5.39)
lc ist gleich l, weil die Länge des Sekundärkeims durch die Kristallfläche vorgegeben ist. 'GS,c ist deutlich kleiner als 'GP,c. Die Sekundärkeimbildung setzt deshalb schon bei viel geringerer Unterkühlung 'T ein als die Primärkeimbildung. Ein schönes Beispiel ist lineares Polyethylen. Die notwendige Unterkühlung für eine gut messbare Keimbildungsgeschwindigkeit liegt für Sekundärkeime bei 10 15 °C, bei Primärkeimen beträgt sie 50 70 °C. Auch die Freie Enthalpie der heterogenen Keimbildung an einer Fremdoberfläche ist viel kleiner als 'GP,c. Kleine Men-
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
363
gen an Verunreinigungen können deshalb bereits bei geringen Unterkühlungen eine so starke Kristallisation durch Sekundärkeimbildung hervorrufen, dass die Primärkeimbildung bedeutungslos wird. Dieses ist in der Praxis oft der Fall. Es ist deshalb sehr wichtig, die heterogene Sekundärkeimbildung genauer zu erforschen. 5.1.3 Amorphe Polymere 5.1.3.1 Morphologie Die Moleküle eines amorphen Polymers sind nicht zu Kristallgittern angeordnet. In ihnen gibt es keine physikalisch ausgezeichnete Richtung. Ihre physikalischen Eigenschaften sind richtungsunabhängig. Beispiele für amorphe Polymere sind anorganische Silikatgläser, Harze und ataktisches Polystyrol. Auch vernetzte Polymere, die oberhalb der Schmelztemperatur gummielastisch bis zähelastisch sind (wie z.B. SBR, PF und UF), können sich bei der Abkühlung in feste amorphe Gläser umwandeln. Wird die Schmelze eines amorphen Polymers abgekühlt, ohne dass es zu einer geometrischen Ordnung kommt, so bleibt die amorphe Struktur im Festkörper erhalten. Das Volumen V eines solchen Polymers weist einen ganz charakteristischen Temperaturverlauf auf. Er ist in Abbildung 5.17 dargestellt.
Abbildung 5.17: V(T) und die Glastemperatur Tg zu verschiedenen Zeiten t für Polyvinylacetat. (Kovacs, J.Polym.Sci. 30(1958)131)
Die Übergangstemperatur Tg heißt Glastemperatur. Sie ergibt sich als der Schnittpunkt der Tangenten an die beiden linearen Äste von V(T). Einen ähnlichen Kurvenverlauf wie V(T) besitzt die Enthalpie H(T). Man kann Tg deshalb auch kalorimetrisch durch Messung der spezifischen Wärmekapazität Cp(T) ermitteln (siehe Kapitel 5.2). Der Nachweis, dass ein Polymer amorph oder kristallin ist, erfolgt meist über Messungen zur Neutronen-, Röntgen- oder Lichtkleinwinkelstreuung. Das Ergebnis ist: Die Molekülketten in einem amorphen Polymer besitzen ähnliche Konformationen wie in der konzentrierten Lösung. Sie bilden statistische Knäuel, die sich gegenseitig durchdringen. Viele Eigenschaften der amorphen Polymere können auf diese Weise befriedigend erklärt werden. Es existieren aber auch Hinweise, dass amorphe Schmelzen und Gläser eine Nahordnung besitzen. So sind die kurzkettigen Moleküle des Paraffins in der Schmelze annähernd parallel angeordnet. Diese Nahordnung reicht allerdings nicht über die erste Koordinationssphäre der Moleküle hinaus.
364
5.1 Strukturen
5.1.3.2 Mesomorphe Phasen Die mesomorphen Phasen stellen ein Mittelding zwischen der amorphen und der kristallinen Phase dar. Es gibt die smektische, die nematische und die cholesterische Phase (siehe Abbildung 5.18). In der smektischen Phase sind die durchweg länglichen Moleküle parallel zueinander orientiert. Sie bilden Schichten, die aneinander abgleiten können. Die Moleküle der nematischen Phase sind ebenfalls parallel angeordnet. Sie liegen aber nicht mehr in Schichten. Bei der cholesterischen Phase liegen die Moleküle wieder in Schichten. Die Richtung der Längsachsen der Moleküle ist jedoch in aufeinanderfolgenden Schichten jeweils gegen die vorhergehende Schicht verdreht.
smektisch
nematisch
cholesterisch Abbildung 5.18: Mesomorphe Phasen (J.L. Fergason, Scientific American 211(1964)77)
Die Viskosität smektischer und cholesterischer Systeme ist relativ hoch; nematische Flüssigkeiten haben Viskositäten wie gewöhnliche Flüssigkeiten. Eine Reihe von Polymeren bildet mesomorphe Phasen. So geht das isotaktische Polypropylen durch schnelles Abkühlen aus der Schmelze in eine smektische Modifikation über. Die Molekülketten liegen dabei als 3/1-Helices vor (3 Monomere kommen auf eine Windung). Sie sind parallel zueinander angeordnet. Ein nematisch/smektischer Phasenübergang tritt beim HDPE auf. Am häufigsten begegnet man den mesomorphen Phasen aber bei Biopolymeren. Offenbar sind Biopolymere in der Lage, auf kleinstem Raum spezielle Umgebungen zu schaffen und diese (für eine bestimmte chemische Reaktion) gegen die übrige Umgebung abzuschirmen.
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
365
5.2 Thermische Eigenschaften und thermische Umwandlungen 5.2.1 Phasenübergänge erster und zweiter Art Jede Substanz kann verschiedene Zustände (Phasen) annehmen. Es gibt die kristalline Phase, die amorphe Phase, die Flüssigkeit oder das Gas, um nur einige Zustände zu nennen. Die Art der Phase hängt von der Temperatur T und dem Druck p des Systems ab. Die Umwandlung einer Phase in eine andere erfolgt bei der Umwandlungstemperatur Tu und dem Umwandlungsdruck pu. Die Freie Enthalpie G und die von ihr abgeleiteten Größen H, S, V, Cp, Dund N zeigen bei einem Phasenübergang ein ganz charakteristisches Verhalten. Die Enthalpie H, die Entropie S und das Volumen V enthalten erste Ableitungen von G nach T oder p. Es gilt:
H
G T wG wT p
S wG wT p V wG wp T ; ; (5.40) Die isobare Wärmekapazität Cp, der thermische Ausdehnungskoeffizient D und die isotherme Kompressibilität N beschreiben zweite Ableitungen von G nach T bzw. p. Hierfür gilt: Cp
T w 2G wT 2
p
; D
a1 V f w G awT wpf 2
p
; N
a fd
1 V w 2 G wp 2
i
T
(5.41)
Phasenübergänge, bei denen eine zweite Ableitung von G unendlich wird, werden Übergänge erster Art genannt. Dazu gehören Schmelz- und Verdampfungsvorgänge. Die Freie Enthalpie G weist am Umwandlungspunkt einen Knick auf. Ihre Tangenten besitzen eine Unstetigkeitsstelle. Die Größen H, S und V ändern sich deshalb am Umwandlungspunkt sprunghaft (siehe Abbildung 5.19).
Phasenübergang erster Art
Phasenübergang zweiter Art
Abbildung 5.19: Der Verlauf von G, H und Cp bei Phasenübergängen erster und zweiter Art
366
5.2 Thermische Eigenschaften und Umwandlungen
Bei einem Phasenübergang zweiter Art besitzen die Größen H, S und V einen Knickpunkt, während sich bei G die zweite Ableitung nach T bzw. p sprunghaft ändert. Das bedeutet: Cp, D und N sind endlich. Ein typischer Übergang zweiter Art ist der Übergang vom ferromagnetischen in den paramagnetischen Zustand. Die experimentelle Festlegung der Art der Umwandlung ist oft schwierig. Die Glastemperatur Tg weist z.B. viele Züge eines Phasenüberganges zweiter Art auf. Cp, D und N besitzen bei Tg Sprungstellen. Der Glasübergang ist jedoch keine echte thermodynamische Umwandlung. Es besteht kein Gleichgewicht zu beiden Seiten von Tg. Die Glastemperatur hängt von der Abkühlrate des Polymers ab; es existieren also kinetische Einflüsse. Erfolgt die Abkühlung sehr langsam, so wird keine Glastemperatur beobachtet. Das ist bei echten Umwandlungen zweiter Art nicht der Fall. 5.2.2 Messmethoden zur Ermittlung thermischer Umwandlungen Der Nachweis thermisch induzierter Umwandlungen erfolgt über die Temperaturabhängigkeit von Größen wie Ausdehnungskoeffizient D, Enthalpie H oder Wärmekapazität Cp. Gewöhnlich werden drei Messmethoden verwendet: Dilatometrie, Thermoanalyse und mechanische Deformation. Wir wollen sie kurz vorstellen. Dilatometrie Dilation heißt Ausdehnung. Ein Dilatometer misst die Dehnung oder Stauchung eines Probekörpers als Funktion der Temperatur. Das geschieht heutzutage vollautomatisch mit einem Differential-Dilatometer. Die Dilatometrie wird nur sehr selten zur Ermittlung eines Phasenübergangs erster Art benutzt. Die Volumenänderungen sind dort sehr groß und abrupt, so dass ihre präzise Bestimmung nicht möglich ist. Die Dilatometrie ist dagegen die bevorzugte Methode zur Ermittlung der Glastemperatur Tg. Die Diskontinuität liegt dort im Ausdehnungskoeffizienten D; dieser lässt sich sehr genau bestimmen. Thermoanalyse Die Thermoanalyse ist eine kalorimetrische Methode. Sie erfasst Umwandlungswärmen. Besonders wichtig sind die Differenzthermoanalyse (DTA), die „Differential Scanning Calorimetry“ (DSC) und die Thermogravimetrie. Die DTA arbeitet adiabatisch ('Q = 0). Wärmemengen, die bei Umwandlungen auftreten, kühlen oder erwärmen die Probe. Die Messprobe und eine Referenzsubstanz, die im zu untersuchenden Temperaturintervall keine Umwandlungspunkte aufweist, werden mit konstanter Geschwindigkeit erwärmt. Erreicht die Temperatur für die Probe einen Umwandlungspunkt erster Art, so wird solange Wärme aufgenommen, bis die Probe geschmolzen ist. Die Temperatur der Probe bleibt dabei konstant, während sich die Temperatur der Referenzsubstanz ständig erhöht. Die Temperaturdifferenz 'T zwischen der Probe und der Referenzsubstanz wird gemessen und gegen die Temperatur T oder gegen die Zeit t aufgetragen (T ist proportional zu t, da die Erwärmungsgeschwindigkeit d('Q) / dt konstant ist). Bei der Schmelztemperatur Tm ist 'T negativ. Wir erhalten einen nach unten gerichteten Peak. Dieser bleibt so lange bestehen, bis der Schmelzvorgang abgeschlossen ist. Umwandlungspunkte zweiter Art, „wie die Glastemperatur“, äußern sich in einer Höhenverschiebung der Basislinie. Die Auftragung von 'T gegen T heißt Thermogramm. Ein Beispiel zeigt Abbildung 5.20. Die DSC-Methode arbeitet isotherm. Die Messprobe und die Referenzsubstanz werden gemeinsam erwärmt. Die Erwärmung erfolgt hierbei aber so, dass Probe und Referenz stets die gleiche Temperatur besitzen. Es tritt also kein 'T auf. Um das zu erreichen, muss der Messprobe bei den Umwandlungspunkten eine andere Wärmemenge 'Q pro Zeiteinheit dt zugefügt werden als der Referenzsubstanz. Die Messgröße ist jetzt die zeitliche Änderung d( 'Q) / dt der Messprobe. Sie wird gegen die Temperatur bzw. die Zeit aufgetragen. Man erhält dadurch ein Thermogramm, das dem der DTA-Methode ähnelt. Die exotherme Kristallisation äußert sich als Peak nach oben und der endotherme Schmelzpunkt als Peak nach unten. Neben den Umwandlungspunkten liefert die
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
367
DSC aber auch die zugehörigen Umwandlungswärmen. Ihre Werte ergeben sich aus den Flächen der Peaks (siehe Abbildung 5.20).
Abbildung 5.20: Beispiel für ein DSC- und DTAThermogramm. FF steht für Festkörper-Festkörper-Übergang
Die Differentialthermogravimetrie (DTG) arbeitet so ähnlich wie die DTA. Anstelle von T wird die Änderung der Probenmasse beobachtet. Bei der thermischen Zersetzung der Probe werden gasförmige Produkte frei; die Probenmasse nimmt ab. Die Zersetzungsprodukte werden mit Hilfe eines nachgeschalteten Gaschromatographen analysiert. Dies erlaubt Aussagen über die Zersetzungsvorgänge. Die DTG sagt aber nur wenig über die Art der thermischen Umwandlungen aus. Mechanische Deformation Elastizitäts- und Schermodule ändern sich bei einem Phasenübergang erster Art abrupt. Messungen zur mechanischen Deformation sind deshalb hervorragend geeignet, um Kristallisations- und Schmelztemperaturen zu ermitteln. Die Bestimmung der Glastemperatur ist dagegen nur unter standardisierten Bedingungen möglich. Nach Tobolsky muss der Scher-Spannungs-Relaxationsmodul bei einer Spannung von 0.33 u 108 dyn/cm2 und einer Relaxationszeit von 10 s gemessen werden. Die ermittelte Glastemperatur stimmt nur dann mit dem dilatometrisch oder kalorimetrisch bestimmten Wert von Tg überein. 5.2.3 Thermische Größen Der Ausdehnungskoeffizient D Isotrope Körper dehnen sich beim Erwärmen gleichmäßig in alle drei Raumrichtungen aus. Ein Maß für die Ausdehnung ist der kubische Ausdehnungskoeffizient D V 1 (wV / wT ) p . Er ist mit dem linearen Ausdehnungskoeffizienten D l L1 (wL / wT ) p über die Beziehung D 3 D l verknüpft. Bei anisotropen Körpern erfolgt die Ausdehnung in die drei Raumrichtungen ungleichmäßig (D z 3 D l ). Das ist z.B. bei Polymerkristallen der Fall. Die seitlichen Schwingungen einer Polymerkette führen zu einer Expansion des Kettenquerschnitts und zu einer Kontraktion der Kettenachse. Der Wert von D1 ist deshalb positiv senkrecht zur Kettenachse und negativ entlang der Kettenachse. Der Wert des Ausdehnungskoeffizienten D hängt von der Art der zwischen den Atomen wirkenden Kräfte ab. Die Kräfte sind groß bei kovalenten Bindungen (z.B. bei Metallen). Die thermische Ausdehnung ist folglich gering. Die Kräfte sind klein bei van der Waals-Bindungen (z.B. bei Flüssigkeiten). Ihr D-Wert ist groß. Die Monomere eines Polymers sind in einer Raumrichtung kovalent gebunden. In die beiden anderen Richtungen des Raumes wirken van der Waals-Kräfte. Der Wert des Ausdehnungskoeffizienten eines Polymers liegt deshalb zwischen dem eines Metalls und dem einer organischen Flüssigkeit. Ausgewählte Werte für D zeigt Tabelle 5.6.
