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Christine Hunner-Kreisel · Sabine Andresen (Hrsg.) Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten
Kinder, Kindheiten, Kindheitsforschung Band 1 Herausgegeben von Sabine Andresen Isabell Diehm Christine Hunner-Kreisel Klaus Peter Treumann
Die aktuellen Entwicklungen in der Kinder- und Kindheitsforschung sind ungeheuer vielfältig und innovativ. Hier schließt die Buchreihe an, um dem Wissenszuwachs sowie den teilweise kontroversen Ansichten und Diskussionen einen angemessenen Publikationsort zu geben. Ausgehend vom Zentrum für Kindheits- und Jugendforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld werden sowohl die aktuelle Kinderforschung mit ihrem stärkeren Akzent auf Perspektiven und Äußerungsformen der Kinder selbst als auch die neuere Kindheitsforschung und ihr Anliegen, historische, soziale und politische Bedingungen des Aufwachsens von Kindern zu beschreiben wie auch Theorien zu Kindheit zu analysieren und zu rekonstruieren, ein breit gefächertes Publikationsforum finden. Die beteiligten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler im Zentrum sind mit unterschiedlichen Schwerpunkten in der Kinder- und Kindheitsforschung verankert und tragen zur aktuellen Entwicklung bei. Insofern versteht sich die Reihe auch als ein neues wissenschaftlich anregendes Kommunikationsnetzwerk im nationalen, aber auch im internationalen Zusammenhang. Letzterer wird durch eine größere Forschungsinitiative über Kinder und ihre Vorstellungen vom guten Leben aufgebaut. Daran sind sowohl die Reihenherausgeberinnen und -herausgeber als auch die Vorstandsmitglieder des Zentrums maßgeblich beteiligt. Entlang der beiden Forschungsperspektiven – Kinder- und Kindheitsforschung – geht es den Herausgeberinnen und dem Herausgeber der Reihe ,Kinder, Kindheiten, Kindheitsforschung’ darum, aussagekräftigen und innovativen theoretischen, historischen wie empirischen Zugängen aus Sozial- und Erziehungswissenschaften zur Veröffentlichung zu verhelfen. Dabei sollen sich die herausgegebenen Arbeiten durch teildisziplinäre, interdisziplinäre, internationale oder international vergleichende Schwerpunktsetzungen auszeichnen.
Christine Hunner-Kreisel Sabine Andresen (Hrsg.)
Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten Aufwachsen und Bildung in deutscher und internationaler Perspektive
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
. . 1. Auflage 2010 Alle Rechte vorbehalten © VS Verlag für Sozialwissenschaften | GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden 2010 Lektorat: Stefanie Laux VS Verlag für Sozialwissenschaften ist Teil der Fachverlagsgruppe Springer Science+Business Media. www.vs-verlag.de Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Werk berechtigt auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen- und Markenschutz-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften. Umschlaggestaltung: KünkelLopka Medienentwicklung, Heidelberg Druck und buchbinderische Verarbeitung: Rosch-Buch, Scheßlitz Gedruckt auf säurefreiem und chlorfrei gebleichtem Papier Printed in Germany ISBN 978-3-531-16751-0
Inhalt Vorwort ............................................................................................................... 7 Einleitung Sabine Andresen und Christine Hunner-Kreisel Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten: Aufwachsen und Bildung in deutscher und internationaler Perspektive ................................. 11 I. Religion, Bildung und Politik: Kritische Perspektiven auf muslimische Lebenswelten Micha Brumlik Jugend, Religion und Islam – einige grundsätzliche Erwägungen .................... 29 Mona Abaza The Expanding and Controversial Role of Al-Azhar in Southeast Asia ........... 45 Isabell Diehm Religion ist im Spiel – oder virulent. Diskursive und interaktive Inszenierungen ethnischer Differenz ........................................................... 59 Arne Schäfer Zwischen »Kampf« und »Rendezvous« der Kulturen. Der Islam im sozialwissenschaftlichen Diskurs – Konsequenzen für die Kindheitsund Jugendforschung .................................................................................. 77 II. Die Herausforderungen der Moderne für muslimische Jugendliche Julia Gerlach Pop-Islam revisited: Wohin entwickelt sich die transnationale Jugendbewegung der »neuen Prediger« in Europa und in der Arabischen Welt? ...................................................................................... 109 Manja Stephan Erziehung, Moralität und Reife: Zur Popularität privater religiöser Kurse im städtischen Tadschikistan ..................................................................... 125 Hülya Tac Funktion von Zazaki und der kurmancî Sprache im Kontext der alevitischen Identität ................................................................................. 143
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Inhalt
Hans-Jürgen von Wensierski und Claudia Lübcke HipHop, Kopftuch und Familie – Jugendphase und Jugendkulturen junger Muslime in Deutschland ........................................................................... 157 Christine Hunner-Kreisel Respekt als generationales Muster? Aufwachsen im Kontext von Migration und familialen muslimischen Lebenswelten ............................ 177 III. Herausforderungen in pädagogischen Kontexten Hac-Halil Uslucan Erziehungsstile und Integrationsorientierungen türkischer Familien .............. 195 Linda A. Herrera A Song for Humanistic Education: Pedagogy and Politics in the Middle East ............................................................................................................ 211 Mouez Khalfaoui Islamunterricht im europäischen Kontext. Gibt es einen »Euro-Islam« in der Schule? ................................................................................................ 235 IV. Muslimische Kinder und Jugendliche in politischen und sozialen Konfliktfeldern Didem Gürses Children and Child Poverty in Turkey ............................................................ 257 Hilke Rebenstorf Palästinensische Jugendliche und politische Sozialisation – Bildung, Religion und Region in der Entwicklung demokratischer politischer Identität ..................................................................................................... 271 Chantal Munsch Straßenkindheit in Tadschikistan .................................................................... 289 Autorinnen und Autoren ................................................................................. 305
Vorwort Mit dem vorliegenden Band eröffnen wir die Buchreihe Kinder, Kindheiten, Kindheitsforschung. Konzipiert als eine neue Perspektive auf den Forschungsgegenstand Kinder und Kindheiten, will sie bereits bestehende, traditions- und erfolgreiche sozial- und kulturwissenschaftliche Publikationsforen um eine weitere Sichtweise bereichern. Sie will der Betrachtung und Analyse von Kindern und Kindheiten solche Dimensionen und Aspekte hinzufügen, die im Konzert der geläufigen und gut etablierten Diskussionsbeiträge bislang noch zu wenig repräsentiert sind. Institutionell verortet im interdisziplinären Zentrum für Kindheits- und Jugendforschung an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld, schließen wir mit der hier vertretenen Perspektive an die Tradition der Bielefelder Kindheits- und Jugendforschung an. Diese ist durch ihre stark sozialwissenschaftliche und empirische Ausrichtung gekennzeichnet, wobei dies für die Jugendforschung Bielefelder Provenienz bislang noch mehr zutrifft als für die Kindheitsforschung. Daran anzuknüpfen, bedeutet für uns heute, in verschiedenerlei Hinsicht mit Neuakzentuierungen zum Bestehenden aufzuwarten. So zum Beispiel durch ein hohes Maß an Interdisziplinarität, die an der Bielefelder Universität und ihren Forschungszentren keine Worthülse, sondern seit ihren Anfängen wissenschaftlich gelebte Realität ist – eine Realität, welche auch für die neue Buchreihe ein zentrales Orientierungsmoment darstellt. Diese wird mit einer deutlich erziehungswissenschaftlichen Akzentuierung international vergleichende Ansätze der Kindheitsforschung aufgreifen und der hiesigen Diskussion zugänglich machen. Darüber hinaus werden inhaltliche Verknüpfungen für die Buchreihe eine wichtige Rolle spielen, etwa der Konnex von Kindheits- mit Migrationsforschung und von Kindheits- mit Familienforschung; auch die Perspektiven Geschlechterforschung, Ungleichheitsforschung, Sozialisations-, Medien-, Capability- und Well-Beingforschung werden Berücksichtigung finden. Als ein erziehungswissenschaftliches Forum will die neue Reihe umfassende, empirisch gesättigte Kontextualisierungen von Kinderleben bieten. Auf diese
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Vorwort
Weise will sie Studierenden an den Hochschulen und pädagogisch wie wissenschaftlich Tätigen Einblicke in die Thematik geben. Kindheit ist denselben Wandlungsprozessen ausgesetzt wie die Gesellschaft insgesamt, allerdings bedürfen Kinder besonderer Aufmerksamkeit. Den Blick auf Kindheiten in ihrer jeweiligen Verfasstheit für Wissenschaft und Praxis zu öffnen und offen zu halten, ist Anliegen dieser Reihe.
Sabine Andresen Isabell Diehm Christine Hunner-Kreisel Klaus-Peter Treumann
Bielefeld, im November 2009
Einleitung
Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten: Aufwachsen und Bildung in deutscher und internationaler Perspektive Sabine Andresen und Christine Hunner-Kreisel Einleitung Im Oktober 2008 fand an der Universität Bielefeld eine internationale Tagung zu der Thematik »Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten: Aufwachsen und Bildung in deutscher und internationaler Perspektive« statt. Ziel war es, mit internationalen und deutschen Expertinnen und Experten darüber ins Gespräch zu kommen, welche Bedeutung muslimische Lebenskontexte für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen haben. Das inhaltliche Spektrum der Tagung war breit angelegt und umfasste historische und aktuelle Beiträge zu Bildung und Aufwachsen in muslimischen Lebenswelten, zu Herausforderungen von muslimischen Jugendlichen in der Moderne, zur Situation muslimischer Kinder und Jugendlicher in verschiedenen Ländern sowie zu Sozialisation und Bildung von Kindern und Jugendlichen im Kontext islamischer Bildung. Mit einer Fokussierung auf »muslimische« Lebens- und Alltagswelten stand insbesondere die Frage nach der Bedeutung von Religion zur Debatte. Dabei wurde geprüft, welche unterschiedlichen Bedeutungen und Funktionen Religion bzw. »Muslimisch-Sein« im Rahmen der Lebens- und Alltagswelten der Individuen oder der Gemeinschaften bzw. Gruppen haben kann. Der zweite zentrale Begriff war der der Bildung, der insbesondere in der deutschen Tradition einen vieldeutigen Charakter aufweist (Andresen 2009). In der aktuellen Diskussion über Migrations- und Integrationsprozesse wird Bildung vielfach als zentraler Indikator in den Blick genommen. Wir regen an, dies mit Blick auf die Thematik konstruktiv und kritisch zu diskutieren. Zu klären ist aus unserer Sicht nach wie vor, in welchem Sinne Bildung eine wesentliche Schlüsselkategorie für Prozesse des Aufwachsens in »muslimischen Le-
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benswelten« ist. In einzelnen Vorträgen wurde darüber hinaus explizit soziale Ungleichheit und ihre Relevanz für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen, etwa in der Türkei, fokussiert. Wir gehen davon aus, dass Kindheit und Jugend im hohen Maße soziale Konstruktionen darstellen und dass sie Gestaltungsprozessen unterliegen. Damit stellt sich aber die Frage, ob es gerechtfertigt ist, von Konstruktionen muslimischer Kindheit und Jugend zu sprechen. Was bedeutet es für Kinder und Jugendliche, in einem muslimisch geprägten Kontext aufzuwachsen und welche anderen Faktoren wie sozialer Hintergrund, Konflikte, Migrationserfahrungen u.a. wirken auf die Lebensphasen Kindheit und Jugend in welcher Form ein? Der Islam, verstanden als kulturelles System (Geertz 1988), ist in den Lebenswelten von Kindern und Jugendlichen durchaus präsent, aber in welcher Form er das ist, hängt auch davon ab, ob die jungen Menschen zur Mehrheit oder Minderheit einer Gesellschaft gehören. Aus dieser Präsenz resultieren Anteile im Hinblick auf die Weltanschauung, auf Norm- und Wertsysteme und mögliche Sinnstiftungsangebote. Die spezifische Form der Prägung ist aber grundsätzlich von historischen, politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Faktoren bestimmt. Insbesondere mit Blick auf Deutschland bzw. den europäischen Raum, aber auch bezogen auf die muslimischen Gesellschaften zum Beispiel des Nahen Ostens, lässt sich sagen, dass viele Kinder und Jugendliche einerseits in einer muslimisch geprägten Familie aufwachsen und sich zugleich in einer westlich geprägten Gesellschaft bewegen (Warnock Fernea 1995: 13; El-Harras 2007: 143; Gerlach 2006). Die daraus resultierenden Dynamiken sind sowohl von wissenschaftlicher als auch von gesellschaftspolitischer Seite zu analysieren und zu diskutieren. Aktuelle Studien in Deutschland geben beispielsweise Aufschluss darüber, wie die muslimische Tradition sowie kulturelle Elemente aus dem Herkunftsmilieu von Jugendlichen mit einem muslimischen Migrationshintergrund strukturierend auf ihre jeweilige Lebenswelt und -sicht wirken. Zwar weist jugendliche Freizeitorientierung, Kommerzialisierung und Peer-Orientierung starke Parallelen zur »typischen« westlich-europäischen Jugend auf, in den Bereichen von Sexualität, Partnerschaft und Familie bestehen jedoch durchaus Unterschiede. Hier orientieren sich die muslimisch geprägten Jugendlichen häufiger an traditionellen Normen und Werten der Herkunftsfamilie (von Wensierski 2007; Boos-Nünning/Karakaolu 2005). Nicht zuletzt die vorliegenden empirischen Befunde verweisen auf zahlreiche Unterschiede: Wichtig erscheinen uns deshalb differenzierte Debatten und die strikte Vermeidung von Homogenisierungsdiskursen und homogenisierenden Zuschreibungen. Muslime, ob im Nahen Osten, in Europa oder aber in Deutsch-
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land haben unterschiedliche strukturelle, nationale, gesellschaftliche oder historische Hintergründe. Zwar spielt die Idee der Einheit der Muslime und die Gleichheit der Gläubigen eine wichtige Rolle, aber in vielen islamisch geprägten Ländern wie Indien, Indonesien, dem Irak oder auch Nigeria gibt es eine historisch ausgeprägte religiöse Vielfalt. Der Zugang zur Religion, die Bedeutung von Religion für die Identitätsbildung und die Ermöglichung von Bildungsprozessen sind für Kinder und Jugendliche höchst unterschiedlich, was einzelne Beiträge in diesem Band deutlich zeigen. Ebenso scheint es uns geboten, darauf hinzuweisen, dass sich ein Minderheitenstatus ebenfalls in das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen einschreibt. Hier stellt sich auch die Frage, die gerade für die Diskussionen in Deutschland etwa über islamischen Religionsunterricht zentral ist, nach den Repräsentationsmöglichkeiten muslimischer Minderheiten. Viele Aushandlungen in Deutschland sind auch deshalb schwierig, weil die Organisationsformen der Muslime nicht mit den etablierten Strukturen etwa der Kirchen vergleichbar sind (Religionsmonitor 2008). Die Bedeutung und Wirkung von Religion und Bildung im Prozess des Aufwachsens, die Gestaltung von Kindheit und Jugend sowie die Entscheidungsund Handlungsspielräume von Kindern und Jugendlichen mit einer muslimischen Herkunft haben uns bewogen, der Komplexität der Thematik nicht auszuwiechen, sondern im Gegenteil sie offensiv anzunehmen. Das heißt, dass wir uns um möglichst unterschiedliche wissenschaftliche Perspektiven bemüht haben und empirische Befunde aus Deutschland mit Ergebnissen und Diskussionen aus islamisch geprägten Ländern wie Ägypten ins Verhältnis setzen. Diese Verschränkung der Blicke aus verschiedenen Disziplinen und Ländern betrachten wir als ersten Versuch. Wir hoffen, dadurch Impulse geben und diesen Ansatz weiter ausbauen und kritisch diskutieren zu können. Davon ausgehend gliedert sich der vorliegende Band in vier inhaltliche Bereiche. Im Vorfeld von Tagung und Publikation hat sich eine Bielefelder Arbeitsgruppe intensiv mit der internationalen und interdisziplinären Forschung befasst und die Themenschwerpunkte schließlich fokussiert.1 Dem ersten Teil »Religion, Bildung und Politik: Kritische Perspektiven auf muslimische Lebenswelten« liegen die eingangs angeschnittenen Überlegungen zugrunde. Konzeptionell ging es uns außerdem um das Verhältnis von Religion und Bildung, von Rechten und Pflich-
1 Zu der Arbeitsgruppe gehörten neben den beiden Herausgeberinnen Susann Fegter, Tim Köhler, Constanze Lerch, Vera Müncher, Martina Richter und Arne Schäfer.
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ten bezogen auf religiöse Erziehung, um den Zusammenhang von Religion und Politik, um religiös fundierte Differenzierungen, aber auch um die Bedeutung und den Wandel von Bildungsinstitutionen. In den Blick genommen werden in diesem Band schließlich Befunde zum Zusammenhang von Religion und Bildung, von Religion und Entwicklung im Kindes- und Jugendalter sowie wissenschaftliche Diskurse über Islam und Jugend. Thematisiert werden aber auch populäre öffentliche Diskurse über den Islam und die Position von Frauen sowie der Einfluss religiös geprägter und einflussreicher Bildungsinstitutionen sowie die Bedeutung von Religion und Ethnizität in Aushandlungsprozessen zwischen Kindern in vorschulischen Einrichtungen. Dem zweiten Teil »Die Herausforderungen der Moderne für muslimische Jugendliche« liegt eine Problematisierung von Modernisierungsannahmen zugrunde. Ausgehend von den Auseinandersetzungen um den Status der Moderne, um die Rolle der europäischen Geschichtsschreibung und Identitätsbildung (Asad 2003) sowie um das Phänomen der Säkularisation ging es um das Problem einer eurozentrischen Sicht auf die Moderne. Damit sind grundsätzlich auch Fragen von Identität und Identitätskonflikten angesprochen. Doch was ist die Moderne, wie vielfältig und wie aushandlungsfähig ist sie (Eisenstadt 2000)? Wie überzeugend ist eine Gegenüberstellung von modernen und traditionellen Gesellschaften? Der Religionssoziologe Heinrich Schäfer formuliert mit Blick auf Fundamentalismen und den Umgang damit ein Konzept vielfältiger Modernen und macht eine machttheoretische Sichtweise stark: »Das Konzept vielfältiger Modernen in machtförmigen globalen Spannungsverhältnissen führt heraus aus der Gegenüberstellung von westlicher Modernität und nichtwestlichem Traditionalismus. Moderne in Europa wird dann als etwas anderes begreifbar als Moderne in den USA, in Lateinamerika oder im Nahen Osten« (Schäfer 2008: 30f.). Gerade neuere erziehungs- und bildungstheoretische Zugänge operieren mit dem Begriff der Moderne, und Institutionen wie Kindertagesstätten oder Schulen sehen sich mit als unterschiedlich wahrgenommenen Werten und Konfliktfeldern konfrontiert. Teil drei unseres Bandes befasst sich daran anknüpfend mit »Herausforderungen in pädagogischen Kontexten«, weil Kinder und Jugendliche in heterogenen Milieus erzogen, gebildet und sozialisiert werden und die Lebensphasen Kindheit und Jugend in hohem Maße durch die Institutionen wie Familie, Schule oder Universität geprägt sind. Fragen, die uns hier konzeptionell beschäftigt haben, bezogen sich auf die Heterogenität von Bildungsangeboten, auf Werteund Moralerziehung und generelle Erziehungskonzepte.
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Einen aus unserer Sicht wichtigen Zusammenhang nehmen die Beiträge in Teil vier in den Blick, in denen es um »muslimische Kinder und Jugendliche in politischen und sozialen Konfliktfeldern« geht. Was macht das Aufwachsen von muslimischen Kindern und Jugendlichen in Teilen der Gesellschaft und in verschiedenen Regionen der Welt prekär und gefährlich? Wie reagieren die Verantwortlichen in Erziehungs- und Bildungseinrichtungen, welche politischen Entscheidungen werden getroffen und wie beeinflussen sie das Aufwachsen? In diesem Abschnitt wie in den vorausgehenden können nur exemplarisch Kinder und Jugendliche, Kindheiten und Jugenden bearbeitet und analysiert werden. Keiner der vier inhaltlichen Schwerpunkte erhebt den Anspruch, alle Probleme, Phänomene und Analysen in Gänze zu bearbeiten. Gleichwohl zeigen die einzelnen Beiträge wichtige Linien, die für die Kindheitsforschung eine Herausforderung darstellen und zu weiteren theoretischen Reflexionen und empirischen Untersuchungen auffordern. Uns geht es mit diesem Band um den Versuch, neue Analyseperspektiven für das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen in muslimischen Lebenswelten zu finden und zu erproben, um allzu manifeste Diskurse aufbrechen zu können. Im ersten Themenkomplex »Religion, Bildung und Politik: Kritische Perspektiven auf muslimische Lebenswelten« sind die Beiträge von Micha Brumlik, Mona Abaza, Isabell Diehm und Arne Schäfer versammelt. Micha Brumliks Beitrag »Jugend, Religion und Islam – einige grundsätzliche Überlegungen« befasst sich systematisch mit dem Bedürfnis nach sinnhafter Einbettung existenzieller Erfahrungen, das sich auch als Religiosität bezeichnen lässt. Der Autor geht dabei von einem Unbehagen der westlichen Gesellschaften an der eigenen Religion, aber auch an der Auseinandersetzung insbesondere mit dem Islam aus. Ihn interessiert, ausgehend von der pädagogischen Anthropologie, eine doppelte Historizität: In der Frage nach Religion und Jugend habe man es grundsätzlich, so Brumlik, mit der Geschichtlichkeit der Kategorien zu tun und mit der Geschichtlichkeit des untersuchten Gegenstandes. Brumlik geht der zentralen Frage nach, was für moderne Gesellschaften eine »gute Religion« sein könne, und differenziert dafür zwischen einer moralischen, einer religionswissenschaftlichen und einer theologischen Perspektive. Davon ausgehend entfaltet er wichtige historische und theoretische Zugänge. Ein Fazit Brumliks bezieht sich auf die Notwendigkeit, einen diskursiven Begriff theologischer Wahrheit zu entwickeln, wozu er sich insbesondere auf den US-amerikanischen Pragmatismus bezieht. Schließlich werden die entwicklungspsychologischen Befunde zur Bedeutung von Religion in der Kindheits- und Jugendphase dargelegt und kri-
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tisch diskutiert. Hier liegen für weitere Fragestellungen systematische Anknüpfungspunkte, wobei Brumlik selbst sich abschließend mit den gesellschaftlichen und religionspädagogischen Konsequenzen befasst. Mona Abaza, die in an der American University in Kairo Soziologie lehrt, befasst sich in ihrem Beitrag »The Expanding and Controversial Role of AlAzhar in Southeast Asia« mit dem international zu verstehenden Wandel einer für die islamische Welt wichtigen Bildungsinstitution, der Al-Azhar Universität in Kairo. Ihr Beitrag zeigt, dass das Ringen um internationale Verortungen und Diskussionen in diesem Forschungsfeld unverzichtbar ist. Abaza wählt einen interessanten Einstieg in ihre Thematik, indem sie die Geschichte des 2008 angelaufenen Kinofilms aus Indonesien »Ayat Ayat Cinta« erzählt und daran die Bedeutung weltweiter Migration auch aus religiösen Gründen und hier der Suche nach dem »wahren Islam« aufzeigt. Sie zeichnet so auch die virulente alltägliche Heterogenität von Lebenswelten auf, eine Heterogenität, die Kindern und Jugendlichen oder erwachsenen Akteuren zu höchst unterschiedlichen Erfahrungen verhilft. Davon ausgehend rekonstruiert die Autorin angesichts des Interesses an einer Ausbildung an der Al-Azhar Universität Migrationsmotive. Abaza zielt mit ihrem Beitrag auf eine kritische Diskussion der Rolle dieser Universität in Südostasien sowie ihr Agieren in religiösen, politischen und intellektuellen Konflikten. Außerdem zeigt sie konsequent auf, wie und wohin sich die Bildungspolitik in Ägypten bewegt und welche Herausforderungen sich durch Privatisierungs- und Kommerzialisierungsprozesse stellen. Wer schließlich welche Bildungsangebote z.B. in Religionsstudiengängen nutzt, hängt eng mit dem sozialen Hintergrund und dem Motiv des sozialen Aufstiegs zusammen. Abaza zeigt schließlich auf, vor welchem Hintergrund eine Spaltung in religiöse und säkulare Ausbildung zu sehen ist und wie dieser Prozess eingeordnet werden kann. Isabell Diehm knüpft in ihrem Beitrag »Religion ist im Spiel – oder virulent. Diskursive und interaktive Inszenierungen ethnischer Differenz« zunächst an öffentlich wirksame Diskurse und zu problematisierende Zuschreibungen an. Insbesondere die sich in Deutschland abzeichnende »Muslimisierung« von Migrantinnen und Migranten und die damit einhergehende Reduktion bilden den Ausgangspunkt ihrer Analyse. Diehm kritisiert, dass in diesen dominanten Diskursen Religionszugehörigkeit und Kultur eng ineinander fallen bzw. die frühere Engführung durch den Kulturbegriff nun durch eine Engführung mit Blick auf Religionszugehörigkeit erzielt werde. »Hat in den europäischen Einwanderungsgesellschaften vor allem das Merkmal Kulturdifferenz – zumeist in einer Verkürzung als National-Kultur – die bislang dominante Rolle gespielt, wenn es um die Beschreibung der jeweiligen gesellschaftlichen Mehr- und
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Minderheitsverhältnisse ging, so hat die Kategorie Religionszugehörigkeit zum Islam spätestens seit dem September 2001 an sozialer Relevanz gewonnen« (Diehm i. d. B.). In diesem Beitrag geht es demnach grundlegend um die Dominanz stereotyper Deutungen und deren Wirkungen auf Geschlechterdiskurse einerseits und pädagogische Kontexte andererseits. Die Vorstellung von Fremdheit nämlich, so Diehm, kulminiere im Geschlechterverhältnis, und hier setzt sie konsequent mit ihrer Analyse von so genannten »Konstruktionspraxen« an. Sie befasst sich insbesondere mit den Publikationen von Autorinnen mit Migrationshintergrund und deren Beitrag zur »Muslimisierung« türkischer Einwanderinnen. Hier problematisiert sie insbesondere den in dieser Literatur auftretenden Paternalismus sowie die Beanspruchung von Repräsentanz. Im letzten Abschnitt ihres Beitrags diskutiert sie anhand ihrer ethnografischen Forschung die Erfahrungen von Differenz von Kindern in einer Kindertagesstätte. Der Bielefelder Jugendforscher Arne Schäfer greift in seinem Beitrag »Zwischen Kampf und Rendezvous der Kulturen. Der Islam im sozialwissenschaftlichen Diskurs – Konsequenzen für die Kindheits- und Jugendforschung« die inzwischen berühmte Metapher Huntingtons vom »Kampf der Kulturen« auf. Schäfer nimmt eine aus unserer Sicht innovative Wendung vor, indem er nach der Relevanz dieser Metapher für die sozialwissenschaftliche Kindheits- und Jugendforschung fragt. Diese Fragestellung ist vor allem angesichts des bei Huntington zugrundeliegenden bevölkerungspolitischen Gedankengangs aufschlussreich. Für seine Argumentation ist nämlich wichtig, dass statistisch der Anteil der Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung in den islamischen Ländern sehr hoch ist und vielfach Jugendliche und junge Männer an gewalttätigen Konflikten beteiligt sind. In einem ersten Schritt legt Schäfer die Grundannahmen Huntingtons dar und analysiert sie als wichtigen Ausgangspunkt sozialwissenschaftlicher Debatten über die Rolle des Islams im 21. Jahrhundert. Insbesondere der These von einer neuen »Renaissance der Religion« widmet Schäfer sich in kritisch reflektierter Manier. Schließlich rekonstruiert er die Rezeption Huntingtons bei Gunnar Heinsohn, Olivier Roy, Amartya Sen sowie bei Youssef Courbage und Emanuelle Todd und bietet so einen guten Einblick in einen für diesen Zusammenhang zentralen Diskurs. Abschließend setzt er sich aus der Perspektive der Kindheits- und Jugendforschung kritisch mit der Reichweite der Deutungen auseinander und bietet so den Übergang zu den folgenden Abschnitten. Der zweiten Themenstellung des Bandes »Die Herausforderungen der Moderne für muslimische Jugendliche« sind die Beiträge der Journalistin Julia Gerlach sowie von Manja Stephan, Hans-Jürgen von Wensierski und Claudia Lübcke, Hülya Tac sowie von Christine Hunner-Kreisel zugeordnet. Julia Gerlach,
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deren Studie »Zwischen Pop und Dschihad. Muslimische Jugendliche in Deutschland« (2006) sehr viel Aufmerksamkeit erregt hat, führt ihre Untersuchungen in ihrem Artikel »Pop-Islam revisited. Wohin entwickelt sich die transnationale Jugendbewegung der neuen Prediger in Europa und in der Arabischen Welt?« systematisch weiter. Den Ausgangspunkt dazu bilden Diskussionserfahrungen am Goethe-Institut in Kairo, die sie im Zuge einer Einladung im Frühjahr 2009 machen konnte. In diesem Rahmen diskutierte sie mit einer ihrer früheren Interviewpartnerinnen, Tasniem Ibrahim, sowie mit dem ägyptischen Politiker und Religionswissenschaftler Scheich Salim Abdel Gelil über die Macht der »neuen Prediger«. Gerlach interessiert u.a., wie die etablierten Institutionen, insbesondere die bereits von Mona Abaza ins Zentrum gerückte AlAzhar Universität, auf die neuen und intensiven Formen jugendlicher Religiosität in Ägypten reagieren. Gerade mit Blick auf die Jugendforschung stellt sich auf unterschiedlichen Ebenen die Frage nach Verbindungslinien und Grenzen zwischen etablierten Formen des Religiösen und dem, was Gerlach als Pop-Islam bezeichnet. In diesem Beitrag wird systematisch den Wurzeln einer transnationalen Jugendbewegung nachgegangen und sie werden in den Kontext anderer Bewegungen gestellt. Nicht zuletzt der Aufruf zu individuellem Engagement und die Bereitschaft zu Leistung und ökonomischem Erfolg bieten neue Lesarten dieser Verschränkung von Religion und Jugend, die Gerlach entfaltet. Des Weiteren zeichnet sie die Entwicklung des Pop-Islam in Deutschland nach und gewährt für Forschung und pädagogische Handlungsfelder wichtige Beobachtungen und Befunde, weil sie zeigen kann, dass Jugendliche mit der Frage beschäftigt sind, wie sich der Islam in Deutschland leben lässt. Sowohl auf Deutschland bezogen als auch international vermag sie sehr genau jüngere Entwicklungen aufzuzeigen. So geht beispielsweise in Deutschland das Engagement für die Gesellschaft zurück und im Arabischen Raum lösen Debatten über religiöse Vorschriften die eher politischen Diskussionen ab. In ihrem Beitrag »Erziehung, Moralität und Reife. Zur Popularität privater religiöser Kurse im städtischen Tadschikistan« befasst sich Manja Stephan fallorientiert mit urbanen Entwicklungen in einem ehemals sowjetischen Staat. Erziehung, so Stephans Ausgangspunkt, ist ein zentrales Thema der gegenwärtigen öffentlichen Diskussion in Tadschikistan. Im Brennpunkt dieser Debatten steht die muslimische Jugend, die eine große gesellschaftliche Gruppe bildet und als treibende Kraft der tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Veränderungen gesehen wird. Insbesondere der Zugang zu neuen Kommunikationstechnologien, die Arbeits- und Bildungsmigration ins westliche und islamische Ausland sowie neue Erwerbsmöglichkeiten in neuen Technologien bringen vor
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allem junge Menschen im Land in Berührung mit transnationalen Werten, Denkmodellen, Lebensstilen und Konsumgütern. Damit geraten sie durchaus in Konflikte mit den Werten, kulturellen Traditionen und Identitätsentwürfen ihrer Eltern. An diese Gemengelage knüpft Stephans Analyse systematisch und empirisch fundiert an. Auch sie reflektiert insbesondere den Zusammenhang von Religion, Erziehung und Moral sowie den Einfluss auf die jugendliche Entwicklung. Allerdings zeigt sie auch auf, wie stark die muslimische Jugend in Tadschikistan von der schlechten wirtschaftlichen Situation im Land betroffen ist. Arbeitslosigkeit, mangelnde berufliche Perspektiven und fehlende Bildungschancen fördern die Demoralisierung und Anfälligkeit Jugendlicher für Kriminalität, Gewalt und Drogenkonsum, und dies vor allem in städtischen Ballungszentren. Für die Jugendforschung ist der Begriff der Identität grundlegend und für eine in unserem Forschungskontext neue Auseinandersetzung steht der Beitrag von Hülya Tac »Funktion von Zazaki und der kurmancî Sprache im Kontext der alevitischen Identität«. Im Zentrum ihres Beitrags steht demnach der Zusammenhang von Sprache und Identität als grundlegend für kindliche und jugendliche Entwicklungsprozesse bei Alevitinnen und Aleviten. Zunächst macht Tac deutlich, dass man nicht von einer einheitlichen Definition des Alevitentums und damit von der einen einzigen, vielleicht sprachlich und religiös formierten Identität ausgehen könne. »Sprache kann als ein wichtiges Merkmal der Ethnizität zugrundeliegender Identität betrachtet werden. Sprache stellt als solche einen tragenden Pfeiler der jeweiligen Ideologie dar. Jedoch müssen die sozialen, kulturellen, religiösen, ethnischen und politischen Kriterien einbezogen werden, um überhaupt dem Phänomen der sprachlichen Identität in seiner Komplexität annähernd gerecht werden zu können« (Tac, i. d. B.). Davon ausgehend entfaltet Tac die Funktion von Sprache in alevitischen Familien, ihre Funktion für ethnische Gruppen sowie die Relevanz von Sprache auf der politischen Ebene. Für die Kindheits- und Jugendforschung sensibilisiert dieser Beitrag noch einmal für das Phänomen, wie stark der sprachliche Möglichkeitsraum auch den Zugang zu biografisch relevanten Familiengeschichten offenbart und somit generationale Linien gewährleistet. Darüber hinaus zeigt die Autorin auch die emotionalen Bindungen auf und macht aus dieser Perspektive die spezifische Problematik deutlich, die in der Politisierung von Sprache und einhergehenden Diskriminierungen liegt. Wie die Sprache einer Minderheit sich entfalten kann, was mit ihr in Mehrheitsgesellschaften verbunden wird und wie davon ausgehend Mehrsprachigkeit geschätzt und gehandhabt wird, welche Grenzen sich abzeichnen, gehört sicherlich zu denjenigen Aspekten, die für Bildungsprozesse in Einwanderungsgesellschaften maßgeblich sind.
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Eine dezidiert modernisierungs- und jugendtheoretische Perspektive nehmen Hans-Jürgen von Wensierski und Claudia Lübcke in ihrem Artikel »HipHop, Kopftuch und Familie – Jugendphase und Jugendkulturen junger Muslime in Deutschland« ein. Dabei kritisieren sie den bislang verengten analytischen Blick der etablierten Jugendforschung auf junge Muslime, der sich in der Analyse des Migrationsstatus oder der Religiosität erschöpfe. In ihrer eigenen Forschung geht es stattdessen um die Frage, »inwieweit die sozialstrukturellen Lebenslagen, aber auch die kulturellen Spezifika und die Traditionen der muslimischen Herkunftsmilieus der Jugendphase junger Muslime und die Prozessverläufe ihrer Jugendbiografien strukturieren« (von Wensierski/Lübcke i. d. B.). Dabei gehen sie durchaus mit Rekurs auf Clifford Geertz davon aus, dass insbesondere der religiös-kulturelle Einfluss von besonderer Bedeutung sei, man also – etwas plakativ formuliert – zugunsten von Struktur die Kultur nicht übergehen dürfe. Für die empirische Studie ebenso wie für die jugendtheoretische Reflexion identifizieren sie davon ausgehend Spezifika der muslimischen Jugendphase, zu denen sie insbesondere die Kontinuität traditioneller Familienstrukturen und die Bindungskraft religiöser Normen zählen. Diese hätten insgesamt Auswirkungen auf drei – für die Formierung der Jugendphase wichtige – Bereiche, nämlich auf die Sexualentwicklung, auf geschlechtliche Beziehungs- und Lebensformen sowie auf familiäre Verselbstständigungsprozesse. Im Rahmen ihrer biografischen Studie differenzieren sie schließlich fünf Typen, gehen aber in ihrem Beitrag insbesondere auf die Idee individualisierter Jugendbiografien ein sowie auf Befunde zu jugendkulturellen Ausprägungen. Interessant und sicherlich zu diskutieren ist ihre These einer islamisch-selektiv modernisierten Jugendphase, in der sich das Beharrungsvermögen kultureller soziomoralischer Milieus zeige. Dieser Themenbereich schließt mit dem Beitrag von Christine HunnerKreisel über »Respekt als generationales Muster? Aufwachsen im Kontext von Migration und familialen muslimischen Lebenswelten«. Hunner-Kreisels Ausgangspunkt ist die Familienforschung und hier insbesondere die Untersuchung biografischer Erinnerung von jungen Erwachsenen mit Migrationshintergrund an ihr familiär geprägtes Aufwachsen. Auf der Basis biografisch-narrativen Interviewmaterials kommt sie zu der These des besonderen Gewichts der Auseinandersetzung mit der älteren Generation, insbesondere mit den Erfahrungen der Großeltern. Insofern stellt sie die Frage, wie angesichts unterschiedlicher Migrationserfahrungen die Familie ihre Geschichte er- bzw. behält und welchen Beitrag die junge Erwachsenengeneration dazu leistet. Hunner-Kreisel nimmt eine theoretische Rahmung ihres im Beitrag exemplarisch ausgeführten Fallbeispiels über die Frage nach Beziehungsqualität und nach Respekt vor. Respekt
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spielt dabei im Hinblick auf generationale Beziehungsmuster eine wesentliche Rolle, wovon das Fallbeispiel zeugt. Dieser Artikel, der die biografische Verankerung von Studierenden der Erziehungswissenschaft analysiert, leitet über zum dritten Themenbereich. Unter der Überschrift »Herausforderungen in pädagogischen Kontexten« sind die Beiträge von Hac-Halil Uslucan, Linda Herrera und Mouez Khalfaoui integriert. Sie behandeln im Wesentlichen drei höchst unterschiedliche pädagogische Kontexte unter nur schwer vergleichbaren gesellschaftlichen Rahmenbedingungen. Dennoch verweisen die Beiträge auf international relevante pädagogische Herausforderungen. Hac-Halil Uslucan bearbeitet in seinem Artikel »Erziehungsstile und Integrationsorientierungen türkischer Familien« die kulturelle Prägung von Erziehungsstilen und die Annahme, bestimmte Erziehungsstile seien gewissermaßen universal gültig. So macht er eingangs deutlich, dass der auch in der Forschung favorisierte autoritative Erziehungsstil, geprägt von hoher elterlicher Kontrolle und großer Bereitschaft, sich an den Bedürfnissen und Interessen des Kindes zu orientieren, keineswegs für alle Kinder geeignet sein muss. Uslucans empirisch fundierte Ausgangsthese besagt, dass Jugendliche mit Migrationshintergrund andere Entwicklungsaufgaben zu bewältigen haben als einheimische Jugendliche, und er verdeutlicht die Belastungen von Marginalisierungserfahrungen und Separation. Weiterhin problematisiert er aus entwicklungs- und familienpsychologischer Sicht riskante Bedingungen des Aufwachsens wie den Mangel an finanziellen Ressourcen oder einen großen Geschwisterverband. Im Mittelpunkt des Beitrags stehen Uslucans empirische Studien, insbesondere eine Studie, die in vier Berliner Stadtteilen durchgeführt wurde und die Dimensionen erzieherischen Handelns untersucht. Diese Dimensionen sind die aggressive Strenge der Eltern, die Unterstützung von Eltern, ihre Forderung nach Verhaltensdisziplin sowie die Problematik der Inkonsistenz elterlichen (Erziehungs-)Handelns. Uslucans Befunde und ihre Interpretation sind sehr aufschlussreich für die Frage nach pädagogischen Herausforderungen von Familien in Einwanderungsgesellschaften, und er sensibilisiert für die Heterogenität von Erziehungsstilen und Familienleben innerhalb von Migrantengruppen. In »A Song for Humanistic Education: Pedagogy and Politics in the Middle East« nimmt Linda Herrera eine äußerst aufschlussreiche Rahmung humanistischer Erziehung vor, indem sie die »Geschichte« eines Musikers und Musiklehrers in Kairo erzählt. Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen bilden dabei die Distanz gegenüber humanistischen Erziehungsidealen im Mittleren Osten sowie die auch dort wie in anderen Regionen der Welt favorisierte Vorstellung, Erzie-
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hung müsse zum Humankapital beitragen und aus der Marktlogik von Effektivität, Leistung und Profit beurteilt werden. Demgegenüber macht sie im Rückgriff auf die Sozialphilosophin Martha Nussbaum und den Befreiungspädagogen Paulo Freire die Idee einer kosmopolitischen, auf Freiheit und umfassender menschlicher Bildung basierenden Erziehung stark. Dies voraussetzend beschreibt sie ein Forschungsvorhaben zur Rolle des Lehrers in Ägypten und befasst sich mit der biografischen Methode. Herrera argumentiert für eine Auseinandersetzung mit der Lehrerrolle und der Wirkung von Erziehung außerhalb der formalen Strukturen. Aus diesem Grund begleitet und interviewt sie den Geigenlehrer ihrer Tochter und Profimusiker, was nicht zuletzt angesichts des Rückgangs ästhetischer Erziehung unter dem Einfluss von Islamisten besonders aufschlussreich scheint. Was dieser Beitrag neben der interessanten Erzählung leistet, die einen exemplarischen Einblick in individuelle Entscheidungs- und Handlungsspielräume in Ägypten gewährt, ist eine umfassende Analyse des kulturellen Klimas in Ägypten am Ende des zwanzigsten Jahrhunderts und in der Gegenwart. Dies motiviert Herrera abschließend, eine »Pedagogy of Pluralism« einzufordern und zu begründen. Während in dem Beitrag von Linda Herrera der Zusammenhang von Islam, Kultur und Pädagogik entfaltet wurde, geht der Aufsatz von Mouez Khalfaoui »Islamunterricht im europäischen Kontext. Gibt es einen Euro-Islam in der Schule?« als einziger in diesem Band dem Handlungsfeld Unterricht nach. Zunächst macht Khalfaoui am Beispiel von Bassam Tibi und Tarek Ramadan deutlich, dass die Definition eines Euro-Islam stets von der Position und dem Kontext des jeweiligen Sprechers abhänge. Die mit diesem Konzept verbundenen Kontroversen zeichnet eine inhaltliche Unschärfe aus, wobei zwei voneinander gründlich zu unterscheidende Sichtweisen maßgeblich sind: Entweder wird angenommen, der Islam ändere sich je nach Kontext und somit müsse man von »Islamen« sprechen oder aber die Vorstellung wird favorisiert, der Islam sei überall gleich und gültig. Khalfaoui widmet sich davon ausgehend dem Islamunterricht in Österreich, wo dieser eine längere Tradition hat, und Deutschland, wo einige Bundesländer den Islamunterricht eingeführt haben. Für die Analyse zieht er die im Unterricht verwendeten Schulbücher heran, um anhand von drei Themenbereichen zu prüfen, wie und ob man von einem Euro-Islam sprechen könne. Zentral seien bei der Analyse die Fragen, wie die Beziehung der Muslime zu anderen Religionen dargestellt werde, welcher Umgang mit den islamisch religiösen Quellen vorliege und wie der muslimische Kontext erscheine. Der Beitrag gewichtet demnach die Relevanz von Lehrmitteln und vermittelt implizit die These der Wirksamkeit von Schulbüchern, und zwar insbesondere bei Kin-
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dern und Jugendlichen von Minderheiten in Mehrheitsgesellschaften. Der systematische Vergleich der zwei Schulbücher macht wichtige Unterschiede in der Herangehensweise deutlich und verweist darauf, dass die mit dem islamischen Religionsunterricht verbundenen politischen Hoffnungen auf Integration kritisch zu prüfen sind. Eine hier abschließend zu nennende Schlussfolgerung des Verfassers bezieht sich auf Konsequenzen für weitere Unterrichtsfächer, denn, so Khalfaoui, insbesondere der Geschichtsunterricht müsse anders als bisher auf historische Wurzeln und die Geschichte der Muslime in Europa eingehen, weil diese Geschichtsschreibung bisher durch Feindbilder geprägt sei. Feindbilder, Armut, Kriege und gewaltsame Konflikte bilden schließlich den Ausgangspunkt des vierten Themenblocks »Muslimische Kinder und Jugendliche in politischen und sozialen Konfliktfeldern«. Hier haben wir die Beiträge von Didem Gürses, Hilke Rebenstorf und Chantal Munsch eingeordnet. Didem Gürses geht mit Kinderarmut einer auch in Deutschland auf der Tagesordnung stehenden Thematik auf den Grund, von der insbesondere Kinder mit türkischem Migrationshintergrund betroffen sein können. In ihrem Artikel »Children and Child Poverty in Turkey« fragt sie nach Armutserfahrungen von Kindern in der Türkei als einem Land, das von Ökonomen als »middle income country« bezeichnet wird. Ihr kindheitstheoretischer Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Situation der Kinder nicht isoliert betrachtet werden dürfe, sondern stets in Relation zur sozialen Umgebung und der Situation in der Familie zu sehen sei. Gesellschaftstheoretisch verortet sie Kinderarmut in der Türkei in die gesellschaftlichen Transformationsprozesse und hier hebt sie Deindustrialisierung, Postfordismus und Globalisierung hervor. Mit Blick auf das Wohlergehen von Kindern und Jugendlichen ist dabei besonders eklatant, wie wenig sich das wachsende Bruttosozialprodukt auf die individuelle Lebensqualität niederschlage. So mussten 2006 25,23% der unter 15jährigen in der Türkei mit Armutserfahrungen leben, in ländlichen Regionen gar 43,63%. Gürses diskutiert die signifikanten Faktoren wie Erziehung und Schulbildung, Gesundheit und Kinderarbeit und problematisiert das Verhältnis von öffentlichen und privaten Anteilen an der Finanzierung der Bildung. Ihr Beitrag zeigt die Phänomene prekärer Kindheit und Jugend in der Türkei markant auf und ist durch seine Fokussierung auf das damit verbundene Konfliktpotenzial sehr anschlussfähig an internationale Diskussionen über Prekarisierung. Auf eine andere Region ist der Blick von Hilke Rebenstorf gerichtet. Sie versteht ihren Artikel über »Palästinensische Jugendliche und politische Sozialisation – Bildung, Religion und Region in der Entwicklung demokratischer politischer Identität« als sozialisations- und demokratietheoretischen Beitrag. Vor-
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gestellt werden theoretische Rahmung, methodisches Vorgehen und empirische Befunde einer international vergleichenden Studie zur politischen Sozialisation Jugendlicher in Brandenburg, Israel und der Westbank. Von Interesse ist, wie Jugendliche zu ihren Einstellungen kommen, woher ihre politische Handlungsbereitschaft rührt und welche Vorstellungen von Demokratie sie entwickeln. Die Autorin rekonstruiert schließlich anhand der Daten aus der Westbank drei politische Typen, nämlich die zufriedenen Demokraten, die politischen Aktivisten und die unzufriedenen Desinteressierten. Wie diese Typen zusammengesetzt sind, ist äußerst aufschlussreich. Einige übergreifende Befunde beziehen sich darauf, was sich besonders auf die politische Einstellung auswirkt. So ist z.B. der Bildungshintergrund der Eltern gewichtiger als derjenige der Jugendlichen. Für den Gesamtzusammenhang des Bandes ist außerdem interessant, bei wem und in welcher Form Religion und Religionszugehörigkeit auf das politische Bewusstsein Einfluss nehmen. Hier kommt sie für die Westbank zu folgendem Ergebnis: »Religionszugehörigkeit spielt eine weitaus stärkere Rolle als Religiosität« (Rebenstorf i. d. B.). Schließlich diskutiert sie unter Rückgriff auf die politische Kulturforschung die Wirkung dominanter Herrschaftsstrukturen. Mit diesem Beitrag wird demnach eine Perspektive auf politische Sozialisationsprozesse gerichtet, die auch Radikalisierungsprozesse sein können, und dabei wird außerdem verdeutlicht, dass die Analyse des regionalen Kontextes unverzichtbar ist. Der Band schließt mit einem Beitrag von Chantal Munsch über Straßenkindheit in Tadschkistan. Die Autorin führt durch nachdenklich machende Schilderungen die vielfach äußerst prekären Lebenslagen von Kindern vor, die in einem Land auf der Straße leben müssen, das von Transformationsprozessen und Bürgerkrieg gezeichnet ist. Die »muslimische« Lebenswelt, die in Anführungszeichen gesetzt wird, weil die Autorin selbst keine expliziten Bezüge herstellt, manifestiert sich hier, wenn überhaupt, dann in Traditionen, dem odat (Munsch i.d.B.) respektive in der spezifischen Gestaltung von Generationsbeziehungen, in Munschs Beitrag eindrücklich vor Augen geführt am Beispiel eines durch eine Hilfsorganisation ermöglichten Zusammentreffens der Eltern mit ihren Kindern. An diesem Beispiel wird deutlich, dass Erstere Letzteren vor allem wegen ihrer unfassbaren Armut kein Zuhause bieten können. Die Einleitung in diese Publikation sollte auf die Vielfältigkeit der hier vertretenen Ansätze und Forschungsbefunde verweisen und die Heterogenität der Kontexte skizzieren, in denen muslimische Kinder und Jugendliche aufwachsen. Wir hoffen davon ausgehend auf neue Impulse und konstruktiv kritische Diskussionen.
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Die Tagung »Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten: Aufwachsen und Bildung in deutscher und internationaler Perspektive« wurde vom Ministerium für Generationen, Familie, Frauen und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen finanziert, wodurch die Bedeutung der Thematik von politischer Seite unterstrichen wurde. Wesentliche inhaltliche Vorarbeiten waren durch Forschungsmittel für NachwuchswissenschaftlerInnen aus dem Rektorat der Universität Bielefeld möglich geworden. Dafür möchten wir uns ausdrücklich bedanken! Unser besonderer Dank gilt aber unseren beiden studentischen Hilfskräften, Anne Tecklenborg und Inga Tölke, die nicht nur die Tagung mit großem Engagement und Sachverstand mit uns organisiert haben, sondern auch wesentlich zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben. Dank geht auch an unsere Lektoren, Jonathan Harrow und Horst Haus, deren professionelle Kompetenz unabkömmlich war. Nicht zuletzt danken wir unseren Autorinnen und Autoren.
Literatur Andresen, Sabine (2009): Bildung. In: Andresen, Sabine/Casale, Rita/Gabriel, Thomas/Horlacher, Rebekka/Larcher-Klee Sabina/Oelkers, Jürgen: Handwörterbuch Erziehungswissenschaft. Weinheim: Beltz, S. 76-90. Asad, Talal (2003): Formations of the Secular: Christianity, Islam, Modernity. Stanford University Press. Boos-Nünning, Ursula/Karakaolu, Yasemin (2005): Viele Welten leben: Zur Lebenssituation von Mädchen und Jungen mit Migrationshintergrund. Münster/New York/München/Berlin: Waxmann. Eisenstadt, Shmuel (2000): Die Vielfalt der Moderne. Übersetzt und bearbeitet von Brigitte Schluchter. Weilerswist: Velbrück. El-Harras, Mokthar (2007): Students, Family and the Individuation Process: The Case of Morocco. In: Hegasy, Sonja/Kaschl, Elke (Hg.): Changing Values among youth: Examples from the Arab World and Germany. ZMO-Studien. Berlin: Klaus Schwarz, S. 143-152. Geertz, Clifford (1988): Religiöse Entwicklungen im Islam – beobachtet in Marokko und Indonesien. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Gerlach, Julia (2006): Zwischen Pop und Dschihad: Muslimische Jugendliche in Deutschland. Berlin: C. Links. Religionsmonitor (2008): Bertelsmann Stiftung. Gütersloh: Gütersloher Verlagshaus. Schäfer, Heinrich (2008): Kampf der Fundamentalismen. Radikales Christentum, radikaler Islam und Europas Moderne. Frankfurt a.M.: Verlag der Weltreligionen. Warnock Fernea, Elisabeth (1995): Childhood in the Muslim Middle East. In: Warnock Fernea, Elisabeth (Hg.): Children in the Muslim Middle East. Austin: University of Texas Press, S. 3-17. Wensierski, Hans-Jürgen v. (2007): Die islamisch-selektive Modernisierung – Zur Struktur der Jugendphase junger Muslime in Deutschland. In: Wensierski, Hans-Jürgen v./Lübcke, Claudia (Hg.): Junge Muslime in Deutschland: Lebenslagen, Aufwachsprozesse und Jugendkulturen. Opladen/Farmington Hills: Barbara Budrich, S. 55-85.
I. Religion, Bildung und Politik: Kritische Perspektiven auf muslimische Lebenswelten
Jugend, Religion und Islam – einige grundsätzliche Erwägungen Micha Brumlik 1. Vorbemerkung Die Frage, was eine gute Religion ist, hat sich in westlichen Gesellschaften insbesondere nach dem Schock des 11. September neu gestellt. Dabei zeigte sich, dass diese westlichen Gesellschaften das Unbehagen an der eigenen Religion vor allem auf die Auseinandersetzung von christlicher Kultur und Islam bzw. muslimischer Immigration und von Modernisierungskrisen im islamischen Raum reduzierten. Es liegt auf der Hand, dass in diesem Zusammenhang die Frage nach der religiösen Identität muslimischer Immigranten, zumal ihrer jugendlichen Nachkommen, eine zentrale Rolle spielt. Was »Religion« im Jugendalter bedeutet, lässt sich nicht grundsätzlich aussagen – vielmehr ist hier, wie auch bei anderen Fragen der pädagogischen Anthropologie von der doppelten Historizität ihres Gegenstandes auszugehen: also erstens von der Geschichtlichkeit der Kategorien, mit denen wir ein Phänomen zu erfassen versuchen, und zweitens von der Historizität des untersuchten Gegenstandes selbst. Aber sogar wenn man diese doppelte Historizität einräumt, bleibt noch die die Problematik der Ungleichzeitigkeit, d.h. der Tatsache, dass im Rahmen einer Gesellschaft, die heute nur die Weltgesellschaft sein kann, sowohl unterschiedliche Ausformungen dessen, was wir als »Jugend« bezeichnen als auch unterschiedliche Ausformungen dessen, was wir als »Religion« bezeichnen, existieren. Als minimale Bestimmung dessen, worum es geht, hat der Jugendforscher Richard Münchmeier im Blick auf deutsche Jugendstudien festgestellt: »Nach traditionellem Verständnis gehören religiöse Themen, gesteigerte Empfänglichkeit für religiöse Seelenzustände oder religiöse Erfahrungen im weiteren Sinn, wie die Auseinandersetzung mit Sinnfragen, mit Tod und Endlichkeit, zur Adoleszenzphase« (Münchmeier 2004: 127).
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Diese Empfänglichkeit, dieses Bedürfnis nach sinnhafter Einbettung existenzieller Erfahrungen lässt sich als entwicklungspsychologisches Konstrukt begreifen, nämlich als »Religiosität«, die der Religionspädagoge Hartmut Beile in Unterscheidung zu einem vor allem religionssoziologischen Begriff wiederum so fasst: »Religiosität ist die Beziehung des einzelnen Menschen zu Gott oder dem Transzendenten. Gott oder das Transzendente bezeichnet die von dem einzelnen Menschen als letzte, höchste oder tiefste betrachtete Wirklichkeit, die das Irdische, Natürliche oder sinnlich Wahrnehmbare überschreitet« (Beile 1998: 27).
Diese, sichtlich von den Entwicklungspsychologen Fritz Oser und James Fowler inspirierte Definition steht in einer Tradition, auf die später noch einmal zurückzukommen ist, der Tradition des Pragmatismus – William James hat Religiosität bekanntlich in seiner »Vielfalt religiöser Erfahrung« in aller Kürze so definiert: »Gefühle, Handlungen und Erfahrungen von Menschen in ihrer Einsamkeit, sofern diese sich selbst als Personen wahrnehmen, die in Beziehung zu etwas stehen, das sie in irgendeinem Sinne als das Göttliche betrachten« (James 1979: 41).
Da es in unserem Zusammenhang jedoch um muslimische Jugendliche geht, erscheint es als sinnvoll, das zu begrenzen, was die allgemeinen Definitionen als »das Göttliche« bestimmen, d.h. Religiosität in diesem Zusammenhang grundsätzlich als die Beziehung zu einem personal verstandenen Gott zu sehen, zu einem Wesen also, das seinerseits über Wissen, Willen und Gefühle verfügt und sich der Menschheit selbst offenbart hat – ein Ereignis, das nach Maßgabe jedenfalls der monotheistischen Religionen vor allem aus Jahrtausende alten, stets neu gedeuteten Offenbarungsschriften beglaubigt ist. Schon hier ist jedoch auf das Problem hinzuweisen, dass das, was den Gläubigen als autoritativer Ausdruck von Gottes Willen erscheint, einem wissenschaftlichen Blick, in dem Gott als überprüfbare und berechenbare Größe nicht nur nicht vorkommt, sondern auch nicht vorkommen kann, nämlich die schriftlich überlieferte Offenbarung, sich als nicht mehr und nicht weniger darstellt als ein von Menschen unter bestimmten historischen und sozialen Umständen verfertigtes Dokument, das wiederum in ebenfalls von Menschen gemachten Institutionen, religiösen Gemeinschaften, von Menschen gedeutet und normativ lebenspraktisch gedeutet wird. Diese wissenschaftliche Einstellung ist inzwischen nicht mehr nur Spezialwissen von Forschern und Gelehrten, sondern ist in vielen westlichen Gesellschaften bei breiten Bevölkerungsschichten bereits triviales Alltagswissen geworden. Damit stellt sich zumal für junge Menschen aus traditionalen
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religiösen Kontexten ein kognitives Problem, das sie als Entwicklungsaufgabe lösen müssen: Wie lassen sich die normativen Gehalte der Tradition bewahren, ohne in einem der öffentlichen Mehrheitsmeinung moderner Gesellschaften entgegengesetzten Weltbild zu verharren? Dieses Problem trifft keineswegs nur muslimische Jugendliche in der Gegenwart – jüdische und christliche Jugendliche hatten sich dieser Problematik im Gefolge tiefgreifender intellektueller Debatten seit mehr als einhundert Jahren zu stellen – die us-amerikanische Wahlkampfdebatte um den Kreationismus in den Schulen belegt dies bis in die unmittelbare Gegenwart.
2. Was ist eine modernen Gesellschaften gemäße, gute Religion? Bevor ich noch einmal auf diese Entwicklungsaufgabe zurückkomme, seien aber einige grundsätzliche Aspekte dessen angeschnitten, was Religion, bzw. was gute, mit westlichen Gesellschaften des Typus parlamentarischer Demokratien verträgliche Religionen sind. Was eine in diesem Sinne gute Religion ist, hängt – vorausgesetzt, man ist sich einigermaßen darüber einig, was unter »gut« zu verstehen sei –, vor allem davon ab, was wir als »Religion« bestimmen. Dabei wird man zwischen einer moralischen, einer religionswissenschaftlichen oder einer theologischen Perspektive unterscheiden. Während sich eine moralische Perspektive vor allem dafür interessieren wird, in welchem Ausmaß die Narrative, Mythen und Liturgien des symbolischen Sinngebildes Religion allgemeine moralische Haltungen, Tugenden wie Nächstenliebe oder Fähigkeit zur Selbstreflexion o.ä. befördern, wird eine religionswissenschaftliche Perspektive funktionalistisch oder phänomenologisch danach fragen, ob das narrativ verfasste Symbolsystem mit seinen Ritualen erfolgreich der Kontingenzbewältigung dient bzw. ob es dem Symbolsystem gelingt, dem »Eigensten« aller Religionen, nämlich ihrem Transzendenzbezug prägnanten Ausdruck zu verleihen. Ganz anders wird die Theologie – als die systematische Fassung von religiösen Überzeugungen – das soziale und kulturelle Gefüge von Institutionen bewerten, in denen diese Überzeugungen artikuliert und in ihren Folgen praktiziert werden. Klammert man der Einfachheit halber die religionswissenschaftliche Perspektive aus, bleibt eine Frage übrig, die in der deutschsprachigen, vor allem protestantischen Theologie im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert gestellt wurde, nämlich die Frage, was das Eigenste einer Religion im Unterschied zu
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reiner Moral oder mythischer Welterklärung sei. Am Anfang stand Schleiermacher, der mit seinen 1799 publizierten »Reden über die Religion an die Gebildeten unter ihren Verächtern« ein neues Kapitel aufschlug. Schleiermacher beharrte auf dem Eigensinn religiöser Erfahrung, die er nach Maßgabe der kantischen Unterscheidung von theoretischer, praktischer und urteilskräftiger (ästhetischer) Vernunft letzterer – mutatis mutandis – zuschlagen wollte. Damit entlastete Schleiermacher die Religion erstens von dem Anspruch, eine explanativ starke Kosmologie sein zu sollen sowie zweitens von der Forderung, moralische Imperative autoritativ vorzutragen und durchzusetzen. Was aber bleibt von der Religion, wenn sie weder die Entstehung der Welt bzw. den Lauf der Geschichte erklären kann, noch einen sinnvollen Ersatz für Tugendförderung und Moral darstellt? Schleiermachers berühmte Formel lautete 1799: »Religion, das ist Sinn und Geschmack fürs Unendliche«, und wenn man nach Beispielen für die damit beanspruchte Erfahrung sucht, muss man sich lediglich an die Bilder Caspar David Friedrichs halten. Freilich ist Schleiermacher, der später als Theologieprofessor auch künftige christliche Pfarrer auszubilden hatte, bald klar geworden, dass mit seinem allgemein naturfrommen, romantischen Religionsbegriff das Spezifikum jedenfalls der christlichen Religion verfehlt würde. Deshalb nahm er in späteren Vorlesungen (1821/22) eine andere Bestimmung des religiösen Bewusstseins vor: Es handele sich um »das Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit« – eine Bestimmung, die sich von Niklas Luhmanns Formel von Religion als Praxis und Semantik der Kontingenzbewältigung allenfalls durch ihre Terminologie und ihre in der Tat bewusstseinstheoretische Ausrichtung unterscheidet. Schleiermachers zweiter Begriff der Religion wurde zum Anker einer bestimmten Spielart des deutschen, bürgerlichen Kulturprotestantismus, der nicht nur im Verdacht einer »machtgeschützten Innerlichkeit« (Th. Mann) stand, sondern eben auch mit dem Vorwurf fertig werden musste, vor lauter übermäßiger Konzentration auf das fromme Bewusstsein und seine Nöte Gott, seine Weisung, sein Opfer und seine erlösende Kraft nicht nur vergessen, sondern geradezu vernachlässigt zu haben. Es war der politisch weit links stehende reformierte Schweizer Theologe Karl Barth, der dem Soupçon und dem Protest gegen das kulturprotestantische Frömmigkeitsverständnis das noch heute frappierende Schlagwort gab: »Religion ist Unglaube« – was für die Frage nach einer guten Religion nur noch die Folge haben kann, dass es überhaupt keine gute Religion geben kann. Beim zweiten Blick indes gewinnt dieses Donnerwort präzise Konturen: Gerade, wenn Schleiermacher recht hat und Religion das ganz und gar menschliche Gefühl schlecht-
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hinniger Abhängigkeit ist, dann ist sie tatsächlich das Gegenteil eines offenbarungstheologischen Glaubensverständnisses. Demnach ist nämlich alles Wissen von Gott, seiner Weisung und seinem erlösenden Handeln alleine ihm selbst zu verdanken: Die Offenbarung kommt von Gott, von Gott ganz alleine, und entspringt eben nicht den Bedürfnissen des menschlichen Bewusstseins. Oder anders: Wenn »Religion« die menschliche Frage ist, so erweist sich die »Offenbarung« als die allein Gott zuzurechnende Antwort. Terminologisch hat die neuere protestantische Theologie mit begründetem Bezug auf die Kirchenväter und die reformatorischen Schriften damit der »Religion« den »Glauben« entgegengestellt, womit es der Theologie zudem möglich wurde, sich das ganze Panorama atheistischer Religionskritik – von Feuerbach über Marx zu Freud – ohne große Umstände anzueignen. Eine gute Religion wäre demnach eine, die in Inhalt, Form und sozialem Vollzug der Glaubensbotschaft so wenig wie möglich widerspräche; die die jeweils anerkannte göttliche Offenbarung in Predigt, Liturgie und handelnd im Leben möglichst adäquat zum Ausdruck bringt. Tatsächlich aber lässt sich Schleiermachers Programm heute kaum noch durchhalten: Zwar erheben die meisten Religionen heute keinen Welterklärungsanspruch mehr – dass sie indes ihren Anhängern moralisch bindende Weisungen vermitteln, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Dann aber stellt sich wohl die Frage, was der Vorsitzende der katholischen deutschen Bischofskonferenz, Bischof Zollitsch, meinte, als er zur Eröffnung der diesjährigen Herbstsynode erklärte, dass die Kirchen eben keine den gesellschaftlichen Zusammenhalt kräftigenden Wertvermittlungsagenturen seien. Was also ist dann eine gute Religion? Schleiermacher sah den Sinn der Religion in der Öffnung des individuellen Bewusstseins für eine kosmische Perspektive, später dann in ihrer Fähigkeit, Antworten auf das drängende Problem menschlicher Endlichkeit und Abhängigkeit zu geben. Niklas Luhmann spricht hier von Kontingenzformeln. Entsinnen wir uns jenseits dessen der anfangs genannten moralischen, der religionswissenschaftlichen und theologischen Perspektive, so ist eine Religion erstens gut, wenn sie in moralischer Hinsicht den in vielen, nicht allen und schon gar nicht widerspruchsfrei verankerten universalistischen Standards wie der Achtung der Menschenwürde sowie dem Toleranz- und Demokratiegebot zumindest nicht widerspricht; wenn sie zweitens – religionswissenschaftlich gesehen – Liturgien, Lebensformen und Rituale ausbildet, die die Inhalte der Religion ihrer eigenen Anhängerschaft verdeutlichen und diese damit an sich bindet bzw. ihnen eine geistige, eine geistliche Heimat verschafft. Indes: Kriterium der Güte einer
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Religion kann letztlich nur die Güte der ihr zugrunde liegenden Theologie sein, womit die Frage nach einem (religionsüberschreitenden) theologischen Wahrheitsbegriff aufgeworfen wird, von dem es fraglich ist, ob er überhaupt jenseits einer bestimmten religiösen Lebensform stimmig gefasst werden kann.
3. Was heißt: theologische Wahrheit? Die von Papst Benedikt XVI. in seiner Regensburger Vorlesung wiedergegebene Äußerung des byzantinischen Kaisers Manuel II., der den islamischen Glauben an den kriegerischen Aktivitäten von Arabern und Muslimen maß, stellte einerseits – in weltgesellschaftlicher Hinsicht – einen krassen Verstoß gegen eine auf Respekt beruhende Toleranzkonzeption dar, gab jedoch andererseits einer auf allgemeinen Menschenrechten und Demokratie beruhenden Weltkultur die einzige Form von Mission vor, die sie noch vertragen kann: die Mission durch authentische Praxis und vernünftiges Argumentieren. Hier noch einmal das skandalöse, das skandalisierte Zitat: »Zeig mir doch, was Mohammed Neues gebracht hat, und da wirst du nur Schlechtes und Inhumanes finden wie dies, dass er vorgeschrieben hat, den Glauben, den er vertrat, durch das Schwert zu verbreiten«. Im Anschluss an diese offenbar von nur geringen Kenntnissen der koranischen Schriften getragene Verurteilung kommt der vom Papst zitierte Manuel II. zum Wesentlichen: »Gott hat kein Gefallen am Blut und nicht vernunftgemäß › ‹ zu handeln, ist dem Wesen Gottes zuwider. Der Glaube ist Frucht der Seele, nicht des Körpers. Wer also jemanden zum Glauben führen will, braucht die Fähigkeit zur guten Rede und ein rechtes Denken, nicht aber Gewalt und Drohung […] Um eine vernünftige Seele zu überzeugen, braucht man nicht seinen Arm, nicht Schlagwerkzeuge noch sonst eines der Mittel, durch die man jemanden mit dem Tod bedrohen kann« (Benedikt XVI 2006:16).
Es war lediglich die auf den ersten Blick antiislamische Stoßrichtung dieser Aussage, die verdeckt hat, dass damit auch eine massive Selbstkritik der monotheistischen Religionen, zumal des Christentums verbunden war, das ja auch und gerade als katholische Kirche während langer Jahrhunderte gewaltsame oder auch nur mit unfairen Mitteln werbende Mission betrieben hat, einschließlich jener von Luther so genannten »Scharfen Barmherzigkeit«, die den erzwungenen Glaubenswechsel gerade um des Seelenheils der zu Bekehrenden willen herbeiführen wollte. Darüber hinaus hat die Kritik an dieser Rede übersehen, dass das Bekenntnis zu einer Theologie und Glaubenspraxis der Vernunft keineswegs nur einer islamischen Theologie des radikalen göttlichen Voluntarismus, sondern mindestens ebenso dem in der Reformation entstandenen protestantischen Gottesbild entgegensteht. Somit öffnete die Regensburger Rede durchaus die Möglichkeit einer – wenn auch an vernünftige, argumentative Verfahren gebundenen –
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Mission. Infrage steht dann, wie die damit beanspruchte vernünftige Argumentation aussieht und welchem Wahrheitsbegriff sie folgt. Nicht erst seit der Aufklärung, sondern schon in der Scholastik wurde daher das Spannungsverhältnis von Vernunft und Offenbarung debattiert, wobei in den christlichen Konzeptionen dieser philosophische Wahrheitsbegriff sich allemal an der Wahrheit der Selbstoffenbarung Gottes in Leben und Sterben des von ihnen als Messias bekannten Jesus messen lassen muss. Infrage steht indes angesichts der auch vom Papst indirekt herausgehobenen Rolle der Vernunft, was genau in diesem Zusammenhang » «, also »mit Vernunft« heißt, und in welcher Beziehung der damit beanspruchte Begriff der Vernunft zum Begriff der Wahrheit steht. »Was ist Wahrheit?« – die Frage des Pontius Pilatus ist zugleich jene Frage, mit der man bei einem, wenn nicht dem philosophischen Zentralproblem angelangt ist. Üblicherweise gilt eine Meinung, eine Behauptung als »wahr«, wenn der von ihr unterstellte Sachverhalt zutrifft und wenn die behauptende Person über gute Gründe, über Argumente verfügt, die aufgestellte Behauptung zu untermauern. Traditionellerweise stehen die Begriffe der Wahrheit und der Vernunft in einem engen, wenngleich nicht immer restlos geklärten Verhältnis zueinander. So scheint »Vernunft« einerseits der Inbegriff alles »Wahren« zu sein, während umgekehrt »Wahrheit« dasjenige ist, was durch korrekten Gebrauch der Vernunft erreicht werden kann. Die wissenschaftstheoretischen Debatten der letzten Jahrzehnte haben sich z.B. in unterschiedlicher Weise mit dem Begriff der Tatsachenwahrheit auseinandergesetzt und im Zuge der Diskussion um das sogenannte »semantische Wahrheitskriterium« zeigen können, dass z.B. der Satz »Die Rose ist rot« dann und genau dann wahr ist, wenn die Rose rot ist. Diese nur auf den ersten Blick tautologische Bestimmung stellt eine Präzisierung der sogenannten – vor allem im Mittelalter aufgestellten – Adäquationsbegriffs der Wahrheit dar, gemäß dessen es eine innere Übereinstimmung zwischen menschlichen Gedanken und Behauptungen hier sowie von Zuständen in der Welt dort gibt. Freilich ist die Frage nach der Definition von Wahrheit im Sinne sachlich zutreffender Behauptungen von der Frage nach der Ermittlung dieses Zutreffens unterschieden: Komplexe physikalische Behauptungen über Prozesse im Mikrobereich erfordern andere Beobachtungsmethoden als Behauptungen im Mesobereich, z.B. »Die Tür ist offen«. Probleme ganz eigener Art wirft dann die Frage auf, ob und in welchem Sinn man jenseits der Sphäre möglicher Tatsachenbehauptungen von Wahrheit sprechen kann: Lassen sich moralische Prinzipien oder Behauptungen über die Ausdruckswerte von Kunstwerken im gleichen Sinn als »wahr« bezeichnen und durch intersubjektiv anerkannte
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Verfahren in ihren Geltungsansprüchen begründen?1 Noch problematischer ist die beanspruchte Wahrheit von Glaubensaussagen – welchen Wahrheitsbegriff unterstellen sie und welches sind die Verfahren, dieser Wahrheit inne zu werden, d.h. die Wahrheit ihrer Behauptungen auszuweisen? In theologischen Diskursen wird gegenwärtig ein existenzial-hermeneutischer Wahrheitsbegriff bemüht, der von der klassischen Adäquationstheorie mindestens ebenso weit entfernt ist wie von sprachanalytisch reformulierten Konsenstheorien. Das zeigt etwa als aktuelles Beispiel aus dem Jahr 2003 eine Handreichung der theologischen Kammer der EKD unter dem nicht unproblematischen Titel »Christlicher Glaube und nichtchristliche Religionen«, sogenannte theologische »Leitlinien«, die es gläubigen evangelischen Christen besser ermöglichen sollten, mit Angehörigen anderer Religionen in Kontakt zu treten. Dort heißt es in Abschnitt 3.2 »Die Religionen und die Wahrheit«: »Wahrheit ist im Verständnis des christlichen Glaubens nicht zuerst eine in Sätzen formulierte Richtigkeit. Wahrheit ist ein Ereignis, in dem das geschieht, worauf man sich schlechterdings verlassen kann. Nach christlichem Verständnis ereignet sich die Wahrheit in der Offenbarung des lebendigen, von der Sünde errettenden Gottes in Jesus Christus, der durch das Wirken des Heiligen Geistes den freimachenden Glauben schafft: Die Wahrheit rettet und heilt. Diese Wahrheit bezeugt die christliche Kirche, auch wenn sie sich auf andere Religionen bezieht. Für sie treten Christen ein, wenn sie Menschen anderer Religionen begegnen. Würden die Kirche und die Christen darauf verzichten, dann hätten sie im Grunde aufgehört, Kirche oder Christen zu sein. Denn das Zeugnis von dieser Wahrheit gehört unabdingbar zum christlichen Glauben selbst. Nur durch das Zeugnis des Glaubens kann die Christusgeschichte in der Welt bekannt gemacht werden. Nur durch das Zeugnis des Glaubens vergegenwärtigt sich die rettende Wahrheit so, dass Glaube aufs Neue entsteht«.
Das Bekenntnis der theologischen Kammer der EKD, nicht der in Anspruch genommene existenzial-hermeneutische Wahrheitsbegriff, ist übrigens im Kern strukturidentisch mit zentralen Aussagen des islamischen Glaubens, z.B. gemäß Sure 9,33 des Korans, in der es heißt: »Er, Gott ist es, der seinen Gesandten mit der Rechtsleitung und der Religion der Wahrheit gesandt hat, um ihr die Oberhand zu verleihen über alle Religion, auch wenn es den Polytheisten zuwider ist«.
Diese Glaubensaussage ist zugleich mit einem politischen Herrschaftsauftrag verbunden. Nimmt man freilich – wenn ich das recht sehe – die koranischen
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Schriften im Ganzen, so lässt sich daraus gleichwohl kein absoluter Missionsbefehl ableiten, denn: »Wenn dein Herr wollte«, so Sure 10,99, »würden die, die auf der Erde sind, alle zusammen gläubig werden. Bist du es etwa, der die Menschen zwingen kann, gläubig zu werden«.
Nicht erst seit der Aufklärung, sondern schon in der Scholastik wurde daher das Spannungsverhältnis von Vernunft und Offenbarung debattiert, wobei in den christlichen Konzeptionen dieser philosophische Wahrheitsbegriff sich allemal an der Wahrheit der Selbstoffenbarung Gottes in Leben und Sterben des von ihnen als Messias bekannten Jesus muss messen lassen. Infrage steht indes angesichts der auch vom Papst indirekt herausgehobenen Rolle der Vernunft, was genau in diesem Zusammenhang » «, also »mit Vernunft« heißt und in welcher Beziehung der damit beanspruchte Begriff der Vernunft zum Begriff der Wahrheit steht. Will man – sei es seitens des Islam, sei es seitens anderer Religionen – kritische Einwände, die genau auf die angeblich in allen Glaubensaussagen enthaltenen politischen Selbstermächtigungen zielen, überzeugend zurückweisen, so kommt alles darauf an, einen anderen, einen diskursiven Begriff theologischer Wahrheit zu entfalten bzw. seine historischen Ursprünge freizulegen. Ein derartiger Wahrheitsbegriff ist – auch in theologischer Hinsicht – vom amerikanischen Pragmatismus entwickelt worden. Es war der amerikanische Religionsphilosoph und Neuhegelianer Josiah Royce, der vor neunzig Jahren eine dem existenzial-hermeneutischen, substanziellen Wahrheitsbegriff entgegengesetzte Theorie religiöser, theologischer Wahrheit entwickelt hat. In seinem 1918 erschienenen religionsphilosophischen Hauptwerk, »The Problem of Christianity«, das in wesentlichen Hinsichten von dem pragmatistischen Philosophen Charles Sanders Peirce beeinflusst war, begründet Royce eine Theorie des Christentums im Rahmen einer Theorie der »Ideal Community«. In seiner Interpretation der paulinischen Theologie gelangt Royce so zu einer Idee der universalen Kirche, die auf einer wesentlichen Entdeckung des Apostels fußt: »[…] the truth, that a community, when unified by an active indwelling purpose, is an entity more concrete and in fact, less mysterious than is any individual man, and that such a community can love and be loved as a husband and wife love […]« (Royce 1968: 94).
Royces Behauptung, dass eine Gemeinschaft bedeutender und konkreter ist als ein Einzelner, muss vor dem Hintergrund eines pragmatistischen Wahrheitsverständnisses, wie es Charles Sanders Peirce in seinem Aufsatz, »The Fixation
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of Belief«2 entwickelt hat, wonach »Wahrheit« etwas konstitutiv Öffentliches ist und wonach – so Peirce in anderen frühen Schriften – es eine auf individuellen Evidenzgefühlen beruhende Erkenntnis der Wahrheit nicht geben kann (Peirce 1967c: 157-183), gelesen werden. Dabei war Josiah Royce durchaus bewusst, dass die je existierenden, ja alle kirchlichen Institutionen dem Ideal der »Universal Community« oder, wie er sie an anderer Stelle genannt hat, der »Great Community« (Royce 1969: 1145-1163) nicht entsprechen und mithin eine prozessuale Theorie des Glaubens und der Glaubenspraxis benötigt wird, eine prozessuale Theorie, die auf nichts anderes zielt als auf die Einsicht, dass die Gemeinschaften des Glaubens Gemeinschaften der Interpretation sind: In den basalen Begriffen von »Time«, »Interpretation« und »Community« umreißt Royce eine andere Fundamentaltheologie, die sich entschlossen von den sich auf einen absoluten, dogmatischen, platonischen Wahrheitsbegriff stützenden Formen des bisherigen Christentums absprengt und an die Stelle einer einsam zu findenden oder zu empfangenden Wahrheit – oder des »Logos« – die Idee der Gemeinschaft setzt. »[…] I say«, so Royce »that the system of metaphysics which is needed to define the constitution of this world of interpretation must be the generalized theory of an ideal society. Not the Self, not the logos, not the One, and not the many, but the Community will be the ruling category of such a philosphy« (Royce 1968: 344).
4. Jugend und Religion – empirisch Wenn also Religiosität in modernen pluralistischen Gesellschaften durch einen freien, durch intersubjektive Gemeinschaften geprägten Dialograum charakterisiert ist und sich genau diese Religiosität auch theologisch begründen lässt, dann lassen sich für eine auch empirisch verfahrende soziologische Betrachtung jugendlicher Religiosität eine Reihe aussagekräftiger Theorien, Kategorien und Konstrukte angeben. Man kann dann – hinsichtlich der Betrachtung von religiösen Individuen oder Gruppen – mit dem Religionssoziologen Charles Glock (1962: 150-168) fünf Dimensionen der Religiosität unterscheiden, nämlich: 1. Die Dimension des Glaubens als der persönlichen Relevanz der Glaubenssätze für das eigene Leben von Individuen oder Gruppen;
2 Deutsch: C.S. Peirce, Die Festlegung einer Überzeugung. In: ders. Schriften I. Frankfurt a.M. 1967: 293f.
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2. Die Dimension des Erlebens, in der so basale Gefühle wie Furcht oder Vertrauen zum Ausdruck kommen; 3. Die Dimension des Wissens, in der es um die Kenntnis oder Unkenntnis der Glaubensschriften, -liturgien und -praxen geht, ohne dass damit eine Haltung zur Wahrheit oder Funktionalität von Praxen gefordert wäre; 4. Die Dimension religiöser Praxis, in der es um die von Individuen oder Gruppen vollzogenen Handlungen geht, die bestimmten religiösen Bekenntnissen entsprechen und in Ritualen und Liturgien zum Ausdruck gebracht werden. 5. Die Dimension der Konsequenzen, d.h. der emotionalen und sozialen Folgen, die das Bekenntnis für einen bestimmten Glauben und die Teilnahme an bestimmten Ritualen für den je eigenen Lebensweg von Individuen und Gruppen in ihrer jeweiligen Gesellschaft haben. Glocks Dimensionen, vor allem die Dimensionen des Glaubens und Erlebens, lassen sich zwanglos mit einer Entwicklungspsychologie des religiösen Urteils verbinden, wie sie in der Tradition von Jean Piaget und Lawrence Kohlberg vor allem von James Fowler (1991) und Fritz Oser (1988) entworfen wurde. So unterscheidet etwa James Fowler vier Stufen, die untereinander fließend verbunden und nicht durch eine zwingende Entwicklungsdynamik gekennzeichnet sind. Auf der ersten Stufe – sie währt etwa vom 3. bis zum 7. Lebensjahr – herrsche ein intuitv-projektiver Glaube vor, bei dem das mehr oder minder unvoreingenommene Kind insbesondere durch sein sozialisatorisches Umfeld, zumal durch die Eltern stark geprägt wird; eine Phase, in der symbolische Erzählungen sowie an Symbolen reiche Rituale die kindliche Religiosität formen. Als besondere Gefahren dieser Stufe gelten nach Fowler die durch das Bild eines übermächtigen Gottes hervorgerufene Übersteigerung moralischer Tabus sowie die Entwicklung von Schuldgefühlen. Als zweite Stufe kann sich nach Fowler die dem Schulalter, aber durchaus auch dem Erwachsenenalter zuordenbare Stufe des mythisch – wörtlichen Glaubens entfalten, die durch die teils wörtliche Übernahme von Glaubensgrundsätzen und Symbolen gekennzeichnet ist und sich zudem an Prinzipien der Fairness und Gerechtigkeit orientiert. Als Problem dieser Stufe sieht Fowler vor allem die Möglichkeit von Enttäuschungen und kognitiven Dissonanzen, wenn bildliche Glaubensvorstellungen und wissenschaftliches Wissen in Konflikt geraten. Die Lösung dieser Widersprüche kann schließlich zur dritten Stufe des mythisch – konventionellen Glaubens führen, dem nach Fowler die meisten Jugendlichen, aber auch viele Erwachsene anhängen. Auf dieser Stufe hat der
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Glaube die Funktion, eine kohärente weltanschauliche Orientierung zu geben sowie eine Basis für soziale und persönliche Identität zu schaffen. Problematisch erscheint hier das Fehlen einer unabhängigen Urteilsbildung sowie die möglicherweise ausbleibende Fähigkeit und Bereitschaft, Glaubensinhalte kritisch zu überprüfen. Die damit einhergehende Abhängigkeit vom Urteil Anderer kann dann – angesichts jugendlicher Entwicklungskrisen – entweder in nihilistischen Abfall vom Glauben oder in eine vereinsamende Intimisierung mit Gott allein führen. Im besten Fall jedoch führt die damit einhergehende Krise schließlich zur vierten von Fowler postulierten Stufe des individuierend-reflektierenden Glaubens, die sich frühestens im angehenden Erwachsenenalter herausbildet und vor der Aufgabe steht, die gewonnene und erfahrene Individualität vor dem Hintergrund von Entwicklungskrisen und kritischen Lebensereignissen mit der Idee einer in intellektueller Reflexion und im Glauben wurzelnden Emotionalität zu einem kohärenten Konstrukt zu verbinden. Ähnlich, aber deutlich stärker an Lawrence Kohlbergs Modell moralischer Urteilsbildung orientiert, hat Fritz Oser fünf Stufen des religiösen Urteils konstruiert, die sich von Fowlers Glaubensstufen vor allem dadurch unterscheiden, dass es bei ihnen hier vor allem um kognitive Entwicklungen geht. Die erste der von Oser postulierten Stufen geht von der Orientierung an einem Letztgültigen aus, das direkt und unmittelbar in die Welt eingreifen kann und vom Menschen kaum beeinflussbar ist. Demgegenüber ist die zweite Stufe, Oser bezeichnet sie als »do ut des« Stufe, dadurch gekennzeichnet, dass Gott im Sinne eines halbwegs reziproken und reversiblen Verhältnisses beeinflussbar ist und dem Menschen somit eine gewisse Autonomie zukommt. Auf der dritten Stufe, Oser bezeichnet sie als theistische Stufe, erkennt der Glaubende seine volle Autonomie und akzeptiert damit eine klare Trennung der beiden Sphären. Im Zuge dieser Entwicklung kann die Beziehung zu Gott als Beziehung von Ebenbürtigen ebenso verstanden werden wie Gott als ganz und gar unerheblich für das eigene Leben angesehen werden kann, weshalb die dritte Stufe auch die Möglichkeit des Atheismus enthält. Umgekehrt kann das reflektierende Individuum innerhalb dieser Sphärentrennung sich selbst und seine Interessen auch ganz aufgeben und alles Gott überlassen – was zu »fundamentalistischen« Konsequenzen führen kann. Die vierte religiöse Stufe ist die des Erwachsenenalters, auf der individuelle Autonomie und Freiheit dialektisch mit dem als letztgültig oder ultimat angesehenen Transzendentem verbunden ist. Die als transzendent erkannte Transzen-
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denz gibt sich in der Immanenz der menschlichen Lebensvollzüge zu erkennen und führt zu der Einsicht, dass Gottes Wille nur durch das verantwortete und verantwortliche Leben der Individuen oder Gruppen verwirklicht werden kann, dass aber gleichwohl eine mögliche Absicht Gottes zur Vervollkommnung der Welt in den Wirren von Biografien oder Geschichte ablesbar ist. Schließlich sieht Oser mit Kohlberg die Möglichkeit einer letzten, fünften Stufe, auf der religiöse Autonomie und zwanglose Intersubjektivität so vermittelt sind, dass die Geländer einer bestimmten Religion ebenso aufgegeben werden können wie die Einnahme einer universalen, alle Menschen betreffenden Perspektive denkbar wird. Ob es glücklich ist, diese Stufe als mystische Stufe zu bezeichnen, hängt davon ab, ob man Oser zugibt, dass die gelungene Vermittlung von Autonomie und Intersubjektivität sich von jeder historisch konkreten religiösen Semantik ablösen kann.
