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German Pages 160 [208] Year 2001
Rousseau hat eine Vielzahl von Spuren in der modernen Kultur hinterlassen. In klassischen Werken der Philosophie, Pädagogik und Literatur deckt er Möglichkeiten und Irrwege des Projekts der Moderne auf und beeinflußt mit seiner Ethik unmittelbar die Politik der Menschenrechte. Rousseau rehabilitiert den Gedanken des Naturgemäßen und weist nach, daß Selbstbehauptung nur als Selbstbegrenzung möglich ist. Die Monographie von Dieter Sturma arbeitet die Grundzüge des Werks heraus und zeigt, daß die Rezeption Rousseaus in wichtigen Punkten zu korrigieren ist – das gilt nicht zuletzt auch für das Rousseau immer wieder unterstellte Schlagwort „Zurück zur Natur!“. Dieter Sturma ist ordentlicher Professor für Philosophie an der Universität Essen. Zahlreiche Publikationen zur Philosophischen Anthropologie, Philosophie des Geistes und Ethik. Letzte Buchveröffentlichungen: „The Modern Subject“ (Hg. mit Karl Ameriks, 1995), „Philosophie der Person. Die Selbstverhältnisse von Subjektivität und Moralität“ (1997), „Person. Philosophiegeschichte – Theoretische Philosophie – Praktische Philosophie“ (Hg., 2001). Die Reihe „Denker“ wird herausgegeben von Otfried Höffe.
Dieter Sturma
Jean-Jacques Rousseau
Verlag C. H. Beck
Mit 9 Abbildungen
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme Sturma, Dieter: Jean-Jacques Rousseau / Dieter Sturma. – Orig.-Ausg. – München : Beck, 2001 (Beck’sche Reihe ; 549 : Denker) ISBN 3 406 41949 6
Originalausgabe ISBN 3 406 41949 6 Umschlagentwurf: +malsy, Bremen Umschlagabbildung: Archiv für Kunst und Geschichte, Berlin © Verlag C. H. Beck oHG, München 2001 Gesamtherstellung: Druckerei C. H. Beck, Nördlingen Printed in Germany www.beck.de
Für Sabine-Susanne
Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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I. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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II. Leben und Werk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Genf, Wanderjahre, Chambéry . . . . . . . . . . . . . 2. Paris: Diskurse, Enzyklopädie . . . . . . . . . . . . . . 3. Montmorency: Julie, Emile, Gesellschaftsvertrag 4. Exil: Bekenntnisse, Dialoge, Träumereien . . . . .
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IV. Die Natur des Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Anthropologie und Ethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Universalität und Multikulturalität . . . . . . . . . . . . 3. Der natürliche Mensch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. ,Die menschliche Natur schreitet niemals zurück!‘ .
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III. Naturzustand und Kultur . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Naturzustand. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Der Übergang von Naturgeschichte in Kulturgeschichte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Entstehung der Ungleichheit unter den Menschen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Kritik der Wissenschaften und Künste. .
V. Freiheit und Selbstbewußtsein . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Perspektiven des Freiheitsbegriffs . . . . . . . . 2. Metaphysik der Freiheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Evidenz von Freiheit und Selbstbewußtsein. 4. Die Sonderstellung des Menschen in der Natur .
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VII. Bildung und Erziehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Der Gang der Natur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Die Entdeckung der Kindheit . . . . . . . . . . . . . . . .
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VI. Moralität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. Die natürliche Güte des Menschen 2. Mitleid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Gewissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Die negative Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Die Erziehung des Herzens . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Bildung und Selbstentfaltung. . . . . . . . . . . . . . . . .
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VIII. Politik der Freiheit und neuer Gesellschaftsvertrag 1. Der kontraktualistische Ausgangspunkt. . . . . . . . . 2. Die Kultur der Gerechtigkeit. . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Menschenrechte und Natur des Menschen . . . . . . . 4. Die neue Gemeinschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Die bürgerliche Religion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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IX. Individualität und Authentizität . . . . . . . . . . . . . . 1. Die Einsamkeit des Guten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Auf den Spuren Montaignes . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Die Geschichte selbstbewußter Innerlichkeit . . . . . 4. Das Glück an den Grenzen des Selbstbewußtseins . 5. Ethik der Würde und Selbstachtung . . . . . . . . . . .
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X. Wirkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Anhang 1. Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Französisch-deutsche Konkordanz der Hauptschriften. 3. Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4. Abbildungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Personen- und Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Vorwort Die Studierenden meiner Essener Lehrveranstaltungen sind nicht müde geworden, sich in immer neuen Anläufen mit Rousseaus Denken auseinanderzusetzen. Ihre Bemühungen sind auf vielfältige Weise in dieses Buch eingegangen. Bei meinen Mitarbeitern Sabine A. Döring, Jan-Hendrik Heinrichs und Ulrich Steckmann habe ich mich für die tatkräftige und kenntnisreiche Unterstützung bei der Entstehung des Buchs zu bedanken. Eine Vielzahl von kritischen Anmerkungen und Verbesserungsvorschlägen verdanke ich Dieter Thomä. Otfried Höffe habe ich für wertvolle Hinweise und die geduldige herausgeberische Unterstützung zu danken. Nicht zuletzt bin ich Frau Mayr und Herrn Bezold für die gute verlagstechnische Betreuung zu Dank verpflichtet.
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I. Einleitung In der modernen Kultur hat Rousseau eíne Vielzahl von Spuren hinterlassen. Mit klassischen Werken der Philosophie, Pädagogik und Literatur führt er Möglichkeiten und Irrwege der Aufklärung vor und eröffnet neue Ausdrucksformen menschlicher Individualität. In seiner praktischen Philosophie konvergieren die Hauptströmungen von Tugendethik, Gefühlsethik, Ethik der Autonomie und Kontraktualismus. Sein Werk beeinflußt unmittelbar die Politik der Menschenrechte des ausgehenden 18. Jahrhunderts. Auf dem Höhepunkt der Französischen Revolution wird im Nationalkonvent die Bewahrung seines Erbes auf die Formel gebracht, daß man nichts unversucht lassen wolle, die Wünsche der Natur zu erfüllen, die Bestimmung der Humanität zu erreichen und die Versprechen der Philosophie einzulösen. Wie kaum ein anderer Klassiker ist Rousseau aber auch gravierenden Mißverständnissen ausgesetzt. Verbreitete Urteile unterstellen ihm die Verklärung des primitiven Naturzustands, die Losung ,Zurück zur Natur!‘ sowie die Verkündung der Herrschaft des Gemeinwillens über den Einzelnen. Tatsächlich hat Rousseau das menschliche Leben unter den Bedingungen des Naturzustandes als hart und wenig paradiesisch beschrieben. Ethische und politische Veränderungen mahnt er mit dem Blick auf die Zukunft an und stellt kategorisch fest: ,Die menschliche Natur schreitet niemals zurück!‘ Schließlich gibt er in keiner Phase seines Denkens einen ausgeprägten Individualitätsbegriff auf. Die Freiheit des Einzelnen bleibt für ihn in jeder Hinsicht unverzichtbar. Seine Theorie der Volkssouveränität steht in der Fluchtlinie des Begriffs der Selbstbestimmung. Sie ist zudem durch das Mißtrauen gegenüber Herrschaftsinstitutionen motiviert und will vor allem keine ethischen und politischen Hierarchien zulassen. Schaut man auf das Ganze der Philosophie Rousseaus, so zeigt sie den Menschen in kulturellen Übergängen, in denen er sich spezifischen Entwicklungsmöglichkeiten und Gefährdungen zu stellen hat. Dabei kristallisieren sich drei Gestalten heraus: der natürliche Mensch, der moderne Mensch und der Mensch im Exil. Die Spur des natürlichen Menschen hat sich in der Vorzeit der Kulturgeschichte verloren. Seine gleichermaßen harten wie einfa11
chen Lebensverhältnisse wirken aber noch nach und geben Vorstellungen von Freiheit und Ausgeglichenheit des naturgemäßen Daseins vor. Der Mensch der europäischen Moderne lebt in zerrissenen und unübersichtlichen Lebensverhältnissen. Er ist Opfer von fehlgeleiteten gesellschaftlichen Zusammenschlüssen, lebt aber in einer moralischen Dimension, die Potentiale für eine neue soziale und politische Ordnung bereithält. Wenn diese Potentiale im sozialen Raum nicht mehr mit Leben erfüllt werden können, ist für die aufrichtige Person das Exil unvermeidlich. Rousseau hat in allen seinen philosophischen Phasen die Situation der menschlichen Lebensform in dem zwielichtigen Bereich zwischen Gemeinschaft und Vereinzelung verortet. Am Ende verengt sich sein Denkweg auf das Exil. Weil Rousseau kein wirklich ausgeführtes philosophisches System hinterlassen hat, muß eine darstellerische Einheit in den wiederkehrenden Einstellungen und Motiven gesucht werden. Das gilt insbesondere für den Umgang mit dem prekären Ort der Person in der Gesellschaft, der aus unterschiedlichen Blickwinkeln beleuchtet wird: In den Diskursen erscheint das Individuum zivilisatorisch depraviert, den Gesellschaftsvertrag beherrschen die Begriffe des Gemeinwillens und der Autonomie, der Emile und die Bekenntnisschriften thematisieren schließlich Möglichkeiten von Selbstbestimmung und Authentizität unter den Bedingungen gesellschaftlicher Entfremdung. Die Philosophie Rousseaus ist insgesamt durch das spannungsreiche Verhältnis gekennzeichnet, das sich zwischen Authentizitätsanspruch und egalitaristischer Ethik aufbaut. Während das authentische Bewußtsein den Blick nach innen richtet, mutet der Egalitarismus jedem den Schritt des Selbst zum Anderen zu. Deshalb ist bei Rousseau immer von einer eigentümlichen Einheit der selbstbezüglichen und externalisierenden Reflexion auszugehen. Diese Gedankenfigur wird von der Eigenart seines analytischen Zugriffs überlagert, der zwei grundsätzliche Ausdifferenzierungen anstrebt: zwischen Sein und Schein sowie zwischen Selbstbehauptung und Abhängigkeit. Die dabei auftretenden Trennlinien verlaufen nicht einfach zwischen dem Selbst und dem Anderen. Zuweilen tritt das Selbst als Feind seiner Selbstbehauptung auf, und das Andere nimmt die Gestalt des Eigenen an. In der Geschichte der Moderne gibt es erstaunliche Wiederer12
innerungsszenen: Als Petrarca auf dem Mont Ventoux die Geburtsstunde moderner Subjektivität erlebt, hält er seiner eigenen Stilisierung zufolge die Confessiones von Augustinus in Händen, und als Claude Lévi-Strauss im Amazonasgebiet nach einer gescheiterten Begegnung mit dem Fremden den Rückzug antritt, sucht er Zuflucht in der Lektüre von Rousseau. Der zeitliche Abstand dieser Wiedererinnerungsszenen umfaßt eine kulturphilosophische Wende: Petrarcas Entdeckung der freigesetzten Subjektivität ist ein Aufbruch in ein neues Land, das im Fortgang seiner Besiedlung die mit ihm verbundenen Erwartungen nicht erfüllen wird. Rousseau diagnostiziert als einer der ersten und am radikalsten das Scheitern: Die Subjektivität der Moderne wendet sich gegen sich selbst. Das ist nicht zuletzt an den kulturellen Erfahrungen des 20. Jahrhunderts ablesbar, in denen der Sache nach sowohl Rousseaus radikaler Subjektivismus als auch seine radikale Subjektivitätskritik umgehen. Für Rousseau ist der Einsatz der Philosophie eine Sache von Authentizität und Ernsthaftigkeit. Aus diesen Bestimmungen baut er eine weitreichende Programmatik auf, die grundsätzliche Veränderungen der Lebens- und Verständigungsverhältnisse anstrebt. Sein methodischer Ansatz ist naturalistisch. Er schaut auf die Natur, um den Menschen als Menschen zu finden. Sein ethischer Naturalismus vermeidet Überforderungssyndrome. Das Ziel ist ein Weniger, nicht ein Mehr an Veränderungen. Der Mensch hat sich unter den Bedingungen seiner ihm eigenen Moralität auf das Naturgemäße zu beschränken und den Ausgleich von Können und Wollen zu suchen. Er soll sich zu dem bilden, was er wirklich ist, und nicht dem nachhängen, was er niemals sein kann. Von der Umsetzung dieser einfachen Formel haben Rousseau und viele seiner Anhänger einen grundlegenden ethischen und politischen Wandel in den Lebensverhältnissen erwartet. Rousseaus Werk ist überaus komplex und vermittelt in ersten Annäherungen einen inkohärenten Eindruck. Der Verdacht tiefgehender systematischer Widersprüchlichkeit bestätigt sich jedoch am Ende nicht. Im Rahmen einer Rekonstruktion der Grundgedanken erweist sich das Werk als ein überaus beziehungsreiches und vielschichtiges System, dem es keineswegs an argumentativer Ausarbeitung fehlt. Es folgt einer zwar ungewöhnlichen, aber durchaus nachvollziehbaren Entwicklungslogik. Dennoch bleibt 13
eine Aufteilung des Werks nach Maßgabe philosophischer Hauptdisziplinen schwierig. Das hängt damit zusammen, daß Rousseau scharfe Trennungen zwischen theoretischer und praktischer Philosophie vermeiden will und sich darum bemüht, seine Ethik in eine neue Stellung zu anderen Disziplinen zu bringen. Die disziplinären Perspektiven der Grundgedanken Rousseaus nehmen in der Kapitelanordnung folgende Gestalt an: III. Naturzustand und Kultur: Sozial- und Kulturphilosophie, Ethik und Ästhetik IV. Die Natur des Menschen: Philosophische Anthropologie und Ethik V. Freiheit und Selbstbewußtsein: Naturphilosophie, Philosophie des Geistes, Ethik VI. Moralität: Ethik VII. Bildung und Erziehung: Bildungsphilosophie und Ethik VIII. Politik der Freiheit und neuer Gesellschaftsvertrag: Politische Philosophie, Religionsphilosophie und Ethik IX. Individualität und Authentizität: Philosophie des Geistes, Ethik und Ästhetik.
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II. Leben und Werk Leben und Werk unterliegen je eigenen Gesetzmäßigkeiten. In der Regel verschwindet das Leben des Philosophen hinter seinem Werk. Jean-Jacques Rousseau bildet in dieser Hinsicht eine Ausnahme. Vor allem in seiner Spätphilosophie ist er bestrebt, die Ordnungen seines Lebens und Werks aufeinander abzubilden. Diese Verflechtungen vollziehen sich nahezu durchgängig unter negativen Vorzeichen. Die unglücklichen Wendungen seines Schicksals gibt er als direkte Folge der Radikalität seiner Philosophie aus. Einige seiner öffentlich bekannt gewordenen Lebensumstände sind für ihn gleichermaßen Anlaß zu Selbstdeutungen und philosophischen Diagnosen. Nach der Veröffentlichung der systematischen Hauptwerke im Jahre 1762 und den daraufhin einsetzenden Verfolgungen Rousseaus, bleibt der Großteil seiner Tätigkeit autobiographischen Texten und Rechtfertigungsschriften vorbehalten (siehe Abschnitt II. 3). Diese Ausrichtung ist nicht nur durch einen Rückzug in das private Leben motiviert. Sie erfüllt auch eine wichtige Funktion bei der Klärung einer Reihe ungelöster ideologie- und erkenntniskritischer Probleme. Schließlich verschwinden im Spätwerk sowohl für Rousseau als auch für den äußeren Beobachter zunehmend die Grenzen zwischen Realität und Fiktion (siehe Abschnitt II. 4). Diese konstruktive Verschränkung erschwert von vornherein einen nüchternen Blick auf sein Leben und beeinflußt bis heute das Rousseau-Bild. Sie ist der auf ihn selbst zurückgehende Ursprung der Legendenbildung. 1. Genf, Wanderjahre, Chambéry Jean-Jacques wird am 28. Juni 1712 als zweiter Sohn des Uhrmachers Isaac Rousseau und Suzanne Bernards in Genf geboren. Wenige Tage nach der Geburt stirbt die Mutter. Rousseau hat die tragischen Umstände seiner Geburt als verhängnisvoll für sein weiteres Lebens gedeutet: „Ich kostete meine Mutter das Leben, und meine Geburt war mein erstes Unglück.“ (OC I 7/W II 11; zur Erläuterung der Abkürzungen siehe Anhang, Abschnitte 2 und 3.1.) Er sieht sich gar genötigt, Suzanne Goncerut, der Schwester 15
Abb.1: Gemälde von Maurice Quentin de Latour, 1753.
des Vaters, die seine Erziehung übernommen hat, eigens zu verzeihen, daß sie ihn am Leben erhalten habe. Trotz des innigen Verhältnisses zu seiner Tante bleibt die abwesende Mutter im Leben des Kindes auf unerbittliche Weise gegenwärtig. Rousseau erinnert sich wehmütig, daß die Liebesbekundungen des Vaters immer mit dem Schmerz über den Verlust der Ehefrau vermischt gewesen seien: „Ich habe nicht erfahren, wie mein Vater diesen Verlust ertrug; aber ich weiß, daß er sich nie darüber tröstete. (…) Wenn er zu mir sagte: ,Jean-Jacques, wir wollen von deiner Mutter sprechen‘, so antwortete ich ihm: ,Dann wollen wir also weinen, Vater‘, und dies Wort allein entlockte ihm schon Tränen.“ (OC I 7/W II 11) Die Mutter beeinflußt indirekt die intellektuelle Entwicklung Rousseaus. Sie hinterläßt eine Reihe von Büchern, mit denen der junge Jean-Jacques unter der Anleitung des Vaters die autodidak16
tische Aneignung klassischer Literatur beginnt. Die Erinnerungen an das Erwachen seiner Selbstgewißheit sind durch die frühen Leseerfahrungen vermittelt. Die Figur des internen Zusammenhangs von Selbstbewußtsein und literarischer Erfahrung bleibt tief in seinem Selbstverständnis verankert: „Ich weiß nicht, was ich bis zu meinem fünften oder sechsten Jahr tat. Ich weiß nicht, wie ich lesen lernte; ich erinnere mich nur meiner ersten Lektüre und ihrer Wirkung auf mich. Von dieser Zeit an datiere ich ohne Unterbrechung das Bewußtsein meiner selbst.“ (OC I 8/W II 12) Zur Lektüre gehören neben einer Vielzahl von Romanen auch Werke von Fontenelle, Bossuet und Plutarch. Letzterer hinterläßt bei ihm einen tiefen Eindruck, den er später als prägend für das Ganze seines Lebens angesehen hat. Rousseau hat einen sieben Jahre älteren Bruder namens François, mit dem er sich offenbar gut verstanden hat. Dagegen herrscht zwischen François und dem Vater ein gespanntes Verhältnis. In den Bekenntnissen räumt Rousseau ein, daß er seinem Bruder vorgezogen worden sei. Er billigt diese Bevorzugung nicht und versucht, den Bruder vor ungerechter Behandlung durch den Vater zu schützen. Ein einschneidendes Erlebnis ist die Flucht des Vaters im Jahre 1722. Dieser ist schon mehrfach in Ehrenhändel verwickelt gewesen. Im Verlauf eines neuen Streits schlägt er einem Offizier mit dem Schwert ins Gesicht. Um einer drohenden Verurteilung zu entgehen, läßt Isaac Rousseau die Söhne in der Obhut ihres Onkels Gabriel Bernard zurück und flieht nach Nyon, das zum Berner Verwaltungsgebiet gehört. Dort lebt er bis zu seinem Tod im Jahre 1747. Rousseau macht dem Vater im nachhinein keine Vorwürfe und deutet das endgültige Zerbrechen seiner Familie als Konsequenz der Selbstbehauptung des Vaters, der es eben vorgezogen habe, sein restliches Leben heimatlos zu verbringen, statt Ehre und Freiheit aufs Spiel zu setzen. Durch die Flucht des Vaters führt der junge Jean-Jacques praktisch das Leben einer Waise. François verläßt vermutlich zwei Jahre später Genf. Es wird berichtet, daß er sich in Deutschland aufgehalten habe. Die Familie bleibt aber ohne jede Nachricht. Nach der Flucht des Vaters lebt Jean-Jacques zunächst in Bossey, einem Dorf vor den Toren Genfs. Seine Erziehung überträgt der Onkel einem calvinistischen Landpfarrer. Eine 1724 begonnene Lehre als Gerichtsschreiber bricht er nach kurzer Zeit ab. Im 17
Jahr 1725 wird er Lehrling bei dem Graviermeister Ducommun in Genf. Die mit der Lehre verbundenen Lebensumstände, insbesondere sein Aufenthalt im Hause von Ducommun, empfindet er als Zwang. Gegen den massiven Widerstand seines Lehrmeisters widmet er nahezu seine gesamte freie Zeit der Lektüre von teilweise mühsam beschaffter Literatur. Die Lehre findet nach drei Jahren ihr Ende, als Jean-Jacques bei der späten Rückkehr von einem Ausflug die Stadttore geschlossen vorfindet. Er nimmt diesen Umstand zum Anlaß, Genf den Rücken zu kehren. Aufgrund der Empfehlung eines katholischen Geistlichen macht der noch Fünfzehnjährige 1728 die Bekanntschaft von Mme de Warens, die es sich zur Aufgabe gemacht hat, Protestanten für den katholischen Glauben zu gewinnen. Rousseau konvertiert wenige Wochen später. Nach Jahren eines unsteten Wanderlebens, das ihn unter anderem nach Turin und Paris führt, zieht er 1731 zu Mme de Warens nach Chambéry und wird Liebhaber seiner um dreizehn Jahre älteren Gönnerin. Die Verbindung zerbricht nach etwa sieben Jahren. Vermutlich von 1735 bis 1737 bewohnt er das Landhaus der Mme de Warens in dem Tal Les Charmettes. Die Zeit in Les Charmettes, die er oft allein verbringt, wird Rousseau später als das kurze Glück seines Lebens bezeichnen. Während seine Musikausbildung schon auf die Zeit in Chambéry zurückgeht, kommen in Les Charmettes umfängliche Auseinandersetzungen mit Philosophie, Mathematik und Naturwissenschaften hinzu. Er betreibt seine Studien hauptsächlich als Autodidakt. Der Wunsch, schriftstellerisch tätig zu werden, nimmt konkrete Züge an. Es zeigen sich erste Hinweise einer moralischen Umorientierung, die an die Stelle von oberflächlichen Geselligkeiten und flüchtigen Vergnügungen Einsamkeit, Arbeitsdisziplin und Ernsthaftigkeit setzt. Wegen einer neuen Liebschaft von Mme de Warens wird für Rousseau die Situation in Les Charmettes unhaltbar. Er nimmt deshalb 1740 eine Hauslehrerstelle bei der Familie de Mably in Lyon an. Seine Aufgabe besteht in der Unterrichtung des fünfjährigen Jean-Antoine und des sechsjährigen François-Paul-Marie. Es entsteht der Erziehungsplan für den Sohn der Familie de Mably (Mémoire présenté à M. de Mably sur l’éducation de M. son fils). Im folgenden Jahr verläßt er Lyon und kehrt für einige Monate nach Les Charmettes zurück, wo er seine autodidaktischen Studien fortsetzt. 18
2. Paris: Diskurse, Enzyklopädie Im Juli 1742 begibt sich Rousseau erneut nach Paris. Er findet dort schnell Eingang in Intellektuellenzirkel und lernt Denis Diderot kennen, dem er in einer langjährigen Freundschaft verbunden bleibt. Er erhält die Möglichkeit, sein in Les Charmettes entwickeltes Notensystem, das die Tonleiter durch Zahlen ausdrückt, der Akademie der Wissenschaften vorzustellen. Auf die ablehnende Haltung der Akademie reagiert er 1743 mit der Abhandlung über die moderne Musik (Dissertation sur la musique moderne), in der die Vorzüge seines Notensystems erläutert werden. Dem Pariser Freundeskreis gehören auch eine Reihe von Adligen an, durch deren Vermittlung Rousseau 1743 zum Sekretär des französischen Gesandten in Venedig ernannt wird. Seine Aufgabe besteht hauptsächlich im Abfassen von Depeschen. Er hat Gelegenheit, ausgiebig am kulturellen Leben Venedigs teilzunehmen. Großen Eindruck hinterläßt bei ihm die zeitgenössische italienische Musik. Auf diese Zeit gehen auch erste Überlegungen zur politischen Theorie zurück. Der Aufenthalt in Venedig bleibt auf wenige Monate beschränkt, weil er sich schon bald mit dem Gesandten überwirft und im darauffolgenden Jahr nach Paris zurückkehrt. Dort schließt er die Arbeit an der Oper Die galanten Musen (Les muses galantes) ab, die im September 1745 an der Pariser Oper hinlänglich erfolgreich zur Aufführung kommt. Jean Philippe Rameau gehört zu den schärfsten Kritikern des Stücks. Trotzdem erhält Rousseau den Auftrag zur Bearbeitung von Voltaires und Rameaus Die Feste Ramiros (Les fêtes de Ramire). Das Verhältnis zwischen Rameau und Rousseau bleibt auf Dauer feindselig. Im selben Jahr lernt Rousseau die fast zehn Jahre jüngere Wäscherin Marie-Thérèse Levasseur kennen, mit der er bis zu seinem Tod zusammenleben, die er aber erst 23 Jahre später heiraten wird. Thérèse bringt 1746 einen Sohn zur Welt, der genauso wie vier weitere Kinder sofort dem Pariser Findelhaus übergeben wird. Solche Übergaben sind damals nicht unüblich. In Paris werden zuweilen über vierzig Prozent der Neugeborenen im Findelhaus abgegeben. Gegenüber Mme Dupin (siehe unten) macht er später den luxuriösen Lebensstil der Reichen dafür verantwortlich, daß er nicht genügend Brot habe, eigene Kinder aufzuziehen. 19
Abb. 2: Der Louvre um 1750.
Er unterstellt, daß die öffentliche Fürsorge und Ausbildung auf das einfache Leben als Handwerker oder Bauer zulaufe, was allemal ein besseres Schicksal als sein eigenes sei. Den Umstand, daß zu dieser Zeit in Paris über die Hälfte der dem Findelhaus übergebenen Kinder noch während der ersten Lebensjahre an Krankheiten sterben, rechnet er bei seiner Rechtfertigung nicht ein. In der Tiefe seines Herzens dürfte ihm ohnehin immer klar gewesen sein, daß seine von vorgeblich nüchterner Überlegung bestimmten Handlungen unverzeihlich gewesen sind: „Mehr als einmal seitdem hat mir die Reue meines Herzens gesagt, daß ich mich getäuscht habe.“ (OC I 357/W II 352) Auch wenn eine Reihe von äußeren Bedingungen Rousseau zu entlasten scheinen, bleibt die Übergabe der Kinder ins Findelhaus die Tragödie seines Lebens, die ihn bis an das Ende seiner Tage verfolgt hat und über den Tod hinaus das Rousseau-Bild überschattet. Es gibt Anzeichen dafür, daß Rousseau den Emile ursprünglich als sein letztes Werk konzipiert hat, um eine ,alte Sünde‘ abzubüßen und anschließend dem Schreiben ein für allemal abzuschwören. Im Emile stellt er kategorisch fest: „Wer die Pflichten eines Vaters nicht erfüllen kann, hat kein Recht, es zu werden. Weder Armut noch Arbeit, noch menschliche Rücksichten sprechen ihn davon los, seine Kinder zu ernähren und sie selbst zu erziehen. Ihr könnt mir glauben, meine Le20
ser. Ich sage es einem jeden voraus, der Kinder hat und so heilige Pflichten verabsäumt, er wird lange Zeit über seinen Fehler bittere Tränen vergießen und niemals getröstet werden.“ (OC IV 262 f./ W III 27) Im Zuge der Verfolgungen nach 1762 sind die Kindesübergaben Anlaß für schwere Vorwürfe gegen Rousseau. Im Herbst 1746 verbessern sich die äußerlichen Lebensumstände durch die Anstellung als Sekretär bei der reichen Adelsfamilie Dupin, wodurch er nicht zuletzt Zugang zu einer umfangreichen Bibliothek erhält. Seine Aufgabe besteht hauptsächlich darin, dem befreundeten Charles Louis Dupin de Franceuil bei der Abfassung von naturwissenschaftlichen und philosophischen Essays zu helfen, von denen dieser sich die Aufnahme in die Akademie der Wissenschaften erhofft. Seine Frau Mme Dupin, die Rousseau als eine der schönsten Frauen von Paris bezeichnet, soll er bei ihren literarischen Bemühungen unterstützen. Rousseau hat seine Situation aber weder in finanzieller noch in persönlicher Hinsicht als wirklich befriedigend empfunden. Der Lohn der Dupins ist offenbar nicht großzügig bemessen gewesen, und die häusliche Situation verschlechtert sich dadurch, daß Thérèse im gemeinsamen Domizil des Hôtel de Languedoc ständig von Mitgliedern ihrer Familie umringt ist. Dieser Pariser Lebensabschnitt ist durch den bizarren Gegensatz zwischen den Aufenthalten in dem luxuriösen Anwesen der Dupins und den gleichermaßen kargen wie unruhigen Verhältnissen im Hôtel de Languedoc gekennzeichnet. Dennoch hat Rousseau diesen Lebensabschnitt rückblickend als friedlich und angenehm bezeichnet. Rousseau unterhält nunmehr enge Verbindungen zu einer Vielzahl von Pariser Intellektuellen. Zu ihnen gehören Paul-Henri Thiry d’Holbach und Étienne Bonnot de Condillac, dem er bei der Veröffentlichung des Versuchs über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis (Essai sur l’origine des connoissances humaines) behilflich ist. Er ist eng mit Jean le Rond d’Alembert und Diderot befreundet. Condillac, Diderot und Rousseau treffen sich eine Zeitlang im Gasthof Panier fleuri zu wöchentlichen Streitgesprächen. Bei diesen Zusammenkünften entwirft Rousseau den Plan für eine periodische Zeitschrift nach dem Vorbild des Spectator, die den Titel Le Persifleur tragen soll. Fragmente des Projekts sind im Nachlaß erhalten geblieben. Am Ende der vierziger Jahre kann Rousseau bereits auf eine 21
Karriere zurückblicken. Durch große autodidaktische Anstrengungen, die nur sehr vereinzelt von außen unterstützt worden sind, ist es ihm gelungen, das Leben eines Pariser Intellektuellen zu führen. Er kann Erfolge als Komponist aufweisen, ist in Paris mit vielen Dichtern und Gelehrten bekannt oder sogar befreundet und beteiligt sich als ein fleißiger Mitarbeiter an einem der ehrgeizigsten Aufklärungsprojekte des 18. Jahrhunderts, der Enzyklopädie von Diderot und d’Alembert. Die Herausgabe der Enzyklopädie wird 1749 durch die Verhaftung Diderots unterbrochen. Auslöser sind dessen Philosophische Gedanken (Pensées philosophiques), die verboten und verbrannt werden, sowie der Brief über die Blinden (Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient), der der konkrete Anlaß für die Inhaftierung in Vincennes ist. Schon nach kurzer Zeit werden aufgrund der Intervention adliger Fürsprecher die Haftbedingungen erleichtert, und es wird Diderot gestattet, Freunde zu empfangen. Zu den regelmäßigen Besuchern gehört Rousseau. Auf einem seiner Fußmärsche von Paris nach Vincennes überfliegt er den Mercure de France und entdeckt dabei die von der Akademie zu Dijon gestellte Aufgabe für den Preis des Jahres 1750: „Ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen hat“ („Si le rétablissement des sciences et des arts a contribué à épurer les mœurs?“) Diese klare und einfache Frage konzentriert die vielfältigen philosophischen Interessen Rousseaus auf eine grundsätzliche Problemstellung, die seinem weiteren Werdegang eine klar definierte Richtung geben sollte: „Im Augenblick, da ich dies las, sah ich eine andre Welt, und ich wurde ein andrer Mensch.“ (OC I 351/W II 346) Wenig später heißt es aber auch: „All mein übriges Leben und meine Leiden waren die unvermeidliche Folge dieses Augenblicks der Verwirrung.“ Den ,verwirrten Augenblick‘ schildert Rousseau im nachhinein auf unterschiedliche Weise. Während die Beschreibung in den Bekenntnissen vergleichsweise nüchtern ausfällt, erscheint die Begebenheit in den Briefen an Malesherbes als eine ekstatische Erleuchtung: Sein Geist sei von tausend Lichtern geblendet gewesen, und ein Universum lebhafter Gedanken habe ihn in unaussprechliche Verwirrung versetzt. Überwältigt sei er am Wegesrand zusammengebrochen und habe für eine halbe Stunde ohne Bewußtsein seiner Umgebung unter einem Baum verbracht: „Ach, mein 22
Herr, wenn ich jemals den vierten Teil alles dessen, was ich unter diesem Baume gesehen und empfunden habe, hätte niederschreiben können, mit welcher Deutlichkeit hätte ich alle Widersprüche des gesellschaftlichen Systems gezeigt, mit welcher Kraft hätte ich alle Mißbräuche unserer Einrichtungen dargestellt, mit welcher Einfachheit hätte ich gezeigt, daß der Mensch von Natur gut ist, und daß es lediglich von ihren Einrichtungen herrührt, wenn die Menschen böse werden. Alles, was ich von dieser Menge großer Wahrheiten behalten habe, die mich eine Viertelstunde unter diesem Baum erleuchteten, ist sehr schwach in meinen Hauptschriften verstreut erschienen, nämlich in jener ersten Abhandlung, in der über die Ungleichheit und dem Traktat von der Erziehung, welche drei Schriften unzertrennlich sind und zusammen ein einziges Ganzes bilden. Alles übrige ist verloren gegangen, und an dem Orte selbst wurde nichts niedergeschrieben als die Prosopopöie des Fabricius.“ (OC I 1135 f./S I 483) Bei Diderot angekommen, liest er diesem sogleich die Prosopopöie des Fabricius vor, die Eingang in den ersten Teil des Diskurses über die Wissenschaften und Künste finden wird. Diderot ermuntert ihn, sich um den Preis zu bewerben. Über die Umstände, die zu Rousseaus Preisschrift geführt haben, ist noch eine andere Darstellung im Umlauf, die wahrscheinlich direkt auf Diderot zurückgeht. Danach habe Rousseau Diderot in Vincennes gefragt, wie die Preisfrage am besten zu beantworten sei, und den Rat erhalten, er solle den Standpunkt beziehen, den kein anderer einnehmen werde. Während Diderots Darstellung vor dem Hintergrund der inzwischen eingetretenen Entfremdung gesehen werden muß, steht Rousseaus Schilderung bereits im unmittelbaren Zusammenhang mit einer ideologiekritischen Begründungsproblematik, die seine philosophischen Bemühungen seit den fünfziger Jahren begleitet und deren Lösung er nach 1762 mit großer Entschiedenheit betreibt. Die Problematik spielt auch eine wichtige Rolle bei der Verteidigung gegen philosophische Kritik und persönliche Anfeindungen. Das stilisierte Erweckungserlebnis und sein intellektuelles Exil stehen in einem Entsprechungsverhältnis. Dieser Sachverhalt ist deutlich an den späteren Bekenntnisschriften ablesbar. Der Diskurs über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur 23
Läuterung der Sitten beigetragen habe (Discours qui a remporté le prix à l’Academie de Dijon. En l’année 1750. Sur cette Question proposée par la même Académie: Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les mœurs. Par un Citoyen de Genève) ist durchaus eine angemessene Reaktion auf das Erlebnis von Vincennes und bewirkt einen entscheidenden Einschnitt in der intellektuellen Entwicklung Rousseaus. Er reagiert auf die Frage, ob die Wissenschaften und Künste zur Verbesserung der Sitten beigetragen haben, mit einem niederschmetternden Befund: Nicht nur haben sie keinen Beitrag zur Läuterung der Moral der Menschen geleistet, sie sind sogar mitverantwortlich für den Verfall der Sitten. Seine Argumentationen entfaltet er in zwei Schritten. Zunächst wird der Prozeß der Zivilisation nachgezeichnet, woran sich eine Analyse der Funktion der Wissenschaften und Künste anschließt. Dabei werden verschiedene Bedingungsverhältnisse als Ursachen des gesellschaftlichen und kulturellen Verfalls ausgemacht. Im zweiten Teil der Preisschrift hebt er besonders das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Luxus, moralischer und sozialer Ungerechtigkeit auf der einen Seite sowie des äußerlichen Fortschritts der Wissenschaften und Künste auf der anderen Seite hervor (siehe Abschnitt III. 4). In der Forschung ist die Bedeutung des Diskurses über die Wissenschaften und Künste wegen offensichtlicher stilistischer und argumentativer Schwächen niedrig veranschlagt worden. Rousseau hat diese Schwächen selbst eingestanden. Für die Herausbildung seiner eigentümlichen philosophischen Position stellt der Diskurs gleichwohl einen Durchbruch dar. Der zentrale Gedanke seiner Philosophie, daß der Mensch von Natur aus gut ist und nur durch den von Beginn an verfehlten Gang der Zivilisationsgeschichte ins kulturelle Verderben stürzt, kommt in der Preisschrift nachdrücklich zum Ausdruck. Von nun an gewinnt Rousseaus Denken eine eigene Dynamik, die über die in der Mitte des 18. Jahrhunderts eingeschlagenen Theoriewege weit hinausführt. Der Diskurs enthält zudem schon die für Rousseau typischen Motive: die Abkehr von der gesellschaftlichen Konvention sowie das Streben nach Wahrhaftigkeit. Für diesen Komplex stehen die späteren Ausdeutungen des Vincennes-Erlebnisses ein. Seine Behauptung, er sei in dem Moment, als er die Preisfrage gelesen habe, ein anderer Mensch geworden, erscheint insofern nicht unplausibel. In der er24
sten Preisschrift wird eine theoretische Stellung zu Kultur und Gesellschaft eingenommen, die er später verfeinern, aber nicht mehr aufgeben wird. Die Akademie zu Dijon erkennt im Sommer 1750 Rousseau zu seiner eigenen Überraschung den Preis zu. Obwohl der Diskurs über die Wissenschaften und Künste eine radikale Kritik an den gemeinhin als selbstverständlich erachteten Positionen der Aufklärung zu Bildung und Fortschritt enthält, zieht die Veröffentlichung zum Jahreswechsel noch keine unmittelbare Kritik seitens der Enzyklopädisten nach sich. Ohnehin wäre die Preisverleihung ein provinzielles Ereignis geblieben, wenn nicht ein befreundeter Redakteur im Mercure de France darüber berichtet und Auszüge der Schrift veröffentlicht hätte. Damit wird eine Debatte über den Diskurs eröffnet, die Rousseau berühmt machen wird. Im Unterschied zu den vielen noch folgenden Kontroversen um sein Werk und seine Person verläuft sie überaus sachlich und hilft ihm, die eigene Position in überlegten Entgegnungen zu verbessern und zu präzisieren. Das Jahr 1752 beschert Rousseau weitere öffentliche Anerkennung durch das Singspiel Der Dorfwahrsager (Le devin du village), das in das Programm der Pariser Oper übernommen wird. Es gehört über Jahrzehnte zu deren Repertoire und erfährt eine Reihe von musikalischen Bearbeitungen – unter anderem von Mozart (Bastien und Bastienne) und Beethoven (Air de Colin). Bei seiner Premiere in Fontainebleau sind Ludwig XV. und Mme de Pompadour zugegen, die einige Monate später bei einer privaten Aufführung im Schloß Bellevue eine Hauptrolle übernimmt. Rousseau erhält noch in Fontainebleau eine Einladung zur königlichen Audienz, die in der Regel mit der Aussetzung einer Pension verbunden ist. Obwohl er etwa zur gleichen Zeit die Sekretärstelle bei den Dupins aufgibt, bleibt er der Audienz fern. Als Gründe für das Fernbleiben werden Unpäßlichkeit und die zurückgezogene Lebensführung genannt. Letzteres trifft zu dieser Zeit sicherlich noch nicht zu. In den Bekenntnissen wird schließlich die Bewahrung der moralischen Unabhängigkeit angeführt: „Ich verlor (…) die mir gewissermaßen in Aussicht gestellte Pension. Aber ich entzog mich auch dem Joch, das sie mir auferlegt hätte.“ (OC I 380/W II 375) Rousseau sieht sich wegen seines Verhaltens vielen Vorhaltungen ausgesetzt. Diderot wirft ihm vor, daß er allein wegen 25
der Verantwortung gegenüber Thérèse Levasseur diese Gelegenheit niemals hätte ausschlagen dürfen. Der Streit trägt schon die Signatur des tiefergehenden persönlichen Zerwürfnisses. Rousseau hat den Mechanismus des Konflikts so zusammengefaßt, daß ihm von Diderot permanent vorgeschrieben worden sei, wie er sich in dieser oder jener Situation verhalten solle, und er sich mit gleicher Regelmäßigkeit gegenüber der Einmischung verwahrt habe. Den großen Erfolg des Dorfwahrsagers kann Rousseau mit der noch im selben Jahre erfolgten Aufführung der Komödie Narcisse ou l’amant de lui-même am Théâtre Français nicht wiederholen. Das Vorwort zur Druckfassung des Narcisse enthält eine Verteidigung gegen den Vorwurf, daß seine musikalischen und literarischen Produktionen in einem krassen Gegensatz zu den kritischen Diagnosen des Diskurses über die Wissenschaften und Künste stünden. Er weist darauf hin, daß die Kritik an den Wissenschaften und Künsten sich nicht gegen die viel zu seltenen Fälle ernsthaften Bemühens um das Wahre, Gute und Schöne richteten. Solche Bemühungen seien zu verteidigen und je nach Talent nachzuahmen. Dagegen müßten die vielfältigen Versuche, Wissenschaften und Künste aus moralisch verwerflichen Motiven wie Ehrgeiz, persönlicher Bereicherung oder politischer Manipulation zu betreiben, zurückgewiesen werden. Wer unter den Bedingungen allgemeiner Korrumpierung der Wissenschaften und Künste an deren ursprünglichem Sinn festhalte, sei demnach keineswegs inkonsequent. Der durch den Dorfwahrsager eröffnete Erfolgsweg als Komponist kommt 1753 zu einem jähen Ende, als Rousseau sich an der von seinem damaligen Freund Frédéric Melchior de Grimm entfachten Debatte um die Vorzüge der italienischen gegenüber der französischen Musik beteiligt (,la guerre des bouffons‘). Anlaß der Debatte ist unter anderem die Pariser Aufführung von Giovanni Battista Pergolesis Die Magd als Herrin (La serva padrona) aus dem Vorjahr. In dem Brief über die französische Musik (Lettre sur la musique française) gibt Rousseau ein eindeutiges Bekenntnis zugunsten der italienischen Musik ab, die ihm durch seinen Venedigaufenthalt und italienische Opernaufführungen in Paris gut bekannt gewesen ist. An der französischen Musik beklagt er, daß sie im Gegensatz zur italienischen der Harmonie einen eindeutigen Vorrang gegenüber Melodie und Expressivität einräume. Der 26
Tadel richtet sich vornehmlich gegen Rameau, der sich denn auch an die Spitze der Gegenreaktion stellt. In der Folge der polemischen und letztlich ideologischen Auseinandersetzung verliert Rousseau den freien Eintritt zu den Aufführungen der Pariser Oper, der ihm als Honorar gewährt worden war. Der Streit um die italienische Musik ist ein Vorbote der schweren Anfeindungen und Isolierungen, denen sich Rousseau in den sechziger und siebziger Jahren ausgesetzt sieht. Zum Ende des Jahres 1753 wird im Mercure de France die neue Preisfrage der Akademie zu Dijon gestellt: „Was ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen und ob sie im Naturgesetz begründet ist?“ („Quelle est la source de l’inégalité parmi les hommes et si elle est autorisée par la loi naturelle?“) Rousseau bewundert den Mut der Akademie, diese große Frage überhaupt gestellt zu haben, und fühlt sich geradezu verpflichtet, sie zu beantworten. Im April 1754 reicht er seine zweite Preisschrift in Dijon ein. Einige Wochen später begibt er sich mit Thérèse Levasseur auf eine Reise nach Genf. Im Juni trifft er nach 26 Jahren als berühmte Persönlichkeit wieder in seiner Heimatstadt ein. Dort wird er überaus ehrenvoll aufgenommen und erhält durch den Wiedereintritt in die calvinistische Kirche die Bürgerrechte zurück. In seiner Heimatstadt gibt er sich der ,republikanischen Begeisterung‘ hin und vollendet das in Paris entworfene Widmungsschreiben An die Republik Genf des Diskurses über die Ungleichheit unter den Menschen. Die Reise, die auch die weitere Umgebung von Genf einschließt, hinterläßt eine Vielzahl von Spuren in seinen Werken – insbesondere in der Julie und dem Gesellschaftsvertrag. Während eines kurzen Aufenthalts in Chambéry findet er Mme de Warens in wirtschaftlich aussichtsloser Lage vor. Der Umstand, daß er ihrer völligen Verarmung nicht abhelfen konnte, hat ihn sehr bedrückt. Die zweite Preisschrift Rousseaus, die von der Akademie zu Dijon keine Auszeichnung erhält, wird im April des Jahres 1755 mit dem gegenüber der ursprünglichen Fragestellung abgewandelten Titel Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen (Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes) veröffentlicht. Die Schrift gliedert sich wie der Diskurs über die Wissenschaften und Künste in zwei Hauptteile. Ihnen werden eine Widmung an die Republik Genf, die deren Politik 27
und Staatsform als idealtypisch verherrlicht, sowie eine Vorrede und Einleitung vorangestellt. In den einführenden Passagen trifft Rousseau bereits wichtige methodische und thematische Vorentscheidungen. Sie betreffen Fragen nach den Zugangsmöglichkeiten zur natur- und kulturgeschichtlichen Vergangenheit der Menschheit und den anthropologischen Grundlagen, von denen die Analysen zur Ungleichheit unter den Menschen auszugehen haben (siehe Abschnitte III. 1–3). Im ersten Teil des Diskurses über die Ungleichheit unter den Menschen wird der Naturzustand als eine Lebensform selbständiger und unabhängiger Individuen charakterisiert, die sich weder in einem permanenten Kriegzustand miteinander befinden noch zu dauerhaften Gemeinschaften zusammenschließen wollen. Der Selbsterhaltung des präsozialen Menschen korrespondiert ein unbefangenes Verhältnis zur Natur. Er setzt sich der Natur nicht entgegen, sondern richtet seine Bedürfnisse nach ihr aus. Es schließt sich ein Exkurs zum Ursprung der Sprache an, der die Grundzüge einer naturalistischen Sprachphilosophie skizziert, die ihre Weiterführung in dem posthum veröffentlichten Versuch über den Ursprung der Sprachen (Discours sur l’origine des langues) erfährt. Rousseau wendet sich danach der These der Abhandlung zu, nach der der Mensch von Natur aus gut ist. Der zweite Teil des Diskurses behandelt zunächst die kulturgeschichtlichen und strukturellen Bedingungen der gesellschaftlichen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Er beginnt mit der berühmten Feststellung, daß der, welcher ein Stück Land mit den Worten ,Dies ist mein‘ umzäunte und auf einfältige Leute traf, die es ihm glaubten, der „wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft“ (OC III 164/W IV 93) gewesen sei. Die Exposition dient Rousseau als leitmotivische Hinführung zur Rekonstruktion zivilisatorischer, kultureller und ethischer Fehlentwicklungen. Die Herausbildung der Ungleichheit unter den Menschen wird von Rousseau formal als das Auseinandertreten von Sein und Schein beschrieben: „Ehre ohne Tugend, Verstand ohne Weisheit und Vergnügen ohne Glück“ (OC III 193/W IV 123). Die Zivilisation hat so eine Welt gekünstelter Menschen mit künstlichen Leidenschaften hervorgebracht. Im Spätsommer kehrt Rousseau nach Paris zurück und nimmt sein gewohntes Leben zunächst wieder auf. Er pflegt nach wie vor 28
Umgang mit den führenden Köpfen der Pariser Aufklärung, vornehmlich mit Diderot, Duclos, Grimm, d’Alembert sowie mit d’Holbach und Helvétius. In seinem persönlichen Umfeld mehren sich jedoch Anzeichen, die auf gewichtige Veränderungen in seinen Lebensverhältnissen und philosophischen Ausrichtungen hindeuten. Er erwägt sogar die Übersiedlung nach Genf. Zum Ende des Jahres erscheint im fünften Band der Enzyklopädie die Abhandlung über die politische Ökonomie (Discours sur l’économie politique). Sie enthält Überlegungen, die bereits deutlich auf die Grundgedanken des Gesellschaftsvertrags hinweisen. Die Abhandlung über die politische Ökonomie kann als eine Übergangsschrift von den kulturkritischen Diskursen zur konstruktiven politischen Philosophie angesehen werden. Sein Verhältnis zu den Pariser philosophes befindet sich nunmehr im Umbruch. Die freundschaftlichen Beziehungen zu dem Großteil der philosophes werden überlagert von zunehmenden theoretischen Vorbehalten. Rousseau kritisiert den überzogenen Luxus und den Atheismus in den Pariser Salons, kann aber nicht umhin, den in ihnen ausgeübten Geschmack und Stil zu loben, der in dieser Form außerhalb von Paris eben nicht gefunden werden könne. 3. Montmorency: Julie, Emile, Gesellschaftsvertrag 1756 wird die zunehmende Entfremdung Rousseaus von der Pariser intellektuellen Szene offenkundig. Im April folgt er der Einladung von Mme d’Épinay, ihre Eremitage in Montmorency zu beziehen. Die philosophes mißbilligen den Umzug in die ländliche Umgebung. D’Holbach sagt voraus, daß es Rousseau in den Wäldern von Montmorency höchstens drei Monate aushalten werde. Grimm befürchtet hingegen, daß die ländliche Einsamkeit die in Paris nicht unbemerkt gebliebenen charakterlichen Eigenheiten Rousseaus noch verstärken könnte. Dieser selbst hat mit dem Umzug viele Erwartungen verbunden, die trotz seiner späteren Klagen nicht gänzlich unerfüllt geblieben sind. In der ersten Zeit seines Aufenthaltes beschäftigt er sich zunächst mit dem Manuskript des Abbé de Saint Pierre über das Projekt des ewigen Friedens und sendet an Voltaire den sogenannten Brief über die Vorsehung (Lettre à M. de Voltaire). Vor allem verfaßt er in Montmorency in kurzer Folge den Briefroman Julie und seine philosophischen 29
Abb. 3: Eremitage von Montmorency.
Hauptschriften, den Gesellschaftsvertrag und den Emile. Dabei ist auffällig, daß diese Werke trotz der zeitlichen Nähe und Überschneidungen ihrer Entstehung in Form und Inhalt von jeweils ganz eigener Art sind. Für das weitere Verhältnis zur Pariser Aufklärung ist die Kontroverse mit Voltaire um die Beurteilung des Erdbebens von Lissabon richtungweisend. Das Erdbeben von 1755, bei dem vermutlich 30 000 Menschen umkommen, löst in ganz Europa bestürzte Reaktionen aus. Unter dem Eindruck des verheerenden Unglücks schreibt Voltaire ein theodizeekritisches Gedicht mit dem Titel Gedicht über die Katastrophe von Lissabon oder Prüfung jenes Grundsatzes „Alles ist gut“ (Poème sur le désastre de Lisbonne ou Examen de cet axiome „Tout est bien“). Adressaten der Kritik sind Alexander Pope und Gottfried Wilhelm Leibniz. Wer angesichts des Unglücks zehntausender Menschen behaupte, daß alles gut sei, mache sich, so Voltaire, einer Hartherzigkeit schuldig, die sich nicht weniger grausam ausnehme als das Unglück selbst. Er bekenne sich demgegenüber zu der älteren Weisheit, daß das Böse auf der Erde sei. Im Sommer 1756 richtet Rousseau einen Brief an Voltaire, in dem er das Lamento über das schicksalhafte Böse in der Welt zu30
rückweist. Es geht ihm dabei nicht um die Verteidigung der in dem Gedicht ersichtlich verzeichneten Positionen von Pope und Leibniz, sondern um die Kennzeichnung der eigenen Position. Er widerspricht der Klage über den ungerechten Weltlauf. Genauso wie im Fall des Bösen in der Welt muß auch bei physischem Übel nur nach dem Menschen gefragt werden, der nicht nur über die Gabe verfügt, sich selbst bestimmen zu können, sondern auch imstande ist, sich selbst zu zerstören. Nicht die Natur ist für die vielen Opfer in Lissabon verantwortlich, sondern der Mensch, der dort Häuser mit sechs und sieben Stockwerken gebaut hat. Erst die unmäßige Bauweise ermöglicht die Katastrophe. In wenig bewohnten Landstrichen richten Beben von gleicher Stärke hingegen kaum Schäden an. Der Versuch, das Erdbeben von Lissabon als Vorwand für eine Anklage gegen den Weltlauf zu deuten, zeuge zudem von ungebremster Überheblichkeit. Der Mensch glaube, die ganze Schöpfung sei nur für ihn da. Er greift den Schöpfer an und will doch nur in seinen Augen mehr gelten als alles andere in der Welt. Warum sollte dem Menschen aber ein größerer Wert zukommen als allen anderen Bewohnern des Universums? Die Verzweiflung Voltaires sei das Resultat einer einseitigen Ideologie. Wenn man wirklich die Ordnung der Schöpfung beurteilen will, müsse man jedes materielle Wesen relativ zum ganzen Kosmos betrachten. Entsprechend sei das Leben des einzelnen Menschen sinnvollerweise nur in der Perspektive seines gesamten Verlaufs und seines Ortes in der kosmischen Ordnung zu bewerten. Eine solche Bewertung übersteige aber die epistemischen Fähigkeiten eines endlichen Wesens, das sich insofern in seinen moralistischen Vorhaltungen zurückhalten sollte. Während der Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen schon ein deutlicher Beleg für Rousseaus Ausscheren aus der ideologischen Einheit der Pariser philosophes ist, kommt der Brief an Voltaire der ausdrücklichen Aufkündigung der Gemeinsamkeiten nahe. Zu Beginn des Jahres 1757 macht Rousseau die nähere Bekanntschaft der damals 27jährigen Gräfin Elisabeth-Sophie Françoise d’Houdetot, einer Cousine von Mme d’Épinay. Ihr Verhältnis gestaltet sich überaus kompliziert und bleibt in mancherlei Hinsicht undurchsichtig. Unstrittig dürfte sein, daß Rousseau eine leidenschaftliche Zuneigung zu ihr entwickelt, die in ihrer Ausprägung einseitig gewesen sein mag, aber sicherlich nicht unerwidert ge31
blieben ist. In den Bekenntnissen beschreibt er Mme d’Houdetot durchaus distanziert und unterläßt es keineswegs, auf ihre Fehler und Unvollkommenheiten hinzuweisen. Bei ihrer Begegnung im Frühling des Jahres 1757 erliegt er dem air romanesque. Auch nach der Trennung räumt er ein, daß sie die erste und einzige Liebe seines Lebens gewesen sei. Das Verhältnis steht im Zentrum der emotionalen Situation, aus der heraus der Briefroman Julie entsteht. Mme d’Houdetot ist sich über diese Verflechtung im klaren gewesen und hat regen Anteil an dem Schicksal des Werks genommen. Obwohl seine Umgebung die Art der Beziehung zu Mme d’Houdetot nicht vollständig durchschaut, haben die regelmäßigen Treffen ausgereicht, um Spannungen in seinem Freundeskreis zu erzeugen. Der Umgang mit Mme d’Épinay wird zusehends schwieriger und nach zwischenzeitlichen Versöhnungen kommt es bald zum endgültigen Bruch. Auch die langjährigen Freundschaften mit Grimm und Diderot laufen auf ihr Ende zu. Im Dezember 1757 verläßt Rousseau die Eremitage und bezieht ein kleines Haus in Montmorency, das Petit Montlouis genannt wird. Hier befindet sich heute das Museum Jean-Jacques Rousseau. Im Mai beendet Mme d’Houdetot die Beziehung zu Rousseau. Sie tut das ohne Zorn und in dem Bewußtsein, daß das Verhältnis niemanden glücklich mache. Mme d’Houdetots Kontakt zu Rousseau bricht damit noch nicht ab. Sie verfolgt noch den weiteren Fortgang an der Arbeit zur Julie und gibt eine Abschrift des Romans in Auftrag. Rousseau hat inzwischen den Brief an d’Alembert über das Schauspiel (La lettre à d’Alembert sur les spectacles) beendet, in dem er das erste literarische Zeugnis seiner veränderten Lebensumstände sieht. Er meint, daß in dieser Schrift ein ungekünstelter Seelenfrieden zum Ausdruck komme, der in seinen Pariser Werken gefehlt habe. Der Brief ist in vielerlei Hinsicht gegen die Pariser philosophes gerichtet. In einer nur der namentlichen Nennung nach verschlüsselten Passage macht er den Bruch mit Diderot öffentlich und verkündet, daß er einst einen strengen und scharfsinnigen Aristarch gehabt habe, nach dem er zwar nicht mehr verlange, den er aber vermisse. Er fehle seinem Herzen noch mehr als seinen Schriften. Anlaß des Briefes ist d’Alemberts Artikel über Genf aus dem im Herbst des Jahres 1757 erschienenen siebten Band der Enzyklopädie. D’Alembert spricht sich darin für die Einrichtung eines 32
Theaters in Genf aus. Rousseau vermutet hinter diesem Vorschlag zwar eine Einflußnahme Voltaires, der zu dieser Zeit in der Nähe von Genf lebt, entschließt sich aber, das Verhältnis von Moralität und Kunst in einem gemäßigteren Ton als in dem Diskurs über die Wissenschaften und Künste zu behandeln. Die generelle These, daß die Künste und insbesondere das Theater Moralität beschädigen und nicht etwa hervorbringen, bleibt allerdings unverändert. Die Thematik des Briefes umfaßt die Schilderung der politischen und kulturellen Situation Genfs genauso wie exemplarische Analysen des verderblichen Einflusses des Schauspiels. In der Möglichkeit, unsere Leidenschaften zu wecken und auf künstliche Gegenstände, Ereignisse und Personen zu richten, sieht er das große ethische Gefährdungspotential des Theaters. Anhand von Interpretationen klassischer Tragödien und Komödien führt er vor, wie ursprüngliche moralische Einstellungen in ihr Gegenteil verkehrt werden. Seine Kritik richtet sich gegen Molière, dem es gelinge, Laster wie Fälschungen, Unterschlagungen, Betrug, Lüge und Unmenschlichkeit in einer Weise zur Darstellung zu bringen, die beim Publikum Gefallen und Applaus auslöse. Die Bühne ist für Rousseau der Ort künstlicher Leidenschaften, an dem die Vernunft keinen Platz hat. Ein Mensch, dessen Leidenschaften nicht dargestellt werden können, ist für das Theater uninteressant. So wäre ein Stoiker für die Tragödie gänzlich unbrauchbar, während er für die Komödie immerhin noch als Anlaß für Spott tauge. Den schädlichen Konsequenzen des Theaters stellt Rousseau die intakte politische Kultur der Stadtrepublik Genf gegenüber. Er empfiehlt, in dem Theater nicht eine Institution zu sehen, die auf angenehme Weise die Zeit vertreibe, denn die oberflächlichen Vergnügungen seien durchaus imstande, tiefgreifende Veränderungen in den ethischen Einstellungen der Genfer Bürger auszulösen. Das wahre Schauspiel des Lebens wird nicht in den Enklaven der Theaterhöhlen vor einem stummen Publikum gespielt, sondern auf dem Marktplatz der Republik, wo sich freie Bürger vergnügt versammeln: „stellt die Zuschauer zur Schau, macht sie selbst zu Darstellern, sorgt dafür, daß ein jeder sich im andern erkennt und liebt, daß alle besser miteinander verbunden sind.“ (OC V 115/S I 462 f.) Die ethische und politische Ausdifferenzierung des republikanischen Festes wird Rousseau im Gesellschaftsvertrag vornehmen (siehe Abschnitt VIII. 4). 33
Der Brief wird d’Alembert zur Begutachtung vorgelegt. Er stimmt nicht nur der Publikation zu, sondern äußert sich durchaus wohlwollend über die Kritik. Der Brief an d’Alembert über das Schauspiel ist ein großer Erfolg. Die erste Auflage wird in wenigen Wochen verkauft. Rousseau bemerkt dazu im nachhinein, daß im Unterschied zu den Erfolgen seiner anderen Werke dieser besonders günstig für ihn gewesen sei, weil er das Publikum gelehrt habe, den Verdächtigungen der ,d’Holbachschen Sippe‘ zu mißtrauen. Mit dem Brief an d’Alembert über das Schauspiel hat sich sowohl in persönlicher wie in theoretischer Hinsicht der Bruch mit den philosophes der Pariser Aufklärung endgültig vollzogen. Im Spätsommer des Jahres 1758 vollendet Rousseau seinen Briefroman Julie oder Die neue Héloïse. Briefe zweier Liebenden aus einer kleinen Stadt am Fuße der Alpen (Julie, ou la Nouvelle Héloïse. Lettre des deux amants, habitants d’une petite ville au pied des Alpes). Die Hauptpersonen des Romans sind Saint-Preux, Julie de l’Étang, Claire, Edouard Bomstrom und M. de Wolmar. Den Handlungsverlauf bestimmt das Dreiecksverhältnis zwischen dem Hauslehrer Saint-Preux, seiner Schülerin Julie und ihrem späteren Gemahl M. de Wolmar. Die philosophische Dramaturgie wird durch die Gegenläufigkeit zweier Bindungen erzeugt: der Liebe zwischen Julie und Saint-Preux sowie der moralischen Verpflichtung, die Julie gegenüber ihrer Familie und M. de Wolmar empfindet. Julie und Saint-Preux gehen ein heimliches Liebesverhältnis ein. Die Eltern von Julie akzeptieren aber nur eine standesgemäße Verbindung. Im Zuge der krisenhaften Ereignisse um die Beendigung des Verhältnisses stirbt die kranke Mutter, nachdem sie Briefe von Saint-Preux an Julie entdeckt hat. Diese fühlt sich für den Tod ihrer Mutter verantwortlich, entsagt daraufhin den Irrtümern ihrer Jugend und beschließt, den von trügerischen Leidenschaften entfachten Hoffnungen nicht länger nachzuhängen. Von Saint-Preux verlangt sie die an ihn verpfändete Freiheit zurück, um sich den Wünschen des Vaters zu fügen. Sie willigt ein, M. de Wolmar zu heiraten. Saint-Preux verläßt Frankreich und macht eine mehrjährige Weltreise. M. de Wolmar erweist sich als ein liebenswürdiger und gerechter Gemahl. Julie führt mit ihm eine harmonische Ehe, aus der zwei Kinder hervorgehen. Nach der Rückkehr von seiner Weltreise treffen Saint-Preux und Julie in 34
Clarens wieder zusammen. Obwohl M. de Wolmar schon vor der Hochzeit von der Liebschaft zwischen Julie und Saint-Preux erfahren hat, betraut er diesen mit der Erziehung der beiden Söhne. Die häuslichen Verhältnisse von Julie, M. de Wolmar und ihren Kindern werden von Ausgeglichenheit, gegenseitigem Vertrauen und Aufrichtigkeit bestimmt. Ein dramatisches Ereignis zerstört schließlich die Idylle in Clarens. Der jüngste Sohn stürzt ins Wasser und droht zu ertrinken. Zwar gelingt es Julie, ihn zu retten, sie zieht sich dabei jedoch eine todbringende Lungenentzündung zu. In einem letzten Brief an Saint-Preux offenbart sie, nie aufgehört zu haben, ihn zu lieben. Dieses Geständnis mache sie ohne jegliche Scham, denn ihre Tugend sei unbefleckt und ihre Liebe ohne Reue geblieben. Zudem sei ihr genug Lebenszeit für Glück und Tugend geblieben. Sie bittet ihn schließlich, die Erziehung ihrer Kinder zu übernehmen: „Indem ich Ihnen meine Kinder überlasse, trenne ich mich von ihnen mit minderm Schmerze; es ist mir, als bliebe ich bei ihnen.“ (OC II 743/W I 780). Und wenige Zeilen später heißt es: „Ich bin es nicht mehr, die zu Dir redet. Ich bin schon in den Armen des Todes. Wenn Du diesen Brief sehen wirst, werden die Würmer schon Deiner Geliebten Gesicht zernagen und das Herz, in dem Du nicht mehr wohnst. Sollte aber meine Seele ohne Dich leben können? Welche Seligkeit genösse ich wohl ohne Dich? Nein, ich verlasse Dich nicht; ich werde Dich erwarten. Die Tugend, die uns auf der Erde trennte, wird uns in Ewigkeit vereinen.“ (OC II 743/W I 780) In der tragischen Zuspitzung des Handlungsgeschehens, das über die Grenzen bewußter Endlichkeit hinausführt, vereinigt Rousseau Grundzüge seiner Philosophie: die Abkehr von der Metaphysik des Französischen Materialismus, die Tugend des Herzens, die Vision eines natürlichen wie übernatürlichen Einklangs von Moralität und Glück, die Unschuld der Liebe und die Täuschung der Leidenschaft. Darüber hinaus enthält der Roman eine Reihe von Naturschilderungen, die in ihrem expressiven Stil großen Einfluß auf die nachfolgenden literarischen Bewegungen gehabt haben (siehe Kapitel X). Mit der zweiten Titelhälfte ,La Nouvelle Héloïse‘ spielt Rousseau auf die unglückliche Liebe zwischen Abaelard und Héloïse im 12. Jahrhundert an. Rousseaus Werk ist auch mit Samuel Ri35
chardsons psychologischen Romanen verglichen worden. Das gilt insbesondere für Clarissa, or, The History of the Young Lady (1747/48). Der Roman schildert die tragischen Verstrickungen eines unschuldigen und tugendhaften Mädchens, das an den ständischen Schranken und der Unaufrichtigkeit ihrer Mitmenschen zerbricht. Rousseau hat die Größe von Richardsons Roman anerkannt. Er weist aber auf den Vorzug seiner Bearbeitung hin: Zwar habe Richardson die Gabe der treffenden Charakterisierung von Personen, er setze aber zu viele Ereignisse und Gesichter im Handlungsverlauf ein. Rousseau sieht die Bedeutung seines Romans darin, daß er mit minimalen stilistischen Mitteln auskomme und die großen Themen seiner Philosophie in einer einfachen Geschichte zusammengeführt habe. Er beklagt, daß dieser Aspekt in der aufgeregten Rezeption völlig übersehen worden sei: „Das, was man in dem Buch am wenigsten gesehen hat und was stets ein einzigartiges Werk daraus machen wird, ist die Einfachheit des Stoffs und das stete Interesse, das, auf die Personen beschränkt, sich sechs Bände hindurch ohne Episoden, ohne romantische Abenteuer, ohne Niedertracht irgendeiner Art, weder in den Personen noch in den Handlungen, erhält.“ (OC I 546/W II 538) Julie erscheint im Jahre 1761 und wird europaweit ein großer Erfolg. Da der Verleger Marc Michel Rey in Amsterdam die Verkaufszahlen nicht offenlegt, bleibt Rousseau der ihm zustehende Anteil verwehrt. Zudem wird eine Reihe von Raubdrucken gleich nach dem Erscheinen des Buches auf den Markt gebracht. Die häusliche Situation Rousseaus verbessert sich durch die Unterstützung des Herzogs von Luxembourg, der ihn 1759 vorübergehend in dem Petit-Chateau in Montmorency beherbergt, um das baufällige Petit Montlouis einer gründlichen Instandsetzung zu unterziehen. Die Unterstützung bleibt nicht auf den ökonomischen Bereich beschränkt. Die Herzogin von Luxembourg unternimmt einen letztlich vergeblichen Versuch, die verlorenen Kinder Rousseaus wiederzufinden. Das schließlich renovierte Haus bezeichnet Rousseau als demeure enchantée. Hier schließt er die Manuskripte der Schriften Versuch über den Ursprung der Sprachen (Essai sur l’ origine de langues), Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts (Du contrat social ou essai sur la forme de la république) und Emile oder von der Erziehung (Émile ou de l’éducation) ab. 36
Abb. 4: Arbeitszimmer im ersten Stock des Petit Montlouis, Montmorency.