368
5.2 Thermische Eigenschaften und Umwandlungen
Tabelle 5.6: Der lineare Ausdehnungskoeffizient D l für verschiedene isotrope Materialien bei T = 25 °C
Material Eisen Kupfer Aluminium Polyamid 6
D l 106/K1 12 17 23 60
Material
D l 106/K1
Polystyrol, ataktisch PVC, ataktisch Polyetylen, amorph Schwefelkohlenstoff
70 80 287 380
Die molare isobare Wärmekapazität Cp Verlässliche Werte für die isobare molare Wärmekapazität im festen und flüssigen Aggregatzustand existieren nur für eine begrenzte Anzahl von Polymeren. Es ist allerdings möglich, die Wärmekapazität aus der Molekularstruktur der Polymere zu berechnen. Die Polymerbausteine lassen sich in Molekulargruppen zerlegen, und jeder Molekulargruppe lässt sich eine bestimmte Wärmekapazität zuordnen. Die Gruppenbeiträge für die molare isobare Wärmekapazität C ps (298) im festen Zustand (s) bei T = 300 K wurden u.a. von Satoh abgeleitet. Die Werte für die Wärmekapazität C pl (298) im flüssigen Zustand (l) gehen auf Shaw zurück. Einige Werte für C ps (298) und C pl (298) sind in Tabelle 5.7 zusammengestellt. Sie lassen sich nicht theoretisch begründen; sie wurden rein empirisch abgeleitet. Tabelle 5.7: Gruppenbeiträge zur molaren Wärmekapazität Cp in J/(mol K) bei T = 25 °C
Gruppe CH3 CH2 CH C
=CH2
OH
C ps ( Satoh )
C pl ( Shaw )
30,9
36,9
25,4
30,4
15,6
20,9
6,2
7,4
22,6
21,8
85,6
123,2
78,8
113,1
17,0
44,8
Für die Anwendung der Werte in Tabelle 5.7 betrachten wir folgendes Beispiel: Es soll die Wärmekapazität von Poly(propylen) berechnet werden, das bei 25 °C einen Kristallisationsgrad von 30 % besitzt. Wir suchen dazu die C ps (298) - und C pl (298) -Werte der Molekulargruppen heraus und addieren sie. Es gilt: Gruppe C ps (298 K ) C pl (298 K ) CH2
25,4
30,4
CH
15,6
20,9
CH3
30,9 672,0
36,9 688,3
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
369
Wir nehmen an, dass der kristalline Bereich des Polypropylens die Wärmekapazität C ps und der amorphe Bereich die Wärmekapazität C pl besitzen. Insgesamt folgt somit Cp(298 K) = 0,3 72,0 + 0,7 88,3 = 83,3 J/(mol K). Die Werte, die wir auf diese Weise für Cp erhalten, stimmen in der Regel recht gut mit den experimentell ermittelten Werten für Cp überein. Die Abweichungen sind für C ps (298 K ) meist nicht größer als 2 %, und für C pl (298 K ) sind sie kleiner als 4 %. Die Beispiele in Tabelle 5.8 belegen dies. Tabelle 5.8: Experimentelle und berechnete molare Wärmekapazitäten ausgewählter Polymere
Polymer
Polyethylen Polypropylen Polyisobutylen Polystyrol Poly(vinylalkohol) Poly(methylmethacrylat) Polyisopren
C ps (298 K )
C ps (298 K )
C pl (298 K )
C pl (298 K )
exp. [J/(mol K)]
Satoh [J/(mol K)]
exp. [J/(mol K)]
Shaw [J/(mol K)]
44-49 69 >87 128 57 138 108
51 72 97 127 58 139 111
63 91 120 178 182 131
61 88 119 175 96 177 135
Die Wärmekapazität Cp ist eine Funktion der Temperatur. Bei sehr tiefen Temperaturen (T < 100 K) fällt Cp proportional zu T 3 mit sinkender Temperatur ab. Dies lässt sich im Rahmen der Debyeschen Theorie der spezifischen Wärme verstehen. Mit zunehmender Temperatur werden zunächst Schwingungen der Molekülteile im van der Waals-Potential der Zwischenkettenwechselwirkung angeregt, bei höheren Temperaturen Schwingungen der Molekülteile im kovalenten Bindungspotential der intramolekularen Wechselwirkung. Cp wächst in diesem Bereich nahezu linear mit der Temperatur an. Ist das Polymer amorph, so weist Cp bei der Glastemperatur Tg einen Sprung auf. Die molekulare Bedeutung dieses zusätzlichen Beitrags zu Cp ergibt sich aus der Lochtheorie. Für Temperaturen T < Tg ist die Anzahl der Löcher in der Polymermatrix konstant, während für T > Tg die Anzahl der Löcher mit T zunimmt. Jedes neue Loch erfordert eine zusätzliche Oberflächenenergie, was einen zusätzlichen Beitrag zu Cp ergibt. Es tauen außerdem bei T = Tg die Rotationsfreiheitsgrade um die CC-Bindungen der Hauptkette auf, wodurch Cp noch zusätzlich erhöht wird. Für T > Tg wird Cp mit steigender Temperatur linear größer. Bei sehr hohen Temperaturen sollten alle Freiheitsgrade einen gleichen, temperaturunabhängigen Beitrag zur isochoren Wärmekapazität CX liefern (Gesetz von Dulong-Petit). Auch Cp sollte dann gegen einen temperaturunabhängigen oberen Grenzwert konvergieren. Dieser Wert wird aber bei Polymeren auch bei Temperaturen, bei denen thermische Zersetzung droht, nicht erreicht. Die molare Wärmekapazität kristalliner Polymere besitzt qualitativ den gleichen Kurvenverlauf wie die molare Wärmekapazität eines amorphen Polymers. Der Sprung in Cp findet dort allerdings bei der Schmelztemperatur Tm und nicht bei Tg statt. In der Regel ist eine Polymerprobe weder vollständig kristallin noch vollständig amorph. Der Kurvenverlauf von Cp zwischen Tg und Tm liegt dann zwischen dem der rein kristallinen und der rein amorphen Probe. Beispiele für die Temperaturabhängigkeit einiger amorpher Polymere zeigt Abbildung 5.21. Die Stufen in Cp bei der Glastemperatur sind deutlich zu erkennnen. Für die linearen Bereiche unterhalb und oberhalb von Tg sind empirische Gleichungen abgeleitet worden. Die molare Wärmekapazität im festen Zustand lässt sich für viele Polymere in guter Näherung (5 % Fehler) wie folgt berechnen:
af
C ps T
a
fd
C ps 298 K 0,106 3 10 3 T
i
a T in K f
(5.42)
370
5.2 Thermische Eigenschaften und Umwandlungen
Die entsprechende Formel für den flüssigen Zustand (die Schmelze) lautet:
C pl T C pl 298 K 0, 64 1, 2 103 T
T in K
(5.43)
Sie ist aber weniger genau. Die mittlere Abweichung zwischen den nach diesen Gleichungen berechneten C pl -Werten und den gemessenen C pl -Werten beträgt 30 %.
Abbildung 5.21: Die spezifische Wärmekapazität als Funktion der Temperatur für: Polyisobutylen (PIB) Naturkautschuk (NR) Polymethylmethacrylat (PMMA) Polyvinylchlorid (PVC) Polystyrol (PS) Polycarbonat (PC) (B. Wunderlich et al., Adv. Polym. Sci. 7(1970)151)
Wir weisen abschließend darauf hin, dass das Verhalten von Cp in der Umgebung der Glastemperatur von der thermischen Behandlung der Probe abhängt. Misst man Cp kühlend, so findet man eine einfache Stufe, deren Position von der Kühlgeschwindigkeit abhängt. Wird dagegen während der Heizphase gemessen, so beobachtet man an Stelle der Stufe ein Überschwingen, das sich als Maximum in Cp darstellt. Die Temperaturposition dieses Maximums und seine Höhe werden mit steigender Heizgeschwindigkeit größer. Die Wärmeleitfähigkeit O Abbildung 5.22 zeigt einen Quader, dessen Seitenflächen A und Ac auf den Temperaturen T und T + 'T gehalten werden. Die anderen vier Seitenflächen sind wärmeisoliert. Es fließt dann pro Zeiteinheit eine Wärmemenge Q von Ac nach A. Sie ist der Temperaturdifferenz 'T und der Querschnittsfläche (A = Ac) proportional und dem Abstand l zwischen beiden Flächen umgekehrt proportional. Es gilt: Q
O A l 'T
(5.44)
Die Konstante O heißt Wärmeleitfähigkeit. Ihre Einheit ist W/(m K).
Abbildung 5.22: Zur Definition der Wärmeleitfähigkeit O
Die Wärmeleitfähigkeit hängt u.a. von den Materialeigenschaften des Werkstoffs ab. Einige OWerte sind für Raumtemperatur in Tabelle 5.9 zusammengestellt.
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
371
Tabelle 5.9: Wärmeleitfähigkeit einiger Werkstoffe bei 20 °C
Werkstoff Kupfer, Cu Stahl V2A-Stahl Glas
O / [W/(m K)] 350 52 15 0,72
Werkstoff HDPE PMMA Polystyrol Glaswolle-Luft-Gemisch
O / [W/(m K)] 0,55 0,19 0,14 0,04
Metalle wie Kupfer und Stahl leiten Wärme sehr gut. Die Wärmeleitfähigkeit von Kunststoffen ist deutlich niedriger. Die teilkristallinen Kunststoffe sind die besseren Wärmeleiter, da die Wärmeleitung vorzugsweise über die Kristallite erfolgt. Die Wärmeleitfähigkeit von amorphen Kunststoffen und Kunststoffschmelzen liegt zwischen 0,10 und 0,20 W/(m K). Will man eine noch bessere Wärmeisolation erreichen, so bietet sich ein Gemisch von Glaswolle und Luft an. Die Glaswolle hat dabei die Aufgabe, Zirkulationsströmungen in der Luft zu unterdrücken. Die Wärmeleitfähigkeit hängt auch von der Temperatur T ab. Für amorphe Polymere ist O als Funktion von T in Abbildung 5.23 schematisch dargestellt. Bei sehr tiefen Temperaturen nimmt O mit steigender Temperatur mit T 2 zu. Dieses Verhalten lässt sich aus der Gittertheorie der Festkörper begründen. Bei mittleren Temperaturen steigt O linear mit T an, ein Maximum wird in der Nähe der Glastemperatur erreicht, in der Schmelze wird O mit zunehmender Temperatur kleiner.