5. Gesellschaftliche und religionspädagogische Konsequenzen Betrachtet man die Frage muslimischer Jugendlicher in westlichen Einwanderungsgesellschaften unter dieser Perspektive, so gilt zunächst, dass familiale und gemeindliche Unterweisung den Verfassungsprinzipien des Grundgesetzes nach Möglichkeit entsprechen sollten, die schulische Unterweisung diesen Prinzipien hingegen genügen muss. Richten wir das Augenmerk zudem auf die besondere Lage muslimischer Jugendlicher, so zeigt sich, dass sie in pädagogischer Hinsicht vor allem jener Konstellation unterliegen, die Fowlers Stufe 2 bzw. Osers Stufen 2 und 3 bezeichnen. So ging es bei Fowler um die dem Schulalter zugeordnete Stufe des mythischwörtlichen Glaubens, die durch die teils wörtliche Übernahme von Glaubensgrundsätzen und Symbolen gekennzeichnet ist und sich zudem an Prinzipien der Fairness und Gerechtigkeit orientiert. Als Problem dieser Stufe sah Fowler die Möglichkeit von Enttäuschungen, wenn bildliche Glaubensvorstellungen und wissenschaftliches Wissen in Konflikt geraten. Das ist der Kern der zumindest in Deutschland heftig geführten Debatte um die Rolle der historisch-kritischen Forschung im konfessionellen Religionsunterricht. Bei Oser ging es hingegen bei der zweiten und dritten Stufe, also der »do ut des« sowie der »theistischen« Stufe darum, dass Gott im Sinne eines halbwegs reziproken und reversiblen Verhältnisses beeinflussbar ist und dem Menschen somit eine gewisse Autonomie zukommt, bzw. darum, dass der Glaubende seine volle Autonomie erkennt und damit eine klare Trennung der beiden Sphären akzeptiert. Im Zuge dieser Entwicklung kann die Beziehung zu Gott als Be-
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ziehung von Ebenbürtigen ebenso verstanden werden wie Gott ganz und gar als unerheblich für das eigene Leben angesehen werden kann, weshalb die dritte Stufe auch die Möglichkeit des Atheismus enthält. Umgekehrt kann das reflektierende Individuum innerhalb dieser Sphärentrennung sich selbst und seine Interessen auch ganz aufgeben und alles Gott überlassen – was zu »fundamentalistischen« Konsequenzen führen kann. Es zeigt sich, dass die möglichen Entwicklungskrisen und Ausgänge muslimischer Jugendlicher diesen Schemata in einigen gut untersuchten Fällen durchaus genügen. So entsprechen etwa die schon vor Jahren von Yasem n Karakao lu erhobenen Daten zu Kopftuch tragenden Studentinnen exakt den Strukturen, die Oser für die von ihm postulierte dritte Stufe genannt hat: Die im Vergleich zum traditionalen Elternhaus auf den ersten Blick rigidere Form eines rituell verpflichteten Lebens ist vor allem dem Wunsch nach größerer Autonomie vom Elternhaus zuzurechnen – es wäre wünschenswert, wenn diese sozialisatorischen Befunde durch Aussagen über die Religiosität dieser Adoleszenten ergänzt werden könnten. Die jüngst publizierten Ergebnisse einer breit angelegten empirischen, internationalen Umfrage, der »Religionsmonitor 2008«, gibt jedenfalls ein differenziertes Bild: Im Allgemeinen gilt für Deutschland, dass sich muslimische Jugendliche in ihrem religiösen Interesse kaum von nichtmuslimischen Jugendlichen unterscheiden. Insgesamt lassen die heute zwanzig- bis dreißigjährigen keinen massiven Traditionsabbruch gegenüber den vorhergehenden Generationen erkennen, während insgesamt etwa 30% eine positiv religiöse Haltung an den Tag legen. Dabei geht es dann vor allem um Fragen der existenziellen Sinnerfahrung angesichts der Endlichkeit des Lebens und eine doch weitgehend individualistische Auslegung vorgefundener Glaubenspraxen. Auch darin unterscheiden sich muslimische und nichtmuslimische Jugendliche jedenfalls in Deutschland kaum. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Muslimen und Nichtmuslimen besteht indes zumindest in Deutschland doch: Während religiöses, konfessionelles und vor allem kirchliches Engagement in Deutschland in dem Maß zunimmt, in dem diese Jugendlichen den gebildeten Mittelschichten angehören und umgekehrt die Akzeptanz der Kirchen in den Unterschichten deutlich abnimmt – kirchliche Religiosität in Deutschland also vornehmlich ein Mittelschicht-, ein bürgerliches Phänomen ist, stellt sich der Islam in Deutschland aufgrund seiner Herkunft aus der Arbeitsimmigration noch vor allem als Teil einer Unterschichtkultur dar. Dem entspricht ein Mangel an wissenschaftlich ausgewiesenen Theologen
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ebenso wie ein nach wie vor geltenden Bildungsvorstellungen nicht genügendes, vor allem auf Traditions- und Identitätssicherung setzendes System privater Religionsunterweisung: Es ist unter dem Namen »Koranschulen« bekannt. Soweit die Besucher dieses Schulsystems keine höheren Bildungsabschlüsse erlangen, dürften sie jener Stufe religiöser Entwicklung angehören, die Fowler als »intuitiv religiös« bezeichnet hat. Hier werde das mehr oder minder unvoreingenommene Kind insbesondere durch sein sozialisatorisches Umfeld, zumal durch die Eltern, stark geprägt. Als besondere Gefahren dieser Stufe galten nach Fowler für diese Phase die Übersteigerung moralischer Tabus, die Entwicklung von Schuldgefühlen sowie die Vorstellung eines absolut übermächtigen, freiheitseinschränkenden Gottes – mit anderen Worten eine Konstellation, die das Entstehen autoritärer und aggressiver Verhaltensdispositionen bestärkt. Es ist diese ohnehin als gefährdet und gefährlich wahrgenommene Gruppe männlicher Unterschichtjugendlicher aus muslimischen Immigrantenfamilien, die – vermischt mit Erinnerungen an den islamistischen Terrorismus auf der ganzen Welt – die deutsche Debatte bestimmt und fälschlich und unreflektiert ein soziales Problem als theologisches Problem diskutiert: Gefragt wird dann immer wieder, ob nicht der Islam schon in seinen Anfängen und Ursprüngen – ganz anders als das Christentum – zur Unduldsamkeit, zur Aufhebung der Trennung von Staat und Religion sowie der Unterdrückung von Frauen geneigt habe. Es ist jetzt nicht mehr Gelegenheit, auf diese weitgehend unbegründeten religionsgeschichtlichen Meinungen einzugehen, vielmehr möchte ich mit einem Bild schließen. In Debatten über das Verhältnis von religiösen und areligiösen Menschen geben jene, die keinem Glauben anhängen, oft zu Protokoll, »religiös unmusikalisch« zu sein. Folgen wir diesem Bild der religiösen Musikalität, so können wir von den Offenbarungsschriften der großen Religionen als Partituren sprechen, bei denen alles darauf ankommt, von welchem Klangkörper, welchem in sich vielfältigen Orchester sie gespielt und: vor allem – von wem und wie sie dirigiert werden. Die Frage, wie die Partitur des Islams im Westen und nicht nur dort aufgeführt wird, hängt also nicht von seiner unbezweifelbar komplexen Partitur ab, sondern von der Brillanz der Dirigenten und dem Können der Musiker. Soweit es sich bei ihnen um Jugendliche handelt, wird ihnen eben jene Fähigkeit abverlangt werden, über die auch gute Orchestermusiker verfügen: Sich im vollen Bewusstsein der eigenen, mühsam erworbenen Fähigkeiten der Aufgabe zu unterziehen, unter der Leitung eines freiwillig gewählten Virtuosen gemeinsam mit anderen ein komplexes Werk zum Klingen zu bringen.
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The Expanding and Controversial Role of Al-Azhar in Southeast Asia Mona Abaza »›Ayat Ayat Cinta‹, which roughly translates into verses of love, is one of the bestselling movies to hit Indonesia in recent years. People are flocking to cinemas across the country to watch this Islamic movie adapted from the best-selling novel of the same name. The story follows the life of a young Indonesian man, named Fahri, who moves to Egypt to study at the Al-Azhar University and it tells of the problems he encounters and attempts to solve through the teachings of Islam. Long, melodramatic, yet gorgeously shot in Central Java and India, Ayat Ayat Cinta is, at the end of the day, a love story. Fahri must choose a wife from four very different women and along the way, he espouses women’s rights by reciting from the Koran. However, he also takes a second wife, again in accordance with Islamic teachings […]. Filmmaker Hanung Bramantyo says he wanted to make this movie to show a different side of Islam, which he says is often associated with terrorism and intolerance, in the Western media« (Collins 2008).
Verses of Love The reason for quoting at length from a critical review of the recently released (in March 2008) Indonesian film Ayat Ayat Cinta (Verses of Love) is to expose the reality behind the much embellished popular image of the Indonesian Azharite whose sojourn in the Middle East not only helps him find »true« Islam but, more importantly, romance and adventure. Fahri, the main character, has several qualities typical of many Southeast Asian Azharites living in the great metropolis of Cairo: he is poor, honest and diligent. In addition, Fahri is quite personable and romantic. Cairo itself is a suitable backdrop for falling in love with four women almost all at once. Two of these women are Egyptian, while one is Indonesian and the other a veiled Turkish-German studying Arabic at the venerable Al-Azhar University Mosque. On a melodramatic note, the hero ends
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up marrying two women at the same time; an Egyptian Copt and the TurkishGerman student, who is also a striking beauty. The equally beautiful Christian Copt seems to be attracted to the teachings of Islam simply because she is romantically involved with Fahri. Like the book, the theme of the film seems to be that interfaith marriage is justifiable under certain circumstances (IMDb 2008). It could also suggest that love can be a catalyst to religious conversion regardless of the consequences. More specifically, the Christian girl’s conversion to Islam springs from romantic love rather than a spiritual awakening. Basically, the film may be viewed as a popular vehicle for promoting tolerance, because it portrays a Christian woman marrying a Muslim. Regardless of whether or not the film is an apology for polygamy or intolerance, it nevertheless takes the lid off other issues along the way. Ayat Ayat Cinta illustrates in a romanticized way the daily life of Indonesian Azharites living and studying in Cairo. Fahri, the leading character, shares a flat with other Indonesian males, which is quite typical of Indonesians living in Cairo. Interestingly, not a single scene was shot in Cairo, since the movie was apparently impossible to make in Egypt itself. In an attempt to lend an air of authenticity to these non-Egyptian settings, many of the dialogues start with a few Arabic words, while Al-Azhar class schedules appear in Arabic as do miscellaneous graffiti in replications of Cairo’s streets. Particularly interesting is how males and females within this religion-driven community get an opportunity to mingle together in religious sessions. For instance, we get a glimpse of these students attending lessons sitting on the floor at various homes as well as their mode of locomotion around the stylized popular quarters of Cairo, particularly the Khan al-Khalili, home to the Azhar mosque, and the Gammaleyya area with its old riwaqs (the foreign students’ lodgings). Other scenes are simulated at the Cairo Metro and the Madinat al-Bu’ uth (The Student Hostel and University complex). A typical scene of everyday Egyptian life is depicted when the Coptic girl lowers a basket from her window filled with food and drink to Fahri. In the film’s final and most dramatic scene, Maria, the Coptic wife, is on her deathbed wearing a headscarf and praying fervently, literally until she breathes her last. The fact that it was filmed in India and Indonesia lends a Bollywood tinge to Ayat Ayat Cinta, particularly in scenes depicting the popular suq and the desert complete with both camels and lovers gliding over the sand in typically Oriental fashion. The novelty here is that the film might be viewed as an Indonesian perspective of what Cairo can look like. At a socio-political level, the film claims to be an attempt to tone down the stereotyped image of the Middle East as a hotbed of extremism spewing the likes
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of Bin Laden and Ayman Thawahri. Whether it has succeeded in its message for a tolerant Islam (despite its plea for polygamy) and how one may interpret the conversion of a Copt to Islam remain intriguing questions. Nevertheless, in one review published in the Jakarta Post, much scepticism was expressed about what the film was actually promoting: tolerance and the tremulous relationship between Southeast Asian Muslims and the Middle East (Krishna 2008). Anand Krishna (2008) offers the following critical comment: »However, our people are mesmerized by the Middle Eastern setting of the movie. We value their (Egyptians) traditions above our own, and we tend to be quite emotional about them. The Egyptians, however, do not reciprocate these sentiments. In fact, the producer of this movie had to film some scenes in India for purely practical reasons.«
He later raises the question of to what extent the message of the film is tolerant. »A Christian girl praising Islamic values and falling in love with a young Islamic hero is not only acceptable but desirable. For a change, however, what about a Muslim girl admiring Christian values and falling in love with a young Christian hero?« (Krishna 2008)
The above, of course, is merely the gateway to the complex role played by seats of religious learning across the Muslim World and how the outside world perceives them.
I In the popular imagination of many contemporary Moslems hailing from Indonesia, Malaysia, Singapore, the Philippines and Thailand, Al-Azhar still remains the wellspring of religious learning. This said, the relationship between Southeast Asian Muslims and Middle Eastern religious centres has been convoluted to say the least. Since the Middle East is viewed as the immutable centre for perpetrating the »correct« teachings of Islam, it has often been contrasted to a so-called »lax« and »syncretic« Southeast Asian brand of Islam. On a more inflammatory note, the Middle East is also considered to be the exporter of extremist brands of Islam. Since the events of 9/11, the Muslim World’s »madrasahs« have received particular attention for allegedly breeding fanaticism. This, in turn, has triggered a revival in research on madrasahs in an effort to refute allegations that these traditional seats of religious learning are potential breeding grounds of modern day terrorists (see, e.g. Malik 2008;
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Noor/Sikand/van Bruinessen 2009). The Middle East was then targeted as the exporter of fundamentalism to the Indian subcontinent and Southeast Asia, with special emphasis on Bin Laden’s Arab (Hadrami) origins. More than ever, this emphasis was directed at identifying and sorting both the differences and the affinities between Arab and non-Arab Muslims. Many Southeast Asians – Indonesians in particular – have mixed feelings towards Saudis and Arabs from the Gulf countries as a result of the appalling treatment they experience during the Hajj. During the past decades, accidental death by trampling of large numbers of Southeast Asian Hajjis has led to negative associations with this definitive religious ritual of Islam. The prickly issue of countless Indonesian domestic workers suffering from all manner of abuse, particularly sexual, adds oil to fire. The Human Rights Watch organization picked upon the recent manslaughter of two Indonesian maids by their Arab employers to open the file of the modern organized slavery system perpetrated by international migration in a globalized and fluid world (Varia 2008). Saudi Arabia alone has hosted some 1.5 million foreign domestic workers from Indonesia, Sri Lanka, Nepal and the Philippines (Human Rights Watch 2008). The report focuses on Indonesian domestic workers in Saudi Arabia, labelling these women as practically slaves. This merely confirms that there are various other factors – educational ones aside – affecting perceptions of the relationship between these two worlds of Islam. This short article will discuss the increasingly controversial role of Al-Azhar University in Southeast Asia – particularly in light of Al-Azhar’s increasing involvement in censorship and the persecution of secular intellectuals that has repercussions in the Southeast Asian world. The article will further attempt to trace transformations in education in Egypt due to the privatization and commercialization of this field, connecting these to religious education in the country. Furthermore, the article leaves the question open as to how these transformations will affect the long-term relationship between Middle Eastern and Southeast Asian Muslims.
II The American University in Cairo, is a private institution of higher learning. It takes pride in the fact that in 2008, the number of full-time students had peaked to around 5,000 in addition to a total of approximately 30,000 alumni from all over the world. In contrast, the number of Malaysians studying in Cairo today –
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mostly at Al-Azhar University – has reached 7,000 (some sources state 6,000).1 Given that there were only just over 2,000 Indonesian students in the early 2000s, today’s figures show that they have tripled to some 6,000. Thai students currently total some 2,0002 compared to Singaporean students who account for less than 200 of the student body. Of Al-Azhar’s 28,000 students (a different source states 27,000 students), around 15,000 are foreign students from 90 different countries studying in the oldest institution of higher education.3 However, according to Malcolm Reid (1995), Al-Azhar had 160,000 University students in 1990. Perhaps the figure of 28,000 students is restricted to those studying religious subjects? Perhaps also the figure given by Reid was meant to include the Al-Azhar institutes in Egypt’s provinces. If the 28,000 figure is reliable, this means that foreign students well exceed the number of Egyptians. This just underscores how significant Al-Azhar University has become for the Muslim world, particularly in Southeast Asia. Al-Azhar not only receives students from all over the Muslim World, it also sends out missionaries, religion and Arabic language teachers in addition to organizing Quran recital competitions. Moreover, Al-Azhar offers some hundred scholarships per year to Indonesian students. Recently (2008) Al-Azhar University together with the Malaysian government decided to open an Azhar branch in Kota, near Rembau, Negri Sembilan in Malaysia.4 This move can be easily explained, since Malaysia hosts a large number of foreign students from ASEAN countries5. Creating an Azhar extension in Southeast Asia would mean more affordable study expenses for Muslim ASEAN students. This also means that the Azhar branch would have to compete with the International Islamic University (IIUM) in Kuala Lumpur that accommodates students from around 40 different Muslim countries with an equal number of students from all over the world. However, the growing number of Southeast 1 file:///Users/monaabaza/Desktop/Southeast%20Asian%20Students/AlAzhar%20boost%20for%20Malaysia.webarchive Sunday April 20, 2008 Al-Azhar boost for Malaysia BY SARBAN SINGH. 2 file:///Users/monaabaza/Desktop/Southeast%20Asian%20Students/Ministry%20of%20Foreign %20Affairs,%20Kingdom%20of%20Thailand.webarchive. 3 http://www.sis.gov.eg/En/EgyptOnline/Culture/00001/0203000000000000000303.htm Monday, December 27, 2004, Al-Azhar University President probes with Indonesian official boosting cultural cooperation. 4 File:///Users/monaabaza/Desktop/Southeast%20Asian%20Students/Ministry%20of%20Foreign %20Affairs,%20Kingdom%20of%20Thailand.webarchive. 5 ASEAN was founded in 1967 with the signing of the Bangkok declaration. It includes Brunei Darussalam, Cambodia, Indonesia, Laos, Malaysia, Myanmar, the Philippines, Singapore, Thailand and Vietnam.
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Asian Azharites in Cairo and the expanding institutional networking reveal that Al-Azhar’s influence has certainly grown in recent years despite the major problems facing religious education for over a century in the Middle East. Interestingly, Saudi Arabia has long been considered the rival educational pole to Egypt. For instance, Saudi Arabia has been hosting the Jawa community (a term used for all Southeast Asians in Arabia) for centuries. However, the number of Indonesian students in Saudi Arabia is negligible since they total a mere 250, of whom 159 are studying at The Islamic University of Madinah.6
Competing Centres of Learning: Al-Azhar versus Meccah Al-Azhar, the dazzling Mosque (in reference to) Fatima al-Zahra (Encyclopaedia of Islam: 813f.), is still today considered to be one of the most important centres of orthodox Sunni Islamic teaching. This university mosque model also used to be a place where student pilgrims were lodged in earlier times. It was a centre where ideas, books and goods were exchanged. In fact, trading and pursuing religious knowledge went hand in hand, a recurring phenomenon in the Muslim World. Other centres worth mentioning in this context are Qarawiyin in Morocco; Zaytuna in Tunisia; Nejef, Qom and Kerbala’ in Iraq; and Mecca and Madinah in Saudi Arabia. Rivalry between the two poles, Cairo and Mecca, has always existed. Cairo at the turn of the last century was, in fact, the hub of reformist and nationalist activity. Jamal uddin al-Afghani’s Pan Islamism and ’Abduh reformism had reached the Indian Subcontinent and the Netherlands’ East Indies in colonial times. Mecca, in contrast, saw the birth of Wahabism, a movement advocating the purification of religion and customs. While both movements had certainly gathered followers all over the Muslim world, the Minangkabau region in West Sumatra at the beginning of the nineteenth century experienced a strong conflict with the ascendance of the Padri Movement that had its ideological foundations in Wahhabism. The conflict broke out between those supporting adat, which may be regarded as pre-Islamic practices such as cock fighting, matrilineal traditions, gambling and witchcraft, versus the Padri puritanical reformists. During the 1960s, bargaining over the legitimacy of Islamic discourse was divided between Egypt and Saudi Arabia. Nasser claimed an Islam that entailed 6 Sunday, 23 November 2008 17:33 »Madinah University increases intake of Indonesian students« file:///Users/monaabaza/Desktop/Southeast%20Asian%20Students/Madinah%20University%20in creases%20intake%20of%20Indonesian%20students%20-%20Voice%20Of%20Indonesia%20%20English.webarchive.
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an Arab dimension but also »with socialist principles of justice and equality«, whereas Saudi Arabia claimed a more salafi and capitalist-oriented type of Islam. In the same decade, Nasser and Sukarno tried to establish a coalition against the salafi oriented movement. This, in turn, led to the creation of the Islamic World Organization in Jakarta in 1965 (Schulze 1983: 35). These two poles of learning produced Southeast Asian Azharite Alumni who, even today, still compete over legitimacy and credibility with their counterparts studying in Saudi Arabia who are often perceived as being more conservative and inflexible.
Censorship However, Al-Azhar has always been a paradoxical institution. On the one hand, it has maintained an international reputation in the Muslim World. Internally, on the other hand, it has long been tagged a fierce institution strongly resistant to the changes that came with the advent of modern institutions of learning such as Cairo University and the overall secularization of society, equally represented by political parties, creation of a parliament, press expansion and returning students from Europe. Further contributions to modernism were the translated works of European concepts of enlightenment as well as philosophical tracts. It is hardly surprising then that Al-Azhar lagged far behind in national education. This gulf was made apparent by the growing disparity between those wearing the turban or the (’imma) symbolizing azharite ’ulama or religious scholars and those wearing the tarbush representing secular training at Cairo University. In Colonizing Egypt, Mitchell (1988) contrasted the process of control brought about by nineteenth century colonialism, which reshaped space, bodies, and institutions heralding a new order in Egypt, with the opposing notion of disorder. Disorder, thus, was seen as a natural aspect of the so-called traditional institutions. These, in turn, were regarded as an inevitable consequence of the socalled traditional institutions, viewed as such due to the newly installed modern ones (Mitchell 1988: 63-87). The teaching at the old mosque was perceived by foreign observers as arbitrary if not chaotic, receiving students of widely varying age and background in contrast to the modern uniformity of the newly founded schools and military academies (Mitchell 1988: 80). It would seem that the image of being unruly, antiquated and disorderly persists until today. In fact, this image has been further reinforced the more privatized education becomes. Moreover, Al-Azhar has a long tradition of being rigid, conservative and downright intolerant of the »liberal intellectual«. To give an example, Al-Azhar has been noticeably antagonistic towards Jamal al-Din al-Afghani, Muhammad Abduh and Muhammad Rashid Rida. In addition, Azharis have expressed negative opinions against radical Islamists. We should also bear in mind that
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both Hassan al Banna and Sayyed Qutb were the product of the Dar al-Ulum education and not Al-Azhar. Similarly, is possible to argue that the »tarbush« culture was actually the forerunner of the modern intellectual. Today, the real conflict lies between the ’ulama and the muthaqafun in relation to the legitimate interpretations of religious texts. Al-Azhar, furthermore, has issued a long list of condemnations against ’ulama and intellectuals who have been classified as unorthodox. These include Sheikh ’Ali Abdel Raziq, who was denied the status of ’Alim and put on trial, to Taha Hussayn for writing the famed controversial work On Pre-Islamic Poetry, to Muhamed Ahmed Khalafalah, who in 1947 wrote a thesis on the historical tales in the Quran leading to its rejection, to the banning of Naguib Mahfouz’s Children of the Alley. Also featuring on this list are Salman Rushdie’s Satanic Verses, the works of Said al-Ashamwi (see Reid 1995: 168-170), Khaled Mohammed Khaled and many other intellectuals. In recent years, the Al-Azhar Scholars’ Front captured public attention by officially declaring that certain intellectuals were kufar (disbelievers). The Sorbonne-trained intellectual philosopher Hassan Hanafi was not spared from such attacks. Sheikh Tantawi seems to have faced vigorous opposition from various other organs of al-Azhar after he dissolved the Al-Azhar Scholars’ Front. In fact, a lawsuit was filed against him by the Scholars Front, which opposed Tantawi on the legitimacy of interest generated from bank deposits (al Ahram Weekly 1999: 158). The main concern here is how the Middle East has been the backdrop over the last three decades for escalating religious witch-hunting. This religious crusade has, in fact, spread an atmosphere of terror amongst writers, novelists, film directors, artists and intellectuals accused of criticizing the use and abuse of religion. Accusations of blasphemy, apostasy (and thus licensing to kill), perceived threats to public morality, and the spreading of pornography in universities have left a trail of censored books, jail sentences and libel suits. Incredibly, these disturbing developments are no longer even considered newsworthy in our part of the world. Since the 1980s, the Al-Azhar Committee for Research and Publication was given (via government approval) the power to charge authors with apostasy and censor cultural products, thus undermining the authority of the Ministry of Culture. In 1985, the Sudanese Mohammed Mahmud Taha, author of The Second Message of Islam, was hanged by the Numeiri government for apostasy because he protested against the application of the Islamic Shari’a. Nor was the late Nobel Prize recipient Naguib Mahfouz spared from censorship. Not only was the Leiden professor Nasr Hamid Abu Zayd declared an apostate in the 1990s, but also his mentor, the Sorbonne trained professor Hassan Hanafi, was later accused by the Al-Azhar Scholars’ Front of being a disbeliever. The writings of the Egyptian historian Sayyed Al-Quimni
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were banned in addition to his receiving death threats from Islamists. The Kuwaiti professor Ahmed Baghdadi, who specializes in early Islamic history, was the target of similar accusations. In 1999, religious parties attacked the Palestinian singer Marcel Khalifa in Lebanon for putting to song a Mahmud Darwish poem entitled »I am Youssef, Father«. In 2000, two female writers were jailed in Kuwait for publishing works that are allegedly blasphemous and morally decadent. When in 2000, the Egyptian Ministry of Culture reprinted a novel published some 17 years earlier by the Syrian Haydar Haydar, Azharite students organized mass riots. This incident was the prelude for the banning of three other novels several years later by the same Ministry, after having succumbed to Islamist pressure. Nor has the American University in Cairo escaped unscathed from this purge: certain faculty members were involved in scandals for assigning »pornographic« novels and texts offending religion. In recent years, Egyptian human rights organizations have raised the issue of the attack on freedom of expression. The main perpetrator here, of course, is Al-Azhar, whose tireless crusade resulted in the censoring of 169 so-called decadent or sexually promiscuous literary works in the late 1990s (Labib 1998). Censorship duly spread to Southeast Asia. For instance, Leiden Professor Nasr Hamed Abu Zayd, declared an apostate in the early 1990s, was denied the right to speak in a seminar in Malang in East Java following government pressure. It turned out that the Council of Ulama of Indonesia were behind this ban. Could the fact that the majority of these scholars had received Middle Eastern training be the main reason behind censoring Abu Zayd (Dhimmi Watch 2007)? By the end of the nineteenth century, Al-Azhar faced the problem of competition with private schools together with the overall secularization of society. This continued even after the 1952 revolution. For instance, a 1963 survey revealed that Azharites were mostly the underprivileged, provincial poor compared to Cairo University students (Reid 1995). It is a fair conclusion that Al-Azhar institutes spread all over the country continue to be an important outlet for educating the rural poor. This phenomenon seems to have been exacerbated even more today with the growing gap between the rapidly flourishing private universities and the national ones. On that scale, religious education still remains the only alternative available to the poor. The Islamists however, appear to spring from the technical and engineering faculties, often obtaining secondary training either at Al-Azhar institutes or in private religious ones.
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Mushrooming Private Universities in Egypt In recent years, Egypt has witnessed a wider phenomenon, namely, the spread of private universities with a technical orientation. There are already eight private universities including the French, British and German Universities, all of which came into being only a few years ago. The German University offers only technical subjects, without a Humanities Department for example. Three more universities will be opening this year (Investia n.d.). A total of four private universities have been established since 1996.These are Misr International University, Sixth of October University, Modern Sciences and Arts University and Misr University for Sciences and Technology. Another two universities are in the making: the Al-Ahram Canadian University and the Nile University. Certainly, these new universities are attracting a wide number of students whose parents can afford to pay high fees for their children’s education. It is thus possible to argue that the gap which already existed between the national secular system and Azharite education (whether it be religious or technical faculties such as the Faculties of Engineering and Medicine) will be further widened as higher education becomes increasingly accessible to lucrative speculation and privatization. Not only has higher education undergone massive privatization, but also primary and secondary schools have entered the foray with middle-class Egyptians pursuing educational options as if they were in a huge shopping mall. To elaborate, these people can choose and compare varying fees amongst German, French, English and American systems of education. The market has also been offering a wide variety of school matriculations leading to real confusion as to what is or is not accredited by international and local standards. It is as if privatization and lucrative high-class education go hand in hand with an explosion of uneven quality curricula featuring Western languages and degrees. Altogether, some scholars like Linda Herrera have pointed to the emergence of a »commercialization of Islamic schooling« that has led to the creation of »voluntary Islamic language schools« since the 1980s. This is quite similar to lucrative investment schooling meant to cater to well-to-do Cairo dwellers opting to live in the new satellite cities. However, the new »Islamic investment schools«, as Herrera labels them, are no different from the lucrative secular-oriented ones. These function with a business-minded efficiency coated with an Islamic ethic to cater to the demand for an alternative education. Such Islamic schools also target the well-to-do middle classes and have received criticism for leading to further class polarization and elite enhancement. It would seem that these English language Islamic investment schools are really no different from any leading foreign-language or secular school offering expensive British style uniforms, air conditioned buses and numerous other features (Herrera 2006: 39f.).
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This state of affairs then raises the question of whether the growing gap due to the privatization of education and the marginalization of religious education may have stronger implications in the Southeast Asian World. In the Indonesian or Malaysian context, it seems that the same problems have emerged regarding religious versus secular training, the privatization of education and the higher valuation of degrees from Europe and the US compared to Middle Eastern degrees. An Azharite and a Mecca-trained scholar can certainly attain a high position at the Ministry of Religious Affairs in Indonesia. However, if this person were to crown his knowledge with a North American or European degree, he would definitely have an edge over other candidates in the job market. Indeed, many Middle Eastern trained intellectuals have gone on to become prominent politicians, the best example being Abdurrahman Wahid, famed as Gusdur, who trained at Al-Azhar and Baghdad, was made leader of the Nahdatul Ulama, Indonesia’s largest political party, and later became President of Indonesia (Abaza 1995). Nik Abdul Aziz Nik, who is Chief Minister of Kelantan, is also a spiritual leader of the Pan Islamic Party in Malaysia. He graduated from AlAzhar University in Islamic Law and later from Deoband. Nik Aziz’s admiration for both Nasserism and his strong adherence to the ideology of the Egyptian Muslim Brothers, two strongly opposed ideologies, represent an interesting case in point of how hybrid borrowings from the Middle East can take on new meaning in the Southeast Asian context. Nik Aziz’s understanding and application of Islamic law has often been in contradiction with Mahathir’s political outlook. Quraish Shihab, former Minister of Religious Affairs, who studied in Cairo from high school up to obtaining a PhD from Al-Azhar University, is another telling example. Shihab was then made Deputy Rector of the IAIN (Islamic University) in Sulawesi. Later he was appointed Indonesian Ambassador to Egypt in the early 1990s. His brother, Alwi Shihab, studied at Ain Shams University and later at Temple University. He was Minister of Foreign Affairs from 1999 to 2001 and is currently Minister for People’s Welfare as well as leader of the National Awakening party. Liberal Muslim Indonesian intellectuals such as the late Nurcholis Madjid, whose Western training included a doctorate from the University of Chicago, worked at length in Saudi Arabia. Madjid was well aware of this widening gap in religious education, which he rightly surmised was class related. This explains why Madjid founded Paramadina in 1986. This was meant to be a training centre, a secondary school and a university teaching Islamic subjects and Islamic philosophy. It held meetings, conferences and events in expensive hotels and enjoyed strong support from prominent and established intellectuals, writers and bureaucrats. More importantly, Paramadina held great appeal to rich Indonesian entrepreneurs, leading to philanthropic activities. Paramadina is an interesting
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example, since its students are proud to belong to such a prestigious institution. In fact, it seems that Paramadina is perhaps amongst the few institutions of Islamic learning that have succeeded in dispelling the image of religious education as being synonymous with poverty and destitution (Bakti 2004). Turning back to Egypt, the question remains if Al-Azhar University will not end up experiencing the same fate of a privatization of education by means of external funding. Recently, there have been discussions in the press about upgrading various Al-Azhar institutes. Similar to recent developments at Cairo University, fees would be a main admittance condition. Upgrading would also mean introducing foreign languages in teaching.7 A pertinent question here is whether this would further contribute to a growing class cleavage and polarization. After all, we should not forget that despite all the problems related to religious education, Al-Azhar provincial institutes have long provided a major democratizing alternative for the poor, allowing them access to higher education. However, it is still too soon to predict the ultimate direction Al-Azhar will choose to pursue as it battles to maintain sovereignty over decision-making issues related to religious education and censorship affecting the Moslem world at large.
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7 It is important to point that Al-Azhar University has a reputable faculty of translation and languages that hosts foreign professors from time to time.
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Religion ist im Spiel – oder virulent. Diskursive und interaktive Inszenierungen ethnischer Differenz Isabell Diehm In einem kürzlich erschienenen Beitrag spricht Yasemin Karakaolu (2009: 186) von einer »Muslimisierung« von Migrantinnen und Migranten. Im Anschluss an Riem Spielhaus (2006) beschreibt sie, wie in Deutschland die Kategorien ›Kultur‹ und ›Religion‹ mit Blick auf die Zuwanderung von Türkinnen und Türken zunehmend in eins gesetzt würden. Diese Entwicklung, die sie gerade auch im pädagogischen, insbesondere im schulpädagogischen Zusammenhang für virulent erachtet, bedeute eine »Engführung von kultureller Identität auf das Religiöse«. Türkisch-, kurdisch- oder arabischstämmige Menschen würden sehr pauschal und undifferenziert dem »islamischen Kulturkreis« zugeordnet, der als Hintergrundfolie zur Interpretation für Verhalten oder Konfliktsituationen herangezogen werde. Nun haben sich seit der Erschütterung der westlichen Welt durch die Terroranschläge auf das World Trade Center in New York im Jahr 2001 durch islamistische Attentäter die Spannungen zwischen der sogenannten islamischen und der westlichen (das meint der nicht-islamischen) Welt verschärft. Vor diesem Hintergrund ist von einer deutlich veränderten weltpolitischen Lage zu sprechen, die »Religion […] wieder ins Rampenlicht der Öffentlichkeit gebracht (hat). Dabei wird die Sichtbarkeit einer konservativ-fundamentalistischen Spielart des Islam, des sogenannten Islamismus, zum Anlass genommen, die weltpolitischen Konflikte unter dem Zeichen eines ›Kampfes der Kulturen‹ zu lesen, und der Religion wird oft die Rolle eines zentralen konfliktiven Faktors zugewiesen« (Soeffner/Matter 2009: 751). Die Zugehörigkeit zum Islam ist seither zu einem noch bedeutsameren Differenzmerkmal in politischen, sozialen, mitunter auch ökonomischen Auseinander-
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setzung geworden1 Dieses scheint, Denk- und Interpretationsweisen mehr und mehr zu beeinflussen. Dabei sieht es ganz so aus, als mache die Unterscheidung nach religiöser Zugehörigkeit – ob als Selbst- und Fremdbeschreibung – im Kontext der deutschen Einwanderungsgesellschaft jener anderen sozial äußerst wirksamen – vielfach jedoch kritisch bewerteten, weil häufig allzu pauschal verwendeten – Unterscheidung nach Kultur zunehmend Konkurrenz. Hat in den europäischen Einwanderungsgesellschaften vor allem das Merkmal Kulturdifferenz – zumeist in einer Verkürzung als National-Kultur – die bislang dominante Rolle gespielt, wenn es um die Beschreibung des jeweiligen gesellschaftlichen Mehr- und Minderheitsverhältnisses ging, so hat die Kategorie Religionszugehörigkeit zum Islam spätestens seit dem September 2001 an sozialer Relevanz gewonnen. Und es ist Karakaolu zuzustimmen, wenn sie konstatiert, dass die beiden Kategorien in unterschiedlichen Verwendungskontexten zunehmend ineinanderfallen. Häufig werden sie in einem Atemzug genannt, um das Verhalten von Menschen mit Migrationshintergrund, insbesondere mit türkischem, zu erklären. Ebenso werden sie aus Sicht der Mehrheitsgesellschaft herangezogen, um Distanzierungen von Einwandererpopulationen zu begründen oder aber um generell Problemdeutungen und Welterklärungen in Sachen Einwanderung anzubieten. Das Differenzproblem, das nun als religiöse Inkompatibilitäten codiert erscheine, so Karakaolu (2009: 187), entlaste marginalisierende und diskriminierende Strukturen der Institutionen und verorte Verantwortlichkeiten für soziale Probleme im Kontext von Einwanderung allein aufseiten der Migranten selbst. In weit verbreiteten, stereotypen und verkürzten Deutungen gerade der »Geschlechterverhältnisse im Islam« finden solche Verengungen vielsagend Ausdruck. Dabei sind Verkürzungen dieser Art nicht neu, sondern seit mehr als zwei Jahrzehnten in der Bundesrepublik im Umlauf – bei variierenden Ausgangspositionen, Motiven und Adressaten. Immer wieder scheint alles, was als Fremdheit, Kulturkonflikt oder kulturbedingte Probleme des Zusammenlebens bezeichnet wird, in den Geschlechterverhältnissen zu kulminieren. Hintergründe, wechselnde Perspektiven und Debatten zu diesem Problemzusammenhang werden daher in einem ersten Schritt rekonstruiert, gegenübergestellt und eingeordnet (1), denn sie tragen bei zu einem spezifischen Klima im Umgang mit Differenz, welches das Aufwachsen von Kindern und Jugendlichen aus gesellschaftlichen Minderheiten unter den von der Mehrheit 1 In diesem Zusammenhang ist in postkolonialer Theorieperspektive von einem »antiislamischen Diskurs«, ja sogar einem »antiislamischen Rassismus« (vgl. Castro Varela/Dhawan 2006, S. 427) die Rede.
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definierten Bedingungen ausmacht. Im zweiten Schritt wird vor diesem Hintergrund eine Szene beleuchtet, die dem Beobachtungsprotokoll einer ethnografischen Studie entstammt. Sie dokumentiert den interaktiven Umgang mit ethnischer Differenz in einer Spielsituation junger Kinder in einem Kindergarten (2). Obwohl die zuvor unternommene Analyse des gegenwärtigen diskursiven Klimas in der deutschen Einwanderungsgesellschaft und die Interpretation der beobachteten Szene nicht in einem Kausalzusammenhang zu sehen sind, erscheint es erhellend, die beiden Perspektiven ins Verhältnis zueinander zu setzen, um auf Modi der Konstruktion von Differenz entlang der Kategorien ›Nationalität‹, ›Kultur‹ und ›Religion‹ sowie mithin auf mögliche Bedingungen des Aufwachsens von Kindern aufmerksam zu machen.
1. Zur »Muslimisierung« türkischer Einwanderinnen – aktuelle und zurückliegende Konstruktionspraxen In den letzten Jahren drängen populärwissenschaftliche Darstellungen auf den Markt, die einen spezifischen Typus von Literatur hervorgebracht haben. Autorinnen mit Migrationshintergrund wie Necla Kelec (2005), Seyran Ate (2006, 2007), Ayaan Hirsi Ali (2006), die populärsten Vertreterinnen dieses Genres, aber auch andere Autorinnen äußern sich zumeist ausgehend von autobiografischen und migrationsbiografischen Erfahrungen in frauen- und emanzipationspolitischer Absicht. Sie beschreiben ihre persönliche Emanzipation als Frau aus restriktiven und patriarchalen Familienverhältnissen und kritisieren diese als eine dem Islam verpflichtete, von ihm dominierte Kultur. Den Islam2 erachten sie als frauenfeindlich und Gewalt evozierend wie Gewalt verklärend – auch gegenüber Kindern. Integrationsprobleme der Zuwanderer aus der Türkei oder aus überwiegend muslimischen Ländern werden auf deren religiöse Bindungen und daraus abgeleitete Lebensweisen zurückgeführt. Eine daran geknüpfte Rückständigkeit, welche Kultur und Religion kausal ins Verhältnis zueinander setzt, wird behauptet – auch im Kontext geschlechtsspezifischer Erziehung in den Familien (vgl. Kelek 2007).3 Hinter religiösen Argumenten verschanzt, verberge sich die Unwilligkeit vieler Einwanderer zur Integration – so ein häufig vorgebrachtes 2 In dieser undifferenzierten und pauschalen Benennung wird eine Entität suggeriert, die so keinesfalls existiert. Was als »Islam« bezeichnet wird, ist ein komplexes, in sich stark differenziertes und zugleich weit verzweigtes Glaubenssystem. In diesem Verständnis findet der Begriff »Islam« im Folgenden weiter Verwendung. 3 Dieses Buch »Die verlorenen Söhne« versteht Kelek als Plädoyer für die Befreiung des türkischislamischen Mannes, wie es im Untertitel heißt.
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Argument dieser Autorinnen. Wie unangemessen diese Behauptungen sind, belegen empirische Studien, welche die Erziehungsvorstellungen junger Muslime differenziert untersuchen (vgl. Karakaolu/Öztürk 2007). Derzeit stößt diese Textsorte auf große Zustimmung in der Medienöffentlichkeit wie in pädagogischen Fachkreisen, etwa unter Lehrerinnen. Sie scheint, wie sich immer wieder feststellen lässt, in hohem Maße meinungsbildend zu sein. Dabei ist wohl auch von einem gewinnbringenden Marktsegment zu sprechen, blickt man auf die stetig wachsende Zahl an Neuerscheinungen und den sich zunehmend erweiternden Kreis der Autorinnen. Sicherlich wäre es erhellend, die Verkaufsinteressen der Verlage an diesem literarischen Typus sowie dementsprechende Marketingstrategien einer gesonderten Analyse zu unterziehen. Eine solche würde vermutlich zutage bringen, in welch gravierendem Maß das Publikationsverhalten der Verlage von dem Interesse an einer nicht allzu großen Differenziertheit der Schilderungen begleitet werden. Der »Appetit für das Andere« habe in den letzten Jahrzehnten im Westen zugenommen, so María do Mar Castro Varela und Nikita Dhawan (2006: 436, Herv. i.O.), und werde vom Markt – durchaus gewinnbringend – gesättigt, indem exakt die Bilder geliefert würden, die die Mehrheit sehen wolle. »Die Differenz ist es schließlich, die sich verkauft und zwar am besten, wenn die Andere sie selbst anbietet« (ebd., Herv. i.O.). So auch im Falle der genannten Autorinnen, die als eingebürgerte Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft auf ihre Migrationserfahrungen und die Migrationsgeschichte der Elterngeneration verweisen. In einer etwas ironisierenden Bezugnahme auf die sogenannte »Misery Lit« (MisLit) in England, die von Gina Thomas (FAZ v. 4.12.2008) als »autobiographische Unglücksliteratur« bezeichnet wird, als »ein Sammelbegriff für eine Flut von autobiographischen Büchern (über) in der Regel traumatische Kindheitserfahrungen und deren Überwindung«, möchte ich in diesem Zusammenhang von »Migrantinnen-Literatur (MigLit)« sprechen. Sie hebt ebenso auf dramatisch beschriebene Schicksale einzelner Frauen ab, denen es gelingt, sich aus den Fängen gewalttätig handelnder Väter, Brüder und Familienmitglieder zu befreien, welche sich auf eine dem Islam verpflichtete Kultur und Tradition beriefen, und sich ein eigenständiges Leben nach westeuropäischem Vorbild aufzubauen. Demgegenüber rekonstruiert Priska Furrer (2003) das Entstehen eines neuen literarischen Genres in der Türkei, das gleichsam als Gegenentwurf gelten kann. Seit den 1980er- und 1990er-Jahren entwickele sich dort parallel zum säkularen Buchbetrieb ein islamischer Buchsektor mit eigenen Verlagen und Vertriebswegen. Neben religiösen Traktaten und Sachbüchern produziere er eine spe-
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zielle, wenig anspruchsvolle und wenig differenzierte Romanliteratur, die sich an ein weibliches Publikum wende. Die Rede ist vom islamischen Frauenroman, welcher Belehrung und Erbauung über das erzählerische Grundmuster – die laizistische junge Frau auf ihrem Weg zu einer (selbst-)bewussten islamischen Identität (vgl. ebd.: 227f.) – verbreite. Aber auch in der deutschen Einwanderungsgesellschaft scheint sich gerade ein neues, weiteres Literaturgenre im Kontext von Einwanderung auf dem Buchmarkt zu entwickeln. Dieser literarische Typus ist durchaus als ein Gegenentwurf zur gerade definierten MigLit zu begreifen und positioniert sich als ein weiterer, wenn auch noch wenig verbreiteter ästhetischer Ausdruck der Einwanderungssituation. Hier vermitteln junge Frauen, für die Einwanderung ebenfalls zur Familien- oder Autobiografie zählt, (selbst-)ironisch, humorvoll und in großer Gelassenheit ihre Geschichte(n) (vgl. Akün 2005; Alanyali 2006; Sezgin 2006). Sie problematisieren nicht jenes von der Mehrheitsgesellschaft zugewiesene und mitunter larmoyant aufgegriffene »Zwischen-den-Kulturen-Motiv«, sondern verteidigen ein lebensfrohes und polyglottes Lebensgefühl – auf der Grundlage einer Selbstverortung, die sie in zwei Kulturen ansiedelt. Es handelt sich bei diesen Autorinnen in aller Regel um Journalistinnen und Redakteurinnen. Auch sie bringen wie die der MigLit zum Ausdruck: Wir haben es geschafft, in der modernen Aufnahmegesellschaft anzukommen. Dies vermitteln sie ohne den erzählerischen Rückgriff auf die Opferposition. Ein analytischer Blick auf die Textsorte der sogenannten MigLit fördert deren zentrale Strukturmuster zutage: Zumeist stehen autobiografische Erinnerungen an die Lebensbedingungen der Eltern und Großeltern in den Herkunftsländern am Anfang der Darstellungen. Diese beginnen mit dem Leben im Dorf in unerschlossenen, weit abgelegenen Regionen der Türkei oder nach der Binnenwanderung vom Lande in die großen Städte. Es werden schwierige Lebens- und Wohnbedingungen, etwa in den Gecekondus,4 geschildert, welche dann die Arbeitsmigration mindestens eines Elternteils nach Deutschland nach sich zogen. Die Kinder blieben unvorbereitet und uninformiert bei Verwandten zurück, wo sie zum Teil unter äußerst problematischen Bedingungen und voller Sehnsucht nach den Eltern häufig Jahre verbringen mussten. Necla Kelek (FAZ v. 13.6.09) spricht davon, dass sie und ihre Geschwister im anatolischen Dorf bei der Großmutter »geparkt« worden seien. Was hier geschildert wird, lässt erahnen, wie traumatisch viele Kinder die Migration ihrer Familie haben erfahren müssen.
4 Die Armenviertel der großen Metropolen in der Türkei, die über Nacht entstehen und von den Binnenmigranten aus den ländlichen Gebieten bevölkert werden.
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Familien- und einzelbiografisch werden Aufwachsensbedingungen beschrieben, die unter pädagogischen und bindungstheoretischen Gesichtspunkten als belastend zu bewerten sind. Binnenmigration, Arbeitsemigration, Armut und Zwistigkeiten innerhalb der weiteren Herkunftsfamilien, zeitweise Trennungen innerhalb der Kernfamilien, das Zurücklassen der Kinder bei Verwandten – dies sind die in diesen Texten wiederkehrenden Narrative, die den Charakter eines Vorspiels für die eigentlichen Kernaussagen der Texte haben – so insbesondere bei Necla Kelec (2005) und Seyran Ate (2006). Als weiteres (auto-)biografisches Strukturmuster der MigLit wird die Unfähigkeit der Eltern beschrieben, mit dem neuen Leben im Zielland zurechtzukommen, sich mit den neuen Lebensbedingungen zu arrangieren – und zwar jenseits der monetären Ambitionen, welche den Anlass für die Arbeitsmigration gaben. Rückwärtsgewandtheit und eine langsame Erstarrung der Eltern in den vermeintlich zu bewahrenden mitgebrachten Auffassungen oder die explizite, durch die Wanderung z.T. erst ausgelöste Hinwendung zu angeblich herkunftskulturellen Sitten und Gebräuchen werden stereotyp als Erfahrungen erzählt, unter denen vor allem die Töchter der Familien zu leiden gehabt hätten. Als einen zunehmenden Abschottungsprozess gegenüber der Aufnahmegesellschaft beschreiben die Autorinnen das Verhältnis ihrer Familien zur Mehrheitsgesellschaft. So spricht z.B. schon die Kapitelüberschrift: »Vom ›Gastarbeiter‹ zum ›Muslim‹« (Ate 2007: 20) im Sinne einer Islamisierung der Migration für sich. Mit fortschreitendem Alter der Töchter, so das gängige Argument, seien diese von den Eltern in ihren Entfaltungsspielräumen immer stärker reglementiert worden. Gewalterfahrungen in den eigenen Familien oder innerhalb der ethnischen Community5 gehören ebenso wie die Aufzählung aller Topoi der öffentlichen Debatte, die den Zusammenhang von Islam und Einwanderung kennzeichnen – Ehrenmorde, Zwangsheirat, »Importbräute« etc. – zu den wiederkehrenden Erzählmustern dieses literarischen Genres. Während Seyran Ate in ihrem Buch: »Große Reise ins Feuer« (2006) sehr nah an ihrer eigenen Biografie argumentiert – die Loslösung vom restriktiven Elternhaus, die Politisierung in der feministischen Migrantinnenszene Berlins sowie das traumatische Erlebnis des Attentats, das auf sie mit fast tödlichem Ausgang von einem den Grauen Wölfen nahestehenden Türken verübt wurde, ihr Weg zur Anwältin vor allem für Einwanderinnen –, nutzt Necla Kelek in ihrem ersten Bestseller »Die fremde Braut« (2005) autobiografische Elemente eher als Aufhänger, um davon 5 Bei Ate (2006, S. 239) findet sich der ungeheuerliche Satz: »Überhaupt scheint die Bereitschaft, jemanden umzubringen, bei Türken und Kurden eher ausgeprägt zu sein als bei anderen europäischen Menschen«.
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ausgehend immer wieder zu allgemeinen Reflexion über den Islam, etwa im Kapitel »Der Prophet und die Frauen oder Wie der Schleier trennt« (ebd.: 148ff.), über die »türkisch-islamische Kultur« oder die türkische Geschichte auszuholen. Als promovierte Soziologin präsentiert sich Necla Kelek immer als Wissenschaftlerin. Ähnlich geht Seyran Ate vor in ihrem Buch: »Der Multikulti-Irrtum. Wie wir in Deutschland besser zusammenleben können«, das im Jahr 2007 erschienen ist. Hier stellt sie vor allem sozial-, bildungs- und integrationspolitische Überlegungen allgemeiner Art an, die sie mit biografischen Details und Erfahrungen durchwirkt. Diese sollen, abgesehen von den zitierten Fakten und Daten, wohl einer persönlich-empirischen Untermauerung der Argumente dienen. Neben Anklagen gegenüber den Herkunftsmilieus enthalten beiden Bücher kämpferisch vorgetragene Vorwürfe gegen die Aufnahmegesellschaft. Dem Tenor nach konstatieren sie deren Versagen, weil sie eine falsch verstandene Toleranz gegenüber den Einwanderern praktiziere, indem sie Rechtsbrüche gegenüber Frauen und Mädchen sowie deren Ungleichbehandlung mit dem Verweis auf die an Religion gebundenen Sitten und Gebräuche in der anderen Kultur relativiere und mithin die demokratischen Grundrechte der Bundesrepublik verrate. Ate (2007: 9) ordnet ihr Buch ein als »ein Plädoyer für ein friedliches und respektvolles Zusammenleben, das auf Verbindlichkeit und Gegenseitigkeit basiert – auf echter Toleranz. Wirkliche Toleranz bedeutet, dass man den anderen, sein Umfeld und seine Kultur kennt und akzeptiert. Sie ist das Gegenteil von Gleichgültigkeit und Ignoranz«. Unter der Kapitelüberschrift »Die Toleranz der Deutschen« heißt es bei Kelek (2005: 245): »Es gibt die besonders unter bundesdeutschen Linken und Liberalen verbreitete Auffassung, das Kopftuch sei ebenso harmlos wie seinerzeit die lila Latzhose in den Anfängen der Frauenbewegung. Auch das Kopftuch wolle schlicht ein Anderssein dokumentieren, es sei ein Zeichen der kulturellen Identität, mit dem sich junge Musliminnen gegen die Mehrheitsgesellschaft abgrenzen wollten. In anderen Worten: Es sei eher als ein Symbol der Rebellion gegen den Anpassungsdruck der sie umgebenden Gesellschaft zu verstehen«. Beide Zitate stellen Argumente dar, die – und dies sei hier nachdrücklich betont – allererst in frauenpolitischer und emanzipatorischer Absicht für die Gleichberechtigung und gegebenenfalls »Befreiung« (muslimischer) eingewanderter Frauen und ihrer Töchter plädieren. »Warum gönnt man«, so fragt Seyran Ate (2007: 135), »den Musliminnen die Errungenschaften der weltweiten Frauenbewegung nicht? Wir fordern die Gleichberechtigung von Mann und Frau, und zwar über das Lippenbekenntnis hinaus, dass alle Menschen vor Allah
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gleich seien. Als Feministin geht es mir bei dieser Debatte daher um nichts anderes als um dieses Grundrecht auf Gleichberechtigung der Geschlechter«. Argumentationsmuster dieser Art finden sich in den Publikationen der MigLit wiederkehrend. Gleichwohl sind sie nicht neu, denn vergleichbare Aussagen speisten eine fach- und professionsspezifische Debatte, die ihren Ausgang im Jahr 1978 mit einem Buch der Autorinnen Andrea Baumgartner-Karabak und Gisela Landesberger nahm: »Die verkauften Bräute. Türkische Frauen zwischen Kreuzberg und Anatolien« (vgl. rekonstruierend und kritisch: Diehm 1999; Beck-Gernsheim 2004). Als Akteure jener Debatte traten damals Sozialpädagoginnen auf, welche zugewanderte Frauen, die Ehefrauen und Töchter der sogenannten Gastarbeiter ebenfalls als Opfer des Migrationsprozesses und mithin als Adressatinnen sozialpädagogischer Integrations- und Befreiungsbemühungen beschrieben. Schon die damals verbreiteten Darstellungen des Lebens der Migrantinnen im Aufnahmeland Bundesrepublik in ihren als patriarchalisch strukturiert beschriebenen Familien enthielten Argumentationsfiguren, die denjenigen der heutigen MigLit in verblüffender Weise ähneln. Auch damals wurde die Herkunftskultur der Einwanderinnen als rückständig, antimodernistisch und durch den Islam überformt beschrieben. Argumentationstechnisch und -strategisch wurde vor allem mit Gegenüberstellungen gearbeitet: hier die moderne und befreite Europäerin, dort die rückständige und unterdrückte Einwanderin und Muslima aus der Türkei. Die auf diese Weise betriebene Viktimisierung der eingewanderten Frauen führte zu einem sozialpädagogischen Klientelismus, der schon früh einer selbstkritischen Betrachtung unterworfen wurde (vgl. Hebenstreit 1986; Lutz 1991; Gümen 1995/1996). Es würde zu weit führen, die Argumentationsgänge dieser sozialpädagogischen Ent-Fremdungsmechanismen, aber auch der Kritik daran, die aus den eigenen Reihen kam, zu wiederholen. Festzuhalten bleibt, dass sich die Konstruktion der Anderen im Falle der eingewanderten Frauen in einem komplizierten Prozess gegenseitiger Befeuerung der Differenzkategorien Geschlecht und Ethnizität6 vollzog. In der Figur der ›fremden Frau‹ verdichtet sich also Differenz nicht einfach nach dem Muster der Verdoppelung. Vielmehr wird sie – ganz im Sinne einer intersektionalen Theorieperspektive (vgl. Winker/Degele 2009) – aufgebaut zu einem wirkmächtigen und in seine Einzelaspekte kaum noch zu zerlegenden Konstrukt, das seinem Effekt nach allererst der Aufrechterhaltung sowohl der hierarchischen und machtvollen zwei-
6 Nach Max Weber (1956) schließt der Ethnizitätsbegriff ›Kultur‹, ›Nationalität‹ und ›religiöses Bekenntnis‹ ein.
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geschlechtlichen Geschlechterordnung wie auch der sozial-ethnischen Ordnung dient (vgl. detaillierter Diehm 1999). Ein Vergleich der damaligen und der aktuellen Debatte um kulturell bzw. religiös differente Weiblichkeit fördert Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Hinblick auf Motive und Interessen, auf Adressaten sowie auf Effekte zutage: Bereits vor mehr als dreißig Jahren haben Autorinnen aus der Mehrheitsgesellschaft unter professionsspezifischen Vorzeichen Weiblichkeitskonstruktionen produziert, die national-kulturelle und religiöse Differenz in eins setzten. Die damals ins Spiel gebrachten Argumente weisen einen strukturhomologen Duktus zur heutigen Debatte auf. Anders ausgedrückt: Die Argumente, welche die Autorinnen der MigLit vorbringen, verhalten sich zu jener zurückliegenden Debatte, deren Betreiberinnen Sozialpädagoginnen waren, wie ein Spiegelbild – nun jedoch nicht mehr vor dem Hintergrund eines sozialpädagogischen Paternalismus, oder besser: Maternalismus, sondern (ehemals) Betroffene treten als Anklägerinnen auf, deren Stimme Authentizität qua autobiografischer Erfahrung repräsentiert und reklamiert. Die Problematik der Repräsentanz – Wer spricht für wen? Wer darf die Opfer patriarchaler Gewalt vertreten? Wer für sie eintreten? – tritt gerade in der aktuellen Debatte um die MigLit als Komplexität steigerndes Moment hinzu. Waren es während der 1970er- und 80er-Jahre die Fremdbeschreibungen pädagogischer Fachkräfte, so geht es nun um Selbstbeschreibungen, besser: um Selbstermächtigung. Vertreterinnen mit eigenem Migrationshintergrund erheben ihre Stimme sowohl gegen die Migrantenmilieus, denen sie selbst entstammen, wie gegen Teile der Mehrheitsgesellschaft. Dies – so Castro Varela/Dhawan (2006: 436, Herv. i.O.) in postkolonialer Perspektive – erzeuge Probleme. Hier drohe die »bekannte Falle«, in welche die Politik der Repräsentation schnell tappe: »Die authentische Stimme spricht und sagt das, was die Mehrheit hören will. In diesem Moment verquickt sich ein hegemoniales Zuhören, welches nur das hört, was die dominanten Verhältnisse stabilisiert mit der Forderung der politisch Minorisierten für das Recht auf eine eigene, eben authentische Stimme«. Weder bei den sozialpädagogischen Veröffentlichungen zu den »fremden Frauen« (vgl. hierzu auch Huth-Hildebrandt 2002) noch bei denen, die ich zur MigLit rechne, handelt es sich um wissenschaftliche, sondern – wenn überhaupt – um populär- oder quasi-wissenschaftliche Darstellungen,7 die, im Falle der 7 Die Forderung von Castro Varela/Dhawan (2006: 436f.), die sich an die »westliche Wissenschaft« richtet und »Herrschaftskritik« erwartet angesichts jener »gewaltvollen Unterscheidung zwischen wissenschaftlichen und nicht-wissenschaftlichen Diskursen«, habe ich sehr wohl im Blick. Wenn ich dennoch beim besten Willen nicht umhin komme, die zitierte Literatur als nicht-
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MigLit, aus Sicht der Verfasserinnen wie vieler Rezipienten offenbar eine autobiografische Beglaubigung durch persönliche Narrative erfahren (sollen). In beiden Fällen sind politische Motive und emanzipatorische Interessen erkennbar, die die Autorinnen angetrieben haben bzw. antreiben. Die Sozialpädagoginnen vor mehr als zwanzig Jahren waren, abgesehen von dem professionsbezogenen Interesse, eine neue Klientel zu erschließen, in starkem Maße auch frauen- und emanzipationspolitisch motiviert – nicht zuletzt durch die im Anschluss an die Studentenrevolte von 1968 erstarkte Frauenbewegung. Entsprechend sind Motive der Autorinnen der MigLit, wie bereits vorne durch Zitate belegt, zu sehen. Dies verhilft ihren Schriften – so undifferenziert und pauschal die Argumente auch daherkommen mögen – in meinen Augen doch zu einer gewissen Dignität. Das heißt: Eine Anerkennung dieser Motivlage wird erleichtert durch die analytische Unterscheidung von Politik und Wissenschaft als zwei unterschiedlichen Teilsystemen mit je unterschiedlichen Systemlogiken. Entsprechend unterscheiden sich die jeweils in Anspruch genommenen argumentativen Mittel. Sind im Kontext von politischen Interessenkämpfen – um deren Durchsetzung geht es schließlich – holzschnittartig vorgetragene Argumente, auch unter dem instrumentellen Einsatz wissenschaftlicher Expertise, durchaus schon einmal opportun, muss es hingegen im Bereich der Wissenschaft um die Plausibilisierung von Erkenntnis gehen, der durch das gute Argument Gültigkeit zu verleihen ist. Die argumentativen Mittel, welche die Autorinnen der MigLit gewählt haben, entsprechen aufgrund ihrer Kurzschlüssigkeit, ihrer Generalisierungen und Pauschalisierungen sowie ihren Ungenauigkeiten keineswegs einem wissenschaftlichen Vorgehen. Gleichwohl wird hierfür, etwa von Necla Kelek, Wissenschaftlichkeit beansprucht. Im Hinblick auf ihre Bücher aus den Jahren 2005 und 2007, die der MigLit zuzuordnen sind, erscheint dieser Anspruch in meinen Augen jedoch als ungerechtfertigt. Wer die MigLit an wissenschaftlichen Ansprüchen misst, macht m.E. einen Kategorienfehler.8 Das politische Anliegen der Autorinnen nun zielt auf die Überwindung von Gewalt- und Zwangserfahrungen der Frauen und Mädchen in Einwanderercommunitys ebenso wie auf die Überwindung von Ignoranz aufseiten der Mehrheitsgesellschaft jenen Erfahrungen gegenüber. Obschon die unzulässigen Kurzwissenschaftlich zu kategorisieren, geschieht dies zwar in Anerkennung dieses kritischen Einwandes, der m.E. in diesem Fall jedoch nicht greift. 8 Dieser Kategorienfehler ist m. E. den Unterzeichnerinnen und Unterzeichnern einer Petition vom 1.2.2006 in DIE ZEIT gegen die genannten Autorinnen und die Rezeption ihrer Schriften in Politik und Medien unterlaufen. Sie wollten darauf aufmerksam machen, dass sich die deutsche Integrationspolitik auf Vorurteile stütze, die in ebenjenen Texten vorgetragen würden (vgl. www.zeit.de/2006/06/Petition).
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schlüsse von Religion und Kultur, von Religion und Nationalität sowie die Generalisierung autobiografischer Erfahrungen in den Publikationen der MigLit als »stereotype, hegemoniale Darstellungen des Islams« zurückzuweisen sind (vgl. Castro Varela/Dhawan 2006: 427, 429, Herv. i.O.), sollten gleichwohl »die Kontinuitätslinien freigelegt werden, die in den westlichen Metropolen dazu führen, dass die Gewalt an Frauen und Kindern, die innerhalb migrantischer Gemeinschaften stattfindet, verschwiegen wird oder dazu genutzt wird, ethnisierte Gruppen in kolonialer Manier zu beschreiben und gewaltvoll zu regieren«. Castro Varela/Dhawan (ebd., S. 428) sprechen in diesem Zusammenhang von einer »aktuellen Widerspruchslandschaft«, in der ein »gewaltvolles Schweigen« (re-) produziert werde, hervorgebracht als »charakteristische Gewaltformen« durch »spezifische Machtdynamiken an den Linien kolonialer/Mehrheits- bzw. nationaler/migrantischer Diskurse […]«. Als eine Gewaltform zu werten wäre mithin auch die Verharmlosung von Gewalt in Migrantenfamilien, für die es empirische Evidenzen gibt (vgl. BMFSFJ 2005).9 Neben den genannten frauen- und gleichstellungspolitischen Gründen wären dahingehende Verharmlosungsstrategien und Praktiken des Verschweigens auf längere Sicht auch unter integrations- und familienpolitischen Gesichtspunkten kontraproduktiv. Denn demokratische Grundrechte gelten für alle Bevölkerungsgruppen: Frauen, Kinder und Minderheitenangehörige. Unter diskriminierungstheoretischen – und damit freilich wiederum unter integrationspolitischen – Gesichtspunkten erscheinen die durch die MigLit vorgetragenen Argumente und Forderungen gleichwohl brisant. Sie treffen nämlich bei vorurteilsbehafteten Rezipienten auf entgegenkommende Strukturen und sind dazu geeignet, Vorurteile zu schüren und jenen in die Hände zu arbeiten, die mit Blick auf Minderheiten und Einwanderer vor allem assimilative Erwartungen artikulieren oder gar feindselige Gefühle hegen. Die MigLit, wie ehedem die sozialpädagogische (Fach-)Literatur zur »Fremden Frau«, krankt an einem unhaltbaren Kulturalismus, einem alles dominierenden kulturbezogenen Reduktionismus, der sich – im Rückgriff auf die intersektional zusammenwirkenden Differenzkategorien Religion und Geschlecht (vgl. Winkler/Degele 2009) Nachdruck und Legitimität zu verschaffen versucht. Die Wirklichkeit der Einwanderersituation wird in dieser Perspektive für alle Beteiligten eindimensional über Kulturdifferenz, Geschlechterdifferenz und religiöse Differenz erklärt, wobei sich die Komponenten gegenseitig verstärken. Auf
9 Eine repräsentative Befragung von mehr als 10.000 Frauen sowie Teilerhebungen unter türkischen und osteuropäischen Frauen brachten deren erhöhte Gewalterfahrungen zutage.
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diese Weise findet eine diskursive Inszenierung von Religion im Zusammenspiel mit (National-)Kultur statt. Dass es im Zuge dieses Diskurses um ›Religion‹ kaum jedoch um ›Religiosität‹ geht, erscheint als interessanter Verweis auf die zugrunde liegenden Referenzen und Konstruktionen. »Für das westliche Verständnis von Religion in einem weiteren Sinn ist die Unterscheidung von Religion und Religiosität in den vergangenen 200 Jahren wichtig geworden. Während der Begriff ›Religion‹ auf die Institution abzielt, fasst ›Religiosität‹ die subjektive Befindlichkeit des Gläubigen« (Soeffner/Matter 2009, S. 748). Wenn, wie im Fall der MigLit, bevorzugt von ›Religion‹ die Rede ist, markiert dies eine einseitige Bezugnahme auf das Kollektiv – in diskriminierungstheoretischer Sicht möglicherweise auch ein Festhalten am Kollektiv. Hier geht es nicht um die Religiosität der einzelnen Person, wie sich sehr deutlich im sogenannten Kopftuchstreit zeigt (vgl. Karakaolu 2006; von Braun/Mathes 2007). Jungen Musliminnen, die das Kopftuch als Ausdruck ihrer Religiosität auffassen und anerkannt haben möchten, wird dieses Motiv im öffentlichen und politischen, auch frauenpolitischen Diskurs häufig abgesprochen. Dies geschieht mit Argumenten, die das Kopftuch als Symbol der Religion, des Islams, interpretieren und seine Begründung jenseits individueller Entscheidungsprozesse ansiedeln. Damit lässt sich die Lesart, die den Islam als anti-modern einordnet, aufrechterhalten und perpetuieren, was einen weiteren Beitrag zur Ent-Fremdung der Anderen leistet.
2. Die Freundinnen – eine Fallrekonstruktion im Kindergarten Für die erziehungswissenschaftliche Subdisziplin Interkulturelle Pädagogik und ihre Handlungsfelder in Früh- und Elementarpädagogik liegt kaum empirisches Wissen darüber vor, was die zu Erziehenden, die zu Bildenden, die Heranwachsenden an Vorerfahrungen und Interessen im Hinblick auf ethnisch codierte Differenz mitbringen, bevor wir ihnen mit Pädagogik begegnen. Wir können bislang nur sehr begrenzt Aussagen darüber machen, wie Kindergartenkinder im Alter von drei bis sechs Jahren die ethnisch plurale Umwelt ihrer Einrichtung sehen, wie sie sich aktiv handelnd mit ihr auseinandersetzen. Auch haben wir kaum Kenntnis darüber, inwieweit Ethnizität in interaktiven Praktiken der Kinder untereinander im Alltag ihrer Kindertagesstätte vorkommt. Unsere Bielefelder Forschung10 setzt an diesem Defizit an. Wir richten unser Interesse darauf zu erfahren, wie junge Kinder innerhalb des institutionellen 10 Zum Forschungsteam gehören Melanie Kuhn und Claudia Machold, neuerdings auch Vanessa Below.
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Kontextes ihrer Erziehungs- und Bildungseinrichtung Kindergarten ethnische Unterscheidungen nach Nationalität, Kultur, Religion, Sprache oder Phänotypus prozessieren, thematisieren, nutzen, einsetzen – oder auch nicht berücksichtigen. Um die aufgezählten Wie-Fragen zu beantworten, bedarf es qualitativer Forschungszugänge. Diese erlauben es, die situativen Kontexte, in welche die kindlichen Interaktionen eingebettet sind, analytisch zu berücksichtigen. Unser Interesse richtet sich darauf zu erfahren, inwieweit ethnische Unterscheidungen für die Kinder selbst bedeutsam sind, ob sie in ihren Augen überhaupt eine, und wenn ja, welche Rolle sie spielen. Es geht uns also darum, die Perspektive der Kinder auf ›Ethnizität‹ rekonstruktiv offenzulegen und zu verstehen. Das Theorem des ›Doing ethnicity‹ bildet für uns in Anlehnung an das sozialkonstruktivistische und ethnomethodologische Theorieangebot des ›Doing gender‹ der Geschlechterforschung (vgl. West/Zimmerman 1987; West/Fenstermaker 2001) den theoretischen Ausgangspunkt. Wir gehen davon aus, dass die soziale Relevanz von ethnischen Unterscheidungen interaktiv und performativ hervorgebracht und dabei den Unterscheidungen selbst auf diesem Wege immer erneut Bedeutung verliehen wird. Zugleich betrachten wir – in Anlehnung an die neuere sozialwissenschaftliche Kindheitsforschung – Kinder als kompetente Akteure, die ihre soziale Wirklichkeit aktiv und eigensinnig gestalten. Vor diesem theoretischen Hintergrund lassen sich Interaktionspraxen beschreiben, die Hinweise auf Aneignungs-, Lern- und Sozialisationsprozesse aufseiten der Kinder geben können im Sinne ihrer Re-Produktion der sozial vorfindbaren ethnisch codierten Differenz. Gleichzeitig verweisen sie auf soziale Ordnungsbildungsprozesse, denn auch die kindlichen Interaktionen sind eingebettet in soziale Relevanz- und Ordnungsstrukturen einer machtvollen sozial-ethnischen oder auch ethnisch-religiösen Ordnung. Es geht um die Rekonstruktion kindlicher Inklusions-, Exklusions- und Distinktionspraxen entlang ethnischer Unterscheidungen in Anbetracht je spezifischer Ordnungsverhältnisse, wie sie im Verlauf alltäglicher Interaktionen in den Kindergruppen der Tageseinrichtung sichtbar werden. Teilnehmende Beobachtung im Zuge eines ethnografischen Feldzugangs ist das Mittel der Wahl und erlaubt uns, situierte Interaktionspraxen interpretativ zu rekonstruieren (vgl. Diehm/Kuhn 2005; Diehm/Kuhn 2006, zu den methodologischen Schwierigkeiten: Diehm/Kuhn/Machold i.E.). Die folgende Szene entstammt einem Beobachtungsprotokoll, sie kann als interaktive Inszenierung ethnischer Differenz seitens der Kinder gelesen werden: Nach dem Mittagessen spielt ein Teil der Kinder auf dem Außengelände. B. (wbl., 6 Jahre alt mit indischem Migrationshintergrund), R. (wbl., 4 Jahre alt, mit türkischem Migrationshintergrund) und S. (wbl., 4 Jahre alt, mit türkischem Migrationshintergrund) spielen schon seit geraumer Zeit
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gemeinsam an immer wieder wechselnden Stellen im Hof, sie schaukeln, dann gehen sie zum Klettergerüst, später ziehen sie sich zum schwer einsehbaren Seitenstreifen des Außenbereichs zurück. Nach einiger Zeit schaut sich die Erzieherin nach ihnen um: B. und R. sitzen bei weitest möglichem Abstand nebeneinander auf der Absperrung zur Glasfront des Hauses, S. sitzt ihnen zugewandt auf der Hängematte. Keines der Kinder spricht, sie blicken sich untereinander stumm an. Die Erzieherin beobachtet das Schweigen einige Momente lang. Dann ruft sie ihnen aus ca. 5m Entfernung zu: »Na, was ist denn los mit Euch? Habt Ihr schlechte Laune?« und nähert sich ihnen. Alle drei richten ihre Aufmerksamkeit auf sie und blicken sie an, ohne ihre Sitzpositionen zu verändern. S. ergreift das Wort und entgegnet ihr: »Weißt Du, R. ist meine Freundin. Sie sagt zu mir, sie ist meine Freundin. Und ich bin ihre Freundin«. Abwechselnd schaut sie die Erzieherin und B. an und nickt während des Redens eifrig mit dem Kopf, dabei zieht sie ihre Augenbrauen nach oben. B. hält nun ihre Hände auf die Hüften gestützt, legt den Kopf schief und schaut mit zusammengekniffenem Mund zunächst S. an. Ihr Blick wandert dann erwartungsvoll zur Erzieherin. Diese versteht die Aussage von S. wohl als eine situative Ausgrenzung von B. und versucht zu vermitteln, indem sie S. stirnrunzelnd anschaut, kurz mit den Schultern zuckt und sie etwas nachdenklich fragt: »Hmm …, kann man nicht auch zu dritt befreundet sein?« S. entgegnet prompt und nachdrücklich: »Neeeein. Nur R. ist meine Freundin, nicht B. Weißt Du, ich bin türkisch, R. ist türkisch und B. ist nicht türkisch. Sie ist nur deutsch«. B. wirkt nun eher wütend als traurig, reckt ihren Kopf in die Höhe und zieht tief Luft durch die Nase, entgegnet S. aber nichts. R. folgt dem Wortwechsel aufmerksam, ohne sich selbst daran zu beteiligen. Nun zieht die Erzieherin ihre Augenbrauen hoch und fragt R. verwundert: »Ist das denn wichtig, ob jemand türkisch oder deutsch ist?« R. schaut sie direkt und offensiv an, nickt kräftig und antwortet mit einem lang gezogenen »Jaaa«, dann hält sie kurz inne, lächelt R. und B. zu und sagt: »Kommt, geh’n wir jetzt spielen!?« B. wirkt erleichtert, ihre Gesichtszüge entspannen sich, sie hüpft von der Absperrung und rennt gemeinsam mit S., dicht gefolgt von R., die etwas langsamer reagiert hat, los zum Sandkasten. Dort spielen die drei Mädchen gemeinsam weiter, bis das erste abgeholt wird. [B. wird von S. als »deutsch« kategorisiert, obwohl sie einen dunklen Teint hat und die typische Kopfbedeckung der Sikhs, bisweilen auch einen Sari trägt.]
Hier war schon etwas vorgefallen, als sich die Erzieherin langsam zu den drei Mädchen begibt, nachdem sie ihr Spiel in der Öffentlichkeit der Einrichtung, dem Freispielgelände, zu verbergen suchen und den schlecht einsehbaren Seitenstreifen aufsuchen. Schon auf fünf Meter Entfernung erkennt die Erzieherin, dass die Stimmung unter den dreien schlecht ist. Das manifestiert sich zudem in der Sitzordnung. Diese wie auch der sogleich einsetzende Dialog zwischen Erzieherin und S. verdeutlichen, dass S. in dieser Situation die Wortführerin zu sein
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scheint. Sie bringt wohl zum Ausdruck, was bereits vor dem Auftauchen der Erzieherin Thema zwischen den Kindern war – ein nicht konfliktfreies, aber doch auch übliches Sich-Verständigen darüber, wer mit wem und warum befreundet ist. In solchen Situationen wird entlang vollkommen unterschiedlicher Merkmale, Differenzkonstruktionen und Besonderheiten festgelegt, behauptet, revidiert, korrigiert und argumentiert, wer mit wem und warum oder warum nicht (mehr) befreundet ist. Es handelt sich bei diesen Unterhaltungen und Auseinandersetzungen um Erfahrungen, die jedes Kind immer wieder macht und dabei erfährt, wie sich Ausgrenzung auf der Seite des Ausgeschlossenen und wie sie sich aufseiten des Ausschließenden anfühlt, genauso gut erfährt jedes Kind in solchen Situationen aber auch, wie es sich anfühlt, eingeschlossen und zugehörig oder in der Rolle der Einschließenden und der Einheitsstifterin zu sein. Dies kommt in Gleichaltrigengruppen dauernd vor, stellt also keinerlei interaktive Besonderheit dar. In aller Regel sind diese Erfahrungen mit Gefühlen des Schmerzes, des Triumphes, der Macht, der Lust und Überlegenheit, aber auch der Freundschaft, der Solidarität und der Zugehörigkeit verbunden – je nach Position der involvierten Kinder. Die beobachtete Szene gibt eine solche Situation wider, wobei S. hier auf die Ressource ›Ethnizität‹, genauer: ›Nationalität‹ zurückgreift – und dies, obwohl S. erst vier Jahre alt ist. Ältere sozialkognitive Untersuchungen kamen zu dem Schluss, dass das kognitive Konzept der Nationalität erst recht spät von Kindern gelernt bzw. erworben wird (vgl. Katz 1983). Zunächst lernten Kinder die Unterscheidungen nach Geschlecht und nach »race«. S. nun setzt die Unterscheidung nach Nationalität sehr gezielt ein, wobei sie für sich die Selbstzuschreibung »türkisch« verwendet, für die Fremdzuschreibung »deutsch« – angewandt auf ein Kind, dessen Aussehen nicht der gesellschaftlichen Mehrheit entspricht, sondern deutlich sichtbar einer religiösen Minderheit angehört. In diesem vereinfachenden national codierten Zuschreibungshandeln spiegelt sich die Konfliktlinie: deutsch-türkisch, die in der deutschen Gesellschaft im Kontext von Benachteiligung, Diskriminierung und Zugehörigkeit immer wieder eine prominente Rolle spielt – und in der Regel durch grobe Simplifizierungen gekennzeichnet ist. Für S. hat diese Unterscheidung eine Relevanz, sie hat davon bereits irgendwann erfahren. Ein Aneignungsprozess, der die Erkenntnis in die Relevanz und Wirkmächtigkeit der Unterscheidung nach nationaler Zugehörigkeit, in jenes national codierte Wir und ein Sie einschließt, hat offensichtlich schon stattgefunden – und ebendiese Unterscheidung wird in der hier beschriebenen Konfliktsituation wiederum relevant gesetzt, erfährt mithin eine Erhärtung durch das Kind selbst. Die Kontextbedingungen des Freispiels ermöglichen das von
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Erwachsenen ungesteuerte Sprechen und Aushandeln. Die Erzieherin dringt in diesen Freiraum ein und beginnt, die Kommunikation zu steuern. Mit der Frage »Na, was ist denn los mit Euch? Habt Ihr schlechte Laune?« erzeugt sie einen Rechtfertigungsdruck aufseiten der Kinder, insofern sie eine Erklärung für deren Rückzug, für die von ihnen eingenommene Sitzordnung und ihre körpersprachlichen Inszenierungen einfordert. Die Antwort von S., aber auch die non-verbale Interaktion von B. der Erzieherin gegenüber, die fast um Beistand zu bitten scheint, veranlasst diese wohl zu ihrer vermittelnd gemeinten Frage »Hmm …, kann man nicht auch zu dritt befreundet sein?«. Diese gut gemeinte Frage fordert die nachträgliche Erklärung von S., die auf nationale Differenzierung abhebt, geradezu heraus. Die Separation unter den drei Kindern erfährt gegenüber der Erwachsenen nun eine rationale Begründung aus der Welt der Erwachsenen – so möchte man meinen, denn soziale Konsequenzen zeitigt diese Kategorisierung für die Kinder nur im Moment. Im nächsten Moment – »Kommt, geh’n wir jetzt spielen!?« – wird die Behauptung von der großen Bedeutung der Unterscheidung nach ›türkischdeutsch‹ schon wieder aufgehoben. Auf der rhetorischen Ebene also wird eine Relevanz behauptet, die praktisch konsequenzenlos bleibt. Sie scheint für die Kinder dann doch nicht so tief zu greifen, wie sprachlich reklamiert. Die Unterscheidungen, welche aus der Erwachsenenwelt herüberreichen, interessieren offenbar, insofern sie die Gruppen- und Fraktionsbildungsprozesse der Kinder zu begründen vermögen – was diese durchaus zu nutzen verstehen. Gleichwohl werden sie bei Bedarf sogleich auch wieder außer Kraft gesetzt – weil es opportun ist oder eine Situation erfordert, etwa wenn mehr als zwei Spielpartnerinnen gebraucht werden oder die Lust zum gemeinsamen Spiel überwiegt. Die ethnische Unterscheidung nach Nationalität wird in dieser Szene von den Kindern kompetent als Ressource eingesetzt. Religionszugehörigkeit wäre hier angesichts der sichtbaren Zugehörigkeit von B. zur Religionsgemeinschaft der Sikhs ebenso in Frage gekommen. Doch auf diese Unterscheidung rekurrieren die Kinder nicht, vermutlich weil sie sie (noch) nicht kennen, weil sie bislang nicht in ihr Bewusstsein vorgedrungen ist – weil möglicherweise das Konzept Religion oder religiöse Differenz für sie noch keine soziale Relevanz besitzt. Näher zu liegen scheint im bundesrepublikanischen Kontext der Antagonismus ›türkisch – deutsch‹, der in den vergangenen Jahren, nicht zuletzt durch die MigLit und deren Rekurs auf Religion deutlich angeschärft wurde. Dass diese Komponente, welche den Diskurs derzeit so dominiert, in den interaktiven Inszenierungen der Kinder noch nicht auftaucht, schließt nicht aus, dass sie nicht doch virulent wäre.
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Zwischen »Kampf« und »Rendezvous« der Kulturen. Der Islam im sozialwissenschaftlichen Diskurs – Konsequenzen für die Kindheits- und Jugendforschung Arne Schäfer Kaum ein anderes Buch hat in der Diskussion über die Neuordnung der Welt nach dem Zusammenbruch der staatssozialistischen Regimes in Osteuropa und dem Ende des Kalten Krieges mehr Aufsehen erregt als Samuel P. Huntingtons »Kampf der Kulturen« (1997). Wenngleich die Diskussion in den letzten Jahren etwas abgeebbt ist, werden Huntingtons Behauptungen auch heute noch in Öffentlichkeit und Wissenschaft (vgl. z.B. Todd/Courbage 2008; Sen 2007) kontrovers diskutiert. Die Debatte um seine Auffassung vom »Kampf der Kulturen« als neues Paradigma von Weltpolitik und weltweiten Konflikten gehört zu den »sicherlich bekanntesten und vielleicht auch wichtigsten politikwissenschaftlichen Auseinandersetzung(en) der 1990er-Jahre […]« (Metzinger 2000: 8). Die Bedeutung geht aber weit über die Disziplin der Politikwissenschaft hinaus. Huntington hat mit seinen Thesen in hohem Maße die öffentliche und die sozialwissenschaftliche Diskussion über die globale Bedeutung des Islams und das Zusammenleben von »westlicher« und »nicht-westlicher« Welt seit Mitte der 1990er-Jahre beeinflusst und lieferte die »einflussreichste Weltdeutung der Post89er-Ära« (Misik 2008: 1). Vor diesem Hintergrund behandelt der vorliegende Beitrag anhand ausgewählter Publikationen den sozialwissenschaftlichen Diskurs über Huntingtons »Kampf der Kulturen« und versucht herauszuarbeiten, welche Bedeutung er für die Kindheits- und Jugendforschung haben könnte.
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1. Huntingtons »Kampf der Kulturen« (1997) als Ausgangspunkt einer sozialwissenschaftlichen Debatte über die Rolle des Islams im 21. Jahrhundert Die Grundthese von Huntingtons »Kampf der Kulturen« ist, dass die Fronten zwischen Kulturen die ideologischen Grenzlinien des Kalten Krieges als Brennpunkte für Krisen und gewalttätige Konfrontationen ersetzen würden. Damit widerspricht er Francis Fukuyama, der in seinem bekannten Essay über »Das Ende der Geschichte« (1992) den universalhistorischen Siegeszug von Demokratie, Marktwirtschaft und Rechtsstaatlichkeit nach dem Untergang des Kommunismus behauptet hatte. Die zukünftige Entwicklung sei, so Fukuyama, nicht mehr durch große ideologische und ideelle Kämpfe geprägt, sondern durch die Weiterentwicklung auf technologischem und wirtschaftlichem Gebiet (vgl. auch Metzinger 2000). Diesem optimistischen Entwurf stellt Huntington ein anderes Bild von der Weltlage nach dem Zerfall des »Ostblocks« gegenüber: »Meine These ist, daß die grundlegende Ursache von Konflikten in dieser neuen Welt in erster Linie nicht ideologischer oder wirtschaftlicher Natur sein wird. Der wichtigste Grund für Konflikte wird kulturell bestimmt sein. Nationalstaaten werden zwar die mächtigsten Akteure auf dem Globus bleiben, die grundsätzlichen Auseinandersetzungen der Weltpolitik aber werden zwischen Nationen und Gruppierungen aus unterschiedlichen Kulturen auftreten. Der Zusammenprall der Zivilisationen, der Kulturen (civilizations), wird die Weltpolitik beherrschen. Verwerfungen zwischen den Kulturkreisen werden den Frontverlauf der Zukunft bestimmen« (Huntington 1993).
Während die Zweiteilung der Menschheit aus der Zeit des Kalten Krieges vorbei sei, blieben die fundamentaleren Spaltungen der Menschheit nach Ethnizität, Religionen und Kulturkreisen erhalten und würden neue Konflikte erzeugen (vgl. Huntington 1997: 99). Die Welt sei nicht mehr bipolar, sondern multipolar und multikulturell. Bei der Konstruktion seines kulturellen Paradigmas und der Aufteilung der Welt in voneinander abgrenzbare Kulturkreise bezieht sich Huntington auf Historiker und Ethnologen wie Fernand Braudel (1992, 1993), Carrol Quigley (1961), Oswald Spengler (1963) oder Arnold Toynbee (1934-1961), die in ihren Werken eine unterschiedlich hohe Anzahl von Kulturkreisen angeben. Huntington selbst teilt die Welt in sieben bzw. acht Zivilisationen ein und unterscheidet den sinischen, japanischen, orthodoxen, hinduistischen, islamischen, westlichen, lateinamerikanischen und afrikanischen Kulturkreis, wobei er sich bei letzterem nicht sicher ist, ob er eine eigenständige Kultur darstelle. Einen Kulturkreis versteht Huntington als »die größte kulturelle Einheit. Dörfer, Regionen, ethnische Gruppen, Nationalitäten, religiöse Gruppen besitzen, auf unter-
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schiedlichen Ebenen der kulturellen Heterogenität, ihre je eigene Kultur« (Huntington 1997: 53). Auch wenn sich etwa italienische Dörfer je nach Region, in der sie liegen, voneinander unterschieden, hätten sie doch eine gemeinsame italienische Kultur, durch die sie sich von deutschen Dörfern unterschieden. Europäische Gemeinschaften wiederum seien kulturell verschieden von arabischen oder chinesischen Gemeinschaften. Diese drei Gemeinschaften gehören aber keiner noch allgemeineren kulturellen Größe an, vielmehr stellten sie unterschiedliche Kulturkreise dar. Dementsprechend ist nach Huntington (1997: 54) ein Kulturkreis »die höchste kulturelle Gruppierung von Menschen und die allgemeinste Ebene kultureller Identität des Menschen unterhalb der Ebene, die den Menschen von anderen Lebewesen unterscheidet«. Kulturkreise, verstanden als höchste kulturelle Gruppierung von Menschen, definierten sich sowohl durch gemeinsame objektive Elemente als auch durch die subjektive Identifikation der Menschen mit ihnen. Zu den objektiven Elementen zählt Huntington Sprache, Geschichte, Religion, Sitten und Institutionen. Von diesen wiederum habe die Religion herausragende Bedeutung, da »Religion das Hauptunterscheidungsmerkmal von Kulturen« (ebd.: 413) sei. Mit Bezug auf den Religions- und Islamwissenschaftler Gilles Kepel (1991) geht Huntington von einer weltweiten Renaissance der Religion (und damit einer kulturellen Renaissance) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, vor allem seit den 1970er- und 1980er-Jahren aus, die weit über die Aktivitäten fundamentalistischer Extremisten hinaus reiche: »In einer Gesellschaft nach der anderen bekundet sie sich im alltäglichen Leben und Arbeiten der Menschen und in den Interessen und Projekten der Regierung« (ebd.: 145). Den wichtigsten Grund für den weltweiten Aufschwung der Religion sieht der Politikwissenschaftler in der sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Modernisierung, die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts die gesamte Welt erfasst habe. Modernisierungsprozesse, die nicht mit Verwestlichungsprozessen gleichgesetzt werden dürften, würden somit keinesfalls zu Säkularisierung führen. Im Gegenteil: Durch die Modernisierung würden althergebrachte Identitätsquellen, Herrschafts- und Beziehungssysteme erodieren. Die Menschen würden im Zuge der Urbanisierung vom Land in die Stadt ziehen, den Kontakt zu ihren Wurzeln verlieren und neue Berufe ergreifen. Sie hätten nun sehr viel mehr soziale Kontakte zu Fremden und seien neuartigen Beziehungssystemen ausgesetzt. Vor diesem Hintergrund bräuchten die Menschen »neue Quellen der Identität, neue Formen einer stabilen Gemeinschaft und neue moralische Anhaltspunkte, die ihnen ein Gefühl von Sinn und Zweck vermitteln. Die Religion – die der Hauptströmung wie die fundamentalistische – befriedigt diese Bedürfnisse« (ebd.: 146). Das weltweite Wiederaufblühen der Religion sei auf der individuel-
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len Ebene in der Suche der Menschen nach Identität begründet und sei die Reaktion der Menschheit auf die »psychologischen, emotionalen und sozialen Traumata der Modernisierung« (ebd.: 151f.). Auf der gesellschaftlichen Ebene seien der Rückzug des Westens und das Ende des Kalten Krieges weitere Triebkräfte der religiösen Erneuerung, da »gesteigerte Potentiale und zunehmende Macht nichtwestlicher Gesellschaften die Wiedererweckung einheimischer Identitäten und einheimischer Kultur befördern« (ebd.: 199f.) würden. Nach Huntington sind Kulturen also »die ultimativen menschlichen Stämme, und der Kampf der Kulturen ist ein Stammeskonflikt im Weltmaßstab« (ebd., S. 331). Er identifiziert dabei für die nächsten Jahrzehnte die zwei wichtigsten »Bruchlinienkonflikte« zwischen Kulturen: Der heftigste Zusammenprall werde zwischen muslimischen und asiatischen Gesellschaften, hier vor allem der sinischen, einerseits und dem Westen andererseits stattfinden und aller Wahrscheinlichkeit nach die gefährlichsten Konflikte der Zukunft ergeben, die »in den kommenden Jahrzehnten zutiefst destabilisierende Auswirkungen auf die etablierte, westlich dominierte internationale Ordnung haben (werden)« (ebd.: 188). In Asien sieht er vor allem den wirtschaftlichen, bei den Muslimen den demografischen Aufschwung, die den »Clash« forcieren würden. In den muslimischen Ländern beobachtet Huntington zeitlich parallel zu dem wirtschaftlichen Auftrumpfen der Asiaten eine »Resurgenz des Islam« (vgl. ebd.: 168ff.). Die religiöse Erneuerung – in Anlehnung an Kepel (1991) spricht er von der »Rache Gottes« – sei zwar ein weltweites Phänomen, komme aber in den muslimischen Ländern am eindringlichsten und fühlbarsten zum Ausdruck. Eine besondere Bedeutung komme dabei der Bevölkerungsexpansion zu: »Während der Aufstieg Ostasiens durch spektakuläre Raten des Wirtschaftswachstums angeheizt worden ist, ist die Resurgenz des Islam durch nicht minder spektakuläre Raten des Bevölkerungswachstums angeheizt worden« (Huntington 1997: 181). Dies habe zur Folge, dass auf Jahre hinaus die muslimische Bevölkerung eine sehr junge Population sein werde, in der die Altersgruppe der Fünfzehn- bis Vierundzwanzigjährigen – die Jugend also – zahlenmäßig besonders stark vertreten sei. Damit seien wichtige politische Folgen verbunden, da Jugendliche bzw. junge Menschen zu Umsturz, Gewalt und Revolution neigten. Die Beweislage sei erdrückend, dass Muslime zu Beginn der 1990er-Jahre mehr als Nicht-Muslime an Gewalt zwischen Gruppierungen beteiligt gewesen seien: »Wohin man im Umkreis des Islam blickt: Muslime haben Probleme, mit ihren Nachbarn friedlich zusammenzuleben« (ebd.: 418). Dies läge laut Huntington eben auch an dem vergleichsweise hohen Anteil von Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung, an »dem muslimischen Jugend-Boom« (ebd.: 185). Daher sei das islamische Bevöl-
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kerungswachstum ein wichtiger Grund für gewalttätige Konflikte zwischen Muslimen und anderen Völkern entlang der Grenzen muslimischer Gesellschaften. Die westlichen Gesellschaften gerieten auch dadurch unter Druck, dass die Bevölkerungsexpansion, verbunden mit wirtschaftlicher Stagnation die muslimische Migration fördere und dadurch die Einwanderungsfrage zuspitze. Kurzum: Die vielen muslimischen Jugendlichen seien ein wichtiger Grund für die muslimische »Kriegslust und Gewaltbereitschaft« (ebd.: 422) und den Zusammenprall von westlicher und muslimischer Zivilisation: »Die Bevölkerungsexplosion in muslimischen Gesellschaften und das riesige Reservoir an oft beschäftigungslosen Männern zwischen 15 und 30 sind eine natürliche Quelle der Instabilität und der Gewalt innerhalb des Islam wie gegen Nichtmuslime. Welche anderen Gründe auch sonst noch mitspielen mögen, dieser Faktor allein erklärt zu einem großen Teil die muslimische Gewalt der achtziger und neunziger Jahre. Das natürliche Älterwerden dieser Jugend-Boom-Generation im dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sowie der wirtschaftliche Aufschwung in muslimischen Gesellschaften, sofern und sobald diese eintreten, könnten demgemäß zu einer erheblichen Reduzierung muslimischer Gewaltbereitschaft und damit zu einem generellen Rückgang der Häufigkeit und Intensität von Bruchlinienkriegen führen« (Huntington 1997: 433).