In dem Versuch über den Ursprung der Sprachen knüpft Rousseau an die Thematik der beiden Diskurse an. In Weiterführung des Exkurses im ersten Teil des Diskurses über die Ungleichheit unter den Menschen sowie des Briefes über die französische Musik untersucht er nunmehr ausführlich die Rolle der Sprache bei dem Übergang von der Natur zur Kultur. Die methodische Besonderheit seines Ansatzes liegt in einer Expressivitätsthese, die glei37
chermaßen sprachphilosophisch wie musikästhetisch begründet ist. Danach liegen die Ursprünge der menschlichen Sprache im Ausdrucks- und Mitteilungsbedürfnis. Entsprechend ist der Ursprung der Sprache nicht in irgendwelchen Bezeichnungsfunktionen, sondern in der sprachlichen Konstitution des Raums der Gefühle und menschlichen Anliegen zu sehen: „Sobald ein Mensch von einem anderen als ein fühlendes, denkendes und ihm gleichendes Wesen erkannt wurde, ließen ihn der Wunsch oder das Bedürfnis, ihm seine Empfindungen und seine Gedanken mitzuteilen, die Mittel dafür suchen.“ (OC V 375/W IV 165) Die Sprache organisiert die menschliche Lebensform. Sie übersetzt keine inneren Vorgänge, sondern bringt sie zum Ausdruck: „Die Leidenschaften haben ihre Gebärden, aber sie haben auch ihre eigenen Töne, und diese Töne, denen man sein Organ nicht verschließen kann, dringen durch es ins tiefste Herz hinein, sie tragen gegen unseren Willen die Bewegungen, die sie hervorbringen, dorthin und lassen uns empfinden, was wir hören.“ (OC V 378/W IV 168) Die sprachlichen Manifestationen formieren die Welterfahrung. Die frühe Sprache der Menschen ist bildhaft und syntaktisch wenig differenziert gewesen. Es liegen noch keine eindeutig identifizierbaren Referenzstrukturen vor. Wichtige Phasen der sprachlichen Entwicklung sind die zunächst nur Gegenstände abbildende Schrift, die konventionellen Festlegungen von Zeichen sowie die geordnete Vokalisierung und Alphabetisierung. Die fortschreitende semantische und syntaktische Ausdifferenzierung drängt den emotiven Charakter der Sprache zurück. An die Stelle von graphischen Symbolen treten die abstrakten Formen des Alphabets. Der Gewinn an semantischer Ordnung wird mit dem Verlust an Lebhaftigkeit bezahlt. Dieser Vorgang ist an der Schrift ablesbar. Ihre Aufgabe scheint darin zu bestehen, die Sprache festzulegen. Tatsächlich führt sie aber eine folgenreiche Veränderung durch, denn „sie ersetzt die Ausdruckskraft durch die Genauigkeit.“ (OC 5 388/W IV 178) Der Gegenläufigkeit von Ausdruck und genauer Bezeichnung geht Rousseau in unterschiedlichen Themenbereichen nach. Dazu gehören die Gegensätze von primitiven und modernen Sprachen genauso wie die von Sprachen des Norden und des Südens. Die kulturellen Divergenzen führt er auf Unterschiede in den klimatischen und materiellen Lebensbedingungen zurück. Die mit der modernen Zivilisation einhergehende 38
Verselbständigung der Musik von der Sprache wird nicht als ästhetische Ausdifferenzierung begriffen, sondern als moralischer Verlust. Musik ist nämlich nicht einfach eine akustische Einwirkung, sondern Ausdruck der humanen Gefühlswelt, die wir mit allen anderen Personen teilen. Der Versuch über den Ursprung der Sprachen (Essai sur l’ origine de langues) wird erst posthum veröffentlicht. Während der Versuch über den Ursprung der Sprachen in ersichtlicher Kontinuität mit den vorhergehenden Diskursen und Abhandlungen steht, beschreitet Rousseau mit dem Gesellschaftsvertrag und dem Emile innovative Theoriewege, die im Unterschied zu seiner bislang vorherrschenden Ideologiekritik weitgehend konstruktiv angelegt sind. Rousseau befaßt sich vermutlich seit 1743 mit der Idee einer grundlegenden Schrift zur politischen Philosophie. Ein Zwischenresultat seiner Beschäftigungen liegt 1755 mit der Abhandlung über die politische Ökonomie aus dem fünften Band der Enzyklopädie vor. Er plant zunächst eine Arbeit mit dem Titel ,Politische Institutionen‘ (Institutions politiques). Das Projekt erscheint ihm bei Durchsicht der Vorarbeiten aber als zu umfänglich und zeitraubend. Deshalb entschließt er sich zu einem begrenzteren Ansatz, zumal er gleichzeitig am Emile arbeitet. Im Winter 1759/60 beginnt er mit der Abfassung des Gesellschaftsvertrags. Das veröffentlichte Manuskript ist in vier Bücher aufgeteilt und enthält sowohl eine Theorie politischer Selbstbestimmung als auch eine neue Konzeption des Gesellschaftsvertrags (siehe Kapitel VIII). Das erste Buch nimmt seinen Ausgang von dem Grundsatz der natürlichen Freiheit. In Weiterführung seiner kulturkritischen Überlegungen der Diskurse entwickelt er ein kontraktualistisches Programm, das die grundsätzliche Fragestellung nach der Verbindlichkeit gesellschaftlicher Verhältnisse und Institutionen beantworten soll. Ein staatlicher Zusammenschluß kann danach nur durch ein Bündnis gesichert werden, das gleichermaßen den freien Willen der Einzelnen und die verbindliche Gegenseitigkeit garantiert. Es ist nur dann möglich, einen Gesellschaftsvertrag als gerecht zu bezeichnen, wenn er eine wechselseitige Verpflichtung von Individuen und Öffentlichkeit enthält. Sie muß die Gestalt einer doppelten Bindung annehmen, durch die der Einzelne einerseits als Teil des Souveräns gegenüber allen anderen Individuen, andererseits als Teil des Staates auftritt, der 39
durch den Souverän gelenkt wird. Das zweite Buch setzt sich mit der Form staatlicher Souveränität und Gesetzgebung auseinander. In ihm entwickelt er seine Konzeption des Gemeinwillens (volonté générale). Die Verbindlichkeit des Gemeinwillens ist in einer vollständigen Gegenseitigkeit begründet, der zufolge Verpflichtungen gegenüber anderen immer auch Selbstverpflichtungen sind – und umgekehrt. Als Zweck der Gesetzgebung werden Freiheit und Gleichheit ausgewiesen, die in einem wechselseitigen Bedingungsverhältnis stehen. Die Regierung ist das thematische Zentrum des dritten Buchs. Sie ist sowohl für die Erhaltung der Freiheit als auch für die Ausführung der Gesetze zuständig und ermöglicht die wechselseitige Verbindung von Souverän und Untertanen. Rousseau analysiert die Regierungsformen der Demokratie, Aristokratie, Monarchie sowie ihre Mischformen. Er spricht sich dafür aus, bei der Bestimmung der besten Regierungsform die Gegebenheiten des jeweiligen Landes einzurechnen. Im vierten Buch wendet sich Rousseau den Typen politischer Institutionen zu, wobei er sich an den Vorgaben der römischen Republik orientiert. In einem abschließenden Kapitel wird das Verhältnis von Staat und Religion untersucht. Er fordert eine bürgerliche Religion, die verständlich ist, mit wenigen Dogmen auskommt und im sozialen Raum eine einheitsstiftende Funktion erfüllt (siehe Abschnitt VIII. 5). In diesem Zusammenhang übt er scharfe Kritik an der christlichen Kirche. Neben dem Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars aus dem Emile ist das Kapitel der unmittelbare Anlaß für die Verurteilungen und Vertreibungen Rousseaus gewesen. Auch die bildungsphilosophischen Interessen Rousseaus lassen sich schon in der Frühzeit seiner theoretischen Beschäftigungen nachweisen. Entwürfe zu einem Erziehungsplan reichen auf seine Hauslehrerzeit in Lyon Anfang der vierziger Jahre zurück. Der Emile enthält ein umfassendes bewußtseins- und moralphilosophisches Konzept, das nur vordergründig auf Fragen der Erziehung beschränkt ist (siehe Kapitel VII). Stilistisch verbindet die Darstellung Elemente des Erziehungsromans und der philosophischen Abhandlung. Thema der Schrift ist die idealtypische Erziehung und Bildung des Zöglings Emile von der Kindheit bis zur Heirat. Der Bildungsprozeß wird nach dem Plan einer natürlichen Erziehung entworfen und Schritt für Schritt in seinen philosophischen 40
Abb. 5: Rousseaus Gartenhaus in Montmorency.
Gründen erläutert. Die ersten drei Bücher entfalten die anthropologischen, bewußtseinsphilosophischen und ethischen Prinzipien der Bildungsphilosophie. Rousseau verbindet weitgehende Überlegungen zur Anthropologie und Ethik mit praktischen Ratschlägen zu alltäglichen Aufgabenstellungen der Betreuung und Erziehung von Kindern wie Ernährung, Hygiene und Kleidung. Der idealtypische Bildungsprozeß durchläuft verschiedene Erziehungsphasen, in denen Emile lernt, mit den Anforderungen von 41
Natur, Dingen der äußerlichen Erfahrung und menschlicher Gesellschaft zurechtzukommen. Erziehungsziel ist die Bewahrung der Freiheit und Eigenständigkeit des Zöglings, das mit Hilfe einer negativen Erziehung, die die natürliche Entwicklung des Kindes von äußerlichen Zwängen freihält, erreicht werden soll. Dabei kristallisiert sich die Kindheit als eine besondere Lebensphase heraus, deren Sinn nicht darin aufgeht, bloße Vorstufe des Erwachsenseins zu sein. Die Kindheit verfügt über einen Eigensinn, der sich vom Standpunkt des Erwachsenen nicht mehr erschließt. Rousseaus Offenlegung dieses Sachverhalts gilt als philosophische Entdeckung der Kindheit. Der Erfolg der Erziehung zeigt sich in dem Verständnis der naturgemäßen Entfaltung von Körper und Bewußtsein, in der Unabhängigkeit und dem Differenzierungsvermögen der Urteilskraft sowie in der Sicherheit beim Umgang mit der menschlichen Gefühlswelt und den sozialen Verständigungsverhältnissen. Im vierten Buch erfolgt Emiles Übergang von der Jugend zur Adoleszenz. Rousseau spricht in diesem Zusammenhang von einer zweiten Geburt: „Wir werden sozusagen zweimal geboren: einmal zum Dasein und das andere Mal zum Leben, das eine Mal für die Art und das andere Mal für das Geschlecht.“ (OC IV 489/W III 256) Emile tritt nun in die Dimension menschlicher Leidenschaften ein. Im Zuge der Ausarbeitung der Anforderungen gesellschaftlicher Verständigungsverhältnisse entfaltet Rousseau seine Grundgedanken zum Zusammenhang von Subjektivität, Moralität, Natur und Kosmos. Das gilt vor allem für das in das vierte Buch eingeschobene Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars (siehe Kapitel V und Abschnitt VIII. 5). Im Anschluß an das Glaubensbekenntnis wird der Schwerpunkt auf den Entwurf eines konkreten Lebensplans verlagert. Liebe, Familie und bürgerliche Existenz erfahren eine modellhafte Ausformung. Im letzten Kapitel begegnet Emile schließlich seiner idealen Gefährtin Sophie. Rousseau betont die moralpsychologischen Unterschiede von Mann und Frau und leitet daraus umstrittene Konsequenzen für die geschlechtsspezifische Erziehung ab. Mit der Liebe und Heirat von Sophie und Emile endet der Gang der natürlichen Bildung. Das Kapitel enthält neben einer Zusammenfassung des Gesellschaftsvertrags mit der Reise in ferne Länder auch ein typisches Element des Bildungsromans. Auf der Reise soll 42
Emile zu einem differenzierten Verständnis unterschiedlicher Ausprägungen der menschlichen Lebensform gelangen. Vermutlich hat Rousseau noch im Jahre 1762 mit dem Nachfolgeprojekt zum Emile begonnen, dem Briefroman Emile und Sophie oder die Einsamen (Émile et Sophie, ou les Solitaires). Die Fortsetzung steht im deutlichen Gegensatz zu den idealtypischen Konstruktionen seines Vorläufers. Das Thema ist das unglückliche Schicksal Emiles, der seine Eigenständigkeit unter nunmehr widrigen Umständen zu bewahren hat. Sophie erliegt den Verlockungen der Pariser Gesellschaft und begeht Ehebruch. Zwar verzeiht Emile die Untreue, die Ehe ist aber nicht zu retten. Sein weiterer Lebensweg führt ihn nach Algier, wo er sein Leben als Sklave zu fristen hat. Aus den Schicksalsschlägen meint Emile die Kraft für ein neues Freiheitsverständnis gewinnen zu können. Er kehrt sich von der Welt ab, um in völliger Einsamkeit jegliche Bindung an Dinge oder Menschen absterben zu lassen. Das düstere Werk bleibt unvollendet. Es enthält eine Reihe von Reflexionen zur Philosophie der Einsamkeit, die Rousseau in seinem letzten Werk, den Träumereien des einsamen Spaziergängers, wieder aufnimmt (siehe Abschnitt IX. 4). 4. Exil: Bekenntnisse, Dialoge, Träumereien Zu Beginn des Jahres 1762 reagiert Rousseau auf Verzögerungen bei der Drucklegung des Emile mit den Vier Briefen an Malesherbes (Quatre lettres à Malesherbes). Er hat Anlaß zu der Vermutung, daß seine Manuskripte in Montmorency heimlich durchgesehen werden. Malesherbes gerät als Zensor von Paris durch Rousseaus Schriften in eine schwierige Situation, er verhält sich gleichwohl umsichtig und stützt ihn zumindest solange, wie es ihm möglich erscheint. Die Vier Briefe an Malesherbes eröffnen die Reihe der Rechtfertigungs- und Bekenntnisschriften (siehe Abschnitt IX. 1), die nach dem Abschluß der systematischen Hauptschriften den Großteil von Rousseaus Tätigkeit in Anspruch nehmen. Im April und Mai des Jahres 1762 erscheinen der Gesellschaftsvertrag und der Emile. Schon wenige Tage nach der stillschweigend geduldeten Veröffentlichung wird der Emile in Paris verboten, eingezogen und verbrannt. Warnungen von Freunden, daß 43
seine Verhaftung unmittelbar bevorstehe, schenkt Rousseau zunächst keinen Glauben. Am 9. Juni wird ein Haftbefehl gegen ihn erlassen. Auf Drängen des Herzogs und der Herzogin von Luxembourg entschließt sich Rousseau endlich zur überstürzten Flucht. Er läßt Thérèse in Montmorency zurück und macht sich mit einem Einspänner des Herzogs auf den Weg in die Schweiz. Schon zwischen Montmorency und La Barre kommen ihm vier Vollstreckungsbeamte entgegen, die seine Verhaftung durchführen sollen. Da sie ihn nicht erkennen, kann er ungehindert passieren. Den Herzog von Luxembourg, der nach längerem Leiden sechs Jahre später stirbt, wird er nicht wiedersehen. Rousseau bezeichnet ihn im nachhinein als den einzigen wahren Freund, den er je in Frankreich besessen habe. Die Ereignisse im Frühjahr 1762 stellen einen tiefen Einschnitt im Leben Rousseaus dar. Die Wunden, die sie hinterlassen, werden nicht verheilen. Auch wenn Rousseau später in Paris zumindest vorübergehend geduldet wird, bleibt das Exil endgültig. Es ist ihm nicht mehr vergönnt, eine gesicherte gesellschaftliche Stellung einzunehmen. Als große Belastung erweist sich der Umstand, daß etliche philosophes sich offen auf die Seite der Verfolger stellen und immer wieder Intrigen gegen ihn anstiften. Rousseau sieht sich aufgrund seiner prekären persönlichen Situation nicht imstande, darauf mit Gelassenheit zu reagieren, und läßt sich auf quälende Rechtfertigungen und Selbstverteidigungen ein. Am 14. Juni 1762 erreicht Rousseau Yverdon, das zum Territorium von Bern gehört, und kommt dort bei seinem Freund Daniel Roguin unter. Wenige Tage später tritt in Genf der Petit Conseil zusammen. Er beschließt auf Veranlassung des Staatsanwalts JeanRobert Tronchin, den Gesellschaftsvertrag und den Emile einzuziehen und zu verbrennen. Anfang Juli erfolgt das Verbot des Emile auf Berner Gebiet. Damit ist auch seine Aufenthaltsgenehmigung hinfällig. Er zieht weiter nach Môtiers, das zum preußischen Neuchâtel gehört, und ersucht Friedrich II. um Asyl. Es wird ihm zunächst gewährt, zumal der Gouverneur des Fürstentums Neuchâtel, Earl Marischal George Keith, Rousseau wohlgesonnen ist und ihn freundschaftlich unterstützt. In Môtiers trifft er wieder mit Thérèse zusammen. Der Pariser Erzbischof Christophe de Beaumont veröffentlicht im August die Erklärung für die Verurteilung des Emile. Der maßgebliche Anlaß ist danach die 44
Konzeption der natürlichen Religion aus dem Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars. Rousseau antwortet darauf mit dem Brief an Christophe de Beaumont (Lettre à Christophe de Beaumont). Im April 1763 erhält Rousseau die Staatsangehörigkeit von Neuchâtel und legt nach vorausgegangenen öffentlichen Lossagungen von seiner Heimatstadt nunmehr formell seine Genfer Bürgerrechte nieder. Auf die Lettres écrites de la campagne des Staatsanwalts Tronchin, in denen die Maßnahmen gegen ihn begründet werden, reagiert er 1764 mit den Briefen vom Berge (Lettres écrites de la montagne). Ihre Veröffentlichung ruft wiederum scharfe Gegenreaktionen hervor. Holländische und Pariser Behörden ordnen die Verbrennung der Briefe an. Im Spätsommer errreicht ihn die Bitte des korsischen Patrioten Mathieu Buttafoco, eine Verfassung für Korsika zu entwerfen. Anstoß sind Formulierungen im zweiten Buch des Gesellschaftsvertrags, in denen sich Rousseau positiv über den korsischen Freiheitskampf äußert. Der Verfassungsentwurf ist unvollendet geblieben. Zum Jahresende stattet der junge Schotte James Boswell, der später als bedeutender Biograph bekannt wird, Rousseau einen mehrtägigen Besuch ab. Seine Berichte und Briefe über den Besuch sind zwar von persönlichen Eitelkeiten gefärbt, vermitteln aber durchaus ein Bild der Lebensumstände in Môtiers. Boswell beteiligt sich nicht an den öffentlichen Dämonisierungen Rousseaus und beschreibt ihn eher wohlwollend: „Ich fand ihn sehr ungezwungen und natürlich. Zuerst führte er Klage über den Zustand der Menschheit, doch war ich geschickt genug, die Sprache auf Gegenstände zu bringen, die ihm zusagten, und er ging dann aus sich heraus, ganz der liebenswürdige Saint-Preux als Fünfziger. Er ist ein feiner Mann, von regelmäßiger Gesichtsbildung, mit einer wohlklingenden Stimme.“ (James Boswell, Besuch bei Rousseau und Voltaire, S. 126) Nach seinem Aufenthalt in Môtiers reist Boswell weiter in das Schloß Ferney, um Voltaire zu treffen. Rousseau beginnt in Môtiers mit der Arbeit an den Bekenntnissen. Obwohl die Idee, seine Autobiographie zu schreiben, schon früher von Rey, der sie in die geplante Werkausgabe aufnehmen möchte, angeregt worden ist, dürften die weiteren Ereignisse nicht unwesentlich zur Umsetzung des Projekts beigetragen haben. Auch die öffentliche Stimmung in Môtiers hat sich mittlerweile gegen Rousseau gewendet. Einen nicht unbeträchtlichen 45
Anteil an der aufgeheizten Atmosphäre hat das zum Jahreswechsel von Voltaire anonym veröffentlichte Pamphlet Sentiment des citoyens, in dem er ausdrücklich die Repressionen gegen Rousseau begrüßt und vor allem das Schicksal seiner Kinder publik macht. Rousseau erkennt zunächst nicht Voltaire als den Verfasser der Schmähschrift und hält den Genfer Pfarrer Vernes für den Urheber, mit dem er noch bis zum Jahre 1761 im freundschaftlichen Briefkontakt gestanden hat. Anfang September 1765 kommt es in mehreren Nächten zu Übergriffen und Tumulten vor Rousseaus Haus, das von empörten Einwohnern Môtiers mit Steinen beworfen wird. Rousseau flieht aus Môtiers und sucht Zuflucht auf der im Berner See gelegenen Île de Saint-Pierre, die ihm von einem Ausflug im Sommer bekannt ist. Obwohl er dort kaum sieben Wochen bleiben kann, hinterläßt der Aufenthalt bei ihm tiefe Spuren. Die Tage auf der Île de Saint-Pierre werden geradezu zum Leitbild seiner Spätphilosophie. Abgeschnitten von gesellschaftlicher Betriebsamkeit, geht er seinen Kontemplationen nach. Eine wichtige Rolle spielen dabei botanische Studien, in denen er einen unverstellten und interesselosen Zugang zur Organisation der Natur sucht. Später bezeichnet er die Tage auf der Île de Saint-Pierre als die glücklichste Zeit seines Lebens. Er beschreibt dieses Glück nicht als das der Genüsse und Freuden, sondern als einen einfachen Zustand der Ruhe, in dessen Dauer die höchste Glückseligkeit liege (siehe Abschnitt IX. 4). Im Oktober untersagt der Petit Conseil den Aufenthalt auf Berner Territorium. Rousseau muß die Insel am 26. Oktober 1765 verlassen. Schon auf der Île de Saint-Pierre erreicht Rousseau eine Einladung David Humes, nach England zu kommen. In der bedrängten Situation entschließt er sich, der Einladung zu folgen. Über Strasbourg, wo er eine Einreisegenehmigung für Frankreich erhält, und Paris begibt er sich in Begleitung von Thérèse und Hume auf die Reise nach England. Im Januar 1766 erreichen sie London. Dort kommt es schon bald zum Zerwürfnis. Rousseau glaubt sich verfolgt, zumal ein Mitglied der Familie des Genfer Staatsanwalts Tronchin bei Hume auftaucht. Er fühlt sich von diesem hintergangen und unterstellt ihm die Mitwirkung bei der Verschwörung der philosophes. Der Bruch erregt in Paris große Aufmerksamkeit. Die philosophes drängen Hume, die Hintergründe des Streits öf46
fentlich zu machen. Er kommt dem Ansinnen nach und gibt das Pamphlet A Concise and Genuine Account of the Dispute between Mr. Hume und Mr. Rousseau heraus, das 1766 zunächst in französischer Übersetzung erscheint. Damit tritt Hume den vielfältigen Initiativen der philosophes gegen Rousseau bei, beispielsweise stellen d’Holbach und Voltaire in dieser Zeit Nachforschungen zur finanziellen Situation und Vergangenheit Rousseaus an. Nach dem mißglückten Aufenthalt in England kehren Rousseau und Thérèse nach Frankreich zurück, wo sie unter falschem Namen bei verschiedenen adligen Freunden Unterschlupf finden. 1767 erscheint das Wörterbuch der Musik (Dictionnaire de Musique), das aus den musiktheoretischen Arbeiten zur Enzyklopädie hervorgegangen ist. Zu Beginn des folgenden Jahres kursieren Gerüchte in Paris, daß Rousseau an seinen Memoiren arbeite. Einer Veröffentlichung wird in den Kreisen der philosophes und ehemaligen Freunde mit äußerstem Unbehagen entgegengesehen. Rousseau hält sich indessen im Süden Frankreichs auf. Von Lyon bricht er zu einer Reise nach Grenoble auf, um in den Alpen seine botanischen Studien fortzusetzen. Der Weg führt ihn auch nach Chambéry, wo er das Grab von Mme de Warens besucht, die am 29. Juli 1762 – zur Zeit der ersten Flucht Rousseaus – gestorben ist. Schließlich läßt er sich in Bourgoin nieder. Dort heiratet er am 30. August Thérèse Levasseur. Rousseau erwägt in die südöstliche Mittelmeerregion auszuwandern. Im Gespräch sind unter anderem Griechenland und Zypern. Er bleibt aber zunächst in der Dauphiné und bezieht einen Hof in Monquin. Er unterbricht die Arbeit an den Bekenntnissen, um sich ausschließlich der Botanik zu widmen. Anfang 1770 legt er sein Pseudonym ab und verläßt die Dauphiné. Er will nicht schon zu Lebzeiten in Vergessenheit geraten und entschließt sich, den Verleumdungen entgegenzutreten. In Lyon besucht er eine Aufführung von Pergolesis Stabat Mater. In seiner Anwesenheit findet einige Tage später die Aufführung des Dorfwahrsagers und des Pygmalion statt, den Horace Coignet kurz zuvor vertont hat. In Lyon kommt es zu einer weiteren Episode in der querelle mit den philosophes. Als Rousseau davon erfährt, daß Geld zur Errichtung einer Statue für Voltaire gesammelt wird, läßt er die Gelegenheit zur Bloßstellung der Eitelkeit seines Widersachers nicht aus: Er spendet zum Verdruß von Voltaire zwei Louis. 47
Obwohl der Haftbefehl gegen ihn nicht aufgehoben worden ist, kehrt er 1770 nach Paris zurück. Er wohnt – wie schon in den vierziger und fünfziger Jahren – in der rue Plâtrière nahe dem Louvre, der heutigen rue Jean-Jacques Rousseau. Die Behörden dulden zunächst die Rückkehr. Seinen Lebensunterhalt bestreitet er vorwiegend mit dem Kopieren von Noten. Die Bekenntnisse sind vermutlich zum Ende des Jahres weitestgehend fertiggestellt. Rousseau ist nicht mehr an der Veröffentlichung zu seinen Lebzeiten interessiert. Sie erscheinen erst 1782 zusammen mit den Träumereien des einsamen Spaziergängers. Wie viele seiner Werke weisen auch die Bekenntnisse (Les Confessions) eine strukturelle Dreiteilung auf. In den ersten sechs Büchern werden die Kindheit und die glücklichen Jahre in Les Charmettes dargestellt. Mit dem siebten Kapitel beginnt die Darstellung der ,langen Kette der Mißgeschicke‘. Anders als im Emile und im Gesellschaftsvertrag schließt sich daran aber keine neue Entwicklungsstufe an. Das zwölfte Buch, das wohl erst in Paris abgeschlossen worden ist, eröffnet mit bedeutungsschweren Worten: „Hier beginnt das Werk der Finsternis, in der ich seit acht Jahren begraben bin, ohne daß es mir trotz aller Mühe möglich gewesen wäre, das erschreckende Dunkel zu durchdringen.“ (OC I 589/W II 579) Damit schlägt Rousseau den Bogen von seinem Schicksalsjahr 1762 zur geduldeten Rückkehr nach Paris. In der Erfahrung der existentiellen Krise verschmelzen Erzählzeit und erzählte Zeit. Die Bekenntnisse enthalten aber auch Beschreibungen von Lebensumständen, die sich von der düsteren Grundstimmung des Buches weitgehend unberührt zeigen – das gilt insbesondere für die Schilderungen der glücklichen oder zufriedenen Zeiten in Les Charmettes, im Hôtel de Languedoc und in Montmorency. Letzte Passagen beschreiben die kurze und trügerische Ruhe auf der Île de Saint-Pierre. Das Leben auf der Insel ruft Erinnerungen an die glückliche Zeit in Les Charmettes hervor. Das zwölfte Buch endet mit dem Jahr 1765. Ein letzter Absatz erwähnt die öffentlichen Lesungen aus den Bekenntnissen im Jahr 1771. Die Lesungen finden im Februar bei dem Kronprinzen von Schweden und im Mai über mehrere Tage hinweg bei der Gräfin Sophie d’Egmont statt. Noch im selben Monat bemüht sich Mme d’Épinay um das polizeiliche Verbot der Lesungen. Rousseau 48
setzt im folgenden Jahr seine Rechtfertigungs- und Bekenntnisschriften mit den Dialogen Rousseau richtet über Jean-Jacques fort. In der ersten Hälfte der siebziger Jahre ist er auch mit nichtautobiographischen Projekten befaßt. Zu ihnen gehören die auf Bitten des polnischen Gesandten Michael Wielhorski verfaßten Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform (Considérations sur le gouvernement de Pologne). Rousseau stellt für das Projekt umfangreiche Studien zur Geschichte und Verfassung Polens an und macht ausgewogene Vorschläge zur politischen Praxis. Zwar steht dabei der Gesellschaftsvertrag im konzeptionellen Hintergrund, doch Rousseau will ihn nicht umstandslos umsetzen. Er stellt differenzierte Überlegungen dazu an, wie sich unter den politischen Bedingungen Polens Staatssouveränität und Reformprozeß miteinander verbinden lassen. Die Betrachtungen werden 1771 als geheimes Gutachten übergeben. Es kursieren schnell weitere Abschriften. Die Veröffentlichung erfolgt erst 1882. Aus der verstärkten Beschäftigung mit der Botanik gehen die Lettres sur la botanique à Madame Delessert sowie das Fragment des Dictionnaire des termes d’usage en botanique hervor. Daneben ist Rousseau mit einigen Musikprojekten beschäftigt. Er beginnt im Jahre 1774 mit Arbeiten zu der Oper Daphnis et Chloé, die unvollendet bleibt. Außerdem assistiert er Christoph Willibald Gluck bei der Premiere von Orphée et Eurydice. Für Gluck kopiert er auch Noten. Ohne seine Einwilligung wird 1775 der Pygmalion am Théâtre Français mit großem Erfolg aufgeführt. Anfang 1776 ist die Bekenntnisschrift Rousseau richtet über Jean-Jacques. Gespräche (Rousseau juge de Jean Jacques. Dialogues) fertiggestellt. Sie besteht aus drei umfangreichen Dialogen zwischen einem Franzosen, der die öffentliche Kritik zum Ausdruck bringt, und einem Verteidiger Rousseaus. Die Merkwürdigkeit der Schrift besteht darin, daß der Verteidiger Rousseau heißt, aber mit Jean-Jacques nicht identisch ist. Weiterhin wird unterschieden zwischen dem wahren und dem falschen JeanJacques, der nur die Ausgeburt einer fehlgeleiteten Öffentlichkeit ist. Der Franzose kennt nicht die Schriften Rousseaus und ist durch die öffentliche Ablehnung in negativer Weise voreingenommen. Im dialogischen Durchgang wird er dazu gebracht, sich mit den Schriften auseinanderzusetzen und sein Vorurteil zu kor49
rigieren. Am Schluß will er dafür eintreten, daß dem wahren JeanJacques Gerechtigkeit widerfährt. Rousseau fürchtet um die Sicherheit des Manuskripts und versucht vergeblich, es auf dem Altar von Notre Dame zu hinterlegen. Schließlich vertraut er es Condillac an. Er verfaßt zudem ein Begleitschreiben, das er an Bekannte verschickt und auf der Straße verteilt. Es trägt den Untertitel: „Jedem Franzosen, der noch Gerechtigkeit und Wahrheit liebt.“ (OC I 990/S II 634) Von allen Bekenntnisschriften stellen die Dialoge Rousseau richtet über Jean-Jacques die größten Anforderungen an die Geduld des gutwilligen Lesers. Am 24. Oktober 1776 befindet sich Rousseau auf dem Rückweg einer Wanderung in der östlichen Umgebung von Paris. Bei Ménilmontant reißt ihn eine dänischen Dogge nieder, die neben einer plötzlich auftauchenden Kutsche herrennt. Bei dem Sturz trägt er schwere Blessuren davon und verliert vorübergehend sogar das Bewußtsein. Er erholt sich aber von den Verletzungen und lehnt die ihm angebotene Entschädigungssumme ab. Den Vorfall verarbeitet er in dem zweiten Abschnitt der Träumereien des einsamen Spaziergängers (siehe Abschnitt IX. 4). Im Dezember verbreiten sich in Paris Gerüchte, daß Rousseau an den Folgen des Unfalls gestorben sei. Der Courrier d’Avignon gibt am 12. Dezember fälschlicherweise eine Todesmeldung heraus, die tendenziös und verunglimpfend ist. Ihm wird vorgeworfen, mit seinen Fähigkeiten und Talenten zeitlebens Mißbrauch getrieben zu haben. In einem Brief vom 26. Dezember schreibt Voltaire an den Marquis de Florian, daß Jean-Jacques gut daran getan habe zu sterben. Zwar sei er nicht an den Wunden gestorben, die von seinem Genossen, dem Hund, stammten, sondern an den Folgen eines unmäßigen Gelages. Dennoch habe er sich davon gemacht wie ein Hund. Er fügt hinzu, daß ein solcher Philosoph wenig wert sei. Mittlerweile hat Rousseau die ersten Passagen der Träumereien des einsamen Spaziergängers (Les rêveries du promeneur solitaire) verfaßt, an denen er bis zu seinem Tod arbeitet. Die Träumereien gelten als unvollendet. Das Werk ist in zehn Spaziergänge bzw. Abschnitte gegliedert, die in loser Folge biographische Ereignisse und Erfahrungen nach 1765 thematisieren – wie die Verfolgungen und Überwachungen, den Unfall bei Ménilmontant und die voreiligen Toderklärungen, den Aufenthalt auf der Île de Saint-Pierre 50
sowie die botanischen Studien. In dieser Hinsicht schließen die Träumereien des einsamen Spaziergängers noch an die Bekenntnisse an. Die thematischen Bearbeitungen der jeweiligen Spaziergänge werden aber im weiteren zu einer Philosophie der Einsamkeit ausgebaut, die den existentiellen und ethischen Ort der einzelnen Person in Natur und Kosmos erkundet (siehe Kapitel IX). Sie schließt auch eine Theorie des Glücks ein, die gegenüber dem Emile stärker den Aspekt der Einsamkeit und Selbstgenügsamkeit betont. Rousseau widersteht jedoch den Versuchungen eines rückhaltlosen Individualismus. Mitleid, Sorge und das Glück des Anderen bleiben auch im Spätwerk feste ethische Größen. Zudem kommt in den Träumereien des einsamen Spaziergängers wie in keinem seiner übrigen Werke das praktische Gefälle zwischen der ethischen Verpflichtung gegenüber Anderen und ihrer tatsächlichen Einlösung zur Sprache. Die Träumereien des einsamen Spaziergängers können stilistisch als ein Höhepunkt von Rousseaus Werk angesehen werden. Ihm gelingt auf neue Weise eine Verlängerung der Philosophie in die Bereiche der Literatur, Musik und Naturbetrachtung. Die syntaktischen und semantischen Subtilitäten haben großen Einfluß auf die nachfolgenden philosophischen und literarischen Bewegungen ausgeübt (siehe Kapitel X). Das gilt vor allem für die Etablierung der Natur als Erlebnisraum. Im fünften Spaziergang findet sich eine der ersten Verwendungsweisen des Ausdrucks ,romantisch‘ für eine Landschaft. Im Jahre 1778 folgt Rousseau der Einladung des Marquis de Girardin nach Ermenonville. Dieser hatte schon in den sechziger Jahren damit begonnen, den Park nach dem Modell des Idylls von Clarens aus der Julie umzugestalten. Dort erreicht Rousseau die Nachricht vom Tod Voltaires. Die Reaktion scheint gänzlich anders ausgefallen zu sein als die Voltaires anläßlich der fälschlichen Meldung des Todes seines Gegenspielers. Er sieht sein Leben auf merkwürdige Weise mit dem Voltaires verknüpft. Es wird berichtet, daß er davon ausgegangen sei, seinem Widersacher nun bald in den Tod zu folgen. Am Morgen des 2. Juli begibt sich Rousseau zum letzten Mal auf einen Spaziergang durch den Park von Ermenonville. Nach seiner Rückkehr bricht er zusammen und stirbt. Über den plötzlichen Tod kursieren unterschiedliche Versionen. Es tauchen Gerüchte von Selbstmord und Vergiftung auf. Thérèse, 51
Abb. 6: Kenotaph für Rousseau auf der Île des Peupliers in Ermonville.
die in seiner letzten Stunde bei ihm gewesen zu sein scheint, überliefert keine letzten Worte. Rousseau wird am 4. Juli um die Mittagszeit auf der Île des Peupliers im Park von Ermenonville bestattet. Das Grab ist der Mittelpunkt einer schnell einsetzenden Verehrung, die Marie-Antoinette und Benjamin Franklin genauso erfaßt wie Maximilien de Robespierre und Napoléon. Die Akteure der Französischen Revolution sehen in Rousseau ihren Wegbereiter und veranlassen die Überführung der sterblichen Überreste in das Panthéon. Am frühen Morgen des 9. Oktobers 1794 setzt sich ein Triumphzug von Ermenonville nach Paris in Bewegung, der einen Umweg über Montmorency einschlägt. Es werden Kompositionen von Rousseau gespielt. Menschenmassen entlang des Weges zollen ihren Respekt. Immer wieder erschallen Rufe: „Vive la republique! Vive la mémoire de Jean-Jacques Rousseau!“ (CC XLVIII 8217) Der Zug erreicht am Abend des 10. Oktobers das Panthéon, in dessen Gruft der Leichnam schließlich seine letzte Ruhestätte findet. An der Kopfseite des mit schlichten Reliefen geschmückten Holzsarges ist die aus dem Inneren herausgereichte Fackel der Freiheit abgebildet. An der Seite befindet sich die Darstellung der Bekränzung des Sarges mit der Inschrift: „Ici repose l’homme de la nature et de la vérité“. Gegenüber steht der prächtig ausgestattete Sarkophag Voltaires, vor 52
Abb. 7: Der Sarg Rousseaus.