Abbildung 5.23: Schematischer Verlauf der Wärmeleitfähigkeit amorpher Polymere
Die Temperaturkurve der Wärmeleitfähigkeit teilkristalliner Polymere ähnelt der der amorphen Polymere. Bei tiefen Temperaturen ist O ebenfalls proportional zu T 2. Die Grenzflächen zwischen den Kristalliten und den amorphen Gebieten bilden jedoch einen Wärmewiderstand. Die Wärmeleitfähigkeit teilkristalliner Polymere ist deshalb bei kleinem T niedriger als bei amorphen Polymeren. Bei höheren Temperaturen ist es allerdings umgekehrt. O ist bei teilkristallinen Polymeren zudem zwischen Tg und Tm nahezu konstant und fällt erst oberhalb der Schmelztemperatur ab. 5.2.4 Glasübergänge Flüssigkeiten frieren zu einem glasartigen Zustand ein, wenn sie genügend schnell abgekühlt werden. Die Abkühlrate muss größer sein als die Zeit, die erforderlich ist, damit sich Kristallkeime bilden. Die Verglasung ist besonders leicht zu erreichen, wenn die Moleküle eine niedrige Symmetrie aufweisen oder die Viskosität der Flüssigkeit hoch ist. Letzteres ist bei Polymerschmelzen der Fall. Die Umwandlungstemperatur von der flüssigen in die glasartige Phase heißt Glastemperatur Tg. Das Volumen und die Enthalpie der Probe ändern sich bei Tg merklich. Der Wert der Glastemperatur hängt sehr stark von der Abkühlrate ab. Eine schnell abgekühlte Flüssigkeit (Schmelze) wird bei einer höheren Temperatur schneller glasartig als eine langsam abgekühlte Flüssigkeit. Verläuft die Abkühlung unendlich langsam, so gibt es überhaupt keine Glastemperatur. So wie Tg hängen auch die Dichte und alle anderen physikalischen Eigenschaften des Glases von der Abkühlrate ab. Die Dichte ist klein, wenn die Flüssigkeit schnell abgekühlt wird. Andernfalls ist sie groß. Die physikalischen Eigenschaften verschiedener Gläser kann man nur dann miteinander vergleichen, wenn die jeweilige „thermische Geschichte“ bekannt ist. Für die Polymere hat man sich
372
5.2 Thermische Eigenschaften und Umwandlungen
darauf geeinigt, die Temperatur als Glastemperatur zu betrachten, bei der die Abkühlrate unabhängig von der Substanz 105 °C/s beträgt. Diese ausgewählte Glastemperatur heißt Standardglastemperatur und wird mit TgD abgekürzt. Die Viskosität beträgt bei TgD für fast alle Polymere ca. 1013 cm3/g. Ein „isoviskoses Verhalten“ wurde daher lange Zeit als charakteristisch für den Glasübergang angesehen. Heute ist man dazu übergegangen, die Glastemperatur als die Temperatur anzusehen, bei der alle Substanzen (Flüssigkeiten und Schmelzen) den gleichen Anteil an Freiem Volumen aufweisen. Die Theorie des Freien Volumens Das Freie Volumen Vf ist der Raum in einem Festkörper oder einer Flüssigkeit, der nicht mit Molekülen (Polymersegmenten) besetzt ist. Das von den Molekülen besetzte Volumen bezeichnen wir mit Vo. Der Index „o“ steht dabei für „occupied“ (Englisch: besetzt). Das Gesamtvolumen der Probe sei V. Es gilt somit: V Vo Vf (5.45) Das Freie Volumen ist eine Funktion der Temperatur. Vf ist für eine Flüssigkeit (Schmelze) groß und für einen Festkörper klein. Für Vo gilt: wVo / wT | 0. Die durch die Temperatur induzierte Änderung in V ist also allein auf eine Änderung im Freien Volumen Vf zurückzuführen. Gegeben sei eine Polymerschmelze der Temperatur T. Wir erniedrigen die Temperatur kontinuierlich. Das Freie Volumen wird kleiner. Die Polymermoleküle werden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Bei einer bestimmten Temperatur ist Vf so klein, dass die Moleküle weder frei translatieren noch frei rotieren können: Die Schmelze friert ein. Die Temperatur bei der das passiert, ist die Glastemperatur Tg. Für T < Tg ist Vf konstant. Dieses Grenzvolumen bezeichnen wir mit VfD . Oberhalb von Tg wird Vf mit steigender Temperatur größer. Wir können deshalb schreiben: Vf
VfD T Tg wV wT
(5.46)
Diese Gleichung dividieren wir durch V. Das ergibt: f
f g T Tg D f
(5.47)
f ist der Anteil des Freien Volumens am Gesamtvolumen ( f Vf / V ). Für T = Tg ist f f g VfD / V . Der Parameter Df ist der thermische Ausdehnungskoeffizient des Freien Volumens. Er ist null für T Tg . f und Tg lassen sich experimentell bestimmen. Die Auftragung von f gegen (T Tg) sollte eine Gerade ergeben. Der Achsenabschnitt dieser Geraden ist fg. Ihre Steigung ist Df. Solche Geraden werden auch gefunden. Der Gültigkeitsbereich von Gleichung (5.47) liegt für die meisten Polymere im Intervall [Tg, Tg + 100 K]. Für T > Tg + 100 K wird f temperaturabhängig. Der praktische Nutzen von Gleichung (5.47) ist aber gering. fg und Df sind Materialkonstanten. Eine theoretische Voraussage von Tg ist deshalb mit Gleichung (5.47) nicht möglich. Tg und die chemische Struktur Die physikalischen Eigenschaften eines Polymers ändern sich oberhalb der Glastemperatur signifikant. Das Polymer verliert seine Steifigkeit und beginnt zu fließen. Für praktische Anwendungen ist es deshalb wichtig zu wissen, von welchen Faktoren Tg abhängt. Der wichtigste Faktor ist die Flexibilität der Polymerhauptkette. Polyethylen und Polyoxyethylen besitzen flexible Ketten. Die Strukturelemente CH2CH2 und CH2CH2O sind unter geringem Energieaufwand um die Achse der Hauptkette verdrehbar. Die Tg-Werte sind klein. Der Einbau von Strukturelementen, welche die freie Rotation behindern, erhöht den Wert von Tg. Baut man z.B. p-Phenyl-Ringe in die Polyethylen-Kette ein, so erhält man Poly(p-xylylen). Die-
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
373
ses Polymer besitzt einen Tg-Wert, der um 213 °C größer ist, als derjenige von Polyethylen (siehe Tabelle 5.10). Tabelle 5.10: Glastemperaturen für einige Polymere
Tg / °C
Polymer Polyacrylsäure Polymethylmethacrylat Poly(p-xylylen) Nylon 6 Nylon 66 Polypropylenoxid Cis-1,4-Polyisobutylen Naturkautschuk Polybutadien Polydimethylsiloxan Polyethylen
106 105 80 50 50 60 70 72 85 123 133
CH2CHX
mit X =
CH3
23
CH2CH3
24
100 Cl
87
OH
85
OOCCH3 (Acetat)
29
Der Tg-Wert von Vinylpolymeren vom Typ (CH2CHX)n hängt von der Art der Seitengruppe X ab. Große und sperrige Seitengruppen führen zu einer Versteifung der Hauptkette. Tg wird größer. Polare Seitengruppen wie Cl, OH oder CN erhöhen Tg stärker als nicht-polare Gruppen gleicher Größe. Der Wert von Tg ist z.B. für Polyvinylchlorid deutlich größer als für Polypropylen. Wir erkennen: Die gleichen Faktoren, welche die Schmelztemperatur Tm kontrollieren, beeinflussen auch die Glastemperatur. Tg wird auf die gleiche Weise erhöht oder erniedrigt wie Tm. Es ist deshalb nicht verwunderlich, dass es eine Korrelation zwischen Tg und Tm für die Polymere gibt, welche sowohl Schmelz- wie auch Glasübergänge zeigen. Es gilt die empirische Beaman-BayerRegel: Tg | 2 3 Tm (5.48)
a f
Die Werte von Tg und Tm lassen sich bei Homopolymeren nicht unabhängig voneinander variieren. Das ist bei Copolymeren anders. Die statistischen Copolymere Nylon 66 und Nylon 610 kann man z.B. so herstellen, dass der Tg Wert nicht nennenswert von dem Tg-Wert der Homopolymere abweicht. Die Steifheit der Copolymer-Hauptketten stimmt dann mit der Steifheit der HomopolymerKetten überein. Die Irregularität führt aber dazu, dass die Copolymere weniger leicht kristallisieren. Tm wird deshalb kleiner. Tg und die Molmasse Die Glastemperatur hängt nicht nur von der chemischen Struktur eines Polymers ab, sondern auch von dessen Molmasse, dem Verzweigungsgrad und dem Vernetzungsgrad. Der Wert von Tg wird größer, wenn die Molmasse zunimmt. Es gilt: Tg Tg,f K M (5.49) K ist eine Konstante (K > 0), und Tg,f ist der Wert von Tg für M = f.
374
5.2 Thermische Eigenschaften und Umwandlungen
Gleichung (5.49) lässt sich herleiten. Wir benutzen dazu das Konzept des Freien Volumens. Gegeben sei eine Polymerprobe der Dichte U und der Molmasse Mn. Die Anzahl der Polymerketten pro Einheitsvolumen ist U N A / M n . Die Polymerketten seien linear. Es gibt also 2 U N A / M n Kettenenden pro Volumeneinheit. Das Freie Volumen, welches von den Kettenenden herrührt, sei Vf,e. Der Beitrag der Segmente, die sich im mittleren Teil der Polymerketten befinden, sei Vf,m. Es gilt also: Vf Vf,m Vf,e bzw. f fm fe (5.50) fe ist der Anteil des Freien Volumens Vf,e am Gesamtvolumen V ( fe = Vf,e /V ). Der Anteil eines Kettenendes an Vf,e sei Xe. Es gilt also: fe 2 U NA Mn X e (5.51)
b
g
Gleichung (5.50) setzen wir in Gleichung (5.47) ein. Es folgt: fm fe
f g D f T Tg
d
i
(5.52)
Ist M = f, so ist Tg = Tg,f und fe = 0. Gleichung (5.52) geht dann über in fm
f g D f T Tg,f
d
i
(5.53)
Diese Gleichung setzen wir in Gleichung (5.52) ein. Mit Gleichung (5.51) folgt: Tg
b
Tg,f 2 U N A X e D f
gM
(5.54)
n
Xe ist der Anteil eines Kettenendes an Vf,e bei der Temperatur T. Das Produkt U Xe ist deshalb temperaturunabhängig. Es stellt die Masse eines Kettenendes dar. Der Ausdruck 2 U N A X e D f ist folg-
b
g
lich eine Konstante. Wir nennen sie K und erhalten somit Gleichung (5.49). Wir betonen: Gleichung (5.49) gilt nur für lineare und nicht für ringförmige Polymere. Geschlossene (ringförmige) Polymere besitzen keine Endgruppen. Es gibt bei ihnen kein freies Volumen Vf,e. Die Flexibilität eines Ringes ist umso größer, je größer der Polymerisationsgrad ist. Die Glastemperatur nimmt deshalb für Ringpolymere mit steigender Molmasse ab. Verzweigte Polymere besitzen fast immer eine höhere Glastemperatur als lineare Polymere gleicher Molmasse. Das ist verständlich. Ein verzweigtes Polymer besitzt viele Zweige (branches). Diese wirken wie Seitenkeiten und behindern die Beweglichkeit der Hauptkette. Tg wird deshalb mit wachsendem Verzweigungsgrad größer. Ähnliches gilt für vernetzte Polymere. Die Vernetzungen reduzieren das freie Volumen wodurch die Beweglichkeit der Segmente erschwert und Tg größer wird. Bei sehr stark vernetzten Polymeren findet man überhaupt keine Glastemperatur. Eine Berechnungsformel für Tg Die Glastemperatur Tg hängt von der chemischen Struktur des Polymers ab. Es wird angenommen, dass jede Struktureinheit einen bestimmten Beitrag zu Tg leistet. Im Idealfall verhalten sich diese Beiträge additiv, d.h., der Beitrag einer gegebenen Struktureinheit hängt nicht von der Art der benachbarten Struktureinheiten ab. Diese theoretisch abgeleiteten Additivitätsfunktionen für Tg beschreiben die Messergebnisse aber nur unzureichend. Es ist deshalb zweckmäßiger, empirische Näherungsformeln zu benutzen. Die vielleicht interessanteste empirische Funktion ist die molare Grenzübergangsfunktion Yg. Es gilt: (5.55) Yg { Tg M ¦ Ygi i
Hier sind M die Molmasse einer Monomereinheit und Ygi die Glasübergangsfunktionen der Struktureinheit i. In der Literatur findet man Tg-Werte von mehr als 600 Polymeren. Diese kann man mit Hilfe von Gleichung (5.55) analysieren und so die Ygi-Werte für verschiedene Struktureinheiten ermitteln. Eine kleine Übersicht gibt Tabelle 5.11.
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
375
Tabelle 5.11: Molmassen und Ygi -Werte einiger Struktureinheiten
Ygi / (kg K/mol)
Struktureinheit
Mi / (g/mol)
CH2
in der Hauptkette in der Seitenkette
2,7 6,6
14,0 14,0
CHX
CH(CH3) CH(i-propyl) CH(cyclohexyl) CH(C6H5)
8,0 19,9 41,3 36,1
28,0 56,1 96,2 90,1
C Halogen
CHF CHCl CCl2
12,4 19,4 22,0
32,0 48,5 82,9
20,0
60,0
20,0
59,0
37,4
108,1
C
84,0
180,2
S
72,0
184,2
C hetero
O O C O O O C NH
O
O O
Als Beispiel wollen wir die Glasübergangstemperatur von Poly(ether-keton) berechnen. Die Monomereinheit ist: O O
O
C
Wir können sie in die Struktureinheiten mit Yg1 = 37,4 und M1 = 108,1 g/mol
O
O
und O
mit Yg2 = 84,0 und M2 = 180,2 g/mol
C
zerlegen. Damit folgt:
F¦Y GH 2
Tg
gi
i 1 3
I bM JK
1
M2
g
a
10 3 37,4 84,0
f a108,1 180,2f
420 K
(5.56)
Der Faktor 10 ergibt sich aus der Umrechnung von g in kg. Der Messwert von Tg liegt zwischen 414 und 433 K. Die Übereinstimmung zwischen Gleichung (5.55) und dem Experiment ist somit gut. Gleichung (5.55) ist nur auf lineare Polymere anwendbar. Für kammartig verzweigte Polymere gilt:
376
5.2 Thermische Eigenschaften und Umwandlungen
Yg Yg Yg
Yg 9
U| N 9 iV| N 9 f WN ! 9
N Yg 0 Yg9 Yg0 9 Yg 9 7,5 N 9
d
a
(5.57)
N bezeichnet die Länge der Seitenketten; einige Werte für Yg0 und Yg9 enthält Tabelle 5.12. Tabelle 5.12: Yg0 und Yg9 -Werte von Vinylpolymeren mit Paraffinseitenketten und Methylendgruppen
Polymer
Yg0
Yg9
K kg / mol
K kg / mol
Trivalente Gruppe
Polypropylen
CH
10,7
33,6
Poly(p-methylstyrol)
CH
44,7
48,8
Poly(vinylmethylether)
CH O
14,6
36,8
Poly(vinylacetat)
CH O C O
26,0
42,4
Poly(methylmethacrylat)
C(CH3) C O O
37,8
45,2
Wir betrachten auch hier ein Beispiel: Gesucht sei die Glastemperatur von Poly(hexadecylmethacrylat). Die Strukturformel lautet: CH3 CH2 C C O O (CH2)15 CH3
Die Molmasse einer Monomereinheit ist 311 g/mol. Die Seitenkette enthält 15 CH2-Gruppen; N ist also 15. Für die Methylmethacrylatgruppe gilt nach Tabelle 5.12: Yg9 = 45,2 K kg/mol. Wir finden somit: Tg
Yg M
a
Yg9 7,5 N 9
f
M
a
10 3 45,2 7,5 15 9
f
311
290 K
(5.58)
Der experimentell bestimmte Wert für Tg beträgt 288 K. Ähnlich gute Übereinstimmungen werden für andere Polymere gefunden. Eine Übersicht gibt Tabelle 5.13.