2. Die Rezeption von Huntingtons Thesen in Heinsohns »Söhne und Weltmacht« (2008) Die These, dass der demografische Jugendboom zu Ende des 20. und zu Anfang des 21. Jahrhunderts in vielen islamischen Ländern der Welt soziale Konflikte und blutige Auseinandersetzungen erklären könne, vertritt auch der Bremer Xenophobie- und Gewaltforscher Gunnar Heinsohn in seinem Buch »Söhne und Weltmacht« (2008). Demnach komme es bei überzähligen jungen Männern so gut wie immer zu blutigen Expansionen sowie der Schaffung und Zerstörung von Reichen, was eine historische Konstante sei und keineswegs nur die islamischen Länder betreffe.1 Der Grund hierfür sei aber nicht in einer durch Ressourcenoder Landknappheit definierten Überbevölkerung zu sehen. Vielmehr stünden in vielen Ländern mit sehr kinderreichen Familien, die durch einen »youth bulge« charakterisiert seien, für junge Männer durchaus Platz, Nahrung und Qualifizierung zur Verfügung. Die Brisanz liege vielmehr darin, dass ihnen akzeptable gesellschaftliche Positionen nicht in ausreichender Menge geboten werden könn-
1 Heinsohn setzt dieses Argument jedoch nicht absolut. Er führt keineswegs alle blutigen Konflikte oder Verbrechen auf demografische Faktoren zurück. So seien die »größten Megatötungen« (Heinsohn 2008: 22) der Menschheit wie die stalinistischen oder nationalsozialistischen Massenmorde nicht den »youth bulges« anzulasten.
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ten und so viele überschüssige Söhne – umgangssprachlich ausgedrückt – ›auf der Strecke blieben‹. »Nicht Mangel an Nahrungsmitteln oder selbst Schulen werden als Gefahren der Zukunft betrachtet, sondern der Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten, die den hinzukommenden Ehrgeizigen einen passablen Status gewähren […]. Je erfolgreicher jedoch der Kampf gegen Hunger und Analphabetentum verläuft, desto kampfeslustiger werden die nach oben strebenden jungen Männer« (Heinsohn 2008: 18f.).
Ein »youth bulge« – d.h. die überproportionale Ausstülpung (bulge) des Alterssegments der 15-24-Jährigen in der Alterspyramide – finde sich laut Heinsohn dort, wo diese Altersgruppe mindestens 20 Prozent bzw. die der 0-15-Jährigen mindestens 30 Prozent der Gesamtbevölkerung ausmachten. Die Existenz eines »youth bulge« ergebe sich aus dem Verhältnis der zugänglich werdenden Positionen zu der Anzahl an Positionen, die die nachwachsende Generation, speziell die nachrückenden Söhne, einfordere. Für die westlichen Staaten stelle der momentane »youth bulge« eine Gefahr dar, da die Staaten, die von dem Jugend-Boom betroffen sind, vor allem außerhalb der OECD in der Dritten Welt lägen. Soweit die passabel ernährten und gebildeten überschüssigen Söhne nicht auswandern könnten, »werden sie ihre Heimatländer destabilisieren, da ihrem Ehrgeiz dort kein angemessener Status winkt. Sie leben in über hundert Ländern. Vielleicht zehn von diesen werden ihre Tötungen über die eigenen Grenzen hinaus tragen, um sich an der Bildung von kleineren oder größeren Imperien zu versuchen. Dafür brauchen sie Megatötungswaffen. Auf diese Ländergruppe bereitet sich die westliche Führungsmacht vor« (Heinsohn 2008: 9).
Die durch einen »youth bulge« charakterisierten Drittweltländer könnten Millionen von jungen Männern in den Krieg schicken, weil diese im zivilen Leben in ihrer Heimat nicht gebraucht werden würden, weshalb für sie der Heroismus als wirkliche Chance erscheinen könne. Je mehr überschüssige Söhne es gebe, umso mehr wachse die Bereitschaft, diese auch risikoreich, d.h. im Krieg, einzusetzen – nicht zuletzt, um den inneren sozialen Frieden zu erhalten. Die islamisch geprägten Länder seien durch einen sehr hohen Anteil an Jugendlichen geprägt und lieferten das aktuell beeindruckendste Beispiel eines »youth bulge«. Sie hätten ihre Einwohnerschaft im 20. Jahrhundert von 150 auf 1.200 Millionen verachtfacht, was die höchste Zuwachsrate für eine fest umrissene Religionsgemeinschaft markiere. Der »islamischen Speerspitze dieser Jugendarmee« (ebd.: 13) müsse daher besondere Aufmerksamkeit zukommen. Heinsohn bezieht sich mit seiner »youth bulge«-These ausdrücklich Huntington (1997). Dieser habe sich in seinem Buch der bereits Mitte der 1990er-Jahre von
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Gary Fuller (1995) formulierten Sichtweise von den »youth bulges« als Hintergründen für ethnische Konflikte angeschlossen. »Vielleicht läßt sich Huntingtons ursprüngliche These so umformulieren, dass ein youth bulge, einmal in Bewegung geraten, sich Rechtfertigungen für sein furchtbares Tun auch aus der Religion und Moral seiner Herkunftsgebiete zurecht schneidert« (Heinsohn 2008: 31). In Heinsohns Sichtweise sind Kultur und Religion also nur nachrangig, vielmehr diene die Religion der Gewaltentfaltung der Jugendlichen als Legitimation. Zwar gebe es sicherlich Unterschiede zwischen der christlichen und der islamischen Religion, was deren Wesen und Aussagen anbelangt, die beiden Großkulturen unterschieden sich aber »in der Geschichte ihrer Gewaltentfaltung nur graduell« (ebd.). Er konstatiert, dass in beiden Religionen Gewalt vorkomme, diese aber weniger in der jeweiligen Religion begründet liege, sondern im jeweiligen Anteil von Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung. Historisch betrachtet hätten die christlich geprägten europäischen Länder ihre »youth bulges« – und damit die von den überschüssigen Jugendlichen und jungen Männern ausgehenden gewalttätigen Exzesse und blutigen Unterwerfungen anderer Völker – bereits hinter sich. Auch Huntington geht keineswegs davon aus, dass – historisch betrachtet – lediglich der Islam zur Gewalt neige, nicht aber das Christentum: »Von Anfang an breitete sich der Islam durch Eroberung aus, und ebenso das Christentum, wenn sich eine Gelegenheit bot. Die analogen Konzepte ›Dschihad‹ und ›Kreuzzug‹ ähneln einander nicht nur, sie unterscheiden diese beiden Glaubenssysteme auch von anderen großen Weltreligionen« (Huntington 1997: 337). Der Westen habe seine Hegemonialstellung in der Welt nicht durch die Überlegenheit seiner Ideen, Werte oder Religion bekommen, »sondern vielmehr durch seine Überlegenheit bei der Anwendung von organisierter Gewalt« (ebd.: 68). Dass in der gegenwärtigen Situation aber gerade der islamische Kulturkreis ein hohes Gewaltpotenzial habe und eine Bedrohung darstelle, liege nach Huntington nicht nur daran, dass die westlichen Ideen von Demokratie, Menschrechten und Individualismus dort auf wenig Akzeptanz stießen oder die wirtschaftliche Entwicklung stagniere, sondern gerade eben an dem hohen Anteil von Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung, die gerade für islamistische Organisationen einen Nährboden darstellten: In den arabischen Golfstaaten wird es »bei einem starken Jugend-Boom bleiben. 1988 sagte Kronprinz Abdullah von Saubi-Arabien, die größte Bedrohung für sein Land sei der Aufstieg des islamischen Fundamentalismus unter seiner Jugend. Diesen Prognosen zufolge wird die Bedrohung bis weit ins 21. Jahrhundert hinein fortbestehen« (Huntington 1997: 185).
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Allerdings gibt es m.E. zwischen Huntington und Heinsohn einen wichtigen Unterschied, was in ihren Werken die jeweilige Rolle von Jugendlichen bzw. von »youth bulges« anbelangt. Zwar weist Heinsohn zu Recht darauf hin, dass sich Huntington (1997: 423f.) auf Fullers These vom Jugend-Boom als eine Ursache für ethnisch-nationale Konflikte auf Sri Lanka bezieht, um damit aufzuzeigen, dass ein wichtiger Grund der von ihm konstatierten muslimischen Gewaltbereitschaft am Ende des 20. Jahrhunderts auf demografische Faktoren zurückzuführen sei. Allerdings stellt sich die Frage, ob Heinsohn Huntingtons Ausführungen über die demografische Entwicklung als Erklärung muslimischer Gewalt nicht zu sehr für die Untermauerung seiner eigenen Thesen über die geschichtliche Bedeutung von »youth bulges« als Ursachen gewalttätiger Konflikte vereinnahmt: »Samuel Huntington gelangt an Fullers Sri Lanka-Studie von 1995 erst während der Schlußredaktion seines 1996er Kampf der Kulturen (Clash of Civilizations). Während die Öffentlichkeit seinen ›alten‹ Hauptgedanken religiös-kultureller Konfliktpotenziale heftig diskutiert und die Theologen fragt, was denn wirklich in Koran und Bibel stehe, hat der berühmte Autor sich längst einem anderen Hauptgedanken verschrieben. Dieses Umschwenken in letzter Minute kann die Gliederung seines Buches gar nicht mehr und seinen Umfang nur noch geringfügig beeinflussen. Das Neue muß deshalb in nachgeschobenen Passagen (S. 181-189 bzw. 422-433) des 5. und des 10. Kapitels gleichsam versteckt werden. Da dicke Bücher nur ausnahmsweise so weit gelesen werden, ist die – vielerorts bis heute andauernde – Nichtwahrnehmung dieses Gesinnungswandels leicht verständlich« (Heinsohn 2008: 30).
Demnach werden bei Huntington Religion und Kultur nachrangig. Allerdings muss kritisch gefragt werden, ob bei dem amerikanischen Politikwissenschaftler nach seiner Rezeption von Fullers Aufsatz tatsächlich die Religion einen gegenüber den demografischen Faktoren nachrangigen Status für die Entstehung von Konflikten zugewiesen bekommen hat, denn im »Kampf der Kulturen« heißt es: »Die Menschheitsgeschichte zeigt seit Jahrtausenden, daß Religion kein ›kleiner Unterschied‹ ist, sondern vielmehr der wahrscheinlich tiefgreifendste Unterschied, den es zwischen Menschen geben kann. Häufigkeit, Heftigkeit und Gewalttätigkeit von Bruchlinienkriegen werden durch den Glauben an verschiedene Gottheiten stark gesteigert« (Huntington 1997: 414).
Zweifelsohne ist für ihn das islamische Bevölkerungswachstum »ein wesentlicher, mit ausschlaggebender Faktor für Konflikte zwischen Muslimen und anderen Völkern entlang der Grenzen der islamischen Welt« (ebd.: 187, Herv. A.S.), aber dadurch wird der Faktor Religion bzw. der Faktor Kultur bei Huntington nicht grundsätzlich nachrangig. Denn laut Huntington lehre die Geschichte, dass die Beziehungen zwischen dem Islam und dem Westen in den letzten 1.400 Jahren häufig stürmisch und konfliktträchtig gewesen seien. Der
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grundsätzliche kulturelle Konflikt – das ist in seinem Werk eine zentrale These – werde auch in Zukunft nicht verschwinden: »Solange der Islam der Islam bleibt (und er wird es bleiben) und der Westen der Westen bleibt (was fraglicher ist), wird dieser fundamentale Konflikt zwischen zwei großen Kulturkreisen und Lebensformen ihre Beziehungen zueinander weiterhin und auch in Zukunft definieren, so wie er sie 1.400 Jahre lang definiert hat« (ebd.: 339). Die Frage ist, wann nach Huntington ein grundsätzlicher kultureller Konflikt in offene, blutige Bruchlinienkriege umschlägt. Hier kommen dann in seinem Entwurf die »youth bulges« ins Spiel, da Jugendliche bzw. junge Menschen die »Protagonisten von Protest, Instabilität, Reform und Revolution« (ebd.: 182) seien. Das bedeutet, dass in Huntingtons Konzeption die grundsätzlichen und andauernden Konflikte und Differenzen zwischen dem Islam und dem Westen mit hoher Wahrscheinlichkeit dann in blutige bzw. gewalttätige Auseinandersetzungen umschlagen würden, wenn in einer der Kulturen ein hoher Anteil von Jugendlichen lebt. Dies sei in der gegenwärtigen Situation im islamischen Kulturkreis der Fall. In Heinsohns Konzeption hingegen verhält sich der Sachverhalt anders. Der Bremer Konfliktforscher interpretiert Huntingtons Werk so, dass die Religion »zusätzliches Öl für ein Feuer« liefere, »dessen Ausgangsbrennstoff nicht von ihr stammt« (Heinsohn 2008: 31). Damit will er seine eigene These stützen, nach der die »youth bulges« der ausschlaggebende, primäre Grund für viele blutige Konflikte seien, nicht etwa kulturelle oder religiöse Differenzen, die nur nachträglich der jugendlichen Gewalt als Legitimationsgrundlage dienten und deshalb von nachrangiger Bedeutung zur wissenschaftlichen Erklärung von Gewalt wären. Huntington sieht m.E. aber den eigentlichen Grund nach wie vor in kulturellen Diskrepanzen bzw. Konflikten, die dann von der Masse der – oft beschäftigungslosen – Jugendlichen und der jungen Männer zu gewaltförmigen Auseinandersetzungen zugespitzt würden und dadurch enorm an Brisanz gewönnen. Mittelfristig – das sagen sowohl Huntington als auch Heinsohn – sei damit zu rechnen, dass das hohe Bedrohungspotenzial, das gegenwärtig von islamischen Ländern ausgehe, abnehmen werde. Ersterer geht davon aus, die »Islamische Resurgenz« werde abklingen und in die Geschichte eingehen. Dies sei dann am wahrscheinlichsten, »sobald der sie tragende demographische Impuls sich im zweiten und dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts abschwächt. Dann werden sich die Reihen der Militanten, Krieger und Migranten (man beachte die Aufzählung!, A.S.) lichten, und die großen Konfliktpotentiale innerhalb des Islam und zwischen Muslimen und anderen […] dürften sich entschärfen« (Huntington 1997: 188). Allerdings werden die Beziehungen zwischen dem Westen und dem Islam deshalb noch lange nicht innig werden. Hier zeigt sich noch
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einmal, dass in seiner Konzeption religiös-kulturelle Konflikte nach dem Abklingen von »youth bulges« keineswegs verschwinden, sondern latent weiter schwelen und diese deshalb von ihm auch nicht als nachrangige Legitimation angesehen werden. Vielmehr würden sie lediglich weniger brisant und konfliktträchtig sein »und an die Stelle eines Quasi-Krieges […] dürfte ein Kalter Krieg oder vielleicht sogar ein Kalter Friede treten« (ebd.). Auch Heinsohn argumentiert, dass die Lage nach vier bis fünf Jahrzehnten viel entspannter sein werde als bis 2025. »Für eine apokalyptische Dauerstimmung gibt es somit keinen Grund« (Heinsohn 2008: 114). Bis dahin jedoch werde von islamischen Jugendlichen bzw. von den überschüssigen jungen Männern aus muslimischen Ländern eine große Gefahr für den Weltfrieden ausgehen.
3. Kritik an Huntington am Beispiel aktueller sozialwissenschaftlicher Publikationen In diesem Kapitel sollen anhand aktueller sozialwissenschaftlicher Werke Gegenpositionen zu Huntingtons These vorgestellt werden.2 Es versteht sich, dass im Rahmen dieses Beitrags nicht auf die Fülle der kritischen Positionen aus den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen von Soziologie bis Islamwissenschaften eingegangen werden kann. Auch die unmittelbar in Anschluss an das Erscheinen von »Kampf der Kulturen« einsetzende politikwissenschaftliche Diskussion der 1990er-Jahre muss ausgeblendet werden (vgl. hierzu Metzinger 2000). Stattdessen werden exemplarisch die Publikationen von Roy (2006), Sen (2007) und Courbage/Todd (2008) herangezogen, die sich explizit oder implizit mit Huntingtons »Kampf der Kulturen« auseinandersetzen, deren Kritik sich jedoch auf unterschiedliche Aspekte seiner These bezieht. Wie das Buch von Huntington können die hier behandelten Werke nicht in ihrer Vielschichtigkeit rekonstruiert, sondern lediglich ihre Grundaussagen skizziert werden.
3.1 Olivier Roy: »Der islamische Weg nach Westen« (2006) Der bekannte französische Politik- und Islamwissenschaftler Olivier Roy legt in seinem Buch »Der islamische Weg nach Westen. Globalisierung, Entwurzelung und Radikalisierung« (2006) eine These vor, mit der er Huntingtons kulturalistischer Sichtweise widerspricht. Während Huntington die Radikalisierung von 2 Zur Kritik an Heinsohns »youth bulge«-These aus bevölkerungswissenschaftlicher Sicht vgl. Kröhnert 2006.
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Muslimen in den letzten Jahrzehnten als Ausdruck eines sich zuspitzenden »Kampfes der Kulturen« nach dem Ende des Systemgegensatzes zwischen Ost und West interpretiert, wird dieser Prozess von Roy umgekehrt als Ausdruck kultureller Entwurzelung von Muslimen im Globalisierungs- und Verwestlichungsprozess gedeutet. »Der gegenwärtige islamische Fundamentalismus, der im Westen häufig als Reaktion einer massiv unter Beschuss geratenen traditionellen Kultur angesehen wird, ist in Wirklichkeit – so lautet meine These – das deutlichste Zeichen der Entwurzelung und der Säkularisierung« (Roy 2006: 7). Der islamische Fundamentalismus greife überall auf der Welt traditionelle Kulturen an und fordere die Gründung einer ›reinen‹ Glaubensgemeinschaft. Dabei sei der militante Fundamentalismus nicht die einzige Folge des Entwurzelungs- und Säkularisierungsprozesses. Entsprechend dürfe die Vielfalt muslimischer Religiosität (und damit die der Lebenswelten) nicht auf die fundamentalistischen Formen reduziert werden. Vielmehr liefen die »Radikalisierung der Jugend« (ebd.) und das Aufkommen liberaler Formen muslimischer Religiosität nach dem gleichen Muster ab. Der gegenwärtige Wandel im Islam – wie auch die Entwicklung im Christentum – sei Ausdruck des Wandels der Religiosität, d.h. der Beziehung zwischen dem einzelnen Gläubigen und der Religion. »Dies wiederum ist die Folge einer allmählichen Dekulturation, das heißt der kulturellen Entwurzelung und der Individualisierung der Religion. Dieser Prozess vollzieht sich insbesondere unter Muslimen, die im Westen leben: Die Religion hat ihre gesellschaftliche Autorität verloren und ist nicht länger in eine bestehende Kultur eingebettet. Die Kulturen der Herkunftsländer verblassen allmählich oder werden mit rein religiösen Begriffen neu geprägt […]« (ebd.: 8, Herv. A.S.).
Bei Roy geht es also nicht wie bei Huntington um kollektive kulturelle Einheiten – die islamische oder die westliche Zivilisation – sondern um die individuelle Religiosität des einzelnen Gläubigen. Sein Ansatz ist also sehr viel individualistischer ausgerichtet, während das Individuum in Huntingtons Theorie kaum Beachtung findet, es sei denn als Mitglied einer objektiv definierten kulturellen Gruppierung höherer Ordnung. Die Globalisierung führe nach Roy nicht dazu, dass sich die muslimische Gemeinschaft auf der ganzen Welt ausdehne, sondern bedeute eine Veränderung der Beziehung des Einzelnen zur Religion und seine immer stärkere Loslösung von den Kulturen und Krisen des Nahen Ostens. Die neuen Glaubensgemeinschaften, in die der Einzelne nun nicht mehr hineingeboren werde, sondern freiwillig eintrete, wollten mit traditionellen Ethnien oder Kulturen nichts mehr zu tun haben, sondern verteidigten vielmehr ihre nunmehr »rein religiöse Identität« (ebd.: 12). Roy fordert, in den westlichen Ländern müsse dem Islam ein Platz als einer westlichen Religion unter anderen eingeräumt werden. Die politisch Verantwortlichen müssten Raum für den Islam
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schaffen, ohne Gesetze oder Grundsätze zu ändern, und damit den religiösen Pluralismus moderner Gesellschaften anerkennen. »Im Rahmen eines pluralistischen Ansatzes hat die Zivilgesellschaft die Möglichkeit, jene Jugendlichen zu erreichen, die ansonsten ideale Adressaten für radikale und neofundamentalistische Gruppierungen abgeben« (ebd.: 13). Das Zitat belegt, dass Roy vor allem die Jugendlichen als besonders anfällig für neofundamentalistische Propaganda ansieht: »Der Neofundamentalismus kommt bei der entwurzelten muslimischen Jugend an, besonders bei Immigranten der zweiten und dritten Generation in westlichen Staaten« (ebd.: 16). Einen entscheidenden Grund für die Entwurzelung, Dekulturation und Individualisierung der Religion sieht Roy in der Migration von Muslimen als Ausdruck des Globalisierungsprozesses und ihrer Niederlassung in westeuropäischen Länder wie Frankreich, England oder Deutschland, da mit der Migration eine Entterritorialisierung des Islams einhergehe. Mit dem Begriff »Entterritorialisierung« bezeichnet der französische Islamwissenschaftler die Tatsache, dass eine wachsende Zahl von Muslimen in westlichen, nicht-muslimischen Ländern lebt. Es bestehe eindeutig eine Beziehung zwischen der zunehmenden Entterritorialisierung und der Verbreitung bestimmter Formen von Religiosität, zu denen eben auch – aber nicht nur – der radikale Neofundamentalismus gehöre. Diese neuen Formen zeichneten sich dadurch aus, dass sie von kulturellen Bindungen losgelöst und deshalb individualisiert sind. Die Entterritorialisierung im Prozess der Globalisierung (, die Roy im Wesentlichen mit Verwestlichung und Modernisierung gleichsetzt,) führe zur Re-Islamisierung. »Re-Islamisierung bedeutet, dass die muslimische Identität, die selbstverständlich war, solange sie zu einem überkommenen kulturellen Erbe gehörte, nun explizit in einem nicht-muslimischen, westlichen Kontext zum Ausdruck gebracht werden muss. Der ›dekulturalisierte‹ Islam ist eine Möglichkeit, eine religiöse Identität zu konstruieren, die nicht mit einer bestimmten Kultur verknüpft ist und deshalb zu jeder Kultur passen oder, präziser gesagt, die unabhängig vom Kulturbegriff selbst definiert werden kann. Das Ziel ist allerdings nicht nur, die islamische Identität neu zu entwerfen, sondern sie auch in expliziten Begriffen auszudrücken« (ebd.: 40f.).
Entsprechend ihren unterschiedlichen Ansätzen beurteilen Roy und Huntington die Migrationsbewegungen von Muslimen in die westlichen Länder und ihre dauerhafte Niederlassung in nicht-muslimischen Gesellschaften auch anders. Huntington zufolge stehe der muslimische Feind der westlichen Kultur nicht nur ante portas, sondern unterwandere inzwischen den Westen auch von innen (vgl. auch Riesebrodt 2000: 27). Angesichts der Tatsache, dass Anfang der 1990erJahre zwei Drittel der Migranten in Europa Muslime gewesen seien, wachse dort die Angst vor einer muslimischen Gemeinschaft quer über alle europäischen
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Grenzen. Angesichts der »Migrantenflut« (Huntington 1997: 326) drohe der Zerfall in eine christliche und in eine muslimische Gemeinschaft. Die Frage einer Spaltung des Westens in zwei von einander isolierte Zivilisationen hänge einerseits von der Anzahl der muslimischen Einwanderer ab und andererseits davon, inwieweit diese an die westliche Kultur assimiliert werden könnten. Es zeige sich aber, dass die Muslime in Europa assimilationsunwillig seien, denn die westliche Kultur werde »von Gruppen innerhalb der westlichen Gesellschaft in Frage gestellt. Eine dieser Herausforderungen kommt von Einwanderern aus anderen Kulturkreisen, die eine Assimilation ablehnen und nicht aufhören, Werte, Gebräuche und Kultur ihrer Herkunftsgesellschaft zu praktizieren und zu propagieren. Am auffallendsten ist diese Erscheinung bei Muslimen in Europa, die jedoch nur eine kleine Minderheit sind« (Huntington 1997: 501).
Auch wenn Muslime in Europa eine Minderheit seien, stellten sie eine Gefahr für den Westen dar, indem sie diesen unterminieren und zu dessen »inneren Verfallsprozesse« bzw. »innerer Fäulnis« (ebd.: 499) beitragen würden. Allerdings könnte sich das »Problem der demographischen Invasion der Muslime« (ebd.: 327) in dem Maß deutlich abschwächen, wie das hohe Bevölkerungswachstum in den muslimischen Herkunftsländern, das eine Triebfeder für Migration sei, wieder zurückgehe – hier rückt seine Argumentation wieder in die Nähe der »youth bulges«-These. Während nach Huntington die muslimische Einwanderung in die westlichen Gesellschaften den »Kampf der Kulturen« anheizt, führt diese laut Roy umgekehrt zu kultureller Entwurzelung und Dekulturation aufseiten der Migranten. Durch die Erfahrung, als Muslim im Westen zu leben, sei die gesellschaftliche Autorität der Religion, die in vielen muslimischen Herkunftsgesellschaften oft noch selbstverständlich sei, rapide geschwunden. Daraus erwachse für den einzelnen Gläubigen die Notwendigkeit, ausdrücklich anzugeben, was der Islam für ihn bedeute, da die Bedeutung nicht länger von einer sozialen Autorität vertreten werde. Es entstehe der Wunsch, jenseits der Unterschiedlichkeit von Gesellschaften und Kulturen die Umma zu verwirklichen, was zu dem Versuch führe, einen universellen Islam zu definieren, der in jedem sozialen Kontext Gültigkeit beansprucht. »Natürlich ist der Islam definitionsgemäß universell, aber seit der Zeit des Propheten und seiner Gefährten (Salaf) war er immer in bestimmten Kulturen verwurzelt […]. Für Fundamentalisten, und auch für manche Liberale, bieten diese Kulturen nichts, worauf man stolz sein könnte, weil sie die ursprüngliche Botschaft des Islam entstellt hätten. Die Globalisierung ist daher eine gute Gelegenheit, den Islam von jeder bestimmten Kultur abzulösen und ein Modell zu entwerfen, das jenseits der Kultur funktioniert« (Roy 2006: 42).
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Vor diesem Hintergrund muss dann auch die Gewalt einer Minderheit von militanten Neofundamentalisten gesehen werden, die nicht Ausdruck eines »Kampfes der Kulturen« sei. Vielmehr würden die Militanten für eine universelle rein religiöse Umma kämpfen, die von jeder spezifischen Kultur losgelöst ist. Für die Radikalen wie Al Qaida sei es der Traum, die Umma durch den Dschihad zusammen zu bringen. Der Neofundamentalismus drücke sich aber nicht nur in Terrorismus aus, sondern könne auch Gewalt ablehnende Formen annehmen. Seine grundsätzliche Faszination gerade für Jugendliche liege darin begründet, dass die religiöse Identitätsfindung bzw. die Ausbildung einer rein religiösen Identität eines seiner Schlüsselthemen sei: »Gerade weil er Einzelne auf der Suche nach ihrem Selbst anspricht, übt der Neofundamentalismus eine große Anziehungskraft auf entfremdete Jugendliche aus. Er verleiht deren Generationenkonflikt einen höheren Sinn: Indem er die Religion der Älteren als ›kulturellen‹ Islam ablehnt, wertet er das Streben der jungen Leute nach Autonomie (oder sogar die Loslösung) von ihren Eltern und ihren Familien auf« (ebd.: 263).
Dieses Zitat zeigt einmal mehr, dass sich Roy mit seiner Hinwendung zur Religiosität des Einzelnen und der Frage, was diese für die Befriedigung seiner Bedürfnisse und für seine Sinnsuche angesichts von Globalisierung und kultureller Entwurzelung bedeuten kann, von dem kollektivistischen Kulturalismus Huntingtons abgrenzt.
3.2 Amartya Sen: »Die Identitätsfalle« (2007) Eine Gegenposition zu Huntingtons Thesen nimmt auch der Sozialwissenschaftler, Ökonom und Wirtschafts-Nobelpreisträger Amartya Sen in seinem Essay »Die Identitätsfalle. Warum es keinen Krieg der Kulturen gibt« (2007) ein. Sen kritisiert die »merkwürdige Annahme« (ebd.: 8), es gebe nur ein einziges überwölbendes System, nach der man Menschen einteilen kann, so wie sie in Huntingtons Buch »Kampf der Kulturen« vertreten werde. Wenn man die Menschheit in Zivilisationen oder Religionen einteile, gelange man nach Sen zu einer »solitaristischen Deutung« (ebd.), wonach die Menschen einer und nur einer Gruppe angehörten. Dabei sei die Identität des einzelnen Menschen sehr viel komplexer, pluralistischer und mannigfaltiger, was er an seiner eigenen Person illustriert: »Was mich betrifft, so kann man mich zur gleichen Zeit bezeichnen als Asiaten, Bürger Indiens, Bengalen mit bangladeschischen Vorfahren, Einwohner der Vereinigten Staaten oder Englands, Ökonomen, Dilettanten auf philosophischem Gebiet, Autor, Sanskritisten, entschiedenen Anhänger des Laizismus und der Demokratie, Mann, Feministen, Heterosexuellen, Verfechter der Rech-
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te von Schwulen und Lesben, Menschen mit einem areligiösen Lebensstil und hinduistischer Vorgeschichte, Nicht-Brahmanen und Ungläubigen, was das Leben nach dem Tode […] angeht. Dies ist nur eine kleine Auswahl der unterschiedlichen Kategorien, denen ich gleichzeitig angehören kann – daneben gibt es natürlich noch eine Vielzahl von Zugehörigkeitskategorien, die mich je nach den Umständen bewegen und fesseln können« (ebd.: 33f.)
Die ausschließliche Betrachtung der Welt als eine Ansammlung von Religionen, Zivilisationen oder Kulturen unter Ausblendung von anderen Identitäten, die Menschen haben, wie Klasse, Geschlecht, Beruf, Sprache, Wissenschaft, Moral und Politik bedeutete eine Reduktion des Menschen angesichts seiner multiplen Identitäten und unterschiedlichen sozialen Zugehörigkeiten. Die Wichtigkeit einer Identität oder Zugehörigkeit müsse die andere nicht zunichte machen oder kategorisch ausschließen. Das Individuum müsse entscheiden, welche Bedeutung es in einem bestimmten Kontext der jeweiligen Identität oder Zugehörigkeit beimisst. Entsprechend reduktionistisch sei die Theorie vom »Kampf der Kulturen« sensu Huntington, da ihr die illusionäre Vorstellung zugrunde läge, dass es möglich sei, Menschen vorrangig als Angehörige der einen oder der anderen Kultur zu betrachten, die zudem ausschließlich religiös definiert werde. Dadurch würden Identitäten fatalerweise singulär aufgeteilt und ihre Komplexität würde auf simple Strukturen reduziert. Nach Sen sei die Religion jedoch keinesfalls die umfassendste Identität eines Menschen. Allerdings muss m.E. fairerweise darauf hingewiesen werden, dass Huntington nicht davon ausgeht, der Mensch habe nur eine Identität, die ausschließlich kulturell-religiös definiert sei. Seiner Ansicht nach »besitzt jeder Mensch mehrfache Identitäten, die miteinander in Wettstreit liegen oder einander verstärken können. Identität hat auch verschiedene Dimensionen; es gibt die identitätsstiftende Dimension der Verwandtschaft, des Berufs, der Kultur, der Institutionen, des Territoriums, der Bildung, der Parteienzugehörigkeit, der Ideologie usw.« (Huntington 1997: 198). Jedoch geht Huntington gleichzeitig davon aus, dass in der neuen Welt nach dem Zusammenbruch des Kommunismus »die kulturelle Identifikation gegenüber anderen Dimensionen der Identität dramatisch an Bedeutung (gewinnt)« (ebd.: 199). Dieses zunehmende »Abheben auf kulturelle Identität« (ebd.) sieht er als Folge einer »globalen Identitätskrise« (ebd.: 194) in den 1990er-Jahren und – wie bereits beschrieben – als »Ergebnis einer sozioökonomischen Modernisierung« (ebd.: 199). In dem Maße, wie die kulturelle Zusammengehörigkeit der Menschen nach dem Ende des ideologischen Systemgegensatzes rund um den Globus (wieder) zunehme, nehme auch die Abgrenzung von anderen Kulturen und Zivilisationen zu, denn Identität könne »auf jeder Ebene – der Ebene der Person, der Sippe, der Rasse, der Zivilisation – nur
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in Bezug auf ein ›Anderes‹, eine andere Person, Sippe, Rasse oder Zivilisation, definiert werden« (ebd.: 200). Aber gerade dieses von Huntington unterstellte zunehmende Abheben auf eine dominante kulturell-religiöse Identitätsdimension bezweifelt Sen. Abgesehen davon, dass sich die religiöse Unterteilung mit der Klassifikation von Ländern und Kulturen nicht ohne weiteres in Einklang bringen ließe – so werde Indien von Huntington der hinduistischen Kultur zugerechnet, habe aber 150 Millionen muslimische Bürger und gehöre damit zu den drei Ländern mit der größten muslimischen Bevölkerung – sei die Aufteilung von Menschen nach ihrer religiösen Identität problematisch, weil dadurch diese Identitätsdimension in ihrer Relevanz überbetont werde und die Heterogenität von Menschen gleicher Religionszugehörigkeit aus dem Blick gerate. »Die islamische Identität kann eine der Identitäten sein, die der Betreffende als wichtig (oder gar entscheidend) betrachtet, ohne damit zu leugnen, daß andere Identitäten ebenfalls bedeutsam sein können. In der sogenannten ›islamischen Welt‹ leben natürlich überwiegend Muslime, aber verschiedene muslimische Menschen können sich in anderer Hinsicht stark voneinander unterscheiden und tun dies auch, etwa in ihren politischen und gesellschaftlichen Werten, ihren wirtschaftlichen und literarischen Bestrebungen, ihren beruflichen und philosophischen Engagements, ihrer Einstellung zum Westen und so weiter« (Sen 2007: 73).
Diese Aussage verdeutlicht, dass Sens Hauptkritik an Huntington dessen Simplifizierung und Reduktion der Komplexität, Pluralität und Mannigfaltigkeit von Identitäten und sozialen Zugehörigkeiten ist: Die Kategorisierung in eindeutig voneinander abgrenzbare Kulturen stecke die Menschen in »Schubladen einer singulären Identität« (ebd.: 185).
3.3 Youssef Courbage und Emanuelle Todd: »Die unaufhaltsame Revolution« (2008) Aus demografischer Perspektive legen Youssef Courbage und Emmanuelle Todd mit ihrem Buch »Die unaufhaltsame Revolution. Wie die Werte der Moderne die islamische Welt verändern« (2008), das im französischen Original »Le rendezvous des civilisations« heißt, einen Gegenentwurf zu Huntington vor. Ihre These lautet: »Einen ›Kampf der Kulturen‹ wird es nicht geben. Wenn man die Indikatoren der gesellschaftlichen und historischen Entwicklung betrachtet, muss man sich im Gegenteil dem Gedanken an eine ›Begegnung der Kulturen‹ anschließen« (Courbage/Todd 2008: 7). Welche Indikatoren oder Variablen der gesellschaftlichen und historischen Entwicklung meinen die Autoren?
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Mit Bezug auf die Geschichtsphilosophie von Condorcet und Hegel gehen die beiden Sozialwissenschaftler von einem universellen Verlauf der Geschichte aus, dem alle Länder der Welt – auch die muslimischen – folgen würden, auch wenn diese den westlichen Ländern zeitlich hinterher hinkten: »In der muslimischen Welt findet inzwischen jene demografische, kulturelle und geistige Revolution statt, die einst die Basis für die Entwicklung derjenigen Regionen bildete, die heute als die modernsten der Welt gelten. Auch die muslimische Welt bewegt sich auf den Fluchtpunkt einer Geschichte zu, die weitaus universeller verläuft, als man wahrhaben will« (ebd.: 8).
Eine ausschlagende Variable im universellen Verlauf der Geschichte sei die Alphabetisierung der Bevölkerung. Der Vormarsch der Alphabetisierung rund um den gesamten Globus spreche für die Hegelsche Sichtweise vom unaufhaltsamen Fortschritt des menschlichen Geistes. Es sei ein historisches Gesetz, dass sich alle Länder zu alphabetisierten Gesellschaften entwickeln würden. Zwar vollziehe sich dieser Wandel in den einzelnen Weltregionen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit, jedoch gebe es keine Ausnahme. Um ihre Thesen zu belegen, verwenden die Autoren das »Werkzeug der groß angelegten demografischen Analyse« (ebd.: 7). So zeigten statistische Daten der Demografie, dass alle Länder der Reihe nach die 50-Prozent-Marke der männlichen und danach in unterschiedlichem zeitlichen Abstand der weiblichen Alphabetisierung überschreiten. Für die muslimischen wie für die nicht-muslimischen Länder gelte gleichermaßen, dass die Frauen die 50-Prozent-Schwelle der Alphabetisierung durchschnittlich 25 Jahre nach den Männern passierten. Es sei somit eine historische Konstante, die ausnahmslos für alle Länder gelte, dass die Alphabetisierung der Männer stets der Alphabetisierung der Frauen vorausgehe, wenn auch mit unterschiedlich großen zeitlichen Abständen. Dabei seien zwei Faktoren ausschlaggebend dafür, wie schnell in einem bestimmten Land die Bildung (=Alphabetisierung) Fortschritte macht: Die Familienstruktur, die den Status der Frauen bestimme, und die geografische Lage des Landes. Eine zweite ausschlaggebende Variable, durch die die Bevölkerung in ein »höheres Stadium des Bewusstseins und der Entwicklung« (ebd.: 19) eintrete, sei der Geburtenrückgang bzw. die Geburtenkontrolle. Auch bezüglich des Geburtenrückgangs schließe sich die muslimische Welt dem »universellen Lauf der Geschichte an, zwar mit ihrer eigenen Gangart, aber in Richtung eines Fluchtpunkts, auf den auch die anderen zustreben« (ebd.). Alphabetisierung und Geburtenrückgang hingen dabei eng miteinander zusammen, da erstere eine Voraussetzung für letzteren sei.
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»Die Variable, die für die Demografen den Geburtenrückgang am ehesten erklärt, ist nicht etwa das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf, sondern die Alphabetisierungsrate der Frauen. Diese spielt in den Bevölkerungsstatistiken stets eine wichtige Rolle. Wo die Frauen schreiben und lesen lernen, gehen die Geburtenraten in der Regel alsbald zurück. Dabei wird der Bildungsstand der Frauen offenbar nicht von der wirtschaftlichen Entwicklung bestimmt. Vielmehr offenbart die Linie, die von der Alphabetisierung zum Geburtenrückgang führt, einen selbstständigen Wandel der Einstellung« (ebd.: 9).
Der demografischen Analyse von Todd und Courbage zufolge spielt aber die Alphabetisierung der Männer beim Geburtenrückgang eine etwas größere Rolle als die der Frauen, in den muslimischen Ländern sei diese sogar deutlich wichtiger. Weiterhin beobachten die Bevölkerungswissenschaftler zwischen muslimischen und nicht-muslimischen Ländern große zeitliche Unterschiede zwischen der Alphabetisierung von Männern bzw. von Frauen und dem Einsetzen des Geburtenrückgangs. So sei in einer Stichprobe von 21 muslimischen Ländern der Abstand zwischen der Alphabetisierung der Männer bis zur Verbreitung der Geburtenkontrolle mit 14 Jahren sehr viel kürzer als der einer Stichprobe von 28 nicht-muslimischen Ländern aus verschiedenen Kontinenten, wo der Geburtenrückgang im Durchschnitt erst nach 34 Jahre eingesetzt habe. Während in den nicht-muslimischen Ländern bei den Frauen der zeitliche Abstand 8 Jahre betrage, hinkten die Frauen in den muslimischen Ländern dem Beginn des Geburtenrückgangs im Durchschnitt um 9 Jahre hinterher. Der Bevölkerungsrückgang setze also in muslimischen Ländern nach erfolgter Alphabetisierung der Männer sehr viel früher ein und noch vor der Alphabetisierung der Frauen. Aus diesem empirischen Befund schließen sie, dass der Bildungsstand der Bevölkerung zwar ein ausschlaggebender, nicht aber der einzige bestimmende Faktor der demografischen Entwicklung sein könne. Vielmehr spiele auch die Variable Religion eine große Rolle. Die Ergebnisse der demografischen Analyse seien ein deutliches Indiz dafür, dass – anders als einst der Protestantismus und der Katholizismus – der Islam dem Geburtenrückgang kaum Widerstand entgegensetze. Daraus leitet sich die Frage ab, warum sich der Islam dem demografischen Wandel nicht in den Weg stellt. Die Antwort von Courbage/Todd lautet: Weil alles dafür spreche, dass er in den muslimischen Ländern rasant seine gesellschaftliche Dominanz verliert. Deshalb müsse man »die Propheten des Kampfs der Kulturen einmal mehr enttäuschen« (ebd.: 26). Für die Verbreitung der Geburtenkontrolle gebe es nach Courbage/Todd somit zwei bestimmende Faktoren, die miteinander auf komplizierte Weise zusammenhingen, wobei zwischen ihrem jeweiligen Eintreffen bisweilen große zeitliche Abstände liegen können: ein gestiegener Bildungsstand (d.h. Alphabetisierung der Bevölkerung) und ein Rückgang der praktizierten Religiosität.
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Alle großen Weltreligionen würden »von Natur aus fördernd« (ebd.: 28) auf das Bevölkerungswachstum wirken. Sie würden den Menschen zur Fortpflanzung ermuntern, da generell allen die Prämisse zugrunde läge, dass Gott den Menschen nicht erschaffe, dass dieser aussterbe, sondern damit er sich vermehre. Da alle religiösen Systeme zur Fortpflanzung ermuntern und damit das Bevölkerungswachstum fördern würden, sei der Geburtenrückgang ein deutlicher Indikator für den ihm zugrunde liegenden Rückgang des traditionellen Glaubens. Es deute alles auf ein universelles Gesetz hin, das unabhängig von der jeweiligen Religion wirke und früher oder später alle Länder und Gesellschaften erfasse, nämlich auf »das Gesetz, wonach dem Geburtenrückgang ein Zusammenbruch der Religiosität vorangeht« (ebd.: 30). Der universelle Säkularisierungsprozess sei in den christlichen Gesellschaften Europas und in den buddhistischen Gesellschaften Ostasiens schon sehr weit vorangeschritten. Auf diesem historischen Weg würden nun auch mit hoher Wahrscheinlichkeit die muslimischen Länder folgen. Nach dem Prozess der »Entchristianisierung« (ebd.: 34, Herv. i.O.) in Europa und der »Entbuddhistisierung« (ebd., Herv. i.O.) in Ostasien sei nun auch in den muslimischen Ländern ein Prozess der »Entislamisierung« (ebd., Herv. i.O.) in Gang gekommen, »der sich auch auf die Bevölkerungsentwicklung der betreffenden Länder auswirkte« (ebd.: 35). Es bedeute jedoch keinen Widerspruch, dass in den muslimischen Ländern Säkularisierungsprozesse zu verzeichnen seien, während gleichzeitig die religiösen Praktiken eine bedeutende Renaissance erleben. Der Fundamentalismus in muslimischen Ländern sei nur ein »vorübergehender Aspekt eines in Bedrängnis geratenen Glaubens, der seine Verfechter auf den Plan ruft« (ebd.: 36). Der Niedergang von Fundamentalismus und Islamismus sei vorprogrammiert, da die Säkularisierung stetig voranschreite. Die fundamentalistischen und islamistischen Bewegungen sowie die von ihnen ausgehende Gewalt müssten somit als Übergangsphänomene betrachtet werden bzw. könnten als Ausdruck einer »Krise des Übergangs« (ebd.: 39) im universalen Modernisierungsprozess gedeutet werden. Die Übergangs- bzw. Modernisierungskrise sei ein typisches historisches Phänomen, das keineswegs nur die muslimische Welt betreffe, sondern global auftrete. Das Zeitalter der Alphabetisierung und Bevölkerungskontrolle sei häufig auch das von politischer Umwälzung, Revolution und Gewalt. So habe sich auch der deutsche Militarismus, der in den Ersten Weltkrieg und in den Nationalsozialismus geführt hat »vor dem Hintergrund eines ersten Geburtenrückgangs (entwickelt)« (ebd.: 42) was auch für den japanischen Nationalismus und Militarismus gelte, die zum Angriff auf Pearl Harbor führten. Vor diesem Hintergrund wären die islamistischen und fundamentalistischen Bewegungen nur der Ausdruck einer Krise des
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Übergangs im Modernisierungsprozess, die bereits in vielen anderen Ländern und Gesellschaften der Welt, wenn auch auf unterschiedliche Weise und mit unterschiedlicher Heftigkeit und ideologischer Ausrichtung, aufgetreten, aber früher oder später dort auch wieder überwunden worden wären: »Wenn man nach Erklärungen sucht, warum die muslimische Welt heute von Gewaltausbrüchen erschüttert wird, muss man folglich nicht auf jene Spekulationen zurückgreifen, dass den Islam eine gewaltfördernde Geisteshaltung auszeichne. Die islamische Welt hat die Orientierung verloren, weil sie unter dem Schock der geistigen Revolution steht, die mit der fortschreitenden Alphabetisierung und der allgemeinen Verbreitung der Geburtenkontrolle einhergeht. In einigen nicht muslimischen Ländern, die eine solche Revolution hinter sich haben, brachen gewaltsame politische Unruhen aus, die alles bislang auf islamischem Boden Beobachtete in den Schatten stellten« (ebd.: 48).
Bei vielen Erscheinungen wie Gewaltausbrüchen in Europa von der Reformation bis zum Zweiten Weltkrieg oder in jüngster Zeit den Massakern zwischen Tutsi und Hutu in Ruanda, der Gewalt in Nepal oder eben auch dem islamischen Fundamentalismus handele es sich gleichermaßen um Krisen einer Modernisierung, welche Orientierungslosigkeit bei der Bevölkerung hervorrufe und eine Destabilisierung der politischen Regime bewirke. »Wenn die Welle über sie hinweggerollt ist, kommen die Länder wieder zur Ruhe« (ebd.: 50). Dabei lasse der Begriff ›Krise des Übergangs‹ offen, welche ideologischen Inhalte und welche Werte die desorientierten Kräfte gewaltsam vertreten. Todd und Courbage behaupten, die Familienstrukturen der betreffenden Länder beeinflussten die ideologische Ausrichtung in hohem Maße. So würden – um nur eins von mehreren Beispielen zu nennen, die die Autoren anführen – in Deutschland, Ruanda und Japan die Familienstrukturen den Wert der Ungleichheit zwischen den Brüdern beinhalten. Der älteste Sohn wurde nach dem männlichen Erbrecht zum einzigen Nachfolger bestimmt. Das Zusammenleben mit dem ältesten verheirateten Sohn hätte innerhalb der Familie ein Prinzip der Autorität vorausgesetzt. »Zusammen führten die familiären Werte der Autorität und der Ungleichheit dazu, dass sich auf dem Weg der Modernisierung eine Ideologie des Übergangs herauskristallisierte, in der die Hierarchie und eine gesellschaftliche und rassische Rangordnung im Vordergrund standen« (ebd.: 55). Denn wenn die Brüder ungleich sind, seien es auch die Menschen und Völker. In Deutschland habe die Krise entsprechend der auf Autorität und Ungleichheit basierenden Familienstruktur zu Degradierung der Juden zu Untermenschen, in Japan zu einer maßlosen Überhöhung der japanischen Nation und in Ruanda zu den Massakern der Hutu an der ethnischen Gruppe der Tutsi geführt.
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Auch die Ideologie des islamischen Fundamentalismus als Übergangsphänomen wurzele in der Struktur der traditionellen arabischen Familie, die durch Patrilinearität, Patrilokalität und Endogamie ausgezeichnet sei. Diese Form der Familienstruktur binde das einzelne Familienmitglied so stark in den Kontext der Familie und der nahen Verwandtschaft ein wie kaum eine andere Familienform weltweit. Deshalb wirke sich der »Schock der Modernisierung« (ebd.:70), die die Autorität erschüttere, hier besonders heftig aus. Die bislang unanfechtbare männliche Vorherrschaft innerhalb der Familie werde durch die Alphabetisierung der Frau und das veränderte Sexualverhalten bedroht. »Aus dieser Krise geht der Islamismus als eine Ideologie des Übergangs hervor. Er weist mehrere klassische Kennzeichen auf, so seine egalitäre Ausrichtung, die auf das Gleichheitsprinzip zwischen Brüdern in der Familie zurückgeht. Dieses Gleichheitsprinzip deckt sich mit der Ideologie der französischen, russischen und chinesischen Revolution« (ebd.). Jedoch gebe es auch zwei Besonderheiten des Islamismus: Zum einen spiegele das Festhalten am Kopftuch und am Schamgefühl Ängste von Volksgruppen wider, deren patrilineares Familienideal durch den wachsenden Bildungsstand und durch die Empfängnisverhütung erschüttert werde. Zum anderen gebe es eine ausgesprochen positive Einstellung zur Familie, die als eine Instanz gesehen werde, die in besonderer Weise Schutz und Geborgenheit gespendet habe. Die Modernisierungskrise löse in muslimischen Ländern wie etwa im Iran eine gewaltige Sehnsucht nach Stabilität aus, die sich im Festklammern an der traditionellen Familie äußere, in deren Mittelpunkt nach wie vor der Vater stehe: »Die Rückbesinnung auf die Religion als Gegenbewegung zur Modernisierung entspringt dieser positiven Einstellung gegenüber der Familie und einer nur scheinbar autoritären Vaterfigur, die sich auf metaphysischer Ebene in einem eher gütigen und sehr abstrakt gezeichneten Gott widerspiegelt« (ebd.: 71).
Jedoch seien die Rückkehr der Religion in den muslimischen Staaten und der Islamismus, auf dessen politischen Sieg unweigerlich seine kulturelle Niederlage folgen werde, nur vorübergehende Phänomene. Denn sein Grundwiderspruch bestehe darin, dass sich seine Führer als die Hüter der Tradition verstünden, obwohl hinter der Welle, auf der sie schwimmen, eine vorwärts gerichtete Revolution in den Einstellungen stehe. So würden auch die islamischen Länder dem vorgezeichneten Strom der Geschichte in Richtung Modernisierung folgen, womit auch das Aufkommen der Idee der Freiheit im politischen und ideologischen Leben verbunden sei. Am Ende des Buches steht dann auch – nicht ganz un-
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ähnlich zu Fukuyamas These vom »Ende der Geschichte«, von der sich Huntington einst abgegrenzt hat, – ein optimistischer Blick in die Zukunft: »Die Bahnen, auf denen sich die Völker der Welt, die verschiedenen Kulturen und Religionen weiterentwickeln, streben aufeinander zu. Angesichts der Trends bei den Geburtenraten können wir vielleicht schon für die nahe Zukunft auf eine Zeit hoffen, in der die verschiedenen Kulturtraditionen nicht mehr als Konfliktpotenziale, sondern nur noch als Zeugnisse einer vielfältigen Menschheitsgeschichte gesehen werden« (ebd.: 201).
4. Die Relevanz der Debatte für die sozialwissenschaftliche Kindheits- und Jugendforschung Die Debatte um Huntingtons »Kampf der Kulturen« ist eine Debatte, die weitgehend außerhalb der Kindheits- und Jugendforschung geführt wird. Dennoch lassen sich m.E. aus dem skizzierten Diskurs Konsequenzen ziehen, die auch für die sozialwissenschaftliche Kindheits- und Jugendforschung – gerade im Hinblick auf die Erforschung der Lebenswelten muslimischer Kinder und Jugendlicher – von Relevanz sein und ihre Diskussionen befruchten können. An dieser Stelle sollen nur einige Stichpunkte kurz aufgeführt werden: 1. Die Konstruktion von Jugend in der und durch die Wissenschaft hat einen großen Einfluss auf die öffentliche Wahrnehmung von Jugend bzw. auf die in der Öffentlichkeit vorherrschenden Jugendbilder. Dies gilt umso mehr, wenn wissenschaftliche Thesen außerhalb des universitär-wissenschaftlichen Diskurses eine hohe Resonanz erzielen wie im Fall von Huntingtons Buch »Kampf der Kulturen«. »Die Fremdthematisierung von Jugend erfolgt vor allem durch das Zusammenspiel von wissenschaftlicher Auseinandersetzung und gesellschaftlicher, politischer (und auch pädagogischer) Diskussion über Jugend« (Hafeneger 1995: 66). Insofern könnten Huntingtons populäre Thesen – wie auch die von Heinsohn, obwohl diese weniger verbreitet sind3 – möglicherweise einen bedeutenden Einfluss auf die gesellschaftliche (Fremd-) Thematisierung muslimischer Jugendlicher haben und das in der Gesellschaft vorherrschende Bild von ihnen mitprägen, auch wenn in der Öffentlichkeit
3 Aber auch die Thesen von Heinsohn wurden durch die Medien verbreitet und in ihnen diskutiert so z.B. in Deutschlandfunk, Taz, Zeit und CICERO (vgl. Kreile 2008: 8). Peter Sloterdijk ist davon überzeugt, »daß dieses Buch (Söhne und Weltmacht, A.S.) zur Pflichtlektüre von Politikern und Feuilletonisten gemacht werden sollte […]. Es darf in keiner Diskussion mehr fehlen, weil die aktuellen Konflikte nur im Licht dieser Analysen transparent werden« (Sloterdijk im Klappentext der Taschenbuchausgabe von »Söhne und Weltmacht«).
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weniger bekannt ist, welche Rolle Jugendliche in seinem Theorem spielen. Sowohl Huntington als auch Heinsohn zeichnen in ihren Werken ein deutlich negatives Bild von muslimischer Jugend. Folgt man ihnen, dann scheinen männliche Jugendliche generell zur Gewalt zu neigen, und ab einem bestimmten Anteil von Jugendlichen an der Gesamtbevölkerung steht die nationale oder gar die internationale Sicherheit auf dem Spiel – wie es derzeit in muslimischen Staaten der Fall sei. Bei Huntington sind muslimische Jugendliche und junge Männer die Hauptprotagonisten von blutig ausgetragenen Kulturkonflikten bis Mitte des 21. Jahrhunderts. Heinsohn geht davon aus, dass die »hormonelle Jungmännerwut« (Heinsohn 2005, o.S.) bzw. der »ewige Jungmännerzorn« (ebd.) ein anthropologisches Phänomen sei, die Gefahr aber derzeit von muslimischen Jugendlichen ausgehe, da die in den westlichen Ländern immer öfter als Einzelkinder aufwachsenden Jugendlichen »mit ständig wachsendem Erfolg zur Gewaltlosigkeit erzogen werden« (ebd.). Bei den Millionen von überschüssigen Jugendlichen aus den muslimischen Ländern könne davon keine Rede sein: »Weil Kolonisation – als Siedeln mit den jungen Frauen und Tötung oder Verknechtung des Restes – bisher unvorstellbar erscheint, beschränken sich die Youth Bulge-Jünglinge gegenüber dem Westen auf Terror« (ebd.). Sowohl Huntington als auch Heinsohn zeichnen in ihren Werken ein sehr problematisches, weil höchst pauschalisierendes, aber auch geradezu ›klassisches‹ Bild von (in diesem Fall muslimischer) Jugend als »Gefahr und Gefährdung« (Hafeneger 1995: 84). Mit der Legendenbildung von Jugend als Phase potenzieller Devianz und der »negativen Mystifizierung wird Jugend – eingebunden in die Denkfigur einer negativen Anthropologie und von Zukunftspessimismus – zur Projektionsfigur (Bühne, Leinwand) für Verdorbenheit, von aufgebauten Gefährdungs- und Bedrohungsszenarien für Staat, Gesellschaft und Kultur« (ebd.).
Vor diesem Hintergrund steht die sozialwissenschaftliche Jugendforschung vor der Aufgabe, die (oft interessengeleitete, ideologisch motivierte oder höchst normative) Produktion von Bildern über muslimische Jugendliche in öffentlichen und wissenschaftlichen Diskursen herauszuarbeiten, um mit der Nüchternheit wissenschaftlicher Analyse und empirischer Forschung pauschalisierenden Jugendbildern differenzierte Erkenntnisse über muslimische Jugendliche im Inund Ausland, deren unterschiedliche Lebensbedingungen und subjektive Perspektiven, entgegenzusetzen (vgl. z.B. Kreile 2008).
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2. Der populäre Begriff »Kampf der Kulturen« filtert und verzerrt die Wahrnehmung gesellschaftlicher Phänomene. Er ist – wie es der Essayist Nils Minkmar treffend ausdrückt – »eine intellektuelle Kippfigur. Wenn man ihn einmal im Sinn hat, deutet man alle Ereignisse nach diesem Muster« (Minkmar 2006). In diesem Sinne wurden – um diese Verzerrung an einem Beispiel zu verdeutlichen – die landesweiten und heftigen Ausschreitungen von Jugendlichen aus den französischen Vorstädten, in denen vielen Einwanderer aus Nord- und Westafrika leben, im Herbst 2005 in Frankreich von Teilen der Öffentlichkeit als Ausdruck des »Kampfes der Kulturen« im Sinne Huntingtons interpretiert. Auf den ersten Blick passen die Ausschreitungen gut in das Konzept, da an den Ausschreitungen ein hoher Anteil von Jugendlichen mit muslimischem Hintergrund beteiligt war und der Politikwissenschaftler – wie oben beschrieben – davon ausgeht, dass in Europa die westliche Kultur durch Einwanderer muslimischer Herkunft hinterfragt werde und somit auch innerhalb des Westens ein offener Kulturkrieg drohe, dessen Protagonisten vor allem die Jugendlichen/jungen Männer seien. Eine differenzierte sozialwissenschaftliche Sicht auf die Ereignisse im Herbst 2005 sowie auch auf die in den Folgejahren immer wieder aufflackernden Ausschreitungen in den Banlieues zeigt jedoch deutlich, dass die Jugendkrawalle in den französischen Vorstädten mit einem »Kampf der Kulturen« nicht viel zu tun haben. Olivier Roy stellt bezüglich der Ausschreitungen im Herbst 2005 fest: »Die Kleidung der Protestierenden hatte nichts Islamisches an sich: Ihre ›Streetwear‹ war vielmehr Teil einer westlichen städtischen Subkultur, nämlich der der jungen Afroamerikaner (vor allem das graue Kapuzen-Sweatshirt). Sie hören gewöhnlich Hip Hop und Rap, essen Fast Food, träumen von Konsum, wollen schöne Autos und nehmen gelegentlich Drogen. Auch in dieser Beziehung sind sie echte ›Westler‹, die den Einflüssen der Globalisierung unterliegen« (Roy 2006: 147).
Die Ausschreitungen seien vielmehr Ausdruck einer jugendlichen Protestkultur als religiös begründeter Fanatismus. Zwar würden in Westeuropa einige muslimische Jugendliche den Islam gelegentlich als Form einer Protestidentität und zur Erklärung ihrer Einstellungen nutzen, »die tatsächlich mehr mit ihrer Jugendkultur zu tun hatten« (ebd.: 149) als mit Religiosität oder mit kulturellen Hegemonialansprüchen einer wie auch immer definierten muslimischen Zivilisation. Bei den Ausschreitungen spielt somit die Religion so gut wie keine Rolle. Vielmehr geht es um die Reaktion auf Erfahrungen von Rassismus, Stigmatisierung und Diskriminierung, sozialer Marginalisierung und versagter An-
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erkennung bei gleichzeitigem Wunsch nach gesellschaftlicher Partizipation, Teilhabe an Wohlstand und Integration. Es ist kein »Kampf der Kulturen«, sondern vielmehr »die Spannung zwischen dem beherrschenden Einfluss einer Massenkultur und den Mechanismen der sozialen Ausgrenzung« (Dubet 2002: 1181), die sich in Gewalt entlädt. Die Sozialwissenschaften haben viele anspruchsvolle theoretische Konzepte und angemessene methodische Instrumente zur Erforschung von Lebenswelten und -bedingungen entwickelt. Geht es etwa um die Religiosität muslimischer Jugendlicher, so bietet der Ansatz von Roy der sozialwissenschaftlichen Kindheits- und Jugendforschung gute Anknüpfungspunkte für die differenzierte Erforschung der Lebenswelten muslimischer Kinder und Jugendlicher (vgl. z.B. Hunner-Kreisel 2008). »Die Aufteilung in Kulturen drängt sich überall in die Gesellschaftsanalyse ein und unterdrückt andere, ergiebigere Betrachtungsweisen. Sie schafft die Grundlagen dafür, fast alle in der Welt mißzuverstehen, noch ehe man beginnt, die Trommel für den Krieg der Kulturen zu schlagen« (Sen 2007: 56).
3. Amartya Sen weist in seinem Essay auf einen Sachverhalt hin, der auch für die Kindheits- und Jugendforschung von hoher Relevanz ist: Die Pluralität von sozialen Zugehörigkeiten und Identitäten bzw. Identitätsdimensionen.4 So banal die Aussage klingen mag, so wichtig ist sie doch: Muslimische Kinder und Jugendliche sind ›mehr‹ als nur muslimisch. Muslimische Kinder und Jugendliche sind Jungen oder Mädchen, besuchen unterschiedliche Schulformen, leben in unterschiedlichen sozioökonomischen und soziokulturellen Kontexten, sind Schiiten, Sunniten oder Aleviten, gehören unterschiedlichen sozialen Schichten an, leben in verschiedenen Familienformen und Ländern, haben unterschiedliche nationale oder ethnische Hintergründe, Hobbys, politische Einstellungen usw. Alle diese Dimensionen können für den einzelnen Muslim – und für muslimische Kinder und Jugendliche – von individueller Bedeutung sein oder eben auch nicht. Die Religionszugehörigkeit zum Islam kann unter Umständen für Kinder und Jugendliche, die unter die Kategorie »muslimische Kinder und Jugendliche« fallen, im Einzelfall eine nachrangige oder gar keine Rolle spielen. Sicherlich sind 4 Allerdings ist dieser Sachverhalt für die Sozialwissenschaften keine neue Erkenntnis. Man denke etwa – um nur einige von vielen Beispielen zu nennen – an Simmels Theorie von der Kreuzung sozialer Kreise im Modernisierungsprozess, die Metapher von der »Patchwork-Identität« (Keupp) in der Sozialpsychologie oder die Begriffe »Hybridität« und »Bastardisierung« in den Postcolonial-Studies. Sen kommt das Verdienst zu, diese in den Sozialwissenschaften seit langem diskutierten Erkenntnisse in einer allgemeinverständlichen Sprache auf Huntingtons Theorem zu beziehen.
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religiöse und ethnisch-kulturelle Zugehörigkeiten wichtige sozialwissenschaftliche (Differenzierungs-) Kategorien, aber sie sind nicht die einzigen – man denke nur an die Analysekategorie ›soziale Ungleichheit‹ und an die von der Pisa-, der Shell- oder der World-Vision-Kinderstudie immer wieder festgestellte Bildungsbenachteiligung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund. Von Wissenschaftlern vorgenommene Unterscheidungen müssen als Konstruktionen aufgefasst werden. Die muslimische Kindheit oder die muslimische Jugend gibt es nicht (vgl. auch Gerlach 2008), eher könnte man von muslimischen Kindheiten und Jugenden sprechen. 4. Sen wirft Huntington zu Recht eine reduktionistische Sichtweise vor. Den Vorwurf des Reduktionismus müssen sich m.E. aber auch Courbage und Todd gefallen lassen. Ihre Theorie kann als eine einfache und eingängige Interpretationsfolie sozialer und historischer Ereignisse verstanden werden. So könnten beispielsweise mit Bezug auf diese Theorie die jüngsten Ereignisse im Iran – die Massendemonstrationen von Regimekritikern mit Beteiligung vieler Jugendlicher und junger Erwachsener gegen die Wahlfälschungen Ahmadinedschads und für ein demokratisches Grundrecht sowie deren gewalttätige Unterdrückung durch Polizei und Paramilitärs – als ein deutliches Zeichen dafür gewertet werden, dass der Islamismus, der ja angeblich nur ein Übergangsphänomen im universalen Verlauf der Geschichte hin zu individueller und politischer Freiheit sei, langsam aber sicher untergehe. Die islamische Revolution im Iran hat nach Courbage und Todd gezeigt, dass der islamische Fundamentalismus zu einem bestimmten Zeitpunkt mehrheitsfähig werden kann. Jedoch sehe es so aus, als stelle der Islamismus nur eine augenblickliche Bewegung dar, nicht aber das Ende der Geschichte. »Vielmehr zeichnet sich für die Zeit nach ihm mit hoher Wahrscheinlichkeit eine entislamisierte muslimische Welt ab, welche die gleiche Entwicklung durchlaufen hat wie einst das christliche Abendland und der buddhistische Ferne Osten« (Courbage/Todd 2008: 36). Die Autoren gehen mit Bezug auf Hegels »Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte« von einem »universalistische(n) Geschichtsbild« (Courbage/Todd 2008: 9) aus, das mit Karl R. Popper (2003) als »Historizismus« bezeichnet werden kann. Popper5 5 Übrigens hat der Philosoph bereits zur Mitte 1980er-Jahre – also lange vor Erscheinen von Huntingtons Buch – in einem Vortrag »Über den Zusammenprall von Kulturen« (1984) die These aufgestellt, »daß ein solcher Zusammenprall nicht immer zu blutigen Kämpfen und zu zerstörenden Kriegen führen muß, sondern daß er auch der Anlaß zu einer fruchtbaren und lebensfördernden Entwicklung sein kann« (Popper 1984: 128). Ein kultureller Zusammenprall habe auch zur Entwicklung der griechischen Kultur geführt, die sich nach vielen weiteren Zusammenstößen, insbesondere mit der arabischen Welt, zur abendländischen Kultur weiterentwickelt habe. Auch
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hat in seinen Schriften immer wieder und zurecht darauf hingewiesen, dass es keinen höheren Sinn, universellen Verlauf, Zweck und kein Ziel der Geschichte gibt, und vor einem teleologisch-unilinearen Geschichtsbild gewarnt. Man müsse sich nach Popper »immer vergegenwärtigen daß die leichte Anwendbarkeit einer gewissen Interpretation und die Tatsache, daß sie alles erklärt, was wir wissen, ein sehr zweifelhaftes Argument zu ihren Gunsten ist; denn wir können eine Theorie nur dann prüfen, wenn wir nach einem Gegenbeispiel suchen können. (Dieser Umstand wird von den Bewunderern der verschiedenen ›Enthüllungsphilosophien‹, insbesondere von den Psycho-, Sozio- und den Historioanalytikern, fast immer übersehen; sie werden oft durch die Leichtigkeit verführt, mit der sich ihre Theorien überall anwenden lassen)« (Popper 2003: 313f.).
Die Theorie von Todd und Courbage wird den Ambivalenzen, Paradoxien, Gegenläufigkeiten und Ungleichzeitigkeiten der geschichtlichen Entwicklung und des Modernisierungsprozesses nicht gerecht. Sie eignet sich daher auch nicht als theoretische Perspektive auf aktuelle Ereignisse und soziale Phänomene in der sogenannten islamischen Welt, beispielsweise als Folie zur wissenschaftlichen Interpretation von Jugendprotesten im Iran.
5. Ausblick Möglicherweise trifft die These von Robert Misik zu, dass das Jahr 2008 sowohl den Untergang von Fukuyamas »Ende der Geschichte« als auch von Huntingtons Theorem vom »Kampf der Kulturen« markierte. Denn in diesem Jahr ging, so Misik – entgegen Fukuyamas ursprünglichen Annahmen – die westliche »triumphalistische Marktideologie« (Misik 2008: 3) als Folge der Finanzkrise kapitalistischer Märkte unter. Außerdem haben die US-Amerikaner einen neuen Präsidenten gewählt, der so gar nicht in das Weltbild vom »Kampf der Kulturen« passe. Denn mit dem Sieg von Barack Obama »dürfte auch die Ära der aggressiven Abgrenzung des Westens enden. Die Amerikaner wählten einen Schwarzen, den Sohn eines Kenianers, einen Mann, der zeitweise in Indonesien aufgewachsen ist. Der einen komischen Vornamen trägt – Barack. Dessen Nachname – Obama – vom Namen des größten Feindes der USA kaum zu unterscheiden ist. Und der auch im Zweitnamen genauso heißt wie der zweite, schon getötete Erzfeind, Saddam Hussein. Was der Mann trägt, ist
wenn Popper in diesem Vortrag den Begriff Kultur nicht weiter definiert, unterscheidet er sich von Huntingtons Konzept, da seine Ausführungen so interpretiert werden können, dass er nicht von einer auf objektiven Kriterien wie Religion und Sprache beruhenden Kultur ausgeht. So sei das Resultat der vielen historisch immer wiederkehrenden Völkerwanderungen ein »sprachliches, ethnisches und kulturelles Mosaik: ein Wirrwarr, ein Gemisch, das unmöglich wieder zu entwirren ist« (Popper 1984: 131).
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kein Name, schrieb unlängst das Magazin New Yorker, das ist eine Katastrophe. Dennoch wurde Barack Obama gewählt. Der Mann ist heute schon lebendes Denkmal. Für die ›Osmose der Kulturen‹« (Misik 2008: 3).
Auf der anderen Seite sind populistische Schlagwörter wie das vom »Kampf der Kulturen« oft langlebig und können als gesellschaftliches Deutungsmuster ihren Schöpfer überleben.6 In diesem Fall muss Huntingtons These und dem mit ihr vermittelten Jugendbild weiterhin die Differenziertheit wissenschaftlicher Forschung entgegensetzt werden. Vor diesem Hintergrund kann die Kindheits- und Jugendforschung mit der Untersuchung der Lebenswelten muslimischer Kinder und Jugendlicher – im besten Sinne des Wortes – sozialwissenschaftliche Aufklärung betreiben.
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II. Die Herausforderungen der Moderne für muslimische Jugendliche
Pop-Islam revisited: Wohin entwickelt sich die transnationale Jugendbewegung der »neuen Prediger« in Europa und in der Arabischen Welt? Julia Gerlach Drei Jahre, nachdem mein Buch »Zwischen Pop und Dschihad – Muslimische Jugendliche in Deutschland« erschienen ist und vier Jahre, nachdem ich mit der Interviewserie mit jungen Muslimen in Deutschland begonnen habe, bekam ich Anfang April 2009 die Chance, meine These kritisch zu überprüfen und die Beobachtungen von damals zu aktualisieren. Das Goethe-Institut Kairo hatte zu einer Veranstaltung eingeladen, bei der ich Gelegenheit bekam, mit zwei Gästen und dem Publikum über mein Buch zu diskutieren. Gibt es den Pop-Islam1 noch? Gab es ihn jemals? Wie hat er sich verändert? Zu meiner Linken saß Tasniem Ibrahim, eine derjenigen jungen Muslimas, die ich für mein Buch interviewt hatte und die sich ohne größeren Protest als Pop-Muslima bezeichnen lässt. Sie war für diese Veranstaltung extra aus Darmstadt angereist. Sie studiert an der Uni Frankfurt Politikwissenschaften, ist alleinerziehende Mutter eines Sohnes und sehr aktiv in der lokalen muslimischen Szene. Sie hat einmal in einem Interview gesagt, dass es ihr Spaß mache, Menschen zu verwirren. Und das tut sie: Sie verwirrt ihre nicht-muslimischen Mitmenschen, indem sie sich bemüht, ganz und gar nicht dem Klischee einer Kopftuchträgerin zu entsprechen. Sie bringt ihre Mitmuslime durcheinander, indem sie kritische Fragen stellt und Diskussionen anstößt. Von ihr erwartete ich in der Diskussion ein Update über die Entwicklung der Bewegung der Pop-Muslime in Deutschland und ihre Einschätzung der Unterschiede zwischen Pop-Islam in Deutschland und in Ägypten.
1 Den Begriff Pop-Islam verwendete ich zuerst 2005 in einem Artikel in Die Zeit: »Die Pop-Islamisten«. Er hat sich inzwischen verselbstständigt. Muslime bezeichnen sich selbst so, er taucht in Veröffentlichungen und sogar im Verfassungsschutzbericht auf.
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Auf meiner Rechten Seite saß Scheich Salim Abdel Gelil. Er ist Staatssekretär für Dawa-Angelegenheiten beim Awkaf-Ministerium Ägyptens. Er promovierte über Dawa und Religionsvergleich an der Al-Azhar-Universität. Als ich ihn in einem anderen Zusammenhang kürzlich interviewte und fragte, warum die Awkaf keine Antwort auf die neuen Prediger wie Amr Khaled und Co hat, lächelte er mich an und sagte: »Aber, wir haben doch mich!« Er ist regelmäßig zu Gast in Talkshows und tritt auch sonst sehr häufig – zumeist in religiösen Sendungen – auf, sowohl im staatlichen ägyptischen Fernsehen als auch bei diversen Satellitensendern. Von ihm erwartete ich mir in der Diskussion ein Update über den Stand der Diskussion innerhalb der islamischen Institutionen wie der Al-Azhar über die neue Welle der sehr sichtbaren Religiosität unter Jugendlichen in Ägypten. Wie reagiert man hier auf die zahlreichen »neuen Prediger«, die ja zum großen Teil Laienprediger sind? Als die Bewegung ab Mitte der 1990er-Jahre begann und ab 2000/01 richtig stark wurde, reagierten die Gelehrten des religiösen Establishments zunächst verunsichert und nervös. Druck von ihnen soll zur Ausweisung und zum Auftrittsverbot für den Starprediger Amr Khaled geführt haben. Inzwischen reagiert man gelassener, hat zum Teil den Trend aufgegriffen. Neben der Diskussionslinie religiöses Establishment versus Pop-Islam erhoffte ich mir von ihm auch Aussagen, wie die Al-Azhar auf die steigende Nachfrage von Muslimen aus Europa nach religiöser Bildung und Anleitung reagieren. Dies wiederum ist ein in Deutschland viel diskutiertes Thema. Der gut gefüllte Saal des Goethe-Instituts sah darüber hinaus vielversprechend aus: Eine ganze Reihe Frauen mit modischen Kopftüchern und Studenten mit kritischem Blick versprachen weiteres Feedback.
Pop-Islam: Wo kommt die Bewegung her? Doch worum geht es? Was ist der Pop-Islam und was soll das alberne Label? Ich selbst machte meine erste Bekanntschaft mit dieser Szene, als ich im Jahr 2000 in 6. Oktober Stadt, einer Satellitenstadt gerade außerhalb von Kairo, an einem Donnerstagabend zu einer Veranstaltung mit Prediger Amr Khaled ging. 6-7.000 junge Leute hatten sich in der noch nicht ganz fertig gebauten Moschee versammelt. Von dort, wo ich saß, konnte man den Redner nicht sehen, sondern nur seine schöne, warme Stimme hören, die sich an die Jugendlichen wandte und sie vor den Gefahren der Sommerferien warnte. Amr Khaled sagte, sie sollten sich auf den Sommer freuen, sie sollten Spaß haben, aber bedenken, dass der Teufel immer auf der Lauer liege und nur darauf warte, dass sich die Jugendlichen in Versuchung führen ließen. Er forderte die Jugendlichen auf zu beten,
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sich religiös fortzubilden und vorsichtig mit dem anderen Geschlecht umzugehen. Im Publikum saßen Schüler privater Schulen, Studenten, junge Berufstätige. Sie waren Kinder der Mittel- und Oberschicht. Es waren also diejenigen Jugendlichen, von denen man im Westen lange vermutete, dass es nur noch eine Frage der Zeit sei, bis sie so würden wie »wir«. Doch statt für unsere Freiheit und unseren Lifestyle, entschieden sich diese Jugendlichen für den Islam. Dies war der Ausgangspunkt der Recherche. In Ägypten hatte sich die Bewegung ab 1997/98 entwickelt. Amr Khaled, ein gelernter Buchhalter und extrem redebegabter religiöser Autodidakt, trat zunächst in Moscheen und Jugendclubs auf. Schnell wurden die Räume zu klein, denn seine Botschaft kam an. Bald produzierte er Videos und CDs von seinen Predigten und wurde so vom Satellitenfernsehen entdeckt. Er grenzte sich ab von den radikaleren und politischen Anführern der vorherigen islamischen Studentenbewegungen, der »Gamaat al Islamiya«. Er predigte einen Islam, der sich gut mit dem Leben eines ehrgeizigen jungen Menschen in einer modernen Gesellschaft vereinbaren lässt. Die Jugendlichen greifen Elemente der westlichen oder besser gesagt globalisierten Jugendkultur auf, versehen diese mit einem islamischen Vorzeichen und – schwupp – gehören sie ihnen. Es entsteht etwas Neues. Aus Madonna wird Sami Yusuf aus Eminem Ammar 114. Am plakativsten ist diese Aneignung in Bereichen wie Mode, wo sich eine hippe Kopftuchmode entwickelt hat, Musik und bei TV-Formaten. In den ersten Jahren geht es um die Dawa: Amr Khaled ruft die Jugendlichen zum Islam. In seinen Sendungen treten Schauspielerinnen und Moderatorinnen auf, die erzählen, wie sie zum Kopftuch gekommen sind und dass sie für den Islam gerne auf ihre Karriere verzichten. Er löst auf diese Art eine neue Welle der Verschleierung aus. Während zuvor Mädchen vielleicht gezögert hatten, das Kopftuch zu tragen, weil es nicht einfach ist, den modischen Ansprüchen der High Society zu genügen und dabei die Haare zu bedecken, entsteht schnell eine Kopftuchmode, die keine Wünsche offen lässt. Zeitschriften mit Bindeanleitungen boomen und Boutiquen mit islamisch korrekter Mode eröffnen in den besseren Wohngegenden. Ab 2003/04 geht Amr Khaled in die nächste Phase: Er fordert die nun religiöse Jugend auf, sich zu engagieren. Er predigt eine Art Mitmach-Islam und fordert die Jugendlichen auf, ihr Leben in die eigene Hand zu nehmen. Statt darüber zu klagen, dass die Regierung nichts für sie tue, sollen sich die Jugendlichen selbst darum kümmern, dass etwa die Straße vor ihrer Haustür repariert wird oder sie einen Job bekommen. Er fordert seine Zuhörer auf, erfolgreich zu sein (Al Zayed Zaid 2008). Es sei nicht nur ihr individueller
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Erfolg, sondern sie dienten damit auch der Sache des Islams. Geschäftserfolg wird als gottgewollt angesehen – auch darin unterscheidet sich der Pop-Islam von den eher konsumverachtenden Bewegungen davor. Zunächst wirkt der Ansatz des Pop-Islam sehr unpolitisch, weil auf das Individuum ausgerichtet. Er zielt aber in seiner Konsequenz auf eine Veränderung der Gesellschaft von innen. Wenn jeder Muslim ein besserer, erfolgreicher Mensch und ein besserer Gläubiger wird, dann entwickelt sich die Gesellschaft, die Umma, zu einer besseren, sprich islamischeren. Insofern erinnert der Ansatz stark an die frühen Schriften Hassan al Bannas, des Gründers der Muslimbruderschaft, und Amr Khaled wird eine Nähe, wenn nicht gar Mitgliedschaft in der Bruderschaft nachgesagt (Hesham al Awadi 2006). In dieser Phase entstanden überall in der arabischen Welt Jugendprojekte, die sich in Anlehnung an Amr Khaled »Lifemakers« nannten und sich für Umweltschutz, Bildungsprojekte oder auch Anti-Raucherkampagnen engagierten.
Pop-Islam kommt nach Deutschland 2004 stellte sich die erste Lifemakers-Gruppe bei einem Treffen der Islamischen Gemeinschaft in Deutschland vor. Nach der Recherche in Ägypten und anderen arabischen Ländern interessierte mich, ob es diese neue islamische Pop-Bewegung auch in Deutschland unter jungen Muslimen gibt. Das war die Ausgangsfrage meiner Interviews. Obwohl ein großer Teil der Muslime in Deutschland türkischer Herkunft ist und die Predigten (Botschaft) von Amr Khaled nicht versteht, stellte ich schnell fest, dass seine Ideen durchaus verbreitet sind. Einerseits liegt dies daran, dass man sich auch engagieren kann, wenn man nur davon gehört hat, dass es jetzt angesagt ist, im Namen des Islam Gutes zu tun. Darüber hinaus wurden manche Schriften und Reden Amr Khaled übersetzt. Aber der wichtigste Grund war sicher, dass seine Ideen genau den Zeitgeist getroffen haben. Viele meiner Interviewpartner beschreiben, dass die Ereignisse des 11.9.2001 und die anschließenden Diskussionen darum für sie eine große Rolle gespielt haben. »Ich habe immer gedacht, dass ich ganz normal ein Teil der deutschen Gesellschaft bin, aber dann kam der 11. September und meine Klassenkameraden schauten mich komisch an und sagten ›das waren doch welche von Euch!‹ Dann habe ich beschlossen, dass ich – wenn ich von den Anderen nicht als Teil ihrer Gesellschaft gesehen werde – genauso gut im Einklang mit meiner Herkunft leben kann«, sagt Amr aus dem Rhein-Main Gebiet in einem Interview und beschreibt, wie er sich immer stärker dem Glauben zuwandte. »Ich hatte immer
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mehr das Gefühl, als ›anders‹ gesehen zu werden. Da habe ich beschlossen, dass ich auch anders bin, und das ist gut so«, erzählt ein Mädchen aus Bonn und berichtet, wie sie dann angefangen hat, Kopftuch zu tragen. Da sie dadurch deutlich als Muslima erkenntlich ist und oft angesprochen wird oder unangesprochen das Gefühl hat, den Islam erklären oder verteidigen zu müssen, beschäftigt sie sich intensiv mit ihrem Glauben. Besonders die Frage nach der Verbindung zwischen Islam und Gewalt wird den Jugendlichen immer wieder gestellt und die Antwort darauf ist nicht einfach. Viele organisieren sich in kleinen Gruppen, treffen sich regelmäßig und studieren ihre Religion gemeinsam. Der Pop-Islam grenzt sich entschieden vom gewaltorientierten Dschihad-Islam ab. Die PopMuslime klagen darüber, dass die Attentäter des 9/11 und 7/7, die Schuh-, Koffer- und Sauerlandbomber ihnen das Leben schwer machen, da sie dem Islam das Image einer gewalttätigen Religion verpassen und damit alle Muslime in einen schlechten Ruf bringen. Sie engagieren sich nach innen in die Community, diese Strömung zu bekämpfen und versuchen vor allem nach außen, dem Islam zu einem besseren Ansehen zu verhelfen. Hierbei betreiben sie Dawa, das heißt, sie verbreiten die Botschaft, dass der Islam eine friedliche Religion ist. Gerade die Muslime in Westeuropa sehen es aber als ihre Aufgabe an, diese Botschaft auch in ihrem Tun zu personifizieren: »Die Dawa durch die Tat« ist angesagt. Amr Khaled hat in einer Predigt an die Jugend in Europa diese zu vorbildlichem Verhalten aufgefordert. Indem sie als einzelne Person zeigen, dass Muslime gute Menschen sind, verändern sie das Bild vom Islam (Amr Khaled 2005). Darüber hinaus entstehen Jugendgruppen, die im Bahnhofsviertel ihrer Stadt Obdachlosen Essen bringen, die so genannten Importbräuten Deutschunterricht geben, die sich für Umweltthemen engagieren und beispielsweise Parkflächen reinigen und Müll sammeln. Es geht darum, der nicht-muslimischen Öffentlichkeit zu zeigen, dass Muslime sich für die Gesellschaft insgesamt engagieren. Man will ins Gespräch kommen, dem Islam so zu einem positiveren Image verhelfen. Diese guten Taten gelten als eine andere Art des Gottesdienstes und bringen dem Gläubigen Hassanat – Pluspunkte fürs Paradies – ein. Die Aktivitäten der Jugendlichen sind immer mit einem gemeinsamen Gebet und religiösen Bekenntnissen verbunden. Nicht zuletzt spielt das Gemeinschaftserlebnis eine Rolle: Es macht den Jugendlichen einfach Spaß. Sie freuen sich, neue Freunde zu finden, und die Mischung aus Aktivität, Engagement und Glauben gibt ihnen das Gefühl, etwas ganz Besonderes zu machen. In vielen Fällen gab es Kritik von der älteren Generation der Muslime: Manche Gruppen beschreiben, dass die Moscheen ihnen keine Räume für ihre Aktivitäten zur Verfügung stellen wollten, weil die Jugendlichen ihre Aktivitäten in gemischt geschlechtlichen Gruppen machten. Andere bekom-
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men heftigen Gegenwind von der zeitgleich entstehenden Salafi-Bewegung. Zum Teil werden heftige Debatten bei StudiVZ oder in Chatforen ausgetragen. Da geht es um die Aktivitäten von Gruppen wie den Lifemakers. Hier wird vor allem diskutiert, ob Mädchen und Jungen gemeinsam Aktivitäten machen sollten und es wird heftig darüber gestritten, ob es im Sinne des Islams ist, wenn sich Muslime für die Belange der ungläubigen Gesellschaft engagieren. Sehr kontrovers werden auch beispielsweise die Aktivitäten des Kreativwerks diskutiert. Eine Gruppe von jungen Muslimen aus dem Rhein-Main-Gebiet ruft 2006 zu einem Kreativ-Wettbewerb auf: »Zeig mir den Propheten!« lautet ihre Aufforderung. Gewiss spielen sie damit auf den damals noch frisch in der Erinnerung haftenden Karikaturenkonflikt um die Mohammed-Darstellungen an, die in der dänischen Zeitung Jyllands Posten veröffentlicht worden waren. Vor allem, dass die Organisatoren des Wettbewerbs offen ließen, ob der Prophet als Person in den Einsendungen dargestellt werden darf oder nicht, erregt die Gemüter. Anlässlich der Preisverleihung für die Gewinner des Wettbewerbs – übrigens hatte kein einziger den Propheten in seinen Bildern als Menschen abgebildet – gießen die Organisatoren noch Öl ins Feuer der Debatte: Hülya Kandemir feiert ihr Comeback vor gemischtem Publikum. Kandemir hatte bis Anfang Zwanzig als Folk-Sängerin im Raum München Erfolge gefeiert. Dann nahm sie das Kopftuch, hängte ihre Bühnenkarriere an den Nagel und schrieb ein Buch darüber. »Himmelstochter« machte sie zu einer Heldin der neuen religiösen Bewegung. Bei der Preisverleihung 2007 in Darmstadt trat sie zögerlich auf die Bühne und erklärte, noch bevor sie zu spielen begann, dass sie wisse, dass es unterschiedliche Meinungen zu dem Thema gebe, ob Frauen vor gemischtem Publikum singen sollten. Sie habe daher vorsichtshalber eine Fatwa von Scheich Yusuf al Karadawi auf die Webseite des Kreativwerks stellen lassen. Falls jemand also Zweifel habe, könne er ja dort nachlesen.