dem sein überlebensgroßes Standbild errichtet worden ist. Dieses Szenario weckt Erinnerungen an Rousseaus Spende zur Errichtung einer Statue für Voltaire in Lyon. Die ironische Geste zu Lebzeiten ist auf unvermutete Weise über die Zeit hinweg eingefroren. In der Gruft des Panthéon schaut Voltaire an Rousseaus Holzsarg vorbei und grinst nicht etwa, wie des öfteren nachzulesen ist, auf ihn herab. Den abgewandten Blick hätte Rousseau wohl als Ausdruck des untrüglichen Richterspruchs des Gewissens interpretiert, das in die Herzen aller Menschen eingeschrieben ist. In seiner letzten Schrift hat er aber auch die Möglichkeit erwogen, daß die Menschen aufhören können, Menschen zu sein. Dabei hat er sicherlich an ehemalige Weggefährten gedacht. Die Inszenierung in der Gruft des Panthéon bietet wenig Tröstliches. 53
III. Naturzustand und Kultur 1. Der Naturzustand Die Diskurse über die Wissenschaften und Künste und über die Ungleichheit unter den Menschen vollziehen eine Kulturkritik, die in ihrer Radikalität philosophiegeschichtlich einzigartig geblieben ist: Die großen intellektuellen Errungenschaften menschlicher Kulturgeschichte, die Wissenschaften und Künste, haben nichts zum ethischen Fortschritt beigetragen. Sie sind sogar zu einem nicht unbeträchtlichen Teil dafür verantwortlich, daß die Zivilisationsgeschichte auf kulturelle Abwege geraten ist und nicht einmal in Ansätzen das moralische Potential der menschlichen Natur eingelöst hat. Die Menschen halten bloße Vorspiegelungen von Freiheit und Wohlergehen für zivilisatorischen Fortschritt und verstricken sich tatsächlich immer tiefer in moralische und soziale Abhängigkeiten. Weil Rousseau den vorgeblichen Fortschritt seiner Zeit für ein kulturelles Verhängnis hält, versucht er durch die Rekonstruktion des Naturzustands den wahren, nicht entstellten Bedürfnissen des Menschen auf die Spur zu kommen. Er ist sich über die methodische Fragwürdigkeit eines argumentativen Umgangs mit Mutmaßungen über den Naturzustand bewußt. Für ihn ist aber keine andere theoretische Option ersichtlich, mit der das dichte Netz gesellschaftlicher Überformungen der menschlichen Natur durchlässig gemacht werden kann. Dem Begriff des Naturzustands wird die konstruktive Rolle zugewiesen, den eingeübten gesellschaftlichen Routinen den Schein des Selbstverständlichen, Unvermeidlichen und moralisch Unverfänglichen zu nehmen. Er unterscheidet dabei zwischen zivilisatorischen Prozessen, die vordergründig an ökonomischen, politischen und ästhetischen Institutionen ablesbar sind, und kulturellen Entwicklungen, die nur nach Maßgabe der moralischen Verfassung der Personen und ihrer Sozialverhältnisse beurteilt werden können. Rousseau nimmt nicht an, daß es den Naturzustand in der Weise, wie er von ihm konstruiert wird, tatsächlich gegeben habe. Es ist schon aus diesem Grunde verfehlt, in ihm den Verfechter einer rückwärtsgewandten Utopie zu sehen, wie das unter der Vorgabe der ihm zugeschriebenen Aufforderung ,Zurück zur Natur!‘ ge54
schieht. Diese Zuschreibung gehört zu den verbreitetsten Mißverständnissen in der Rousseau-Rezeption. Die Fehldeutung verdankt sich auch gewolltem Unverständnis. Das läßt sich bereits an Voltaires spöttischen Bemerkungen ablesen, mit denen er den Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen kommentiert. Er faßt sein Leseerlebnis in einem Brief aus dem Jahr 1755 dahingehend zusammen, daß er nach der Lektüre die Lust verspürt habe, wieder auf allen Vieren zu gehen, und allein durch sein hohes Alter und mangelnde Übung daran gehindert worden sei. In den weitläufigen Überlegungen zur Kulturgeschichte läßt Rousseau keinen Zweifel darüber aufkommen, daß den Menschen die Rückkehr zu präkulturellen Zuständen nicht offensteht. Er stellt ausdrücklich heraus, daß die Konstruktion des Naturzustands lediglich die Funktion zu erfüllen hat, das Ursprüngliche vom Künstlichen in der Natur des Menschen zu unterscheiden. Seine methodische Vorgehensweise besteht in der Entgegensetzung von gegenwärtigen, vergangenen und möglichen Kulturzuständen, um so die Selbstverständlichkeiten unserer gesellschaftlichen Ordnung zu problematisieren und sich dem Naturgemäßen des Menschen nähern zu können. In diesem Verfahren kommt es nicht darauf an, dem Begriff des Naturzustands deskriptiven Gehalt zu verleihen: „Es ist kein kleines Unternehmen, in der jetzigen Natur des Menschen das Ursprüngliche von dem Künstlichen zu unterscheiden und einen Zustand zu ergründen, der nicht mehr zu finden, der vielleicht niemals dagewesen ist und künftig auch, aller Wahrscheinlichkeit nach, nie vorkommen wird. Dessen ungeachtet aber muß man richtige Begriffe davon haben, wenn man über unsern gegenwärtigen Zustand richtig urteilen will.“ (OC III 123/W IV 53) Sogenannte primitive Lebensweisen interessieren Rousseau nicht als Vorlagen für in die Vergangenheit projizierte Utopien. Von Interesse sind sie allein deshalb, weil sie sich entwicklungsgeschichtlich von dem Urzustand noch nicht so weit wie die europäischen Zivilisationen entfernt haben. Der kürzere zeitliche Abstand läßt auf einen geringeren gesellschaftlichen Überformungsgrad schließen. Prämoderne Kulturen der Vergangenheit und Gegenwart sind überdies keine elysischen Zustände. Von ihren Bewohnern kann nicht einmal sicher gesagt werden, daß sie glückliche Menschen sind oder ein gutes Leben führen. Es ist lediglich zu ver55
muten, daß sie sich noch nicht in einem fortgeschrittenen Prozeß der Entfremdung befinden und insofern über ein weitgehend intaktes System natürlicher Reaktionsweisen gegenüber ihrer Umwelt und ihren Mitmenschen verfügen. Für Rousseau ist das Verhältnis, das eine Kultur zu ihrem Ursprung hat, von allerhöchstem Interesse, weil er davon ausgeht, daß die gegenwärtigen gesellschaftlichen Zustände nicht aus einer naturgemäßen Entwicklung hervorgangen sein können. Wichtige Indikatoren für die Entfernung von der ursprünglichen Natürlichkeit sind im Fall der abendländischen Kultur die Entwicklungen ihrer institutionalisierten Wissenschaften und Künste. Der von Rousseau ins Spiel gebrachte Gedanke eines ursprünglichen Zustands der Tugendhaftigkeit hat einen systematischen Zuschnitt. Es geht um den Nachweis, daß der kulturgeschichtliche Weg in die abendländische Moderne kein unvermeidliches Schicksal ist. Die Annahme, daß Ungleichheit im Naturzustand eine vernachlässigbare Größe gewesen ist, widerspricht Hobbes’ Diagnose und macht offenkundig, daß Rousseaus Naturzustandstheorie eine Rekonstruktion ursprünglicher Dispositionen anstrebt. Damit bewegt sich sein Ansatz auf dem Boden des modernen Kontraktualismus und ist keineswegs naturphilosophischen Verklärungsmodellen zuzurechnen. Rousseaus Begriff des Naturzustands verdankt sich einer eigentümlichen Konstellation von analytischen und zeitlichen Elementen. Zwar ist er nicht als Abbildung eines Abschnitts der menschlichen Vergangenheit zu verstehen, gleichwohl soll er wesentliche Strukturen der menschlichen Entwicklungsgeschichte zur Darstellung bringen. Für diese semantische Eigentümlichkeit findet Rousseau in Platons Politeia das eingängige Bild der in ihrer Ursprünglichkeit nicht mehr erkennbaren Bildsäule des Meeresgottes Glaukos. Rousseau modifiziert den platonischen Argumentationskontext, um seinen Begriff des menschlichen Naturzustands einzuführen. Wie die Statue des Glaukos, die im Laufe der Zeit durch die Einflüsse des Meeres und des Wetters so sehr entstellt worden ist, daß sie mittlerweile einem wilden Tier mehr ähnelt als einem Gott, hat sich auch der Mensch im Zuge der Vergesellschaftung nahezu bis zur Unkenntlichkeit verändert. In beiden Fällen läßt sich der ursprüngliche Zustand nicht mehr genau rekonstruieren. So viel kann aber gesagt werden: Wie jeder Tag das Abbild des 56
Glaukos mehr und mehr verunstaltet, läßt der Mensch mit jedem neuen zivilisatorischen Schritt seinen natürlichen Zustand weiter hinter sich zurück. Sinnfälliger Ausdruck dieses Sachverhalts sind die verspielten Künste, die wegen ihrer Unverbindlichkeit und Scheinhaftigkeit in einer auf Abwegen befindlichen Kultur Verehrung erlangen und deshalb gut geeignet sind, den Ehrgeiz selbstsüchtiger Künstler zu befriedigen. Rousseaus Urteil über die Wissenschaften fällt nur in Nuancen schwächer aus. Im Zuge der Verteidigung seiner von Anbeginn umstrittenen Kulturkritik wird er darauf aufmerksam machen, daß sein negatives Urteil über die Wissenschaften und Künste nicht einschränkungslos gilt. 2. Der Übergang von Naturgeschichte in Kulturgeschichte Die Auskünfte Rousseaus über die vermuteten Eigenschaften des Menschen im Naturzustand legen keineswegs paradiesische Verhältnisse nahe. Der natürliche Mensch ist von animalischem Verhalten geprägt. Erste Regungen der Seele äußern sich als Begehren und Angst. Sein Verlangen geht über die Befriedigung seiner physischen Bedürfnisse nicht hinaus: „Nahrung, eine Frau und Schlaf sind die einzigen Güter, die er in der Welt kennt, und die einzigen Übel, die er fürchtet, sind Schmerz und Hunger.“ (OC III 143/W IV 72) Dem natürlichen Menschen steht nur ein sehr beschränkter zeitlicher Horizont zur Verfügung, der über die Gegenwart täglicher Handlungsabläufe nicht hinausreicht, und wie die Tiere weiß er nichts vom Sterben. Eine Distanzierung von der animalischen Lebensform stellt sich erst mit der Vorstellung des eigenen Todes ein. Todesbewußtsein ist der Ausgang des Menschen aus dem ,tierischen Stand‘. Die Saat für den Ausgang aus dem Naturzustand liegt in der Fähigkeit des Menschen, sich vervollkommnen zu können (siehe Abschnitt IV. 3). Sie vollzieht den Schritt aus der natürlichen Umwelt und öffnet den Weg des zivilisatorischen Fortschritts. Die Besonderheit von Rousseaus Argumentation liegt darin, daß ihr zufolge die Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung [perfectibilité] einen Anstoß von außen benötigt, ohne den die dramatische Verwandlung von Natur in Kultur nicht zustande kommen kann. Es sind die klimatischen Veränderungen und die damit einhergehende Erhöhung des Anpassungsdrucks, die das Potential der Selbst57
vervollkommnung ausgelöst haben sollen. Anders als Tieren ist es Menschen möglich, sich auf stark wechselnde Lebensbedingungen einzustellen und selbständig Anpassungsformen zu entwickeln. Auf die Verschlechterung der Lebensbedingungen reagieren die frühen Menschen mit Kooperation, die für Rousseau auf signifikante Weise den Beginn der Kulturgeschichte markiert. Die Gewohnheit, in der Gemeinschaft zu leben, setzt auch die moralpsychologische Entwicklung einer spezifisch menschlichen Gefühlswelt in Gang. Das herausragende Element humaner Emotivität ist die Liebe, die sich kulturgeschichtlich als konstitutiv für die Herausbildung von Familienverbänden erweist. Neben der Etablierung der Institution der Familie sind Seßhaftigkeit, Besiedlung und die Verwendung des Feuers weitere Stationen, die für das Heraustreten des Menschen aus seiner unmittelbaren Naturbestimmtheit entscheidend sind. Rousseau zeichnet ein kompliziertes Bild vom Ursprung der Kultur. Es enthält eine Reihe von Zwangsläufigkeiten, aber keine Notwendigkeiten. Der kulturelle Weg der Menschen ist von Anbeginn kontingent. Die Art und Weise, wie sich der Mensch von seiner unmittelbaren Naturbestimmtheit unabhängig macht, ist weder den Bedingungen der Lebensverhältnisse noch seiner Natur eingeschrieben. Auch nach dem Verlassen des Naturzustandes hätte der Kulturprozeß gänzlich andere Formen annehmen können. Die frühen kulturellen Institutionalisierungen haben eine durchschlagende Wirkung. Rousseau kennzeichnet die Einrichtung von seßhaften Familienverbänden als die erste Revolution der menschlichen Kulturgeschichte. Sie bringt auch die ersten Formen von Eigentum hervor. Die zweite Revolution ist in der Erfindung der Metallbearbeitung und des Ackerbaus zu sehen. Für Rousseau bleibt es überaus rätselhaft, wie die Menschen je darauf verfallen konnten, das ,verhängnisvolle Geheimnis der Natur‘ aufzudecken, indem sie Rohstoff aus Schächten hervorholten und zum Schmelzen brachten. Dieser Vorgang legt das Fundament für den Eintritt in die bürgerliche Gesellschaft. Die anstrengende Tätigkeit des Schmelzens von Metall verstärkt die Arbeitsteilung und gegenseitige Abhängigkeit, während der Ackerbau die Aufteilung des Bodens, Eigentum und gesetzesmäßige Regulierungen von Recht und Unrecht nach sich zieht. Dieser ideologie- und kulturkritischen Interpretation der Entstehung der arbeitsteiligen Gesell58
schaft stellt Rousseau später im Emile eine nüchternere Deutung der Arbeitsteilung an die Seite, die auf die Vorzüge der Kooperation aufmerksam macht. Rousseaus Darlegung der kulturgeschichtlichen Entwicklungswege darf begründungstheoretisch nicht überbewertet werden. Die strukturellen Ähnlichkeiten der Vorgänge und Ereignisse, die zum Ausgang aus dem Naturzustand führen und den Zivilisationsprozeß vorantreiben, begründen keine Notwendigkeit. Vielmehr ist davon auszugehen, daß die menschliche Kulturgeschichte auch in ihren Verlaufsformen kontingent bleibt. Zu allen Zeiten gibt es Umstürze der Lebensverhältnisse, die die Menschen auf Wege führen, an deren vorläufigem Ende in unserem Fall die abendländische Moderne steht. Rousseau beklagt, daß diese Kontingenz der menschlichen Natur- und Kulturgeschichte in den vorherrschenden Ideologien nicht mehr gegenwärtig sei. Der Kontingenzgedanke nimmt in Rousseaus Philosophie einen gänzlich anderen Stellenwert ein als in der gegenwärtigen Philosophie. Neuere kontingenzphilosophische Ansätze sind einem Menschenbild verpflichtet, das die einzelne Person ausschließlich als zufälliges Ensemble von physischen und psychischen Beeinflussungen sieht, die allenfalls im nachhinein durch narrative Operationen in kontinuierliche Geschichten verwandelt werden können. Freiheit, Selbstbehauptung und Bildung haben in diesen Ansätzen keinen besonderen Stellenwert. Rousseau geht es aber gerade um diese menschlichen Fähigkeiten und Eigenschaften. Für sie will er mit seinem kulturgeschichtlichen Kontingenzgedanken einen Entwicklungsraum schaffen, der nicht von vornherein durch Dogmen und Ideologien blockiert wird. Bei der Wiederentdeckung der vergessenen und verlorenen Wege der Kultur macht Rousseau die gesellschaftliche Erfindung der Ungleichheit als den Kardinalfehler der Menschheit aus. Er unterscheidet zwischen Ungleichheiten, die durch natürliche Gegebenheiten wie Alter und Gesundheit hervorgerufen werden, und gesellschaftlich bedingten Ungleichheiten, die Vorrechte, Benachteiligungen und schließlich ungerechte Herrschaftsverhältnisse zur Folge haben. Während die natürlichen Ungleichheiten zwangsläufig auftreten, sind die gesellschaftlichen Ungleichheiten an die kontingente Kulturgeschichte und die jeweilige Einrichtung der Herrschaftsverhältnisse gebunden. 59
Die natürliche Ausstattung des Menschen umfaßt neben der Fähigkeit zur Selbstvervollkommnung [perfectibilité] noch Selbstliebe im Sinne einer ursprünglichen bzw. natürlichen Form der Selbstbehauptung [l’amour de soi] und Mitleid gegenüber Artgenossen [pitié], ihr fehlen aber ausgeprägte Formen der Reflexion und Selbstthematisierung. Die einfachen und balancierten Verhältnisse geraten mit dem Verlassen des Naturzustands aus ihrem ursprünglichen Gleichgewicht. Im Prozeß der Evolution sozialer Umgangsformen entwickelt sich eine künstliche Form der Selbstbehauptung, die sich an vordergründigen Eigennutzvorstellungen orientiert: „Die Eigenliebe [l’amour propre] ist nur ein relatives, künstliches, in der Gesellschaft entstandenes Gefühl, das jeden einzelnen dazu verführt, mehr Wesens von sich zu machen als von jedem anderen, das die Menschen zu allen Übeln anstiftet, die sie sich gegenseitig antun“ (OC III 219/W IV 156). Die Begriffe der Selbstliebe [l’amour de soi] und des Eigennutzes [l’amour propre] nehmen einen hohen systematischen Stellenwert in Rousseaus Philosophie ein. Beide Bestimmungen müssen von ihrer buchstäblichen Bedeutung gelöst werden. Sie benennen keine Zustände, für die vorrangig das semantische Feld des Begriffs der Liebe herangezogen werden könnte. Rousseau knüpft an eine begriffsgeschichtliche Tradition der Stoa an, deren oikeiosis-Lehre Ausdrücke wie ,se diligere‘ und ,se conservare‘ semantisch zusammenführt. Aus der Verwendungsweise der Begriffe in den Texten Rousseaus kann unschwer entnommen werden, daß sie Formen der menschlichen Selbstbehauptung ansprechen sollen, die über bloße Selbsterhaltung [conservation de soi] hinausgehen und Elemente der Selbstschätzung und Selbstbewahrung enthalten. Während der Eigennutz aus zivilisatorischen Überformungen hervorgeht, die künstliche Eigennutzvorstellungen induzieren, ist unter ,l’amour de soi‘ eine ursprüngliche Selbstbehauptung zu verstehen, die den natürlichen Neigungen und Interessen des Individuums Rechnung trägt. Sie enthält den Keim zur moralischen Weiterentwicklung: „Die Selbstliebe [l’amour de soimême] ist eine natürliche Empfindung, die jedes Lebewesen dazu anhält, auf seine Erhaltung zu achten, und die im Menschen, bei dem sie von der Vernunft gelenkt und vom Mitleid eingeschränkt wird, Menschlichkeit [l’humanité] und Tugend hervorbringt.“ (OC III 219/W IV 156) Auch wenn der Ausdruck ,l’amour de soi‘ 60
keine Selbstliebe im buchstäblichen Sinne bezeichnet, teilt Selbstbehauptung mit der Liebe die Unbedingtheit. Anders als bei der Liebe, deren intentionales Korrelat eine andere Person ist, richtet sich die Unbedingtheit der Selbstbehauptung auf die eigene Existenz. Derjenige, der sich selbst behauptet, kann kein kontingentes Verhältnis zu sich haben. Es ist nicht möglich, gute Gründe dafür anzuführen, kein Interesse an eigenen Zuständen und Erlebnissen zu haben. Diese Form ursprünglicher Selbstbehauptung ist für Rousseau unhintergehbar. An dem Verhältnis von ursprünglicher Selbstbehauptung und künstlichem Eigennutz läßt sich Rousseau zufolge der wirkliche moralische Zustand einer Kultur ablesen. In den frühen Phasen der Kulturgeschichte wird die Eigenliebe von Selbstliebe und Mitleid noch kompensiert. Es herrscht ein fragiler Ausgleich zwischen der neuen kulturellen Betriebsamkeit und dem einfachen Wesen der Menschen, in dem das Erbe des Naturzustands fortbesteht: „Obgleich nun die Menschen in diesem Zustande weniger geduldig geworden waren und ihr natürliches Mitleid schon einige Veränderung erlitten hatte, so mußte dennoch diese Zeit, da sich ihre Fähigkeiten entwickelten, die glücklichste und dauerhafteste Epoche sein, weil sie zwischen der Sorglosigkeit des ursprünglichen Zustandes und der ungestümen Betriebsamkeit unserer Eigenliebe die wahre Mitte hält.“ (OC III 171/W IV 100) Natürlichkeit und einfache Sozialverhältnisse, die Verselbständigungen von Konkurrenz und Egoismus nicht aufkommen lassen, führen einen Zustand herbei, der der Vorstellung von einem Goldenen Zeitalter am nächsten kommt. Rousseau zeichnet in diesem Zusammenhang ein kompliziertes Ursprungsszenario, das das Goldene Zeitalter in eine Phase nach dem Verlassen des Naturzustands verlegt. Auch im Hinblick auf das Verhältnis von menschlicher Freiheit und Determinismus beschreitet Rousseau eigene Theoriewege. Die üblichen kulturphilosophischen Auseinandersetzungen zum vermeintlichen Gegensatz zwischen Freiheit und determinierender Evolution ringen um die Fragestellung, ob die menschliche Lebensform unmittelbar aus Gesetzmäßigkeiten der Naturgeschichte hervorgeht oder sich gleichsam mit einem Sprung von Natur in Kultur transformiert. Rousseau verläßt den bei der Determinismusproblematik gemeinhin unterstellten Theorierahmen und operiert 61
mit einem gleichermaßen aparten wie einfachen Argument: Es gibt eine ursprüngliche Natur des Menschen, die sich unter verschiedenen Bedingungen unterschiedlich ausdrückt. Danach ist die menschliche Natur in ihren wesentlichen Strukturen vor der Kultur da. Unter kontingenten Bedingungen der Kulturgeschichte durchläuft sie Veränderungen und Wandlungen, ohne daß von vornherein die zivilisatorische Höherentwicklung schon als der bessere Ausdruck der menschlichen Lebensform angesehen werden könnte. Die Zivilisations- und Kulturgeschichte wird dabei aus dem Blickwinkel eines Modells menschlicher Natur bewertet, das explizite Formen von Reflexion und Moralität noch gar nicht enthält. Die großen Gaben der menschlichen Lebensform – das Wahre, Gute und Schöne – gelten denn auch nicht als fraglose Entwicklungsziele, sondern müssen ihren Wert erweisen. Schaffen sie nur andere Formen von Abhängigkeit, sind sie zurückzuweisen. Erst im 20. Jahrhundert werden wieder vergleichbare Analysen der Ambivalenz der menschlichen Kulturgeschichte vorgelegt. 3. Die Entstehung der Ungleichheit unter den Menschen Das komplizierte Verhältnis von Freiheit und Determinismus bestimmt auch Rousseaus Untersuchung der Ungleichheit unter den Menschen. Gesellschaftliche Ungerechtigkeiten sind danach keineswegs die einfache Folge von Machtausübung, sondern sind ihrer Struktur nach weitaus komplexer angelegt. Sie können nämlich nur unter der Voraussetzung zustande kommen, daß die Unterdrückten sich an ihrer eigenen Entmündigung beteiligen und sich selbst überreden, eine Herrschaftshierarchie anzuerkennen. Dieser gedankliche Unterwerfungsakt ist die notwendige Voraussetzung ihrer Unterdrückung. Der Umstand, daß jemand ein Stück Land umzäunt und behauptet ,Dies ist mein!‘, ist noch nicht der Ursprung der bürgerlichen Gesellschaft. Es bedarf noch ,einfältiger Leute‘, die es ihm abnehmen. Den Sachverhalt, daß in Herrschaftsverhältnissen Anerkennung und Gehorsam eine genauso wichtige Rolle spielen wie unmittelbare Gewalt und ursprüngliche Inbesitznahme, stellt Rousseau nachdrücklich heraus: „Wie viele Verbrechen, Kriege, Morde, wieviel Elend und Greuel hätte der dem Menschengeschlecht erspart, der die Pfähle herausgerissen, den Graben zugeschüttet und 62
seinen Mitmenschen zugerufen hätte: ,Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergeßt, daß die Früchte allen gehören, der Boden aber niemandem!‘“ (OC III 164/W IV 93) Der Anerkennungsakt der Unterdrückten und Benachteiligten besiegelt die neue Ordnung und erzeugt den Anschein der Selbstverständlichkeit des Herrschaftsverhältnisses. Damit wird ein Prozeß wechselseitiger Verschränkungen von Besitz und Macht in Gang gesetzt, der die ursprüngliche soziale Integrität der frühen Gemeinschaften zerstört. Die gewaltsamen Herrschaftsverhältnisse sind keineswegs der Anfang der Ungleichheit unter den Menschen. In einer subtilen Analyse führt Rousseau vor, daß die Ungleichheit unter den Menschen nicht aus unmittelbarer Gewaltausübung hervorgeht, sondern auf vorderhand unverfängliche Art und Weise ihren Anfang nimmt: „Darin lag nun der erste Schritt zur Ungleichheit und zugleich der erste Schritt zum Laster. Der erste Vorrang, den man einigen einräumte, erzeugte auf der einen Seite Eitelkeit und Verachtung, auf der anderen Seite Scham und Neid, und die Gärung dieses neuen Sauerteigs brachte schließlich schädliche Mischungen für die Glückseligkeit der Menschen und für ihre Unschuld hervor.“ (OC III 169 f./W IV 99) Asymmetrische Anerkennungsverhältnisse sind demnach keineswegs harmlose Formen der Wertschätzung. Schon die Bewunderung, die denjenigen entgegengebracht wird, die über besondere Talente verfügen, ist eine Quelle der Ungleichheit, aus der sehr weitgehende Ungerechtigkeiten hervorgehen können. Die Wertschätzungen, die Einzelne zu Lasten vieler bevorzugen, bringen Ungleichbehandlungen mit sich und laufen schließlich auf Verletzungen der moralischen Gleichwertigkeit von Personen hinaus. Die Etablierung von asymmetrischen Anerkennungsverhältnissen ist für Rousseau der folgenreichste Schritt auf dem kulturellen Irrweg in die soziale und ethische Ungleichheit. Er führt nicht nur zur Ausbeutung der sozial Benachteiligten, sondern vor allem zu ihrer moralischen Mißachtung. Die politische Stabilisierung der Ungleichheit erfährt durch die Transformation unmittelbarer Herrschaftsverhältnisse in vorgebliche Rechtsverhältnisse eine neue Qualität: „[W]ie man der Natur Gewalt antun mußte, um die Sklaverei einzuführen, so mußte man sie völlig ändern, um dieses Recht fortzupflanzen, und die Rechts63
gelehrten, die ernsthaft behauptet haben, ein Kind einer Sklavin werde als Sklave geboren, haben, mit anderen Worten, geurteilt, es könne ein Mensch nicht als Mensch geboren werden.“ (OC III 184/W IV 114) Weil die bürgerliche Ordnung für Rousseau letztlich nur eine vorgängige Herrschaft auf Dauer stellt, kann er in ihrem institutionalisierten Recht nichts anderes als einen Betrugsvertrag sehen, der die Betrogenen erneut und noch raffinierter an ihrer eigenen Entmündigung beteiligt. Die bestehenden Machtverhältnisse lösen sich aus dem Zustand der unmittelbaren Androhung oder Ausübung von Gewalt und gehen in abstrakte Rechtszustände über. Die neuen Rechtszustände stellen nur dem Schein nach Gerechtigkeit her. Faktisch werden die ungerechten Herrschaftsverhältnisse nicht verändert und überdies noch mit einer vorgeblich gottgegebenen Autorität versehen. Von dem institutionalisierten Recht haben sich die Menschen versprochen, daß es die Schwachen vor Unterdrückung bewahrt und die Ehrgeizigen in Schranken hält. Die berechtigte Hoffnung wird enttäuscht, weil die erwarteten Vorteile die drohenden Nachteile verdecken: „Alle liefen auf ihre Ketten zu, indes sie ihre Freiheit zu sichern glaubten, denn sie waren vernünftig genug, die Vorteile, die eine Staatsgründung mit sich bringt, einzusehen; es fehlte ihnen aber an Erfahrung, die Gefahren derselben vorauszusehen.“ (OC III 177 f./W IV 107) Nur diejenigen sind sich der Gefahren des betrügerischen Gesellschaftsvertrags bewußt gewesen, die ihn ohnehin zu ihrem Vorteil und zu Lasten aller anderen nutzen wollten. Alle anderen sind über seine wirkliche Funktion im unklaren geblieben. Der Betrugsvertrag der Reichen und Mächtigen ist deshalb erfolgreich umgesetzt worden, weil auf der Ebene der politischen Institutionen die unmittelbare Verknüpfung von Besitz und Macht gelingt: „Die Gesellschaft und die Gesetze, die auf diesem Wege entstanden oder wenigstens entstehen konnten, legten dem Schwachen noch festere Fesseln an, und gaben den Reichen neue Macht, zerstörten unsere natürliche Freiheit unwiderruflich, setzten das Gesetz des Eigentums und der Ungleichheit auf ewig fest, verwandelten eine geschickte Usurpation in ein unaufhebbares Recht und unterwarfen das ganze menschliche Geschlecht zum Nutzen einiger Ehrsüchtiger dem Zwang zur Arbeit, der Dienstbarkeit und dem Elend.“ (OC III 178/W IV 107) In ethi64
scher Hinsicht ist die Umsetzung des Betrugsvertrags Ausdruck eines tiefgehenden kulturellen Desasters, das auch die betrifft, die augenscheinlich von ihm zu profitieren scheinen. Die institutionalisierte Ungleichheit führt dazu, daß die Personen den unbefangenen Umgang mit ihrer menschlichen Natur verlieren und schließlich nicht mehr imstande sind, von ihr überhaupt noch eine Vorstellung zu haben. Die Annahme, die Reichen und Mächtigen seien Sieger, verdankt sich lediglich einer oberfächlichen und simplifizierenden Betrachtungsweise. Tatsächlich werden die vermeintlichen Sieger von den eigenen Konkurrenz- und Herrschaftsvorstellungen, von Ehrgeiz, Eitelkeit und Machtbesessenheit angetrieben und beherrscht. Was einmal als Mittel für den Zweck eines guten Lebens gedacht gewesen ist, wird selbst zum Zweck, dem sich gerade die unterwerfen, die meinen, die Herrschaft gewonnen zu haben. Die Menschen beginnen, ihre wahren Bedürfnisse zu vergessen und in den Anderen nur diejenigen zu sehen, auf die sie angewiesen sind, die sie aber nicht lieben. An die Stelle der Erfüllung der wahren menschlichen Bedürfnisse treten Selbstentfremdung, Konkurrenz und Gleichgültigkeit. Nach Rousseau schlagen sich diese Kulturentwicklungen unmittelbar in moralischen Defiziten einzelner Personen nieder. Er beklagt, daß wir uns immer nur anderen zuwenden, um eine Vorstellung von dem zu haben, was wir sind. Die gesellschaftliche Außenseite der Personen beherrscht ihre innere Natur. Es ist nicht zuletzt auch diese moralische Umkehrung, die für Rousseau die Annahme nahelegt, daß der gegenwärtige kulturelle Zustand nicht der ursprüngliche Zustand des Menschen sein kann. Rousseaus kulturkritische Überlegungen werden von der Annahme geleitet, daß der natürliche Mensch in sich selbst ruht, während der Mensch der abendländischen Moderne immer außer sich lebt und von der Einschätzung der anderen abhängig bleibt. Das Dilemma des modernen Menschen liegt darin, daß er die Sicherheiten seines Daseins nur von außen empfangen kann. Er wagt nicht mehr, an sich selbst die Frage zu richten, wer er ist, und muß sich ständig an diejenigen wenden, denen er mißtraut. Die Verkehrung des Daseins führt zur Korruption der Moralität: „Ehre ohne Tugend, Verstand ohne Weisheit und Vergnügen ohne Glück“ (OC III 193/W IV 123). Der Schein der gesellschaftlichen 65
Konventionen zeigt sich gleichgültig gegenüber dem guten Leben und überdeckt schließlich die Umrisse wahrer Menschlichkeit. Nach scheinbar harmlosen Anfängen ist die Verkehrung von ethischem Sein und konventionellem Schein sowie die notorische Abhängigkeit von der Wertschätzung anderer der vorläufige Endpunkt der moralpsychologischen Evolution gesellschaftlicher Ungleichheit. Gerade die sich belanglos ausnehmenden Anfänge asymmetrischer Anerkennungsverhältnisse sind für Rousseau der entscheidende Schritt in das kulturelle Verhängnis. Vor diesem Hintergrund ist sein dezidiertes Bekenntnis zu einem kompromißlosen Egalitarismus und seine radikale Ablehnung jeglicher Form von Anerkennungshierarchien zu verstehen. Wenn Vorrangstellungen unter den Menschen mit Machtpositionen einhergehen, bringen sie nur Verlierer hervor: sozio-ökonomisch Benachteiligte, ethisch Korrumpierte und psychisch Dissoziierte. Für die kulturkritische Gegenwartsanalyse heißt das vor allem, daß etwaige Ungleichheiten zwischen Personen nicht einfach hinzunehmen sind, sondern ethisch begründet werden müssen. Wo solche Begründungen nicht geliefert werden können, herrschen ungerechte Verhältnisse. Die Umkehrung der ethischen Beweislast zugunsten der Benachteiligten ist das Kennzeichen von Rousseaus Egalitarismus, der seinen wirkungsmächtigen Nachhall in Kants Instrumentalisierungsverbot gefunden hat, dem zufolge Personen immer auch als Zwecke an sich angesehen werden müssen und niemals bloß als Mittel gebraucht werden dürfen. Angriffspunkt der Kulturkritik Rousseaus ist die Gesellschaft gekünstelter Menschen mit künstlichen Leidenschaften. Die kulturgeschichtliche Entwicklung wird mit den Fortschritten der Wissenschaften und Künste, den artifiziellen Differenzierungen sozialer Verhaltensweisen, den politischen Ungerechtigkeiten sowie den technischen Formen der Naturbeherrschung identifiziert. Die dabei entwickelte Kritik an dem außengeleiteten Menschen bewegt sich nicht innerhalb der konzeptionellen Bahnen, denen die neuere sozialpsychologische Vergesellschaftungskritik nachgeht. Rousseau zufolge gründet sich die depravierte Form personaler Identität in moralischen Defiziten. Jeder Mensch ist imstande, sich den konventionellen Anpassungen zu widersetzen. Wenn er versäumt, diese Möglichkeit wahrzunehmen, dann ist die Unterlassung nichts anderes als Ausdruck seiner Schwäche und Dumm66
heit. Die Annahme, daß für die gebrochene Identität allein die Unterdrückungsmechanismen institutioneller Herrschaftsformen verantwortlich zu machen sind, hält er für kurzschlüssig. Der strengen Beurteilung liegt eine optimistische Sichtweise der menschlichen Freiheit zugrunde: Die Herrschaftsverhältnisse sind nicht lückenlos und treffen den Einzelnen nicht im Kern. Er wird nur dann unfrei sein, wenn er selbst dazu beiträgt. Rousseau macht immer wieder darauf aufmerksam, daß die unterdrückten und korrumpierten Bewohner des sozialen Raums an ihrer eigenen moralischen und politischen Verführung mitwirken. Aus diesem Sachverhalt kann abgeleitet werden, daß sich die herrschenden Machtverhältnisse keiner unbeeinflußbaren Gesetzmäßigkeit verdanken und für Revisionen der Lebensverhältnisse prinzipiell Handlungsoptionen zur Verfügung stehen. Rousseau hat jedoch nicht bestreiten wollen, daß die Möglichkeit grundlegender Veränderungen der Sozialverhältnisse lebenspraktisch schwer zu ergreifen ist. Rousseaus Kulturkritik sowie seine Überlegungen zur politischen Aufhebung der gesellschaftlichen Ungleichheit werden von einer egalitaristischen Ethik geleitet. Der Ausgangspunkt jedes politischen Handelns muß danach das aufgeklärte Selbstverhältnis der Person im sozialen Raum sein. Niemandem ist zuzumuten, in politischen Entscheidungssituationen seine wahren Bedürfnisse und Überzeugungen zu verleugnen. Die Einsicht in die wahre Natur des Menschen bildet die Grundlage für Gerechtigkeit, für den nicht-manipulativen Schritt vom Selbstinteresse zu den Interessen anderer Personen. Kulturelle und politische Aufklärungsprozesse dürfen entsprechend nur Beteiligte haben. Personen, die nicht zum Verständnis ihrer Natur und wahren Bedürfnisse gelangen, werden zwangsläufig zu Opfern von Indoktrinationen. Sie werden niemals für sich sprechen und immer den Anderen folgen. Die politischen Entscheidungen werden in ihrem Namen, aber ohne ihre aufgeklärte Zustimmung vollzogen. 4. Die Kritik der Wissenschaften und Künste Rousseaus Überlegungen zum unmittelbaren Anlaß seiner ersten Kulturkritik, dem ethischen Stellenwert der Wissenschaften und Künste, sollten nicht als undifferenzierte Polemik angesehen wer67
den. Dieser Vorwurf wird seit dem Erscheinen des Diskurses über die Wissenschaften und Künste erhoben. Es wird dabei leicht übersehen, daß Rousseaus Kritik von vornherein einen ethischen Grundzug aufweist. Er beklagt die unrühmliche Rolle, die die Wissenschaftler und Künstler im Rahmen der kulturellen Irrwege der menschlichen Kultur spielen, weil sie sich ideologischen Zwecken verschreiben. Auch im Falle der Wissenschaften und Künste zeigt sich bereits im Ursprung der Makel, denn ihre Entstehung verdankt sich faktisch menschlichen Lastern: „Die Sternkunde stammt aus dem Aberglauben; die Beredsamkeit aus dem Ehrgeiz, dem Haß, der Schmeichelei und der Lüge; die Meßkunst aus dem Geiz; die Naturlehre aus einer eitlen Neugierde; alle, und selbst die Sittenlehre, aus dem menschlichen Stolz.“ (OC III 17/W IV 21) Die Wissenschaften sind in den heutigen Ausprägungen das Resultat von Lastern und ideologischen Vereinnahmungen, nicht etwa nur deren ständiger Begleiter. Rousseau zufolge geht bereits die Absicht, überhaupt Wissenschaften betreiben zu wollen, oft aus unlauteren Motiven hervor. Gleiches gilt auch für die Künste, für die darüber hinaus die Abhängigkeit vom Luxus charakteristisch ist. Der Luxus tritt selten ohne die Künste auf, sie aber niemals ohne ihn: „Was würden wir mit den Künsten anfangen ohne den Luxus, welcher sie ernährt?“ (OC III 17/W IV 22) Rousseaus Kritik richtet sich nicht gegen die Wissenschaften und Künste schlechthin, sondern gegen ihre Indienstnahme für egoistische Absichten oder ideologische Ziele. In der menschlichen Kulturgeschichte macht er einen anscheinend unauflöslichen Zusammenhang von moralischem Verfall und hoher Wertschätzung der Wissenschaften und Künste aus. Damit ist für ihn nahegelegt, daß eine übermäßige Beschäftigung mit den Wissenschaften und Künsten aus Müßiggang und Eitelkeit hervorgeht. Was wir für die großen Errungenschaften unserer Zivilisation halten, ist insofern nicht anderes als Mißbrauch von Zeit. Der Vorwurf an die Wissenschaften und Künste, daß sie von Anfang an am Verfall natürlicher Moralität beteiligt gewesen sind, orientiert sich an einfachen Tugendvorstellungen, die Rousseau vornehmlich in Sparta und eben nicht in Athen verwirklicht sieht. Er warnt davor, daß die Wissenschaften und Künste in besonderer Weise geeignet seien, eine Tugend wie Tapferkeit um oberflächli68
cher Bequemlichkeiten und ästhetischer Annehmlichkeiten willen verkümmern zu lassen. Die Aushöhlung der Tugend beginnt in der Stille der Studierstuben der Wissenschaftler und Werkstätten der Künstler. Es ist für ihn denn auch keineswegs überraschend, daß die Wissenschaften und Künste in den ethischen und politischen Niedergangsphasen einer Kultur blühen, während sie in tugendhaften Gesellschaften kaum entwickelt sind. Rousseau legt nahe, daß zwischen Tugendhaftigkeit und Desinteresse an Wissenschaften und Künsten ein kulturgeschichtliches Entsprechungsverhältnis herrscht. Er sieht sich aufgrund dieses Zusammenhangs sogar zu dem weitergehenden Schluß veranlaßt, daß der Entwicklungsstand der Wissenschaften und Künste über den Verfall der Tugend Auskunft geben könne. Es ist dieser Sachverhalt, den er mit dem einprägsamen Bild ansprechen will, daß sich das tägliche Steigen und Fallen des Meeres nicht genauer nach dem Lauf des Mondes richte als der Verfall der Sitten nach dem Fortschritt der Wissenschaften und Künste. Rousseau wirft den Wissenschaften und Künsten nicht vor, daß sie die gesellschaftliche Ungleichheit hervorgerufen haben. Seine Kritik richtet sich auf ihre ideologische Komplizenschaft. Ungeachtet der Fragen nach der Rechtmäßigkeit stützen sie die bestehenden Verhältnisse, überdecken die wahre Natur des Menschen und verleihen den gekünstelten Menschen mit ihren künstlichen Leidenschaften den Anschein des Selbstverständlichen. Es ist aber Rousseau nicht in den Sinn gekommen, eine Abschaffung der Wissenschaften und Künste zu fordern. Ihre ideologische Dienstbarkeit ist geschichtlich erklärbar, sie ist aber keineswegs unvermeidlich. Die Künste haben überall dort, wo sie sich nicht um ethische Verantwortung kümmern, eine Tendenz zur Ideologie des Scheins. Rousseau widerspricht deshalb dem Vorrang der Ästhetik gegenüber der Ethik. Im Diskurs über die Wissenschaften und Künste geht es Rousseau in erster Linie um die Verteidigung der Tugend. Die Wissenschaften und Künste sollen nicht als solche ,schlecht behandelt‘, sondern nur in ihrer ideologischen Praxis bekämpft werden. An den Wissenschaften und Künsten ist zu beklagen, daß sie dem Verlust der Tugend mit einer Ideologie des Scheins begegnen. An die Stelle aufrichtiger Moral tritt das gesittete Benehmen, und bei dessen Einübung spielen die Künste die wichtigste Rolle. Sie legen 69
einen Schleier über die Wahrheit, den nur wenige Genies zu durchdringen vermögen. Diese Genies bleiben für Konkurrenz und Eifersucht unempfänglich. Solche Künstler und Wissenschafter sind für Rousseau das Licht und die Ehre des Menschengeschlechts. Abweichend von den Üblichkeiten der radikalen Kulturkritik beschwört Rousseau zum Ende des Diskurses über die Wissenschaften und Künste keine unentrinnbare Verfallsgeschichte. Vielmehr zeigt er einen Ausweg aus den Irrwegen der Kulturgeschichte auf. Im Mittelpunkt der Überlegungen steht die ethische Revision des Entwicklungsgangs der Wissenschaften und Künste: „Erst dann wird man sehen, was Tugend, Wissenschaft und Autorität vermögen, wenn sie, von einem edlen Wettstreit belebt, mit vereinten Kräften an der Glückseligkeit des Menschengeschlechts arbeiten. Solange aber die Macht allein auf der einen Seite, Einsicht und Weisheit allein auf der anderen Seite stehen, so werden die Gelehrten selten etwas Großes denken, die Fürsten noch weit seltener schöne Taten vollbringen, und die Völker werden weiterhin niederträchtig, verderbt und unglücklich sein.“ (OC III 30/W IV 34) Rousseaus ethische Revision der Rolle der Wissenschaften und Künste faßt die traditionelle Idee der Verpflichtung auf das Wahre, Gute und Schöne in einem buchstäblichen Sinne auf. Wenn die Wissenschaften und Künste diese Verpflichtung vernachlässigen oder gar vergessen, finden sie sich in einer Vielzahl von ideologischen, politischen und psychologischen Abhängigkeiten wieder. Werden diese Abhängigkeiten durchbrochen, können endlich ,Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen‘ – wie es später im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus heißt. Die politischen Zielsetzungen der darin entwickelten Idee der Mythologie der Vernunft stehen ersichtlich in der Nachfolge Rousseaus (siehe Kapitel X). Kultur wäre dieser konkreten Utopie zufolge nicht länger eine subtile Form der Unterdrückung, sondern die rechtfertigungsfähige Ausgestaltung einer ethisch und ästhetisch entwickelten Natur des Menschen. Eine Gemeinschaft, in der sich Aufgeklärte und Unaufgeklärte die Hand reichen, kennt soziale und intellektuelle Unterschiede, aber keine Privilegien oder Benachteiligungen. Die Möglichkeiten authentischer Kunst wird Rousseau noch unter widrigen Umständen erfahren. Im intellektuellen Exil seiner 70
späten Jahre sollten ihm die Künste in der Gestalt der literarischen Bekenntnisse und Träumereien jene consolatio philosophiae gewähren, die ihm weder das Leben noch die Philosophie geben konnten. Am Ende hofft er, daß die Kunst, die eigentlich den Anlaß für seine radikale Kritik an der modernen Kultur gegeben hat, die Wunden heilt, die diese hervorruft.
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IV. Die Natur des Menschen 1. Anthropologie und Ethik Rousseaus Überlegungen zu Anthropologie und Ethik sind durch den generellen Verdacht motiviert, daß der Mensch gegen seine Natur lebt und seine humanen Potentiale nicht ausschöpft. Seiner kulturkritischen Verwendungsweise des Begriffs des Naturzustandes zufolge hat der kontingente zivilisatorische Prozeß der Moderne der wahren Natur des Menschen nicht zum angemessenen Ausdruck verholfen. Die unerschütterliche Überzeugung von der Richtigkeit dieser Diagnose führt Rousseau in allen Phasen seines Denkwegs zu konzeptionellen Verschränkungen von philosophischer Anthropologie auf der einen Seite sowie ethischen, bildungs-, sozial- und kulturphilosophischen Argumentationen auf der anderen Seite. Im einzelnen verdanken sich die kulturkritischen Befunde diagnostizierten Abweichungen von der wahren menschlichen Natur. Die Bemühungen um ethische und soziale Korrekturen zielen auf die Herstellung eines balancierten Verhältnisses von Natur und Individualität, das den Menschen nach dem Verlassen des Goldenen Zeitalters in den Anfängen der Kulturgeschichte scheinbar endgültig verloren gegangen ist. Aufgrund der Vorgaben seiner Kulturkritik steht Rousseau vor der schwierigen Aufgabe, eine anthropologische Konzeption vorzulegen, mit der sich die Kontingenz der Kulturgeschichte genauso zur Darstellung bringen läßt wie die Präsenz eines beharrlichen Kerns der menschlichen Natur in den historischen Wechselfällen. Im weiteren verbindet sich damit die Fragestellung, auf welche Weise Multikulturalität und Universalität der menschlichen Lebensform in einer einheitlichen Theorie erfaßt werden können. Rousseau hat sich insofern mit einem Problem zu befassen, das typisch für die gegenwärtige Ethik ist, die sich jenseits der Extreme umfassender kulturrelativistischer Kontextualisierungen ethischer Normen und universalistischer Nivellierungen von Multikulturalität einen Weg bahnen muß. Das anspruchsvolle Projekt der anthropologischen Integration von Universalität und Multikulturalität zwingt Rousseau zu systematischer Entschlossenheit. Es ist im Fall der Bestimmung des Menschen nicht mehr möglich, die Referenz des Naturbegriffs 72
einfach in der Schwebe zu halten – ein Verfahren, mit dem er sich bei der Bestimmung des Naturzustands noch hat behelfen können (siehe Abschnitt III. 1). Die Natur des Menschen mag zwar über eine eigenartige Entwicklungsgeschichte verfügen und sich einem durchgängigen Verständnis hartnäckig entziehen, ihre Wirklichkeit kann aber nicht ernsthaft in Zweifel gezogen werden. Worin ihr Wesen liegt, ist die große anthropologische Frage, von der Rousseau glaubt, sie durch die Ausdifferenzierung von Ursprünglichem und Künstlichem in der menschlichen Lebensform beantworten zu können. Bei der Rekonstruktion der Universalität der menschlichen Natur hat Rousseau ähnlich verwickelten Theoriewegen nachzugehen wie bei der Rekonstruktion der Kontingenz der Kulturgeschichte. Die Beschäftigung mit anderen Kulturformen erbringt Hinweise auf die ursprüngliche Form der menschlichen Natur. Aus ihnen meint er entnehmen zu können, daß die sogenannten fortschrittlichen Zivilisationen die menschliche Natur in ihren ethischen Möglichkeiten entstellen. Schon in den frühen kulturkritischen Schriften macht er invariante Bestimmungen der menschlichen Natur aus. Zu ihnen gehören die Begriffe der Vervollkommnungsfähigkeit [perfectibilité], der Selbstbehauptung [l’amour de soi] und des Mitleids [pitié]. Sie benennen Elemente der menschlichen Natur, von denen er glaubt, daß sie zu allen Zeiten und an allen Orten nachweisbar seien. Allerdings müssen bei derartigen Nachweisen oftmals beträchtliche epistemische Hürden überwunden werden. Die bei modernen Menschen zu beobachtende Verwandlung natürlicher Selbstbehauptung in gekünstelte Formen von Eigennutz [l’amour propre] ist ein schlagendes Beispiel dafür, daß Elemente der menschlichen Natur zumindest verblassen können. In inhaltlicher Hinsicht sind die universalen Eigenschaften und Strukturen der menschlichen Natur nicht unmittelbar erfahrbar. Sie zeigen sich indirekt als Bestimmungsgründe menschlicher Verhaltens- und Reaktionsweisen. Personen erwerben Kenntnis davon, daß sie entsprechend ihrer Natur handeln oder nicht handeln. Die epistemische Schwierigkeit besteht darin, daß sie in der Regel diese Kenntnis nicht aus ihren Gründen heraus erklären können. Gleiches gilt für eine Reihe von Bedürfnissen, von denen man weiß, daß sie im Grunde genommen falsche Bedürfnisse sind. 73
Der Zugang zur komplizierten menschlichen Natur hat den Anschein des Irrationalen, weil er unvermittelt erfolgt. Tatsächlich ist er aber lediglich eine intuitive Abkürzung rationaler Überlegungen. Warum die Erfüllung von bestimmten Bedürfnissen dem Selbstinteresse von Personen dient oder widerspricht, zeigt sich häufig erst in längerfristigen Rückbesinnungen, über die der Handelnde aufgrund epistemischer und temporaler Umstände nicht ohne weiteres verfügen kann. Dennoch gelingt es ihm oft, in einer Weise zu handeln, von der es im nachhinein den Anschein hat, als wäre sie schon in Kenntnis der guten Gründe vollzogen worden. Die Kenntnis der eigenen Natur drückt sich nicht zuletzt in der Erfahrung von Zumutungen und Grenzen der Selbstachtung aus. Personen kommen insbesondere in Krisensituationen an einen Punkt, an dem ihnen schlagartig klar wird, daß sie im Fall bestimmter Handlungen sich selbst untreu würden. Rousseau ist trotz des ungünstigen Verlaufs der Kulturgeschichte immer davon ausgegangen, daß die Menschen zu jeder Zeit über die Kenntnis ihrer eigenen Natur verfügen können. Der Treue zu sich selbst gilt denn auch seine höchste ethische Aufmerksamkeit. Sie ist für ihn keine psychische Selbststilisierung, sondern eine Konstitutionsbedingung von Moralität (siehe Abschnitt IX. 5). Die Entwicklung von Moralität ist kein selbstverständlicher Vorgang. Die Kulturgeschichte kann die menschliche Natur angemessen ausdrücken oder verzerren. Der faktische Verlauf unserer Kulturgeschichte ist nach Rousseau als irreversible Entfernung von der ursprünglichen Natur des Menschen zu beschreiben. Er geht gleichwohl davon aus, daß die menschliche Natur ungeachtet der zivilisatorischen Beschädigungen zumindest in ihrem Kernbereich intakt bleibt. Deshalb besteht nach wie vor die Möglichkeit, der Humanität auf neuen Wegen zum angemessenen Ausdruck zu verhelfen. Humanität liegt für die Menschen nicht in der Vergangenheit, sondern in der Zukunft. 2. Universalität und Multikulturalität Im methodischen Zentrum von Rousseaus Anthropologie steht der Vergleich. Er wird im buchstäblichen Sinne aufgefaßt: Verschiedenes ist als Verschiedenes in der einen oder anderen Hinsicht gleich. Diese semantische Differenzierung erweist sich gera74
de bei einer Untersuchung der Natur des Menschen, die auf der Grundlage der Vielfältigkeit kultureller Lebensweisen durchzuführen ist, als überaus hilfreich. Rousseau kann so die Multikulturalität der Lebensweisen und die universalen Eigenschaften der Natur des Menschen ansprechen, ohne das eine zu Lasten des anderen reduktiv behandeln zu müssen. Für ihn ist es geradezu das Kennzeichen der menschlichen Lebensform, unter immer neuen Umständen anthropologische Gemeinsamkeiten auszudrücken. Der formal einfache anthropologische Ansatz enthält beträchtliches Differenzierungspotential. Rousseau geht zwar von universalen Eigenschaften der menschlichen Natur aus, er behandelt sie aber in inhaltlicher Hinsicht keineswegs als transhistorische Invarianten. Hier üben seine kulturphilosophischen Theoriestücke des Naturzustands und der Kontingenz der Kulturgeschichte eine überaus konstruktive Wirkung aus. Diesen Theoriestücken zufolge gibt es Eigenschaften und Strukturen der menschlichen Natur, die im kulturgeschichtlichen Verlauf über eine eigene Evolution verfügen. Sie sind keine unveränderlichen Größen, sondern entwickeln sich über die Zeit hinweg in unterschiedlichen Ausprägungen. Nur die formale Gestalt des Ausgleichs von Fähigkeiten und Bedürfnissen bleibt die gleiche. Wo der Ausgleich gelingt, leben Menschen ihrer Natur gemäß. Wo das Verhältnis gestört ist, leben die Menschen wider ihre eigene Natur. Die anthropologischen Überlegungen Rousseaus nehmen von dem unbestreitbaren Faktum der Multikulturalität menschlicher Lebensweisen ihren Ausgangspunkt. Im Lichte dieses Faktums werden Möglichkeiten erwogen, die Natur des Menschen in nicht entstellter Form zu rekonstruieren. Das Rekonstruktionsverfahren setzt den generellen methodischen Vorgaben entsprechend Verschiedenes als Verschiedenes zueinander in Beziehung, um über ihre Unterschiede die Eigenart der jeweiligen Lebensweisen zu konturieren. Die Unterschiede decken sich keineswegs mit nationalen Grenzen. Sie fallen – wie im Fall von Paris und London – zwischen den Hauptstädten geringer aus als zwischen Hauptstadt und Provinz. Rousseau operiert mit einem überaus differenzierten Kulturbegriff, dessen vielschichtige semantische Struktur den Überlegungen zur menschlichen Natur gegenüber herkömmlichen anthropologischen Ansätzen eine Ausnahmestellung verleiht. Es ist nämlich 75
in der philosophischen Anthropologie nach wie vor üblich, die systematischen Grundlagen mit einfachen Generalisierungen zu bestreiten. In solchen Ansätzen treten bestimmte Eigenschaften und Fähigkeiten des Menschen – Erbgut, Wille, Egoismus, Sprache, Technik, Kunst – als treibende Kraft von kulturellen Prozessen auf, aus denen im weiteren der Weg des Menschen von der Natur in die Kultur abgeleitet wird. Erst in neueren Ansätzen wird wieder der Theorieperspektive nachgegangen, bei anthropologischen Vergleichen auch die Multikulturalität der gesellschaftlichen Binnenstruktur in Rechnung zu stellen. In Rousseaus Anthropologie erfährt dieser Sachverhalt von Anbeginn angemessene Berücksichtigung. Er läßt sich dabei durchaus von deskriptiven Befunden leiten. In den Bergregionen der Schweiz und Frankreichs macht er Lebensverhältnisse aus, die noch Grade von Natürlichkeit aufweisen, die in Paris schon längst verschüttet sind. Der einfachen Logik des Vergleichs folgend zeigt sich für Rousseau die kulturelle Eigenart in der jeweiligen Verschiedenheit, zu der nicht zuletzt die Verhaltensweisen gehören, die sich an einigen, aber nicht an allen Orten finden. Als das Gemeinsame kann lediglich das gelten, was sich in allen Lebensweisen zeigt. Die Sensibilität gegenüber multikulturellen Unterschieden erzwingt keine Abkehr vom ethischen Universalismus. Rousseau gesteht ein, daß es größte Schwierigkeiten bereitet, den ethischen Universalien auf die Spur zu kommen. Die sorgfältige Analyse der internen und externen Unterschiede kultureller Lebensweisen stellt allein in zeitlicher und räumlicher Hinsicht Anforderungen, die kaum von einem Einzelnen zu erfüllen sind. Er sieht sich deshalb auch nicht imstande, einer solchen Aufgabe anders als durch Annäherungen gerecht zu werden. Trotzdem ist für ihn unstrittig, daß es moralische Dispositionen und Eigenschaften gibt, die sich an allen Orten nachweisen lassen: „Der Moral Gesetze hängen nicht von den Gebräuchen der Völker ab. Ich sehe also, der herrschenden Vorurteile ungeachtet, was schlecht an sich ist; ich weiß aber nicht, ob man dieses Schlechte dem Franzosen oder dem Menschen zuschreiben muß, ob es das Werk der Gewöhnung oder der Natur ist. Des Lasters Bild beleidigt ein unparteiisches Auge an allen Orten; und man handelt nicht ungerechter, wenn man es in einem Lande tadelt, in dem es herrscht, auch wenn man sich darin auf76
hält, als wenn man der Menschheit Fehler verurteilt, obgleich man unter den Menschen lebt.“ (OC II 243/W I 249) Rousseau geht nicht davon aus, daß dieselbe Tat oder Eigenschaft überall in gleicher Weise als schlecht beurteilt wird. Für die Belange seines ethischen Universalismus ist völlig ausreichend, daß unterhalb der jeweiligen kulturspezifischen Ansichten eine moralische Grundstruktur kenntlich wird, mit deren Hilfe zu ermessen ist, was als gut oder schlecht zu gelten hat. Er verteidigt seinen ethischen Universalismus ausdrücklich gegen Anfechtungen des multikulturellen Relativismus. Als Gegenpart tritt Michel de Montaigne auf. In den Essais, die sowohl formal als auch inhaltlich beträchtlichen Einfluß auf Rousseau ausgeübt haben, meldet Montaigne eine tiefgehende Skepsis gegenüber dem ethischen Universalismus an. Für ihn sind moralische Gesetze und Regeln allein Ergebnisse des Zufalls. Anders als Rousseau kann er in der Kulturgeschichte keine Hinweise auf universelle Eigenschaften ausmachen. Er hält es zwar für wahrscheinlich, daß auch die frühen Menschen, wie alle Lebensformen, von natürlichen Gesetzmäßigkeiten bestimmt gewesen seien, nur hätten die Eitelkeiten und Unbeständigkeiten, die die menschliche Vernunft hervorgerufen habe, „die Gestalt der Dinge immer weiter verunstaltet“ (Montaigne, Essais II. 12, S. 289). An Montaignes Annahme von der Verwirrung einer ursprünglichen natürlichen Gesetzmäßigkeit kann Rousseau anknüpfen. Damit stellt sich der bemerkenswerte Sachverhalt ein, daß zwei überaus wirkungsmächtige Positionen, die sich zum Großteil gegenläufig zueinander verhalten, inhaltlich den gleichen Ansatzpunkt wählen. Die Konsequenzen, die beide im weiteren aus ihren Analysen ziehen, lassen die anfängliche Gemeinsamkeit aber nicht mehr erkennen. Rousseaus Anthropologie steht der Skepsis von Montaigne durchaus nahe. Das dürfte nicht zuletzt damit zusammenhängen, daß beide in ihren anthropologischen und ethischen Ausrichtungen von der Stoa beeinflußt worden sind. Montaignes Herausforderung, daß natürliche Gesetze doch von jedermann und allerorts erkannt werden müßten, nimmt Rousseau an und widerspricht der These, daß die multikulturelle Relativität aller Werte unbestreitbar sei. Dem Anscheinsbeweis hält er entgegen, daß es kein Land auf der Welt gebe, „wo es ein Verbrechen ist, sein Wort zu halten, gütig, wohltätig und großmütig zu sein, wo der ehrliche 77
Mann verachtet, und der treulose geehrt wird.“ (OC IV 599/W III 369). Er setzt in diesen sachlichen Zusammenhängen immer wieder dieselbe Gedankenfigur ein: Es können beträchtliche Unterschiede im Hinblick auf das eintreten, was in den jeweiligen Kulturkreisen als wohltätig oder großmütig gilt. Die Bedingungen, unter denen überhaupt moralische Eigenschaften ausgesagt werden, sind dagegen keinen signifikanten Unterschieden ausgesetzt. Die jeweiligen Belastungsgrenzen der Tugenden und ethischen Standards fallen unterschiedlich aus, aber daß Moralität als solche gut ist, wird nirgendwo wirklich in Abrede gestellt. Einfacher gestaltet sich die moralische Bewertungssituation im Fall einzelner Tugenden wie Treue und Ehrlichkeit. Hier fällt der kulturelle Variabilitätsspielraum kleiner aus als im Fall von Tapferkeit und Wohltätigkeit. Die Überzeugung von der Präsenz eines Kernbereichs gemeinsamer ethischer Überzeugungen bildet das Zentrum von Rousseaus Philosophie insgesamt. Rousseaus Antwort auf die Herausforderung Montaignes besteht in einer deskriptiven These, der zufolge Menschen ungeachtet ihrer jeweiligen kulturspezifischen Wertvorstellungen über ähnliche Einstellungen zu guten und bösen Handlungen verfügen. Der vorurteilsfreie anthropologische Vergleich erschließt die humane Konstellation ethischer Universalität und Multikulturalität. Rousseau läßt sich weder von abstrakten Höhen noch von kultureller Vielfarbigkeit abhalten, ein differenziertes Urteil über die menschliche Lebensform abzugeben. Der Sachverhalt, daß es bei einem anthropologischen Vergleich keinen privilegierten Standpunkt geben darf, kommt nicht zuletzt der generellen egalitaristischen Ausrichtung der Philosophie Rousseaus entgegen. Der Gewinn von Rousseaus anthropologischem Ansatzes ist darin begründet, daß er nicht nur den Blick auf das Fremde, sondern auch den Blick auf das Eigene im Fremden freigibt. Damit wird eine wichtige Bedingung für die Ausdifferenzierung von menschlicher Natur und kulturgeschichtlicher Multikulturalität erfüllt. Praktisch nimmt die Ausdifferenzierung die Gestalt einer Wechselwirkung von Individualität und Allgemeinheit sowie von kulturgeographischer Nähe und Ferne an: „Wenn man die Menschen erforschen will, muß man sich in seiner unmittelbaren Umgebung umsehen; doch um den Menschen zu erforschen, muß man lernen, seinen Blick in die Ferne zu richten, man muß erst die 78
Unterschiede betrachten, um die Eigenheiten zu entdecken.“ (OC V 394/W IV 185) Von Rousseau ist zu lernen, daß Universalität und Multikulturalität in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis stehen. Es ist das Kennzeichen der menschlichen Lebensform, daß sie sich als solche nur in kultureller Vielfarbigkeit zeigt, die sowohl die Innenansichten als auch die Außenansichten der jeweiligen Gemeinschaften einschließt. Rousseau ist nicht bereit, den modernen europäischen Gesellschaften das Privileg einzuräumen, globale Maßstäbe zu setzen. Er ist vielmehr der Ansicht, daß sie sich weiter von den ursprünglichen Zuständen der menschlichen Natur entfernt haben als der Großteil der nicht-europäischen Kulturen. Claude Lévi-Strauss knüpft in seiner strukturalen Anthropologie unmittelbar an diese Verbindung von Universalität und Multikulturalität an: „Unsere Position läuft nämlich auf die Behauptung hinaus, die Menschen hätten immer und überall dieselbe Anstrengung im Hinblick auf dasselbe Ziel unternommen und sich im Laufe der Zeit lediglich verschiedener Mittel bedient.“ (Lévi-Strauss, Traurige Tropen, S. 388) Die Grenzziehung zwischen der universellen Natur des Menschen und den multikulturellen Ausprägungen in der Kulturgeschichte erweist sich jedoch als überaus schwierig. Den Grund für diese Schwierigkeiten hat Rousseau bereits mit seinem originären Theoriestück des Naturzustands namhaft gemacht: „Ich habe mich über die Voraussetzung, wie der ursprüngliche Zustand des Menschen beschaffen gewesen sein mag, so lange ausgelassen, weil ich eingewurzelte Irrtümer und alte Vorurteile zu zerstören hatte und deshalb glaubte, auf den Grund gehen und mit der Schilderung des wahren Naturzustandes zeigen zu müssen, daß sogar die natürliche Ungleichheit in diesem Zustand nicht entfernt so viel Wirklichkeit und Einfluß hat, wie unsere Schriftsteller uns einreden wollen. Es ist wahrlich leicht einzusehen, daß viele der Unterschiede, welche die Menschen voneinander abheben, für natürlich gehalten werden, während sie doch eigentlich nur von der Gewohnheit und den verschiedenen Lebensweisen herrühren, welche die Menschen im gesellschaftlichen Leben angenommen haben.“ (OC III 160/W IV 89) Rousseau macht geltend, daß die Unterschiede zwischen den kulturellen Lebensweisen der Menschen nur an der gesellschaftlichen Oberfläche kraß ausfallen. Die Beson79
derheit seiner Verwendungsweise des Begriffs des Naturzustands liegt entsprechend darin, ihn in die universalistische Theorieperspektive zu stellen und nicht etwa in die des Kulturrelativismus, der nicht zuletzt durch Montaignes Vorgaben in der Gesellschaftskritik der Aufklärung verbreitet gewesen ist. Für Rousseau ist die Frage nach der Natur des Menschen allen anderen Fragen vorgeordnet. In Wissenschaft, Ethik und Politik können keine sicheren Schritte unternommen werden, wenn nicht vorher geklärt ist, worauf sich die Vielzahl der kulturellen und gesellschaftlichen Lebensweisen eigentlich gründen. Zwar ist in der Philosophie nicht unbemerkt geblieben, daß die Grundlagen von Kultur und Gesellschaft im Rückgang auf den Naturzustand zu rekonstruieren sind. Rousseau beklagt aber insbesondere an den Ansätzen von Hugo Grotius, Thomas Hobbes, Samuel Pufendorf und John Locke, daß es bislang niemandem gelungen sei, diese Aufgabe auf befriedigende Weise zu bewältigen: „Die Philosophen, die über die Grundlagen der Gesellschaft nachgedacht haben, fühlten alle die Notwendigkeit, bis auf den Naturzustand zurückzukehren. Es ist aber keiner unter ihnen dahin gelangt.“ (OC III 132/W IV 60). Ihr grundsätzlicher Fehler liegt darin, daß sie der Intention nach von dem Menschen im Naturzustand reden, dabei aber immer schon Eigenschaften und Fähigkeiten voraussetzen, die erst für den modernen Menschen charakteristisch sind: „Vom wilden Menschen sprachen sie; den gesitteten beschrieben sie.“ (OC III 132/W IV 60) 3. Der natürliche Mensch Rousseau grenzt den natürlichen Menschen [l’homme naturel, l’homme originel] vom künstlichen Menschen [l’homme de l’homme, l’homme artificiel] ab. Während der künstliche Mensch der modernen europäischen Gesellschaft sich in die unterschiedlichsten psychischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Abhängigkeiten verstrickt, ist der natürliche Mensch eigenständig. Er hängt in seiner Selbsterhaltung [conservation de soi] nicht von anderen ab, besitzt die Fähigkeit der Selbstbehauptung [l’amour de soi], tritt nur selten in Kontakt mit seinesgleichen, hat kein Bedürfnis nach einer Lebensgemeinschaft und verfügt über kein Eigentum. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Mensch nur um 80
Weniges von einigen höheren animalischen Lebensformen. Zu dieser Minimalanthropologie kommen jedoch zwei Fähigkeiten hinzu, die die menschliche Lebensform aus dem Tierreich herausheben: das Mitleid gegenüber dem Leiden anderer Menschen sowie die Möglichkeit, sich entwickeln und bilden zu können. Zwar lassen sich auch im Tierreich Anzeichen dafür finden, daß empfindungsfähige Wesen einen Widerwillen bei der Konfrontation mit dem Leiden von Artgenossen verspüren, aber nur beim Menschen zeigt sich Mitleid als eine natürliche Tugend, die in späteren zivilisatorischen Phasen sogar die Wildheit der Selbstsucht mildert. Neben der natürlichen Tugend sind es vor allem seine Entwicklungsmöglichkeiten, die den Menschen grundsätzlich vom Tier unterscheiden. Rousseau ist durchaus bereit, der animalischen Lebensform eine Ausdeutung zu geben, die den Tieren menschliche Eigenschaften in rudimentärer Form zubilligt, aber nur die Menschen erreichen die Stufe der Empfänglichkeit für das Gute und Schöne: „Die Tiere haben ein Herz und Leidenschaften, aber das heilige Bild des Ehrenhaften und Schönen [la sainte image de l’honnête et du beau] wird nur das menschliche Herz erfüllen.“ (OC V 79/S I 422) Bei allen naturalistischen Intentionen lehnt Rousseau Versuche ab, den Unterschied zwischen Mensch und Tier einzuebnen. Er dürfte dabei an Julien Offray de La Mettrie und Claude-Adrien de Helvétius gedacht haben. Es ist aber zu beachten, daß Rousseau Entwicklung und Bildung anthropologisch auffaßt und in diesem Zusammenhang keinen normativen Leitbildern nachhängt. Den Sachverhalt, daß Menschen ihre Fähigkeiten und Eigenschaften entwickeln können, spricht Rousseau mit dem Begriff der perfectibilité an, der zum semantischen Instrumentarium der französischen Aufklärungsphilosophie gehört und in aller Regel positiv besetzt wird. Er übernimmt diesen definitorischen Ansatz nicht und entschließt sich zu einem distanzierteren Umgang mit dem Begriff. Zwar sieht auch er in der Vervollkommnungsfähigkeit formal eine Eigenschaft des Menschen, sich von seinen naturbestimmten Kontexten lösen und eigenen Entwicklungslinien folgen zu können. Die Selbstentwicklung ist jedoch nicht zwangsläufig eine Vervollkommnung im Sinne von Fortschritt und Vollendung, wie in der Aufklärung zumeist unterstellt worden ist. Kulturgeschichtlich hat die perfectibilité nämlich die Form einer 81
Tendenz zur Etablierung künstlicher Ordnungen angenommen, durch die Natur und Instinkt sukzessiv in Kultur und Bildung überführt werden. Rousseau geht davon aus, daß der faktisch durch die Menschen vollzogene Übergang von der Natur zur Kultur in moralpsychologischer wie ethischer Hinsicht als mißlungen zu betrachten ist. Hierin besteht die Lehre der Diskurse. Rousseau bringt die Vervollkommnungsfähigkeit in einen engen sachlichen Zusammenhang mit der menschlichen Selbstbehauptung. Deshalb erhält seine anthropologische Position von vornherein einen starken selbstbezüglichen Akzent, den die Semantik des Begriffs der perfectibilité noch verstärkt. Es soll nämlich nicht einfach nur die Fähigkeit zur Vervollkommnung angesprochen werden, sondern die Fähigkeit, sich zu vervollkommnen. Die Selbstbezüglichkeit in der Natur des Menschen ist dabei nicht individualistisch oder egozentrisch zu verstehen. Sie ist ein universelles Strukturmerkmal jeder menschlichen Lebensweise und mit keinen moralpsychologischen Vorgaben verbunden, wie das etwa in den Rousseau vor Augen stehenden Spielarten des rationalen Egoismus von Thomas Hobbes und Bernard de Mandeville unterstellt wird. Selbstbehauptung ist nach Rousseau eine universelle Bestimmung, die inhaltsneutral und nicht einmal durch bewußte Reflexivität gekennzeichnet ist. Er interpretiert die Selbstbezüglichkeit als Prozeß, der von der menschlichen Natur organisiert wird. Der Mensch verfügt über kein invariantes Wesen, das in den Tiefen seines Bewußtseins ruht. Die Natur des Menschen ist kein ,stehendes und bleibendes Ich‘. Dogmatische Festlegungen der Natur des Menschen müssen insofern ins Leere laufen. Die zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten sind inhaltlich nicht festgelegt. Deshalb ist es dem Menschen nicht möglich, seine Natur auszumessen: „Wir wissen nicht, was uns unsere Natur zu sein erlaubt.“ (OC IV 281/W III 46) Die Kulturgeschichte kann den Siegeszug des künstlichen Menschen fortsetzen und zu einer weiteren Auflösung des Erbes des natürlichen Menschen führen. Es besteht aber auch die Möglichkeit, daß es den Menschen gelingt, ihre ursprünglichen Selbstverhältnisse wiederzugewinnen und einen Ausgleich zwischen ihren Bedürfnissen und Möglichkeiten herzustellen. Während die kulturkritischen Überlegungen der Diskurse den faktischen Geschichtsverlauf als Siegeszug des künstlichen Men82
schen zurückweisen, ist die konstruktive Wendung im Emile und im Gesellschaftsvertrag darauf gerichtet, den Menschen auf einer neuen Stufe der Bildung und Vergesellschaftung seiner Natur wieder näherzubringen und einen Ausgleich zwischen Können und Wollen herzustellen (siehe Kapitel VII und VIII). Rousseaus Begriff des natürlichen Menschen gewinnt seine herausgehobene systematische Bedeutung dadurch, daß er auf repräsentative Weise einen solchen Ausgleich zum Ausdruck bringt. Die formale Struktur des Ausgleichs zwischen Können und Wollen ist der Kern der menschlichen Natur. Bestimmte inhaltliche Ausprägungen sind damit nicht verbunden. Rousseau vermutet in der frühen Phase nach dem Verlassen des Naturzustandes eine Epoche, die die ,wahre Mitte zwischen unbefangener Sorglosigkeit und der Betriebsamkeit der Eigenliebe‘ bewahrt hat und deshalb für den geglücktesten kulturellen Zustand gehalten werden muß. Im Verlauf der Kulturgeschichte kann der Ausgleich gleichwohl auf unterschiedliche Weise zustandekommen. Auf diese Option des rousseauschen Werks hat Lévi-Strauss nachdrücklich hingewiesen: „Nichts ist verspielt; wir können alles von vorn anfangen. Was getan wurde und gescheitert ist, kann noch einmal versucht werden: ,Das Goldene Zeitalter, das ein blinder Aberglaube vor [oder nach] uns ansetzte, ist in uns.‘“ (Lévi-Strauss, Traurige Tropen, S. 389) Rousseau ist in diesem Zusammenhang wenig emphatisch. Seine Erwägungen zur Herstellung eines neuen Ausgleichs zwischen Können und Wollen treten in den anthropologischen und kulturphilosophischen Überlegungen zunächst zurück. Die Diskurse sind von Diagnosen des Verlusts beherrscht und führen nachdrücklich Zustände vor, für die die Störung des Ausgleichs kennzeichnend ist. 4. ,Die menschliche Natur schreitet niemals zurück!‘ Die anthropologische Rehabilitierung des natürlichen Menschen ist vorwärtsgewandt. Rousseaus anthropologische Formel lautet nicht ,Zurück zur Natur!‘, sondern ,Die menschliche Natur schreitet niemals zurück!‘. Er ist gerade nicht davon ausgegangen, daß die Zeit der Unschuld und der unbefangenen Gleichheit durch einen kulturellen Rückzug wiedererlangt werden könnte. Seine Mutmaßungen behalten einen pessimistischen Unterton. Er 83
stellt fest, daß es niemals einem Volk gelungen sei, die ethische Integrität zurückzugewinnen, die es einmal verloren hat. Rousseau billigt diesem Sachverhalt prinzipielle Bedeutung zu: Wird die Zeit der Unschuld einmal verlassen, ist sie für immer verloren. Aus diesem möglicherweise beklagenswerten Umstand müssen dennoch konstruktive Schlüsse gezogen werden, denn die Menschen werden untergehen, wenn sie nicht lernen, ihre Lebensweise zu ändern und den jeweiligen Gegebenheiten anzupassen. Über die Fähigkeit zur neuen Ausrichtung können sie aufgrund der inneren Verfassung ihrer Natur immer noch verfügen. In dieser Hinsicht ist die perfectibilité janusköpfig. Sie führt den Menschen auf kulturelle Abwege und hält gleichzeitig die Möglichkeit der Revision offen. Aufgrund der eigenen Dynamik kultureller Entwicklungen wäre es unsinnig, die Vielfalt der Lebensweisen in eine erste Einfachheit zurückzuzwingen. Diese Einsicht überträgt Rousseau auch auf die Wissenschaften und Künste. Ihre Herausbildung soll schon deshalb nicht rückgängig gemacht werden, weil das nur zu anderen Formen von Aberglauben und Barbarei führen würde. Die gegenwärtigen Formen der Wissenschaften und Künste sind Ausdruck des kulturellen Verfalls, nicht deren Ursache. Es geht ihm denn auch in erster Linie darum, die kulturzerstörerischen Tendenzen der Wissenschaften und Künste zu beschneiden. Wenn das gelingt, kann man an ihren bestehenden Einrichtungen durchaus festhalten. Rousseaus Philosophie enthält nicht einmal das Motiv für eine Rückkehr zur Natur. Sie beschreibt das Leben der Menschen im Naturzustand als einfach und selbstgenügsam, aber auch als hart, bindungslos und ohne Annehmlichkeiten. Rousseau widersteht den im 18. Jahrhundert verbreiteten Tendenzen, den Naturzustand als idealen Zustand zu feiern. Das unterscheidet Rousseau nicht zuletzt von Diderot. Beide sind der Ansicht, daß die menschliche Natur an sich gut sei und für die unseligen Zustände der menschlichen Zivilisation nicht verantwortlich gemacht werden könne. Diderot kann aber anders als Rousseau mit dem in der Aufklärung verbreiteten Ideal des guten Wilden durchaus Leitbildfunktionen verbinden. Im Zentrum von Rousseaus philosophischer Anthropologie steht die These, daß die menschliche Natur im wesentlichen als 84
Prozeß und inhaltlich unbestimmt zu denken ist. Prozeßcharakter und Unbestimmtheit bedingen sich wechselseitig. Weil sich die menschliche Natur unter veränderten Bedingungen immer wieder neu ausdrücken muß, kann nicht vorhergesagt werden, wie sie sich unter noch unbekannten Umständen entwickeln wird. Angesichts dieser schwierigen Ausgangssituation rät Rousseau zur Zurückhaltung. Die Natur des Menschen hat im Laufe der Zeit unterschiedliche Manifestationen gefunden, es kann aber nicht davon ausgegangen werden, daß spätere Zivilisationen aufgrund ihres zeitlichen Abstands die kulturell fortgeschritteneren Lebensweisen sind. Weil die Menschheit schon zu Beginn ihrer kulturellen Entwicklung auf ethische und kulturelle Abwege gekommen ist, haben auch die späteren Zivilisationen eine falsche Richtung eingeschlagen. Die prämodernen Gesellschaftsformen sind zwar nicht die grundsätzlich besseren Lebensweisen, sie können aber immerhin für sich beanspruchen, noch nicht so weit auf den kulturellen Abwegen fortgeschritten zu sein wie die Moderne. Rousseau weist die von den meisten philosophes geteilte Annahme zurück, daß die nachfolgenden Generationen immer zu beneiden seien, weil sie in den Genuß des Fortschritts kämen, den vorhergehende Generationen auf den Weg gebracht hätten. Der zeitliche Ort in der Kulturgeschichte entscheidet nicht darüber, ob ein menschliches Leben einen glücklichen Verlauf nimmt. Daher wäre es eigentlich auch unnötig, Mutmaßungen darüber anzustellen, ob das Goldene Zeitalter bereits hinter uns oder noch vor uns liege. Ein geglücktes menschliches Leben gründet sich Rousseau zufolge an jedem Ort und zu jeder Zeit auf einem balancierten Verhältnis zwischen Können und Wollen. Es ist keineswegs auf bestimmte Zeitabschnitte beschränkt und wird sich immer dann einstellen, wenn die Menschen lernen, unabhängig von historischen Verläufen den Eigensinn des jeweiligen Lebensalters zu erkennen. Es gibt eine Weisheit der Kindheit genauso wie eine Weisheit des Alters. Zwar haben beide Lebensalter inhaltlich und strukturell eine gänzlich andere Gestalt, was sich nicht zuletzt in der unterschiedlichen Ausprägung physischer, psychischer und intellektueller Eigenschaften zeigt, das balancierte Verhältnis von Fähigkeiten und Bedürfnissen steht aber beiden offen (siehe Abschnitt VII. 2). Den Erwartungen der philosophes stellt Rousseau nachdrücklich entgegen, daß der Ausgleich nicht nur kein zwangs85
läufiges Produkt zivilisatorischen, wissenschaftlichen oder ästhetischen Fortschritts sei, sondern durch diesen sogar ernsthaft bedroht werde. Mit den Diskursen scheint zwar ein kultureller Vorrang der geschichtlichen Vergangenheit vor der Gegenwart und Zukunft nahegelegt zu sein. Aus der Vielzahl der Erläuterungen in nachfolgenden Werken ergibt sich aber ein anderes Bild. Rousseau weist die Alternative zurück, die gesellschaftliche Utopie in die ferne Vergangenheit oder ferne Zukunft zu verlegen. Von ihm wird nicht bestritten, daß bestimmte Epochen und Gesellschaftsformen auf glücklichere kulturelle Zustände hinauslaufen als andere. Grundsätzlich ist er aber bestrebt, kulturgeschichtliche Rangordnungen aufzulösen. Die Gegenwart ist alles, worüber die Individuen verfügen können. Sie können weder in die Vergangenheit zurückkehren noch auf die Zukunft bauen. Sie haben von der Vergangenheit für die Zukunft zu lernen, aber sie dürfen darüber nicht ihre Gegenwart vergessen. Utopien der Vergangenheit und Zukunft sind für Rousseau weder praktisch noch geschichtsphilosophisch von Interesse: „Was für ein Wahn für ein so vergängliches Wesen wie den Menschen, stets fern in eine Zukunft zu sehen, die so selten kommt, und das Gegenwärtige zu verabsäumen, dessen er gewiß ist!“ (OC IV 307/W III 72) Rousseaus anthropologischer Universalismus trennt die Natur des Menschen von den zufälligen Umständen und Geschicken, die die Individuen an den jeweiligen Zeiten und Orten vorfinden: „Die Menschen sind von Natur aus weder Könige noch Vornehme, weder Hofleute noch Reiche. Alle sind nackt und arm geboren, alle dem Elend des Lebens, den Kümmernissen, den Übeln, den Bedürfnissen, den Schmerzen aller Art unterworfen; alle sind endlich zum Tode verdammt. Da sieht man, was der Mensch wahrhaftig ist; da sieht man, wovon kein Sterblicher befreit ist. Man fange also beim Studium der menschlichen Natur mit dem an, was am unzertrennlichsten von ihr ist, was das Menschliche am besten ausdrückt.“ (OC IV 504/W III 271 f.) Die harten Fakten des vergänglichen menschlichen Lebens dienen als Zugänge zur conditio humana. Weil die Menschen von Natur aus gleich sind, können sie nach Maßgabe der gesellschaftlichen Gegebenheiten ein ähnliches Leben führen. In diesem Sachverhalt sind die Lehren der Geschichte und Literatur begründet: Wir können das 86
gleiche Schicksal erleiden wie Personen in fremden Ländern, fernen Zeiten und fiktiven Welten. Diese Anerkennungsverhältnisse sind das gemeinsame Band der Menschen. Rousseaus anthropologischer Universalismus stellt keine Lehrsätze oder unumstößlichen Prinzipien auf. Er sieht vielmehr in der Vielfältigkeit kultureller Lebensweisen unterschiedliche Ausprägungen ein und derselben Natur des Menschen. Sein Universalismus ist dem humanen Umgang des Menschen mit seiner eigenen Endlichkeit und der Endlichkeit seiner Mitmenschen verpflichtet.