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
377
Tabelle 5.13: Experimentelle und berechnete Tg -Werte für eine Reihe von Polymeren
Polymer
Tg / K experimentell
Poly(1-octen)
208 - 228
210
Poly(p-ethylstyrol)
300 - 351
342
Poly(p-hexylstyrol)
Tg / K berechnet
246
250
Poly(vinylethylether)
231 - 254
237
Poly(methylacrylat)
249 - 252
260
Poly(vinylfluorid)
253 - 314
338
Poly(vinylchlorid)
247 - 354
354
Poly(ethylenoxid)
206 - 246
213
5.2.5 Schmelzen Schmelzen ist die thermische Umwandlung eines festen (kristallinen oder teilkristallinen) Aggregatzustandes in den weniger geordneten flüssigen Aggregatzustand. Die dazu benötigte Wärmemenge heißt Schmelzwärme. Die Festkörperbausteine (Ionen, Atome oder Moleküle) werden durch die zugeführte Wärme zu Schwingungen angeregt. Diese sind so stark, dass das Kristallgitter plötzlich zerfällt. Bei kristallinen Stoffen, die keine Verunreinigungen enthalten, tritt dieser Gitterzerfall bei einer ganz bestimmten Temperatur ein. Das ist die verunreinigungsfreie Schmelztemperatur Tm . Im Moment des Schmelzens sind die flüssige und die feste Phase im thermodynamischen Gleichgewicht. 'G ist null. Es gilt: Tm 'H m / 'Sm , wobei 'H m die molare Schmelzenthalpie und 'Sm die molare Schmelzentropie sind. Polymere sind keine morphologisch einheitlichen Stoffe. Freie Kettenenden, niedermolekulare Salze und Lösemittelreste wirken als „Verunreinigungen“. Es kommt zu einer Schmelzpunkterniedrigung. Sind Tm der erniedrigte Schmelzpunkt und xv der Molenbruch der Verunreinigungen, so gilt:
m
b1 T g d1 T i b R 'H g ln b1 x g | b R 'H g x m
m
v
m
v
(5.59)
Polymere enthalten zudem amorphe sowie endliche kristalline Bereiche. Dies bedeutet: Polymere besitzen nicht einen „Schmelzpunkt“ sondern einen Schmelzbereich 'Tm. Dieser ist umso kleiner, je kleiner der Anteil der Verunreinigungen, je schmaler die Molmassenverteilung, je höher die Kristallinität und je größer und perfekter die Kristallite sind. Der Schmelzbereich 'Tm wird kalorimetrisch ermittelt. Man misst dazu die isobare Wärmekapazität Cp und trägt sie gegen T auf. Die Wärmekapazität durchläuft für kristalline Polymere ein Maximum. Die größten und perfektesten Kristallite schmelzen rechts von diesem Maximum. Die Schmelztemperatur ist deshalb als das rechte Ende des Schmelzbereiches definiert (siehe Abbildung 5.24). Am linken Ende des Schmelzbereiches beginnen die Polymermoleküle zu kristallisieren. Dort liegt die Kristallisationstemperatur Tk. Amorphe Polymere besitzen keine Schmelz- und keine Kristallisationstemperatur. Es gibt aber eine Glastemperatur Tg. Die Wärmekapazität Cp nimmt bei Tg sprunghaft zu.
378
5.2 Thermische Eigenschaften und Umwandlungen
Abbildung 5.24: Die isobare Wärmekapazität Cp von teilkristallinem (x) und von amorphem ({) Poly(oxy-2,6-dimethyl-1,4-phenylen) als Funktion der Temperatur T. (J.M. O'Reilly, Ann. N.Y. Acad. Sci. 371(1981))
Tm und die Kristallitdicke Die Schmelztemperatur Tm eines Polymers ist mit der Kristallisationstemperatur Tk verknüpft. Eine Auftragung von Tm gegen Tk liefert in der Regel eine Gerade (siehe Abbildung 5.25). Tm kann nicht kleiner als Tk sein. Die Gerade Tm = Tk stellt deshalb die untere Grenzkurve für die Schmelzpunkte dar. Sie schneidet die experimentell ermittelte Tm(Tk)-Kurve in einem bestimmten Punkt. Die Kristallisation und das Schmelzen finden dort bei der gleichen Temperatur statt. Wir bezeichnen diese Temperatur mit TmD .
Abbildung 5.25: Die Schmelztemperatur Tm als Funktion der Kristallisationstemperatur Tk von Poly(di-propylenoxid). (J.H. Magill, 1977)
Die Schmelztemperatur Tm hängt von der Kristallitdicke dm ab. Tm ist umgekehrt proportional zu dk, (siehe Abbildung 5.26). Diese Beobachtung kann man thermodynamisch erklären. Der betrachtete Kristallit sei ein Zylinder mit dem Radius r und der Höhe h. Die Oberflächenenergie der Deckflächen des Zylinders sei VD, und die Oberflächenenergie des Mantels sei VM. Die Energie zur Bildung der Zylinderfläche ist: G0 2 S r 2 V D 2 S r h V M (5.60)
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
379
Sie wird beim Schmelzen freigesetzt. Gleichzeitig müssen wir dem Kristallit die Fusionsenergie 'GF zufügen. Für die Freie Schmelzenthalpie 'Gm gilt deshalb: 'Gm S r 2 h U k 'GF 2 S r r V D h V M (5.61) wobei 'GF durch Gleichung (5.32) gegeben ist. Im Schmelzpunkt ist 'Gm = 0. Es folgt somit:
bT
m
g
Tk Tm
b
2 r h U k 'H F
g br V
D
hVM
g
(5.62)
Wir sehen: Tm ist gleich Tk, wenn r und h gegen unendlich konvergieren. Die Temperatur Tm TmD beschreibt somit den Fall, dass der Kristallit unendlich groß ist. Das ist in der Praxis natürlich nie der Fall. r und h sind endlich und r ist in der Regel deutlich kleiner als h. Es gilt: V D / h V M / r . Gleichung (5.62) vereinfacht sich deshalb zu: Tm Tk Tm 4 V M U k 'H F d k mit d k 2 r (5.63)
b
g
b
gb
g
Diese Gleichung können wir nach Tm auflösen. Es folgt: Tm | Tk 4 V M Tk U k 'H F d k
(5.64)
Tm ist also größer als Tk und umgekehrt proportional zu dk. Für (1/dk) = 0 gilt: Tm Tk TmD
(5.65)
b
gb
g
Abbildung 5.26: Die Abhängigkeit der Schmelztemperatur Tm von der reziproken Kristallitdicke dk für Poly(chlorid-tri-fluorethylen). Auftragung von J.D. Hoffman, nach Daten von P.H. Geil und J.J. Weeks.
Tm und der Polymerisationsgrad P Unser Kristallit bestehe aus n Polymerketten. Jede Polymerkette besitzt zwei Endgruppen. Der Molenbruch der Endgruppen im Kristallit ist: xE 2n 2nPn |2 P (5.66)
a fa
f
P ist der mittlere Polymersiationsgrad einer Polymerkette. Die Endgruppen wirken wie Verunreinigungen (xE = xV). Sie führen zu einer Schmelzpunkterniedrigung. Nach Gleichung(5.59) gilt:
1 Tm
1 T R 'H
m
m
xE
1 T 2 R 'H
m
m
1 P
(5.67) Tm ,
die wir Tm ist die experimentell ermittelte Schmelztemperatur. Sie ist kleiner als die Temperatur erhalten, wenn unser Kristallit keine Endgruppen besitzt. Letzteres ist der Fall, wenn P gegen unendlich konvergiert. Tm und TmD sind somit identisch. Es folgt:
1 Tm
1 T 2 R 'H D m
m
1 P
(5.68)
380
5.2 Thermische Eigenschaften und Umwandlungen
Wir sehen: Der Kehrwert der Schmelztemperatur wächst proportional mit dem Kehrwert des Polymerisationsgrades P. Diese Voraussage der Theorie wird durch das Experiment bestätigt (siehe Abbildung 5.27). Gleichung (5.68) gilt allerdings nur dann, wenn die Anordnung der Polymere im Kristallit nicht vom Polymerisationsgrad abhängt. Diese Unabhängigkeit ist für Polyethylene und Cycloalkane nur bedingt gegeben. Bei Polymerisationsgraden von P < 20 weist 1/Tm eine stufenförmige Abhängigkeit von 1/P auf (siehe Abbildung 5.27). Erst bei Polymerisationsgraden P > 20 nimmt 1/Tm linear mit 1/P zu.
Abbildung 5.27: Die reziproke Schmelztemperatur 1/Tm als Funktion des Kehrwertes des Polymerisationsgrades P. (A) Polyethylen, (C) Cyclo-(CH2)n. (H.G. Elias, 1990)
Tm und die Konstitution Die Schmelztemperatur Tm einer Polymerprobe hängt von verschiedenen Faktoren ab. Ein Faktor ist die Anzahl der freien Kettenenden ne. Sie ist groß für verzweigte Polymere und klein für lineare Polymere mit großer Molmasse. Die Schmelztemperatur wird deshalb mit steigendem Verzweigungsgrad kleiner und mit zunehmender Molmasse größer. Der wichtigste Faktor, der die Schmelztemperatur eines Polymers bestimmt, ist dessen chemische Struktur. Wir betrachten als Beispiel die Schmelztemperaturen der Polymere aus Tabelle 5.14. Polyethylen (CH2CH2)n sei unser Referenzpolymer. Der erste wichtige Faktor, der Tm beeinflusst, ist die Steifheit der Polymerhauptkette. Sie hängt davon ab, wie leicht es ist, Rotationen um die chemischen Bindungen der Hauptkette durchzuführen. Die Drehbarkeit wird durch die Einführung von Gruppen wie O, OO oder COO erleichtert. Tm wird kleiner. Phenylgruppen erhöhen dagegen die Steifheit der Hauptkette. Tm wird größer. Der zweite wichtige Faktor ist die Präsenz polarer Gruppen, wie CONH. Sie ermöglichen die Bildung intermolekularer Wasserstoff-Brückenbindungen. Diese stabilisieren den Kristall. Tm wird erhöht. Für die Polyamide hängt Tm von der Stärke der intermolekularen H-Bindungen ab. Tm wird kleiner, wenn die Anzahl der CH2 Gruppen zwischen den Amid-Gruppen zunimmt (siehe Tabelle 5.14). Der dritte Faktor, der Tm beeinflusst, ist die Art der Seitengruppen auf der Hauptkette. Wir betrachten dazu als Beispiel die Vinylpolymere. Sie besitzen die Struktur (CH2CHX)n, wobei X die Seitengruppe ist. Für Polypropylen ist X = CH3. Die CH3-Gruppe erhöht die Steifheit der Hauptkette. Die Schmelztemperatur von Polypropylen ist deshalb größer als die von Polyethylen. Dieses Prinzip lässt sich aber nicht verallgemeinern. Ist die Seitengruppe X lang und flexibel, so wird Tm mit steigender Länge kleiner. Steife Seitengruppen wie Phenyl- oder CH2CH(CH3)2 Gruppen beeinträchtigen die freie Rotation um die Hauptkette. Tm wird dann größer.