Streit um die Zukunft des Islams Die Auseinandersetzung zwischen den Jugendlichen der verschiedenen islamischen Strömungen dreht sich selbstverständlich auch um »große« Fragen wie Religion und Politik, Islam und Grundgesetz oder Islam und Gewalt. Zunehmend spielen jedoch eher Alltagsfragen eine Rolle: Wie lerne ich islamisch korrekt einen Ehepartner kennen? Wie eng darf mein T-Shirt sein? Ist Musik Haram oder Halal? Diese Fragen kann man als pubertäre Belanglosigkeiten belächeln. Man kann sie jedoch auch als grundlegende Diskussion darüber betrachten, wie sich der Islam in Deutschland leben lässt. Die Anhänger des Pop-Islams leben ihren
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Glauben so, dass er gut zu ihrem Leben als Oberstufenschüler oder Student in Deutschland passt. Sie zeigen selbstbewusst ihren Glauben nach außen, praktizieren ihn und sehen sich dabei als Teil der Gesellschaft, der sie gerne angehören möchten. Das Gegenkonzept, der Salafi-Islam, steht für die Abgrenzung von der Gesellschaft. Die sehr textgetreue und strenge Anlehnung an das, was man über die Lebensweise der Gefährten des Propheten überliefert findet, steht häufig im Widerspruch zu einem Leben in der deutschen Gesellschaft. Der Trend zum Gesichtsschleier hindert Mädchen und Frauen an Studium und Beruf. Die Ablehnung der Gesellschaft als ungläubig führt zum Rückzug in die islamische Nische. Trotz der gegensätzlichen Ausrichtung und trotz der zum Teil drastisch geführten Debatten gibt es allerdings Überschneidungen der beiden Szenen. Viele Pop-Muslime erzählen, dass sie sich auch die Predigten von Pierre Vogel im Internet anhören oder die Unterrichtsstunden von Abdul Adhim in Berlin-Neukölln besuchen. Der Grund ist, dass die Salafi-Strömung im Internet sehr viel präsenter ist und vor allem einfach verständliche und sogar unterhaltsame Informationen zu islamischen Themen auf Deutsch anbietet. Beide Bewegungen, Pop-Muslime und Salafis, sind ungefähr zeitgleich entstanden und ihre Anhänger haben einen ähnlichen Bildungshintergrund: Realschüler, Gymnasiasten und Studenten. Die Salafis sind vielleicht etwas stärker unter Jugendlichen aus sozial schwächeren Schichten. Sie scheinen eine besondere Attraktivität für Newcomer zu haben. So finden sich unter den Salafi-Predigern überdurchschnittlich viele Menschen, die zum Islam konvertiert sind, und Jugendliche aus muslimischen Familien, die den Islam wiederentdecken, sind ebenfalls häufig unter ihren Anhängern zu finden. Ayman Mazyek, Generalsekretär des Zentralrats der Muslime hat diese Strömung einmal im Scherz als »Islam für Anfänger« bezeichnet und spielt darauf an, dass viele Jugendliche nach einer Phase des sehr strengen Ausrichtens an einem Gerüst von Regeln, Geboten und Verboten sich offeneren und zugleich gesellschaftskompatibleren Formen des Glaubens zuwendeten. Diese Entwicklung haben sehr viele der für das Buch Interviewten von sich beschrieben. Obwohl viele Muslime die Nase rümpfen, wenn man sie mit dem Label PopIslam versieht – sie sagen, sie sind Muslime und brauchen keine Präfixe vor ihrer Glaubensbezeichnung – halte ich es für nützlich, ein solches Label zu verwenden. In Zeiten, wo bei weiten Teilen der Bevölkerung die Worte jung, tief religiös und Muslim die Assoziationskette Terrorgefahr, Kofferbomben und Schläfer auslöst, ist es sinnvoll zu differenzieren. Während eine kleine Minderheit der Dschihadis Gewalt gegen den Westen als Bestandteil der Gebote des Islams versteht, grenzen sich Pop-Muslime davon ab. Obwohl fast alle, die Gewalt im
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Namen des Islam anwenden, zur Strömung der Salafis gehören, sind längst nicht alle Salafis gewaltbereit. Deshalb halte ich – trotz Naserümpfens – das genaue Hinschauen und eine differenzierte Bezeichnung für sinnvoll. Pop-Muslime fühlen sich oft in den eingesessenen Moscheegemeinden nicht sehr heimisch. Viele beschreiben, dass sie in den Sprachen ihrer Eltern – zumeist Arabisch, Türkisch oder Bosnisch – nicht so flüssig sind und die Predigten nicht so gut verstehen, wie sie es sich wünschen. Ihre Sprache ist oft eher Deutsch. Zudem suchen viele nach Antworten auf Fragen des Alltags, die ihnen die Imame, die zumeist aus islamischen Ländern geschickt wurden, nicht geben können, da ihnen das Wissen über die deutsche Gesellschaft fehlt. Viele Pop-Muslime gründen daher eigene Vereine, Jugendgruppen oder rufen Plattformen im Internet ins Leben. Große deutschsprachige Organisationen wie die Muslimische Jugend Deutschland oder auch der Jugendverband der IGMG, der zunehmend Gruppen für Studenten anbietet, in denen Deutsch die Umgangssprache ist, finden Zulauf. Die Ideen des türkischen Predigers Fetullah Gülen passen sehr gut zum Pop-Islam. Hier steht die Idee des Erfolgs und der Bildung noch stärker im Zentrum des Engagements, und die Aktivitäten um die Gründung von Privatschulen finden Unterstützung unter den jungen Frommen.
Pop-Islam: Die Definition Der Pop-Islam ist also eine ab Mitte der 1990er-Jahre entstandene transnationale islamische Jugendbewegung. Die Auseinandersetzung um Islam und Gewalt nach dem 11.9.2001 hat der Bewegung großen Zulauf gebracht. Die Anhänger, zumeist aus gebildeteren und wirtschaftlich bessergestellten Schichten, wenden sich dem Islam als Glauben zu und identifizieren sich verstärkt über die Zugehörigkeit zum Islam. Sie greifen Elemente globaler Jugendkultur auf und versehen Mode, Musik und TV-Formate mit islamischem Vorzeichen. Erfolg und das Engagement für die Gesellschaft werden als Dienst an der Umma und damit am Islam gesehen. Pop-Muslime sind zugleich tief religiös und trendbewusst. Sie verstehen sich in Abgrenzung zum traditionellen Islam der älteren Generation und zum gewaltbefürwortenden bzw. gesellschaftsabgewandten Islam der Dschihadis oder Salafis. Soweit die Beobachtungen bis Anfang 2008.
Pop-Islam: Wie geht es weiter? Bestandsaufnahme 2009: Was macht der Pop-Islam? Die wichtigste Beobachtung ist, dass es offensichtlich eine Trennung zwischen individuellem, popislamischem Lifestyle und dem dazugehörigen Islamverständnis einerseits und
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dem Engagement für die Gesellschaft andererseits gibt. Viele der Träger der Bewegung beschreiben, dass ihre Aktivitäten gerade in die Krise geraten seien. Zum Teil sind sie einfach älter geworden, haben Familien gegründet und begonnen zu arbeiten, sodass weniger Energie für weitere Aktivitäten bleibt. In anderen Fällen haben die Aktivitäten selbst an Attraktivität verloren. Wer ein Dutzend Mal Obdachlose mit Brötchen versorgt hat, sieht sich anschließend nach neuen Herausforderungen um. Besonders die Bewegung der Lifemakers, die aus sehr autonomen, über Deutschland verteilten Gruppen besteht und nur durch die gemeinsame Identifikation mit Amr Khaled verbunden war, hat schnell an Schwung verloren. Hinzu kommen zum Teil heftige Auseinandersetzungen mit den Salafis einerseits und den stärker organisierten Gruppen wie der Muslimischen Jugend andererseits. Die Einzelnen verloren die Lust, hörten auf, sich zu engagieren oder schlossen sich anderen Gruppen an. Die Muslimische Jugend bleibt attraktiv für Jugendliche, weil sie eventartige Veranstaltungen anbietet und die islamische Atmosphäre dabei Jugendliche weiterhin anzieht. Allerdings kommen sehr viel mehr Jugendliche zu den Jahrestreffen und Veranstaltungen, als tatsächlich Mitglied sind oder sich regelmäßig engagieren. Viele kritisieren die undurchsichtigen Strukturen und die undefinierten und tabuisierten Verbindungen zur Islamischen Gemeinschaft Deutschland und zur Muslimbruderschaft. Die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft München gegen den Vorsitzenden der IGD, Ibrahim al Zayat, wegen finanzieller Unterstützung der Hamas2 führen dazu, dass auch die Muslimische Jugend, die von vielen Befragten ganz selbstverständlich mit der Familie Al Zayat und damit mit der Muslimbruderschaft in Verbindung gebracht wird, an Ansehen verliert, auch wenn es offiziell keine Verbindung gibt. Wer ehrgeizig ist und der Botschaft folgt, dass jeder Einzelne danach streben soll, ein besserer und erfolgreicher Muslim zu sein, der überlegt sich, ob er gerne mit einer Organisation in Verbindung gebracht werden möchte, die in der Öffentlichkeit schlecht angesehen wird. Diese Haltung scheint inzwischen gegenüber dem Gefühl zu überwiegen, dass man unter muslimischen Brüdern solidarisch sein, die Reihen bei Angriffen von außen fest schließen und die Angegriffenen wie Ibrahim Al Zayat um jeden Preis verteidigen müsse.
2 Ihm wird unter anderem vorgeworfen, den 2002 verbotenen Verein Al Aqsa finanziell unterstützt zu haben. Zudem sollen mehrere 100.000 Euro an wohltätige Organisationen in Israel und Palästina geflossen sein, die dann an bewaffnete Gruppen weitergeleitet wurden. Ermittelt wird wegen Gründung einer kriminellen Vereinigung, Geldwäsche, Betruges, betrügerischen Bankrotts, Erschleichung von Fördergeldern und Untreue. Bei Durchsuchungen Anfang März 2009 wurden mehrere Computer und Akten beschlagnahmt (vgl. u.a. Spiegel-Online 29.3.09 http://www. spiegel.de/dertag/pda/avantgo/artikel/0,1958,616014,00.html).
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Ähnlich negativ wirken sich diese Vorwürfe auch auf die IGMG aus. Auch gegen deren Vorsitzenden Ouz Üçüncü wird ermittelt. Viele Interviewte aus der IGMG waren 2005/06 voller Elan, weil sie eine neue Generation an der Spitze der IGMG sahen und eine stärkere Ausrichtung der Aktivitäten der Organisation auf das Leben in Deutschland bemerkten. Gerade in den neuen Vorsitzenden, der in Deutschland aufgewachsen und hier sozialisiert ist, setzten viele Gymnasiasten und Studenten Hoffnungen. Sie sahen die Organisation auf dem Weg zu einer deutschen Organisation, die den Gläubigen beim Spagat zwischen Religion und dem Leben in der deutschen Gesellschaft hilft. Man hatte darauf gehofft, dass die IGMG den Sprung aus dem Verfassungsschutzbericht schaffen und zu einer akzeptierten Organisation in der Gesellschaft würde. Diese Bemühungen sind vorerst wohl gescheitert. In anderen Fällen stoßen die Ideen und Projekte der Pop-Muslime immer wieder an Grenzen und es fällt schwer, nicht aufzugeben. INSSAN in Berlin ist ein Beispiel dafür. Die Organisation war mehrere Jahre lang sehr aktiv und hat Projekte zu aktuellen Themen wie Zwangsheirat und Ehrenmord durchgeführt. Sie war eine der ersten muslimischen Gruppen, die Umweltschutzprojekte machten und diese islamisch begründeten. Parallel dazu sammelte sie bundesweit Geld, um ein großes islamisches Zentrum mit Moschee in Berlin zu bauen. Das Bauprojekt wurde mehrmals gestoppt und stieß auf massiven Widerstand vonseiten der Anwohner und der Behörden. In diesem Zusammenhang wurde auch INSSAN seine Verbindung zu Ibrahim al Zayat immer wieder zum Vorwurf gemacht. Die Diskussionen darum haben die INSSAN-Aktivisten verschlissen. Ihre Aktivitäten gehen zwar weiter, sind jedoch längst nicht mehr so engagiert wie zuvor. Möglicherweise liegt ein Grund für das Nachlassen der Aktivitäten auch in einer Veränderung des gesellschaftlichen Klimas in Deutschland: Die popislamische Bewegung ist entstanden als Reaktion auf die Auseinandersetzung nach dem 11. September 2001 und die verbreitete Vorstellung der Spaltung der Welt in Orient und Okzident. In Deutschland sahen sich junge Muslime mit der Angst ihrer Mitbürger vor Terror konfrontiert. Insgesamt hat sich die Lage etwas entspannt. Seit längerer Zeit hat es keinen Anschlag von Islamisten auf Zivilisten in Europa gegeben. Die Terrorgefahr besteht zwar weiter, aber die Menschen haben sich daran gewöhnt und das Thema ist in den Medien und im Alltag längst nicht mehr so präsent wie zuvor. Die Debatte um das Kopftuchverbot und den islamischen Religionsunterricht ist zwar nicht beendet und flammt in regelmäßigen Abständen wieder auf, aber sie ist stärker zu einem Dauerbrenner geworden. Die Menschen haben sich daran gewöhnt, haben sich arrangiert oder resigniert. Das
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heißt, dass die gesellschaftlichen Ursachen, die zur Herausbildung des Trends geführt haben, abgenommen haben. Es gibt Ansätze für eine neue Phase: Mehrere Jugendgruppen und Individuen haben begonnen, intellektueller an den Glauben heranzugehen. Sie sind interpretationsfreudiger. So gründete sich zum Beispiel Mitte 2008 im RheinMain Gebiet eine Initiative, die zum Ziel hat, der salafistischen Strömung um Pierre Vogel im Internet etwas entgegenzusetzen. Die Predigten von Mohammed Sameer Murtaza unterscheiden sich nicht nur in der Botschaft von denen des ehemaligen Profi-Boxers Pierre Vogel: Murtaza plädiert für einen vielschichtigeren und zugleich weltoffeneren Islam. Er gibt zudem ein anderes intellektuelles Niveau vor und wendet sich an ein studentisches Publikum. Ob dies zu einer Neuauflage des Pop-Islam führen wird, ist ungewiss. In den USA zeigen die Taqwacores, die einen Remix aus Punk und Islam leben, dass es beim Anpassen des Islams an das Leben in der modernen westlichen Gesellschaft und beim Interpretieren der Gebote des Glaubens durchaus noch Neuland zu entdecken gibt. Die Taqwacores definieren sich sehr viel stärker als der Pop-Islam über ihren Ansatz, hergebrachte Lehrmeinungen aus dem Islam grundsätzlich in Frage zu stellen. So geht die Initiative, dass Frauen das Freitagsgebet in einer gemischten Moschee anleiten können, auf die Taqwacores zurück. Zumindest behaupten sie dies von sich selber. Aber wie bereits der Name verrät: Zwischen massentauglichem Pop-Islam und punkigem Taqwacore liegen Welten. Ob der Trend aus den USA in Europa Erfolg haben wird, ist zweifelhaft, da sowohl die gesellschaftlichen Bedingungen und Freiräume als auch die soziale Herkunft der Träger der beiden Bewegungen ganz anders sind.
Ist der Pop-Islam in Deutschland tot? Dass der Pop-Islam in Deutschland tot sei, kann man dennoch nicht sagen, denn parallel zum Nachlassen des Engagements boomt der Lifestyle-Aspekt des PopIslam. Statt eines oder zweier Mode-Labels, die Lounge-Shirts mit islamisch korrekten Sprüchen anbieten, gibt es mindestens ein Dutzend. Auch BabyBodies mit flotten Glaubenssprüchen lassen sich im Internet bestellen. Neben Ammar114 und den anderen Pionieren der islamischen Musik-Szene gibt es jetzt viele, viele andere Bands und Einzelpersonen, die im Namen des Propheten Musik machen bzw. die Musik als Mittel der Dawa verstehen. Es gibt Heiratsagenturen, Chatforen und was sonst zum Lebensgefühl der Pop-Muslime beiträgt. Ähnlich wie Mitte der 1980er-Jahre Punk-Mode den Sprung von der Straße in die Kollektionen von C&A und Karstadt schaffte, ist der Pop-Islam
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inzwischen zum Mainstream der Zielgruppe geworden. Das Lebensgefühl umfasst dabei sehr viel mehr als nur das Outfit und einige Accessoires. Die Einstellung, dass man seinen muslimischen Glauben nach außen zeigen soll und dass er sich gut mit dem Leben als erfolgreiches Gesellschaftsmitglied verbinden lässt, ist unter jungen Muslimen in Deutschland ebenso weit verbreitet wie der Trend zum H&M-Kopftuch oder zu Converse-Turnschuhen. Das Bewusstsein, dass es wichtig ist, in seinem eigenen Tun ein gutes Beispiel abzugeben und damit das Bild des Islams insgesamt in der Gesellschaft ein kleines bisschen zu verbessern, ist weit verbreitet. Die »Dawa der Tat« hat sich also stärker auf das Handeln des Einzelnen verlagert.
Und in der Arabischen Welt? Und was gibt es Neues in der Arabischen Welt? Von hier verbreitete sich die Idee des Pop-Islams. Sind vielleicht von hier neue Impulse zu erwarten? In Ägypten hat die Bewegung so großen Erfolg, dass sie sich quasi selber überflüssig gemacht hat: Schaut man sich die Zielgruppe – Jugendliche der Mittel- und Oberschicht – an, so findet man dort kaum ein Mädchen oder eine junge Frau mehr, die kein Kopftuch trägt. Das Gebet und der Glaube sind wichtige Konversationsthemen und es gehört zum guten Ton, seine Frömmigkeit demonstrativ nach außen zu zeigen. Natürlich sind nicht alle Trägerinnen von modischen Kopftüchern – im Frühjahr 2009 trägt frau nicht mehr nur ein Kopftuch, sondern der Trend geht zu mehreren Tüchern übereinander, als wolle man seine demonstrative Frömmigkeit steigern – so religiös, wie sie sich den Anschein geben. Scheich Salim Abdel Gelil klagte in der Diskussion im Goethe Institut in Kairo über die Oberflächlichkeit des »Islam al Shakli – des Islams des äußeren Scheins«, wie er den derzeitigen Trend in Ägypten nannte. »Dieser Trend der oberflächlichen Islamisierung wurde von den neuen Predigern vorangetrieben. Zugleich haben wir ein religiöses Analphabetentum von 75 Prozent«, sagt er und beschreibt damit die Diskrepanz zwischen Anschein und Inhalt. Allerdings gibt es keinen Zweifel: Der Mainstream der Gesellschaft ist inzwischen fromm und sieht im Islam einen sehr wichtigen Leitfaden für den Alltag. Damit ist das Ziel der »neuen Prediger« erreicht. Dawa-Zentren wie das Dar al Koran von Mohammed Hamid, in dem zu Hochzeiten der Bewegung viele hundert Studenten Religionsunterricht bekamen und den Koran auswendig lernten, haben ihre Tätigkeit auf andere Bereiche verlegt. Hier lernen Jugendliche – natürlich sind sie alle religiös – den Umgang mit dem Computer und andere Fertigkeiten für ein erfolgreiches Leben. Da das Ziel erreicht ist oder zumindest die sicht-
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baren Erfolge, die jetzt noch zu erreichen sind, nur klein sind, haben Aktionen wie die der Lifemakers an Attraktion verloren. Inzwischen gibt es nicht mehr nur einige wenige religiöse Sender und es treten nicht nur einige wenige, allen bekannte TV-Prediger auf: Es gibt ein gutes Dutzend religiöser Satellitensender, und auch im staatlichen Fernsehen treten Prediger aller Richtungen auf. Mit »4Shibab« ist gerade noch einmal ein ganz neues Format auf Sendung gegangen. Hauptsächlich Musik gibt es hier zu sehen, und natürlich sind die Sänger und die Musiker in den zum Teil aufwendig produzierten Video-Clips betont fromm. Selbst eine islamisch-korrekte Version von Star-Academy ist hier im Angebot. Auch die anderen Sender versuchen immer neu, ihre Zuschauer zu gewinnen. Fernsehstars, die sich jetzt noch vor der Kamera zu ihrem Leben mit dem Kopftuch äußern, versprechen nicht mehr unbedingt eine gute Quote. Also müssen andere Publikumsmagneten her: Gut eignet sich die Polarität der verschiedenen islamischen Richtungen. So gibt es vor allem in Saudi Arabien Gelehrte, die sich auf spektakuläre Fatwas spezialisiert haben. Zuletzt erließ Scheich Mohammed al Habdan die Fatwa, dass nicht nur der Gesichtsschleier für Frauen ein Muss sei, sondern dass vielmehr die islamisch korrekte Form ein Gesichtsschleier sei, der nur ein Auge frei lasse. Die Medien griffen diese neue Lehrmeinung gierig auf und schon war die TV-Woche gerettet, denn darüber lässt sich natürlich trefflich in diversen Talkrunden diskutieren. In weiten Bereichen hat diese Art der Diskussion über religiöse Vorschriften die politische Debatte abgelöst. Wie die politische Talkshow-Kultur folgen auch die religiösen TV-Formate dem Trend zur ständigen Radikalisierung. »Wenn der eine Sender Scheich soundso hat, der sagt, die Frauen sollen dies tun, dann hat der nächste Sender einen, der entweder genau das Gegenteil sagt oder womöglich noch radikaler ist. Das hat mit Religion, Islam und Glauben wenig zu tun«, fasst Scheich Salim zusammen. Er ist dabei nicht unselbstkritisch: »Das Problem ist, dass wir, die Al Azhar und die Awkaf versäumt haben, etwas ebenso Medienwirksames in der Mitte zu schaffen, was wir dagegen setzen können«, sagt er. Doch immerhin haben sie es geschafft, einige Gelehrte zu fördern, die – fast – ebenso charismatisch sind und – fast – ebenso jugendgerecht über den Glauben plaudern wie Amr Khaled und Co. Das gesprochene Wort ist in vielen Fällen fast identisch – ob da nun ein Selfmade-Prediger oder einer der redegewandten Gelehrten der Al-Azhar sitzt. Der Unterschied besteht in dem Fall darin, dass der Überbringer der Botschaft als Gelehrter mehr Gewicht hat. Diese Beobachtung lässt sich jedoch auch umdrehen: Wenn selbst die Gelehrten in den Stil der »neuen Prediger« umschwenken und fast das Gleiche sagen, dann bedeutet das ja, dass die Botschaft der Prediger nicht so verkehrt sein kann. Insgesamt ist in
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Ägypten zu beobachten, dass es eine immer stärkere Konzentration auf Äußerlichkeiten gibt und das innere Engagement dahinter zurückfällt. Hier spielt eine Rolle, dass inzwischen die große Mehrheit der Frauen und Mädchen Kopftuch trägt und es daher bei der Abgrenzung von Jugendszenen auf Details ankommt: Trägt ein Mädchen »Spanish« (am Hinterkopf geknotet) oder Kheima (Zelt). Im Frühjahr 2009 sind zwei gegenläufige Trends zu beobachten: Einerseits zeigen viele Mädchen wieder Haar: Eine Strähne – möglicherweise gefärbt – schaut in der Stirn unter dem Kopftuch hervor. Ebenso wie dieser Trend aus dem Iran abgeschaut zu sein scheint, erinnert auch die neue Form der Abaya – des Mantels – , die von sehr frommen Frauen über dem Kopf getragen wird, an den Tschador der Iranerinnen. Der intellektuellere Flügel unter den neuen Frommen grenzt sich von beiden Seiten ab, indem seine Anhänger in Modefragen eher zurückhaltend sind und zum Teil sogar das Erkennungszeichen der alten islamischen Studentenbewegung wiederbeleben: Das zeltähnliche sogenannte Kheima erlebt ein Comeback. Islamischer Retro-Look, könnte man sagen. Kritiker des Pop-Islams haben immer wieder davor gewarnt, dieser sei der Türöffner für die strengen Lehren und den spaßfreien Lifestyle des Wahhabismus in die Wohnzimmer der Mittel- und Oberschicht. Es lässt sich zwar beobachten, dass der Gesichtsschleier im Straßenbild in Kairo sehr viel weiter verbreitet ist, als er es vor 10 Jahren war. Aber ihnen gegenüber steht der sehr weit verbreitete Modetrend, extrem gewagte Kopftücher zu viel Make-up und hautenger Kleidung zu tragen.
Unterschiede zwischen europäischem und arabischem Pop-Islam Modisch hinkt Europa hinter diesen Trends meilenweit hinterher. Auch darüber hinaus haben sich die beiden Pop-Islame in den letzten Jahren stark auseinanderentwickelt. In der arabischen Literatur wird der Pop-Islam häufig als »Bewegung der Neuen Prediger« bezeichnet. Dies steht für einen ganz entscheidenden Unterschied zwischen den Bewegungen in der arabischen Welt und Europa. In Ägypten und am Golf wird der Pop-Islam vor allem von Predigern vorangebracht und die Anhänger werden zunehmend zu Konsumenten der Bewegung. Dies gilt vor allem nach dem Nachlassen des Engagements der Lifemakers, die aber in der arabischen Welt auch sehr viel stärker auf die Person Amr Khaleds fixiert waren als die eher autonomen Gruppen in Europa. In Europa klagen viele über das Fehlen von Vorbildern und geeigneten Gelehrten, denen sie folgen können. Dort wird die Bewegung stärker von der Basis getragen und bestimmt.
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Tasniem Ibrahim merkte in der Diskussion im Goethe Institut Kairo an, dass ein weiterer Grund, weshalb in Deutschland junge Muslime sich zumindest in den vergangenen Jahren stärker für die Belange ihrer Religion eingesetzt hätten, in der Auseinandersetzung mit der nicht-muslimischen Gesellschaft zu sehen sei: »In Deutschland werde ich ja als Kopftuchträgerin ständig mit Vorurteilen konfrontiert. Ich muss mich automatisch mehr mit meiner Religion auseinandersetzen, damit ich auf die Vorwürfe reagieren kann. Das brauche ich hier nicht, wo sowieso die große Mehrheit es normal findet, Muslim zu sein und auch die Religion zu praktizieren«. So erklärt sie das größere und länger andauernde Engagement der europäischen Pop-Muslime für gesellschaftliche Belange. Geht man davon aus, dass es das Ziel der popislamischen Bewegung war, die Mittel- und Oberschichtjugend zum Islam zu bringen, dann kann man sagen: Ziel erreicht! Geht man davon aus, dass der Pop-Islam in der Tradition der vorhergehenden islamischen Jugendbewegungen die »Renaissance der Umma« zum Ziel hat, dann hat sie noch einiges vor und es wird interessant zu beobachten, in welche Richtung sich das Engagement und die Bewegung weiterentwickeln wird. Auf die politisch-islamische Studentenbewegung der 1970er- und 80er-Jahre und die Gewalt der 1990er-Jahre folgte der Pop-Islam, der sich jetzt möglicherweise seinem Ende nähert. Und was kommt danach? Es ist unwahrscheinlich, dass es einen größeren Trend zu einer strengen salafistischen Form geben wird, denn dieser Islam lebt sich so schlecht in der erfolgsorientierten Welt. Der Dschihad-Islam hat in den vergangenen eineinhalb bis zwei Jahren an Attraktion bei der Jugend verloren. Andererseits scheint es derzeit unwahrscheinlich, dass sich die Mittel- und Oberschichtjugend in absehbarer Zeit von der demonstrativen Frömmigkeit wieder abwenden wird. Zwar haben einige der Heldinnen der Pop-Muslime in Ägypten – Abeer Sabri etwa – in der letzten Zeit ihr Kopftuch wieder abgenommen und auch bei Studentinnen lässt sich derzeit beobachten, dass einige wieder Haar zeigen, aber der Mainstream scheint davon wenig beeindruckt. So bleibt zu beobachten, ob Abeer Sabri, die immerhin eine der Trendsetterinnen war, als sie 2003 das Kopftuch nahm, eine größere Entschleierungswelle auslösen wird. Soviel ist zumindest klar: Was auch immer in der arabischen Welt auf den Pop-Islam folgt, wird auch die muslimischen Jugendlichen in Europa beeinflussen. Die Kanäle des Austauschs sind geöffnet und es ist fest im Bewusstsein der Heranwachsenden, dass sie alle zur Umma gehören, egal, ob sie diesseits oder jenseits des Mittelmeers den Geboten des Islams folgen bzw. sich auf den Webseiten von Amr Khaled, Scheich Karadawi oder anderen über den »richti-
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gen« Islam informieren. Dies ist ein großer Unterschied zwischen den neuen Bewegungen (von Pop-Islam bis zum Dschihadi-Tum), die ab Mitte der neunziger Jahre entstanden sind, und der alten islamischen Bewegung. Allerdings muss die Einschränkung gemacht werden, dass bisher der Fluss von Informationen und Trends von Süd nach Nord verläuft: Die Jugendlichen in Europa haben den Trend der Bewegung der Neuen Prediger aufgegriffen und ihn dann so verändert, dass er zu ihren Bedürfnissen passt. Andersherum, von Nord nach Süd also, fließt es noch nicht so, wie es der Bewegung des Pop-Islam gut tun würde: Die Diskussionen um die Zukunft des Islams, wie sie unter Jugendlichen in Europa geführt werden, nimmt man in Ägypten beispielsweise kaum wahr. Mit einer Hinwendung zu mehr Diskussion und mehr Interpretation ist also auch eher nicht zu rechnen, zumindest nicht international. So ist es eigentlich das Wahrscheinlichste, dass der Pop-Islam sich auf seine Wurzeln in der Pop-Kultur und im Konsum besinnt und sich eine Weile noch durch die Erfindung und immer wieder Neuerfindung von Trends am Leben erhält. Madonna steht schließlich auch schon seit Jahrzehnten auf der Bühne und würde irgendjemand wagen zu behaupten, sie sei langweilig?
Literatur Al Zayed Zaid (2008): Dawa for Dollar. In: Arab Insight. Bringing Middle Easter Perspectives to Washington. Washington: World Security Institute. http://www.arabinsight.org/aiarticles/187.pdf Hesham al Awadi (2006): Von Kushk zu Amr Khaled. URL: http://www.islamonline.net/ arabic/daawa/2006/04/article07.shtml (arab., eingesehen am 26.4.2006). Amr Khaled (2005): Integration im Islam. Über die Rolle der Muslime in Europa. Karlsruhe: Andalusia. Kandemir, Hülya (2005): Himmelstochter. Mein Weg vom Popstar zu Allah. München: Pendo.
Erziehung, Moralität und Reife: Zur Popularität privater religiöser Kurse im städtischen Tadschikistan Manja Stephan Einleitung Erziehung ist ein zentrales Thema, das gegenwärtig die Diskussionen in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit Tadschikistans beherrscht. Im Brennpunkt dieser Debatten steht die muslimische Jugend. Als große gesellschaftliche Gruppe1 bildet sie die treibende Kraft der tiefgreifenden wirtschaftlichen, sozialen und religiösen Veränderungen, die sich seit dem Ende der sowjetischen Ära in der muslimisch2 geprägten zentralasiatischen Republik vollziehen. Der erleichterte Zugang zu neuen Kommunikationstechnologien, die Arbeits- und Bildungsmigration ins westliche und islamische Ausland sowie die neuen Erwerbsmöglichkeiten im Bereich der internationalen Entwicklungszusammenarbeit sowie der Computer- und Internetbranche bringen insbesondere junge Menschen im Land in Berührung mit transnationalen Kulturgütern (Werte, Denkmodelle, Lebensstile, Konsumgüter) und stoßen eine kritische Reflexion über oder gar die Abkehr von den Werten, kulturellen Traditionen und Identitätsentwürfen der Elterngeneration an.
1 Capisani (2000) konstatiert, dass 1997 ca. 42% der Gesamtbevölkerung Tadschikistans als jünger als 14 Jahre galten (ebd.: 184). Die International Crisis Group bemerkt in ihrem Bericht (ICG report 2003b), dass 2003 der Anteil junger Menschen an der Bevölkerung Tadschikistans über 30% liegt und sich bis 2025 auf voraussichtlich 3 Millionen verdoppeln wird (ebd.: 1). 2 Die Mehrheit der Bevölkerung Tadschikistans bekennt sich zum Islam sunnitisch-hanafitischer Prägung. Sie grenzt sich von der großen Gruppe der schiitischen Ismailiten ab, die vor allem im östlichen Tadschikistan, der Bergregion Badachschan leben.
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Gleichzeitig ist die muslimische Jugend in Tadschikistan aber am härtesten von der schlechten wirtschaftlichen Situation im Land betroffen.3 Arbeitslosigkeit, mangelnde berufliche Perspektiven und fehlende Bildungschancen fördern die Demoralisierung und Anfälligkeit Jugendlicher für Kriminalität, Gewalt und Drogenkonsum und machen sie besonders in den städtischen Ballungszentren zur einer »verlorenen Generation« (ICG report 2003 a, b: 25ff.). Als Reaktion auf diese Entwicklungen entwirft die ältere Generation das Bild einer Jugend, die zunehmend aus dem Einflussbereich der Familie und lokalen Gemeinschaft hinausdrängt und die bestehende soziale Ordnung auflöst, welche bisher die Autorität und Macht der Alten über die Jungen garantierte. Entsprechend wetteifern Akteure aus dem politischen, religiösen und kulturellen Lager gegenwärtig um die Deutungshoheit über »richtige Erziehung« (tarbijai durust) mit dem Ziel, die »unkontrollierbar« gewordene bzw. »verlorene« Jugend wieder stärker an die kulturellen Traditionen und moralischen Prinzipien der Alten zu binden. Die entscheidende Frage in diesem Zusammenhang ist, welcher Wertekanon eine Orientierungshilfe bei der Erziehung leisten soll. Fast zwei Dekaden nach dem Niedergang des sowjetischen Regimes sind die alltäglichen Erfahrungen der Muslime Tadschikistans immer noch von den Auswirkungen dieses historischen Ereignisses geprägt. Bestimmend ist dabei ein Zustand, der sich als »Werteunsicherheit« und »Krise der Wertorientierung« (Brezinka 1993) bezeichnen lässt, und der in jüngeren Studien über die Region als wesentliches Merkmal postsozialistischen Alltagslebens erkannt wurde (Kääriäinen 1997; Hann 2002; Niyozov 2004). Der Erziehungswissenschaftler Brezinka (1993) beschreibt diesen Zustand als eine »Krise der Überzeugungen von dem, was Wert hat, was anzustreben und was abzulehnen und was zurückzustellen ist«, die sich beim Einzelnen durch »Unsicherheit des Wertbewusstseins und der Werteinstellungen« sowie »beim Zusammenleben durch Uneinigkeit über die grundlegenden Normen und über eine gemeinsame Rangordnung der Güter« äußert (ebd.: 12). Diese Orientierungskrise bewirkt immer auch eine Erziehungskrise, denn »Unsicherheit beim Werten führt auch zur Unsicherheit beim Erziehen« (ebd.).
3 Tadschikistan ging 1991 als ärmste und nur wenig industrialisierte Sowjetrepublik mit schwierigen ökonomischen Verhältnissen und großen sozialen Problemen in die Unabhängigkeit. Ende der 1980er-Jahre hatte das Land den niedrigsten Lebensstandard in der Sowjetunion zu verzeichnen. 1989 lebten ca. 59% der Bevölkerung unterhalb der festgelegten Einkommensgrenze. Diese betrug damals 78 Rubel pro Monat und Person (Niyazi 1994, S. 168). Nach Angaben des Auswärtigen Amtes betrug das Bruttoinlandsprodukt (BIP) 2007 in Tadschikistan insgesamt 3,67 Mrd. US-Dollar (entspricht pro Person 404 US-Dollar) (Auswärtiges Amt).
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Betroffen ist vor allem die Elterngeneration. Konfrontiert mit der Auflösung der alten, von der kommunistischen Ideologie geprägten Werteordnung, die ihr Leben im sowjetischen Alltag bestimmt hatte, muss sie sich zugleich den traumatischen Bürgerkriegsereignissen zwischen 1992 und 1997 sowie den neuen sozioökonomischen Ungleichheiten im Land stellen. Darüber hinaus wird das pädagogische Handeln der Elterngeneration entscheidend auch durch die stärkere Ausdifferenzierung lokaler Lebensstile erschwert, stellen diese doch ihre bisherigen Weltsichten, Identitätsentwürfe und moralischen Orientierungen fundamental in Frage. Das gilt insbesondere für den städtischen Kontext. Die postsozialistischen Städte sind nicht nur Zentren modernen Lebens. Sie verkörpern zugleich auch einen Raum, in dem soziale, ethnische und ökonomische Probleme in verdichteter Form zutage treten (Foster/Kemper 2002: 137; Tokhtakhodzhaeva 2007: 120). Unter diesen Bedingungen fällt der Religion, konkret dem Islam, eine wichtige Rolle bei der Erziehung der muslimischen Jugend in Tadschikistan zu. Der verstärkte Rekurs auf Religion und religiöse Symbole in der herrschenden Erziehungsdebatte zeugt von der Entprivatisierung des unter dem Sowjetregime »domestizierten« Islams (Dragadze 1993) in Tadschikistan und belegt dessen Rückkehr in einen von säkularen Kräften dominierten öffentlichen Raum (Casanova 1994). Dort nehmen sich religiöse Akteure und Organisationen öffentlicher Güter wie der Erziehung an, die zuvor im Zuge der sowjetischen Säkularisierungsbestrebungen in Zentralasien maßgeblich in die Hände einer kommunistisch-atheistisch geprägten Staatsmacht transferiert worden waren. Genährt wird diese Entwicklung durch einen geschwächten tadschikischen Säkularstaat, der mit seinem maroden Bildungssektor die durch den Zusammenbruch der gut funktionierenden sowjetischen Erziehungsinstitutionen und Jugendorganisationen entstandene Lücke gerade in den Städten nur unzureichend zu füllen vermag. In der Folge lastet die Erziehungsverantwortung gegenwärtig maßgeblich auf den Familien. Diese gelten in der muslimischen Welt zwar generell als Hort der Primärsozialisation (Motzki 1986). Doch angeschlagen von den sozioökonomischen Veränderungen der nachsowjetischen Ära greifen viele muslimische Eltern bei der Erziehung ihrer Kinder auf religiöse Akteure und Institutionen zurück. Dabei erfahren vor allem traditionelle religiöse Autoritäten eine Stärkung und werden den sich neu etablierenden religiösen Wissenseliten im Land vorgezogen. Vor diesem Hintergrund soll die wachsende Bedeutung privater religiöser Kurse (sabaq, dars) im Kontext städtischer Nachbarschaften in Tadschikistan beleuchtet werden. Auf eine lange Tradition als Stätte elementarer religiöser Wissensvermittlung in der Region zurückblickend, erlebt diese Institution gegen-
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wärtig unter den sunnitischen Muslimen vor allem in Duschanbe,4 der Hauptstadt Tadschikistans, eine spürbare Konjunktur. Die große Dichte an religiösen Lehrerinnen und Lehrern (mullo, bibichalifa), die auf privater Ebene im häuslichen Bereich oder in den Räumlichkeiten der Nachbarschaftsmoscheen (masid, masidi panvaqt) Lektionen in Religion für Mädchen und Knaben im Alter zwischen 7 und 16 Jahren anbieten, zeugt von einem rasch anwachsenden religiösen Dienstleistungssektor, der auf nachbarschaftlicher Ebene Grundlagenwissen über den Islam anbietet, die Eltern in ihrer Erziehungsverantwortung unterstützt und eine Partizipation lokaler Muslime am öffentlichen Leben ermöglicht. Das gilt nicht nur für die alten Stadtviertel Duschanbes mit den traditionellen Lehmziegelbauten (mahalla), die sich als relativ resistent gegenüber jüngeren Migrations- und sozialen Auflösungsprozessen in der Hauptstadt erweisen. Die Popularität religiöser Kurse lässt sich auch in den zentrumsfernen, sozial neu geordneten Wohnsiedlungen sowjetischen Baustils (mikrorajon) beobachten, in denen sich vor allem arme und verarmte Stadtmigranten und Bürgerkriegsflüchtlinge (gureza) ansiedeln. Zwar kann die gegenwärtige Bedeutung der religiösen Kurse in Duschanbe prinzipiell als Ausdruck des religiösen Aufschwungs gewertet werden, der sich verstärkt seit dem Ende der Sowjetherrschaft in der gesamten zentralasiatischen Region vollzieht und im wachsenden Hunger nach religiösem Wissen und einer starken Besinnung auf religiöse Glaubensformen und Praktiken in der lokalen muslimischen Bevölkerung Gestalt annimmt. Im Speziellen aber sind die Gründe für ihre Popularität, so die hier zu vertretende Argumentation, maßgeblich in der traditionellen Funktion der Kurse als religiöse Erziehungsinstitution zu suchen. Vor dem Hintergrund der gegenwärtigen »Erziehungskrise« im Land finden die Kurse als disziplinierende und moralisierende Instanzen insbesondere unter der älteren Generation städtischer Muslime regen Zuspruch.
Erziehung, Religion und Reife Die Institution privater religiöser Kurse (sabaq, dars: »Unterricht«, »Lektion«, aber auch »Belehrung«, »Instruktion«) verfügt in Tadschikistan über eine weit 4 Die folgende Studie präsentiert einen Ausschnitt aus meiner Dissertation, die im Rahmen der Civil Religion–Projektgruppe (2003-2005) am Max Planck Institut für ethnologische Forschung in Halle/Saale entstanden ist und sich mit der moralischen Erziehung junger Muslime in Tadschikistan im Spannungsfeld zwischen religiöser Rückbesinnung und Säkularisierung beschäftigt. Die starke Gewichtung der Studie auf den städtischen Raum ist dem regionalen Fokus meiner Dissertation auf die Region um Duschanbe geschuldet. Das empirische Material wurde zwischen 2002 und 2004 erhoben.
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zurückreichende Tradition. Ihr historischer Vorläufer muss in der maktab bzw. kuttab (Koranschule) gesucht werden. Diese Institution bildete das Rückgrat traditionellen religiösen Lernens in den vormodernen muslimischen Gesellschaften Zentralasiens, gewährte eine elementare islamische Bildung und zielte darauf ab, junge Knaben und Mädchen zu wahren Gläubigen und guten Muslimen zu formen (Landau 1986: 567; Shorish 1986). Durch ihre Anbindung an die lokale Moschee, ihre räumliche Nähe zu den Haushalten und die lokale Herkunft des Lehrpersonals war die maktab fest in die städtischen und ländlichen Nachbarschaften eingebettet und garantierte die Reproduktion lokalen Wissens und lokaler religiöser Autorität (Medlin u.a. 1971: 30, 33; Shorish 1986: 325). Wie ihr historisches Pendant dienen die Kurse in Duschanbe heute vor allem der Vermittlung religiösen Grundlagenwissens und der Sozialisation junger Menschen in die muslimische Gemeinschaft. Unter der Anleitung einer religiös autorisierten Person (mullo, bibichalifa) werden Mädchen und Knaben nach Geschlechtern getrennt in die zentralen Prinzipien und Doktrinen des Islams eingeführt und in wichtigen rituellen Praktiken wie dem Pflichtgebet (namoz) und den rituellen Waschungen (uzl, tahorat) unterwiesen. Den Kern der sabaq-Curricula bildet die Beschäftigung mit verschiedenen religiösen Texten, die als Vorbereitung auf die Lektüre des Korans dienen.5 Obgleich die Praxis religiöser Kurse in Tadschikistan eine große Spannbreite verschiedener Spielarten aufweist, kristallisiert sich ein relativ fixer Textkanon heraus, der in Abhängigkeit vom Lehrpersonal und von den Interessen und Lesefähigkeiten der Schülerinnen und Schüler (šogird) individuell verkürzt oder erweitert werden kann.6 Bücher wie ahor kitob,7 Haftjak 8 und Werke von Vertretern der klassischen persischsprachigen Literatur wie Saadj, Bedil oder Hofiz, die seit vielen Jahrhunderten das kulturelle Gedächtnis der Muslime in der
5 Die Koranlektüre hat eine herausgehobene Stellung in den Kursen inne, wobei »Koran lesen« i.d.R. die Fähigkeit meint, ausgewählte Textpassagen rezitieren zu können. Eine treffende Beschreibung der zentralen Bedeutung von Korantexten in religiösen, rituellen und kulturellen Kontexten gibt Reichmuth (1998) in seiner Studie über islamische Bildung in Nigeria (ebd.: 108f.). 6 Zum festen Textrepertoire der Kurse gehören Bücher wie Qoidai badodj, Farzi Ajn und Zarurijoti din. In aufbauender Reihenfolge geben sie eine Einführung in das arabische Alphabet und vermitteln grundlegende Kenntnisse über den Islam und die Prinzipien der islamischen Ethik. 7 Das »Vierbuch«, eine Sammlung persischsprachiger Prosa und Poesie in vier Teilen von unterschiedlichen, teilweise unbekannten Verfassern, gehört zu jenen standardisierten Texten, die seit vielen Jahrhunderten bis in die Gegenwart hinein die lokale Islamtradition der muslimischen Bevölkerung Tadschikistans prägen. Die Textsammlung enthält zentrale Fundamente des islamischen Glaubens und tradiert Regeln zur Gestaltung der sozialen Beziehungen in Familie und lokaler Gemeinschaft (Shahrani 1991: 168f., 173f.). 8 Dieses Buch umfasst eine Sammlung ausgewählter Koranpassagen.
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zentralasiatischen Region formen, haben darin einen festen Platz (Medlin u.a. 1972: 35ff.; Shahrani 1991; Krämer 2002: 130ff.; Olimova 2005: 250). Sie zeugen von der historischen Unveränderlichkeit und Kontinuität des Textkanons und bestätigen den konservierenden Charakter, mit dem die religiösen Kurse wesentlich zur Pflege der lokalen Islamtradition unter dem religionsfeindlichen Klima der kommunistisch-atheistischen Sowjetherrschaft beigetragen haben (Atkin 1989a, b). Der Tradition der historischen maktab folgend ist die religiöse Wissensvermittlung (ta’lim) in den Kursen untrennbar mit der moralischen Unterweisung und Erziehung (tarbija) der Schülerinnen und Schüler verwoben. Eingebettet in ein religiöses Weltbild und ausgestattet mit göttlicher Legitimität zielt die moralische Erziehung darauf ab, die heranwachsenden Mädchen und Jungen mit den zentralen Umgangsformen, Verhaltensnormen und sozialen Prinzipien der muslimischen Gemeinschaft vertraut zu machen und sie zu befähigen, in bestimmten sozialen Kontexten odob – d.h. gute Moralität in Form von »Anstand«, »Sitte« und »Wohlerzogenheit« – zu praktizieren. Die pädagogische Dimension der religiösen Kurse erfährt in der muslimischen Stadtbevölkerung Duschanbes eine starke Akzentuierung. Eltern, die ihre Kinder in einen Kurs schicken, begründen ihre Entscheidung mit Formulierungen wie »Dort erhalten sie eine gute Erziehung (tarbijai khub)«, »[…] führt man sie auf den rechten Weg (rohi rost)« oder »[…] lernen sie Anstand und Sittsamkeit (odob)«. Es liegt im historisch weit zurückreichenden Einfluss der persischen Kulturtradition des Islams in seiner Auslegung durch die hanafitische Rechtstradition sowie des Sufismus auf die Region des heutigen Tadschikistans begründet, dass Erziehung organisch eng mit Religion verwoben ist. Aussprüche wie »Religion ist Erziehung«, »Religion führt auf den rechten Weg« oder »Der Islam lehrt uns Sitte und Anstand (odob)« werden von Vertretern aller gesellschaftlichen Lager bemüht. Sie prägen die lokalen Vorstellungen von Muslimsein und stehen für einen überkommenen, allgemein akzeptierten Konsens, demzufolge der Islam als ein moralisches Bezugssystem, als Richtschnur und moralisches Fundament für soziales Handeln gedacht wird. »Über Religion lernen« gilt folglich als unabdingbar für den Erwerb guter Moralität. Die starke Bedeutung, die dabei den in den Stadtvierteln Duschanbes angebotenen religiösen Kursen zufällt, zementiert den Einfluss traditioneller Träger lokalen religiösen Wissens auf die Erziehung der muslimischen Jugend. Mit Blick auf den Wettbewerb um religiöse Autorität, der in Tadschikistan zwischen neuen religiösen Wissenseliten und alten Trägern religiöser Autorität
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ausgefochten wird (Abashin 2006), wird dies in den elterlichen Präferenzen bei der moralischen Erziehung ihres Nachwuchses deutlich: Gegenüber den neuen Wissenseliten, deren religiöse Kenntnisse meist auf Selbststudien neuer religiöser Literatur oder einem Studienaufenthalt im islamischen Ausland fußen (navkhondagj), werden primär jene Spezialisten und Spezialistinnen bevorzugt, die ihr Wissen zu Sowjetzeiten über ein klassisches Meister-Schülerverhältnis erworben haben (peškhondagj).9 Die moralische Autorität, mit der die traditionellen religiösen Autoritäten den Erziehungsprozess überwachen, stellt eine Ausweitung der elterlichen Autorität dar und schafft eine Kontinuität und Homogenität zwischen der Unterweisung in den Kursen und der moralischen Erziehung in den Familien (Medlin u.a. 1971: 28f.). Die religiösen Kurse in ihrer Funktion als Erziehungsinstanz gewinnen maßgeblich im Zusammenhang mit der einsetzenden Reife der heranwachsenden Söhne und Töchter an Bedeutung. Die einsetzende Reife (baloat) kennzeichnet den Eintritt in die Jugendphase. Unter den Muslimen Tadschikistans bezeichnet Jugend (avonj) eine Übergangsphase zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, die der Vorbereitung auf berufliche und familiäre Erwachsenenlaufbahnen dient (Zinnecker 1991: 10). Die Jugendphase ist damit in erster Linie eine Zeit des Lernens, in welcher die jungen Menschen von der älteren Generation an die von dieser definierten Rollenmuster (Mann/Frau, Mutter/Vater usw.) herangeführt werden. Die Formulierung »Er/sie ist nun in die Reife gekommen« bezieht sich auf den Beginn der Pubertät und schließt neben der geschlechtlichen Reife auch geistige und moralische Reifungsprozesse ein. Mit der Entwicklung von Verstand (aql), Bewusstsein (šuur, fahmiš), moralischer Urteilsfähigkeit und der Wahrnehmung des eigenen Geschlechts vollzieht sich eine grundlegende Statusveränderung. Die jungen Muslime werden nun zunehmend für ihr Tun verantwortlich gemacht und beeinflussen damit die Reputation ihrer eigenen Person sowie die der Verwandtschaftsgruppe (oila, cheš). Damit steigen auch die Erwartungen durch das soziale Umfeld, sich den vorherrschenden sozialen Normen und geschlechtsspezifischen Verhaltensregeln gemäß zu verhalten und gute Moralität zu demonstrieren. Großen Stellenwert hat vor allem das Erweisen von hurmat (»Respekt«, »Achtung«). Als eine wichtige Bezugsnorm determiniert 9 Anders verhält es sich dagegen bei den Jugendlichen in Duschanbe. Unter jungen Musliminnen gelten vor allem jene Kurse als attraktiv, die von altersgleichen Spezialistinnen angeboten werden. Junge Männer werden von jenen Muslimen angezogen, die, von ihren Studien aus dem islamischen Ausland zurückgekehrt, eine neue, junge Wissenselite verkörpern und meist ein neues Islamverständnis wahhabitischer oder transnationaler Prägung vertreten (Stephan 2006).
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hurmat alle Belange des sozialen, religiösen und politischen Lebens der Muslime in der Region, zementiert vor allem die Autorität und Macht der Älteren gegenüber den Jüngeren und definiert das Verhältnis der Menschen gegenüber Gott bzw. dem Übernatürlichen sowie die Beziehung zwischen den Geschlechtern (Pfluger-Schindlbeck 1989; Tapper 1990; Straube 2002). Der Eintritt in die Reifephase überschneidet sich mit dem Übergang der Heranwachsenden in ihre Religionsmündigkeit (gunohdorj). Während die körperliche und geistige Reifung dem individuellen Entwicklungszyklus des jugendlichen Körpers unterliegt, ist der Eintritt in die religiöse Reife zeitlich klar definiert. Bei Mädchen vollzieht sich dieser Übergang mit neun, bei Knaben mit zwölf Jahren. Gemäß der lokalen Islamtradition hat das irdische Handeln der Heranwachsenden ab diesem Zeitpunkt nicht mehr nur unmittelbare soziale Konsequenzen, sondern auch jenseitige Auswirkungen. Damit setzt die Religionsmündigkeit auch eine wichtige Zäsur in der Erziehungspraxis jener Eltern, die ihre Söhne und Töchter »mit der Religion« erziehen wollen. Spätestens ab diesem Zeitpunkt sollte die religiöse Wissensvermittlung erfolgen, um den jungen Muslimen das Fundament für moralisch korrektes Verhalten zu bereiten. Die einsetzende Reife markiert nicht nur den Eintritt in die soziale und religiöse Mündigkeit. In den Augen der Erwachsenen gilt sie auch als eine Phase des »Wild-«, »Unbändig-« und »Verrücktseins« (šch bzw. devona budan) und stellt eine Gefährdung für den heranreifenden jungen Menschen sowie für seine Umwelt und die bestehende Ordnung der sozialen Gruppe dar. Straube (2002) spricht in ihrer Studie über Reifungsprozesse in einem anatolischen Dorf dabei in Anlehnung an Turners Ritualkonzept von einem »liminalen Schwebezustand«10 (ebd.: 40). Dieser bedarf einer verstärkten Kontrolle durch die Erwachsenen, um die heranreifenden Söhne und Töchter zu bändigen bzw. zu kontrollieren und ihre gute Moralität zu garantieren. Religion, hier konkret in Form der religiösen Kurse, erweist sich dabei als ein geeignetes Erziehungsmittel, um die wild bzw. unbändig gewordenen Jugendlichen »auf den rechten Weg zu leiten« bzw. – wie es Geertz (1993) formuliert – sie der »guidance of cultural patterns, historically created systems of meaning in terms of which give form, order, point, and direction to lives« (ebd.: 52) unterzuordnen.
10 Der Begriff der »Liminalität« wurde vom US-amerikanischen Ethnologen und Ritualforscher Victor Turner geprägt. Der Begriff steht für einen Schwellenzustand, in dem sich ein Individuum oder eine Gruppe befindet, das bzw. die sich rituell von der existierenden Sozialordnung der Gemeinschaft gelöst hat, Dieser Zustand ist gekennzeichnet von Unbestimmtheit, Ambiguität und Wildheit und geht mit einer zeitweisen Aufhebung bestehender Regeln, Normen und sozialen Prinzipien einher (Turner 2000: 95ff.).
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Formen der moralischen Unterweisung Erziehung (tarbija) findet in den Kursen auf verschiedenen Wegen statt. Auf der einen Seite erfolgt sie explizit, in direkter Form – etwa durch konkrete Anweisungen und Instruktionen (amr ma’ruf).11 Diese beziehen sich auf die Grundlagen des Islams, die religiösen Pflichten und zentralen Prinzipien der islamischen Ethik und zielen darauf ab, in den Schülern und Schülerinnen eine bestimmte innere Einstellung bzw. Moralität zu erwecken, die ihr soziales Handeln und ihre Beziehung zu Gott leitet. Eine starke Gewichtung liegt dabei auf dem Pflichtgebet (namoz). Wegen seiner Läuterungsfunktion (es reinigt von Verfehlungen (gunoh)), seiner pädagogischen Wirkung (es lenkt von schlechten Gedanken und Taten ab) und der erforderlichen rituellen Reinheitsgebote steht das korrekte und regelmäßige Verrichten des Pflichtgebets im Mittelpunkt des individuellen Strebens nach moralischer Reinheit (pokj). Diese wird als Übereinstimmung zwischen innerer Einstellung und äußerem (sozialen und religiösen) Handeln gedacht. Die Erziehung in den Kursen gründet zudem auf impliziten Lernprozessen. Diese lassen sich in Anlehnung an Staffords ethnologische Studie über Kindheit und Erziehung in Südost-Taiwan (1995) als verschiedene Formen der Identifikation beschreiben, die über die Partizipation der Knaben und Mädchen an »kulturellen Manifestationen« wie Religion oder religiöse Riten stattfinden. In diese Manifestationen sind bestimmte Prinzipien wie etwa hurmat eingewoben, welche durch die Partizipation verinnerlicht und in Form von Moralität praktiziert werden (ebd.: 6). In Bezug auf die religiösen Kurse erfolgen diese Lernprozesse neben der Einbindung der Mädchen und Knaben in eine hierarchisch geprägte und durch Autorität definierte Schüler-Lehrerbeziehung maßgeblich über den angemessenen Umgang mit den sakralen Texten und die Einbettung der Kurse in alltägliche häusliche sowie kommunale Handlungsabläufe.
11 Das usbekisch-russische Wörterbuch (Akobirov 1959) gibt diesen Begriff in der Bedeutung »Befehl zum Ausführen guter Taten« wieder. Krämer (2002) verweist darauf, dass die Formel amr ma’ruf seit dem Beginn der Geschichte des Islams in ganz verschiedenen Kontexten bedeutsam gewesen ist (ebd.: 297). Sie nennt amr ma’ruf sowohl ein »moralisches Prinzip« als auch ein »Mittel zur Legitimation politischer Veränderungen« (ebd.) und diskutiert den Begriff im Kontext neuer Formen weiblicher Religiosität in Usbekistan (ebd.: 296ff.). Auch in Duschanbe und den umliegenden Dörfern wurde die Formel amr ma’ruf von Bibikhalifas verwendet, wenn sie die Ziele und Absichten ihrer Kurse artikulierten. Allerdings verstanden sie die Formel weniger als eine Einladung zum Islam (da’vat), wie sie von den neuen »Islamisiererinnen« ausgesprochen wird (siehe Krämer 2002). Vielmehr verwendeten sie den Begriff im allgemeineren Sinn für religiöse bzw. moralische Unterweisung.
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Das Wiederholen und Rezitieren auswendig gelernter Textpassagen durch die Schülerinnen und Schüler nimmt die meiste Zeit des Unterrichtes in Anspruch und wird von Kommentaren des Lehrpersonals begleitet. Saida, eine 60-jährige Bibichalifa etwa, die in einem zentrumsfernen Stadtviertel Duschanbes über 30 Mädchen und junge Frauen unterrichtet, ermahnt ihre Schülerinnen immer wieder streng, während der langen und monotonen Rezitationen fehlerfrei zu lesen, schön (chušrj) zu sprechen, aufrecht zu sitzen und nicht zu stören.12 Das fehlerfreie Memorieren der sakralen Texte, die als endgültig fixierte göttlich offenbarte Weisheiten gelten, gründet auf einem Verstehenskonzept, das weniger auf konkrete inhaltliche Erklärungen setzt als vielmehr auf die Fähigkeit, die verinnerlichten Textpassagen in spezifischen Kontexten sozialer und religiöser Praxis adäquat einzubeziehen (Eickelman 1978: 495). Der Umgang mit den sakralen Texten hat zugleich einen disziplinierenden Effekt für Körper und Geist und fördert die Herausbildung eines bestimmten Habitus im Bourdieuschen Sinne, einer bestimmten Moralität, die Khalid (1998) als »mimetische Praxis«13 (ebd.: 21) bezeichnet, und die sich in emotionaler Selbstbeherrschung, Demut, Duldsamkeit, Beharrlichkeit und Gehorsam äußert. Auf diese Weise demonstrieren die Schülerinnen und Schüler Ehrfurcht und Respekt (hurmat) vor der Autorität des Lehrpersonals, des sakralen Wortes – und damit zugleich auch vor Gott selbst.
Weibliche und männliche Moralitäten Die in den Kursen stattfindenden Lernprozesse beziehen zugleich auch geschlechtsspezifische Aspekte von Moralität ein. Die Vorstellungen von weiblicher Moralität (odobi zanagj), wie sie in der muslimischen Stadtbevölkerung Duschanbes existieren, verdichten sich in dem Konzept der weiblichen Ehrbarkeit bzw. Schamhaftigkeit (šarmu hajo). Damit verbinden sich Attribute wie Verschämtheit, Schüchternheit, Scheu, Bescheidenheit und Einfachheit. Zugleich verdeutlicht die semantische Gleichsetzung des
12 Anders als die gegenwärtige Praxis religiöser Kurse war das Memorieren und fehlerfreie Rezitieren der sakralen Texte in den historischen maktab üblicherweise mit körperlicher Züchtigung verbunden. Auf diese Weise sollten nicht nur Lernerfolge gesichert werden. Als pädagogische Maßnahme sollte sie helfen, jungen Menschen Respekt gegenüber dem Lehrpersonal sowie gegenüber dem göttlichen Wort und seiner schriftlich fixierten Form einzuimpfen (Eickelman 1978: 494; Shorish 1986: 328; Khalid 1998: 20). 13 Für Khalid (1998) ist dieser Habitus ein sinnfälliger Ausdruck für die enge Verbindung von Körper und sakralem Wissen: »Knowledge was to be embodied by the learner so that his or her body could be marked by sacred knowledge« (ebd.: 25).
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Begriffs šarmu hajo mit »Schmach« bzw. »Schande« auch, dass die mangelnde Einhaltung dieser Tugenden in der tadschikischen Gesellschaft, die sich wie andere muslimische Gesellschaften auch durch einen starken Gemeinschaftsbezug auszeichnet, nicht nur die Reputation der Frau, sondern auch die ihrer Angehörigen gefährdet (vgl. Tett 1994: 137ff.; Harris 2004: 69ff.). Folglich sind Eltern darauf bedacht, dass ihre Töchter mit dem Beginn der Reife Schamhaftigkeit demonstrieren. Dazu gehört das Einhalten von Kleidungsvorschriften (Kopfbedeckung, lange und weite Kleidung, um Arme, Beine und Körperkonturen zu verdecken), der angemessene Umgang mit dem anderen Geschlecht, Bescheidenheit und Zurückhaltung im Auftreten und Sprechen sowie außerdem das Erfüllen häuslicher Pflichten und Kenntnisse im Kochen, Nähen und Sticken. Besonders letztere Aspekte sind vor dem Hintergrund mangelnder Ausbildungsund Jobperspektiven für die Jugend des Landes bedeutsam. In vielen elterlichen Bildungsaspirationen für ihre Töchter genießt das Erlernen solcherart weiblicher Fertigkeiten eine höhere Priorität als der Erwerb weltlichen und religiösen Wissens. Einige der Kurse für junge Mädchen und Frauen in Duschanbe bieten neben der Lektüre diverser Texte auch die Unterweisung in häusliche Pflichten und weibliche Fertigkeiten an. Sajora etwa, eine 38-jährige religiöse Lehrerin aus Duschanbe, bindet ihre Schülerinnen, alle im Alter zwischen 14 und 16 Jahren, regelmäßig in die Hausarbeit ein: »Wenn wir in der Küche Essen bereiten oder Wäsche waschen, dann spreche ich zu ihnen wie eine Mutter. Ich erkläre ihnen alles, was sie wissen müssen, wenn sie heiraten. Auf diese Weise zeige ich ihnen den rechten Weg«,
erklärt sie und knüpft damit an die Tradition der vormodernen Mädchenschulen in Zentralasien (tn-bb-Schulen) an. In diesen Einrichtungen wurden die Mädchen umfassend auf ihr späteres Dasein als gebildete und religiös bewanderte Ehefrauen und Mütter vorbereitet (Shorish 1986: 325; Krämer 2002: 46, 49). Während weibliche Moralität nach der »Kanalisierung weiblicher Sexualität junger Mädchen (verlangt, M.S.), damit sie später anständige Hausfrauen und Mütter werden« (Dracklé 1996: 21), geht männliche Moralität vor allem mit der Bändigung des jugendlichen Temperaments von Knaben einher, um sie auf ihre späteren Rollen als Familiengründer und -ernährer, Haushaltsvorstand und Versorger der eigenen, alternden Eltern vorzubereiten. Gerade vor dem Hintergrund der gegenwärtigen wirtschaftlichen Depression im Land werden große Hoffnungen in die moralische Entwicklung der Söhne gehegt. Zusammen mit einer guten (Aus-)Bildung gelten Anstand, Sittsamkeit und Moral (odob) als Ga-
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ranten für eine erfolgreiche Heiratsvermittlung und die finanzielle Absicherung der Eltern im Alter. Diese Erwartungen geraten in Gefahr, wenn die Söhne in die »wilde Phase« eintreten und beginnen, sich »übermütig«/»rüpelhaft« (šch) und wie »Raufbolde« und »Rowdys« (chuligan) zu benehmen. In dieser Zeit gelten sie als besonders anfällig für schlechte Einflüsse im sozialen Umfeld und müssen »fester gefasst« (sachttar kapidan) und »diszipliniert« (orom kardan) werden. Anders als bei heranreifenden Mädchen vergrößert sich der Bewegungsradius ihrer männlichen Altersgleichen mit zunehmendem Alter. Die Knaben verbringen mehr Zeit im außerhäuslichen Bereich, der »Straße« (ka). Dort nimmt die elterliche Kontrolle ab und übt die Alterskohorte einen stärkeren Einfluss auf das Verhalten der Jungen aus. Unter diesen Umständen bietet der Besuch eines religiösen Kurses in den Augen vieler muslimischer Eltern in Duschanbe eine geeignete Erziehungsmaßnahme, um die Söhne stärker in ihrem Verhalten zu kontrollieren und zu lenken. Die Beschäftigung mit der Religion hat aber nicht nur disziplinierende Aspekte. Sie wird zudem als sinnvolle Freizeitgestaltung angesehen, die den Tagesablauf der Söhne strukturiert und einen positiven Einfluss auf ihre Lerneinstellung ausübt. Die Kurse des 50-jährigen Imam Inajat aus Duschanbe beispielsweise zeigen, dass sich dabei insbesondere die Nachbarschaftsmoscheen (masid, masidi panvaqt) als wichtige kontrollierende und behütende Instanz erweisen. Inajat unterrichtet täglich 16 Knaben im Alter zwischen 12 und 16 Jahren in der lokalen Moschee eines traditionellen Stadtviertels (mahalla). Wie üblicherweise in Duschanbe sind seine Kurseinheiten mit dem offiziellen Schulunterricht abgestimmt und finden nach Schulschluss sowie in den Schulferien statt. Die Räume der Moschee stehen seinen Schülern auch außerhalb der Kurszeiten zur Verfügung. Einige der Jungen kommen nach der Schule und verbringen ihre freie Zeit dort bis zum Abend. Sie erledigen gemeinsam ihre Schulaufgaben, bereiten sich auf die neue Lektion vor, reinigen den Gebetsraum, bringen den älteren Männern Tee und beteiligen sich an den Gemeinschaftsgebeten. Mit ihrer Nähe zur lokalen Moschee ermöglichen die Kurse den heranwachsenden Knaben nicht nur die Partizipation am sozialen und religiösen Leben im Stadtviertel. Sie bieten zugleich eine Alternative zu einer unkontrollierbaren Freizeit auf der »Straße« – einem Raum, der unter Muslimen in Duschanbe als moralisch minderwertig angesehen wird und als Projektionsfläche für Alkoholund Drogenkonsum, Kriminalität, Prostitution und Gewalt unter städtischen Jugendlichen gilt. Darauf Bezug nehmend formuliert Inajat den Zweck seiner Kurse in der lokalen Moschee:
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»Es ist gut, dass die Jungen (zu mir, M.S.) kommen. Es ist besser für sie, wenn sie ihre Zeit hier verbringen als auf der Straße. Dort schützt sie niemand vor schlechten Dingen. Sie stehlen, lügen und kommen vom rechten Weg ab. Viele Jungen wachsen heute so auf […]. Die Erziehung in den Familien ist schwach. Die Kinder bleiben den ganzen Tag ohne Aufsicht. Viele Jungen hier treiben sich ohne Ziel (behuda) auf der Straße herum. Besser, wenn sie (hierher) kommen. Hier lernen sie, was religiöse Moralität (odobi dinj) ist, namoz, tahorat!«
Das Zitat macht deutlich, dass die religiösen Kurse in ihrer behütenden Funktion zugleich auch als eine Kompensation für die mangelnden Kapazitäten gelten, unter denen viele städtische Familien bei Erziehung ihres Nachwuchses leiden. Drohende Verarmung und Arbeitslosigkeit betreffen gerade städtische Haushalte und zwingen beide Elternteile zur Erwerbstätigkeit. Darüber hinaus sind in Duschanbe immer mehr Familien von der stetig anwachsenden Arbeitsmigration v.a. junger Männer und Frauen in Länder wie Russland betroffen und müssen die temporäre Abwesenheit eines oder mehrerer erwachsener Haushaltsmitglieder abfedern.14 Infolge dessen sind viele Familien mit der Aufsicht ihrer heranreifenden Söhne akut überfordert. Das gilt insbesondere für neolokal geführte Haushalte in Duschanbe. In der Vergangenheit als Errungenschaft der sowjetischen Moderne gefeiert,15 erweist sich die neolokale Wohnform heute für das wirtschaftliche und soziale Überleben vieler städtischer Haushalte als problematisch. Disloziert und ohne Rückhalt in der Verwandtschaft oder anderen sozialen Netzen, welche die elterliche Erziehungsverantwortung abfedern könnten, sehen viele Stadtmigranten in den religiösen Kursen, die in der nahen Nachbarschaft angeboten werden, eine geeignete Unterstützung zur Erziehung ihrer Söhne.
Tradition, Wandel und Krise Die Konjunktur, welche die Institution privater religiöser Kurse derzeit im städtischen Tadschikistan erlebt, bekräftigt die hohe Bedeutung, die Religion im 14 Entsprechend den Ergebnissen einer umfassenden Haushaltserhebung durch das Ministerium für Arbeit und soziale Versicherung Tadschikistans waren zwischen 2001 und 2003 200.000-250.000 Tadschiken, d.h. 7% der arbeitsfähigen Bevölkerung Tadschikistans, im Ausland, v.a. in Russland beschäftigt. Über die Hälfte von ihnen war zwischen 15 und 29 Jahre alt, 12% davon waren Frauen (Kuddusov 2004: 87). 15 Die Förderung von Kernfamilien als idealen Haushaltsverband war Teil des sowjetischen Modernisierungsprojektes. Ziel war es, junge Familien in den Städten vom Einfluss des Großfamilienverbandes zu lösen und von lokalen Traditionen zu entfremden (Medlin u.a. 1971: 63ff.). Zudem sollte die Kernfamilie die gesellschaftliche Stellung der Frau verbessern (Tokhtakhodzhaeva 2007: 112). Neolokalität wurde vor allem durch den Bau der modernen sowjetischen Wohnsiedlungen (mikrorajon) realisiert. Obwohl vor allem von russischsprachigen Städtern bewohnt, erfreuten sich die modernen Wohnungen (sekzija) vor allem auch bei gebildeten, einheimischen Städtern großer Beliebtheit.
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Rahmen von Wandel, Umbruch und Krise zufällt. Wandel, Umbruch und Krise manifestieren sich einerseits in Form wichtiger biografischer Übergänge wie der einsetzenden Reife. Andererseits sind damit die gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und religiösen Dynamiken der nachsowjetischen Ära und die daraus resultierende Erziehungs- und Wertekrise im Land gemeint. In diesem Kontext erweist sich Religion – institutionalisiert durch die privaten religiösen Kurse und personalisiert durch die alten religiösen Wissenseliten – als eine wichtige stabilisierende und bestärkende Kraft. Sie stellt etwas Bewährtes, Etabliertes dar, das im Gegensatz zu einer instabilen Gegenwart und ungewissen Zukunft als das Sichere erscheint. Das Bewährte als etwas, das bereits Bestand hat und als Tradition akzeptiert ist, bildet ein wichtiges Fundament für Erziehung. Seine Pflege dient nicht nur dazu, die Autorität der Erwachsenen zu rechtfertigen. Zudem werden »sinnstiftende und normgebende Traditionsgüter« wie Religion vor allem in Zeiten schnellen Wandels gebraucht, um Kontinuität zu sichern (Brezinka 2003: 14). Einerseits »schützen (sie, M.S.) eine Gruppe davor, sich selbst fremd zu werden« (ebd.). Andererseits bedeutet die Pflege von Traditionen auch, die nachfolgende Generation an sich zu binden (ebd.: 16). Traditionen wie die Institution der religiösen Kurse sind nicht nur Reaktionen auf Wandel. Sie sind selbst Teil bzw. eine »Modalität des Wandels« (Waldman 1986). Als einzige elementare Erziehungs- und Bildungsstätte in den muslimischen Gesellschaften des vormodernen Zentralasiens wurden die religiösen Kurse in der sowjetischen Ära einer Säkularisierung unterzogen. Mit der Einführung eines zentralistisch organisierten öffentlichen Bildungswesens und der Liquidierung traditioneller religiöser Wissensträger wurde die systematische religiöse Erziehung und Wissensvermittlung zu einer privaten Angelegenheit und in den häuslichen Bereich abgedrängt. Die Rückkehr der Kurse in den öffentlichen Raum als Erziehungsinstitution für junge, pubertierende Muslime und als religiöse Alternative für mangelnde Freizeitangebote bezeugt die Etablierung eines »neuen parallelen islamischen Sektors« (Hefner 2005: 10) in der Hauptstadt, der Dienstleistungen im Bildungs- und Erziehungsbereich bereitstellt, die der tadschikische Säkularstaat gegenwärtig nicht zu gewähren vermag. Die Attraktivität dieses neuen religiösen Dienstleistungssektors gründet vor allem in seiner Einbettung in die städtischen Nachbarschaften und der Anbindung an die lokale Moschee. Die damit verbundene Nähe, Intimität und Vertrautheit determiniert soziale und moralische Einheiten und macht die religiösen Kurse zu einer logischen Ausweitung der Haushalte innerhalb der Stadtviertel (Eickelman 1998:
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104).16 Dass dabei maßgeblich auf alte lokale Wissenseliten zurückgegriffen wird, zeugt von der Skepsis der älteren Generation städtischer Muslime gegenüber wahhabitischen bzw. transnationalen Ausformungen des Islams und wirkt bestärkend auf die lokale Islamtradition. Die Popularität, welcher sich die religiösen Kurse in Duschanbe erfreuen, erklärt sich schließlich auch im mangelnden Beitrag, den staatliche Schulen derzeit bei der Überwindung der »Erziehungskrise« im Land leisten. Unter gravierenden finanziellen Nöten, der fehlenden Modernisierung und einem Mangel an Fachkräften leidend, beschränkt sich ihre Erziehungsaufgabe weitestgehend auf den Ethikunterricht, der in Form zweier separater Fächer (Odobnoma, Odobi Oiladorj) zwar neu in die Curricula nationaler Schulen aufgenommen wurde, vielerorts aber nur unzureichend umgesetzt wird. Anders als in der Sowjetzeit, als sich Schulen gemeinsam mit Jugendorganisationen und Vereinen um die Erziehung und Freizeitgestaltung der muslimischen Jugendlichen bemühten, werden die Jugendlichen heute sich selbst überlassen und bleiben außerhalb der Schule auf sich allein gestellt. Diese Entwicklung hat soziale Sprengkraft (ICG report 2003b) und erklärt die ambivalente Haltung der gegenwärtigen säkularisierten politischen Elite gegenüber der Institution der religiösen Kurse. Ungeachtet ihrer Bedeutung als wichtiger Träger des kulturellen und religiösen Bewusstseins der Muslime Tadschikistans hat die gegenwärtige Regierung des Landes den Kursen keinen Platz im offiziellen islamischen Bildungssystem zugewiesen.17 Zwar sind die religiösen Kurse als Privatangelegenheit erlaubt. Eine Reihe erforderlicher Genehmigungen und Auflagen aber erschweren ihre Ausführung und drängen sie in eine Grauzone zwischen Legalität und Illegalität. Dort allerdings werden sie geduldet und von den staatlichen Behörden in ihrer moralisierenden und pädagogischen Wirkung sowie behütenden Funktion anerkannt, mit der die Kurse das Unvermögen des tadschikischen Säkularstaates und der privaten Haushalte, sich ausreichend um die städtische Jugend zu kümmern, zumindest teilweise kompensieren.
16 Dies erklärt auch, weshalb Muslime in Duschanbe die Kurse den öffentlichen und privaten islamischen Bildungsangeboten außerhalb des eigenen Stadtviertels vorziehen. 17 Der Umstand, dass religiöse Unterweisung außerhalb des familiären Rahmens nur im Anschluss an den schulischen Unterricht erfolgen darf (§6 des Religionsgesetzes von 1998) und eine formale islamische Ausbildung im Land erst mit 16 Jahren, d.h. nach Abschluss der mittleren Schulreife, an Stätten höherer islamischer Bildung (madrasa) möglich ist, lässt einen Säkularismus erkennen, welcher im Bereich Bildung und Erziehung der nachfolgenden Generationen zu Gunsten des weltlichen Bildungswesens und seiner Inhalte gewichtet ist.
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Funktion von Zazaki und der kurmancî Sprache im Kontext der alevitischen Identität Hülya Tac 1. Einleitung Seit den 1990er-Jahren sind die Alevitinnen und Aleviten in Deutschland organisiert und streben nach Anerkennung ihres Glaubens und ihrer Kultur. Sie sind in ihren Glaubensvorstellungen und ihrer Kultur sehr heterogen. Es gibt keine einheitliche Definition, was das Alevitentum genau beinhaltet. Krisztina KehlBodrogi kommt in ihrer Abhandlung zu dem Ergebnis: »Während in den Vereinen intern der säkulare Diskurs dominiert, präsentiert sich das organisierte Alevitentum in Deutschland nach außen mit ungewohnter Einstimmigkeit als Religionsgemeinschaft« (Kehl-Bodrogi 2006: 10). Und sie fährt fort: »Die […] erfolgte Verschiebung in der alevitischen Anerkennungsrhetorik von der Kultur zur Religion ist in erster Linie eine Reaktion auf die neu aufgekommene Dominanz der Religionsthematik in der Migrationspolitik in Deutschland« (ebd.: 14). Die Identität der Alevitinnen und Aleviten ist entsprechend heterogen. Von den alevitischen Eliten und ihren Autorinnen und Autoren wird jedoch der Eindruck erweckt, die Alevitinnen und Aleviten verkörperten eine einheitliche Identität. Die Identität der Alevitinnen und Aleviten weist auf eine Vielfältigkeit hin und ist durch wechselnde Identitäten geprägt. Ihre Vielfältigkeit tritt in Erscheinung, wenn wir die sprachliche Identität betrachten. Sprache kann als ein wichtiger Aspekt der Identität betrachtet werden, der der Ethnizität zugrunde liegt. Die sprachliche Identität stellt einen Rahmen dar, der die Struktur des Denkens ihrer Trägerinnen und Träger wesentlich bestimmt. Jedoch müssen die sozialen, kulturellen, religiösen, ethnischen und politischen Kriterien einbezogen werden, um überhaupt dem Phänomen der sprachlichen Identität in seiner Komplexität annähernd gerecht werden zu können. In Bezug auf die kurdische Identität ist z.B. die Sprache Kurmancî ein wichtiger Bestandteil des Kurdin- und Kurdeseins. Kurmancî wird immer wieder als ausreichender
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Beweis der kurdischen Existenz beschrieben. Es gibt aber viele Kurdinnen und Kurden, die kein Kurdisch sprechen oder verstehen, und Nicht-Kurdinnen und Nicht-Kurden, die Kurdisch können.1 Das Gleiche gilt für die Zaza-Identität in Bezug auf die Sprache Zazaki. Aus diesem Grund ist die Kenntnis der Sprache an sich weniger bedeutend als die Einstellung zur darin ausgedrückten Identität. In diesem Beitrag werde ich am Beispiel zweier Gruppen von Migrantinnen und Migranten aus der Türkei, denen der Zazaki und kurmancî Sprechenden, aufzeigen, welche Funktion die Sprache im Kontext der alevitischen Identität in Deutschland einnimmt. Ich beginne mit der Analyse der individuellen Funktion von Sprache und gehe anschließend von dieser Analyse aus auf die Ebene ethnischer Gruppen und auf eine politische Ebene ein. Dabei werden folgende Aspekte behandelt: – in Bezug auf das Individuum: die Funktion, die die Sprache in der Familie und der Biografie der Individuen einnimmt; – im Hinblick auf bestimmte ethnische Gruppen: die Funktion, die die Hinwendung zu einer bestimmten Sprache für eine spezifische ethnische Gruppe erfüllt; – auf der politischen Ebene: die Funktion, die die Sprache als Mittel zum Ausdruck problematischer Entwicklungen der soziokulturellen Realität einnimmt. Die Analyse der Funktion von Sprache für das Individuum ist besonders für das Thema des Sammelbandes »Kindheit und Jugend in muslimischen Lebenswelten« interessant, da sprachliche Identität beim Individuum als naturhaft gegeben erscheint und im Kontext der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen steht.
2. Ethnische Identität und Sprache Zwischen der ethnischen Identität und Sprache besteht ein Zusammenhang. Ob allerdings eine gegenseitige Einflussnahme gegeben ist und wie diese organisiert ist, kann nur beantwortet werden, wenn auf einige grundlegende Konzepte der ethnischen Identität eingegangen wird. Die Definition des Begriffs »Ethnie« bzw. »ethnische Gruppe« fällt in den Geistes- und Sozialwissenschaften nur sehr vage aus. Es gibt keine klare Linie über deren konstituierende Merkmale, und
1 In Anlehnung an Yalçn-Heckmann 1989: 122 und van Bruinessen 1997a: 186f.
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auch über Entstehung und Wirkung ethnischer Eliten und Bewegungen liegen nur wenige Befunde vor.2 Der einflussreichste Aufsatz in der Ethnizitätsforschung geht noch immer von Frederik Barths Studie aus, in dessen Analyse ethnischer Phänomene Grenzziehungs- und Interaktionsprozesse im Vordergrund stehen. Ethnische Gruppen begreift er als dynamische soziale Einheiten, deren Grenzen wandelbar und von den Akteuren selbst gesetzt werden (Barth 1969: 10). Kulturelle Differenzen in Lebensstil, Kleidung oder Sprache führen nicht zwangsläufig zu ethnischer Gruppenbildung. Eher stellen sie ein Hilfsmittel dar, das als Merkmal zur Abgrenzung herangezogen werden kann (ebd.: 15). Werner Kummer verfolgt den Ansatz, »daß die bewußte konstruktive Anstrengung einer ethnischen Intelligenzija notwendig ist, um Sprache zu einem zentralen Kennzeichen ethnischer Identität zu entwickeln« (Kummer 1990: 268f.). Vertreterinnen und Vertreter der »ethnischen Intelligenzija« bestehen aus Dichterinnen und Dichtern, Philosophinnen und Philosophen, Gelehrten, Anwältinnen und Anwälten sowie Lehrerinnen und Lehrern (ebd.: 274). Georg Elwert möchte Ethnien deutlicher von anderen sozialen Gruppen wie etwa politischen Vereinigungen abgrenzen, indem er ethnische Gruppen als familienübergreifende und familienerfassende Gruppen definiert (Elwert 1989: 448). Weitere Ansätze heben den mythischen Charakter von Ursprungsgeschichten hervor und gehen davon aus, dass zur Herausbildung ethnischer Identität eine Übereinstimmung an sozio-kulturellen Gemeinsamkeiten vorhanden sein muss (Bader 1995: 8). Martin van Bruinessen gebraucht den Terminus Ethnie nur für diejenigen, »die durch ein Bewußtsein von einer gemeinsamen Identität und ein Zusammengehörigkeitsgefühl charakterisiert werden« (van Bruinessen 1997a: 200). Dass zwischen ethnischer Identität und Sprache eine Beziehung besteht, kann also nicht bezweifelt werden. Es ist jedoch überaus schwierig, für die konkreten Einzelfälle einen gemeinsamen Nenner zu ermitteln. Durch Feldforschung, Beobachtungen und qualitative Interviews können die verschiedenen Erscheinungsformen und Konstruktionsprozesse von Ethnizität oder zwischen ethnischer Identität und Sprache erklärt werden. So werden die »alltäglichen Narrative und Praxen der Differenzierung und Identifizierung entschlüsselt« (Feischmidt 2007: 65f.). Das impliziert: »Ist Ethnizität eine übergeordnete Kategorie und ein universales Phänomen, so ist doch ihre konkrete Bedeutung […] sehr variabel« (Tac 2006: 388).
2 In der soziologischen Eliteforschung ist der Elitebegriff an die gesellschaftliche, wirtschaftliche und politische Einflussnahme sowie an die Position gebunden (Hartmann 2007: 18).
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Den Identitätsbegriff verwende ich in Anlehnung an Charles Taylor. Er schreibt: »Wissen, wer ich bin, ist eine Unterart des Wissens, wo ich mich befinde. Definiert wird meine Identität durch die Bindungen und Identifikationen, die den Rahmen oder Horizont abgeben, innerhalb dessen ich von Fall zu Fall zu bestimmen versuchen kann, was gut oder wertvoll ist oder was getan werden sollte bzw. was ich billige oder ablehne« (Taylor 1994: 55).
3. Die alevitischen Zaza und die alevitischen Kurdinnen und Kurden in der Türkei Alevitinnen und Aleviten sind nach den Sunnitinnen und Sunniten die zweitstärkste islamische Konfessionsgruppe in der Türkei. Die Alevitinnen und Aleviten verehren Ali und die anderen elf Imame der Schiiten, jedoch akzeptieren sie nicht generell die kanonischen Verpflichtungen des orthodoxen Islam, und sie haben ihre eigenen religiösen Rituale, die sich sowohl von denen der Schiitinnen und Schiiten als auch der Sunnitinnen und Sunniten unterscheiden (van Bruinessen 1997a: 191). »Nach ihren gegen das politische Zentrum gerichteten Aufständen im 16. Jahrhundert in die Marginalität abgedrängt, befanden sich die Aleviten bis in die Anfangszeit der Türkischen Republik in weitgehender räumlicher und sozialer Isolation […]. Die religiöse Leitung der Gemeinschaft lag in den Händen ›heiliger‹ Männer (dede), die als Besitzer wundertätiger Kräfte (keramet) galten, und deren Legitimation und Autorität auf ihrer (in der Regel fiktiven) Abstammung aus dem Geschlecht des Propheten Mohammed gründete. Die dede hatten das Monopol auf Besitz und Interpretation der religiösen Texte (Buyruk) und waren für die Durchführung der cem, der zentralen religiösen Zeremonien der Aleviten zuständig« (Kehl-Bodrogi 2006: 3f.; Herv. i.O.).3 Schätzungen über den Anteil der Alevitinnen und Aleviten an der Gesamtbevölkerung der Türkei schwanken zwischen 15% und 40%. In wissenschaftlichen Arbeiten variieren die Prozentzahlen der Alevitinnen und Aleviten von 20% bis 25% (Birge 1937: 15f.; Paul 1992: 73; Bozarslan 1995: 48; Kehl-Bodrogi 2006: 7). »Censuses have never registered Alevis as a distinct category; and even if they had, the outcome would be unreliable, for the Alevis, fearing religious 3 Durch den Religionsunterricht in Deutschland verlieren die dedes immer mehr an Bedeutung, da einerseits im Schuldienst stehende Lehrerinnen und Lehrer alevitischer Herkunft den Religionsunterricht erteilen. Andererseits entstammen die Mitglieder der Lehrplankommission der traditionellen Laienschicht (talip). So wird die Autorität in religiösen Fragen von den dede auf die talip übertragen. Die talip sind die neuen alevitischen Intellektuellen, die die Richtungen der alevitischen Neubelebung beeinflussen (Kehl-Bodrogi 2006: 16).
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and political discrimination, have often attempted to hide their identity« (van Bruinessen 1996: 7). Im Landesdurchschnitt bilden die türkischsprachigen Alevitinnen und Aleviten, die nahezu in allen Regionen der Türkei vertreten sind, die Mehrheit. Der Anteil der Alevitinnen und Aleviten liegt unter den Kurmancî sprechenden Kurdinnen und Kurden bei knapp 30% (Andrews 1989: 116). Die Zaza werden auf ca. zwei Millionen geschätzt (Paul 1998: 385). Ihre religiöse Zugehörigkeit wird zu ungefähr gleichen Teilen den schafiitischen Sunnitinnen und Sunniten und Alevitinnen und Aleviten zugeordnet (Paul 1992: 73; KehlBodrogi 1998: 113). Über die Arabisch sprechenden Alevitinnen und Aleviten schreibt Martin van Bruinessen »their numbers are small and their role in Turkey has been negligible« (van Bruinessen 1996: 7). Kurmancî4 und Zazaki5 werden den westiranischen Sprachen zugerechnet, welche der indoeuropäischen Sprachfamilie zuzuordnen sind (Kreyenbroek 1992: 70). Kurmancî und Zazaki sind nach linguistischen Kriterien zwei verschiedene Sprachen. Diese Unterscheidung ist auch nach der modernen Linguistik noch gültig.6 Auch wenn von linguistischer Seite, wie Ludwig Paul feststellt, das Zazaki aus partiell »stark voneinander differierenden Einzeldialekten [besteht], zu denen keine dialektübergreifende ›hochsprachliche‹ Variante existiert« (Paul 1998: 386), hält bis heute die Auseinandersetzung über das Zazaki in der Bevölkerung an. Während von einigen Kurdinnen und Kurden Zazaki als ein Dialekt des Kurdischen beschrieben wird, führen andere das Zazaki als eigenständige Sprache auf, da eine Kommunikation über die Sprachgrenze zwischen Zazaki und Kurmancî fast unmöglich ist. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu, 4 Die Klassifizierung von kurdischen Dialekten in Gruppen findet sich bei Martin van Bruinessen (1989: 37). Kurmancî und Soranî sind die Hauptdialektgruppen des Kurdischen (ebd.). Kurmancî wird in den meisten kurdischen Gebieten der Türkei gesprochen. Kurdisch wird synonym für Kurmancî verwendet, da für eine breite Bevölkerungsschicht der Türkei Kurmancî als die Hochsprache der kurdischen Sprache gilt. 5 Zazaki hat sich gegenüber der Bezeichnung Dmli und Krmanc sowohl in der wissenschaftlichen Literatur als auch in der alltäglichen Kommunikation durchgesetzt. Erwähnenswert ist in diesem Kontext Martin van Bruinessen. Er schreibt: »When speaking Zaza, Dersimis often refer to themselves as Krmanc and to their language as Krmancki, which are almost the same names as those by which Kurdish speakers refer to themselves and their language (Kurmanc and Kurmanci), but which obviously have different referents. When speaking Turkish or other foreign languages, both may in fact translate these names as Kurd and Kurdish, which appears to support the Kurdish nationalist viewpoint. However, the Dersimis (when speaking Zaza) call the Kurmanci language Krdasi, and they refer to the Sunni Kurdish tribes as Kr or Kur« (van Bruinessen 1997b: 17, Herv. i.O.). 6 Diese Auffassung wird von MacKenzie (1989: 541) bestätigt (siehe auch Kreyenbroek 1992: 70 und Paul 1998). Paul zieht einen Vergleich zwischen der holländischen und der deutschen Sprache, die zwar miteinander verwandt sind, »aber linguistisch eindeutig als eigene Sprache abgrenzbar« sind (Paul 1992: 73).