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V. Freiheit und Selbstbewußtsein 1. Die Perspektiven des Freiheitsbegriffs In Rousseaus Denken nimmt der Begriff der Freiheit eine herausragende Stellung ein. In berühmten Sätzen setzt er sich formelhaft mit der menschlichen Freiheit auseinander: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ (OC III 352/W IV 270) „Der Freiheit entsagen heißt seiner Eigenschaft als Mensch, den Menschenrechten, selbst seinen Pflichten entsagen.“ (OC III 356/W IV 275) Das semantische Feld des Freiheitsbegriffs reicht in alle Verästelungen seiner Philosophie. Bis auf Passagen im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars liegen jedoch keine argumentativ wirklich durchgearbeiteten Analysen zum Freiheitsbegriff vor, was zu einer komplizierten Theoriesituation führt. Erschwerend kommt hinzu, daß der Befund der analytischen Grundlegung vorhergeht, denn die systematischen Abschnitte im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars entstehen nach der Kritik der Diskurse. Sie sind zudem mit den gleichzeitig verfaßten freiheitstheoretischen Begründungen im Gesellschaftsvertrag methodisch nicht ohne weiteres deckungsgleich. Die gebräuchlichen freiheitstheoretischen Unterscheidungen kommen auch bei Rousseau zur Anwendung. Im Durchgang der verschiedenen philosophischen Untersuchungen läßt er sich auf die Freiheitsproblematik in der ganzen Komplexität metaphysischer, erkenntnistheoretischer, ethischer und sozialphilosophischer Fragestellungen ein. Die Besonderheit seiner Position besteht darin, daß er sowohl mit einem Begriff negativer Freiheit im Sinne der Abwesenheit von innerem oder äußerem Zwang als auch mit einem Begriff positiver Freiheit im Sinne von Selbstbestimmung operiert. Damit schlägt er eine Brücke vom Großteil der sich am Begriff negativer Freiheit orientierenden angelsächsischen und französischen Philosophen – z. B. Hobbes, Locke, Hume, Voltaire und Diderot – zu der ihm nachfolgenden klassischen deutschen Philosophie von Kant bis Hegel, die in ihren Systemen anspruchsvolle Konzepte positiver Freiheit entwickeln. Rousseaus erste Überlegungen zur Ethik und Politik der Freiheit werden von negativen Bestimmungen wie Entfremdung, Unfreiheit, Ungleichheit und Ungerechtigkeit beherrscht. Dabei un88
terstellt er in noch wenig durchgearbeiteter Form die interne Verbindung von Freiheit und dem, was er im Gesellschaftsvertrag mit dem Begriff der droits de l’humanité ansprechen wird. Der kritische Befund lautet, daß die Verweigerung von ethischer und politischer Freiheit eine offenkundige Behinderung der Ausbildung und Ausübung von Humanität ist. Die Diskurse können als kulturkritische Rekonstruktion der ideologisch induzierten Unterdrückung und Ablenkung menschlicher Freiheit gelesen werden. Der von korrumpierter Herrschaft erzeugte Schein der Freiheit hat danach immer wieder die Menschen davon abgehalten, auf der Höhe ihrer moralischen und politischen Möglichkeiten zu leben. Der Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen enthält über die extensiven kulturkritischen Diagnosen hinaus bereits die Konturen eines Begriffs positiver Freiheit im Sinne von Autarkie und Selbstbestimmung. Seine Einführung erfährt er in der Kritik falscher Bedürfnisse und Anerkennungsverhältnisse. Wenn die Menschen lernen, die vielfältigen und unter gesellschaftlichen Konventionen verborgenen Abhängigkeiten zu durchschauen, eröffnen sich ihnen Perspektiven zum Verständnis dessen, was wirklich in ihrem Interesse liegt. Damit sie sich nicht in ihren Abhängigkeiten und falschen Bedürfnissen verlieren, müssen sie begreifen, was in den Bereich ihrer Fähigkeiten und Möglichkeiten fällt. Zur konstruktiven Bewältigung dieser Aufgabenstellung trifft Rousseau im Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen die Unterscheidung zwischen der ursprünglichen Selbstbehauptung und einem künstlich induzierten selbstzerstörerischen Eigennutz (siehe Abschnitt III. 2). Im Emile hebt er die lebenspraktischen Konsequenzen der semantischen Ausdifferenzierung menschlicher Selbstverhältnisse hervor: „Die Selbstliebe [l’amour de soi], die nur auf uns ausgerichtet ist, ist zufrieden, wenn unsere wahren Bedürfnisse gestillt werden; die Eigenliebe aber, die Vergleiche anstellt, ist niemals zufrieden und kann es nicht sein, weil diese Empfindung, indem sie uns den anderen vorzieht, auch fordert, daß die anderen uns sich selbst vorziehen, was unmöglich ist. Da sieht man, wie die sanften und zärtlichen Leidenschaften der Selbstliebe entspringen und wie die gehässigen und jähzornigen Leidenschaften aus der Eigenliebe entstehen. Was also den Menschen wahrhaft gut macht, ist, daß er wenige Bedürfnisse hat und sich wenig mit anderen vergleicht. Was ihn wahrhaft böse macht, 89
ist, daß er viele Bedürfnisse hat und stark von der Meinung anderer abhängt.“ (OC IV 493/W III 259 f.) Während der Vergleich in der anthropologischen Analyse ein unverzichtbares methodisches Mittel ist (siehe Abschnitt IV. 2), übt er in der Lebensführung eine zerstörerische Wirkung aus. Lebenspraktisch bedeutet der Vergleich Fremdbestimmung in der Form der Ersetzung eigener Interessen durch Einstellungen der Konkurrenz und des Neids. Die Anderen entscheiden so über das Selbstinteresse, weil ihre Vorurteile in den eigenen Absichten und Wünschen immer schon Berücksichtigung finden. Bevor der Einzelne überhaupt beginnt, sich über seine wahren Bedürfnisse zu verständigen, haben die auf unbemerkten Konventionen beruhenden Meinungen der Anderen die Ausgangsbedingungen der Wertfindungen bereits besetzt. Die Skizze der Theorie der wahren Bedürfnisse gehört bereits in den Kontext des Begriffs positiver Freiheit. Sein semantisches Feld umfaßt Bestimmungen ursprünglicher Selbstbehauptung, Autarkie, Selbstgenügsamkeit sowie ethischer und politischer Selbstbestimmung. Die abschließende Behandlung positiver Freiheit erfolgt im Gesellschaftsvertrag, der Bedingungen der Konvergenz von individueller und gesellschaftlicher Selbstbestimmung rekonstruiert (siehe Abschnitt VIII. 1). In den nach dem Umbruchjahr 1762 verfaßten Bekenntnisschriften stehen ethische Analysen von Autarkie und Authentizität im Vordergrund, die gegenüber den Ausführungen im Emile den freiheitstheoretischen Individualitätsgedanken noch einmal verschärfen (siehe Abschnitt IX. 4). 2. Metaphysik der Freiheit Im Vergleich zu der starken Beachtung, die Rousseaus ethischer und politischer Begriff der Freiheit auf sich gezogen hat, ist seine metaphysische Grundlegung menschlicher Freiheit in systematischer Hinsicht kaum gewürdigt worden. Sie gilt zumeist nur als Vorspiel für jene verhängnisvolle Kritik an den kirchlichen Dogmen, die zu Rousseaus Verurteilungen geführt haben. Die im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars entwickelte freiheitstheoretische Grundposition verdankt sich vom Ansatz her der ausdrücklichen Entgegensetzung zum physikalistisch motivierten Reduktionismus, den er in der Gestalt des zeitgenössischen Fran90
zösischen Materialismus vor Augen gehabt hat. Mit Autoren wie La Mettrie, Diderot, Condillac, Helvétius und d’Holbach beschreitet er gemeinsame ideologiekritische Wege bei der Identifikation der Quellen und Ursachen menschlicher Unfreiheit. Er kritisiert aber dezidiert ihre materialistischen Weltmodelle. Die Vertreter des Französischen Materialismus haben auf unmißverständliche Weise hervorgehoben, daß ihr System der Natur umfassend sei und nicht vor dem Menschen haltmache. Das materialistische Weltbild begreift das Universum ausschließlich als Bewegung und Veränderung physischer Objekte, die in einer ununterbrochenen Kette von Ursachen und Wirkungen miteinander zusammenhängen. Auch der Mensch müsse als ein physisches Objekt angesehen werden, das aufgrund seiner Naturbeschaffenheit lediglich einige besondere Ausprägungen wie Sprache, Einbildungskraft und Denken aufweise. Mit diesen Besonderheiten könne man wohl eine Sonderstellung des Menschen im Universum verbinden, nur dürfe dabei nicht vergessen werden, daß auch sie wiederum das Werk der Natur sei. Insbesondere La Mettrie hat sich mit beißendem Spott gegen jede Form der Überbewertung der Sonderstellung gewandt. Er spricht davon, daß Menschen letztlich nur Tiere und aufrechtgehende Maschinen seien. Die menschlichen Eigenschaften ließen sich denn auch leicht in das System der Natur einordnen: „Ich halte das Denken für so wenig unvereinbar mit der organisch aufgebauten Materie, daß es ebenso eine ihrer Eigenschaften zu sein scheint wie die Elektrizität, das Bewegungsvermögen, die Undurchdringlichkeit, die Ausdehnung etc.“ (La Mettrie, L’homme machine, S. 125) Nach La Mettrie gehen die kulturellen Selbsteinschätzungen des Menschen aus schierer Unkenntnis der Gesetzmäßigkeiten der Natur hervor. Dieser beanspruche höhere Ursachen für sich selbst, weil ihm die Komplexität der materiellen Vorgänge entgehe. Sein Hochmut setze Grenzen, die es gar nicht gebe. Menschen seien „wahre Maulwürfe im Felde der Natur [vraies Taupes dans le champ de la Nature]“ (La Mettrie, L’homme machine, S. 131), die im Verständnis ihres Umfeldes kaum die Strecke eines Tieres zurücklegten. Den pointierten Einlassungen La Mettries liegt die Programmatik eines materialistischen Weltbildes zugrunde, das von dem Großteil der philosophes akzeptiert und als Befreiung von den überkommenen klerikalen Dogmen begrüßt wird. Auch Rous91
seaus Philosophie verfügt über einen naturalistischen Grundzug und teilt mit dem Französischen Materialismus eine Reihe von Gemeinsamkeiten. Die persönliche Bekanntschaft und zeitweilige Freundschaft mit einigen seiner Vertreter hat ersichtlich Spuren im Werk hinterlassen. Die materialistischen Vorstellungen von der Natur des Menschen sind für ihn jedoch nicht theoriefähig. Die Haltlosigkeit materialistischer Ableitungen führt Rousseau am Beispiel der Musik vor. Betrachtet man Töne lediglich als Einwirkungen der Luft und Erschütterungen der Saiten, die unsere Nerven affizieren, muß eine sich daraus zusammensetzende Melodie genauso fremd bleiben wie die Musik insgesamt. Reduktionen der menschlichen Lebensform auf rein physikalische Eindrücke und Einwirkungen verfehlen vom Ansatz her das, was sie erklären wollen: den Ausdruck der menschlichen Lebensform. Wer vom Ansatz her emotive, ethische und ästhetische Eigenschaften ausklammert, redet nicht über Menschen, sondern bestenfalls über ihre Körperfunktionen. Es ist Rousseaus Überzeugung, daß die Erfahrung einer Person, aus sich selbst heraus handeln zu können, durch materialistische Abstraktionen und Reduktionen nicht zu erschüttern ist. Ähnlich wie Kant, der ihm in diesem Punkt folgt, hält er die Vertrautheit und den selbstverständlichen Umgang mit der Erfahrung der eigenen Freiheit für bedeutungsvoller als jede Spielart des materialistischen Determinismus oder Reduktionismus. Es wäre für ihn eine Verkehrung der Wirklichkeit, in der wir leben, wenn wir die naturwissenschaftlichen Erklärungsmodelle für realer hielten als die Evidenz der Freiheit und die Freiwilligkeit unseres Handelns. Ganz im Gegensatz zu seinen generellen theoretischen Intentionen ist Rousseau sogar bereit, dem Menschen aufgrund seiner Freiheit einen Sonderstatus in der Natur einzuräumen. Freiheit ist für Rousseau Abstand von der Natur. Deshalb besteht der Unterschied zwischen Mensch und Tier in der Freiheit zum Handeln und nicht in kognitiven Fähigkeiten, die zwischen Menschen ohnehin extrem variieren können. Während das Tier den Zwängen der Natur fraglos gehorcht, ist der Mensch in der Lage, inneren und äußeren Impulsen zu widerstehen. In der Freiheit, den naturbestimmten Ereignissen Widerstand entgegensetzen zu können, ist der anthropologische Eigensinn der menschlichen Lebensform begründet, an den auch naturwissenschaftliche Ab92
leitungen nicht heranreichen können: „In dem Bewußtsein dieser Freiheit vor allem zeigt die Seele die Eigenschaften eines Geistes [la spiritualité de son ame]; denn die Physik erklärt auf irgendeine Weise den mechanischen Bau der Sinne und die Entstehung der Begriffe, aber das Vermögen, zu wollen oder vielmehr zu wählen, und das Bewußtsein dieses Vermögens sind rein geistige Akte, die sich durch Gesetze der Mechanik nicht begreifen lassen.“ (OC III 142/W IV 70 f.) Freiheit muß entsprechend als grundlegende anthropologische Bestimmung begriffen werden. Sie ist keine zusätzliche Eigenschaft, die irgendwie zu den physischen Ereignissen und Prozessen hinzutritt. In ihr zeigt sich vielmehr die neue Dimension der menschlichen Lebensform, die über eigene Gesetzmäßigkeiten verfügt. Die Semantik des Freiheitsbegriffs überschneidet sich zu einem beträchtlichen Teil mit der des Begriffs der perfectibilité. Beide Bestimmungen sprechen das menschliche Vermögen an, sich gegenüber den unmittelbaren Wirkungszusammenhängen der Natur behaupten zu können. Im Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen versieht der Begriff der perfectibilité die menschliche Freiheit mit einem konkreten anthropologischen Sinn. Auf diese Weise sollen auch Zweifel an der Begründbarkeit menschlicher Freiheit ausgeräumt werden. Rousseau kann aber nicht umhin, den kulturgeschichtlichen Preis zu benennen, der unter bestimmten historischen Bedingungen entrichtet werden muß: Freiheit kann den Menschen zum Tyrannen seiner selbst und der Natur machen. 3. Die Evidenz von Freiheit und Selbstbewußtsein Rousseaus Philosophie der Freiheit erfährt ihre ausgearbeitetste Darstellung im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars. Es enthält neben dem Entwurf einer natürlichen Religion ohne Offenbarung, Erbsünde und Wunder die konzeptionelle Entfaltung des internen Zusammenhangs von Freiheit und Selbstbewußtsein, die ein bedeutender Schritt auf dem Weg von René Descartes zur klassischen deutschen Philosophie ist. Die Interpretation des Selbstbewußtseins ist für Rousseau der philosophische Königsweg zur menschlichen Freiheit. Seine Theorie des Selbstbewußtseins setzt sich aus zwei Theoriestücken zusammen: der Rekonstruktion der externen Bedingungen des Selbstbewußtseins sowie der 93
Offenlegung der immanenten Urteilsstrukturen des Selbstbewußtseins. Am Anfang steht die ausdrückliche Anlehnung an Descartes. Mit ihm teilt Rousseau die „Stimmung der Ungewißheit und des Zweifels“. Der Prozeß des radikalen Zweifels führt – wie am Ende von Descartes‘ erster Meditation – zur Einsicht in die Brüchigkeit der Grundlagen epistemischen Bewußtseins: „Da ich durch traurige Beobachtungen meine Vorstellungen von Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit und allen Pflichten der Menschen über den Haufen geworfen sah, verlor ich jeden Tag einige von den Meinungen, die man mir beigebracht hatte.“ (OC IV 567/W III 336 f.) Während sich Descartes in den Meditationen mit den Grundproblemen der theoretischen Philosophie auseinandersetzt, zeigt Rousseau deutlich an, daß sich seine Erkenntnisinteressen auf die praktische Philosophie richten. Es sucht nicht nur nach einem fundamentum inconcussum für sichere Erkenntnis, sondern nach der Evidenz ethischen Bewußtseins. Wie Descartes sieht auch Rousseau den radikalen Zweifel durch die Selbstgewißheit der eigenen Existenz begrenzt. Gegenüber der alle Erfahrungsinhalte ausschließenden Selbstbezüglichkeit von Descartes’ ,cogito‘ setzt Rousseaus ,Ich denke‘ von vornherein inhaltsreicher an. Wenn ich mir meiner eigenen Existenz auf unbezweifelbare Weise gewiß werde, dann habe ich nicht nur die Sicherheit, daß der Ausdruck ,existo‘, wann immer ich ihn ausspreche oder in Gedanken fasse, nicht falsch sein kann, sondern ich bin mir darüber hinaus auch bewußt, daß ich etwas erfahre: „Ich existiere, und ich habe Sinne, durch die ich Eindrücke aufnehme. Dies ist die erste Wahrheit, die sich mir aufdrängt und mit der ich mich abfinden muß.“ (OC IV 570/W III 340) Das Faktum eigener Erfahrungen ist der Ausgangspunkt für die Erweiterung des Selbstbewußtseins. Mit ihm treten Wirklichkeiten auf, über die ich nicht verfügen kann: „Meine Empfindungen gehen in mir vor, weil sie mich mein Dasein fühlen lassen; ihre Ursache aber ist mir fremd, weil sie mich rühren, ich mag wollen oder nicht, und es steht nicht in meiner Macht, sie hervorzubringen oder sie zu unterdrücken.“ (OC IV 571/W III 341) Rousseau deutet den wichtigen erkenntnistheoretischen Sachverhalt aus, daß in Bewußtseinsprozessen Empfindungen auftreten, die zumindest in ihrem Vorkommen nicht subjektabhängig sind. Er unterscheidet in diesem Zusammenhang ausdrücklich 94
zwischen Ich und Nicht-Ich und nimmt damit schon Johann Gottlieb Fichtes berühmte Opposition vorweg. Im Unterschied zu seinen idealistischen Nachfolgern ist Rousseau aber nicht bereit, die Unterscheidung zwischen Ich und Nicht-Ich im subjektabhängigen Sinne zu konstruieren. Selbstbewußtsein ist kein Akt, in dem das Ich sich ein Nicht-Ich setzt, sondern der unmittelbare Übergang des Subjekts des Denkens zu dem, was es nicht ist: „Ich existiere also nicht allein, sondern es existieren auch noch andere Wesen [il existe d’autre êtres], nämlich die Gegenstände meiner Empfindungen; und wenn diese Gegenstände auch nur Ideen sein sollten, so ist es doch stets wahr, daß diese Ideen nicht Ich sind [ces idées ne sont pas moi].“ (OC IV 571/W III 341) Die Gewißheit des Selbstbewußtseins ist nicht nur eine Versicherung der eigenen Existenz, sondern auch das unmittelbare Bewußtsein einer subjektunabhängigen Wirklichkeit: „Ich bin also schon von der Existenz des Weltalls ebenso überzeugt wie von der meinen.“ (OC IV 571/W III 341) ,Ich existiere‘ bedeutet für Rousseau auch ,Ich existiere nicht allein‘. Weil die Existenz des Universums ihm genauso gewiß ist wie die eigene Existenz, braucht er keinen aufwendigen Beweis für die Realität der Außenwelt zu entwerfen. Zwar mag ich falsche Ansichten über die Eigenschaften und Zustände der Welt haben, aber die Tatsache, daß ich in der Welt existiere, ist nicht zu bestreiten. Die Pointe von Rousseaus Überlegung besteht darin, daß die Externalisierung des Bewußtseins schon mit dem Selbstbewußtsein erreicht wird und nicht durch einen zusätzlichen Argumentationsschritt auf den Weg gebracht werden muß. Die Gedankenfigur des wechselseitigen Verhältnisses von Selbstbewußtsein und Objektbewußtsein hat auch Kant überzeugt, der sie in der Widerlegung des Idealismus der Kritik der reinen Vernunft aufnimmt. Rousseau operiert in seiner Philosophie des Selbstbewußtseins mit einer Differenzierung zwischen Selbstgewißheit und Empfinden: „Existieren heißt für uns empfinden [Exister pour nous, c’est sentir]“ (OC IV 600/W III 370). Die Empfindungen gehen zwar der Verstandesaktivität zeitlich voraus, daraus folgt aber nicht, daß die Eindrücke der subjektunabhängigen Welt bloß passiv aufgenommen werden. Rousseaus Entdeckung, mit der er auf Kant und den Deutschen Idealismus eine nachhaltige Wirkung ausüben wird, besteht darin, daß Selbstempfindung die Aktivität des Urteilens 95
voraussetzt. Erst die Fähigkeit, vergleichen zu können, setzt mentale Daten zueinander in Beziehung. Das Vergleichen von Empfindungen ist für Rousseau nichts anderes als die Aktivität des Urteilens. Das Unterscheidungsvermögen gibt der Kopula ,ist‘ Sinn und Bedeutung, über die ein rein passives Bewußtsein nicht verfügen könnte: „Dieses passive Wesen wird jeden Gegenstand gesondert empfinden, oder es wird auch den ganzen, aus zwei Teilen gebildeten Gegenstand empfinden. Da es aber nicht die Fähigkeit hat, den einen gegen den andern zu halten, wird es sie niemals vergleichen; es wird sie nicht beurteilen.“ (OC IV 571 f./W III 341) Die Bestimmungen des Vergleichens von Eindrücken wie ,größer‘ und ,kleiner‘ oder ,eins‘ und ,zwei‘ beziehen sich auf Eindrücke, ohne selbst solche zu sein. Rousseau kann mit seiner bewußtseinsphilosophischen Urteilstheorie den zu seiner Zeit populären datensensualistischen Ansätzen des Französischen Materialismus mit systematischer Entschiedenheit entgegentreten und somit Kant den Gedanken der synthetischen Einheit des Bewußtseins vorgeben: „Wenn wir beim Gebrauch unserer Sinne bloß passiv wären, so würde keine Verbindung zwischen ihnen entstehen; es würde uns unmöglich sein zu erkennen, daß der Körper, den wir anrühren, und der Gegenstand, den wir sehen, identisch sind. Wir würden entweder niemals etwas außer uns empfinden, oder es gäbe für uns fünf sinnlich wahrnehmbare Substanzen, deren Identität wahrzunehmen wir kein Mittel hätten.“ (OC IV 573/W III 343) Das Argument, daß das Bewußtsein der Verbindung mentaler Daten die notwendige Bedingung für Selbstbewußtsein wie für Objektbewußtsein ist, übernimmt Kant einschränkungslos. Bei seiner Zurückweisung des passivischen Bewußtseinsmodells prägt er ganz im kritischen Sinne Rousseaus den Begriff des vielfarbigen Selbst. Ohne das Bewußtsein der Verbindung meiner Vorstellungen „würde ich ein so vielfarbiges verschiedenes Selbst haben, als ich Vorstellungen habe, deren ich mir bewußt bin.“ (Kant, Kritik der reinen Vernunft, B 134) Rousseaus bewußtseinsphilosophische Urteilstheorie setzt im weiteren Fortgang ein beträchtliches anthropologisches und ethisches Potential frei. Selbstbewußtsein zeigt nämlich nicht nur die Gewißheit meiner Existenz, sondern auch meine intelligente Aktivität an. Zur Untermauerung seiner Urteilslehre zieht er ein bemerkenswertes antiskeptisches Argument heran, das sich in rudi96
mentärer Form schon in Descartes‘ Meditationen findet: Es sind nämlich gerade die Fehler, die einer Person in ihren Beurteilungen unterlaufen, die ihre intelligente Aktivität anzeigen. Nur weil sie in den Operationen des Vergleichens frei ist, kann sie überhaupt die Sachverhalte verfehlen, die sie ausdrücken will. Das Theorem von der Fallibilität menschlichen Erkennens wendet sich insofern zu einer Widerlegung des Skeptizismus. Rousseaus Beantwortung der Frage ,wer bin ich?‘ verläuft auf ähnlichen Bahnen wie Descartes’ cogito-Argument. Weil es sich aber auf die Operation des Denkens richtet, ist es komplexer angelegt: „Ich muß also zunächst meine Blicke auf mich werfen, um das Werkzeug kennenzulernen, dessen ich mich bedienen will, und zu erfahren, wie weit ich mich auf seinen Gebrauch verlassen kann.“ (OC IV 570/W III 340) Wenn Rousseau davon spricht, daß er zunächst seine Blicke auf sich selbst werfen müsse, dann meint er damit die Mittel der Reflexion, nicht etwa seine Seele. Das selbstbezügliche Bewußtsein richtet sich auf die Operationen des Denkens. Das Denken sieht sich gleichsam bei seiner Tätigkeit zu. Dieser bewußtseinsphilosophische Ansatz wird seine Fortsetzung bei Kant und Fichte finden. Was Rousseaus bewußtseinsphilosophischen Ansatz von Descartes und Fichte unterscheidet und mit Kant verbindet, ist die Ausdeutung der Selbstbezüglichkeit der intelligenten Aktivität. Die Semantik der Selbstbezüglichkeit wird nicht von Substanzbestimmungen beherrscht, sondern von Ausdrücken wie ,Intelligenz‘, ,Aktivität‘ und ,Urteil‘: „Ich bin (…) ein aktives und intelligentes Wesen“. (OC IV 573/W III 343) Selbstbewußtsein ist danach ein selbstreferentieller Prozeß. Das Bewußtsein der Aktivität des eigenen Denkens ist für Rousseau ein hinreichender Freiheitsbeweis. Ich nehme an mir selbst die Aktivität meines Denkens auf genauso evidente Weise wahr wie die Freiwilligkeit meiner Bewegungen. Der Gewißheit dieser Empfindungen räumt er den epistemologischen Vorrang vor skeptizistischen Spitzfindigkeiten ein: „Sie werden mich auch noch fragen, wie ich denn wisse, daß es freiwillige Bewegungen gebe; ich werde Ihnen sagen, daß ich es weiß, weil ich es empfinde. Ich will meinen Arm bewegen, und ich bewege ihn, ohne daß diese Bewegung eine andere unmittelbare Ursache hat als meinen Willen. Man würde vergebens argumentieren, um diese Empfindung in mir zu zerstören; sie ist viel stärker als alle augenscheinli97
che Wahrheit; man könnte mir ebensogut beweisen wollen, daß ich nicht existiere.“ (OC IV 574/W III 344) Rousseau konzipiert seinen Freiheitsbeweis als ein Lebensweltargument. Das Bewußtsein der Freiwilligkeit der eigenen Bewegungen folgt unmittelbar aus dem Selbstbewußtsein. Das Erlebnis des Selbstbewußtseins ist, anders als naturwissenschaftliche Weltmodelle nahelegen wollen, keineswegs ein vernachlässigbares Begleitphänomen von körperlichen Vorgängen. Der Freiheitsbeweis bezieht sich auf die Wirklichkeit der Alltagserfahrung, die erst die semantische Grundlage für die weitergehenden naturwissenschaftlichen Abstraktionen abgibt. Die Wirklichkeit der menschlichen Lebensform ist die Makrowelt unserer Naturerfahrung und nicht etwa die Mikrowelt, die die Naturwissenschaften konstruieren. Das Fazit seines Freiheitsbeweises ist schließlich die Feststellung: „Wenn der Mensch tätig und frei ist, handelt er aus sich selbst“ (OC IV 587/W III 357). Am Ende von Rousseaus Freiheitsbeweis steht der Begriff der Autonomie. Die moderne Bestimmung positiver Freiheit, nach der Menschen grundsätzlich die Fähigkeit haben, aus sich selbst heraus zu handeln, entfaltet sich in fünf Schritten. Der Argumentationsweg führt von dem neocartesianischen Szenario des radikalen Zweifels und der epistemischen Erweiterung des Selbstbewußtseins über die Identifikation der Urteilsstruktur des Selbstbewußtseins und des lebensweltlich unbezweifelbaren Freiheitsbewußtseins zum Autonomiegedanken, in dem sich die positive Freiheit ausdrückt, aus sich selbst heraus handeln zu können. Menschen verfügen als Personen über intelligente Aktivität und Urteilsvermögen, und es sind diese Eigenschaften, die jedem Mechanismus, auch der ,Körpermaschine‘, fehlt: „Eine Maschine denkt nicht; weder Bewegung noch Gestalt bringen das Denken hervor. (…) Kein materielles Wesen ist durch sich selbst tätig, doch ich bin es.“ (OC IV 585/W III 355) Die Weltmodelle der Materialisten, die nur einfache mechanische Verhältnisse von Ursache und Wirkung enthalten, können Rousseau zufolge nicht einmal die Gesetzmäßigkeiten der Naturabläufe erklären. Seine Materialismuskritik faßt er in drei Glaubensartikeln des savoyischen Vikars zusammen: 1. Ein Wille bewegt das Universum und beseelt die Natur. 2. Die nach Gesetzen bewegte Materie zeigt Intelligenz an. 3. Der Mensch ist in seinen 98
Handlungen frei und von einer immateriellen Substanz beseelt. Der analytische Freiheitsbeweis hinterläßt in der traditionellen Ausdrucksweise dieser Glaubensartikel kaum Spuren. Der Argumentationskontext gibt den Glaubensartikeln jedoch einen eindeutigen Sinn. Sie sollen die umfassenden Ansprüche des reduktionistischen Materialismus zurückweisen. Die Bekämpfung mechanistischer Vorstellungen in der Erkenntnistheorie, Ethik und Politik ist auch das Anliegen des frühen Deutschen Idealismus. Er greift dabei aber auf einen entfalteten Organismusbegriff zurück, der sich bei Rousseau nur beiläufig findet. 4. Die Sonderstellung des Menschen in der Natur Die Überlegungen zu Freiheit und Selbstbewußtsein zwingen Rousseau zu einem Eingeständnis, das ihm mit Blick auf seinen philosophischen Standpunkt nicht leicht gefallen sein dürfte: Der Mensch nimmt im Universum eine Sonderstellung ein. Dieses Eingeständnis ist mit dem Freiheitsbeweis unvermeidlich geworden. Ihm zufolge ist der Mensch mehr als seine physische und sinnliche Beschaffenheit und muß als nicht weiter ableitbarer Ursprung seiner Handlungen angesehen werden. In nichts anderem besteht der Wille eines freien Wesens. Die Sonderstellung des Menschen wird aber nicht nach Maßgabe eines cartesianischen Dualismus von Materialität und Immaterialität gedacht. Rousseau maßt sich nicht an, die Geheimnisse des Universums entschlüsseln zu können. Leben unter den Bedingungen des sichtbaren Universums toter Materie bleibt für ihn ein Geheimnis: „Ich habe alle meine Kräfte angewandt, mir ein lebendes Molekül [une molécule vivante] vorzustellen, doch es ist mir nicht gelungen.“ (OC IV 575/W III 345 Anm.). Die epistemische Leerstelle veranlaßt die Annahme, daß das Universum genausowenig aus seiner materiellen Beschaffenheit heraus begriffen werden könne wie der Mensch. Aus den Vorgängen und Veränderungen im Universum glaubt Rousseau aber immerhin Schlußfolgerungen ziehen zu können. Unangesehen der Fragen nach dem Grundprinzip oder der Natur der Materie – ob etwa ewig oder erschaffen – ist davon auszugehen, daß das Universum als ein einheitliches System „ein einziges geistiges Wesen offenbart“ (OC IV 581/W III 351). Diese Annahme sieht Rousseau durch den Umstand gut be99
stätigt, daß nichts existiert, „was nicht in dieses System eingefügt wäre und was nicht zum selben Endzweck etwas beitrüge, nämlich der Erhaltung des Ganzen in der etablierten Ordnung.“ (OC IV 581/W III 351) Er zeigt sich damit als Vertreter eines naturphilosophischen Holismus, nach dem alles in der Natur durch ein wechselseitiges Beziehungsgeflecht von Mittel und Zweck bestimmt ist: „Es findet sich kein Wesen im Universum, das man nicht in gewisser Hinsicht als den gemeinschaftlichen Mittelpunkt aller anderen ansehen könnte, um welchen sie alle dergestalt geordnet sind, daß sie insgesamt wechselweise Endzwecke und Mittel in bezug aufeinander sind.“ (OC IV 580/W III 350) Rousseaus naturphilosophischer Holismus operiert mit einem ontologischen Monismus, der das Universum nicht nach mechanistischen Vorstellungen konzipiert, sondern von vornherein ein intelligentes Prinzip am Werk sieht. Für ihn ist nicht vorstellbar, „daß die passive und tote Materie lebende und empfindende Wesen hat hervorbringen können, daß ein blindes Schicksal intelligente Wesen hat hervorbringen können, daß etwas, was nicht denkt, Wesen hat hervorbringen können, welche denken.“ (OC IV 580/W III 350) Durch die Voraussetzung eines intelligenten Prinzips der bewegten Materie vollzieht sich der naturphilosophische Holismus nicht in epistemischer und ethischer Gleichförmigkeit. Er weist vielmehr eine differenzierte Binnenstruktur auf. Rousseau kann so den physikalistischen Materialismus zurückweisen, ohne bei einem cartesianischen Dualismus Zuflucht suchen zu müssen. Der in das Ganze der Naturabläufe fest eingefaßte Mensch repräsentiert ein intelligentes Prinzip, das in ihm reflexiv wird. Im Menschen schlägt die Natur die Augen auf und wird sich ihrer selbst gegenwärtig. Die bewußte Repräsentation des intelligenten Prinzips zeigt die intellektuelle Größe des Menschen, für deren Erfassung das ganze Universum der toten Materie nicht ausreicht. Rousseau gibt damit jene Gedankenfigur vor, die Kant auf die berühmte Formel der im Bewußtsein meiner Existenz verknüpften Vorstellungen von dem bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir bringen wird. Die bewußte Repräsentation der Welt hat einen Preis: den horror vacui. Wie später Kant erfaßt auch Rousseau beim Anblick der unendlichen Weltenmenge existentielles Entsetzen. Verloren sieht er sich mit Schauder in das riesige Universum geworfen und in der 100
Unermeßlichkeit der Dinge ertrinkend. Er kann zu keinem Verständnis davon gelangen, wie die Dinge mit ihm und untereinander zusammenhängen. Die unermeßliche Unendlichkeit wirft die reflektierende Person auf sich zurück. Sie beobachtet die Dinge im Universum, studiert sie, und der erste Gegenstand, der sich ihr darbietet, um sie zu vergleichen, ist sie selbst. Bewußtsein ist danach eine exzentrische Bahn, deren extreme Punkte die Grenzen der Welterfassung sowie die Erfahrung von Selbstbewußtsein und Freiheit sind. In späteren Krisensituationen wird Rousseau das Zurückgeworfensein auf sich selbst in einen gewollten Rückzug von der Welt transformieren (siehe Abschnitt IX. 4). Die exzentrische Bahn konstituiert die Sonderstellung des Menschen im Kosmos: „Welches Wesen hienieden außer dem Menschen vermag alle anderen zu beobachten, ihre Bewegungen, ihre Wirkungen zu messen, zu berechnen, vorherzusehen und die Empfindung des gemeinschaftlichen Daseins [le sentiment de l’existence commune] mit der Empfindung seines individuellen Daseins gleichsam zu verbinden? Was ist so lächerlich an dem Gedanken, daß alles für mich geschaffen ist, wenn ich der einzige bin, der alles auf sich zu beziehen weiß?“ (OC IV 582/W III 352) Die Fähigkeit, sich als aktive Intelligenz zu sich selbst und zum Kosmos zu verhalten, begründet eine epistemische Sonderstellung des Menschen, die moralisch folgenreich ist. In den kurz vor dem Glaubensbekenntnis verfaßten Lettres morales hat Rousseau noch kategorisch festgestellt: Je stärker sich der Mensch selbst betrachtet, desto kleiner sieht er sich. Vorstellungen von dem Menschen als roi du monde weist er entsprechend als von Dummheit hervorgerufene Eitelkeiten ab. Wenn alle Dinge für uns da sein sollen, kann es genauso sein, daß wir für sie da sind. Im Glaubensbekenntnis ist Rousseau nunmehr bereit, zumindest in modifizierter Form an den Gedanken vom Menschen als roi du monde anzuknüpfen: „Es ist also wahr, daß der Mensch der König der Erde ist, die er bewohnt; denn er bändigt nicht nur alle Tiere, er schaltet und waltet nicht nur durch seine Geschicklichkeit mit den Elementen, sondern er allein weiß auch auf der Erde damit zu schalten und zu walten, und er macht sich durch die Betrachtung sogar die Gestirne zu eigen, denen er sich nicht nahen kann. Man zeige mir ein anderes Geschöpf auf der Erde, welches das Feuer zu nutzen und die Sonne zu bewundern weiß. 101
Wie! ich kann die Wesen und ihre Verhältnisse beobachten, erkennen; ich kann empfinden, was Ordnung, Schönheit, Tugend ist; ich kann das Universum betrachten, mich zu der Hand desjenigen erheben, der es regiert; ich kann das Gute lieben, es tun, und ich sollte mich mit den Tieren vergleichen? Verworfene Seele, deine traurige Philosophie macht dich zu ihresgleichen, oder vielmehr, du willst dich vergebens erniedrigen; dein Geist zeugt wider deine Grundsätze, dein wohltätiges Herz straft deine Lehre Lügen, und selbst der Mißbrauch deiner Kräfte beweist dir wider Willen ihre Vortrefflichkeit.“ (OC IV 582/W III 352) In dieser Offenheit muß Rousseaus Bekenntnis zur Sonderstellung des Menschen überraschen. Es dürfte sich zumindest teilweise der ausdrücklich gewollten Entgegensetzung zum Französischen Materialismus verdanken. Insbesondere gegen Helvétius’ These, daß sich der Mensch nur graduell vom Tier unterscheide, hebt Rousseau die konstitutive Bedeutung des menschlichen Bewußtseins hervor. Es ist die Reflexion, die die Sonderstellung des Menschen in der Natur begründet, und ihr ethischer Ausdruck sind Gewissen und moralische Unterscheidung. Die bewußte Repräsentation der Welt steht bei Rousseau für die Unendlichkeit der Dimension von Bewußtsein und Moralität. In ihr zeigt sich der Grund menschlicher Freiheit: „Der Ursprung allen Handelns liegt im Willen eines freien Wesens; über das kann man nicht hinausgehen. Nicht das Wort Freiheit bedeutet nichts, sondern das Wort Notwendigkeit.“ (OC IV 586/W III 356) Zwar unterliege ich einer Vielzahl von äußerlichen Zwängen und habe nicht immer die Kraft, Handlungen entsprechend meiner Einsichten zu vollbringen, ich habe aber stets die Macht, zu wollen. Ohne die Annahme des aktiven intelligenten Prinzips des menschlichen Willens müßte man Wirkungen ohne Ursache unterstellen, und man geriete in den handlungstheoretischen circulus vitiosus. Weit davon entfernt, den Geheimnissen der Schöpfung auf die Spur zu kommen, sieht sich Rousseau aus dem Verständnis von Freiheit und Selbstbewußtsein heraus dennoch berechtigt, den Menschen innerhalb des Systems der Natur als etwas Besonderes zu begreifen. Den Materialismus seiner ehemaligen Mitstreiter aus gemeinsamen Pariser Tagen kann er als eine Verkehrung der Wirklichkeit abtun. Anstatt den Blick vergeblich nach außen zu richten, hätten sie nur auf sich selbst achtgeben müssen. 102
VI. Moralität 1. Die natürliche Güte des Menschen Das Leitmotiv der Ethik Rousseaus ist die Überzeugung, daß der Mensch gut und in seinen Handlungen frei ist. Auch wenn der savoyische Vikar meint, daß sich in der Konsequenz dieser Überzeugung die Immaterialität menschlichen Bewußtseins erschließe, bleiben Rousseaus moralphilosophische Argumentationen von spekulativen Intentionen weitgehend unberührt. Der Kern seines ethischen Standpunkts ist vielmehr eine naturalistische Konzeption positiver Freiheit, nach der der Mensch frei ist, wenn er lernt, aus sich selbst heraus zu handeln. Die Freiheit ist weder grenzenlos noch unbestimmt. Es ist nur in dem Maße Freiheit und Selbstbestimmung zu erlangen, in dem es gelingt, einen Ausgleich zwischen Können und Wollen zu erreichen. Der Ausgleich führt zu einer Zufriedenheit mit sich selbst, die als praktisches Kennzeichen des naturgemäßen Lebens angesehen werden kann. Für diesen Sachverhalt prägt Rousseau die Formel ,ohne Teilung Ich zu sein‘. Die Motivationslehre seiner Ethik orientiert sich an der lebensnahen Ökonomie praktischer Gründe. Ethische Normen werden danach nicht durch Entäußerungen erreicht. Wenn eine Person aus sich heraustreten müßte, um moralisch zu handeln, würde sie es niemals können. Es geht nicht darum, Personen zu überreden oder gar zu zwingen, sich äußerlichen Normen gemäß zu verhalten. Der Ansatzpunkt moralischer Bildung sind Motive und Gründe. Personen sollen verstehen, daß es in ihrem wohlverstandenen Interesse liegt, moralisch zu handeln. In dieser Hinsicht ist Rousseau, wie Hume, Vertreter des ethischen Internalismus. Es dürfte einer der Vorzüge seines Ansatzes sein, daß Fragen der Motivation und Begründung in einem engen moralpsychologischen Rahmen gehalten werden. Ohnehin richten sich seine ethischen Überlegungen vorrangig auf Probleme der Lebensführung unter Entfremdungsbedingungen und weniger auf umfassende metaethische Begründungsdiskurse. Eine weitere Besonderheit der moralphilosophischen Position Rousseaus liegt darin, daß in ihr eine eigentümliche Konstellation von deskriptiven und normativen Bestimmungen zur Anwendung 103
kommt. Schon in der Konzeption des Naturzustands werden deskriptive Bestimmungen eingesetzt, um formale Vorgaben für eine naturalistische Ethik zu liefern. Rousseau ist nicht bereit, durchgängig zwischen deskriptiven und normativen Eigenschaften zu unterscheiden. Er will damit philosophischen Departmentalisierungen entgegentreten, die spezifische Eigenschaften fest umgrenzten Theoriebereichen zuordnen. Moralische Handlungen sind Veränderungen von Abläufen der natürlichen Welt, die Personen in der Welt vollziehen. Wenn die moralischen Eigenschaften nicht so beschreibbar sind, daß sie sich auch auf Phänomene und Ereignisse der raumzeitlichen Lebenswelt beziehen, ist fraglich, wie moralische Handlungen überhaupt zustande kommen können. Der Zusammenhang von deskriptiven und normativen Bestimmungen zeigt sich exemplarisch an Rousseaus Theoriestück von der natürlichen Güte des Menschen. Rousseau hat in allen Phasen seines Denkens die These von der natürlichen Güte des Menschen dem Kernbereich seiner Philosophie zugerechnet. Dabei hat er sich über eine Schwierigkeit hinweggesetzt, die die eigentümliche Konstellation von Naturzustand und Kultur erzeugt. Unter den Bedingungen seines Ansatzes kann nämlich gerade nicht davon ausgegangen werden, daß der natürliche Mensch moralisch gut ist, denn der Begriff des Naturzustands bezieht sich auf eine präsoziale und insofern prämoralische Welt, die normative oder ethische Bestimmungen noch gar nicht enthalten kann. Aus diesem Grunde ist es im strikten Wortsinn nicht möglich, den natürlichen Menschen als gut zu bezeichnen. Die These von einer ursprünglichen Güte des Menschen läßt Differenzierungen zwischen guten und schlechten Eigenschaften nicht zu und erlaubt lediglich die Annahme moralischer Indifferenz. Bei der Konstruktion des natürlichen Menschen geht es Rousseau aber gerade um solche Differenzierungen, mit denen er unbezüglich von zivilisatorischen Überformungen den Zugang zur normativen Bestimmung des Naturgemäßen finden will. Eine abgewandelte Verteidigung des Begriffs der ursprünglichen Güte des Menschen könnte auf das im Naturzustand auftretende Mitleid verweisen. Nur billigt Rousseau auch Tieren rudimentäre Formen von Mitleid zu, wodurch der Begriff für anthropologische Belange entscheidend an diskriminatorischer Schärfe verlöre. Ohnehin hat er die glücklichste Epoche der Menschheit in den 104
frühen kulturellen Zustand unmittelbar nach dem Verlassen des Naturzustandes verlegt, in dem der Mensch schon in den kulturellen Raum der gesellschaftlichen Beziehungen eingetreten ist. Rousseaus Vorstellung vom Goldenen Zeitalter und seine Lehre von der ursprünglichen Güte des Menschen verhalten sich insofern gegenläufig zueinander. Der Konstruktion nach müßten die Menschen in dieser Epoche sowohl gesellschaftliche Institutionen als auch die natürliche Güte im engeren moralischen Sinn herausbilden. Das Goldene Zeitalter wäre demnach ein überaus geheimnisvolles Zeitalter. Rousseau ist den semantischen Verwicklungen des Begriffs der natürlichen Güte nicht nachgegangen und hält unbeirrt an dem ,großen Grundsatz‘ seiner Philosophie fest, daß die Natur den Menschen ursprünglich gut gemacht habe. Er mutet ihm auch in seinen systematischen Hauptschriften, dem Emile und dem Gesellschaftsvertrag, beträchtliche Begründungslast zu. Rousseau verfolgt mit seiner Konzeption der ursprünglichen Güte des natürlichen Menschen gleichermaßen ethische wie kulturkritische Ziele. Es geht ihm um den Nachweis, daß Laster, Böswilligkeit und moralischer Irrtum der Natur des Menschen fremd sind und ihr von außen aufgezwungen werden müssen. Die Genealogie der Laster beginnt jenseits des Naturzustandes. Die in den Diskursen durchgeführte Rekonstruktion der Entstehung menschlicher Laster legt die kulturbedingte Transformation des natürlichen Menschen in eine zerrissene und entfremdete Person offen. Obwohl Rousseau prämoderne Lebensweisen nicht prinzipiell für besser hält, nimmt er an, daß der künstliche Mensch der Moderne in dem Maße, wie er sich von seinen Ursprüngen entfernt hat, tatsächlich elend und böse geworden sei. Der Begriff der ursprünglichen Güte des Menschen besetzt den Platz eines moralisch intakten Kerns der menschlichen Natur im Wechsel kultureller Veränderungen. Rousseau will die Verhaltensund Handlungsweisen rekonstruieren, die menschlicher Selbstbestimmung noch zuträglich sind. Die dabei angewandte Methode vollzieht sich nach Maßgabe eines negativen Ausgrenzungsverfahrens. Es werden Entfremdungs- und Selbstentfremdungsformen aufgedeckt, die der Entwicklung der ursprünglich guten menschlichen Natur entgegenstehen. Rousseau geht nicht nur davon aus, daß der intakte Kern menschlicher Moralität selbst unter den Bedingungen sozialer Zerrissenheit Potentiale für die ethische 105
Selbstbehauptung bereithält. Er unterstellt darüber hinaus, daß aus der Naturbestimmtheit des Menschen deutliche Anzeichen für eine integrative Entwicklung des Menschen in der Natur und der Gemeinschaft zu entnehmen sind. Der von normativen und kulturellen Überformungen entblößte Naturzustand zeigt die einzelne Person als ein selbstgenügsames Wesen. Die anspruchsvolle philosophische Fragestellung besteht darin, wie an Individualität, Integrität und Egalität der Einzelnen unter den Bedingungen der Vergesellschaftung festgehalten werden kann. Bei ihrer Beantwortung kommt dem Begriff der Ungleichheit eine wichtige Rolle zu. Von daher erklärt sich der Nachdruck, mit dem Rousseau in seinen frühen Arbeiten der Aufdeckung des Ursprungs gesellschaftlicher Ungleichheiten nachgegangen ist. Er setzt keineswegs voraus, daß Menschen in jeder Hinsicht gleich sind. Es geht ihm lediglich um die Umkehr der Beweislast: Da jede Form gesellschaftlicher Ungleichheit nicht natürlich, also künstlich ist, muß sie eigens begründet und gerechtfertigt werden. Das ursprüngliche Phänomen ist die Gleichheit, das abgeleitete Phänomen ist die Ungleichheit. Soziale Ungleichheit kann nur unter der Bedingung akzeptiert werden, daß sie moralisch und politisch indifferent bleibt und somit die Selbstbestimmung des Einzelnen nicht durchgreifend behindert. Die ethische und politische Aufmerksamkeit hat sich auf den Punkt zu richten, an dem Ungleichheit die Integrität der Person verletzt. Eine solche Verletzung liegt bereits dann vor, wenn Ungleichheit zu Hochachtung auf der einen und Mißachtung auf der anderen Seite führt. In einem solchen Fall verliert die Person die ethische Souveränität. Sie tritt nicht als moralisches Subjekt, sondern nur noch als Objekt von asymmetrischen Anerkennungsverhältnissen auf. Sie wird zur Sache. Rousseau begeht in seinen egalitaristischen Argumentationen zur Natur des Menschen keinen naturalistischen Fehlschluß in dem Sinne, daß er umstandslos von ,ist‘ zu ,soll‘ übergeht – wogegen sich bekanntlich Hume aus guten geltungstheoretischen Gründen verwahrt hätte. Dem Nachweis der komplizierten Vermittlungen von Natur des Menschen und moralischen Verhaltensweisen hat Rousseau größte Anstrengungen gewidmet. Gerade vor dem Hintergrund des in der neueren Metaethik oftmals kurzschlüssig eingebrachten Vorwurfs, daß jede ethische Argumenta106
tion, die Bestimmungen der Natur des Menschen verwendet, einen naturalistischen Fehlschluß begehe, müssen Rousseaus subtile Überlegungen zur Konstellation von menschlicher Natur, Gleichheit und Ungleichheit als gewichtiger Beitrag zum Verhältnis von Anthropologie und Ethik angesehen werden. Diesen Überlegungen zufolge muß jede Ethik ihr Erklärungsziel verfehlen, wenn sie die Natur des Menschen nicht von vornherein in Betracht zieht. Wer es nicht dabei bewenden läßt, die Bestimmungen ,Sein‘ und ,Sollen‘ als unterschiedliche methodische Mittel in geltungstheoretischen Überprüfungsverfahren einzusetzen, sondern sie darüber hinaus einander ausschließenden Bereichen zuordnet, begeht einen ontologischen Fehlschluß. Der ontologische Fehlschluß überhöht den begründungstheoretischen Unterschied zwischen deskriptiven und normativen Sätzen zu einer Aufteilung des Menschen in die Sphären des Seins und des Sollens. Weder Hume noch Rousseau wäre es in den Sinn gekommen, daß man etwas tun soll, ohne zu sein. 2. Mitleid In seiner ethischen Methode greift Rousseau gleichmaßen auf die antike Tugendlehre wie auf die naturalistische Moralpsychologie zurück. Der tugendethische Zugriff richtet sich auf Begriffe wie ‚Großmut‘, ‚Billigkeit‘, ‚Mäßigkeit‘, ‚Menschenliebe‘ und ‚Tapferkeit‘. Es werden aber auch Begriffe berücksichtigt, die nicht direkt der klassischen griechischen Tugendlehre entstammen. Rousseau bezieht sich dabei auf die spätere Stoa und insbesondere auf Seneca. Die moralpsychologischen Bestimmungen bewegen sich dagegen im semantischen Umfeld natürlicher Formen von Selbstverhältnissen. Sie werden durch die Begriffe ‚Mitleid‘ und ‚Gewissen‘ erweitert. Die moralpsychologische Einbettung löst die traditionellen Tugendbegriffe vom Kanon überlieferter Leitbilder. Ihre Funktion wird nicht länger in der Abhängigkeit hergebrachter Wertvorstellungen gesehen, die den Menschen in einen Gegensatz zu sich selbst bringen, indem sie einen Verhaltenskodex einfordern, der ihm äußerlich bleibt. Rousseau zufolge müssen Tugenden aus dem Verständnis der natürlichen Moral heraus begriffen werden. Ihr Sinn ist in sich begründet, nicht etwa in externen Gratifikationen, 107
die Staat oder Kirche gewähren. Der methodische Ertrag der internen Verbindung von Tugendlehre und Moralpsychologie besteht in einer Ethikkonzeption, die moralische Zustände jenseits herkömmlicher Trennungen zwischen dem Selbst und dem Anderen ansetzen kann. Rousseau bewegt sich insofern immer schon innerhalb des moralischen Universums und muß nicht wie Hume eigens nach dem Schritt vom Selbst zum Anderen suchen. Der tief in der Natur des Menschen verankerte Zustand des Mitleids ist das ethische Modell der Selbsterweiterung. Rousseau setzt einen ursprünglichen Zustand von Mitleid gegenüber leidenden Wesen voraus, unter die auch Tiere gerechnet werden. Die besondere moralische Qualität des Mitleids erschließt sich allerdings erst in den Fällen, in denen ihr intentionales Korrelat andere Personen sind. Rousseau glaubt, daß sich Mitleid nur unter negativen Vorzeichen einstellen kann. Wir haben Mitleid mit dem Unglücklichen, den Glücklichen beneiden wir. Das Unglück legt die conditio humana offen: die Verletzlichkeit und Bedürftigkeit. Der Mensch wird nackt und arm geboren, bleibt zeit seines Lebens allen Arten von Schmerz unterworfen und ist dabei immer dem Tod geweiht. Die Anwesenheit des Anderen in unserem moralischen Bewußtsein vollzieht sich mit Hilfe einer Gedankenbewegung, in der uns die Einbildungskraft an die Stelle einer anderer Person versetzt. Die Einbildungskraft erzeugt einen eigentümlichen und komplizierten Zustand, durch den wir nicht für einen anderen leiden, sondern in einem anderen leiden: „[W]ir leiden nicht in uns, sondern in ihm. Es wird also niemand empfindsam, wenn nicht seine Einbildungskraft sich regt und anfängt, ihn aus sich selbst hinauszuversetzen.“ (OC IV 505 f./W III 273) Rousseau identifiziert im Mitleid ein Externalisierungserlebnis. Die ursprüngliche Beziehung auf sich selbst, die den natürlichen Menschen genauso formiert wie den modernen Menschen, verlagert sich in eine andere Person. Das geschieht nicht als abstrakte Vorstellung, sondern als Erlebnis. Weil das Mitleid eine starke moralische Wirkung ausübt, traut ihm Rousseau eine konstitutive soziale Rolle zu. Er nimmt an, daß Mitleid lange Zeit ein natürliches Gegengewicht zum Eigennutz gebildet hat. Es ist das Mitleid, das im Goldenen Zeitalter nach dem Verlassen des Naturzustands noch die wahre Mitte auf108
rechterhält, indem es Eigennutz und Selbstsucht der vergesellschafteten Menschen kompensiert. Auch wenn eigennützige Haltungen sich kulturgeschichtlich schließlich durchgesetzt zu haben scheinen, hat das Mitleid keineswegs an moralischer Kraft eingebüßt. Rousseau sieht im Mitleid nach wie vor die Signatur der Humanität, bei der jede Erforschung der menschlichen Natur anzusetzen hat. In Rousseaus Analysen zum moralischen Zustand des Mitleids drückt sich auf charakteristische Weise der Grundzug seiner Ethik aus, die natürliche Moral zu rekonstruieren und zu rehabilitieren. Ein wichtiger Aspekt der natürlichen Moral ist die Forderung nach Offenheit des Herzens. Sie ist der Nachhall der ursprünglichen Güte des Menschen, die sich praktisch dadurch auszeichnet, daß Innerlichkeit der Einstellung und Äußerlichkeit des Verhaltens miteinander im Einklang stehen. Mit dem zivilisatorischen Rückzug der ursprünglichen Güte verblaßt dieser Einklang. Auf seine Wiederherstellung richten sich Rousseaus ethische Wünsche: „Wie angenehm wäre es, unter uns zu leben, wenn das äußerliche gesetzte Wesen jederzeit das Bild der Beschaffenheit unseres Herzens wäre, wenn Anstand und Tugend wäre, wenn unsere Grundsätze uns zur Richtschnur dienten, wenn wahre Philosophie von dem Titel des Philosophen unzertrennlich wäre!“ (OC III 7/W IV 12 f.) In seiner bedeutenden Untersuchung Rousseau. Eine Welt von Widerständen (Jean-Jacques Rousseau: La transparence et l’obstacle) weist Jean Starobinski dem Lehrstück von der Transparenz des Herzens eine einheitsstiftende Funktion für das Ganze der Philosophie Rousseaus zu: „All die vielen verschiedenartigen Pläne, die sich nur schwer in Übereinstimmung bringen lassen, verbindet doch ein gemeinsamer Zug: ihre einheitliche Absicht, die auf die Erhaltung oder Restitution der gefährdeten Transparenz zielt. In dem leidenschaftlichen Aufruf, den Rousseau an seine Zeitgenossen richtet, mag nichts als die Aufforderung liegen, die Moral des guten Willens und des guten Gewissens zu hegen, doch kann man darin auch die Aufforderung lesen, die Gesellschaft durch wirksames politisches Handeln umzugestalten. Diese Zweideutigkeit ist verwirrend. Unzweideutig aber ist die Weise, in der Rousseau uns vorab dazu aufruft, die Rückkehr zur Transparenz des Herzens zu wollen, für uns und in unserem Leben.“ (Jean Sta109
robinski, a. a. O., S. 26) Starobinski führt am Beispiel des Verhältnisses von moralischem Bewußtsein und beobachtbarem Verhalten Rousseaus Denkbewegung vor, die sich in der Korrespondenz von einzelnen Motiven über die Grenzen von Philosophie und Literatur hinweg als einheitlicher Argumentationszusammenhang äußert. Von dieser Vorgehensweise profitiert Rousseaus Ethik in besonderer Weise. 3. Gewissen Die Ethik Rousseaus erfährt ihre weitere Zuspitzung im Begriff des Gewissens, mit dem sich zentrale Passagen des Emile auseinandersetzen. Der semantischen Einführungssituation nach bezieht er sich auf ein moralisches Evidenzerlebnis. Die Abwesenheit von ausdrücklichen Ableitungsverhältnissen darf aber nicht dazu verleiten, in ihm einen irrationalen Zustand zu sehen. Das Gewissen hat durchaus einen semantischen Gehalt, der sich als Imperativ äußert. Es gebietet oder verbietet und entwickelt motivationale Wirksamkeit. In seinem korrektiven Einfluß auf die Lebensführung hat es die Form praktischen Wissens. Rousseau tritt verbreiteten Annahmen entgegen, daß das Gewissen lediglich ein gesellschaftlich oder ideologisch induziertes Vorurteil sei. Der Umstand, daß sich das Gewissen den hartnäckigen Überredungskünsten oder Besänftigungen widersetzt, zeigt vielmehr deutlich an, daß sich in ihm ein Bewußtseinszustand ausdrückt, den gesellschaftliche Verfremdungen noch nicht erfaßt haben. Weil das Gewissen ethisch noch nicht korrumpiert ist, wird es von Rousseau als Gebot der Natur bezeichnet. Am Gewissen läßt sich zudem ablesen, daß Moralität nicht von dem fortgeschrittenen Verständnis eines ethischen Regelwerks abhängt. Ihre Grundsätze haben sich ,in alle Herzen gegraben‘, und es bedarf insofern keiner umständlichen Vorkehrungen, um sie kennenzulernen. Die natürliche Moral bestreitet den ethischen Diskurs ohne sophistische Vernünfteleien. Ihre Grundsätze machen ,den ganzen schrecklichen Apparat der Philosophie‘ überflüssig, denn „wir können Menschen sein, ohne gelehrt zu sein.“ (OC IV 601/W III 371) Das Gewissen entledigt uns der Verpflichtung, „unser Leben mit dem Studium der Moral zuzubringen, wir haben mit weniger Unkosten einen sichereren Führer in 110