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
381
Tabelle 5.14: Die Schmelztemperatur Tm für einige Polymere
Tm / °C
Polymertyp (CH2CH2)n
142
(CH2CH2COO)n (CH2CH2O)n
122 68 398
[ 2 CH
CH2]n
(CH2CH2CONH)n (CH2CH2CH2CONH)n (CH2CHX)n mit X = CH3 CH2CH3 CH2CH(CH3)2
330 260 186 125 235 177
Eine Berechnungsformel für Tm In Analogie zur molaren Glasübergangsfunktion Yg können wir die molare Schmelzübergangsfunktion Ym einführen. Es gilt: Ym { Tm M ¦ Ymi (5.69) i
M ist wieder die Molmasse einer Monomereinheit, und Ymi sind die Beiträge der Struktureinheiten zu Ym. Einige Ymi-Werte sind in Tabelle 5.15 zusammengestellt. Zu ihrer Bestimmung wurden die Tm-Werte von nahezu 800 Polymeren herangezogen. Tabelle 5.15: Beiträge der Struktureinheiten zu Ym
Gruppe CH(CH3)
Ymi./ (kg K/mol)
Mi / (g/mol)
13,0
28,0
CH(i-propyl)
35,3
56,1
CH(C6H5)
48,0
90,1
CH(OH)
18,0
30,0
CH(OCOCH3)
38,0
72,1
CH(CN)
26,9
39,0
CHF
17,4
32,0
CHCl
27,5
48,5
O
13,5
16,0
NH
18,0
15,0
133
216,3
125
194,3
O S O CH3 C CH3
382
5.2 Thermische Eigenschaften und Umwandlungen
Wir wollen als Anwendungsbeispiel die Schmelztemperatur von NUDEL-Polysulfon berechnen. Die Strukturformel lautet: O
CH3
S
O
O
C
O
CH3
Nach Tabelle 5.15 gilt für die Struktureinheiten: Ymi
Mi
133
216,3
2u 13,5
2u 16,0
125
194,3
O S O
2 u O CH3 C CH3
Es folgt somit: Tm ¦ Ymi ¦ Mi 10 3 133 27 125 216,3 32 194,3 645 K Gleichung (5.69) gilt nur für lineare Polymere. Für kammartig verzweigte Polymere mit Seitenketten der Länge N gilt: N Ym Ym 0 Ym5 Ym0 N5 5 (5.70) N 5 Ym Y5 N!5 Ym Ym 5 5,7 N 5
a
b
a
fa
f
gU| |V f || W
Einige Werte für Ym0 und Ym5 sind in Tabelle 5.16 zusammengestellt. Tabelle 5.16: Ym0- und Ym5-Werte einiger Vinylpolymere mit Methylgruppen als Endgruppen
Polymer
trivalente Struktureinheit
Ym0 kg K/mol
Ym5 kg K/mol
Polypropylen
C
18,7
26,3
Poly(vinylmethylether)
C O
24,4
30,1
Poly(vinylacetat)
C
44,0
36,7
O CO
Poly(methylacrylat)
C COO
44,0
36,7
Poly(methylmethacrylat)
C COO
47,3
40,0
Als Anwendung von Gleichung (5.70) wollen wir die Schmelztemperatur von Poly(vinyl-1-decylether) bestimmen. Die Strukturformel lautet:
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
383
[ CH2 CH ] O (CH2)9 CH3
Das bedeutet: N ist 9; für die Struktureinheit einheit
CH2 CH O CH3
C O ist Ym5 = 30,1. Ihr zugeordnet ist die Basis-
mit der Molmasse M = 58,1 g/mol. Es folgt somit:
Ym = 30,1 + 5,7(9 – 5) = 52,9 kg K/mol; M = 58,1 + 9,14 = 184 g/mol; Tm = 52,9 · 103/184 = 288 K. Der experimentell bestimmte Wert von Tm ist 280 K, die Übereinstimmung ist also gut. Van Krevelen hat das dargestellte Berechnungsverfahren auf 800 Polymere angewandt. Bei 75 % der Polymere ist die Abweichung zwischen den berechneten und experimentell ermittelten Tm-Werten kleiner als 20 K; die Übereinstimmung liegt damit im Rahmen der Messgenauigkeit. Die berechneten Tm-Werte der anderen 25 % sind weniger zuverlässig. 5.2.6 Andere Umwandlungstemperaturen Die Glas- und die Schmelztemperatur sind die Hauptübergangstemperaturen von Polymeren. Es existieren aber noch andere Übergänge. Wir wollen sie im Überblick kurz zusammenstellen: (1) Die lokale Relaxation Sie beinhaltet die Relaxation eines sehr kurzen Abschnitts einer Polymerkette und wird E-Relaxation genannt. Es gilt: TE Tg ; TE | 0,75 Tg (2) Die Flüssig-Flüssig Relaxation Diese Relaxation tritt in unvulkanisierten, amorphen Polymeren und Copolymeren auf. Die Übergangstemperatur Tl liegt bei etwa 1,2 Tg. Sie beschreibt den Übergang vom viskoelastischen in den normalviskosen Zustand. (3) Der zweite Glasübergang in semikristallinen Polymeren In einigen semikristallinen Polymeren treten zwei Glasübergänge auf, ein unterer Glasübergang bei Tg,u und ein oberer bei Tg,o. Die Temperatur Tg,u erfasst die rein amorphen Gebiete und Tg,o die amorphen Gebiete, in deren Nachbarschaft sich Kristallite befinden. Tg,o nimmt deshalb mit dem Grad der Kristallisation zu. In den meisten Fällen gilt: Tg,o | 1,2 r 0,1 Tg,u ; Tg,u | 0,575 r 0,075 Tm ; Tg,o | 0,7 r 0,1 Tm . (4) Die Präschmelztemperatur TmD Einige semikristalline Polymere zeigen einen mechanischen Verlustpeak unterhalb der Schmelztemperatur. TmD ist die Temperatur, bei der behinderte Rotationen von Polymerketten innerhalb der gefalteten Kristallite stattfinden. Oft gilt:TmD | 0,9 Tm . Abschließend wollen wir noch erklären, was eine Relaxation ist. Es ist das zeitliche Zurückbleiben einer Wirkung hinter ihrer Ursache. Das zu untersuchende System wird dazu kurzzeitig einem äußeren Kraftfeld ausgesetzt und die Zeitspanne gemessen, die das System benötigt, um in seine neue Gleichgewichtslage zu gelangen. Die Kraftfelder können dabei von mechanischer, elektrischer oder magnetischer Natur sein. Die Messgrößen sind dementsprechend mechanische Module oder elektrische und magnetische Dipolmomente. Die äußere Kraft lässt man meist periodisch auf die Probe einwirken. Die benutzten Frequenzen liegen zwischen v = 10–6 s–1 und v = 1012 s–1. Die zur Relaxation zur Verfügung stehenden Zeiten liegen also zwischen 10–12 und 106 s (11,5 Tage). Die Messgrößen bestimmt man für verschiedene Frequenzen bei verschiedenen Temperaturen. Bei einer gegebenen Frequenz beobachtet man für einige Temperaturen Resonanzsignale (Peaks). Diese kann man bestimmten molekularen Vorgängen zuordnen. Die zugehörigen Temperaturen heißen Relaxationstemperaturen. Die meisten Relaxationsprozesse (Temperaturen) besitzen keine anschauliche Erklärung. Es handelt sich in der Regel um eine Überlagerung verschiedener Prozesse (siehe Kapitel 5.3). Ausnahmen sind die Schmelz-, die Glas- und die Flüssig-Flüssig-Relaxationstemperaturen.
a
f
a
f
a
f
384
5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie
5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie Ein polymerer Festkörper ändert seine Gestalt, wenn eine Kraft auf ihn einwirkt. Der Festkörper wird durch eine Scherkraft geschert, durch eine Zugkraft gedehnt und durch eine Druckkraft komprimiert. Das Maß der Deformierbarkeit hängt von folgenden Faktoren ab: - der inneren Struktur des Festkörpers - der Deformationsgeschwindigkeit (Rate) und - der Temperatur. Elastische Festkörper, wie Metalle und keramische Materialien, gehorchen bei kleinen Dehnungen dem Hookeschen Gesetz. Die Dehnung ist der Zugkraft proportional und unabhängig von der Deformationsgeschwindigkeit. Die mechanischen Eigenschaften von Flüssigkeiten sind dagegen zeitabhängig. Für kleine Dehnungsraten gilt das Newtonsche Gesetz. Die Scherspannung ist proportional zur Dehnungsrate und unabhängig von der Dehnung. Die mechanischen Eigenschaften der meisten Polymere liegen zwischen denen von elastischen Festkörpern und Flüssigkeiten. Bei niedrigen Temperaturen und hohen Dehnungsraten verhalten sich Polymere wie elastische Festkörper. Sie benehmen sich dagegen wie viskose Flüssigkeiten, wenn die Temperatur hoch und die Dehnungsrate klein ist. Polymere besitzen also sowohl elastische wie auch viskose Eigenschaften. Man bezeichnet sie daher als viskoelastisch. 5.3.1 Dehnung und Dehnungsmodul Gegeben sei ein Draht mit dem Querschnitt A und der Länge l. Ziehen wir mit der Kraft F an dem Draht, so wird er um die Strecke 'l verlängert bzw. gedehnt. Diese Dehnung ist bei nicht allzu großer Belastung proportional zu F und l, aber umgekehrt proportional zu A. Es gilt: 'l
1 E l F A
bzw.
'l l
1 E F A
(5.71) Die Proportionalitätskonstante E heißt Dehnungs- oder Elastizitätsmodul. Es erfasst das unterschiedliche Verhalten der Materialien. Je größer E ist, desto weniger elastisch ist das Material. Tabelle 5.17:
Elastizitäts-, Schub- und Kompressionsmodule und Poissonsche Zahlen bei T = 20 °C
Material
E/(daN/mm2)
Aluminium D-Eisen V2A-Stahl (Cr, Ni) Gold Cu, weich D-Messing Quarzglas Marmor Eis (4 °C) Naturkautschuk Polyethylen (LD) Nylon Polystyrol Poly(methylmethacrylat)
7200 21800 19500 8100 12000 10000 7600 7300 990 10,5 102 20 190 340 320
G/(daN/mm2) 2700 8400 8000 2800 4000 3600 3300 2800 370 3,5 102 7 70 120 110
K/(daN/mm2) 7500 17200 17000 18000 14000 12500 3800 6200 1000 200 330 500 500 510
P 0,34 0,28 0,28 0,42 0,35 0,38 0,17 0,30 0,33 --0,49 0,44 0,38 0,40
Das Verhältnis H 'l / l heißt Dehnung (Englisch: strain). Es gibt die Verlängerung oder Verkürzung pro Längeneinheit an. Das Verhältnis V F / A ist die Spannung (Englisch: stress). Gleichung (5.71) lässt sich damit umschreiben zu:
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
V
EH
385
(5.72)
Das ist das Hookesche Gesetz. Dehnung und Spannung sind einander proportional. Festkörper, die dem Hookeschen Gesetz folgen, heißen elastisch. Da H dimensionslos ist, hat E die Dimension einer Spannung. In der Technik wird E meist in DekaNewton/mm2 (daN/mm2), Kilopond/mm2 (kp/mm2) oder dyn/cm2 angegeben (1 kp = 9,80665 N = 0,980665 daN). Einige Werte für E zeigt Tabelle 5.17. 5.3.2 Poissonsche Zahl Ein Draht, auf den die Spannung V wirkt, wird nicht nur in die Richtung des Kraftvektors um die Strecke 'l verlängert bzw. verkürzt. Er wird gleichzeitig in der dazu senkrechten Richtung um die Strecke 'd „verdünnt“ bzw. „verdickt“. Man spricht von der Querkontraktion bei elastischer Dehnung (siehe Abbildung 5.28).
Abbildung 5.28: Querkontraktion eines elastischen Drahtes
Wir betrachten als Beispiel einen Quader mit dem quadratischen Querschnitt A = d 2 und der Länge l. Das Volumen dieses Quaders wird durch eine Dehnung verändert. Es gilt: ª d 'd 2 l 'l º d 2 l | d 2 'l 2'd l d ¬ ¼ Die relative Volumenänderung ist: 'V
'V V
'V d 2 l | 'l l 2 'd d
'l l ª¬1 2 'd d 'l l º¼
(5.73)
(5.74)
Das Verhältnis
P { 'd d 'l l
(5.75) heißt Poissonsche Zahl. Bei Berücksichtigung des Hookeschen Gesetzes lässt sich Gleichung (5.74) damit umschreiben zu: 'V V
1 E 1 2 P V
(5.76) 'V ist größer oder mindestens gleich null. P kann deshalb nicht größer als 0,5 sein. Für P = 0,5 ist 'V = 0. Experimentell findet man, dass P zwischen 0 und 0,5 liegt (siehe Tabelle 5.17).
386
5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie
5.3.3 Kompression und Kompressionsmodul Ein Festkörper, auf den von allen Seiten des Raumes ein gleich großer Druck p wirkt, wird komprimiert. Die Volumenänderung ist dabei dreimal so groß wie bei der eindimensionalen Druckspannung p = V. Aufgrund von Gleichung (5.76) gilt: 'V V 3 E 1 2 P p bzw. p K 'V V (5.77)
a fa
f
a
f
Das Minuszeichen vor der Konstanten K weist darauf hin, dass bei einer Druckzunahme das Volumen abnimmt. Die Konstante K heißt Kompressionsmodul. Sie besitzt genau wie E die Einheit einer Spannung. Es gilt: K
E ª¬3 1 2 P º¼
(5.78)
K, E und P sind also miteinander verknüpft. Die Größe N = 1/K heißt Kompressibilität. Sie wird vorzugsweise bei der Beschreibung von Gasen und Flüssigkeiten benutzt. 5.3.4 Scherung und Schubmodul Die Scher- oder Schubkraft wirkt senkrecht zu der Ebene, an der sie angreift. Sie bewirkt eine Scherung, d.h. eine Kippung der Kanten der Ebene, die senkrecht zur angreifenden Kraft stehen (siehe Abbildung 5.29). Der Kippwinkel D ist der Schubspannung W = F/l2 proportional. Es gilt: W GD (5.79)
Die Proportionalitätskonstante G heißt Torsions- oder Schubmodul. Sie ist ein Maß für die Gestaltelastizität.
Abbildung 5.29: Scherung eines Quaders
Die vier Parameter E, G, K und P sind miteinander verknüpft. Sind zwei der Parameter bekannt, so lassen sich die anderen zwei berechnen. Die Berechnungsformeln sind in Tabelle 5.18 zusammengestellt. Tabelle 5.18: Die Elastizitätsparameter und ihre Berechnungsformeln
E
a
f
=
2
G
1 P
K=
3 1 2 P
G=
2 1 P
=
E=
2 G 1 P
=
3 K 1 2 P
P=
12E 6K
=
E 2 G 1
E
a f
3
3 2
K
=
1 2 P
1 2 P
=
1 P
a
a f
f
1
E
3 3 E G
E
a fa f
3 1 3 E G 3G
=
=
a fa f 1 a1 2faG K f 2 a1 a1 3faG K ff
1 1 3 G K
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
387
5.3.5 Die Konstanten E, G, K und die Schallgeschwindigkeit In Festkörpern können sich longitudinale und transversale Schallwellen ausbreiten. Longitudinale Wellen erzeugen im Festkörper lokale Kompressionen und Expansionen. Die Molekülteile des Festkörpers schwingen dabei in Richtung der Fortpflanzung der Welle. Bei einer transversalen Welle erfolgt die Bewegung der Molekülteile dagegen senkrecht zur Fortpflanzungsrichtung der Welle, der Festkörper wird lokal geschert. Transversale Schallwellen werden deshalb Scherwellen genannt. Flüssige Medien wie Gase, Flüssigkeiten oder Schmelzen besitzen keine innere Steifheit; in ihnen können sich nur longitudinale Wellen ausbreiten. In steifen Medien, die nicht komprimierbar sind, können sich dagegen nur Scherwellen ausbreiten. Die Schallgeschwindigkeit Ul einer longitudinalen Welle und die Schallgeschwindigkeit Ut einer transversalen Welle hängen von den Modulen K und G ab. Findet keine Schallabsorption statt, so gilt: Ul
Ut
aK 4 G 3f U GU
12
(5.80)
12
(5.81)
wobei U die Dichte des Materials ist. Bei dünnen Fasern ist die laterale Ausdehnung kleiner als die Wellenlänge des Schalls. Die longitudinale Welle ist dann rein extensional. Es gilt: U ext
a E Uf
12
a
f
3 G 1 G 3 K U
12
In Schmelzen ist G = 0; die longitudinale Welle ist dann rein kompressional: U k
(5.82) (K / U) . 1/ 2
Die molare Schallgeschwindigkeitsfunktion UR Rama Rao konnte 1940 zeigen, dass das Verhältnis U l1/3 / U für organische Flüssigkeiten nicht von der Temperatur abhängt. Die Funktion U R { M U l1 3 U
V U l1 3
(5.83)
heißt Rao-Funktion oder molare Schallgeschwindigkeitsfunktion. Darin sind M die Molmasse und V das Molvolumen. Für Festkörper muss Gleichung (5.83) modifiziert werden. Dort gilt:
UR
V U l1 3
LM 1 P OP N 3 a1 P f Q
16
(5.84)
wobei P die Poissonsche Zahl ist. Für Flüssigkeiten ist P = 0,5, sodass Gleichung (5.84) in Gleichung (5.83) übergeht. Jede Struktureinheit eines Polymers liefert einen bestimmten Beitrag zu UR, und diese Beiträge verhalten sich additiv. Das bedeutet: Wir können UR berechnen, wenn wir die Molekularstruktur und die Gruppenbeiträge kennen. Letztere sind in Tabellenwerken nachschlagbar. Einige Beispiele zeigt Tabelle 5.19. Anstelle von Gleichung (5.80) können wir auch schreiben: U l2 ( K / U ) (3 (1 P ) / (1 P )) (vgl.Tabelle 5.18). Kombinieren wir diese Gleichung mit Gleichung (5.84), so folgt:
K
bU V g
6
R
U
(5.85)
Der Kompressionsmodul kann somit berechnet werden, wenn UR bekannt ist. Hartman hat 1984 einen analogen Ausdruck für den Schermodul G abgeleitet. Es gilt:
G
bU V g U 6
H
Darin ist UH die Hartman-Funktion. Die Gruppenbeiträge für UH finden sich in Tabelle 5.19.