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nämlich die Frage der sprachlichen Identität. Das Zazaki wird – je nach Standpunkt des Betrachters – als Dialekt im Kurdischen oder auch als eine eigenständige Sprache beschrieben, je nachdem, wie die Verortung der sprachlichen Identität im Kontext ihrer eigenen ethnischen Identität ausfällt. Die Klassifizierung des Zazaki unterliegt also eher einem ideologischen Diskurs, als dass sie auf einer wissenschaftlichen Grundlage beruhte. Die Linguistik spielt in diesem Zusammenhang für die Betroffenen kaum eine Rolle (Tac 2006: 280-305, 2008: 145-149, 2009). Die Siedlungsgebiete der Alevitinnen und Aleviten sind das ländliche Zentralund Ostanatolien, hauptsächlich im Dreieck Kayseri – Sivas – Divrii. Zazakiund kurmancîsprachige Alevitinnen und Aleviten wohnen überwiegend in den Provinzen Tunceli, Elaz und Mu. Um Kahramanmara und Malatya existieren türkisch-, zazaki- und kurmancîsprachige alevitische Dörfer.7 Zwar können diese landschaftlichen Siedlungsschwerpunkte der Alevitinnen und Aleviten benannt werden, dennoch sind sie in der Gegenwart im Großen und Ganzen nicht mehr exakt feststellbar. Beigesteuert hat hierzu nicht nur die türkische Politik der Ansiedlung (Rumpf 1993: 184), sondern auch die freiwillige Umsiedlung von Bevölkerungsteilen innerhalb und außerhalb der Türkei. So migrierten die Alevitinnen und Aleviten in die westlichen Großstädte der Türkei und ins Ausland. Krisztina Kehl-Bodrogi geht davon aus, dass unter den Gastarbeiterinnen und Gastarbeitern die Alevitinnen und Aleviten überproportional stark vertreten waren. Für die Folgezeit des kontinuierlichen Zuwachses nennt sie folgende Gründe: »Von besonderer Bedeutung waren dabei die Ende der 1970er Jahre in mehreren Landesteilen der Türkei verübten anti-alevitischen Pogrome, die gegen die Linke gerichteten ›Säuberungen‹ nach dem Militärputsch 1981 sowie der Anti-Guerilla-Krieg im Osten des Landes, der besonders in der von Aleviten bewohnten Provinz Tunceli auch die Zivilbevölkerung stark in Mitleidenschaft gezogen hat«.8
4. Empirische Untersuchung Die Analyse basiert auf einer empirischen Untersuchung der Alevitinnen und Aleviten in Deutschland. Die Erhebung wurde in Berlin durchgeführt. Sie umfasst 24 Probandinnen und Probanden (16 Frauen und acht Männer), mit 7 In Anlehnung an Vorhoff 1995: 58; siehe auch Halm 1982: 286; Andrews 1989: 57, 117, 123-133 und Paul 1992: 73. 8 Kehl-Bodrogi 2006: 7 sowie Tac 2008: 136 und insbesondere van Bruinessen 1996, die Abschnitte »Emancipation and politicisation« und »New outbursts of violence against Alevis«.
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denen jeweils mehrstündige problemzentrierte Interviews nach Witzel durchgeführt wurden (Witzel 1982, 1989). Die Interviews wurden anschließend einer Inhaltsanalyse nach Mayring unterzogen (Mayring 2000). Die Analyse zielt auf eine Kategorienbildung, die in diesem speziellen Beitrag der Frage nachgeht, welche Funktion die Sprache(n) Zazaki und Kurmancî im Kontext der alevitischen Identität in Deutschland einnimmt bzw. einnehmen. Die vorliegende Darstellung stützt sich auf die zentralen Ergebnisse der Kategorie Sprache (s. Tac 2006: 280-355), wie sie in meiner Dissertation umfassend dargestellt sind.
5. Funktion von Sprache 5.1 Individuelle Funktion von Sprache Auf der individuellen Ebene ist die Funktion von sprachlicher Identität ein Teil einer gesamten Familienidentität. Sprachliche Identität erscheint in der individuellen Funktion als naturhaft gegeben und steht im Kontext der Sozialisation von Kindern und Jugendlichen. »Das Individuum ist in einer ethnischen Gruppe geboren, erfährt ihre Normen und nimmt ihre Wertsysteme an« (Yalçn-Heckmann 1989: 122). Das Gleiche gilt für die Familie als Kommunikationsgemeinschaft. Menschen werden in eine ethnische Gruppe hinein geboren, erlernen deren Sprache und nehmen deren sprachliche Identität an. Sie können eine emotionale Bindung zu einer Sprache entwickeln, in der sich ihre Sicht auf die Vergangenheit manifestiert. Mit der Sprache wird die Familiengeschichte assoziiert. Bei den meisten Zazaki und Kurmancî sprechenden Alevitinnen und Aleviten, die in Deutschland sozialisiert sind, wird diese Sprache nicht als überregionale Verkehrssprache angesehen, sondern weitgehend als Familiensprache angewandt und als solche beschrieben. Oder wie Ludwig Paul (1998: 390) bemerkt: Das Zazaki in Ostanatolien dient als »Haus- und Dorfsprache«. Die meisten Sprecherinnen und Sprecher von Zazaki und Kurmancî sind in ihrer eigenen Sprache Analphabeten geblieben. Zazaki und Kurmancî können als das wichtigste und einzige Instrument einer Kommunikation betrachtet werden, das jüngeren Alevitinnen und Aleviten die Möglichkeit eröffnet, mit ihren Eltern und Verwandten zu kommunizieren. Da einige Familienmitglieder nur Minderheitensprachen sprechen, bleibt deren Kommunikationsmöglichkeit sehr begrenzt. Die Fähigkeit oder Unfähigkeit, sich in unterschiedlichen Sprachen zu bewegen, bestimmt jegliche Kontakte und Beziehungen der Menschen zu Familie und Außenwelt. Sprache wird hier als soziale Ressource zur Lösung von Alltagsproblemen behandelt. Diese Alevitin-
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nen und Aleviten haben eine pragmatische Einstellung gegenüber der Sprache und sind gegenüber einem Verständnis von Sprache als Kennzeichen ethnischer Identität gleichgültig. Sie halten den Verlust ihrer eigenen Sprache für weniger wichtig als den Verlust des Türkischen und Deutschen. Diese Sprachen haben für sie einen ökonomischen Nutzen und ein höheres Sozialprestige. »Wie jedes andere Werkzeug von begrenztem Gebrauchswert wird eine Sprache durch Sprachwechsel aufgegeben, wenn gesellschaftlicher Druck eine andere Sprache nützlicher macht« (Kummer 1990: 265). Dennoch ist Sprache mehr als ein Kommunikationsmittel. »Es verbindet sich mit der Orientierung an traditionellen Werten wie z.B. den oralen Traditionen von Mythen und Geschichten, Bräuchen und Riten […]« (Kummer 1990: 270). Diese Werte sind im kulturellen Gedächtnis vorhanden und können gegebenenfalls ein übergeordnetes Zusammengehörigkeitsgefühl erzeugen, welches für die Mobilisierung ethnischer Gefühle von Bedeutung ist. Hierbei spielen die Eliten eine wichtige Rolle, da die ethnische Politik der Eliten ein Bewusstsein für den Wert ihrer eigenen Sprache und kulturellen Tradition entwickelt.
5.2 Funktion von Sprache für eine ethnische Gruppe Alevitinnen und Aleviten sind mehrsprachig sozialisiert. Sie haben meist eine Biografie wechselnder Identitäten hinter sich und zeigen so die Bedeutung der Sprachgrenzen, die sich entweder zur Festlegung von ethnischer Identität eignet oder auch nicht. Was bedeutet diese Aussage konkret für diesen Beitrag? – Sind Menschen, die Zazaki und Kurmancî sprechen, zwangsläufig Zaza, Kurdinnen und Kurden? – Verlassen Menschen ihre ethnische Identität, wenn sie kein Zazaki oder Kurmancî mehr sprechen? Einerseits benutzen Alevitinnen und Aleviten, die mit einer bewussten Einstellung zu ihrer ethnischen Identität ausgestattet sind, bestimmte Symbole ihrer Gemeinschaft wie z.B. die Sprache öfter als Andere. Sie verfolgen damit das Ziel, ihre jeweilige Identität zu beweisen und gegenüber anderen zu kennzeichnen. Auch wenn die Alevitinnen und Aleviten die Sprache ihrer ethnischen Identität nicht sprechen, wird diese Identität ausdrücklich betont. Die eigene Minderheitensprache zu sprechen, ist also keine Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur jeweiligen Gemeinschaft. Die Einstellung zu den jeweiligen Sprachen spielt eine größere Rolle als der Tatbestand, diese Sprachen zu beherrschen. Das impli-
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ziert, dass ein positiver Bezug zu dieser Sprache existiert, eine Übereinstimmung der Kultur gegeben ist oder aber ein politisches Bewusstsein vorhanden ist. Die Sprache wird zwangsläufig als Kriterium einer Eigendefinition und als eindeutiges Abgrenzungsmerkmal gesehen, sodass sich jede weitere Diskussion zu erübrigen scheint. Necla Açk schreibt, dass die Muttersprache »in vielen nationalen und ethnischen Projekten eine wichtige Bedeutung [hat]. Sie wird meist zur Abgrenzung gegenüber der dominanten Nation oder gegenüber anderen nationalen und ethnischen Gruppen benutzt. Hier dient die Muttersprache als identitätsstiftendes Merkmal der Gemeinschaft« (Açk 2000: 31). Sprache wird das zentrale Merkmal ethnischer Identität. Sie ist »verbunden mit anderen kulturellen Merkmalen wie Volksdichtung, Musik und ethnischer Geschichte« (Kummer 1990: 272). Andererseits stiftet die Minderheitensprache der Alevitinnen und Aleviten nicht zwangsläufig eine entsprechende ethnische Identität. Einige der kurmancîsprachigen Alevitinnen und Aleviten, die kein kulturelles oder politisches Bewusstsein einer kurdischen Identität besitzen, möchten nicht aufgrund ihrer kurmancî Sprachkenntnisse als Kurdinnen und Kurden identifiziert werden. Sie wollen sich gegenüber den sunnitischen Kurdinnen und Kurden abgrenzen und nicht mit diesen gleichgesetzt werden. Bei diesen Alevitinnen und Aleviten erfolgen Identifizierung und Eigendefinition nicht über die identitätsstiftende Muttersprache, sondern eindimensional über ihre religiöse Identität. Sie stellen als zazaki- und kurmancîsprachige Alevitinnen und Aleviten eine sprachlich heterogene Glaubensgemeinschaft dar, die untereinander mehr soziale, kulturelle und politische Gemeinsamkeiten aufweist als sie mit ihren jeweiligen Sprachverwandten der sunnitischen Glaubensrichtung teilt.9 Das Wir-Bewusstsein der Alevitinnen und Aleviten wird durch das Prinzip der Erblichkeit der Mitgliedschaft in der alevitischen Gemeinschaft noch untermauert. Allerdings sind auch Differenzierungsprozesse gegenüber den anderssprachigen Alevitinnen und Aleviten zu beobachten, die zu einer Eingrenzung der gemeinsamen sprachlichen und religiösen bzw. alevitischen Identität führen, die die Eigendefinition darstellt. Einige der Zazaki sprechenden Alevitinnen und Aleviten grenzen sich bewusst gegenüber den Kurmancî sprechenden Alevitinnen und Aleviten und/oder den Türkisch sprechenden Alevitinnen und Aleviten ab. Hier bestätigt sich, dass Sprache imstande ist, Differenzen zu erzeugen. In diesem Kontext ist die Verortung der Sprache Zazaki – als Dialekt des Kurdischen oder aber als eine eigenständige Sprache – erwähnenswert, da diese 9 Siehe hierzu auch van Bruinessen 1997a: 191.
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je nach Eigendefinition der Alevitinnen und Aleviten ausfällt: Alevitinnen und Aleviten bezeichnen Kurmancî als kurdische Hochsprache. Zazaki wird von den meisten Zazaki sprechenden Alevitinnen und Aleviten nicht als kurdische Sprache beschrieben. Hingegen wird es von den Kurmancî sprechenden Alevitinnen und Aleviten als eine kurdische Sprache angesehen. Die Alevitinnen und Aleviten, die sich als Kurdinnen und Kurden bezeichnen, betrachten das Zazaki als einen kurdischen Dialekt und sind der Meinung, dass die Zaza Teil der kurdischen Bevölkerung sind. Die Kurmancî sprechenden Alevitinnen und Aleviten rechnen sich nicht zwangsläufig den Kurdinnen und Kurden zu und unterscheiden sich hierin von den Zazaki sprechenden Alevitinnen und Aleviten, die sich über ihre sprachliche Identität definieren. Da ein großer Teil von ihnen die Ansicht vertritt, dass es keine Zazaki sprechenden Sunnitinnen und Sunniten gibt, wird ihre sprachliche Identität in einem absoluten Ausmaß angenommen und auch nicht im Geringsten hinterfragt. Erkennbar wird, dass die Interpretation der Bedeutung der Sprache sehr stark von den Auffassungen der jeweiligen Alevitinnen und Aleviten über ihre eigene ethnische Identität abhängt. Oder wie Ludwig Paul (1998: 395f.) thematisiert: »Die Bedeutung, die die Frage ›Zazaki – Sprache oder Nation?‹ erhält, resultiert allein aus der funktionalen Perspektive der Sprache im Rahmen des Nationalismus«.
5.3 Funktion von Sprache als politisches Symbol der Unterdrückung Alevitinnen und Aleviten mit einer bewussten politischen Einstellung zu ihrer ethnischen Identität betrachten die Sprache als Beweis der Zaza und der kurdischen Existenz. In ihrer Ideologie ist der Verlust der eigenen Sprache gleichbedeutend mit dem Verlust der ethnischen Identität, und die Unterdrückung der Sprache ihrer ethnischen Gruppe ist gleichbedeutend mit Ethnozid. Das Bewusstsein für eine Minderheitensprache entsteht vor allem dann, so Roland Kühnel, »wenn sie ›bedroht‹ wird und wenn die – immer vorhandene – Hierarchisierung einer sprachlichen Gesellschaft massiv bestimmte soziale Verwerfungen fördert« (Kühnel 2007: 26). Und Ludwig Paul ist gar der Ansicht, dass die Spaltung zwischen Alevitinnen und Aleviten einerseits sowie Sunnitinnen und Sunniten andererseits überbrückt werden kann, der Faktor sei politischer Natur. »Die Gegnerschaft zur Politik der Bevormundung und Assimilation durch den türkischen Staat, der gemeinsame Wille zu Demokratie und Autonomie (welche
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Form diese auch immer hat) erweist sich als ein Band, das sunnitische Kurden und Zaza, alevitische Zaza und auch andere religiöse Gruppen wie die kurdischen Yeziden vereinen kann« (Paul 1998: 391). Das Bewusstsein der Unterdrückung des Zazaki bzw. der Zaza-Identität oder der kurmancî Sprache bzw. der kurdischen Identität kann generell als Folge sozialer Kontakte und Beziehungen betrachtet werden, die zu konfliktvollen Erlebnissen geführt haben. Das Bewusstsein der Unterdrückung ist jedoch niemals unabwendbar. Wie gewisse Benachteiligungen empfunden werden, ist von der spezifischen Situationsdeutung und Handlungsorientierung der Betroffenen abhängig. Die Beurteilung des Zazaki und der kurmancî Sprache kann subjektiv bestimmt werden: Einerseits wird es unter Bezug auf die soziale Kategorie der Zaza oder der Kurdinnen und Kurden als eine in der Öffentlichkeit diskriminierte Sprache wahrgenommen. Und andererseits können Zazaki und Kurmancî als eine Sprache interpretiert werden, die nur in der Privatsphäre zum Vorschein kommt. Das Nicht-Sprechen-Dürfen des Zazaki und der kurmancî Sprache in der Öffentlichkeit wird hier als familiäres Problem interpretiert. Welche dieser möglichen Situationsdeutungen sich durchsetzt und handlungsrelevant wird, unterliegt aber letztlich nicht allein subjektiver Beurteilung, sondern wird vor allem auch von öffentlich artikulierten Interpretationsangeboten beeinflusst. Hierbei spielen die Zazaki und Kurmancî sprechenden Eliten eine maßgebliche Rolle. Erst die Verbindung von Deutungsangeboten und einer ihnen entsprechenden Programmatik mit den Wahrnehmungen und Auslegungsmustern der Zazaki oder der Kurmancî sprechenden Alevitinnen und Aleviten sowie die Schaffung und Aufwertung eines Zugehörigkeitsgefühls dienen als Referenzrahmen sowohl für die Situationsauslegung als auch für die gemeinschaftliche Handlungsorientierung und konstituieren die Grundlagen der Mobilisierung und politischen Bewegungen. Oder, wie Werner Kummer in einem Modell der Ethnogenese annimmt, »daß die Wahl von Sprache als eines zentralen Kennzeichens kultureller Identität als defensives Mittel der Identitätsbildung einer Gruppe entsteht, das von einer ethnischen Intelligenzija in der Auseinandersetzung mit einer dominanten oder kolonisierenden Gesellschaft entwickelt und genutzt wird […]. Die Majorität reproduziert sich in der existierenden Struktur durch Assimilation an die kulturellen Muster der dominanten Gesellschaft; sie wechselt ihre Einstellung nur dann in Richtung auf eine Verteidigung ihrer eigenen kulturellen und ethnischen Identität, wenn die ethnische Intelligenzija einen Machtnukleus gebildet hat, der eine gute Chance bietet, die Macht der dominanten Gesellschaft zu brechen und für die gesamte Gruppe Autonomie zurückzugewinnen« (Kummer 1990: 267).
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6. Schlussbetrachtung Die Funktion von Sprache im Kontext der alevitischen Identität lässt sich auf einer individuellen Ebene, einer Ebene der ethnischen Gruppe und einer politischen Ebene beschreiben. In Familie und Biografie, auf der individuellen Ebene, stiftet die Sprache eine natürliche Identität. Das Individuum wird in einer Gemeinschaft geboren und erlernt ihre Sprache als Kommunikationsmittel. Die Merkmale der ethnischen Identität, die durch die sprachliche Identität vermittelt werden, sind irrelevant. Sprache wird als soziale Ressource für die Lösung von Alltagsproblemen behandelt. Auf der Ebene der ethnischen Identität, die durch die sprachliche Identität vermittelt wird, werden die Grenzen zwischen verschiedenen ethnischen Gruppen wahrgenommen. Hier ist es ein wichtiges Thema, Alevitin und Alevite, Kurdin und Kurde oder Zaza zu sein, und Symbole, Sprache und weitere Merkmale der ethnischen Gruppe spielen eine große Rolle. Die eigene ethnische Identität zu akzentuieren und dabei insbesondere die eigene Sprache aufzuwerten, geschieht unabhängig davon, ob die Mitglieder der ethnischen Gruppe sie sprechen oder nicht. Die Gruppenzugehörigkeit wird zwar sprachlich bestimmt, ist jedoch nicht ausschließlich an deren Beherrschung gebunden. Die Gemeinsamkeiten einer Sprache erleichtern so die Entstehung einer Gemeinschaft und sind deshalb in vielen Fällen als wichtiges Merkmal zu betrachten. Sprachen erhalten ihre gemeinschaftsstiftende Bedeutung aber erst vor dem Hintergrund vermittelter Deutungsmuster. Und nur wenn sie sich in der Alltagserfahrung auf eine sinnhafte und in dieser Hinsicht erkennbare Differenz beziehen, können sie zu besonderen Symbolen einer Gemeinschaft werden. Zum Schluss sei die Funktion erläutert, die die Sprache im politischen Raum bei problematischen Entwicklungen der soziokulturellen Realität einnimmt. Die sprachliche Identität wird politisiert. Bei einem politischen Bewusstsein werden das Zazaki und die kurmancî Sprache von den Alevitinnen und Aleviten angenommen und als Merkmal ihrer Zaza und kurdischen Zugehörigkeit eingesetzt. Hier dient die sprachliche Identität einer politischen Verortung ihrer Trägerinnen und Träger. Diese Identität entwickelte sich nach konfliktvollen Auseinandersetzungen. Die Zazaki und Kurmancî sprechenden Alevitinnen und Aleviten, die in Deutschland oder in den großen Städten der Türkei leben, gehen meistens zu einer solchen Identität über, nach der das Zazaki und die kurmancî Sprache, »obwohl im Alltag weniger nützlich, einen höheren symbolischen Stellenwert gewinnt« (Yalçn-Heckmann 1989: 123). Sprache als wichtiges
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Merkmal ethnischer Identität ist nicht naturhaft gegeben; vielmehr ist sie das Konstrukt einer ethnischen Elite, »entwickelt als Waffe in einem sozialen Konflikt, zu dem ein bedeutsamer Wechsel der sozio-ökonomischen Struktur gehört und der sich unter Bedingungen einer Situation ethnischer Unterdrückung vollzieht. In einer solchen Situation tendiert die unterdrückte Gruppe dazu, eine Intelligenzija hervorzubringen, die ihre Sprache und die vormodernen Traditionen als zentrales Kennzeichen in Sprachkonflikten verwendet, die auf symbolischer Ebene Ausdruck jenes sozialen Konfliktes sind, der die Situation definiert« (Kummer 1990: 274). Abschließend möchte ich die Merkmale zusammenfassen, die zu einer Erhaltung der sprachlichen Identität führen können. Dies ist möglich, wenn: – – – –
eine Sprache als Kommunikationsmittel zwischen den Generationen dient, der Sprache ein positives Sozialprestige zu eigen ist, eine positive emotionale Bindung zu der Sprache besteht, eine Sprache als Beweis der Gemeinschaft oder als Abgrenzungskriterium nach außen fungiert, – eine Sprache aufgrund von Diskriminierung politisiert wird oder wenn – eine Sprache zu einem zentralen Kennzeichen ethnischer Identität wird, die von einer ethnischen Elite getragen wird.
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HipHop, Kopftuch und Familie – Jugendphase und Jugendkulturen junger Muslime in Deutschland Hans-Jürgen von Wensierski und Claudia Lübcke Das Interesse an Muslimen ist in der bundesdeutschen Jugend- und Sozialforschung in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Dies scheint uns eine erfreuliche Entwicklung zu sein, da es einen notwendigen Diskurs über die muslimischen Lebenswelten in der tendenziell säkularen Bundesrepublik befördert. Der analytische Blick der Jugendforschung auf diese Gruppe ist allerdings oftmals immer noch verengt: Entweder werden sie als Teil der Migrantenpopulation in Deutschland identifiziert (vgl. Bukow/Heimel 2003: 16; Sauter 2000: 37) oder aber unter einer eher religionssoziologischen Perspektive (Bertelsmann-Stiftung 2008; Brettfeld/Wetzels 2007) auf ihre religiösen Orientierungen und Konzepte hin untersucht.
1. Islam als kulturelles System und sozialmoralisches Milieu Im Folgenden wählen wir eine andere, eher jugendtheoretische Perspektive. Im Mittelpunkt steht die Frage, inwieweit die sozialstrukturellen Lebenslagen, aber auch die kulturellen Spezifika und die Traditionen der muslimischen Herkunftsmilieus die Jugendphase junger Muslime und die Prozessverläufe ihrer Jugendbiografien strukturieren. Dabei gehen wir davon aus, dass der religiös-kulturelle Kontext der muslimischen Herkunftsmilieus einen prägenden und strukturierenden Einfluss auf die Alltags- und Lebenswelt, die Orientierungsmuster und biografischen Lebensentwürfe der Jugendlichen hat. In Anlehnung an Clifford Geertz (1988) verstehen wir den Islam als ein kulturelles System, das über soziale Institutionen, Traditionen, Rituale und Konventionen in der Lebenswelt der Jugendlichen verankert ist und u.a. spezifische Sinnstiftungsangebote einer – absolut gesetzten – moralischen Lebensführung vermittelt. Als kulturelles System konkurriert die Religion allerdings in der Strukturierung der alltäglichen Lebensführung oder eines konsistenten Weltbildes mit anderen kulturellen Syste-
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men und sozialen Institutionen. Insofern gehen wir davon aus, dass die Einflüsse des Islams im muslimischen Herkunftsmilieu im Verlauf der Sozialisation zur Ausbildung eines »muslimischen Habitus« (Kelek 2002: 64) führen, der sich bei jedem der jugendlichen Akteure jeweils anders darstellt. Das Konzept eines muslimischen Habitus macht auf die notwendige Differenzierung und den erwartbaren Pluralismus in den Lebensstilen und in der biografischen Lebensführung junger Muslime aufmerksam. Unsere Befunde stammen aus dem Kontext eines DFG-Projekts an der Universität Rostock, das sich auf der Basis qualitativer Analysen mit den Biografien junger Muslime beschäftigt und den Prozessverläufen und der Struktur der Jugendphase bei dieser Zielgruppe nachgeht (vgl. Wensierski/Lübcke 2007).1 Im Rahmen unserer Biografiestudie haben wir eine Typologie entwickelt, die den Pluralismus der Jugendbiografien in muslimischen Milieus spiegelt. Dabei werden fünf Typen mit jeweiligen Varianten differenziert: 1. Säkularisierter jugendbiografischer Verselbstständigungsprozess a. Säkularisierter Verselbstständigungsprozess mit westlich-expressivem Bildungs- oder Szenemoratorium b. Säkularisierte interkulturell-polyglotte Bildungsbiografie c. Säkularisiert-assimilierte Jugendbiografie d. Ethnisch-säkulare Biografie mit traditionalen Bezügen 2. Bi-kulturelle Identitätsproblematik a. Kritische Selbstvergewisserung über die kulturelle Identität b. Weibliche Selbstbehauptungsmuster gegenüber einer traditionellen Frauenrolle c. Konflikthafte, selbstbehauptete Identitätsbildung gegenüber Migrantenmilieu d. Konflikthafte, selbstbehauptete Identitätsbildung im Kontext sozialer Benachteiligung gegenüber der Mehrheitsgesellschaft 3. Re-Islamisierung im Gefolge der Adoleszenz a. Re-Islamisierung im Kontrast zum Elternhaus b. Re-Islamisierung nach expressiver Jugendphase c. Re-Islamisierung nach biografischer Problemlage
1 Im Rahmen des Projektes wurden von Oktober 2006 bis September 2008 insgesamt 107 biografische Interviews mit jungen Muslimen aus Migrantenmilieus in westdeutschen Großstädten und Ballungszentren durchgeführt. Zielgruppe waren Männer und Frauen zwischen 20 und 30 Jahren, die in Deutschland geboren sind oder seit der Kindheit hier leben.
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4. Islamisch-selektiv modernisierte Jugendbiografie a. Islamisch-traditionale Jugendbiografie b. Traditionale Jugendbiografie mit partiellen religiösen Orientierungen c. Islamisch-traditionale Jugendbiografie mit Individualisierungstendenzen d. Individualisierte Neo-Muslima mit erfolgreicher Verselbstständigung e. Neo-Muslima mit krisenhaften Verselbstständigungsprozessen 5. Anomisch-delinquente Migrantenbiografie Sieht man sich die Struktur der Typologie im Überblick an, dann lässt sich ein Spannungsverhältnis zwischen säkularen und religiös geprägten Biografien ausmachen. Die Typen 1 (säkular) und 4 (religiös) bilden dabei die beiden maximalen Pole. Die Typen 2 und 3 stellen in unterschiedlicher Ausprägung jeweils spannungsgeladene Biografien zwischen diesen Polen dar. Typus 2 kennzeichnet ebenfalls durchgehend säkulare Lebensverläufe, ist aber in besonderer Weise durch die biografische Erfahrung einer bi-kulturellen Identität zwischen Migrantenmilieu und deutscher Mehrheitskultur geprägt. Den Typus 3 prägt eine ähnliche Ambivalenz, allerdings ist sie hier zugleich und vorrangig religiös überformt. Diese Jugendbiografien tragen das Spannungsfeld zwischen Mehrheitsgesellschaft und Migrantencommunity als biografisches Problem zwischen säkularer Mehrheitskultur und islamischer Herkunftskultur in sich. Die Fallanalysen belegen, dass diese biografische Identitätskrise und Problemlage vorrangig im Verlauf der Adoleszenz ausgetragen und entschieden wird. Den Typus 5 kennzeichnet der empirische Befund, dass sich einige Biografien der Zuordnung zu der oben skizzierten Systematik sperrten. Diese Biografien waren allesamt durch massive anomische und delinquente Entwicklungsverläufe und hochgradig problembelastete und desintegrative Lebenswelten und Familienmilieus gekennzeichnet. Wir haben uns deshalb entschieden, diese dominant desintegrativen biografischen Verläufe einem eigenständigen Typus zuzuordnen. Wenn im Folgenden von der Struktur einer ›muslimischen Jugendphase‹ die Rede ist, dann zielt das insbesondere auf die beiden Typen 3 und 4. Allerdings spiegeln sich die sozialisatorischen und kulturellen Merkmale, die für das Aufwachsen junger Muslime beschrieben werden, auch in den anderen Typen. Insbesondere in den Typen 1 und 2 zeichnen sich die säkularen Jugendbiografien aber durch ein höheres Maß an Distanz und Selbstbehauptung gegenüber religiösen und traditionalen Erwartungen im Herkunftsmilieu aus.
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2. Junge Muslime in Deutschland Junge Muslime stehen in Deutschland vor der Aufgabe, ihre biografischen Lebensentwürfe, ihre Orientierungen und Weltanschauungen, ihre sozialen und kulturellen Identitäten im Spannungsfeld zwischen den Einflüssen und Erwartungen der Herkunftsmilieus und der pluralisierten bundesdeutschen Gesellschaft zu entwickeln und zu gestalten. Dabei können wir davon ausgehen, dass die Jugendphase der jungen Muslime sich auf der einen Seite durch die gleichen sozialen Strukturmerkmale auszeichnet wie die aller Heranwachsender in Deutschland, zum anderen ergeben sich aber auch deutliche Unterschiede.
Die individualisierte Jugendbiografie Die Gestalt der westlich modernisierten Jugendphase lässt sich beschreiben als Modell einer individualisierten Jugendbiografie, die verankert ist zwischen den beiden Säulen eines erweiterten Bildungsmoratoriums zum einen und dem Vergesellschaftungsprozess eines umfassenden soziokulturellen Statusgewinns (im öffentlichen Raum) zum anderen. Dieser Prozess zwischen Verschulung, Kommerzialisierung und Kulturalisierung der Adoleszenz seit den 1950er-Jahren war begleitet von einem grundlegenden Wandel des familialen Beziehungs- und Generationenverhältnisses. Kennzeichen der Adoleszenz ist der sukzessive Verselbstständigungsprozess der Jugendlichen gegenüber der Familie. Dieser soziale und kulturelle Wandel war zudem eingebettet in eine weitreichende Liberalisierung, Informalisierung und Säkularisierung zentraler normativer und moralischer Konventionen und Werte. Dieser Prozess lässt sich auch verstehen als Verlust der verbindlichen orientierungsleitenden Funktion kollektiver sozialmoralischer Milieus, deren sozialisatorischer Transmissionsriemen insbesondere die Familien waren. In der Konsequenz dieses sozialen Wandels (und erfolgreichen Säkularisierungsprozesses) veränderten sich zum einen das Erziehungs-, und Generationenverhältnis innerhalb der Familien und zum anderen die Struktur tradierter Geschlechterverhältnisse und damit insbesondere die biografischen Statuspassagen junger Frauen (vgl. Fend 1998, 2000: 270ff.; King 2002). Für diese bedeutete dieser Prozess sukzessive die gleichberechtigte Teilhabe an einem erweiterten Bildungsmoratorium sowie an den jugendkulturellen Handlungsräumen im öffentlichen Raum. Zugleich war er die Voraussetzung für den folgenden Strukturwandel und die Pluralisierung familialer Lebensformen (vgl. King 2002; Bütow 2006).
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Resümiert man diese Skizze, dann wird sichtbar, wie stark der Strukturwandel der Jugendphase und die korrespondierenden Individualisierungsprozesse eingebettet sind in einen gesellschaftlichen Säkularisierungsprozess und Wertewandel, in den Strukturwandel der Familie sowie in einen ökonomischen und sozialen Modernisierungsprozess der westlichen Konsumgesellschaft. Bezieht man diese Analyse nunmehr auf die Jugendphase junger Muslime aus Migrantenmilieus in Deutschland, dann werden die Parallelen, aber auch die Unterschiede der Aufwachsprozesse dieser Gruppe plausibel.
Strukturmerkmale der Jugendphase junger Muslime Auf der Ebene der Sozialstrukturen lassen sich zunächst die Analogien zu einem Strukturwandel der Jugendphase beschreiben. So ist die Jugendphase der jungen Muslime in ähnlicher Weise von einer Verschulung der Adoleszenz und damit einer Verlängerung der Jugendphase gekennzeichnet. Statistisch erweisen sich dabei im Vergleich mit der bundesdeutschen Mehrheitskultur zwar gravierende soziale Benachteiligungen und Ungleichheiten (vgl. Weidacher 2000; Konsortium Bildungsberichterstattung 2006: 151ff.; Granato/Skrobanek 2007; v. Below/Karakoyun 2007). Im Vergleich mit der Elterngeneration ergeben sich aber durchweg Statuszugewinne durch den Bildungsaufstieg der zweiten Generation (vgl. Özcan 2004: 27 und 29; Diefenbach 2002: 21ff.; v. Below 2003: 39ff.; Boos-Nünning/Karakaolu 2004: 227; Kaya/Kentel 2005: 77). Indikatoren für eine modernisierte und pluralisierte Jugendphase ergeben sich auch aus den empirischen Befunden zum Freizeit- und Konsumverhalten, zur Bedeutung der Mediatisierung jugendlicher Lebenswelten, zur Bedeutung jugendlicher Peers und zur Ausgestaltung jugendkultureller Gruppenstile durch Jugendliche aus muslimischen Milieus. Auch wenn in all diesen Bereichen Unterschiede aufgrund der vielfach sozial benachteiligten Lebenslagen in den Migrantenmilieus und einiger ethnisch-kultureller Differenzen in Rechnung gestellt werden müssen, ergibt sich doch insgesamt das vertraute Bild einer freizeitkulturellen Jugendphase in altershomogenen Szenen, die auch verstärkt im außerfamiliären Sozialraum der Städte und der kommerziellen Angebote der Kultur- und Freizeitindustrie stattfindet.
Spezifika der muslimischen Jugendphase Lassen sich somit für den Bereich der Verschulung, Kommerzialisierung, Mediatisierung sowie für die Bedeutung jugendkultureller Symbolwelten in der
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Adoleszenz – wenngleich geschlechtsspezifisch differenziert – parallele Strukturmerkmale einer muslimischen Jugendphase ausmachen, so werden in Bezug auf die anderen Dimensionen deutliche Unterschiede sichtbar. Strukturelle Basis für diese Unterschiede sind vor allem zwei Dimensionen: Erstens die Kontinuität traditioneller Familienstrukturen und zweitens das Fortwirken der normativen Bindungskraft religiös begründeter Normen und Werte für eine islamisch legitime Lebensführung. Orientierungs- und handlungsleitend werden diese Tendenzen gewissermaßen im Fortwirken – zumindest normativ intakter – sozialmoralischer muslimischer Milieus inmitten einer ansonsten säkularen westlichen Postmoderne. Auf die Struktur der muslimischen Jugendphase wirken sich diese soziokulturellen Prozesse vor allem in drei entscheidenden Entwicklungsbereichen aus: erstens im Bereich der Sexualentwicklung, zweitens im Bereich der Entwicklung eigener geschlechtlicher Beziehungs- und Lebensformen sowie drittens, damit korrespondierend, in der Struktur der familialen Verselbstständigungsprozesse. In allen drei Bereichen sind dabei die geschlechtsspezifischen Unterschiede während der Adoleszenz evident. Streng genommen müsste man die muslimische Jugendphase in eine spezifisch weibliche und eine männliche Variante differenzieren. (1) Die Sexualentwicklung junger Muslime ist durch eine gravierende Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gekennzeichnet, die sich gewissermaßen als Parallelität einer Sexualmoral der 1950er- und der 1990er-Jahre beschreiben lässt (vgl. Schäfer/Schwarz 2007). Inmitten einer permissiven westlichen Sexualkultur ist die Sexualität junger Muslime als Entwicklungsaufgabe der Adoleszenz vor allem durch eine kulturell und religiös fundierte Verbotsmoral gekennzeichnet, die sich wie folgt ausbuchstabieren lässt: Tabuisierung von Sexualität in der Familie, keine familiäre Sexualaufklärung, Tabuisierung und Verbot vor- und außerehelicher Sexualität, weitreichendes Virginitätsgebot für junge Frauen, keine legitimen Experimentierräume für sexuelle und geschlechtliche Beziehungen (zumindest für Mädchen) und wietreichende Sexualisierung des weiblichen Körpers. Sexualität erscheint hier nicht als zentrale Dimension der eigenen adoleszenten Identitätsbildung, sondern als eine religiös definierte Funktion der Reproduktion der islamischen Familie und ihrer patriarchalen Sozialordnung. Alle einschlägigen empirischen quantitativen wie qualitativen Studien belegen dabei, dass auch die muslimischen Jugendlichen diese asketische und verbotsorientierte islamische Sexualmoral in zentralen Aspekten weitgehend teilen.
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(2) Aus dieser verbots- und verzichtsorientierten islamischen Sexualmoral folgt für muslimische Jugendliche, dass es erstens keinen legitimen sozialen Raum für die Erprobung geschlechtlicher Beziehungen gibt und dass zweitens alle möglichen geschlechtlichen Beziehungen unter dem Vorbehalt eines muslimischen Ehe-Ideals der Heirat mit einem Angehörigen der eigenen religiösethnischen Gruppierung stehen. Die reale Praxis der muslimischen Jugendlichen in diesem Bereich kennt gleichwohl subversive Ausbrüche aus diesen eher rigiden moralischen Normen. Allerdings bestätigen sie gerade den kulturellen Unterschied zu nicht-muslimischen Jugendlichen. Die Möglichkeiten zu eigenen Erfahrungen in geschlechtlichen Beziehungen sind für muslimische Jugendliche stets prekär und von Tabuisierung und Doppelmoral geprägt. Für die Ablehnung interethnischer Ehen spielt dabei die Legitimation durch das religiöse Verbot des Islams offenbar eine besondere Rolle. (3) Die Verselbstständigungsprozesse in der westlichen Jugendphase gegenüber der Familie vollziehen sich entlang der Entwicklungsaufgaben nach dem Ende der Kindheit. Das Leitbild westlich-moderner Jugendbiografien ist dabei der Typus des individualisierten, selbstbestimmten und eigenverantwortlichen Subjekts. Die Verselbstständigungsprozesse der jungen Muslime sind demgegenüber durch den sozialisatorischen Einfluss des muslimischen Milieus sowie traditioneller Familienstrukturen stärker sozial kontrolliert und (oftmals) verbindlich und kollektiv vorstrukturiert und verregelt. Hier wirken sich sowohl die islamische Sexualmoral wie auch die patriarchalen Familienstrukturen und Restbestände einer traditional fundierten Sozialordnung begrenzend oder auch konflikthaft auf die Verselbstständigungsprozesse der jungen Muslime aus. Vor allem aber werden sie als orientierungsleitender normativer Horizont in den biografischen Orientierungen und Lebensplänen muslimischer Jugendlicher sichtbar. Auch hier gelten insbesondere wieder gravierende geschlechtsspezifische Varianten. Die Verselbstständigungsprozesse junger Muslime in Richtung auf eine individualisierte Lebensführung sind entsprechend (tendenziell) in zwei Dimensionen begrenzt: erstens durch ihre verpflichtende Integration in das Konzept der Familienehre (vgl. Schiffauer 1983; Kürat 2002), zweitens durch ihre Verpflichtung auf den normativen Rahmen einer eher traditionellen Familienstruktur (z.B. hierarchisches Rollensystem, Heiratsmigration, Verwandtenehe, Ehearrangements) und familialen Generationenfolge (vgl. Heitmeyer/Müller/Schröder 1997; Boos-Nünning/Karakaolu 2004) – wenngleich die Befunde der Jugendforschung dazu nicht eindeutig sind.
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Resümiert man die Struktur dieses familialen Verselbständigungsprozesses, dann lässt sich konstatieren, dass adoleszente Ablösungsprozesse bei muslimischen Jugendlichen deutlich anders verlaufen als bei nicht-islamischen Jugendlichen in Deutschland. Verselbstständigung erweist sich nicht als Prozess der Herauslösung aus der elterlichen Fremdbestimmung zugunsten einer selbst gewählten und selbst verantworteten Lebensführung. Vielmehr bleiben die orientierungsleitende Funktion der Eltern sowie die kollektive normierende Funktion des weiteren familiären Herkunftsmilieus zentrale Instanzen für die eigene biografische Lebensplanung und dies bis ins Erwachsenenalter hinein. Das Ziel eines muslimischen Verselbstständigungsprozesses ist denn auch nicht die Ablösung von den Eltern, sondern der Statuswechsel innerhalb der familiären Generationenfolge. Regelverstöße Jugendlicher gegen diese familiären Erwartungen sind stets durch potenzielle Ausgrenzung aus dem Familienverband bedroht – eine Konsequenz, die von den muslimischen Jugendlichen offenbar als bedrohlich erlebt wird. Individualisierungsprozesse muslimischer Heranwachsender in Richtung auf eine Biografisierung und Pluralisierung familialer Lebensformen setzen entsprechend liberale und säkulare Familien voraus, oder müssen gegebenenfalls durch den Bruch mit der Herkunftsfamilie teuer erkauft werden.
3. Jugendkulturen junger Muslime in Deutschland Die Doppelstruktur der gleichzeitig verschulten und kommerzialisierten Adoleszenz hat auch bei den jungen Migranten und Muslimen in Deutschland zur Herausbildung einer pluralistischen jugendkulturellen Landschaft spezifischer Gruppen- und Freizeitstile geführt, die Ähnlichkeiten mit der Struktur westlicher Jugendkulturen aufweist, sich aber durch Besonderheiten auszeichnet. Bisher gibt es in den großen Jugendstudien zwar einige Hinweise auf die jugendkulturellen Lebenswelten und Orientierungen dieser Gruppe (vgl. Fischer et al. 2000; Weidacher 2000; Worbs/Heckmann 2004; Boos-Nünning/Karakaolu 2004), allerdings blieben Jugend- und Alltagskulturen junger Muslime in Deutschland, mit Ausnahme des HipHop, ein weitgehend vernachlässigtes Thema der Jugendforschung.
Zur Bedeutung ethnischer Identitäten in Jugendkulturen Die Jugendkulturen junger Muslime in Deutschland zeichnen sich einerseits durch ein pluralistisches Spektrum jugendlicher Stile und Ausdrucksformen aus, andererseits weisen sie aber im Vergleich zu westlichen Jugendkulturen ethnisch
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basierte Differenzen und Besonderheiten auf, die neben geschlechtsspezifischen Merkmalen eine biografisch relevante Rolle für die Jugendlichen spielen. Verschiedene westlich-jugendkulturelle Stile scheinen demnach weniger anknüpfungsfähig für junge Muslime zu sein, während sich auf der anderen Seite ein differenziertes Spektrum islamischer Jugendkulturen herausbildet. Auf der Basis eines prozesshaften Verständnisses von Ethnizität ist es nicht nur die kreative Auseinandersetzung mit kulturellen und religiösen Dimensionen, die vor dem Hintergrund der konkreten sozialen Lebenslagen der Jugendlichen durch Aneignung, Umdeutung und Kombination mit anderen kulturellen Einflüssen stattfindet. Zentrale Rollen spielen auch die Erfahrungen der sozialen und politischen Marginalisierung, der sozialräumlichen Segregation, ebenso der Diskriminierung in verschiedenen Lebensbereichen, die eng mit dem Migrationshintergrund der (Groß-)Elterngeneration zusammen hängen (vgl. Scherr 2000; Sauer 2007: 339ff.). Jugendkulturen junger Muslime können aber auch außerhalb dieser »Problembrille« als eigenständige, kreative jugendkulturelle Konstruktionsleistungen gesehen werden – versehen mit einer oftmals selbstbewusst vorgetragenen ethnischen Komponente. Die folgende phänomenologische Skizze, in der das Hauptaugenmerk auf die sich entwickelnden muslimisch-religiösen Jugendszenen gelegt wird, basiert zum einen auf vorliegenden empirischen Befunden, aber auch auf den Ergebnissen eigener Biografieanalysen: Demnach spielen ethnozentristische, chauvinistische und extrem rechte Jugendkulturen aufgrund ihrer Werthaltungen und Symbolwelten kaum eine Rolle für junge Muslime; auch expressive, gegenkulturelle, anarchische Szenen wie Punk, Gothic oder Heavy Metal haben für muslimische Jugendliche nur eine kurzfristige identitätspolitische bzw. kollektiv-jugendkulturelle Bedeutung – und bleiben eher die Ausnahme. Sie unterscheiden sich in ihren Codes und Symbolen möglicherweise zu stark vom »kulturellen Referenzhorizont« (Roth 2002: 487) muslimischer Milieus, zumal darin esoterische und christliche Symbolwelten als Bezugspunkte und Deutungsfolie eine maßgebliche Rolle spielen. Während körperbetont-hedonistische Szenen wie bspw. Techno aufgrund der unpolitischen, medial geprägten und konsumistischen Struktur durchaus Anknüpfungspunkte für junge Muslime vermuten lassen, scheint eine Unvereinbarkeit dieser Szenen mit den Normen traditioneller muslimischer Geschlechter- und Clanstrukturen ebenso möglich. Hinweise auf die Eingebundenheit junger Muslime in kritisch-alternative und linkspolitische Szenen gibt es in wissenschaftlichen Publikationen kaum; aufgrund der langen Geschichte dieser Gruppen und Bewegungen sowie ihrer internationalen, globalisierungskritischen, antirassistischen Ausrichtungen stellen jedoch gerade sie
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mögliche »Bezugsszenen« für muslimische Jugendliche dar (vgl. Lübcke 2007). Der Blick auf die muslimischen und ethnischen Jugendkulturen verweist hingegen auf die Anziehungskraft des HipHop und seiner Facetten für große Teile jugendkulturell orientierter junger Migranten – dazu liegen auch neuere qualitative Studien vor (vgl. Caglar 1998: 43ff.; Nohl 2001; Kaya 2003: 248; Menrath 2003: 226ff.; Bennet 2003; Loh/Güngör 2002, 2003; Androutsopoulos 2003; Soysal 2004). Auch die geschlechtsspezifisch strukturierte multiethnische Discound Clubszene, in der neben traditioneller türkischer Musik und englischsprachiger Black-Musik (vgl. Riethmüller 2006) v.a. türkische Popmusik der beliebteste Musikstil ist, erweist sich für muslimische Jugendliche als populär – die Gründe sind in der ästhetischen Struktur der Musik bzw. den positiven Konnotationen des Türkischen zu vermuten (vgl. Wurm 2006: 35, 168). Sowohl vereinzelte Cliquen- und Szenestudien als auch das eigene empirische Material geben Hinweise auf die Bedeutung multiethnischer Jugendgruppen, türkischer Cliquen und teilweise delinquenter ethnischer Jugendszenen (vgl. Eckert/Reis/ Wetzstein 2000; Hitzler/Bucher/Niederbacher u.a. 2005; Tertilt 1996), in denen sich in einer Bricolage aus westlicher Jugendkultur und Selbstethnisierungsprozessen auch die Zwänge patriarchaler Herkunftsmilieus widerspiegeln. Ungeachtet der starken Tabuisierung und Diskriminierung in muslimischen Milieus haben sich v.a. in urbanen Räumen kleine Szenen türkisch-muslimischer Homosexueller mit politischer oder Event-Orientierung herausgebildet – oftmals aufgrund der homophoben Haltungen und massiven Reaktionen der Herkunftsfamilien auf das Coming out (vgl. Bochow 2004; Ghadban 2004; Ipekçiolu 2000; Zinn 2004). Ebenfalls in den letzten Jahren hat sich eine türkischmuslimische Kunst-, Kultur- und Filmszene als Einflussfaktor auf muslimische Jugendkulturen entwickelt, in der ethnische und religiöse Kategorien keine Rolle spielen. Darüber werden vielfältige Themen der Migrantenszene nicht nur aufgegriffen, sondern auch mittels kultureller und politischer Ausdrucksformen migrantischer Selbstorganisation öffentlich gemacht (vgl. El Tayeb 2004). Jenseits expressiver und ästhetischer Gruppenstile sind v.a. junge männliche Muslime in Vereinen, Verbänden und Parteien – schwerpunktmäßig Sportvereinen – aktiv, allerdings im geringeren Maße als deutsche Jugendliche (vgl. Fritzsche 2000: 206; Halm/Sauer 2004; Worbs/Heckmann 2004: 152f.). Neben diesen jugendkulturellen Szenen, die hier – ohne Anspruch auf Vollständigkeit – lediglich überblicksartig skizziert werden, haben sich in den letzten Jahren auch spezielle islamische Jugendkulturen – teilweise mit einem hohen Organisationsgrad – entwickelt, die vor allem für religiöse Jugendliche anknüpfungs-
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fähig sind und in unterschiedlicher Form an deren facettenreiche Lebenswelten in Deutschland anschließen.
Islamische Jugendkulturen Die Anzahl junger Muslime, die in islamisch-religiösen Jugendkulturen und muslimischen Gruppen im Kontext von Moscheen oder muslimischen Organisationen aktiv sind, kann bisher noch kaum empirisch fundiert bestimmt werden. Auch gibt es zu diesem Themenbereich noch kaum wissenschaftliche Studien, allenfalls journalistische Überblicksliteratur (vgl. Dantschke 2007; Müller/Nordbruch/Tataroglu 2008), in deren Beiträgen sich Hinweise zu explizit muslimischen Jugendkulturen finden. Demnach sind diese Szenen vor allem von Jugendlichen aus arabischen und türkischen Familien dominiert, oftmals auch multinational zusammengesetzt, teilweise integrieren sie auch deutsche Konvertiten. Das Verbindende ist in diesen Gruppen und Szenen die Religion, während Sprache und Nationalität eher zweitrangig sind (vgl. Dantschke 2007). Im Kontext dieser explizit islamischen Jugendkultur stellen sich auch den jungen Frauen neuartige jugendkulturelle Spielräume, die sie in vielen anderen Szenen nicht selbstverständlich haben. Exemplarisch dafür sind junge, kopftuchtragende Neo-Muslimas mit hohen Schulabschlüssen, die sich zum einen über ihre Bildungsaspiration von ihren traditionellen familiären Herkunftsmilieus abgrenzen; zum anderen aber wird die eigene – intellektuell reflektierte – islamische Religiosität zum Element der Konstituierung eines autonomen Subjekts, das sich etwa selbstbewusst gegen die deutsche Mehrheitskultur behauptet (vgl. Nökel 2002: 116, 169). Zwar kann bei diesen jungen Frauen nicht von einer Herausbildung »klassischer« Muster westlicher Jugendkulturen im Sinne einer Ablösung vom Herkunftsmilieu oder rebellischer Attitüden ausgegangen werden. Strukturell finden innerhalb dieser Gemeinschaften eher Umschichtungsprozesse statt, die auf Selbststeuerung, veränderte Machtverhältnisse und Antitraditionalität zielen (vgl. ebd.: 263ff.). Ein stilbildender Charakter sowie Momente kollektiver Identitätsbildung als Kennzeichen moderner Jugendkulturen lassen sich bei diesen islamischen Jugendgruppen gleichwohl konstatieren – ebenso wie ein Generationenkonflikt, hier allerdings auf der Basis religiöser Symbolwelten. In Abgrenzung zu den expressiven westlichen Jugendkulturen bzw. offenen, frei wählbaren Jugendszenen entstehen im Kontext verschiedener religiöser Gruppen, die sich in den religiösen Orientierungen, der religiösen Dogmatik, aber auch den politischen Positionen unterscheiden, muslimische Jugendszenen mit eigenen Stilen. Bedeutendstes Beispiel ist die Milli-Görüs-Jugend, die durch
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ein dichtes Netz des Hauptverbandes und eine langjährige intensive Jugendarbeit Einfluss auf viele junge religiöse Muslime hat – von insgesamt 15.000 jugendlichen Mitgliedern des Verbandes in Europa wird ausgegangen, von denen 80% in Deutschland leben (vgl. Dantschke 2007). In der Jugendarbeit dieses konservativ-nationalistischen religiösen Verbandes steht die Förderung des religiösen Engagements der Jugendlichen im Vordergrund, die dazu aufgerufen werden, ein positives, integrationswilliges Außenbild zu vertreten. Über konkrete Aktionen und Projekte will diese Organisation nicht nur mehr Jugendliche einbeziehen, sondern auch einen eigenen Jugendverband schaffen, um damit Aktivität und Mitbestimmungsmöglichkeiten der Jugendlichen zu erhöhen (vgl. Dantschke 2007). Global, aktions-, integrationsorientiert und fromm sowie mit einem Faible für Starkult und Mode präsentieren sich dagegen junge »Pop-Muslime« (vgl. auch Gerlach in diesem Band) in Deutschland, die sich im Gegensatz zu den klassischen Neo-Muslimas innerhalb pro-westlicher Lifestyle-Konzepte verorten – hier allerdings nicht im Sinne hedonistischer, nihilistischer oder freizügiger Lebensführungskonzepte. Junge Muslime einer popislamischen Bewegung in Deutschland (vgl. Gerlach 2006: 92ff.; Müller/Nordbruch/Tataroglu 2008: 9f.) sehen als Fixpunkt ihres Engagements die islamische Gesellschaft und eine idealisierte, bessere Welt, die sich an islamischen Werten orientiert. Sie organisieren sich in verschiedenen Gruppen und Vereinen, bspw. der islamisch-konservativen sunnitischen Muslimischen Jugend Deutschlands (MJ), die innerhalb einer bundesweiten Struktur in Lokalkreisen organisiert ist. Ziel der Jugendarbeit der MJ ist es, die muslimische Identität und Selbstdefinition der Jugendlichen mit dem Leben in der Mehrheitsgesellschaft zu verbinden. In diesem Bemühen werden auch urbane, ethnische, nichtreligiöse Jugendkulturen wie HipHop religiös aufgeladen. Aus dieser Melange hat sich mittlerweile ein islamischer HipHop-Stil mit szenebekannten Größen entwickelt, die im gesamten Spektrum der Pop-Muslime Anerkennung finden (vgl. Dantschke 2007). In einer anderen Bewegung, den »Lifemakers«, von denen es 2006 bereits in 29 bundesdeutschen Städten Lokalgruppen gab, engagieren sich junge, oftmals bildungserfolgreiche Muslime beiderlei Geschlechts ehrenamtlich innerhalb der deutschen Gesellschaft, womit sie »das Bild des Islam in der Öffentlichkeit verbessern und etwas Positives zur Gesellschaft beitragen« (Gerlach 2006, 132) wollen und sich damit auch von der älteren Generation unterscheiden. Auch ihr Lifestyle und ihre Musik tragen die typischen Szenekennzeichen – moderne, jugendtypische Kleidung und Schmuck, die den gängigen Modetrends entsprechen, aber durch Symbole, Schriftzüge etc. das Bekenntnis zum Islam öffentlich präsentieren.
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Die Strategie dieser Szenen, zu denen bspw. auch die streng am Koran orientierten salafistischen Glaubensgruppen gehören, basiert weniger auf einer Modernisierung oder gar Verwestlichung des Islams als auf einer Re-Islamisierung der muslimischen Jugend im Zeichen popkultureller Ästhetik. Die popislamischen Jugendlichen tragen zwar ›stylishe‹ Jeans und Accessoires, vertreten aber strikte islamische Glaubenslehren: Kopftuch für Frauen, Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum, Enthaltsamkeit vor der Ehe und andere islamische Verhaltenskodizes. Ein säkulares Weltbild liegt dieser religiös-ethnischen Jugendkultur dagegen nicht zugrunde. Sichtbar werden die Parallelen, aber auch die Unterschiede zum westlichen Jugendkulturkonzept: Neben der Biografisierung der Jugendphase, die sich in vielen jugendkulturellen Ausdrucksformen der jungen Muslime in ähnlicher Weise widerspiegelt, werden, wie in den westlichen Jugendkulturen, an vielen Stellen auch die Auseinandersetzungen der Jugendlichen mit den traditionellen Bezügen und Konventionen der muslimischen Herkunftsmilieus deutlich. Zum einen bilden diese den Horizont einer generationenspezifischen Abgrenzung im Bemühen um mehr Freizügigkeit, Selbstbestimmung und Verselbstständigung, zum anderen bilden sie aber auch den orientierungsleitenden Rahmen wie in den explizit islamischen Jugendkulturen. Deutlich wird, dass nicht nur kulturelle Wandlungsprozesse forciert werden, sondern auch Bezüge zur Kultur, den Werten und Traditionen der Eltern- und Großelterngeneration hergestellt werden, die sich von den kulturellen Bezugssystemen westlicher Jugendszenen unterscheiden. Die Gründe für die stärker ethnische Prägung der Szenen sind deshalb auch nicht nur in den kulturellen Distinktionen gegenüber der Mehrheitsgesellschaft zu suchen, sondern resultieren auch aus dem Generationenkonflikt mit dem Herkunftsmilieu. Die ethnische oder religiöse Konnotation der Jugendkultur ermöglicht beides: die Solidarität und Loyalität gegenüber der ethnisch-kulturellen Minderheit in der Migrationsgesellschaft, aber auch die Distinktion gegenüber dysfunktionalen und antiquierten Traditionen der (Groß-) Elterngeneration.
4. Das islamisch-selektive Bildungsmoratorium – eine Strukturhypothese Resümiert man die bisherige Strukturanalyse zur Jugendphase junger Muslime in Deutschland, dann wird der sehr spezifische Prozess der Modernisierung und Individualisierung dieser Jugendbiografien offensichtlich. Sichtbar wurden im Vergleich mit der Gestalt moderner westlicher Jugendphasen bemerkenswerte
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Gleichzeitigkeiten des Ungleichzeitigen innerhalb der Strukturen des sozialen Lebenslaufs und ihres sozialen Wandels zwischen den Generationen. Wie lässt sich die Struktur dieses Lebenslaufregimes charakterisieren und theoretisch fassen? Wir schlagen dazu in Anlehnung an Zinnecker (1991) die These eines ›islamisch-selektiven Bildungsmoratoriums‹ vor. Das Konzept eines ›islamischselektiven Bildungsmoratoriums‹ beschreibt die soziale Struktur einer Jugendphase, in der die Sozialisationsprozesse und Statuspassagen des Jugendalters gekennzeichnet sind von tendenziell verlängerten Bildungsphasen, von der Gestaltung individualisierter berufsbiografischer Lebensentwürfe sowie von der Teilhabe an kommerzialisierten, mediatisierten und peer-strukturierten Alltagskulturen. Demgegenüber bleiben diese modernisierten Jugendbiografien im Kontext muslimischer Milieus in ihren adoleszenten Verselbstständigungsprozessen, in der Struktur der Geschlechterbeziehungen, in der Sexualmoral sowie in der Ausbildung geschlechtlicher und familialer Beziehungsformen in hohem Maße den tendenziell traditionellen Konventionen, Normen und Werten der muslimischen Milieus verbunden – die je nach ethnischer Herkunft kulturelle Varianzen aufweisen. Es ist gewissermaßen eine um die individualisierte, pluralisierte und geschlechteregalitäre Familienbiografie reduzierte, also eine halbierte Modernisierung. Die strukturelle Basis für die Herausbildung dieser spezifischen Gestalt einer islamisch-selektiv modernisierten Jugendphase sehen wir vor allem in drei Faktoren: Erstens in der identitätsstiftenden Bedeutung eines kollektiv erfahrenen, aber individuell verarbeiteten Migrantenstatus in der Bundesrepublik; zweitens in der weitgehend intakten normativen Funktion islamischer Herkunftsmilieus als kollektiv verbindliche sozialmoralische Milieus sowie drittens in dem Beharrungsvermögen traditioneller orientalisch-patriarchaler Familienstrukturen in Deutschland. Die potenzielle Individualisierung der Jugendphase junger Muslime vollzieht sich entsprechend überwiegend nicht auf der Basis westlicher Modelle individualisierter Jugendbiografien, sondern auf der Basis einer spezifischen kulturellen Auseinandersetzung mit der eigenen ethnischen und migrationsbedingten sozialen Identität sowie den traditionellen islamisch-patriarchalen Strukturen der Elterngeneration. Das Ergebnis ist ein spezifisch ethnisch-muslimisch geprägter Pluralismus jugendlicher Lebensstile, in denen jeweils in unterschiedlichen Synthesen westliche, traditional-orientalische und islamische Ausdrucksformen amalgamiert werden. Das Konzept der »selektiven Modernisierung«, wie Zinnecker es formuliert hat, vernachlässigte insbesondere die Bedeutung gesellschaftlicher Säkularisie-
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rungsprozesse für diese Modernisierung des Jugendalters in westlichen Gesellschaften. Den Modernisierungsprozessen der westlichen wie der östlichen europäischen Gesellschaften war gemeinsam, dass sie sich auf der Basis eines forcierten Bindungsverlusts religiös verbindlicher Normen und Werte vollzogen. In der Gestalt der muslimischen Jugendphase unter den Bedingungen modernisierter westlicher Gesellschaften stellt sich dieser Prozess widersprüchlicher dar. Die religiös legitimierten Normen und Werte, vermittelt über die eher traditionellen Familienstrukturen in den muslimischen Milieus, aber auch durch die islamische Religionserziehung, etwa in den Koranschulen und Moscheegemeinden, bleiben innerhalb der Sozialisation der jungen Muslime, wie alle repräsentativen Jugendstudien belegen, ein kollektiv weithin verbindlicher normativer, orientierungsleitender Rahmen. Dieser orientierungsleitende normative Rahmen ist aber nicht mit individueller Religiosität zu verwechseln. Die Geltung traditioneller – allerdings religiös legitimierter – Normen und Werte, etwa in Bezug auf Familienwerte oder das Geschlechterverhältnis, lässt sich auch losgelöst von einer explizit religiösen, islamischen Lebensführung beobachten. Eine verbotsorientierte, asketische Sexualmoral und die Orientierung an traditionellen familialen Lebensformen, Familienbindungen und Familienwerten ist auch für solche muslimischen Jugendlichen bedeutsam und wirkungsmächtig, die ihre biografische Lebensführung nicht aus religiöser Überzeugung gestalten. Damit erweisen sich die soziokulturellen Freisetzungsprozesse der muslimischen Jugendlichen zugleich als deutlich enger begrenzt durch kollektiv verbindliche und gemeinsam geteilte soziale Normen und Werte. Sie bleiben stets eingeklammert durch die normativen Rahmen des muslimischen Herkunftsmilieus und erfahren eben dadurch ihre spezifische kulturelle Ausdrucksform und eine jeweils kulturell spezifische Form von sozialem Wandel des Jugendalters und der Jugendphase. Der Befund einer islamisch-selektiv modernisierten Jugendphase macht somit zum einen auf das Beharrungsvermögen kultureller sozialmoralischer Milieus – insbesondere religiös fundierter Milieus – in Deutschland aufmerksam, zum anderen werden auch die eigentümlichen Formen der Auseinandersetzung muslimischer Jugendlicher mit modernisierten und individualisierten Lebensstilen und Konzepten biografischer Lebensführung sichtbar. Bisher münden diese weniger in eine generationentypische Infragestellung der familiären und milieuspezifischen Traditionen als in subtile und bisweilen subversive Reformen und Liberalisierungen des Diskurses zwischen den Generationen über ethnisch-kulturelle Identitäten, Geschlechterfragen, familiale Lebensformen, Sexualität usw. Der weitere soziale Wandel – und damit die Modernisierungsprozesse innerhalb
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dieser muslimischen Milieus – wird vermutlich ein Generationenprojekt sein, dessen Gestalt zum einen von den weiteren Säkularisierungsprozessen in den islamisch geprägten Lebenswelten abhängt, zum anderen aber auch von einem Strukturwandel innerhalb der muslimischen Familien. Einem Strukturwandel allerdings, der nicht nur die Krisenhaftigkeit moderner Familienstrukturen spiegelt (Scheidungszahlen, Geburtenrückgang), sondern auch sein Potenzial für die Gestaltung selbstbestimmter, liberaler, pluraler und geschlechteregalitärer Beziehungs- und Lebensformen dokumentieren kann.
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Respekt als generationales Muster? Aufwachsen im Kontext von Migration und familialen muslimischen Lebenswelten Christine Hunner-Kreisel Einleitung Das Thema der Familie und ihre Bedeutung für die Sozialisation der nachfolgenden Generation(en) offeriert in der deutschen Erziehungswissenschaft immer noch »weiße Flecken« innerhalb der Forschungslandschaft. Dabei stellen vor allem die »Perspektiven der einzelnen Familienmitglieder« sowie unter anderem »Formen der emotionalen Bindung« ein Forschungsdesiderat dar (Ecarius 2007: 144). Dies gilt insbesondere für den thematischen Schwerpunkt der Familien mit (muslimischem) Migrationshintergrund (Karakaolu/Öztürk 2007: 157ff.; Hamburger/Hummrich 2007: 126; Uslucan in diesem Band). Im Rahmen eines laufenden Forschungsprojekts wurden bisher zehn Studierende des Faches Pädagogik in Deutschland mit einem (muslimischen) Migrationshintergrund zu biografischen Interviews gebeten, um ihre Erinnerungen an ihr Aufwachsen und ihr Familienleben zu erzählen.1 Großen Raum in den Erin1 Im folgenden Beitrag werden erste Vorarbeiten zu einer Studie vorgestellt, die im Rahmen einer Habilitation durchgeführt wird. Im Zuge von biografischen Interviews wurden bisher zehn Studierende, sechs weibliche und vier männliche im Alter zwischen 24 und 31 Jahren mit einem (muslimischen) Migrationshintergrund gebeten, ihre Erinnerungen an ihr Aufwachsen und ihr Familienleben zu erzählen. Von den zehn Befragten haben sechs einen türkischen, eine Befragte einen kurdischen, zwei einen türkisch-alevitischen und eine Interviewte einen iranischen Migrationshintergrund. Alle zehn Befragten gehören der zweiten Migrantengeneration an, wobei eine der Befragten bis zum Alter von fünf Jahren in der Türkei bzw. in »Kurdistan« lebte und zwei weitere Befragte für den Zeitraum des Schulbesuchs alleine bzw. mit den Eltern zusammen in der Türkei lebten und erst zum Studium nach Deutschland zurückkamen. War ursprünglich eine Forschung zum Thema der »Muslimischen Kindheit(en)« angedacht und lässt sich vor diesem Hintergrund auch das Sample der Interviewten erklären (das zudem im Rahmen einer Vorstudie gewählt wurde und damit noch nicht vollständig ist), zeigten die Erzählungen in den Interviews, dass für die Befragten nicht der kulturelle oder religiöse Kontext des Aufwachsens im Mittel-
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nerungen nimmt die Auseinandersetzung mit der älteren Generation und deren Lebensgeschichten ein.2 Als eine wichtige Kategorie im Kontext dieser Auseinandersetzungen zeigt sich den ersten Auswertungen und Interpretationen der Interviews zufolge »Respekt« als eine internalisierte Haltung und als eine Strategie, mit der Stabilität im familialen Beziehungsgefüge hergestellt und aufrechterhalten werden kann. Nach einigen theoretischen Überlegungen soll dies anhand eines Fallbeispiels exemplarisch gezeigt werden. Kontrastierend wird dabei eine Haltung des Respekts der Interviewten im generationalen Gefüge mit dem gleichzeitigen Streben nach Selbstbestimmung gezeigt. Im Schlussteil wird davon ausgehend überlegt, welche Rolle die jeweils individuelle Ausgestaltung und Aushandlung von familialen Beziehungskonstellationen bei der Konstitution des Selbst spielt und welche weiterführende Fragestellung im Hinblick auf die Studie abgleitet werden können.
1. Familie in migrantischen Kontexten In Anlehnung an Iris Marion Young schreibt Beate Rössler, dass Personen »dann eine Familie [bilden], wenn sie sich als in einer möglichst permanenten Beziehung stehend verstehen, in einem gemeinsamen Haushalt leben […] und wenn punkt ihres Erinnerns steht, sondern die Auseinandersetzung mit der älteren Generation und deren Lebensgeschichten. Für den Fortgang der Studie ist die Durchführung weiterer Interviews geplant. Dabei sollen sowohl Personen ohne akademischen Hintergrund als auch Personen ohne Migrationshintergrund befragt werden. Die Durchführung der Interviews war biografisch-narrativ angelegt. Zur Generierung einer Erzählung wurde eine Einstiegsfrage zur Familien- und Lebensgeschichte gestellt. Am Ende des Interviews bzw. bei Abbruch der Erzählung wurden anhand eines Leitfadens Fragen zur Initiierung der Fortführung der Erzählungen gestellt. Die Interpretation der Interviews findet in Anlehnung an die Dokumentarische Methode statt, wie sie Nohl (2006) für die Auswertung von Interviews ausgearbeitet hat. 2 Als bedeutend im Kontext der erzählten Lebensgeschichten erwiesen sich der Migrationskontext und damit verbundene lebensweltliche Einflüsse auf das Aufwachsen und die Bildung der Befragten. Jedoch ist hier kritisch anzumerken, dass sich unter Umständen vergleichbare Lebensgeschichten auch bei Studierenden bzw. Nicht-Studierenden ohne (vermeintlichen) Migrationshintergrund auffinden lassen. Kritisch kann dazu mit Dausien (2000: 11) festgestellt werden, dass »Biographie und Familiengeschichten […] in seltenen Fällen homogen, stabil und ›bodenständig‹, selten völlig frei von Migrationserfahrungen, Ortswechseln und der Berührung mit fremden Räumen [sind]. Ein Sich-Einlassen auf diese Perspektive zeigt: Unterscheidungen zwischen ›uns‹ und den ›Anderen‹, zwischen ›Deutschen‹ und ›Ausländern‹, ›Migranten‹ und ›Einheimischen‹ werden fraglich und als historisch und situativ wandelbare kontextspezifische Konstruktionen erkennbar«. Deswegen wird zu diesem Zeitpunkt der Forschung jedwede Analyse der Lebensgeschichten mit Bezug auf den muslimischen Migrationskontext der Befragten im Sinne eines Verständnisses von qualitativer Forschung als Prozess (Flick 1998: 9) und damit unter einem Paradigma der Offenheit betrachtet.
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sie sich selbst als Familie anerkennen. Mit dieser Anerkennung als Familie sind dann nämlich genau die Pflichten und Rücksichten verbunden, die wir nur dann als berechtigt empfinden, wenn wir uns auch als Teil der Familie beschreiben würden« (Rössler 2001: 284). Nach dieser Definition entsteht Familie erst durch ein subjektives Gefühl der Zugehörigkeit. Die Existenz bzw. die Anerkennung der Existenz eines moralischen und/oder affektiven Beziehungsgefüges ermöglicht damit die Erfassung von Familie außerhalb von normativen Konzepten. Dabei ist mit Blick auf die einzelne Familie und den individuellen Familienangehörigen von Interesse, auf welchen moralischen bzw. affektiven »Pfeilern« sich jeweils die Anerkennung eines familialen Beziehungsgefüges stützt (vgl. auch Honneth/Rössler 2008: 22f.; Brumlik 1995: 91f.). Diese Frage ist insbesondere vor dem Hintergrund von Überlegungen zur Familie als einer auch kulturspezifischen Kategorie (Stewart/Paz Goldfarb 2007: 4) bedeutsam: Ob Familie sich im Sinne einer Gemeinschaft, die sich auf der Basis von freiwilliger Liebe und Zuneigung und damit im affektiven Bereich konstituiert (vgl. auch Honneth/Rössler 2008: 21ff.), und bzw. oder ob die jeweils konstituierenden Elementen moralischer respektive normativer Natur wie zum Beispiel Pflicht, Loyalität, Respekt und auch Gehorsam sind, ist nicht zuletzt durch eine kulturell unterschiedliche Erziehung und Sozialisation der Personen bestimmt, die eine Familie bilden. Mit Blick auf die Interviews wird deshalb gefragt, welches Verständnis und welche Bedeutung von Familie sich in den Erinnerungen der Befragten aufzeigen lassen und welche Konsequenzen dies im Hinblick auf die inter- und intragenerationale Beziehungsqualität hat. Weiterhin wird die Frage der Relevanz des Migrationskontextes in den Blick genommen, weil alle Befragten in einem durch die Migration der älteren Generation geprägten lebensweltlichen Kontext aufgewachsen sind. Das Aufwachsen in einer Migrantenfamilie kann mit zusätzlichen Schwierigkeiten belastet sein. Ein bedeutender Aspekt ist dabei, dass die Migrantenfamilie immer noch in der breiten gesellschaftlichen Öffentlichkeit als »Symbol einer fremden Welt« (Hamburger/Hummrich 2007: 113) wahrgenommen wird. Dabei wird die Herkunft aus einer Migrantenfamilie bzw. das Aufwachsen im Kontext einer eigenen oder familiären Migrationsgeschichte sowohl in der wissenschaftlichen Analyse als auch im gesellschaftlichen und politischen Bewusstsein oftmals unreflektiert und automatisch als problembelastet gewertet. Wenn überhaupt, dann entsteht erst langsam ein Bewusstsein dafür, dass das Aufwachsen im Kontext einer (Familien-)Migrationsgeschichte auch Chancen und eventuell sogar in bestimmten Bereichen größere Kompetenzen mit sich bringen kann (vgl.
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auch Hummrich 2002; Badawia 2002; Gutiérrez Rodríguez 1999). Diesbezüglich schreibt Sabine Mannitz einleitend zu ihrer empirischen Studie »Die verkannte Integration«, dass das »Verständnis von Migration bzw. Prozessen, die aus einer Biographie mit einem Migrationshintergrund insbesondere mit Blick auf das Jugendalter als ›Chance‹ und als ›positiver Stress‹ sowie als produktive und innovative Entwicklungsmöglichkeit gesehen wird, […] selten« sei (Mannitz 2006: 12). Meist stünden insbesondere im Zusammenhang mit dem Jugendalter vermeintliche »Probleme« im Fokus des Interesses, die (angeblich) aus dem Migrationsprozess resultieren. Erste Ergebnisse zur Bedeutung von Familie im Kontext erfolgreich verlaufener Bildungsbiografien von MigrantInnen liefern die Arbeiten von Merle Hummrich und Andreas Pott. Beide Studien zeigen, dass familiale Beziehungen den biografischen Werdegang in hohem Maß prägen. Hummrich kommt mit Blick auf die familiären Beziehungsstrukturen bzw. die familialen Generationsbeziehungen zum Ergebnis, dass familiale Bindungen von den bildungserfolgreichen Migrantinnen als Chance erlebt werden und gleichzeitig ein spezifisches Risikopotenzial mit sich bringen (Hummrich 2003: 273): »Die hohe psychische und affektive Bedeutung der Beziehung ist die Basis für die Entfaltung der Kinder und macht die Eltern zugleich enttäuschungsanfällig und zwar in dem Maße, wie der Druck sozialen Aufstiegs auf den Kindern lastet« (ebd.). Auch Pott schreibt der Familie eine zentrale Bedeutung im Kontext des Bildungsaufstiegs zu (Pott 2006: 62). Eindrücklich stellt er am Fallbeispiel einer Migrantin (die er dem Typus der »Rücksichtsvollen« zuordnet) dar, wie sie ihren Bildungsaufstieg und die damit verbundenen Loyalitätskonflikte bzw. Ambivalenzen innerhalb einer Familie, in der ihre Bildungskarriere ein Einzelfall ist, durch eine dezidiert nach außen getragene Ein-, und auch Unterordnung in das familiale Gefüge ausbalanciert (Pott 2006: 51). Dabei weist der Autor insbesondere auf die respektvolle Haltung der Interviewten sowohl ihren Eltern als auch ihren Geschwistern gegenüber hin (ebd.: 51; 60), wobei jedoch hinzugefügt werden muss, dass Pott betont, dass sie sich darin von vielen im Rahmen seiner Studie Interviewten deutlich unterscheidet.
2. Respekt als analytische Kategorie Bisherige Befunde der eigenen Studie zeigen, dass Respekt vor allem im Hinblick auf die generationalen familialen Beziehungsmuster bei den bisher Interviewten eine analytisch relevante Kategorie im Kontext von Fragen des Verständnisses von Familie und im Hinblick auf die Beziehungsqualitäten ist.
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Nachfolgend wird exemplarisch eine Interviewsequenz analysiert und aufgezeigt, wie sich eine Interviewte in ihren Erinnerungen im Spannungsfeld zwischen dem Streben nach Selbstbestimmtheit und einer Haltung der Anerkennung gegenüber der älteren Generation, die konzeptionell als »Respekt« gefasst wird, konstituiert. Respekt wird im Kontext von Familie und Familienerziehung vor allem auch mit Bezug auf migrantische Kontexte häufig negativ als Ausdruck von asymmetrischen familialen Beziehungsmustern verstanden und in einen Zusammenhang mit Erziehungszielen wie zum Beispiel dem Gehorsam gebracht (vgl. auch Uslucan 2004: 33). Über den Gehorsam hinaus ist Respekt im generationalen Gefüge muslimischer Lebenskontexte eine bedeutsame moralische Größe. Dabei geht es insbesondere um den Respekt der Jüngeren gegenüber den Älteren (Pfluger-Schindlbeck 1987: 287; Güne-Ayata 1996: 104). Im Hinblick auf die Auswertungen ist dies insofern von Bedeutung, als die Befragten alle einen »muslimisch« geprägten lebensweltlichen Kontext des Aufwachsens haben. Die Beschreibung »muslimisch« bezieht sich dabei auf die zumindest nominelle Zugehörigkeit zum beziehungsweise die Herkunft der Befragten und/oder ihrer Familien aus muslimischen/islamischen Religions- und/oder Kulturkreisen.3 Geht man mit Mihiçiyazgan (1999: 139) davon aus, dass westliche Bildungsund Sozialisationstheorien ihre Wurzeln im Hinblick auf das Konzept des Subjekts und der Identität sowie mit Bezug auf normative Konstrukte wie dasjenige der Familie auch in einem durch das christliche Gedankengut geprägten kulturellen Raum haben, dann ist im Umkehrschluss gedanklich konsequent anzunehmen, dass das Aufwachsen in einer muslimischen familiären Lebenswelt von islamisch geprägten Erziehungs- und Bildungszielen mitbestimmt wird (vgl. dazu auch die Ausführungen von Mihiçiyazgan 1999, 2003). Daran anschließend kann dann überlegt werden, inwiefern Respekt ein Orientierungsrahmen ist – und damit ein möglicher spezifischer Modus –, in dem generationale Fragen und Probleme von den Interviewten erinnert und reflektiert werden (vgl. auch Bohnsack 2003: 69ff.; Nohl 2006: 11ff.).
3. Respekt als islamisches Erziehungs- und Bildungsziel Während in der westlichen Jugend-, Generations- und auch Erziehungs- und Bildungsforschung das Ziel der Autonomie im Sinne eines Ablösungsprozesses 3 Hier ist darauf hinzuweisen, dass sich von den zehn Befragten nur zwei ihrerseits unter der Kategorie »muslimisch« verorteten. Von den übrigen Befragten wurde diese als eine spezifisch Religiöse begriffen und mit dieser Begründung für die eigene Person abgelehnt.
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von der älteren Generation des Heranwachsenden und als Endpunkt eines Konstitutionsprozesses des Selbst als normativ konstatiert wird – und diese Norm auch auf einer breiten gesellschaftlichen Ebene Eingang gefunden hat – kann vor dem Hintergrund der Kenntnis der unterschiedlichen Wurzeln von islamisch-muslimisch geprägten Erziehungs- und Bildungsvorstellungen angenommen werden, dass der Erwerb von Autonomie, verstanden als Ideal der Loslösung vom Elternhaus – in den Familien der Befragten kein vergleichbar bedeutendes Erziehungsziel darstellt. Respekt, nicht nur als wichtiges Erziehungsziel der absoluten Ehrerbietung – zum Beispiel gegenüber den Eltern oder dem Lehrer (Motzki 1986: 392) –, sondern als Beziehungsmuster zwischen den Generationen und einer damit verbundenen Nicht-Auflösung des und Nicht-Loslösung vom generationalen Gefüge, ist ursprünglich durch den islamischen Glauben beziehungsweise durch den Propheten Muhammad als zentraler Wert etabliert worden. Begründet ist dies in einem Wandel der Einstellung von Eltern gegenüber Kindern mit dem Aufkommen des Islams. Während die Situation von Kindern in Westarabien vor dem Islam dadurch geprägt war, dass sie als ein Besitz zur Erfüllung spezifischer Funktionen wie der Garantie einer Altersvorsorge, der Bereitstellung von Arbeits- und Kampfeskraft zählten, stellte der Prophet Muhammad diese Einstellung nicht zuletzt aufgrund seiner eigenen biografischen Erfahrungen infrage. Mit der Ausbreitung des Islams kam es zu einem Wandel der Vorstellung vom Kind an sich: Männliche und weibliche Kinder wurden von nun an als Individuen gedacht, mit einem Recht auf Leben, auf Erziehung und beispielsweise auf eine angemessene medizinische Versorgung (Motzki 1986: 397; Giladi 2005: 99ff., 2007: 15ff.). Der Islam trat mit einer generellen Kritik am Verhalten der Menschen – nicht nur gegenüber Gott, sondern auch gegenüber ihren Mitmenschen – auf (Motzki 1986: 391). Eine wichtige Rolle spielte dabei auch die Beziehung zwischen Eltern und Kindern. In mittelalterlichen islamischen Quellen wird die Beziehung zwischen Eltern und Kindern als im Idealfalle von Liebe und Zärtlichkeit geprägt beschrieben, die Bedeutung von engem körperlichem Kontext wird betont. Dabei wird das richtige Verhalten gegenüber Kindern auch immer mit dem Maßstab gemessen, den der Prophet Muhammad durch sein Vorbild vorgegeben hatte. Es finden sich zahlreiche Beispiele, in denen der Prophet als geduldiger und liebender Vater, Onkel und Lehrer gegenüber Kindern dargestellt wird (Heine 1998: 26). Obwohl das Kind mit dem Aufkommen des Islams als ein Wesen wahrgenommen wurde, das verletzlich und abhängig ist, und sich diese neue Einstellung vor allem auch in der entsprechenden islamischen Gesetzgebung zum Schutz seiner körperlichen Integrität
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und seines Eigentums ausdrückte (Giladi 1995: 824), gab es zeitgleich ebenso Vorstellungen von Kindern als ignoranten Wesen, die danach strebten, die eigenen Bedürfnisse erfüllt zu bekommen und einen nur schwachen Willen sowie einen beeinflussbaren Geist besaßen. Doch findet sich in mittelalterlichen islamischen Quellen der Anspruch an die Eltern, vor allem auch an den Vater, das Kind gemäß seinen Anlagen und unter Berücksichtigung seiner Individualität zu erziehen und zu fördern (Giladi 2005: 100). Zumindest theoretisch fand damit ein Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Stellung von Kindern im Generationengefüge statt. Ihnen wurden nun mit Blick auf ein Konzept des Respekts, verstanden als Muster gegenseitiger Anerkennung, eigene Rechte, aber auch Pflichten zugesprochen.
4. Fallbeispiel Sabrina: Respekt als generationales Muster Im Folgenden wird die Auswertung und Interpretation einer Interviewsequenz präsentiert. Bei der Interviewten handelt es sich um die 24 Jahre alte PädagogikStudentin Sabrina. Sie ist das älteste von vier Geschwistern. Im Alter von fünf Jahren ist sie gemeinsam mit ihrer ein Jahr jüngeren Schwester und der Mutter aus Kurdistan ihrem Vater nach Deutschland nachgereist. Gefragt nach der Motivation der Eltern, nach Deutschland zu migrieren, stellt sich heraus, dass die Beweggründe für die Migration der Eltern in der Familie niemals explizit thematisiert worden sind. Im Interview bringt die Befragte die eigene Vermutung vor, dass der Vater in Deutschland Geld verdienen musste, weil in Kurdistan aufgrund einer fehlenden Industrialisierung wenig Möglichkeit dazu bestanden habe. Der Vater lebt heute räumlich getrennt von der Familie und betreibt ein Restaurant im Osten Deutschlands; die Mutter, die immer als Hausfrau gearbeitet hat, lebt mit den vier Kindern zusammen im Westen. Der Vater kommt alle paar Monate für wenige Tage oder eine Woche nach Hause. Dennoch beansprucht er nach Sabrinas Worten ganz selbstverständlich bis heute das Recht, die Familie und ihre einzelnen Mitglieder in ihrem Tun zu bestimmen. Dies wird, wie die folgende Interviewsequenz zeigt, von ihm selbst mit Bezug auf kulturspezifische Konzepte wie zum Beispiel »Ehre« begründet. Sabrina, die nach dem Studium als Lehrerin arbeiten will, fügt sich gemäß ihren eigenen Worten »rein äußerlich« diesen als Fremdbestimmung erlebten väterlichen Vorgaben im Hinblick auf ihr Leben. Dabei geht aus den Auswertungen des Interviews hervor, dass sie diesen »Gehorsam« gegenüber ihrem Vater nicht aufgrund von normativen Zwängen einer Tradition gegenüber leistet, sondern die Familie und das fragile familiäre Gleichgewicht nicht zerstören will. Um dennoch ihr Leben nach ihren
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eigenen Vorstellungen leben zu können, lebt sie gleichsam ein Leben »nach außen« für den Vater und eines »nach innen« gemäß ihren eigenen Wünschen (über das die Geschwister und die Mutter teilweise informiert sind). Sie hat beispielweise seit mehreren Jahren heimlich einen marokkanischen Freund, den sie auch gegen den Willen des Vaters, der eine Heirat mit einem kurdischen Mann für sie vorsieht, heiraten will. Thematisch dreht es sich bei dem ausgewählten Interviewabschnitt4 um die Erinnerung an eine Auseinandersetzung zwischen der Interviewten, ihrer Schwester und dem Großvater um das Tragen bzw. das Nicht-Tragen eines Kopftuchs und um angemessene Kleidung während eines Ferienaufenthaltes in Kurdistan. Am Rande sind auch der Vater und die Mutter in diesen Konflikt involviert. »Int: Sie haben gesagt, dass Ihr Großvater möchte, dass sie mehr kurdisch leben. Können Sie erzählen, was das konkret bedeutet? S: Ja, zum Beispiel, dass – wir hatten ein Jahr richtig Probleme damit gehabt. Er wollte, dass wir unseren Kopf- bedecken. Dass wir nicht – das sollte nichts Religiöses sein, sondern irgendwie was Traditionelles, es ist kurdisch, wenn man in einem bestimmten Alter ist, also erwachsen ist, dann sollte man, als Frau, als Mädchen eben, schon ein Kopftuch tragen, einfach aus- wie hat er das begründet, das ist so’n Zeichen dafür, dass man, ja, vielleicht eben alt genug ist. Eben kein Kind mehr, dass man sich unterscheidet von den kleinen Mädels, man ist aber jetzt eine erwachsene Frau, und deswegen sollten wir ein Kopftuch tragen und wir sollten auch nicht so freizügig oder wie auch immer, also wir sollten schon längere Kleidung, also den Körper so’n bisschen bedecken. Das fand er nicht so schön. Und dann haben wir so’n bisschen diskutiert hin und her, und wir haben uns schon’n bisschen durchgesetzt ((lacht)), mit meiner Schwester, dann haben wir dann kein Kopftuch getragen. Also wir achten schon selber drauf, ist jetzt nicht so, dass wir da einfach hingehen und sagen ›wir können dann so machen wie in Deutschland‹. Wir respektieren das ja auch, und wie gesagt, wir sind ja auch damit aufgewachsen und wissen auch sozusagen, ja, was sich gehört, was nicht eben. Dass wir schon drauf achten, aber, er wollte ein bisschen mehr. Also ja, wie gesagt, so keine kurzen Ärmel oder so, oder kein Ausschnitt und so was, solche Sachen« (Sabrina, Z. 151-169).
Die Befragte erzählt in dem Interviewausschnitt auf meine Frage, ob sie genauer ausführen kann, was sie weiter oben im Interview bereits berichtet hat – nämlich dass ihr Großvater gewollt habe, dass sie bei ihren Ferienaufenthalten in Kurdistan auch »kurdisch leben« sollten. Dabei steigt sie mit der Darstellung eines »Problems« ein, das sie im Kontext des Themas »kurdisch leben« gehabt hätten. Es dreht sich dabei um den Wunsch bzw. vielmehr den Willen des Großvaters, dass die beiden Mädchen (sie und ihre zwei Jahre jüngere Schwester) den Kopf bedecken sollen. Sie präzisiert ihre Aussage dahingehend, diese Forderung des Großvaters habe nichts mit der Religion zu tun gehabt, sondern sei als 4 Die Interviewsequenz wurde im Sinne einer besseren Lesbarkeit gestrafft.