diesem unermeßlichen Labyrinth der menschlichen Meinungen gefunden.“ (OC IV 601/W III 371) Rousseaus Moralphilosophie hat den methodischen Zuschnitt einer naturalistischen Ethik der Autonomie, in deren Zentrum das wechselseitige Bedingungsverhältnis von Freiheit und Gewissen steht. In den Geboten und Einsprüchen des Gewissens äußern sich keineswegs Zwang oder Unfreiheit, sondern die Notwendigkeiten der Freiheit. Das Gewissen rehabilitiert in den Kontexten der Lebensführung die ursprüngliche Güte des Menschen. Weil das gute Gewissen die einseitigen Überbetonungen der auf Konkurrenz und Eigennutz ausgerichteten Einstellungen korrigiert, ist es geeignet, die Lebensführung auf natürliche Weise zu leiten. Das Gewissen betrügt niemals: „es ist der wahre Führer des Menschen, es ist für die Seele, was der Instinkt für den Leib ist; wer ihm folgt, gehorcht der Natur und befürchtet nicht, sich zu verirren.“ (OC IV 595/W III 365 f.) Im Gewissen verbindet sich die ursprüngliche Güte des Menschen mit alltäglichen Motivationslagen. Aufgrund dieser Verbindung kann es gelingen, innerhalb der Alltagserfahrung mit anspruchsvollen Moralitätskonzepten zu operieren, ohne ethischen Entfremdungsverdacht zu erzeugen. Rousseau hat keinen Zweifel daran gelassen, daß der Begriff des Gewissens für seine Ethik nicht nur moralpsychologisch, sondern auch systematisch bedeutsam ist. Gleichwohl kann er nicht umhin, sich in diesem Zusammenhang emphatisch zu äußern: „Gewissen! Gewissen! göttlicher Instinkt, unsterbliche und himmlische Stimme, sicherer Führer eines unwissenden und eingeschränkten, aber intelligenten und freien Wesens, unfehlbarer Richter des Guten und Bösen, der den Menschen Gott ähnlich macht, du bewirkst die Vortrefflichkeit seiner Natur und die Moralität seiner Handlungen; ohne dich empfinde ich nichts in mir, was mich über die Tiere erhebt, als das traurige Vorrecht, von Irrtum zu Irrtum zu taumeln infolge eines Verstandes ohne Richtschnur und einer Vernunft ohne Grundsatz.“ (OC IV 600 f./W III 371) Ungeachtet der stilistischen Emphase hat die Auszeichnung des Gewissens weitreichende anthropologische und ethische Konsequenzen. Im Gewissen zeigt sich der Eintritt in die Dimension der Moralität, die der menschlichen Lebensform in Abgrenzung zu animalischem Leben eine Sonderstellung verleiht. Das Gewissen ist kein gesellschaftlich bedingter 111
Reflex, sondern die Internalisierung eines Systems ethischer Normen. Indem ich seinen Regeln folge, etabliere ich gute Gründe in meiner Lebensführung. Sie ermöglichen mir, meinen unzuträglichen Neigungen zu widerstehen und aus vernünftigen Gründen selbstbestimmt zu handeln. Die guten Gründe, aus denen ich handle, müssen mir als solche nicht transparent sein. Lebenspraktisch sind epistemische Unsicherheiten unvermeidlich. Sie fallen überdies ganz unterschiedlich aus. Mir kann bewußt werden, daß ich dabei bin, etwas Falsches zu tun, ohne über die Gründe orientiert zu sein, warum es falsch ist. Das geschieht häufig in existentiell bedeutungsvollen Wahlsituationen. Ich kann das Gefühl haben, etwas Unrechtes zu tun, ohne daß ich, wie etwa bei Selbsttäuschungen, den fraglichen Sachverhalt vollständig vor Augen habe. In diesen Fällen beeinflußt das Gewissen auf scheinbar grundlose Weise meine Handlungsführung. Es drängt mich zu einer bestimmten Entscheidung, die ich nicht wirklich verstehe, von der ich aber annehme, daß sie richtig ist. In dieser Hinsicht ist das Gewissen ein sonderbarer Zustand. Es entfaltet unabhängig von meiner Einsicht eine Wirksamkeit, die mit guten Gründen meinem Selbstinteresse dient. Auch in der ethisch so bedeutungsvollen Verantwortlichkeitsproblematik mutet Rousseau dem Begriff des Gewissens beträchtliche Begründungslast zu. Weil das Gewissen Personen von den Zwangsläufigkeiten einfacher Neigungen befreit und sie für moralische Gründe empfänglich macht, verfügen sie über die Möglichkeit, aus sich selbst heraus zu handeln. Der Einspruch des Gewissens ist jedoch nicht die zureichende Quelle für moralische Handlungen. Praktisches Wissen von guten Gründen bedeutet noch nicht, daß ich das Gute liebe und ihm jederzeit folge. Moralisches Verhalten bedarf noch zusätzlicher, ernsthafter Anstrengungen seitens der handelnden Personen. Wie schon im Fall der Zurückweisung von Voltaires Klagen über das Erdbeben von Lissabon verwirft Rousseau die Option einer Ausflucht ins Jenseits, die die Ursache menschlichen Fehlverhaltens Gott anlasten will. Der Mensch braucht, um moralisch handeln zu können, keineswegs den Beistand Gottes: „Hat er mir nicht das Gewissen gegeben, das Gute zu lieben, die Vernunft, es zu erkennen, die Freiheit, es zu wählen? Wenn ich das Böse tue, habe ich keine Entschuldigung; ich tue es, weil ich es will.“ (OC 112
IV 605/W III 376) Bei der Zurückweisung der Annahme externer Ursachen menschlichen Fehlverhaltens benennt Rousseau die wesentliche Bestimmung moralischer Handlungen: Freiheit und Gewissen müssen sich mit Vernunft verbinden. Erst mit seiner praktischen Vernunft verfügt der Mensch über den vollen Optionsraum, Gutes oder Böses zu tun. Die bloße Präsenz des Gewissens reicht nicht aus. Man muß es erkennen, um ihm folgen zu können. Die natürliche Moral kann sich nur mit Hilfe der praktischen Vernunft in der Alltagswelt entfalten. Deshalb haben die Handelnden sich dem Erfordernis moralischer Ernsthaftigkeit zu stellen. Wer wirklich tugendhaft sein will, muß einen guten Willen haben. Aus den Begriffen des Gewissens und der praktischen Vernunft entwickelt Rousseau eine Konzeption moralischer Lebensführung, die er zum Abschluß des Emile, am Ende des Erziehungs- und Bildungsprozesses, zusammenfaßt: „Wer ist also der tugendhafte Mensch? Es ist derjenige, der seine Neigungen zu überwinden weiß. Denn alsdann folgt er seiner Vernunft, seinem Gewissen; er tut seine Pflicht, er hält sich in der Ordnung, und nichts kann ihn davon abbringen. Bisher warst du nur zum Scheine frei; du hattest bloß die unsichere Freiheit eines Sklaven, dem man nichts befohlen hat. Jetzt sei in der Tat frei, lerne, dein eigener Herr zu werden, befiehl deinem Herzen (…) und du wirst tugendhaft sein.“ (OC IV 818/W III 591) Rousseaus kurze Formel moralischer Ernsthaftigkeit geht von der Kritik der Neigungen über zu Gewissen, Vernunft und Pflicht. Dieser Übergang vollzieht die Grundlegung der Ethik der Autonomie. Weniger als ein Vierteljahrhundert später wird Kant seine Ethik der Autonomie mit einer ausführlichen systematischen Ausdeutung versehen. Die notwendigen Bausteine finden sich schon in Rousseaus Ratschlägen zur moralischen Bildung: Freiheit ist nicht Abwesenheit von äußerem Zwang, sondern zeigt sich erst in der Pflicht als moralische Selbstbestimmung. Derjenige, der gelernt hat, sein Herz nach Maßgabe moralischer Gründe zu bestimmen, kann als frei gelten. Trotz zuweilen mißverständlicher oder gar widersprüchlicher Formulierungen Rousseaus ist die Metapher der Selbstbestimmung des Herzens der moralischen Erweiterung unserer ursprünglichen Neigungen zuzurechnen. Der Eintritt in die Dimension der Moralität ist kein Sprung in eine andere Wirklichkeit. Die vernünftige 113
Selbstbestimmung geht vielmehr in einem stetigen Prozeß moralischer Bildung aus unseren naturbestimmten Anlagen hervor. Bereits in seinen präsozialen Zuständen muß der Mensch über Dispositionen verfügen, die ihn für moralische Bildung empfänglich machen. Rousseau geht davon aus, daß die ursprüngliche Selbstbehauptung und das Mitleid als die fraglichen Dispositionen angesehen werden können. Vor allem mit dem Mitleid, der Betroffenheit, die sich auf ein Leiden richtet, das nicht das eigene ist, treten reaktive Haltungen auf, die sich gut in moralische Handlungsgründe weiterentwickeln lassen. Rousseaus Überlegungen zur moralischen Selbsterweiterung kommt nicht zuletzt das Verdienst zu, einen zirkelfreien Theorievorschlag zum Ausgang der Moralität aus der Natur zu entwerfen. Die Konzeption der moralischen Selbsterweiterung unterscheidet sich in einem moralpsychologisch überaus bedeutsamen Punkt von der kantischen Ethik der Autonomie. Wo Kant darum bemüht ist, die Pflicht im Konflikt mit Neigungen als immun zu erweisen, versucht Rousseau zu zeigen, daß der Widerstreit zwischen Pflicht und Neigung vom Ansatz her vermeidbar ist. Die Etablierung von moralischen Gründen in der eigenen Lebensführung soll sich als Selbsterweiterung und nicht durch die Überwindung der Neigungen vollziehen. Personen müssen ein nachvollziehbares Interesse an moralischen Handlungen haben. Die Forderung, daß sie in Entscheidungssituationen ihr Selbstinteresse unterdrücken sollten, hat Rousseau für nicht rechtfertigungsfähig gehalten. Vor dem Hintergrund der Konzeption der moralischen Selbsterweiterung ist auch die herausragende Bedeutung erklärlich, die Rousseau dem Gewissensbegriff einräumt. Denn das Gewissen enthält Elemente, die auf das engste mit rationalen und moralischen Komponenten der menschlichen Lebensform verbunden sind. Es repräsentiert eine eigenständige Form der Beurteilung, die uns das eine lieben und das andere hassen läßt. Aber ohne Vernunft ist es nicht imstande, sich zu entwickeln. Mit der Vernunft begegnet uns das Gute und Böse. Um den Sachverhalt, daß das Gewissen weder eine durch Sozialisation entstandene Konvention noch eine Erfindung des Eigennutzes ist, ausdrücken zu können, greift Rousseau auf die traditionelle Bestimmung eines angeborenen Prinzips zurück. Er will damit nicht 114
an alte metaphysische Modelle anknüpfen, sondern das Gewissen mit einem Realitätssinn versehen, der gegenüber gesellschaftlichen oder kulturellen Relativierungen immun ist: „Es ruht also im Grunde der Seele ein angeborenes Prinzip der Gerechtigkeit und Tugend, nach welchem wir, ungeachtet unserer eigenen Grundregeln, unsere und fremde Handlungen als gut oder böse beurteilen, und diesem Prinzip gebe ich den Namen Gewissen.“ (OC IV 598/W III 368) Rousseau weist das Gewissen als Bewußtseinszustand und als angeborenes, nicht-relativierbares Prinzip praktischer Vernunft aus. Das Zentrum seiner Ethik wird insofern von einem Faktum der Moralität beherrscht, das sich gleichermaßen aus deskriptiven wie normativen Elementen zusammensetzt. Es ist daher der Begriff des Gewissens, aus dem die für Rousseaus Ethik eigentümliche Verbindung von Internalismus und moralischem Realismus hervorgeht. Der moralische Diskurs, die bewußte Unterscheidung zwischen gut und böse, ist gegenüber den moralischen Gefühlen das zeitlich und semantisch Spätere. Kontingenz der Natur- und Kulturgeschichte auf der einen Seite und anthropologische Universalien – im Sinne struktureller Gemeinsamkeiten der Vielfalt menschlichen Lebens – auf der anderen Seite bilden jedoch keinen Widerspruch. Rousseau spricht in diesem Zusammenhang von Urquellen der menschlichen Seele, die die menschliche Lebensform insgesamt kennzeichnen. Solche Urquellen sind die Selbstbehauptung und das Mitleid. Sie sind bereits auf der Ebene des natürlichen Menschen anzutreffen und stellen in ihrer Gegenläufigkeit einen Ausgleich zwischen Selbstbezug und Fremdbezug her. Aber erst das System von wechselseitigen Verantwortungen und Pflichten verbindet Personen miteinander und schafft eine moralische Ordnung: „Solange seine Empfindsamkeit auf eine einzelne Person beschränkt bleibt, ist nichts Sittliches in seinen Handlungen; erst wenn sie anfängt sich über ihn hinaus zu erstrecken, entwickelt er zunächst Gefühle und darauf die Begriffe des Guten und Bösen, die ihn wahrhaftig zum Menschen und zum festen Bestandteil seiner Art machen.“ (OC IV 501/W III 268 f.) Das Gewissen ist aufgrund seiner Konstitutionsgeschichte der Mittelpunkt der moralischen Dimension menschlicher Existenz. Zwar entwickelt sich moralisches Bewußtsein erst innerhalb der gesellschaftlichen Verständigungsverhältnisse, es ist aber keineswegs eine Konvention 115
oder ein bloßes Sozialisationsprodukt. Für Rousseau ist das Gewissen ein moralischer Zustand, der eine Wirklichkeit offenbart, die größer ist als die einzelne Person. Deshalb spricht er vom Gewissen als der Stimme der unverstellten Natur.
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VII. Bildung und Erziehung 1. Der Gang der Natur Auf die kulturkritischen Diagnosen seiner Diskurse reagiert Rousseau im Emile und im Gesellschaftsvertrag mit zwei großen Entwürfen zur personalen und gesellschaftlichen Selbstbestimmung. Ihre Ausführung finden sie zum einen in seiner naturalistischen Bildungsphilosophie und zum anderen in seiner konstruktiven politischen Philosophie. Anders als zuweilen unterstellt wird, stellen die Entwürfe keinen Bruch mit seiner bisherigen Philosophie dar. Rousseau entschließt sich bei seiner Ablehnung moderner Zivilisationsformen nur zu gelegentlichen Abmilderungen früherer Zuspitzungen. Die generelle Argumentationslinie bleibt erhalten. Am Anfang des Emile steht eine berühmte These, die keinen Zweifel darüber aufkommen läßt, daß seine Kulturkritik nichts an ihrer Grundsätzlichkeit eingebüßt hat: „Alles ist gut, wenn es aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt; alles entartet unter den Händen des Menschen.“ (OC IV 245/W III 9) Der kulturkritische Ausgangspunkt präformiert das konstruktive Projekt. Demnach gibt es keinen politischen Spielraum für Reformen, die sich aus der Analyse bestehender Verhältnisse ergeben. Wer sich von den korrumpierenden gesellschaftlichen Einflüssen befreien will, muß sich ihnen entweder entziehen oder die Form des gemeinschaftlichen Zusammenlebens grundsätzlich umgestalten. Im Emile wird der ersten Option und im Gesellschaftsvertrag der zweiten Option nachgegangen. Die Eingangsthese des Emile zielt auf die Voraussetzungen, von denen bildungsphilosophische Umgestaltungen auszugehen haben. Der Mensch wird dafür verantwortlich gemacht, den natürlichen Ablauf der ethischen, kulturellen und ökologischen Prozesse durcheinanderzubringen: „Er vermischt und vermengt die Himmelsgegenden, die Elemente, die Jahreszeiten. Er verstümmelt seinen Hund, sein Pferd, seinen Sklaven. Er kehrt alles um, er verunstaltet alles.“ (OC IV 245/W III 9) Die mit der Einführung der Ungleichheit einhergehenden ethischen Hierarchien verfügen nicht nur über das Potential, die Kultur auf Abwege zu bringen, sie wirken sich darüber hinaus auch noch als ökologische Stör117
faktoren aus, die sogar den Bereich der menschlichen Lebenswelt überschreiten. Weil die Verkehrung der Lebensverhältnisse nicht von der Natur aus determiniert ist, können prinzipiell andere Entwicklungsmöglichkeiten unterstellt werden. In der Abwehr des Gedankens unveränderlicher Zwangsläufigkeiten ist der optimistische Sinn der Aussage begründet, das alles gut sei, was aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt. Der Mensch entgeht den gesellschaftlichen Einflüssen nicht. Hat er einmal den Naturzustand verlassen, ist er fest in soziale Einrichtungen eingebunden. Zur Korrektur der zivilisatorischen und kulturellen Abwege bieten allenfalls die frühesten Lebensabschnitte des Menschen einen Ansatzpunkt. Jede weitere zeitliche Verzögerung setzt ihn stärker den gesellschaftlichen Manipulationen aus. Ähnlich wie bei der Entstehung der Ungleichheit unter den Menschen bewirken auch in der frühesten Kindheit vorderhand harmlose Anlässe grundsätzliche Weichenstellungen für die Lebensverhältnisse: „Die ersten Tränen der Kinder sind Bitten. Wenn man nicht acht darauf gibt, so werden sie bald Befehle. Es fängt damit an, daß sie sich beistehen lassen, und es endet damit, daß sie sich bedienen lassen. Aus ihrer eigenen Schwäche also, aus der anfänglich die Vorstellung ihrer Abhängigkeit entspringt, entsteht darauf der Begriff der Befehlsgewalt und der Herrschaft.“ (OC IV 287/W III 52) Die Manipulation geht aus unerkannten Abhängigkeiten hervor. Die ursprüngliche Verkehrung ist kein Akt der Unterdrückung, sondern ein Nachgeben gegenüber der Schwäche. Was den Anschein der harmlosen Übertreibung elterlicher Liebe annimmt, ist in Wirklichkeit die Grundlegung einer falschen Bedürfnisökonomie. Die Schwäche des Kindes wächst sich in unbedachten Erziehungssituationen zu einer folgenreichen Verkehrung aus, die alle betrifft: das Kind, die Eltern, die Gesellschaft. Wenn die Bedürfnisse des Kindes sich nicht länger im engen Umkreis seiner Möglichkeiten halten lassen, weiten sie sich mehr oder weniger widerstandslos aus. Die Ausweitung führt zu einem System externer Abhängigkeiten, das die kindliche Entwicklung erratisch werden läßt. Natürliche Einstellungen und Fähigkeiten werden nicht gestärkt, sondern in eine Vielzahl von unbegriffenen Neigungen aufgelöst. Die Zuneigung der Eltern wendet sich so gegen das Kind: „Indem sie in ihm mehr Bedürfnisse wecken, als es hat, 118
helfen sie seiner Schwachheit nicht ab, sondern vermehren sie. Sie vermehren sie noch dadurch, daß sie von ihm fordern, was die Natur nicht fordert, daß sie ihrem Willen die geringe Kraft unterwerfen, die es hat, den seinen auszuführen, daß sie auf die eine oder andere Art die gegenseitige Abhängigkeit, die durch seine Schwachheit und ihre Zuneigung gegeben ist, in Sklaverei verwandeln.“ (OC IV 310/W III 75) Der Prozeß fehlgeleiteter Erziehung, der die ethische Entwicklung des Kindes von Anbeginn behindert, hat einen allzu menschlichen Ursprung. Er besteht in einer Verkettung von Nachgiebigkeit und Zuneigung, die aber auf eine dramatische Zuspitzung zuläuft: Am Anfang steht die liebevolle Nachsicht gegenüber den kindlichen Schwächen, und am Ende haben sich die Verstrickungen zwanghafter gesellschaftlicher Abhängigkeiten und falscher Bedürfnisse eingestellt. Auf diesen Sachverhalt will Rousseau mit dem Emile reagieren. Es ist Rousseaus bildungsphilosophische Grundüberzeugung, daß Erziehung ein Mittel der Bildung ist und nicht umgekehrt. Allein im Rahmen einer umfassenden Persönlichkeitsentwicklung ist Erziehung mit Freiheit vereinbar. Die Grundlagen der Erziehung sind nicht von konstruktiver oder konventioneller Art, sie haben sich vielmehr an dem „Gang der Natur [marche de la nature]“ (OC IV 242/W III 6) zu orientieren. Diese Ausrichtung zielt nicht auf inhaltliche Festlegungen. Angestrebt wird die allmähliche Entfaltung ursprünglicher Fähigkeiten und Eigenschaften, die die integrative Einheit der Person auch in den komplexen Kontexten des sozialen Raums wahrt. Der Gang der Natur hat die Funktion, der Hektik kultureller Beeinflussungen und Anerkennungshierarchien die Langsamkeit der Selbstgenügsamkeit entgegenzustellen. Sie enthüllt den Schein der Attraktionen des Neuen, die gerade das nicht einlösen können, was sie vorspiegeln, nämlich von wirklichem Interesse für die einzelne Person zu sein. Der Sinn der Bildung wird nicht von fremder Anerkennung gestiftet, er liegt in dem, was der Einzelne immer schon mitbringt. Für die Bedeutung intrinsischer Eigenschaften und Fähigkeiten in Bildungsprozessen steht bei Rousseau der Begriff der menschlichen Natur ein. Der systematische Rekurs auf den Begriff der menschlichen Natur unterscheidet Rousseau von den herkömmlichen bildungsphilosophischen Ansätzen. Die Eigentümlichkeit seines Zugriffs 119
hebt er ausdrücklich hervor: „Ich sehe die Dinge nicht so wie die anderen Menschen; das hat man mir schon lange vorgeworfen.“ (OC IV 242/W III 6) Unangesehen der Stilisierung der eigenen Ausnahmestellung sind die bildungsphilosophischen Innovationen Rousseaus unstrittig. Sie bestehen nicht zuletzt darin, Kindheit, Erziehung und Bildung unter einem völlig neuen Blickwinkel betrachtet zu haben. Zu Beginn des Emile stellt er heraus, mit seinen bildungsphilosophischen Untersuchungen Neuland betreten zu haben. Er setzt sich dabei insbesondere von John Locke ab. Dessen Essay Concerning Human Understanding hält er für ein herausragendes philosophisches Werk, den erkenntnistheoretischen und bildungsphilosophischen Leitlinien des Ansatzes will er aber nicht folgen. Gegen die Vorschläge zur Kindeserziehung in Some Thoughts Concerning Education erhebt er entschiedene Vorbehalte. Er widerspricht Lockes pädagogischem Grundsatz, daß man mit Kindern früh räsonieren solle. Gegen diese Annahme macht er den einfachen Einwand geltend, daß Kinder gar nicht erzogen werden müßten, wenn sie sich schon vernünftig verhalten könnten. Rousseau geht mit dem Ansatz Lockes nicht immer angemessen um, zumal dieser eine Reihe von Vorschlägen macht, die Sensibilität gegenüber der besonderen Erziehungssituation von Kindern erkennen lassen. Beispielsweise spricht er sich gegen Bestrafungen und Belohnungen als Mittel der Erziehung aus. Rousseau kann aber nicht ganz zu Unrecht darauf verweisen, daß Lockes Ansatz auf fragwürdige Praktiken hinausläuft. Beispielsweise schlägt dieser vor, die geistige der körperlichen Erziehung vorhergehen zu lassen. Rousseau brandmarkt den Vorschlag als die Methode des Aberglaubens, Vorurteils und Irrtums. Schließlich lerne man auch nicht dadurch zu sehen, daß man sich die Augen verbindet. Es ist jedoch nicht zu übersehen, daß Locke als Adressat für eine Materialismuskritik einstehen muß, die sich eigentlich gegen die philosophes wendet. Er dürfte Helvétius im Sinn gehabt haben, der einen bildungsphilosophischen Sensualismus vertritt, nach dem Erziehung eine soziale Technik ist, die ausschließlich auf artifiziellen Konventionen beruht. Trotz vieler eindeutiger Klarstellungen und Abgrenzungen ist Rousseaus neue Sichtweise damals wie heute Anlaß für zahlreiche Mißverständnisse. Das dürfte damit zusammenhängen, daß der 120
systematische und konstruktive Zugriff nicht hinreichende Beachtung findet. Emile ist nicht die künstlerische Ausgestaltung eines Kindes aus Fleisch und Blut, und der Emile stellt kein pädagogisches Regelwerk dar. Seine bildungstheoretische Methode ist durchgängig konstruktiv. Die Erziehungssituation entspricht nicht tatsächlichen Verhältnissen im sozialen Raum. Rousseau operiert mit wenigen sozialen Variablen. Insofern haben die Ausführungen im Emile weitgehend den Charakter eines Gedankenexperiments, das von den konkreten Lebensumständen im sozialen Raum absieht. In dieser Hinsicht teilt Rousseaus Bildungsphilosophie Strukturmerkmale mit neueren kontraktualistischen Ansätzen. Die Voraussetzung eines weitgehend konturlosen sozialen Raums dient aber nicht zur Vorbereitung einer ursprünglichen Wahlsituation, sondern zur Isolierung der grundlegenden Elemente und Stationen eines Bildungsprozesses, der sich entfaltet und nicht von außen gesteuert wird. Obwohl Rousseau zu etlichen Mißverständnissen geradezu eingeladen hat, kann man ihm nicht vorwerfen, auf die methodischen Eigentümlichkeiten seines bildungsphilosophischen Ansatzes nicht aufmerksam gemacht zu haben. Er unterscheidet ausdrücklich zwischen dem konzeptionellen Leitbild und den kontextabhängigen Ausführungsbestimmungen der Erziehung. Während die Grundlagen der Bildung durch das Leitbild prinzipiell festgelegt sind, müssen die jeweiligen praktischen Umsetzungen an die personalen und kulturellen Bedingungen angepaßt werden. Bereits im Vorwort des Emile weist er mit Nachdruck darauf hin, daß seine bildungsphilosophischen Intentionen durchaus verschiedene Anwendungsmethoden zulassen. Bestimmte Erziehungsmodelle können in der Schweiz praktikabel, aber in Frankreich undurchführbar sein: „Die mehr oder weniger große Leichtigkeit der Ausführung hängt von tausenderlei Umständen ab, die unmöglich anders zu bestimmen sind als in einer besonderen Anwendung der Methode auf dieses oder jenes Land, auf diesen oder jenen Stand.“ (OC IV 243/W III 7) Aufgrund seiner methodischen Vorgaben ist der Emile als ein systematisches Werk zu betrachten. Würde man die Erziehungssituation zwischen einem Einzelkind und einem ihm sich ausschließlich widmenden Lehrer verallgemeinern, liefe das bestenfalls auf ein Modell für privilegierte aristokratische Kinder hinaus. Der Briefroman Julie enthält Hinweise auf eine 121
Erziehung im sozialen Umfeld. Aber auch hier orientiert sich Rousseau an günstigen Ausnahmesituationen, aus denen keine konkreten Erziehungslehren gewonnen werden können. Rousseaus bildungsphilosophischer Ansatz ist durch den Grundzug seiner Philosophie gekennzeichnet, deskriptive und normative Bestimmungen an dem richtigen Naturverständnis auszurichten. Hier folgt er ersichtlich einer stoischen Tradition. Andererseits ist bemerkenswert, daß im ersten Buch des Emile Platons Politeia als paradigmatische Schrift für die öffentliche Erziehung ausgewiesen wird: „Will man einen Begriff von der öffentlichen Erziehung haben? Man lese Platos Staat. Es ist kein politisches Werk, wie diejenigen denken, die Bücher nach ihren Titeln beurteilen; es ist die schönste Abhandlung von der Erziehung, die jemals geschrieben wurde.“ (OC IV 250/W III 14) Rousseau läßt sich dabei von einer Auslegung der Politeia leiten, die sich auf den gerechtigkeitstheoretischen Gleichschritt von öffentlicher Erziehung und moralischer Bildung des Einzelnen konzentriert. Vorgaben für seinen bildungsphilosophischen Ansatz finden sich nicht zuletzt im Höhlengleichnis der Politeia, in dem eine Differenzierung zwischen wahrer Bildung und Unbildung vorgenommen und der Übergang zur wahren Bildung als eine grundsätzliche Wende beschrieben wird. Das Lehrstück der Philosophie Rousseaus, die Lehre von der natürlichen Güte des Menschen, bleibt auch für seinen Bildungsbegriff bestimmend. Er läßt sich auch nicht davon beirren, daß sich die natürliche Güte in den alltäglichen Lebenssituationen selten zeigt. Einen gewichtigen Grund für diesen Sachverhalt sieht er in der falschen Erziehung des Menschen. Sie bringt ihn in ein falsches Verhältnis zu sich, den Dingen und anderen Lebewesen. Dieses Mißverhältnis ist der ursprüngliche moralische Abfall, nicht etwa die Erbsünde. Der Mensch handelt böse, weil er nicht auf der Höhe seiner ethischen und natürlichen Eigenschaften lebt. Das Böse ist für Rousseau nicht Ausdruck menschlicher Freiheit, sondern ein Verhalten, das in der Schwäche der Einzelnen begründet ist: „Alle Bosheit kommt von der Schwachheit.“ (OC IV 288/W III 52 f.) Weil die Schwäche des Menschen seinen Ursprung im falschen Umgang mit den Neigungen und Bedürfnissen während der Kindheit hat, empfiehlt Rousseau einen vorübergehenden Paternalismus. Bei der Vereinbarkeit von Egalitarismus 122
und Paternalismus kann er auf Locke zurückgreifen, für den es unstrittig ist, daß wir lernen müssen, mit unserer Freiheit und Vernunftbegabung umgehen zu können. Solange wir dazu nicht imstande sind, widerspricht die Unterwerfung unter die Autorität der Eltern keineswegs der ursprünglichen Freiheit und Gleichheit der Menschen. Am Ende des Erziehungs- und Bildungsprozesses muß eine Einheit von Können und Wollen stehen. Es ist für den Menschen unmöglich, ein glückliches Leben zu führen, wenn seine Fähigkeiten und sein Wille nicht zur Deckung gebracht werden können. Glück ist kein emphatischer Zustand, sondern stellt sich durch die Vermeidung unglücklicher Zustände ein: „Der Glücklichste ist derjenige, welcher am wenigsten Beschwerden leidet; der Elendeste ist der, welcher am wenigsten Vergnügen empfindet.“ (OC IV 303/W III 68) Die Einheit von Können und Wollen ist zwar keine zureichende Bedingung von Glück, das Unglück wird sich aber zwangsläufig einstellen, wenn sie auseinandertreten. Mit der zurückhaltenden Glücksformel reagiert Rousseau auf den Sachverhalt, daß die Menschen ihr Leben bislang noch unter durchgängig entfremdeten Bedingungen führen müssen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich der Emile vom Gesellschaftsvertrag. 2. Die Entdeckung der Kindheit Rousseaus Bildungsphilosophie setzt bei der Eigenheit der Person an. Die Besonderheit einer Person ist ethisch anspruchsvoll und fordert wechselseitige Anerkennungsverhältnisse ein, die sich grundsätzlich unter den Bedingungen umfassender Gleichheit zu vollziehen haben. Es gehört zu Rousseaus folgenreichsten Einsichten, erkannt zu haben, daß der Anerkennungsbegriff, der sich nur auf Personen zu richten scheint, umfassender gedacht werden muß. Über eine eigene Entwicklung verfügen nämlich nicht nur die jeweiligen Personen, sondern auch die jeweiligen Abschnitte ihres Lebens. Diese Vorgabe führt schließlich zur Anerkennung der Kindheit als einer eigenständigen und in sich wertvollen Lebensphase. Die Entdeckung der moralischen und lebensgeschichtlichen Bedeutung der Kindheit verdankt sich der engen Verflechtung des Individualitätsgedankens mit einer egalitaristischen Ausdeutung 123
des Anerkennungsbegriffs. Das richtige Verständnis der Anerkennungsverhältnisse macht die epistemischen, moralischen und ästhetischen Eigenheiten der Kindheit offenkundig. Die Person ist im Verlauf ihres Lebens zwar dem Wesen nach dieselbe, aber die psychischen und ethischen Umstände wechseln mit den jeweiligen Lebensabschnitten, die über eigene Antriebe verfügen und immer wieder neue Aspekte personaler Existenz zum Ausdruck bringen. Das Verkennen dieses Sachverhaltes führt zu dem pädagogischen Fehlschluß der Verwechslung von Kind und Erwachsenem. Er ist der Grund für die vielen falschen Vorstellungen, die mit der Kindeserziehung verbunden werden. Es wird zu wenig Mühe darauf verwandt, herauszufinden, was Kinder wirklich begreifen und lernen können. Viele erzieherische Ratschläge zielen nur auf den vermeintlichen Erwachsenen im Kinde: „Man kennt die Kindheit nicht; mit den falschen Vorstellungen, die man davon hat, verirrt man sich um so mehr, je weiter man geht. Die Weisesten halten sich an das, was die Menschen vor allem wissen müssen, ohne zu bedenken, was die Kinder zu lernen imstande sind. Sie suchen stets den Erwachsenen im Kinde und denken nicht an das, was es ist, bevor es erwachsen wird.“ (OC IV 241 f./W III 6) Kinder haben ihre eigene Art zu sehen, zu denken und zu empfinden. Der besondere Charakter der Kindheit erschließt sich nicht vom Standpunkt reifer Überlegung. Die Welt der Kindheit läßt sich nicht einmal ansatzweise in die Welt der Erwachsenen übersetzen. Dieser Sachverhalt ist die Grenze jeder Pädagogik, die durch keine geschickten Erziehungsstrategien überwunden werden kann. Die Einsicht in die epistemische Irreduzibilität der Kindheit hat Rousseau in den prägnanten Satz zusammengefaßt: „Keiner von uns ist ein so großer Philosoph, daß er sich an die Stelle eines Kindes versetzen könnte.“ (OC IV 355/W III 120) Der pädagogische Fehlschluß, im Kinde nur den Erwachsenen zu suchen, hat auch Folgen für die moralische Bildung. Die ursprünglichen Erziehungssituationen wirken sich nämlich im guten wie im schlechten auf das ganze Leben der Person aus. Deshalb ist es von entscheidender Bedeutung für die Entwicklung einer Person, daß in der Kindheit die richtigen ethischen Grundlagen gelegt werden. Diesen Sachverhalt überträgt Rousseau in eine Erziehungsregel: „Man verlängere während der Jugend die guten Gewohnheiten der Kindheit, und wenn Ihr Zögling das ist, was er 124
sein soll, so sorgen Sie dafür, daß er zu allen Zeiten derselbe bleibt. Dies ist die letzte Vollkommenheit, die Sie Ihrem Werk noch zu geben haben.“ (OC IV 799/W III 572) Moralische Bildung gelingt danach als Verlängerung des guten Lebens der Kindheit in die wechselnden Umstände der nachfolgenden Lebensabschnitte. Aus zeitlogischen Gründen können nur in der Kindheit die Grundlagen für ein glückliches Leben gelegt werden. Das moralische Potential der Kindheit kommt nicht zur angemessenen Entfaltung, wenn es nach Maßgabe der räsonierenden Ethik der Erwachsenen geformt wird. Es ist für die moralische Bildung unerläßlich, in den Kindern die Kindheit reifen zu lassen und sie nicht bloß als schnell zu überbrückende Übergangsphase zur Jugend und zum Erwachsenenalter zu betrachten. Als angemessenen erzieherischen Umgang mit dem Eigensinn der Kindheit empfiehlt Rousseau die Wiederentdeckung der Langsamkeit. Die wichtigste und die nützlichste Regel der ganzen Erziehung besagt nicht, Zeit zu gewinnen, sondern Zeit zu verlieren. Die Kinder dürfen nicht in die hektische Welt der Erwachsenen herübergezogen werden. Solche Bemühungen stehen schon immer im Zeichen von vermeintlich reifen Überlegungen zu den wichtigen Dingen des Lebens, die oftmals von nicht durchdachten Anerkennungen und verkehrten Zielsetzungen wie Ehrgeiz, Eitelkeit und Konkurrenz beherrscht werden. An die Stelle von Ausrichtungen an den Zwängen des gesellschaftlichen Scheins muß eine Erziehung treten, die den Kindern so viel Zeit wie möglich gewährt, jene kindlichen Eigenheiten entwickeln zu können, die vom Standpunkt des Erwachsenen unnütz erscheinen mögen. 3. Die negative Erziehung Bildung ist für Rousseau ein Entwicklungsprozeß, der verschiedene Phasen aufweist, die über jeweils eigentümliche Kennzeichen verfügen. Er unterscheidet drei Formen der Erziehung, die in sukzessiver Abfolge den Bildungsprozeß strukturieren: „Alles, was wir bei unserer Geburt nicht haben und was wir brauchen, wenn wir groß sind, wird uns durch die Erziehung gegeben. Diese Erziehung erhalten wir von der Natur oder von den Menschen oder von den Dingen.“ (OC IV 247/W III 11) Die Erziehung der Natur zeigt sich in den naturbestimmten Eigenschaften und Fä125
higkeiten eines Menschen. Diese Phase ist durch die weitgehende Abwesenheit von moralischen und sozialen Komponenten gekennzeichnet. Auf die Art der naturbestimmten Entwicklung hat der Mensch keinerlei Einfluß. Er kann mit ihr angemessen umgehen, er ist aber nicht imstande, sie nach seinen Wünschen zu formen. Bei der Erziehung durch die Gegenstände zeigen sich erste Bereiche, in denen der Mensch nicht völlig von den Gegebenheiten abhängig ist. Indem er lernt, mit den Dingen umzugehen, kann er auf sie einwirken und sie zumindest teilweise nach seinem Plan gestalten. Mit der Erziehung durch den Menschen eröffnet sich die Dimension der Kultur, die die moralische Präsenz des Anderen genauso erschließt wie das eigene moralische Selbstverständnis. Der Durchgang von der Erziehung durch die Natur über die Erziehung durch die Dinge bis hin zur Erziehung durch den Menschen ist im günstigen Fall ein allmählicher Abbau der externen Abhängigkeiten des Menschen. In diesem Prozeß zeigt sich die unumgängliche Entfaltung des Menschen, der in seiner bloßen Naturbestimmtheit nicht verbleiben kann und sich in die Dimension der Kultur erweitern muß. Bei aller Emphase für den Gang der Natur läßt Rousseau keinen Zweifel darüber aufkommen, daß der Mensch ein kulturelles Wesen ist. Er ist es aber eben nicht von Natur aus. Deshalb bedarf er der richtigen Erziehung, um das zu werden, was er sein kann. Rousseau versäumt nicht, auf die besondere Rolle der technischen Aneignung der Natur hinzuweisen. Für diesen Problemkomplex steht die Erziehung durch die Dinge ein. Gelingen kann die Erziehung nur, wenn die verschiedenen Strukturen der Bildung angemessen ausgeformt werden und in einem integrativen Verhältnis zueinander stehen. Nur so können die unübersehbaren Defizite ausgeglichen werden, denen sich der Mensch als bloßes Naturwesen gegenüber sieht. „Wir werden schwach geboren, wir brauchen Kraft; wir werden von allem entblößt geboren, wir brauchen Beistand; wir werden dumm geboren, wir brauchen Verstand.“ (OC IV 247/W III 10 f.) Der Grundzug von Rousseaus Ansatz besteht in der Entwicklung von der natürlichen Güte des Menschen zur Bildung von Humanität, in der Gefühl und Vernunft unauflöslich miteinander verschränkt sind. Um den lebensgeschichtlichen Weg von der natürlichen Güte zur Humanität zu gewährleisten, wird die Metho126
de der negativen Erziehung aufgeboten, deren Voraussetzung ein angemessenes Verständnis der menschlichen Natur ist. Die negative Erziehung ist die pädagogische Einlösung des Leitbilds der natürlichen Bildung, durch die das Werk der Natur vollendet werden soll. Es richtet sich sowohl gegen die Anpassung an herrschende Konventionen wie gegen Gängelungen durch staatliche oder klerikale Autorität. Solche Ausrichtungen und Beeinflussungen sind der Natur des Menschen äußerlich und bedrohen seine Freiheit. Aufgrund der Besonderheit der Kindheit und ihrer engen Verbindung mit der natürlichen Güte des Menschen kann die Methode der negativen Erziehung nur in einer passiven Lehrmethode bestehen: „Die erste Erziehung soll also bloß negativ sein. Sie besteht nicht darin, daß man die Tugend und Wahrheit lehre, sondern das Herz vor dem Laster und den Verstand vor dem Irrtum bewahre.“ (OC IV 323/W III 88) Erziehung ist keine belehrende Wissensvermittlung. Es geht vielmehr darum, den Gang der Natur zu unterstützen und auf die Ansteuerung vorgefaßter Ziele zu verzichten. Die erzieherischen Anstrengungen haben sich allein darauf zu richten, gravierende Abweichungen der natürlichen Bildung zu vermeiden. Die Irrtümer, vor denen die Kinder bewahrt werden müssen, betreffen lediglich die Beurteilung der eigenen Kräfte und Verhaltensoptionen. Die negative Erziehung richtet sich auf die Entwicklung der Fähigkeiten und Eigenschaften des Kindes, auf die es bei der Selbstentfaltung der eigenen Individualität angewiesen ist. Das Kind darf nicht einfach über vorgegebene Erkenntnisse belehrt werden. Es muß vielmehr in den Stand versetzt werden, im Verlauf seiner Bildung selbst zu erkennen, was wahr, gut und schön ist. Rousseau bemüht sich um die Bewahrung der ersten Regungen der Natur. Weil sie nicht ohne weiteres zugänglich sind, muß ein Verfahren pädagogischer Manipulation erdacht werden, mit dem Szenarien einer künstlich präparierten Natürlichkeit konstruiert werden können. Dabei soll sich der Erzieher durchgängig von dem leiten lassen, was dem Kind als Kind zuträglich ist. Kein Paternalismus darf diesen Gesichtspunkt übersehen: „Keiner hat das Recht, auch der Vater nicht, dem Kinde etwas zu befehlen, was ihm zu nichts gut ist.“ (OC IV 310/W III 75) Wie in anderen Lebensphasen geht es auch in der Kindheit darum, niemandem etwas 127
aufzuzwingen, was gegen seine Interessen ist. Beim Selbstinteresse des Kindes ist darüber hinaus in Rechnung zu stellen, daß es grundsätzlich anders verfaßt ist als das einer voll entwickelten Person. Es liegt nicht in seinem Selbstinteresse, schon jetzt Vorkehrungen unterworfen zu sein, die auf vermeintliche Vorteile im Erwachsenenleben abzielen. Der Paternalismus der negativen Erziehung verliert seine Berechtigung, wenn die Kinder den Zustand unvollkommener Freiheit, in dem die Bedürfnisse die Kräfte übersteigen, verlassen. In der Kindheit ist dieser Zustand eine natürliche Phase der menschlichen Entwicklung. Er kann aber auch ein ganzes Leben negativ bestimmen. Es ist Rousseaus Überzeugung, daß die unvollkommene Freiheit in modernen Zivilisationen schon zur Regel geworden ist. Sie schafft Bedingungen, die einen Ausgleich zwischen Fähigkeiten und Bedürfnissen weder in ökonomischer noch in sozialpsychologischer Hinsicht zulassen. In vielen ökonomisch privilegierten Bereichen sind die vorherrschenden Lebensweisen von denen verwöhnter und verzogener Kinder kaum zu unterscheiden: „Aber was sind diese Menschen anderes als durch die Erziehung verdorbene Kinder?“ (OC IV 320/W III 84) Rousseau sieht in solchen Menschen das Produkt der falschen Erziehung. Bei der Erziehung muß zudem auf zwei Arten von Abhängigkeiten geachtet werden: auf die Abhängigkeit von den Dingen der Natur und auf die Abhängigkeit von den Menschen. Während die Abhängigkeit von der Natur moralitätsindifferent ist, erzeugen die Abhängigkeiten von den Menschen eine moralische Welt. Sie ist der Ort, an dem sich Erfolg oder Mißerfolg der Bildung ablesen läßt: „Es gibt zweierlei Abhängigkeiten: die von den Dingen, die der Natur zugehört, und die von den Menschen, die der Gesellschaft entspringt. Da die Abhängigkeit von den Dingen außerhalb der Moral steht, schadet sie der Freiheit nicht und gebiert keine Laster. Die Abhängigkeit von den Menschen, welche ohne Ordnung ist, gebiert sie alle, und durch sie verderben der Herr und der Knecht einander gegenseitig.“ (OC IV 311/W III 75 f.) Rousseau stellt unmißverständlich heraus, daß es unter den Bedingungen einer mißlungenen moralischen Bildung nur Verlierer gibt. Es mögen die Reichen und Privilegierten zwar von der Ungleichheit unter den Menschen ökonomisch profitieren. In ethischer Hinsicht sind sie aber genauso korrumpiert wie die Be128
nachteiligten in den sozialen Hierarchien. Im Gesellschaftsvertrag wird ein konzeptioneller Ausweg vorgestellt, mit dem die Abhängigkeits- und Anerkennungsverhältnisse ethisch neu geordnet werden. Das Resultat der Neuordnung sind Verhältnisse, die auf einer höheren Ebene politische Gesetze wie Gesetze der Natur erscheinen lassen (siehe Abschnitt VIII. 1). In der negativen Erziehung geht es darum, mit dem schweren Joch der Notwendigkeiten, das auf jedem endlichen Wesen liegt, umgehen zu lernen. Der Erzieher ordnet die Dinge auf künstliche Weise für eine natürliche Erziehung, darin liegt das Paradoxale von Rousseaus bildungsphilosophischem Ansatz. Es ist die Absicht dieses Arrangements, freiwillige Zustimmung zum Erziehungsprozeß zu erzielen. In einer fragwürdigen Wendung spricht Rousseau davon, daß keine Unterwerfung so vollkommen ist wie diejenige, welche den Schein der Freiheit mit sich führt. Er läßt sich von der Beobachtung leiten, daß die Zustimmung zu unveränderlichen Gegebenheiten leichter fällt als das Befolgen eines schlichten Verbots. Das Kind kann eher den Umstand akzeptieren, daß der Gegenstand der Begierde nicht mehr vorhanden ist, als das Verbot, daß es ihn nicht haben soll. Die natürliche Einstellung, die Notwendigkeit der Dinge, aber nicht den bösen Willen eines anderen geduldig zu ertragen, kann in der Erziehung genutzt werden, denn sie ist Ausdruck einer schon der moralischen Ordnung angehörigen Selbstbehauptung. Die Erfahrung des Willens eines anderen unterscheidet sich von der Wahrnehmung der Abläufe physischer Verursachungen genauso wie von dem Verhalten der Tiere. Der eigene Wille und der Wille anderer Personen sind irreduzible Größen, ohne die es keine moralischen Orientierungen im sozialen Raum geben kann. Aufgrund des unauflöslichen Zusammenhangs von Selbstbehauptung und moralischer Ordnung ist negative Erziehung nicht mit dem bloßen Rekurs auf Natürlichkeit zu verwechseln. Sie reagiert auf Anforderungen der moralischen Bildung mit einer Strategie, die unter konstruierten Bedingungen Entscheidungssituationen simuliert, in deren Verlauf schädliche Einflüsse auf für das Kind einsehbare Weise zurückgedrängt werden. Entgegen dem erklärten Anspruch kommt die negative Erziehung aber nicht ohne Manipulationen und neue Abhängigkeiten aus. Wenn Emile glaubt, selbstbestimmt zu handeln, ist er in 129
Wirklichkeit fremdbestimmt. Er beschäftigt sich mit Entscheidungssituationen, die zumindest in ihrem Zustandekommen nicht das sind, wofür er sie hält. Er soll trotzdem kein willfähriges Wesen werden: „Das Kind gehorche nicht aufs Wort. Nur das ist gut für es, was es als gut empfindet.“ (OC IV 444/W III 210) Der Preis der Fremdbestimmung soll durch den Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit gerechtfertigt werden, der darin besteht, daß das Kind lernt, nur das zu akzeptieren, was es eingesehen hat. Die Kompensation von Fremdbestimmung durch Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit kann jedoch nicht vollständig gelingen. Die konzeptionelle Verbindung von Freiheit und natürlicher Erziehung erzeugt ungeachtet aller Vereinbarkeitsmodelle eine spannungsreiche Gegenläufigkeit. Aufgrund der Voraussetzung des naturalistischen Selbstbehauptungsbegriffs kann Freiheit nur bedeuten, in seinen willentlichen Ausrichtungen von anderen unabhängig zu sein. Demnach darf derjenige, der erzogen wird, eigentlich nicht getäuscht werden. Die negative Erziehung bleibt in ihren Grundzügen eine abhängige Erziehung zur Unabhängigkeit. Der Erzieher hat für das Kind die Rolle der Gesetzmäßigkeiten der Natur und des sozialen Raums einzunehmen. Den Ausweg aus den Gegenläufigkeiten von Erziehung und Natürlichkeit sieht Rousseau in der Konzeption der ,wohlgeordneten Freiheit‘ [liberté bien réglée], mit der das Kind durch die Unübersichtlichkeiten des sozialen Raums geführt werden soll: „Man darf sich mit der Erziehung eines Kindes nicht abgeben, wenn man es nicht durch die bloßen Gesetze des Möglichen und Unmöglichen führen kann, wohin man will. Da ihm der Bereich des einen und des andern gleich unbekannt ist, so erweitert und verengt man ihn um das Kind herum, wie man will.“ (OC IV 321/W III 85) Die Führung durch die Unübersichtlichkeiten ist so zu gestalten, daß es dem Kind ermöglicht wird, sich gleichermaßen für die Natürlichkeit menschlicher Einstellungen und Verhaltensweisen wie für vernünftige Gründe empfänglich zu zeigen. Die negative Erziehung ist insofern nur mittelbar eine natürliche Erziehung. Ein bedeutsames Element der negativen Erziehung besteht in der grundsätzlichen Ablehnung der Gebotsethik. Auch sinnvolle Gebote nehmen die Form der Tyrannei an, wenn sie nicht verstanden werden. Setzt man sie mit Zwang durch, verführen sie die 130
Kinder, sich zu verstellen, zu heucheln und zu lügen, um so Lob zu gewinnen und Strafe zu vermeiden. Vor allem lernen sie auf diese Weise, zwischen scheinbaren und versteckten Handlungsgründen zu unterscheiden. Damit verlieren die Kinder die Offenheit des Herzens und beginnen, sich gegenüber ihren Mitmenschen zu verschließen. Ehrlichkeit und Freimütigkeit treten hinter eine berechnende Logik leerer Worte zurück. An die Stelle von Gebot, Befehl und Zwang setzt Rousseau das Beispiel. Die Rolle, die er der Beispielgebung in der Erziehung zumißt, ist ein weiterer innovativer Zug seiner Bildungsphilosophie. Er weist zu Recht darauf hin, daß Kinder auf Unterweisungen nicht nachhaltig reagieren und leicht vergessen, was ihnen gesagt worden ist. Dagegen hält sich das in der Erinnerung, was sie selbst getan oder andere ihnen angetan haben. Die Beispielgebung ist aber nicht nur eine Frage der geschickten Methode. Sie drückt für Rousseau den internen Zusammenhang von Bildung und Erziehung aus: „Erinnert euch, daß man, ehe man sich unterfängt, einen Menschen zu bilden, sich erst selbst zum Menschen gemacht haben muß. Man muß in sich das Beispiel finden, das er sich vorsetzen soll.“ (OC IV 325/W III 90) Das Beispiel kann nicht durch pädagogische Kunstfertigkeit ersetzt werden. Die Exemplifizierungen moralischer Bildung müssen vorgelebt werden. Erziehung ist selbstzerstörisch, wenn dem Kind Gebote gepredigt werden, an die sich der Erwachsene selbst nicht mehr hält, sobald er sich seinem alltäglichen Leben wieder zuwendet. Rousseaus Vorschläge zur Bedeutung der Beispielgebung in der moralischen Bildung haben eine sachliche Entsprechung in Wittgensteins Spätphilosophie gefunden, die in der Forschung bislang nicht auffällig geworden ist. Offenbar ohne Kenntnis von Rousseau stellt Wittgenstein einen sachlichen Zusammenhang zwischen Spracherwerb und menschlicher Lebensform her. Was der Mensch wirklich ausdrückt, zeigt sich danach in seinem Verhalten. 4. Die Erziehung des Herzens Ein bedeutsamer Einschnitt in der Bildung ist die von Rousseau so genannte ‚zweite Geburt‘. Sie ereignet sich als das Erwachen der Leidenschaften in der Adoleszenz. Das Erwachen geht mit einer Reihe von Irritationen und Verunsicherungen einher, denen 131
mit einer éducation sentimentale begegnet werden soll. Emile muß die wahre, nicht auf das Objekt der Begierde reduzierte Liebe erfahren. Zu ihren wesentlichen Bestimmungen gehören Empathie und ein vernünftiger Umgang mit den eigenen Gefühlen. Im Grundsatz der éducation sentimentale stellt Rousseau die zerstörerische Einseitigkeit reiner Empfindsamkeit genauso unmißverständlich heraus wie die berechnender Klugheit: „Sei ein empfindsamer, aber weiser Mann. Wenn du nur eines von beiden bist, so bist du nichts.“ (OC IV 677/W III 450). Die Gefährdungen der Empfindsamkeit werden durch die Einbildungskraft hervorgerufen, die die Leidenschaften entflammt. Die Irrtümer der Einbildungskraft sind sogar geeignet, die Leidenschaften von Engeln in Laster zu verwandeln. Im Verbund mit der Vielzahl von Vorurteilen und blindlings übernommenen Meinungen bilden fehlgeleitete Leidenschaften eine kritische Masse. Die Erziehung des Herzens muß deshalb die Einbildungskraft durch das Gespür für das Gute fesseln und die Meinungen durch die Vernunft zum Schweigen bringen. Rousseau stellt zwei Leitsätze auf, die den weisen Umgang mit den menschlichen Leidenschaften lehren: „1. Man muß die wahren Verhältnisse des Menschen, sowohl die der ganzen Art als auch die des Individuums, erkennen. 2. Man muß alle Regungen der Seele nach diesen Verhältnissen ordnen.“ (OC IV 501/W III 268) Seine Erziehung des Herzens geht von dem optimistischen Bild aus, daß der Mensch seine Einbildungskraft und Leidenschaft dadurch beherrschen kann, daß er ihre Ausrichtungen beeinflußt. Durch die Einübung von Einstellungen und die Etablierung von Gewohnheiten ist es möglich, den Irrtümern der Einbildungskraft zu entgehen und sich innerhalb eines naturgemäßen Entwicklungsganges zu behaupten. Er empfiehlt einen sensiblen Umgang mit der Einbildungskraft. Sie soll nicht gebrochen, sondern in kontinuierlichen Bildungsschritten zur guten Gewohnheit werden. Den spontanen Regungen des Gemüts stellt die aus der moralischen Bildung hervorgehende Gewohnheit Verhaltensdispositionen entgegen, die die Gesamtheit der natürlichen und sozialen Verhältnisse einer Person im Blick behält. Personen werden als empfindende Wesen geboren, die lernen können, bewußt mit ihren Eindrücken und Erlebnissen umzugehen. Das ermöglicht ihnen, ihrem Gefühlsleben eine Richtung zu geben: „Diese Neigungen erweitern und befestigen sich in dem 132
Maße, wie wir empfindsamer und aufgeklärter werden; durch unsere Gewohnheiten aber gezwungen, verändern sie sich mehr oder weniger durch unsere Meinungen.“ (OC IV 248/W III 12) Die Gewohnheiten öffnen sich einer Vielzahl von Beeinflussungen, die gleichermaßen eine positive wie negative Form annehmen können. Ein Beispiel negativer Beeinflussung ist für Rousseau die moderne Kultur. Die mit ihr einhergehenden psychischen und ethischen Entmündigungen hätten sich niemals in dieser Form durchsetzen können, wenn es nicht gelungen wäre, den ideologischen Vorstellungswelten Eingang in die gefühlsmäßigen Dispositionen der Menschen zu verschaffen. Die Gewohnheiten, die aus der Erziehung des Herzens hervorgehen, können auch eine positive Gestalt annehmen. Sie sind in der Lage, jene Einheit von Können und Wollen im Leben von Personen zu etablieren, der Rousseau in allen Phasen seiner Philosophie nachgeht. Die Einheit stellt sich ein, wenn das Bedürfnis in den Grenzen der Handlungsmöglichkeiten der Person verbleibt. Erreicht die Erziehung des Herzens die voluntativen Impulse, wird die Person in die Lage versetzt, ein ausgeglichenes Verhältnis zu sich, zur Natur und zu anderen Personen zu entwickeln. Moralische Handlungen müssen dann nicht gleichsam von außen erzwungen werden. Sie gehen unmittelbar aus Einstellungen und Verhaltensweisen der handelnden Person hervor. Unter den Bedingungen einer gelungenen moralischen Bildung reißt zwischen Motiven und Normen keine Kluft auf. Die Person handelt aus Selbstinteresse moralisch. Die Erziehung umfaßt nur wenige Lebensabschnitte eines individuellen Menschen, und doch muß dabei auch der Weg der menschlichen Naturgeschichte – von der ersten zur zweiten Natur des Menschen – ausgemessen werden. Aufgrund dieses Sachverhaltes ist der Erziehungsprozeß eine Notwendigkeit, der sich niemand ohne Verlust seiner Menschlichkeit entziehen kann. Rousseau akzeptiert diese Notwendigkeit mit einer ihm eigentümlichen Wendung. Auch wenn die Erziehung im Kern Resultate der menschlichen Kulturgeschichte einzuüben hat, kann sie nur gelingen, wenn sie sich in einem adäquaten Verhältnis zur menschlichen Natur vollzieht. Die gelungene Bildung des Einzelnen wird sich in den verschiedenen Etappen ihrer Entwicklung immer an den Erfordernis133