(5.86)
388
5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie
Tabelle 5.19: Gruppenbeiträge zu UR und UH
UR
Gruppe
UH
3
(cm / mol) (cm / s)
CH2
1/3
(cm / mol) (cm / s)1/3 3
880
675
CH(CH3)
1875
1650
CH(C6H5)
4900
4050
CH(CH3)(COOCH3)
4220
3650
4100
3300
O
400
300
N
65
50
OH
630
500
Die Gleichungen (5.80) bis (5.86) lassen interessante Anwendungsmöglichkeiten zu. Wir betrachten als Beispiel Poly(methylmethacrylat). Die Struktureinheit lautet: CH3 CH2 C COOCH3
mit M = 100,1 g/mol, U = 1,19 g/cm3 und V = 84,5 cm3/mol. Nach Tabelle 5.19 ergeben sich damit folgende Gruppenbeiträge: UR CH2 CH(CH3)(COOCH3)
Somit ist K
b
U UR V
g
6
a
f 3 G a1 G 3 K f
119 , 5100 84,5
6
UH
880
675
4220 6 5100
3650 6 4325
5,76 GPa und G
a
b
U UH V
Für E und P finden wir: E 5,8 GPa ; P 1 2 G 3 K Diese Werte vergleichen wir mit den experimentell ermittelten Werten: K/(GPa) G/(GPa) E/(GPa)
P
Experiment 6,49 2,33 6,24 0,34
g
6
2,18 GPa .
f a1 G 3 K f
0,335
Theorie 5,76 2,18 5,80 0,335
Wir erkennen: Die Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment ist hinreichend gut. Wir wollen zusätzlich die Schallgeschwindigkeiten berechnen: Nach Gleichung (5.80) und Gleichung (5.81) gilt: Ul = 2700 m/s und Ut = 1360 m/s. Beide Werte stimmen mit den gemessenen Werten Ul = 2690 m/s und Ut = 1340 m/s gut überein. Einen Vergleich der gemessenen und berechneten Schallgeschwindigkeiten für andere Polymere zeigt Tabelle 5.20. Die Übereinstimmung ist in allen Fällen zufriedenstellend. Wir schließen daraus: Die Gleichungen (5.80) bis (5.86) sind vorzüglich dazu geeignet, um K, G, E, P, Ul und Ut zu berechnen. Das gilt allerdings nur, solange keine Schallabsorption stattfindet.
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
389
Tabelle 5.20: Berechnete und gemessene Schallgeschwindigkeiten ausgewählter Polymere
Experiment
Theorie
Polymer
Ul / (m/s)
Ut / (m/s)
Ul / (m/s)
Ut / (m/s)
PE (HD) PP PS PVC PMMA PEO PA-6 PA-66 PF
2430 2650 2400 2376 2690 2250 2700 2710 2840
950 1300 1150 1140 1340 406 1120 1120 1320
2410 2586 2270 2425 2700 2400 2785 2785 3015
960 1280 1080 1140 1360 926 1120 1120 1270
Schallabsorption Die Schallabsorption ist weniger systematisch untersucht als die Schallgeschwindigkeit in Polymeren. Das vorhandene Datenmaterial lässt folgende Schlüsse zu: (1) Die Schallabsorption D ist in Phasenübergangsgebieten und im Gelzustand sehr hoch. (2) Die Schallabsorption ist vernachlässigbar klein, wenn die Poissonzahl P kleiner als 0,3 ist. (3) Kautschuke, die eine niedrige Vernetzungsdichte aufweisen, absorbieren Schallwellen relativ stark. (4) Die Schallabsorption von Kautschuken hoher Vernetzungsdichte ist gering. (5) Das Verhältnis D t/D l ist für alle Polymere nahezu konstant und liegt bei 5. Darin sind D t und D l die transversalen und longitudinalen Beiträge zu D. (6) Finden in einem gegebenen Temperaturbereich keine Phasenübergänge statt, so gilt in guter Näherung: D l | 40 P 0,30 dB / cm (5.87)
a
f
Wir betrachten als Beispiel PMMA. Dort ist P = 0,335. Setzen wir diesen Wert in Gleichung (5.87) ein, so folgt: D l = 1,4 dB/cm. Da D t | 5D l ist, gilt ferner: D t = 7,0 dB/cm. Diese Werte stimmen relativ gut mit den gemessenen Werten D l = 1,4 dB/cm und D t = 4,3 dB/cm überein. 5.3.6 Viskoelastizität und Zeitabhängigkeit Polymere sind keine elastischen Festkörper. Die einmal erzeugten Spannungen geben mit der Zeit nach. Man sagt, die elastischen Spannungen relaxieren. Die Änderungen von Spannung V und Dehnung H mit der Zeit t sind in Abbildung (5.30) skizziert. Die durchgezogenen Kurven beschreiben das mechanische Verhalten eines Polymers und die gestrichelten Kurven das Verhalten eines elastischen Festkörpers. Drei Fälle können unterschieden werden: (1) Konstante Spannung Die Spannung V wird zum Zeitpunkt t = 0 angelegt und danach konstant gehalten. Es stellt sich eine Dehnung H ein. Für Polymere wird H mit steigendem t zunächst schnell größer. Die Dehnungsrate (dH/dt) wird danach kleiner und konvergiert schließlich gegen null. Man sagt, das Polymer kriecht. Im Unterschied dazu bleibt in einem elastischen Festkörper die Dehnung über den gesamten Beobachtungszeitraum konstant. (2) Spannungs-Relaxation (konstante Dehnung) Die Dehnung H des Materials wird jetzt konstant gehalten und der Verlauf der Spannung als Funktion der Zeit verfolgt. Für elastische Festkörper ist (dV/dt) = 0, für Polymere nimmt V mit wachsendem t kontinuierlich ab. Man sagt, die Spannung relaxiert.
390
5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie
(3) Konstante Spannungsrate Die zeitliche Änderung der angelegten Spannung ist konstant. Für elastische Festkörper bedeutet dies: Die Dehnungsrate ist konstant und H wächst linear mit der Zeit. Polymere verhalten sich aber nicht so. H(t) ist nicht linear. Die H-Kurve liegt für große t oberhalb der Kurve für elastische Festkörper.
Abbildung 5.30: Spannungs- und Dehnungskurven für einen elastischen Festkörper (---) und ein Polymer(). Oben: konstante Spannung; Mitte: Spannungs-Relaxation; Unten: konstante Spannungsrate
Wir wollen jetzt die oben dargestellten Eigenschaften erklären. Der Einfachheit halber nehmen wir an, dass wir die Deformation eines Polymers in einen elastischen und einen viskosen Anteil zerlegen können. Die Elastizität beschreiben wir durch das Modell einer Feder, die dem Hookeschen Gesetz gehorcht. Es gilt: V EH und dV d t =E dH d t (5.88) Als Modell für die Viskosität benutzen wir einen „dashpot“. Das ist ein beweglicher Kolben, der sich in einer Flüssigkeit der Viskosität K befindet. Er soll in seinem Verhalten dem Newtonschen Gesetz folgen:
V K dH dt
(5.89) Um die Viskoelastizität zu beschreiben, müssen wir die beiden Grundelemente, Feder und dashpot, geeignet miteinander kombinieren. Es gibt dafür verschiedene Möglichkeiten. Die drei einfachsten Modelle wollen wir kurz vorstellen.
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
391
(1) Maxwell-Modell Das Maxwell-Modell für einen polymeren Festkörper besteht aus einer Feder und einem dashpot. Diese sind in Reihe geschaltet (siehe Abbildung 5.31).
Abbildung 5.31: Das Maxwell-Modell
Die Spannung V erzeugt die Gesamtdehnung H. Wir können sie in zwei Anteile, Hd und Hf, zerlegen. Es gilt: H Hf Hd (5.90) wobei Hd die Dehnung des dashpots und Hf die Dehnung der Feder sind. Der dashpot und die Feder sind in Reihe geschaltet. Die beiden Grundelemente stehen deshalb unter der gleichen Spannung. Es gilt: V Vd Vf (5.91) Gleichung (5.88) und (5.89) können wir umschreiben zu: dV dt E dH f dt und V = K dH d dt
a
f b
b
g
g
(5.92)
Die Ableitung von Gleichung (5.90) nach t liefert: dH dt dH f dt dH d dt 1 E dV d t V K
a
f b
g b
g a fa
f a f
(5.93) Das ist die gesuchte Bewegungsgleichung für das Maxwell-Modell. Im „Kriechexperiment“ wird das System einer konstanten Spannung ausgesetzt. dV/dt ist dann gleich null, und Gleichung (5.93) vereinfacht sich zu: dH dt V K konstant . Die Lö-
sung dieser Differentialgleichung lautet:
H t H 0 V K t
(5.94) Die Dehnung H wächst also im Maxwell-Modell linear mit der Zeit t (siehe Abbildung 5.32). Leider steht diese Voraussage im klaren Widerspruch zu den Ergebnissen des Experiments.
Abbildung 5.32: Dehnungs-Zeit Diagramme für das Maxwell- und das Voigt-Modell (1): Gleichung (5.94) (2): Gleichung (5.100)
Im Fall der konstanten Dehnung ist dH/dt = 0. Gleichung (5.93) geht dann über in
dV V
E K dt
Diese Differentialgleichung kann man mit der Methode „Trennung der Variablen“ lösen. Es folgt:
392
5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie
V
V 0 exp ª¬ E t K º¼
(5.95)
Darin ist V (0) die Spannung zum Zeitpunkt t = 0. Das Verhältnis W 0
K E
ist eine Konstante. Sie
besitzt die Dimension einer Zeit und wird Relaxationszeit genannt. Gleichung (5.95) vereinfacht sich damit zu:
V
V 0 exp t W 0
(5.96) wobei (0) = (0)/e ist. Das bedeutet: Die Spannung wird mit zunehmender Zeit exponentiell kleiner. Diese Voraussage stimmt qualitativ mit den experimentellen Ergebnissen überein. (2) Das Voigt-Modell Das Voigt-Modell wird auch Kelvin-Modell genannt. Es besteht aus den gleichen Grundelementen wie das Maxwell-Modell. Die Feder und der dashpot sind jetzt aber parallel geschaltet (siehe Abbildung 5.33).
Abbildung 5.33: Das Voigt-Modell
Die Dehnung Hf der Feder ist jetzt genauso groß wie die Dehnung Hd des dashpots. Es gilt:
H
Hf
Hd
(5.97)
Die Gesamtspannung V verhält sich dagegen additiv. Es gilt: V Vf Vd Darin sind Vf und Vd durch V f tet somit: dH dt
E H f und V d
a
(5.98)
f
K dH dt gegeben. Die Bewegungsgleichung lau-
V K E H K
(5.99)
Im „Kriechfall“ ist V konstant. Gleichung (5.99) vereinfacht sich dann zu: dH / dt E H / K V (0) / K . Die Lösung dieser Differentialgleichung lautet:
H t
V 0 E ª¬1 exp t W 0 º¼
mit
W0 K E
(5.100)
H(t) ist in Abbildung (5.32) graphisch dargestellt. Wir erkennen: Der Kriechvorgang wird richtig vorausgesagt. Die Dehnungsrate dH/dt nimmt mit der Zeit kontinuierlich ab. Im Grenzfall t o f konvergiert H gegen V (0)/E. Es findet aber keine Spannungs-Relaxation statt. Ist die Dehnung konstant (dH/dt = 0) so gilt: V E H (0) . V hängt also nicht von der Zeit ab. Das steht im Widerspruch mit den experimentellen Ergebnissen. (3) Der lineare Standardfestkörper Wir haben gesehen, dass das Maxwell-Modell die Spannungs-Relaxation und das Voigt-Modell den Kriechvorgang eines Polymers qualitativ richtig voraussagen. Es liegt deshalb nahe, beide Modelle
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
393
miteinander zu kombinieren. Dafür gibt es verschiedene Möglichkeiten. Ein Beispiel ist der lineare Standardfestkörper.