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Ausdruck einer Tradition zu verstehen. Die Tradition wird dann von der Interviewten näher als eine »kurdische« spezifiziert und mit dem Lebensalter verknüpft. Sie sucht im Folgenden kurz in ihrer Erinnerung nach der genauen Begründung des Großvaters und führt dann aus, dieser habe das Kopftuch gewünscht, weil es ein Zeichen sei, dass man jetzt nicht mehr ein Mädchen, sondern eben eine erwachsene Frau sei. Dazu gehöre, erläutert sie die Forderungen ihres Großvaters, auch die Bedeckung des Körpers und das Tragen einer nicht »freizügigen« Kleidung. Es habe um dieses Thema zwischen dem Großvater und den beiden Mädchen eine Diskussion gegeben, in der sich die beiden Mädchen in der rekonstruierenden Erzählung der Befragten insoweit durchsetzten, dass sie auch weiterhin kein Kopftuch tragen. Sie fügt diesem Bericht die Information hinzu, dass sie (die Befragte selbst) und auch ihre Schwester sowieso Rücksicht auf andere (Kleidungs-)Normen und Werte genommen und sich sowieso nicht wie in Deutschland verhalten hätten. Doch über den selbstverständlich von ihrer Seite an den Tag gelegten Respekt hinaus habe der Großvater zusätzlich das Tragen eines Kopftuchs verlangt, wozu sie nicht bereit gewesen seien. Der Orientierungsrahmen, in dem das Thema abgehandelt wird, ist hier das Wissen um eine unterschiedliche Deutung von Lebensphasen – Mädchen versus Frau. Dabei wird die Jugend vonseiten der Befragten nicht als Übergangsphase thematisiert, weil sie auch für den Großvater keine Rolle spielt. Die Übernahme der (nur indirekt deutlich werdenden) Definition von Statuspassage als nahtlosem Übergang vom Mädchen zur Frau wird in der Erinnerung als Grund für die Notwendigkeit gedeutet, ein Kopftuch zu tragen. Die Forderung des Großvaters wird dabei semantisch abgeschwächt, indem die Befragte Formulierungen gebraucht wie »den Körper bisschen bedecken« und »Das fand er halt nicht so schön« (Z. 163164). Diese semantischen Abschwächungen stehen in einem Missverhältnis zum eingangs der Passage formulierten »richtigen Problem«. Auch die Tatsache, dass sich die beiden Mädchen letztendlich gegen den Großvater durchsetzten, wird verbal zurückgenommen, indem die Befragte sagt, dass sie »ein bisschen diskutiert« hätten und sie sich schon »ein bisschen« (Z. 163-164) durchgesetzt hätten. Hervorgehoben wird in der Erzählung die eigene Kompetenz, die darin besteht, dass die Mädchen zum einen um die Umgangsnormen der Lebenswelt des Großvaters wissen und sich auch ohne dessen Forderungen, die in ihren Augen zumindest, was die Frage des Kopftuchs angeht, zu weit führen, »angemessen« bzw. respektvoll verhalten hätten. Die Befragte fügt sich in die begriffliche Lebenswelt des Großvaters ein, »akzeptiert« seine Erziehungs- und Bildungsziele, präsentiert sich aber in der rekonstruktiven Selbstdarstellung
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durchaus als autonom handelnde Person, indem sie und ihre Schwester im Ergebnis als nicht Kopftuch-Tragende rekonstruiert werden. Ebenso wird deutlich, dass dieses Ergebnis Resultat einer Verhandlung ist, damit wird die Basis des gemeinsamen Umgangs nicht zerstört. Im Gegensatz zu der Befragten jedoch, die deutlich macht, dass sie auch ohne die Forderung des Großvaters »Respekt« und damit auch »Anerkennung« gegenüber dessen Lebenswelt gezeigt hätte, verlangt ihnen der Großvater ein bestimmtes Verhalten ab, ohne sich – jedenfalls ausgehend von dieser Interviewpassage – über ihre sonstige Lebensgewohnheiten zu kümmern bzw. ohne vielleicht auch Kenntnis von diesen zu haben oder haben zu wollen. Dennoch kann der Großvater der inhaltlichen Aussage dieser Interviewpassage gemäß von den Argumentationen der Mädchen überzeugt werden, zumindest in Teilen. In einer späteren Passage berichtet die Interviewte auf meine Frage hin von den Reaktionen der Eltern auf die Forderungen des Großvaters (Z. 173-179). Während der Vater mit der Meinung des Großvaters übereinstimmt und es gut findet, dass sich die beiden Mädchen entsprechend den Wünschen des Großvaters »angemessen« kleiden, habe die Mutter »das halt nicht schön« gefunden (Z. 173-174). Die Mutter hat dabei weniger den inhaltlichen, sondern offenbar vor allem den imperativen Gehalt des »Wunsches« des Großvaters nicht gutgeheißen, da die Befragte hinzufügt, dass die Mutter »[…] diesen Druck einfach nicht schön« (Z. 175) gefunden hat. Weiterhin wird deutlich, dass die Mutter nicht nur im Gegensatz zu Vater und Großvater einer paternalistisch-autoritären Haltung ablehnend gegenübersteht, sondern auch den Mädchen dahingehend Vertrauen schenkt, dass diese selbstbestimmt handeln können: »Sie hat gesagt, die sind alt genug, die können das ja selber entscheiden […]« (Z. 176). »Mmh. Also- also Konflikte gab’s oft mit meinem Vater, weil er ist irgendwie nicht richtig hier angekommen, sag’ ich mal […]. Dann hat er ganz oft sich eingemischt, und das durften wir nicht tragen und das durften wir nicht machen. Oder mit weggehen, mit Freunden und so- ich mein’, als ob das typisch kurdisch ist oder nicht […]. Verstehen Sie, was ich meine? //Ja// Das ist einfach auch seine eigene Meinung, persönliche Meinung, nur er hat das immer damit versucht, zu rechtfertigen, dass er dann gesagt hat ›Ja, das ist, ayip, also Schande, das gehört sich nicht, das macht man nicht‹« (Zeile 402-427).
»Das ist einfach auch seine eigene Meinung«: Hier macht die Befragte deutlich, dass die »Befehle« des Vaters, die von ihm selbst vor dem kulturellen Hintergrund verortet und argumentativ begründet werden, von ihr als seine »bloße« Meinung verstanden werden, zu der, könnte man hier interpretierend mutmaßen, der Vater vielleicht in den Augen der Interviewten nicht steht. Die Befragte ihrerseits verortet diese Probleme unter der Kategorie Generationenkonflikt und
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versteht die Auseinandersetzung mit ihrem Vater nicht als eine kulturell unterlegte. Gleichzeitig zeigen diese Reflexionen des Verhaltens des Vaters ihre Fähigkeit, selbstbestimmt zu denken und sich von dem moralischen Druck des Vaters (»ayip«) zu befreien. Mit Blick auf die Auseinandersetzung mit dem Großvater zum einen und der Mutter zum anderen ist hier zu überlegen, inwiefern ihr ein Ereignis wie der subjektiv als Erfolg erinnerte Streit um die Kleidung bzw. das Kopftuch sich auf ihre Vorstellungen von sich selbst bzw. ihre Fähigkeit zur Selbstbestimmtheit ausgewirkt hat: Aus den Worten der Befragten lässt sich durchaus eine gewisse Genugtuung ableiten, wenn sie sagt, sie (die beiden Schwestern) hätten sich »schon’n bisschen durchgesetzt«, und im Anschluss daran lacht. Insbesondere die von ihr gewählte Semantik fällt dabei ins Auge: Die Befragte und ihre Schwester sind im Grunde die »Kompetenten« in diesem Konflikt, sie kennen nicht nur die Lebenswelt des Großvaters und deren Bedingungen, sondern sie wissen auch um ihre eigenen Vorstellungen und können diese offenbar sowohl argumentativ einbringen als auch durchsetzen. Dennoch gibt ihr sprachlicher Ausdruck im Zuge der erzählten Erinnerungen Anlass zu der interpretatorischen Vermutung, dass Spannungen klein gehalten werden mussten, wenn gehäuft in einer abschwächenden Art und Weise von dem Konflikt eingangs der Interviewpassage als »richtige Probleme« gesprochen wird und dann eine euphemistische Rhetorik die Erzählung bestimmt: Es wird von »nicht schön finden« (Z. 163), »ein bisschen diskutiert« (Z. 164), »ein bisschen durchgesetzt« (Z. 164), »er wollte halt ein bisschen mehr« (Z. 169) gesprochen. Dieser Widerspruch zwischen der Art der Präsentation und dem eingangs formulierten »richtigen Problem« lässt verschiedene Hypothesen zu: Aufgrund ihres Wissens um die Lebenswelt des Großvaters und weil sie in der Lage ist, den Erfahrungsraum des Großvaters zu teilen, bringt die Befragte noch in ihrer sprachlichen Darstellung seinen Forderungen Respekt entgegen, indem sie einen Ausdruck wählt, der den tatsächlichen Spannungsgehalt der Situation herunterspielt. Eine andere Hypothese wäre, dass die Interviewte Sabrina noch in der erzählenden Rekonstruktion eine »strategische« Haltung gegenüber Respekt einnimmt, die es ihr ermöglicht hat, ihre Vorstellungen durchzusetzen, kein Kopftuch tragen zu wollen, und gleichzeitig einen »Gesichtsverlust« des Großvaters vermieden hat.
5. Schlussbetrachtung Ausgehend von der Interviewsequenz kann die Deutung vorgenommen werden, dass sich in den jeweiligen Beziehungen zu Großvater, Vater und Mutter verschiedene Ausformungen von Respekt zeigen. Dabei lässt sich die Haltung des
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Respekts gegenüber dem Großvater als eine internalisierte Haltung beschreiben, die im Kontext des Aufwachsens in der Familie erworben wurde. In Kenntnis der kurdischen Lebenswelt und in Anerkennung der spezifischen Norm- und Wertvorstellungen des Großvaters wird der Forderung, diesen Genüge zu tun teilweise Folge geleistet, jedoch ohne dass die Interviewte dabei in ihren Erinnerungen als heteronom bestimmt verbleibt. Bis in die Erzählung im Interview hinein wird durch den Gebrauch einer spezifischen Semantik der Spannungsgehalt der Konfliktsituation klein gehalten. Respekt zeigt sich hier als generationales Muster und als echte, von kulturellen Traditionen (vgl. Pfluger-Schindlbeck 1987: 287; Güne-Ayata 1996: 104) mitbestimmte Beziehungsqualität, die die lebensweltlichen Differenzen zwischen der Befragten und ihrem Großvater zu überbrücken vermag und damit zur Stabilisierung des familiären Gefüges beiträgt. Äußerlich vergleichbar und bei genauerer Betrachtung doch anders stellt sich die geschilderte Auseinandersetzung mit dem Vater dar. Respekt lässt sich hier als eine einseitige Forderung nach Gehorsam und Unterordnung in einem asymmetrischen, patriarchalisch-autoritären Beziehungsgefüge charakterisieren (vgl. Uslucan 2004: 33). Es wird deutlich, dass die Befragte hier »Respekt« nur in Form von Gehorsam zollt, insbesondere die Darstellung der Erinnerung im Interview macht jedoch deutlich, dass sie die Forderungen des Vaters nach dem Einhalten soziomoralischer Vorstellungen von »Ehre« nicht anerkennt. Respekt ist hier kein generationales Muster im Sinne einer Anerkennung unterschiedlicher Wertvorstellungen, sondern notgedrungenes »äußeres« Zugeständnis zur Bewahrung familiären Friedens. Insbesondere die Interaktion zwischen Tochter und Mutter zeigt eine Beziehungsebene auf, in der gegenseitiger Respekt im Sinne von Vertrauen auch Raum für Selbstbestimmung lässt. Respekt, wie er in der Haltung der Mutter gegenüber der Tochter deutlich wird, lässt an die Ausführungen von Richard Sennett (2002) zur Figur des Respekts denken. Sennett gibt weniger eine abschließende Definition des Begriffs, vielmehr setzt sich Respekt bei Sennett wie ein Mosaik aus verschiedenen Bestandteilen zusammen: obwohl »Status« und »Prestige« im Respekt enthalten sind, entbehren sie das »Moment der Gegenseitigkeit« (Sennett 2002: 73). Dieses wiederum ist in »Anerkennung« und »Ehre« enthalten, die jedoch den Aspekt der »Selbstachtung«, der »Würde« vermissen lassen. Wenn Sennett von »anspruchsvoll und dunkel« im Zusammenhang mit der Charakterisierung von Respekt spricht, dann ist damit die schwierige Balance des zwischenmenschlichen Aktes gemeint, der auf beiden Seiten ein integres Selbst mit der Fähigkeit zur Empathie und dem Streben zur Anerkennung des Anderen zur Voraussetzung hat. Respekt, verstanden im Sinne von
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Sennetts Ausführungen, wäre demnach ein voraussetzungsvolles Erziehungsziel sowie ein moralisch hochwertiges Element zwischenmenschlicher Beziehungsmuster. Im Anschluss an die ausgewertete Interviewpassage wird gefragt, welche Rolle die jeweils individuelle Ausgestaltung und Aushandlung der familialen Beziehungskonstellationen bei der Konstitution des Selbst spielt. Die ausgewählte Interviewsequenz zeigt, dass die Befragte ihre Familie und die familialen Beziehungen als bedeutsam einstuft. Um das familiale Beziehungsgefüge aufrecht zu erhalten, macht sie Konzessionen, die hier kategorial als Formen von Respekt gefasst wurden. Das biografische Selbst wird maßgeblich durch die Beziehungen, und damit im Kontext des Aufwachsens durch die familialen Beziehungen, konstituiert (vgl. auch Honneth/Rössler 2008: 10). Dabei wird den Ausführungen von Honneth und Rössler in ihrer Arbeit zur Analyse von Moralität in persönlichen Beziehungen gefolgt, die diese »nicht nur konstitutiv für die Ausbildung gelungener praktischer Identitäten in familialen Verhältnissen« sehen, sondern sie auch als »konstitutiv für unser praktisches Selbstverhältnis, für die Frage, wer wir sind und wie wir leben wollen« (ebd.: 24) beurteilen. Hier wird insbesondere ihr Verweis darauf, dass »die Frage nach der Moralität persönlicher Beziehungen unmittelbar die nach der Bedeutung von individueller Autonomie und gelungenem Leben« (ebd.: 24) beinhaltet, erkenntnisleitend für die weitere theoretische Verortung der eigenen Studie angesehen. Mit Blick auf eine zukünftige Gesamtauswertung aller durchgeführten Interviews wird ausgehend von den Überlegungen von Honneth und Rössler gefragt, inwieweit die Interviewten Familie als konstitutiv für ein gelungenes Leben ansehen (vgl. auch Nussbaum 2000: 244) und welche Konzessionen im Spannungsfeld von Selbstbestimmtheit und der Aufrechterhaltung des generationalen familiären Gefüges von den Interviewten gemacht werden.
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III. Herausforderungen in pädagogischen Kontexten
Erziehungsstile und Integrationsorientierungen türkischer Familien Hac-Halil Uslucan Einleitung Sowohl in der familienpsychologischen Forschung als auch in praktischen Beratungskontexten wird die Relevanz gesicherten und empirisch überprüfbaren Wissens um die familialen Lebenswelten von Migranten immer dringlicher. Denn mit weit mehr als sieben Millionen Personen sind ausländische Familien in der Bundesrepublik keine vernachlässigbare Population mehr; noch bedeutsamer wird dieser Befund jedoch, wenn die Orientierung nicht anhand der Nationalität bzw. dem Pass erfolgt, sondern nach der familialen Erziehungswirklichkeit; d.h. sobald die kulturelle Herkunft der Eltern berücksichtigt wird. Dann haben nämlich rund 15 Millionen Menschen bzw. fast 20% der Gesamtbevölkerung einen Migrationshintergrund, und langfristig betrachtet wird diese Zahl vermutlich eher zu- als abnehmen. Zugleich herrscht in der Migrationsforschung Einigkeit darüber, dass die Annahme einer allmählichen Assimilation der Zuwanderer an die Lebensweise der Mehrheitsgesellschaft nicht haltbar ist, wonach mit der Zeit die Differenzen zwischen Einheimischen und ehemals Zugewanderten quasi von selbst verschwinden. Migranten zeigen sowohl innerhalb ihrer eigenen Gruppe als auch im Vergleich der verschiedenen Migrantengruppen miteinander unterschiedliche Akkulturationsstrategien (Phinney/Ong/Madden 2000). Angesichts dieser demografischen Entwicklung (Migranten sind im Durchschnitt rund 10 Jahre jünger), der Zunahme an Kindern mit unterschiedlichem ethnischem und religiösem Hintergrund gilt es, fachliche Schwerpunkte wie »Frühe Bildung« oder »Pädagogik der frühen Kindheit« auch um das Thema der interkulturellen bzw. interreligiösen Erziehung zu erweitern bzw. diese Aspekte zu Kernkompetenzen von Erziehern und Psychologen werden zu lassen. Das hat Implikationen auch für die Einrichtungen: Nicht nur gilt es, verstärkt migrantische – wenn man die stärkste religiöse Minderheit berücksichtigt: muslimische – Eltern
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viel stärker in die Abläufe einzubeziehen. Darüber hinaus gilt es, vermehrt auch Erzieherinnen mit Migrationshintergrund einzustellen sowie religiöse Bildung und Erziehung bzw. Erziehung zur religiösen Mündigkeit als Teil der Aufgabe der Bildungseinrichtungen zu verstehen. Dabei ist nach wie vor festzuhalten, dass sowohl im Bereich der Gesundheit als auch der Beratung und Erziehung für Migranten ein deutliches Missverhältnis zwischen dem Bedarf und den Möglichkeiten der Inanspruchnahme besteht Dieses ist nicht allein durch Wissensdefizite der Migranten bedingt, sondern auch durch die Formen der monokulturellen Ausrichtung der Institutionen, die wenig Vertrauen einflößen. Exemplarisch hierfür konnte bei einer Erhebung/Bedarfsanalyse in Regensburg gezeigt werden, dass zwar der Anteil der Nichtdeutschen im Alter von 0 bis 27 Jahren etwa 12% betrug, in Risiko- und Krisenlagen Migranten jedoch deutlich überrepräsentiert waren. Daran gemessen waren sie aber in den Zahlen von Beratungsstellen als »Kunden« eindeutig unterrepräsentiert. Zugleich wurde deutlich, dass das bisherige Angebot nicht der Bedürfnisstruktur von Migranten entsprach: Sprachbarrieren, geringe Information über die Angebote sowie geringe vertrauensbildende Maßnahmen der beratenden Institutionen erwiesen sich als typische Barrieren (vgl. Seiser 2006). Im Folgenden sollen nun einige Besonderheiten familialer Erziehung und Integration dargestellt und einige Ergebnisse einer eigenen Studie referiert werden. Daran anknüpfend sollen Möglichkeiten der Förderung von Eltern und Kindern fokussiert werden. Abschließend werden einige methodische Besonderheiten hervorgehoben, um die Befunde der Migrationsforschung angemessen zu verstehen.
Erziehung in Migrantenfamilien Allgemein wird in der eher westlich geprägten erziehungspsychologischen Forschung davon ausgegangen, dass ein autoritativer Erziehungsstil – damit ist eine hohe Zuwendung, Unterstützung, Wärme, hohe Selbstständigkeit bei gleichzeitig hohen Forderungen an das Kind gemeint – die Entwicklung des Kindes optimal fördert, wogegen der autoritäre Erziehungsstil (rigide Durchsetzung der elterlichen Autorität, geringe Selbstständigkeit und hohe Kontrolle des Kindes) als eher ungünstig für die Entwicklung des Kindes eingeschätzt wird (Baumrind 1991; Darling/Steinberg, 1993). Kulturpsychologische Studien zeigen jedoch, dass eine autoritative Erziehung zwar für euroamerikanische Kinder den optimalen Erziehungsstil darstellt, was u.a. damit begründet wird, dass dieser zu einer höheren sozialen Kompetenz und zu höherer Selbstständigkeit führt. Dies konnte
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jedoch bspw. für chinesische und andere Kinder mit Migrationshintergrund nicht gezeigt werden (vgl. Leyendecker 2003). Auch weist bspw. Schneewind (2000) darauf hin, dass ein autoritärer Erziehungsstil unter bestimmten Umständen – insbesondere wenn das Kind in einer entwicklungsgefährdenden bzw. delinquenzförderlichen Umwelt aufwächst, was in einigen Fällen für türkische Jugendliche zu vermuten ist – als durchaus funktional und sinnvoll zu betrachten ist, weil hier das Einbringen von »guten Gründen« für eine Mitgliedschaft bzw. Teilnahme an delinquenten Gruppen seitens der Jugendlichen wenig sinnvoll wäre und Jugendliche hier eine straffere Lenkung und Kontrolle brauchen. Insofern ist eine bruchlose Übertragung der Wirkungen bestimmter Erziehungsstile und -praktiken auf die kindliche Entwicklung in differenten kulturellen Kontexten problematisch. Darüber hinaus weisen aber Migrantenjugendliche andere Entwicklungsaufgaben auf als einheimische: So haben sie bspw. in der Adoleszenz neben der allgemeinen Entwicklungsaufgabe, eine angemessene Identität und ein kohärentes Selbst zu entwickeln, sich auch noch mit der Frage der Zugehörigkeit zu einer Minderheit auseinanderzusetzen und eine »ethnische Identität« auszubilden bzw. sich mit der Frage der ethnischen Zugehörigkeit zu beschäftigen. Ethnische Identitäten entstehen im Kontext der Kopräsenz und eines Kontaktes von Menschen unterschiedlicher Herkunft sowie des Gefühls der Bedrohtheit eigener Identität (Phinney 1998). Mit Berry et al. (1992) lässt sich annehmen, dass die alltagsweltlichen Herausforderungen, denen Migrantenkinder und ihre Familien begegnen, u.a. auch dadurch bestimmt sind, dass die Eltern das doppelte Verhältnis – einerseits zur eigenen Ethnie, andererseits zur Aufnahmegesellschaft – eigenaktiv gestalten müssen. Dabei lassen sich, Bourhis et al. (1997) folgend, aufseiten der Migranten in idealisierter Form vier Optionen unterscheiden: Integration, Assimilation, Separation und Marginalisierung. Während bei Integration und Assimilation Handlungsoptionen stärker auf die aufnehmende Gesellschaft bezogen sind – wobei Integration zugleich Bezüge zur Herkunftskultur bzw. zur eigenen Ethnie stärker berücksichtigt –, ist Separation durch eine stärkere Abgrenzung zur aufnehmenden Gesellschaft bei gleichzeitiger Hinwendung zur eigenen Ethnie gekennzeichnet. Marginalisierung schließlich ist durch eine Abgrenzung sowohl von intra- als auch interethnischen Beziehungen gekennzeichnet, wobei sie, wie Sackmann (2000) betont, auch als Folge eines frustrierten Assimilations- oder Integrationswunsches verstanden werden kann. Diese Optionen können jedoch bereichsspezifisch variieren und bringen nicht nur Unterschiede in personenbezogenen Präferenzen zum Ausdruck, sondern hängen wesentlich auch von den
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Handlungsopportunitäten und -barrieren in der Aufnahmegesellschaft ab. Empirische Befunde sprechen dafür, dass Marginalisierung und Separation mit höheren Belastungen verbunden sind als Integration und Assimilation (Berry/Kim 1988; Morgenroth/Merkens 1997). Aber auch Vertreter der Aufnahmegesellschaft können zwischen verschiedenen Orientierungen wählen: Integration liegt vor, wenn sie Akzeptanz und Wertschätzung gegenüber der Kultur der Migranten aufbringen und diesen den Zugang zur Kultur des Aufnahmelandes erleichtern und die Übernahme ihrer eigenen kulturellen Muster begrüßen. Assimilationsorientierungen liegen vor, wenn die Mitglieder der Aufnahmegesellschaft von Migranten erwarten, dass diese ihr eigenes kulturelles Erbe aufgeben und die kulturellen Muster des Aufnahmelandes übernehmen. Eine Orientierung in Richtung Segregation liegt vor, wenn sich die Vertreter der Mehrheitskultur von Migranten distanzieren und nicht wünschen, dass diese die Kultur des Aufnahmelandes übernehmen, ihnen aber gleichzeitig die Beibehaltung ihrer eigenen kulturellen Bezüge zugestehen. Eine Exklusion schließlich liegt dann vor, wenn Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft sich gegenüber Migranten nicht nur intolerant verhalten, sondern ihnen sowohl den Zugang zur Übernahme der kulturellen Muster des Aufnahmelandes verweigern als auch ihnen das Recht absprechen, starke Bezüge zu ihrer Herkunftskultur aufrechtzuerhalten. Tabellarisch lassen sich diese unterschiedlichen Akkulturationsorientierungen von Migranten und Einheimischen in dem (leicht abgewandeltem) theoretischen Konzept von Bourhis et al. (1997) veranschaulichen. Im Zentrum dieses Modells stehen die Interaktionsbeziehungen zwischen der Migrantenpopulation und der aufnehmenden Mehrheitskultur. Es geht also von einer dynamischen Sichtweise aus, die sowohl die Aufnahmebereitschaft der Mehrheitskultur als auch die Anpassungsbereitschaft der Einwanderergruppe gleichermaßen berücksichtigt. Tabelle 1: Das Interaktive Akkulturationsmodell (IAM) Aufnehmende Gesellschaft
Migranten Integration Assimilation Integration Konsens Problematisch Assimilation Problematisch Konsens Segregation Konflikt Konflikt Exklusion Konflikt Konflikt Quelle: Eigene Darstellung nach Bourhis et al. (1997: 96).
Separation Konflikt Konflikt Konflikt Konflikt
Marginalisierung Problematisch Problematisch Konflikt Konflikt
Modellhaft wird hier verdeutlicht, mit welchen Alternativen die aus psychologischer Sicht wünschenswerte Akkulturationsorientierung »Integration« theoretisch zu konkurrieren hat: So zeigt Tabelle 1, dass lediglich das Aufeinander-
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treffen von integrations- oder assimilationsorientierten Haltungen der jeweiligen Mitglieder relativ unproblematisch ist. Alle anderen Konstellationen sind dagegen latent problembehaftet, so z.B. wenn Migranten eine eher integrationsorientierte Haltung favorisieren, d.h. Schlüsselelemente ihrer eigenen Kultur beibehalten wollen und gleichzeitig die Bereitschaft zeigen, Schlüsselelemente der Aufnahmekultur zu erwerben, die Aufnahmegesellschaft jedoch von ihnen eher Assimilation erwartet, d.h. eine Aufgabe der kulturellen Wurzeln und eine Adaptation der Normen und Werte der Aufnahmekultur wünscht. Darüber hinaus gilt es, aus entwicklungs- und familienpsychologischer Sicht auf folgende riskante Bedingungen des Aufwachsens und Erziehens in türkischen bzw. Migrantenfamilien hinzuweisen: 1. Mit Blick auf ihre finanziellen Ressourcen weisen 54% der türkischen Familien ein Haushaltseinkommen auf, das zu den untersten 10% des Äquivalenzeinkommens aller Haushalte gehört; dieser Satz liegt bei deutschen Familien bei etwa 7% aller untersuchten Familien. Dagegen hatten 48% aller deutschen, aber nur 20% aller türkischen Familien ein mittleres Haushaltseinkommen (Daten des DJI-Kinderpanels: Alt/Holzmüller 2006). Die unterdurchschnittliche materielle Ausstattung von Migrantenfamilien bzw. ihre Deprivation ist ein wichtiger Indikator, um auch Erziehungs- und Integrationsfolgen besser abschätzen zu können: denn arme Kinder aus Migrantenfamilien haben ein doppelt so großes Risiko, desintegriert bzw. gering integriert zu sein als ein Kind aus einer Durchschnittseinkommens-Familie (Beisenherz 2006). 2. Aus Kindersicht stellt das Aufwachsen in einem großen Geschwisterverband mit geringen Altersabständen ein häufig in Migrantenfamilien vorkommendes Entwicklungsrisiko dar: Zum einen droht bei einem Altersabstand von weniger als zwei Jahren in der Geschwisterreihe die Gefahr der Übersozialisierung und Vernachlässigung typisch kindlicher Bedürfnisse des älteren bzw. ältesten Kindes. Eltern betrachten vielfach dieses Kind als deutlich »reifer«, kompetenter, genügsamer, weil sie es intuitiv häufig mit dem jüngeren bzw. jüngsten Kind vergleichen. Zum anderen ist auch das Risiko bzw. die Wahrscheinlichkeit für eine spannungsreichere Adoleszenz bei Altersabständen unter zwei Jahren höher als im Fall eines größeren Altersabstands zwischen den Geschwistern. Darüber hinaus belegen einige empirische Daten – wenngleich diese nicht repräsentativ, aber in den Größendimensionen doch tendenzweisend und besonders auffällig sind –, dass lediglich 24% der deutschen 8- bis 9-jährigen Kinder Altersabstände unter zwei Jahren zu einem benachbarten Geschwister haben, diese Wahrschein-
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lichkeit jedoch bei Migrantenkindern insgesamt bei etwa 80% liegt (Marbach 2006). Nicht zuletzt tangiert eine hohe Geschwisterzahl im eigenfamilialem Kontext bzw. auch in der eigenen engeren Verwandtschaft auch die Integrationschancen von Migrantenkindern: Die Interaktion mit Kindern außerhalb des Familienverbandes wird in der Regel geringer, wenn die Anzahl verfügbarer Geschwister bzw. Kinder aus der Verwandtschaft größer ist. Das Netz an Peer-Kontakten zu Kindern außerhalb der Familie ist dann geringer und die Möglichkeiten, Sozialkapital außerhalb der Familie zu generieren, reduzieren sich. In der Regel sorgen aber gerade Gleichaltrige außerhalb der eigenen Familie für mehr Heterogenität der sozialen Umwelten und stimulieren dadurch Entwicklungen bedeutsamer. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Migrantenfamilien stehen vor der Herausforderung, zusätzlich zur alltäglichen Gestaltung des Familienlebens ihr Verhaltensrepertoire zu erweitern, zu ändern und umzuorganisieren. In dem Maße jedoch, in dem eine Akkulturation – d.h. eine Veränderung kulturbezogener Einstellungen, Werte und Verhaltensweisen – erfolgt, findet in der Regel auch eine Entfernung von den Werten der Herkunftskultur statt. Dieser Widerspruch, sich einerseits in die Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, andererseits aber auch kulturelle Wurzeln nicht ganz aufzugeben, erweist sich insbesondere im erzieherischen Kontext als spannungsgeladen. Besonders Kinder, die sich – aufgrund ihrer schulischen Sozialisation im Einwanderungsland – vermutlich rascher und intensiver als ihre Eltern an die Kultur des Einwanderungslandes akkulturieren, verlieren dadurch gleichzeitig die sozialisatorischen Bindungen an ihre Herkunftskultur (Garcia Coll/Magnusson 1997). Die Eltern könnten daher eher geneigt sein, diese als bedrohlich wahrgenommene Entfernung der jüngeren Generation durch verstärktes Disziplinieren ihrer Kinder und die Betonung eigenkultureller Verhaltensweisen wiederherzustellen. Besonders in hierarchisch strukturierten Familien könnten aus diesem unterschiedlichen Akkulturationsstand Spannungen erwachsen. So kann eine mit zunehmender Aufenthaltsdauer an Deutschen orientierte Autonomiebestrebung der Jugendlichen Konflikte gegenüber der stärker kollektivistischen Orientierung der Familie auslösen. Allgemein ist zu konstatieren, dass durch unterschiedliche Annäherungen an Standards der neuen Kultur sowie Kompetenzzuwächse der Kinder, die ihre Eltern sprachlich und kognitiv »überflügeln«, übliche Rollenerwartungen erschüttert werden und Eltern in eine Situation geraten, in der sie mehr und mehr ihre Autorität als gefährdet erleben. Gerade Familien türkischer Herkunft entwickeln dann in der Aufnahmegesellschaft oft einen stärker behütenden und kontrol-
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lierenden Erziehungsstil als Familien in der Türkei. Entsprechend sehen sich diese Eltern dazu aufgerufen, Behütung und Kontrolle der Kinder und Jugendlichen (noch weiter) zu steigern (Nauck 1990). Vor allem Eltern der zweiten Generation von Migranten stehen vor der Notwendigkeit, ihren Kindern eine (eigen-)kulturelle Sozialisation anbieten zu müssen, und zwar von einer Kultur aus, in der sie selbst jedoch nicht mehr sicher und nicht mehr zu Hause sind. Das kann sie anfällig machen für harte bzw. disziplinierende Erziehungspraktiken. Auch hier gilt es jedoch, von allzu schnellen Annahmen über Wirkungszusammenhänge Abstand zu nehmen und Befunde (west-)europäischer Forschung nicht direkt auf die Lebenswirklichkeiten von Migranten zu übertragen. Denn Ergebnisse kulturvergleichender bzw. milieuvergleichender Forschungen legen nahe, dass dieselben Erziehungspraktiken unterschiedliche Auswirkungen zeigen: So wirkte z.B. in den Studien von Deater-Deckard und Dodge (1997) körperliche Bestrafung erst dann als negativ heraus, wenn bestimmte Schwellenwerte überschritten wurden; insofern existieren offenbar nichtlineare Beziehungen zwischen dem Beitrag des elterlichen Erziehungsverhaltens und der Ausprägung externalisierender Problemverhaltensweisen. Leichte körperliche Bestrafungen führten in afro-amerikanischen Familien zu geringeren Verhaltensproblemen, während dieselbe Maßnahme (Klaps auf den Po) in weißen amerikanischen Familien eher als ein Zeichen mangelnder Erziehungskompetenz gedeutet wurde. Auch waren Effekte einer harschen Disziplinierung bei Vorliegen einer emotional warmen Beziehung zwischen Eltern und Kindern längst nicht so gravierend wie bei einer emotional problematischen Beziehung (Beelmann et al. 2007; Uslucan 2003). Im Folgenden berichten wir exemplarisch von den Ausprägungen einiger – für externalisierendes Problemverhalten relevanter Erziehungsstile in deutschen und türkischen Familien. Die Befragung wurde im Sommer 2003 in vier Stadtteilen Berlins (Neukölln, Kreuzberg, Charlottenburg und Zehlendorf) durchgeführt, wobei auf eine unterschiedliche ethnische Dichte geachtet wurde (Kreuzberg und Neukölln als Bezirke mit einer hohen ethnischen Dichte, Charlottenburg mit einer mittleren und Zehlendorf mit einer geringen ethnischen Dichte). Es wurden sowohl die Jugendlichen als auch ihre Eltern befragt. Türkischen Eltern wurde der Fragebogen sowohl in türkischer als auch in deutscher Sprache vorgelegt. Die befragten Eltern setzten sich wie folgt zusammen: Insgesamt nahmen 412 deutsche Elternteile (225 Mütter und 187 Väter) und 239 türkische Elternteile (131 Mütter und 108 Väter) teil. Das Alter der deutschen Mütter variierte von 29 bis 61 Jahren (Durchschnitt 43,2 Jahre; SD = 5,35), das der türkischen von 30 bis
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61 Jahren (Durchschnitt 38,2 Jahre; SD = 4,9). Die türkischen Väter wie Mütter waren im Vergleich zu ihren deutschen Geschlechtsgenossinnen tendenziell rund fünf Jahre jünger. Deutliche Unterschiede ließen sich im Hinblick auf den Bildungshintergrund der Eltern identifizieren: So hatten 2,2% der deutschen Mütter keinen Schulabschluss, 20,8% verfügten über einen Hauptschulabschluss, 37,2% über die mittlere Reife und 32,9% hatten das Abitur. Bei den türkischen Müttern hatten dagegen 12,3% keinen Schulabschluss, 35,5% nur einen Grundschulabschluss, 27,5% einen Hauptschulabschluss, etwa 11,6% eine mittlere Reife und nur 7,2% hatten das Abitur gemacht. Eine ähnliche Schieflage des Bildungshintergrundes ließ sich auch bei den Vätern feststellen: So hatten 3,1% der deutschen Väter keinen Schulabschluss, 19,7 % verfügten über einen Hauptschulabschluss, 25,4% über die mittlere Reife und 51,8% hatten das Abitur bzw. die Fachhochschulreife erlangt. Bei den türkischen Vätern hatten dagegen 10,9% keinen Schulabschluss, 25,2% nur einen Grundschulabschluss, 31,9% einen Hauptschulabschluss, etwa 16% eine mittlere Reife und weitere 16% hatten das Abitur bzw. die Fachhochschulreife erlangt. Tabelle 1 fasst diese Angaben zusammen. Tabelle 1: Deutsche und türkische Eltern nach Schulabschluss DE n 412 nw 225 187 nm 29-61; 43,2 (5,35) Alterw 2,2% Ohne Schulabschlussw -Grundschulabschlussw 20,8% Hauptschulabschlussw 37,2% Realschulabschlussw 32,9% Abiturw 3,1% Ohne Schulabschlussm -Grundschulabschlussm 19,7% Hauptschulabschlussm 25,4% Realschulabschlussm 51,8% Abitur, Fachabiturm
TR 239 131 108 30-61; 38,2 (4,9) 12,3% 35,5% 27,5% 11,6% 7,2% 10,9% 25,2% 31,9% 16% 16%
Hier wird nunmehr beschrieben, wie Eltern ihre eigene Erziehung hinsichtlich des befragten Kindes (die Kinder bzw. die Jugendlichen waren im Durchschnitt in beiden Gruppen etwa 14 Jahre alt) einschätzen (vgl. Uslucan/Fuhrer/Mayer 2005). Die eingesetzten Erhebungsinstrumente umfassten Dimensionen wie elterliche Erziehungsstile, die Wahrnehmung dieser Erziehungsstile von den Jugendlichen, Gewalterfahrungen von Eltern und Jugendlichen etc.
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Was die Erziehungsstile betrifft, so sind hierbei die folgenden Dimensionen erzieherischen Handelns ausgewertet worden: Aggressive Strenge der Eltern, Unterstützung der Eltern, Forderung der Eltern nach Verhaltensdisziplin (Seitz/Götz, 1979) und elterliche Inkonsistenz bei der Erziehung (Krohne/Pulsack, 1995). Die Reliabilität dieser Skalen, die zwischen acht bis zwölf Items umfassen, variiert zwischen Cronbach’s Alpha = 0,70 und 0,85 für die Elternversionen in beiden Gruppen, zwischen 0,73 und 0,85 in den beiden Jugendlichengruppen und waren als relativ zuverlässig bzw. befriedigend zu betrachten. Die Items waren fünf-stufig skaliert (von »stimmt nicht« = 1 bis »stimmt genau« = 5); allen Eltern bzw. Elternteilen wurden dieselben Fragen gestellt. Gerechnet wurde jeweils mit den Skalenmittelwerten. Tabelle 2:
Elterliche Erziehungsstile (Mittelwert (M) und Standardabweichung (SD) Deutsche Eltern Türkische Eltern Mütter Väter Mütter Väter Erzieherische M SD M SD M SD M SD Dimension Aggressive Strenge 1,58 0,44 1,57 0,50 1,74 0,61 1,75 0,63 Unterstützung 4,25 0,44 4,01 0,53 4,17 0,67 3,90 0,66 Verhaltensdisziplin 2,68 0,62 2,57 0,59 3,71 0,77 3,47 0,74 Inkonsistenz 1,75 0,49 1,83 0,58 2,04 0,62 2,06 0,63
Tabelle 2 zeigt, dass der Erziehungsstil »aggressive Strenge« bei türkischen Müttern und Vätern stärker ausgeprägt ist als bei deutschen Eltern. Diese Differenzen sind sowohl bei den Müttern als auch bei den Vätern signifikant. Was die elterliche Unterstützung betrifft, so berichten zum einen in beiden Gruppen Mütter von einer stärkeren Unterstützung ihrer Kinder als Väter und zum anderen ist das Unterstützungsverhalten deutscher Eltern tendenziell stärker ausgeprägt als dasjenige türkischer Elternteile. Deutlich stärker ausgeprägt sind dagegen die Forderungen nach Verhaltensdisziplin: Hier zeigt sich, dass in beiden Gruppen Mütter mehr Wert auf diszipliniertes Verhalten legen. Ferner wird aber auch erkennbar, dass die Unterschiede nicht zwischen den Elternteilen, sondern zwischen den ethnischen Gruppen liegen: Türkische Eltern verlangen von ihren Kindern in deutlich stärkerem Maße ein diszipliniertes Verhalten in der Öffentlichkeit. Hinsichtlich des inkonsistenten Erziehungsstils fällt dagegen auf, dass in beiden Gruppen Mütter von einem konsistenteren Erziehungsstil berichten als Väter. Jedoch weisen hier türkische Elternteile höhere Inkonsistenzwerte auf. Allerdings ist hier, bevor unreflektiert lediglich ethnische Hintergründe als Gewaltrisiken betrachtet werden, vor Augen zu führen, dass sich die vergli-
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chenen Eltern insbesondere nach ihren Bildungsvoraussetzungen auffallend stark unterscheiden. Ein Vergleich deutscher und türkischer Eltern, bei dem der Bildungshintergrund parallelisiert wurde – so wurden bspw. nur Eltern in die Analyse einbezogen, die einen Hauptschulabschluss als höchsten Bildungsabschluss haben –, brachte folgende Ergebnisse: Tabelle 3:
Elterliche Erziehungsstile in Abhängigkeit vom Bildungshintergrund: (Referenzkategorie: Hauptschule als höchster Bildungsabschluss); Mittelwerte (M), Standardabweichungen (SD) und Stichprobengröße (N)
Erzieherische Dimension Aggressive Strenge (M) Unterstützung (M) Verhaltensdisziplin (M) Inkonsistenz (M) Aggressive Strenge (V) Unterstützung (V) Verhaltensdisziplin (V) Inkonsistenz (V)
n
Türkische Eltern M SD
n
Deutsche Eltern M SD
F
p
33 35 36 32
1,67 4,22 3,51 1,94
0,54 0,70 0,83 0,48
46 47 46 44
1,86 4,11 3,00 2,03
0,54 0,47 0,52 0,55
2,44 0,82 11,74 0,60
0,12 0,36 0,00 0,43
32 30 36 34
1,77 3,97 3,83 2,11
0,73 0,63 0,68 0,61
36 38 38 37
1,80 3,95 3,09 2,08
0,69 0,60 0,66 0,74
0,32 0,00 22,0 0,02
0,86 0,92 0,00 0,88
Nach Kontrolle des Bildungshintergrundes wird also deutlich, dass dysfunktionale Erziehungsmuster in türkischen Familien zurückgehen bzw. bei deutschen Familien, die nur über einen Hauptschulabschluss verfügen, noch stärker ausgeprägt sind (Tabelle 3). So ist denkbar, dass türkische Eltern mit einem Hauptschulabschluss gegenüber ihrer eigenkulturellen Referenzgruppe über durchschnittliche bis hohe Bildung verfügen, da in der Türkei aufgewachsene Elternteile vielfach nur über einen Grundschulabschluss verfügen, während deutsche Eltern mit nur einem Hauptschulabschluss im Vergleich zu der (deutschen) Gesamtbevölkerung eher zu den Bildungsverlierern zählen (vgl. Uslucan 2008). Deutlich wird an den zuletzt präsentierten Daten, dass vergleichende Studien – um aussagekräftig zu sein – den Forderungen der Intersektionalitätsanalyse als einer grundlegenden Strategie sozialpädagogischer Reflexion gerecht werden müssen. Gemeint ist damit, den gleichzeitigen Einfluss von Geschlecht, Ethnie und Schicht und ihre Verflochtenheit miteinander zu untersuchen, um keiner falschen Homogenisierung zu erliegen. Die Anforderung dabei ist also, dass stets mehr als eine Differenzlinie betrachtet wird, denn soziale Gruppen sind vielfach heterogen (vgl. Leiprecht/Lutz 2006).
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Handlungsempfehlungen 1. Eindeutig zeigt die Forschung, dass die in den ersten beiden Lebensjahren etablierte sichere Mutter-Kind Bindung eine bedeutsame Entwicklungsressource darstellt. Dieser Befund sollte in Erziehungs- und Familienberatungsstellen, Jugendämtern etc., insbesondere gegenüber Migrantenfamilien und -müttern stärker kommuniziert werden. Bei dieser Gelegenheit sollte auf die Gefahren einer Bindungsstörung durch unreflektierte »Verfrachtungen« des Kindes – je nach ökonomischer Situation- in die Heimat, zu den eigenen Eltern, Verwandten etc. hingewiesen werden. Vielfach fehlt Eltern ein Wissen um Entwicklungsgesetzlichkeiten, Entwicklungstempo und sensible Phasen in der Entwicklung des Kindes. Eine solche Beratung ist wichtig, weil die Auswirkungen unsicherer Bindung nicht auf die Kindheit begrenzt bleiben, sondern auch in der Jugendphase wirksam sind. Unsicher gebundene Jugendliche zeigen weniger Ich-Flexibilität, negatives Selbstkonzept, stärkere Hilflosigkeit und Feindseligkeit (Seiffge-Krenke/Becker-Stoll 2004). 2. In der pädagogischen Praxis können durch die Verbesserung der Erziehungsqualität der Eltern resilienzfördernde Wirkungen erzielt werden. Dazu sollte dem Kind bspw. systematisch beigebracht werden, eine aktive Problembewältigung zu betreiben, indem das Kind bei auftretenden (mit eigenen Kompetenzen lösbaren) Problemen dazu angeregt wird, diese nicht zu verleugnen oder zu vermeiden, sondern auf diese zuzugehen. Dadurch kann eher das Gefühl der Selbstwirksamkeit, also das Gefühl der eigenen Kontrolle über die Entscheidungen, erworben werden. Das kann wiederum durch einen systematischen Einbezug des Kindes in Entscheidungsprozesse und durch die Verantwortungsübernahme des Kindes gefördert werden. Auch hier gilt es, Migranteneltern die Bedeutung der Einbeziehung eines Kindes in familiale Entscheidungsprozesse zu verdeutlichen und bei ihnen die zum Teil vorherrschende traditionelle Haltung »es ist doch noch ein Kind« zu überwinden. Insbesondere gilt es, die vielfach fehlende Erziehung zur Selbstständigkeit in der frühen Kindheit – insbesondere bei Söhnen – zu thematisieren: Diese Haltung hatte historisch ihre Berechtigung (Kindheit aufgrund einer hohen Säuglings- und Kindersterberate als eine fragile Phase und deshalb kaum Belastungen für das Kind), schränkt aber unter gegenwärtigen Bedingungen die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder ein. (Migranten-)Eltern soll die eindeutige Botschaft vermittelt werden: Verwöhnung durch mangelnde Selbstständigkeitserziehung ist nicht nur ein Zuviel an Liebe, sondern auch ein Zuwenig an Zutrauen zum Kind.
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3. Häufig betrachten insbesondere muslimische Eltern die komplette Assimilation ihrer Kinder an deutsche Lebensverhältnisse mit größter Sorge, befürchten eine völlige kulturelle und religiöse Entfremdung und versuchen, dieser mit einer intensiven religiösen Werteerziehung beizukommen. Jedoch ist hier zu verdeutlichen, dass zwar das Aufwachsen in liberalen Gesellschaften gewisse Entwicklungsrisiken für Kinder birgt (vor denen die Eltern ihre Kinder durch eine starke religiöse Erziehung zu schützen versuchen), jedoch ist die Frage zu stellen, ob und inwiefern religiös geschlossene Gruppen bestimmte Risiken (Drogen- und Alkoholgebrauch, Traumatisierung durch elterliche Scheidung etc.) nur senken, indem sie die Auftretenswahrscheinlichkeit für andere Risiken (rigide Persönlichkeit, geringe Autonomie im Denken etc.) erhöhen. Diese Gefahren einer Abschottung und Isolation werden natürlich größer, je weniger authentische Kontakte und persönliche Bekanntschaften mit deutschen Familien stattfinden. Dann wird die Möglichkeit einer Gegen-Erziehung – hier verstanden als Erziehung gegen explizit westliche bzw. für westlich gehaltene Werte – wahrscheinlicher. Eine überbehütend-kontrollierende Erziehung ist in der Regel die Folge, was die Entwicklung und Entfaltung der Kinder einschränkt. Hier sollten Erziehungsinstitutionen wie Kitas und Schulen für größere Transparenz ihrer erzieherischen Ziele sorgen, denn vielfach existieren unter Migranteneltern verzerrte Erziehungsvorstellungen über »typisch deutsche Erziehung«. Dabei entsteht eine Fehldeutung der frühen Selbstständigkeitserziehung als »kalte und lieblose Haltung« zum Kinde, was diese Mütter eher animiert, »krampfhaft« an den eigenen, zum Teil dysfunktional gewordenen Erziehungsmustern festzuhalten. Diese Formen der ethnischen bzw. religiösen Einkapselung sind – und das sollte mit Nachdruck festgehalten werden – nicht ausschließlich ein Spezifikum von Muslimen in Deutschland, sondern sind bspw. auch sehr stark in der griechischen Migrantencommunity in Deutschland zu beobachten (vgl. Boos-Nünning/Karakaolu 2005). Die Familienforschung zeigt, dass die größte Traditionalität und geringste Flexibilität bei der Rollen- und Aufgabenverteilung bei jenen türkischen Familien vorzufinden ist, bei denen der Mann zuerst eingewandert ist (Pionierwandererstatus). Dagegen zeigen sich solche Familien deutlich flexibler und gleichberechtigter, die von vornherein gemeinsam eingewandert sind und sich bereits sehr früh in Deutschland aufgrund gleichen Wissensstandes gemeinsam abstimmen und kooperieren mussten. Am konfliktträchtigsten zeigen sich jene Fami-
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lien, bei denen die Frau zuerst eingewandert ist. Dieses Muster löst vermutlich bei Männern noch stärkere Rolleninkonsistenzen aus (Seiser 2006). Daran anschließend scheint für eine gelingende Integration die Frage wichtig zu sein, von wem die Entscheidung ausging, das eigene Land zu verlassen und nach Deutschland zu kommen: Vom Individuum selbst, vom Partner, von den Eltern etc.? Je nachdem, wie stark der Einzelne in die Migrationsentscheidung selbst eingebunden war, ist auch mit unterschiedlicher Verantwortungsübernahme für den Erfolg der Migration zu rechnen. So kann bspw. eine unfreiwilllige Migration – etwa als Jugendlicher – als Hinweis auf eine starke hierarchische Familienform gedeutet werden, was eine Integration erschwert, während die Freiwilligkeit der Migration Offenheit für neue Erfahrungen signalisieren kann. Aber auch eine unfreiwillige Migration etwa als Flüchtling kann Schwierigkeiten bereiten, weil eine Vorbereitung im eigenen Land in der Regel fehlte (Silbereisen/Schmidt-Rodermund 1999).
Methodische Probleme Methodisch gilt es, sich von verallgemeinernden Vorstellungen wie z.B. derjenigen von »der ausländischen Familie« zu distanzieren und vielmehr auf den Einfluss und die Auswirkungen der jeweiligen Herkunft für das Zusammenleben in der Familie – aber auch für das Leben in und mit der Aufnahmegesellschaft – zu achten. So steht z.B. erwiesenermaßen fest, dass die Heterogenität innerhalb der Migranten, aber auch innerhalb einer einzelnen Migrantengruppe, wie etwa der türkischstämmigen Bevölkerung, größer ist als in der deutschen Population (z.B. ist es forschungsmethodisch geboten, eine angemessene Zahl von innerethnischen Gruppierungen wie Lazen, Kurden, Türken, aber auch innerhalb des Islams unterschiedliche religiöse Gruppierungen wie Aleviten und sunnitische Muslime in einer Stichprobe zu haben, um zu annähernd repräsentativen Ergebnissen über »die Türken« zu kommen). Die naive Annahme eines Zusammenfallens von kultureller und ethnischer Identität erweist sich als problematisch. Es kann bspw. nicht einfach von »den Türken« geredet werden. Fremd- und Selbstzuschreibungen decken sich vielfach nicht, so etwa, wenn Migranten von Deutschen als Türken wahrgenommen werden, sich selbst jedoch als Kurden verstehen. Auch ist festzuhalten, dass kaum für alle Migrantengruppen in gleichem Maße wirksame objektive Faktoren gelingender Integration vorliegen, sondern diese von sehr unterschiedlichen Aspekten wie etwa der Freiwilligkeit der Migration und dem sich daraus ergebenden Akkulturationsdruck, der kulturellen
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Distanz des jeweiligen Herkunftslandes zur Aufnahmegesellschaft etc. abhängen. So verwies Esser (1989) am Beispiel türkischer und jugoslawischer Migranten in Deutschland darauf, dass die Nationalitätszugehörigkeit mittelbare Auswirkungen auf die Ausgangsbedingungen der Migration und auf den Eingliederungsprozess, wie etwa auf Deutschkenntnisse und interethnische Freundschaften hatte, die kulturellen Unterschiede jedoch mit der Zeit ihre Wirkung einbüßten und in erster Linie schulische Bildung relevant für Sprachkenntnisse und interethnische Freundschaften wurde. Mit Blick auf die Erziehung ist aber festzuhalten, dass ein Wandel im Erziehungsstil der Migranten keineswegs dadurch hervorgerufen werden kann, dass diese nun per se deutsche bzw. die in der Mehrheitskultur gängigen Erziehungsstile übernehmen. Vielmehr besteht die Möglichkeit, dass sie sich einerseits durch den scharfen Kontrast in der Migration von den selbst erlebten harten und rigiden Erziehungsstilen distanzieren, andererseits aber auch nicht restlos das Neue übernehmen, sondern individuelle Wege und Methoden in der Erziehung der eigenen Kinder finden. Sollen die Integrationsleistungen von Migranten eingeschätzt werden, so sind selbstverständlich die bereits Eingebürgerten und damit juristisch deutschen Staatsbürger mitzubetrachten, um die tatsächliche Integrationsbereitschaft nicht zu unterschätzen, denn Einbürgerung setzt bereits ein Mindestmaß an Integration voraus. So weisen bspw. Eingebürgerte sowohl im Erwerbsleben als auch im Bildungswesen deutlich günstigere Werte auf als nicht eingebürgerte Zuwanderer: Während im Jahr 2005 die Rate der ausländischen Bevölkerung ohne Schulabschluss insgesamt bei 24% lag, betrug diese bei den Eingebürgerten nur 13,3%. Die Erwerbslosenquote der Eingebürgerten lag bei 17,8%, die der ausländischen Bevölkerung jedoch bei 22,4% (Seifert 2007). Das gilt auf der anderen Seite auch für die Deutung von binationalen Ehen als Exemplum gelungener Integration: Hier ist die Frage zu stellen, wie viele dieser Paare selbst einen Migrationshintergrund hatten; denn im Fall einer Türkin, die die deutsche Staatsbürgerschaft hat und einen Türken aus der Türkei heiratet, handelt es sich zwar juristisch, aber nicht de facto um eine binationale Ehe, und auch die Kinder entstammen in einem solchen Fall nicht aus einer binationalen bzw. bikulturellen Partnerbeziehung.
Literatur Alt, Christian/Holzmüller, H. (2006): Der familiale Hintergrund türkischer und russlanddeutscher Kinder. In: Alt, Christian (Hg.): Kinderleben – Integration durch Sprache. Band 4: Bedingungen des Aufwachsens von türkischen, russlanddeutschen und deutschen Kindern. Wiesbaden: VS, S. 23-38.
Erziehungsstile und Integrationsorientierungen türkischer Familien
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A Song for Humanistic Education: Pedagogy and Politics in the Middle East1,2 Linda A. Herrera Abstract Humanistic education in the Middle East has been on the demise in past decades due to the intensification of political and economic injustices, the rise of nativism, sectarianism, and religious fundamentalisms, and the spread of neoliberal, or market-driven educational reforms. By examining the life history and pedagogy of one music educator, an Egyptian Muslim violin teacher, this study addresses aesthetic education and ways in which a cosmopolitan polity can be cultivated and humanistic principles nurtured in the young – particularly during periods of conflict and struggles for democratic change.
Introduction: The Decline of Humanistic Education If we take as a given the desirability of an education that promotes principles of respect, pluralism, rational critical inquiry, compassion, innovation, and excellence, then humanistic pedagogies should be paramount to that educational vision. However, humanistic education in the Middle East and far beyond has been on the decline in past decades due to the intensification of political and economic injustices and the invigoration of nativism, sectarianism, and religious 1 This article is republished by permission of Teachers College Record (Vol. 110, No. 2, 2008). 2 The author would like to thank the students and parents who participated in this study, with special mention to Tara Bayat. The members of the Culture and Education in Egypt working group in Cairo, the education reading group of the Institute of Social Studies, the anonymous reviewers from Teachers College Record, Susan Hack, Lila Abu Lughod, and Osman El Mahdi provided insightful critical comments on earlier drafts of this paper. A different version of this paper was published in Arabic under the title »Al-Amkanat al-Tarbawiyya: al-Musiqa wa Hudud al-Thaqafa fi Misr« [Pedagogical Possibilities: Music and the Borders of Educational Culture in Egypt] (Herrera 2003: 23-46).
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fundamentalisms.3 Yet by no means is the Middle East unique in this regard; manifestations of fundamentalism appear throughout the world from North America to South Asia; the examples, sadly, too abundant to enumerate. During periods of reactionary cultural politics, music and the arts, mainstays of humanistic education, are often targeted as being corruptive, extraneous, or irrelevant to Arab and Islamic society. Also detrimental to the humanistic project are global market-driven education reforms that privilege the human capital or economic imperative of education. With their emphasis on competition, privatization, and a decentralization of public education, testing, standards, and accountability, these global reforms undermine the notion of education for a public good (Torres 2002). This life history of a music educator, an Egyptian Muslim violin teacher, serves as a testament to the urgent need to protect and support humanistic educational spaces wherever they may occur and whatever manifestation they may take. In his Humanism and Democratic Criticism, the late Edward Said contends that the greatest threats to humanism can be found in the trilogy of nationalism, »religious enthusiasm«, and »exclusivism«. He posits that the ultimate mission of the humanist is to »offer resistance to the great reductive and vulgarizing usversus-them thought patterns of our time« (Said 2004: 50). A humanistic education, which refers to an approach to learning that is humane in that it nurtures respect and compassion and that is historical in that it consciously approaches the languages of literature, science, and the arts as an inherently collective human endeavor, is paramount to such an endeavor. Humanistic approaches to learning are not the domain of a particular culture or the outcome of a single historical trajectory, but contain universal dimensions.4 Related to the notion of a humanistic education is what philosopher Martha Nussbaum terms »cosmopolitan education«. Responding to the growing tendency for public intellectuals in the United States to support an inward-looking nationalism and patriotism, Nussbaum calls for an education that pays homage to the family and nation while simultaneously cultivating affinity to the expanse of humanity. She appeals for an education in which the student »may continue to regard herself as in part defined by her particular loves – for her family, her 3 Some of the injustices referred to here are linked to the politics of Empire. It is beyond the scope of this paper to deal in any depth with questions of Empire in the Middle East. However, for an outstanding overview of the issue, see Rashid Khalidi’s Resurrecting Empire: Western Footprints and America’s Perilous Path in the Middle East (2004). 4 In his tremendously erudite volume, The rise of humanism in classical Islam and the Christian West, George Makdisi demonstrates the influence of Arabo-Islamic culture, especially with regard to humanism and scholasticism, in intellectual cultures of the West.
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religious and/or ethnic and/or racial community or communities, even for her country. But she must also, and centrally, learn to recognize humanity wherever she encounters it, undeterred by traits that are strange to her, and be eager to understand humanity in its ›strange‹ guises. She must learn enough about the different to recognize common aims, aspirations, and values, and enough about these common ends to see how variously they are instantiated in the many cultures and many histories« (Nussbaum 1994: 5). The rationality, compassion, and leadership of the humanist is needed more than ever in a project of cosmopolitan education to confront polarizing »usversus-them« cultural politics evident around the globe. But who are the humanists and what spaces exist for them in contemporary societies? Throughout the East and the West, the humanist has historically been associated with the teacher. By teacher, we do not mean someone who transmits or deposits information in students in what Paulo Freire has famously called the »banking system« of education (Freire 1970). A teacher, rather, represents an ethical social actor inextricably involved in the vocation of education in its broadest sense. It follows, therefore, that education refers not merely to schooling – however important schools may be – but to a process whereby the dialectical acts of learning and teaching that serve an individual and public good occur in their many manifestations. It was in the context of being part of a working group on the role of the teacher in educational processes in Egypt and the region that this research was conceptualized.5 While I had initially planned to research the struggles and practices of public-sector school teachers in Egypt, I decided instead to look outside the formal school system to the life and practices of a music educator, a teacher of »Western« classical violin. I thought it important to investigate the borders of educational practice, to extend the normative understanding of who counts as a teacher, and, in so doing, to raise awareness of pedagogic struggles and educational alternatives that might go unnoticed. I also found this an opportunity to document the practices and life of someone whom I considered to be an exemplary teacher. In discussions about this research with colleagues in the Middle East and in Europe, three objections, all justified, were raised to it. To begin, some colleagues argued that music is a peripheral nongraded subject in 5 The group I refer to is the Culture and Education in Egypt Working Group (CEEWG) of the Middle East Awards Program (MEAwards), of the Population Council’s (PC) West Asia and North Africa Office, Cairo, which was under the coordination of the author (2002-2003). Some of the findings of that research were published in Arabic, Herrera (2003) and in English, Herrera and Torres (2006).
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the formal school system, the implication being that music is on the margins of the education system and of far less value than core academic subjects such as math, Arabic, and science. The second and more emphatic objection was raised on national cultural grounds: The type of music this particular educator is involved in is »Western«, a form that stands »outside our [Arab] heritage« (barra turathna) as an Egyptian colleague argued, and is therefore of little relevance to Arab and Islamic society. Thirdly, the point was raised that the study had a built-in elitist component since it deals with classical music, an art form associated with the tastes and habits of the elite. Notwithstanding the validity of the above points, I persisted with the topic due to the above-mentioned conviction of the need for research that looks outside the strictures of formal schooling toward a more expansive conception of education. Secondly, given the political moment in which this research occurred, namely on the eve of the 2003 US-led coalition invasion and occupation of Iraq, it seemed especially urgent to venture into arenas of inquiry that address culture, education, and nationalism during periods of geopolitical conflict and national and regional vulnerability. Finally, I wanted to address a widespread (but by no means universal) bias among educationists in the region that music and aesthetic education are frivolous at best, and that the study of western classical music is inherently elitist. It remains necessary to state clearly from the outset that the purpose of this study is not in any way to suggest the superiority of any aesthetic form over any other. In fact, this research could just have easily been about a teacher involved in sports, literature, or theater. Due to the simple fact of the author’s interest in music education and her experience with the teacher under study, it is about a violin teacher. The life history of a music educator is intended to serve as a prism through which to explore larger questions about the challenges facing humanistic and aesthetic education in the Middle East during a period characterized by geopolitical conflict, reactionary cultural politics, and struggles for democratic change.
Life History and Educational Practice The life history of a teacher allows for an investigation of the familial, historical, sociopolitical, cultural, and institutional influences and conditions that contribute to an educator’s formation and pedagogic practices. More than a mere product of his or her times, a teacher can also motivate change and alternative ways of interacting in the world. In their volume, Lives in context: The art of life history
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research, Cole and Knowles (2001) stress the importance of context and relationality when setting out to conduct a life history. As they reflect: »Lives are never lived in vacuums. Lives are never lived in complete isolation from social contexts […]. To be human is to experience ›the relational‹, no matter how it is defined, and at the same time, to be shaped by ›the institutional‹, the structural expressions of community and society. To be human is to be molded by context« (Cole & Knowles 2001: 22). Profiling an educator working within a humanistic tradition during a period when that very tradition is under threat can provide a way of identifying – with the aim of encouraging and nurturing – these much needed pedagogic spaces. Life history, as Cole and Knowles also posit, obliges the researcher to approach the study with reflexivity, recognizing her place in the construction of the narrative, and to take an ethical stance rooted in empathy, compassion, and respect toward the researched. I became acquainted with the teacher under study in 1997 when my then 5-year-old daughter enrolled in his beginners’ violin class. As a parent who is also an educational anthropologist, I regularly observed his classes – which included private lessons, multi-age and multi-ability group classes, and rehearsals at the Cairo Opera and elsewhere – with growing professional interest and appreciation. I had also been involved in the Cairo Opera since 1989 as a member of its amateur choir and intermittently as an arts reviewer. It may be argued that given my involvement in the Opera and prior judgment of the subject, I could not possibly be impartial observer, and in some sense this is correct. My aim here has not been to objectively assess the performance of this teacher in an evaluation-like exercise, but to try to understand the context in which he works and those factors that make him such an effective educator, as judged by students, parents, and colleagues.6 Hence, while I cannot lay claims to absolute objectivity, I can say that once the research began, I made a transition from casual parent-observer to formal researcher that required a different set of interactions and a sharper and more disciplined observational and interpretive lens. In 2003, I sought the teacher’s consent to be the subject of a scholarly study that would entail many hours of personal interviews and a decidedly intrusive shadowing of him throughout his various professional activities for a period of 4 months. He willingly agreed and generously gave of his time without posing any 6 Osman al-Mahdi’s reputation as an outstanding violin teacher is well established by the fact that his classes have been consistently in high demand. Similarly, he is highly regarded by his peers as evidenced by the fact that Egyptian composers Mona Ghoneim, Awatef Abdel Karim, and Khaled Shukry have all dedicated compositions to him.
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conditions. There was never a serious question of disguising his identity, although I proposed it as an option in the beginning. We always envisioned this as the history of an actual life in the social history tradition. The teacher facilitated the research process by helping me to obtain permission to enter the Cairo Conservatoire to attend his classes twice weekly, and welcomed me into his other lessons at the Cairo Opera House, where, in addition to observing classes, I interviewed students, their parents, and his colleagues. He also opened his home for me to conduct a series of tape-recorded personal interviews in five separate sittings that took place in Cairo from January to June 2003. More than a chronological rendering of his early family life, formal schooling, music education, and professional life, these interviews included reflections on the relationship between music, society, politics, and identity. In addition to formal interviews, we also held several impromptu discussions following classes and rehearsals. The interviews were translated7 and transcribed, and information derived from them was organized chronologically and topically into categories that included family life, musical life, politics and music, institutions, national identity and the arts, and pedagogy. For each category, secondary source materials were consulted to provide historical background and the necessary sociopolitical context. The teacher read earlier drafts of this paper and provided additional information, corrections to his life story, and suggestions for analysis. Skeptics of the life-history method often point to the fact that one life is not representative, and indeed they are right. But this criticism does not invalidate the method and the riches it can offer for social analysis. In defense of the method, I refer to the anthropologist Sydney Mintz who wrote a much heralded life history of a Puerto Rican sugar cane worker in 1960. He posits that life history »can do no more than offer in broad outline some of the possible meanings of social change against which the personal history of a single individual may be examined. The suggested relationships between social background and life history are intended to serve merely as hypotheses which might be proved or disproved or refined« (Mintz 1960: 270). If the hypothesis to be extracted from this life history is that educational spaces that are rooted in principles of humanism are constricting at an alarming pace, then there can be little doubt that immediate and urgent action is needed.
7 All of the interviews with Osman were conducted in English. Interviews with some of his students and their parents took place in Arabic. All translations were done by the author.
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The Arts, Global Citizenship, and the National Question »Art, it has been said, is the language of the heart, and if we teach about music, painting, architecture, and literature in schools, we ought to be doing it to help our youth understand that language so that it may penetrate to their hearts […]. We may give prominence to the arts because their subject matter offers the best evidence we have of the unity and continuity of human experience« (Postman 1995: 162-163).
One aspect of the globalizing changes in education in the past two decades has been the spiraling decline of aesthetic education. In school systems (Grades 1-8) worldwide, the total time devoted to aesthetic education – which includes arts, handicraft, dance, and music – has decreased by nearly 50% since 1980.8 The gradual erosion of the arts has occurred in part to make way for newer priorities in school curricula such as Technology and related subjects and also subjects meant to cultivate »global citizens«. Courses on Civics/Citizenship Education and Morals and Values Education that provide a fixed set of »global citizenship« lessons and principles in an often mechanistic manner may not be best suited to preparing the young to confront the complexity, interrelatedness, and confusion often associated with contemporary life.9 Reflecting some of the ideas of Howard Gardner on multiple intelligences (1993), Maxine Greene relates that aesthetic education allows the young to develop different creative and intellectual capacities that »find articulation not only in verbal and mathematical languages, but also in languages of imagery, movement, and musical sound« (Greene 1995: 57). She further elaborates on the transformative and even utopian potential of the arts when she suggests that young people, »once they are open, once they are informed, once they are engaged in speech and action from their many vantage points, they may be able to identify a better state of things – and go on to transform. Sometimes, I believe it is our only hope« (Greene 1995: 59). Aesthetic education can also serve the interest of peace building. In the specific context of the Arab states, a UNESCO conference was held on the premise that arts education aided in the »building of the culture of peace«, and as such recommended that more time be devoted to creativity and arts education in schools (UNESCO 2002: 2). Despite lip service to the importance of the arts, aesthetic education in schools in the Arab states occupies a marginal place. The neglect arises partly from the exam-driven and inflexible nature of school 8 See the survey documenting major subject areas in official curricula worldwide by grade level (Benavot 2004: Tables A3, A4, and 10). 9 This observation is based on a comparative textual analysis of Morals and Values curricula (from the years 2003-2005) currently being undertaken by the author.
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systems. In Egyptian schools, for example, teachers and school administrators often express a reticence to »waste time« on mandatory music lessons, since music does not count in a student’s overall grade-point average. The precious little time allotted for instruction, they argue, should be spent preparing students for their exams.10 Islamist educators may even evade music instruction on religious grounds and attempt to eliminate musical instruments from schools altogether, claiming an incompatibility between music and Islam (Herrera 1999). Given the impediments to music instruction in formal schooling, alternative educational spaces such as cultural centers should be interrogated as places where aesthetic education can thrive. Cultural centers and clubs for arts instruction, production, and performance – both »foreign« or »indigenous« – have long been a part of the urban cultural landscape in the Middle East.11 Such centers, whether private or state-run, whether housed in a modest community hall, a room in a teacher’s private home, an after-hours school auditorium, or a large national theater, provide alternative educational and pedagogic spaces. A notable example of one such venue for aesthetic education has been the new Cairo Opera House (Dar al-Obra), which, since its opening in 1988, has served not merely as a professional performance venue, but as a public, accessible center for arts education, amateur performance, and international exchange. Funded through a grant by the Japanese government, the Opera represents an example of how cultural institutional building can constitute a component of international development. With its mandate for public outreach and international cultural exchange, the present opera house stands in clear distinction to its predecessor, the Khedival Opera House of 1869, which was destroyed by fire in 1971. That opera house, built by order of Khedive Ismael on the occasion of the opening of the Suez Canal for which Giuseppi Verdi composed his opera Aida, was largely the meeting place of the aristocracy and local and foreign elites. The new opera, in contrast, contains classrooms, art galleries, an outdoor theater, a small and large performance hall, museums, and public gardens. Inaugurated on October 10, 1988, as The Education and Culture Center (al-Markaz al-Thaqafy al-Ta’alimy)
10 While there is no precise data on just how many schools in Egypt offer music classes, a group of researchers who participated in the previously mentioned Culture and Education in Egypt Working Group all reported that music rooms in the schools they visited were either being used as storage rooms or extra classrooms for the core subjects. School administrators consistently explained that there was no time in the day for music. 11 While a history of art and culture centers in the Middle East region would make for a fascinating study, it is beyond the scope of this paper.
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with a Japanese Kabuki performance, the cultural exchange aspect of the center was well demonstrated. Yet it did not take long for the intended cosmopolitan quality of the opera house to be overshadowed by nationalist tendencies. The Ministry of Culture formally changed its name from The Education and Culture Center, to the National Cultural Center (al-Markaz al-Thaqafy al-Qawmy). The replacement of »Education« with »National« represents more than a semantic change; it reflects an insistence on the primacy of the national over the educational, particularly when the education in question is supposed to advance a form of cultural interaction and exchange that transcends mere national allegiances. While nationalism per se is not necessarily an impediment to cosmopolitanism or humanistic education, the problem arises when nationalism takes a turn into »nativism«, or a defensive posture against the »other«. One manifestation of nativism has been the denegration and politicization of aesthetic forms deemed »outside« the national culture. The so-called Western cultural forms – whether relating to literature, cinema, fashion, or music – usually due to their associations with colonialism and imperialism, often get maligned as being inimical to Arab and Islamic culture. Examples of bans, censorship, and lack of official support for perceived exogenous cultural forms are rife, but they seem to peak during periods of political repression at home, and also as a response to threats or actual attacks on national or regional sovereignty.12 Whereas nationalism represents a legitimate unifying response to outside threats, problems arise as mentioned earlier when nationalism turns into nativism, or what Said has cogently described as, »the idea that there is some horribly troubling present-day situation from which you must escape and find solace in a pure essence back there in time […]. [This] automatically […] means tyranny and suffering for the designated and excluded others« (Said in Viswanathan 2001: 175-176). The forms of tyranny and suffering can occur in varying degrees and a myriad of ways, ranging from the persecution of minorities and members of political opposition groups to the constriction of cultural spaces. Some of the murky questions surrounding nationalism, imperial politics, and exogenous cultural forms came to the fore in a modest but telling manner in the context of the opera’s Talent Development Center (Markaz Tanmiyet al12 Iran provides a more recent example of this form of cultural exclusion. In December 2005, the hardline President Mahmoud Ahmadinejad announced on state broadcasts a ban on Western music, including classical music, reiterating Ayatollah Khomeini’s sentiments on »westoxication« (New York Times 2005).
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Mowahib). This public outreach program offers an array of classes including an Arabic choir, classical ballet, Suzuki violin, the oud, and flute, to amateurs for a modest fee of roughly $20 per month. The Suzuki violin class has clearly been one of the Center's more successful programs. The Suzuki method, a childcentered approach to musical literacy and performance, was developed in Japan by the renowned Dr. Shinichi Suzuki (1898-1998) and made its way to Egypt as part of the Japanese cultural exchange.13 From its inception, the Suzuki violin program in Cairo has constituted a local space for excellence, as evidenced by the prizes awarded its students, critical acclaim of it public performances, rising demand for the class, and kudos for its principal teacher, an Egyptian violinist trained in the method in Japan. Despite its growing popularity, in 2003, within a context of rapidly declining support by the Opera administration for »nonArabic« music and a charged anti-Western political environment as the US-led coalition wars waged in Afghanistan and Iraq, the Suzuki violin class began losing institutional support and was in danger of being cancelled. The class, even though based on a Japanese method, was relegated by its detractors as representing an expression of Western culture.14 Through the lobbying of parents and musicians and, more especially, the efforts of its principal teacher Osman El Mahdi, the Suzuki class survived and, in fact, continues to thrive. Yet educational and other spaces that are perceived as being outside national or Islamic culture are in a perpetual state of threat. It is due to individuals and institutions committed to preserving these spaces that societies resist the impetus toward an implosive nativism, and it is here where the humanist educator plays a pivotal role.
13 Dr. Suzuki developed what he called the »mother tongue« method in musical instruction. Following the logic of children’s language acquisition, he advocated that children first learn to listen, absorb, and imitate music before learning its formal rules. According to the Talent Association of Australia, Suzuki’s goal was to »embrace the whole child, nurturing a love of music and the development of a fine character rather than just the mastering of a musical instrument. Suzuki called his idea 'Talent Education’ and soon established a school in Matsumoto. Talent Education refers to the development of skill, knowledge and character. Suzuki took a great deal of time and care developing the repertoire, which presents technical and musical concepts in a logical sequence«. The Suzuki method, which began in Japan, in 2003 included over 8,000 Suzuki teachers and more than 250,000 children learning it worldwide (Talent Association of Australia 2003). 14 It is worth noting that Western classical music is an eclectic form that draws on a vast resource of secular and spiritual musical traditions from the East and the West that includes, as musicologist Estelle Jorgensen points out, »the musics of Eastern Orthodoxy and Judaism, and […] the secular musics of Middle Eastern and Northern African countries in which Islam took hold« (Jorgensen 2003: 134-135).
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There is perhaps no better way to illustrate the struggles taking place at the intersection of culture, politics, nationalism, and education than through the life history and pedagogy of an educator who straddles multiple and overlapping cultural spaces and communities.
»A Perfect State of Mind«: The Education of an Educator Born in the cosmopolitan city of Alexandria in 1958, Osman El Madhi’s family life and education reflect larger transformations that occurred in Egypt and the region in the decades of the 1950s to the 1980s.15 His father, the son of a railway employee, was raised in a modest family from Cairo who traced their roots to Upper Egypt. Through sheer hard work and brilliance as a student, he completed medical school and enjoyed an accomplished career as a surgeon. His mother, the daughter of Mahmoud Khaïry Pasha, the first Chairman of the Young Muslim’s Association in Alexandria (Jama’iyyat al-Shobban al-Moslemeen), a Muslim equivalent of the YMCA/YWCA, had a more aristocratic pedigree. Her grandfather and Osman’s namesake, Osman Mortada Pasha, was the director of the private administration of Khedive Abbas Helmi II (1892-1914) (see Sonbol 1996: 274). Osman’s parents initially met as doctor and patient and ended up as husband and wife. By the time the El Mahdys married in the mid-1950s, the socialist pan-Arab government of the Free Officers was firmly in power and the Egyptian monarchy a vestige of the past. During this period of Arab socialism, members of social groups who traditionally had very limited access to positions of power and prestige experienced mobility.16 The old elite, including the landed aristocracy and cosmopolitan business community, significantly lost positions of power and wealth through a process of land sequestration and nationalization of businesses.
15 The cosmopolitanism of Alexandria was legendary and immortalized in works of art and fiction such as Lawrence Durrell’s Alexandria Quartet. But the city’s cosmopolitanism, as Sami Zubaida reminds us, flourished in an imperial context and was steeped in layers of exclusions and segregation. As Zubaida relates, »Cosmopolitan Alexandria […] included a rigorous system of exclusions for native Egyptians, including segregation or exclusion on buses and trams, and certainly from clubs, some bars and cafés and many social milieux. Native Egyptian society provided servants, functionaries and prostitutes for the cosmopolitan milieu« (2002: 37-38). André Aciman’s autobiographical history of the de-cosmopolitanization of Alexandria, Out of Egypt (1994), with its absence of native Egyptians except in the roles of servants and odd characters, confirms Zubaida’s observation. 16 See Galal Amin (2000) for a discussion of how social mobility has contributed to social change in Egyptian society in the last half century.
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Although largely outside the new political and economic structure, the old elite maintained a cultural link to their past through continued patronage of their mainly Christian missionary foreign schools. It followed, therefore, that Osman’s mother who attended the French Catholic schools, Collège de la Mère de Dieu and Sacré Coeur, opted for Christian French schools for her children. Her husband, a product of Egyptian government schools and a devout Muslim who made a point of regularly reading the Quran with his children, fully supported his wife’s choice of schools. When I remarked that his father must have been a tolerant man, Osman responded, »Back in the 1960s, especially in Alexandria where there was such a cultural mix, we didn’t even think about being tolerant or not being tolerant. It was a natural thing for us«. Osman attended the reputable and architecturally majestic St. Mark’s, a boys’ French Catholic school overlooking the Mediterranean Sea and established in 1928. In keeping with its reputation as a strict Catholic school, teachers instilled a rigorous work ethic in students and continuously pushed them to perform at their best ability. Osman explains: I don’t know if you know how it works in Catholic schools, but it is a very strict way of educating children.17 There are no compromises about many things. It has its negative side, but the positive side is that from a very young age you [learn that you] can’t do things half way. You have to go all the way and you always have to try to do your best, even if it’s not perfect, but it has to be your best. This is something that has remained with me from school.
When Osman began his studies at St. Mark’s, he remembers mixing on a daily basis with Muslim and Christian students of different denominations from Egyptian, Italian, Greek, Lebanese, Armenian, and Syrian backgrounds. It was normal for students to be fluent in two to four languages. Yet with the exodus of large portions of many foreign communities from Egypt throughout the 1950s and 1960s, foreign schools underwent a gradual process of what can be called »de-cosmopolitanization«, accompanied by »Arabization«.18 Not only were students proportionately more Egyptian, but new education laws brought the foreign schools under the regulations of a centralized Ministry of Education to ensure that they did not deviate from the Arab nationalist path. While a student at St. Mark’s, Osman recalls comfortably developing his Muslim identity while also participating in Christian activities and celebrations, 17 Having attended 13 years of Catholic school in San Francisco, California, the first 9 of which were in a French Catholic school, I assured him I understood perfectly well the type of education he was describing. 18 Not unlike what occurred in Alexandria, Istanbul experienced its own de-cosmopolitanization and Turkification, as portrayed in Orhan Pamuk’s Istanbul, memories of a city (2005: 215).
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the most notable being Easter and Christmas.19 Among his most cherished activities was participating in the church choir; his family regularly attended the high Christmas mass that, Osman recalls, »we [Christians and non-Christians] all enjoyed together«. The religious and cultural mixing that took place in the 1960s and 1970s gave way to divisions by the 1980s that persist in ever-changing manifestations to the present. One such indication of how political-cultural changes have penetrated the school can be found in a school policy dating to the 1980s that forbids nonChristians from joining the choir. The school’s outgoing principal and choir director, Father George Absi, explained how the school administration felt compelled to change the choir policy due to »outside pressure«. When today’s Egyptian sees a Muslim boy singing in the choir, he explains, »they misunderstand this and it can cause a lot of problems« (Father George Absi, personal communication, May 5, 2003).20 In conjunction with his school-based studies, Osman pursued a parallel music education after school hours at the Alexandria Conservatoire. He began violin lessons in 1964 at a time when classical violin, piano, and ballet were flourishing in Egypt as a direct consequence of the country’s political, military, economic, and cultural exchanges with the former Soviet Union. Given the cultural and linguistic differences between Soviet teachers and Egyptian students, they did not always share a common verbal language, but managed to communicate with a mixture of Arabic, French, sign language, and »anything else that might help«. Osman studied violin with a succession of outstanding Soviet teachers from Armenia, Georgia, and Azerbaijan who exerted a lasting influence on musical education and performance in Egypt. They prepared their students to eventually staff and run their own music institutions. By the time Osman reached the critical last year of secondary school in 1974, he had completed 11 years of parallel intensive musical training. He began considering the possibility of pursuing a career in music, a plan entirely vetoed by his family. They put pressure on him to follow in his father’s footsteps and study medicine, making the case all the more forcefully since his father had suddenly and tragically died when Osman was 12 years old. His mother dreamed 19 In its earlier years, the policy at St. Mark’s was to allow Muslim boys to attend what at that time was a boarding school, but to keep practices and signs of Islam at bay. A student boarder from the 1940s recalled that Muslim students were not allowed to fast during the holy month of Ramadan. By the 1960s, the school administration embraced a principle of religious pluralism, not merely because of legal obligations to do so, but due to a seeming change of attitude regarding religious education. 20 The author interviewed Father George Absi on May 5, 2003 at St. Mark’s School, Alexandria.
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that Osman would continue her husband’s work and reopen his medical clinic. When Osman scored high enough on the university entrance examination, the thanawiyya amma, to enter the Faculty of Medicine, he resolved to study medicine and enrolled at Alexandria University, albeit with a slightly heavy heart. In 1975 when Osman entered the university, it was in the early throes of the Islamist student movement.21 He was unprepared for what he calls »this terrible change in the logic of things«. He entered the Faculty of Medicine along with 16 boys from St. Mark’s and 8 girls from sister French schools. They naturally provided a support group for each other and the boys felt some sense of responsibility for their female colleagues. Every day, two boys from the St. Mark’s group met at the lecture theater 3 hours in advance of the lecture at 6:30 a.m. to reserve seats for their entire group since there was fierce competition among the 1,500 students for the some 700 available seats. The mixed-sex group sat together but noticed hostile looks from other students. It was not long before certain male classmates took it upon themselves to »advise« Osman and the other Muslim boys from his group that they should not be sitting with Christians, and certainly not with girls. Stunned and offended by their mentality, Osman recalls, »Of course I never listened to them. We were all friends. We spent 12 years together at school and we have remained friends until today«. By his second year, the university’s Student Union, controlled by the militant Islamic organization, Jama’at Islamiyya, instituted sex segregation in lecture halls, forcibly ending the mixed-sex seating arrangements. Another medical student at Alexandria University at the time recalls how Islamist students, with the support of the university administration, prohibited a range of student cultural activities from taking place. They stopped, for example, a student-initiated film festival on the grounds that the themes of the art-house European films went against the tenets of Islam since they were foreign, or »not from our culture«. They also refused to issue the necessary authorization for an annual student sponsored mother’s day celebration because it promoted the »unIslamic« activities of singing and dancing, albeit between students and their mothers. Islamist student leaders were especially hostile to pop music and Western classical music, claiming that those forms were alien to the Egyptian/
21 According to the French sociologist Giles Kepel, »The jama’at islamiyya were the Islamist student associations that became the dominant force on Egyptian university campuses during Sadat’s presidency. Although they were at first a minority within the Egyptian student movement (then dominated by the Nasserist and Marxist currents) that arose just after the country’s defeat in the 1967 war, the Islamist students made their breakthrough during the relative calm that prevailed in the campuses after the October war of 1973« (1985: 129).
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Islamic culture, and therefore culturally polluting (personal communication, Dr. Ibrahim Karbouch, May 2003).22 Within this reactionary cultural climate, a group of staff and students from the medical faculty organized regular on-campus classical concerts in which Osman often participated. Although he was not political in the sense of being involved in organized student politics, the very act of joining in classical music concerts and other artistic activities at that time assumed a political quality; it represented an insistence on preserving those cultural spaces that were being threatened. After 10 years of intensive medical studies, which included a residency in urology, Osman become a fully certified medical doctor. On the dawn of his new career, he made the unequivocal decision to pursue his preferred vocation: music. Until today, when he explains to Egyptians that his honorific »Doctor« derives from a medical degree, not a doctorate in music, and that he left medicine for a full-time career in music, they usually express a sense of disbelief. They are astonished that someone could abandon medicine, the most prestigious of professions, for music and teaching – two vocations of considerably less social value and economic reward. On numerous occasions he has been asked, »How? Why? Surely what you mean to say is you’re doing music for fun, as a hobby?« He adds, only half joking, »I think many people think I’m not in a perfect state of mind!« Yet his decision to devote his professional life to musical study, performance, and education comes from a deeply rational understanding of music as a valuable endeavor, both for the individual and for society. Like science, music in all its complexity and beauty provides the potential to develop one’s perception and understanding of the world.23 He explains: »Music and the arts in general do change a lot in the personality. If we speak of music, the mere fact of knowing not only the music of your own country but of having some idea about the music of other countries or other cultures, allows you to have a broader understanding [of the world]. Music makes you a different person. Even listening carefully to a piece of music can enhance your perception. It is a very important part of the educational process and I do believe it is an important thing to teach«.
In 1985, Osman enrolled at the Geneva Conservatoire in Switzerland where he majored in chamber music and supported his studies by playing in different 22 Interview with Dr. Ibrahim Karbouch in Alexandria, May 2003. 23 Indeed throughout history, music has been an integral part of scientific study. The ancient Greeks studied harmonics, a subject that combined music, arithmetic, astronomy, and geometry (Postman 1996: 103). Similarly, in the time of medieval Islam, music was »studied by the scholars and favored by the Sufis« although it did not make up a formal, independent subject of school curricula (Dodge 1962: 87).
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chamber orchestras and taking on private students. The rich cultural life of Geneva with its year-round musical events provided an exhilarating auxiliary education for students as did the high regard locals exhibited toward musicians. The differential treatment the Swiss exhibited towards Osman the musician versus Osman the eastern male foreigner pressed upon him the role of the musician as a cultural bridge. He recalls: »I will tell you something that used to happen to me in Switzerland that I will never forget. I look very Middle Eastern, no doubt about that, and the Swiss tend to be reserved [with foreigners]. I used to take public transport regularly in Geneva and when I was without my violin nobody ever sat next to me. When I had my violin, people had a completely different attitude. Someone would invariably sit next to me and start up a conversation by asking, ›Is this a violin? Are you a musician?‹ This would almost always lead to, ›Where are you from? Ah Egypt! It is my dream to visit it one day!‹ So they dream of visiting Egypt but wouldn’t sit next to me, because of the fear of [Arab/Muslim] strangers! The only thing in common was music as represented by the violin I was holding! This is to tell you that there the musician is seen as someone who is doing something special and is considered someone worth knowing and talking to«.
Although work opportunities were available in Switzerland, Osman did not consider making a career for himself abroad. By his third year in Geneva, he began feeling pangs of homesickness that rose to an acute level by the end of his fourth year. On completing his master’s degree in 1989 with a specialization in string quartets, Osman returned to Egypt to pursue the career of a professional musician. Like many musicians, Osman divides his time between teaching and performing. He joined the Cairo Symphony Orchestra as a first violinist in 1989, and in 1993 moved to the Cairo Opera Orchestra as first violinist and concertmaster. From 1989, he has been teaching at The Cairo Conservatoire. In 1993, he was selected to attend a workshop on the Suzuki method, and he subsequently attended a training session in Japan and became principal teacher of the Suzuki violin class at the Cairo Opera House.
Toward a Humanistic Pedagogy Osman’s experience with institutions and educators from Egypt, the Arab world, the former Soviet Union, Japan, and Europe have culminated in his forming an eclectic pedagogic style and philosophy about teaching. Taken as a whole, his style can be characterized as humanistic, but what does this mean and how can a humanistic pedagogy be practiced? The purpose here in describing a teacher’s pedagogy is not to compile a best-practice model that can be codified in a »howto« manual for teachers. Rather, it is to provide an overall portrait of a pedagogic style that can guide educators to thinking about how to work with the young in
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ways that can nurture in them qualities and competencies of excellence, openness, fairness, reflexivity, and compassion. All Osman’s students are expected to follow certain basic ground rules from the time they begin studying violin from as young as 4 years old: Students – not their parents – should carry their violins; they should come to class prepared; they should respect their fellow classmates; and they should arrive to class on time. The general standards for classroom behavior are set by his example. Osman arrives to class 5 minutes early, casually but neatly dressed with his shoes always immaculately polished, exuding an air of respectful informality combined with precision. He opens his violin case and meticulously removes his violin, tunes it, and carefully places it atop the room’s grand piano. Immediately thereafter he sits at the piano and attends to students who form a line with their miniature violins in hand. As he takes the violin from each small outstretched hand, he looks the child squarely in the eye, smiles, tunes the violin, and returns it with another smile. One should not underestimate the power of the smile to put the student at ease. Osman tries to instill in his younger students a sense of pleasure, discernment, and discovery in music through a combination of questions, stories, and humor relating to each new piece. He often begins a lesson by telling stories about the composers, the periods in which they lived, and the circumstances of their times, locating the music in a historic context. When introducing a new piece, he begins by playing it, and then opens a discussion about the mood, tempo, and possible meaning of the music. During a lesson in which first-year students, who range in age from 4 to 8 years, hear a minuet for the first time, Osman asks what they understand about the piece. A child remarks, »It’s slow but still happy«. Another adds, »It’s old-fashioned sounding«. He listens attentively to their comments and adds, »Very good. Can you also tell that it’s dance music? It’s not pop music like we have today where everyone jumps around to a fast rhythm«, he says, shaking his head around as if to a pop song. »It’s a dance from a long time ago for people who would have danced in a beautiful, gilded hall«. He continues, »Who knows how ladies would have dressed in those fancy dance parties two hundred years ago?« After hearing some answers he continues, »That’s right, they wore big puffy dresses with lots of slips which means they couldn’t move too fast even if they wanted to. They were graceful and slow in their movement«. He moves his arms through the air in an exaggeratedly graceful fashion, causing them to giggle. Having helped them create a mental image about the piece’s tempo, he begins teaching them the piece phrase by phrase.