sen der menschlichen Natur orientieren. Rousseau entwirft in diesem Zusammenhang eine Genealogie der menschlichen Natur. Am Anfang stehen die verschiedenen Weisen passiver Beeinflussung durch die materielle und soziale Umwelt. Sie werden von einem allmählich sich herausbildenden Bewußtsein unserer Vorstellungswelt abgelöst, was schließlich zu Urteilen über uns und die Welt führt. Im Verlauf dieses Entwicklungsganges entfalten sich die Anlagen der menschlichen Natur und festigen sich nach Maßgabe der Empfindsamkeit und Vernunft des Menschen. Die Herausbildung bleibt immer den Gefährdungen fehlgeleiteter Gewohnheiten ausgesetzt, die die menschliche Natur bis zur Unkenntlichkeit entstellen können. Rousseau will den Gang der Natur in der Bildung des Menschen als den Weg zur Freiheit bestimmen. In der Erziehung geht es nicht um Bemächtigung, sondern ausschließlich um Freiheit: „Der wahrhaft freie Mensch will nur das, was er kann, und tut das, was ihm gefällt. Das ist mein oberster Grundsatz. Es kommt nur darauf an, daß man ihn auf die Kindheit anwende, und alle Regeln der Erziehung werden daraus hervorgehen.“ (OC IV 309/W III 74) Das im Emile entfaltete Erziehungskonzept hat die anspruchsvolle Aufgabe, den kultur- und gesellschaftskritischen Diagnosen der Diskurse einen konstruktiven Entwurf an die Seite zu stellen, der Wege kenntlich werden läßt, mit denen Entfremdung und moralischer Verfall umgangen werden können. Angestrebt wird die Rekonstruktion von Entwicklungsbedingungen für ein eigenständiges Wesen, das innerhalb einer auf Konkurrenz und Abhängigkeit beruhenden Gesellschaft über moralische Selbständigkeit, Selbstachtung und Selbstbehauptung verfügen soll. Der menschliche Bildungsprozeß wird von Rousseau in Lebensphasen differenziert. Von diesen Abschnitten sagt er, daß sie ihr jeweils eigenes Bedeutungspotential im Leben einer Person besitzen. Jedes Lebensalter hat seine eigenen Vorzüge und seine eigene Weisheit. Wichtige Abschnitte im Emile sind den Lebensaltern des Kindes, des Bürgers und des Ehemanns gewidmet. Dem korrespondieren Entwicklungsstufen, die mit den Begriffen der Natur, der Moral und der Politik angesprochen werden. Diese Abfolge kennzeichnet insgesamt die Grundstruktur der philosophischen Position Rousseaus. 134
5. Bildung und Selbstentfaltung Im Emile legt Rousseau eine Bildungstheorie der Selbstbehauptung als Selbstentfaltung vor, die sich gegen den Typus des vielfältig dissoziierten Menschen richtet. Dem außer sich lebenden Menschen stellt er den freien, aus sich selbst heraus lebenden Menschen gegenüber, den gesellschaftliche Konventionen nicht fesseln und dem es unter allen Bedingungen gelingt, das zu wollen, was er kann. Rousseaus Überlegungen werden von einem starken Autarkiebegriff bestimmt. Vernünftige Selbstverhältnisse beruhen danach auf moralischer Selbstgenügsamkeit. Die Handlungen gehen aus Einstellungen hervor, die mit der Natur des Menschen im Einklang stehen. Nicht der voluntative Akt entscheidet über die Selbstbehauptung, sondern die integrative Form von natürlicher Entwicklung und moralischer Ausbildung, die ein balanciertes Verhältnis von Können und Wollen hervorbringt. Diesem Sachverhalt gibt Rousseau eine emphatische Darstellung: „O Mensch! zieh dein Dasein in dich hinein, und du wirst nicht mehr elend sein. Bleib an der Stelle, welche dir die Natur in der Kette der Lebewesen anweist; nichts wird dich daraus vertreiben können. Sträube dich nicht gegen das harte Gesetz der Notwendigkeit, und erschöpfe nicht dadurch, daß du ihm widerstehen willst, die Kräfte, welche dir der Himmel nicht gegeben hat, dein Dasein zu erweitern oder zu verlängern, sondern bloß um es zu erhalten, wie es ihm gefällt und so lange es ihm gefällt. Deine Freiheit, deine Macht erstrecken sich nur so weit wie deine natürlichen Kräfte und nicht weiter; alles übrige ist nur Sklaverei, Verblendung, Gaukelwerk.“ (OC IV 308/W III 73) Die Beschränkung auf das Mögliche ist keineswegs ein Zeichen von Resignation. In der Beschränkung sieht Rousseau zwar einen gewichtigen Schutz gegen gesellschaftliche Verzerrungen und Entstellungen des moralischen Bewußtseins. Der konstruktive Kern seines Autarkiebegriffs besteht aber in dem Gedanken der naturgemäßen Entwicklung zur moralischen Bildung, die die Balance zwischen Fähigkeiten und Bedürfnis der Person aufrechterhält. Selbstentfaltung der Person ist Bildung über die Zeit hinweg. Wegen der diagnostizierten Irrwege der modernen Kulturgeschichte kann Rousseau nicht umhin, Bildung als Erziehung des Menschen für sich selbst zu begreifen. Damit ergibt sich ein deut135
licher bildungsphilosophischer Vorrang der selbständigen Individualität vor der Soziabilität. Dieser Vorrang wird im Gesellschaftsvertrag abgeschwächt, aber nicht grundsätzlich zurückgenommen (siehe Abschnitt VIII. 1). Die Selbstentfaltung ist nicht voraussetzungslos. Aufgrund der kulturkritischen Befunde dürfen ihre Entwicklungsbedingungen nicht in den Institutionen des sozialen Raums gesucht werden. Deshalb nimmt Rousseau für die Selbstentfaltung eine intrinsische Konstitutionsgeschichte an, die in der ursprünglichen Selbstbehauptung und natürlichen Güte des Menschen verankert ist: „Es gibt keine ursprüngliche Verderbtheit im menschlichen Herzen. Es findet sich in ihm kein einziges Laster, von dem man nicht sagen könnte, wie und wodurch es hineingekommen ist. Die einzige dem Menschen angeborene Leidenschaft ist die Selbstliebe oder die Eigenliebe im weiteren Sinne. Diese Eigenliebe an sich oder in Bezug auf uns ist gut und nützlich, und weil sie keine notwendige Beziehung zu einem andern Menschen hat, ist sie in dieser Hinsicht natürlicherweise indifferent; sie wird nur durch die Anwendung und durch die Beziehungen, die man ihr gibt, gut oder böse.“ (OC IV 322/W III 86) Die kulturelle Überformung entscheidet über Bildung und Selbstentfaltung der einzelnen Person, die nicht im Zustand der Natürlichkeit verbleiben kann und ihre Fähigkeiten und Eigenschaften entwickeln muß. Dieser Bildungsprozeß läuft bei allen Stützungen durch den Gang der Natur nicht naturwüchsig ab. Das macht ihn anfällig für zivilisatorische Gefährdungen. Deshalb muß die Vernunft als Vermögen, nach Gründen differenzieren zu können, die Nachgiebigkeit des Eigennutzes korrigieren. Die Vernunft hat das Werk der Natur mit kulturellen Mitteln weiterzuführen und das Selbstinteresse zu lenken. Während der Kindheit geschieht das durch die negative Erziehung, mit der die Selbstentfaltung der inneren Natur auf den Weg gebracht wird, die in den nachfolgenden Lebensabschnitten das ausgeglichene Verhältnis von Können und Wollen ermöglichen soll. Die Selbstentfaltung erweist sich als Schritt von der Gattungsbestimmung der inneren menschlichen Natur zur Ausbildung der Individualität der Person. Auch im Fall der Konstitutionsgeschichte der Individualität ist die Phase der Kindheit entscheidend, denn in ihr werden die Grundlagen für die Entwicklungen der nachfolgenden Lebensphasen gelegt. Daher gehört es zur 136
Hauptaufgabe der Erziehung, den individuellen Besonderheiten eines Kindes gerecht zu werden. Entsprechend müssen instrumentalistische Verfahrensweisen und Zielsetzungen in der Bildung zur Individualität vermieden werden. Das wahrhaft freie Individuum ist die voll entfaltete Person, die nicht zu irgendwelchen äußerlichen Zwecken erzogen worden ist. Die Vorbereitung für einen bestimmten Beruf darf in der Erziehung nicht bestimmend sein. Rousseau beklagt die oft nach vordergründigen Nützlichkeitserwägungen getroffene Berufswahl durch die Eltern. Wenn jemand einen festen Platz in der Berufswelt zugewiesen bekommt, dann ist er auch zu nichts anderem zu gebrauchen. Diese Praxis läuft nicht nur der Bildung der Individualität zuwider, sondern verletzt auch das Gleichheitsgebot, nach dem Menschen nicht aufgrund ihrer sozialen Herkunft benachteiligt werden dürfen. Die freie Person ist der umfassend entwickelte Mensch, und diesen Grundsatz versteht Rousseau gleichermaßen im Sinne der Bildung zur Individualität wie des ethischen und politischen Egalitarismus: „In der natürlichen Ordnung, in der die Menschen alle gleich sind, ist ihr gemeinschaftlicher Beruf der Zustand des Menschen; und wer zu diesem Beruf gut erzogen ist, kann diejenigen Berufe nicht übel erfüllen, die sich auf ihn beziehen.“ (OC IV 251 f./W III 16) Die Unterordnung der bürgerlichen Karriere unter die generelle Fähigkeit, ein humanes Leben führen zu können, ist der Schlußstein von Rousseaus Theorie moralischer Bildung. Erziehung ist eine Erziehung zur Bildung. Sobald der Stand der selbständigen Bildung erreicht ist, hat sie Vorrang vor jeder Erziehung und Karriere. Der Beruf, auf den es ankommt, ist die Fähigkeit, sein Leben selbständig führen zu können. Wer über diese Fähigkeit verfügt, dem kann es einerlei sein, welchen Beruf er ausübt: „Er wird zuerst ein Mensch sein; alles, was ein Mensch sein muß, das wird er im Notfalle ebenso gut sein wie jeder andere; und das Schicksal kann ihn ruhig seinen Platz verändern lassen; er wird stets an seinem sein.“ (OC IV 252/W III 16)
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VIII. Politik der Freiheit und neuer Gesellschaftsvertrag 1. Der kontraktualistische Ausgangspunkt Im Gesellschaftsvertrag erweitert Rousseau sein Freiheits- und Bildungskonzept in die Bereiche der Politik. Anders als im Emile erscheinen Freiheit und Bildung nicht mehr ausschließlich in der Perspektive personaler Autonomie und Autarkie. Der Schwerpunkt liegt nunmehr auf der Ausarbeitung eines normativen Gesellschafts- bzw. Gemeinschaftsbegriffs, durch den die individuelle Selbstbestimmung in politische Selbstbestimmung überführt werden kann. Während im Emile die Entfaltung der Selbstbestimmung auf die unmittelbare Lebensumgebung beschränkt bleibt, wird im Gesellschaftsvertrag der politische Raum mit allen seinen Handlungsmöglichkeiten vom Ansatz her miteinbezogen. Die Selbstbehauptung der Einzelnen ist danach kein privates Unterfangen. Sie erweist sich im Zusammenwirken mit der Selbstbestimmung anderer Personen gegenüber einem individualistischen Freiheitsverständnis als die höhere ethische Qualität. Für dieses Erweiterungskonzept steht die Idee des neuen Gesellschaftsvertrags. Die Auszeichnung als neu ist buchstäblich zu nehmen: Im Unterschied zu den vorhergehenden kontraktualistischen Ansätzen ist Rousseaus Gesellschaftsvertrag kein hypothetischer Vertrag der Vergangenheit, sondern ein Vertrag für die Zukunft. Der Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen entwirft noch ein Vergesellschaftungsmodell in der Gestalt eines ausgeklügelten Systems sozialen Betrugs und sozialer Unterdrückung. Der Gesellschaftsvertrag bringt den Vorgang des Zusammenschlusses dagegen in eine gänzlich andere Stellung. Die anthropologische und moralphilosophische Konzeption menschlicher Existenz wird zwar weiterhin von dem Gedanken der natürlichen Einsamkeit der Einzelnen beherrscht, sie erfährt aber nunmehr eine politische und kulturelle Ausweitung. Rousseau zufolge können Menschen nur unter zwei Bedingungen ein authentisches und ausbalanciertes Leben führen: als präsoziales Wesen im Naturzustand und als Bürger. Da die erste Bedingung nicht mehr erfüllbar ist, verbleibt nur die Aufgabe, die personale und politische Selbstbestimmung des Bürgers voranzu138
treiben. Der bürgerliche Zustand ist der kulturgeschichtliche Einschnitt, der den Instinkt durch Gerechtigkeit ersetzt. Für diese Substitution muß eine neue Form moralischen Bewußtseins entfaltet werden. Die natürliche Freiheit hat sich in eine bürgerliche Freiheit zu transformieren, die vom Gemeinwillen konstituiert wird. Der neue Gesellschaftsvertrag reagiert insofern auf ein nicht beruhigtes Verhältnis von individuellem und gesellschaftlichem Standpunkt. Die im Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen dem Eigennutz [l’amour propre] gegenübergestellte Selbstbehauptung [l’amour de soi] (siehe Abschnitt III. 2) bleibt der Ausgangspunkt der Konstruktion. Nunmehr geht es aber nicht allein darum, Formen selbstsüchtiger Lebensführung zu kritisieren. Es soll der Übergang von der Freiheit der Einzelnen in die gemeinschaftliche Selbstbestimmung so gefaßt werden, daß er in ihre moralische Selbständigkeit nicht eingreift. Das bedeutet vor allem, daß der Wille der Person im politischen Raum durchgängig präsent bleiben muß. Rousseaus Festhalten an der politischen Freiheit des Einzelnen macht den grundsätzlichen Unterschied zu Hobbes aus, bei dem der Gesellschaftsvertrag aus einem freiheitstheoretischen Verzichtsszenario hervorgeht. Für Rousseau ist es die große Aufgabe der politischen Philosophie, Verfahren zu konstruieren, die die permanente Präsenz der freien Personen in den Entscheidungsprozessen des sozialen Raums garantieren. Demokratische Abstimmungsverfahren erscheinen ihm in diesem Zusammenhang nicht ausreichend. Mit Blick auf den englischen Parlamentarismus stellt er lakonisch fest, daß Personen, die nur in dem kurzen Augenblick einer Wahl von ihrer Freiheit Gebrauch machten, es eben nicht anders verdienten, als sie zu verlieren. Er lehnt auch den kontraktualistischen Ansatz Lockes ab, dem er vorwirft, daß seinem politischen System der Begriff positiver Freiheit fehle. Rousseaus politische Philosophie ist von einem rückhaltlosen freiheitstheoretischen Egalitarismus beherrscht, der sich in kritischer Hinsicht dem Mißtrauen gegenüber jeder Art von Fremdbestimmung verdankt. An diesen Egalitarismus ist im Hinblick auf die Kritik an Rousseaus Konzeption der volonté générale zu erinnern, die sich immer wieder den Vorwurf gefallen lassen muß, daß sie auf die Niederschlagung des Einzelwillens hinauslaufe. Oft 139
wird sogar eine Verbindung zwischen Rousseaus Konzeption des Gemeinwillens und der terreur der Französischen Revolution oder anderer Formen der Gewaltherrschaft hergestellt. Der Vorwurf beruht auf kurzschlüssigen Auslegungen eines einzelnen Textstücks des Gesellschaftsvertrags (siehe Abschnitt VIII. 4) und hat keine Grundlage im gesamten Werk. Rousseau versteht den Gemeinwillen eindeutig als Verlängerung individueller Autonomie, die den Einklang von Selbstinteresse und Gerechtigkeit ermöglicht. Der Gemeinwille wird erst durch die wechselseitigen Anerkennungsverhältnisse freier Personen konstituiert. Außerdem ist es die Bedingung des neuen Gesellschaftsvertrags, daß keinem Bürger die Beteiligung an den Gesetzgebungsverfahren des Gemeinwillens verwehrt bleiben darf. Rousseau entwickelt die Grundlagen seiner egalitaristischen Vertragstheorie in den ersten beiden Büchern des Gesellschaftsvertrags. Der kontraktualistische Ansatz verfolgt dabei keineswegs nur metatheoretische oder begründungstheoretische Zielsetzungen, sondern ist auch der Aufhebung ethischer und kultureller Mißstände der modernen Gesellschaft verpflichtet. Das Kernstück dieser Strategie ist die Idee des Gesetzes. Die Gesetze, nach denen die Menschen ihre Gesellschaft einrichten, sollen von vergleichbarer Objektivität sein wie die Gesetze der Natur. Rousseau strebt damit die tendenzielle Angleichung der Abhängigkeit von den Menschen an die Abhängigkeit von den Dingen an. Die Kluft zwischen den beiden Arten der Abhängigkeiten ist im Emile noch als unüberbrückbar bestimmt worden (siehe Abschnitt VII. 3). Im Gesellschaftsvertrag geht er einen Schritt weiter und folgt einer Perspektive, die er im Emile schon vorgezeichnet hat: „Wenn es irgendein Mittel gibt, diesem Übel in der Gesellschaft abzuhelfen, so ist es dies, daß man den Menschen dem Gesetz unterstellt und den allgemeinen Willen mit einer wirklichen höheren Gewalt ausstattet, welche die Äußerung eines jeden einzelnen Willens übersteigt. Könnten die Gesetze der Völker, so wie die Gesetze der Natur, eine Unbeugsamkeit haben, die niemals irgendeine menschliche Kraft überwinden könnte, so würde die Abhängigkeit von den Menschen wiederum die Abhängigkeit von den Dingen werden. Man würde in der Republik alle Vorteile des Naturzustandes mit den Vorteilen des bürgerlichen Standes vereinigen; man würde die Freiheit, die den Menschen vor Lastern bewahrt, 140
die Moralität hinzufügen, die ihn zur Tugend erhebt.“ (OC IV 311/W III 76) Der hohe Rang, den Rousseau in der Nachfolge Charles-Louis de Montesquieus dem Gesetz einräumt, setzt sich dem Konventionalismus entgegen, der sich mit kontraktualistischen Überlegungen gemeinhin verbindet. Rousseau stellt zwar nicht in Abrede, daß der Gesellschaftsvertrag eine Form der Verabredung ist, es kommt ihm aber darauf an, die Verabredung mit einem objektiven Stellenwert zu versehen. Er geht davon aus, daß die Vorteile des Naturzustandes mit denen des kulturellen Zustandes verbunden werden können, wenn es gelingt, ein objektives Gesetz im sozialen Raum zu etablieren, das alle Personen auf wirklich bindende Weise miteinander vereinigt. Bei der Bestimmung des Grundes der Verbindlichkeit weist Rousseau herkömmliche Erklärungsmodelle zurück. Der Grund der Verbindlichkeit kann weder in bloßer Gewalt oder Verabredung noch in klerikaler oder staatlicher Autorität liegen. Es ist nur ein solcher Grund zu akzeptieren, der mit der Freiheit und Moralität der Personen in Einklang steht. Die Bedingung der Freiheit ist unhintergehbar. Der neue Gesellschaftsvertrag muß deshalb eine Verbindung sein, die natürliche Gesetze genauso wenig verletzt wie die Bedingungen der Freiheit. Wird der Bedingung der Freiheit Rechnung getragen, können Personen einem allgemeinen Willen als dem Gesetz des neuen Gesellschaftsvertrags folgen. In der Vereinigung des individuellen und politischen Autonomiebegriffs, die in herkömmlichen kontraktualistischen Theorien einander äußerlich bleiben, ist der genuine Beitrag Rousseaus zur politischen Philosophie der Neuzeit zu sehen. Die Eingangsvoraussetzung von Rousseaus politischer Philosophie ist der systematische Zusammenhang von Kontraktualismus und politischer Anthropologie, der zu Beginn des Gesellschaftsvertrags als konstruktive Aufgabe vorgestellt wird: „Ich will untersuchen, ob es in der bürgerlichen Ordnung irgendeine rechtmäßige und sichere Regel für die Staatsverwaltung geben kann, indem ich die Menschen so nehme, wie sie sind, und die Gesetze so, wie sie sein können.“ (OC III 351/W IV 270) Unangesehen der Bedeutung, die Rousseau dem Begriff der natürlichen Güte des Menschen in seiner Philosophie insgesamt beimißt, ist er sich darüber im klaren, daß man die Gesellschaft durch den Menschen 141
und die Menschen durch die Gesellschaft studieren muß. Anders kann eine Vereinbarkeit von menschlicher Natur und normativen Zielsetzungen nicht zustande gebracht werden. Unter den theoretischen Bedingungen des Gesellschaftsvertrags ist eine Trennung von Politik und Moral nicht einmal aus methodischen Gründen durchführbar. Das Projekt des neuen Gesellschaftsvertrags führt zu starken Belastungen auf der Seite der anthropologischen Grundlagen der Philosophie Rousseaus. Während der natürliche Mensch ganz in seiner numerischen Identität aufgeht, ist unter den Bedingungen moderner Kulturen eine Denaturierung der menschlichen Natur unumgänglich. Das unbedingte Dasein des natürlichen Menschen kann im sozialen Raum selbst unter den günstigsten Bedingungen nur in ein bedingtes Dasein überführt werden. Dem Übergang von der natürlichen zur gesellschaftlichen Lebensform wohnt insofern immer ein gewaltsamer Aspekt inne. Rousseau hat seinen neuen Gesellschaftsvertrag im Bewußtsein dieses hohen Preises formuliert. Mit Entschiedenheit fordert er die Veränderung der menschlichen Natur ein, zumal ihr so oder so Gewalt angetan werde. Rousseaus Projekt der politischen Wiedereinsetzung individueller Selbstbehauptung strebt weder eine Rückkehr zum Naturzustand noch eine gesellschaftliche Entmündigung des Einzelnen an: „Wer es wagt, einem Volk eine Verfassung zu geben, muß sich imstande fühlen, gleichsam die menschliche Natur zu verändern, jedes Individuum, das für sich selbst ein vollkommenes und selbständiges Ganzes ist, in einen Teil eines größeren Ganzen umzuwandeln, von dem dieses Individuum gewissermaßen Leben und Dasein empfängt; er muß die Beschaffenheit des Menschen schwächen können, um sie zu verstärken, muß an die Stelle einer physischen und unabhängigen Existenz, die wir alle von der Natur erhalten haben, eine partielle und moralische setzen.“ (OC III 381/W IV 301) Wer die Selbstbehauptung stärken will, darf nicht dem Naturzustand nachtrauern. Wie immer auch der ursprüngliche Zustand des Menschen ausgesehen haben mag, er kann niemals zurückgeholt werden (siehe Abschnitte III. 1 und IV. 4). Es muß jetzt darum gehen, unter den Bedingungen der ethischen und politischen Ordnung eine neue Gestalt der Selbstbehauptung zu entwickeln. 142
Sie wird nicht mehr die ursprüngliche Einfachheit aufweisen können. Rousseau betont, daß der moderne Mensch eine andere Form der Selbstbehauptung anstreben müsse als die, die dem natürlichen Menschen zugeschrieben wird. Denn der moderne Mensch finde in seiner numerisch einfachen Präsenz gerade keine Sicherheit mehr und muß unter den veränderten gesellschaftlichen Bedingungen nach anderen Entwicklungswegen suchen. Wenn es gelänge, die Selbstbestimmung in den sozialen Raum hinein zu verlängern, könnte sich eine eigene Dynamik entwickeln, die über das Potential verfügt, nicht nur die Schwächung der natürlichen Eigenschaften des Menschen zu kompensieren, sondern seine gesellschaftliche Existenz in eine Ordnung moralischer Integrität und politscher Gerechtigkeit zu transformieren. Der neue Gesellschaftsvertrag strebt eine solche Gegenseitigkeit aus Freiheit an. Nur eine derartig verfaßte Gegenseitigkeit verdient es, Gerechtigkeit genannt zu werden. 2. Die Kultur der Gerechtigkeit Für Rousseau ist ausgemacht, daß man das eigene Glück nur erlangen kann, wenn man Gerechtigkeit gegen sich und andere ausübt: „Sei gerecht und du wirst glücklich sein!“ (OC IV 589/W III 359). In der moralischen und politischen Bildung geht es entsprechend nicht darum, den Personen beizubringen, was Gerechtigkeit ist. Ihnen muß vorgeführt werden, daß es in ihrem Selbstinteresse liegt, gerecht zu sein. Es wäre ein falsches Verständnis von Freiheit, wenn man glaubte, sie bestünde darin, das zu tun, was man will. Einem solchen Verständnis entgeht der gewichtige Unterschied zwischen dem, was man gerade tun will, und dem, was wirklich im eigenen Selbstinteresse liegt. In dem Maße, wie sich Personen der Gerechtigkeit zugänglich zeigen, muß auf institutioneller Seite der Freiheit des Einzelnen Rechnung getragen werden. Mißachtungen dieses Gebots wären nichts anderes als Verletzungen der Würde der Person. Auch wenn sich im Gesellschaftsvertrag ambivalente Formulierungen finden, läßt Rousseaus politische Philosophie nicht zu, daß der freie Wille des Einzelnen im Kollektiv gebrochen wird. Sie duldet nicht einmal einen sozialen Paternalismus. Die Zielrichtung des neuen Gesellschaftsvertrags richtet sich nicht auf die Verbesserung 143
der sozialen Lage der Personen. Vielmehr wird eine ethische und kulturelle Revision der Lebensverhältnisse angestrebt, in deren Zentrum der allgemeine Wille steht, dem die einzelnen Personen folgen, weil sie ihre eigene Selbstbestimmung in ihm wiedererkennen. Die Identifikation der über ihre ethischen Ziele aufgeklärten Personen mit dem allgemeinen Willen ist der Grund der Verbindlichkeit, nicht eine Autorität, die als Allmacht oder Zentralgewalt auftritt. Bereits in Rousseaus frühen Entwürfen zur politischen Philosophie steht der Begriff des Gesetzes im Mittelpunkt. In der Abhandlung über die politische Ökonomie stellt Rousseau die Sonderstellung des Gesetzesbegriffs heraus: „Einzig dem Gesetz haben die Menschen Gerechtigkeit und Freiheit zu verdanken. Dieses heilsame Organ des gemeinsamen Willens ist es, welche die natürliche Gleichheit zwischen den Menschen im Recht wiederherstellt. Diese himmlische Stimmung ist es, welche jedem Bürger die Gebote der öffentlichen Vernunft vorschreibt, die ihn lehrt, nach den Grundsätzen seines eigenen Urteils zu handeln und mit sich selbst nicht in Widerspruch zu stehen.“ (OC III 248/W IV 235) Der Begriff des Gesetzes verleiht der politischen Philosophie Rousseaus einen engen normativen Zuschnitt. Bei aller Rücksichtnahme auf moralische Zustände wie Gefühl und Mitleid bleibt ihre systematische Ausrichtung auf den Gesetzesbegriff beschränkt. Nur im moralischen Gesetz kann der freie Wille jene Form von Autonomie gewinnen, die vom Rekurs auf äußerliche Autoritäten wie Kirche oder Staat unabhängig bleibt. Nachdem der Mensch auf unwiderrufliche Weise den Naturzustand verlassen hat, bleibt ihm nur noch die Möglichkeit, in der Perspektive des moralischen Gesetzes eine neue Gemeinschaft zu stiften. Allein das moralische Gesetz verfügt über die Objektivität, die einen Gesellschaftsvertrag konstituieren kann, ohne die Freiheit der einzelnen Personen aufheben zu müssen. Hierin besteht der Unterschied zum Kontraktualismus von Hobbes, der die Willkür der Einzelnen nur durch die Autorität des Leviathans im Zaume halten kann. Rousseau konzipiert den Gesellschaftsvertrag dagegen als einen wechselseitigen Zusammenschluß aller Personen im sozialen Raum: „Das Leben des einen und des anderen ist das gemeinschaftliche Ich des Ganzen, die gegenseitige Empfindlichkeit und die innere Übereinstimmung aller Teile. Hört diese Ver144
bindung auf, verschwindet die formelle Einheit und hängen die zusammengehörigen Teile nur noch durch eine Nebeneinanderstellung zusammen, so ist der Mensch tot, oder der Staat ist aufgelöst.“ (OC III 245/W IV 231) In der Theorie des neuen Gesellschaftsvertrags konvergieren Egalitarismus und naturalistische Ethik. Die Erfahrung der ethischen Betroffenheit richtet sich nicht nur auf sich selbst, sondern auch auf alle anderen Personen. Die Personen der neuen Gemeinschaft erleben die wechselseitigen Rücksichtnahmen als moralpsychologischen Zustand und nicht bloß als formale Norm. Der Einzelne ist für die Verletzbarkeit der Anderen empfänglich und kann sich auch ihrer Rücksichtnahme sicher sein. Von dieser Gegenseitigkeit ist der gerechte Staat in seinem Zustandekommen und Bestand abhängig. Wenn die ethische Erfahrung der Gegenseitigkeit nicht moralpsychologisch verankert ist, kann die staatliche Gemeinschaft keinen wirklichen Bestand haben. Der ethisch aufgeklärte Wille und der gerechte Staat konstituieren sich wechselseitig. Erst dieses Gegenseitigkeitsverhältnis überwindet die Zerrissenheit der entfremdeten Lebenswelt moderner Zivilisationen. Rousseau faßt den langen Weg zur Kultur dahingehend zusammen, daß der Mensch sich durch Entfaltung seiner moralischen Eigenschaften und Fähigkeiten in einer neuen Lebensform bewegt: „Dieser Übergang vom Naturzustand in den staatsbürgerlichen Zustand bewirkt im Menschen eine sehr bemerkenswerte Veränderung, indem im Verhalten desselben die Gerechtigkeit an die Stelle des Instinktes gesetzt und seinen Handlungen die Sittlichkeit gegeben wird, die ihnen zuvor fehlte. Nun erst, da die Stimme der Pflicht an die Stelle des physischen Triebes tritt und das Recht an die Stelle der Begierde, sieht sich der Mensch gezwungen, nachdem er bislang nur auf sich selbst Rücksicht genommen, nach anderen Grundsätzen zu handeln und seine Vernunft zu Rate zu ziehen, ehe er seinen Neigungen folgt.“ (OC III 364/W IV 284) Die Kultur der Gerechtigkeit schafft einen semantischen Raum, der von Bestimmungen wie Pflicht und Vernunft beherrscht wird. Rousseau ist durchaus bereit, die neue Lebensform auch als die höhere Lebensform anzusehen. Er beklagt allerdings, daß es der Mensch noch nicht zu Wege gebracht habe, tatsächlich auf der Höhe einer solchen Lebensform zu existieren. Vielmehr fällt er ethisch immer wieder in barbarische Zu145
stände zurück. Statt von Pflicht, Rücksichtnahme und Vernunft bestimmt zu sein, höhlt er sich durch Eigennutz und Konkurrenz innerlich aus und fristet im sozialen Raum ein isoliertes Dasein. Rousseaus Kontraktualismus ist als eine Kulturphilosophie für die Zukunft zu verstehen. Er formuliert in diesem Zusammenhang den Grundgedanken der Ethik der Autonomie, dem zufolge der Drang der bloßen Begierde Sklaverei und der Gehorsam gegen das Gesetz, das man sich selbst gibt, Freiheit ist. In der Perspektive dieses Autonomiegedankens wird auch die Nachdrücklichkeit verständlich, mit der im Emile die Bildung der Autarkie und der Schutz vor fremder Willkür verfolgt wird. Die Verbindlichkeit im politischen Raum ist unter den Bedingungen des neuen Gesellschaftsvertrags kein äußerlicher Zwang. Der neue Gesellschaftsvertrag konstituiert eine Kultur der Gerechtigkeit, die zugleich die Verwirklichung moralischer und politischer Bildung ist. Diesen Gedanken politischer Kultur wird Schiller in den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen bei der Konstruktion des Übergangs vom bloßen Notstaat zum Staat der Freiheit übernehmen. Seine radikalste Ausprägung findet der Gedanke im Programm der Neuen Mythologie, das in der philosophischen Romantik und im Deutschen Idealismus entwickelt worden ist (siehe Kapitel X). 3. Menschenrechte und Natur des Menschen In seiner politischen Philosophie behandelt Rousseau die Vergesellschaftungsproblematik nicht mehr vorrangig in der Perspektive der Selbstentfremdung. Vielmehr geht es ihm um die Herstellung – nicht die Wiederherstellung – eines gesellschaftlichen Zustands, der unter den Bedingungen menschlicher Humanität eine ähnlich balancierte Lebensführung gestattet wie im Naturzustand, mit dem die Vorstellung eines integrativen Gleichgewichts zwischen Selbsterhaltung sowie physischen und psychischen Eigenschaften verbunden wird. Ein Vergleich der publizierten Fassung des Gesellschaftsvertrags mit der Urfassung, dem sogenannten Manuscript de Genève, zeigt, daß Rousseau die radikale Entfremdungskritik aus den Diskursen nunmehr in einen größeren Kontext einbetten will, um ihr damit nicht zuletzt die polarisierende Schärfe zu nehmen, die den konstruktiven Aufgaben einer poli146
tischen Philosophie ersichtlich entgegensteht. Er verzichtet insbesondere darauf, noch einmal den Zusammenhang von Vergesellschaftungsproblematik und Ursprung der Ungleichheit zu behandeln, der ihn im Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen und in einer längeren Passage des Manuscript de Genève beschäftigt hat. Im Gesellschaftsvertrag wird die methodische Ausgangslage vereinfacht. Es geht um die systematische Verbindung von anthropologischer Faktizität und politischer Normativität: Die Menschen sollen so dargestellt werden, wie sie sind, und die Gesetze so entfaltet werden, wie sie sein können. Rousseau wählt in diesem Zusammenhang ausdrücklich den Ausdruck ,können‘, nicht etwa den präskriptiven Ausdruck ,sollen‘. Der Gesellschaftsvertrag hat die Aufgabe, das Mögliche auszuschöpfen. Die politischen Entwicklungsmöglichkeiten der menschlichen Natur werden ethisch erweitert, sie dürfen aber nicht die Grenzen des Natürlichen überschreiten. Rousseau wendet sich strikt gegen jede Verselbständigung von normativen Leitbildern. Unter gänzlich anderen Vorzeichen weist die Anbindung von Ethik und Politik an die Natur des Menschen eine deutliche Parallele zu Hobbes auf, für den der Leviathan die einzig mögliche Reaktion auf das ist, was er für die Natur des Menschen hält. Auch in Rousseaus politischer Philosophie bleibt der naturalistische Ausgangspunkt bestimmend. Am Gesellschaftsvertrag ist zudem deutlich ablesbar, daß der Rekurs auf die Natur lediglich als Aufforderung zur Rekonstruktion der noch nicht korrumpierten Natur des Menschen zu verstehen ist. Der Rekurs ist epistemologisch und ethisch motiviert und verdankt sich keineswegs irgendwelchen Sentimentalitäten. Er richtet sich auf Einstellungen und Verhaltensweisen, die noch nicht von Abhängigkeitsverhältnissen und Konkurrenzgedanken überdeckt worden sind. Diesen komplizierten sachlichen Zusammenhang faßt Rousseau zu Beginn des Gesellschaftsvertrags unter kulturkritischen Vorzeichen in einem egalitaristischen Grundsatz zusammen: „Der Mensch ist frei geboren, und überall liegt er in Ketten.“ (OC III 352/W IV 270) Unangesehen seiner komplizierten Funktion in Rousseaus politischer Philosophie ist der Satz der Kristallisationspunkt der vorhergehenden Naturrechtslehren und zukünftigen Menschenrechtserklärungen. Rousseau ist mit den Naturrechtslehren von 147
Grotius, Hobbes, Pufendorf und Locke gut vertraut gewesen und hat bei allen Vorbehalten ihren Freiheitsbegriff sehr geschätzt. Vor allem die Auseinandersetzung mit Pufendorf ist in methodisch bedeutsame Abschnitte des Diskurses über die Ungleichheit unter den Menschen und des Gesellschaftsvertrags eingegangen. Während Rousseau die naturrechtliche Konzeption des Naturzustandes verwirft, sucht er Anschluß an die freiheitstheoretische Tradition des Naturrechts, die den Menschen als ein von Natur aus freies Wesen begreift, dessen Würde bedingungslos zu achten ist. Seine Weiterentwicklung des naturrechtlichen Freiheitsbegriffs wird Eingang in die Virginia Bill of Rights und die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution finden. Die Virginia Bill of Rights eröffnet in Section 1 mit der Erklärung: „That all men are by nature equally free and independent and have certain inherent rights, of which, when they enter into a state of society, they cannot by any compact deprive or divest their posterity“, und im ersten Artikel der Déclaration des Droits de l’homme et du Citoyen von 1789 heißt es: „Les hommes naissent et demeurent libres, et egaux en droits“. In Rousseaus politischer Philosophie verbindet der egalitaristische Grundsatz das kulturkritische Ergebnis der Diskurse mit der anthropologischen Voraussetzung, daß mit der Natur des Menschen die Möglichkeit von Freiheit und Selbstbestimmung gegeben ist. Der Mensch ist prinzipiell frei, nur haben ihn kontingente Umstände beim Übergang von der Naturgeschichte in die Kulturgeschichte in Ketten gelegt. Der Grundsatz muß aber, wie jede verfallsgeschichtliche These, als paradox erscheinen: Die Kulturgeschichte soll zum einen aus gesellschaftlichen Konventionen bestehen, die allesamt unter Ideologieverdacht stehen, zum anderen werden in ihr die Verhältnisse ausgemacht, aus denen das moralische Gesetz und mit ihm die Menschenrechte hervorgehen. Rousseau ist dieser merkwürdige Sachverhalt nicht verborgen geblieben. Er reagiert auf diese Widersprüchlichkeit mit einer wichtigen Einschränkung: „[D]ie gesellschaftliche Ordnung ist ein geheiligtes Recht, das allen andern Rechten zur Grundlage dient. Gleichwohl entspringt dieses Recht nicht der Natur; es ist also auf Abmachungen gegründet.“ (OC III 352/W IV 271) Die gesellschaftliche Ordnung geht zwar aus Vereinbarungen und Abmachungen hervor, sie repräsentiert aber dennoch eine ethische Di148
mension, die über ihre eigene Objektivität verfügt. In der Ethik und politischen Philosophie schließen sich Realismus und Konventionalismus nicht aus. Es ist dieser Zugriff, der Rousseau von Vertretern des traditionellen Naturrechts unterscheidet, die entweder wie Grotius Vorgaben für das positive Recht im Naturzustand verankern oder wie Hobbes eine Kluft zwischen status naturalis und status civilis aufreißen. Mit dem Menschen tritt eine moralische Ordnung in die Welt ein, die größer ist als er selbst. Insofern muß Rousseaus egalitaristischer Grundsatz dahingehend vervollständigt werden, daß der Mensch prinzipiell ein freies und kulturfähiges Wesen ist. Die kulturellen Prozesse rufen zwar eine höhere ethische Ordnung hervor, sie haben aber in politischer, ökonomischer und moralpsychologischer Hinsicht die Menschen in Ketten gelegt. Das ,geheiligte Recht der gesellschaftlichen Ordnung‘ muß deshalb den Menschen als freies und selbständiges Individuum verteidigen. Rousseaus Gesellschaftsvertrag will zeigen, wie eine neue Gemeinschaft beschaffen sein muß, die nicht nur Selbsterhaltung, sondern auch ethische Selbstbehauptung ermöglicht. Ursprung und Urbild der neuen Gemeinschaft ist die Familie. Das Bild der Familie ist von monarchistischer Seite als Legitimationsquelle für den Souverän eingesetzt worden. Rousseau deutet die konstitutive Funktion der Familie dagegen in einem strikt egalitaristischen Sinne. Gegen Jean Bodin und mit John Locke weist er monarchistische Vereinnahmungen der väterlichen Autorität zurück. Abhängigkeitsverhältnisse sind auch in der Familie begrenzt. Sie verlieren ihre Grundlage, wenn das Kind gelernt hat, seine Freiheit angemessen zu gebrauchen (siehe Abschnitt VII. 1). Der elterliche Paternalismus darf nur von vorübergehender Dauer sein. Im Verlauf der Zeit gewinnen die Kinder ihre Unabhängigkeit. Gehorsam auf der einen Seite und Fürsorge auf der anderen Seite heben sich auf, und „alle kehren in gleicher Weise in die Unabhängigkeit zurück.“ (OC III 352/W IV 271) Die Rückkehr in die Unabhängigkeit gibt den Weg frei für eine gemeinschaftliche Freiheit von selbständigen Individuen: „Diese gemeinschaftliche Freiheit ist eine Folge der Natur des Menschen. Sein vornehmstes Gesetz ist es, über seine Selbsterhaltung zu wachen, seine vornehmste Sorge die, welche er sich selbst schuldig ist. Sobald er das Alter der Vernunft erreicht hat, ist er allein 149
Richter über die zu seiner Erhaltung tauglichen Mittel und folglich sein eigner Herr.“ (OC III 352/W IV 271) Ein Festhalten an der elterlichen Autorität über die Zeit der Unmündigkeit hinaus wäre genauso eine Herrschaftsanmaßung wie ein monarchistisches Machtmonopol. Der Gedanke der gemeinschaftlichen Freiheit entwickelt sich aus einem individualethischen Ausgangspunkt. Unter den Bedingungen des neuen Gesellschaftsvertrags geht die Gemeinschaft nicht gleichgültig über die Selbsterhaltung und Selbstbehauptung des Einzelnen hinweg. Sie sorgt dafür, daß der Einzelne das Alter der Vernunft erreicht, und schafft Bedingungen, unter denen er sein eigener Herr sein kann. Rousseau verleiht dem Zusammenhang von Natur des Menschen und ethischer Würde des Einzelnen einen prägnanten Ausdruck. Im Gesellschaftsvertrag setzt er dafür den Begriff der Menschenrechte (droits de l’humanité) ein: „Der Freiheit entsagen heißt seiner Eigenschaft als Mensch, den Menschenrechten, selbst seinen Pflichten entsagen. Für den, der auf alles verzichtet, ist keine Entschädigung möglich. Ein solcher Verzicht ist unvereinbar mit der Natur des Menschen; wer seinem Willen jegliche Freiheit nimmt, nimmt seinen Handlungen jegliche Moralität.“ (OC III 356/W IV 275) Es ist unter keinen kulturellen Bedingungen denkbar, dem Menschen auf rechtfertigungsfähige Weise seine Freiheit zu nehmen. Rousseau widerspricht damit den herkömmlichen naturrechtlichen und kontraktualistischen Legitimationsmodellen, nach denen eine Übertragung der menschlichen Freiheit auf politische Institutionen nicht nur möglich, sondern sogar unvermeidlich ist. Eine solche Transformation wäre für Rousseau ein Verzicht auf alles, was den Menschen zum Menschen macht. Freiheit und Menschenrechte werden entweder unbedingt bewahrt oder zerstört. Der Verzicht auf die eigene Freiheit ist nicht einmal im Fall der ausdrücklichen Zustimmung hinnehmbar, denn aufgrund der Unveräußerlichkeit und Irreduzibilität der menschlichen Freiheit kann es dafür keinen objektiven Grund geben. Mit diesem analytischen Argument kann Rousseau direkt an die Befunde des Diskurses über die Ungleichheit unter den Menschen anknüpfen, nach denen sich die Entrechtung der Menschen immer auf Täuschung oder Betrug zurückführen läßt. Rousseaus Egalitarismus kehrt die Beweislast für die politische Herrschaft um. Stärke bringt kein Recht hervor. Soziale Un150
gleichheiten, nicht etwa Gleichheitsforderungen, sind eigens zu begründen (siehe Abschnitt III. 3). Wer seine Freiheit verloren hat, wird nicht mehr als Mensch behandelt und findet im politischen Raum keinen Ausdruck mehr. Die Unveräußerlichkeit der Freiheit bedeutet, daß der Mensch unter keinen Umständen zum Instrument von Zwangsverhältnissen gemacht werden darf. Diesen Gedanken wird Kant auf die einfache Formel bringen, daß die vernünftige Natur als Zweck an sich selbst existiert und niemals bloß als Mittel gebraucht werden darf. 4. Die neue Gemeinschaft Rousseaus Anknüpfungen an traditionelle Naturrechtslehren folgen nicht der wirkungsmächtigen aristotelischen Tradition, sondern bewegen sich im Kontext revisionärer Vorstellungen Platons und naturalistischer Positionen der Stoa. Das gilt insbesondere für die Theorie vom Menschen als kleinem Staat und vom Staat als großem Menschen sowie für die Lehre vom naturgemäßen Leben. In der systematischen Ausrichtung beschreitet Rousseau eigene, von den herkömmlichen Theorietypen unabhängige Wege und sieht von einem Rückgriff auf eine vorgegebene Ordnung genauso ab wie von der Beschränkung auf einen Begriff negativer Freiheit. Schon der Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen hat genügend Belege für den Umstand geliefert, daß die Abwesenheit von äußerlichem Zwang keineswegs Unterdrückung, Unfreiheit und Ungleichheit verhindert. Rousseau ist davon überzeugt, daß die Ungleichheit unter den Menschen nur mit Hilfe eines Begriffs positiver Freiheit überwunden werden kann. Die kontraktualistische Aufgabenstellung besteht für Rousseau in der Rekonstruktion derjenigen Form des gesellschaftlichen Zusammenschlusses, die gemeinschaftliche Lebensverhältnisse aus der Freiheit der Einzelnen gewinnt. Zwar unterstellt auch er im Gesellschaftsvertrag eine Überantwortung des Einzelnen an die Gemeinschaft, aber dessen Freiheit wird in diesem Vorgang nicht ausgelöscht, sondern weiterentwickelt: „Jeder von uns unterstellt gemeinschaftlich seine Person und seine ganze Kraft der obersten Leitung des Gemeinwillens, und wir nehmen als Körper jedes Glied als untrennbaren Teil des Ganzen auf.“ (OC III 361/W IV 151
280 f.) Die Weiterentwicklung der freien Einzelwillen beruht auf ihrer wechselseitigen Verflechtung. Auf diese Weise konstituiert sich ein „gemeinschaftliches Ich [moi commun]“, in dem kein Teil verlorengeht, alles seinen Eigenwert behält und niemand seine Freiheit aufgibt. Entscheidungsinstanz ist allein der vernünftig bestimmte Wille des Einzelnen. Jede Person hat Anspruch auf uneingeschränkten Zugang zu den Entschließungsprozessen des politischen Raums. Die in der neuen Gemeinschaft miteinander verbundenen Personen sind die Urheber der Gesetze, denen sie sich freiwillig unterwerfen. Durch die Selbstgesetzgebung erhält der politische Körper des ,gemeinschaftlichen Ich‘ Dasein und Leben. Es setzt sich aus dem Einzelwillen der Personen zusammen und ist doch mehr als die Summe aller Teile, weil es über eine Einheit und einen gemeinsamen Willen verfügt. Die Figur der wechselseitigen Entäußerung und Teilhabe findet sich bereits in dem Brief an d’Alembert über das Schauspiel (siehe Abschnitt II. 3). Bei der Zurückweisung des auf Zerstreuung und wirtschaftlichen Gewinn bedachten Theaters entwirft Rousseau das Bild eines republikanischen Festes, bei dem die Barrieren zwischen Zuschauer und Schauspieler aufgehoben sind. Beide verlieren dabei nichts von ihrem individuellen Vergnügen und bereichern es sogar noch um das gemeinschaftliche Erlebnis. Jeder erkennt und schätzt sich im anderen: „In frischer Luft und unter freiem Himmel sollt ihr euch versammeln und dem Gefühl eures Glücks euch überlassen. Eure Vergnügungen seien weder verweichlicht noch kommerziell, damit nichts, was nach Zwang oder Interesse riecht, sie vergifte, damit sie frei und hochherzig seien wie ihr, damit die Sonne euer unschuldiges Schauspiel beleuchte, ihr seid es selbst, das würdigste Schauspiel, auf das die Sonne scheinen kann.“ (OC V 114 f./ S I 462) Der neue Gesellschaftsvertrag der nach Maßgabe vernünftiger Selbstbestimmung eingerichteten Gemeinschaft ist die ethische und politische Umsetzung des würdigsten Schauspiels unter der Sonne. Rousseau konstruiert den politischen Körper des ,gemeinschaftlichen Ich‘ nach dem Bild der autonomen Person. Dieser Zugriff verbindet seinen kontraktualistischen Ansatz mit Platon und unterscheidet ihn von formalistischen Vertragsmodellen eines Thomas Hobbes oder John Rawls. Rousseau weist ausdrücklich darauf hin, daß sein Gesellschaftsvertrag keine ,leere Form‘ sei. Er 152
bleibt den Hauptströmungen des neuzeitlichen Kontraktualismus aber darin verbunden, daß er nach wie vor von einer Vereinbarung zwischen einzelnen Personen ausgeht. Eine Rücksichtnahme auf traditionelle Begründungsinstanzen – Gott, Natur, Kirche oder Staat – findet nicht statt. Die Besonderheit des neuen Gesellschaftsvertrags ist darin begründet, daß er Bestimmungen starker Individualität und starker Gemeinschaftlichkeit miteinander verbindet. Diese Verbindung ist bis heute einzigartig geblieben. So ist es gegenwärtig immer noch üblich, einen starken Individualitätsbegriff zu Lasten des Gemeinschaftsbegriffs zu entwickeln – oder umgekehrt. In seinem Kern besteht der neue Gesellschaftsvertrag aus einem komplexen System von Gegenseitigkeiten. Es setzt sich aus den wechselseitigen Verhältnissen zwischen der Gemeinschaft und den einzelnen Bürgern zusammen. Jeder ist auf doppelte Weise verpflichtet, nämlich einmal als Souverän und zum anderen als Untertan: „Man sieht aus dieser Formel, daß der Akt der Verbindung eine wechselseitige Verpflichtung von Öffentlichkeit und Einzelwesen enthält, und daß jeder einzelne, indem er gewissermaßen einen Vertrag mit sich selbst schließt, auf doppelte Weise verpflichtet ist, nämlich als Glied des Souveräns gegenüber den einzelnen und als Glied des Staates gegenüber dem Souverän.“ (OC III 362/W IV 282) Der Vertrag mit sich selbst erzeugt nicht nur ein System von Gegenseitigkeiten, sondern ermöglicht eine Identifikation mit der Gemeinschaft, die sich aus Freiheit vollzieht und nicht ideologisch präformiert ist. Rousseau ist davon überzeugt, daß sich der Zustand des Gemeinwesens an der freien Identifikation ablesen läßt. Je besser der Staat ist, desto stärker wird die persönliche Identifikation des Einzelnen mit der Gemeinschaft sein. Die Abwehr der leeren Form des Gesellschaftsvertrags veranlaßt Rousseau zu der berühmten Unterscheidung zwischen Gemeinwillen [volonté générale] und dem Willen aller [volonté de tous]: „Es besteht oft ein großer Unterschied zwischen dem Willen aller und dem Gemeinwillen; dieser zieht nur das Gemeininteresse in Betracht, jener das Privatinteresse und ist nur eine Summe von Einzelabsichten: Zieht man aber von diesen das Mehr und das Weniger ab, das sich gegenseitig aufhebt, so bleibt als Summe der Unterschiede der Gemeinwille.“ (OC III 371/W IV 153
291) Die integrale Einheit des Gemeinwillens konstituiert ein ,gemeinschaftliches Ich‘, das mehr ist als die Summe seiner Teile. Die Gesamtheit der Einzelabsichten kann aber nie mehr als die Summe aller Teile sein. Sie ist nicht imstande, den politischen Körper mit Leben zu erfüllen. Der Einzelwille richtet sich auf die engen Bereiche des Eigennutzes und strebt den eigenen Vorteil ohne Rücksicht auf andere Interessen an. Da jede Person über einen Eigenwillen verfügt, würde dessen Durchsetzung nicht nur das Gemeinwesen zerstören, sondern auch den Eigennutz minimieren. Reichtum, Macht oder andere Privilegien können nur wenige auf Kosten vieler beanspruchen. Die sozialen und ethischen Hierarchien haben insofern Voraussetzungen, die wahre Gemeinschaftlichkeit vom Ansatz her ausschließen. Rousseau mahnt an, im Gemeinwesen weder Bettler noch Reiche zu dulden. Denn beide arbeiten gemeinsam daran, die Freiheit zu zerstören: Der eine gibt sie preis, der andere eignet sie sich an. In der neuen Gemeinschaft müssen Extreme generell vermieden werden. Ein Mindestmaß an Wohlstand, Gesundheit und Bildung kann niemandem mit guten Gründen verweigert werden, und zwar sowohl um seiner selbst als auch um des Bestandes der Gemeinschaft willen. Unter den Bedingungen uneingeschränkter Gleichbehandlung aller Personen haben Einzelinteressen, die sich nur auf den engen Eigennutz richten, keine ethische Grundlage. Sie heben sich zudem gegenseitig auf, weil sie die berechtigten Interessen aller anderen Personen gar nicht erst in Betracht ziehen. Auch unabhängig von den strengen ethischen Vorgaben des Egalitarismus liegt es im wohlverstandenen Selbstinteresse, die Regel der Kooperation zu beachten und die Interessen anderer zu berücksichtigen. Kooperation ist aber ohne gemeinschaftliche Koordination nicht möglich. Rousseau zufolge kann es nur unter den Bedingungen des Gemeinwillens positive Freiheit geben. Seine Schriften sind durchzogen von der schmerzhaften Erfahrung, daß es in ethisch und sozial korrumpierten Lebensverhältnissen nahezu übermenschlicher Anstrengungen bedarf, sich auf vernünftig bestimmte Weise selbst zu behaupten. Viele egoistische Verhaltensweisen sind danach verzweifelte Reaktionen, die eigenen Benachteiligungen in Grenzen zu halten. Sie setzen einen Teufelskreis in Gang, der die einzelnen Personen immer tiefer in Fremdbestimmungen verstrickt. Der 154
neue Gesellschaftsvertrag ist der Gegenentwurf zu solchen Zuständen. Der Gemeinwille schafft Bedingungen, unter denen Personen sich vernünftig und selbstbestimmt entfalten können. Das hat die lebenspraktische Konsequenz, daß den einzelnen Personen im sozialen Raum die Gründe für ein selbstbestimmtes Leben kenntlich werden. Die Gesetze der sozialen Verständigungsverhältnisse sind auch Gesetze der individuellen Autonomie. In dem System der Gegenseitigkeiten kommt es zu einer ,bewundernswerten Übereinstimmung von Interesse und Gerechtigkeit‘. Der Bestimmung nach erzwingt der Gemeinwille nicht Rücksichtnahme und Gerechtigkeit, sondern liefert die Gründe, mit deren Hilfe Personen verstehen können, warum sie ein genuines Interesse daran haben müssen, moralisch zu handeln. Rousseaus Konzeption des Gemeinwillens hat heftige Kritik hervorgerufen. Es ist in der Tat nicht von der Hand zu weisen, daß sie mit einem grundsätzlichen Paternalismusproblem belastet ist. Sie muß vor allem eine Lösung für den Fall bereitstellen, daß sich eine einzelne Person dem Gemeinwillen widersetzt. In einer vielbeachteten Wendung stellt Rousseau dazu kategorisch fest: „Wer dem Gemeinwillen den Gehorsam verweigert, soll durch den ganzen Körper dazu gezwungen werden. Das heißt nichts anderes, als daß man ihn zwingt, frei zu sein (…).“ (OC III 364/W IV 283) In dieser schroffen Formulierung ist die Zurücknahme der zuvor unterstellten unbedingten Freiheit des Einzelnen gesehen worden. Die quasi-paternalistische Position Rousseaus kann aber auch gemäßigter und seinem Egalitarismus angemessener interpretiert werden. Danach gibt es zwingende Gründe für die einzelne Person, ihre Neigungen und Interessen zu korrigieren. Der Gemeinwille übt keine Repression aus, sondern erzieht Personen in der Gestalt moralischer Bildung zur Mündigkeit. Diese Interpretationsperspektive kann unmittelbar an die Unterscheidung zwischen wahren und falschen Bedürfnissen anschließen, die im Emile herausgearbeitet wird (siehe Abschnitte V. 1 und VII. 1). Wenn der Einzelne kein Verständnis für die Bedingungen seiner Selbstbestimmung entwickelt, ist er der Gefahr ausgesetzt, Eigennutz für Selbstbehauptung zu halten. Ihm entgeht, daß seine egoistischen Neigungen niemals befriedigt werden können, weil sie auf dem Wege selbstzerstörerischer Vergleiche in neuer Gestalt von außen nachdrängen. Diese Art des Vergleichs entfremdet die 155
Person gleichermaßen von sich selbst und von anderen. Sie verliert ihr Selbstverständnis und betrachtet die anderen nur als Konkurrenten. Solchen Eigennutz- und Konkurrenzvorstellungen will der neue Gesellschaftsvertrag den Anlaß entziehen. Es bleibt das Unbehagen, daß der Gemeinwille epistemisch fallibel ist und zumindest in Einzelfällen die objektiven Interessen von Personen verletzt. Rousseau weist auch diese Möglichkeit ab und legt ein analytisches Argument für den epistemischen Vorrang des Gemeinwillens vor, das gut geeignet ist, kurzschlüssige Identifikationen mit realen politischen Ordnungen zu unterbinden: „Warum ist der Gemeinwille immer im Recht und warum wollen alle beständig das Glück eines jeden, wenn nicht deshalb, weil es keinen gibt, der sich dieses Wort jeder nicht aneignen würde und der nicht an sich dächte, wenn er für alle stimmt? Dies beweist, daß die Rechtsgleichheit und der Begriff von Gerechtigkeit, den sie erzeugt, dem Vorzug entspringen, den jeder sich selbst gibt, und folglich der Natur des Menschen; es beweist, daß der Gemeinwille, um wirklich ein solcher zu sein, in seinem Ziel wie in seinem Wesen allgemein sein muß; daß er von allen ausgehen muß, um auf alle angewandt zu werden; und daß er seine naturgemäße Richtigkeit verliert, sobald er auf einen einzelnen und bestimmten Gegenstand ausgerichtet ist, weil wir dann über etwas urteilen, was uns fremd ist, und damit kein wahres Prinzip der Billigkeit [vrai principe d’équité] mehr haben, das uns leiten könnte.“ (OC III 371/W IV 293) Der Gemeinwille ist nur dann epistemisch infallibel, wenn er ausschließlich von dem Prinzip der Gerechtigkeit und Billigkeit beherrscht wird, das jeder einsehen kann. Jede Person kann daran anknüpfen, weil sie wie alle anderen Personen integraler Bestandteil des Gemeinwillens ist. Andere Interessen finden auf die gleiche Weise Berücksichtigung im Selbstinteresse, wie dieses in das Interesse aller anderen Personen eingeht. Die integrale Einheit muß nicht von außen aufgezwungen werden. Sie geht aus der Natur des Menschen und der ursprünglichen Selbstbehauptung auf dem Wege aufgeklärter Selbsterweiterung hervor.