Abbildung 5.34: Modell des linearen Standardfestkörpers
Er besteht aus einem Maxwell-Element und einer Feder, die parallel geschaltet sind. Die Feder stellt sicher, dass der Kriechvorgang richtig erfasst wird. Das Maxwell-Element sorgt dafür, dass die Spannungs-Relaxation auftritt. Diese Kombination der Elemente ist also in erster Näherung ideal. In einem zweiten, dritten und vierten Schritt kann man das System um weitere Grundelemente ergänzen und dadurch das reale Verhalten des Polymeren beliebig gut simulieren. Diese phänomenologische Beschreibung ist aber wenig befriedigend. Sie liefert keinerlei Einblick in den Zusammenhang zwischen der Viskoelastizität und der inneren Molekularstruktur eines Polymeren. Es kommt hinzu, dass sich Polymere in der Regel nicht nach Newton verhalten. Die lineare Viskoelastizität (V ~ dH / dt ) bleibt daher eine Näherung, die nur für kleine Dehnungen ganz gut erfüllt ist. 5.3.7 Das Boltzmannsche Superpositionsprinzip Ein polymerer Festkörper besitzt eine Deformations-Geschichte. Diese gibt an, wie sich die Spannung V und die Dehnung H seit der Entstehung des Polymers verändert haben. Ein Beispiel zeigt Abbildung 5.35. Die Spannung V ist in bestimmten Zeitintervallen konstant und wird zu bestimmten Zeitpunkten Wi um den Betrag 'Vi erhöht oder erniedrigt. Das hat zur Folge, dass die Dehnung zum Zeitpunkt t > Wi einen Wert besitzt, der um das Inkrement 'Hi(t) höher bzw. niedriger liegt, als es der Fall wäre, wenn zum Zeitpunkt Wi < t keine Spannungsänderung stattgefunden hätte. 'Hi(t) ist also die Differenz zwischen der Dehnung Hi(t) zum Zeitpunkt t und der Dehnung Hi-1(t), die zum Zeitpunkt t vorliegen würde, wenn 'Vi = 0 wäre. Das Boltzmannsche Superpositionsprinzip besagt nun, dass die Gesamtdehnung H(t) eines viskoelastischen Materials gleich der Summe der Dehnungsinkremente zum Zeitpunkt W j 1 t W j ist, d.h., dass gilt:
H t 'H1 t 'H 2 t ... 'H j1 t
(5.101)
Die Dehnung selbst ist über die Beziehung
H t J t V
(5.102) mit der Spannung verknüpft. Die Größe J(t) heißt Kriech-Kompilanz. Sie ist eine Funktion der Zeit und kann in Versuchen mit konstanter Spannung experimentell bestimmt werden. Für das i-te Dehnungsinkrement gilt z.B.: 'H i t
'V i J t W i
394
5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie
Gleichung (5.101) lässt sich somit umschreiben zu: H t
j 1
¦ 'V i J t W i . i 0
Abbildung 5.35: Beispiel für die SpannungsDehnungsGeschichte eines viskoelastischen Materials
Wird die Spannung V stetig geändert, so kann die Summe durch ein Integral ersetzt werden. Es gilt dann:
H t
t
³ J t W dV
dW dW
(5.103)
f
Mit Hilfe dieser Gleichung können wir die Dehnung zum Zeitpunkt t berechnen. Sie ergibt sich aus der „Zeitgeschichte der Spannung“. Es ist natürlich auch umgekehrt möglich, die Spannung als Funktion der Zeit zu berechnen, wenn die „Zeitgeschichte der Dehnung“ bekannt ist. Es gilt dann:
V t
t
³ K t W dH
dW dW
(5.104)
f
Die Funktion K(t) heißt Spannungs-Relaxations-Kompilanz. Sie ist mit der Dehnung H über die Beziehung
V t K t H
(5.105) verknüpft. Werte für K(t) erhält man, indem man V (t) bei konstanter Dehnung H misst. Es sei aber ausdrücklich betont, dass in der Regel K (t ) z 1 / J (t ) gilt. 5.3.8 Mechanisch dynamische Prozesse Wir setzen jetzt unser Polymer einer sich periodisch (sinusartig) ändernden Spannung aus. Es gilt dann: V t V m sin Z t (5.106)
af
a f
wobei Vm der Maximalwert der Spannung und Z die Kreisfrequenz sind. Die Dehnung verändert sich mit der Zeit t ebenfalls sinusartig. Ist das Material elastisch, so gilt: H t H m sin Z t . (5.107)
af
a f
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
395
Spannung und Dehnung sind also zeitlich in Phase. Die Dehnung erreicht zum gleichen Zeitpunkt ihr Maximum oder Minimum wie die Spannung. Dies ist bei einem viskoelastischen Material anders. Die Dehnung hinkt um eine bestimmte Phase hinter der Spannung her. Sie verhält sich aber weiterhin sinusartig. Es gilt: V t V m sin Z t G und H t H m sin Z t (5.108)
af
a
f
af
a f
G ist der Phasenwinkel. G /Z gibt an, wie weit die Dehnung H hinter der Spannung V hinterherhinkt (siehe Abbildung 5.36).
Abbildung 5.36: V und H als Funktion von t für ein viskoelastisches Material bei dynamischer Beanspruchung.
Die Spannung V (t) lässt sich in zwei Komponenten zerlegen. Es gilt: V t V m sin Z t cos G cos Z t sin G
af
a f af a f af (5.109) Die Komponente V cos aG f sin aZ t f ist mit der Dehnung in Phase, und die Komponente V sin aG f cos aZ t f eilt der Dehnung um den Winkel S / 2 voraus. Nach dem Hookeschen Gesetz m
m
ist die Spannung mit der Dehnung über die Beziehung V E H verknüpft. Wir können deshalb zwei Elastizitätsmodule, ER und EI, einführen. Für diese gilt: ER { V m H m cos G und EI { V m H m sin G (5.110)
b
g
b
g
Der Phasenwinkel G berechnet sich damit zu G arctan( EI / ER ) . Es ist üblich, dieses Ergebnis in die Notation der komplexen Zahlen zu übertragen. Es gilt: V t V m exp i Z t G und H t H m exp i Z t (5.111)
af
a
f
af
a f
wobei i { 1 ist. Der Elastizitätsmodul E V / H ist jetzt eine komplexe Zahl. Es gilt: E V m H m exp i G V m H m cos G i sin G
b
g a f b
g af
af
(5.112) ER und EI sind somit die Real- und Imaginärteile von E . Der Vorteil dieser Notation liegt darin, dass Rechnungen mit Exponentialfunktionen sehr viel leichter durchzuführen sind als Rechnungen mit Sinus- und Kosinus-Funktionen. *
5.3.9 Das Torsionspendel Wir fragen uns jetzt, wie die mechanisch dynamischen Eigenschaften eines Polymers experimentell bestimmt werden. Als Beispiel betrachten wir das Torsionspendel (siehe Abbildung 5.37).
396
5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie
Abbildung 5.37: Schematische Darstellung eines Torsionspendels
Abbildung 5.38: Drillung eines Polymerzylinders ( R
r dr )
Das Torsionspendel besteht aus einem Polymerzylinder und einer Scheibe, die Scheibe selbst besteht aus einem nichtpolymeren Material. Sie ist drehbar. Der Zylinder ist an seinem oberen Ende fixiert und an seinem unteren Ende mit der Scheibe verbunden. Seine Drehachse stimmt mit der Drehachse der Scheibe überein. Das System kann in Schwingung versetzt werden, indem wir die Scheibe um den Winkel M aus ihrer Ruhelage heraus drehen und sie anschließend loslassen. Die Frequenz Z der Drehschwingung hängt von der Länge des Polymerzylinders, dem Durchmesser der Scheibe und der Art des benutzten Polymers ab. Wenn der Polymerzylinder „perfekt elastisch“ und das System vollkommen reibungslos ist, oszilliert das System unendlich lange. Das ist natürlich in der Praxis nicht der Fall. Ein Polymer ist viskoelastisch. Die Schwingungen sind gedämpft, d.h. die Amplitude wird mit der Zeit kleiner. Der Polymerzylinder wird bei diesem Vorgang periodisch gedrillt. Seine Volumenelemente sind bestimmten Schubkräften ausgesetzt. Man denke sich dazu den Zylinder durch koaxiale Zylinderschnitte und ebene Radialschnitte in Bündel von prismatischer Form aufgeteilt (siehe Abbildung 5.38). Bei einer Drehung der Scheibe um den Winkel M erfährt jedes der prismatischen Bündel eine Scherung um den Winkel D | r M / l . Für die Schubspannung W gilt (vergleiche Gleichung (5.79)):
W
G r M l
(5.113) G ist der Schermodul des Polymers, r der Radius des Schnittkreises, und l die Länge des Zylinders. Die Deformation (Drillung) des prismatischen Bündels erfordert eine bestimmte Kraft dF bzw. ein bestimmtes Drehmoment dD. Es gilt: dF
W Querschnitt W r dM dr
und
dD
2 S r 2 W dr
(5.114) Das Drehmoment D, das wir zur Drillung des gesamten Zylinders vom Radius R benötigen, berechnet sich zu: R
D
³2 S r 0
2
W dr
S 2 G R4
l M
(5.115)
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
397
Die Größe DR { ( S / 2) G ( R 4 / l ) heißt Richtgröße. Wir können zwei Fälle unterscheiden: (1) Das Material verhält sich perfekt elastisch. Die Bewegungsgleichung des Torsionspendels lautet dann: T M D 0 (5.116) wobei T das Trägheitsmoment der Scheibe ist. Mit Gleichung (5.115) folgt:
T M ª G S R 2
2 lº M 0 ¬ ¼ Die Lösung dieser Differentialgleichung ist:
af
Mt
a f
M m cos Z t
dG S R i a2 l T f
Z
mit
(5.117)
4
(5.118)
Darin ist Mm der Auslenkungswinkel der Scheibe zum Zeitpunkt t = 0. (2) Das Material des Zylinders verhält sich viskoelastisch. In diesem Fall führen wir in Analogie zu Gleichung (5.112) den komplexen Schermodul G* ein. Es gilt: G { G R i GI (5.119) Die Bewegungsgleichung des Systems ist jetzt: T M S R 4 2 l GR i GI M 0
(5.120)
Ihre Lösung lautet: M t M m exp Q t exp i Z t
(5.121)
ib
d
af
g
a f a f
Z ist die Kreisfrequenz und Q die Dämpfungskonstante. Wir erhalten GR und GI, indem wir Gleichung (5.121) in Gleichung (5.120) einsetzen und das Ergebnis in Real- und Imaginärteil zerlegen. Es folgt: GR und GI
a2 l T f dS R i dZ Q i a4 l T f dS R i aZ Q f 4
2
2
(5.122)
4
(5.123)
Somit ist: tan G
2 Z Q Z2 Q2
d
GI GR
i
(5.124)
GR, GI und G sind also Funktionen der Frequenz Z. Experimentell zugänglich ist das Verhältnis der Auslenkungswinkel M i / M i 1 zweier aufeinanderfolgender Schwingungszyklen (siehe Abbildung 5.39). Die Zeitdifferenz zwischen zwei Zyklen ist gleich 2 S /Z. Es gilt deshalb:
Mi Mi 1
exp ª¬ i Z Q t º¼
exp ¬ª i Z Q t 2 S Z ¼º
exp 2 S Q Z bzw. { ln M i M i 1
2 SQ Z
(5.125)
Die Größe / ist das logarithmische Dekrement des Torsionspendels. Gleichung (5.122) bis (5.124) lassen sich damit umformen zu:
d2 l T Z i dS R i 1 e/ d4 S ij G d2 l T Z i d S R i / tan D S ª1 4 S º ¼ ¬ GR
2
2
2
2
2
2
I
und
2
2
/ ist im Allgemeinen sehr viel kleiner als eins. In guter Näherung gilt deshalb:
(5.126) (5.127) (5.128)
398
5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie
GR | 2 l T Z 2
d
i dS R i 2
G
und
tan G | / S
(5.129)
T, l und R sind bekannt. Z und / werden gemessen. GR, GI und tanG lassen sich somit berechnen.
Abbildung 5.39: Der Auslenkwinkel M als Funktion der Zeit t
Elastische Materialien speichern bei einer Deformation (Scherung) Energie und geben diese wieder ab, wenn sie sich entspannen. Nach Gleichung (5.129) ist GR | G. Der Realteil GR des komplexen Moduls G* wird deshalb Speichermodul genannt. GI ist der Verlustmodul. Er ist ein Maß für die Energie, die der polymere Festkörper pro Schwingungszyklus aufgrund seiner viskosen Eigenschaften an die Umgebung abgibt (Stichwort: Dämpfung). In der Praxis werden die Experimente mit dem Torsionspendel bei verschiedenen Temperaturen durchgeführt. Das Trägheitsmoment T der Drehscheibe wählt man dabei so, dass die Eigenfrequenz Z des Systems für alle Temperaturen genau 1 Hz beträgt. Wir können tanG sowohl für kristalline wie auch für amorphe Polymere bestimmen. Bei den kristallinen Polymeren erhält man sehr viele tanG-Peaks, wenn man tanG gegen T aufträgt. Jeder dieser Peaks stellt einen Konformationsübergang oder eine innermolekulare Molekülbewegung dar. Die exakte Natur dieser Bewegungen lässt sich aber nur in wenigen Fällen anschaulich erklären. Ein Beispiel für eine Auftragung von tanG gegen T zeigt Abbildung 5.40. Es handelt sich um Polystyrol.