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As with any group, students exhibit a considerable difference in individual talents and abilities. Some invariably take longer to memorize a piece or produce a pleasing sound, whereas others learn at a faster pace and perform at a higher standard. Despite evident differences, Osman is careful not to differentiate in his treatment of students based on their aptitude, a quality that especially endears him to the parents of slower learners. A technique he uses with students of all levels, but more so with younger students, is a strategy of positive reinforcement and humor. He usually comments on an individual performance with a positive comment followed by a more critical one. To the student who produces a screeching sound and plays out of tune but is clearly making a good effort, he comments, »I can see you’ve worked very hard on memorizing the piece which is good, but you need to concentrate more on the tone«. He will then go about working with the student and might ask the class to join them in playing some relevant exercises because, as he reminds them, everyone can improve. He illustrates the principle of steady bowing by exaggerating faulty bowing in a comical way, by, for example, playing a piece with his bow sliding from one end of the violin to the other. For the more gifted student who is producing a superior sound, he will recognize her efforts by saying, »The sound you’re producing is definitely becoming more beautiful. It would be even better if […]«. At which point he will show her how to get a better sound and work with her through a passage of the music until he hears a discernible improvement. Every student, even the most gifted, is encouraged to attain greater levels of excellence. Osman acknowledges that he learned the technique of positive reinforcement later in life while studying the Suzuki method. He had previously been more influenced by his Soviet teachers who, in the method of the »old school«, exhibited more severity and criticism toward their students in an attempt to discourage any complacency and propel them to excel. He recalls that after a violin exam where he performed especially well, his teacher commented, »It wasn’t bad, but you did so and so wrong« and proceeded to produce a long list of his deficiencies. Osman explains that it was not that they were mean, on the contrary, they were »extraordinarily dedicated teachers« whom he »loved very much«. But they believed the best way to get the maximum performance from a student was through a strict regime that included unyielding criticism. With his more advanced and mature students, Osman admits that he reverts more to the »Russian« method. Another salient characteristic of Osman’s pedagogy is patience. Being the teacher of an especially difficult instrument, Osman makes every effort to instill in the learner a love of the instrument and of music, which means, especially in
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the earlier stages, to make allowances for slower learners. In one of his group classes, two students aged 9 and 10 years consistently came to class ill-prepared and produced an especially squeaky sound. They remained on the same piece several weeks after others in their class had moved ahead. Over the course of some months, they did not appear to be making any noticeable progress. Nevertheless, Osman attended to them with his characteristic high standards, scrupulous attention to detail, and encouragement as they struggled and fumbled through their lessons. While he would sometimes make grumbling sounds as they repeated the same mistakes, and gently scold them for not practicing more, he never indicated in any way that that they could not become as accomplished as anyone else. Recalling these two students, I later asked Osman if he ever had a student whom he simply did not think had what it took to continue with the violin. He responded: It’s very easy to say don’t come back if the student isn’t practicing, if the parents aren’t following up at home, and if you don’t feel that he is giving his best effort. The easiest thing to say is ›Thank you, bye-bye, see you, or try another instrument‹. But it’s not always the best choice because I have seen children that have had a very slow start and then after a while, without knowing why or when, something clicks; something happens and they start improving so fast, you can’t imagine how fast. So you have to be patient. You have to hope for this to happen during some step of their studies.
Due to his perseverance and results with students of varying abilities, Osman has gained a reputation for working with students who have been labeled »problem cases«. Within the Suzuki program, not a great deal of pressure is placed on students to progress at a fast pace, because its aim is primarily to strengthen music appreciation for mainly amateur musicians. The Cairo Conservatoire, on the other hand, places great demands on its students. Although a conservatoire may conjure an image of elitism, this public sector institute includes students from all social levels, with the majority being from modest backgrounds. It is free of charge and treated as a vocational institute for future professional musicians. At the Conservatoire, music is not an extracurricular activity but a fully graded subject and the basis from which students are expected to earn their livelihoods. Due to its competitive nature and rigorous system of formal assessment, teachers cannot allow students the luxury of developing at their own paces. In fact, if a student fails to pass his music exam at the critical stage of third-year preparatory (Grade 8), he is expelled from the Conservatoire without the option of repeating the year.
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The borderline cases barely pass from year to year without showing special promise. Such students often shift from one teacher to another, which further hinders their musical development. On several occasions, colleagues have asked Osman to take on »problem« students due to his patience and adroitness with students of all abilities. When he has agreed to accept a difficult student, he has usually – although not always – been able to nurture a musician of great promise. One of his current Conservatoire students, 18-year-old »Ahmed« is one such student. In the 3 years since Osman has been his teacher, Ahmed has gone from being perpetually on the verge of getting expelled from the Conservatoire to becoming a fine musician with an advanced musical repertoire. A major source of Ahmed’s trouble in the past was that other teachers perceived him as »difficult«, not least because of his confrontational character. He regularly questioned their judgment, was often defensive, and gained a reputation for not only being a poor musician but also an especially wearisome student. Osman produces better results with Ahmed in some measure because he allows him the space to question and discuss the music. During lessons, they often take time to analyze a passage of music and how best to interpret it. Rather than impose his will, Osman allows Ahmed scope to experiment with an alternative interpretation. Osman also pays meticulous attention to every detail of Ahmed’s playing. During their twice-weekly hour-long lessons, Osman uses the most exacting standards in assessing his student. In his tidy practice room in the Conservatoire furnished with music stands, a desk, extra violins, and hanging plants, they work through some of the most difficult music written for violin. Osman alternates between standing and sitting by his student’s side and listens to him with great intensity. He draws Ahmed’s attention to even the slightest error in an effort to heighten his awareness of the importance of every detail, all while remaining faithful to the spirit of the piece. He physically inserts himself into the piece by snapping his fingers, clapping his hands, or stamping his feet to the tempo, humming to correct the tone, and constantly reacting to his student’s performance through facial expressions and gestures. He is also quick to tackle and solve problems. When Ahmed’s playing becomes strained and his shoulders tense, Osman instructs him to slouch down in his chair with his legs sprawled out, and to play the piece from that position. He then asks him to stand up and walk around the room, while still playing. »Relax«, he tells him, »Enjoy yourself as if you’re strolling along the Nile«. Through his flexibility, meticulous attention to detail, and constant ingenuity in dealing with different problems as they arise, Osman guides Ahmed into becoming a better musician.
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The Pedagogy of Pluralism Part of becoming a fine musician is learning to work within a group in that quintessential musical institution, the orchestra. The orchestra, made up of members of different backgrounds, specializations, temperaments, abilities, ages, and experiences, can be conceptualized as a microcosm of a pluralistic society. On the parallels between playing in an orchestra and living in a democratic community, Daniel Barenboim has famously said: »If you wish to learn how to live in a democratic society, then you would do well to play in an orchestra. For when you do so, you know when to lead and when to follow. You leave space for others and at the same time you have no inhibitions about claiming a place for yourself« (Barenboim & Said 2002: 173). Yet orchestras can also perpetuate hierarchical divisions and promote separation based on rank and position. Osman strives to encourage mutual appreciation between musicians and a principle of egalitarianism. Since the act of performing music itself requires a high degree of coordination and cooperation, when some musicians exhibit a sense of superiority it can lead to a lack of balance that will ultimately harm the music, not to mention the group morale. In addition to humility and cooperation, Osman also stresses the importance of the musician remaining open to alternative interpretations. »You cannot be narrow- minded with music«, he insists, »you have to be open to other ideas or you will never be a good musician«. He encourages his students to constantly seek out other sources of knowledge and instructs them to knock on the doors of other teachers and play for them, get their feedback, criticism, and ideas. He also appeals to them to absorb as much as they can from the surrounding cultural environment by constantly attending concerts, recitals, classes, and, if they have the opportunity, to travel abroad. He continuously reminds student musicians that the more sources they consult, the greater their experience and exposure to different styles, cultures, and perspectives, the closer they will arrive at being great musicians and also finding their own voices. As a performing musician, Osman adds to the local music scene in whatever way he can. He often plays the works of lesser-known contemporary composers and premiers the works of Egyptian and other Arab composers in the repertoire of his quartet. His choices, however, are not always appreciated. Osman recalls that after the performance of Nigun by Swiss composer Ernest Bloch (18801959), an Egyptian colleague questioned why he played a piece by a Jewish composer, especially given the injustices inflicted on the Palestinians by the
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Jewish state of Israel. Osman explained that he chose it because of its merit as a piece of music, and added that not playing the piece on the basis of the composer’s ethnic or religion identity would constitute an act of bigotry, not a stand of solidarity with the Palestinian people. Yet his position on the universalism of music does not deny his strong identification as an Egyptian and an Arab, and his firm political convictions. As he explains, »As an Egyptian I do have some political ideas and sometimes I like to take a position. I believe, as most Egyptians do, that the American policy in the Middle East is very biased. As Arabs we have to convey the message that we are not happy with what’s going on«. In 2002, during the second Palestinian intifada, Osman answered a pan-Arab call to boycott American and Israeli institutions. At the time he was heading an after-school Suzuki strings program and community orchestra at the American school in Cairo. He made the decision to resign his job in protest against American foreign policy. »Some people take to the streets and demonstrate, and some others take a different approach. I chose not to cooperate directly with an official American institution«. Although he severed institutional ties, he maintained individual relations with students and also continued his volunteer position as director of the community orchestra which moved from the school to the living room of an orchestra member. Political discontent does not always find concrete outlets. In the spring of 2003, as American- and British-led forces began their invasion of Iraq and bombardment of the historic city of Baghdad, Osman arrived for his morning Conservatoire lessons with deep circles under his eyes from lack of sleep. He carried on with his classes, attentive to his students as usual, but deeply disturbed by the turn of events in the region. He expressed his distress as only the musician can; through a poignant tone of sadness that reverberated from the graceful voice of his violin.
A School for Life The metaphor of music, with its potential to forge humanistic and cosmopolitan learning communities, serves as a powerful affirmation of Daniel Barenboin’s dictum that »Music can be the best school for life« that is, if it does not become »the most effective way to escape from it« (Barenboim & Said 2002: 174). This story of a music educator is not merely meant to serve as a tribute to an extraordinary educator, no matter how merited such a tribute might be. It is not a plea per se for more music education in schools, however conducive these forms can be for the humanist project. It is not specifically an entreaty for more
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aesthetic education in community and art centers, even though such programs could yield tremendous benefits. It is not even primarily a testament to the ways in which educators confront fundamentalisms. It is, more immediately, a reminder of the urgent need for pedagogies, for educational spaces and learning communities that promote principles of respect, pluralism, rational critical inquiry, justice, and excellence. As communities in the Middle East and beyond grapple with political and economic injustices, growing sectarianism, and struggles for democratic change, it becomes ever more urgent to support and nurture those cosmopolitan educational spaces that are constricting at an alarming pace. Notwithstanding the continued salience of direct political action to redress social and political ills, an education grounded in principles of openness and humanism may be among the greatest means for confronting and overcoming the irrationalities, inequities, and injustices of our times.
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Islamunterricht im europäischen Kontext. Gibt es einen »Euro-Islam« in der Schule? Mouez Khalfaoui 1. Einführung Der Begriff »Euro-Islam« wird in Diskussionen über das gegenwärtige Leben der Muslime in Europa immer wieder verwendet. Er hat unterschiedliche Bedeutungen, die von der Position der Nutzer und dem Diskussionskontext in Bezug auf den Islam und Muslime abhängen. Bassam Tibi, der muslimische Politologe, beansprucht die Erfindung dieses Terminus und meint damit eine Brücke zum friedlichen Zusammenleben zwischen Muslimen und Europäern. Dafür müssen, seiner Meinung nach, die in Europa lebenden Muslime die Trennung der Religion vom Staat (Säkularität) akzeptieren. »Ein Euro-Islam ist vereinbar mit drei europäischen Verfassungsnormen: Laizität […], säkulare Toleranz […] und schließlich Pluralismus«, meint Tibi (2001: 18ff.). Er grenzt sich gegenüber Tarek Ramadan ab (ebd.). Für Letzteren bedeutet »Euro-Islam« die aktive Teilnahme der in Europa lebenden Muslime am gesellschaftlichen Leben und an kulturellen Projekten der Länder, in denen sie leben. Dadurch soll eine neue muslimische Identität entstehen, die gleichzeitig eine neue theologische Interpretation der Religion verlangt und die in Europa lebenden Muslime nicht zum Verzicht auf bestimmte Aspekte ihrer Identität zwingt (Ramadan 2001). Ramadan beschreibt den »Euro-Islam« in folgenden Worten: »Der ›europäische Islam‹ sollte also ein gelebter Islam sein, verbunden mit einer leidenschaftslos ausgeübten Staatsbürgerschaft« (ebd.). Ramadans Integrationsagenda erscheint vielen Forschern widersprüchlich und sieht konservativ aus, obwohl er sich als »Erneuerer« des muslimischen Denkens in Europa profiliert.1 1 Caroline Fourest sieht in seiner Doktrin nichts anders als ein bloße Zweideutigkeit und reinen Islamismus (Fourest 2004: 219ff.). Ralf Ghadban widmet Tariq Ramadan eine eigenständige Forschung, in der dessen Stellung zum »Euro-Islam« von besonderer Bedeutung ist (vgl. Ghadban 2006).
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Von vielen muslimischen Gemeinden und Gelehrten wird der »Euro-Islam« als verletzend wahrgenommen und abgelehnt, weil er die jahrhundertelange Existenz der Muslime in Europa ignoriere und sich überwiegend auf das 20. Jahrhundert beziehe (Biener 2006: 345). In den Massenmedien und politischen Debatten in Europa wird der Begriff »Euro-Islam« immer wieder als Gegenmodell und Gegendoktrin zu anderen Konzeptionen des Islams verstanden. Der »Euro-Islam« steht für eine demokratische, gemäßigte und tolerante Variante des islamischen Glaubens – im Gegensatz zum »wahhabitischen, kämpferischen und missionarischen Islam«. Helmut Anselm (2005: 93ff.) resümiert die Diskussion über den »Euro-Islam« in einer Auseinandersetzung zwischen zwei antagonistischen Gruppen. Auf der einen Seite stehen die Befürworter des »Euro-Islams«, die davon ausgehen, dass der Koran neu ausgelegt werden kann und dass ein Islam mit europäischem Gesicht, welcher mit den Verfassungen der europäischen Staaten kompatibel ist, früher oder später entstehen wird. Sie propagieren die Entstehung eines deutschen Reformislams, vergleichbar mit dem Reformjudentum, welcher sich vom maghrebinischen und türkischen Islam abgrenzen wird (ebd.). Die Gegner bzw. die Kritiker des »Euro-Islams« vertreten die Auffassung, dass es bisher keinen Unterschied zwischen dem Islam der Herkunftsländer und dem »Euro-Islam« gebe. Diese Sichtweise spiegelt sich in den Worten von Nadeem Elyas, des ehemaligen Vorsitzenden des Zentralrats der Muslime in Deutschland wider: »Immer wieder ist von einem ›europäischen Islam‹ die Rede, der sich im Kontrast zum ›Islam der Herkunftsländer‹ ausbilden müsse […]. Wir können uns in Europa an die europäische Lebensweise anpassen, ohne die Grundsätze des Islam aufgeben zu müssen […]. Der Islam muss in jedem Land anders ausgelegt werden. Wir sprechen allerdings nicht von einem europäischen Islam, sondern von einer europäischen Lebensweise der Muslime« (zit. nach Anselm 2005: 94). Die beiden o.g. Positionen in Bezug auf den »Euro-Islam« sind Teile der Diskussion über den Einfluss der soziodemografischen und geografischen Kontexte auf die islamische Religion. In dieser Diskussion sind zwei Perspektiven erkennbar: (a) Auf der einen Seite ist die Auffassung zu erkennen, dass der Islam in jedem Kontext eine neue Form annimmt. Diese Betrachtung führte dazu, dass man nicht mehr von dem »Islam«, sondern von den »Islamen« sprechen kann. Diese Betrachtung beruht auf wissenschaftlicher Argumentation und wird überwiegend von Akademikern vertreten. Gegenwärtig ist diese Auffassung von der Vielfalt des Islams in vielen Forschungen anzutreffen.2 Als Muhammad Arkoun 2 Es werden zahlreiche Publikationen in diesem Sinne herausgegeben. Die – bisher 16 Titel umfassende – Reihe »Islam Einheit in der Vielfalt« (al islm whidan wa muta‘adidan) erscheint im Libanon. Herausgegeben wird sie von dem tunesischen Denker und Reformer Abdelmajid Charfi.
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1984 den Begriff »Islame« im Plural benutzte [les Islams], wurde er heftig von religiösen Kreisen kritisiert (Arkoun 1984; vgl. Lacoste 1984). (b) Auf der anderen Seite ist die Auffassung vieler religiösen Gelehrten und des Volksislams, dass der Islam überall gleich und gültig ist. Wirft man einen Blick auf die innerislamische Debatte über dieses Thema, stellt man fest, dass die Diskussion über den lokalen und globalen Islam im muslimischen Kontext nicht neu ist. Sie geht auf die Diskussionen zwischen den muslimischen Gelehrten und Denkern im späten 19. Jahrhundert in Bezug auf die Beziehung der muslimischen Länder zu den europäischen Kolonialmächten zurück. Besonders wichtig war diese Diskussion in Bezug auf das Osmanische Reich. Als Beispiel dafür gilt die Auseinandersetzung zwischen dem pan-islamistischen Denker Jaml-Dn al-Afghn und dem als Separatist angesehenen Sayyid Ahmad Khn in Bezug auf die Kalifat-Debatte.3 Im Gegensatz zu al-Afghn, definiert Sayyid Ahmad Khn die in Südasien lebenden Muslime an erster Stelle anhand ihrer geografischen Zugehörigkeit. Für ihn sind die in Südasien lebenden Muslime »Inder«. Aus diesem Grund befürwortet er die Zugehörigkeit der »indischen Muslime« zum Britischen Königreich und bietet al-Afghn keine Unterstützung für seine Bewegung zur Unterstützung des osmanischen Kalifats an. Jamal-Dn al-Afghn vertrat eine globale Islam-Ideologie und versuchte im Rahmen seines Südasienbesuchs Ende des 19. Jahrhunderts, Unterstützung für das immer schwächer werdende osmanische Kalifat zu finden. Seine Bewegung beruhte auf der Auffassung, dass das osmanische Kalifat eine repräsentative Organisation für alle Muslime sei. Daher müssten alle Muslime unter Absehung von ihren ethnischen oder geografischen Affinitäten ihre Hilfe und Unterstützung anbieten. Sayyid Ahmad Khns Ablehnung dieses Aufrufs löste eine Debatte zwischen den beiden muslimischen Denkern aus, deren Spuren in der von al-Afghn in Paris gegründeten Zeitschrift »al-’Urw al-wuthq« (die feste Handhabe) zu finden sind (Ahmad 1960). Es lässt sich also festhalten, dass der Begriff »Euro-Islam« weiterhin umstritten ist, dass er inhaltlich unscharf ist und dass er sich überwiegend auf eine theoriebezogene politische Debatte bezieht. Reinhard Schulze fasst diese Meinung in folgenden Worten zusammen: »Die Kategorie ›europäischer Islam‹ ist heftig umstritten, und in der Tat erscheint es absurd, von einem ›europäischen Muslim‹ zu sprechen, da eine europäische Kollektividentität unter Muslimen in Europa kaum anzutreffen ist« (Schulze 2001). Diese Feststellung sollte zu einer neuen
3 Francis Robinson analysiert die politische Position von Sayyid Ahmad Khn und betont seine Position als »Separatist« (vgl. Robinson 1974: 3ff. und Ahmad 1964: 55ff.).
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Diskussion über dieses Thema anregen, welche sich an konkreten Argumenten und lebensbezogener Diskussion orientiert anstatt zu weiterem Debattieren über die Theorie. Da die beiden genannten Positionen zum Euro-Islam (der Befürworter und der Gegner) in die gegenwärtige Diskussion um die Entstehung und Entwicklung des Islamunterrichts involviert sind, möchte ich in diesem Aufsatz Islamschulbücher zweier europäischer Länder analysieren. Ziel soll es sein, einen Beitrag zur Verbreitung der empirischen Basis dieser Diskussion zu leisten. Dabei gehe ich von der Tatsache aus, dass Islamreligionsschulbücher eine zentrale Rolle bei der Orientierung der nachwachsenden Generationen muslimischer Schüler spielen und dass die Vermittlung religiöser und weltanschaulicher Auffassungen der Verankerung von spezifisch nationalen oder transnationalen Konzepten räumlicher und religiöser Zugehörigkeit dient. Islamschulbücher spielen eine wichtige Rolle bei der Formung des Selbstbewusstseins der Schüler, besonders wenn es sich um eine Minderheitssituation handelt (vgl. Kippenberg/Stuckrad 2003). Diese sollte neuen Stoff für die theoretische Diskussion über den »Euro-Islam« stellen. Ferner zielt dieser Beitrag darauf ab, die Frage zu beantworten, ob und inwieweit der islamische Religionsunterricht die Entstehung des »Euro-Islams« fördern könnte. Dazu werden folgende Fragen gestellt: An welchem Merkmal des Islamunterrichts ist ein »Euro-Islam« erkennbar? Woran unterscheidet man ihn von dem nichteuropäischen Islam? Um diese Fragen zu beantworten, fokussiere ich diesen Beitrag auf die Interpretation der Religionslehrbücher des Islamunterrichts aus zwei europäischen Ländern: Österreich und Deutschland. Dabei werden die beiden ausgewählten Islamschulbücher in Bezug auf das Thema des Beitrags ausgewertet, interpretiert und verglichen. Der Schwerpunkt der Interpretation liegt, angesichts der Fragstellung des Beitrags, auf drei Themenbereichen. (a) Beziehung der Muslime zu anderen Religionen, (b) Umgang der Schulbücher mit den islamischen religiösen Quellen, (c) muslimischer Kontext. Dazu werden die in den beiden Schulbüchern vorhandenen Bilder analysiert und interpretiert.
2. Der Islamunterricht Alle an der Diskussion über den »Euro-Islam« Beteiligten sind sich darüber einig, dass die Schule einen wichtigen Beitrag zur Diskussion über die Lebenssituation der Muslime in Europa leisten könnte. Dabei wird dem seit kurzer Zeit in den öffentlichen Schulen eingeführten Islamunterricht besonderes Gewicht zugeschrieben. Trotz Divergenzen in der Interpretation des Begriffs »EuroIslam« sind alle Beteiligten an dieser Diskussion der Auffassung, dass der
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Islamreligionsunterricht (IRU) eine wichtige Rolle in der Auseinandersetzung über die Verortung des Islams im europäischen Kontext spielen kann. Hier sind zwei widersprüchliche Thesen erwähnenswert: Die erste geht davon aus, dass der in Europa durchgeführte Islamunterricht dazu führen soll, den europäischen Islam vom »Herkunftsislam«, vom »Wahhabi-Islam« und vom missionarischen Islam zu trennen (vgl. Kiefer/Malik 2008). Dabei ist ein wichtiger Aspekt zu erwähnen, nämlich der durch politische Diskurse vermittelte Eindruck, dass ein »Euro-Islam« in der nahen Zukunft zur Verfügung stehen werde (Anselm 2005: 94). Die zweite These weist in die entgegengesetzte Richtung. Sie besagt, dass die Vermittlung religiöser islamischer Werte in öffentlichen Schulen in Europa mittels IRU die Beziehungen zwischen dem »Islam der Herkunftsländer« und dem sogenannten »Euro-Islam« stärken werde, indem er die gemeinsamen religiösen Werte festige. Für eine eingehende Diskussion dieser beiden Hypothesen werden in den nächsten Abschnitten Elemente der Islamschulbücher präsentiert. Der Schwerpunkt der Analyse richtet sich auf folgende zwei Themenbereiche: Einerseits auf die von außen sichtbaren Aspekte des Lebens, wie zum Beispiel Kleidung, Sprache und Bilder; andererseits auf die inhaltlichen und thematischen Aspekte, wie z.B. die Beziehung zu den anderen Religionen und den Umgang mit den religiösen Quellen. Diese beiden Aspekte des Scheins und Seins werden in den nächsten Abschnitten von besonderer Bedeutung sein. Zur Analyse und Interpretation der Schulbücher werden sowohl die Texte als auch die Abbildungen herangezogen. Unter Bildern werden sowohl Fotografien als auch Zeichnungen verstanden. Dabei gehe ich von folgenden Thesen aus: »Bilder zeigen nicht die Welt, sondern eine Vielzahl von Vorstellungen über die Welt« (Pilarczyk 2005: 25); durch die Auswahl der Form und des Inhalts der Bilder werden bestimmte Weltbilder ausgedrückt. Dies bestätigt die Feststellung, dass Schulbuchbilder unterschiedliche Verwendungszwecke haben und dass sie das Bewusstsein der Kinder stark prägen, weil sie oft ein Fenster zu neuen Ideen über die Welt öffnen. Bei der Analyse der Bilder gehe ich nicht in die eigentlich erforderliche und ausführliche tiefe Interpretation. Die Bilderanalyse begrenzt sich daher auf folgende Fragen: Welche Bilder werden in den Büchern verwendet? Stammen sie aus dem europäischen oder aus einem anderen bzw. muslimischen Kontext? Welche Themen werden mit den Bildern behandelt? Die Untersuchung der Bilder und der Texte wird auf drei Themenbereiche fokussiert, die ein umfangreiches Bild über das gelehrte Wissen und dessen Bezug zum europäischen Länder-Kontext in den Büchern vermitteln. Folgende Themen sind für die Untersuchung der Schulbücher von besonderer Bedeutung: (a) Die Beziehung der Muslime zu anderen Religionen. In dieser Kategorie wird
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der Umgang mit den anderen Religionen behandelt. Zu dieser Kategorie gehört die These, dass die Erzählungen über andere Kulturen und Religionen als Folie für die Einzigartigkeit der eigenen Religion und Kultur benutzt werden können (Wulf 2002) oder dass sie zur Bereicherung der eigenen Kultur und Religion dienen können. (b) Der Umgang der Schulbücher mit den islamischen religiösen Quellen. Diese Kategorie beruht auf der These, dass der Umgang mit den religiösen Quellen, dem Koran und der Tradition des Propheten Muhammad ein Merkmal für den Umgang mit dem religiösen Wissen ist und eine Position zur Tradition vertreten wird. Hier stehen sich zwei Umgangsformen mit religiösen Quellen gegenüber: auf der einen Seite die als »klassisch« angesehene Herangehensweise und Interpretationsmethode der religiösen Quellen, die zum Beispiel auf das Auswendiglernen und Frontalunterricht setzt. Auf der anderen Seite gibt es die sogenannten neuen Interpretationsmethoden und die Ablehnung des traditionellen Umgangs mit dem religiösen Wissen. Damit sind insbesondere der Verzicht auf die Auslegungen und historischen Erklärungen der religiösen Quellen und der direkte Umgang mit diesen gemeint. (c) Der muslimische Kontext. Hier vertrete ich die Auffassung, dass das Erwähnen des Herkunftskontexts dazu dient, Schüler an bestimmte geografische Merkmale aus den muslimischen Ländern zu erinnern und dadurch die Verbindung zu diesen Kontexten zu stärken. Zu dieser Kategorie gehört auch die Frage, wie über den nichteuropäischen bzw. über die muslimisch-geprägten Mehrheitsgesellschaften in den untersuchten Büchern gesprochen wird. Die untersuchten Schulbücher sind: Das 2008 erschiene »Religionsbuch für junge Musliminnen und Muslime ›Saphir 5/6‹« (kurz: »S5/6«: Müller/Kaddor/Behr 2008)4 und das in Österreich 1993 veröffentlichte Religionslehrbuch »Islam in meinem Leben« (IML).5 Um die Analyse der Schulbücher deutlicher zu machen, werden die Daten der beiden Bücher miteinander verglichen. Der Vergleich zielt weder darauf ab, ein bestimmtes Buch zu bevorzugen noch die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu verdeutlichen. Vielmehr soll aufgezeigt werden, wie in den beiden Büchern mit dem sogenannten »Euro-Islam« in zwei unterschiedlichen Epochen umgegangen wird. Die hier untersuchten Islamschulbücher stammen aus zwei Zeitepochen. In Deutschland ist der IRU ein neues Fach. Die Schulbücher sind erst vor kurzer Zeit veröffentlicht worden. Im Gegensatz zu Deutschland ist der IRU in Österreich in der Revisionsphase. Der Unterricht wird seit zwei 4 Das Buch »Saphir 5/6« ist das erste Buch in einer neuen Reihe von Islamschulbüchern in Deutschland. Es wurde bisher in vier deutschen Bundesländern eingeführt. 5 Folgende Version des Buchs wird hier zitiert: Uysal, Nebi 2003: Islam in meinem Leben, 3. Aufl., Köln: Asya.
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Jahrzehnten in öffentlichen Schulen durchgeführt6 und gegenwärtig wird darüber nachgedacht, die veralteten Schulbücher zu ersetzen.7
2.1 Das Buch »Islam in meinem Leben« (IML) 2.1.1 Die Beziehung zu anderen Religionen In IML werden andere Religionen thematisiert, allerdings ausschließlich die monotheistischen Religionen, also Judentum und Christentum (u.a. S. 30-32). Die Behandlung weiterer Religionen bleibt dagegen sehr sporadisch. Auf Seite 175 werden zum Beispiel Offenbarungsreligionen thematisiert. Dabei werden folgende nichtmonotheistischen Religion erwähnt: Buddhismus, Hinduismus, Konfuzianismus und Naturreligionen: In einer hierarchisierten Tabelle etwa werden Religionen aufgereiht und lediglich ganz unten – klein gedruckt und ganz am Rande der Skala – werden u.a. Hinduismus und Buddhismus erwähnt. Das Religionsbuch IML behandelt die anderen monotheistischen Religionen an zwei weiteren Stellen: Einmal bei der Behandlung der Propheten und ein weiteres Mal bei der Behandlung der heiligen Bücher. In Bezug auf die Propheten nimmt das Buch eine Hierarchisierung der Propheten vor (S. 40): Ganz oben in der Mitte steht der Prophet Muhammad, links und rechts von ihm stehen Jesus und Moses. Darunter werden jeweils links und rechts zwei weitere Propheten erwähnt: Unter Jesus stehen Abraham und Henoch, unter Moses Noah und Adam. Diese Hierarchisierung folgt den Kriterien der Wichtigkeit und legt keinen Wert auf die chronologische Reihung der Propheten. Obwohl er der letzte Prophet ist, wird Muhammad als erster und wichtigster Prophet gezeigt. Auf Seite 29 werden die heiligen Bücher thematisiert. Dabei werden vier Bücher von oben nach unten in einer Skala gereiht: Der Koran ganz oben, das Evangelium darunter, ganz unten die Thora und darauf die Psalmen. Diese Reihung ist »islamozentrisch«. Dabei dient die Erwähnung anderer Religionen und Glaubensrichtungen dem Zweck, die Einzigartigkeit der islamischen Religion herauszustellen. Der Umgang des Islams und der Muslime mit anderen Religionen wird in Bezug auf das Leben des Propheten und der ersten Muslime in Mekka und Medina nochmals behandelt. Hier wird die Auseinandersetzung mit den von den
6 Der erste offizielle Lehrplan für den islamischen Religionsunterricht an Pflichtschulen wurde am 29. Juli 1983 bekanntgegeben (vgl. Schaible 2004: 87-91). 7 Gespräch des Autors mit Anas Schakfeh, Präsident der österreichischen islamischen Glaubensgemeinschaft im Januar 2008 in Wien.
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Muslimen als ungläubig angesehenen Mekkanern behandelt: Das Buch vermittlet dabei den Eindruck, dass die blutige Auseinandersetzung zwischen der immer stärker werdenden muslimischen Gemeinde und den »Heiden« unvermeidbar gewesen sei. Das Buch thematisiert die ersten Kriege der Muslime gegen die »Ungläubigen« bzw. die Mekkaner. Die Bilder zu diesem Thema zeigen Krieger und Waffen (u.a. S. 58ff.). Durch dieses Thema gewinnt man den Eindruck, dass die Beziehung zwischen Muslimen und Nichtmuslimen vor allem aus Krieg und Brutalität bestehe (S. 57ff.). Hier stellt sich die Frage, ob und inwieweit die in diesem Buch vermittelten Auseinandersetzungen zwischen Muslimen und Nichtmuslimen in der Vergangenheit ein Vorbild für die Beziehung der Muslime zu den Nichtmuslimen in der Gegenwart sein können. Bei der Behandlung des Themas Gemeinschaft (S. 167ff.) spricht IML über die gegenseitige Unterstützung der Muslime. Hier wird über kranke und verhungerte muslimische Kinder in Schwarzafrika gesprochen, denen man unbedingt helfen solle (S. 168). Die Unterstützung solle, dem Buch nach, der gegenseitigen Hilfe der Muslime dienen. Hier stellt sich die Frage, ob man nichtmuslimischen Kindern in Europa, Afrika oder in Asien nicht helfen soll. Das Buch vermittelt hierzu keine Antwort. Insgesamt kann gesagt werden, dass das IML den nichtmuslimischen Religionen keine besondere Aufmerksamkeit schenkt. Der Grund dafür hängt mit dem Ziel des Buches zusammen. Das IML zielt durchaus darauf ab, die islamische religiöse Identität muslimischer Schülerinnen und Schüler zu stärken. Die Erzählungen über andere Religionen werden nur dann für wichtig gehalten, wenn es darum geht, die Einzigartigkeit des Islams zu zeigen.
2.1.2 Der Umgang mit den religiösen Quellen Mit religiösen Quellen sind Koran und Hadith gemeint. In dem Buch IML wird der Koran thematisiert. Es werden Koransuren auf Arabisch abgedruckt und ins Deutsche übersetzt. Den Zitaten aus dem Koran folgt keine Interpretation (u.a. S. 39). Das Ziel scheint dabei zu sein, Kinder dazu aufzufordern, den Koran auswendig zu lernen. Lehrer sollen ihnen dabei helfen, indem sie den Koran vorlesen und oft zitieren. Dieses Ziel stimmt mit dem im Lehrplan vorgegebenen Ziel des Unterrichts überein. Dort ist Folgendes zu lesen: »Der Lehrer hat die entsprechenden Suren (aus dem Koran) und Hadith auf obigen Lehrstoff bezugnehmend zu rezitieren und zu erklären« (IML, S. 1). Die Hadithe werden an wenigen Stellen thematisiert. Das Buch vermeidet, die umstrittenen Aussagen des Propheten zu zitieren. Deshalb werden nur Stellen zitiert, die alltägliche Begebenheiten des Propheten zeigen. Das Buch zielt damit darauf ab, so viele
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Muslime wie möglich zu erreichen. Dazu wird versucht, im Unterricht nur über den gemeinsamen Nenner aller Muslime zu reden. Zusammenfassend kann man sagen, dass das Buch IML einen »klassischen« – und somit rezitativen – Umgang mit den religiösen Quellen pflegt. Ziel soll es folglich sein, die Schüler für die religiösen Quellen des Islams zu begeistern. Das Buch spricht eher die Gefühle der Kinder an und versucht, ihnen die Liebe zur Religion zu vermitteln.
2.1.3 Der muslimische Kontext Das Religionsbuch IML räumt den muslimischen Ländern eine bedeutende Position ein und weist an mehreren Stellen auf sie hin. Dies gelingt auf unterschiedliche Art und Weise. Betrachtet man diese Darstellung, gewinnt man den Eindruck, dass der Autor des Buchs beabsichtigt, die Verbindung zwischen den in der europäischen Diaspora lebenden Muslimen und den arabischen bzw. muslimischen Herkunftsländern zu stärken. Dieser Eindruck ist bei der Thematisierung der »Heimatliebe« auf Seite 187 des Buches sehr deutlich zu erkennen. Hier werden Schüler und Schülerinnen aufgerufen, sich anhand der Abbildung eines muslimischen Dorfs, welches den Titel »Heimatliebe« trägt, beständig an »ihre Heimat« zu erinnern. Ferner zeigt dieses Thema die Zerrissenheit des Autors des Buchs zwischen zwei Heimatkonzeptionen. Auf der einen Seite und ganz oben steht das Bild des nicht-europäischen Dorfs, auf der anderen Seite und unten steht ein Hinweis auf die Liebe zu Österreich als Heimat: »Hasan lebt hier in Österreich. Er liebt dieses Land sehr, denn Österreich ist seine Heimat. Er vergisst aber die Heimat seiner Vorfahren nicht. Unsere Religion gebietet uns die Heimatliebe« (S. 187). Der Autor des Buchs versucht, die Ambivalenz aufgrund der beiden Heimaten aufzulösen, indem er die nichteuropäische Heimat »Heimat der Vorfahren« nennt und Österreich als »Heimat« des Kindes ansieht. Dementsprechend sollen Kinder die österreichische Heimat lieben und zudem die »Heimat der Vorfahren«.
2.1.4 Die Bilder des Buches Das Religionsbuch IML nutzt Bilder bzw. Zeichnungen. Man kann sie in zwei Themenkreise aufteilen: Bilder der Lebewesen (Menschen, Pflanzen und Tiere) auf der einen Seite und Bilder der Gegenstände (wie Denkmäler, Häuser und Geräte) auf der anderen. Die meisten Menschenbilder zeigen muslimische Männer und stammen aus einem nicht-europäischen Kontext. Die Männer sind »orientalisch« gekleidet (u.a S. 51), viele von ihnen tragen ein Schwert (u.a. S. 57). Die
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Pflanzen sind meistens Palmen (u.a. S. 70); die Tiere sind meistens Kamele und Ziegen. Auf Seite 56 findet sich eine Zeichnung weißer Tauben. Sie sind für die Friedensbotschaft des Islams kennzeichnend. Der geografische Kontext der meisten Zeichnungen ist die Wüste. Zu den Bildern der Gegenstände gehören die Bilder der Städte Mekka und Medina sowie einige Kriegsorte des Propheten Muhammad (S. 50ff.). Die Gebäude sind meistens dörflich. In diesen Dörfern stehen die Moscheen im Vordergrund und haben einen zentralen Platz. Insgesamt zeigen die Bilder in IML keinen deutlichen Hinweis auf den lokalen österreichischen bzw. europäischen Kontext. An wenigen Stellen des Buches werden Bilder gezeigt, die einem österreichischen geografischen Hintergrund ähneln. Hierbei handelt es sich um Naturbilder (u.a. S. 160, 186, 188), welche meist zu dem Themenbereich Vergnügen und Freizeitbeschäftigung gehören. Welche Haltung der Autor des Buchs gegenüber dem staatlichen Leben im europäischen Raum vertritt, bleibt unklar. Es scheint, dass die in IML vorhandenen Bilder dem Zweck dienen, Schülerinnen und Schülern einen Eindruck über die Heimat des Islams und der ersten Muslime zu vermitteln. Darüber hinaus versucht der Autor des Buchs, den Lesern das Bild des originellen geografischen Kontextes der Entstehung des Islams in Erinnerung zu rufen. Dies dient dem Zweck, die Verbindung zwischen den hier lebenden Muslimen und den Herkunftsländern hervorzurufen und zu stärken. Im Großen und Ganzen ist im Buch »Islam in meinem Leben« keine Absicht erkennbar, sich vom globalen muslimischen Kontext zu trennen. Die vier untersuchten Kategorien deuten darauf hin, dass »Islam in meinem Leben« bestrebt ist, die Verbindung zu den Herkunftsländern zu stärken und dass dem nichteuropäischen Kontext ein wichtiger Platz eingeräumt wird. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, wie die Verbindung der Schüler zu ihrem Lebenskontext sowie zu den Herkunftsländern ihrer Eltern in den österreichischen Schulbüchern behandelt wird.
2.2 Das Buch »Saphir 5/6« (S 5/6) 2.2.1 Der Umgang mit den anderen Religionen Die Narrationen über andere Religionen sind auf viele Stellen im Buch S5/6 verstreut. Die Propheten werden auf Seite 68 thematisiert. Dies gelingt anhand einer Hierarchisierung. Im Unterschied zur Prophetenhierarchie in IML steht der Prophet Muhammad hier ganz unten auf der Liste der Propheten. Dies hängt mit den Kriterien der Hierarchisierung zusammen. Da die Autoren einem chrono-
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logischen Kriterium folgen, wurde der Prophet des Islams als Letzter auf der Liste aufgeführt. Im Unterschied zu IML thematisiert S5/6 alle Religionen unabhängig davon, ob sie monotheistisch oder nicht monotheistisch sind. Religionen werden auf Seite 86 gleichermaßen vorgestellt. Dort wird über Buddhismus, Hinduismus, Christentum, Islam und Judentum gesprochen. Dabei erfährt man keinen Vorzug für die islamische Religion. Diese Auffassung wird nochmals auf den Seiten 118-119 deutlich. Hier geht es um religiöse Texte und religiöse Gebäude. Bei der Darstellung nichtmuslimischer Religionen in Saphir gewinnt man den Eindruck, dass sie eher zur Bereicherung des Wissens der Schüler dargestellt werden. Dies kann auf Seite 168 genau beobachtet werden. Die Autoren stellen unterschiedliche Fragen zu anderen Religionen und fordern die Schüler auf, nach unterschiedlichen Informationen zu fragen, zu vergleichen und das Wissen über andere Religionen zu rekonstruieren.
2.2.2 Der Umgang mit den religiösen Quellen »Saphir 5/6« thematisiert den Koran und die Tradition des Propheten. Dem Koran ist ein eigener Lernbereich gewidmet (S. 101ff.). Diese Einheit besteht aus Erklärungen über die Entstehung des Korans sowie die Struktur des Korantextes (S. 107). Das Ziel des Buchs besteht primär darin, Schüler in die selbstständige Nutzung und Interpretation des Korans einzuführen. Dabei werden Schülerinnen und Schüler dazu aufgefordert, über den Koran nachzudenken. Die Autoren des Buchs nutzen ebenfalls Koranverse und interpretieren diese, ohne über die unterschiedlichen Auslegungsvarianten zu reden (u.a. S. 43). Dieser direkte Umgang mit dem Koran könnte als Strategie der Autoren verstanden werden, religiöse Quellen »direkt und vorbildhaft zu interpretieren«. Diese könnte den muslimischen Schülern ein Vorbild zum direkten Umgang mit den religiösen Quellen abgeben. Darüber hinaus wird der Koran in diesem Buch als Inspirationsquelle gezeigt. Durch die schöne arabische Schrift und melodische Rezitationen entdeckt man die ästhetischen Aspekte des Korans. Auf Seite 108 findet eine Einführung in die Hadithe statt. Die Hadithe werden an vielen Stellen des Buchs behandelt. Die Rolle der Hadithe des Propheten wird von den Autoren folgendermaßen definiert: Durch seine Taten zeigte der Prophet Muhammad den ersten Muslimen, wie man den Koran zu verstehen und sich dementsprechend zu verhalten habe: »Er machte vor, wie die Botschaft von Gott im täglichen Leben angewendet wird« (S. 109). Die Hadithe gelten hier als Mittel, um Koranzitate besser zu interpretieren: »Man braucht Hadithe auch dazu, den Qur’an besser zu verstehen« (S. 108). Dieser Betrachtung nach ergänzen Koran und Hadithe sich
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gegenseitig. Zusammenfassend kann man sagen, dass sich dieser Umgang mit den religiösen Quellen erheblich vom Umgang des IML unterscheidet. Solch ein Umgang wird öfter als »Erneuerung« bezeichnet (s. Mohr 2006: 68ff.).
2.2.3 Der muslimische Kontext In »Saphir 5/6« wird der außereuropäische Kontext thematisiert. Die Thematisierung zielt darauf ab, die Schüler über andere Regionen zu informieren, in denen andere Muslimen leben. Verglichen mit IML sind die Stellen der Thematisierung islamischer Kontexte mager. Der Fokus des Buchs liegt eher auf Europa und es spricht von keinem anderen »Heimatland« für die Schüler außer von Deutschland. Das Buch widmet den Muslimen in Deutschland ein Kapitel und betrachtet sie als Teil der deutschen Gesellschaft (Kaddor/Müller/Behr 2008: 168f.).
2.2.4 Die Bilder des Buchs »Saphir 5/6« nutzt unterschiedliche Bildarten: Fotografien, Zeichnungen und Gemälde, die hier unter dem Begriff »Bilder« zusammengefasst sind. Genau wie bei der Interpretation des Buchs IML werden Bilder hier anhand von zwei Subkategorien betrachtet: Lebewesen und Gegenstände. Zur Kategorie der Lebewesen gehören Menschen, Tiere und Pflanzen; zur Kategorie Gegenstände gehören Denkmäler, Behausungen und Gebäude von Institutionen wie Schulen oder Krankenhäuser. In Bezug auf Bilder von Menschen kann man in S5/6 von einer gleichen Gewichtung zwischen Bildern von Männern und Frauen sprechen (u.a. S. 36, 46, 162). Menschen werden in unterschiedlichen Lebenssituationen und Bewegungspositionen gezeigt (u.a. S. 162, 160, 142, 46). Bewegung bedeutet hier Aktion und Tun in Raum und Zeit. Diese Feststellung wird in den Bildern, auf denen Kinder gezeichnet sind, deutlicher. Kind sein bedeutet u.a. in Bewegung sein (u.a. S. 162, 36). Bezüglich der Kleidung und des Aussehens der Menschen zeigt »S5/6« Menschen sowohl in religiöser als auch in Alltagskleidung. Dadurch gewinnt man den Eindruck, dass Menschen in diesem Buch an erster Stelle als »Menschen« angesehen werden. Während Bilder von Menschen meistens Zeichnungen sind, wird Natur im Buch S5/6 überwiegend in Form von Fotografien präsentiert. Bei den Fotografien handelt es sich um Blumen, Bäume, Gärten und Strände. Die gezeigten Naturbilder vermitteln den Eindruck, dass sie aus einem europäischen Kontext stammen. Der Vergleich der beiden Bücher in dieser Hinsicht zeigt, dass es zwei Bilderkontexte gibt: die Bilder in »IML« zeigen den nichteuropäischen Kontext, während diejenigen in »S5/6« einen
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nichtmuslimischen Bilderkontext zeigen. »IML« zeigt erwachsene Menschen mit orientalischer Kleidung in einem »orientalischen« Kontext, das Buch »Saphir« zeigt junge Menschen in einem nichtmuslimischen bzw. in einem »europäischen« Kontext. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das Religionsbuch »Saphir 5/6« muslimische Kinder als Adressaten direkt anspricht. Das in diesem Buch angebotene Wissen bietet den Schülern die Möglichkeit, sich über grundlegende und wichtige Themen des Islams zu informieren. In Bezug auf die Didaktik kann man vom »Selbstlernen und Entdecken« sprechen. Diese Lernkonzeption steht im Gegensatz zu der in IML zu findenden Methode. Dort sollen Schüler erkennen, hier sollen sie sich informieren. Die angebotene Methode des Saphir-Buchs beruht auf Diskussion und Überlegung. Durch viele Bilder und Stichwörter sollen die Schüler ihre eigene Meinung zu den Themen äußern. Muslime werden in diesem Buch als Teil einer größeren Gesellschaft gesehen.
3. Der Vergleich Anhand der oben angeführten Interpretation können einige Bemerkungen zu den beiden Büchern notiert werden. Der Vergleich der beiden Bücher zielt nicht darauf ab, ein Buch zu bevorzugen, sondern die Ausgangsfrage des Beitrags »kann man von einem ›Euro-Islam‹ im Islamunterricht sprechen?« zu beantworten. Der Vergleich beider Islambücher hat die Unterschiede zwischen den beiden Herangehensweisen deutlicher gemacht. IML geht von einem Unterschied zwischen dem europäischen Kontext und dem »Heimatkontext« aus und zielt darauf ab, die Unterschiede zwischen Islam und Nichtislam zu verdeutlichen. Die Erzählungen über andere Religionen bestehen darin, die Einzigartigkeit des Islams und der Muslime zu zeigen (Wulf 2002). Das Buch Saphir 5/6 zeigt eine andere Herangehensweise an das Thema Kontext auf. Hier wird das Ziel verfolgt, Schüler über ihren direkten Lebenskontext zu informieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, selbstständig zu entscheiden. Die beiden untersuchten Bücher nutzen Bilder. Die Bilder des IML unterscheiden sich von den Bildern des S5/6 in Form, Inhalt und Kontext. Der wichtigste Unterschied bezieht sich auf die Frage des Kontextes. Während die Bilder des S5/6 aus einem nichtorientalischen Kontext stammen, geben die Bilder des IML ein deutliches Bild eines arabisch-islamischen Kontextes. Die Bilder des S5/6 stammen meistens »aus den gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnissen in Deutschland bzw. aus der Lebenswirklichkeit von jungen Muslimen in Deutschland« (Schneiders 2008: 7). Die Bilder des IML zeigen eher den Kontext der »Herkunftsländer«. In S5/6 kann man deutlich von einem europäischen Kontext sprechen.
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Dies bedeutet nicht unbedingt, dass das Buch Europa in seinem Fokus hat. Die Narrationen über andere Religionen und Kulturen in IML dienen dazu, die Unterschiede zwischen den Religionen aufzuzeigen. Die Narrationen in S5/6 dienen hingegen dazu, Gemeinsamkeiten zwischen den Religionen und Kulturen zu verdeutlichen. Die Vermutung liegt nahe, dass das Buch S5/6 versucht, dem Leben der Muslime in einer multireligiösen und pluralistischen westlichen Gesellschaft zu entsprechen. Durch den methodischen Einsatz des Buches IML und durch dessen Umgang mit den religiösen Quellen wird beabsichtigt, den Glauben durch Auswendiglernen zu stärken: Schüler sollen den Koran auf Arabisch lernen, selbst wenn sie über keine Arabischsprachkenntnisse verfügen. »Saphir« steht für den Versuch, Schülern zu ermöglichen, selbstständig den Koran zu verstehen und über ihn nachzudenken. IML meidet die Hadithe, weil sie manchmal ein umstrittenes Thema zwischen Muslimen sind. Saphir dagegen erklärt die Beziehung der Hadithe zu den anderen religiösen Quellen. Diese Methode wird von einigen als Merkmal der »Reform« des islamischen Religionsunterrichts in europäischen Kontext betrachtet.8 Der Vergleich beider Bücher zeigt auf, wie unterschiedlich die Unterrichtskonzeptionen in Bezug auf den Kontext sind. Die Betrachtung des Kontextes zeigt zwei unterschiedliche Bilder auf: einerseits den arabischen bzw. muslimischen Kontext, andererseits den europäischen Kontext: Das Buch Saphir berücksichtigt die Lebenswelt der Schüler und versucht, auf die aktuelle Lebenssituation muslimischen Schülerinnen und Schüler einzugehen.9 Der Standpunkt von IML ist daher mit seiner Entstehungszeit erklärbar. Dieses Buch wurde in einer Epoche verfasst, in der die Diskussion über das Leben der Muslime in Europa noch sehr vom Herkunftsdiskurs geprägt war. Die Entscheidung des Autors für die Heimat wurde dem Buch immer wieder vorgeworfen (Mohr 2006: 152ff.). Dass das Buch »Saphir 5/6« mehr über den europäischen Kontext spricht, bedeutet jedoch nicht, es fördere den »Euro-Islam«. Die Inhalte des Buchs spiegeln an erster Stelle die Vorstellungen der Autoren in Bezug auf das wider, was zukünftig Wirklichkeit sein könnte und nicht auf das, was Wirklichkeit ist. Die Bilder des Buchs sind meistens Zeichnungen. Dies deutet darauf hin, dass diese Bilder in der Wirklichkeit möglicherweise nicht vorhanden sind. Die kommunikativen Situationen des Buches, in denen muslimischen Schüler mit
8 Irka Mohr findet keinen Unterschied zwischen dieser Methode und der Methode der muslimischen Gelehrten des 19. bzw. 20. Jahrhunderts in Bezug auf die Interpretation der religiösen Texte (vgl. Mohr 2006: 68ff.). 9 Als Bestätigung hierfür kann ein Beitrag einer Mitautorin des Buches dienen: Kaddor 2008.
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unterschiedlichen sozialen und religiösen Hintergründen gezeichnet werden, sind immer noch ein umstrittenes Themen in der Sozialforschung.10 Dass der Vergleich der Schulbücher zum Islamunterricht einen deutlichen Unterschied in Bezug auf die Frage des »Euro-Islams« gezeigt hat, bedeutet jedoch nicht, dass die Antwort auf die Eingangsfrage entschieden ist. Obwohl sie bisher das wichtigste Bildungsmedium sind, sind Schulbücher nur ein Teil des Unterrichts. Der Beitrag der Lehrkräfte des IRUs sowie die Rahmenbedingungen und die soziale Wirklichkeit sind von großer Bedeutung. Die Entscheidung, in Europa Lehrinstitutionen für die Ausbildung der Lehrkräfte für den Islamunterricht zu öffnen und diese staatlich zu fördern, resultiert aus der Kritik an – aus der »Heimat« – importierten Lehrkräften, Schulbuchautoren und Imamen. Helmut Anselm gibt den Vorwurf gegen die Lehrkräfte in folgenden Worten wieder: »So wurden vom türkischen Staat bzw. aus dem Maghreb ›Importimame‹ als für sechs Jahre beurlaubte Staatsbeamte nach Deutschland entsandt. Sie blieben hier aber immer fremd […]. Sie verstanden weder die anstehenden Probleme, noch konnten sie passende Antworten geben« (Anselm 2005: 88ff.). Aus diesem Grund sind sich europäische Bildungspolitiker darüber einig, dass die Gründung von Institutionen für die Ausbildung der Lehrkräfte im europäischen Kontext die beste Maßnahme ist, dieses Problem anzugehen. Sie hoffen darauf, dass die Ausbildung eigener Lehrkräfte deren sowohl finanzielle als auch konzeptuelle Abhängigkeit von den »Herkunftsländern« der Muslime beendet. Bei diesem Wunsch spielen meines Erachtens falsche Erwartungen der Politiker eine Rolle: Man erhofft, dass die Ausbildung der Lehrer im europäischen Kontext nicht nur eine Lösung für das Problem der Lehrkräfte, sondern auch für die Integration der muslimischen Schüler biete. Jedoch scheint es, dass dieses Ziel nicht schnell erreichbar sein wird. Die meisten für die Ausbildung der IRU-Lehrkräfte in Deutschland verantwortlichen Bildungsinstitutionen arbeiten mit den religiösen Institutionen bzw. Gemeinschaften sowohl in Deutschland als auch in Österreich zusammen, obwohl sie finanziell von den Heimatländern unabhängig sind. Die Anerkennung und Zustimmung dieser Institutionen ist eine wichtige Voraussetzung für die Arbeit der ausgebildeten Lehrkräfte (vgl. Reichmuth 2004; Brinkhorst-Hasenclever 2004). Damit rückt die Frage, welche Position die 10 Werner Schiffauer versucht, aus dem Zirkel der widersprüchlichen Diskussion über dieses Thema herauszutreten, indem er die divergierenden Meinungen über die Integration der Muslime im europäischen Kontext in drei Kategorien zusammenfasst: Die erste Position bezieht sich auf das »Scheitern der Integration« und dessen drastische Konsequenzen, die zweite Position sieht keine Gefahr in den Parallelgesellschaften und bezieht sich auf das kanadische oder das englische Modell; die dritte Position kritisiert die beiden ersten Positionen und versucht, die Gründe der fehlenden Integration zu erforschen (vgl. Schiffauer 2008: 7ff.).
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Gemeinden in Bezug auf den »Euro-Islam« vertreten, wieder in den Vordergrund. Sind die anerkannten religiösen Gemeinden für eine komplette Trennung von den Herkunftsländern? Streben sie einen europäischen Islam oder einen klassischen – in der Heimat verwurzelten – Islam an? Die Antwort auf diese Frage überschreitet die Rahmen dieses Beitrags.
4. Schlusswort Die Untersuchung der österreichischen und deutschen Islamschulbücher hat zwei Herangehensweisen gezeigt: Auf der einen Seite gibt es eine Betonung des lokalen europäischen Kontextes. Demgegenüber steht die Betonung des globalen islamischen Kontextes. Beide Herangehensweisen spiegeln das Interesse der jeweiligen Schulbuchproduktion wider. Beide Tendenzen sind von den Epochen der Entstehung der Bücher und den nationalen politischen Interessen abhängig. »IML« zeigt, welche Akzente in Österreich in den 1990er-Jahren im Islamunterricht gesetzt wurden, »Saphir 5/6« zeigt die aktuelle Situation des Islamschulbuchs in Deutschland. An dieser Stelle soll betont werden, dass Schulbücher nur einen Aspekt der Situation der muslimischen Schüler in den europäischen Ländern zeigen. Die soziale Lebenssituation der Muslime in den europäischen Gesellschaften weist weitere wichtige Aspekte auf, die in der Diskussion über den »Euro-Islam« unbedingt berücksichtigt werden müssen.11 Aus der Diskussion über die beiden Religionsbücher ist deutlich geworden, dass ein »Euro-Islam«, wie er von den Politikern erwartet und wie er in den untersuchten Schulbüchern dargestellt wird, in kurzer Zeit nicht realisierbar ist. Das Buch Saphir könnte als Schritt in Richtung Verwurzelung muslimischer Schüler in ihrer Lebenswelt verstanden werden. Dies verlangt jedoch eine theologische Auseinandersetzung mit den neuen Lebenssituationen und Erfahrungen der Schüler. Bis sich eine Religion oder eine Kultur an einen bestimmten Kontext anpasst und sich von einem – hier ihrem ursprünglichen Kontext – trennt, braucht es eine lange Zeit und viele soziodemografische Änderungen. Deshalb würde ich den »Euro-Islam« als eine prozesshafte Interaktion zwischen religiösen und sozioökonomischen Normen begreifen. Dafür sprechen die Geschichte des Islams und seine Etablierung in unterschiedlichen geografischen und sozialen 11 In Deutschland soll zudem die Rolle des deutschen Staats und sein Einfluss nicht vergessen werden. Da der Islamunterricht nur von anerkannten Gemeinden durchgeführt werden darf, müssen sich muslimische Gemeinden an die vom deutschen Staat angebotenen Rahmenbedingungen halten (vgl. Lemmen 2007).
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Räumen. Durch meine Forschung über den »indischen Islam« im 17. bzw. 18. Jahrhundert habe ich festgestellt, dass die muslimische Rechtstheorie auf dem indischen Subkontinent im 17. Jahrhundert eine starke Verbindung zu der klassischen Epoche (8.-11. Jahrhundert) im Nahen Osten aufweist – trotz des räumlichen und zeitlichen Abstandes. Muslime kamen im 11. Jahrhundert nach Indien. Um von einem »indischen Islam« zu sprechen, musste man bis zum 16. bzw. 17. Jahrhundert warten (Khalfaoui 2008). Noch wichtiger in dieser Hinsicht war meine Feststellung, dass der Islam im Nahen Osten, verglichen mit dem zentralasiatischen oder mit dem indischen Islam, offener, »pluralistischer« und toleranter war. Der Grund dafür war, dass Muslime in Südasien in einer Minderheitssituation lebten. Minderheit und Diaspora bedeutet häufig eine Radikalisierung nach innen und nach außen (vgl. Kippenberg 2003). Dies deutet darauf hin, dass die Hypothese, ein »Euro- Islam« sei besser als ein nahöstlicher oder nordafrikanischer Islam, sich als Irrtum herausstellen könnte. Der angestrebte Islam könnte sich auch als konservativer und radikaler erweisen. Dazu sollte man sagen, dass der Unterricht über den Islam und Muslime in Europa nicht nur durch den Islamunterricht gewährleistet wird. Neben dem Islamunterricht werden muslimischen Schülern der Islam, seine Geschichte und die Situation der Muslime in Europa im Geschichtsunterricht gelehrt. Dieser Unterricht soll die europäischen Schüler – u.a. muslimische Schüler – über die Entstehung der europäischen Identität unterrichten. Die Interpretation der Existenz des Islams in der europäischen Geschichte ist immer noch von Krieg und Feindlichkeit geprägt. »Türken vor Wien«, »Muslime in Tours und Poitiers« oder auch in Südspanien tauchen immer wieder als Feindbilder im Unterricht auf (vgl. Jonker/ Materne 2009). In diesem Unterricht sollen muslimische Schüler, wenn sie sich als Europäer verstehen möchten, sich von ihren Vorfahren distanzieren. Die Muslime, die vor den Toren Wiens standen, oder die in Tours und Poitiers sowie in Spanien gekämpft haben, müssen muslimischen Schülern als Gefahr und Bedrohung erscheinen. Mit bestimmten Informationen über die Geschichte Europas und seine Auseinandersetzung mit dem Islam gehen muslimische Schüler vom Geschichts- zum Islamunterricht. In diesem Unterricht findet nicht nur eine Belehrung über den islamischen Glauben (aqda), sondern auch eine über rechtliche und soziale Handlungen statt. In diesem Unterricht wird die Geschichte des Islams in Europa noch einmal interpretiert. Die Interpretation kann nicht zu den gleichen Feststellungen führen. Die Betonung des arabisch-islamischen Kontextes d.h. des »Heimatkontextes« des Islams im Islamunterricht führt muslimische Schüler zu einer Art Identifikation mit den Vorfahren, – u.a. mit denjenigen, welche vor Jahrhunderten in Europa lebten.
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Schließlich möchte ich nochmals darauf bestehen, dass der Islamunterricht allein leider die Erwartung der Politiker nicht erfüllen kann. Islamlehrbücher und Islamlehrer können einen Beitrag zur Änderung leisten, sie stellen jedoch nur einen Teil des gesamten Schulwesens und Gesellschaftssystems dar.
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IV. Muslimische Kinder und Jugendliche in politischen und sozialen Konfliktfeldern
Children and Child Poverty in Turkey Didem Gürses Millions of children are experiencing poverty all over the world. It is a problem that exists in both rich and poor countries. As poverty has numerous dimensions, it threatens children by depriving them of the material, spiritual and emotional resources necessary to grow up into healthy, happy and productive adults. Poverty in childhood is the root cause of poverty in adulthood. Therefore, in order to break the generational cycle, poverty reduction must begin in childhood. It has been observed that children experience poverty differently from adults and they have specific needs. Taking this into account, poverty reduction strategies must address the uniqueness of childhood and develop strategies addressing the distinctiveness of children. Turkey is a middle-income country with a dynamic emerging market. With a gross domestic product (GDP) of around US$ 400 billion, it is among the world’s 20 largest economies. Within the last two decades, Turkey has been undergoing a process of fundamental economic, social and cultural transformation as a result of the neoliberal policies implemented during the 1980s, the impact of financial crises and the process of globalization. While the structural transformation has raised living standards and provided new employment opportunities and social integration mechanisms for some, it has also made life more difficult for others. As a result of these economic, social and cultural transformations, the incidence of poverty has increased and has become more visible especially in the cities since the late 1990s. Being the most vulnerable group in society, children have been deeply affected by these developments. This chapter aims to highlight the significance and unique aspects of child poverty in Turkey. The focus will be on child poverty, but, as children are not isolated but depend on their caregivers, the chapter will discuss how the situation of the family and the social environment affect their well being. The condition of children will be explored in relation to maternal and child health, education and child labour. An evaluation of the Turkish social welfare system will also be
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presented and the current social protection mechanisms will be discussed. The chapter will conclude with a summary and review of key findings and policy implications.
1. Poverty Profile of Turkey Over the last three decades, Turkey has been undergoing an intense structural transformation covering social, economic and cultural fields. During the course of the 1980s, Turkey left the previous import substitution model and adopted an outward looking, market-oriented development strategy aiming towards integration within the global economy. This was a radical shift from national developmentalism to neoliberal capitalism. Such a fundamental transition may be identified with different dimensions of a complex but unitary phenomenon: de-industrialization, post-Fordism, and globalization. Their impact manifested in agricultural reforms, a decrease in employment opportunities in the formal manufacturing sector and/or state-owned enterprises and a deregulation of the labour market (Bugra/Keyder 2005: 26; Keyder 2005: 127). Alongside these social and economic developments, Turkey experienced a severe financial crisis in 2001 that led to drastic regressions in the real incomes of the working masses, decreases in employment opportunities and a worsening of the income shares for the poorest segments of the population. During the 1990s, Turkey also faced a grave military conflict due to the ethnic dispute in the south-eastern part of the country, and the poorest segments of that region were forced to migrate to the big cities because of violence and loss of economic sustenance. The major effect of these social and economic developments was an increase in poverty in both the urban and the rural regions during the late 1990s. Even though absolute poverty is low in Turkey at about 0.74 per cent, economic vulnerability is quite high for a middle-income country. It affects about one fifth (17.81 per cent) of the population and is concentrated mostly in the south-eastern and eastern regions of the country (Turkstat 2006). There is a sharp difference in poverty rates between rural and urban households, with rural poverty being substantially greater (at 31.98 per cent compared to 9.31 per cent). Poverty is strongly linked to the size of the household, education and the labour status of the household head. Higher levels of education decrease the poverty risk. Illiterate household heads represent 10.12 per cent of the Turkish population but account for 33.71 per cent of the poor households. As individual education increases, poverty incidence drops dramatically. Whereas poverty incidence is
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14.19 per cent among primary school graduates, it drops to 5.20 per cent among secondary school graduates (Turkstat 2006). Labour-market status is another important correlate of poverty. The risk of poverty is highest (31.98 per cent) for households in which the head is an unpaid family worker. Households of unpaid family workers are even more vulnerable to poverty than the unemployed. Poverty in Turkey is especially a threat for families with many children. In terms of households, the rate of poverty for families with one child is 11 per cent, whereas it rises to 36.3 per cent for families with three children. Turkey is a country with large and entrenched inequalities. Income differentials across regions and social groups are wide and persistent. When measured by the Gini coefficient, inequality in Turkey is close to the levels observed in some highly polarized economies such as Peru or Russia (World Bank 2000: 19). In relation to human development (HD), Turkey has made significant improvements in certain spheres such as infant mortality. However, the country’s overall HD performance has been somewhat unpredictable and at times even disappointing. Turkey moved to the medium development category in 1972 and was doing quite well during the 1990s. If that trend had continued, it might now be among the ›high development countries‹. Unfortunately, it did not continue, and Turkey lost considerable ground with respect to its relative HDI rank (UNDP 2004: 11). Moreover, an international comparison shows that some countries with lower GDP per capita have performed better in relation to literacy and school enrolment, which means that Turkey has not been successful in converting economic growth into individual quality of life. Additionally, gender disparities and variations among geographical regions and social groups are observed in terms of health, education and political representation. South-eastern and eastern regions of the country are much poorer and have lower human development indices than western Turkey. Education continues to be a major factor underlying gender disparity; there is still a gap in literacy between males and females. In Turkey, women were given suffrage in 1933, however, only 50 women were elected to the 550 seats in parliament in the 2007 general elections, holding only 9.1 per cent of the seats. Moreover, female labour participation in the country is still low with women comprising less than 25 per cent of the registered workforce (Turkstat 2007). The Gender Empowerment Measure (GEM) for the year 2005, which is a global indicator of women’s economic and political participation, decision making and level of control over economic resources, ranks Turkey in 76th place, which is inappropriate for a modern and
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middle-income society. Although Turkey has made improvements in women’s living standards over the last 25 years, almost all social indicators tend to be worse for women than for men, and Turkey generally does worse on gender indicators than comparable middle-income countries.
2. Child Poverty in Turkey Children have the right to live in a secure and protective environment providing for their physical and mental needs so that they can grow up into confident, selfrespecting and mature adults. Like adult poverty, childhood poverty is a multidimensional concept covering nutritional, educational and health-related needs as well as more subjective factors such as security, affection and other emotional development needs. However, it differs from adult poverty in that childhood is the most vital period in an individual’s mental, physical and social development. Deprivation during childhood in terms of nutrition, health care, affection and security – even for short periods of time – can have long-term and irreversible consequences. As a result of social and economic developments in recent decades, child poverty has increased in Turkey. In 2006, 25.23 per cent of the under 15-yearolds were experiencing poverty. In the rural regions, child poverty rates stood at 43.63 per cent, which is the highest among EU member and candidate countries (Turkstat 2006). So many children living in poverty means that thousands will die of preventable diseases, some will not attend school but will be working or living on the streets, and a substantial number will be engaged in child labour. Children most at risk of poverty include those who are born into large families with uneducated or low-educated parents; with parents who have migrated to the cities recently; with parents who are unemployed or work in informal jobs having no regular income; and with parents who live in rural and mostly eastern and south-eastern parts of the country. As maternal and child health, education and child labour are the significant factors of child well-being, the situation of children will be examined in relation to these variables.
2.1 Maternal and Child Health in Turkey Although the annual population growth rate of 2.2 per cent from 1985-1990 dropped to 1.5 per cent in 2003, Turkey still has a young population structure. According to the Turkish Demographic and Health Survey (TDHS) for 2003, 29
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per cent of the population is under the age of 15 years (TDHS 2005: 19). It is expected that the annual population growth rate will continue to drop slightly, so the ratio of youth in the total population will remain stable over the coming years. With 1.5 million births each year, Turkey has the highest number of newborns in Europe. However, infant and maternal mortality rates are high compared to other middle-income countries and they are among the highest in Europe. Although a great deal has been done to reduce child mortality rates during the last 25 years, there is still room for improvement. The TDHS for 2003 reveals that infant and under-5 mortality rates in the north and eastern regions are still 40 per cent above the national average. Levels of malnutrition also follow the pattern of urban/rural inequality: the stunted growth rate for the under-5s is 9 per cent in urban areas, 18 per cent in rural areas, 5 per cent in the west and 23 per cent in the east (TDHS 2005: 151). Overall rates of incomplete immunization are high and 52 per cent of infants under one year are not immunized against major diseases. Although infant mortality rates (IMR) have declined dramatically in recent years, there are significant differences between the western and eastern parts of the country. In addition, 56 per cent of deaths occur in the first 4 weeks of life. Rates of malnutrition in the east are almost three times higher than in the western and southern parts of the country, with up to 50 per cent of children showing signs of stunted growth. Some 8 per cent of children are underweight. Although nationwide data on maternal mortality are not available, several largescale surveys on maternal deaths indicate that the magnitude of this problem is quite high (Akin et al. 2001). Turkey has achieved a dramatic reduction in infant mortality rates: from 150 per 1,000 live births in 1970 to 29 per 1,000 in 2003. Although a remarkable success, it is still too high in comparison to countries with similar income levels and HDI rankings. In fact, a number of countries with substantially lower HDI rankings than Turkey (such as Moldova, Vietnam, Syria, Indonesia and Honduras) have performed better in reducing infant mortality rates. Moreover, there is much variation in urban/rural and western/eastern parts of the country in relation to infant and child mortality rates. For urban areas, IMR is 23 per 1,000 live births, whereas in rural areas, it reaches 39 per 1,000. IMR is 22 per 1,000 in the western parts and goes up to 41 per 1000 in the eastern parts of the country (TDHS 2005: 113). The Turkish health system is fragmented with public, private, semi-public organizations, including the Ministry of Health, universities and health pro-
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fessionals providing health care services. A significant proportion of the population is not covered by any of the existing insurance schemes. Provision of health and educational services at the regional level, especially in the eastern and south-eastern parts of the country, is hindered by problems of access and security. Although there have been steady improvements in relation to child and maternal health, this issue still continues to be marked by serious problems due to the persistence of broad geographical, economic and cultural disparities at the national level.
2.2 Education in Turkey Since the foundation of the Turkish Republic in 1923, successive governments have tried to increase the overall literacy rate. Although there has been a significant improvement over the years, illiteracy – particularly in the adult population – still continues to be a serious concern. In 2006, 20 per cent of women and 4 per cent of men were illiterate, and the overall literacy rate for the country was 88.1 per cent (Turkstat 2006). Despite remarkable progress, gender equality in education has not been achieved, and women continue to lag behind men on almost all indicators (Acar 2003: 33). The Eight Year Compulsory Basic Education Law was adopted by the Turkish Grand National Assembly in August 1997. It mandated 8 years of compulsory education and increased the supply of primary education classrooms by 30 per cent, creating room for an additional one million students. The overall objectives of the original Eight Year Compulsory Basic Education Law were to expand opportunities for all children to attend Grades 1 through 8 and to increase the quality of education in order to encourage both the attendance and the completion of 8th grade. The government’s investments in the Basic Education programme yielded a dramatic increase in education coverage, and net enrolment in Grades 1 through 8 rose from 81 per cent to 90 per cent (Hogör 2005: 90). The level of public spending also increased significantly after 1998, both in real terms and as a percentage of GDP. Although Turkey has achieved significant progress, data on education reveal that there is still room for improvement. Survey findings demonstrate that Turkey has to increase the quality of education; especially the parents of poor children are not satisfied with the quality of education their children receive. Second, Turkey has to increase the rate of enrolment in secondary school. The poor, females and children who do not have a secondary school near to their homes are the most disadvantaged groups (World Bank 2005).
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Despite the rapid expansion in primary school enrolment and the substantial improvements in the access of the poor and of girls to school, gender and poverty gaps in education continue to affect Turkey’s education indicators. Aggregate education statistics indicate that roughly 10 per cent of children aged 6-14 are not enrolled in basic education. Large shares of this population belong to two groups: girls and the poor (Mete 2005: 101). When looked at regionally, North East Anatolia, East Anatolia and Southeast Anatolia are the most problematic regions vis-à-vis gender differences in primary education enrolment rates. More than 70 per cent of the children who are not enrolled in primary school are female, and more than 55 per cent have illiterate mothers. These children tend to live in rural areas (67 per cent) and they tend to be poor (53 per cent) (World Bank 2005: 10).
With regard to non-compulsory schooling, the situation is worse. Turkey has one of the lowest pre-school education coverages among all middle-income countries. Less than 14 per cent of 4- to 6-year-olds were enrolled in pre-school in 2003, whereas the average enrolment rate for middle-income countries is 36 per cent (Kaytaz 2005: 96). Furthermore, access to secondary school continues to be limited by the availability of school places, especially in rural areas, as well as family choices. In addition, gender and poverty gaps are greater at the level of secondary education: one in three high school-aged girls is not attending school, compared to only one in 10 boys. This is the largest gender gap among the EU member and candidate countries. The situation in the southeast where only 14 per cent of girls attended secondary school in 2003, is even more frustrating (WB 2005: 4). Turkey’s pattern of education expenditure differs substantially from that of other countries. Total spending on education, covering both public and private expenditures, as a proportion of GDP was approximately 7 per cent in 2005, 65 per cent being public finance and 35 per cent private. Turkish households have to spend quite a significant proportion of their income on the education of their children, and this may have serious implications for low-income families. Although primary education in Turkey is free, hidden costs of education – such as clothing, transportation, meals and private tutoring – may be quite high. Annual school expenses average at about 390 US$ but can reach up to 1,300 US$, depending on the level of the school the child is attending. As 71 per cent of families live on less than 350 US$ a month, household income may not suffice to cover these hidden costs. This situation may also explain the high dropout rates at all levels in the Turkish education system (UNICEF 2006). Compared to the countries of Europe and the OECD, however, Turkey allocates a smaller
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share of governmental spending to education. Turkey’s high total spending on education is due to the exceptionally high level of private spending. In June 2003, the Ministry of National Education (MoNE) launched a campaign, ›Come on Girls Let’s Go to School‹, with the support of UNICEF, aiming to close the gender gap in primary school enrolment through the provision of a quality basic education for all girls. Approximately 250,000 of the total of 600,000 girls who are out of school live in the southern and eastern provinces of the country. Therefore, in a first step, the campaign focused on 10 south-eastern provinces with the lowest enrolment rates for girls. In the second and third years of the campaign, new provinces were added in order to raise nationwide public awareness on the issue (UNICEF 2006). Although the first results of the campaign reveal a significant increase in the enrolment rates for girls, it is too early to decide whether this reflects a permanent change. In general, Turkey has successfully increased educational achievement over the last 40 years, as measured on all indicators, in spite of political and economic instability. In order to develop education to meet Europe averages, targeted strategies to increase enrolment rates should be initiated at all education levels especially in the four important regions of East Black Sea, North Eastern Anatolia, South Eastern Anatolia and Eastern Anatolia. The education system should also be evaluated according to the needs of the country and its prospects for EU membership (Hogör 2005: 94).
2.3 Child Labour in Turkey Recent economic developments, population growth, migration from rural areas to the cities, traditions in agricultural communities and the growth of the unregistered sector have all contributed to the problem of child labour in the country. According to the Child Labour Survey of 1999, Turkey has a population of 16,088,000 children in the 6- to 17-year-old age group, of which 1,635,000 (10.2 per cent) are working; 61.8 per cent of the working children are boys and 38.2 per cent are girls, and 57.6 per cent of the economically active children are working in the agricultural sector. In the same age group, 78.8 per cent are attending schools. The same study found that 21.4 per cent of the children in the compulsory age group were working in 1994, but this had dropped to 19.3 per cent in 1999. Although this is a 2 per cent decrease in the proportion of working children over a 5-year period, an analysis on a gender basis gives a pessimistic view: the percentage of girls working in domestic service increased from 33 per
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cent in 1994 to 39.6 per cent in 1999. This increase affects the percentage of total working children negatively (ILO and Turkstat 2000: 17-25). In 1992, Turkey was one of the first six countries to take direct action to fight child labour through the International Programme on the Elimination of Child Labour (IPEC). This project reached 50,000 children, and 60 per cent of them were withdrawn from work and placed in school. As a result, Turkey’s efforts are now accepted as good practice in the fight against child labour. Although great progress has been achieved, there are still serious problems. According to statistics for the year 2000, 11.3 per cent of the 12- to 14-year-old age group are still working, and the percentage of children not attending school among the compulsory school age group is still high. A recent study conducted by the Turkish Statistical Institute (Turkstat 2006) found that there are 16,264,000 children in the 6- to 17-year-old age group, and that 5.9 per cent of them (958,000) are working – 47.7 per cent in urban regions and 52.4 percent in rural ones. Compared with previous research, this indicates that the rate of working children is decreasing. In October 1994, it was 15.2 per cent; in October 1999, it dropped to 10.3 per cent; and in 2006, it was 5.9 per cent. Although Turkey has made progress during the last decade, the rate of working children is still too high for a middle-income country.1
3. Social Protection Mechanisms Social protection in Turkey consists primarily of limited formal pension and social welfare systems supplemented to a major extent by informal mechanisms. The formal social security system is highly fragmented; benefits and contributions depend mainly on one’s occupation. The three main institutions are the Social Security Institution (SSK) covering private sector employees, the Retirement Fund (ES) covering public sector civil servants and the Bag-Kur for the self-employed and farmers. The fragmented structure of the Turkish social security system has been much discussed over the last two decades. The system has also caused macroeconomic instability as a result of the deficits it has created. Therefore, the government is currently working on a reform package to develop a new social security system to provide general health insurance for all citizens and gather all the social security institutions under one roof. The Social Assistance and Solidarity Fund (SASF) is the main public institution in the field of poverty alleviation in the country. Established in 1986, it
1 See http://www.tuik.gov.tr/PreHaberBultenleri.do?id=482&tb_id=1.
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was designed to help people in a state of poverty and to take measures to enforce social justice by ensuring a fair distribution of income. Especially since the mid1990s, the Fund has distributed a non-negligible amount of resources to provide health and education support as well as to satisfy the urgent needs of those in extreme poverty, mostly through in-kind transfers of fuel or food. It also provides small interest-free credits, in cash or in kind, especially to the rural poor. In 1992, the Government launched the ›Green Card Program‹ to provide health care services to poor people who are not covered by any of the existing social security systems. Currently, there are about 13 million Green Card holders and their health expenditures constitute the largest item in the budget of SASF. The second largest item in the Fund’s budget is allocated to students at different levels, including scholarships, provision of school supplies and meals or snacks for school children. After the 2001 financial crisis, the Government adopted a proactive attitude in the struggle against poverty and started allocating financial resources through the Social Risk Mitigation Project (SRMP) with the support of the World Bank. The Conditional Cash Transfer Programme (CCT) was first adopted under the SRMP in 2001 to provide an incentive to the poor to keep their children in school. Implementation of the CCT is an important and new phase in Turkey’s social policy. It is designed to minimize the negative effects of the 2001 financial crisis. This includes preventing the exclusion of the poorest segments of the population from society, and avoiding effects of the burden of poverty on children such as malnutrition and educational deprivation. Expectant mothers and families with children up to 6 years of age receive small amounts of money when they visit health centres for regular check-ups. Another form of payment is made on an educational basis. SASF is providing a conditional cash transfer for poor families who send their children to school with an extra 20 per cent incentive for girls – and this payment is made to the mothers. Since 2003, the number of students benefiting from the CCT on an educational basis has increased. Payments were made to 59,000 students in 2003 and 1,554,797 in 2006 – a significant improvement. It has been observed that among students benefiting from the CCT, the rate of enrolment in secondary school has increased, showing that the application of CCT has had a positive impact on Turkey’s education indicators.2 Beginning in the school year of 2003, the government started a new scheme. In order to prevent school dropouts due to poverty, the Ministry of National 2 See www.sydgm.gov.tr/sydtf/web/gozlem. aspx? sayfano=68.
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Education (MoNE) began to provide free school textbooks to all primary school students. Textbooks for secondary school students also started to become available in 2006. Established to provide services to children in need of protection, the Social Services and Child Protection Agency (SHÇEK) provides institutional care and family services, child adoption, social assistance, nursery and daily care services for children who are in material or psychological need. Alongside children, the Agency’s responsibilities also cover the aged and women exposed to violence. Targeting a wide range of groups but not having the necessary financial and technical capacity, the institution has failed to reach out to the population in need, and the services provided remain very poor. To provide adequate social assistance to children in need, its institutional and operational capacity should be improved; outreach skills should be developed. Turkey has ratified the International Conventions on children’s and women’s rights such as the International Convention on the Rights of the Child (CRC) and the Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination against Women (CEDAW). Since the 1990s, Turkey has integrated into its programmes the revision of internal procedures, withdrawal of reservations and the development of policies consistent with international organizations such as the UN, the European Council, the ILO, the OECD and the European Security and Cooperation conference regarding women and children. The General Directorate for Women’s Status and Problems was established in 1990. In the years since then, it has been implementing a national program to enhance women’s integration in development, to raise women’s social status, to increase their level of education and to enable them to take part in working life and decision-making processes. As part of these efforts, the minimum marriage age for girls was raised from 15 to 17, a juvenile justice system is being established for children and youth and a new civil code giving women equal rights to matrimonial property has been accepted.
4. Conclusion The rapid transformation process in Turkey over the last three decades has engendered a wide range of social, economic, demographic, political and cultural factors leading to childhood poverty. Although the government has adopted a proactive attitude, especially after the 2001 financial crisis, and has introduced new elements into the social welfare system, poverty in general and childhood poverty in particular still continue to be a serious concern. The economic and political structure of the country and the regional, religious and ethnic features of
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the population both affect and shape the dynamics, extent, dimension and the depth of the problem. Research findings have shown that issues related to gender may operate as significant causes of poverty. Women’s and girls’ access to education, health services and employment is hindered due to gender-related issues, and these, in turn, reinforce their vulnerable positions in society. It is a well-known fact that household income is not shared evenly; on the contrary, there is a traditional gender bias favouring the boys of the family over the girls. Therefore, policies designed to eradicate child poverty must take into account all these determinants and the social realities of the country. It must be kept in mind that poverty wears a multitude of faces and has numerous dimensions. It is a very dynamic and complex process with multiple and interacting causes, meanings and manifestations. The aim should be to improve children’s quality of life and well-being rather than simply to reduce poverty. Recent developments, especially the current economic crisis, have shown that Turkey’s social welfare system has several shortcomings. One of these is the fragmented nature of the social protection mechanisms. This aspect prevents coordination and cooperation among the existing social welfare institutions, which, in turn, leads to a waste of resources and a lack of transparency and accountability. The lack of any efficient flow of information on the available social provisions and the people benefiting from them may cause duplications, poor targeting and even misuse. Second, the Turkish social protection system is connected to holding a formal-sector job; therefore, it usually fails to reach the poorest segments of the population. However, research has revealed that the children most at risk of poverty include those whose parents work in informal and casual employment and have no regular income as well as those whose parents are either long-term unemployed or underemployed, and these are not covered by any social insurance system. As these groups are the ones affected most deeply by the crisis and they are the poorest segments of the society, Turkey has to develop systematic interventions, build up novel and creative mechanisms to reach those who cannot be accessed through existing formal protective schemes. Moreover, the recent financial crises have shown that Turkey’s current data on poverty cannot provide policymakers with reliable and adequate information about the causes, dimensions and the quality of poverty, and especially child poverty. Therefore, the government has to form a broad database; both qualitative and quantitative techniques must be used in conjunction to attain a deeper understanding of poverty (enses 2003: 338). Nowadays, the Turkish government is collecting data to help determine the depth of child poverty as
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well as to measure progress province by province. It is hoped that this will be a good start for the preparation of a strategy to fight child poverty. Furthermore, the links between macro-economic policies and their impacts on the well-being of children must be analysed with great sensitivity. Implementation of neoliberal policies and the reduction of social expenditure may have severe effects on children. Policies on child well-being and quality of life should embody cultural, social and political goals and not just economic ones. This approach will function as an indispensable investment in both the present and the future of the country.
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Palästinensische Jugendliche und politische Sozialisation – Bildung, Religion und Region in der Entwicklung demokratischer politischer Identität Hilke Rebenstorf Einführung: Politische Sozialisationsforschung als Demokratieforschung Politische Sozialisationsforschung gibt es meines Wissens in der arabischen Welt nicht, wie es dort auch kaum Jugendforschung gibt. Selbst in den palästinensischen Autonomiegebieten, in denen ansonsten die Meinungsforschung weit entwickelt ist, fehlt es an Untersuchungen, die sich speziell den politischen Überzeugungssystemen Jugendlicher widmen. Der Tagungsband einer internationalen Konferenz im Jahr 2005 (Hegasy/Kaschl 2007) zeigt, mit welchen politischadministrativen Problemen und Schwierigkeiten beim Feldzugang die Jugendforschung in diesen Ländern zu kämpfen hat. Dabei ist politische Sozialisationsforschung auch Demokratieforschung1 und deshalb ist sie bedeutsam für die Palästinensischen Autonomiegebiete, und, so würde ich behaupten, für die arabische Welt insgesamt, in der ein Wille zur Demokratisierung deutlich erkennbar wird. Im Folgenden soll dies anhand eines international vergleichenden Forschungsprojekts zur politischen Sozialisation Jugendlicher verdeutlicht werden. Hierzu werden zunächst kurz der politische und politikwissenschaftliche Hintergrund der Studie sowie deren praktische Durchführung in der Westbank skizziert. Daran anschließend werden einige Eckdaten zu Bildung, Religion und
1 Dies leitet sich aus der Geschichte ihrer Entstehung und Entwicklung ab (vgl. z.B. Hopf/Hopf 1997; Rebenstorf 2008) und ist besonders erkennbar in den international vergleichen Studien zur Civic Education (ICCS online; Torney et al. 1976, 2000).
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Region in der Westbank vorgestellt. Nach kurzen Anmerkungen zur Bedeutung von Bildung und Religion in der politischen Sozialisation generell werden dann politische Identitäten Jugendlicher in der Westbank im Jahr 2000 – vor Ausbruch der Al-Aksa-Intifada – vorgestellt. Der Beitrag schließt mit einigen offenen Fragen und vorsichtigen Schlussfolgerungen.
Die Studie – der politische und politikwissenschaftliche Hintergrund Das Forschungsprojekt zur politischen Sozialisation Jugendlicher in Ostdeutschland (Brandenburg), Israel und der Westbank stellte dezidiert die Frage nach den Bedingungen demokratischer politischer Identitätsbildung.2 In allen drei Regionen waren aufgrund politischer Umbruchsituationen Mitte bis Ende der 1990erJahre die Bedingungen für eine demokratische politische Sozialisation prekär. Die Studie war als dreijährige Paneluntersuchung angelegt, was ermöglichte, die Entwicklung der politischen Identität über einen längeren Zeitraum zu beobachten. Es interessierten die Fragen, wie Jugendliche zu ihren politischen Einstellungen kommen, woher ihre politische Handlungsbereitschaft rührt und welche Vorstellungen von Demokratie sie entwickeln. Dabei wurde Sozialisation als Prozess verstanden, in dem sich Jugendliche aktiv mit der sie umgebenden Umwelt auseinandersetzen (Hopf/Hopf 1997; Hurrelmann 1983). Noch heute ist unschwer zu erkennen, dass die palästinensische Gesellschaft überwiegend patriarchal organisiert ist und traditionell wenig Raum für demokratische Partizipation bietet. Die immer wiederkehrenden Korruptionsvorwürfe gegenüber politischen Organisationen und staatlichen Einrichtungen sowie der Einfluss der Hamulas (Familienclans) in bestimmten Regionen zeugen davon, dass Klientelstrukturen in der Westbank noch weit verbreitet sind. Über die Jahre der israelischen Besatzung, insbesondere mit und infolge der Intifada 1987, hat sich jedoch eine zivilgesellschaftliche Parallelorganisation herausgebildet, welche die traditionelle Sozial- und Herrschaftsstruktur deutlich herausforderte (Badawi 2003; Jamal 1995; Jarbawi 1990; Kimmerling/Migdal 2003; Mazawi/Yogev 1999; Rebenstorf 2009; Robinson 1997; Tamari 1990, 1999). Die weitere Entwicklung der demokratischen Gesellschaft in den Gebieten unter palästinensischer Selbstverwaltung hängt von zahlreichen Faktoren ab. Zentral ist mit Sicherheit die Herausbildung einer politischen Kultur, die im besten Falle partizipativ ist und nicht parochial (vgl. zur Terminologie Almond/ 2 Siehe für eine ausführliche Beschreibung Rebenstorf 2004.