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5. Die bürgerliche Religion Der Gesellschaftsvertrag schließt mit einem Abschnitt zur bürgerlichen Religion, der in einem engen sachlichen Zusammenhang mit dem Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars steht. Beide Textstücke sind zudem konkrete Anlässe für die Verurteilungen Rousseaus gewesen. Im Gesellschaftsvertrag beschäftigt sich Rousseau vorrangig mit der politischen Funktion der Religion. Er hält daran fest, daß der Staat in seinem inneren Zusammenhalt auf eine Religion angewiesen ist, weist aber den Gedanken zurück, das Christentum unmittelbar als ein System der Gesetzgebung im sozialen Raum zu etablieren. In politischer Hinsicht muß allein die einheitsstiftende Wirkung der Religion maßgebend sein. Ihre Offenbarungen haben jedoch einen schädlichen Einfluß, weil sie Triebfedern für Konflikte der verschiedenen Religionen untereinander sind. Eine Religion, die keine einheitsstiftende Funktion im sozialen Raum erfüllt, ist letztlich nur ein Kult, der die Menschen in Widerspruch mit sich selbst bringt und die innere Zerrissenheit der Gesellschaft befördert. Die politischen und kulturellen Konsequenzen eines theologischen Alleinvertretungsanspruchs werden von Rousseau mit großem Nachdruck herausgearbeitet. Überall dort, wo klerikale Institutionen sich einzig und allein im Besitz der ewigen Wahrheit glauben, werden sie zwangsläufig ein System der Intoleranz etablieren, das Freiheit und Menschenrechte nicht achtet. Aus diesem Grund wäre es eine folgenreiche Unterschätzung, theologische Intoleranz für politisch vernachlässigbar zu halten: „Nach meiner Meinung irrt sich, wer bürgerliche und die theologische Intoleranz voneinander unterscheidet. Diese beiden sind nicht voneinander zu trennen. Es ist unmöglich, mit Menschen, die man für verdammt hält, in Frieden zu leben; sie lieben hieße Gott hassen, der sie bestraft; man muß sie unbedingt bekehren oder aber peinigen. Überall, wo theologische Intoleranz Eingang gefunden hat, muß sie unweigerlich einen gewissen Einfluß auf das bürgerliche Leben haben; und sobald sie Einfluß gewinnt, ist der Souveräne nicht mehr souverän, nicht einmal im Weltlichen: von diesem Augenblick an sind die Priester die wahren Herren, und die Könige sind nichts als ihre Beamten.“ (OC III 469/W IV 389 f.) Rousseaus Angriff auf klerikale Dogmen richtet sich nicht nur 157
auf ihre politischen Konsequenzen, sondern auch auf ihre theologischen Inhalte und Institutionalisierungen. Er wendet sich insbesondere gegen die Verkündigungen von Wundern, Offenbarungen, Seelenheil und Verdammnis. Die sonderbare Vielfalt der Kulte ist für ihn ein Hinweis auf die multikulturellen Operationen der Einbildungskraft, die sich nach Maßgabe ihres zivilisatorischen Orts unterschiedlich ausprägt. Darüber hinaus beklagt er, daß den religiösen Zeremonien zu große Bedeutung beigemessen werde. Mit der Überbewertung gehe die Gefährdung einher, die Zeremonien für die Religion selbst zu halten. Vor allem in den rigiden Anweisungen zu Kleidung, Wort und Geste des Priesters sieht er törichte Eitelkeit, die sich der Illusion hingibt, ein Gott könnte daran wirklich Interesse haben. Dem theologischen Alleinvertretungsanspruch liegt zudem ein falsches Gottesbild zugrunde. Es wird nämlich unterstellt, daß es nur einen selig machenden Weg zu Gott gebe und alle Menschen, die nicht an ihn glauben, zur ewigen Verdammnis verurteilt seien. Für Rousseau wäre ein Gott, der den kulturellen Zufall mit seinen lokalen Gegebenheiten nicht einrechnet und den Menschen die Möglichkeit verwehrt, unabhängig von speziellen Anleitungen und Vorschriften aufrichtige Religiosität zu praktizieren, der ungerechteste und grausamste Tyrann. Rousseau akzeptiert Religiosität nur innerhalb der engen Grenzen einer natürlichen Religion. Löst man sich von den Äußerlichkeiten, die mit den verschiedenen Kulten einhergehen, so zeigt sich, daß ihre Weltanschauungen Elemente einer natürlichen Religion enthalten, die sich durch Aufrichtigkeit auszeichnet. Der wahre Tempel der Gottheit ist das gerechte Herz, und die natürliche Religion ist ein innerer Gottesdienst, in dem sich die Pflichten der Moral zu erkennen geben. In den Pflichten der Moral sieht Rousseau den Kern der Universalität praktischer Vernunft, von der Religionen an allen Orten und zu allen Zeiten ein beredtes Zeugnis ablegen. Dieser Sachverhalt läßt sich für ihn nur so ausdeuten, daß das Verhältnis von Tugend und Religion nicht kontingent ist: Es gibt keine Tugend ohne Glauben. Die Begründung der Einheit von Tugend und Glauben ist neben der Materialismuskritik das große Anliegen des savoyischen Vikars, von dem Rousseau sagt, daß dessen Bekenntnis auch das seinige ist. Der Vikar bezichtigt den Atheismus des 158
geheimen Egoismus und der philosophischen Gleichgültigkeit. Der atheistische Staat sei ein stiller Staat, der zwar vorderhand nicht töte, aber die Menschen in ihrer moralischen Bildung und insofern in ihrer Humanität bedrohe. Deshalb schließt der Vikar sein Bekenntnis mit dem Ratschlag: „Mein Kind, der Eigennutz täuscht uns; nur die Hoffnung der Gerechten täuscht niemals.“ (OC IV 635/W III 405) Der Zusammenhang von Glaube und Tugend begründet die soziale Funktion der Religion. Schon Locke hat in seinem Brief über die Toleranz bezweifelt, daß ein Atheist ein guter Bürger sein könne, denn er habe eigentlich keinen Grund, seinen Verpflichtungen nachzugehen und seine Versprechen zu halten. Diesen Verdacht teilt Rousseau. Der Atheist wird für ihn nicht deshalb zum Problem, weil er gottlos ist, sondern weil es ihm an Gemeinschaftssinn fehlt, der für den neuen Gesellschaftsvertrag unverzichtbar ist. Aufgrund des fehlenden Gemeinschaftssinns wird sich immer Zweifel regen, ob der Atheist aufrichtig den Gesetzen folgt, die Gerechtigkeit liebt und bedingungslos seine Pflicht erfüllt. Das Unbehagen gegenüber den egoistischen Tendenzen des Atheismus setzt aber nicht wieder die alten Dogmen ins Recht. Die Religion ist nur im Hinblick auf die ethischen Grundlagen der Gemeinschaft eine heilsame Institution. Weil eine Heilslehre eben keine bloße Privatsache ist, muß alles, was an der Religion über die gemeinschaftsstiftende Funktion hinausgeht, aus dem politischen Raum verbannt werden. Selbst Engel könnten nicht mit jemandem in Frieden leben, den sie für einen Feind Gottes halten. Mit der Konzeption einer bürgerlichen Religion, die sich auf den ethischen Gehalt der natürlichen Religion stützt, will Rousseau die Extreme von Atheismus und klerikalem Dogmatismus vermeiden. Er erwartet, daß sie das soziale Bedürfnis nach Religiosität befriedigen und die ihr zugedachte einheitsstiftende Funktion erfüllen kann. Sie kann aber nur dann ein ethisches Beispiel universeller menschlicher Moralität abgeben, wenn sie in der Immanenz des politischen Raums verbleibt und jeden Rekurs auf Offenbarungen vermeidet: „Die Dogmen der bürgerlichen Religion müssen einfach, gering an Zahl, klar im Ausdruck, ohne Erklärungen und Auslegungen sein. Das Vorhandensein einer mächtigen, mit Verstand begabten, wohltätigen, vorausschauenden und 159
fürsorglichen Gottheit, ein künftiges Leben, das Glück der Gerechten, die Bestrafung der Bösen, die Heiligkeit des Gesellschaftsvertrags und der Gesetze: das sind die positiven Dogmen. Was die negativen Dogmen anlangt, so beschränke ich sie auf ein einziges: die Intoleranz; sie gehört zu den Kulten, die wir ausgeschlossen haben.“ (OC III 468 f./W IV 389) In der bürgerlichen Religion äußern sich auf einfache und natürliche Weise die moralischen Einsichten, die Gott in das Herz aller Menschen eingeschrieben hat. In der Teilhabe an einer moralischen Realität, die größer ist als die menschliche Einbildungskraft, zeigt sich eine tiefgründige Form von Religiosität, die über ihre Wirksamkeit im sozialen Raum weit hinausgeht. Die bürgerliche Religion feiert die Unbedingtheit des Gesellschaftsvertrags und des Gesetzes. Sie wahrt die Einheit von aufrichtiger Religiosität und Humanität, tradiert die moralischen Regeln des citoyen und formuliert die Erwartung auf das Glück der Gerechten.
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IX. Individualität und Authentizität 1. Die Einsamkeit des Guten Rousseaus umfassende Kulturkritik sowie sein Bruch mit den Konventionen in Literatur, Bildung und Politik erzeugen eine Situation, die den Ort des Autors nicht unberührt läßt. Er hat sich der Frage zu stellen, wie unter den diagnostizierten ideologischen Bedingungen überhaupt noch auf authentische Weise Kritik geübt werden kann. Die Fragestellung beantwortet Rousseau in seinen Bekenntnisschriften, unter denen im wesentlichen die Bekenntnisse, die Dialoge Rousseau richtet über Jean-Jacques und Die Träumereien des einsamen Spaziergängers zu verstehen sind. Zu ihnen gehören aber auch Arbeiten wie die Vier Briefe an Malesherbes, die Briefe vom Berge sowie der Brief an Christophe de Beaumont, in denen sich eine Vielzahl von Erläuterungen zum Verhältnis von Leben und Werk finden. Die Bekenntnisschriften verfügen über einen gemeinsamen Ausgangspunkt. Ihm zufolge ist die aufrichtige Thematisierung der individuellen Lebensgeschichte unter den Bedingungen sozialer Entfremdung die Bedingung moralischer Selbstbehauptung. Ungeachtet des Lamentos über das eigene Unglück und die Bösartigkeit der Feinde legt Rousseau im Rahmen seiner Rechtfertigungen gewichtige systematische Analysen zu den verbleibenden Möglichkeiten von Autonomie und Authentizität vor. Er unternimmt den anspruchsvollen Versuch, faktische Lebensbedingungen und authentische Existenz aufeinander abzubilden. Bei den Rechtfertigungen kommt der Stilisierung des Erleuchtungserlebnisses von Vincennes besondere Bedeutung zu (siehe Abschnitt II. 2). Es wird im nachhinein als Exemplifizierung des unvermeidlichen Zusammenhangs von radikaler Kulturkritik und lebensgeschichtlicher Krise dargestellt. Die unheilvollen Ereignisse der späteren Jahre deutet Rousseau als Konsequenz von Einsichten, die sich nicht allmählich, aufgrund angestrengter und langwieriger Erkenntnisprozesse herauskristallisiert haben, sondern in einem Geschehen intuitiver Gewißheit über ihn hereingebrochen sind. Das lebensgeschichtliche Unglück erscheint unter den Bedingungen, die die Kulturkritik diagnostiziert, als zwangsläufige Folge ursprünglicher Einsichten. 161
In den autobiographischen Schriften nach 1762 nimmt Rousseau das kulturkritische Motiv seiner frühen Diskurse unter neuen Vorzeichen wieder auf. Er beklagt die Betriebsamkeit der Menschen im gesellschaftlichen Raum, die als Sklaven ihres Egoismus sich dem modischen Schein und dem ,schönen Firnis von Worten‘ verschreiben, und sieht sich als ,Bewohner einer anderen Sphäre‘, in der Konventionen und Eitelkeiten nicht zählen. Das Tor zu dieser Sphäre ist ein „zurückgezogenes und einsames Leben, ein lebhafter Geschmack an Träumerei und Betrachtung, die Gewohnheit, in sich zu gehen“ (OC I 936/S II 571). In der Zurückgezogenheit begibt sich Rousseau auf die Suche nach der verlorenen Zeit ursprünglicher Natürlichkeit. Dieser Zug ist durch die Überzeugung motiviert, daß der natürliche Mensch nicht in den von scheinhaften Konventionen überzogenen Sozialverhältnissen zu finden ist. Wenn der gegenwärtige zivilisatorische Zustand keine Option für das wahre Leben ist, muß bei dem Ort, an dem ein Mensch nicht auf die Billigung des Publikums und die Wertschätzungen anderer angewiesen ist, offenbar an eine Enklave oder ein Exil gedacht werden. Rousseau erwartet, daß es nur dort einem Menschen möglich sein wird, seiner Vernunft und seinen natürlichen Interessen zu folgen. Im intellektuellen Exil schlägt die Stunde rückhaltloser Selbstthematisierung. Sie ist in Rousseaus Werk von Anfang an vorbereitet und nimmt nach 1762 eine alles beherrschende Stellung ein. Vorher hat er Möglichkeiten erwogen, eine moralisch intakte Lebensführung auf überschaubaren Lebens- und Erziehungssituationen oder auf einem vernünftig organisierten gesellschaftlichen Raum zu gründen. Er ist aber nicht davon ausgegangen, daß die im Emile und im Gesellschaftsvertrag konzipierten Modelle unmittelbar vor ihrer praktischen Umsetzung stehen. Unabhängig von den Verfolgungen nach 1762, die die Flucht aus seinem gewohnten Umfeld gewaltsam erzwingen, liefert seine Philosophie genügend Anlässe für Einsamkeit und Exil. Im Pariser Freundeskreis werden die Rückzugstendenzen früh bemerkt. Diderot ahnt, welche Konsequenzen sie gerade im Fall Rousseaus haben werden. Er schreibt 1757 im Fils naturel, daß nur der Böse allein sei. Rousseau ist nicht verborgen geblieben, auf wen diese Bemerkung zielt. Im Emile reagiert er auf den Angriff und bekennt offen seine Sympathie für das intellektuelle Exil. 162
Abb. 8: Gemälde von Allan Ramsay, 1767.
Für ihn ist unstrittig, daß nur der Einsame gut sein kann: „Ein berühmter Schriftsteller sagt, nur der Böse sei allein; ich sage, nur der Gute sei allein. Wenn dieser Satz auch nicht so eingängig ist, so ist er doch wahrer und vernünftiger als der vorhergehende. Wenn der Böse allein wäre, was für Böses könnte er tun?“ (OC IV 341/W III 105 Anm.) Schon vor dem großen Umbruch in seinen persönlichen Lebensumständen beschreibt Rousseau die Gesellschaft unmißverständlich als die Versammlung der Bösen. Mit die163
sem Befund kann er nicht zuletzt an die Eingangspassage des Emile anknüpfen, nach der alles gut ist, wenn es aus den Händen des Urhebers der Dinge kommt, aber entartet, wenn es in die Hände der Menschen gelangt (siehe Abschnitt VII. 1). In der kulturkritischen Rechtfertigungsperspektive ist die Einsamkeit des Guten Ausdruck des von außen erzwungenen Rückzugs in das intellektuelle Exil. Auch Rousseaus Projekt der Selbstthematisierung weist, wie seine Philosophie insgesamt, ausgeprägte egalitaristische Züge auf. Sie zeigen sich bereits darin, daß überhaupt eine Selbstthematisierung in literarischer Form unternommen wird. Rousseau macht darauf aufmerksam, daß er seine Bekenntnisse als einfacher Bürger verfaßt und nicht als Bischof, wie Augustinus, oder als Adliger, wie Montaigne. Der Sachverhalt, unbekannt oder verborgen gelebt zu haben, ist für das Projekt der Selbstthematisierung nicht von Belang. Solange er besser oder aufrichtiger verfährt als alle anderen, wird die Geschichte seiner Seele interessanter sein als die von Königen. Aufrichtigkeit ist kein ständisches oder akademisches Privileg. Sie erschließt sich allen Menschen, die ihre moralische Urteilskraft noch nicht völlig verloren haben. Allerdings dürfte Rousseau in diesem Punkt seine innovative Rolle überschätzen. Die literarische Stilisierung des einfachen Lebens, ohne Rücksicht auf ständische Positionen, findet sich schon bei Francesco Petrarca. Selbst Montaigne beansprucht, wenn auch von einem gehobeneren gesellschaftlichen Stand, in seinen Essais egalitaristisches Neuland betreten zu haben. Der Rückzug in das intellektuelle Exil ist lebenspraktisch früh angelegt. Die Entfremdung von den philosophes und die kulturkritischen Diagnosen gehen Hand in Hand. Dieser Zusammenhang macht es überaus schwierig, in den Bekenntnisschriften theoretische und persönliche Motive auseinanderzuhalten. Es ist davon auszugehen, daß Rousseau die Vermischung von vornherein beabsichtigt. In der Rezeptionsgeschichte ist ihm dieser Umstand zum Nachteil geraten. Vielfach sind seine Bekenntnisschriften nur als Zeugnis vordergründiger Selbstverteidigung oder sogar als Ausgeburt von Wahnvorstellungen gedeutet worden. Den theoretischen Motiven, die sich hinter den Selbstthematisierungen verbergen, und der Vielzahl tatsächlicher Verfolgungen und Intrigen, denen Rousseau nachweislich ausgesetzt gewesen ist, wird 164
dabei wenig Aufmerksamkeit zuteil. Aber auch dem gutwilligen Leser kann nicht entgehen, daß Rousseau des öfteren die Grenzen zwischen aufrichtiger Selbstthematisierung und schierer Hybris übersieht. In einem Brief aus dem Jahre 1770 vergleicht er sich mit den Märtyrern und beneidet sie um ihr Schicksal. Zwar räumt er ein, daß er nicht ihren Glauben habe, besteht aber darauf, in Anspruch, Unschuld und Eifer ihnen in nichts nachzustehen. Deshalb hält er sich durchaus für würdig, die gleiche Anerkennung wie sie zu erhalten. Bei der Durchführung des Projekts der Selbstthematisierungen sieht sich Rousseau von Anbeginn mit methodischen Schwierigkeiten konfrontiert. Bei dem Versuch, seine Seele für den Leser transparent zu machen, läßt er sich von der Vorstellung ursächlicher Verknüpfungen der Bewußtseinsinhalte leiten: „Da im allgemeinen die Gegenstände selbst weniger Eindruck auf mich machen als die Erinnerung an sie und da alle meine Ideen sich in Bildern aussprechen, sind die ersten Spuren, die sich in mein Hirn eingruben, darin geblieben, und was sich dort weiter einprägte, hat sich eher mit ihnen verbunden, als daß es sie ausgelöscht hätte. Es gibt eine gewisse Reihenfolge in den Empfindungen und Vorstellungen, die früheren beeinflussen die späteren, und man muß daher jene kennen, um diese richtig zu beurteilen.“ (OC I 174 f./W II 174 f.) Um die Seele in ihren Gegebenheiten und Begebenheiten auf wahrhaftige Weise schildern zu können, bedarf es eigentlich einer neuen Sprache, die genauso neuartig sein müßte wie das Projekt der authentischen Selbstthematisierung. Sie müßte einen neuen Tonfall und Stil annehmen, um den vielfältigen Verästelungen und Gegenläufigkeiten der Empfindungen Ausdruck geben zu können. Rousseau hat in seinem Spätwerk ein beträchtliches Stück auf dem Weg zu einer neuen Sprache der Individualität zurückgelegt. Seine literarischen Werke zeichnen sich insgesamt durch expressive Sensibilität aus. Insbesondere sein Briefroman Julie hat stark auf die Ausdrucksformen der romantischen Bewegung gewirkt. Die späten Bekenntnisschriften sind der Sprache expressiver Innerlichkeit verpflichtet, die den Quellen und Formen menschlicher Vorstellungswelten nachspürt (siehe Abschnitt IX. 4).
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2. Auf den Spuren Montaignes Rousseaus Projekt der Selbstthematisierung ist unstrittig innovativ, es kann aber nicht beanspruchen, in jeder Hinsicht neu zu sein. Petrarca und Montaigne haben schon früh Individualitätskonzepte etabliert, die methodisch auf Augustinus’ Philosophie der Innerlichkeit zurückgehen. Rousseau ist dieser Traditionslinie verpflichtet. Mit Montaignes Projekt verbinden ihn auch eine Reihe von thematischen Gemeinsamkeiten. Beide stellen im Unterschied zu Augustinus und Petrarca die Person des Alltagslebens in den Mittelpunkt ihrer Bekenntnisse. Während für Augustinus die Innerlichkeit der Bereich ist, in dem er den Zugang zu Gott sucht, kann sich Petrarca noch nicht rückhaltlos für die humanistische Selbstbehauptung und gegen die religiöse Einkehr entscheiden. Auf dem Gipfel des Mont Ventoux erkennt er zunächst noch die Landmarken der humanistischen Kultur, um dann doch auf die augustinische Doktrin der Innerlichkeit zurückzufallen, nach der nichts in der Welt groß ist außer der sich selbst zugewandten menschlichen Seele. Erst Montaigne konzentriert sich auf die Präsenz der Innerlichkeit in den alltäglichen Lebensverläufen. Montaigne wendet sich in der Einführung der Essais an den Leser mit der Versicherung, daß er ein aufrichtiges Buch vorgelegt habe, das im wesentlichen Situationen des privaten Lebens nachzeichne. Auch strebe er keinen Ruhm mit diesem beiläufigen Unterfangen an. Trotzdem fehlt nicht der Blick auf die Nachwelt. Das Buch sei in erster Linie für die Freunde geschrieben, die er wohl bald verlassen müsse. Montaigne kündigt weiterhin an, daß er nicht davor zurückgescheut habe, seine Fehler zur Darstellung zu bringen. Es gehe ihm darum, in einer schlichten und alltäglichen Weise gesehen zu werden. Auch Rousseaus Kritik an den gesellschaftlichen Anerkennungsverhältnissen, nach der die Menschen im Zuge ihrer Selbstverständigungen nur auf andere anstatt auf sich selbst schauen, findet sich bereits bei Montaigne. Er spricht davon, daß die Leute nur auf ihr Gegenüber schauten und ständig vor sich herliefen. Dagegen bleibe er bei sich selbst und wende seinen Blick ständig prüfend nach innen. In einer modernen Wendung bekennt er freimütig, daß er um sich selbst kreise. 166
Eine wichtige Rolle in Montaignes Philosophie der Individualität spielt der Gedanke der Kontingenz. Die einzelne Person wird in ihren zufälligen Gestalten und Dispositionen nahezu einschränkungslos anerkannt. Allgemeine Wesensbestimmungen oder normative Richtlinien kommen nicht zur Anwendung. Die kontingenzphilosophische Analyse vermag in ihnen keine feste Grundlage zu entdecken. Für Montaigne bietet nicht einmal das Einzelne festen Halt. Die Welt sei eine niemals ruhende Schaukel, deshalb könne allein der Wandel gezeigt werden. Aufgrund dieses Ansatzes ist es für Montaigne einfach, revisionären Versuchungen zu widerstehen. Er entschließt sich, den Menschen so anzunehmen wie er ist, und versucht ihn von Tag zu Tag, von Minute zu Minute zu erfassen. Dabei sei höchste Eile geboten, denn er könne alsbald sehr wohl ein anderer sein. Bei aller vorgeblichen Beiläufigkeit seines Unterfangens kann Montaigne nicht umhin, den paradigmatischen Stellenwert seiner Selbstthematisierung herauszustellen: „Ich führe ein Leben ohne Glanz und Gloria vor Augen – warum auch nicht? Man kann alle Moralphilosophie ebensogut auf ein niedriges namenloses wie auf ein reicher ausgestattetes Leben gründen: Jeder Mensch trägt die ganze Gestalt des Menschseins in sich.“ (Montaigne, Essais III. 2, S. 399) Diese paradigmatische Erhöhung der Selbstthematisierung ist deshalb bemerkenswert, weil sich Montaigne, anders als diese Passage nahelegt, Verallgemeinerungen in der Anthropologie und Ethik ausdrücklich verweigert. Den universalistischen Zug der Selbstthematisierung wird Rousseau zu Beginn der Bekenntnisse in einer ausholenden Geste herausstreichen und gegenüber Montaignes Einlassungen deutlich verstärken. Rousseau übernimmt von Montaigne neben der exemplarischen Darstellung der Menschheit im Einzelnen auch die Betonung der Innerlichkeit bei der Bestimmung dessen, was die Person zu dem macht, was sie ist. Die wahre Geschichte eines Menschen kann niemals ohne die ,Geschichte seiner Seele‘ erzählt werden. Rousseau glaubt, daß seine Bekenntnisse deswegen einzigartig sind, weil sie in radikaler Aufrichtigkeit die Bewegungen seiner innerlichen Befindlichkeiten zur Darstellung bringen. Er räumt ein, daß Montaigne auf dem Weg zur Innerlichkeit bedeutende Vorarbeiten geleistet habe, sein Bekenntnis zur Aufrichtigkeit hält er aber für eine geschickte Täuschung: „Ich habe stets über die falsche Nai167
vität Montaignes gelacht, der, während er scheinbar seine Fehler eingesteht, doch sehr darauf bedacht ist, sich nur liebenswürdige Fehler beizulegen; während ich, der ich mich, im ganzen genommen, stets für den Besten der Menschen gehalten habe und noch halte, erkannt habe, daß es kein menschliches Inneres gibt, das, so rein es auch sein möge, nicht irgendein hassenswertes Laster verberge.“ (OC I 516 f./W II 509) Rousseau macht gegen Montaigne geltend, daß das Kriterium der Aufrichtigkeit nicht halbherzig zu erfüllen sei. Er wirft ihm vor, die für Selbstthematisierungen konstitutive Funktion der Aufrichtigkeit nicht einmal begriffen zu haben. Die Autobiographie kann trivialerweise keine Abbildung des Lebens sein. Dazu reicht keine Zeit des Lebens. Die Authentizität der Selbstthematisierung muß insofern konstruktive Auslassungen oder Verschiebungen von Daten aushalten können. Sie übersteht aber keinesfalls Unaufrichtigkeit, die das komplizierte System der Innerlichkeit zwangsläufig zum Zerreißen bringen wird. Authentizität hat die anspruchsvolle Aufgabe, die Kontingenz des Lebens zu kompensieren. Jede Selbstthematisierung, die nicht unter den Bedingungen kompromißloser Aufrichtigkeit vollzogen wird, ist Rousseau zufolge unbrauchbar. 3. Die Geschichte selbstbewußter Innerlichkeit Die Parallelen der Einführungen in die Essais und Bekenntnisse sind offenkundig. Rousseau ist aufs äußerste bemüht, die Eigenheiten seines Ansatzes klar zu konturieren. Der erste Satz der Bekenntnisse macht unmißverständlich klar, daß bei seinem Projekt der Selbstthematisierung nicht an Vorläufer gedacht werden soll: „Dies ist das einzige Bild eines Menschen, genau nach der Natur und in seiner ganzen Wahrheit gemalt, das es gibt und wahrscheinlich je geben wird.“ (OC I 3/W II 7) In einer wuchtigen Eröffnung wendet er sich wie Montaigne direkt an den Leser, um ohne Umschweife offenzulegen, worin die Besonderheit seiner Selbstthematisierung begründet ist, nämlich in dem einzigartigen Umgang mit sich selbst: „Wer Sie auch sind, den mein Schicksal oder mein Vertrauen zum Schiedsrichter über das Geschick dieses Heftes gemacht hat, ich beschwöre Sie bei meinem Unglück, bei Ihrem Innersten und dem Namen der ganzen menschlichen Art; 168
zerstören Sie nicht ein einzigartiges und nützliches Werk, daß als erstes Vergleichsstück beim Studium der Menschen dienen kann, einem Studium, welches erst beginnen muß, und entziehen Sie nicht der Ehre meines Andenkens das einzige zuverlässige Denkmal meines Charakters, das von meinen Feinden nicht entstellt worden ist.“ (OC I 3/W II 7) Die ersten Sätze der Bekenntnisse fassen den Kern des Projekts der Selbstthematisierung prägnant zusammen. Er besteht aus einem Authentizitätsgedanken, der Idee von der Universalisierbarkeit radikaler Individualität, dem Nachweis der Unvermeidlichkeit und Rechtfertigung des intellektuellen Exils sowie einem Erlösungspakt mit der Nachwelt. Das Projekt der Selbstthematisierung ist auf die Ewigkeit hin angelegt. Die Bekenntnisse werden nicht geschrieben, um noch zur Lebenszeit ihres Autors zu erscheinen. Es geht vielmehr darum, das Fortleben seines guten Namens zu sichern. Rousseau versucht, in einem Akt der Selbstverteidigung gegen seine ungerechten und mißgünstigen Feinde, „das Andenken an den unglücklichen Menschen, der ihn trug, so wie er wirklich war, zu erhalten“ (OC I 400/W II 395). Die vielen Ungerechtigkeiten, denen er sich ausgesetzt sieht, sollen mit seinem Ableben abgegolten sein. Der wahre Rousseau wird sich zeigen, wenn seine Feinde wie er selbst den Weg alles Endlichen gegangen sind. Die Wiederherstellung der von den Feinden nicht entstellten Gestalt des JeanJacques Rousseau ist die consolatio philosophiae. Ihre notwendige Voraussetzung ist die Aufdeckung der Geschichte der eigenen Seele. Der Anspruch rückhaltloser Aufrichtigkeit trennt Rousseaus und Montaignes Projekte. Die Darstellung der Geschichte der Seele hat die Gestalt einer Rekonstruktion der innerlichen Einstellungen, voluntativen Dispositionen und emotionalen Initiativen, die die oft unzusammenhängenden Ereignisse im Leben einer Person zu einem Ganzen verbinden. In ihrer existentiellen Bedeutung treten die einzelnen Begebenheiten hinter die Geschichte der Seele zurück: „Ich kann Lücken in den Tatsachen lassen, sie verschieben, mich in den Daten irren, aber ich kann mich nicht über das täuschen, was ich gefühlt habe, noch über das, was mich meine Gefühle haben tun lassen. Und darum handelt sich’s in der Hauptsache. Der eigentliche Gegenstand meiner Bekenntnisse ist der, mein Inneres in allen Lagen meines Lebens genau erkennen 169
zu lassen. Die Geschichte meiner Seele habe ich versprochen; und um sie treu zu schreiben, brauche ich keine andern Erinnerungen. Es genügt mir (…), in mein Inneres einzukehren [de rentrer au dedans de moi].“ (OC I 278/W II 274) Rousseaus Begriff der Geschichte der Seele geht den ersten manifesten Spuren nach, die sich in das Bewußtsein eingegraben und es über die Zeit hinweg geprägt haben. Die Kontinuität des Lebens wird danach von einer Kette der Gefühle bestimmt, an der entlang sich die eigenen Erlebnisse und Verhaltensweisen aufreihen. Die Freilegung der Architektur der Innerlichkeit ist nicht nur von individuellem Interesse. Sie geht den ethischen Potentialen der menschlichen Lebensform nach, an der alle Personen teilhaben. Selbsterkenntnis, auch wenn sie unvollendet bleibt, ist für Rousseau das einzige Mittel, das man aufbieten kann, um die wahre Natur der Menschen zu entdecken. Mit dem Gedanken, daß die Radikalisierung der individuellen Erlebnisperspektive einen Zugang zur nicht korrumpierten menschlichen Natur eröffnet, kommt die Säkularisierung von Augustinus’ Philosophie der Innerlichkeit zum Abschluß. Wo dieser Gott findet, entdeckt Rousseau den Zugang zur wahren Natur des Menschen. Mit dieser Verschmelzung von Anthropologie und Ethik der Individualität verläßt er die Theoriewege seiner Hauptschriften von 1762. Rousseau unterscheidet zwischen Beurteilungskriterien herkömmlicher Tugendkataloge auf der einen Seite und den radikalen Authentizitätsforderungen auf der anderen Seite. Er behauptet von sich nicht, fehlerlos zu sein, aber die rückhaltlose Selbstthematisierung offenbart ihm, daß er keine verbrecherischen Motive besitzt. Seine Rechtfertigungen zielen darauf ab, entschiedener als jeder andere die Aufdeckung seiner moralpsychologischen Befindlichkeiten zu betreiben. Das Zeugnis der Authentizität muß in einem quälenden Prozeß abgelegt werden. Die bloße Versicherung, keine bösen Intentionen gehabt zu haben, reicht nicht aus. Rousseau kann nicht darüber hinwegsehen, daß gerade ehemalige Freunde ein wenig vorteilhaftes Bild von ihm zeichnen. Seine Korrekturen müssen den Weg eines großangelegten literarischen Projekts nehmen, das nicht nur die Geschichte der selbstbewußten Innerlichkeit nachzeichnet, sondern auch verständlich werden läßt, wie das falsche Bild entstehen konnte. Dieser durchsichtige Aspekt seines Selbstthematisierungsprojekts wird aber schon in 170
den Eingangspassagen der Bekenntnisse überzeichnet. Der Autor schreibt sub specie aeternitatis. Die authentische Selbstthematisierung soll nicht nur geeignet sein, die öffentliche Meinung zu korrigieren, sondern auch vor dem jüngsten Gericht Bestand haben. Das Projekt der Selbstthematisierung kann ungeachtet der hohen Erwartungen, die Rousseau mit ihm verbindet, methodisch nur mit Schwierigkeiten in Gang gesetzt werden. Die Kluft zwischen der sich selbst thematisierenden Innerlichkeit und dem äußeren Beobachter ist unüberbrückbar. Selbst unter günstigsten Bedingungen können Selbstbewußtsein und der Blick von außen nicht zusammenfinden. Was dieser erkennt, ist nur die Oberfläche der gesellschaftlichen Erscheinungsweise, die nicht zeigt, was das Wesen einer Person ausmacht. Den beobachtbaren Handlungen und Verhaltensweisen liegen interne Vorgänge zugrunde, die nicht einmal in der angestrengten Reflexion auf innere Befindlichkeiten vollständig kenntlich werden. Rousseau spricht in diesem Zusammenhang von einem inneren Modell [modelle intérieur], das sich nur in der subjektiven Perspektive andeutet und für andere gänzlich unzugänglich bleibt. Damit baut sich eine hohe Hürde für die öffentliche Rechtfertigung auf. Den methodischen Schwierigkeiten liegen Eigentümlichkeiten des Phänomens der Subjektivität zugrunde, denen Rousseau in seiner Spätphilosophie auf die Spur kommt. Dabei liefert er Vorgaben für die nicht-reduktionistischen Ansätze der modernen Subjektivitätsphilosophie, die von der Asymmetrie zwischen den Perspektiven der ersten und dritten Person ausgehen. Bei allen epistemischen Hindernissen, die die Rekonstruktion selbstbewußter Innerlichkeit zu überwinden hat, bleibt die subjektive Perspektive bewußtseinsphilosophisch und ethisch unhintergehbar. Der äußere Beobachter ist nicht in der Lage, tiefgehende Differenzierungen bei der Beurteilung einer Person vorzunehmen. Ihm entgeht, was die Person jenseits sozialer Überformungen ihrer natürlichen und existentiellen Verfassung nach ist. Vor allem bleiben ihm die inneren Einstellungen und Neigungen verborgen, die sich in den Verhaltensäußerung einer Person nur sehr undeutlich und unzusammenhängend zeigen. Die Bekenntnisse werden von der Überzeugung getragen, daß sich das ethische Schicksal der einzelnen Person ausschließlich in 171
der subjektiven Perspektive der ersten Person zuträgt: „Es ist niemand anders imstande, das Leben eines Menschen aufzuschreiben, als er selbst. Von der Wesensart seiner inneren Existenz, seinem wahrhaftigen Leben, hat nur er Kenntnis“ (OC I 1149). Der Weg in die Innerlichkeit ist niemals ein epistemisch sicherer Weg. In jeder Selbstbeschreibung steckt Selbstverkleidung, die von dem Wunsch motiviert ist, sich so zu zeigen, wie man gesehen werden will. Es kann bezweifelt werden, daß Rousseau diesem Sachverhalt genügend Aufmerksamkeit geschenkt hat. Das methodische Interesse Rousseaus gilt der exemplifizierenden Grundlegung rückhaltloser Aufrichtigkeit. Ihr wird eine moralische Qualität zugewiesen, der sich im Prinzip jeder öffnen kann und öffnen sollte. Weil Authentizität vorbehaltlose Selbstthematisierung verlangt, erwartet er, daß ihm andere Personen im Lichte ihrer eigenen Verirrungen und Verfehlungen die moralische Anerkennung nicht verweigern werden: „Ich habe mich so gezeigt, wie ich war. Verächtlich und niedrig, wenn ich es war, gut, edelmütig, groß, wenn ich es war. Ich habe mein Inneres entblößt, so wie du selbst es gesehen hast. Ewiges Wesen, versammle um mich die unzählbare Schar meiner Mitmenschen; sie sollen meine Bekenntnisse hören, über meine Nichtswürdigkeit seufzen und über meine Nöte erröten. Jeder von ihnen enthülle seinerseits sein Herz mit der gleichen Aufrichtigkeit zu den Füßen deines Throns, und dann möge auch nur einer dir sagen, wenn er es wagt: Ich war besser als dieser Mensch da!“ (OC I 5/W II 9) Seine Zeitgenossen beunruhigen in diesem Zusammenhang weniger die vielfältigen Selbstüberhebungen, sondern die Entschlossenheit, mit der er Intimes offenlegt und sich selbst bloßstellt. Allein das Gerücht, daß er an Memoiren schreibe, versetzt die Pariser Szene in Angst und Schrecken. Die Darstellung der Geschichte der selbstbewußten Innerlichkeit kann nicht beginnen, ohne daß der Autor noch einmal mit gewichtigen Formulierungen die anthropologische und ethische Tragweite seiner Selbstthematisierung herausstellt: „Ich beginne ein Unternehmen, das ohne Beispiel ist und das niemand nachahmen wird. Ich will meinesgleichen einen Menschen in der ganzen Naturwahrheit zeigen, und dieser Mensch werde ich sein. Ich allein. Ich lese in meinem Herzen [Je sens mon cœur] und kenne die Menschen.“ (OC I 5/W II 9) Die Unterwerfung unter das 172
Kriterium der Authentizität ist Rousseaus genuiner Beitrag zur modernen Entwicklung des Subjektivitätsgedankens. Der systematische Stellenwert, den er dem Authentizitätsgedanken einräumt, erzwingt eine neuartige subjektivitätstheoretische Vorgehensweise. Rousseau will die Einseitigkeiten der materialistischen Reduktionen genauso vermeiden, wie die dogmatischen Überbestimmungen der traditionellen Metaphysik. Er orientiert sich deshalb an der Vorstellung einer sensitiven Moral [morale sensitive], der die Einheit von Selbstbewußtsein und natürlicher Präsenz zugrunde gelegt wird. Der Authentizitätsgedanke erzwingt die philosophische Wendung zum Phänomen des Selbstbewußtseins. Das Selbstbewußtsein erschließt sich weder durch methodische Abstraktionen noch durch atomisierende Ausdifferenzierungen von Sinnesdaten. Im Selbstbewußtsein zeigt sich die Dimension der individuellen Existenz, die mit herkömmlichen diskursiven Mitteln nicht zur Darstellung gebracht werden kann. In existentieller Hinsicht müssen Personen ihr Leben als Einzelne führen. Ihre Vereinzelung kann keine soziale Institution überbrücken. Auf diesen Sachverhalt bezieht sich Rousseaus knappe Feststellung „Ich lese in meinem Herzen und kenne die Menschen“. Der Einzelne hat einen privilegierten Zugang zu seinen Einstellungen und Befindlichkeiten, aber es ist nicht sein Privileg, einen solchen Zugang zu haben. Alle Menschen leben unter den Bedingungen möglichen Selbstbewußtseins und möglicher Authentizität. Die Subtilität der Verknüpfung von Selbstbewußtsein und Individualität besteht darin, daß die subjektivitätstheoretische Erfassung der conditio humana sehr wohl eine radikale individualistische Ausgrenzung zuläßt. Diese Möglichkeit führt Rousseau getreu seinen methodischen Vorgaben an sich selbst vor. Zwar ist jede individuelle Existenz einzigartig, er billigt sich aber darüber hinaus zu, in der ihm eigenen Aufrichtigkeit ein zusätzliches Kennzeichen der Besonderheit vorweisen zu können. Aufrichtigkeit ist für ihn nicht bloß eine Einstellung, die gleichsam als ethischer Luxus die Alltagserfahrung begleitet. Sie prägt den Charakter und wird auf diese Weise die Quelle einer Kausalität aus Freiheit. Der konstruktive Aspekt der Aufrichtigkeit verschwindet jedoch bei Rousseau hinter der Obsession mit der eigenen Besonderheit: „Niemand will sehen, daß ich ein Wesen eigener Art 173
bin, das über den Charakter, die Maximen, die Mittel der Anderen gar nicht verfügt“ (CC IV 302). Rousseau reduziert das Selbstbewußtsein auf seinen diskriminatorischen Aspekt. Weil sich im Selbstbewußtsein immer auch der Gegensatz zu anderen selbstbewußten Standpunkten zeigt, öffnet sich eine Anerkennungsperspektive. Der Einzelne will, daß sein Selbstbewußtsein als solches von anderen selbstbewußten Wesen anerkannt wird. Die Bekenntnisse sind insofern schon ein Beitrag zum Kampf um Anerkennung. Anders als Hegels Phänomenologie des Geistes gestattet Rousseaus Projekt der Selbstthematisierung aber keine wechselseitigen Anerkennungsverhältnisse, die in die Logik des Selbstbewußtseins eingreifen. Die Kluft zwischen dem authentischen Bewußtsein und der anderen Person ist zumindest der Konstruktion nach unüberbrückbar. Vor Rousseau fehlt in der neuzeitlichen Philosophie die interne Verflechtung von Reflexivität, Authentizität und Individualität. Sie findet sich weder bei Descartes noch bei Leibniz, der immerhin mit dem Begriff der Monade eine Metaphysik der Selbstentfaltung vorgelegt hat. 4. Das Glück an den Grenzen des Selbstbewußtseins Die Rekonstruktion der Geschichte selbstbewußter Innerlichkeit reagiert auf die erkenntnistkritische Einsicht der neueren Philosophie, daß die Sprache der Individualität ohne substantielle Verankerungen auskommen muß. Rousseau sieht sich vor die Schwierigkeit gestellt, daß ihm von außen ein Rückzug in die eigene Innerlichkeit aufgezwungen wird, der ihm zunächst keine existentielle und ethische Sicherheit gewährt. Die Auseinandersetzung mit dieser Schwierigkeit bestimmt insbesondere die Träumereien des einsamen Spaziergängers. Nachdem er sich von allen Menschen losgerissen sieht, muß er auf die bedrängende Frage antworten, wer er ist. In einem ersten Schritt versucht sich Rousseau auf rabiate Weise moralischer Bindungen zu entledigen. Weil viele seiner ehemaligen Weggefährten seiner Ansicht nach aufgehört haben, Menschen zu sein, erklärt er alle emotionalen Verbindungen zu ihnen für aufgelöst. Die Gespenster der Vergangenheit werden ihn gleichwohl bis zu seinem Ende umtreiben. Der weitere Fortgang der Träumereien des einsamen Spaziergängers ist dafür ein beredtes Zeugnis. 174
In dem kaum beachteten Fragment Die Einsamen, das als Fortsetzung des Emile geplant und zumindest in formaler Hinsicht eines der wenigen nicht-autobiographischen Projekte nach 1762 gewesen ist, erfährt der Rückzug in die Innerlichkeit eine radikale Ausdeutung. Der von seinem Schicksal schwer gezeichnete Emile unternimmt den Versuch, die Verzweiflung über die Menschen und den Weltlauf in existentielle Ruhe zu überführen. Am Anfang steht das Eingeständnis, schon längst nicht mehr als Einzelwesen zu leben. Er wird bestimmt von vielfältigen Bindungen, die nun, nachdem er sich von allen Menschen verlassen glaubt, die Quelle seines Unglücks sind: „Welche Leere entsteht doch in uns, wieviel verliert man doch von seinem Dasein, wenn man an so vielen Dingen hing und dann sich selbst alles sein soll oder, was noch schlimmer ist, nur an dem hängt, was uns unablässig daran erinnert, daß wir alles übrige zurücklassen mußten. Es galt herauszufinden, ob ich noch jener Mensch war, der seinen Platz in seiner Gattung auszufüllen weiß, wenn kein einziges Wesen mehr Anteil an ihm nimmt.“ (OC IV 905/W III 670) Der Rückzug in die eigene Innerlichkeit kann die frühere Verbundenheit nicht ersetzen. Es beginnt eine Reise in die Einsamkeit von bedrückender Leere, in der die Spuren des vergangenen Lebens nicht verschwinden wollen. Humanität lebt von emotionalen und ethischen Gegenseitigkeitsverhältnissen, und Emile fragt sich, was passiert, wenn seine Mitmenschen sie einseitig aufkündigen. Ist der in der Gesellschaft Vereinsamte dann überhaupt noch zu ihr zu zählen? Emile versucht der beklemmenden Situation durch die Reduzierung aller Bindungen und Kontinuitäten zu entkommen. Reduktionsmethode ist die Revision der Einstellung zur Zeit, mit der Emile sein ganzes Leben in den jeweiligen Augenblick der Existenz zusammenfallen läßt. Jetzt erscheint ihm das Leben lediglich als eine Abfolge von Augenblicken. „In jedem Augenblick unsres Lebens sterben wir und werden wir geboren; was kann uns dann der Tod noch bedeuten?“ (OC IV 905/W III 671) Das emotionale und ethische Absterben ist unter den Bedingungen einer humanitätsfeindlichen Wirklichkeit die einzig verbliebene consolatio philosophiae. Der Vereinsamte trinkt schon zu seinen Lebzeiten das Wasser der Lethe. Das eigene Unglück mag so vielleicht weniger schmerzhaft erscheinen. Für diese Tröstung hat Emile 175
aber einen hohen Preis zu entrichten. Er muß sein Leben auf den Tod gründen. Die Auflösung des Identitäts- und Kontinuitätssinns ist ein Denkmotiv, das Rousseau in den Träumereien des einsamen Spaziergängers wieder aufnimmt. Während die Lösung aus dem Fragment Die Einsamen fiktiv ist, befindet Rousseau in den Träumereien über sein eigenes Leben. Zwar macht er dabei extensiven Gebrauch von literarischen Konstruktionen, das geschieht aber immer mit dem Ziel, Umgangsweisen für existentielle Befindlichkeiten zu finden. Das Schicksal tiefgehender Einsamkeit vereint die literarische Gestalt des Emile mit seinem Schöpfer: „Für mich ist nun auf dieser Erde alles zu Ende. Man kann mir hier weder Gutes noch Böses mehr zufügen. Ich habe in dieser Welt nichts mehr zu hoffen und nichts mehr zu fürchten, und so bin ich nun ruhig in der Tiefe des Abgrunds, ein armer, unglücklicher Sterblicher, gleichmütig [impassible] wie Gott selbst.“ (OC I 999/W II 653) Lebenspraktischer Trost liegt demnach in der Gleichgültigkeit und Gleichmütigkeit. Damit nimmt die angestrebte Selbstbehauptung eine armselige Gestalt an. Die Ruhe in den Einstellungen und Neigungen wird nicht in der Welterfahrung gewonnen, sondern nur im Weltverlust. Rousseau formuliert diesen Ausweg zu Beginn der Träumereien. Damit hätte er es eigentlich bewenden lassen können. Aus dem Umstand, daß die Träumereien von dem Weltverlust ihren Ausgang nehmen und eben nicht mit ihm enden, ist unschwer zu entnehmen, daß Emiles Schicksal nicht die Lösung sein kann. In der Perspektive des Vereinsamten äußert sich Selbstbewußtsein vornehmlich als Selbstbefangenheit und ist schlicht ein Verhängnis. Rousseau sucht deshalb nach einem anderen bewußtseinsphilosophischen Ansatzpunkt. Wenn das Spannungsverhältnis von Selbstbewußtsein und Welt nicht durch einen Rückzug aus der Welt beruhigt werden kann, ist die zunächst abwegig erscheinende Möglichkeit eines Rückzugs aus dem Selbstbewußtsein in Betracht zu ziehen. Zwar kann das Selbstbewußtsein sich nicht selbst auflösen, es kann aber immerhin ergründen, ob es epistemische Aufmerksamkeitszustände gibt, denen ein ausdrücklicher Selbstbezug fehlt. In den Träumereien des einsamen Spaziergängers schildert Rousseau einen Zustand, den er nach einem Unfall auf der Land176
straße vor Paris erlebt hat (siehe Abschnitt II. 4). Er erwacht aus der Bewußtlosigkeit und befindet sich in einer sonderbaren Verfassung: „Die Nacht kam heran. Ich erblickte den Himmel, einige Sterne und ein wenig Grün. Diese erste Empfindung war köstlich. Ich empfand zunächst mein Dasein einzig durch sie. Ich ward in diesem Augenblick zum Leben geboren und erfüllte, wie mich dünkte, alle Gegenstände, die ich um mich sah, mit meiner flüchtigen Existenz. Ganz dem Gegenwärtigen hingegeben, erinnerte ich mich an nichts; ich hatte keinen klaren Begriff von mir selbst, nicht die geringste Vorstellung von dem, was mir zugestoßen war; ich wußte weder, wer ich war, noch wo ich war; ich fühlte weder Schmerz noch Furcht noch Unruhe. Ich sah mein Blut fließen, wie ich einen Bach hätte fließen sehen, ohne auch nur im geringsten daran zu denken, daß dies Blut von mir sein könnte. Ich fühlte in meinem ganzen Wesen eine köstliche Ruhe, der, sooft ich mich ihrer entsinne, keines der Vergnügen gleichkommt, die ich je genossen habe.“ (OC I 1005/W II 660) Rousseaus Bericht ist sowohl in methodischer wie in inhaltlicher Hinsicht aufschlußreich. Der Leser muß annehmen, daß der Erzählung eine wahre Begebenheit zugrunde liegt. Tatsächlich ist der Unfall überliefert und hat in Paris großes Aufsehen erregt. Rousseau kann davon ausgehen, daß seinen Zeitgenossen das Ereignis bekannt ist. Zu dem Eindruck, daß es sich um die Wiedergabe einer Begebenheit handelt, will allerdings nicht recht passen, daß Montaigne im zweiten Buch der Essais über ein ähnliches Erlebnis berichtet. Sein Abenteuer am ,Rand der Seele‘ wird durch einen Sturz vom Pferd hervorgerufen. Nach dem Aufwachen wähnt er sich in einem merkwürdigen Zustand, der dem Tod näher gewesen sei als dem Leben. Die Parallele zu Rousseaus Erzählung ist auffällig. Es zeichnen sich aber auch deutlich Unterschiede ab. Während es Montaigne darum geht, Verfahren zu erproben, wie man sich gefaßt dem eigenen Tod nähern kann, will Rousseau die Grenzen des Selbstbewußtseins überschreiten. Die Verarbeitung des Unfalls vor den Toren von Paris ist typisch für die methodische Vorgehensweise der Bekenntnisschriften. In der Beschreibung nicht-egozentrischen Existenzbewußtseins gehen Wirklichkeitserfahrung, philosophische Konstruktion und literarische Erfahrung ineinander über. Es gibt kein Ereignis hinter dieser Konstellation von Unfallbericht, systematischer In177
tention und Montaigne-Adaption. Rousseau bildet nicht ab, sondern konstruiert einen Bedeutungsraum mit realen und fiktionalen Versatzstücken. Bei einem solchen Verfahren lockern sich die Verankerungen in der Wirklichkeit, ein Umstand, der beträchtliche lebenspraktische Gefährdungen mit sich bringt. Rousseau hat das leidvoll erfahren müssen. Worin besteht nun der philosophische Ertrag der Erkundungen an den Grenzen des Selbstbewußtseins? Die Beschreibungen von nicht-egozentrischen Erfahrungen, die sich auch in der Julie und den Bekenntnissen finden, schildern ungestörte Erlebnisse in der Natur. Zuweilen bedauert Rousseau sogar, daß er sie nur allein erlebt. In den Träumereien des einsamen Spaziergängers erschließt sich der Grund für die Eigenart der Erlebnisse. Die vom epistemischen Selbstbezug ungestörte Wahrnehmung nähert sich der unverstellten Präsenz der Dinge. Das um sich kreisende Selbstbewußtsein tritt zurück und weicht einer hellsichtigen Aufmerksamkeit, die nur nach außen gerichtet ist. Erkenntnistheoretisch vollzieht sich eine Transformation von dem Satz ,Ich denke‘ in den Satz ,Etwas stellt sich dar‘. An den Grenzen des Selbstbewußtseins geht die vordergründig widersprüchlich erscheinende Idee einer Repräsentation ohne Selbst auf. Die Vorstellung wird allein von dem bestimmt, was vorgestellt wird. Die Widersprüchlichkeit rührt daher, daß die Stufe der Reflexion in der Repräsentation eingezogen wird, so daß eigentlich gar nichts mehr zu Bewußtsein kommen kann. Trotz dieser offensichtlichen Schwierigkeit hält Rousseau beharrlich an der Idee eines transparenten Selbstbewußtseins fest, das sich nicht mehr über die Wirklichkeit legt und doch nicht aufhört, ein Bewußt-Sein zu sein. Eine derartige Vorstellung ist der Ausnahmezustand einer Wahrheit ohne Schleier, der nur an den Rändern oder im Vergehen des Bewußtseins anzutreffen ist. In dem unverstellten Blick sieht Rousseau den epistemischen und moralischen Schlüssel zum Glück. Von daher erklärt sich auch seine späte Beschäftigung mit der Botanik. Solange sie nicht aus medizinischen oder pharmazeutischen Nutzenerwägungen heraus betrieben wird, ermöglicht sie eine interesselose Beschäftigung mit einer natürlichen Ordnung, die nicht in der Verfügung des Einzelnen steht. Die Versenkung in das Sammeln und Ordnen beugt übersteigerten Formen der Selbstbefangenheit vor. Damit können sich 178
Bewußtseinszustände einstellen, die von Besonnenheit, Aufmerksamkeit und Nachdenken beherrscht werden und nicht von einem obsessiven Kreisen um ein vermeintliches Selbst. Das Glück des unverstellten Blicks führt zu einer Verschiebung in der Entfremdungsproblematik. Der tiefere Grund der Entfremdung ist nicht der Andere, sondern die unvermeidliche Entzweiung des Bewußtseins. Es ist diese Unvermeidlichkeit, die Rousseau an die Ränder des Selbstbewußtseins drängt. Die philosophische Bearbeitung der Begebenheit vor den Toren von Paris ist der Versuch, Wege aus der Entzweiung kenntlich werden zu lassen. Das Glück ist die Ewigkeit des Augenblicks an der Grenze des Selbstbewußtseins. Rousseau muß sich auf einen Balanceakt zwischen Präsenz und Selbstverlust einlassen. Der erfüllte Augenblick verliert sich ohnehin im alltäglichen Leben, das die Menschen von einem Erlebnis zum anderen reißt und ihr Herz in einem Zustand der Unruhe und Leere zurückläßt: „Kaum gibt es bei unsren heftigsten Genüssen einen Augenblick, in dem unser Herz uns wirklich sagen könnte: ,Ich wünschte, daß dieser Augenblick ewig währte.‘“ (OC I 1046/W II 701) Der Traum vom Glück des erfüllten Augenblicks, dem Rousseau in aller Stille nachgeht, wird beträchtliche Wirkungen auf die literarischen Bewegungen zum Ende des 18. Jahrhunderts ausüben. Ihm ist nicht zuletzt auch Goethes Faust verpflichtet. Weil herkömmlichen Alltagserfahrungen der Zugang zum erfüllten Augenblick verschlossen bleibt, erkundet Rousseau Wege der Annäherung. In den Bekenntnisschriften finden sich etliche Beispiele von Erlebnissen, in denen die Egozentrik und Entzweiung des Bewußtseins zurücktritt. Das fünfte Kapitel der Träumereien des einsamen Spaziergängers enthält eine exemplarische Analyse solcher Erlebnisse, die aus der Zeit seines Aufenthalts auf der Île de Saint-Pierre stammen (siehe Abschnitt II. 3). Der Ausgangspunkt ist hier wie in den anderen Fällen der gleiche. Rousseau ist mit der Natur allein. Die Naturerfahrung gewährt eine Zuflucht vor dem fortwährenden Wechsel aller Dinge und Ereignisse auf Erden: „Wenn es aber einen Zustand gibt, in welchem die Seele eine hinreichende Grundlage findet, um sich dort ganz und gar auszuruhen und ihr ganzes Wesen darin zu sammeln, ohne sich an das Vergangene erinnern oder sich das Zukünftige herbeiwünschen zu müssen; einen Zustand, in welchem die Zeit 179
nichts für sie ist, das Gegenwärtige immer andauert, ohne doch seine Dauer und irgendeine Spur seiner Abfolge merken zu lassen, ohne irgendeine andere Empfindung von Verlust oder Genuß, von Freude oder Schmerz, Verlangen oder Furcht als allein diejenige unserer Existenz; und wenn einzig diese Empfindung sie ganz erfüllte – so kann derjenige, welcher sich in diesem Zustand befindet, sich glücklich nennen; und sein Glück ist nicht unvollkommen, arm und nur bedingt, wie jenes, das man in den Freuden des Lebens findet, sondern es ist ausreichend, vollkommen und erfüllt und hinterläßt keine Leere in der Seele, die diese auszufüllen wünschte.“ (OC I 1046/W II 701) Das Erlebnis des erfüllten Augenblicks ist nur von der Präsenz der Dinge erfüllt, die die eigene Existenz mit einschließt, aber nicht eigens thematisiert. Die zeitlose Ewigkeit der Gegenwart und das bloße Empfinden der Existenz konstituieren einen Bewußtseinszustand, der von keinen persönlichen Neigungen oder Interessen abgelenkt wird. Das eigene Bewußtsein ist danach ein Dasein, dessen ausschließliche Funktion darin besteht, die Natur zu repräsentieren. Rousseaus Träumereien wollen das Gleichgewicht zwischen Präsenz und Selbstverlust wahren. Lebenspraktisch nehmen sie jedoch die Gestalt der Weltflucht und Selbstvergessenheit an: „Ich denke, träume nie angenehmer, als wenn ich mich selbst vergesse.“ (OC I 1065/W II 720 f.) Wer sich an die Grenzen des Selbstbewußtseins begibt, schaut in die Abgründe der Selbstvergessenheit. Die Abgründe haben Rousseau wegen seines als überaus unglücklich empfundenen Schicksals kaum schrecken können, gleichwohl meidet er sie. Ein Bewußtsein, das nichts von sich weiß, zeigt auch kein Leben mehr an: „Eine vollkommene Stille macht traurig; sie zeigt uns das Abbild des Todes.“ (OC I 1047/W II 702) Rousseau sucht die Nähe der Selbstvergessenheit, er will ihr aber nicht zu nahe kommen. Die Gratwanderungen an den Grenzen des Selbstbewußtseins machen die Träumereien des einsamen Spaziergängers zu einem bemerkenswerten Zeugnis moderner Philosophie der Individualität. In ihm drückt sich der eigentümliche Versuch aus, durch die Verflüchtigung der Subjektivität in interesselose Naturerfahrung die Zwänge des Selbstbewußtseins abzulegen.