Abbildung 5.40: Die Temperaturabhängigkeit von tanG für Polystyrol bei Z = 1 Hz. (R.G.C. Arridge, 1975)
Der D-Peak stimmt mit der Glastemperatur Tg überein. Er liegt bei etwa 390 K und beschreibt die über große Bereiche wirkenden kooperativen Kettenbewegungen. Der E-Peak liegt bei 325 K. Er erfasst die Torsionsschwingungen der Phenylgruppen. Der G-Peak beschreibt die „Wagging-
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
399
Schwingungen“ der Phenylgruppen. Diese sind schon bei 38 K angeregt. Der J-Peak erfasst die Bewegungen der CH2-Gruppen. 5.3.10 Die Frequenzabhängigkeit der Elastizitätskonstanten ER, EI und tanG Es ist auch möglich, einer Polymerprobe Schwingungen (periodische Schwingungen) aufzuzwingen. Das verbreitetste Instrument für diese Art der dynamischen Beanspruchung ist das Rheovibron. Man gibt dabei eine periodische Zugspannung vor und misst den Elastizitätsmodul des Polymers als Funktion von Z und T (siehe z.B. A.E. Zachariades, R.S. Porter, 1987). Bei konstanter Temperatur verhalten sich der Speichermodul ER, der Verlustmodul EI und tan G E I / E R wie folgt: EI und tanG sind für sehr kleine und sehr große Frequenzen klein, bei einer bestimmten mittleren Frequenz durchlaufen sie ein Maximum. Es gilt außerdem: ER ist klein bei kleinen Frequenzen und groß bei großen Frequenzen. Diese experimentell beobachteten Frequenzabhängigkeiten von ER, EI und tanG lassen sich theoretisch bestätigen. Ein geeignetes Modell ist das Maxwell-Modell. Nach Kapitel 5.3.7 gilt: E W 0 dH dt W 0 dV dt V mit W 0 K E (5.130)
Die angelegte Spannung V möge sich sinusartig mit der Frequenz Z ändern. Nach Kapitel 5.3.9 gilt dann:
V t V 0 exp ª¬i Z t G º¼
bzw.
H t H 0 exp i Z t
(5.131)
Gleichung (5.131) setzen wir in Gleichung (5.130) ein. Das ergibt: i Z E W0
af af
V 0 exp ª¬i Z t G º¼ i Z W 0 1 H 0 exp i Z t
(5.132)
V t H t { E ER i EI i Z E W 0 i Z W 0 1 (5.133) bzw. E* ist der komplexe Elastizitätsmodul. Wir können ihn in Real- und Imaginärteil aufspalten. Es folgt: E Z 2 W 20 EZ W0 ER und (5.134) ; EI tan G 1 Z W 0 Z 2 W 20 1 Z 2 W 20 1
b
g
b
g
In Abbildung 5.41 sind die Parameter ER, EI und tanG graphisch dargestellt. E wurde gleich 1 kp/mm2 und W0 = 1 s gesetzt. Der Verlauf von ER und EI stimmt qualitativ mit der experimentell beobachteten Frequenzabhängigkeit überein. Das Maximum von EI liegt an der Stelle Z 1 / W 0 . Für tanG gilt das leider nicht. tanG wird mit wachsendem Z kleiner und besitzt kein Maximum. Um zu einer besseren Übereinstimmung zwischen Theorie und Experiment zu gelangen, muss man das Modell des „linearen Standardfestkörpers“ benutzen.
400
5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie
Abbildung 5.41: Die Module ER und EI und tanG als Funktion der Frequenz Z
Exkurs: Die Messung der Frequenzabhängigkeit der mechanischen Eigenschaften eines Polymers ist aufschlussreich, weil es möglich ist, den Maxima (Peaks) von EI und tanG bestimmte Typen von Molekularbewegungen im Polymer zuzuordnen. Die Peaks treten genau dort auf, wo die Erregerfrequenz mit der Eigenfrequenz der molekularen Bewegung übereinstimmt. Die Maxima des Frequenzspektrums heißen deshalb „Resonanz-Peaks“. Den Peak mit der größten Amplitude findet man für den Glas-Übergang. Die Erregerfrequenz stimmt dort mit der Eigenfrequenz ZR der Rotationsbewegung der Polymerketten überein. Ist Z größer als ZR, so besitzen die Polymerketten nicht genügend Zeit, um der äußeren Spannung zu folgen. Das Material erscheint steif. Ist Z kleiner als ZR , so haben die Polymerketten reichlich Zeit für Eigenbewegungen. Das Material erscheint weich und kautschukartig. Peaks mit deutlich kleinerer Amplitude findet man für die Rotationsbewegungen der Seitengruppen der Polymerketten. Man spricht von „sekundären Übergängen“. Die Frequenz, bei der der Glas- oder ein anderer Übergang stattfinden, hängt von der Temperatur ab. Die Resonanzfrequenz wird in der Regel größer, wenn die Temperatur ansteigt. Es ist deshalb möglich, einen Übergang zu induzieren, indem man die Frequenz konstant hält und die Temperatur variiert. Diese Vorgehensweise ist experimentell oft leichter durchzuführen als der umgekehrte Weg. 5.3.11 Die Temperaturabhängigkeit von E für Z =0 Der Elastizitätsmodul E kann natürlich auch für Z = 0 als Funktion der Temperatur T bestimmt werden. Da Polymere viskoelastisch sind, hängt E jedoch von der Zeit und der Messmethode ab. Die Messzeit kann man festlegen. Sie beträgt im allgemeinen 10 Sekunden. Bei der Messmethode handelt es sich entweder um Kriech- oder Relaxationsexperimente. Zur Unterscheidung wird der Elastizitätsmodul im ersten Fall mit einem K und im zweiten Fall mit einem R als Index versehen. ER(10) gibt z.B. an, dass die Messdauer 10 Sekunden betrug und E ein Relaxationsmodul ist. ER(10) und EK(10) weichen jedoch in der Regel nur geringfügig voneinander ab. Sie lassen sich zudem ineinander umrechnen. Der Kurvenverlauf von ER(10) als Funktion von T ist für alle Polymere ähnlich. Ein typisches Beispiel zeigt Abbildung 5.42. Es handelt sich um ataktisches Polystyrol. Probe A besitzt die Molmassen Mw = 2,1 105 g/mol und Mn = 1,4 105 g/mol. Für Probe B gilt: Mw = 3,25 105 g/mol und Mn = 2,17 105 g/mol. Die Uneinheitlichkeit U = Mw/Mn 1 ist also für beide Proben gleich groß (U = 0,5).
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
401
Abbildung 5.42: Der Relaxationsmodul ER(10) als Funktion der Temperatur T für Polystyrol Probe A: Mn = 1,40 105 g/mol Mw = 2,10 105 g/mol Probe B: Mn = 2,17 105 g/mol Mw = 3,25 105 g/mol (A.V. Tobolsky, 1980)
Wir betrachten zuerst die Polystyrolprobe B. Die Kurve des Relaxations-Elastizitätsmoduls ER(10) zeigt fünf verschiedene Regionen viskoelastischen Verhaltens. Das Polymer ist in Region I glasartig, hart und spröde. ER(10) hängt dort in erster Näherung nicht von der Temperatur ab. Region II ist die Übergangsregion. ER(10) fällt stark von 1010 auf 106,7 dyn/cm2 ab. Der Abfall von ER(10) setzt in der Nähe der Glastemperatur ein. Diese liegt für ataktisches Polystyrol bei ca. 100 °C. Das Polymer verhält sich dort lederartig. Region III stellt ein Plateau dar. Es heißt Kautschuk-Plateau und reicht von 106,7 bis 106,4 dyn/cm2. Das Polymer verhält sich in diesem Bereich kautschukartig. Es ist reversibel elastisch, wenn es für kurze Zeit (10 s) deformiert wird. Die Breite dieses Temperaturintervalls hängt von der Molmasse des Polymers ab. Für Probe B liegt T zwischen 120 und 150 °C. In Region IV sinkt ER(10) weiter ab. Das Polymer verhält sich jetzt wie eine zähe, gummiartige Flüssigkeit. Es ist aber noch elastisch. In Region V werden schließlich ER-Module erreicht, die kleiner als 105 dyn/cm2 sind. Die Relaxationszeit ist jetzt kleiner als die Messzeit von t = 10 s. Das Polymer erscheint als viskose Flüssigkeit ohne Elastizität. Der Elastizitätsmodul ER(10) hängt in den Regionen I und II nicht von der Molmasse des Polymers ab. Das lässt sich wie folgt erklären: Im Glaszustand (Region I) sind die Segmente der Polymerketten in bestimmten Positionen des Polymergitters „eingefroren“. Die Segmente führen Schwingungen um diese Positionen aus. Sie können aber nicht innerhalb von 10 Sekunden von einer Gitterzelle in eine andere diffundieren. ER(10) hängt deshalb nicht von M ab. Die Diffusionsbewegung setzt erst oberhalb der Glastemperatur Tg, d.h. in Region II ein. Die Zeit, die ein Segment im Mittel benötigt, um von einer Gitterzelle in eine benachbarte zu diffundieren, liegt dort in der Größenordnung von 10 Sekunden. Diese Zeitspanne ist aber so klein, dass die Schwerpunkte der Polymerketten in Ruhe verbleiben. ER(10) hängt deshalb auch in Region II nicht von der Molmasse ab. In der Kautschuk-Region sind die Diffusionsbewegungen der Polymersegmente sehr schnell. Die Bewegung der Polymerketten im Polymer ist aber behindert, weil die Ketten miteinander „verhakt“ bzw. physikalisch „vernetzt“ sind. Ein Maß für die Maschenweite der Vernetzung ist die Netzbogenmasse Me. Das ist die mittlere Molmasse einer Polymerkette, die zwei „Verhakungspunkte“ miteinander verbindet. Der Index e steht dabei für „entanglement“ (englisch: Verhakung). Me lässt sich berechnen. Es gilt: Me 3 U R T ER 10 Kautschuk-Plateau (5.135)
a
f a f
402
5.3 Mechanische Eigenschaften, Rheologie
wobei U die Dichte des Polymers ist. Verhakungen bilden sich allerdings nur dann, wenn die Molmasse größer als die kritische Masse Mk = 2 Me ist. Das Kautschuk-Plateau ist deshalb umso breiter, je größer M ist. Für M < Mk geht Region II direkt in Region V über. Das ist für Probe A der Fall. In Region IV sind die Verhakungen zeitlich instabil. Sie werden durch starke Wärmebewegungen der Polymerketten ständig gelöst und wieder neu gebildet. Die mittlere Lebensdauer einer Verhakung beträgt dort etwa 10 Sekunden. Die fünf diskutierten Regionen werden bei allen linearen amorphen Polymeren gefunden. Bei den chemisch vernetzten Polymeren ist das anders. Die Regionen IV und V fehlen, weil die Verhakungen (Vernetzungen) jetzt echte chemische Bindungen darstellen. Sie können durch eine Wärmebewegung nicht gelöst werden. Der Elastizitätsmodul ER(10) eines teilkristallinen Polymers ist im Temperaturintervall zwischen Tg und Tm deutlich größer als der Elastizitätsmodul des entsprechenden amorphen Polymers. Hier folgt nach dem Glasübergang ein hornartiger Zustand. Die kristallinen Zonen (Kristallite) sind noch nicht vollständig „aufgetaut“. Die Beweglichkeit der Segmente ist dadurch behindert. Erst bei der Schmelztemperatur Tm sind die Segmente frei beweglich. Die Art der Verstärkung von ER(10) zwischen Tg und Tm hängt vom Grad der Kristallinität und der Größe der Kristallite ab. Ist der Grad der Kristallinität klein, so wirken die Kristallite wie Füll-Partikel oder starke Vernetzungen. Die Modul-Verstärkung, die sich aus einer Auffüllung der Kautschuk-Matrix mit harten Kugeln ergibt, lässt sich berechnen. Es gilt: ER 10
ER,0 10 ª¬1 2,5 I 14,1 I 2 ... º¼
(5.136)
ER(10) ist der Modul des gefüllten Polymers, ER,0(10) der Modul des ungefüllten Polymers, und I der Volumenbruch des Füll-Materials. Bei Polymeren mit einem hohen Grad an Kristallinität (wk > 0,5) ist diese Beschreibung aber nicht mehr angebracht. Es ist dann besser, die kristalline Phase als Kontinuum aufzufassen, das von amorphen Defekten durchsetzt ist. 5.3.12 Das Zeit-Temperatur Superpositionsprinzip Der Scher- und der Elastizitätsmodul hängen sowohl von der Messzeit als auch von der Temperatur ab. Es ist deshalb denkbar, dass eine Änderung in der Messdauer den gleichen Effekt hat wie eine Änderung in der Messtemperatur. Wir betrachten dazu als Beispiel die Spannungs-Relaxation von Polyisobutylen. Abbildung 5.43 zeigt, dass sich Polyisobutylen kautschukartig verhält, wenn entweder die Temperatur hoch oder die Messdauer groß sind. ER(t) ist dann gleich EK, wobei der Index K für Kautschuk steht. Wenn T oder t dagegen klein sind, ist ER t | EG . Polyisobutylen verhält sich dann glasartig, wobei EG der Glasmodul ist. Die Kurven in Abbildung 5.43 gehen ineinander über, wenn man sie parallel zur log(t)-Achse verschiebt. Man legt dazu eine Bezugstemperatur TB fest und rechnet die ER-Module der zu verschiebenden Kurven in den reduzierten Modul ER t red TB T U TB U T E R t um. Dabei ist
af
af
g b g a f af
b
U die Dichte. Es werden dann die (ER(t)red)-Kurven gezeichnet. Diese sind um den Shiftfaktor
b g
log aT
af
b g
log t B log t
b g
log t B t
(5.137)
verschoben, wobei tB ein willkürlich ausgewählter Zeitpunkt auf der Bezugskurve (T = TB) und t der log ER tB red Zeitpunkt ist, für den log ER t red ist. Das Ergebnis all dieser Verschie-
T zT
B
T T
B
bungen ist die „Master-Kurve“. Sie ist für Polyisobutylen in Abbildung 5.44 dargestellt.
5 Das Makromolekül als Festkörper und als Schmelze
403
Abbildung 5.43: SpannungsRelaxationskurven für Polyisobutylen bei verschiedenen Temperaturen
Williams, Landel und Ferry haben als erste die beschriebene „Zeit-Temperatur Superposition“ der G- und E-Module genauer untersucht. Sie fanden 1955, dass für den Shiftfaktor gilt:
b g
log aT
b
k1 T TB
g
b
k 2 T TB
g
(5.138) Darin sind k1 und k2 zwei Konstanten. Gleichu