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Verba 1963) oder auch, im Sprachgebrauch Putnams (1993), staatsbürgerlich und nicht klientelistisch.
Die Studie – die praktische Durchführung Ende 1997 wurde aus allen Sekundarschulen der Westbank eine Stichprobe ausgewählt, die sicherstellte, dass relevante sozialstrukturelle Merkmale der Bevölkerung angemessen repräsentiert waren: Christen und Moslems, Jungen und Mädchen, Flüchtlinge und Nicht-Flüchtlinge. SchülerInnen der 10. Jahrgangsstufe der ausgewählten Schulen wurden dann zu Hause besucht und gebeten, einen Fragebogen auszufüllen.3 Die erste Erhebung fand im Frühsommer 1998 statt, drei weitere wurden jeweils im Jahresabstand durchgeführt. Hier soll nicht der Entwicklungsprozess der politischen Identitätsbildung nachgezeichnet werden, sondern es wird auf die Komponenten Religion und Bildung in ihrem Zusammenhang mit politischen Einstellungen und politischer Handlungsbereitschaft fokussiert. Grundlage hierfür sind die Daten der dritten Erhebungswelle vom Frühsommer 2000. Die Jugendlichen sind zu dieser Zeit etwa 18 Jahre alt und haben die formative Phase nahezu abgeschlossen. Einige Kennzahlen zur Stichprobe sind in Tabelle 1 festgehalten. Tabelle 1: Zusammensetzung der Population der 3. Erhebung 2000 (N=573) Jungen 43% Schulbildung der Eltern* Väter Mütter Mädchen 57% Weniger als 8 Jahre 16% 26% Durchschnittsalter 17,5 Jahre 8 bis 10 Jahre 21% 29% Sehr religiös, religiös 58% 12 Jahre 26% 20% Wenig religiös, säkular 42% Mehr als 12 Jahre 24% 14% Moslem 89% Keine Angabe 13% 11% Christ 11% Erwerbsstatus der Eltern Jericho 4% Vollzeit erwerbstätig 55% 12% Hebron/Südhebron 29% Teilzeit erwerbstätig 12% 2% Jerusalem 20% Arbeitslos 11% 6% Nablus 16% Keine Erwerbsperson 14% 76% Bethlehem 20% Keine Angabe 8% 4% Ramallah 11% Flüchtling** mind. 23% * Angaben der Jugendlichen. ** Diese Frage wurde in der dritten Erhebungswelle nicht mehr gestellt. Die hier referierte Zahl entstammt den Angaben der zweiten Welle, die aufgrund von Zugangsproblemen zum Feld einen erheblich geringeren Stichprobenumfang aufwies als die dritte Welle. 23% Jugendliche aus Flüchtlingsfamilien ist also eher eine Unterschätzung, da für 30% der Jugendlichen gar keine Angaben vorliegen.
3 Bei den Interviewern handelte es sich um Studierende der Universität Bethlehem.
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Die Stichprobe stellt kein exaktes Abbild palästinensischer Jugendlicher der Westbank dar: Christen sind überrepräsentiert und auch die Regionen sind nicht alle vertreten (PCBS 2004: 210). Diese Verzerrungen in der Stichprobe verbieten es, deskriptive Aussagen über die Ansichten der Jugendlichen in der Westbank zu treffen, analytische Schlussfolgerungen sind jedoch zulässig.
Bildung und Religion auf der Westbank – einige Eckdaten zum Kontext der Sozialisation Das Bildungsniveau der palästinensischen Bevölkerung der Westbank erreicht bei den unter 45-Jährigen den Stand westlicher Industrienationen. Erst in den Altersgruppen darüber liegt der Anteil der Analphabeten deutlich höher – mit einer ausgeprägten Geschlechterdifferenz (PCBS 2004: 259). Die allgemeine Schulpflicht wurde vor bereits rund 40 Jahren durchgesetzt. Heute liegt die Schulbesuchsquote der 6- bis 14-Jährigen bei fast 100 Prozent und nimmt erst danach deutlich ab: 15- bis 17-Jährige besuchen zu 72 Prozent Schulen, 18- bis 22-jährige zu 29 Prozent (PCBS 2001: 47). Entsprechend diesen Eckdaten ist der Datensatz der hier präsentierten Studie zugunsten der höher Gebildeten verzerrt, da nur Jugendliche befragt wurden, die mit 17 Jahren noch im Schulsystem eingeschrieben waren. Auch die Eltern der Jugendlichen sind überdurchschnittlich gut gebildet (PCBS 2004: 260). Das palästinensische Statistikamt macht zur Religionszugehörigkeit der Bevölkerung keine Angaben. Andere Quellen verweisen auf rund drei Prozent Christen und 97 Prozent Moslems.4 Religionszugehörigkeit ist zweifelsohne von politischer Relevanz, wenn es dezidiert islamische politische Parteien wie die Hamas gibt und in den dezidiert säkularen Gruppen wie der PFLP die Christen die Führung dominieren5 – es sind unterschiedliche Gesellschaftsvorstellungen, die hier in der Gestalt religiöser Überzeugungen repräsentiert werden. Die Religionsverteilung ist nicht über alle Gegenden der Westbank gleich. Christen leben regional konzentriert in Jerusalem, Bethlehem und Ramallah. Die regional verschiedene Verteilung der Religionsgruppen, die unterschiedliche geografische Nähe zu Israel und zu jüdischen Siedlungen, differierende historisch gewachsene Wirtschaftsschwerpunkte und Herrschaftsstrukturen, sowie unterschiedliche Betroffenheit durch Flüchtlingslager lassen vermuten, 4 Fischer Weltalmanach 2006. Das World Fact Book der CIA macht Angaben über die Gesamtbevölkerung der Westbank, bezieht also auch die jüdischen Siedler mit ein. 5 Laut Tsimhoni (2001) waren Christen lange Zeit in der Führungsschicht der palästinensischen Autonomiegebiete überrepräsentiert.
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dass auch die Region, in der die Jugendlichen aufwachsen, einen Effekt auf die politische Identitätsentwicklung hat. Es ist z.B. auffallend, dass der Anteil an »Märtyrern« der Al-Aqsa-Intifada sehr ungleichmäßig verteilt ist. So wohnen im Distrikt Nablus lediglich rund 14 Prozent der palästinensischen Bevölkerung der Westbank, von dort stammt allerdings fast ein Viertel der »Märtyrer«. Jerusalem beherbergt demgegenüber fast 18 Prozent der Bevölkerung, aber nur 5 Prozent der »Märtyrer« (siehe Tabelle 2). Tabelle 2:
Regionale Verteilung der Bevölkerung, der Flüchtlinge in Lagern und der »Al-Aqsa-Märtyrer« (Spaltenprozente) Anteil an der Anteil an Flüchtlingen in Anteil an »Märtyrern« Bevölkerung (2000)a Lagern (2006)b (2002)c Jenin 10,7 8,5 15,3 Tubas 2,0 2,5 Tulkarm 7,1 14,5 10,9 Qalqilya 3,9 4,4 2,6 2,4 Salfit Nablus 13,8 28,2 22,5 Ramallah 11,5 18,5 10,0 Jericho 1,8 4,3 1,3 Jerusalem 17,5 5,7 4,9 Bethlehem 7,3 16,0 10,9 Hebron 21,7 4,2 14,9 a Eigene Berechnungen nach PCBS 2004: 210. b Eigene Berechnungen nach UNRWA-Angaben (www.un.org/unrwa/refugees/westbank.html, Zugriff am 10.08.2008) Stand 31.12.2006. c Eigene Berechnungen nach PCBS 2002: 57. Die Tabelle dort ist überschrieben »Palestinian Martyrs in Al-Aqsa Uprising (Intifada) by District of Residence and Age Group, 29/9/20008/5/2002«.
Bildung, Religion und politische Sozialisation Bildung und Religion sind zentrale Parameter in der Herausbildung einer spezifischen politischen Identität. Egal an welcher Fachdisziplin wir uns orientieren, kognitive Mobilisierung und Säkularisierung sind sowohl in der theoretischen Analyse als auch in der empirischen Forschung aufs engste verbunden mit Ansichten und Verhalten, die wir üblicherweise als demokratisch bezeichnen. Bereits Durkheim (1992) beschrieb um die Wende zum 20. Jahrhundert den Modernisierungsprozess, dabei ausdrücklich Bildung und Säkularisierung erwähnend, als eine Verschiebung der gesellschaftlichen Integrationsform von einem gesellschaftlichen Zusammenhalt, der auf primordialen Bindungen und traditionalen Hierarchien beruht (mechanische Solidarität) zu einer im Wesentlichen durch Arbeitsteilung vermittelten Integration (organische Solidarität), in der
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individuelle Freiheit erst möglich wird. Dieses Thema wurde vielfältig variiert, und mit der Etablierung der politischen Kulturforschung wurde der empirische Zusammenhang zwischen Bildung und Säkularisierung einerseits, demokratischen Einstellungen und Verhaltensweisen andererseits nachgewiesen. Insbesondere Ingleharts Arbeiten zur Stillen Revolution und zum gesellschaftlichen Wertewandel sind hier wegweisend (Inglehart 1971, 1977, 1998, 2003). Basieren die Thesen über den Zusammenhang von Bildung und demokratischer Einstellung auch überwiegend auf Forschung in der westlichen industrialisierten Welt, so sollten für nicht-westliche, nicht voll industrialisierte Staaten auf jeden Fall auch die theoretischen Annahmen der Modernisierungstheorie gelten; empirisch ist dies jedoch noch eine offene Frage. Die Analysen des World-Values-Survey zeigen allerdings, dass sich Religiosität und auch Religionszugehörigkeit in diesen Ländern durchaus zumindest auf den demokratischen Wertekanon auswirken (Norris/Inglehart 2002; Esmer 2003; Moaddel/Azadarmaki 2003). Höhere Bildung und geringere Religiosität sollten die Herausbildung einer demokratischen politischen Identität fördern. Dies sollte sich sowohl auf der Einstellungs- als auch auf der Verhaltensebene zeigen. Zusätzlich ist zu bedenken, dass nicht nur individuelle Eigenschaften, sondern auch die gesellschaftliche Makrostruktur auf die Herausbildung individueller Einstellungen einwirkt. Deshalb, und auch angesichts der Vermutung über regionale Differenzen in der Westbank, soll neben dem Einfluss von Bildung und Religion auch überprüft werden, ob demokratische Einstellungen und Verhaltensbereitschaften regional variieren.
Politische Identitäten in der Westbank – Ergebnisse einer Jugendstudie Die zentrale Frage der politischen Sozialisationsforschung ist also diejenige nach der Entwicklung demokratischer politischer Überzeugungen und Handlungsbereitschaft. Auf der Einstellungsebene heißt dies, die Minimalanforderungen an demokratische politische Systeme zu unterstützen: das Recht auf Opposition, auf freie Meinungsäußerung, auf freie und geheime Wahlen etc. Auf der Verhaltensebene gehört dazu die Bereitschaft zu wählen, die Neigung, auch andere Formen der legalen politischen Partizipation auszuüben wie z.B. Demonstrationen, sowie die Ablehnung gewaltsamer Formen der politischen Beteiligung.6
6 In der politischen Partizipationsforschung wird üblicherweise zwischen legalem Protest, zivilem Ungehorsam und illegalem Protest unterschieden. Dabei ist auch der zivile Ungehorsam illegal jedoch i.d.R. nicht gewaltförmig (Barnes/Kaase 1979; Kaase 1993; Fuchs 1995).
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Bedeutsam für die Stabilität des politischen Systems ist darüber hinaus das Vertrauen, das die Bürger in die Responsivität des Systems haben – der »sense of external political efficacy« –, sowie das Vertrauen der BürgerInnen in ihre eigene politische Fähigkeit – der »sense of internal political efficacy« – sowie, damit zusammenhängend, die Bewertung des Institutionensystems (z.B. Easton 1965, 1975; Fuchs 1993; Putnam 1993). In der hier vorgestellten Studie waren Indikatoren zu allen diesen Aspekten erhoben worden mit Instrumenten, die in der international vergleichenden politischen Kulturforschung regelmäßig Anwendung finden.7 Demokratische Überzeugungssysteme wurden mithilfe der Demokratieskala erhoben, die zwei verschiedene Staatskonzepte widerspiegelt: ein liberales Demokratiemodell und eines, das eher autoritäre Positionen unterstützt. Politische Partizipationsbereitschaft wurde ebenfalls mit einer bewährten Skala erhoben und in die beiden Subskalen legale Partizipationsbereitschaft und illegale Partizipationsbereitschaft unterteilt. Die Wahlbereitschaft wurde über eine modifizierte »Sonntagsfrage« erhoben und die Angaben entsprechend dichotomisiert. Das Vertrauen in die Responsivität des politischen Systems und in die eigenen politischen Fähigkeiten wurde ebenfalls über Skalen gemessen. Das Vertrauen in politische Institutionen können wir nur im Hinblick auf politische Parteien ermitteln. Die acht wichtigsten Parteien der Westbank sollten anhand eines Sympathiethermometers von –5 bis +5 bewertet werden. Die interessante Frage ist nun die nach den Faktoren, welche eine mehr oder weniger demokratische Haltung begünstigen. In der folgenden Analyse wird das Universum möglicher Einflussfaktoren auf die bereits genannten beschränkt: Bildung (der Eltern), Religionszugehörigkeit, Religiosität, Geschlecht und Region, in der die Jugendlichen wohnen. Darüber hinaus werden noch zwei soziodemografische Standardgrößen berücksichtigt: der Erwerbsstatus der Eltern sowie das relative Einkommen. Die schrittweise multiple Regression für das liberale Demokratiemodell (Tabelle 3, S. 278) zeigt, dass mit höherer Bildung im Elternhaus dieses Modell eher Zustimmung findet. Christen bewerten es positiver als Muslime. Besonders negativ wirkt sich der Wohnort Nablus auf die Unterstützung der liberalen Demokratie aus, während sie in Ramallah signifikant positiver eingeschätzt wird. Die Jugendlichen aus Nablus unterstützen allerdings auch das autoritäre Staatsmodell weniger als die Bewohner anderer Bezirke. Die Bildung im Elternhaus hat keinen Effekt hierauf, jedoch das Geschlecht, die Religionszugehörigkeit und die Religiosität. Mädchen, 7 Vgl. für den genauen Wortlaut der Fragen und für die Skalenbildung Tabelle 7, S. 286.
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Christen und nicht-religiöse Jugendliche bewerten das Modell des autoritären Staates signifikant negativer als Muslime, Jungen und religiöse Jugendliche. Tabelle 3:
Schrittweise multiple Regression zur Erklärung der Varianz der Demokratiemodelle (ßWerte) Liberale Demokratie Autoritärer Staat Bildung der Eltern 0,102** -a Geschlecht --0,122* Christ (0=Moslem, 1=Christ) 0,085* -0,121** Religiosität (1=säkular) --0,133** Wohnort Nablus -0,406** -0,279** Wohnort Bethlehem n.s. -Wohnort Jerusalem -n.s. Wohnort Hebron -n.s. Wohnort Ramallah 0,128** -R² 0,23 0,089 a) 0=Jungen, 1=Mädchen. ** auf 99%-Niveau signifikant, * auf 95%-Niveau signifikant . n.s. nicht signifikant, bei schrittweiser multipler Regression aus der Analyse ausgeschlossen. -- nicht in die Analyse aufgenommen wegen fehlender Korrelation.
Die Bereitschaft zu legaler und zu illegaler Partizipation basiert auf unterschiedlichen Prädiktoren (Tabelle 4). Bildung der Eltern hat einen positiven Effekt auf die legale Partizipationsbereitschaft. Das Geschlecht verweist in beiden Fällen auf die geringere Bereitschaft der Mädchen, politisch aktiv zu werden. Je besser die Beschäftigungssituation der Eltern, umso höher ist die Bereitschaft zur illegalen politischen Partizipation. Die Jugendlichen aus Nablus sind eher bereit an illegalen Aktionen teilzunehmen, die Jugendlichen aus Jerusalem eher an legalen. Bei der Wahlbereitschaft sind es lediglich die Regionen, die einen Effekt zeigen: Die Jugendlichen aus Nablus sind zu einem erheblich geringeren Teil bereit, wählen zu gehen, wogegen die Wahrscheinlichkeit, sich an einer Wahl zu beteiligen, mit einem Wohnsitz in Jerusalem oder Hebron auf das 2,5-fache steigt. Beim Vertrauen in die Responsivität des politischen Systems oder in die eigenen politischen Fähigkeiten fallen die Mädchen besonders auf, die weniger an ihre eigenen Fähigkeiten glauben als die Jungen (Tabelle 5). Christen vertrauen weniger auf die Responsivität des politischen Systems als auch auf ihre eigenen politischen Fähigkeiten als Muslime. Jugendliche aus Jerusalem, die, wie eben berichtet, häufiger zur Wahl gehen würden als andere, haben dennoch weniger Vertrauen in die Responsivität – aber vielleicht würden sie ja auch deshalb eher wählen gehen, um neue Politiker an die Macht zu bringen. Und die Jugendlichen aus Hebron, die ebenfalls eine erhöhte Wahlbereitschaft zeigen, glauben weniger an ihre eigenen politischen Fähigkeiten als die anderen.
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Tabelle 4:
Schrittweise multiple Regression zur Erklärung der Varianz in der Bereitschaft zu politischer Partizipation (ß-Werte) – Logistische Regression zur Wahlbereitschaft (expB) Legale Partizipation Illegale Partizipation Wahlbereitschaft Bildung der Eltern 0,084* --Geschlechta -0,205** -0,174** n.s. Beschäftigungssituation -0,131** -n.s. -0,122** -Christ -n.s. -Religiosität Wohnort Nablus -0,327** 0,268** Wohnort Jericho -n.s. n.s. Wohnort Jerusalem 0,204** -2,710** Wohnort Hebron --0,101* 2,587** R² 0,08 0,09 0,20 (Nagelkerke) a) 0=Jungen, 1=Mädchen. ** auf 99%-Niveau signifikant, * auf 95%-Niveau signifikant. n.s. nicht signifikant, bei schrittweiser multipler Regression aus der Analyse ausgeschlossen. -- nicht in die Analyse aufgenommen wegen fehlender Korrelation. Schrittweise multiple Regression zur Erklärung der Varianz politischer Effektivitäta (ß-Werte) Externe Effektivität Interne Effektivität Geschlechtb --0,201** Christ -0,123** -0,121** --0,098* Religiosität Wohnort Nablus n.s. n.s. Wohnort Jerusalem -0,200** -Wohnort Hebron --0,153** R² 0,043 0,09 a) Externe Effektivität ist Vertrauen in die Responsivität des politischen Systems, interne Effektivität ist das Vertrauen in die eigenen politischen Fähigkeiten. b) 0=Jungen, 1=Mädchen. ** Auf 99%-Niveau signifikant, * auf 95%-Niveau signifikant. n.s. Nicht signifikant, bei schrittweiser multipler Regression aus der Analyse ausgeschlossen. -- Wegen fehlender Korrelation nicht in die Analyse aufgenommen. Tabelle 5:
Ein weiterer Indikator für das Vertrauen in das politische System wird aus der Bewertung der Parteien gewonnen. Sie sind diejenigen, die um politische Ämter ringen und die entsprechenden Positionen besetzen. Es ist alleine der Wohnbezirk, der Erklärungskraft für die Parteienbewertung hat, und wieder einmal ist es Nablus, wo die negativen Einstellungen besonders stark sind: Eine einfache Auszählung zeigt, dass von den Jugendlichen in Nablus 86 Prozent keine einzige Partei positiv bewerten – in deutlichem Unterschied zu grade einmal einem Fünftel in Hebron, Jerusalem und Ramallah.
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In der Parteienbewertung drückt sich eine relativ große Distanz zu den politischen Repräsentanten aus. Rund ein Drittel der befragten Jugendlichen bewertet keine Partei positiv – wen können sie überhaupt wählen, wem können sie vertrauen? Nehmen wir noch die rund 15 Prozent hinzu, die lediglich eine Partei im positiven Bereich verorten, können wir für rund die Hälfte der Jugendlichen sagen, dass sie keine wirkliche Wahl haben. Dieses Phänomen finden wir auch zunehmend in westlichen Demokratien, und betrachten es unter dem Stichwort Politikverdrossenheit mit Sorge. Die Folgen für die Herausbildung einer demokratischen politischen Identität sind jedoch aufgrund des etablierten Institutionensystems, in dem Partizipationsmöglichkeiten in vielfältiger Weise existieren und in dem politische Sozialisation durch eine weitgehend demokratische politische Kultur nahezu en passant verläuft, weit weniger dramatisch. Für die Westbank stellt sie jedoch die Frage, welche Bedeutung eine derart geringe Möglichkeit zur politischen Identifikation für eine demokratische politische Identitätsentwicklung hat?
Drei politische »Typen« Eine Clusteranalyse der Angaben zur demokratischen Einstellung, zur Bereitschaft zu politischer Partizipation, zur Einschätzung über die Responsivität des politischen Systems und zu den eigenen politischen Fähigkeiten hat drei deutlich unterscheidbare Typen hervorgebracht. Die erste Gruppe ist mit 372 Fällen, also fast zwei Dritteln der Befragten am größten (Tabelle 6). Ihr deutlichstes Kennzeichen ist die überdurchschnittliche Unterstützung demokratischer Werte, wobei sich allerdings die Zustimmung zu liberaler Demokratie und autoritärem Staat kaum unterscheiden. Die Mitglieder dieser Gruppe sind deutlich stärker bereit, an legalen politischen Aktionen teilzunehmen als an illegalen. Sie haben ein geringes Vertrauen in die Responsivität des politischen Systems, zeigen aber dennoch eine überdurchschnittliche Wahlbereitschaft. Gewählt würde zu einem Drittel die Fatah, die islamischen Parteien lägen mit 11 Prozent (Hamas) bzw. 5 Prozent (Jihad Islami) weit dahinter. Die Mitglieder dieser Gruppe haben von allen drei Gruppen das positivste Selbstwertgefühl;8 sie sind relativ zufrieden mit ihrem derzeitigen Leben und den Zukunftsaussichten.
8 Additive Skala: (a) Ich habe mir gegenüber eine positive Einstellung. (b) Meine Zukunft sieht gut aus. (c) Ich bin zufrieden mit der Art und Weise, wie sich meine Lebenspläne verwirklichen. (d) Ich bin fähig, Dinge ebenso gut wie die meisten anderen Menschen zu tun. (e) Ich freue mich zu leben. (f) Mein Leben scheint mir sinnvoll. (g) Ich fühle mich ebenso wertvoll wie andere. Die Skala reicht von 1 bis 5. Der höchste Wert stellt die höchste Zufriedenheit dar.
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Auffallend ist, dass unter ihnen der Anteil der Christen mit 14 Prozent deutlich über dem Durchschnitt liegt und dass überdurchschnittlich viele Eltern mehr als 12 Jahre Bildung aufweisen. Zudem kommen sie zu einem auffallend geringen Teil aus Nablus (8% gegenüber 16% im Durchschnitt). Sie sind darüber hinaus die stärksten UnterstützerInnen nicht nur der Idee der Demokratie, sondern auch des arabischen Nationalismus. Eine Bezeichnung, welche die Hauptcharakteristika dieser Gruppe zusammenfasst, wäre »zufriedene Demokraten«. Tabelle 6: Politische Typen Typ 1 (n=372) »Zufriedene Demokraten« Unterstützung Idee der Demokratie (1-5) Zufriedenheit mit erlebter Demokratie (1-5) Unterstützung Idee des Panarabismus (1-5) Liberale Demokratie (1-6) Autoritärer Staat (1-6) Legale Partizipation (1-5) Illegale Partizipation (1-5) Wahlbereitschaft Politische Gespräche (1-5) Mediennutzung (1-5) Externe Effektivität (1-5) Positive Parteien, Zahl (0-8) Negative Parteien, Zahl (0-8) Politisches Selbstbild (1-7) Selbstwertgefühl (1-5) Elternbildung > 12 Jahre Anteil Christen Anteil Nicht-Religiöser Anteil Stark Religiöser Anteil aus Nablus
3,9 2,6 3,8 4,5 4,2 2,8 1,6 69% 2,4 3,2 2,3 2,7 4,2 3,9 3,8 35% 14% 11% 15% 8%
Typ 2 (n=88) »Politische Aktivisten« 3,8 2,6 3,6 3,9 3,6 3,8 3,3 65% 2,9 3,2 2,3 2,2 4,9 4,5 3,5 32% 6% 11% 26% 31%
Typ 3 (n=113) Gesamt »Unzufriedene Desinteressierte« 3,5 3,8 2,7 2,6 3,2 3,6 3,4 4,2 3,1 3,9 2,0 2,8 1,6 1,9 43% 63% 1,9 2,4 2,4 3,1 3,3 2,5 1,1 2,3 6,0 4,6 3,3 3,9 3,4 3,7 19% 32% 8% 11% 15% 11% 14% 17% 30% 16%
Die zweite Gruppe kann man als »politische Aktivisten« bezeichnen. Sie sind deutlich weniger den demokratischen Ideen zugeneigt als die erste Gruppe, weisen aber die höchsten Werte auf den Skalen zur politischen Aktivität auf: Bereitschaft zu legaler wie illegaler politischer Partizipation, Häufigkeit politischer Gespräche,9 Nutzung politischer Medien.10 Sie schätzen ihre eigenen poli9 Gefragt wurde nach der Häufigkeit von Gesprächen mit Freunden, Eltern, anderen Verwandten und Mitschülern über politische Themen (5=sehr häufig, 1=nie). 10 Erfragt wurde, wie häufig die folgenden Aktivitäten ausgeführt würden: Tageszeitung lesen, Nachrichtensendungen sehen, Nachrichtensendungen hören, politische Magazin-, Diskussions-, Informationssendungen sehen (5=sehr häufig, 1=nie).
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tischen Fähigkeiten entsprechend sehr hoch ein, die Responsivität des politischen Systems allerdings niedrig. Rund zwei Drittel würden wählen gehen: zu 16 Prozent Hamas. Die Fatah läge mit 10 Prozent vor Jihad Islami, die mit 4 Prozent rechnen könnte. Der Anteil der Mädchen bzw. jungen Frauen ist in dieser Gruppe deutlich unterdurchschnittlich (43% gegenüber 57% insgesamt) wie auch der Anteil der Christen (6% vs. 11%). Sie kommen zu einem sehr großen Anteil aus Nablus und Jerusalem, zu einem deutlich geringeren Teil aus Bethlehem und Hebron. Der Anteil der stark Religiösen ist deutlich höher als im Durchschnitt. Die dritte Gruppe schließlich – die »unzufriedenen Desinteressierten« – weist sowohl bei den demokratischen Einstellungen als auch nach ihrer politischen Beteiligungsbereitschaft sehr niedrige Durchschnittswerte auf. Ihre Wahlbereitschaft ist mit 43 Prozent ausgesprochen gering. Die Mitglieder dieser Gruppe bewerten im Durchschnitt gerade einmal eine Partei positiv, aber sechs negativ. Sie reden kaum über Politik und informieren sich auch kaum aus den Medien. Dennoch glauben sie an die Responsivität des politischen Systems. Vielleicht spiegelt sich in diesen Zahlen ein naiver Glaube wider, dass die Politiker in Amt und Würden schon alles richtig machen, ohne dass eine Verbindung zwischen ihrem Wirken, dem politischen System und den Parteien hergestellt wird. Es ist denn auch die Fatah, die in ihrer Parteienbewertung insgesamt am besten abschneidet: 15 Prozent der Mitglieder dieser Gruppe würden sie wählen.11 Im Jahr 2000 besetzte die Fatah noch alle relevanten Ämter und Arafat war noch (nahezu) unbestrittener Palästinenserführer. In dieser Gruppe ist der Anteil an Mädchen bzw. an jungen Frauen mit 65 Prozent überdurchschnittlich hoch, der Anteil der Eltern mit mehr als 12-jähriger Ausbildung liegt mit 19 Prozent deutlich unter dem Durchschnitt.
Jugendliche und politische Sozialisation in der Westbank – eine offene Frage und vorsichtige Schlussfolgerungen Welche Schlussfolgerungen lassen sich aus den hier vorgestellten Daten für die Frage nach demokratischer Entwicklung und Stabilität ziehen? Welche Annahmen aus der klassischen politischen Sozialisationsforschung im Hinblick auf die Bedeutung von Bildung und Religion, sowie auf die Unterscheidung von Einstellungs- und Handlungsebene finden wir hier? Der Einfluss von Bildung konnte nur indirekt gemessen werden über die Bildung der Eltern der befragten Jugendlichen. Dabei erwies sich, dass höhere 11 Allerdings bewertet die Hälfte auch die Fatah mit -5.
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Bildung im Elternhaus einen positiven Einfluss auf die Unterstützung eines liberalen Demokratiemodells hat sowie auf die Bereitschaft zur legalen politischen Partizipation. Sie trägt jedoch nicht zur Erhöhung der Wahlbereitschaft bei. Bildung scheint jedoch unzufriedenem Desinteresse vorzubeugen. Die Bedeutung der Religiosität zeigt sich am deutlichsten in der Verteilung der politischen Typen: Der Anteil stark religiöser Jugendlicher ist unter den politischen Aktivisten deutlich höher als im Durchschnitt. Religiosität fördert auch die Zustimmung zu den autoritären Merkmalen des Staatsmodells. Religionszugehörigkeit spielt eine weitaus stärkere Rolle als Religiosität. Christen unterstützen deutlich stärker das liberale Demokratiemodell als Muslime und lehnen entsprechend den autoritären Staat eher ab. Muslime sind sehr viel stärker bereit, sich an illegalen Formen politischer Aktivität zu beteiligen. Entsprechend ist auch ihr politisches Selbstkonzept positiver geprägt. Wir finden unter den zufriedenen Demokraten einen deutlich höheren Anteil an Christen als im Durchschnitt der Stichprobe, unter den politischen Aktivisten einen deutlich geringeren. Wirklich überraschend sind die starken regionalen Unterschiede. Insbesondere Nablus fällt als dezidiert nicht-demokratisch auf. Das liberale Demokratiemodell wird nicht unterstützt, die Bereitschaft zur illegalen Partizipation erhöht sich deutlich mit dem Wohnort Nablus, wogegen die Wahlbereitschaft hierdurch erheblich verringert wird. Unter den politischen Aktivisten finden wir doppelt so viele Nabluser als ihrem Anteil an der Gesamtstichprobe entspräche, unter den zufriedenen Demokraten nur halb so viele. Wie lässt sich das erklären? Bei allen politischen Phänomenen in Palästina/Israel verweist man gerne auf die spezifischen Bedingungen, die durch die Kriege und israelische Besatzungspolitik entstanden sind: Flüchtlinge und Siedler. Tatsächlich leben im Distrikt Nablus überproportional viele Flüchtlinge in UNRWA-Lagern: 28 Prozent der Flüchtlinge und nur 14 Prozent der Bevölkerung. Aber auch in den Bezirken Ramallah (19% Flüchtlinge, 12% Bevölkerung) und Hebron (16% Flüchtlinge, 7% Bevölkerung) finden wir entsprechende Bedingungen (s. Tab. 2, S. 275). Wenn auch exakte Zahlen schwer zu lokalisieren sind, so weiß man, dass um Nablus herum zahlreiche jüdische Siedlungen errichtet worden sind. Andererseits ist bekannt, wie gerade die palästinensischen Bewohner Hebrons unter der kleinen, dafür jedoch um so militanteren und militärisch extra geschützten Gruppe jüdischer Siedler zu leiden haben, und auch um Jerusalem und Bethlehem sind gerade in den 1990er-Jahren zahlreiche neue Siedlungen entstanden. Diese wohlfeilen ad hoc-Erklärungen halten also bereits einer oberflächlichen Prü-
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fung kaum stand. Wenden wir uns also der Zusammensetzung der Stichprobe im Hinblick auf die theoretisch relevanten Variablen von Religion und Bildung zu. Die Stichprobe aus Nablus ist zu 100 Prozent muslimisch – wie auch die Stichproben aus Hebron und Jerusalem. Im Unterschied zu den beiden letztgenannten Bezirken geben die Jugendlichen aus Nablus jedoch zu einem deutlich höheren Teil an, sehr religiös oder religiös zu sein: 80 Prozent im Unterschied zu 55 Prozent in Jerusalem und 61 Prozent in Hebron. Darüber hinaus ist in Nablus der Anteil Jugendlicher mit hoch gebildeten Eltern niedriger als im Durchschnitt – aber Hebron weist dafür einen deutlich überproportionalen Anteil an Eltern mit sehr niedriger Bildung auf. Religiosität und Bildung sind relevant, können jedoch diese deutliche Spezifik Nablus’ nicht erklären. Unter Rückgriff auf die Erkenntnisse der politischen Kulturforschung und der aktuellen Zivilgesellschaftsdebatte liegt die Vermutung nahe, dass die dominanten Herrschaftsstrukturen Wirkung zeigen. Es wäre zu prüfen, inwiefern Klientelstrukturen im Unterschied zu zivilgesellschaftlicher Selbstorganisation oder sogar verlässlicher öffentlicher Verwaltung bestimmend sind für die alltäglichen Lebensbedingungen in den Regionen. Diese bilden den weiteren Kontext für den langwierigen Prozess der politischen Sozialisation, geben die allgemeinen Normen und Verhaltensstandards ab, an denen Heranwachsende sich orientieren – jenseits von dem, was sie in den Bildungsinstitutionen lernen. Tabelle 7: Operationalisierung Liberale Demokratie Autoritärer Staat »Hier haben wir eine Reihe von häufig gehörten Behauptungen zusammengestellt und möchten Dich bitten, uns Deine persönliche Stellungnahme zu jeder Behauptung zu sagen. Dabei bedeutet +3 volle Übereinstimmung und -3 volle Ablehnung«. - Jeder sollte das Recht haben, für seine - Der Bürger verliert das Recht zu Streiks und Meinung einzutreten, auch wenn die Demonstrationen, wenn er damit die Mehrheit anderer Meinung ist. öffentliche Ordnung gefährdet. - Eine lebensfähige Demokratie ist ohne - Die Auseinandersetzungen zwischen den politische Opposition nicht denkbar. verschiedenen Interessengruppen in unserer - Jede demokratische Partei sollte Gesellschaft und ihre Forderungen an die grundsätzlich die Chancen haben, an die Regierung schaden dem Allgemeinwohl. Regierung zu kommen. - Vieles spricht dafür, für bestimmte 12 - Jeder Bürger hat das Recht, notfalls für seine Verbrechen die Todesstrafe einzuführen. - Zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Überzeugung auf die Straße zu gehen. Ordnung sollte die Polizei mit harten - Auch wer in einer Auseinandersetzung Maßnahmen durchgreifen können. Recht hat, sollte einen Kompromiss suchen. Für die additive Skalenbildung wurden die Angaben recodiert in eine Skala von 1 »volle Ablehnung« bis 6 »volle Zustimmung«, sodass die Skala Werte von 1 bis 6 aufweisen kann.
12 Die Formulierung ist für die Westbank nicht ganz angemessen, da in den palästinensischen Autonomiegebieten die Todesstrafe nicht nur existiert, sondern auch ausgeführt wird.
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Tabelle 7 (Forts.) Legale Partiziaption Illegale Partizipation »Im Folgenden sind einige Verhaltensweisen aufgelistet, die verschiedene Leute manchmal gewählt haben, um gegen etwas zu protestieren oder um die Öffentlichkeit auf ihr Anliegen aufmerksam zu machen. Wir würden nun gerne von Dir wissen, ob Du Dich bestimmt (5) oder bestimmt nicht (1) beteiligen würdest. Mit den Werten dazwischen kannst Du Deine Meinung abstufen«. - Beteiligung an Bürgerinitiativen - Teilnahme an einer nicht genehmigten - Beteiligung an einer Unterschriftensammlung politischen Demonstration - Teilnahme an einer genehmigten politischen - Protestparolen sprühen Demonstration - Aufhalten des Verkehrs mit einer Demonstration - Aus Protest Straßenschilder, Fensterscheiben oder ähnliches beschädigen - Bei Protesten, wenn nötig, auch zuschlagen - Beteiligung an Sitzblockaden Additive Skalenbildung, Werte können von 1 bis 5 reichen. Vertrauen in Systemresponsivität »Hier sind einige Ansichten, die manche Leute vertreten. Wir möchten dabei gerne wissen, wie Du darüber denkst. Stimmst Du mit den einzelnen Ansichten voll überein (5) oder lehnst Du sie voll und ganz ab (1)?« - Ich glaube nicht, dass sich die Politiker viel darum kümmern, was Leute wie ich denken. - Im Allgemeinen verlieren die Abgeordneten ziemlich schnell den Kontakt zum Volk. - Die Parteien wollen nur die Stimmen der Wähler, ihre Ansichten interessieren sie nicht.
Für die Bildung der Skala wurden die Werte in die umgekehrte Reihenfolge gebracht, sodass ein höherer Wert für höheres Vertrauen steht.
Vertrauen in eigene Fähigkeiten »Bitte gib bei den folgenden Aussagen an, in welchem Maße sie auf Dich persönlich eher zutreffen oder eher nicht zutreffen« »Diese Aussage ist für mich … -3 sehr falsch bis +3 sehr richtig«. - Die Teilnahme an Diskussionen über politische Themen fällt mir leicht. - Aufgrund meiner Fähigkeiten eigne ich mich für politische Arbeit. - Denken in politischen Zusammenhängen liegt mir. - Ich möchte später einen Beruf haben, in dem Politik eine Rolle spielt. - Wenn es um die Lösung politischer Probleme geht, fällt mir eigentlich immer etwas ein. Für die Auswertung wurden die Angaben recodiert von 1 »sehr falsch« bis 7 »sehr richtig«.
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Straßenkindheit in Tadschikistan Chantal Munsch Tadschikistan liegt am südlichen Zipfel der ehemaligen Sowjetunion, eingebettet zwischen Afghanistan, Usbekistan, Kirgisien und China. Ethnisch gehört das tadschikische Volk zu Persien, der Einfluss der russischen Kolonisation seit dem Ende des 17. Jahrhunderts und der Sowjetunion ist jedoch in vielerlei Hinsicht deutlich spürbar. Die meisten Tadschiken sind froh darüber, dass sie unter besseren Lebensbedingungen leben als ihre afghanischen Nachbarn, welche sich der Kolonialisierung erfolgreich widersetzten. Die Vergangenheit ihres Landes als Teil der Sowjetunion brachte ihnen nicht nur eine große (heute allerdings marode) Infrastruktur in Gestalt von Schulen und Krankenhäusern, sondern auch, wie sie mit Stolz verkünden, die »Befreiung der Frau«. Obwohl sie die wenigen strenggläubigen Muslime sehr respektieren, sind die meisten Menschen in Tadschikistan erleichtert darüber, dass die Islamisten keinen großen Einfluss im Land ausüben. Durch die russische Kolonisation wurden die islamischen Strukturen weitgehend zerstört, und besonders in den ersten Jahren der sowjetischen Besatzung wurden viele Mullahs und gläubige Muslime getötet. Im Alltagsleben wird heute kaum explizit auf den Islam Bezug genommen, sondern eher auf die Tradition, den odat. Nach der Unabhängigkeitserklärung von der Sowjetunion im Jahr 1990 herrschte von 1992 bis 1997 ein Bürgerkrieg, der viele Menschen das Leben kostete und das Land wirtschaftlich ruinierte. Obwohl sich Tadschikistan heute langsam ökonomisch erholt, leben die Menschen, vor allem in den südlichen Provinzen an der Grenze zu Afghanistan, in großer Armut. Im Jahr 2003 lebten der Weltbank zufolge 64% der Bevölkerung unter der Armutsgrenze und 18% in »extremer« Armut (Word Bank 2005).1 Das Leben in Tadschikistan ist von diesen verschiedenen Einflüssen – von persischen Traditionen, sowjetischen
1 Diese Armutsgrenzen sind nach der Methode des »Purchasing Power Parity« (PPP) berechnet, welche die unterschiedlichen Warenpreise in verschiedenen Ländern berücksichtigen soll und einen Betrag von 2,15 PPP-US-Dollar für die Armutsgrenze sowie von 1,08 PPP-US-Dollar für die extreme Armutsgrenze vorgibt.
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Strukturen und der Transformation der Gesellschaft nach der Unabhängigkeitserklärung – sowie den Folgen des Bürgerkrieges geprägt. In den Wohnstraßen der mahalla, der Wohnviertel von Dushanbe, der Hauptstadt Tadschikistans, spielen viele kleine und große Gruppen von Kindern, sodass es der westlichen Besucherin manchmal scheint, sie sei gerade in die Pausenzeit einer Grundschule geraten. Der erste Eindruck wird durch die statistischen Zahlen bestärkt: Daten der UN zufolge waren im Jahr 2007 etwa 45% der Bevölkerung Tadschikistans unter 18 Jahre alt. Arbeitende Kinder gehören in der Öffentlichkeit Dushanbes zur Normalität. Man trifft sie nicht nur auf den Märkten, sondern sie helfen auch in den Kleinbussen oder verkaufen Esswaren auf den Straßen oder vor Hauseingängen. Während die meisten der arbeitenden Kinder tagsüber zwar viel Zeit auf der Straße verbringen, nachts jedoch bei ihrer Familie oder Verwandten schlafen, gibt es auch jene, welche dauerhaft auf der Straße leben. Die Lebensbedingungen dieser Kinder2 zu erforschen, war das Ziel einer Studie, die ich im Auftrag von und in Kooperation mit der internationalen NGO Save the Children U.K. durchgeführt habe. Im Sinne einer AdressatInnenforschung sollte das Leben auf der Straße aus der Perspektive der Straßenkinder erforscht werden.3 Als Praxisforschung wurde die Studie in enger Kooperation mit den PraktikerInnen des offenen Kinderhauses Navras durchgeführt, und ihre Ergebnisse sollten dazu dienen, ein adressatInnenorientiertes Unterstützungsprogramm für Straßenkinder zu entwickeln. Unterstützung erfuhr ich vor allem durch Tojiddin Jalolov, den Leiter von Navras, meine Kollegin Zarina Juraeva von Save the Children U.K.4 (SCUK), und vor allem von Valijon, einem 19-jährigen ehemaligen Straßenjungen. Ohne die Zusammenarbeit mit ihnen hätte ich diese Exploration (der Begriff soll die Vorläufigkeit der hier vorgestellten Ergebnisse betonen) der Lebensbedingungen einer Gruppe, die sich in so vielem von meinen eigenen Erfahrungen unterscheidet, in einem Land, dessen Sprache, Lebensbedingungen und Normen mir in vielfältiger Weise fremd waren, nicht durchführen können. Erste kurze Interviews auf Märkten hatten schnell deutlich werden lassen, dass wir auf diese Weise keine tiefgehenden Gespräche würden führen können. Die dort arbeitenden Kinder sind es gewohnt, von Erwachsenen ausgefragt zu 2 In Anlehnung an den tadschikischen Sprachgebrauch rede ich im Folgenden von Kindern; in Bezug auf ihr Alter würde man sie im deutschsprachigen Raum wohl eher als Kids oder Jugendliche bezeichnen. 3 Dies betrifft auch Aspekte von Gewalt, die im Folgenden so dargestellt werden, wie die Kinder sie uns schilderten. 4 Die Studie wurde im Auftrag von Save the Children U.K. von Dezember 2003 bis Mai 2004 durchgeführt.
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werden, ihre Antworten sind dementsprechend kurz und darauf ausgerichtet, ihnen zu gefallen und sie schnell wieder los zu werden. Um einen vertrauensvolleren Zugang zu den Kindern zu ermöglichen und gleichzeitig sozialpädagogische Settings für sie zu erproben, öffnete sich das Navras-Zentrum für Straßenkinder. Der Zugang zu diesen Kindern wurde über zwei ehemalige Straßenkinder gewonnen, welche die Kinder auf dem nähergelegenen Markt ansprachen und in das Zentrum einluden. Nach etwa zwei Wochen, in denen sich die Kinder und die MitarbeiterInnen aneinander gewöhnten, führten diese insgesamt neun Leitfadeninterviews durch, welche transkribiert und ins Englische übersetzt wurden. Gleichzeitig führte Valijon zehn Interviews mit Straßenkindern auf dem Markt durch, welche ebenfalls transkribiert und übersetzt wurden. Neben diesen formellen Interviews führte ich viele informelle, kurze und längere Gespräche mit den Kindern. Dazu wurden, ebenso wie zu den Alltagsbeobachtungen im Kinderhaus, Gedächtnisprotokolle verfasst. Mit dem Team und mit Valijon führte ich sowohl formelle ExpertInneninterviews als auch viele informelle Gespräche. Gemeinsam mit den Kindern unternahmen wir zwei dreitägige Ausflüge in die südlichen Provinzen, aus denen die meisten Straßenkinder kommen, und besuchten ihre Eltern. Auch hierüber wurden ausführliche Gedächtnisprotokolle verfasst. Schließlich besuchten wir noch die stationäre Einrichtung Dasti Madat in der Stadt Khudjand im Norden Tadschikistans. Die Gespräche mit den dort lebenden vornehmlich russischen Kindern unterschieden sich in vielerlei Hinsicht von denjenigen mit den meist tadschikischen Kinder aus dem Kinderhaus Navras. Insgesamt sprachen wir mit etwa 50 Kindern, fast alle Jungen im Alter zwischen 13 und 16 Jahren, die seit zwei bis sechs Jahren, manche aber auch erst seit kurzem, auf der Straße lebten. Drei Gruppen von Straßenkindern sind in unserer Studie nicht repräsentiert: Mädchen, Kinder, die Klebstoff schnüffeln oder andere Drogen konsumieren5 und vor allem von Diebstahl leben, sowie Romakinder.
Wege auf die Straße Fast alle tadschikischen Straßenkinder in Dushanbe kommen aus den sehr armen südlichen Provinzen Kulyab, Vossei, Dangara und Komsomolobod. Fragt man sie, wieso sie nicht mehr zu Hause leben, verweisen sie fast immer auf die Armut ihrer Familien. Dort habe es nicht genug bzw. kein Essen gegeben, kein Geld für
5 Valijon zufolge machen diese drei Gruppen etwa 40% aller Straßenkinder aus.
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Kleidung und für die Schule.6 In ihren Dörfern gab es für die Kinder kaum Gelegenheiten, Geld zu verdienen, weswegen sie sich auf den Weg in die Hauptstadt begaben. Dort wollten sie arbeiten, um nicht nur sich selbst zu ernähren, sondern auch ihre Familien finanziell zu unterstützen. Die Armut ihrer Familien wurde während unserer Besuche sehr deutlich. Manche der aufgesuchten Elternhäuser waren fast vollständig leer, weil die Eltern nahezu all ihren Besitz hatten verkaufen müssen. Obwohl sie uns sehr höflich und herzlich als Gäste begrüßten und in ihre Wohnungen baten, konnten sie uns nicht einmal einen Tee anbieten. In einer Gesellschaft, in der Gastfreundschaft eine sehr hohe Norm darstellt und es üblich ist, sich für die Bewirtung der Gäste zu verschulden, bedeutet dies, dass diese Familien selbst zu arm waren, um Tee borgen zu können. Die Situation dieser Familien war jedoch nicht nur durch Armut geprägt, sondern auch dadurch erschwert, dass sie kaum über ein familiäres Netzwerk verfügten. Alle Verwandten waren entweder im Bürgerkrieg umgekommen oder um zu arbeiten nach Russland gegangen und nicht zurückgekehrt. In diesen sehr armen Familien lebten nur noch alte oder kranke Familienmitglieder, die sich nicht um die Kinder kümmern konnten. Durch die ausführlichen Interviews mit den Kindern wurde jedoch deutlich, dass es nicht nur die Armut allein war, die die Kinder aus ihren Familien trieb. Vielmehr war es in fast allen Fällen ein Zusammenhang zwischen Armut und Stiefelternschaft, die sie veranlasst hatte, ihre Familien zu verlassen. Eheschließungen sind in Tadschikistan stark an die persische Tradition angelehnt, was u.a. bedeutet, dass die Eltern und Verwandten in die Auswahl der zukünftigen Ehepartner involviert sind und diese sich oft erst mehr oder weniger kurz vor der Eheschließung kennenlernen. Demgegenüber ist die Praxis der Ehescheidung in der Sowjetzeit sehr stark liberalisiert worden, eine Scheidung ist schnell und relativ unbürokratisch möglich. Die Verbindung dieser zwei so unterschiedlichen Praxen führt zu einer sehr hohen Scheidungsrate und neuen Eheschließungen. Die Anzahl alleinerziehender Mütter und von Stiefelternfamilien wird zusätzlich dadurch vergrößert, dass viele Väter zur Arbeitssuche nach Russland gehen und oft nicht wiederkommen; andere Männer sind im Bürgerkrieg gestorben. Viele Straßenkinder erzählten uns, dass ihre Stiefeltern schlecht über sie reden und sie häufig, manchmal auch recht brutal geschlagen werden. Besonders schwierig wird die Situation, wenn der leibliche Elternteil für längere Zeit außer Haus ist und nicht auf seine Kinder aus einer früheren Ehe achten kann. Die neuen 6 Schulgebühren werden nicht erhoben. Da die Gehälter der Lehrkräfte, wie fast alle Gehälter im öffentlichen Dienst, jedoch so gering sind, dass sie zum Leben nicht ausreichen, ist es üblich, dass sie für Prüfungen und zu anderen Gelegenheiten Geld von den SchülerInnen verlangen.
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Schwiegereltern fühlen sich ihnen oft nicht verpflichtet, befürchten, dass sie ihrer Familie, insbesondere ihren eigenen Kindern, schaden könnten, und treiben sie deswegen aus dem Haus. Ein gewisses Maß an körperlicher Gewalt scheint zur Normalität in tadschikischen Familien, insbesondere in ländlichen Gebieten, zu gehören und die Straßenkinder, zu denen wir Kontakt hatten, schienen an Schläge gewöhnt zu sein. So erklärten mir die MitarbeiterInnen des Kinderhauses, die Eltern aus den Dörfern würden ihren Kindern die meisten Dinge »mit den Fäusten erklären«. In einigen Fällen jedoch schien die körperliche Gewalt so übermäßig, dass die Kinder ihretwegen ihre Familien verlassen mussten. Diesbezüglich wurden ethnische Unterschiede deutlich: Die russischen Kinder, die wir in der Stadt Khudjand interviewten, erzählten uns, dass sie nicht wieder zu ihren Familien ziehen wollten, die in der gleichen Stadt wohnten, weil ihre Eltern meistens betrunken seien und sie die ganze Zeit schlügen. Solche Geschichten erzählten nur wenige der tadschikischen Kindern in Dushanbe. Eine Erklärung dafür kann auch sein, dass tadschikische Kinder bei gravierenden familiären Schwierigkeiten traditionellerweise bei Verwandten oder Nachbarn unterkommen.
Die ambivalente Beziehung zur Familie Auch wenn die Straßenkinder nicht mehr bei ihren Familien leben, bedeutet dies keinesfalls, dass sie ihre Familien nicht vermissen. Deutlich wurde dies u.a. eines Morgens, als ich mit den Kindern vor dem Fernseher saß. Ein Junge blickte traurig vor sich hin, und so fragte ich ihn nach seinem Befinden. Er antwortete mir, er sei traurig, weil er seine Eltern vermisse, seine Familie, seine Brüder und Schwestern, die er nicht mehr gesehen habe, seit er das Dorf vor einem halben Jahr verlassen hatte. Andere Kinder, die um uns herum saßen, erzählten mir daraufhin, dass auch sie ihre Familien vermissen würden. Ich fragte nach, ob sie nur ihre Geschwister oder auch ihre Eltern wiedersehen wollten. Auch ihre Eltern würden ihnen fehlen, antworteten sie und fragten, ob es nicht möglich sei, sie zu besuchen. Ich fand die Idee spannend und versprach, sie mit den MitarbeiterInnen von Navras zu besprechen. Immer wieder fragten die Kinder in den folgenden Tagen, ob und wann wir ihre Eltern besuchen würden – sie waren offensichtlich sehr interessiert an dieser Reise. Als der Ausflug schließlich nahte, war die Vorfreude groß. Gleichzeitig hatten diese Kinder in den Interviews erzählt, dass sie aus den vorgenannten Gründen nicht mehr bei ihren Familien leben wollten, dass sie keine Möglichkeit sahen, dort zu bleiben. Auch mussten wir ihnen versprechen, sie nicht in den Dörfern zu lassen, sondern sie wieder mit
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nach Hause zu nehmen. Valijon erklärte das folgendermaßen: »Sie sind absolut auf sich allein gestellt und ihr Schicksal liegt in ihren eigenen Händen. Aber in ihren Gedanken ist die Mehrheit von ihnen mit ihren Familien verbunden. Ihr einziges Problem ist, dass es ihnen nicht möglich ist, ihren Familien zu helfen [sie finanziell zu unterstützen C.M.]. Die andere Kategorie, das heißt, Kinder, die wirklich allein sind, vernachlässigte Kinder oder Kinder, die von ihren Verwandten davongejagt wurden, sind wirklich selten in Tadschikistan«. Die Verbundenheit mit ihren Familien wird auch im Wunsch der Kinder deutlich, finanzielle Unterstützung zu leisten. Dies muss einerseits im Kontext der reziproken Unterstützung innerhalb des familiären Netzwerks verstanden werden, welche in die Tradition eingebettet und aufgrund der sehr geringen Renten und fehlender sozialstaatlicher Hilfe im Falle von Arbeitslosigkeit auch notwendig ist. Andererseits spiegelt sich in diesem Wunsch das tadschikische Generationenverhältnis, in dem Kinder sehr früh an der Hilfe im Haushalt beteiligt werden und mit fortschreitendem Alter ihre Eltern zunehmend entlasten. Die finanzielle Unterstützung der Eltern bzw. der Familie ist mit Stolz verbunden und erhöht den gesellschaftlichen Status. Ein Auflehnen gegen die Eltern oder gegen Erwachsene allgemein, wie es in westlichen Gesellschaften mit dem Jugendalter verbunden wird, begegnete mir demgegenüber während meiner Aufenthalte in Tadschikistan weder bei den Straßenkindern noch in anderen Zusammenhängen. Vielmehr wurde meinen Fragen nach solchen Abgrenzungswünschen mit Unverständnis begegnet. Der Zusammenhalt zwischen den Generationen drückt sich auch darin aus, dass die tadschikischen Kinder – mit Ausnahme der wenigen, die gravierende körperliche Gewalt zu Hause erfahren hatten – sich nie negativ über ihre Eltern äußerten. Obwohl sie von den MitarbeiterInnen des Kinderzentrums (besonders zu Beginn ihrer Arbeit mit den Straßenkindern) oft als schmutzig bezeichnet und sie auch in der Folge regelmäßig dazu angehalten wurden, sich und ihre Kleider zu waschen, erschienen sie in meinen Augen immer sehr bemüht, ordentlich gekleidet zu sein, und betonten auch immer wieder, dass sie gerne lernen wollten. Das Verhältnis der Eltern zu ihren Kindern stellte sich ähnlich komplex dar. Die Eltern, die wir besuchten, schienen sehr glücklich, ihre Kinder wiederzusehen. Sie empfingen uns mit großem Respekt und Herzlichkeit und bedankten sich immer wieder für unsere Unterstützung. Manche erzählten, dass sie in Dushanbe nach ihren Kindern gesucht hatten. Einige Kinder hatten uns ebenfalls berichtet, dass ihre Eltern oder Brüder nach ihrem Verbleib geforscht hatten. Viele Eltern boten uns Hilfe an. Manche erzählten von Verwandten in Dushanbe, die sie fragen wollten, ob sie ihre Kinder aufnehmen könnten. Wenn sie von
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ihren Kindern sprachen, dann immer in einer Weise, die diese in einem guten Licht, als gute Jungen dastehen ließ.7 Als wir die Kinder wieder abholten, gaben sie ihnen gute Ratschläge und ermahnten sie, fleißig zu lernen und uns gut zu folgen. Manche gaben ihren Kindern trotz der offensichtlich großen Armut ein paar Brote oder andere Gaben mit, die sie in der Zwischenzeit besorgt hatten. Diese Worte und Gesten sollten wohl zeigen, dass sie sich immer noch um ihre Kinder kümmerten und dass sie als gute Eltern wahrgenommen werden wollten. Gleichzeitig schienen viele Eltern, die wir besuchten, sehr hilflos. Manche weinten, als sie uns ihre familiäre Situation schilderten. Auch als der Leiter des Kinderzentrums ihnen berichtete, dass er den Kindern keine Unterkunft anbieten könne und dass sie auf der Straße schlafen würden, wo es sehr gefährlich sei, luden sie ihre Kinder nicht ein, wieder zu Hause zu wohnen.8 Zweimal kamen Nachbarn zu uns und fragten uns, ob wir ihre Kinder nicht auch mitnehmen könnten, denn sie hätten nicht die Möglichkeit, sie zur Schule zu schicken. Wir hatten das Gefühl, die Eltern würden nur zu gerne daran glauben, ihre Kinder seien bei uns gut aufgehoben – obwohl Tojiddin ihnen von den nächtlichen Gefahren auf der Straße erzählt hatte. Die meisten Kinder unterstützen ihre Eltern in dem Glauben, es gehe ihnen gut in Dushanbe. Bevor wir zu ihren Familien aufgebrochen waren, hatten sie uns gebeten, ihnen zu erzählen, das Kinderzentrum sei eine Schule, in der sie lernten. Auch sollten wir ihren Eltern keinesfalls berichten, dass sie auf der Straße schliefen. Sie wollten nicht, dass sie sich Sorgen machten. Dies ist in eine kulturelle Norm eingebettet, anderen, auch nahestehenden Personen, nicht von Schwierigkeiten zu erzählen, damit diese sich keine Sorgen machen. Nach Valijons Einschätzung erfindet die Mehrheit der Kinder Geschichten. Sie erzählen, sie würden bei einem Freund oder in einem Apartement wohnen. Die Eltern möchten diesen Geschichten nur allzu gerne Glauben schenken und hoffen, ihr Kind werde zu einem guten Menschen heranwachsen. Die Beziehung zwischen den Eltern und ihren Kindern ist also einerseits durch ein gegenseitiges Interesse gekennzeichnet, sie vermissen einander und
7 Es gab eine Ausnahme: Eine Stiefmutter gab sich große Mühe, uns immer wieder zu erklären, welch eine Plage ihr Stiefsohn sei und wie sehr er ihre Familie bedrohe. Dieses Kind hatte uns vorher gesagt, es bleibe keine einzige Stunde freiwillig in seiner Familie und hatte uns ganz besonders eindringlich gebeten, ihn wieder mit nach Dushanbe zu nehmen. Diese Familie schien im Unterschied zu den anderen, die wir besuchten, auch nicht außergewöhnlich arm; vielmehr servierten sie uns das traditionelle Reisgericht Plov und im Wohnzimmer befanden sich die typischen Matten und auch andere Einrichtungsgegenstände. 8 Nur eine Mutter sagte, wenn ihr Sohn in Dushanbe auf dem Markt Plastiktüten verkaufe, sei es doch besser für ihn, zu Hause zu bleiben – aber auch sie machte keine ernsthaften Anstalten, ihn bei sich zu behalten.
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würden sich gerne gegenseitig unterstützen. Gleichzeitig führt die schwierige Situation in den Familien jedoch dazu, dass Eltern ihre Kinder ziehen lassen und die Kinder keine Möglichkeit sehen, bei ihnen zu leben. Da familiäre Netzwerke für das Leben in Tadschikistan eine unschätzbar wichtige Ressource bieten, kamen wir in unseren Diskussionen im Kinderzentrum zu dem Schluss, dass ein sozialpädagogisches Handlungskonzept, welches der Situation der Straßenkinder in Tadschikistan angemessen sein sollte, diese familiären Beziehungen unbedingt erhalten und stärken müsse. So begannen regelmäßige monatliche Besuchsfahrten der Kinder in ihre Heimatdörfer mit dem Ziel, die familiären Beziehungen zu pflegen. Auch unterstützte das Team von Navras die Kinder nicht in ihren »Geschichten« bzw. die Eltern nicht in dem Glauben daran, dass es den Kindern gut gehe. Vielmehr klärten die MitarbeiterInnen sie über die Lebensumstände ihrer Kinder und über ihre begrenzten eigenen Mittel auf, besonders im Hinblick auf die nächtlichen Gefahren der Obdachlosigkeit. Damit wollten wir verhindern, dass die Eltern durch die Arbeit von Navras von ihrer Verpflichtung entlastet würden.
Arbeit und Gruppenstrukturen Besonders auf den Märkten arbeiten sehr viele Kinder. Am Eingang der Märkte verkaufen sie Plastiktüten, die sie für fünf Dirham9 ein- und für zehn Dirham wieder verkaufen, und tragen Einkäufe. Manche befördern Waren, indem sie Karren (arroba) schieben, die mit schweren Säcken voller Getreide, Obst und Gemüse oder mit anderen Waren beladen sind, und die sie tageweise mieten. Andere verbrennen in flachen Schalen Hazorispan, ein Kraut, welches die Umgebung von Krankheiten reinigen und böse Geister vertreiben soll. An bestimmten Plätzen auf den Straßen waschen sie Autos. Und schließlich gibt es Kinder, die betteln und solche, die stehlen. Alle Straßenkinder, die in dieser Studie repräsentiert sind, verrichteten eine dieser Arbeiten. Valijon erklärte uns: »Jede Kategorie – Plastiktütenverkäufer, Autowäscher, Dieb und Bettler – ist ein eigenes Geschäft für sich. Sie haben nichts mit den Geschäften einer anderen Kategorie zu tun. Es gibt zwei Unterkategorien der Diebe: die Apartment-Diebe und die Brieftaschen-Diebe«. Die Jobs haben einen unterschiedlichen Status, sie sind unterschiedlich einträglich und anspruchsvoll. Mit dem Verkauf von Plastiktüten verdienen die Kinder ein bis zwei Somoni am Tag. Das Autowaschen, das besondere Fähigkeiten verlangt, bringt demgegenüber drei bis sechs Somoni ein, und das Karrenschieben, das viel Kraft kostet, vier bis zehn, von denen jedoch 9 Ein Somoni sind 100 Dirham. Zum Zeitpunkt der Studie, Anfang 2004 war ein Somoni etwa 0,3 US-Dollar wert.
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drei oder mehr Somoni für das Ausleihen des Karrens an dessen Besitzer gezahlt werden müssen. Die arbeitenden Kinder verachten die Bettelnden und vor den Dieben haben sie Angst. Alle diese typischen Arbeiten von Straßenkindern werden, abgesehen vom Betteln, nur von Jungen ausgeführt. Der Mangel an Arbeitsmöglichkeiten für Mädchen, die auf der Straße leben, scheint mit ein Grund dafür zu sein, dass sie Geld durch Sexarbeit verdienen müssen.10 Es gibt noch andere typische Arbeiten für Kinder. Manche verkaufen Ess- und andere Waren in und um die Märkte oder an kleinen Ständen in ihrer Nachbarschaft; hiermit sind oft Mädchen beschäftigt. Andere helfen den Fahrern der Mashrutka, der Minibusse, indem sie das Fahrgeld einsammeln und die Türen bedienen. Und schließlich helfen sie in Restaurants und Läden. Diese Arbeiten scheinen jedoch nicht von Straßenkindern ausgeführt zu werden. Manche Kinder erzählten, sie würden bis zu zehn Somoni am Tag verdienen, der Durchschnitt scheint jedoch eher bei fünf Somoni zu liegen. Gleichzeitig müssen sie jedoch Geld an ihren Gruppenchef, an die Polizei und »die Diebe« bezahlen, sodass mir nie wirklich klar war, ob sie, wenn sie ihre Einkünfte nannten, den Betrag vor oder nach diesen »Abzügen« meinten. Dies verweist auf die Strukturen, in welche die arbeitenden Kinder eingebunden sind. Um arbeiten zu dürfen, müssen sie in der Regel Mitglied einer Gruppe sein. Diese Gruppen umfassen zwischen sechs und 25 Kinder, welche die gleiche Arbeit verrichten und einem älteren Gruppenchef unterstellt sind. Mehrere solcher Basisgruppen sind in übergeordneten Gruppen, den sogenannten Apshak, zusammengefasst, und die Stadt ist insgesamt in verschiedene Territorien aufgeteilt. Je nach Tätigkeit sind die Gruppen der arbeitenden Kinder mehr oder weniger groß und stabil. Die Gruppen der Autowäscher z.B. sind größer und stabiler, während diejenigen der Plastiktütenverkäufer eher klein und instabil sind, weil sich über diese Arbeit nicht viel Geld verdienen lässt. Bei den meisten Tätigkeiten gibt es mehrere Gruppen pro Markt. Droht eine dieser Gruppen zu einflussreich zu werden, gibt es Kämpfe zwischen ihnen. Die Gruppenchefs sammeln etwa zwei Drittel des Geldes ein, das ihre Mitglieder verdienen. Mit diesem Geld bezahlen sie die Chefs der übergeordneten Gruppen und die Polizei, damit diese sie in Ruhe lassen. Die arbeitenden Kinder stellen auf diese Weise das unterste Glied einer verschachtelten Struktur von 10 Ein Ziel der Studie sollte die Exploration der Situation dieser Mädchen sein. Obwohl wir verschiedene Versuche unternahmen, gelang es uns nicht, Zugang zu ihnen zu gewinnen. Von den Straßenkindern erfuhren wir jedoch, dass es viele Mädchen gibt, die an unterschiedlichen Stellen der Stadt, sowohl draußen als auch in Diskotheken, Sex gegen Geld anbieten. Jungen, die Sex verkaufen, gibt es ebenfalls, hierzu erfuhren wir jedoch sehr wenig.
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Abgaben dar, die gegen Sicherheit bzw. »Arbeitserlaubnisse« gezahlt werden. Als der Leiter11 des Zentrums Navras dieses Gruppensystem erklärte, bezog er sich jeweils auf die Sowjetzeit und erklärte, damals seien diese Strukturen zentralisierter gewesen und die »großen« Gruppenchefs wären der Regierung bekannt gewesen. Ihm zufolge waren etwa 60% der Straßenkinder in solche Gruppenstrukturen integriert. Valijon erklärte, etwa 80% der arbeitenden Kinder, aber nur 40% der bettelnden wären Mitglieder dieser Gruppen. Für Straßenkinder, welche nicht zu einer solchen Gruppe gehören, ist das Leben sehr viel gefährlicher. Sie brauchen zwar kein Geld an ihren Gruppenchef abzutreten, jedoch wird es ihnen regelmäßig von der Polizei oder von Dieben abgenommen. Auch werden sie viel öfter von der Polizei mit dem Argument schikaniert, es sei verboten, an diesem bestimmten Ort zu arbeiten. Deswegen müssen sie immer wieder ihren Standort wechseln. Gruppenchefs sind in der Regel mindestens 16 Jahre alt. Sie müssen stark sein, gut kämpfen können und sich auf der Straße gut auskennen. Gleichzeitig müssen es Jugendliche sein, die von den Kindern respektiert werden und denen diese gehorchen. Wenn sie zu grob sind und zu oft zuschlagen, werden sie von den Kindern verlassen, welche sich dann einen neuen Chef suchen. Immer wieder gibt es Rivalitäten zwischen Gruppenchefs, aber auch mit Gruppenmitgliedern, welche selbst Anführer werden wollen. Der Gruppenchef muss nicht nur die Polizei und die Diebe bezahlen, um die Sicherheit seiner Gruppe zu gewährleisten, er muss auch gute Arbeitsgelegenheiten organisieren, fähige Gruppenmitglieder finden, für ihre Qualifizierung sorgen und die Arbeit zwischen ihnen aufteilen. Die Gruppenchefs kümmern sich um gute Schlafplätze, und wenn ihre Mitglieder von der Polizei verhaftet oder krank werden, helfen sie ihnen. Nachdem sie ihnen geholfen haben, schlagen sie sie meistens und dies soll ihnen, so erklärte es uns Valijon, Folgendes vermitteln: »Denke daran, dass ich dich unterstützt habe, als du Probleme hattest, deswegen arbeite nun für mich«. Geschlagen werden die Kinder auch dann, wenn sie nicht genug verdienen, um das Überleben der Gruppe zu sichern, oder wenn sie nicht gehorchen. Diese Schläge wurden von Valijon, der uns die Regeln dieser Gruppen erklärte, als normal und notwendig dargestellt und er ließ sich durch meine Einwände in seiner Einschätzung nicht beirren. Während Subhon und Valijon, die beiden Gruppenchefs im Zentrum Navras sich für »ihre« Kinder verantwortlich zu fühlen und sich um diese zu kümmern schienen, verdeutlicht ein Interview, das
11 Tojiddin hatte früher im Gefängnis gearbeitet und von dort waren ihm diese Gruppenstrukturen sehr gut vertraut.
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Valijon mit einem Gruppenchef auf dem Markt geführt hatte, dass diese Rolle für manche in erster Linie mit Status und Reichtum verbunden ist, und ihnen das Wohlergehen ihrer Gruppenmitglieder nicht besonders am Herzen liegt. Gruppenchefs nehmen nicht nur Geld von »ihren« Kindern und schlagen sie, sondern haben auch Sex mit den jüngsten von ihnen, was für diese sehr beschämend ist. Dennoch waren sowohl das Team von Navras als auch Valijon von der Sinnhaftigkeit dieser Gruppen überzeugt, da sie die Kinder beschützen und ihnen helfen würden. Außerdem würden diese Gruppen für die Organisation der Straßenkinder sorgen und dafür, dass es klare Ansprechpartner gebe, wie Tojiddin immer wieder hervorhob.
Gefahren und Freuden auf der Straße Beim Gruppengespräch im Kinderheim im nördlichen Khudjand betonten die etwa 20, vornehmlich russischen Kinder immer wieder die positiven Aspekte des Lebens auf der Straße. Besonders betonten sie die Freiheit, die sie dort genossen. Sie mochten nicht, wenn sie jemand bevormundete oder ihnen viele Dinge verbot. Das Schnüffeln von Kleber oder Benzin gefalle ihnen, denn dadurch vergäßen sie ihre Sorgen und fühlten sich für eine Weile glücklich. Auch Diebstähle machten Spaß, und sie erzählten uns, wie sie manchmal leckeres Essen stahlen. Wenn sie genügend Geld eingenommen hatten, genossen sie es, in Internetcafés Computerspiele zu spielen, was sie Sony nannten. Kinder, die die Freiheit und das Schnüffeln besonders lieben, so erzählten sie uns, würden immer wieder aus dem Kinderheim weglaufen. Das bestätigten auch die Mitarbeiterinnen des Heims. Es scheint recht schwierig zu sein, mit dem Schnüffeln aufzuhören. Dieses Gruppeninterview vermittelte uns, das Leben auf der Straße hätte bei allen Schwierigkeiten auch gute Seiten. Die Gespräche mit den vornehmlich tadschikischen Kindern im Zentrum Navras und dem angrenzenden Markt zeichneten ein ganz anderes Bild. Sie alle betonten, dass es am Leben auf der Straße wirklich nichts Positives gebe. Nur ein Junge meinte, es sei gut, dass man vieles erfahre und dass man lerne, sich zurecht zu finden. Die Straßenkinder, die neu ins Navras-Zentrum kamen, saßen die meiste Zeit still in ihrem Raum, spielten Brettspiele oder sahen fern. Weder schien ihnen das ruhige Sitzen Mühe zu bereiten noch schienen sie erpicht auf vermeintliche Abenteuer der Straße. Der Unterschied zu den Kindern aus Khudjand kann zum einen ethnisch begründet sein, zum anderen aber auch darin, dass das Navras-Zentrum keine Kinder erreichte, die zu Diebesgruppen gehörten oder Kleber schnüffelten.
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Danach befragt, wovor sie sich auf der Straße am meisten fürchteten, nannten die meisten Kinder die Militia, die Polizei. Die Schilderungen der Kinder über die Polizei ähnelten sich: Meistens werden sie nachts mit dem Argument verhaftet, es sei gefährlich, an dieser Stelle zu schlafen, oder tagsüber, während sie arbeiten, mit der Begründung, dies sei verboten. Nachts führt die Polizei regelmäßig Oblava, Razzien, durch, bei denen sie viele Straßenkinder verhaftet, oft an mehreren Tagen hintereinander. Die meisten Kinder werden also festgenommen, ohne dass sie etwas verbrochen haben. Üblicherweise werden sie nach wenigen Stunden oder einer Nacht wieder freigelassen, nachdem sie einen Somoni oder 50 Dirham, manchmal auch größere Summen bezahlt haben. Sie werden verhört, wieso sie draußen schlafen oder arbeiten. Oft müssen sie die Räume oder Toiletten der Polizeistation putzen, besonders dann, wenn sie kein Geld haben. Dies soll einem Inspektor zufolge zur Abschreckung dienen. Die meisten Kinder berichten auch von Schlägen, manche auch von brutaler Gewalt. Einige Kinder müssen in einer Art Kindergefängnis, dem Preomnic, bleiben, bis ihre Eltern sie wieder abholen. Es gibt jedoch auch Kinder, die Positives über die Polizei berichten. Sie erzählen, dass sie nicht geschlagen wurden und/oder dass ihnen ihr Geld nicht abgenommen wurde. Zwei Kinder erzählten uns, dass Polizisten, die sie kannten, ihnen halfen, gestohlenes Geld wieder zu bekommen. Auch das Preomnic, über das viel Schlechtes erzählt wurde, wurde von zwei Jungen positiv beschrieben. Einer von ihnen, der zwei Monate lang dort gewesen war, erzählte, er sei menschlich behandelt worden. Sie hätten Essen erhalten und duschen können, es habe auch Schulunterricht gegeben und die Möglichkeit, draußen zu spielen. Manche Kinder erzählten uns, dass sie bei Diebstählen mit der Polizei kooperierten. Wenn sie von ihr gefasst werden, kommt es vor, dass sie der Polizei das Diebesgut überlassen und diese sie daraufhin laufen lässt. Sie berichteten auch, dass sie Diebstähle zusammen mit der Polizei planen und die Beute anschließend teilen würden. Diese Kinder sagten, sie hätten keine Angst vor der Polizei. In einem Expertinneninterview mit einer Mitarbeiterin der Nichtregierungsorganisation Saodat in Khudjand erfuhren wir, dass Kinder oft zu Gefängnisstrafen von drei bis fünf Jahren verurteilt werden, wenn sie Nahrungsmittel stehlen oder sich in der Öffentlichkeit prügeln, was als Hooliganismus bezeichnet wird. Die Ergebnisse der Gerichtsprozesse sind stark durch Geldzahlungen beeinflussbar. Oft verlangt das Gericht etwa 500 Somoni für die Freilassung der Kinder. Die Anwältinnen dieser Organisation, die sich für die Kinder einsetzen, konnten diesen Betrag in vielen Fällen reduzieren. Im Fall eines Straßenkindes, das das Navras-Zentrum besuchte und in einen Betrugsfall verwickelt war, verlangte die Polizei 200 Dollar vom Vater, andernfalls würde sein Sohn ins Gefängnis kom-
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men.12 Es ist wohl auch nicht unüblich, dass Straßenkinder gezwungen werden, Geständnisse für Straftaten zu unterschreiben, die sie nicht begangen haben. Es gibt jedoch auch Mitglieder der Polizei und der Justiz, die mit Nichtregierungsorganisationen kooperieren, so z.B. ein Inspektor der Kommission für die Angelegenheiten von Minderjährigen, der die Arbeit des Zentrums Navras und unsere Forschung unterstützte. Um die Kinder zu schützen, gibt es neben Saodat noch andere Organisationen, welche die Kinder juristisch beraten und vor Gericht vertreten und versuchen, mit der Polizei zusammen zu arbeiten, damit solche Fälle wie der Diebstahl eines Brotes gar nicht erst vor Gericht landen. Straßenkinder leiden jedoch nicht nur unter der Gewalt der Polizei und anderer Erwachsener, sondern auch unter Gleichaltrigen. Besonders nachts stehlen »die Diebe« ihr Geld und andere Wertsachen, sodass sie es nur sehr selten schaffen, größere Summen beiseite zu legen, um ihre Familien zu unterstützen. Auch tagsüber werden sie immer wieder von den Dieben mit ihren Geldforderung geplagt. Manchmal rücken diese als Gruppe an und verlangen die Einkünfte einer Gruppe von arbeitenden Kindern, was meistens zu einer Schlägerei führt, aus der jedoch fast immer die Diebe als Sieger hervorgehen, weil ihre Gruppen besonders groß sind, zu ihnen viele kräftige Jungen gehören und sie Freunde unter den Polizisten haben. Die Kinder leiden jedoch nicht nur unter diesen Diebstählen, sondern auch unter bösen Scherzen, denen sie besonders nachts ausgesetzt sind. Ein besonders negativer Aspekt des Straßenlebens für kleine Jungen ist sexuelle Gewalt durch größere Jugendliche. Üblicherweise haben der Gruppenchef, aber auch andere ältere Jungen Geschlechtsverkehr mit den Kleineren der Gruppe. Für Letztere ist dies äußerst beschämend, weswegen sie kaum darüber reden, vor allem nicht mit Erwachsenen, und schon gar nicht mit Frauen, die darüber wohl auch nicht Bescheid wissen. Auch wir erfuhren im Rahmen unserer Recherchen nur durch einen Zufall von dieser schmerzhaften Seite des Straßenkinderlebens: Zwei kleine Jungen waren dem Navras-Zentrum seit einigen Tagen ferngeblieben und Valijon, der den Grund dafür ahnte, hatte sie aufgesucht. Einer der Jungen erzählte ihm, sie seien von vier älteren Jungen aus der Gruppe missbraucht13 worden. Dies 12 Ein anderes Straßenkind hatte einem Vater, der auf dem Markt nach seinem Sohn suchte, erzählt, er kenne diesen und würde ihn für 200 Somoni zu ihm führen, rannte dann jedoch mit dem Geld davon. Daraufhin wurde die Gruppe dieses Kindes verhaftet und drei Tage lang von der Polizei festgehalten. Der Leiter von Navras erreichte zusammen mit der Unterstützung von Save the Children U.K. ihre Freilassung. 13 Der Vergewaltigungsbegriff wurde in diesem Zusammenhang wie auch derjenige des Missbrauchs, soweit ich es verstand, weder von den Kindern, noch von den Erwachsenen gebraucht. Die Kinder redeten von »ficken«, die Erwachsenen von »schlafen«.
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geschehe wohl jeden Tag und er sei es gewohnt. Gleichzeitig jedoch bat er das Team, mit den älteren Jungen zu reden, damit sie dies nicht mehr tun würden. Tojiddin zufolge haben etwa 40% der Straßenjungen Geschlechtsverkehr mit anderen Jungen. Bei Jungen, die bei ihren Familien übernachteten, käme dies viel seltener vor, erklärte Valijon. Die übliche Erklärung für den Geschlechtsverkehr mit kleinen Jungen war, dass die größeren Jungen kein Geld für Prostituierte haben. In den Diskussionen mit dem Team des Kinderzentrums wurde deutlich, dass die Rolle des aktiven Jungen als normal angesehen und nicht als homosexuell im europäischen Sinne stigmatisiert wurde. Die Rolle des kleinen, passiven Jungen ist jedoch, wie in vielen anderen asiatischen oder arabischen Gesellschaften, mit starken negativen Vorurteilen behaftet (vgl. Tertilt 1996). Weil kleine Jungen außerdem noch keine guten Arbeiter sind, sind sie für die Gruppenchefs, abgesehen vielleicht von den Diebesgruppen, keine attraktiven Gruppenmitglieder. Dies führt dazu, dass das Leben auf der Straße für kleine Jungen besonders gefährlich ist. Nachts ist die gefährlichste Zeit auf der Straße. Es ist die Zeit, in der die Kinder bösen Streichen, Diebstahl, der Polizei und sexueller Gewalt ausgesetzt sind. Im Winter ist es zusätzlich sehr kalt. Um nicht von der Polizei und den Dieben gefunden zu werden, wechseln viele Kinder regelmäßig ihren Schlafplatz. Besonders aber im Winter gibt es nur wenige warme Plätze. Diese befinden sich v.a. auf den Tandour, den Lehmöfen, in denen Brot gebacken wird, und unter den Warmwasserleitungen. Auch unter den Verkaufsständen in den Märkten und in den Kellern der Hochhäuser suchen die Kinder Schutz. In manchen Räumen der Märkte, in Moscheen und einigen Internetcafés dürfen sie gegen die Gebühr von einem bis zu fünf Somoni die Nacht verbringen. Am Ende der Interviews nach ihren Wünschen gefragt, äußerten die Straßenkinder den einen großen Wunsch nach einem Schlafraum. Auch außerhalb der formellen Interviews fragten sie immer wieder nach einem Schlafplatz. Angesichts der Gefahren, denen die Kinder in der Nacht ausgesetzt sind, würde eine sichere Unterkunft für die Nacht ihre Lebensumstände wesentlich verbessern. Für Essen und auch für Kleidung können sie durch ihre Arbeit selbst sorgen. Es gehört jedoch zu den Prinzipien von Save the Children U.K., keine heimähnlichen Institutionen zu fördern. Dies trifft wohl auch für viele andere internationale Nichtregierungsorganisationen zu, von denen die regionalen Nichtregierungsorganisationen finanziell abhängen. Befürchtet wird, dass solche Institutionen Abhängigkeiten fördern und die Familien von ihrer Verantwortung entlasten. Während wir in dieser Weise über die Notwendigkeit, den Sinn und die Unmöglichkeit solcher Unterkünfte debattierten, hatten sich die Kinder von uns un-
Straßenkindheit in Tadschikistan
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beachtet in einem leer stehenden Nebengebäude des Navras mit Matten und Teppichen häuslich eingerichtet. Das Team des Navras hatte wohl einige Zeit lang wohlwollend beide Augen vor dieser Situation verschlossen. Als sich jedoch der Vorsitzende des Mahalla, des Viertels, in dem sich das Zentrum befand, über die schmutzigen Kinder und vermehrte Diebstähle beschwerte und Save the Children U.K. bekräftigte, dass es eine Unterkunft auf dem Gelände nicht finanzieren würde, schien es so, als müssten die Kinder diesen Platz wieder räumen. Zusammen mit dem Team von Navras entwickelte ich das Konzept einer Notschlafstelle, welche nur nachts geöffnet sein sollte. Sie sollte in eine Familienbesuchsarbeit eingebettet sein, um die Eltern nicht aus ihrer Verantwortung zu entlassen. Die Debatten und Pläne über sichere Schlafplätze gingen jedoch weiter. Neben den verschiedenen Formen von Gewalt gibt es noch einen anderen, traurigen und im Rahmen unserer Forschung unerwarteten Aspekt des Lebens von Straßenkindern. In den Interviews nach Freunden und Menschen gefragt, die ihnen helfen würden, antworteten die meisten Kinder, dass sie keine Freunde hätten und dass es niemanden gebe, der ihnen helfen würde oder dem sie vertrauen würden. Im Gruppengespräch im Heim Dasti Madat in Khudjand legten die Kinder großen Wert darauf, dass das Wichtigste an dieser Einrichtung sei, dass sie geliebt würden. Auf der Straße hätten sie zwar Freiheit und Spaß, aber da sei niemand, der sich um sie kümmere, und dies sei der Grund, wieso sie immer wieder zurück ins Heim kämen. Auch im Navras-Zentrum zeigten die Kinder durch überschwängliche Begrüßungen, wie wichtig ihnen die ErzieherInnen waren. Das Angebot einer pädagogischen Beziehung war somit neben der Pflege der familiären Beziehungen und der Frage nach einem sicheren Schlafplatz eine der zentralen praktischen Konsequenzen unserer Forschung.
Literatur Tertilt, Hermann (1996): Turkish Power Boys. Ethnographie einer Jugendbande. Frankfurt a.M.: Suhrkamp. Munsch, Chantal (2004): Street Children in Tajikistan. Study carried out with Save the Children U.K. and the Drop-in Centre »Navras« in Dushanbe. Dushanbe, Save the Children U.K. World Bank (2005): Republic of Tajikistan. Poverty Assessment Update. Report No: 30853-TJ.
Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Mona Abaza, Professorin für Soziologie, Anthropologie Ägyptologie und Psychoplogie der American University in Kairo, Ägypten; Gastprofessur für Islamwissenschaften am Zentrum für Theologie und Religionswissenschaft der Lund Universität in Schweden. Arbeitsschwerpunkte: Religiöse und kulturelle Netzwerke zwischen dem Mittleren Osten und Südostasien (Malaysia, Indonesien), die »Hadhrami« Diaspora in Südostasien, Konsumkultur in Ägypten. Prof. Dr. Micha Brumlik, Professor am Institut für Allgemeine Erziehungswissenschaft der Johann Wolfgang Goethe-Universität, Frankfurt am Main, mit dem Schwerpunkt »Theorie der Erziehung und Bildung«. Arbeitsschwerpunkte: Ethik, Theorie und Empirie moralischer Sozialisation, Religionsphilosophie. Prof. Dr. Isabell Diehm, Professorin an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld, AG 10 Migrationspädagogik und Kulturarbeit. Arbeitsschwerpunkte: Erziehung und Migration, Kindheitsforschung mit dem Schwerpunkt »Frühe Kindheit«, Geschlechterforschung. Julia Gerlach, Autorin und Korrespondentin für verschiedene deutsche Medien in Kairo. Arbeitsschwerpunkte: Politik- und Islamwissenschaften, muslimische Jugendkulturen in Deutschland. Dr. Didem Gürses, Assistant Professor am Fachbereich für Geistes- und Sozialwissenschaft der Technischen Yldz Universität, Istanbul/Türkei. Arbeitsschwerpunkte: Armut, menschliche Entwicklung, Sozialpolitik, Sozialstaat.
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Autorinnen und Autoren
PhD Linda A. Herrera, Senior Lecturer am Internationalen Institut der Sozialwissenschaften der Erasmus Universität Rotterdam/Niederlande für Development Studies mit dem Schwerpunkt »Jugend«. Arbeitsschwerpunkte: Jugend und internationale Entwicklung, Erziehung und soziale Transformation im Mittleren Osten und Nordafrika, Kulturpolitiken muslimischer Jugendlicher, Kritische Ethnografie, Kritische Pädagogik. Dr. Mouez Khalfaoui, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Georg-Eckert-Institut für internationale Schulbuchforschung in Braunschweig. Arbeitsschwerpunkte: Islamische Erziehung, Minderheitsrecht, muslimische Lebenskontexte. Dipl.-Päd. Claudia Lübcke, Mitarbeiterin im DFG-Forschungsprojekt »Junge Muslime in Deutschland« an der Universität Rostock, seit 2008 Promotionsstipendiatin der Heinrich-Böll-Stiftung. Arbeitsschwerpunkte: Jugendarbeit und Jugendbildung; Jugendforschung, Biografieforschung; Migration und Integration; Jugendkulturen junger Muslime. Dr. Chantal Munsch, Vertretungsprofessur für »Sozialpädagogik des Kindesund Jugendalters« an der Universität Kassel. Arbeitsschwerpunkte: Diversity und Partizipation, bürgerschaftliches Engagement, Gemeinwesenarbeit und Zivilgesellschaft integrierte sozialraumorientierte Erziehungshilfen, sozialpädagogische Ethnografie, Aktionsforschung und Praxisforschung, Frühprävention. PD Dr. Hilke Rebenstorf, Vertretungsprofessur für Soziologie am Institut für Sozialwissenschaften der Universität Hildesheim. Arbeitsschwerpunkte: Sozialisationsforschung, Jugendforschung, politische Soziologie, soziale Ungleichheit. Dipl.-Päd. Arne Schäfer, Promotionsstipendiat an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld, AG 9 Jugendforschung und Medienpädagogik. Arbeitsschwerpunkte: Jugendforschung, Migrationsforschung, qualitative Methoden der empirischen Sozialforschung.
Autorinnen und Autoren
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Dr. Manja Stephan, 2003-2005 Projektmitarbeiterin »Religion and Civil Society« am Max-Planck-Institut für ethnologische Forschung in Halle an der Saale; 2008 Stipendiatin des Graduiertenzentrums »Asien und Afrika in globalen Bezugssystemen« (GSAA) an der Martin-Luther Universität Halle-Wittenberg, dort Abschluss der Promotion. Arbeitsschwerpunkte: moralische Erziehung, Kindheit und Jugend in Transformationsländern, religiöse Wissensvermittlung und Islam im postsozialistischen Tadschikistan. Dr. Hülya Tac, SoSe 2006 und WiSe 2008/2009 Lehraufträge an der Freien Universität Berlin am Fachbereich Politik- und Sozialwissenschaften. Arbeitsschwerpunkte: Migration und interethnische Beziehungen, Transnationalität und Integration, Religionsethnologie, Migrations- und Minoritätenforschung. PD Dr. Hac-Halil Uslucan, Vertretungsprofessur für Pädagogische Psychologie an der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Arbeitsschwerpunkte: Intellektuelle Entwicklung im Kindesalter, Jugendgewalt und Jugendentwicklung im kulturellen und interkulturellen Kontext, Interkulturelle Familien- und Erziehungsforschung, Gesundheit und Migration. Regelmäßige Durchführung von Fortbildungsveranstaltungen zu den Themen Gewalt an Schulen, Migration, Islam und interkulturelle Kompetenz. Prof. Dr. Hans-Jürgen von Wensierski, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Rostock, Projektleiter des DFG-Forschungsprojektes »Junge Muslime in Deutschland«. Arbeitsschwerpunkte: Jugendforschung, Biografieforschung, Jugendhilfeforschung, Jugendbildung, Medienpädagogik.
Zu den Herausgeberinnen Prof. Dr. Sabine Andresen, Professorin an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld, AG 1 Allgemeine Erziehungswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Kindheits- und Jugendforschung, Familienforschung, historische Bildungsforschung, Internationale Reformpädagogik, Geschlechterforschung.
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Autorinnen und Autoren
Dr. Christine Hunner-Kreisel, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät für Erziehungswissenschaft der Universität Bielefeld, AG 1 Allgemeine Erziehungswissenschaft. Arbeitsschwerpunkte: Religion als Thema in der Pädagogik, Islamische Bildung und Erziehung, Muslimische Kindheit und Jugend, Kindheit und Jugend in Transformationsländern, Qualitative Forschungsmethoden.