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5. Ethik der Würde und Selbstachtung Die Träumereien des einsamen Spaziergängers sind keineswegs Ausdruck von persönlicher Niedergeschlagenheit und Hoffnungslosigkeit. Hinter Rousseaus Strategien psychischer Selbsterhaltung verbirgt sich ein tiefgehender moralischer Sinn. Sie schärfen den Blick für die Irritationen der Reflexion, die der kritischen Diagnose zufolge den unbefangenen Zugang sowohl zu sich selbst wie zur Natur verstellt. In dem Maße, wie der losgelassenen Reflexion Einhalt geboten werden kann, erschließt sich ein natürlicher Umgang mit der eigenen Subjektivität. Für Rousseau ist die selbstbefangene Reflexion kein Königsweg zum Bewußtsein. In erkenntnistheoretischer Hinsicht ist das Problem der Annäherung an eine Wahrheit ohne Schleier nicht zu lösen. Man braucht keine subtilen methodischen Mittel, um auf diesen Sachverhalt zu stoßen. Zum Ende des 18. Jahrhunderts sind deshalb vor allem literarische Versuche unternommen worden, mit Hilfe anderer Darstellungsformen den Zwängen der Diskursivität auszuweichen. Auch Rousseau sucht keinen erkenntnistheoretischen Ausweg aus den Notwendigkeiten diskursiven Denkens. Den Schwierigkeiten bei der praktischen Umsetzung des Leitbilds einer Wahrheit ohne Schleier begegnet er in ethischer Perspektive. Dabei stellt er keine präskriptiven Richtlinien auf, sondern orientiert sich an der Aufrichtigkeit der Einstellungen einer Person. Aufgrund dieses Ansatzes gilt er zu Recht als Begründer der Ethik der Authentizität (siehe Kapitel X). Die Konzeption der Ethik der Authentizität tritt in Rousseaus Spätphilosophie konturiert zutage, sie läßt sich aber in allen Phasen seines Denkens nachweisen. Schon früh stellt er seine Philosophie unter den Wahlspruch ,vitam impendere vero‘, den er gegen Ende des Briefes an d’Alembert über das Schauspiel ausführlich erläutert: „Vitam impendere vero lautet die Devise, die ich mir gewählt habe und deren ich mich würdig fühle. Leser, ich kann mich selbst täuschen, aber euch kann ich niemals willentlich täuschen. Fürchtet meine Irrtümer, nicht meine böse Absicht. (…) Heilige und reine Wahrheit, der ich mein Leben geweiht habe, niemals sollen meine Leidenschaften die aufrichtige Liebe beflekken, die ich für dich fühle. Weder Interesse noch Furcht sollen die Huldigungen schmälern, die ich dir freudig darbringe, und meine 181
Feder verweigere dir nichts als das, was sie fürchten muß, der Rache einzuräumen.“ (OC V 120 Anm./S I 469 Anm.) Die moralphilosophische Ausdeutung des Leitbildes der Wahrheit ohne Schleier verbindet Autonomie und Aufrichtigkeit. Rousseau schließt alle externen Bestimmungen bei der Festlegung der Kriterien für moralisches Handeln aus. Er akzeptiert die grundsätzliche Skepsis, die jede moderne Ethik begleitet: Wir haben keine zweifelsfreie Kenntnis von den Gründen, die unsere Handlungen letzten Endes bestimmen. Weil die Menschen ihr Leben unter gegebenen Bedingungen zu führen haben, sind Irrtümer und Mißgeschicke niemals auszuschließen. Aus dem Blickwinkel einer Ethik der Autonomie oder Ethik der Authentizität kommt es darauf an, wenigstens den subjektiven Bereich, der unter der Verfügung der einzelnen Personen steht, moralisch auszugestalten. Die Liebe zur Wahrheit und Gerechtigkeit konstituiert die Bedingungen, die in den Unübersichtlichkeiten der Wechselfälle von Bewußtseinslagen Zugänge zu natürlichen moralischen Einsichten gestatten. Wenn die einzelne Person lernt, mit Aufrichtigkeit den Versuchungen von falschen Bedürfnissen und egoistischen Interessen zu widerstehen, wird sie sich moralisch behaupten können, ohne sich jedes Mal durch bedeutungsschwere Verbote gängeln zu müssen. Authentizität und Selbstachtung erlangen in der Spätphilosophie Rousseaus einen ähnlichen Stellenwert wie Freiheit und Menschenrechte. Für beide Begriffspaare wählt Rousseau gleiche Auszeichnungsformeln. Während Freiheit und Menschenrechte als wesentliche Eigenschaften des Menschen ausgewiesen werden, heißt es von der Selbstachtung [l’estime propre/l’estime de soimême], daß sie eine Eigenschaft sei, über die eifersüchtig gewacht werden müsse. Sie ist das Gut, dessen die aufrichtige und wahrhaftige Person am wenigsten entbehren kann. Nur derjenige, dem etwas an sich liegt, entgeht der zersetzenden Gleichgültigkeit der entfremdenden Lebenswelt. Wer seine Selbstachtung verliert, verliert sich selbst. Aus diesem Grund ist Selbstachtung ebensowenig ersetzbar wie Freiheit. Wegen der Ausrichtung an den subjektiven Einstellungen einer Person weist die Ethik der Authentizität vom Ansatz her starke individualistische Züge auf. Rousseaus Ethik fehlt trotzdem jeder Hang zum Relativismus. Aus dem Umstand, daß jedes moralische 182
Verhältnis von einer Person auszugehen und bei ihr zu enden hat, folgt keineswegs, daß es ausschließlich von ihr abhängt. Obwohl seine Moralphilosophie von individualethischen Begriffen beherrscht wird, wendet er sich im Spätwerk keineswegs vom Realismus des Gewissens ab. Dem Gewissen wird nichts von seiner herausgehobenen Stellung genommen. Es bleibt das transindividuelle Herzstück der Ethik der Individualität und ihrer Grundbestimmungen der Freiheit, Autonomie, Authentizität und Selbstachtung. Auch in seiner Spätphilosophie hält Rousseau daran fest, daß die ethische Ausgangssituation einer Person darin besteht, nicht darauf zu drängen, das zu tun, was sie gerade will, sondern zu verhindern, das zu tun, was sie nicht will. An diesen Sachverhalt erinnert er in den Träumereien des einsamen Spaziergängers: „Ich habe nie geglaubt, daß die Freiheit des Menschen darin bestehe, daß er tun könne, was er wolle, wohl aber darin, daß er nie tue, was er nicht wolle; und auf diese Freiheit erhob ich immer Anspruch, erhielt sie oft, und das machte mich in den Augen meiner Zeitgenossen am meisten zum Ärgernis.“ (OC I 1059/W II 714) Weil für den, der sich selbst achtet, nicht jede Eigenschaft und Handlung hinnehmbar ist, zeichnen sich in der Perspektive der Selbstachtung ethische Erweiterungen ab, die soziale Tugenden mit einschließen. Rousseau spricht sich nachdrücklich für die feste Etablierung von Tugenden in den alltäglichen Lebensvollzügen aus. Sein Blick ist dabei auf die antike und nicht auf die christliche Tugendlehre gerichtet. Noch in den Träumereien des einsamen Spaziergängers verschreibt er seine verbleibende Lebenszeit dem Streben nach Tugenden wie Geduld, Gelassenheit, Rechtschaffenheit und Gerechtigkeit (OC I 1023/W II 678). Im Rückblick auf die verschlungenen Wege von Rousseaus Ethik der Individualität kann festgehalten werden, daß die Entfaltung des moralischen Bewußtseins nur dadurch möglich ist, daß Personen sich in einem authentischen Selbstverhältnis befinden, das metaphorisch als Treue zur eigenen inneren Natur bezeichnet werden kann. Das aufrichtige Selbstverhältnis hängt nicht von moralischen Belehrungen ab, sondern geht aus dem Gefühl der eigenen Existenz hervor, dem das Gewissen bereits eingeschrieben ist. In ihrem Gewissen erfährt die Person Bestimmungen und Gesetzmäßigkeiten, die sie als die ihrigen begreift, ohne über sie 183
willkürlich verfügen zu können. Die Quelle der moralischen Anstrengung liegt nicht in ethischen Diskursen oder Klugheitserwägungen, sie wird allein von der Rechtfertigung durch Ernsthaftigkeit und Wahrhaftigkeit getragen. Es gehört zur persönlichen Tragödie Rousseaus, daß er eine weitere Quelle aufrichtiger Moralität verdrängt hat. Ihm ist nicht in den Sinn gekommen, subjektive Verantwortung und Bindungen als Quelle authentischer Lebensverhältnisse zu begreifen. Sowohl in der Julie als auch in den Träumereien des einsamen Spaziergängers finden sich Hinweise auf diese Option, die aber nie einer systematischen Ausarbeitung zugeführt wird. Auch lebenspraktisch hat er sich erst spät diese Zugangsweise vergegenwärtigen können. Es bleibt ihm nur noch das Bedauern über die verlorenen Kinder und das unbillige Verhalten gegenüber Menschen, die ihm nahegestanden haben. Die letzten Zeilen in den Träumereien sind Mme de Warens gewidmet. Er beklagt, daß sie in der Zeit der Not von ihm nicht den Beistand erhalten habe, der ihm in früheren Jahren von ihr großzügig gewährt worden sei. Intellektuelles Exil und Rücksichtslosigkeit gegenüber anderen Menschen können Hand in Hand gehen. Die allein um sich selbst kreisende Selbstthematisierung findet keinen Zugang zur Moralität, wenn sie den Blick nicht von sich abwendet. Es hat den Anschein, als sei Rousseau zum Ende seines Lebens dieser Sachverhalt schmerzlich bewußt geworden.
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X. Wirkungen Rousseau ruft schon bei der zeitgenössischen Kritik gespaltene Reaktionen hervor. Seine harsche Kritik in den Diskursen belastet das Verhältnis zu den Intellektuellen seiner Zeit. Seine Beziehung zu den philosophes wird nach anfänglichen Gemeinsamkeiten schon bald von persönlichen Spannungen überlagert. Dennoch hat sich vor allem in Deutschland schnell ein differenzierter Umgang mit seinem Werk ausgebildet. Einen wichtigen Beitrag leistet Lessing durch frühe Rezensionen des Diskurses über die Wissenschaften und Künste und des Diskurses über die Ungleichheit unter den Menschen, der bereits 1756 von Moses Mendelssohn übersetzt wird. Christoph Martin Wieland behandelt um 1770 in einer Vielzahl von Beiträgen Rousseaus Werk – unter anderem in Betrachtungen über J. J. Rousseaus ursprünglichen Zustand des Menschen und Über die von J. J. Rousseau vorgeschlagenen Versuche, den wahren Stand der Natur des Menschen zu entdecken nebst einem Traumgespräch mit Prometheus. Im vorrevolutionären Frankreich setzt ein Kult um Rousseau ein. Es erscheinen eine Vielzahl von Arbeiten, die sowohl sein Werk als auch seinen Charakter behandeln. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang insbesondere die Lettres sur les ouvrages et le caractère de J. J. Rousseau (1788) von Germaine de Staël, die später eine bedeutende Rolle in den europäischen Intellektuellenkreisen spielen wird. Im Mittelpunkt des Interesses stehen zunächst die Julie und der Emile. Erst im Zuge der Französischen Revolution erhält der Gesellschaftsvertrag stärkere Beachtung. Er wird von den Revolutionären als Wegmarke einer Tradition begriffen, die die Menschenrechte philosophisch erschließt. Maximilien de Robespierre und Louis-Antoine de Saint-Just nehmen Rousseaus Pathos von Freiheit, Gleichheit, Tugend und Volkssouveränität in ihre politischen Konzepte auf. Saint-Just legt 1791 die Abhandlung L’esprit de la révolution et de la constitution de France vor, die sich ausdrücklich auf Rousseau beruft und ihn zu den wenigen revolutionären Köpfen in der Ahnengalerie der Menschenrechte zählt. In seiner großen Rede vor dem Nationalkonvent im Mai 1794 bezeichnet Robespierre Rousseau als ,Lehrer des Menschengeschlechts‘. Die Verehrung Rousseaus nimmt nach dem 9. Thermi185
Abb. 9: Überführung des Leichnams in das Panthéon, 11. Oktober 1794.
dor, dem Sturz Robespierres und Saint-Justs, nicht ab. Die von Saint-Just nachdrücklich angemahnte öffentliche Ehrung findet mit der Überführung der sterblichen Überreste in das Panthéon ihren vorläufigen Abschluß (siehe Abschnitt II. 4). Auch wenn Rousseau auf viele philosophische und literarische Bewegungen im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts Einfluß gehabt hat, sind die klassische deutsche Philosophie und die Romantik die großen wirkungsgeschichtlichen Katalysatoren seines Werks. Zu den frühen Rezipienten gehört Johann Gottfried Herder, der eine ambivalente Stellung gegenüber Rousseau einnimmt: „Der kranke, zarte, fast nur in der Einbildung lebende Roußeau, hat er mit seinen stark-ausgedrückten, regegefühlten Visionen mehr Nutzen oder mehr Schaden gebracht? Ich wage es nicht zu entscheiden.“ (Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität, 21. Brief, S. 105). In seiner Abhandlung über den Ursprung der Sprache (1772) lobt er Rousseau dafür, daß er die Gelegenheit der ,hohlen Erklärungen‘ von Condillac genutzt und die Forschung zur Entstehung der Sprache überhaupt erst richtig in Schwung gebracht habe. Sei186
nen Ansatz lehnt er jedoch ab. Zu dieser Zeit hat er noch nicht auf Rousseaus Versuch über den Ursprung der Sprachen zurückgreifen können, der deutlicher als der Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen die menschliche Expressivität in das Zentrum der Ursprungsproblematik rückt (siehe Abschnitt II. 3). In Rousseau ist insofern der erste Vertreter der Expressivitätsthese zu sehen, die neben Herder auch Johann Georg Hamann und Wilhelm von Humboldt vertreten. Die hermeneutische Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts nimmt diese Traditionslinie wieder auf. Die bedeutungsvollste Aufnahme der Philosophie Rousseaus vollzieht Immanuel Kant. Die Wertschätzung, die er Rousseau zuteil werden läßt, wird in der philosophischen Forschung oft mit Zurückhaltung vermerkt. Das dürfte damit zusammenhängen, daß der sachliche Grund der Gemeinsamkeit hinter den offensichtlichen Unterschieden der philosophischen Positionen nur schwer kenntlich wird. Kants Schüler Herder gibt wichtige Hinweise zum Verständnis der Wirkung Rousseaus: „Mit eben dem Geist, mit dem er Leibnitz, Wolf, Baumgarten, Crusius, Hume prüfte, und die Naturgesetze Keplers, Newtons, der Physiker verfolgte, nahm er auch die damals erscheinenden Schriften Roußeau’s, seinen Emil und seine Heloise, so wie jede ihm bekannt gewordene Naturentdeckung auf, würdigte sie, und kam immer zurück auf unbefangene Kenntnis der Natur und auf moralischen Wert des Menschen.“ (Herder, Briefe zu Beförderung der Humanität, 79. Brief, S. 424) Kant sieht in Rousseau den Newton der Anthropologie und Ethik. Dieser habe die Gesetzmäßigkeiten der physischen Welt, jener die Gesetzmäßigkeiten der moralischen Welt entdeckt. Es sei Rousseau gewesen, der zuallererst die tief verborgene Natur des Menschen, ,die immer bleibt‘, und das versteckte Gesetz unter der Mannigfaltigkeit der vom Menschen angenommenen Gestalten entschlüsselt habe. Auch Kants erkenntniskritische Theorie des Selbstbewußtseins ist von Rousseau geprägt worden. Die berühmte Analyse des Selbstbewußtseins in der Kritik der reinen Vernunft geht auf Rousseaus Offenlegung der Urteilsstruktur des Selbstbewußtseins im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars zurück (siehe Abschnitt V. 3). Was den praktischen Sinn und Zweck der Ethik angeht, ist Kant von Rousseau ,zurecht gebracht‘ worden: Er habe von ihm ge187
lernt, die Menschen zu ehren. In der Ethik komme es nämlich nicht auf Kultivierung oder Intellektualisierung an. Eine solche Einstellung führe nur zur Verachtung des Pöbels. Der Philosoph sei aber unnützer als die gemeinen Arbeiter, wenn es ihm nicht zuvorderst darauf ankomme, die Rechte der Menschheit herzustellen. In der ethischen Methode orientiert sich Kant an Rousseaus Begriff des Gewissens als einem Prinzip der Selbstgesetzgebung (siehe Abschnitt VI. 3). Der Selbstgesetzgebungsgedanke im kategorischen Imperativ geht genauso auf Rousseau zurück wie der Beschluß der Kritik der praktischen Vernunft (1788) mit seiner berühmten Formel ,vom bestirnten Himmel über mir und dem moralischen Gesetz in mir‘. Die Formel ist ersichtlich eine Variation der naturphilosophischen und ethischen Position im Glaubensbekenntnis des savoyischen Vikars. Rousseau eröffnet Kant eine Theorieperspektive, die die Einseitigkeiten der dogmatischen Schulphilosophie eines Christian Wolff genauso vermeidet wie die gefühlsethischen Verkürzungen der moral sense-Philosophie von Lord Shaftesbury, Francis Hutcheson und David Hume. Der dritte Weg hebt die Einseitigkeiten auf und vereinigt die Vorzüge beider Seiten. Rousseaus Formel lautet ,Gefühl und Gesetz‘. Damit hat er Kant nachhaltig überzeugt. Auch im Deutschen Idealismus hinterläßt Rousseaus Werk deutliche Spuren. Die erste Phase der Rezeption vollzieht sich vor dem Hintergrund der Französischen Revolution. Fichte macht in seinen frühen Schriften auf diesen Zusammenhang ausdrücklich aufmerksam. Insbesondere die Schriften Zurückforderung der Denkfreiheit von den Fürsten Europas, die sie bisher unterdrückten und Berichtigung der Urtheile des Publicums über die französische Revolution von 1793 bezeugen eine umfassende und von politischen Zielen bestimmte Auseinandersetzung mit Rousseau. In den Frühschriften spricht Fichte auf emphatische Weise von Rousseaus kultureller Bedeutung. Der menschliche Geist habe ein gemeinhin für unmöglich gehaltenes Werk vollendet, weil er zuvor von Rousseau geweckt worden sei. Er verteidigt ihn gegen die vielfältigen Anfeindungen und erwähnt einen merkwürdigen Umstand, der für die Rousseau-Rezeption vermutlich kennzeichnend ist. Er sei nämlich erst durch die Warnung eines Lehrers auf Rousseau aufmerksam geworden. Die Auseinandersetzung mit Rousseau läßt sich in Fichtes Werk durchgängig beobachten. Sie zeigt 188
sich in den Vorlesungen über die Bestimmungen des Gelehrten (1794) und in der Grundlage des Naturrechts (1796) genauso wie in der Staatslehre (1813). Er greift dabei auch Rousseaus Kritik an moralischen Hierarchien auf (siehe Abschnitt III. 3), hält sie aber nicht für konsequent genug: „Rousseau sagt: Mancher hält sich für einen Herrn anderer, der doch mehr Sklave ist, als sie; er hätte noch weit richtiger sagen können: Jeder, der sich für einen Herrn anderer hält, ist selbst ein Sklave.“ (Fichte, Werke, Band VI, S. 309) Im freiheitstheoretischen Pathos unterscheiden sich beide kaum voneinander. Fichtes Feststellung, daß nur derjenige frei sei, der alles um sich frei machen will, hätte Rousseau nicht widersprochen. Rousseaus Aufklärungskritik ist zum Ausgang des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum ein wichtiger Impuls für bedeutende literarische und philosophische Entwicklungen, die über Kants und Fichtes Ethik der Autonomie weit hinausgehen. Zu dieser Bewegung gehören unter anderem Friedrich Schiller, Friedrich Hölderlin, Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Georg Wilhelm Friedrich Hegel sowie der Kreis der Romantiker um Novalis und die Schlegel-Brüder. Unangesehen der Verschiedenheit ihrer jeweiligen Ansätze teilen sie das Bemühen, die Konzeption einer Gemeinschaft zu entwerfen, die mit den Mitteln der Ethik und Ästhetik zu neuen Verständigungs- und Lebensverhältnissen gelangt. Die Rezeption schließt auch die Spätphilosophie ein, die auf die idealistischen und romantischen Konzeptionen von Natur, Einbildungskraft und Gefühl gewirkt hat. Die Beschäftigung mit Rousseau vollzieht sich unter innovativen oder gar revolutionären Vorzeichen. In der letzten Dekade des 18. Jahrhunderts gilt er geradezu als Leitbild für die Symbiose von deutscher Philosophie und Literatur einerseits und revolutionärer Programmatik in Frankreich andererseits. In den Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen (1795) nimmt Schiller Rousseaus Kritik an den ethischen und kulturellen Einseitigkeiten der Aufklärung auf. Der Mißachtung der Natur und der wechselseitigen Versklavung in der modernen Gesellschaft will er mit einer ästhetische Erziehung begegnen. Der gebildete Mensch mache die Natur zu seinem Freund und ehre ihre Freiheit, indem er bloß ihre Willkür zügele. Mit Hilfe der ästhetischen Erziehung soll es schließlich möglich sein, den Not189
staat konkurrierender Egoisten in die neue Gemeinschaft eines Staats der Freiheit zu überführen. Schiller schließt sich damit ausdrücklich dem kontraktualistischen Standpunkt Rousseaus an. Eine radikalisierende Weiterführung des Ansatzes der ästhetischen Erziehung findet sich im sogenannten Ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus (1796), das aus dem Kreis junger Tübinger Philosophen um Hölderlin, Schelling und Hegel hervorgegangen ist. Der Kern des Systemprogramms ist die Konzeption einer Neuen Mythologie, die den Monotheismus der Vernunft und des Herzens mit dem Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst verbindet. Die politischen Zielsetzungen richten sich gleichermaßen gegen die kulturellen Verengungen der Aufklärung wie gegen einen überzogenen Intellektualismus: Ehe die Ideen nicht eine ästhetische bzw. mythologische Gestalt annähmen, hätten sie für das Volk kein Interesse, und ehe die Mythologie nicht vernünftig sei, müsse sich die Philosophie ihrer schämen. Aufgeklärte und Unaufgeklärte hätten sich die Hand zu reichen – ,nimmer der verachtende Blick, nimmer das blinde Zittern des Volks vor seinen Weisen und Priestern‘. Dieses egalitaristische Motiv geht auf die Schlußpassagen des Diskurses über die Wissenschaften und Künste zurück. Die Vorstellungen von einer neuen kulturellen Gemeinschaft werden dagegen vom Gesellschaftsvertrag getragen. Noch in den Vorlesungen über die Methode des akademischen Studiums (1803) verwendet Schelling die Grundfigur von Rousseaus Gesellschaftsvertrag und macht die Vollkommenheit eines Staates von der Weise abhängig, in der jedes einzelne Individuum als Mittel zum Ganzen zugleich auch Zweck in sich selbst ist. Die Vertreter der klassischen deutschen Philosophie und Literatur sind keineswegs nur mit den Hauptschriften Rousseaus vertraut gewesen. Für Schelling ist dessen Wörterbuch der Musik das gedachteste Werk über diese Kunst, und Goethe bezeichnet den Pygmalion als eine wunderliche Produktion, die zwischen Natur und Kunst schwanke. Von allen Werken dürften aber der Gesellschaftsvertrag und der Emile den größten Eindruck hinterlassen haben. Die zunächst emphatische Aufnahme weicht jedoch zunehmend distanzierteren Äußerungen. Exemplarisch für diesen Sachverhalt ist Hegel, der in jungen Jahren ein begeisterter Anhänger Rousseaus gewesen ist, sich aber später kritisch mit seiner Philosophie und insbesondere mit seinem Kontraktualismus aus190
einandersetzt. Das hat ihn jedoch nicht davon abgehalten, in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (1816) Rousseau – neben Hume – als Ausgangspunkt der deutschen Philosophie hervorzuheben. Im Bereich der Literatur haben Rousseaus Verarbeitungen der Naturerfahrung und emotionalen Expressivität beträchtliche Anziehungskraft ausgeübt. Rousseaus Werk wird vom Sturm und Drang wie von der Romantik als Bruch mit dem Herkömmlichen aufgefaßt, der den Weg für einen Neubeginn freigibt. Mit seiner Verschränkung von persönlicher Geschichte, subjektiver Erlebnisperspektive und Transparenz des Privaten beeinflußt er die Gattungen des Brief- und des Bildungsromans. Das zeigt sich nicht zuletzt an so unterschiedlichen Werken wie Goethes Leiden des jungen Werthers (1774), Karl Philipp Moritz’ Anton Reiser (1785–1794) oder Jean Pauls Die unsichtbare Loge (1793). Zum Ende des 18. Jahrhunderts vollzieht sich die literarische Ausdeutung der psychischen Verfassung des selbstbewußten Individuums in einer expressiven Semantik, die auf Rousseau zurückgeht. Sein Umgang mit dem eigentümlichen Schauspiel des Innenlebens einer Person hat nicht zuletzt auch den Boden für psychologische und existenzphilosophische Ansätze bereitet. Stark beeindruckt von Rousseaus Werk zeigt sich Hölderlin. Er sieht sich von dem ,großen Jean Jacques über Menschenrechte belehrt‘ und nimmt ihn neben Homer, Sappho, Aischylos, Sophokles, Horaz und Shakespeare in die Reihe der großen Dichter auf. Der Hymne an die Menschheit (1791) stellt er eine Passage aus dem dritten Buch des Gesellschaftsvertrags voran, der zufolge die Grenzen der moralischen Welt allein durch die Laster eingeengt werden und nur Sklaven bei dem Wort ,Freiheit‘ mit spöttischer Miene lächeln. Er variiert auf vielfältige Weise Rousseaus Entwicklungsmodell von natürlichem Ursprung, zivilisatorischem Abfall und neuer Gemeinschaft. Der Emile hat zudem nachhaltig die bildungsphilosophische Perspektive in die Literatur eingebracht. Rousseau weckt das Interesse an der Kindheit als einem eigenen, von Reinheit und Einfachheit bestimmten Lebenszusammenhang. Schiller, Hölderlin und Novalis deuten die Kindheit metaphorisch als kulturelles Leitbild. In der Abhandlung Über naive und sentimentalische Dichtung (1795/96) spricht Schiller von der Kindheit als der 191
,einzig unverstümmelten Natur‘ in der kultivierten Menschheit. Während Friedrich Schlegel im Emile eine romantische Tendenz ausmacht, ist dieser für Goethe schlicht das Naturevangelium der Erziehung. Nach 1800 gestaltet sich die Haltung führender Dichter und Literaten gegenüber Rousseaus Werk deutlich distanzierter und kritischer. Das von Rousseau angestrebte balancierte Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft wird nach 1800 von der romantischen Bewegung unter weitgehend konservativen Vorzeichen in einen Vorrang traditioneller Sozialverhältnisse umgedeutet. Eine Ausnahme bilden Lord Byron und Percy Bysshe Shelley, die auch in Zeiten der Restauration von der frühromantischen Rousseau-Begeisterung nicht abrücken. Shelley hält Rousseau sogar für den großartigsten Menschen, den die Welt seit Milton hervorgebracht habe. Eine für diese Zeit typische Wandlung der Einstellung zeigt sich bei François-René de Chateaubriand. Zunächst findet er viel Anerkennung für Rousseaus Naturbegriff und lobt in dem Essai sur les révolutions (1797) das ethische Konzept des Emile. In späteren Arbeiten äußert er sich ablehnend. Er wirft ihm in den Mémoires d’outre-tombe (1836) moralische Verfehlungen vor und beanstandet den schlechten literarischen Stil der Bekenntnisse. Vor allem macht er ihn für die ethischen und politischen Verwirrungen im Umfeld der Französischen Revolution mitverantwortlich. Damit unterschreibt er die folgenreiche Kritik Edmund Burkes aus den Reflections on the Revolution in France (1790), in der Rousseau schon früh als Vorreiter des Umsturzes gebrandmarkt wird. Ähnliche Einlassungen finden sich bei Benjamin Constant, der gegen Rousseaus Konzept der Volkssouveränität den Vorwurf des Despotismus erhebt. Heinrich Heine beschuldigt Rousseau sogar, der geistige Vater der terreur gewesen zu sein. Ablehnende oder ambivalente Haltungen zu Rousseau nehmen Stendhal, Alphonse de Lamartine, Honoré de Balzac, Victor Hugo und Gustave Flaubert ein. Weitgehend unabhängig von den Wechselfällen der philosophischen und literarischen Auseinandersetzungen wirkt Rousseau auf die Erziehungslehren des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts. Der Emile gilt im deutschsprachigen Raum als Beginn der modernen Pädagogik. Unter die innovativen Leistungen werden die Entdeckung der Kindheit, die an den Eigenheiten der 192
jeweiligen Lebensabschnitte ausgerichtete Erziehung und das anthropologische Konzept der Vervollkommnungsfähigkeit gerechnet. Die erziehungswissenschaftliche Rezeption läßt sich jedoch nicht klar einordnen. Konkrete Bezüge auf Rousseaus Werk sind oft nicht nachweisbar. Eine Ausnahme bildet der Kreis der Philanthropen um Johann Bernhard Basedow und Joachim Heinrich Campe, die als Repräsentanten der Aufklärungspädagogik eine umfassende Kommentierung des Emile vorlegen und damit bei allen Verzerrungen und Umdeutungen einen nicht unbeträchtlichen Beitrag zur Rousseau-Rezeption in Deutschland leisten. Als bedeutender Schüler Rousseaus gilt Johann Heinrich Pestalozzi. Er steht der philosophischen Position Rousseaus jedoch distanziert gegenüber und orientiert sich nur an dem Ansatz, die Erziehung von der psychischen und moralischen Eigenheit der Kindheit ihren Ausgang nehmen zu lassen. Im 19. und 20. Jahrhundert wird der Emile häufig mit reformerischen Ansätzen der Pädagogik in Verbindung gebracht, die den Gedanken der erfahrungsnahen Erziehung aufgreifen. Die pädagogischen Konzepte von Friedrich Fröbel und John Dewey sind in diesem Zusammenhang genauso zu nennen wie die von Maria Montessori und Alexander S. Neill. Die pädagogischen Adaptionen greifen in der Regel nur Teilaspekte des Emile auf und lassen dabei die umfassenden anthropologischen und ethischen Grundlegungen außer acht. Im letzten Jahrhundert setzt verstärkt die systematische und philologische Auseinandersetzung mit Rousseau ein, die schließlich zur Veröffentlichung der Œuvres complètes und der Correspondance complète führt. Richtungsweisende Interpretationen werden unter anderem von Robert Derathé und Jean Starobinski vorgelegt. Darüber hinaus erfährt Rousseau Anerkennung für seine kulturwissenschaftlichen Leistungen. Claude Lévi-Strauss stellt ihn in seinen Schriften Traurige Tropen und Strukturale Anthropologie auf emphatische Weise als Begründer der modernen Humanwissenschaften heraus. Er empfiehlt den Vorschlag zum Umgang mit der scheinbaren Gegenläufigkeit von geschichtlicher Kontingenz und Universalität menschlicher Natur (siehe Abschnitt IV. 2) auch für die Lösung gegenwärtiger politischer und kulturwissenschaftlicher Probleme. Rousseaus Sozialphilosophie erlebt eine bedeutsame Wiederaufnahme in der gegenwärtigen Liberalismus-Kommunitarismus193
Debatte. Seine eigentümliche konzeptionelle Verbindung von Kontingenz und Universalität sowie von Individualität und Gemeinschaft (siehe Abschnitt VIII. 4) bietet die Möglichkeit, die zuweilen starre Frontstellung zwischen Liberalismus und Kommunitarismus aufzuheben. Bezüge zu seinem Werk finden sich denn auch gleichermaßen auf liberalistischer wie auf kommunitaristischer Seite. Charles Taylor billigt Rousseau darüber hinaus eine entscheidende Rolle bei der Herausbildung der Form moderner Ethik zu, in deren Zentrum Würde, Anerkennung und Authentizität stehen. Bei der Bewältigung gegenwärtiger Konflikte und Krisen kann Rousseaus Philosophie einen gewichtigen Beitrag leisten, weil sie über ein ethisches Konzept verfügt, nach dem Selbstbegrenzung eine Form der Selbstbehauptung und nicht etwa des Verzichts ist. Sie weist den Weg zu einer Gemeinschaft der Kulturen, in der eine jede auf ihre Weise zum Ausdruck der menschlichen Lebensform gelangen kann. Vor allem führt sie nachdrücklich vor, daß Freiheit und Menschenrechte durch nichts zu kompensieren sind. Mehr kann Philosophie nicht in die Lebensverhältnisse einbringen. Rousseau besteht aber mit Entschiedenheit darauf, daß sie sich auch nicht mit weniger begnügen darf.
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Anhang 1. Zeittafel 1712
1722 1725 1728 1731 1740 1742 1743 1744 1745 1746 1749 1750 1752 1753 1754 1755 1756 1757 1758 1761 1762
1763 1764 1765
Geburt von Jean-Jacques Rousseau am 28. Juli als zweiter Sohn des Uhrmachers Isaac Rousseau und seiner Frau Suzanne, die wenige Tage später stirbt. Nach einem Rechtsstreit flieht der Vater nach Nyon. Rousseaus Erziehung übernimmt ein calvinistischer Landpfarrer. Lehre bei dem Graviermeister Ducommun in Genf. Rousseau verläßt Genf. Erste Begegnung mit Mme de Warens. In Turin tritt er zur katholischen Kirche über. Erster Aufenthalt in Paris. Rousseau zieht zu Mme de Warens nach Chambéry. In Lyon Hauslehrer bei der Familie de Mably. Zweiter Parisaufenthalt und Bekanntschaft mit den philosophes. Sekretär des französischen Botschafters in Venedig. Rückkehr nach Paris. Verhältnis mit Marie-Thérèse Levasseur. Aufführung der Oper Die galanten Musen. Geburt eines Sohnes, der ebenso wie vier weitere Kinder dem Findelhaus übergeben wird. Abfassung der Musikartikel für d’Alemberts und Diderots Enzyklopädie. Erleuchtungserlebnis von Vincennes. Diskurs über die Wissenschaften und Künste. Aufführung des Singspiels Der Dorfwahrsager in Gegenwart von Ludwig XV. Brief über die französische Musik. Reise nach Genf. Diskurs über die Ungleichheit unter den Menschen. Der Artikel Politische Ökonomie wird in der Enzyklopädie veröffentlicht. Übersiedlung nach Montmorency. Brief über die Vorsehung an Voltaire. Beginn der Arbeit an Julie oder Die neue Héloïse. Begegnung mit Mme de Houdetot. Bruch mit Diderot. Brief an d’Alembert über das Schauspiel. Publikation von Julie oder Die neue Héloïse. Vier Briefe an Malesherbes. Im Frühjahr erscheinen der Gesellschaftsvertrag in Amsterdam sowie der Emile in Amsterdam und Paris. Der Emile wird in Paris konfisziert und verbrannt. Gegen Rousseau ergeht ein Haftbefehl. Flucht in die Schweiz. In Genf wird neben dem Emile auch der Gesellschaftsvertrag verboten und verbrannt. Rousseau erhält im zu Preußen gehörigen Môtiers Asyl. Verzicht auf die Genfer Bürgerrechte. Briefe vom Berge. Flucht aus Môtiers und kurzfristige Zuflucht auf der Île de SaintPierre.
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1766 1767 1768 1770 1771 1772
1776 1778 1782 1794
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Englandreise und Zerwürfnis mit David Hume. Unter falschem Namen Rückkehr nach Frankreich. Publikation des Wörterbuchs der Musik. Eheschließung mit Thérèse Levasseur. Rückkehr nach Paris. Arbeit als Notenkopist. Fertigstellung der Bekenntnisse. Öffentliche Lesungen der Bekenntnisse in Paris. Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform. Verstärkte Beschäftigung mit botanischen Untersuchungen. Rousseau richtet über Jean-Jacques. Beginn der Arbeit an den Träumereien des einsamen Spaziergängers. Übersiedlung nach Ermenonville. Plötzlicher Tod am 2. Juli. Veröffentlichung der Bekenntnisse und der Träumereien des einsamen Spaziergängers. Rousseaus Leichnam wird in das Panthéon überführt.
2. Französisch-deutsche Konkordanz der Hauptschriften Œuvres complètes. Ed. par B. Gagnebin/M. Raymond (Bibliothèque de la Pléiade), 5 Bde., Paris 1959 ff. [OC] und Werke in vier Bänden, München 1996 [W] bzw. Schriften. Hg. v. H. Ritter, 2 Bde., München/Wien 1978 und Frankfurt/M. 1988. [S] Discours sur les sciences et les arts/Abhandlung über die von der Akademie zu Dijon gestellte Frage, ob die Wiederherstellung der Wissenschaften und Künste zur Läuterung der Sitten beigetragen habe
OC III 1–30
W IV 5–35
Preface de „Narcisse“/Vorrede zu „Narcisse“
OC II 957–974
SI 145–164
Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes/Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen
OC III 111–237
W IV 37–161
Discours sur l’économie politique/Abhandlung über die politische Ökonomie
OC III 241–278
W IV 223–265
Extrait du projet de paix perpétuelle/Gutachten über den Plan eines ewigen Friedens
OC III 563–589
W IV 393– 404
Lettre à M. de Voltaire/Brief an Herrn von Voltaire
OC IV 1059–1075
SI 313–332
Lettre à M. d’Alembert/Brief an Herrn D’Alembert über das Schauspiel
OC V 1–125
SI 333– 474
Julie, ou la Nouvelle Héloïse/Julie oder Die neue Héloïse
OC II 5–794
WI 3–871
Essai sur l’origine de langues/Versuch über den Ursprung der Sprachen, in dem von der Melodie und der musikalischen Nachahmung die Rede ist
OC V 371– 429
W IV 163–221
Quatre lettres à Malesherbes/Vier Briefe an Malesherbes
OC I 1130–1147
SI 475– 496
Du contrat social ou essai sur la forme de la république/Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts
OC III 281– 470
W IV 267–391
Émile, ou de l’éducation/Emile oder von der Erziehung
OC IV 241–877
W III 3–641
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Émile et Sophie, ou les Solitaires/Emile und Sophie oder Die Einsamen
OC IV 879–924
W III 643–690
Lettre à Christophe de Beaumont/Brief an Christophe de Beaumont
OC IV 927–1007
SI 497–589
Lettres écrites de la montagne/Briefe vom Berge (zweiter Teil)
OC III 683–897
W IV 419–506
OC I 1–656
W II 5–646
Considérations sur le gouvernement de Pologne/Betrachtungen über die Regierung Polens und über deren vorgeschlagene Reform
OC III 951–1041
W IV 563–655
Rousseau juge de Jean Jacques. Dialogues/ Rousseau richtet über Jean-Jacques. Gespräche
OC I 657–992
S II 253–636
Les rêveries du promeneur solitaire/Die Träumereien des einsamen Spaziergängers
OC I 993–2000
W II 647–755
Les Confessions/Die Bekenntnisse
198
3. Literaturverzeichnis
I. Werk- und Einzelausgaben Gesamtausgaben Collection compléte des œuvres de Jean-Jacques Rousseau. Ed. par P. A. Du Peyrou, 24 Bde., Genf 1782, Supplément, 6 Bde., Genf 1783–84. Œuvres complètes. Ed. par V. D. Musset-Pathay, 25 Bde., Paris 1823–26. Œuvres complètes. Ed. par B. Gagnebin/M. Raymond (Bibliothèque de la Pléiade), 5 Bde., Paris 1959 ff. [OC] Correspondance générale. Ed. par Th. Dufour, Paris 1924–34. Correspondance complète. Ed. par R. A. Leigh, Genf/Oxford 1965 ff. [CC] Deutsche Ausgaben Werke in vier Bänden, München 1996. [W] Kulturkritische und politische Schriften in zwei Bänden, Berlin 1989. Schriften, 2 Bde. München/Wien 1978 und Frankfurt/M. 1988. [S] Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen, Stuttgart 1998. Bekenntnisse, Frankfurt/M. 1985. Diskurs über die Ungleichheit, Paderborn 1993. Emil oder Über die Erziehung, Paderborn 1998. Emile oder Über die Erziehung, Stuttgart 1998. Königin Grille und andere Kleinprosa, Frankfurt/M. 1978. Korrespondenzen. Eine Auswahl, Leipzig 1992. Musik und Sprache. Ausgewählte Schriften, Wilhelmshaven/Locarno/Amsterdam 1984. Politische Schriften, Paderborn 1995. Schriften zur Kulturkritik, Hamburg 1995. Vom Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des Staatsrecht, Stuttgart 1986. Vom Gesellschaftsvertrag oder Die Grundsätze des politischen Rechts, Frankfurt/M. 1996. Wörterbuch der Musik (Mikrofiche-Repr.), Hohenhausen 1998.
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4. Abbildungsverzeichnis
Abb. 1: Genf, Musée d’ Art et d’ Histoire, Photo: AKG, Berlin Abb. 2: Guckkastenblatt. Kupferstich. Altkoloriert, Augsburg (Georg Balthasar Probst) o. J. (um 1750), Photo: AKG, Berlin Abb. 3: Stahlstich, um 1840, von Johann Georg Martini, Sammlung Archiv für Kunst und Geschichte, Photo: AKG, Berlin Abb. 4: Photo: Sammlung Amruts Abb. 5: Photo: Sammlung Amruts Abb. 6: Kupferstich, 18. Jahrhundert, nach einer Zeichnung von Jean Michel Moreau le Jeune (1741–1814), Photo: AKG, Berlin Abb. 7: Photo: Sammlung Amruts Abb. 8: Musée d’Edimbourg, Musée J.-J. Rousseau – Montmorency Abb. 9: Radierung von Pierre Gabriel Berthault (1748–1819) nach einer Zeichnung von Abraham Girardet (1764–1823). Aus: Tableaux de la Revolution Française, 1795 ff., Bibliothèque Nationale, Paris, Photo: AKG, Berlin
203
5. Personen- und Sachregister Aischylos 191 Alembert, Jean le Rond d’ 21, 22, 29, 32, 34, 152, 181, 195, 197 Anerkennung 25, 62, 119, 123, 165, 172–174 Anthropologie 14, 28, 41, 72–87, 90–96, 104, 107, 111, 115, 138, 141, 142, 147, 148, 167, 170, 172, 187, 193 Aristarch 32 Aufklärung 11, 25, 29, 30, 34, 80, 81, 84, 189, 190 Augustinus 13, 164, 166, 170 Authentizität 12, 13, 14, 90, 161, 168–174, 181–184, 194 Autonomie 12, 98, 113, 138, 140, 144, 155, 161, 182, 183 Balzac, Honoré de 192 Basedow, Johann Bernhard 193 Beaumont, Christophe de 44, 161, 198 Beethoven, Ludwig van 25 Bernard, Gabriel [Onkel Rousseaus] 15, 17 Bildung 14, 25, 40, 42, 59, 81, 82, 83, 103, 113, 114, 119–138, 143, 146, 154, 155, 159, 161 Bodin, Jean 149 Böse, das 30, 112, 114, 122, 163 Bossuet, Jacques-Bénigne 17 Boswell, James 45, 200 Buttafoco, Mathieu 45 Byron, George Gordon Noël Baron 192 Campe, Joachim Heinrich 193 Chateaubriand, François-René de 192 Coignet, Horace 47 Condillac, Étienne Bonnot de 21, 50, 91, 186 Constant, Benjamin 192 Derathé, Robert 193, 200 Descartes, René 93, 94, 97, 174
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Dewey, John 193 Diderot, Denis 19, 21, 22, 23, 25, 29, 32, 84, 88, 91, 163, 195 Duclos, Charles Pinot 29 Dupin, Louise-Marie 19, 21 Egalitarismus 12, 66, 122, 137, 139, 145, 150, 154, 155 Egmont, Gräfin Sophie d’ 48 Eigennutz [l’amour propre] 60, 61, 73, 83, 89, 108, 111, 136, 139, 146, 154, 155, 159 Einbildungskraft 91, 108, 132, 158, 160, 189, 190 Einsamkeit 18, 29, 43, 51, 138, 163, 164, 175, 176 Empfindsamkeit 38, 60, 89, 94, 95, 97, 101, 115, 132, 134, 165, 177, 180 Enzyklopädie 22, 25, 29, 32, 39, 47, 195 Erziehung 14, 16, 17, 23, 35, 40, 42, 119, 120–135, 137, 190, 192, 193, 195, 197 Erziehung des Herzens 132, 133 Erziehung, negative 42, 127, 128, 129, 130, 136 Ethik 11, 13, 14, 28, 33, 41, 51, 54, 63, 65, 66, 67, 69, 70, 72, 73, 74, 76, 77, 78, 80, 82, 84, 85, 88, 90, 92, 94, 96, 99, 100, 102–117, 140, 142–151, 181–184, 187, 189, 192, 193, 194 egalitaristische Ethik 12, 67 Ethik der Autonomie 11, 111, 113, 114, 146, 182, 189 Exil 11, 23, 44, 70, 163, 164, 184 Fehlschluß, naturalistischer 106 Fehlschluß, ontologischer 107 Fehlschluß, pädagogischer 124 Fichte, Johann Gottlieb 95, 97, 99, 188, 203 Flaubert, Gustave 192
Fontenelle, Bernard Le Bovier de 17 Franklin, Benjamin 52 Französischer Materialismus 35, 91, 92, 96, 98, 102, 120, 158 Freiheit 11, 12, 14, 17, 34, 39, 42, 52, 54, 59, 61, 62, 64, 67, 88–103, 111, 112, 113, 119, 122, 127, 128, 129, 130, 134, 135, 138–160, 173, 182, 183, 185, 189, 191, 194 Friedrich II. 44 Fröbel, Friedrich 193 Gefühl 38, 60, 112, 115, 126, 132, 144, 152, 169, 183, 188, 189 Gemeinschaft, neue 144, 149, 151–157, 190 Gerechtigkeit 50, 64, 67, 94, 115, 139, 140, 143–146, 155, 156, 159, 182, 183 Gesellschaft 12, 25, 28, 42, 43, 58, 60, 62, 64, 66, 80, 109, 118, 128, 134, 140, 141, 157, 163, 175, 189, 192 Gesellschaftsvertrag 14, 64, 105, 138–146, 151–157, 159, 197 Gesetz 40, 64, 76, 77, 93, 98, 100, 129, 130, 135, 140, 141, 144, 146–149, 152, 155, 159, 160, 187, 188 Gewissen 53, 102, 107, 109, 110–116, 183, 188 Girardin, Marquis de 51 Glaukos 56 Gleichheit 40, 83, 106, 107, 123, 144, 185 Glück 18, 28, 35, 46, 51, 65, 123, 143, 156, 160, 174–180 Gluck, Christoph Willibald 49 Goethe, Johann Wolfgang von 179, 190–192 Grimm, Friedrich Melchior von 26, 29, 32 Grotius, Hugo 80, 148, 149 Güte, natürliche 104, 105, 109, 111, 122, 126, 127, 136, 141 Hamann, Johann Georg 187 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 88, 99, 146, 174, 188, 189, 190
Heine, Heinrich 192 Helvétius, Claude-Adrien 29, 81, 91, 102, 120 Herder, Johann Gottfried 186, 187, 203 Hobbes, Thomas 56, 80, 82, 88, 139, 144, 147, 148, 149, 152 Holbach, Paul-Henri Thiry Baron d’ 21, 29, 47, 91 Hölderlin, Friedrich 99, 146, 188, 189, 190, 191 Holismus 100 Homer 191 Horaz 191 Humboldt, Wilhelm von 187 Hume, David 46, 88, 103, 106, 108, 187, 188, 191, 196 Hutcheson, Francis 188 Île de Saint-Pierre 46, 48, 50, 179, 196 Individualität 11, 14, 72, 78, 106, 127, 136, 137, 153, 165, 167, 169, 170, 173, 174, 180, 183, 194 Innerlichkeit 109, 165, 166, 167, 168, 170, 171, 172, 174, 175 Jean Paul 191 Kant, Immanuel 66, 88, 92, 95, 96, 97, 100, 113, 114, 151, 187, 189 Keith, George Earl Marischal 44 Kindheit 40, 48, 85, 118, 120–136, 191, 193 Kommunitarismus 194 Kontraktualismus 11, 39, 56, 121, 138–144, 146, 150, 151, 152, 190 Kultur 11, 14, 25, 33, 37, 56–59, 61, 68–71, 76, 80, 82, 104, 117, 126, 133, 145, 146, 166 Kulturgeschichte 11, 54, 55, 58, 59, 61, 62, 68, 70, 72–75, 77, 79, 82, 83, 85, 115, 133, 135, 148 Kulturkritik 54, 57, 66, 67, 70, 72, 117, 161 Kunst 22, 26, 32–36, 56, 57, 66, 67–71, 84
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La Mettrie, Julien Offray de 81, 91, 201 Lamartine, Alphonse de 192 Leben, das gute 55, 65, 66, 125, 181–184 Leibniz, Gottfried Wilhelm 30, 31, 174, 187 Leidenschaft 28, 33, 34, 38, 42, 66, 69, 81, 89, 131, 132, 181 Lessing , Gotthold Ephraim 185 Lévi-Strauss, Claude 13, 79, 83, 193, 202, 203 Liberalismus 194 Liebe 32, 34, 35, 42, 58, 60, 118, 132, 181, 182 Locke, John 80, 88, 120, 123, 139, 148, 149, 159 Luxembourg, Charles-François, Herzog von 44 Luxembourg, Madeleine-Angélique, Herzogin von 36, 44 Malesherbes, Chrétien Guillaume de Lamoignon de 22, 43, 161, 195, 197 Marie-Antoinette 52 Materie 91, 98, 99, 100 Mendelssohn, Moses 185 Mensch, natürlicher 11, 57, 65, 80–83, 104, 105, 108, 115, 142, 143, 163 Menschenrechte 11, 146–151, 157, 182, 185, 191, 194 Mitleid [pitié] 51, 60, 61, 73, 81, 104, 107–110, 114, 115, 144 Molière 33 Montaigne, Michel de 77, 78, 80, 164, 166–169, 177, 201, 203 Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de la Brède et de 141 Montessori, Maria 193 Moral 24, 69, 76, 107, 109, 110, 113, 128, 134, 142, 158, 173 Moralität 13, 14, 33, 35, 42, 62, 65, 68, 74, 78, 102, 105, 110, 111, 113, 115, 141, 150, 159, 184 Moritz, Karl Philipp 191
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Mozart, Wolfgang Amadeus 25 Multikulturalität 76, 77, 79, 158 Musik 19, 26, 37, 47, 51, 92, 190, 195, 196 Napoléon Bonaparte 52 Natur 11, 13, 14, 23, 24, 28, 31, 37, 42, 46, 51, 54–67, 69, 70, 72–88, 91, 92, 93, 98, 99–111, 114, 115, 117–123, 125, 126, 127, 128, 130, 131–138, 140, 142, 147–150, 151, 153, 156, 168, 170, 178–181, 183, 185, 187, 189, 190, 192, 193 Natur des Menschen 14, 55, 62, 67, 69, 70, 72–75, 79, 80, 82, 85, 86, 92, 105, 106, 108, 127, 133, 135, 147–150, 156, 170, 185, 187 Naturgeschichte 28, 61, 133, 148 Naturrecht 147, 149, 151, 189 Naturzustand 14, 28, 54, 56, 57, 59, 80, 84, 104, 106, 118, 138, 142, 144–146, 149 Naturalismus 13 Naturgemäße, das [oikeiosis] 13, 55, 104 Neill, Alexander S. 193 Novalis 189, 191 Ordnung, moralische [ordre morale] 115, 129, 149 Pädagogik 11, 120, 121, 124, 127, 131, 192 Perfektibilität [perfectibilité] 57, 60, 73, 81, 82, 84, 93, 193 Pestalozzi, Johann Heinrich 193 Petrarca, Francesco 13, 164, 166 Platon 56, 122, 151, 152 Plutarch 17 Pope, Alexander 30, 31 Pufendorf, Samuel 80, 148 Rameau, Jean-Philippe 19, 27 Rawls, John 152 Religion 40, 157, 158, 159 Religion, bürgerliche 40, 157, 159 Religion, natürliche 45, 93, 158, 159
Rey, Marc Michel 36, 45 Richardson, Samuel 36 Robespierre, Maximilien de 52, 185 Roguin, Daniel 44 Romantik 51, 146, 165, 186, 189, 191, 192 Saint-Just, Louis-Antoine de 185, 202 Sappho 191 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 99, 146, 188, 189, 190 Schiller, Friedrich von 146, 189, 191 Schlegel, August Wilhelm und Friedrich 189, 192 Selbstachtung 74, 134, 182, 183 Selbstbehauptung [l’amour de soi] 12, 17, 59, 60, 61, 73, 80, 82, 89, 90, 106, 114, 115, 129, 134, 135, 136, 138, 139, 142, 149, 150, 155, 156, 161, 166, 176, 194 Selbstbewußtsein 14, 17, 93–99, 101, 102, 171, 173, 174, 176–180, 187 Selbstentfaltung 127, 135–138, 174 Selbstthematisierung 60, 163–174, 184 Seneca 107 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper of 188 Shelley, Percy Bysshe 192 Sophokles 191 Staël, Germaine de 185, 203 Starobinski, Jean 109, 193, 200 Stendhal 192 Stoa 60, 77, 107, 122, 151 Taylor, Charles 194 Tod 17, 19, 34, 50, 51, 57, 108, 145, 175, 177, 180, 196
Tronchin, Jean-Robert 44, 45, 46 Tugend 28, 35, 60, 65, 68, 69, 70, 78, 81, 102, 107, 109, 115, 127, 141, 158, 159, 183, 185 Ungleichheit 23, 27, 28, 56, 59, 62, 63, 64, 66, 67, 69, 79, 88, 106, 107, 117, 118, 128, 147, 187, 197 Universalismus 72, 76, 77, 80, 86, 167 Universalität 72, 73, 78, 79, 158, 193, 194 Voltaire 29, 30, 45, 46, 47, 50, 53, 88, 195, 197 Wahrheit 50, 70, 94, 98, 127, 157, 168, 178, 181, 182 Wieland, Christoph Martin 185 Wielhorski, Michael 49 Wille 13, 38, 39, 76, 83, 85, 97, 98, 99, 102, 103, 109, 113, 119, 123, 129, 133, 135, 136, 139, 140, 141, 143, 144, 145, 150, 152, 153 Gemeinwille [volonté générale] 11, 12, 40, 139, 151, 153, 154, 155, 156 Wille aller [volonté de tous] 153 Wissenschaften 22, 26, 56, 57, 66, 67, 68, 69, 70, 84 Wittgenstein, Ludwig 131 Wolff, Christian 188 Würde 121, 143, 148, 150, 181–184, 194 Zeit 17, 18, 19, 20, 22, 25, 29, 33, 46, 47, 48, 53, 54, 56, 61, 68, 74, 75, 79, 83, 85, 96, 108, 125, 135, 149, 150, 163, 168, 170, 175, 179, 184, 185, 187, 192
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